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German Pages 1512 [1513] Year 2021
Digitalisierung, Globalisierung und Risikoprävention Festschrift für Ulrich Sieber zum 70. Geburtstag
Teilbände I und II
Herausgegeben von
Marc Engelhart, Hans Kudlich und Benjamin Vogel
Duncker & Humblot . Berlin
Digitalisierung, Globalisierung und Risikoprävention Festschrift für Ulrich Sieber zum 70. Geburtstag
Schriften zum Strafrecht Band 373
Digitalisierung, Globalisierung und Risikoprävention Festschrift für Ulrich Sieber zum 70. Geburtstag Teilband I
Herausgegeben von
Marc Engelhart, Hans Kudlich und Benjamin Vogel
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2021 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: Das Druckteam Berlin Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 978-3-428-15971-0 (Print) ISBN 978-3-428-55971-8 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Dieses Buch muss – außerhalb des Protokolls und daher vorab – mit Worten des Bedauerns der Herausgeber beginnen: Ein Bedauern mit Blick auf den Jubilar, der die Festschrift nun voraussichtlich erst mit einer fast einjährigen Verspätung erhalten wird, ein Bedauern mit Blick auf den Verlag, dessen Geduld wir sehr strapaziert haben, und vor allem ein Bedauern mit Blick auf die vielen Autorinnen und Autoren, die pünktlich ihre Manuskripte geliefert und korrigiert haben. Als die meisten Autorinnen und Autoren ihre Texte zum Jahreswechsel 2019/ 2020 einreichten, gab es keine Zweifel, dass die Festschrift zeitnah zum 70. Geburtstag des Jubilars im November 2020 übergeben werden würde. Doch das Jahr 2020 verlief anders. Die Pandemie und der Wunsch nach der traditionellen persönlichen Buchübergabe auf einer gemeinsamen Geburtstagsfeier haben die ursprüngliche Planung vereitelt. Aus diesem Grund befinden sich viele Beiträge – insbesondere in den Nachweisen – auf dem Stand des ersten Quartals 2020. Eine „Aktualisierungsrunde“ im Herbst 2020 wurde von einem Teil der Autoren wahrgenommen – andere verzichteten darauf aus Rücksicht auf die Herstellungsökonomie des Bandes. Beiden Gruppen sei gleichermaßen gedankt: Der einen für die zusätzlichen Mühen der Aktualisierung, der anderen für das rücksichtsvolle Zurücktreten zur Vermeidung von zusätzlichem Korrekturaufwand für den Verlag. Viele Beiträge sind freilich schon thematisch „zeitlos“ und jeder von ihnen ist so interessant, dass sein Wert und die Freude des Jubilars bei der Lektüre durch die Verzögerung in keiner Weise geschmälert werden. Der bekanntermaßen gastfreundliche Jubilar, der schöne akademische Traditionen schätzt, freut sich darauf, den Autorinnen und Autoren im Herbst 2021 persönlich in Freiburg danken zu können, wenn die Umstände, wie wir gegenwärtig alle hoffen, es wieder zulassen.
I. Ulrich Sieber wurde am 18. 11. 1950 in Stuttgart geboren. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften in Tübingen, Lausanne und Freiburg bis 1973 lernte er in der mündlichen Strafrechtsprüfung des Ersten Staatsexamens seinen akademischen Lehrer Klaus Tiedemann kennen, bei dem er anschließend als Mitarbeiter tätig war. Dies war der Beginn einer wissenschaftlichen Laufbahn, die stets von intellektueller Neugierde, Offenheit für neue Fragestellungen, teilweise geradezu aufopferungsvollem Engagement für seine Institution sowie großer Fürsorge für seine Mitarbeiter geprägt
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war und Ulrich Sieber auf die renommiertesten wissenschaftlichen Positionen unseres Fachs führte. Der Jubilar promovierte an der Universität Freiburg 1977 mit einer Studie über „Computerkriminalität und Strafrecht“. Nach dem Assessorexamen im Jahr 1978 war er neben seiner Assistententätigkeit an der Universität Freiburg bis 1987 auch als selbständiger Rechtsanwalt in seinem damaligen Forschungsschwerpunkt des Computerrechts tätig, um dessen Probleme in der Praxis kennenzulernen. Die Universität Freiburg habilitierte ihn 1987 aufgrund einer Arbeit über das Verhältnis von materiellem Strafrecht und Strafprozessrecht für die Fachgebiete Strafrecht, Strafprozessrecht, Kriminologie und Strafrechtsvergleichung. Wenige Tage nach der Habilitation erhielt Ulrich Sieber seinen ersten Ruf an die Universität Bayreuth und wurde noch im selben Jahr als Universitätsprofessor auf den neuen Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Informationsrecht berufen. 1991 wechselte er auf den Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Informationsrecht und Rechtsinformatik an der Universität Würzburg. Einen weiteren Ruf auf den Lehrstuhl für Rechtsinformatik an der Universität Münster im Jahr 1994, in dem er auch für ein Semester Gastprofessor an der Universität Tokyo war, lehnte er ab und blieb an der Würzburger Fakultät, der er 1997 und 1998 als Dekan diente. So erfüllend die Würzburger Zeit und so gut sein Standing an der Fakultät, an der er viel bewegt hatte, auch waren – den ehrenvollen Ruf auf den ehemaligen Lehrstuhl von Claus Roxin an der Ludwig-Maximilians-Universität München konnte der Jubilar nicht ausschlagen. Er schien nun am Ziel seiner Universitätskarriere angekommen zu sein, zumal er auch dort mit großem persönlichen Engagement eine umfassende IT-Infrastruktur für Studierende und Fakultät aufbaute und der Standort München inner- und außeruniversitär ideale Bedingungen für seinen damaligen Forschungsschwerpunkt im IT-Recht bot. Im Oktober 2003 lockte dann jedoch eine neue und noch größere Herausforderung, und Ulrich Sieber kehrte nach Freiburg zurück, um als Nachfolger von Hans-Heinrich Jescheck und Albin Eser Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht und Leiter der strafrechtlichen Abteilung zu werden. Mit der Universität München blieb er als Honorarprofessor und Leiter des von ihm aufgebauten Rechtsinformatikzentrums verbunden, wurde zugleich aber auch qualifizierter Honorarprofessor und Fakultätsmitglied an der Universität Freiburg und war an verschiedenen ausländischen Universitäten tätig.
II. 1. In seinem wissenschaftlichen Werk widmete sich der Jubilar von Anfang an aktuellen Fragestellungen und Herausforderungen und wurde hier immer wieder zum Pionier: Seine frühen Aufsätze und seine – in zwei Auflagen erschienene – Dissertation über „Computerkriminalität und Strafrecht“ zählten in den 1970-er Jahren
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weltweit zu den ersten kriminologischen und rechtswissenschaftlichen Beiträgen zur Computerkriminalität. Sein Vortrag über „Europäische Einigung und Europäisches Strafrecht“ 1991 in Bochum brachte das Strafrecht der Europäischen Union erstmals nach Jeschecks Vortrag aus dem Jahr 1954 wieder prominent auf das Programm der deutschen Strafrechtslehrertagungen. 1996 forderte er in einer Studie für den Europarat ein Europäisches Modellstrafgesetz. Seine – vor allem auch kriminologischen – Arbeiten für das deutsche Bundeskriminalamt untersuchten zu Beginn der 1990-er Jahre die Organisationsformen und die Logistik der Organisierten Kriminalität. Seit 1997 engagierte er sich gegen die damals von der Politik propagierten Internet-Sperren und für die Meinungsfreiheit im Internet und war seit 2000 einer der ersten deutschen Strafrechtswissenschaftler, der sich mit der Selbstregulierung der Internetprovider und Complianceprogrammen zur Verhinderung von Wirtschaftskriminalität beschäftigte. Thematisch galt das besondere Interesse von Ulrich Sieber damit bereits früh den – durch Technik und gesellschaftlichen Wandel verursachten – Veränderungen von Kriminalität und Strafrecht sowie den dadurch erforderlichen neuen Lösungen. Sein Forschungsschwerpunkt lag deswegen besonders in den aktuellen Bereichen des Cybercrime, des Wirtschaftsstrafrechts, der organisierten Kriminalität, des Terrorismus, der Geldwäsche und des europäischen Strafrechts, welche die neuen Herausforderungen der globalen Informations- und Risikogesellschaft auf exemplarische Weise verdeutlichen. Innovation war daher für ihn stets nicht nur ein Forschungsgegenstand, sondern auch das Ziel seiner rechtlichen und empirischen Forschung. 2. Die Berufung an das Freiburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht im Jahr 2003 ermöglichte dem Jubilar, den aktuellen Wandel von Gesellschaft, Kriminalität und Kriminalitätskontrolle zum Gegenstand eines umfassenden systematischen Forschungsprogramms des Instituts über die „Grenzen des Strafrechts“ zu machen, die er sowohl territorial als auch funktional analysierte. Die Ressourcen des traditionsreichen Instituts sollten dadurch nicht mehr in unverbundenen Einzelprojekten eingesetzt, sondern in einem übergreifenden Forschungsprogramm zu zentralen Fragestellungen gebündelt werden. Anknüpfend an Siebers Vorarbeiten waren es drei, eng miteinander verbundene Paradigmenwechsel, die als zentrale neue Herausforderungen für die Kriminalitätsbekämpfung das Forschungsprogramm prägten: Die Globalisierung, die Digitalisierung sowie die dadurch veränderten Risiken führen zu neuen rechtspolitischen Anforderungen an Risikoeinschätzung und Risikoprävention, was ein Überdenken des klassischen strafrechtlichen Ansatzes verlangt. Zunehmende transnationale Kriminalität, fundamentale Veränderungen der Informationstechnologie und neue Risiken des 21. Jahrhunderts lassen sich nicht mehr allein mit den überkommenen Strafrechtssystemen bewältigen, solange diese von ihrem Ansatz her nur in begrenzten nationalen Territorien durchsetzbar sind, IT-spezifische Ansätze vernachlässigen und vorwiegend repressiv auf vergangene Handlungen (und nicht auch stärker auf die Risikoprävention) fokussiert sind. Die Herausforderungen von Globalisierung, Digitalisierung und Risikoprävention bildeten daher – zusammen mit den entsprechenden Methodenfragen – den Kern
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des neuen Forschungsprogramms, das die Arbeiten am Freiburger Max-Planck-Institut von 2004 bis 2019 in eng miteinander zusammenhängenden Forschungsschwerpunkten prägte: • Der erste Forschungsschwerpunkt zu den Herausforderungen der Globalisierung analysierte die Möglichkeiten eines transnational wirksamen, rechtsstaatlichen Strafrechts. Gegenstand waren neue internationale Kooperationsmechanismen, das supranationale (nämlich europäische und internationale) Strafrecht sowie weitere Konzepte zur Schaffung von global wirksamen Normen (z. B. durch Selbstregulierung). Dabei war Ulrich Sieber klar, dass unterschiedliches nationales Straf- und Strafprozessrecht bei jeder Form von internationalen Kooperationsmechanismen wegen der erforderlichen Anerkennungsverfahren oder Anerkennungspostulate entweder zu Effektivitätseinbußen oder aber zu Problemen und Spannungen mit den strafrechtlichen Garantien und Menschenrechten führt. Deshalb war einerseits die demokratische Legitimation für die ergänzende Schaffung von Strafrecht durch überstaatliche Institutionen eine der wichtigen Grundlagenfragen für ihn. Andererseits war er aufgrund seiner frühen Erkenntnisse zu dem national nur schwer regulierbaren globalen Cyberspace von Anfang an ein Anhänger der Rechtsharmonisierung. Nach der bereits erwähnten frühen Studie für ein europäisches Modellstrafgesetz beteiligte er sich später deshalb auch an der Entwicklung einer europäischen Strafprozessordnung für eine supranationale Behörde der EU zur Bekämpfung des EU-Subventionsbetrugs. Dem Hinweis auf die kulturellen Unterschiede der nationalen Rechtsordnungen entgegnete er gern mit dem Satz von Binding, dass die Gerechtigkeit nicht vom Verlauf eines Grenzflusses abhängig sein dürfe. • In seinem zweiten Forschungsschwerpunkt zu den Herausforderungen der Informationsgesellschaft und der Digitalisierung war für Ulrich Sieber der Gedanke leitend, dass Regelungen für immaterielle Daten und für Information nicht in Analogie zu den klassischen Normen für körperliche Gegenstände, sondern eigenständig zu entwickeln sind. Die beliebige Kopierbarkeit von Daten, ihre weltweite Übertragbarkeit im globalen Cyberspace in Sekundenbruchteilen, die extremen Schwierigkeiten ihrer grenzüberschreitenden Kontrolle, das Machtpotential von personenbezogenen Daten und der Grundsatz der Informationsfreiheit erfordern vielmehr nach seiner Meinung in zahlreichen Bereichen völlig andere Regelungen als die für materielle Güter. Der seit den 1970-er Jahren national, aber auch international vorangetriebenen Entwicklung des materiellen und prozessualen Computerstrafrechts und den in den Würzburger Jahren erarbeiteten Grundsätzen zur Providerverantwortlichkeit (die der deutsche Gesetzgeber im Teledienstegesetz von 1997 festschrieb und die auf europäischer Ebene in der e-commerce-Richtlinie aufgegriffen wurden) folgte auf dem 69. Deutschen Juristentag in München 2012 noch einmal ein aktualisiertes Gesamtprogramm für die notwendigen Reformmaßnahmen zu Cybercrime und digitalen Ermittlungen.
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• Die neuen Herausforderungen der Risikogesellschaft als dritter Forschungsschwerpunkt betreffen einerseits die objektiven neuen Risiken als auch andererseits das zunehmende subjektive Bedürfnis der Bevölkerung nach Risikoprävention. Dem neuen politischen Paradigma der Prävention und der Risikovorsorge steht Ulrich Sieber dabei grundsätzlich offen gegenüber, setzt sich dabei jedoch für bessere rechtsstaatliche Garantien zur Begrenzung der entsprechenden Regelungen ein. Für den Bereich des Strafrechts entwickelte er insbesondere in seinen Stellungnahmen im Rechtsausschuss des deutschen Bundestages zu den beiden Gesetzen „zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten“ in den Jahren 2009 und 2015 Kriterien für die Legitimation und für die Begrenzung zulässiger Gefährdungsdelikte im Bereich der Terrorismustatbestände. Außerhalb des Strafrechts plädiert Ulrich Sieber im Hinblick auf die neuen Risiken für einen stärkeren Einsatz von nicht-strafrechtlichen, vor allem präventiven Rechtsregimen, wie die verwaltungsrechtliche Regulierung, die zivilrechtliche Einziehung oder das Geldwäscherecht, die zu einer „neuen Architektur des Sicherheitsrechts“ führen. • Auch der vierte Forschungsschwerpunkt hat weit zurückreichende Wurzeln in der Laufbahn von Ulrich Sieber: Die – insbesondere funktionale – Rechtsvergleichung (die neben der starken Einbeziehung von Rechtstatsachen sowie Kriminologie, begleitender Grundlagenforschung und Bereitschaft zu Interdisziplinarität prägender Bestandteil seiner Forschungsmethodik ist) war von Beginn an ein wichtiges Element seiner wissenschaftlichen Arbeiten. Dem engen, oft von historischen Zufällen geprägten nationalen Rechtsraum wurde somit eine Vielzahl von Rechtsordnungen als „Lösungsvorrat“ für rechtspolitische Vorschläge und für die Suche nach einer best practice zur Seite gestellt. Bereits 1986 publizierte er sein „International Handbook on Computer Crime“, das auch in die französische und persische Sprache übersetzt wurde, und in der strafrechtlichen Abteilung des Freiburger Max-Planck-Instituts gab es später kaum eine Dissertation, die nicht rechtsvergleichend angelegt war. Wenn das Institut zur Begründung von allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Völkerstrafrechts in einem Rechtsgutachten für den ICTY beispielsweise über 40 Rechtsordnungen untersuchte, wurde damit die große rechtsvergleichende Tradition des Institutsgründers Hans-Heinrich Jescheck fortgesetzt, dem der Jubilar auf einem für diesen veranstalteten Kolloquium zum 90. Geburtstag den Beitrag über „Strafrechtsvergleichung im Wandel – Aufgaben, Methoden und Theorieansätze der vergleichenden Strafrechtswissenschaft“ widmete. Kein Wunder, dass beide sich sehr gut verstanden und dass Jescheck ihn gegenüber einem Gastwissenschaftler einmal als die „Freude seines Alters“ bezeichnete. Ausdruck dieser besonderen Verbundenheit ist auch der zusammen mit der AIDP geschaffene „Hans-Heinrich-Jescheck-Prize for Comparative and International Criminal Law“, der seither alle fünf Jahre auf den Weltkongressen der AIDP für ein großes Lebenswerk in den Bereichen der Strafrechtsvergleichung und des internationalen Strafrechts verliehen wird. Ein Großprojekt in diesem Bereich ist das am Institut entwickelte Max-Planck-Informationssystem
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für Strafrechtsvergleichung (das sogenannte „virtuelle Institut“), das den gesamten Allgemeinen Teil des Strafrechts für eine Vielzahl von Rechtsordnungen auf der Grundlage einer universalen, d. h. für alle Rechtsordnungen anwendbaren Metastruktur systematisiert. Dieses umfangreiche Projekt diente vor allem der Grundlagenforschung und dem Nachweis, dass bei richtiger Anwendung der funktionalen Rechtsvergleichung auch in dem komplexen gesamten Allgemeinen Teil des Strafrechts eine universale Metastruktur für alle Rechtsordnungen zu finden ist. Das System liefert jedoch darüber hinaus auch praxistaugliche Ergebnisse zur Strafrechtsvergleichung des Allgemeinen Teils des Strafrechts, die in der Institutsreihe „strafrechtliche Forschungsberichte“ in mehreren Bänden abgedruckt und auch Online mit einem speziellen Recherchesystem frei abrufbar sind (inforcrim.org). Das innovative Projekt belegt damit auch die Umsetzbarkeit der Vision einer computergestützten Strafrechtsvergleichung, die Ulrich Sieber bereits 2004 in seiner Antrittsrede im Freiburger Max-Planck-Institut als ein zentrales Projekt seines Forschungsprogramms vorgestellt hatte.
III. Obgleich in der Freiburger Zeit der universitäre Unterricht zwangsläufig in den Hintergrund getreten ist, war der Jubilar ein gewissenhafter, beliebter und prägender akademischer Lehrer. Das gilt – hiervon können die Herausgeber teilweise aus eigener Anschauung berichten – mit Blick auf seine studentischen Hörer als Inhaber strafrechtlicher Lehrstühle, noch mehr aber als Mentor des wissenschaftlichen Nachwuchses. Schon in seinen Zeiten in Bayreuth, Würzburg und München zogen die Person, aber auch die Themen von Ulrich Sieber zahlreiche Doktoranden an, die sich später in der Hochschule, als Richter an Obergerichten, als erfolgreiche Rechtsanwälte oder in führender Position in Wirtschaftsunternehmen wiederfanden. Seine akademischen Schüler profitierten dabei – vielfach gewiss über die Zeit der Promotion hinaus – nicht nur dann von seiner Betreuung, wenn es um eines „seiner“ Themen ging, bei denen sie oftmals unmittelbar am „Puls der Forschung“ mitlauschen konnten. Vielmehr vermittelte Ulrich Sieber in beispielhafter Form die Methodik wissenschaftlichen Arbeitens mit klaren Forschungsfragen, Strategien für den Erkenntnisgewinn und vor allem einer Anleitung für die klare und überzeugende Präsentation der Ergebnisse. Manch einer seiner Doktoranden mag das erste Mal überrascht gewesen sein, welch großen, teilweise fast schon pedantisch anmutenden Wert dieser sonst so liberale und tolerante Mann auf eine stringente, im Idealfall einen „Gleichklang der Gliederungspunkte“ erreichende Textstruktur legte, um dann im Laufe der Arbeit selbst zu merken, dass eine klare Gliederung (wenn nicht Garant, so doch zumindest) das wertvollste Hilfsmittel auch zur Formulierung klarer Gedanken darstellt. Darüber war der Jubilar insbesondere für jene Doktoranden, die ihn in der täglichen Arbeit miterleben durften, ein Vorbild an Engagement für seine Institution und an Belastbarkeit.
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Nochmals neue Maßstäbe nicht nur quantitativer, sondern vor allem auch qualitativer Art setzte dann aber die Doktorandenausbildung am Max-Planck-Institut und hier insbesondere ab 2007 in der von Ulrich Sieber gegründeten International Max Planck Research School for Comparative Criminal Law, die gemeinsam vom MaxPlanck-Institut und der Universität Freiburg getragen wurde und in der er vor allem mit seinem Institutskollegen Hans-Jörg Albrecht und seinem Universitätskollegen Walter Perron eng und freundschaftlich zusammenarbeitete. Die Ausbildung in dieser Research School zeichnete sich durch eine intensive Methodenlehre aus. Der Jubilar wollte nicht nur Wissen, sondern vor allem Kompetenz vermitteln. Ein zentrales Element war deswegen von Beginn der Research School an die Forderung nach einer klaren Zielbestimmung der Dissertationen, aus der heraus die Methode der Arbeit und der Gang der Darstellung zu entwickeln waren. „Was ist das Ziel Ihrer Arbeit? Was ist Ihre innovative Forschungsfrage?“ waren häufige Fragen an Doktorandinnen und Doktoranden. Dem von Ulrich Sieber den Promovierenden zur Verfügung gestellten sogenannten wissenschaftlichen „Kochbuch“ verdanken viele Mitglieder der Doktorandenschule eine effektive Durchführung ihrer Promotion, die 2007 bis 2020 über 40 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus 18 Ländern erfolgreich abschlossen. Sieben von Ulrich Sieber betreute Arbeiten aus der Doktorandenschule wurden von der Max-Planck-Gesellschaft mit der Otto-Hahn-Medaille, zwei der Promovierenden sogar mit der Verleihung einer Otto-Hahn-Forschungsgruppe ausgezeichnet. Hinzu kamen zahlreiche weitere Preise von staatlichen Institutionen und privaten Vereinigungen. Viele der ausländischen Doktorandinnen und Doktoranden sind heute in ihren Heimatländern als Assistenzprofessoren und Professoren tätig.
IV. Neben seiner akademischen Tätigkeit in Forschung und Lehre war Ulrich Sieber zudem in der Rechtspraxis engagiert. Gerade im IT-Recht bereitete es ihm immer eine Freude, seine Ergebnisse auch in der Praxis umzusetzen und umgekehrt von dieser zu lernen. Auf diese Weise erstritt er 1985 das erste Urteil des Bundesgerichtshofs zur Urheberrechtsschutzfähigkeit von Computerprogrammen. Ende der 1980-er Jahre trug er in den Anfangszeiten der Internetkriminalität auch maßgeblich zur Aufklärung eines der damals spektakulärsten Hackerangriffe auf amerikanische Forschungsund Rüstungsinstitutionen bei, als er einen für den sowjetischen KGB arbeitenden deutschen Jugendlichen zu einem Deal mit den Nachrichtendiensten der Bundesrepublik brachte. Der Fall führte (für ihn und für die Dienste) zu zahlreichen neuen Erkenntnissen über die damals aktuellen Hacking-Techniken und wurde von der amerikanischen Journalistin Katie Hafner in dem Buch „Cyberpunk“ 1991 dokumentiert. 1999 erreichte Ulrich Sieber in dem spektakulären „Compuserve-Verfahren“ einen Freispruch des angeklagten Access-Providers und verhinderte damit in Deutschland die damals von der Politik geforderten Sperrverpflichtungen und Zensur im Internet.
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Nicht zuletzt die Erfahrungen aus diesem Fall spiegeln sich in zwei Büchern von Ulrich Sieber zur Verantwortlichkeit und über Sperrverfügungen im Internet wider. Ein Schwerpunkt seiner praktischen Tätigkeit lag schon früh vor allem auch in der rechtspolitischen Beratung von öffentlichen Institutionen. Ulrich Sieber war persönlicher Sonderberater von zwei EG-Kommissaren für Fragen des Computerrechts und des EG-Betrugs. Die lange Liste der Gutachtertätigkeiten in seinem Lebenslauf erfasst vor allem Arbeiten für zahlreiche internationale Institutionen sowie für nationale Stellen. In der Max-Planck-Gesellschaft engagierte er sich später auch stark in der Selbstverwaltung im Bereich der Ethik. Er war lange Zeit und ist weiterhin Mitglied im allgemeinen Ethikrat der Max-Planck-Gesellschaft. Als Vorsitzender der Max-Planck-Kommission, die der damalige Präsident zunächst nur für Fragen der Verteidigungsforschung eingesetzt hatte, entwickelte er einen übergreifenden Ansatz für die allgemeinen Grenzen von sicherheitsrelevanter Forschung. Der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft zeichnete Ulrich Sieber für seinen Einsatz in diesem Bereich 2018 mit dem Communitas-Preis für besondere Verdienste um die Max-PlanckGesellschaft aus.
V. Ulrich Sieber hat sich seit seiner Assistentenzeit und dann auch vor allem als Direktor des Freiburger Max-Planck-Instituts stark für die internationalen Beziehungen zwischen den Strafrechtlerinnen und Strafrechtlern in aller Welt eingesetzt. Mit seiner Liebe zum internationalen Austausch und seiner Begeisterung für Strafrechtsvergleichung hat er die von seinen beiden Vorgängern gut ausgebauten Beziehungen des Max-Planck-Instituts erheblich weiterentwickelt. Wenn im Sommer die Bibliotheksplätze des Max-Planck-Instituts für die Gastwissenschaftler nicht ausreichten, wurden Seminarräume des Instituts und nicht voll besetzte Mitarbeiterzimmer zu Arbeitsräumen für ausländische Besucher umgewidmet. Als er 2004 die Leitung des Instituts übernahm, hatte es in diesem Jahr etwa 90 Langzeitgäste. Zwölf Jahre später zeigt der Forschungsbericht des Instituts für die Jahre 2015 bis 2017, dass jedes Jahr im Durchschnitt fast 500 Langzeitgäste aus über 70 verschiedenen Ländern zu mehrwöchigen Aufenthalten am Institut waren. Die Gastwissenschaftler brachten Wissen aus ihren Rechtsordnungen und die Ergebnisse ihrer Forschung ans Institut und nahmen ihrerseits neue Forschungsansätze des Instituts mit in ihre Heimatländer. Der wissenschaftliche Austausch der Gastwissenschaftler aus aller Welt in Vortragsveranstaltungen, Seminaren und Kongressen sowie die Diskussionen auf der Dachterrasse und in der Cafeteria des Instituts und bei gemeinsamen Wanderungen ist vielen ausländischen Wissenschaftlern in bleibender Erinnerung. Das Institut, von manchen ausländischen Gästen auch als das „Mekka des Strafrechts“ bezeichnet, war allerdings viel mehr als ein Wissenschaftszentrum. Es bildete auch eine große internationale Familie, die sich immer wieder in Freiburg traf. Der weltweite Ruf des Instituts beruhte nicht nur auf seiner Wissenschaft und seiner Bi-
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bliothek, sondern auch auf seiner großen Gastfreundschaft, die Ulrich Sieber besonders am Herzen lag. Darüber hinaus förderte er die internationale Zusammenarbeit im Strafrecht auch in den einschlägigen nationalen und internationalen Organisationen: In Deutschland u. a. als Präsident der von ihm bereits 1992 gegründeten Deutschen Vereinigung für Europäisches Strafrecht sowie als Vorsitzender der Deutschen Landesgruppe der Association Internationale de Droit Pénal (AIDP). Im internationalen Bereich ist er seit langem Vizepräsident in allen drei großen im Strafrecht aktiven internationalen Organisationen: der Association Internationale de Droit Pénal (AIDP), der International Academy of Comparative Law (IACL) und der Société Internationale de Défense Sociale pour une Politique Criminelle Humaniste (SiDS). Die wissenschaftlichen Arbeiten von Ulrich Sieber erschienen in zahlreichen Übersetzungen, die das große Interesse im Ausland an dem Forschungsansatz des Instituts belegen. Besonders intensiv war die Rezeption seiner Arbeiten in Asien, welches ihn besonders anzog. Neben seiner Dissertation, die 1980 auch in japanischer Sprache publiziert wurde, erschienen umfangreiche Sammelbände mit Aufsätzen von ihm in japanischer, koreanischer, chinesischer und nunmehr auch in türkischer Sprache. Für seine wissenschaftlichen Leistungen und für sein Engagement in der internationalen Zusammenarbeit wurde er mit neun Ehrendoktorwürden ausgezeichnet: an der Waseda University Tokio/Japan, der Nationalen und Kapodistrian Universität von Athens/Griechenland, der Universidad Nacional Mayor de San Marcos (Lima/Peru), der Universidad Nacional del Altiplano de Puno/Peru, der Freien Universität Burgas/Bulgarien, der Universität Pécs/Ungarn, der Süd-West-Universität Neofit Rilski (Blagoewgrad/Bulgarien), der West University Timisoara/Rumänien sowie der Universidad de Chiclayo/Peru. Darüber hinaus war er Gastprofessor an der staatlichen Todai Universität in Tokyo sowie an den Juristischen Fakultäten der Peking-Universität, der Renmin-Universität und der Beijing Normal-Universität in Peking und der Universität Wuhan.
VI. All die vorstehenden, bereits höchst selektiv herausgegriffenen, wissenschaftlichen Leistungen machen den Jubilar zu einem Vorbild – nicht nur, aber vor allem auch für seine drei Habilitanden, die als Herausgeber dieser Festschrift fungieren. Keine weniger wichtige Vorbildfunktion hat aber der Mensch Ulrich Sieber: Alle, die an seinen Lehrstühlen oder am Max-Planck-Institut mit ihm zusammenarbeiteten, haben ihn immer als zwar durchaus fordernden, aber eben auch fördernden Chef und Mentor ebenso kennen gelernt wie als stets freundlichen und herzlichen Gesprächspartner, der jedem – den studentischen Mitarbeitern über das Verwaltungspersonal bis zu den Assistenten und Referenten – mit Achtung begegnet ist und „seinen Leuten“ den Rücken gestärkt hat. Während seiner Zeit am Max-Planck-Institut war er zudem regelmäßig mit großem Engagement darum bemüht, bei besonderen Problemen insbesondere ausländischer Mitarbeiter und Gäste Abhilfe zu schaffen,
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etwa bei der Klärung aufenthaltsrechtlicher Schwierigkeiten. Und seine Hilfsbereitschaft war nicht auf die Personen beschränkt, von denen er auch selbst „etwas zu erwarten“ gehabt hätte: Einer der Mitherausgeber erinnert sich bis heute daran, wie Ulrich Sieber für einen emeritierten älteren Fakultätskollegen einen eigenen studentischen Mitarbeiter einstellte, damit dieser sich auf der Suche nach Unterstützung nicht wie ein Bittsteller fühlen sollte. Auch diese persönlichen Seiten, die in einer Festschrift legitimerweise weniger im Fokus stehen als die wissenschaftlichen Meriten, für das Gesamtbild eines Wissenschaftlers aber nicht weniger wichtig sein sollten, sind gewiss nicht nur für uns drei Herausgeber Anlass, unsere Glückwünsche an Ulrich Sieber mit einer tief empfundenen Dankbarkeit zu verbinden. Sie machen darüber hinaus aber auch Hoffnung für die Zunft im Allgemeinen und für den wissenschaftlichen Nachwuchs im Besonderen, zeigen Sie doch, dass man auch mit Gemeinsinn und Charakter ausgezeichnete Erfolge in einer wissenschaftlichen Karriere erreichen kann. Die herausgeberische Betreuung eines Werkes mit diesem Umfang und so vielen Autoren aus dem In- und Ausland wäre für uns drei allein nicht möglich gewesen. Wir danken daher zahlreichen Helferinnen und Helfern am Erlanger Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie ebenso wie dem Verlag Duncker & Humblot und hierbei namentlich Frau Regine Schädlich für die engagierte, vertrauensvolle und geduldige Betreuung des Werkes. Frankfurt/Erlangen/Freiburg, im April 2021
Marc Engelhart Hans Kudlich Benjamin Vogel
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TEILBAND I I. Grundlagen des (Straf-)Rechts und der Kriminalpolitik Lorena Bachmaier Winter Comparative Law, Legal Metaphors and Negotiated Justice . . . . . . . . . . . . . . .
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Matthew Dyson Age Before Beauty; Pearls Before Swine: when the Criminal Law’s Content Gives Way . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Luís Greco Kants Insel. Zu den guten und schlechten Gründen gegen die Vergeltungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Tatjana Hörnle Große Erzählungen der Strafrechtsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Makoto Ida Zur Wahrheit der strafrechtlichen Problemlösung. oder: auf der Suche nach einer universell gültigen Strafrechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Yesid Reyes Kommunikative Handlung und Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Allgemeiner Teil des Strafrechts Gunnar Duttge Recklessness statt dolus eventualis? Zur Systematik der subjektiven Tatseite de lege ferenda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Marc Engelhart Mitwirkung von Führungspersonen an der Tat und individuelle Organisationsverantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Walter Gropp Das subjektive Rechtfertigungselement als hermeneutisches Problem . . . . . . .
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Claus Roxin Genehmigungsprobleme im Umweltstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Franz Streng Actio libera in causa als Unterlassenskonstruktion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
147
Benjamin Vogel Subjektive Einstellungen im strafrechtlichen Handlungsbegriff . . . . . . . . . . . .
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III. Besonderer Teil des Strafrechts Jens Bülte Containern: Eigentumsdelikt ohne Eigentumsverletzung? . . . . . . . . . . . . . . . . .
183
José de Faria Costa Umweltstrafrecht zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Kritische Überlegungen . . .
197
José-Luis de la Cuesta On Ecocrimes and Ecocide in the Global Risk Society. Function and Limits of Environmental Criminal Law from the Perspective of the Association Internationale de Droit Pénal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
207
Mordechai Kremnitzer und Khalid Ghanayim Tötung des Haustyrannen: Minderschwere Tötung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
219
Volker Krey About the Criminal Liability of Wives for Adultery. A Classic Example of Oppressing Women Reflections on the Legal History of Roman Antiquity . . .
235
Christos Mylonopoulos Is the Possession of the Parthenon Sculptures by the British Museum a Criminal Offense According to English Law? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
255
Ulfrid Neumann Probleme der Rechtfertigung bei der Offenbarung von ärztlichen Geheimnissen (§ 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
275
Ays¸e Nuhog˘ lu Legal Provisions on Sexual Offences in the Istanbul Convention and the Turkish Criminal Code . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
293
Rudolf Rengier Zur Schadensberechnung bei Betrug und Untreue – Wider Unmittelbarkeitsund pro objektive Zurechnungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
303
Sergio Seminara Sterbehilfe und Sterbenlassen nach italienischem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . .
329
Eugenio R. Zaffaroni und Guido L. Croxatto Massenproteste im argentinischen Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
345
Frank Zieschang Preußenadler auf dem blauen Euro-Feld eines Kfz-Kennzeichens als Missbilligung der Europäischen Union – Strafbarkeit wegen Urkundenfälschung? . . .
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Inhaltsverzeichnis
Nadine Zurkinden Zur Risikoverteilung zu Lasten des Opfers im Schweizer Betrugstatbestand . .
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IV. Wirtschaftsstrafrecht und Compliance Martin Böse Die strafrechtliche Verantwortlichkeit deutscher Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen im Ausland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Luigi Foffani und Adan Nieto Martin Auf dem Weg zu einem europäischen Wirtschaftsstrafrecht der Menschenrechte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Wolfgang Heckenberger Wesentliche Elemente und Implementierung eines effektiven kartellrechtlichen Compliance Programms – unter besonderer Berücksichtigung der kartellrechtlichen Leitlinien des US-amerikanischen Justizministeriums . . . . . . . . . . . . . .
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Matthias Jahn Friktionen in globalisierten Wirtschaftsstrafsachen: § 353d Nr. 3 StGB und die amerikanische Pre Trial-Discovery . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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William S. Laufer Corporate Compliance in Context . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
461
Attilio Nisco Wirtschaft und Menschenrechte. Perspektiven einer Unternehmensstrafbarkeit
469
Víctor Roberto Prado Saldarriaga Asset Laundering Through Cryptocurrency in Emerging and Informal Economies. The Case of Peru . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
485
Wolfgang Wohlers Die Verbandsschuld – Pièce de résistance für ein Verbandsstrafrecht . . . . . . . .
503
V. Strafprozessrecht Werner Beulke Der Verteidiger und sein Mandant – von Alsberg bis heute . . . . . . . . . . . . . . . .
521
Juan-Luis Gómez Colomer Die Zunahme des staatlichen Interventionismus bei der Ermittlung von Straftaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
533
Rainer Hamm Wann verdienen tatrichterliche Feststellungen das revisionsrechtliche Testat „rechtsfehlerfrei“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
545
Jiahong He Burden of Proof in Self-Defense Cases . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
559
XVIII
Inhaltsverzeichnis
Hans Kudlich § 203 StGB als Grenze kooperativen Beschuldigtenverhaltens beim Zugriff auf Beweismittel in Anwaltskanzleien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
573
Heinz Schöch Wieviel Verletztenrechte verträgt das Strafverfahren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
591
Morikazu Taguchi Absprachen in der japanischen Strafprozessordnung – Eine rechtsvergleichende Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
609
Gerson Trüg Durchsuchung und Beschlagnahme gegen im unternehmensstrafrechtlichen Kontext tätige Rechtsanwälte – im Lichte der VW-Entscheidung des BVerfG
635
Richard Vogler The Disappearance of Criminal Justice . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
655
Feridun Yenisey Elektronische Beweismittel im türkischen Strafprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
667
TEILBAND II VI. Computer- und Informationsstrafrecht Héctor Hernández Basualto Der unbefugte Zugang zu einem Computersystem und die Grenzen des zu beachtenden Willens des Rechtsinhabers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
681
Emmanouil Billis, Nandor Knust und Jon Petter Rui Künstliche Intelligenz und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . .
693
Dominik Brodowski Digitalisierung als Herausforderung und Zukunftsaufgabe für das materielle Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
727
Christoph Burchard Digital Criminal Compliance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
741
Jörg Eisele Strafbares Betreiben von sog. Darknetplattformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
757
Eric Hilgendorf Vom Werkzeug zum Partner? Zum Einfluss intelligenter Artefakte auf unsere sozialen Normen und die Aufgaben des Rechts. Skizze eines interdisziplinären Forschungsprojekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
767
Thomas Hoeren Das Informationsrecht ist tot, es lebe das Informationsrecht. Überlegungen zu einem scheinbar überflüssig gewordenen Fach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
779
Inhaltsverzeichnis
XIX
Mustafa Temmuz Og˘ lakcıog˘ lu Aktuelle Rechtsprechung: Materielles Strafrecht (Berichtszeitraum 1. 1. 2030 – 31. 12. 2030) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
791
Lorenzo Picotti Cybercrime und Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
807
Johanna Rinceanu Menschenrechte in der digitalen Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
831
Silvia Tellenbach Ein Streifzug durch das iranische Computerstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
851
Stephen C. Thaman Erzwungene Entschlüsselung Digitaler Dateien. Eine Herausforderung für die Strafrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
867
VII. Strafrecht und Sicherheitsrecht Jan-Hendrik Dietrich Verfassungsschutz in der föderalen Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
885
Wolfgang Frisch Terrorismus und präventives Strafrecht. Zu den Möglichkeiten und Problemen eines sogenannten präventiven Strafrechts gegen terroristische Straftaten . . . .
905
Kurt Graulich Zum Trennungsgebot im Sicherheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
929
Momyana Guneva Haben wir die Büchse der Pandora geöffnet? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
947
Florian Jeßberger Terrorismusstrafrecht und humanitäre Hilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
959
Valsamis Mitsilegas ‘Security Law’ and Preventive Justice in the Legal Order of the European Union. The Case of Counter-terrorism . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
975
Ralf Poscher Virtuelle Versammlungen und Versammlungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
989
Bettina Weißer Unterstützung von Terrororganisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1001 Zunyou Zhou China’s Criminal Law Against Cyberterrorism . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1017
XX
Inhaltsverzeichnis
VIII. Internationales und ausländisches Strafrecht sowie Strafrechtsvergleichung Koffi Kumelio A. Afand¯e The Prevention and Repression of the Crime of Genocide: A New Generation out of the Kamite Continent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1033 Gerhard Dannecker Der Grundsatz der Einmaligkeit der Strafverfolgung: Verbot der Parallelverfolgung vor erstmaliger rechtskräftiger Sanktionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1073 Albin Eser Varianten der Strafrechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1095 Robert Esser Die Europäische Ermittlungsanordnung (EEA). Ein Auslaufmodell vor dem Beginn seiner praktischen Erprobung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1111 Peter Frank Völkerstrafrecht in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme der letzten Jahre . . . 1133 Martin Heger Zur Vorgeschichte des Europäischen Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1147 Katsunori Kai Medical Safety and the Role of Criminal Law from the Viewpoint of Comparative Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1165 Hans-Heiner Kühne Der europarechtliche Rechtsschutz gegen eine „red notice“ von INTERPOL
1175
Raimo Lahti Entwicklungstrends der finnischen Strafrechtswissenschaft von den 1970-er bis zu den 2010-er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1183 Frank Meyer Financial Intelligence Units – Epitome and Test Case of Transnational Security Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1203 Walter Perron Gedanken zur Europäischen Ermittlungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1217 Christoph Safferling Ist die Krise des Internationalen Strafgerichtshofs auch eine Krise des Völkerstrafrechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1235 Frank Saliger Zur Nichtanwendbarkeit von § 284 StGB auf von ausländischen Servern hochgeladene und in Deutschland abrufbare Internet-Glücksspiele . . . . . . . . . 1251 Helmut Satzger Umwelt- und Klimastrafrecht in Europa – die mögliche Rolle des Strafrechts angesichts des „Green Deal“ der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1267
Inhaltsverzeichnis
XXI
Bertram Schmitt Diversität der Prozesssysteme in der Praxis des Internationalen Strafgerichtshofs. Am Beispiel der Beurteilung der Zulässigkeit und Erheblichkeit von Beweismitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1281 Gerhard Werle und Aziz Epik Strafzwecke und Strafzumessung in der Praxis des Internationalen Strafgerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1299 IX. Strafrechtliche Sanktionen, Strafvollzug und Kriminologie Hans-Jörg Albrecht Organisierte Kriminalität – Strukturen und Erklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1321 Nestor Courakis Juvenile Justice in Greece. An Overview Following the Legislative Reform of 2019 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1335 Dieter Dölling Zum Stand des deutschen Strafzumessungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1345 Thomas Hillenkamp Serientötungen kranker und pflegebedürftiger Menschen. Anmerkungen zum Fall Niels H. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1357 Elisa Hoven Strafzumessung in Australien – ein Vorbild für Deutschland? . . . . . . . . . . . . . 1373 Jörg Kinzig Organisierte Kriminalität und Clankriminalität: Gemeinsamkeiten und Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1391 Luis Arroyo Zapatero Strafe und Zwangsarbeit im Strafvollzug während der ersten Phase des FrancoRegimes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1415 Lucia Zedner and Andrew Ashworth Administrative Sanctions: Two Contradictions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1435 Veröffentlichungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1445 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1473
I. Grundlagen des (Straf-)Rechts und der Kriminalpolitik
Comparative Law, Legal Metaphors and Negotiated Justice By Lorena Bachmaier Winter
I. Introduction One of Prof. Ulrich Sieber’s great contributions to modern legal sciences – and certainly not the only one – has been his understanding of the relevance of comparative law as an essential method to address the legal challenges of a globalized – and increasingly transnational – world. Being a pioneer in the study of digital law and cybercrime, he detected very early that in the digital world all legal systems are interconnected; and he also understood that legal studies – and solutions – could not be disconnected any longer and had to rely on comparative law. These pages only seek to pay tribute to someone who has been able to delve into the meaning of comparative law, the need for dialogue between legal systems and also the need for dialogue between disciplines, without preconceived ideas or prejudices, with an open mind to face the present and future challenges for legal science. While in the past the legal transfers took place primarily through war invasions, political conquests or migrations, currently legal transfers occur mostly through other ways: globalization, harmonization in supra-regional systems, political integration – such as the European Union – and international legal cooperation programs represent nowadays powerful channels for the interaction of legal systems and the import of legal solutions and models. In such a context, the role of the comparative lawyer gains in importance, since legal science cannot be limited anymore to the study of the national legal system itself. The same applies to the law-making process: in a globalized world, legislators cannot adopt rules in isolation, ignoring the development of legal solutions in the rest of the world. Watson defined comparative law as the study of relations, mainly the historical relations between different legal systems or between the rules of different systems.1 However, comparative law does not need always to address the analysis of the historical relationship between systems or the study of different legal traditions in the abstract; it can also focus on particular institutions, how they are imported and inserted in another legal system. This contribution will try to reflect on comparative law, 1 Watson, A., Legal Transplants. An Approach to Comparative Law, Athens/London, The University of Georgia Press, 1993 (2a ed.), p. 9.
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the interaction of legal systems and the use of legal metaphors from the perspective of a specific legal institution of the criminal procedure that has been transferred from the U.S. to the European continental system: negotiated justice and plea agreements.2 Plea bargaining’s “journey” from the common law to the continental European systems is of special interest to any comparative lawyer because, being one of the most salient institutions of the “dispute resolution” model, it has nevertheless been introduced into the European continental procedural model, whose main feature continues to be the official comprehensive inquiry in search of the truth, in order to establish the criminal liability. Is it necessary or useful to resort to legal metaphors to define this legal interaction? Which metaphor would be more adequate? Could this legal transfer be described as a successful one? These are some of the questions I will try to reflect on.
II. Legal Transplants and Other Metaphors in Comparative Law Comparative lawyers seem to like resorting to metaphors, perhaps because, after more than a century, the concept of comparative law is still debated. A metaphor is defined as a rhetorical figure by means of which a reality or concept is expressed through a different one suggesting that they are similar. Resorting to metaphors implies to some extent labelling a phenomenon and fulfils a cognitive function: it fosters a better understanding and communication by applying a concept to an object or action to which it is not literally applicable. In comparative law, metaphors have proliferated especially to define the type of relationship that takes place between legal systems as well as to determine the effects that such interactions produce in the receiving system. Thus, in legal literature we find, among others, terms such as legal transplants, legal irritants,3 legal formants,4 legal resistant,5 legal inoculation,6 legal contaminations;7 and also legal translations.8
2 This paper has its origins in the reading and later discussions of Máximo Langer’s paper “From Legal Transplants to Legal Translations: The Globalization of Plea Bargaining and the Americanization Thesis in Criminal Procedure”, 45 Harv. Int’l L.J. 1 (2004), pp. 1 – 65, published in Donnes, A. (ed.), Culturas Procesales: el Juicio Abreviado, special issue Revista Discusiones, 1 – 2018. 3 Teubner, G., “Legal Irritants: Good Faith in British Law or How Unifying Law Ends up in New Divergences”, The Modern Law Rev. 11 (1998), pp. 11 – 32. 4 Sacco, R., “Legal formants: a Dynamic Approach to Comparative Law”, 39 (1991) American Journal of Comparative Law, p. 1343 ss.; Watson, From Legal Transplants to Legal Formants (fn. 3), pp. 469 – 476. 5 Jackson, J., “Playing the Culture Card in Resisting Cross-Jurisdictional Transplants: A Comment on Legal Processes and National Culture”, 5 (1997) Cardozo Journal of Intl. & Comp. Law, p. 51 ff.
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Given this terminological variety, it might be worth asking whether all these legal metaphors are useful or accurate to describe the interaction of legal systems and rules and the results thereof. The most widespread term to conceptualize the interaction between systems is likely legal transplants. As is known, the term was popularized by Watson, for whom legal transplants have been one of the most frequent and fertile channels of legal evolution throughout history;9 and legal borrowing occurs for a very simple reason: because importing legal solutions is easier than creating them ex novo.10 Watson, who was a Romanist and a historian of Scottish law, focused part of his study on the historical relationship between legal systems as well as on the influence that Roman law – and later also Canon law – had on the territories conquered by Rome. In that context, he analysed, inter alia, in which ways Roman law was introduced in Scotland and the reasons why the civil law tradition was preserved in Scotland. For Watson, the massive borrowings we can see through history contradict Savigny’s idea that law is an expression of the spirit of a people.11 And, certainly, the extensive adoption of Roman law and Roman culture is a clear proof of the permeability of societies to imported legal systems. From that “macro-legal” perspective based on the Romanization process it cannot be denied that legal transfers – and legal evolution – have occurred through conquests, migrations and voluntary importation processes, in a manner similar to an organ that is extracted from its original body and implanted in another to develop its same function.12 Legrand, however, considers that legal transplants are impossible and criticizes Watson for not taking into account the meaning of what is the rule and what is a legal system;13 the real meaning of the rule cannot be displaced because it always refers to an “idiosyncratic socio-cultural situation”.14 Obviously, if the concept of 6 Grande, E., “Legal Transplants and the Inoculation Effect: How American Criminal Procedure has Affected Continental Europe”, 64 (2016) American Journal of Comparative Law, pp. 583 – 618. 7 Monateri, P. G., “The ‘Weak Law’: Contaminations and Legal Cultures. Borrowing of Legal and Political Forms”, 13 (2003) Transnat’l L. & Contemp. Probs., p. 575 ff., accessible at www.alanwatson.org. 8 Additional legal metaphors are listed by Grande, Legal Transplants and the Inoculation Effect (fn. 7), p. 585, as for example, legal fluxes, legal grafts, legal circulation or legal migration. 9 Watson, Legal Transplants. An Approach to Comparative Law (fn. 1), p. 95. 10 Watson, Legal Transplants. An Approach to Comparative Law (fn. 1), p. 21, quoting Roscoe Pound: “History of a system is largely a history of borrowings of legal materials from other legal systems”, p. 22. 11 Ibid. 12 Watson, Legal Transplants. An Approach to Comparative Law (fn. 1), p. 27. 13 On the contrary, Legrand, P., “The impossibility of legal transplants”, 4, issue 2 (1997) Maastricht Journal of Eur. & Comp. Law, pp. 111 – 124, p. 113. 14 See Legrand, The impossibility of legal transplants (fn. 14), p. 117 – 118.
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rule is being intrinsically linked to the socio-cultural context, the concept of legal transplant also acquires a different connotation: it would never be possible. Teubner also questions the feasibility of legal borrowing on the basis that, in his opinion, foreign legal solutions do not end up fitting into the context in which they are inserted. Furthermore, in many cases they cause strong resistance towards legal changes. Teubner analyses the results of the attempts to harmonize the principle of contractual good faith at a European level and its implementation in English private law. Taking this case, he stresses the difficulties of transferring legal institutions to other systems which are based on completely different principles and operate through different institutions and structures, acting ultimately as legal irritants in the receiving legal system.15 Like Langer, he also moves away from the concept of legal transplants, although not for being too vague but because he considers it misleading in itself.16 In addition, it should be noted that it is quite difficult to determine when legal transplants have been successful or when they have failed. As Nelken points out, the concept of success depends on the perspective adopted;17 the success of a legal transplant will vary depending on whether the focus is placed on the system that exports the legal rules, on the coherence of the receiving system, or on the fulfilment of the objectives of the actors that promote the importation of the foreign solution. Transplants can also be deemed successful when there has been full integration of the legal norm into the political and legal context of the receiving system or it has created a functional equivalence. Therefore, as Nelken proposes, it may be more appropriate to speak of the effects of transplants rather than of its success or failure.18 On the other hand, the effects of the legal transplant will depend on the type of rule or legal institution that is being transferred, on the characteristics of the society in which the imported norm is to be inserted, and on the channel through which the transfer is carried out.19
III. Plea Bargaining: A Legal Transplant or a Legal Translation? Plea bargaining mechanisms or some kind of consensual forms of justice have been implemented in practically all legal systems of the continental European tradi15
Teubner, Legal Irritants (fn. 4), pp. 11 – 32, p. 12 ff. Ibid., p. 12. 17 See Nelken, D., “The Meaning of Success in Transnational Legal Transfers”, 19 (2001) Windsor Yearbook of Access to Justice, pp. 349 – 366, p. 350 ff. 18 Nelken, The Meaning of Success in Transnational Legal Transfers (fn. 18), p. 354. 19 Ibidem. 16
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tion,20 and also in what we could still call the Soviet and Asian systems.21 The legal systems that have chosen to introduce forms of negotiated justice in their criminal proceedings have not limited themselves to borrowing, or just copy-pasting, a foreign regulation. When importing this legal institution into a system, the lawmaker undertakes legal adjustments in order to make it match with its own policies. This would resemble more a legal translation than a transplant.22 To translate means to change words from one language to another.23 The theory of legal translation shows a diversity of approaches to the forms of translating words that go from the literal translation – such as the one required by Emperor Justinian for the Corpus Iuris Civilis – to the idiomatic translation developed during the 20th century.24 In any event, the concept of interpretation is inherent to any translation; and every translation involves a process of “decoding” to adapt the original term to the context where the translated term is to be inserted.25 Therefore, it seems appropriate to describe the import of plea bargaining by continental European legal systems as a process of legal translation. But, is it necessary to use a new metaphor to describe this process? Is the term legal transplant insufficient or misleading? According to Watson, every legal transplant entails a transformation because the transplanted element or system will operate in a different social context that will make it work differently.26 In other words, there is no transplant without transformation, the “mutation” is implicit in the concept of transplant. Also Grande recognizes that every legal import implies an adjustment to the context in which it is
20 Also promoted and supported by the action of the Council of Europe, see CoE Recommendation No. R (87) 18, of the Committee of Ministers to Member States “Concerning the Simplification of Criminal Justice”, adopted on the 17th September 1987. 21 Thaman, S. C., “A Typology of Consensual Criminal Procedures: An Historical and Comparative Perspective on the Theory and Practice of Avoiding the Full Criminal Trial”, in: Thaman, S. C. (ed.), World Plea Bargaining: Consensual Procedures and the Avoidance of the Full Criminal Trial, Carolina Academic Press, Durham, 2010, pp. 297 – 396, 372 ff. 22 See Langer, From Legal Transplants to Legal Translations (fn. 2), pp. 6 ff.; see also Grande, Legal Transplants and the Inoculation Effect (fn. 7), p. 585. 23 Cambridge Dictionary. 24 Sarcevic, S., New Approach to Legal Translation, Kluwer Law Intl., The Hague, London, 1997, pp. 24 – 36. According to this author, throughout the history of legal translation the debate between making the letter or the spirit of the text to be translated prevail, has been continuous. (p. 36 – 37). 25 See Grosswald, C. V., “Comparative Law and Language”, in: Reinmann, M./Zimmermann, R. (eds.), The Oxford Handbook of Comparative Law, Oxford U.P., Oxford, 2006, pp. 675 – 707, p. 677. 26 Watson, Legal Transplants. An Approach to Comparative Law (fn. 1), p. 116: “Transplanting frequently, perhaps always, involves legal transformation. Even when the transplanted rule remains unchanged, its impact in a new social setting may be different. The insertion of an alien rule into another complex system may cause it operate in a different way”.
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inserted;27 and as Damaska puts it, it is like a “legal” music, that sounds different when musicians and instruments change.28 I would add that sometimes certain “adjustments” create an out-of-tune music if not a complete distortion.29 However, Langer when analysing the introduction of the plea bargaining in European criminal justice systems, considers that the term “legal translation” describes better such phenomenon. There is however no contradiction between the two approaches: Watson analyses legal transplants from the perspective of the logic of history and its capacity to change a legal system as a whole – trying to demonstrate that the law is not only the expression of the society in which it operates30, while Langer is more interested in highlighting the transformation of the imported institution in order to adapt into a different legal context (an adversarial institution implanted in an inquisitorial procedure).31 Thus, both metaphors – legal transplant and legal translation – are useful for understanding the process of legal transfers or borrowings. However, the metaphor of “legal translation” might perhaps be more appropriate to define the relationships that occur in the process of legal borrowing: if the transfer of legal solutions from one legal system to another can be understood as a translation process, the comparison between the systems acts itself like the translation between two different languages. Like translation, comparative law allows us to enter into other “languages”, understand other realities and, by providing a broader perspective, better understand our own system. Translators, through the interpretation of the original and its reconstruction, elaborate the meaning of a term. Similarly, comparative lawyers, when analysing a foreign legal system, will also try to “translate” the foreign rules and institutions to understand their real meaning and operation to make the communication between the systems possible. And in doing that, comparative lawyers not only learn a new language-system but also get a deeper understanding of their own legal systems.32
27
Grande, Legal Transplants and the Inoculation Effect (fn. 7), pp. 617 – 618. Damaska, M., “The Uncertain Fate of Evidentiary Transplants: Anglo-American and Continental Experiments”, 45 (1997) American Journal of Comparative Law, pp. 839 – 852, p. 840. 29 As has been the case with the import of plea bargaining in some transitional democracies, see Bachmaier, L., “The European Court of Human Right’s Confronted with Negotiated Justice and Coercion”, European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice, 26 (2018) pp. 236 – 259, with regard to the system adopted in Georgia. 30 Watson, A., “The Birth of Legal Transplants”, 41 (2003) Georgia Journal of International & Comparative Law, pp. 605 – 608, p. 607. 31 Langer, From Legal Transplants to Legal Translations (fn. 2), pp. 6 ff. 32 Grosswald, Comparative Law and Language (fn. 26), p. 699: “If comparative law is the translator of the law of others and otherness, but translation is not the making equivalent of foreign languages, only a lantern that makes visible how every mode of meaning signifies”. 28
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IV. Impact of the Imported Institution on the Continental European Criminal Procedure: Convergence or Inoculation? Once the legal transplant or translation has been defined and described, it is time to ask what has been the impact of introducing forms of negotiated justice from the United States in the criminal proceedings of continental European systems. In order to determine such influence, rather than the study of the normogenesis or an historical comparison,33 it might be more interesting to focus on the results caused by this transfer and how the institution of plea bargaining has been received in the European continental criminal procedure. As Langer points out,34 the import of plea bargaining has not altered either the structure or the objective of the criminal procedure of the European systems. Introducing plea bargaining into the procedural context of European legal systems has not resulted in a change of the continental model of criminal proceedings towards a party-driven criminal procedure. It has been rather the opposite; instead of causing a change in the European procedural model, plea bargaining has experienced a major transformation to adapt to the structure of the inquisitorial model, where the principle of legality and the search of the truth are still prevailing principles. The introduction of plea bargaining into continental Europe criminal procedure could perhaps be seen as a “weak Americanization”, in the sense that the receiving systems have accepted certain flexibility in the rigid understanding of the principle of legality for reasons of efficiency in the conflict resolution.35 Nevertheless, this has not led to a change of the basic principles and structure of continental European criminal procedure, which remains unaltered in its main features. Grande shares with Langer the view that the result of the borrowing of elements of the U.S. criminal procedure by the European continental procedure has not caused the latter model to be essentially modified,36 as it has not become a party-driven procedure where each of the parties defends its own position and interests in front of a court that is alien to the search of the truth.37 Grande goes even further by stating – in 33 Expression used by Wigmore, J. H., in: “A New Way of Teaching Comparative Law”, Journal of the SPTL, 1926, cited by Watson, Legal Transplants. An Approach to Comparative Law (fn. 1), p. 3. 34 Langer, From Legal Transplants to Legal Translations (fn. 2), p. 44 ff., focusing on the German criminal procedure. 35 See Bachmaier, L., “La no-americanización del proceso penal continental europeo: del trasplante a la traducción jurídica en Langer”, in: Donnes, A. (ed.), Culturas Procesales: el Juicio Abreviado, special issue Revista Discusiones, 1 – 2018, pp. 135 – 164, p. 154. 36 Although Grande, (fn. 7), in her argumentation on the inoculation of European systems, refers also to the jury, the exclusionary rules of evidence, the cross-examination and the role of the public prosecution, see pp. 587 ff. 37 Against considering that any active involvement of the trial court in the evidence crossexamination entails a loss of judicial impartiality, see Bachmaier, L., “Imparcialidad y prueba
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my opinion convincingly – that what at first sight might seem to be a convergence of systems in fact is the opposite: instead of an Americanization of the continental procedure, the import – and the adjustment – of institutions from the U.S. system have caused the immunization of the European continental procedure against the American procedural model: adopting – and adapting – key elements of adversarial systems, such as various forms of negotiated justice, have acted as a vaccine in the importing systems. Thus the result of incorporating a strange element as the plea bargaining into the European more inquisitorial model, along with other elements of the US criminal procedure, has strengthened one of the most salient features of the continental procedure: the official inquiry by an impartial public prosecutor, who is accorded the task to search for the truth without acting in a partisan way, and who assumes also the role of protecting the procedural safeguards ensuring compliance with human rights standards in the whole procedure, from the pretrial stage up to the sentencing phase.38 Granting the members of the public prosecution similar safeguards as those provided for the judges’ independence, the so-called inquisitorial model has not been abandoned; it has just corrected errors of the past and evolved towards a fair procedure based on the search of the truth – as much as possible – while keeping the advantages of the adversarial contest. At the end, the continental systems’ criminal procedure has promoted the efficiency of criminal justice by importing forms of negotiated justice, but without renouncing its essential features, such as the principles of equality, legal certainty, and impartiality in the pretrial investigation. The European continental model still adheres strongly to the idea that the criminal investigation must be carried out primarily by a public institution vested with impartiality, with powers to investigate the facts in the most exhaustive possible way, with the sole purpose of finding the historical truth, or at least collecting all the materials that allow to come closer to the historical facts. I share with Grande the idea that the legal transplant of elements of the U.S. criminal procedure has not resulted in a change of the whole European model, which continues to be essentially inquisitorial and has not advanced into a party-driven system. 39 The idea that the U.S. influence on the continental criminal procedure has strengthened its most distinctive features – the official and comprehensive pretrial investigation – is present also in Langer’s work. He recognizes that, instead of mutating, the continental model has remained firm against the Americanization of the criminal procedure. If such resistance is seen as a reaffirmation of the European inquisitorial system, it could be concluded that foreign elements have caused an immunization through inoculation. The legal metaphor of “legal inoculation” would be therefore adequate to describe the process of this legal borrowing.
en el proceso penal: reflexiones sobre la iniciativa probatoria”, Rev. Brasileira de Direito Processual Penal, vol. 4/2, (mayo/agosto 2018), pp. 501 – 532. 38 Grande, Legal Transplants and the Inoculation Effect (fn. 7), p. 583. 39 Ibidem, p. 584.
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We can then raise the question of whether such process of legal borrowing has produced the effect of approximating the different European systems of criminal procedure. If we focus on the impact that plea bargaining has had on the different national criminal proceedings of European countries, the conclusion is that it has not substantially altered the receiving systems.40 As Legrand remarks, legal transfers do not intend to leave the original unchanged and do not seek unity.41 Therefore, it is to be expected that the entire translation process – and also the legal translations – end up in creating further divergences.42 Likewise, both Teubner and Langer (the former focusing on the process of globalization and the latter on the plea bargaining export) recognize that each legal transplant generates differences among the receiving systems. In other words, the raise in the interaction between legal systems, and the increasing number of transfers and mutual influences, have not resulted in greater uniformity but they rather in multiplying the divergences.43 Finally, there is the question of whether the introduction of plea bargaining in European criminal procedure can be considered positive or rather distorting. From the perspective of efficiency, there is no doubt that this legal transplant should be deemed positive. Indeed, efficiency is probably the main reason why some forms of negotiated justice have expanded rapidly throughout continental systems. Even if we look at this process from the perspective of the accused’s fundamental rights and procedural guarantees, it cannot either be considered negative, since no serious violations of human rights have been detected that could be traced back to the forms of plea bargaining in the European landscape. If we now turn to the point of view of the coherence and fairness of the legal system, the assessment depends on the importance recognized to holding a trial with full confrontation. If the oral trial is defined as the crucial element of the criminal proceedings, and we understand that justice can be achieved only through a public trial where evidence is presented before the court and full cross examination is ensured, then it is difficult to accept as positive an institution that leads to the waiver of the trial. Exclusively from such perspective negotiated justice could be viewed as incon40
See Langer, From Legal Transplants to Legal Translations (fn. 2), pp. 39 ff. “Translation acts as an operator of difference; it has a difference-creating power”, see Legrand, P., “The same and the different”, in: Legrand, P./Munday, R. (eds.), Comparative Legal Studies: Traditions and Transitions, Cambridge University Press, Cambridge, 2003, pp. 240 – 311, p. 291. 42 Ibidem, p. 292. 43 However, considering that there is a convergence of the civil and common law systems, see Merryman, J. H., “On the Convergence (and Divergence) of the Civil Law and the Common Law”, in: The Loneliness of the Comparative Lawyer and Other Essays in Foreign and Comparative Law, Kluwer Law Intl, The Hague, 1999, pp. 17 – 52, pp. 28 – 29, first published in 1978, in: Cappelletti, M. (ed.), New Perspectives for Common Law in Europe. For PérezPerdomo, R./Friedman, M., the convergence between the legal traditions is also increasing, see “Latin Legal Cultures in the Age of Globalization”, in: Friedman, M./Pérez-Perdomo, R. (eds.), Legal Culture in the Age of Globalization. Latin America and Latin Europe, Stanford University Press, Stanford, 2003, pp. 1 – 19, p. 17. 41
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sistent with the European continental model of criminal procedure. Of course, it is impossible to determine whether introducing other forms of negotiated justice or opting for not introducing any of them would have produced better results, more coherent systems or more fair proceedings. Once a legal transplant has taken place, there is no actual possibility to assess its results in comparison to other alternatives; in the area of legal reforms, we cannot measure the effect of alternative solutions, as there is nothing as a social laboratory to compare the impact of different formulae.44 In any event, we should not lose sight that the adoption of forms of negotiated justice in European legal systems has neither created serious inconsistencies in the procedural model nor caused pathologies in its implementation. To my knowledge, no coercive practices similar to those described in the U.S. plea bargaining system,45 have been identified. Such absence of coercive traits in the practice of negotiated justice in Europe is largely due to the existence of an impartial public prosecutor, who is not a party in the usual sense and therefore is not driven by a party interest, whose function is to defend the law and the public interest, and whose discretionary powers are subject to reasonable limitations. This fact suggests and additional conclusion. Sometimes the result of a legal translation not only creates a diversification in the receiving legal systems but also results in an improvement of the institution that was imported. In the process of integrating plea bargaining into the continental European criminal procedure, this instrument has not only been “translated” or adapted to a new legal environment but has also mutated for the better.
V. Concluding Remarks The proliferation of metaphors in the field of comparative law can be seen as a consequence of the diversity of approaches that is essential to comparative law.46 Metaphors also reveal that there are many different types of legal transfers and that, depending on the area on which they are projected, they will be easily assimilated or, on the contrary, will generate distortions and resistance in the receiving legal system. In turn, the degree of such resistance may be explained by a number reasons, especially, to what extent the legal norm or institution in question is connected with the key elements that shape the society in which the foreign institution is going to be inserted:47 transplants will occur smoothly in certain legal areas, while in others, 44 See also Merryman, On the Convergence (and Divergence) of the Civil Law and the Common Law (fn. 44), p. 30. 45 See Thaman, A Typology of Consensual Criminal Procedures (fn. 22), p. 375. 46 Watson, Legal Transplants. An Approach to Comparative Law (fn. 1), p. 6, and p. 95, quoting Otto Kahn-Freund, “Comparative Law as an Academic Subject”, 82 Law Quarterly Review (1966), pp. 40 ff. at p. 41. 47 Teubner, Legal Irritants (fn. 4), pp. 18 – 21.
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more intrinsically linked to the social context, the foreign element will be contested strongly.48 Among the various legal metaphors used in comparative law and discussed here it is difficult to choose one as the most accurate or correct. In my view, each of them refers to different aspects of the interaction between systems or the impact of an imported institution into its receiving system. This can be seen in the process of legal borrowing of plea bargaining by the procedural systems that adhere to the European continental model of criminal justice. All of the metaphors used by scholars – the legal transplant by Watson, the legal translation by Langer, or the legal inoculation by Grande – are indeed adequate and descriptive. Watson’s perspective is more attentive to reaffirming the viability of transplants despite the constraints of the social context, thus questioning Savigny’s legal theory of law as the reflect of the Volksgeist. Langer is interested in demonstrating that legal borrowing ends up in transforming the imported institution, first through the legislative process and later in the implementation process. And Grande pays attention to the reinforcement of the very principles of inquisitorial criminal procedure despite the introduction of institutions that belong naturally to the adversarial system. It could be argued whether those different perspectives justify the multiplicity of metaphors, but in my opinion all of them are valid and are compatible. The metaphor of legal translation does not necessarily contradict the more general concept of legal transplant,49 and both can be reconciled with the possible legal inoculation that a legal transplant and/or translation may cause in some cases. Let us turn back now to the import of plea bargaining, which, as has been explained, has not resulted in an Americanization of continental European criminal procedure, whose structure, and its essential principles and objectives, have remained unaltered. We could even go further and reconsider whether the recent adoption of plea bargaining in Europe is just the result of a legal borrowing from the U.S. or it is rather the result of restoring forms of consensual solutions that historically existed in continental Europe where the parties, as owners of the procedure, could offer the pardon to the accused, most often in exchange for compensation of damages. At the end, the historical interaction between the Roman procedural law and the common law procedure cannot be overlooked.50 And, taking into account that forms of negotiated justice had already existed in the criminal proceedings in Europe, it might be even possible to make use of a new metaphor. We could well describe this process as a legal reactivation.
48 Teubner, Legal Irritants (fn. 4), p. 19: “While in loosely coupled areas of law a transfer is comparably easy to accomplish, the resistance to change is high when law is tightly coupled in binding arrangements to other social processes”. 49 Against, however, Langer, From Legal Transplants to Legal Translations (fn. 2), p. 41. 50 See Martínez-Torrón, J., Anglo-American Law and Canon Law: Canonical Roots of the Common Law Tradition, Berlin, Duncker & Humblot, 1998, pp. 161 – 167.
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From a more general perspective, there is still one question that remains open: why continental European systems have been quite permeable to the import of procedural institutions from the U.S., while the latter has remained resistant to any influence of the European criminal procedure model. It would seem that we are traveling along a one-way avenue.51 It is worth paying attention to this reality, which perhaps could be described with a metaphor: the non-permeability or the complete sealing of some legal systems against any legal borrowing or foreign import. Which leads inevitably to another question: should such impermeability be seen as a success, i. e., a sign of completion, or rather a failure, i. e., an inability to communicate or to progress? In any case, the reasons for it should also be studied.
51 See, already two decades ago, Langbein, J. H., “The Influence of Comparative Procedure in the United States”, 43 (1995) American Journal of Comparative Law, pp. 545 – 554, p. 545.
Age Before Beauty; Pearls Before Swine: when the Criminal Law’s Content Gives Way By Matthew Dyson* “Whosoever, being married, shall marry any other person during the life of the former husband or wife … shall be guilty of felony …” Offences Against the Person Act 1861, s. 57. “Any assumption by a person of the rights of an owner amounts to an appropriation …” Theft Act 1968, s. 3.
What definition of “marriage” should the criminal law use in the offence of bigamy? For instance, should it use a civil law definition, or an autonomous criminal definition? What is the definition of “the rights of an owner” for the purposes of theft, where theft is defined as the dishonesty appropriation of property belonging to another, intending to deprive the other of it?1 “Appropriate” is a particularly difficult concept in criminal law where, as in England,2 private law does not employ a concept of ownership while criminal law appears to assume or pretend that it does? In England, to define marriage criminal courts use a private law test, and would defer to a relevant private law court ruling; there does not appear to be any credible suggestion to the contrary.3 However, English criminal courts will, infamously, find that there was an assumption of a right of an owner, even where the owner granted that right, and all rights, to the property, knowing all relevant facts about the defendant and the transaction.4 This might be a prime example of how criminal law is best understood in combination with other legal frameworks.5 * Associate Professor, Faculty of Law, University of Oxford; Tutorial Fellow, Corpus Christi College, Oxford; Associate Member, 6KBW College Hill. Many thanks to Benjamin Vogel, Carsten Momsen and Mathis Schwarze. 1 Theft Act 1968, s. 1(1). 2 In this paper, England refers to the legal system of England and Wales. 3 English courts have added a mens rea requirement, that D did not reasonably believe in a fact affecting his/her matrimonial status which, if true, would make his second marriage lawful: R v Tolson (1889) 23 QBD 168; R v Gould [1968] 2 QB 65; M v P v Queen’s Proctor [2019] Fam. 431. 4 R v Hinks [2001] 2 AC 241. 5 See, e. g., U. Sieber, (2018), ‘The New Architecture of Security Law – Crime Control in the Global Risk Society’, in: U. Sieber et al. (eds.), Alternative systems of crime control: national, transnational, and international dimensions, Duncker & Humblot 2018; U. Sieber/C.W. Neubert, ‘Transnational Criminal Investigations in Cyberspace: Challenges to National
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These are two examples of an underlying difficulty: what should the content of the criminal law be where the relevant conduct is also regulated by private law? Are there principles for deciding this question? If a conflict can be seen between the two, which field of law should triumph and in what way? There appears to be no obvious answers, and no well-known principles which solve the issues; however, if we assume that to be a legal system there must be some level of systematisation for the whole to function, we might seek at least to have a better understanding of the problem. In particular, we might push beyond the assumption that we have rules which are really doing the relevant work. There are certainly surface level rules which reduce the difficulty without removing it, but there are also under-the-surface currents which might contradict or explain the difficulty. By exploring what lawyers have used to avoid facing up to the difficulty explicitly, we might learn more about what the difficulty is, as well as how legal reasoning responds to challenges. There is a surprising similarity with another context, the fraught social situation when two persons find themselves about to go through a door at the same time. In England in particular, people seek to avoid the embarrassment of unknown interaction as each person offers the other priority,6 and there are surface practices to avoid the interaction by changing speed, or shape how it must occur with body positioning. The English also have cutting barbs, sitting under-the-surface in all but the most unpleasant encounters: one might gesture the other forward and say “age before beauty”, implying seniority but inferiority; to which might be replied, “pearls before swine”: that the person going first has quality wasted on the person going second.7
I. Interactions, Terms and Assumptions Behaviour can undoubtedly be regulated by both criminal law and tort law. Obvious examples of overlap can be seen in conduct relating to personal injury, property damage and property deprivation. There is also criminal liability without underlying tortious liability, most obviously in inchoate offences, endangerment offences and a large number of regulatory offences. And of course, there is just as obviously tort liability without criminal liability, though its extent varies more significantly across legal systems. In England, a traditional example would be that the core physical and property protection offences require recklessness (foreseeing a risk and unreasonably taking it) or intention, not mere negligence, though strict liability about at least one physical component of the offence is possible; another example is that a person’s repSovereignty’, in: F. Lachenmann et al. (eds.) Max Planck Yearbook of United Nations Law, vol. 20 (2016), Brill Nijhoff, 2017; U. Sieber, § 26 ‘Urheberstrafrecht’, in: U. Sieber et al. (eds.), Europäisches Strafrecht, 2nd edt., Nomos 2014. 6 Perhaps ended by one person being requires to, in effect, give way and go first. 7 Allegedly the response from satirist Dorothy Parker to writer and politician Clare Booth Brokow; other responses include “dust before the broom” and “beauty was a horse” (e. g., the famous literary horse, Black Beauty).
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utation is only protected by tort law, there are no longer offences like criminal defamation.8 Criminal law and tort law are indeed at times going through the same ‘door’, and it is those cases this paper will focus on. In the same way as there are surface rules, and under-the-surface rules, it is important to understand that criminal law’s content is not just a formal issue. The effect of the criminal law is shaped not just by any given object, but what it means lined up with other parts of the legal system, and applied by legal actors in real life situations. Thus it is not just whether criminal law uses the same definition as tort law for, say, intention (it does not, criminal law’s is generally narrower). We also need to know where intention is used, with what other components of liability, with what consequences and against what other alternatives. Our initial examples of bigamy and marriage furnish one simple application, “marriage” within an offence is given a civil law meaning, and one complex application, since the implications of what “assumption” of the rights of the owner might be is not about the same term in crime and tort, but about the interaction of multiple ideas. Put another way, we have to distinguish, at least, between the principles, substantive rules, procedural rules, and outcomes, from criminal and civil law. Thus, saying that tort law finds a defendant liable, when criminal law does not, need not be surprising: there might not be a relevant crime, the defendant might not have capacity by criminal standards, but civil law might have much lower standards; the victim might have consented validly in tort law but not in criminal law and so on. And simply saying the outcomes should be the same, or that there should be an explanation for not making them the same, misses all the nuance in the explanation. There are also at least three assumptions about this relationship which seem to underlie the responses of many actors: (1) there is a clear relationship, typically one of priority of one area over the other; (2) that relationship of priority is knowable, logical and consistently applied; and (3) the issue is no different to any other issue of criminalisation. The three assumptions are common in England.9 Where a dispute between criminal law and tort law does arise, it is generally assumed that once criminal law is engaged, the interests of the state take priority over the interests of private persons. There is little to no discussion of the issue of how the content of criminal law should be affected by parallel regulation of private law. In general, differences between criminal law and tort law are commonly ascribed to different very generic descriptions of the purpose of each area of law, perhaps with a vague reference to consistency or coherence.10 There are detailed rules on procedural, but not substantive, interac8 Removed by the Coroners and Justice Act 2009, s. 73, but practically irrelevant for decades before then. 9 See generally, M. Dyson/J. Randall, QC, England’s Splendid Isolation, in: M. Dyson (ed.), Comparing Tort and Crime, Cambridge University Press 2015, pp. 18 – 72. 10 E. g., Ashley v Chief Constable of Sussex Police [2008] 1 AC 962, [17] – [18]. Cf. A. Simester/J. Beatson, ‘Stealing One’s Own Property’ (1999) 115 LQR 372, 374 “necessarily
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tions. There is little practical discussion of criminalisation amongst judges and the legislator, and limited application of the now decent literature on it from academics so it appears that criminalisation is not differentiated greatly by the parallel civil character. A rare example of discussion of this issue amongst commentators came from a leading criminal lawyer of the twentieth century, J. C. Smith, nearly fifty years ago.11 He argued that criminal courts should not presume that a word had the same meaning in criminal law as it already bore in civil law. Rather, it should be given that meaning, rather than its common or ordinary meaning, only where this must have been intended by Parliament, or where to do so would achieve the purpose of the criminal legislation.12 His focus was not on the risk of conflict, though he had noted that risk earlier in the paragraph. Smith was writing about property offences as well, in particular whether an object in a shop window with a price tag was being “offered for sale”, such as a flick-knife13 or a protected bird species14 while in civil law it would only count as an “invitation to treat”, an invitation for a customer to offer a price. The civil law definition had prevailed, and it was left to Parliament to write offences in wider terms than “offering” or to change the civil law. He went further, arguing that the law should “not find itself holding a transaction to be enforceable by a plaintiff while the Criminal Division is sending him to prison for entering into it.”15 This is broadly right, but a rather low standard. English law does criminalise conduct which the civil law says is permissible; but it largely does not impose a criminal duty when civil law imposes a contradictory duty. It might be assumed that more systematised and codified systems have answered these questions. One answer, perhaps familiar to Germans, might run like this. First, criminal law should be the tool of last resort, the ultima ratio, so criminalisation should only happen when other modes of law are insufficient to protect the relevant interests.16 This is also sometimes linked to a principle of “subsidiarity”, that the criminal law is there to provide support to existing interests within civil law: it is unclear whether subsidiarity is part of, derived from, or just closely related to ultima rooted in the civil law” and “dependen[t]” on it; J. Waldron, ‘“Transcendental nonsense” and system in the law’ (2000) 100(16) Columbia LR 16, 27; A. Duff, ‘Responsibility, Citizenship and the Criminal Law’, in: A. Duff/L. Green (eds.), Philosophical Foundations of Criminal Law, Oxford University Press 2011, at his footnote 13. 11 A different analytical approach is in M. Dyson, Unravelling Tort and Crime, Cambridge University Press 2014 and M. Dyson, Comparing Tort and Crime, Cambridge University Press 2015. 12 J. C. Smith, ‘Civil Law Concepts in the Criminal Law’ (1972) 31 CLJ 197, 199 – 200. 13 Fisher v Bell [1961] 1 QB 394. 14 Partridge v Crittenden [1968] 1 WLR 1204. 15 Smith, Civil Law Concepts, 197. 16 See, e. g., N. Jareborg, ‘Criminalization as Last Resort (Ultima Ratio)’ Ohio State Journal of Criminal Law 2 (2005): 521; see also D. Husak, ‘Applying Ultima Ratio: A Skeptical Assessment’ Ohio State Journal of Criminal Law 2 (2005): 535.
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ratio.17 Second, a principle of unity of the legal system holds that the contents of the system should be coherent, though this does not in fact require that all objects have the same meaning in all areas of law.18 What it does mean is that criminal law cannot criminalise what private law has said is lawful. Third, in Germany at least, only constitutionally accepted purposes of the criminal law can justify criminalisation, in particular, that criminal laws protect ‘legally protected goods’ (Rechtsgüter).19 However, even if those three principles are accepted, there are a number of gaps left. It might be that the criminal law is thought necessary, and that the civil law identifies the conduct as unlawful. Should the criminal law adopt the same definitions as civil law? Criminal law could set a threshold of criminal liability higher than the civil law, so on a given set of facts there would be civil liability without criminal liability. Criminal law could also use concepts, and components for liability, which differed from civil law without infringing those first two principles. The third, on rechtsgüter, sits in an unclear relationship with the interests protected by delict, whether in § 823(1) of the BGB or any other provisions.20 It is therefore difficult to say that criminalisation in parallel to civil law applies in the same way as criminalisation when not so parallel, since the civil law interests might be imposing restraints on traditional criminalisation in practice and they are not being discussed there.
II. Surface Level Channelling On its surface, English law does channel substantive questions of criminal law running parallel to tort law but it formally does so only from criminal to civil, and most commonly through procedural rules rather than substantive rules. The first channel is where the content appears to transcend the distinction between criminal law and tort law. For example, there are some torts and crimes which share the same, or nearly the same, requirements, such as public nuisance21 or harassment.22 Second, tort law sometimes directly incorporates criminal law duties into tort law, through the separate tort of breach of statutory duty. This is a means of creating a 17 Cf. M. Dubber, ‘Theories of Crime and Punishment in German Criminal Law’ (2005) 53 Am J Comp L 679, 692; C. Roxin, Strafrecht: Allgemeiner Teil I, 3rd ed., C.H. Beck 1997, 26 – 27; T. Vormbaum, ‘Fragmentarisches Strafrecht in Geschichte und Dogmatik’ ZStW 123 (2011) Heft 4, 667 – 669. 18 M. Kloepfer, Verfassungsrecht, C.H. Beck 2011, para. 10.141; E. Deutsch, Haftungsrecht vol. 1, Heymanns 1976, pp. 89 – 97. 19 Cf. BVerfGE 92, 1, 13; BVerfGE 126, 170, 197. 20 Or indeed via § 826. Cf. the discussion in P. Hellwege/P. Wittig, ‘Delictual liability and criminal accountability in German law”, in: M. Dyson, Comparing Tort and Crime, pp. 128 – 132. 21 See, e. g., J. R. Spencer “Public Nuisance – A Critical Examination” [1989] CLJ 55; R v Rimmington [2006] 1 AC 459. 22 Protection from Harassment Act 1997, ss. 1 – 3.
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tortious claim for harm caused by the breach of a duty in a statute where the statute does not itself say whether there is civil liability: the fact that the statute imposes a criminal penalty for breach is one, non-conclusive factor against an implication of liability in tort.23 A famous example of a more general integrative technique is § 823(2) BGB. § 823(1) requires anyone who intentionally or negligently injures the protected interests of German law, life, body, health, freedom, property or another right, to pay compensation to that person. German law further adds, in § 823(2), that the same duty to compensate is owed by someone who breaches a norm intended to protect another, so long as it is done with fault. A protective norm, or Schutzgesetz, will be found in many criminal offences which might not otherwise be fitted within § 823(1) easily, and in any case civil liability is much easier to establish once the criminal liability has been found. Third, the defence of illegality in tort provides some flexible co-ordination only from the tort perspective: a doctrine the law deploys to prevent a claimant making a right out of wrongful conduct. The defence which can prevent this, ex turpi causa non oritur actio, is relatively new to English tort law.24 This gives effect to criminal law prohibitions within tort law, at least in some circumstances. There is a further way criminal and civil content might informally be co-ordinated: judicial structures and behaviour. Senior judges hear both civil and criminal cases. The UK has a unitary Supreme Court, where one court hears all types of cases within the hundred or so they decide each year. Not all judges are present for each case, the UK Supreme Court sits in panels, typically of five, decided primarily by a civil servant and balancing experience and other backgrounds; by contrast, the Supreme Courts of the USA and of Canada have all judges sit together. The Court of Appeal, in practice the highest court most cases reach, has two divisions, civil and criminal, but judges can in theory sit in either, and in practice often do. By comparison, many civilian legal systems have chambers dedicated to, amongst other things, civil law and criminal law, and it requires a special meeting of an overview body, such as the United Great Senates of the Bundesgerichtshof. Similarly, where an individual judge hears separate cases, but on criminal law and civil law, the judge might start to compare the formulations, concepts and content of the rules in each area of law. The same would be true of any legal actor, but certainly in larger legal systems, practitioners tend towards greater specialisation. Criminal law has some mechanisms for co-ordinating its effects on civil law. In the common law tradition, civil actions are not typically joined into the criminal procedure, but criminal courts can exercise powers analogous to civil law courts. In particular, criminal courts can issue orders which achieve the same or similar ends to some of what civil law courts can do. In some cases, including property offences, 23
Carroll v Barclay [1948] AC 477, 489 – 490, 493; Biddle v Truvox Engineering [1952] 1 KB 101, 103; Cutler v Wandsworth Stadium [1949] AC 398. 24 Vellino v CC of Greater Manchester [2002] 1 WLR 218; Gray v Thames Trains [2009] 1 AC 1339; Patel v Mirza [2016] UKSC 42.
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criminal courts routinely go further than civil courts.25 However, the orders made in a criminal court are criminal orders, given content and limits by criminal courts. Combined with the practical reality that prosecution usually precedes a civil claim, only one court, and only one area of law, is hearing the matter at a time. There is little risk of contradictory statements of fact from two different court processes happening at the same time. The small risk of orders which conflict with civil law remains. These are partially addressed through mechanisms which do not prioritise the civil law but do give some discretion to the criminal judge. For example, the criminal courts only need deal with “clear cases” for compensation orders, free from the complexities of civil law so as to save the time and effort of criminal courts,26 or by giving any other party who might have a claim to property time to dispute the order made disposing of that property.27 Generally, a criminal prosecution will precede a parallel civil action based on the same facts. This could mean the criminal law diverges from the civil law’s rule, or speaks where the civil law rule is not yet clear. In fact, suspending a criminal trial until a civil matter has been resolved is almost never done, though it would be possible to do so by using the abuse of process powers.28 This strongly suggests that in England at least, it is not commonly thought necessary for a civil law court to contribute a ruling on a legal concept to an ongoing criminal prosecution. Occasionally civil and criminal proceedings happen in parallel but normally the criminal proceedings come first. Criminal justice tends to move faster for case management and hearings, than a civil claim, and so start, or at least, finish, first. And tactical considerations of hearing all the other party’s arguments, and then using any conviction obtained as evidence in a later civil claim,29 might arise. If a parallel civil claim is brought, a party to it can apply to have the civil claim stayed because its continuation would prejudice the criminal trial.30 Such applications are made, even by claimants, seeking to avoid any appearance of undue pressure or unfairness.31 It is remarkable that tort law has a series of mechanisms to prevent conflict with criminal law, but criminal law appears to have no formal mechanisms, and only weak informal ones in the other direction. This suggests the firm value of criminal law above tort law, but it might also speak to less normative and more internal concerns. It might tell us something about the perceived difficulty where a conviction, at the least, is followed by a denial of some relevant element of liability for civil purposes. 25 26
709. 27
Such as by restoring property to its owner, which civil courts only do rarely. For example, R v Crown Court at Liverpool, ex parte Cooke [1997] 1 WLR 700, 708 –
Police (Property) Act 1897, s. 1(2). E. g. R v Horseferry Road Magistrates’ Court, ex p Bennett [1994] 1 AC 42. 29 Civil Evidence Act 1968, s. 11, and s. 13 making the conviction conclusive in defamation proceedings. 30 Civil Procedure Rules, PD 23 para 11A.1 – 11A.4. 31 E. g., Gilani v Saddiq [2018] EWHC 3084. 28
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A state-sanctioned punishment might be undermined if the civil court criticises some element of liability, particularly where it might be thought that that element would have been key to criminal law as well. It might also tell us that whichever jurisdiction operated first, the second court to be engaged would be risking contradictions, so the timing rule speaks loudest. It appears that the three assumptions are not so much wrong, as misunderstood. Those assumptions were that: (i)
there is a clear relationship, typically one of priority of one area over the other;
(ii) the priority is knowable, logical and consistently applied; and (iii) the issue is just like any other issue of criminalisation. What we see is that they are misunderstood if thought to be stable and context independent. Rather than a simple priority being driven simply by constitutional norms and an idea of a coherent legal system, there is a complex series of outcomes, driven by a range of reasons behind the interactions, which combine in different patterns. In particular, the reasons which decide the content of criminal law and of tort law are made even more complicated when the subject matter is the same for both. Understanding this requires us to look below the surface, which will not come as a surprised to a comparatist.32
III. Under the Surface Currents Below the surface, at least three different currents flow under the decision making of legal actors at the points of interaction, when criminal law’s content falls to be decided. 1. Understanding the Interactions Three different forms of how the content of criminal law is being decided emerge from the English experience, two axes of interaction: partition/porosity and hierarchy/equality. A legal system has to decide whether, in any given instance, whether criminal law should be separated by a barrier from private law, or whether the boundary is porous and allows objects to cross. The use of the definition of marriage is an example of a porous barrier, while the practical effects of making the new owner a thief of that property suggest that the civil consequences of the criminal law are not relevant to the criminal courts. Barriers could take the form of doctrinal differences, using 32 See, e. g., M. Dyson, ‘Symposium on Legal Domains and Comparative Law. Wheels Within Wheels: Using Legal Domains for Domestic Comparative Law’ (2013) 17(3) The Edinburgh Law Review 420 – 424, symposium ends 430.
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difference concepts as a fig leaf to not engaging with the comparison, through to simply saying the civil law was not relevant. A legal system also has to decide whether, both for porous or impermeable boundaries, it should operate on the basis of one area of law being hierarchically superior, or equal to, the other. For instance, until the Fatal Accidents Act 1846, English law had no tort action for a death, so only the criminal law could provide any response to causing a death. By contrast, criminal law had no summary action for an assault until the Offences Against the Person Act 1828, and an indictment for such a low level of physical contact was unlikely without greater harm resulting, civil law having deliberately been left to handle such fact patterns. These might be thought of as examples of equality, that each area of law could perform functions commonly associated with the other. We also obviously see that in criminal compensation orders, and tortious punitive damage. The alternative would be some kind of hierarchy, which English law has seen in the criminal law’s interests and integrity coming first if there is a conflict. Obvious procedural examples are in suspending a civil claim on parallel facts to a criminal prosecution, and convictions being made admissible as evidence in later civil actions so that later civil actions do not cast doubt on the conviction without its value being measured.33 A final form of hierarchy is where a rule exists as an obligation before it has been classed as civil or criminal, as for instance happens in the Protection from Harassment Act 1997, defining an obligation not to harass in s. 1, and then giving a criminal offence in s. 2 and a civil remedy in s. 3. 2. The Norms Playing Out in Protection We might now turn to what is fuelling the interactions of criminal law’s content. Priority, and unity or coherence, have been assumed to be focal points in this discussion, along with vague notions about “purpose” in the law. However, that focus can easily distract from other relevant principles. Instead, we should reflect on five different types of norms in play, types which interact to in how legal actors behave: (i)
Internal norms The formal reasoning shaping the legal system as a system itself. It is most commonly found expressing the level of homogeneity in the shape of the legal system, existing on a scale from unity or sameness of all elements, through to consistency or coherence, and to total difference at the other end.
(ii) External norms These norms call to higher level principles in how specific interactions should take place. They can be divided into deontological norms, like “fairness”, “certainty” and “intellectual robustness”, and instrumental norms, like efficiency and regulation. 33 M. Dyson, “Civil law responses to criminal judgments in England and Spain” (2012) 3 Journal of European Tort Law 308; M. Dyson, “The timing of tortious and criminal actions for the same wrong” [2012] CLJ 85.
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(iii) Institutional Norms relating to which body or bodies are suited to a particular decision-making process, and commonly expressed as a matter of competence. (iv) Political Norms engaging decision-making in the context of a social system, often speaking to the impact of political implications, legislative and non-legislative. (v) Psychological Norms concerning the preferences and attitudes of the legal actors involved, and particularly important in understanding how legal systems change or fail to change. The skill in legal reasoning is in how these five forms of reasoning are best analysed in any given instance. In some cases, the answers show an alignment of internal, external, institutional and other reasons, such as in the unity, simplicity and competence in bigamy using a civil law definition of marriage. For a relatively rare offence, without significant other criminal law interests, this is understandable enough. But it is also an offence where the criminal law is clearly meant to buttress the civil law. That too must be true of theft, and civil property rights, but the picture is far more complex, with clashing reasons, despite the same buttressing function. Sometimes the answer might have value, but the reasoning is weaker. For instance, since 2003, a claimant must obtain a court’s permission to bring a tort claim for trespass to the person, such as battery or assault, in respect of the events which led to the claimant’s conviction for an imprisonable offence.34 Leave is only granted where the defendant’s acts were grossly disproportionate, but the Court of Appeal was required to explain that leave could be granted in retrospect, in 2009.35 Such claims are restricted because vindicating private law rights in such circumstances is thought to denigrate the criminal justice process, a clear example of porosity in practice leading to hierarchy where the content of criminal law is protected from any finding on the very similar to the tort law claim. The House of Lords and Privy Council handed down only 119 decisions from 2008 to 2009, but few noticed that at least four were on the border of tort and crime; for example, decisions on the limitation period for sexual abuse claims in tort,36 and the rules for confiscation of benefits from drug-trafficking.37 In the third case, the House of Lords held that the defence of illegality can defeat a claim when a tort had caused the victim to lose full mental responsibility before he killed someone. The claimant sought damages for the income lost while he was serving time in prison for the killings: the House of Lords rejected this “shift” of the criminal law’s sanction to the tortfeasor and 34
Criminal Justice Act 2003, s. 329(2). Adorian v MPC [2009] 1 WLR 1859; J. R. Spencer, “Legislate in haste, repent at leisure” [2010] CLJ 19. 36 A v Hoare [2008] 1 A.C. 844; Hoare won the lottery while on day release from prison and so was worth suing. 37 R v Briggs-Price [2009] 1 AC 1026. 35
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thus applied the content of criminal law into tort law.38 A few months earlier, in Ashley v Chief Constable of Sussex Police, the House of Lords had had to decide what ‘self-defence’ meant in civil law: it was, it turned out, a more onerous standard that in criminal law. The defendant must not merely honestly believe in a threat and use as much force as would be proportionate to that threat, but in tort the belief in the threat must in fact be reasonable as well.39 A police officer had shot an unarmed man during a night raid, having been briefed that a suspect might be armed. The chief constable was sued as vicariously liable for the police officer, and admitted liability in negligence for the organisation of the raid. The trespass claim was allowed to proceed even though no greater compensation would be awarded so that tort law could be used to establish whether there was an infringement of the victim’s rights. One of the key underlying questions was the “sameness” or “consistency”40 of the law across tort and crime, according to Lord Scott:41 “17 … It is urged upon your Lordships that the criteria for self-defence in civil law should be the same as in criminal law. In my opinion, however, this plea for consistency between the criminal law and the civil law lacks cogency for the ends to be served by the two systems are very different. One of the main functions of the criminal law is to identify, and provide punitive sanctions for, behaviour that is categorised as criminal because it is damaging to the good order of society. It is fundamental to criminal law and procedure that everyone charged with criminal behaviour should be presumed innocent until proven guilty and that, as a general rule, no one should be punished for a crime that he or she did not intend to commit or be punished for the consequences of an honest mistake. There are of course exceptions to these principles but they explain, in my opinion, why a person who honestly believes that he is in danger of an imminent deadly attack and responds violently in order to protect himself from that attack should be able to plead self-defence as an answer to a criminal charge [even if the mistake was not reasonable] … 18 The function of the civil law of tort is different. Its main function is to identify and protect the rights that every person is entitled to assert against, and require to be respected by, others. The rights of one person, however, often run counter to the rights of others and the civil law, in particular the law of tort, must then strike a balance between the conflicting rights … The rules and principles defining what does constitute legitimate self-defence must strike the balance between [the right not to be attacked and the right to defend oneself]. The balance struck is serving a quite different purpose from that served by the criminal law when answering the question whether the infliction of physical injury on another in consequence of a mistaken belief by the assailant of a need for self-defence should be categorised as a criminal offence and attract penal sanctions …”
This relatively recent statement of the purposes of criminal law and tort law, and how they differ skates over key questions. It does seek to focus on the external norms driving what the substantive law is doing. But like so many other attempts, it does not 38
Gray v Thames Trains [2009] 1 AC 1339. Ashley v Chief Constable of Sussex Police [2008] 1 AC 962. 40 Ibid [17] – [18] cf. [76]. 41 Cf. “coherence”: Gray v Thames Trains [2009] 1 AC 1339, [29]-[55], [75] – [87], esp. [82]. 39
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explain whether criminal law uses the same underlying rights, and thus the same conflicts, especially on questions of physical integrity, and if not, what other rights criminal law uses. It also misses that the majority of criminal offences do not require intention, and that honest mistakes do not generally relieve a person of liability unless they also remove fault. Finally, it does not engage with the issue of how a legal system can have its criminal law find a justification, in self-defence, but another area of law finds there is no justification.42 If a distinguished judge like Lord Scott can make such generic statements in the course of deciding a novel question within tort, it might be imagined that criminal law is likely to fare no better in a parallel civil case.
IV. Conclusions This brief paper has focussed on the content of substantive criminal rules, in the particular context where private law (or, in theory, any other area of law) already has substantive rules on the question: what the rules are and why they should be in criminal law. What can be seen is that both the assumptions and surface rules we might have about such interactions are often valuable, but incomplete, or misunderstood. They might give workable answers to common situations, but they can easily obscure what is actually driving how the principles, substantive rules, procedural rules, and outcomes inside criminal law interact with other areas of law. English law construct its rules on the basis that tort law will come second, and should exercise discretion to adjust appropriately, though rarely are strict limits imposed. If lawyers are right to assume their laws operate in functional systems, we are also seeing evidence of how the system continues despite legal actors not understanding it all. English criminal law has few formal limits imposed on its content: there are certainly examples of content which might seem objectionable as a result, even though criminal law acknowledges that in many cases, like bigamy and theft, it is protecting what are at heart interests which arise first through civil law. This raises the difficult question of what really constitutes a legal “system”. The English position, and attitude, may be the reverse of what lawyers in some other legal systems understand the system to need and to have. It also highlights how the vagueness of criminalisation theories, and theories on the purpose of tort law, get multiplied at points of comparison between the two. All this shows the need for much more work, without artificial limits or proud separation, speaking to the value of comparative law in all its forms. It is also definitely a collaborative endeavour, amongst a community of scholars. There are certainly pearls of wisdom available for those willing to work together to find them, and they come in both criminal and tortious colours.
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Cf. e. g., Art. 65 Codigo procesal penal de Brazil.
Kants Insel Zu den guten und schlechten Gründen gegen die Vergeltungstheorie Von Luís Greco Die Grundlagen und insbesondere die „Grenzen des Strafrechts“ stehen in den Reflexionen von Ulrich Sieber immer an prominenter Stelle.1 Seine Festschrift ist deshalb eine passende Gelegenheit, sich über eine der traditionellsten Theorien über Grundlagen und Grenzen des Strafrechts Gedanken zu machen, nämlich die Vergeltungstheorie. Trotz einer nicht bestreitbaren Renaissance dieser Straftheorie2 überwiegt ganz eindeutig eine ablehnende Haltung ihr gegenüber. Im vorliegenden Aufsatz möchte ich anhand des Inselbeispiels von Kant über die Gründe, die diese ablehnende Haltung tragen, reflektieren. Es wird sich zeigen, dass diese Haltung im Ergebnis berechtigt ist; sie beruft sich aber auf eine Vielzahl von Gründen, die sie nicht wirklich zu tragen vermögen.
I. Der Anblick der Insel Unter Vergeltungstheorie wird hier die These verstanden, der zufolge die Strafe aus Gründen der Gerechtigkeit gerechtfertigt ist.3 Diese These ist traditionsreich; zumindest dem Namen nach4 darf sie sich prominenter Vertreter rühmen, wie etwa Kant und Hegel im 18. und im frühen 19. Jahrhun1
Sieber, Grenzen des Strafrechts, ZStW 118 (2007), 1; ders., Der Paradigmenwechsel vom Strafrecht zum Sicherheitsrecht: Zur neuen Sicherheitsarchitektur der globalen Risikogesellschaft, in: Tiedemann u. a. (Hrsg.), Die Verfassung moderner Strafrechtspflege. Erinnerung an Joachim Vogel, 2016, S. 351 ff.; ders., Sicherheit und Freiheit in der globalisierten Risikogesellschaft: Die Herausforderungen des neuen Sicherheitsrechts und seiner freiheitlichen Grenzen, Zeitschrift für Japanisches Recht, Sonderheft 13 (2019), 61. 2 Vgl. nur Roxin/Greco, AT I, 5. Aufl. 2020, § 3 Rn. 6a f. m. entspr. Nachw.; ausführlicher u. bei Fn. 5 f. 3 Diese Definition in Greco, Lebendiges und Totes in Feuerbachs Straftheorie, 2009, S. 458. 4 Denn viele der Autoren, die sich selbst für Vergeltungstheoretiker halten, haben in Wahrheit Theorien vertreten, die denjenigen des Gegenlagers sehr nahe stehen, d. h. Theorien, die die Strafe in Wahrheit nicht aus Gründen der Gerechtigkeit legitimieren, sondern aus nützlichkeitsorientierten Gründen (insbesondere aus Gründen der Prävention von Straftaten). Das ist eindeutig der Fall bei Binding, Grundriss des deutschen Strafrechts. Allgemeiner Teil, 8. Aufl., 1913, S. 227 f.; Beling, Grundzüge des Strafrechts, 11. Aufl., 1930, S. 5; ders., Die
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dert; der Vertreter der klassischen Schule Italiens, wie Carrara und Rossi, und der klassischen Schule Deutschlands, wie Binding und Beling im späten 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert; in der Mitte des 20. Jahrhunderts Autoren wie Welzel und Maurach. Die These ist auch theoretisch interessant. Denn ihre unbestreitbare intuitive Anziehungskraft – was liegt näher, als die Strafe aus dem Grund für legitim zu erklären, weil dies der Gerechtigkeit entspreche? – steht im auffälligen Kontrast zu dem schlechten Ruf, den sie für einen Großteil der wissenschaftlichen Diskussionsgemeinschaft genießt, zu der wir gehören, nämlich dem deutsch-, spanisch-, italienischund portugiesischsprachigen sowie asiatischen Raum. Es stimmt zwar, dass man vor wenigen Jahren eine „Renaissance der Vergeltungstheorie“5 feststellen konnte; die Namen von Naucke, M. Köhler und Pawlik stehen einem sofort vor Augen.6 Auch in der englischsprachigen Diskussionsgemeinschaft, bei der die Grundlagen des Strafrechts eher Philosophen als Juristen zu interessieren scheinen, hat die Vergeltungstheorie ihre Majestät nie verloren.7 Nichtsdestotrotz entspricht es der heutigen Standardauffassung in der deutschen, spanischen, italienischen und portugiesischen Diskussionsgemeinschaft, dass die Vergeltungstheorie nicht bloß falsch, sondern vielmehr indiskutabel, „wissenschaftlich unhaltbar“ sei.8 Vom Juristen verdiene die Vergeltungstheorie dieselbe Aufmerksamkeit, die ein Astronom Horoskopen zu widmen pflegt.
Vergeltungsidee und ihre Bedeutung für das Strafrecht, 1908, S. VII, VIII f., 1 ff., 36, 43, 49 f. und Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl., 1969, S. 1 ff., 238 ff.). Diese Autoren werden deshalb gelegentlich zu scheinbaren Vergeltungstheoretikern erklärt (Nachweise in Greco [Fn. 3], S. 463 Fn. 1069). In meiner früheren Stellungnahme habe ich einen weiten Vergeltungsbegriff verwendet, der es vermochte, auch diese Ansätze zu erfassen (Greco [Fn. 3], S. 462 ff.). Die vorliegende Studie wird sich jedoch allein mit der Version der Vergeltungstheorie beschäftigen, die Strafe aus Gründen der Gerechtigkeit rechtfertigt und der Gerechtigkeit einen nicht konsequentialistischen Gehalt zuweist – d. h. mit der deontologischen oder echten Vergeltungstheorie im Sinne der vorherigen Abhandlung (ebda., S. 463, 465). Die Thesen der scheinbaren bzw. unechten bzw. konsequentialistischen Vergeltungstheoretiker werden im vorliegenden Zusammenhang nicht untersucht. 5 Schünemann, in: Prittwitz et al. (Hrsg.), Lüderssen-FS, 2002, S. 327 (332 ff.). 6 Naucke, Über die Zerbrechlichkeit des rechtsstaatlichen Strafrechts, 2001, S. 76 ff.; ders., Die Wechselwirkung zwischen Strafziel und Verbrechensbegriff, 1985, S. 180 (196); M. Köhler, Über den Zusammenhang von Strafrechtsbegründung und Strafzumessung, 1983, S. 33 ff., S. 37; ders., Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1997, S. 48 ff.; Pawlik, Das Unrecht des Bürgers, 2012, insb. S. 106 ff. 7 Etwa Fletcher, ZStW 101 (1989), 803 (803 ff., 810, 813 f.); Goldman, Law & Philosophy 1 (1982), 57 (59 f.); Hampton, in: Frey/Morris (Hrsg.), Liability and Responsibility, 1991, S. 377 (384 ff.); J. Murphy, Philosophy & Public Affairs 2 (1973), 217 ff. (238); und vor allem M. Moore, Placing Blame, 1997, S. 83 ff., S. 104 ff., S. 153 ff. 8 Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, 4. Aufl., 2006, § 3 Rn. 8; davor ders., in: Strafrechtliche Grundlagenprobleme, 1973, S. 1 ff. (S. 5, über „Sinn und Grenzen staatlicher Strafe“).
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Im vorliegenden Beitrag möchte ich nicht alle Aspekte der Vergeltungstheorie ansprechen. Vielmehr werde ich mich allein dem bekannten Inselbeispiel von Kant zuwenden. Kant stellt sich eine Lage vor, bei der die Auflösung einer Gesellschaft unmittelbar bevorsteht – die Bewohner einer Insel entscheiden sich dazu, diese zu verlassen und sich in die Welt zu zerstreuen – und behauptet, dass die Gerechtigkeit selbst dann die Hinrichtung der letzten Mörder gebiete, unabhängig davon, dass aus dieser Bestrafung keinerlei sozialer Nutzen zu erwarten sei.9 Das Beispiel ist nicht gut angekommen. Allgemein erblickt man in ihm eher einen Beleg für die anstößigen Folgen der Vergeltungstheorie, eine augenfällige reductio ad absurdum dieser Auffassung. Jedoch denke ich, dass es sich lohnen könnte, zum Inselbeispiel zurückzukehren und es zum Ausgangspunkt einiger Reflexionen zu machen. Denn nach näherem Hinsehen kommt der Insel von Kant viel mehr argumentative Schlagkraft zu, als man ihr allgemein zuzuerkennen bereit war. Die Insel wird sich als ernstzunehmende und noch nicht überwundene Herausforderung für uns Vergeltungskritiker erweisen. Wenn nicht einmal unsere Ablehnung der anstößigsten Schlussfolgerung der Vergeltungstheorie auf festen Grundlagen steht, stellt sich erst recht die Frage, ob wir genau wissen, aus welchen Gründen wir die Vergeltungstheorie ablehnen. Gerade das vielgescholtene Inselbeispiel wird aufzeigen können, dass ein Großteil unserer Vorbehalte gegen die Vergeltungstheorie zirkelschlüssig ist. Dies soll nicht als eine Verteidigung der Vergeltungstheorie missverstanden werden, sondern lediglich als Aufforderung an uns Kritiker dieser Lehre, uns über die wahren Gründe, die die eigene Kritik tragen, größere Klarheit zu verschaffen.
II. Die Insel und der kategorische Imperativ „Selbst wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmung auflösete (z. B. das eine Insel bewohnende Volk beschlösse auseinander zu gehen und sich in alle Welt zu zerstreuen), müßte der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann das widerfahre, was seine Thaten werth sind, und die Blutschuld nicht auf dem Volke hafte, das auf diese Bestrafung nicht gedrungen hat: weil es als Theilnehmer an dieser öffentlichen Verletzung der Gerechtigkeit betrachtet werden kann.“10
Am besten beginnen wir damit, dass wir das Beispiel von verunklarenden Umständen bereinigen, also von all dem, das unwesentlich ist und zu erschweren vermag, dass die argumentative Schlagkraft der Insel wahrgenommen wird. Unwesentlich ist es erstens, dass Kant von der Todesstrafe spricht; an deren Stelle möge man sich eine beliebige andere Strafe vorstellen. Ebenso wenig ausschlaggebend ist, dass die Wege der Mitglieder der aufgelösten Gesellschaft, also von Tätern, Opfern oder 9 Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1797, S. A 199/B 229 (Akademie Ausgabe, Berlin, Bd. VI, S. 333). 10 Kant (wie Fn. 9).
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Dritten, sich in Zukunft kreuzen können, oder dass sie sich an die Vergangenheit erinnern werden oder sich sogar dazu motiviert sehen können, in der neuen von ihnen bewohnten Gesellschaft Straftaten zu begehen, in der Hoffnung, diese Gesellschaft könnte sich in Zukunft ebenfalls auflösen. Stellen wir uns deshalb vor, unsere Insel sei so klein und befinde sich in einer Welt, die so groß ist, dass es praktisch sicher erscheine, dass jeder frühere Bewohner der Insel die Chance auf einen völligen Neubeginn hat, gleichgültig, was er getan hat, was ihm angetan wurde und was er weiß, dass andere getan haben und anderen angetan wurde. In dieser Welt gibt es keine Dokumentation, keine internationalen Nachrichten, kein Internet. Weil alle vom Punkt Null anfangen können, bedeutet das Inselbeispiel dreierlei. Erstens hat niemand, weder als Individuum noch als Kollektiv, einen Vorteil davon, dass Strafe verhängt wird. Zweitens hat niemand, weder als Individuum noch als Kollektiv, einen Nachteil, falls die Strafe nicht verhängt wird. Drittens wird mindestens eine Person etwas verlieren, falls die Strafe verhängt wird, nämlich der Bestrafte. Diese Beschreibung lässt erkennen, warum die Reaktionen auf das Inselbeispiel derart negativ ausgefallen sind. In der Sprache der Volkswirtschaftslehre würde man sagen können, es ist Pareto-ineffizient, auch dort zu strafen, wo niemand einen Vorteil und mindestens einer einen Nachteil hat, obwohl die Alternative offen steht, weder jemanden besser, noch schlechter zu stellen.11 In der Alltagssprache hieße es, es werde ein Übel um des Übels willen verhängt. Es überrascht deshalb nicht, dass das Inselbeispiel zu den „sonderbaren Ergebnissen“ der Vergeltungstheorie12 gerechnet bzw. als Beleg für die „gnadenlose Konsequenz“ dieses Standpunkts angesehen wird.13/14 Wenige Zeilen vor dem Inselbeispiel hatte Kant die Strafe zum kategorischen Imperativ erklärt,15 was auch überwiegend auf Ablehnung gestoßen ist. Der angebliche kategorische Imperativ sei nichts anderes als eine unbegründete Behauptung, etwas „Unerforschliches“,16 Folge einer Vermengung von Legalität und Moralität17 oder sogar von Recht und Theologie.18 11 Eine Handlung soll pareto-effizient sein, wenn sie mindestens eine Person besser stelle ohne irgendeine andere Person schlechter zu stellen (siehe statt aller Posner, Economic Analysis of Law, 7. Aufl. 2007, S. 12). 12 Reemtsma, Das Recht des Opfers auf die Bestrafung des Täters – als Problem, 1999, S. 21. 13 Neumann, in: Liu/Neumann (Hrsg.), Gerechtigkeit – Theorie und Praxis, 2011, S. 117 ff. (117). 14 Kritisch auch Beling (Fn. 4), S. 49 f.; Roxin (Fn. 8), S. 17; Jakobs, Staatliche Strafe: Bedeutung und Zweck, 2004, S. 13; Klug, in: Würtenberger (Hrsg.), G. Husserl-FS, 1975, S. 212 (228 f.), meint sogar, das Beispiel enthalte einen logischen Widerspruch, und Lampe, Strafphilosophie, 1999, S. 13 Fn. 9 erklärt Kants Straftheorie wegen ihrer Lösung des Inselbeispiels für „überholt“. 15 Kant (Fn. 9), S. A 196/B 227 (Ak. Ausgabe, S. 331). 16 So bereits die Zeitgenossen Grolman, Ueber die Begründung des Strafrechts und der Strafgesetzgebung, 1799, S. 219, und Henke, Grundriß einer Geschichte des deutschen pein-
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III. Ein Neubesuch auf der Insel Wie gesagt denke ich, die Insel von Kant ist einen erneuten Besuch wert. Denn diesem Beispiel liegt eine starke Idee zu Grunde, die Kant seinen Lesern anscheinend nicht richtig zu übermitteln gewusst hat. Ich werde mich um eine neue Interpretation der Rolle des Inselarguments bemühen, die es ermöglichen wird, es so zu formulieren, dass die zugrunde liegende Idee zum Vorschein kommt. Das Inselbeispiel wird überwiegend als eine Erläuterung der Vergeltungstheorie gedeutet. Ich glaube, man kann es auch anders verstehen, nämlich als Bestätigung der Vergeltungstheorie und als (versuchte) reductio ad absurdum der Gegenpositionen, die in dem Beispiel nicht bestrafen würden. Nach dieser Deutung hätte das Inselbeispiel dieselbe Rolle des Beispiels, das Kant im selben Absatz präsentiert, nämlich des Täters, dessen Strafe deshalb gemildert wird, weil er in die Durchführung medizinischer Experimente einwilligt.19 Es leuchtet intuitiv ein, dass diese Einwilligung nichts an der Höhe der zu verhängenden Strafe verändern darf, und dies könnte dafür sprechen, dass die Strafe eine Frage der Gerechtigkeit ist, und dass Rücksichten der Zweckmäßigkeit ihr fremd sind. Meine neue Deutung geht davon aus, Kant habe vergleichbare Intuitionen bei seinen Lesern bezüglich des Inselbeispiels vorhergesehen. Nur die Vergeltungstheorie vermöge zu erklären, warum wir auch in diesem Fall eine Strafe für intuitiv einleuchtend erachten. Die Rezeption des Beispiels in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung belegt aber, dass sich Kant in dieser Erwartung geirrt hat. Er hat wohl die moralischen und juristischen Intuitionen seiner Leserschaft fehlerhaft eingeschätzt. Diese Fehleinschätzung müsste man nicht einmal auf die angebliche Wirklichkeitsferne eines Mannes zurückführen, der ein Leben unter Büchern verbracht hat, sondern sie ließe sich mit den Umständen erklären, die Anlass für die eingangs getroffene Feststellung des theoretischen Interesses an der Vergeltungstheorie waren: Der common sense findet den Vergeltungsgedanken einleuchtend, die Rechtswissenschaft dagegen – nicht erst die heutige, sondern auch diejenige der Zeit Kants – weist ihn energisch zurück. Um einen Fachbegriff zu gebrauchen: Das Inselbeispiel war ein (freilich missglückter) Versuch, ein sogenanntes transzendentales Argument zu formulie-
lichen Rechts und der peinlichen Rechtswissenschaft, Bd. II, 1809, S. 363, beide wortgleich; später Hepp, Darstellung und Beurtheilung der deutschen Strafrechts-Systeme, 2. Aufl., Bd. I, 1843, S. 72, 79; Binding (Fn. 4), S. 214; H. Mayer, in: Bockelmann et al. (Hrsg.), Engisch-FS, 1969, S. 54 (73 f.); Streng, ZStW 92 (1980), 639 (640, dort Fn. 9). 17 Salomon, ZStW 33 (1919), 1 ff. (24); ders., MSchrKrim 15 (1924), 171 (171, 173); Cattaneo, Dignità umana e pena nella filosofia di Kant, Milano, 1981, S. 302, 306, 315; Moccia, Il diritto penale tra essere e valore, Napoli, 1992, S. 45; Becchi, ARSP 88 (2002), 549 (556). 18 Haas, Strafbegriff, Staatsverständnis und Prozessstruktur, 2008, S. 185 ff. mit weiteren Nachweisen dort Fn. 91. 19 Kant (Fn. 9), A 197/B 227 (Ak. Ausgabe S. 332).
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ren, also ein Argument, das auf eine Frage: „wie ist X möglich?“ antwortet.20 Während die Kritik der reinen Vernunft ein transzendentales Argument entwickelt, das erklärt, wie die Mathematik und die Physik möglich sind,21 und es in der Kritik der praktischen Vernunft um die Frage geht, wie moralisches Handeln möglich ist,22/23 kann man die These der Strafe als kategorischen Imperativ als transzendentales Argument verstehen, das darlegen soll, wieso es rechtlich und moralisch richtig sein könne, auch dann zu bestrafen, wenn niemand von der Strafe einen Vorteil hat. Demzufolge wäre das Wesentliche an dem Inselbeispiel nicht einmal die Insel, sondern der Umstand, dass alle Beteiligten, also Täter, Opfer und Dritte, die Chance haben, vom Punkt Null neu zu starten, also die drei oben beschriebenen Aspekte – niemand hat einen Vorteil davon, dass Strafe verhängt wird, niemandem erwächst ein Nachteil daraus, dass auf sie verzichtet wird, mindestens einer hat einen Nachteil davon, dass Strafe verhängt wird. Die wesentliche Frage ist also, ob wir in einem solchen Fall eine Bestrafung als richtig ansehen könnten. Michael Moore, der Kant sehr ähnlich deutet wie ich, gibt hierauf eine dezidiert bejahende Antwort.24/25 Um zu belegen, dass der Vergeltungsidee intrinsischer Wert zukomme, formuliert er eigene Beispiele nach dem Vorbild von Kants Insel.26 Zu ihnen gehört vor allem der von amerikanischen Gerichten entschiedene Fall des Vergewaltigers Chaney,27 der nach einem Unfall seinen Geschlechtstrieb vollständig verlor, so dass sicher ausgeschlossen werden konnte, dass es zu weiteren Taten je kommen würde. Spezialpräventive Strafbedürfnisse bestünden somit nicht. Moore stellt sich vor, es sei möglich, die Verhängung einer Strafe glaubhaft vorzuspielen, der Gesellschaft also die Illusion zu vermitteln, Chaney würde in der Tat bestraft; dies sei sogar billiger als die Strafe reell zu verhängen. In diesem Szenario würde es ebenfalls an generalpräventiven Strafbedürfnissen fehlen. Was sagen uns aber un20 Näher R. Stern, in: Stern (Hrsg.), Transcendental Arguments. Problems and Prospects, Oxford, 1999, S. 1 (3 f.). 21 Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl. 1787, Akademie Ausgabe Bd. III, S. 28 ff., 39 ff.; ders., Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, 1783, Akademie Ausgabe Bd. IV, S. 280 ff., 294 ff. 22 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 1788, Akademie Ausgabe Bd. V, S. 19 ff. 23 Eine solche Deutung vom Programm Kants auch etwa bei Ameriks, in: Interpreting Kant’s Critiques, Oxford, S. 1 (4 f.). Kritisch jedoch Höffe, Immanuel Kant, 5. Aufl., 2000, S. 102 f. 24 M. Moore, Placing Blame (Fn. 7), S. 99, S. 155. 25 Weitere zustimmende Antworten namentlich in Maurach, Deutsches Strafrecht, Allgemeiner Teil, 4. Aufl., 1971, S. 77, der sich aber befremdlich auf gesellschaftspsychologische Wirkungen dieser Bestrafung beruft (man fragt sich: in welcher Gesellschaft und in wessen Psyche sollen sich diese Wirkungen ereignen, nachdem es die Inselgesellschaft gar nicht mehr gibt?); Zaczyk, in: Landwehr (Hrsg.), Freiheit, Gleichheit, Selbstständigkeit, Göttingen, 1999, S. 73 (77, 85); Hampton, Liability (Fn. 7), S. 404; Altenhain, GS Keller, 2003, S. 1 ff. (12); Fletcher, The Grammar of Criminal Law, Bd. I, 2007, S. 204 („Gleichheit zwischen Opfern“). 26 M. Moore Placing Blame (Fn. 7), S. 83 ff., 104 ff., 153 ff. 27 M. Moore Placing Blame (Fn. 7), S. 100 f., 163.
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sere Intuitionen? Halten wir es für richtig, dass man Chaney straflos lässt? Die meisten Menschen, denen ich dieses Beispiel erzählt habe – gleichgültig ob europäischer, asiatischer oder südamerikanischer Herkunft – antworteten, sie fänden das unrichtig. Moore behauptet, wer so denke, sei in Wahrheit ein „closet retributivist“, und fordert diese Menschen dazu auf, sich zu outen, den Schrank zu verlassen.28 Moore formuliert weitere Beispiele, und es fiele nicht schwer, seine Liste zu verlängern.29 Einige Konstellationen, die im Völkerstrafrecht unter dem ungenauen und emotionsbeladenen Begriff der Straflosigkeit diskutiert werden, könnten womöglich ähnlich strukturiert sein wie die „Kant-like examples“. Moore bleibt aber nicht an dieser Stelle stehen. Derjenige, der bereit ist, auf Strafe zu verzichten, zeige hiermit nicht, dass er eine barmherzige Person ist, sondern vielmehr seine Gleichgültigkeit gegenüber dem Wert des Opfers.30 Moore erzählt die Beispiele auch nicht bloß in der dritten Person, sondern fragt uns, seine Leser, wie wir zu der Sache stünden, falls wir der Täter der betreffenden Straftat wären. Moore meint, dass wir uns wahrscheinlich schuldig fühlen würden und deshalb der Meinung wären, dass wir Strafe verdienen. Diese Reaktion beruhe darauf, dass wir uns als verantwortlich handelnde Subjekte ansehen. Das bedeutete zugleich, dass sich hinter der Hinnahme der Straflosigkeit von Chaney nicht Großzügigkeit, sondern Arroganz verberge: Den Status eines verantwortlich handelnden Subjekts schrieben wir uns nur selber, nicht aber dem Dritten zu.31 Moore rahmt seine Überlegungen in eine bestimmte übergreifende Theorie über die Natur der moralischen Erkenntnis ein, nämlich seinen sogenannten moralischen Realismus.32 Die Physik formuliert Theorien, die unsere Beobachtungen über dasjenige, was in der natürlichen Welt geschieht, zu erklären vermögen; die Ethik formuliert Theorien, die unsere Beobachtungen der moralischen Welt, also unsere intuitiven moralischen Urteile, erklären sollen. Die einzige Theorie, die unseren Reaktionen zu inselähnlichen Beispielen angemessen Rechnung trägt, also der Intuition, dass es richtig sei, zu strafen, obwohl daraus kein Nutzen erwachse, sei die Vergeltungstheorie.33 Moore entwickelt also ein abduktives Argument, einen Schluss auf die beste Erklärung.34 Das Vergeltungsprinzip beruhe nicht auf einem anderen, allgemeineren oder fundamentaleren Prinzip. Moore schlägt somit eine nicht fundationalis-
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M. Moore Placing Blame (Fn. 7), S. 103. M. Moore Placing Blame (Fn. 7), S. 163. Man könnte – völlig sicher bin ich mir jedoch nicht – sich etwa die Fälle von nationalsozialistischen Straftätern vorstellen, die neue Identitäten angenommen haben und seit Jahrzehnten als vorbildhafte Bürger leben. 30 M. Moore Placing Blame (Fn. 7), S. 119 ff., 141 ff., insb. S. 144. 31 M. Moore Placing Blame (Fn. 7), S. 145 ff., 164 f. 32 Vgl. vor allem M. Moore, in: Objectivity in Ethics and Law, 2004, S. 3 (insb. 49 ff.). 33 Etwa M. Moore Placing Blame (Fn. 7), S. 188. 34 Über diese Argumente ausführlich L. Schulz, Normiertes Misstrauen, 2001, S. 279 ff. 29
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tische, sondern kohärentistische Begründung eines als intrinsisch wertvoll verstandenen Vergeltungsprinzips vor.35 Ich denke, dass es Moore gelungen ist, den Sinn der Insel von Kant aufzuzeigen, die ganze Kraft dieses Beispiels zum Vorschein zu bringen. Der Gegner der Vergeltungstheorie steht somit einer bemerkenswerten Herausforderung gegenüber, die zugleich eine Gelegenheit bedeutet, sich über die Qualität der Gründe zu vergewissern, auf welche die eigene Position gestützt wird.
IV. Erfolglose Abreiseversuche Was kann ein Gegner der Vergeltung dieser Herausforderung entgegenhalten? Angesichts des Umstands, dass die Insel von Kant mehr schroffe Ablehnung als fundierte Kritik auf sich gezogen hat, sind wir zum großen Teil darauf angewiesen, mögliche Repliken selber zu formulieren. Wir stehen dennoch nicht mit leeren Händen da; ein guter Teil der Antworten (mindestens die Antworten 2 bis 6) lassen sich auf gängige Gegengründe gegen die Vergeltungstheorie zurückführen. Das Inselbeispiel versetzt uns also in eine ideale Position, diese Gründe kritisch zu überprüfen. 1. Die erste und am nächsten liegende Antwort, die in Wahrheit noch keine Gründe gegen die Vergeltungstheorie anführt, besteht darin, die Inselbeispiele neu zu beschreiben. Empirische Annahmen, die ihnen zu Grunde liegen, werden also infrage gestellt. Um es am Fall von Chaney zu erläutern:36 Man könnte behaupten, dass es nicht möglich sei, der gesamten Gesellschaft gegenüber eine Lüge zu verbergen, und dass das Auffliegen der Geschichte verheerende Folgen haben würde; oder dass, selbst wenn von Chaney keine Sexualstraftaten mehr zu erwarten wären, seine Nichtbestrafung ihm vermitteln würde, dass es ihm gestattet sei, straffrei zu töten, unter der Bedingung, dass er danach einen weiteren Unfall erleide und im Rollstuhl ende, oder straffrei Urkunden zu fälschen, vorausgesetzt, er erkranke später an Parkinson. Die Replik ist genauso bequem wie unbefriedigend. Zuerst, weil sie in Wahrheit nicht die Herausforderung der Insel annimmt, sondern vielmehr versucht, die Flucht zu ergreifen. Zweitens, weil eine gute Theorie auch für imaginäre Fälle gute Lösungen bieten muss. Drittens, weil es nicht so ist, dass Kants Insel allein als gedachtes Beispiel existiert (man denke wieder an das Völkerstrafrecht und seinen Kampf gegen die sog. Straflosigkeit). 2. Die zweite Antwort beruft sich auf das positiv besetzte Wort der Rationalität. Zu vergelten bedeute, man füge ein Übel um des Übels willen zu; für eine aufgeklärte, moderne, säkulare Kultur sei aber gerade die Preisgabe des vergeltungstheo35
M. Moore Placing Blame (Fn. 7), S. 106 ff. Eine Neubeschreibung der Insel etwa bei Altenhain, Begründung der Strafe, S. 12: die Bewohner der Insel werden andere Gesellschaften integrieren. Möglicherweise setzt auch Maurach (s. Fn. 25) implizit eine vergleichbare Neubeschreibung voraus. 36
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retischen fiat justitia pereat mundus zugunsten einer Folgenorientierung konstitutiv. „Rechtfertigung über erwünschte Folgen ist ein Teil unserer Rationalität.“37 Dieses Argument ist jedoch zirkelhaft. Es postuliert einen Rationalitätsbegriff, der mittels einer Festlegung, die auf kaum etwas anderem beruht als auf einem fragwürdigen Soziologismus, voraussetzt, dass nur eine folgenorientierte, also konsequentialistische Rationalität diesen Namen verdiene.38 Hiermit wird zugleich vieles von dem, was wir für wertvoll und auch vernünftig erachten, als irrational oder arational gebrandmarkt, jenseits der Grenzen des Rationalen verbannt. Ein solcher Rationalitätsbegriff hat keinen Platz für Dankbarkeit; er verkürzt die Freundschaft auf einen gegenseitigen Vorteilsaustausch. Nicht einmal im Recht kann man sich damit begnügen, bloß auf die Zukunft zu blicken; für ein Beispiel siehe das Recht auf Vergütung wegen geleisteter Arbeit.39 Der Vergeltungstheoretiker hat es also leicht, dem Kritiker zu entgegnen, er gehe von einem verarmten Begriff der Rationalität aus. 3. Dem stehen diejenigen nahe, die der Vergeltungstheorie vorwerfen, sie sei in Wahrheit theologisch.40 Auch dieser Vorwurf ist unbegründet. Unter welchen Bedingungen soll eine Theorie als theologisch eingestuft werden? Wohl wenn sie auf Prämissen beruht, deren Wahrheit oder Richtigkeit eine Frage des Glaubens ist. Unsere Reaktionen auf die Inselbeispiele dürften jedoch von einer derartigen Prämisse unabhängig sein. Der Verdacht, dass der Theologievorwurf nur eine weitere Manifestation des verarmten konsequentialistischen Rationalitätsbegriffs darstelle, lässt sich nicht von der Hand weisen. Mittels einer tendenziösen Festlegung wird alles, was dieser enge Begriff nicht zu erfassen vermag, als Theologie disqualifiziert. 4. Ein verbreitetes gegen die Vergeltungstheorie angeführtes Argument beruft sich auf das Rechtsstaatsprinzip. Die Benennung dieses Wortes ist nicht sonderlich inhaltsreich. Deshalb pflegt man, einen weiteren Schritt zu gehen: Man zieht das verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprinzip heran. Die Strafe sei ein Eingriff in ein Grundrecht. In einem Rechtsstaat dürfen Grundrechtseingriffe nur dann erfolgen, wenn sie verhältnismäßig sind, d. h. wenn sie zur Förderung eines legitimen Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen sind.41 Dies bedeute zugleich, dass eine Bestrafung, die sich als Selbstzweck begreift, wie dies die Vergeltungstheorie angeblich postuliere, unzulässig sei. 37
Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 2. Aufl., 1990, S. 285. Ähnlich Mañalich, in: Kindhäuser/Mañalich, Pena y culpabilidad, 2011, S. 115 (129 ff.). 39 S. BAGE 28, 14 = NJW 1976, 1551, in einem Urteil, in dem dies sogar entscheidungsrelevant war. 40 Roxin, Grundlagenprobleme (Fn. 8), S. 5 (Vergeltung als „Glaubensakt“); zuletzt Haas, Strafbegriff (Fn. 18), S. 185 ff., mit Nachweisen Fn. 91. 41 So etwa Hörnle, Straftheorien, 2. Aufl. 2017, S. 18 f.; Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht, 2014, S. 134 ff. In einer früheren Stellungnahme, von der ich mich heute ausdrücklich distanzieren möchte, habe ich mich auch in einem ähnlichen Sinne geäußert (Greco [Fn. 3], S. 474). 38
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Die wenig beachtete Schwierigkeit ist aber, dass dieses Argument in ein Dilemma verfällt, je nachdem, wie man den Begriff des legitimen Zwecks deutet. Versteht man den Begriff eher weit, als gleichbedeutend mit Gemeinwohlbelang oder sogar gutem Grund, wird nicht mehr ersichtlich, warum die Vergeltung kein legitimer Zweck sein kann. Dem entspricht auch die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts, das in der Gerechtigkeit, d. h. in dem Gebot, dass Straftaten nicht straflos bleiben, eine wichtige Komponente des Rechtsstaatsprinzips erblickt.42 Versteht man dagegen den legitimen Zweck etwas enger, als Zustand, der durch eine bestimmte Maßnahme gefördert werden soll,43 dann ist man wieder im Zirkelschluss gelandet, denn man hat durch eine im Vorfeld getroffene begriffliche Festlegung ausgeschlossen, dass die Vergeltungstheorie richtig sein könne, da die Gegenauffassung eben richtig sei. 5. Die Argumente Nummer 2 bis 4 sind im Grunde genommen Varianten eines Einwands, den ich als den der Folgenindifferenz bezeichnet hatte.44 Der Einwand ist, wie gesagt, nicht tragfähig, weil er auf einem Zirkel beruht. In meiner hier wiederholt erwähnten Dissertation habe ich auch einen zweiten dogmengeschichtlich wichtigen Einwand gegen die Vergeltungstheorie ausgearbeitet, nämlich den des Moralismus.45 Dieses Argument habe ich dort nach einer Reihe von Unterscheidungen und Präzisierungen für ausschlaggebend erklärt. Inzwischen ist mir aber ersichtlich geworden, dass das Argument, in der Form, wie es von der Literatur vertreten wird und auch von mir vertreten wurde,46 ebenfalls unzulänglich ist. Denn es lebt von einer Unterscheidung zwischen Recht und Moral, der zufolge alle Überlegungen, die keine konsequentialistische Struktur haben, nicht mehr zum Recht, sondern bestenfalls zur Moral gerechnet werden können. Das bedeutet, dass auch der Einwand des Moralismus sich nach näherem Hinsehen als Variante des Einwands der Folgenindifferenz entpuppt, und genau so zirkelhaft ist wie letzterer. 42
BVerfGE 36, 174 (186); 63, 45 (61); 107, 104 (118 f.); 122, 248 (272). Für diesen Begriff des Zwecks s. Greco, Lebendiges und Totes (Fn. 3), S. 138, 252. 44 Greco, Lebendiges und Totes (Fn. 3), S. 460. 45 Greco, Lebendiges und Totes (Fn. 3), S. 460. 46 In der früheren Abhandlung wurde das Argument auf folgende Weise entwickelt: in einem vorherigen Abschnitt hatte ich insbesondere aus der Diskussion über den materiellen Straftatbegriff, d. h. aus dem Streit zwischen Rechtsgutslehre und Pflichtverletzungslehre, zwischen harm principle und legal enforcement of morals einen Begriff des Moralismus gewonnen, dessen Gehalt darin besteht, dass der Staat nicht berechtigt sei, die Freiheit der Bürger einzuschränken, ohne dass die Einschränkung irgend einen Vorteil hervorruft (Greco, Lebendiges und Totes [Fn. 3], S. 120 ff.). Bei der gegen Ende des Buchs erfolgenden Behandlung der Vergeltungstheorie habe ich dann auf diesen Begriff des Moralismus zurückgegriffen und konnte diesen Vorwurf an die Vergeltungstheorie richten (S. 474). Heute ist mir klar geworden, dass der Sprung von einer Diskussion zu der anderen einer Rechtfertigung bedarf, die ich dort nicht wirklich geliefert hatte. U. V.2. werde ich diese Rechtfertigung nachzuliefern versuchen, mit der Präzisierung, dass es sich eigentlich um ein Kohärenzargument handelt. 43
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6. Eine weitere Replik wäre pragmatisch orientiert: Die Vergeltungstheorie sei deshalb falsch, weil sie zu inakzeptablen Folgen führe,47 weil sie ein grausames Strafrecht rechtfertige, das in letzter Konsequenz beim Talionsprinzip ende und das für den von der Strafe konkret betroffenen Menschen nur olympische Gleichgültigkeit übrig habe. Man macht es sich als Kritiker zu einfach, wenn man eine Theorie anhand einer Karikatur für widerlegt erklärt. Die Vergeltungstheorie plädiert nicht für grausame, sondern nur für gerechte Strafen, d. h. für Strafen, die ein angemessenes Verhältnis zu der Tat, auf die sie reagieren, aufweisen. Der präzisere Inhalt dieses angemessenen Verhältnisses bzw. dieser Proportionalität kann nicht vorab mit einem Anspruch allgemeiner Gültigkeit bestimmt werden; deshalb ist das Talionsprinzip keine notwendige Implikation der Theorie, sondern eine mit ihr bestenfalls kontingent verbundene Annahme. Die Gleichgültigkeit gegenüber dem Bestraften ist kein Mangel der Vergeltungstheorie, sondern betrifft ihren Gegenstand: die Vergeltungstheorie ist eine Lehre über die Zufügung der Strafe und nicht (notwendigerweise) darüber, wie sie vollzogen werden soll.48 Sollten Vertreter der Vergeltungstheorie historisch als Hardliner einzuordnen sein – wofür in der Tat viel zu sprechen scheint –, könnte dies weniger als Problem der Theorie als des Charakters dieser Theoretiker anzusehen sein. 7. Die vorletzte Replik geht in die Offensive. Die Vergeltungstheorie bedeute nichts mehr als eine Rationalisierung des niederträchtigen Racheinstinkts.49 Auch unsere Reaktionen auf die Inselbeispiele seien nicht mehr als derartige primitive Regungen. Eine aufgeklärte Gesellschaft – aufgeklärt hier nahezu im tiefenpsychologischem Sinne, d. h., eine Gesellschaft, der die Macht des eigenen Unbewussten bewusst ist, die also aus Es Ich zu machen versucht – könne nicht vor einem solchen archaischen Trieb kapitulieren. Dies ist jedoch eine reduktionistische Argumentation, die die Gegenmeinung und die Gründe, auf die sie sich stützt, nicht mehr zur Kenntnis nimmt. Anstelle von Gegengründen und Widerlegungen wird eine angebliche kausale Erklärung geliefert, die die Gegenmeinung arrogant zu „dekonstruieren“ vorgibt. Die Vergeltungstheorie wird aber nicht mit Berufung auf Rachegefühle verteidigt, sondern auf moralische und rechtliche Gründe, die deshalb nicht hinwegerklärt, sondern als solche wahrgenommen und durch Gegengründe entkräftet werden müssen.50 Diese Art zu argumentieren legt die Frage nahe, weshalb man nicht selber die bequeme reduktionistische Argumentation gegen die Vertreter eines solchen Argu-
47 Etwa Roxin, Grundlagenprobleme (Fn. 8), S. 5: die Vergeltungstheorie sei „kriminalpolitisch schädlich“. 48 Nachdrücklich a.A. Zaczyk, in: Kahlo et al. (Hrsg.), Seebode-FS, 2008, S. 589 ff. 49 In diesem Sinne vor allem diejenigen, die die Abschaffung des Strafrechts von einem tiefenpsychologisch fundierten Standpunkt aus vertraten, etwa Ostermeyer, Strafunrecht, 1971, S. 16 ff.,120; Plack, Die Gesellschaft und das Böse, 1967, S. 110 ff., 118 ff.; ders., Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts, 1974, S. 200 ff., passim. 50 Vgl. bereits Greco, Lebendiges und Totes (Fn. 3), S. 470 mit weiteren Nachw.
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ments einsetzen kann.51 Denn es bietet sich gerade an zu replizieren, dass die Verleugnung der Rache ihrerseits eine Rationalisierung des Pseudo-Intellektuellen sei, die auf einem naiven Cartesianismus beruhe, der Vernunft und Gefühle voneinander trennt und letztere für etwas Niederes erachtet. Dies wäre jedoch eine Degradierung einer Diskussion, die Gründe zum Gegenstand haben sollte, zu einem offenen Austausch von Beleidigungen. 8. Die letzte denkbare Replik wäre in gewisser Weise der genaue Antipode der gerade Genannten. Statt dass man auf das Niveau des tiefenpsychologistischen Reduktionismus hinabsteigt, würde man sich auf die Höhen der Metaethik begeben, um den kohärenzbasierten moralischen Realismus von Moore infrage zu stellen. In der wissenschaftlichen Gemeinschaft, zu der wir gehören, in der diejenigen, die über Straftheorien diskutieren, eher Juristen als Philosophen sind, wird es schwer fallen, in einen Ring zu steigen, in dem der Kampf nach diesen Regeln abläuft. Ich begnüge mich damit, meine begrenzte fachliche Kompetenz zu gestehen. Das einzige, was mir sicher erscheint – und dies sage ich auf der Grundlage einer Beobachtung der Struktur von Begründungen im Recht und in der Moral – ist, dass fundationalistisches Argumentieren nicht die einzige mögliche Form der Begründung darstellt, dass man insbesondere die Bedeutung von abduktiven und von kohärenzbasierten Argumenten nicht unterschätzen darf.52 Meines Erachtens spricht das auch dafür, dass wir die Insel und unsere Reaktionen auf sie ernst nehmen sollten.
V. Abschied von der Insel Der Gegner der Vergeltungstheorie, der noch nicht kapitulieren möchte, sondern der Versuchung widersteht, aus der Insel seine neue Heimat zu machen, muss also Argumente vorlegen, die besser sind als diejenigen, die in der gegenwärtigen Diskussion kursieren. Ich glaube, dass diese Aufgabe lösbar ist. Die Insel zeigt aber, dass sie um einiges schwieriger ist als gedacht. Ich werde im Folgenden zwei Argumente entwickeln. Das erste basiert auf einer Asymmetrie, die die Vergeltungstheorie zu übersehen neigt (u. 1.); das zweite soll ein Versuch sein, den oben genannten Einwand des Moralismus zirkelfrei neu zu formulieren, nämlich in Gestalt eines Kohärenzarguments (u. 2.). 1. Das Asymmetrieargument Der Vergeltungstheorie zufolge wird Strafe als Gebot der Gerechtigkeit verhängt. Die These enthält also sowohl eine negative Seite, d. h. das Verbot, den Unschuldigen 51 52
S. schon Greco, Lebendiges und Totes (Fn. 3), S. 226 Fn. 83. Greco, Lebendiges und Totes (Fn. 3), S. 27.
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zu bestrafen, als auch eine positive Seite, also das Gebot, den Schuldigen zu bestrafen. Es ist ungerecht, den Unschuldigen zu bestrafen, es ist ungerecht, den Schuldigen nicht zu bestrafen. Genauer: aus einer vergeltungsbasierten Perspektive dürften sich beide Ungerechtigkeiten auf derselben Ebene befinden. Die Bestrafung des Unschuldigen ist ungerecht, die Nicht-Bestrafung des Schuldigen ist ebenfalls ungerecht, die Bestrafung des Unschuldigen ist genauso ungerecht wie die Nicht-Bestrafung des Schuldigen. Es dürfte jedoch eine Asymmetrie zwischen diesen beiden Ungerechtigkeiten vorliegen, eine nicht bloß quantitative Asymmetrie, der zufolge die Bestrafung des Unschuldigen eine größere Ungerechtigkeit bedeute als die Nichtbestrafung des Schuldigen, sondern vielmehr eine solche qualitativer Art: Die Bestrafung des Unschuldigen ist eine völlig anders geartete Ungerechtigkeit als die Strafloslassung des Schuldigen. Die beste Art und Weise, diese qualitative Asymmetrie zwischen der positiven und der negativen Dimension des Vergeltungsgedankens zu veranschaulichen, besteht auch darin, die Augen auf Inseln zu lenken, genauer: auf zwei weitere Inseln, die derjenigen von Kant ähneln, sich aber in einer entscheidenden Hinsicht von ihr unterscheiden. Man stelle sich eine Insel253 vor, in der zwei verfeindete Untergruppen seit Generationen versuchen, einander auszurotten. Einem großen Mann gelingt es, die streitenden Parteien miteinander zu versöhnen; seinen Mühen und seinem Charisma ist die relativ stabile Sachlage zu verdanken, die seit einigen Jahren herrscht. Man entdeckt jedoch, dass dieser große Mann gravierende Straftaten begangen hat, die noch nicht verjährt sind, und die mindestens mit einer Freiheitsstrafe geahndet werden sollten, was fatale Konsequenzen für die endgültige Etablierung des Friedens auf der Insel haben würde. Gibt es eine Pflicht, diesen Mann zu bestrafen, auch dann, wenn diese Strafe das Ende des Friedens oder sogar der Existenz einer Gesellschaft auf der Insel zur Folge haben würde? Intuitiv leuchtet es ein, dass das nicht der Fall sein kann. Man bemerke, dass wohl nicht einmal Kant in einem solchen Fall auf einer Bestrafung bestehen würde.54 Man stelle sich zugleich eine dritte Insel vor, die man als Insel3 bezeichnen könnte,55 in der es auch zwei verfeindete Gruppen gibt, die ebenfalls vor einigen Jahren einen Waffenstillstand vereinbart haben. Eine Gräueltat wird gegen einen Anführer einer der Gruppen begangen, so dass der Neuausbruch einer Reaktionsspirale, deren wahrscheinliche Folge ebenfalls die Auflösung der Gesellschaft wäre, unmittelbar bevorsteht. Der einzige ersichtliche Ausweg aus der Katastrophe ist die Bestrafung 53
Vgl. schon Greco, Lebendiges und Totes (Fn. 3), S. 234. Diese Mutmaßung beruht auf einer Analogie: denn Kant nimmt es ausdrücklich hin, dass von der an sich gebotenen Hinrichtung von Schuldigen abgesehen wird, wenn so viele hinzurichten wären, dass die Gesellschaft nicht mehr existieren würde (Kant, Metaphysik der Sitten, A 201/B 231). Seit jeher wirft man Kant wegen dieser Passage Inkonsequenz vor (Hepp, Darstellung und Beurtheilung [Fn. 16], S. 106; Binding, Grundriss [Fn. 4], S. 217; Cattaneo, Dignità umana [Fn. 17], S. 315 f.; Jakobs, Staatliche Strafe [Fn. 14], S. 14). 55 Auch in Greco, Lebendiges und Totes (Fn. 3), S. 274. 54
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einer Person, die die Mitglieder der angegriffenen Gruppe für den Täter erachten. Man stelle sich aber vor, dieser Verdächtige sei in Wahrheit unschuldig. Kann es gerechtfertigt sein, diesen Unschuldigen zu bestrafen, um Schlimmeres zu verhindern? Hier erscheint es, anders als bei der Insel2, unzulässig, das Vergeltungsprinzip zu ignorieren. Nicht einmal der Umstand, dass der Friede und die Existenz der Gesellschaft, das Wohlbefinden und das Leben vieler Individuen auf dem Spiel stehen, erlaubt es, die Rechte der Unschuld aufzuopfern, zu denen in erster Linie das Recht gehört, niemals bestraft zu werden. Damit wird eine intuitive Asymmetrie ersichtlich zwischen der positiven Dimension der Vergeltungstheorie, also dem Gebot, den Schuldigen zu bestrafen, und ihrer negativen Seite, nämlich dem Verbot, den Unschuldigen zu bestrafen. Das Verbot hat zwingende oder absolute Geltung, das Gebot gilt bestenfalls56 prima facie oder relativ. Deshalb sagte ich, dass die Asymmetrie nicht bloß quantitativ, sondern qualitativ ist. Ginge es um eine Frage der Quantität, wäre man früher oder später bei dem Punkt angekommen, an dem eine bestimmte Anzahl von nicht bestraften Schuldigen die Bestrafung des Unschuldigen aufwiegen würde. Es sei etwa besser, dass zwanzig Schuldige entkommen, als dass ein Unschuldiger irrtümlich bestraft werde – bei einundzwanzig Schuldigen verhalte es sich vielleicht schon anders. Diese Asymmetrie lässt sich an vielen weiteren Stellen erkennen: Sie steht hinter dem Gebot, dass man bei Zweifeln freisprechen soll, oder hinter dem Umstand, dass die meisten Rechtsordnungen einer Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Angeklagten viel aufgeschlossener gegenüberstehen als einer Wiederaufnahme zu dessen Ungunsten. Meines Erachtens bietet sich eine naheliegende Erklärung für diese Asymmetrie an, die auch überzeugend sein dürfte: die Asymmetrie beruht darauf, dass die Vergeltungstheorie falsch ist.57 Die negative Dimension der Vergeltung, d. h. das Verbot, den Unschuldigen zu bestrafen, beruht in Wahrheit auf Überlegungen, die dieser Theorie fremd sind und die damit zusammenhängen, dass man einen Menschen nicht instrumentalisieren bzw. als bloßes Mittel für Zwecke Anderer behandeln darf.58 Durch diese Zurückführung des Verbots, den Unschuldigen zu bestrafen, auf das allgemeinere Instrumentalisierungsverbot wird zugleich der absolute Charakter des konkreteren Verbots erklärt: Würde man dessen Abdingbarkeit annehmen, hätte man zugleich zugegeben, dass der Bürger nur insoweit Respekt verdient, als dies dem Interesse anderer entspricht. Aus dem Instrumentalisierungsverbot lassen sich jedoch keine positiven Handlungspflichten bzw. Gebote ableiten, sondern bloß Unterlassungspflichten bzw. Verbote.59 Handlungspflichten bzw. Gebote müssten 56
Vgl. den nächsten Abschnitt. Von dieser Erklärung geht auch meine längere Abhandlung aus, Greco, Lebendiges und Totes (Fn. 3), insb. S. 131 ff., 230 ff. 58 Grundlegend auch Kant, etwa Metaphysik der Sitten, A 196/B 226. 59 Näher Greco, Lebendiges und Totes (Fn. 3), S. 134 ff. Der wichtigste Grund hierfür liegt darin, dass das Verbot, zu instrumentalisieren, absolut bzw. zwingend ist, in dem Sinne, dass es keinen Ausnahmen zugängig ist. Nur Unterlassungspflichten können jedoch als absolute im Sinne von ausnahmeunfähigen Pflichten gedacht werden; denn sobald man eine einzige 57
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aus anderen Erwägungen gewonnen werden, letztlich aus solchen, die mit der Förderung bestimmter für förderungswürdig erachteter Zwecke zusammenhängen. Deshalb gibt es bestenfalls eine abdingbare Pflicht, den Schuldigen zu bestrafen: Die Pflicht, den Schuldigen zu bestrafen, ist relativ, weil sie darauf beruht, dass die Bestrafung des Schuldigen für Zwecke wie den Rechtsfrieden, die Generalprävention usw. förderlich ist. Können diese Zwecke nicht erreicht werden, oder geht deren Erreichung mit übermäßigen Kosten einher, verliert die Pflicht ihre ursprüngliche Kraft. Das, was auf den ersten Blick wie eine Konkretisierung eines einheitlichen Vergeltungsprinzips anmutet, löst sich bei näherem Hinsehen auf: Das Verbot, den Unschuldigen zu bestrafen, beruht auf dem Instrumentalisierungsverbot; das Gebot, den Schuldigen zu bestrafen, auf Erfordernissen der Förderung bestimmter (etwa präventiver) Zwecke. Wie gesagt dürfte diese Erklärung sowohl naheliegend als auch überzeugend sein. Dennoch muss eingeräumt werden, dass sie nicht die einzig mögliche ist. Denn der Vertreter der Vergeltung kann eine alternative Erklärung für die Asymmetrie liefern, die deshalb widerlegt werden muss. Er könnte nämlich immer noch darauf bestehen, dass die (zugegebenermaßen relative) Pflicht, den Schuldigen zu bestrafen, allein auf Erwägungen der Gerechtigkeit beruht. Er könnte aber sagen, dass gerechtigkeitsbezogene Pflichten, mindestens dann, wenn sie positive Pflichten, d. h. Handlungspflichten verkörpern, immer relativ seien: Denn nur Unterlassungspflichten könnten absolut sein.60 Er könnte dem noch etwas hinzufügen, das die Dringlichkeit einer Replik um einiges erhöht: Nur die von ihm gebotene alternative Erklärung könnte dem Inselbeispiel von Kant oder dem Beispiel von Chaney gerecht werden. Ist also der Vergeltungstheoretiker im Vorteil?
2. Das Kohärenzargument In der Tat: Mein Asymmetrieargument vermag den Beispielen der Insel2 und der Insel3 gerecht zu werden. Die ursprüngliche Insel, die Insel von Kant also, und vor allem der Fall von Chaney bleiben noch ohne befriedigende Antwort. Ein großer Vorzug der Vergeltungstheorie scheint darin zu liegen, dass sie hier Erfolg hat, also gerade an der Stelle, an der eine Theorie wie die, die oben skizziert wurde, versagt. Oben wurde gezeigt (item IV.1.), dass alle Versuche, dem durch eine Neubeschreibung des Originalbeispiels der Insel oder des Falls von Chaney zu entgehen, unbefriedigend sind. Ich glaube, dass die einzige aufrichtige Lösung darin besteht, einzuräumen, dass man als Vergeltungskritiker, d. h. als jemand, der die These ablehnt, dass Strafe sich allein aus Gründen der Gerechtigkeit legitimiere und der für jede legitime Strafe einen Vorteil verlangt, Chaney nicht bestrafen kann. Der VergeltungsHandlungspflicht postuliert, die sich auf derselben Ebene befindet wie die Unterlassungspflichten, kann es zu einer Pflichtenkollision kommen, so dass der Anspruch absoluter Geltung mindestens einer der Pflichten aufgegeben werden muss. 60 S. Fn. 59.
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kritiker muss sich also von den Intuitionen der Inselbeispiele distanzieren. Verkörpert das nicht jedoch eine eigentliche reductio ad absurdum der Kritik an der Vergeltung? Ich denke nicht. Denn die für die Vergeltungstheorie konstitutive Annahme, dass sich Strafe allein aus Gründen der Gerechtigkeit legitimiere, unabhängig von der Förderung irgendwelcher Vorteile, erkauft den Vorteil, die intuitiv richtige Bestrafung von Chaney begründen zu können, mit weitaus bedeutsameren Schwierigkeiten sowohl praktischer als auch theoretischer Art. Insbesondere impliziert die Bestrafung von Chaney, dass man eine Strafe auch dort für legitim erachtet, wo sie keinerlei Vorteile bringt. Das ist Ausdruck eines allgemeineren Prinzips, aus dem für einen anderen Bereich, nämlich für die Lehre vom materiellen Verbrechensbegriff, folgen würde, dass bereits der intrinsische Unwert bestimmter Taten ein hinreichender Grund sei, diese unter Strafe zu stellen. Mit anderen Worten, es sei irrelevant, ob diese Taten einen Sozialschaden bzw. eine Rechtsgutsverletzung hervorrufen. Darin besteht mein Kohärenzargument: Dadurch, dass die Vergeltungstheorie es für irrelevant erklärt, ob die Strafe irgend einen Vorteil hervorbringt, beruht sie auf einem allgemeineren Prinzip, das in einem Spannungsverhältnis zu einem anderen, wichtigen Prinzip aus der Tradition des strafrechtlichen Liberalismus steht, nämlich dass man nur Verhaltensweisen für strafbar erklären sollte, die sozialschädlich bzw. rechtsgutsverletzend sind. 61 Die Hinnahme der Straflosigkeit von Chaney ist also der Preis, den man bezahlen muss, wenn man nicht den Weg ebnen möchte zu einer Preisgabe dieses Prinzips.62 61 Derartige Thesen werden von Moore explizit zurückgewiesen, Moore, Placing Blame (Fn. 7), S. 70 ff., S. 659 ff. – obwohl er eigentlich einen von ihm sogenannten „liberalen Moralismus“ vertritt, dem zufolge zwar die Moralwidrigkeit eines Verhaltens der Grund sei, es zu kriminalisieren, zum anderen Verhaltensweisen wie die Homosexualität nicht moralwidrig seien. Sein Endergebnis steht deshalb dem der Lehre vom Rechtsgüterschutz oder vom Sozialschaden sehr nahe. 62 Ähnlich bereits v. Liszt, in: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. II, 1905, S. 25 ff. (S. 54); Roxin, Grundlagenprobleme (Fn. 8), S. 3, 9; Neumann, in: Neumann/Prittwitz (Hrsg.), „Personale Rechtsgutslehre“ und „Opferorientierung im Strafrecht“, 2007, S. 85 ff. (S. 87). – Angezeigt ist zugleich eine kleine Beichte: In meiner Dissertation habe ich den Autoren, auch den gerade erwähnten, die der Vergeltungstheorie vorwerfen, diese verkörpere einen „Moralismus“, weil sie zu der Bestrafung von nicht gesellschaftsschädlichen bzw. rechtsgutsverletzenden Verhaltensweisen führe, entgegengehalten, dies sei eine Vermengung von zwei logisch verschiedenen Fragen, nämlich derjenigen nach den Strafzwecken erster und zweiter Ordnung ([Fn. 3], S. 304) bzw. (in weniger präziser Terminologie), der Frage nach dem „Was“ und der Frage nach dem „Warum“ des Strafens. Zwar bleibt meine kritische Bemerkung für sich genommen richtig. Ich erkenne inzwischen, dass der von diesen Autoren formulierte Vorwurf im Sinne des gerade entwickelten Kohärenzarguments verstanden oder rekonstruiert werden kann. Auch dann, wenn der Gegenstand der Vergeltungstheorie die Frage nach dem Warum der Strafe ist und nicht die nach den Verhaltensweisen, die man unter Strafe stellen soll, ist die Vergeltungstheorie eine konkretere Ausformung eines Prinzips, dem zufolge die Strafe sich unabhängig von irgendwelchen Vorteilen rechtfertigen lasse. Dieses allgemeinere Prinzip führt im konkreteren Zusammenhang der Strafzufügung zur Vergeltungstheorie, und im noch konkreteren Zusammenhang der Frage nach den unter Strafe zu stellenden Verhaltensweisen zu einer Zurückweisung der Lehre vom Rechtsgüterschutz oder vom Sozialschaden.
Kants Insel
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Man wird mir vielleicht vorhalten, auch dies entkomme nicht dem Zirkel. Das wird insbesondere dann ersichtlich, wenn man mit der Vergeltungstheorie zugleich die Rechtsgutslehre ablehnt, was heute nicht wenige tun. In der Tat sind Kohärenzargumente immer zugleich zirkelverdächtig. Der Rückgriff auf ein solches Argument ist trotzdem ein Schritt nach vorne, weil der Zirkel ab einer bestimmten Größe kein vitiöser mehr ist. Und vor allem: Gerade dann, wenn sich die stärkste Begründung der Vergeltungstheorie auf einen abduktiven Schluss bzw. ein Kohärenzargument beruft, wird allein ein entgegengesetztes Kohärenzargument die Begründungslasten zu verschieben vermögen. Am Ende bleibt es dabei, dass man vor der Frage steht, welche der Intuitionen die wichtigere ist: die für den common sense einleuchtende Annahme, dass die an sich nutzlose Bestrafung von Chaney geboten sei, weil gerecht; oder die Grundsätze zum materiellen Straftatbegriff, die der Tradition des strafrechtlichen Liberalismus zu Grunde liegen.
VI. Fazit Es lohnt sich, die Insel von Kant erneut zu besuchen. Sie zeigt auf, dass die Kritik an der Vergeltungstheorie sich eigentlich mehr Mühe geben muss als bisher. Der größte Teil der gegen diese Theorie gerichteten Einwände ist zirkelhaft, weil sie bereits von einem präventiven Standpunkt formuliert werden. Der eigentliche Grund, die Vergeltung zurückzuweisen, besteht in der Schwierigkeit dieser Theorie, die qualitative Asymmetrie zwischen dem Verbot der Bestrafung des Unschuldigen und dem Gebot der Bestrafung des Schuldigen zu erklären (Asymmetrieargument) und vor allem in dem Spannungsverhältnis, das zwischen der für die Vergeltungstheorie konstitutiven These besteht, dass man auch ohne jeglichen Vorteil strafen dürfe, und dem Gebot, dass eine Straftat eine Rechtsgutsbeeinträchtigung bzw. ein sozialschädliches Verhalten verkörpern muss (Kohärenzargument).
Große Erzählungen der Strafrechtsentwicklung Von Tatjana Hörnle
I. Einleitung Im wissenschaftlichen Werk von Ulrich Sieber, dem ich diesen Beitrag mit herzlichem Dank für die gute Zusammenarbeit am Freiburger Max-Planck-Institut widme,1 nimmt eine These eine wichtige Stellung ein: die These, dass das traditionelle, punitive Strafrecht in zunehmendem Maß durch Sicherheitsrecht ersetzt werde.2 Seine Beschreibung der Entwicklungen betont zum einen, dass neben das Strafrecht als Mittel zur Gewährleistung von Sicherheit eine Vielzahl von Ansätzen in anderen Rechtsgebieten trete, die das gleiche Ziel verfolgen, etwa im Polizei- und Nachrichtendienstrecht oder als Compliance-Regeln.3 Prozedural entstünden für bestimmte Delikte „ganzheitliche Bekämpfungsansätze“ mit außerstrafrechtlichen und strafrechtlichen Ermittlungen durch nationale wie internationale Akteure.4 Zum anderen verweist Sieber auf zwei unterschiedliche Formen innerhalb des Strafrechts: traditionelles Strafrecht und Präventionsstrafrecht. Das traditionelle Strafrecht bestrafe, am Schuldgrundsatz orientiert, für vergangenes Verhalten. Präventionsstrafrecht sei verstärkt auf den Schutz von kollektiven Gütern und Institutionen ausgerichtet und kriminalisiere gefährliches Verhalten.5 Im materiellen Recht manifestiere sich dies in einer Vorverlagerung der Strafbarkeit, für das Prozessrecht seien Maßnahmen im Vorfeld eines konkreten Tatverdachts charakteristisch.6 Bei der Beschreibung von verbotenem Verhalten verschiebe sich der Fokus vom Erfolgsunrecht zum Handlungsunrecht.7
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Das Institut heißt seit der Neuausrichtung im November 2019 „Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht“. 2 Sieber, ZStW 119 (2007), 1 (27 ff.); ders., in: Tiedemann u. a. (Hrsg.), Die Verfassung moderner Strafrechtspflege. Erinnerung an Joachim Vogel, 2016, S. 351 (354 ff.); ders., in: Sieber u. a. (Hrsg.), Alternative Systems of Crime Control: National, Transnational, and International Dimensions, 2018, S. 3 ff. 3 Sieber, in: Tiedemann u. a. (Fn. 2), S. 357 ff.; ders., in: Sieber u. a. (Fn. 2), S. 7 ff. 4 Sieber, ZStW 119 (2007), 1 (33 f.). 5 Sieber, in: Tiedemann u. a. (Fn. 2), S. 355 ff.; ders., in: Sieber u. a. (Fn. 2), S. 5 f. 6 Sieber, ZStW 119 (2007), 1 (27 ff.); Sieber, in: Tiedemann u. a. (Fn. 2), S. 355 ff.; ders., in: Sieber u. a. (Fn. 2), S. 5 f. 7 Sieber, in: Tiedemann u. a. (Fn. 2), S. 355; ders., in: Sieber u. a. (Fn. 2), S. 5.
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Ulrich Siebers Analysen decken sich in einigen Aspekten mit einer breiteren Strömung in der deutschen Strafrechtswissenschaft. Unterschiedliche Autoren haben große Erzählungen zur Entwicklung des Strafrechts veröffentlicht (wenn ich von „großen Erzählungen“ spreche, meine ich breit angelegte Diagnosen). Gemeinsam ist diesen Entwürfen, dass die Vorverlagerung von Strafbarkeit in besonderem Maße als typisch für gegenwärtige Zustände eingestuft wird.8 Günther Jakobs etwa führte in seinem Vortrag auf der Strafrechtslehrertagung 1985 Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung an, um zu begründen, dass sich das deutsche Recht vom Pol des Bürgerstrafrechts weg in Richtung eines Feindstrafrechts bewege.9 Unterschiedlich fallen die normativen Bewertungen aus. Winfried Hassemer, Wolfgang Naucke und andere verbinden Beschreibungen eines Trends zum Präventionsstrafrecht mit scharfer Kritik.10 In diesem und einigen anderen wichtigen Punkten unterscheiden sich die Überlegungen des Jubilars von denen der anderen Autoren; darauf wird zurückzukommen sein. In meinem Beitrag sollen allerdings nicht inhaltliche Details im Vordergrund stehen, sondern eine methodische Gemeinsamkeit: Es handelt sich jeweils um Beschreibungen, die eine Verlaufsachse (von einem Zustand hin zu einem anderen) zeichnen. Charakteristisch ist die bipolare Struktur des Verlaufs von einem positiv gewerteten Pol (klassisches oder traditionelles Strafrecht oder Bürgerstrafrecht) hin zu einem als negativ oder jedenfalls ambivalent gewerteten Pol (Präventionsstrafrecht, Sicherheitsrecht oder Feindstrafrecht). Im Folgenden gehe ich den Fragen nach, warum dieser Modus der Beschreibung beliebt ist und was die Vorzüge, aber auch was die Fallstricke sind.
II. Die Beliebtheit großer, bipolarer Erzählungen 1. Zum Begriff der großen Erzählung Die Bezeichnung Erzählungen bedarf der Erklärung.11 Damit möchte ich nicht in radikalkonstruktivistischer Weise12 behaupten, dass objektive Beschreibungen und 8 Siehe z. B. aus jüngeren Zeit Puschke, Legitimation, Grenzen und Dogmatik von Vorbereitungsdelikten, 2017, 1. Kapitel; Petzsche, ZStW 131 (2019), 576 (585) spricht von einer „Spirale der Eskalation“. 9 Jakobs, ZStW 97 (1985), 751 ff. 10 Siehe z. B. Hassemer, ZRP 1992, 378 ff.; ders., HRRS 2006, 130 ff.; Naucke, KritV 1993, 135 (143 ff.). Siehe für ähnliche Beschreibungen P.-A. Albrecht, KritV 1988, 182 ff.; Kunz, KJ 2010, 9 (16 ff.); von Trotha, KJ 2010, 24 ff.; Singelnstein, in: Brunhöber (Hrsg.), Strafrecht im Präventionsstaat, 2014, S. 41 (48 ff.). Zur Kritik an der „Frankfurter Schule“ Schünemann, GA 1995, 201 (203 ff.); ders., in: Kühne/Miyazawa (Hrsg.), Alte Strafrechtsstrukturen und neue gesellschaftliche Herausforderungen in Japan und Deutschland, 2000, S. 15 (19 ff.). 11 Vermeiden möchte ich das Wort „Narrativ“, das ursprünglich Erzählungen mit sinnstiftender Funktion bezeichnete, heute aber unreflektiert und unpräzise für alles Mögliche ver-
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intersubjektiv begründbare normative Wertungen unmöglich seien. Im Gegensatz zum neutraleren Begriff der Beschreibung kommt in dem der Erzählung jedoch zum Ausdruck, dass normative Vorannahmen der Autoren und Erwartungen der Leserschaft die beschreibenden Anteile beeinflusst haben. Die These, dass große Erzählungen beliebt seien, stütze ich auf die Beobachtung, dass immer wieder neue Varianten des eben beschriebenen methodischen Zuschnitts entstehen und intensiv rezipiert werden. Philosophisch interessierte Leserinnen und Leser könnten an dieser Stelle einwenden, dass eine gängige Formel nicht die Beliebtheit, sondern im Gegenteil das Ende der großen Erzählungen diagnostiziere. Entsprechende Überlegungen entwickelte Francois Lyotard in „Das postmoderne Wissen“, wobei er sich allerdings als „große Erzählungen“ philosophische Entwürfe vornimmt,13 deren Gegenstände, Universalitätsansprüche und präskriptive Ambitionen viel weiter reichen als die erwähnten strafrechtlichen Darstellungen. In Relation zu philosophischen Großerzählungen (etwa zum Thema „die Aufklärung“)14 würde man soziologisch-historische Darstellungen des deutschen Strafrechts allenfalls als Erzählungen mittlerer Reichweite bezeichnen. Dessen ungeachtet verwende ich das Adjektiv „groß“, mit dem Hinweis, dass die Größenrelation innerhalb des Zuschnitts unseres Faches zu verorten ist. 2. Die Beliebtheit bipolarer Analyseschemata Klaus Röhl hat kürzlich in einem Freiburger Vortrag betont, wie fundamental die Bedeutung von Dichotomien, genauer: Antonymen, aus rechtstheoretischer Sicht ist.15 Noch eine Schicht tiefer ansetzend, verweist er auf die generelle menschliche Neigung, unserer Umgebung nicht nur mit Begriffen, sondern auch durch die Konstruktion von Gegenbegriffen Ordnung zu geben.16 Schon aus diesem Grund ist es
wendet wird und zum Modewort geworden ist – siehe dazu Zifonun, Sprachreport 33 (2017) Nr. 3, 1 ff. –, was kritische Beobachter zu Spott animiert, siehe Heine, Hinz und Kunz schwafeln heutzutage vom „Narrativ“, Die Welt v. 13. 11. 2016, https://www.welt.de/debatte/ kommentare/article159450529/Hinz-und-Kunz-schwafeln-heutzutage-vom-Narrativ.html. 12 Siehe für eine solche Position von Glasersfeld, Radical Constructivism, A Way of Knowing and Learning, 1995. 13 Lyotard, Das postmoderne Wissen, S. 79 ff. Krit. zu postmodernen Theorien Boghossian, Angst vor der Wahrheit. Ein Plädoyer gegen Relativismus und Konstruktivismus, 2013. 14 Dazu Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, 1932. 15 Eine Zusammenfassung findet sich auf dem rechtssoziologischen Blog von Röhl: https:// www.rsozblog.de/gegenbegriffe-dichotomien-und-alternativen-in-der-jurisprudenz/. 16 Röhl (Fn. 15). Aus der Perspektive einer evolutionären Erkenntnistheorie ist davon auszugehen, dass sich nicht nur kognitive Fähigkeiten, sondern auch Grundstrukturen unserer Sprachen entwickelt haben, weil sich diese Instrumente in der Relation zur Umgebung als nützlich erwiesen haben, siehe dazu Delpos, in: Riedl/Delpos (Hrsg.), Die Evolutionäre Erkenntnistheorie im Spiegel der Wissenschaften, 1996, S. 9 ff.; Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie, 3. Aufl. 1983, S. 84 ff. (138).
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nicht überraschend, dass auch in der Strafrechtswissenschaft Dichotomien beliebt sind – so beliebt, dass diese Art des Denkens in der Regel nicht reflektiert wird. Aufmerksamkeit in der Fachdisziplin und breiten Öffentlichkeit versprechen bipolare Beschreibungen vor allem dann, wenn sie mit starken normativen Wertungen verbunden werden. Solche Wertungen werden als hilfreich empfunden, um eine unübersichtliche Welt noch besser zu strukturieren als mit bloße Beschreibungen, und sie befördern den emotionalen Anschluss an die Darstellung. Beziehen Autoren engagiert Position gegen den als schlecht gewerteten Pol, werden viele Rezipienten die zum Ausdruck gebrachte Empörung teilen und den Aufsatz deshalb als interessant empfinden. Gleichzeitig ist es auch möglich, dass Teile der Leserschaft die Bewertung nach einem „gut-oder-schlecht“-Schema nicht teilen, was ebenfalls eine affektive Reaktion auslöst. Schließlich ergeben sich Kristallisationspunkte für Emotionen, wenn man wie Günther Jakobs unter Verwendung von Idealtypen (Bürger- und Feindstrafrecht) bipolar analysiert,17 sich aber trotz der Diagnose „Annäherung an ein Feindstrafrecht“ einer klaren normativen Stellungnahme verweigert. Schon die methodische Entscheidung für ein bipolares Schema weckt vermutlich bei vielen Lesern die Erwartung, dass über bloße Beschreibung hinaus auch gewertet werden müsse. In unserer Praxis moralischer Wertungen sind bipolare Strukturen so fest verankert, dass bipolare Schemata, die lediglich beschreiben, zu Missverständnissen einladen können. Unbehagen (und Debatten) verbreiten sich vor allem dann, wenn einer von zwei Idealtypen erkennbar dunkel eingefärbt ist: Verwendet man wie Jakobs einen Begriff wie Feind, ist nicht verwunderlich, dass es Aufregung erzeugt, wenn der Autor eine Annäherung an diesen dunklen Pol nicht eindeutig als negative Entwicklung kennzeichnet.18
III. Bipolar aufgestellte Idealtypen als Instrumente zur Erfassung komplexer Phänomene Nicht zuletzt wegen der Beliebtheit bipolarer Analyseschemata lohnt es sich, über Vor- und Nachteile des methodischen Ansatzes nachzudenken. Der wesentliche Vorteil ist, dass hochkomplexe Phänomene besser zu erfassen sind, wenn eine Verlaufsgeschichte mit zwei Polen, etwa in Form der Idealtypen im Sinne Max Webers,19 zu17
Jakobs hat die Idealtypusmethode bewusst übernommen, ders., HRRS 2004, 88. Siehe zu der ausufernden Diskussion über Feindstrafrecht einerseits Jakobs, ZStW 97 (1985), 751, 755 ff.; ders., HRRS 2004, 88 ff. (dort S. 88: Feindstrafrecht sei „nicht prinzipiell pejorativ gemeint“); und ders., HRRS 2006, 289 ff., andererseits z. B. Prittwitz, in: Pilgram/ Prittwitz (Hrsg.), Kriminologie. Akteurin und Kritikerin gesellschaftlicher Entwicklungen, 2005, S. 215 (224 ff.); Saliger, JZ 2006, 756 (761 ff.); Hörnle, GA 2006, 80 ff.; Neumann, in: Uwer (Hrsg.), Bitte bewahren Sie Ruhe. Leben im Feindstrafrecht, 2006, S. 299 ff.; Ambos, ZStrR 124 (2006), 1 (18 ff.); Arnold, HRRS 2006, 304 ff.; Bung, HRRS 2006, 63 ff.; Paeffgen, Amelung-FS, 2009, S. 81 ff.; Greco, Feindstrafrecht, 2010, S. 50 ff. 19 Siehe Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 1922, S. 190 ff.; ferner Gerhardt, Idealtypus, 2001, insbes. S. 444 ff. zur Rezeptionsgeschichte. 18
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grunde gelegt wird, mit Konstrukten also, die so in der tatsächlichen Welt nicht existieren.20 Idealtypen werden geschaffen, weil dies heuristische Vorteile hat:21 Komplexe Zustände und Entwicklungen werden mittels der sich auf Idealtypen stützenden Methode übersichtlicher und damit besser verständlich gemacht. Erstens erlaubt es die Verwendung von Idealtypen, in einer Beschreibung nicht nur einzelne Merkmale hervorzuheben, sondern mehrere Elemente zu bündeln.22 Zweitens haben Typen23 im Gegensatz zu klassischen Definitionen unscharfe Ränder und fließende Übergänge, womit „der Typus der Unschärfe sozialer Gesetzmäßigkeit“ entspricht.24 Diese Charakteristika machen es möglich, mehrdimensionale Phänomene zu erfassen und „die zunächst unübersichtliche Vielfalt der sozialen Erscheinungen zu überschaubaren Gruppen zusammenzufassen.“25 Drittens lassen sich im Abgleich von realen Zuständen mit Idealtypen Ähnlichkeiten und Unterschiede als zeitliche Verläufe beschreiben, die z. B. in der Vergrößerung der Distanz zu einem Idealtypus und der Annäherung an den anderen Idealtypus liegen können.26 Wer sich für diese Methode entscheidet, sollte sich allerdings stets dessen bewusst sein, dass die beiden Pole nicht als Beschreibungen eines tatsächlich in Vergangenheit oder Gegenwart existierenden Zustands zu verstehen sind.27 Auch wenn die Pointe ist, dass sich die Distanz zwischen realen Zuständen und dem Idealtypus stark verringert habe, muss eine angemessene Wortwahl zwischen hypothetischem Idealtypus und dem in diese Richtung weisenden Realzustand unterscheiden. Eine mit Idealtypen arbeitende bipolare Methode funktioniert dann besonders gut, wenn sich beide Pole klar voneinander abgrenzen lassen, etwa wenn eine extreme Konstruktion wie Feindstrafrecht einem Bürgerstrafrecht gegenübergestellt wird. Komplizierter wird es, wenn die relevanten Typen als klassisches oder traditionelles Strafrecht einerseits und Präventionsstrafrecht andererseits umschrieben werden. In seiner Schilderung verweist Sieber darauf, dass das traditionelle, punitive Strafrecht in wichtigen Bereichen zu einem Präventionsinstrument werde.28 Klar voneinander abgrenzen lassen sich „traditionell/punitiv“ und „präventiv“ allerdings nicht. Verhaltensnormen, die wesentliches Element aller Strafgesetze sind, zielen auf Prävention: 20
Weber (Fn. 19), S. 191. Röhl, Rechtssoziologie, 1987, S. 174 f. 22 Weshalb sich der Typusbegriff nicht nur für groß angelegte Beschreibungen, sondern auch für die Arbeit mit rechtlichen Begriffen eignet, siehe dazu Kuhlen, Typuskonzeptionen in der Rechtstheorie, 1977; Schünemann, Hirsch-FS, 1999, S. 363 ff.; Duttge, Jahrbuch für Recht und Ethik 11 (2003), 103 ff.; Puppe, Schünemann-FS, 2014, S. 221 ff. 23 Dazu Hempel/Oppenheim, Der Typusbegriff im Lichte der neuen Logik, 1936. 24 Röhl (Fn. 21), S. 173. 25 Röhl (Fn. 21), S. 175. 26 Siehe für eine zivilrechtlich akzentuierte Anwendung der Methode (mit den Polen Statusrecht und Kontraktsrecht) Rehbinder, Rechtssoziologie, 8. Aufl. 2014, Rn. 66 ff.; zu law state and police state als Idealtypen Dubber, The Dual Penal State, 2018, S. 103 f. 27 Brunhöber, Schünemann-FS, 2014, S. 3 (6). 28 Sieber, in: Tiedemann u. a. (Fn. 2), S. 355; ders., in: Sieber u. a. (Fn. 2), S. 5. 21
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Strafrechtliche Verbote sollen Menschen von bestimmten Handlungen abhalten.29 Zu überlegen ist, ob ein bipolares Analyseschema nur dann ein taugliches Instrument zur Beschreibung komplexer Zustände ist, wenn sich sämtliche Merkmale exklusiv, also ohne Überschneidungen, entweder dem einen oder dem anderen Pol/Idealtypus zuordnen lassen. Das würde ich verneinen. Die Merkmalskombinationen, die jeweils einen Typus ausmachen, müssen als Kombination klar vom anderen Pol zu unterscheiden sein. Das schließt nicht aus, dass innerhalb der verschiedenen Merkmalscluster jeweils dasselbe Merkmal (etwa: Straftatenprävention) auftaucht. Ein hinreichender Unterschied zwischen den Idealtypen „klassisches“ und „Präventionsstrafrecht“ ist gradueller Natur: Für Letzteres spielt die Bekämpfung von Gefahren sowohl beim Umfang von Verbotsnormen als auch in der Strafverfolgung eine deutlich größere Rolle. Auch aus straftheoretischer Sicht lässt sich der Unterschied zwischen diesen beiden Typen erklären. Im Bereich des traditionellen Strafrechts hat Kriminalstrafe unter anderem die wichtige Funktion, die Verletzung der Rechte von Opfern als Unrecht zu markieren, wobei ein solches Unrechtsurteil die Gegenleistung dafür ist, dass der Staat von den Betroffenen verlangen darf, auf Vergeltung gerichtete Emotionen zu unterdrücken.30 Im Präventionsstrafrecht ist Strafe dagegen nicht innerhalb des Dreiecks „Täter-Opfer-Staat“31 zu rechtfertigen, sondern verfolgt ausschließlich Anliegen der Allgemeinheit.
IV. Probleme bei der Verwendung bipolarer Analyseschemata 1. Dramatisierende normative Bewertungen Die Aussage, dass starke normative Wertungen die Aufmerksamkeit der Leserschaft garantieren, bedarf eines Nachtrags: Ein eindeutiger Vorzug ist dies lediglich aus der Autorenperspektive. Aus wissenschaftlicher Sicht ist es kritisch zu sehen, wenn starke Schwarz-Weiß-Kontraste vermuten lassen, dass normative Wertungen zu undifferenziert ausfallen, was etwa auf die starke Abwertung eines Präventionsstrafrechts durch Hassemer, Naucke und andere zutrifft. An dieser Stelle sind die erfreuliche Nüchternheit und Differenziertheit in Ulrich Siebers Version der Entwicklung des Strafrechts hervorzuheben. Er erliegt nicht der Versuchung, die von ihm beschriebene neue Architektur eines Sicherheitsrechts im Empörungsmodus pauschal als negativ einzuordnen. Vielmehr betont Sieber, dass die unterschiedlichen Komponenten eines Sicherheitsrechts differenziert betrachtet werden müssen.32 Boris Burg29 Zur notwendigen Differenzierung zwischen dem Zweck abstrakt-genereller Verhaltensnormen und dem Zweck von Bestrafung im Einzelfall (eine Differenzierung, die bei der pauschalen Frage nach dem Zweck von Strafrecht untergeht) Hörnle, Straftheorien, 2. Aufl. 2017, S. 3 ff. 30 Hörnle (Fn. 29), S. 36 ff. 31 Siehe zu dieser Dreiecksfigur Hörnle, in: Bottoms/du Bois-Pedain (Hrsg.), Penal Censure. Engagements Within and Beyond Desert Theory, 2019, S. 207 (212). 32 Sieber, in: Tiedemann u. a. (Fn. 2), S. 368 ff.; ders., in: Sieber u. a. (Fn. 2), S. 30 f.
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hardt weist ebenfalls darauf hin, dass die Kritik am Präventionsgedanken „oftmals ein Zerrbild“ zeichne: Entscheidend seien konkrete Überlegungen, die für einen bestimmten Eingriff den Nutzen und das Gewicht des Freiheitseingriffes vermessen und die Verhältnismäßigkeit überprüfen.33 2. Unklarheiten beim Ausgangszustand Ein typisches Problem großer Erzählungen ist, dass ihr Ausgangspunkt unscharf bleibt. Wenn die Rede von traditionellem Strafrecht ist, schwingt sprachlich mit, dass es sich nicht um einen Idealtypus handle, sondern um einen historischen Zustand. Eine Tradition muss irgendwann real existiert haben. Begriffe wie „klassisch“ oder „Bürgerstrafrecht“ deuten dagegen eher darauf hin, dass man sich das so Beschriebene methodisch korrekt als Idealtypus vorstellen kann. Aber auch dann, wenn der historische Ausgangspunkt nur als Periode der Annäherung an, nicht aber als identisch mit dem dahinterstehenden Idealtypus zu denken ist, liegt die Pointe gängiger Beschreibungen darin, eine lineare Bewegung von einem Pol weg zum anderen Pol hin zu zeichnen. Dies wirft weitere Fragen auf: Wann genau befand sich das deutsche Strafrecht in einem Zustand, den man sich als Annäherung an den Idealtypus des klassischen oder Bürgerstrafrechts vorstellen kann? Siebers Überlegungen grenzen zeitlich nicht ganz genau ein, aber wegen der zentralen Rolle, die der Digitalisierung zukommt,34 kann die Zeitspanne für seine Verlaufsdarstellung nicht allzu weit zurückreichen. Wenn man seine These von der „neuen Architektur“35 bildlich darstellen und z. B. die sicherheitsstrafrechtlichen Anteile rot markieren würde, müsste in den letzten zwei, drei Jahrzehnten der Rotanteil im Gesamtbild deutlich und kontinuierlich zugenommen haben. Eine auf größere Zeitspannen angelegte Beschreibung würde ergeben, dass Vieles, was heute als typisch für Sicherheits- oder Präventionsstrafrecht gilt, keine Erfindung der jüngsten Zeit ist. Eine ausgedehnte Strafbarkeit von Vorbereitungshandlungen gab es bereits in vergangenen Jahrhunderten, etwa im preußischen Allgemeinen Landrecht,36 das innovative Maßnahmen zur Straftatenprävention und Sicherung einführte.37 Die Idee einer „guten Policey“, die keine klare Trennung von Strafrecht und anderen Regulierungssystemen kannte, führt weit in die Geschichte des Staates zurück.38 Ein einseitig an Sicherheitsinteressen orientiertes Terrorismusstrafrecht ist 33 Burghardt, in: Brunhöber (Hrsg.), Strafrecht im Präventionsstaat, 2014, S. 83 (102). Gegen eine pauschale Kritik am Präventionsgedanken auch Kaspar, im selben Band, S. 61 ff.; Frisch, GA 2009, 385 (399 ff.). 34 Sieber, ZStW 119 (2007) 1 (17 ff.). 35 So der Titel des Aufsatzes in: Sieber u. a. (Fn. 2). 36 Darauf geht auch Puschke (Fn. 8), S. 12 f., ein. 37 Siehe dazu Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl. 1995, § 241 – 243. 38 Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit und strafrechtliche Daseinsvorsorge, 1991, S. 74 ff.; Iseli, Gute Policey. Öffentliche Ordnung in der Frühen Neuzeit, 2009.
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ebenfalls keine Neuigkeit: Es findet sich bereits im Deutschen Reich nach 1871.39 Auch ein aufgeblähtes Nebenstrafrecht existierte bereits im 19. Jahrhundert,40 und Kubiciel hat jüngst dargelegt, wie sich Ende des 19. Jahrhunderts, in der Zeit des 1. Weltkriegs und danach die gestiegenen Steuerungsansprüche des Staats in einer großen Expansion des Wirtschaftsstrafrechts niederschlugen.41 Eine umfassende Dokumentation würde vermutlich keine gerade Linie ergeben, die eine kontinuierliche Zunahme der sicherheits- und präventionsorientierten Anteile signalisieren würde. 3. Paradigmenwechsel? Das Verhältnis von traditionellem Strafrecht und der „neuen Architektur des Sicherheitsrechts“ charakterisiert Sieber mit den Worten, dass Letztere das traditionelle Strafrecht zunehmend ergänze oder teilweise ersetze.42 Er verwendet sogar den Begriff des Paradigmenwechsels.43 In unserer Alltagssprache ist es üblich, von einem Paradigmenwechsel schon dann zu sprechen, wenn lediglich deutliche Verschiebungen betont werden sollen. In einem wissenschaftlichen Kontext, auf wissenschaftstheoretischer Grundlage, bezeichnet der Begriff jedoch einen sehr viel tieferen Einschnitt.44 Von einem echten Paradigmenwechsel kann nur die Rede sein, wenn das vorige Erklärungsmodell keine Bedeutung mehr hat. Standardbeispiel ist die Abkehr vom geozentrischen Weltbild zugunsten des heliozentrischen, die weitreichende Folgen nicht nur für die Astronomie, sondern auch für die Philosophie und das Selbstverständnis des Menschen hatte.45 Wenn man den Begriff des Paradigmenwechsels nicht im loseren alltagssprachlichen Gebrauch verwenden will, passt er nicht gut für eine Beschreibung der Entwicklungen im Strafrecht. In quantitativer Hinsicht kann man nicht davon ausgehen, dass neuartige Sicherheitsdelikte weitgehend das Bild beherrschen. Im Gegenteil: Dominant ist weiterhin traditionelles Strafrecht, in den gesetzlichen Normen ebenso wie in der Strafverfolgungspraxis.46 Delikte, die für einen Trend zum Sicherheits-
39 Wagner, Politischer Terrorismus und Strafrecht im Deutschen Kaiserreich von 1871, 1981, S. 327 ff. 40 Naucke, KritV 93 (2010), 129 (133). 41 Kubiciel, JZ 2019, 1116 ff. 42 Sieber, in: Sieber u. a. (Fn. 2), S. 3. 43 Sieber, in: Tiedemann u. a. (Fn. 2), S. 353; ders., in: Sieber u. a. (Fn. 2), S. 3. 44 Grundlegend zur Bedeutung von Paradigmenwechseln Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, 1962. 45 Dazu Kuhn, The Copernican Revolution: Planetary Astronomy in the Development of Western Thought, 1957; Blumenberg, Die kopernikanische Wende, 1965. 46 2018 entfiel ein großer Anteil aller Verurteilungen auf nur drei Deliktsgruppen aus dem klassischen Strafrecht (Betrug/Untreue: 139.690 Verurteilungen; Diebstahl/Unterschlagung: 115.732 Verurteilungen; Körperverletzungen: 60.943 Verurteilungen). Statistisches Bundesamt, Strafverfolgung, Fachserie 10 Reihe 3, 2018, S. 35, 37, 39. Wegen Straßenverkehrsde-
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strafrecht angeführt werden, etwa § 89a StGB (Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat), spielen keine nennenswerte Rolle (9 Verurteilungen in 2018)47. Auch die Zahl der eingeleiteten Ermittlungsverfahren ist in Relation zur Häufigkeit von kernstrafrechtlichen Verfahren unbedeutend.48 Hinzu kommt ein weiterer Punkt. Für die These eines Wechsels zum Paradigma „Präventionsstrafrecht“ müsste auch die Rechtsprechung des BGH zum Versuchsbeginn gewürdigt werden. Diese Rechtsprechung führt nicht zu einer umfassenden Strafbarkeit von Vorbereitungshandlungen, sondern im Gegenteil zu einer Einschränkung, indem sie das Merkmal des unmittelbaren Ansetzens in § 22 StGB eng auslegt. Der BGH verneinte einen Versuchsbeginn, obwohl Einbruchstäter bereits in den Garten eingedrungen waren, 49 den Holzrahmen der Terrassentür, die zum Eindringen genutzt werden sollte, bereits durchbohrt hatten,50 oder ein zur Tötung entschlossener Täter nur noch triviale Zwischenschritte wie das Öffnen einer Tür zum Treppenhaus, wohin das Opfer geflüchtet war, hätte vornehmen müssen.51 Aus einer an Straftatenprävention interessierten Perspektive sind dies befremdliche Entscheidungen. Das gilt insbesondere mit Blick auf professionell oder gewohnheitsmäßig agierende Einbrecher. Die restriktiven Vorgaben zum Versuchsbeginn demotivieren Polizeibeamte, deren Präventionsarbeit ins Leere läuft, weil auf frischer Tat ertappte Täter keine strafrechtlichen Konsequenzen tragen müssen. Möglicherweise hat zwar die Tatsache, gestellt worden zu sein, für manche eine gewisse individualabschreckende Wirkung. Es ist aber auch vorstellbar, dass andere Tätergruppen verstehen, dass Einbruchsdiebstähle risikoarm sind: Außerhalb des Gebäudes angetroffen, wird man nicht belangt (oder allenfalls wegen des trivialen, vermutlich meist eingestellten Hausfriedensbruchs verfolgt), innerhalb des Gebäudes ist dagegen die Wahrscheinlichkeit geringer, beobachtet zu werden. Einen allgemeinen Trend zu effektiver Prävention kann man der deutschen Strafjustiz nicht bescheinigen – auch deshalb sollte die Bezeichnung „Paradigmenwechsel“ vermieden werden. 4. Genügt ein bipolares Analyseschema, um die Entwicklung des Strafrechts zu erfassen? Wenn man ein Gesamtbild der Entwicklungen des Strafrechts zeichnen will, muss das Ergebnis unübersichtlich ausfallen, und zwar auch dann, wenn sich die erfasste Zeitspanne auf die letzten Jahrzehnte beschränkt. Dies ergibt sich aus der Vielfalt der likten (die zu einem großen Teil in die Kategorie des Präventionsstrafrechts fallen dürften) wurden weniger, nämlich 162.768 Personen verurteilt, S. 25. 47 Statistisches Bundesamt (Fn. 46), S. 27. 48 Antwort der Bundesregierung auf eine Abgeordnetenanfrage zu Terrorismusverfahren der Generalbundesanwaltschaft im Jahr 2018, BT-Drs. 19/6904. 49 BGH NJW 2017, 1189. 50 BGH NStZ 2020, 34. 51 BGH NStZ 2018, 648.
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Problemfelder, die strafrechtlich reguliert werden. Bei einem Fokus auf Wirtschaftskriminalität und den Fluss von Geld, etwa im Kontext von terroristischen Aktivitäten, ist die Diagnose einer Verschiebung in Richtung Sicherheitsrecht gut begründbar.52 Für andere strafrechtliche Teilbereiche ist dagegen dieses bipolare Analyseschema nicht geeignet, um wichtige Veränderungen zu erfassen. Ein anders gelagerter Entwicklungsstrang ist durch eine Wiederannäherung an den Pol „moralschützendes Strafrecht“ zu beschreiben. Vor allem Änderungen des Sexualstrafrechts werden als Re-Moralisierung interpretiert.53 Allerdings ist insoweit eine differenzierte Betrachtung erforderlich: Zum Teil blieben Reformen des Sexualstrafrechts im Gefüge eines klassischen, die Rechte von Individuen schützenden Strafrechts. Nach altem Recht waren Verletzungen des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung nur teilweise strafbar (so in § 177 a.F.);54 weshalb eine dieses Problem behebende Ausdehnung der Strafbarkeit keinen kriminalpolitischen Spurwechsel bedeutet. Die Diagnose einer Moralisierung kriminalpolitischer Diskurse liegt dann näher, wenn die Erhöhung von Strafrahmen gefordert wird. Hinter Initiativen, den sexuellen Missbrauch von Kindern sowie den Besitz von Kinderpornographie schärfer zu bestrafen,55 steht weder die Diagnose einer Schutzlücke noch ein empirisch fundierter Befund, dass die vorhandenen Strafrahmen präventiv ineffizient seien. Vielmehr zeigt sich in solchen Vorschlägen das Bedürfnis nach einer Vergewisserung über unsere moralischen Werte: Die Verwerflichkeit solcher Handlungen soll noch stärker betont werden. In Zeiten empfundener Unsicherheit und Krisen sowie schrumpfender Handlungsspielräume für nationale Politik wächst offenbar das Bedürfnis nach einer Demonstration von Zusammenhalt, und die Idee wird beliebter, Strafrecht zur Wertbekräftigung einzusetzen. Kriminalpolitische Vorhaben greifen dann Anliegen auf, die von einem geteilten Gefühl moralischer Evidenz getragen werden,56 wozu „Schutz von Kindern“ gehört. Ähnliche Tendenzen zeigen sich bei Delikten, die als Hasskriminalität oder rechtsextremistisch eingeordnet werden. In diesem Bereich ist besonders auffällig, dass der Einsatz des Strafrechts dazu dient, Werte und Symbole zu betonen, siehe etwa die geplante Ergänzung von § 46 Abs. 2 StGB um antisemitische Motive57 oder die geplante Be-
52 Siehe dazu Sieber/Vogel, Terrorismusfinanzierung: Prävention im Spannungsfeld von internationalen Vorgaben und nationalem Tatstrafrecht, 2015. 53 Hoven/Weigend, JZ 2017, 182; Kölbel, Eisenberg-FS, 2019, S. 61 (64) spricht gar von „rigorosen Zügen des aktuellen deutschen Rechtsregimes“. 54 Hörnle, ZIS 2015, 206 ff. 55 Jüngst: Kinderpornographie konsequent bekämpfen. Beschluss des Bundesfachausschusses Innere Sicherheit der CDU vom 9. Dezember 2019, abrufbar unter https://www.cdu. de/system/tdf/media/beschluss_kinderpornographie_konsequent_bekaempfen_final_091219. pdf?file=1. 56 Siehe dazu auch Kubiciel, JZ 2018, 171 (174). 57 Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz: Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität.
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strafung einer Verunglimpfung der Europäischen Union und ihrer Symbole.58 Versucht man, solche Entwicklungsstränge zu beschreiben, werden andere Idealtypen als „Sicherheitsrecht“ benötigt.
V. Folgerungen Was lässt sich aus dem Vorstehenden folgern? Meine Intention ist es nicht, die Sinnhaftigkeit groß angelegter Beschreibungen prinzipiell in Frage zu stellen; ich möchte vielmehr darauf hinweisen, wie kompliziert die Aufgabe ist und dass die verwendete Methode sorgfältiger Reflexion bedarf. Auch bei einer Beschränkung auf eine nationale Rechtsordnung und auf einen nur Jahrzehnte (nicht: Jahrhunderte) umfassenden Zeitraum sind für Aussagen über die Entwicklung des Strafrechts Forschungsprojekte mindestens im Umfang einer Habilitationsschrift erforderlich. Dabei kann es sinnvoll sein, Analyseschemata mit Idealtypen als entgegengesetzte Pole einzusetzen; in der Beschreibung der idealtypischen Pole sind allerdings Formulierungen zu vermeiden, die suggerieren, dass ein tatsächlicher Zustand erfasst werde. In einem solchen Großprojekt empfiehlt es sich, Felder, die strafrechtlich reguliert werden, zunächst getrennt zu betrachten. Die Heterogenität der sozialen Probleme schließt es aus, alle mit einem einzigen bipolaren Ansatz zu erfassen. Für bestimmte Bereiche sind Idealtypen wie Präventionsstrafrecht und Sicherheitsrecht gut geeignet, für andere, wie Hasskriminalität und anstößige Meinungsäußerungen, dagegen nicht: Insoweit lassen sich Entwicklungen besser als Annäherung an den Typus „moral- und wertschützendes Strafrecht“ erfassen. Kehrt man anschließend wieder zum Anspruch einer Gesamtdarstellung zurück, ergibt sich ein komplexes Bild, in dem sich mehrere Schichten oder Dimensionen mit unterschiedlichen Polkonstellationen überlagern. Damit soll nicht gesagt werden, dass wissenschaftliche Aussagen zur Strafrechtsentwicklung unterhalb des Umfangs einer Habilitationsschrift unmöglich seien. Natürlich ist es möglich und zulässig, sich auf einen Erzählstrang zu konzentrieren und die anderen Komponenten eines mehrschichtigen Gesamtgeschehens auszublenden. Die Entscheidung für einen bestimmten Fokus sollte allerdings bewusst und transparent erfolgen, d. h. es sollte der Eindruck vermieden werden, dass man eine Gesamtentwicklung des Strafrechts schildere. Zudem ist selbst bei einer Eingrenzung der Analyse auf nur einen Strang von mehreren, gleichzeitig stattfindenden Entwicklungen nicht davon auszugehen, dass sich übersichtliche, einheitliche Verläufe zeichnen lassen. Vielmehr muss damit gerechnet werden, dass auch dieser eine Strang bei näherer Betrachtung ausfranst oder sich andere Formen als gerade Linien bilden. Mit gegenläufigen Bewegungen ist vor allem dann zu rechnen, wenn der Pluralität an Akteuren Rechnung getragen wird. „Das Strafrecht“ wird durch die Strafrechtsanwen58
Siehe BT-Drs. 19/13478.
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dung ebenso wie die Gesetzgebung geprägt. Vermutlich zeigen sich für die unterschiedlichen Akteure konträre Muster zwischen Beharrung bei einem Pol und Verschiebungen in Richtung des jeweiligen Gegenpols. Für einige Bereiche der Strafgesetzgebung ist ein Trend zu „mehr Prävention und Sicherheitsrecht“ sichtbar. Gleichzeitig liegt aber im Hinblick auf die Strafgerichte die These nahe, dass diese (wegen einer nicht öffentlichen Wahlen unterliegenden, sondern bürokratisch verfassten Richterschaft) gegenüber Veränderungen resistenter sind59 und dazu neigen, an traditionellen Werten und Dogmen wie z. B. „keine Strafbarkeit bloßer Tatvorbereitung“ festzuhalten. Eine wissenschaftliche Herangehensweise muss vor allem der Versuchung widerstehen, griffige Schilderungen mit starken Wertungen zu verbinden und z. B. das Anliegen der Straftatenprävention pauschal zu verdammen. Dies verspricht zwar größere Aufmerksamkeit als Analysen, wie sie Ulrich Sieber fordert: Analysen, die in den normativen Bewertungen differenzierter und deshalb komplexer ausfallen. Nur solche Analysen werden aber der Vielschichtigkeit der Phänomene und Dilemmata gerecht, die hinter dem Begriff „Entwicklungen des Strafrechts“ stehen.
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Zur Strafzumessung siehe Hörnle, GA 2019, 282 (291).
Zur Wahrheit der strafrechtlichen Problemlösung oder: auf der Suche nach einer universell gültigen Strafrechtsdogmatik* Von Makoto Ida
I. Einleitung Über den Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz und damit über die Wahrheitsfähigkeit der juristischen Aussagen ist man seit jeher geteilter Ansicht.1 Wenn es jedoch zuträfe, dass bei der Rechtsentscheidung kein objektives Kriterium verfügbar und allein das persönliche Dafürhalten derjenigen, die sie treffen, etwa der Richter, entscheidend wäre, dann würde die ganze Verantwortung für die Problemlösung einseitig den Richtern, die diese angeblich subjektive Entscheidung getroffen haben, aufgebürdet sein, anstatt auf verschiedene Kompetenzen, wie etwa die Judikative, die universitäre juristische Forschung, die Gesetzgebungsorgane und letztlich die Bürgerschaft, verteilt zu werden. Das Postulat der Gebundenheit der juristischen Problemlösung an die Wahrheit und die objektive Gültigkeit scheint mir deshalb unverzichtbar zu sein, weil ohne dieses unser Rechts- und Justizsystem einschließlich seiner Kompetenz- und Verantwortlichkeitsverteilung in verschiedene Ressorts grundsätzlich anders als gegenwärtig aussehen müsste, wobei wir uns nicht einmal vorstellen können, wie es denn dann gestaltet sein sollte. Es ist klar, dass man nicht schon jetzt behaupten kann, eine Art von Wahrheitsbedingungen für juristische Aussagen in kompletter und realisierbarer Form ein für alle Male festlegen zu können. Das heißt jedoch nicht, dass diejenigen Elemente, * Es handelt sich um die Fortsetzung des Versuches, den ich mit meinem Beitrag über „Gedanken über die Methode einer universellen Strafrechtsdogmatik“ (in: Festschrift für Franz Streng, 2017, S. 271 ff.) begonnen habe. Wesentliche Gedanken, die in den folgenden Ausführungen enthalten sind, habe ich bereits am 18. Oktober 2018, auf dem 8. Bonner Humboldt-Preistra¨ ger-Forum „Zwischen Handwerk und Bekenntnis, Empirie und Normativität: Selbstbestimmung der internationalen Rechtswissenschaft“ vorgetragen. 1 Vgl. Hubert Rottleuthner, Methodologie und Organisation der Rechtswissenschaft, in: Eric Hilgendorf/Helmuth Schulze-Fielitz (Hrsg.), Selbstreflexion der Rechtswissenschaft, 2015, S. 206 ff. („Es gibt eine Diskrepanz zwischen dem permanenten Selbstzweifel von Rechtswissenschaftlern an der Wissenschaftlichkeit und am Wissenschaftscharakter ihrer Disziplin auf der einen Seite und der traditionell festen organisatorischen Etablierung des Faches an den Universitäten auf der anderen Seite.“)
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die die Objektivität bzw. Rationalität der juristischen Problemlösung zumindest steigern und uns ermöglichen können, der Wahrheit ein kleines Stück näherzukommen, überhaupt nicht existieren können und das Anvisieren des fernen Ziels der Wahrheit für unsere alltäglichen Tätigkeiten von heute sinnlos wäre. Ich möchte in diesem Beitrag, der dem Jubilar Ulrich Sieber mit herzlichen Glückwünschen zu seinem 70. Geburtstag gewidmet sei, die einzelnen Rationalisierungselemente angeben, sie unter die Lupe nehmen und auf ihre Tragfähigkeit hin analysieren. Dabei werde ich versuchen, diese einzelnen Elemente so zu konkretisieren, dass sie sich zu einem kohärenten, in sich schlüssigen und zukunftsträchtigen Gesamtkonzept zusammenfügen lassen.
II. Einzelne Elemente zur Rationalisierung der juristischen Aussagen 1. Gesetze und Präjudizien Die strafgerichtliche Rechtsentscheidung muss nur innerhalb des Auslegungsspielraums der vorgegebenen Rechtsvorschrift fallen. Die Bindung der Justiz an die Wortlautgrenze des parlamentarischen Gesetzes findet weltweite Anerkennung.2 Teleologische bzw. kriminalpolitische Überlegungen sind somit nur zugelassen, wenn sie durch den Wortlaut des Gesetzes gedeckt sind. Man sollte jedoch die gesetzliche Bindungskraft nicht überschätzen. Die Erfahrung lehrt, dass den Strafjuristen mittels des ganzen Arsenals der Auslegungstechniken in aller Regel ein mehr oder weniger großer Auslegungsspielraum zur Verfügung steht.3 Insbesondere im Allgemeinen Teils des Strafrechts wird eine etwaige Regelungslücke, beispielsweise über die Frage der Irrtumsproblematik, nicht sofort zur Straflosigkeit, sondern vornehmlich zur Rechtsschöpfung oder zur -ergänzung durch dogmatische Überlegungen führen. Was für die parlamentarischen Gesetze gilt, gilt in noch stärkerem Maße für die Präjudizien, die auch im kontinentaleuropäischen Rechtskreis eine wichtige Rolle bei der Justizkontrolle spielen. Sie haben im Vergleich zu den parlamentarischen Gesetzen im Allgemeinen eine viel lockerere Bindungswirkung für die Justiz. In methodischer Hinsicht scheint mir hier die Einsicht besonders ertragreich zu sein, dass bei der Rechtsanwendung neben dem Begriff, der mit der Angabe der ihn bestimmenden Merkmale mehr oder weniger fest definiert werden kann, auch der Typus eine große Rolle spielt.4 Der letztere kann nicht „im klassischen Sinne definiert, sondern nur durch fallgebundene Ähnlichkeitsregeln konkretisiert werden …, 2 Siehe Art. 11 Abs. 2 der Allgemeinen Erklärungen der Menschenrechte (AEMR) und Art. 15 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR). 3 Vgl. Hans Kudlich, Die Auslegung von Strafgesetzen, in: Eric Hilgendorf u. a. (Hrsg.), Handbuch des Strafrechts, Bd. 1, 2019, S. 115 ff. 4 Zu dieser Unterscheidung vgl. Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 215 ff.
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bei denen die unterschiedlichen Dimensionen mit jeweils unterschiedlichen Ausprägungen vertreten sind und also etwa die schwache Ausprägung eines Merkmals durch die besonders starke Ausprägung eines anderen Merkmals in dem Sinne kompensiert werden kann, dass der konkrete Fall immer noch als eine Erscheinungsform des Typus anzusehen ist“.5 Unter den Begriff kann man wohl den festgestellten Sachverhalt subsumieren, dem Typus kann man ihn dagegen nur wertend zuordnen.6 Im Strafrecht findet man solche Typen etwa bei der objektiven Zurechnung des Erfolgs und der Täterschaft. Bei diesen Problembereichen steht dem Beurteilenden – im Vergleich zu den Fällen, wo es um die Subsumtion unter einen Begriff geht – ein noch größerer Spielraum, der durch die Denkmethode einer fallgruppenbezogenen und typologischen Zuordnung ausgefüllt werden muss, zur Verfügung.7 Wenn wir außerdem wie in diesem Beitrag – über die nationalen Unterschiede hinausgehend – nach einer übernational gültigen Rechtslösung suchen, dann muss den nationalen Gesetzen und Präjudizien nur ein niedriger Stellenwert zuerkannt werden. Eine Aussage, die z. B. in Deutschland nach dem Wortlaut einer Strafvorschrift oder angesichts der ständigen Rechtsprechung des BGH hoch konsensfähig ist, wird etwa in Japan nicht immer die entsprechende Überzeugungskraft besitzen. Ein kleines Beispiel mag dies verdeutlichen. Vergleicht man das deutsche und das japanische StGB, so ist das deutsche StGB einerseits durch die auf die subjektive Tatseite besonderen Nachdruck legenden Vorschriften und die ganz deutliche Vorverlagerung der Strafbarkeit, die ihren – für die Japaner jedenfalls – extremen Ausdruck in dem § 30 des deutschen StGB findet, und das japanische StGB andererseits durch die erfolgs- bzw. schadensorientierte, d. h. erst im späteren Stadium eintretende Strafbarkeit gekennzeichnet.8 Wegen ihres Objektivismus waren aber die Japaner durch das UNO-Übereinkommen gegen transnationale organisierte Kriminalität von 2000, die sog. Palermo-Konvention,9 in ein Dilemma geraten. Denn dieses UNO-Übereinkommen fordert die Mitgliedstaaten auf, im Wege der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität die Strafbarkeit weitgehend vorzuverlegen, d. h. Strafvorschriften bereitzuhalten, die die Beteiligung an einer kriminellen Organisation oder die Verabredung zur organisierten Ausführung schwerer Straftaten unter Strafe stellen. Während Deutschland diese internationale Übereinkunft bereits 2006 ratifizieren konnte,
5 Bernd Schünemann, Die Rechtsfigur des „Täters hinter dem Täter“ und das Prinzip der Tatherrschaftsstufen, Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik, 1. Jahrgang, Nr. 7, 2006, S. 306. 6 Vgl. Larenz (Fn. 4), S. 275. 7 Vgl. etwa Ingeborg Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, 3. Aufl. 2014, S. 54 ff., 58 ff.; Schünemann (Fn. 5), S. 305 ff. 8 Vgl. Makoto Ida, Strafrechtsvergleichung als Kulturvergleich? @ dargestellt am Beispiel der Versuchsstrafbarkeit, in: Franz Streng/Gabriele Kett-Straub (Hrsg.), Strafrechtsvergleichung als Kulturvergleich, 2012, S. 27 ff. 9 Ausführlich: Patrick M. Pintaske, Das Palermo-Übereinkommen und sein Einfluss auf das deutsche Recht, 2014.
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hat Japan bis zum Sommer 2017 gebraucht, um nach einem über 10 Jahre lang heiß geführten Streit schließlich diese UNO-Konvention zu ratifizieren.10 Diese als ein Beispiel angeführte Problematik der Vorverlagerung der Strafbarkeit11 zeigt, dass man zur Erzielung eines internationalen Konsenses nicht beim nationalen Recht bleiben darf, sondern es hinterfragen muss. Die Argumente, die nur durch das nationale Gesetz und die nationale Rechtsprechung getragen werden, mögen in den nationalen Diskursen des betreffenden Landes wohl entscheidend sein, müssen aber in der internationalen Rechtswissenschaft, um die es sich hier in diesem Beitrag handelt, als nur schwache Argumente angesehen werden. 2. Empirischer Befund Als ein hoffnungsvollerer Kandidat für ein Rationalisierungselement ist dann der empirische Befund zu betrachten. Wir können nämlich die unvermeidbar relativen und auch subjektiven Werturteile, die jede Rechtsfindung prägen, dadurch zu verobjektivieren versuchen, dass man die gesellschaftlichen und faktischen Gegebenheiten, die den Werturteilen zugrunde liegen, mit empirischen Mitteln erforscht und dadurch die Gesetzesauslegung untermauert. Das Strafrecht hat in dieser Hinsicht gegenüber den anderen Rechtsgebieten in mehrfacher Hinsicht eine günstigere Position inne. Denn das Strafrecht ist erstens ein juristisches Fach, das durch die Zweck-Mittel-Relation ganz besonders geprägt ist: Das Strafrecht hat den Zweck, effektiv die Rechtsgutsbeeinträchtigungen zu bekämpfen, und zwar mit dem die Rechtsgüter beeinträchtigenden Mittel der Strafe. Dieses darf nur dort eingesetzt werden, wo es in der Folge mehr Nutzen als Schaden bringen wird. In der Strafrechtsdogmatik finden deshalb viele folgenorientierten, einen empirischen Gehalt mitenthaltenden Begriffe Verwendung.12 Die Folgenorientierung im Strafrecht ist zweitens gewissermaßen 10 Hierzu ist zweierlei zu bemerken. Erstens: Im Gegensatz zum deutschen Strafrecht, dessen Vorverlagerungstendenz weit fortgeschritten ist, musste das japanische, um den Forderungen der Palermo-Konvention zu genügen, eine großangelegte Reform vornehmen und ein neues Gesetz für eine umfassende Kriminalisierung schaffen, was einen weiten Sprung für Japan bedeutete. Zweitens: Die Palermo-Konvention suchte angesichts der transnationalen Tätigkeiten der Organisierten eine globale Vorverlagerung umfassender Art zu verwirklichen, damit keine Regelungslu¨ cke auf dem Weltatlas entstehe. Für Japan, das durch die Organisierte Kriminalität nicht so stark belastet ist wie andere Länder, bedeutete das, dass die Japaner dementsprechend kriminalisieren mussten, obwohl in rein nationaler Sicht für eine derartige umfassende Kriminalisierung nicht unbedingt eine empirisch fundierte Notwendigkeit bestand. 11 Hierzu vgl. Makoto Ida, Vorverlagerung der Strafbarkeit am Beispiel der Verfolgung von Cybercrime in Japan, in: Arndt Sinn (Hrsg.), Cybercrime im Rechtsvergleich, 2015, S. 189 ff. 12 Hierfür einige Beispiele: a) Wo immer man sich auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip oder auf eine teleologische Auslegung beruft, wird dort den Kosten-Nutzen-Überlegungen dieser Art ein breiter Raum eingeräumt. b) Mit Begriffen wie der Sozialadäquanz oder der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt sucht man – empirisch feststellbare – Konstellationen zu erfassen, in denen die sozialen Verhaltensregeln in der geschichtlich gewordenen Wirklichkeit die Koordinierungsaufgabe des sozialen Lebens übernehmen, so dass man die strafrechtlichen
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auch dadurch institutionell gesichert, dass die Kriminologie als eine verselbstständigte und fest etablierte Wissenschaftsdisziplin die Rolle übernimmt, empirische Forschungen in Sachen Kriminalität und Kriminaljustiz zu betreiben und dadurch die gerichtliche Rechtsentscheidung zu unterstützen.13 Heute scheint mir das Theoriekonzept, dass die Strafrechtsdogmatik sich bei ihrer Begriffs- und Theoriebildung den human-, sozial- und naturwissenschaftlichen Kenntnissen offenhalten und einer empirischen Nach- und Überprüfung zugänglich sein soll, weltweite Anerkennung gefunden zu haben. Je mehr die Strafrechtsdogmatik mit einer empirischen Untermauerung gelingt, desto mehr kann man von ihrer Objektivität und Wissenschaftlichkeit reden. Bei der konkreten Ausführung dieses Konzepts stößt man jedoch auf einige klärungsbedürftige Probleme. Hier möchte ich aus Raumgründen nur zwei Punkte herausgreifen und kurz erläutern. Der erste Punkt: Es stellt sich hier die schwierige Frage um das Verhältnis zwischen Empirie und Normativität bzw. Sein und Sollen. Das früher stark vertretene Methodenkonzept, das mit dem Namen Hans Welzel eng verbunden ist, lautet, dass die Gesetzesauslegung und die dogmatische Theoriebildung sowie die Gesetzgebung nicht frei, sondern an die Strukturen der zu regelnden Phänomene und ihre gegenständlichen Unterschiede gebunden seien.14 Dieser Gedanke ist in dieser Einseitigkeit nicht mehr haltbar. Hier liegen vielmehr sich gegenseitig bedingende Wechselbeziehungen zwischen den Regelungsgegenständen und den regelungsleitenden Wertungsgesichtspunkten vor.15 Es ist eine wichtige strafrechtsdogmatische Aufgabe, diese Wechselbeziehungen detailliert zu analysieren und zu versprachlichen. Diese Wechselbeziehungen stelle ich mir wie folgt vor: Es hängt von unserer Vorentscheidung über die Prinzipien- und Wertungsfrage ab, wie und wo wir das Strafrecht im gesamten Gesellschaftssystem einordnen und was – unter welchem Aspekt – zum Regelungsgegenstand des Strafrechts gemacht wird. Für mich ist am überzeuWerturteile nur unter Heranziehung dieser in der sozialen Praxis funktionierenden sozialen Verhaltensregeln vornehmen kann, um den strafrechtlichen Rechtsgüterschutz optimal und effektiv zu realisieren. c) Die Verhaltensnormtheorie, die dem strafrechtlichen Unrechtsbegriff zugrunde liegt, hat die Funktion, Voraussehbarkeit bzw. Berechenbarkeit des Unrechts, die erst der generalpräventiven Aufgabe der Strafe gerecht werden kann, zu gewährleisten. 13 Vgl. die Beiträge zu: Ulrich Sieber/Hans-Jörg Albrecht (Hrsg.), Strafrecht und Kriminologie unter einem Dach, 2006. 14 Vgl. Hans Welzel, Das deutsche Strafrecht (zuletzt in der 11. Aufl. 1969) und seine in: ders., Abhandlungen zum Strafrecht und zur Rechtsphilosophie, 1975, gesammelten Aufsätze. 15 In diesem Punkt bin ich gleicher Meinung wie: Karl Heinz Gössel, Versuch über Sein und Sollen im Strafrecht, in: Festschrift für Koichi Miyazawa, 1995, insb. S. 325 ff. Hinsichtlich der Schuldfrage schreibt auch Welzel selbst: „Der Gesetzgeber ist keineswegs daran gebunden, den Eintritt von Unrechtsfolgen an die Voraussetzungen zu knüpfen, dass der unrechtmäßig Handelnde auch schuldhaft gehandelt hat. Aber wenn er das tut und wenn er also z. B. Strafe für Schuld verhängen will, dann ist er an das gebunden, was den sachlichen Gehalt der Schuld ausmacht“ (Welzel, Naturrecht und Rechtspositivismus, in: ders., Abhandlungen zum Strafrecht und zur Rechtsphilosophie, 1975, S. 284).
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gendsten, dem Strafrecht eine die Sozialisation der Individuen ergänzende und teilweise nachholende Rolle zuzuweisen und es im gesamtgesellschaftlichen Mechanismus der Verinnerlichung, Erhaltung und Stärkung von Normen und Werten unter den Bürgern zu lokalisieren.16 Das ist auch eine Vorentscheidung, die die Frage um die regelungsleitenden Gesichtspunkte betrifft. Nur wenn wir diese Vorentscheidung getroffen haben, sind wir dann an die einschlägigen Erkenntnisse der Sozialwissenschaften wie der Soziologie oder der Sozialpsychologie gebunden. Als zweiten Punkt möchte ich auf die Schwierigkeit der Beweisführung bezüglich des empirischen Gehalts der in der Dogmatik verwendeten, in die Zweck-Mittel-Relation gestellten Begriffe hinweisen. Beispielsweise beruft man sich bei der strafrechtlichen Problemlösung oft auf die generalpräventive Wirkung der Strafe. Ob und inwieweit die Strafe generalpräventiv wirken kann, ist jedoch noch nicht empirisch exakt bewiesen und überhaupt umstritten, wie es bei der Abschreckungswirkung der Todesstrafe der Fall ist. Es wird höchstens anhand von Indizien vermutet, dass bei der gerechten Reaktion auf die Straftaten das Vertrauen in die geltende Rechtsordnung wiederhergestellt werden würde und das Strafensystem als Ganzes eine mehr oder minder optimale generalpräventive Wirkung entfalten könnte. Wegen dieses Defizits empirischen Wissens begegnen die heutigen Strafjuristen zwei schwierigen Fragen: Erstens geraten die Strafjuristen sowohl in der Gerichtspraxis als auch bei der Gesetzgebung des Öfteren in eine Lage, in der bei der Beurteilung der Sozialschädlichkeit des Täterverhaltens einerseits und der Effizienz der Strafe andererseits von wissenschaftlichen Beweisen im strengen Sinne nicht gesprochen werden kann. Die Rede von der Beweislast ist hier fehl am Platz.17 Wenn die Gefahr- und Schadensprognose des Täterverhaltens und die Effizienz einer strafrechtlichen Maßnahme empirisch ungesichert sind und wir dann mangels einer robusten Beweisführung eine Maßnahme zurückstellen – Stichwort: „in dubio pro libertate“ –, gehen wir dann notgedrungen ein Risiko für die Bürger, d. h. die potentiellen Opfer, ein. Es ist nicht so, dass das Strafrecht einseitig die Freiheiten der Bürger einschränken würde, sondern so, dass „das Strafrecht Freiheitsräume gegeneinander abgrenzt, also Freiheiten teilt und verteilt“.18 Sich auf ein Minimum der Freiheitsbeschränkung, d. h. Grundrechtseingriffe, beschränken zu wollen, kann zu einem ungleichen staatlichen Schutz zu Lasten der Armen führen, da reiche Bürger sich dann durch einen privaten Sicherheitsdienst oder generell durch die Auswahl weniger riskanter Lebensbedingungen schützen können.19 16
Vgl. Makoto Ida, Gedanken über die Methode einer universellen Strafrechtsdogmatik, in: Festschrift für Franz Streng, 2017, S. 276 ff. 17 Hierzu instruktiv: Gunther Arzt, Probleme der Kriminalisierung und Entkriminalisierung sozialschädlichen Verhaltens, in: BKA Wiesbaden (Hrsg.), Polizei und Kriminalpolitik, BKAVortragsreihe Bd. 26, 1981 S. 79. 18 Arzt (Fn. 17), S. 79. 19 Hierzu Makoto Ida, Sicherheit und Freiheit in der globalisierten Risikogesellschaft, in: Harald Baum u. a. (Hrsg.), Die Sicherung des Rechtsstaates, Zeitschrift für Japanisches Recht, Sonderheft 15, 2019, S. 53.
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Zweitens stellt sich die Frage, wie wir auf die in den letzten Jahren international stark zu beobachtende Verschärfungstendenz im Strafrecht20 reagieren sollen, wenn unser empirisches Wissen über die Strafe unsicher ist. Von der heutigen Straftheorie lassen sich Argumente gegen die Erschwerung der Strafe nicht ohne weiteres gewinnen. Denn es ist durchaus denkbar, dass die als schuldentsprechend anzusehende Strafe wegen des Wandels der Ansichten der Bürger schwerer als früher ausfällt: Je mehr die Kompetenz des Individuums für das abweichende Verhalten betont wird und die sozialen Faktoren, die sein Entstehen begünstigen, in den Hintergrund rücken, desto schwerere Schuld dafür wird dem Individuum auferlegt. Das entspricht den Beobachtungen einiger Soziologen wie etwa Ulrich Beck. Er, bekannt für seine Theorie von der Risikogesellschaft, argumentiert überzeugend, dass wir in einem Zeitalter leben, in dem der Einzelne, befreit von den Beschränkungen, die ihm in einer früheren Zeit Klassen- oder Familienzugehörigkeit auferlegt hatten, gezwungen ist, selbst zu entscheiden.21 Das heutige Individuum wird demgemäß für sein eigenes Verhalten – im Vergleich zu den 1970er oder 1980 Jahren – in stärkerem Maße zur Verantwortung gezogen. Wir können uns hier höchstens darum bemühen, mit unserem – keineswegs so gesicherten – empirischen Wissen auf die Bürger einzuwirken und sie über den – keineswegs so gesicherten – wissenschaftlichen Befund aufzuklären. Wir müssen heute gegenüber den gesellschaftlichen Kräften, die die Wirkung des Strafrechts überschätzen und überall für seinen Einsatz plädieren, einen schwierigen Kampf führen, da wir selbst nicht immer mit dem einschlägigen empirischen Wissen über die Strafe ausgestattet sind. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die empirische Untermauerung der juristischen Aussagen zwar ihrer Rationalitätssteigerung durchaus dienlich ist, aber Empirie und juristische Wertungen so verschränkt sind, dass man ihre Wechselbeziehungen nicht mit simplen Formeln durchstrukturieren kann, sondern differenzierterer Analyse und detaillierter Erläuterung bedarf. Vom Gelingen oder Misslingen dieser Forschungsaufgabe hängt wesentlich die Zukunft der Strafrechtswissenschaft ab. 3. Systematik Ich komme zum dritten Kandidaten für das Rationalisierungselement: die Systematik. Die traditionellen Strafrechtler erwarteten vom dogmatischen System, dass es die begrifflich-deduktive Ableitung der inhaltlich richtigen Lösung ermöglicht und den Spielraum der subjektiven und damit unsicheren Werturteile des Rechtsanwen20
Vgl. Franz Streng, Kriminalpolitik auf Zuruf? – Einblicke in ein vernachlässigtes Politikfeld, in: Festschrift für Ulfrid Neumann, 2017, S. 725 ff. (zur deutschen Situation); Makoto Ida, Zum heutigen Stand des japanischen Strafrechts und der japanischen Strafrechtswissenschaft, GA 2017, S. 76 ff. (zur japanischen Situation). 21 Siehe hierzu Ulrich Beck, Risikogesellschaft, 1986, S. 115 ff., 121 ff., 143 ff., 205 ff., insbes. S. 216 ff.
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ders wesentlich minimiert. Aber heute kann dieses Vorhaben als gescheitert angesehen werden. Die Garantie für die inhaltlich richtige Problemlösung sucht die international stark vertretene Strömung auf der prozeduralen Seite, d. h. in der Begründung und der Argumentation.22 Das Richtigkeitskriterium soll in der Plausibilität der Argumente liegen, die in der Diskussion konsenserzielend vorgebracht werden. Dabei bekommt die Systematik eine neue Bedeutung: Jede Problemlösung darf nämlich nicht isoliert betrachtet werden, sondern sie muss generalisierbar sein. Der zu entscheidende Fall muss im Zusammenhang mit gleich- oder ähnlich gelagerten Fällen geprüft und es muss eine Lösung gefunden werden, die mit den Lösungen sämtlicher, mehr oder weniger relevanter Fälle konsistent oder wenigstens verträglich ist. Die „Fallgruppensystematik“ dieser Art muss Wertungsprinzipien verschiedener Abstraktionsgrade enthalten, die jeweils bestimmte Lösungen einer Reihe von Problemen und Fällen begründen können. Sie kann durch die Stimmigkeitskontrolle den Kreis möglicher Lösungsalternativen verkleinern und damit die strafrechtlichen Werturteile rationalisieren. Dieses Methodenkonzept verdient m. E. Zustimmung. Bezüglich der inhaltlichen Ausgestaltung der Strafrechtsdogmatik stelle ich mir deshalb vor, dass sie wesentlich in der Fallgruppensystematik besteht. Der Ausgangspunkt ist nicht das geltende Recht, dessen Verschiedenheit einem übernationalen Gespräch oft im Wege steht, sondern sind die ihm vorgelagerten Probleme und Fälle. Die jeweiligen nationalen Rechtsregeln setzen sie voraus und suchen eine Lösung für sie zu finden. Beispielsweise stellt sich jeder Rechtsordnung die Frage, ob sich der auf eine konkrete Person gerichtete Vorsatz des Täters auch auf eine andere von ihm nicht anvisierte Person erstrecken kann: Hier geht es um die Fälle, die gemeinhin unter den Stichworten „error in persona“ und „aberratio ictus“ behandelt werden. Die Probleme dieser Art sind nicht beliebig gestaltbar und durchaus von übernationaler Bedeutung. Die verschiedenen Rechtsordnungen sind mit einer Fülle gleicher oder ähnlicher Probleme konfrontiert. Die Gemeinsamkeit oder die Ähnlichkeit der Sachprobleme ist die ontologische Bedingung, die der Strafrechtsdogmatik einen universellen, übernationalen und damit wahrheitsnäheren Charakter verbürgt. Die Fallgruppensystematik, wie sie mir vorschwebt, muss in problemorientiertinduktiver Weise – quasi von ganz unten her – langsam und behutsam nach oben entwickelt werden. Es ist immer denkbar, dass die dort enthaltenen und bislang bewährten Rechtssätze und Wertungsgesichtspunkte angesichts der bisher übersehenen Probleme oder Fallgestaltungen nicht nur konkretisiert und differenziert, sondern auch modifiziert und durch neue ersetzt werden müssen. Dieser Fallgruppensystematik liegt die Idee der Einheit der Rechtsordnung und der gleichmäßigen Problemlösung der Art, dass nämlich gleiche Sachverhalte gleich 22 Hierzu und zum Folgenden ausführlich Ida (Fn. 16), S. 272 ff. Ganz allgemein zur Prozeduralisierung im Recht vgl. Frank Saliger, Prozeduralisierung im (Straf-)Recht, in: Winfried Hassemer u. a. (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 9. Aufl. 2016, S. 434 ff.
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und ähnlich gelagerte Sachverhalte entsprechend ähnlich zu lösen sind, zugrunde. Aber diese Idee sieht sich heute der Herausforderung rechtspluralistischer Tendenzen, die mit der Globalisierung des Rechts teilweise stark hervortreten, ausgesetzt. Unter Rechtspluralismus verstehe ich hier, dass für einen bestimmten Tätigkeitsbereich des Menschen das Nebeneinander bzw. die Koexistenz von staatlichen und nichtstaatlichen, insbesondere transnationalen, Regelungen besteht. Wenn in einem gesellschaftlichen Sektor die nichtstaatlichen sektoriellen Regelungen, die nicht unbedingt eine staatliche Anerkennung finden müssen, die staatlichen Regelungen de facto zurückdrängen, dann kommt es zu einer Situation, in der nur Teilbereiche brückenhaft durch die von den sonstigen staatlichen stark abweichenden sektoriellen Regelungen beherrscht werden und von einer Einheit der Rechtsordnung nicht mehr die Rede sein kenn. Man spricht hier in diesem Zusammenhang von der Fragmentierung des globalisierten Rechts.23 Man könnte hier beispielhaft auf das interessante Phänomen, das in der heutigen japanischen Rechtspraxis zu beobachten ist, hinweisen: In den letzten Jahren werden ärztliche Behandlungsfehler mit tödlichen Folgen tendenziell immer seltener zum Gegenstand der Strafverfolgung gemacht. Hier hat de facto eine Entpönalisierung der ärztlichen Fahrlässigkeit stattgefunden. Dies steht in deutlichem Kontrast zu der Tatsache, dass im Gegenzug dazu eine weit höhere Punitivität der fahrlässigen Tötung im Straßenverkehr zu beobachten ist.24 Hier soll nicht auf die häufig angeführten Gründe für eine Sonderstellung ärztlicher Behandlungsfehler eingegangen werden. Ich möchte mit diesem Beispiel nur unterstreichen, dass es in unserer komplexen modernen Gesellschaft immer schwieriger wird, die systemgerechte Gleichmäßigkeit der Falllösungen zu gewährleisten. Die Strafrechtsdogmatik, die wesentlich aus der Fallgruppensystematik besteht, muss aber nicht nur von unten her, sondern auch von ganz oben her ständig umund ausgebaut werden. Denn ohne eine minimale Übereinstimmung der Wertentscheidungen und Rechtsprinzipien können wir kaum einen Konsens hinsichtlich der konkreten Problemlösung erzielen. Wenn die Strafrechtsdogmatik einen universell gültigen Inhalt haben will, dann müssen die grundlegenden Wertungsentscheidungen und die fundamentalen Prinzipien des Strafrechts auf ihren übernationalen Gehalt hin erkannt und konsensfähig gemacht werden.
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Instruktiv: Andreas Fischer-Lescano/Gunther Teubner, Regime-Kollisionen, 2006. Einen Überblick über die Diskussionslage gibt Brian Valerius, Globalisierung, in: Eric Hilgendorf/Jan C. Joerden, Handbuch Rechtsphilosophie, 2017, S. 437 ff. 24 Siehe Makoto Ida, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Arztes wegen eines Behandlungsfehlers nach japanischem Recht, in: Festschrift für Helmut Rüßmann, 2013, S. 711 ff.
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4. Rationale Werturteile Wie ist aber ein internationaler Konsens über die grundlegenden Wertungsentscheidungen und die fundamentalen Prinzipien des Strafrechts möglich? Damit komme ich zu einer weiteren Rationalisierungskomponente, die in den Werturteilen liegen kann. Hier stehen wir allerdings vor dem sehr schwierigen Problem, ob und inwieweit man von der Universalität der Wertentscheidungen sprechen kann. In der heutigen globalisierten Welt, in der mit fortschreitender Internationalisierung die inter- und übernationale Dimension des Rechts immer mehr Beachtung findet, gibt es auch gravierende Differenzen in den grundlegenden Wertentscheidungen, ganz abgesehen davon, dass teilweise starke Gegenglobalisierungsbewegungen zu beobachten sind und auch vom Kampf der Kulturen die Rede ist. Dem kommt noch eine weitere Schwierigkeit hinzu: Auch wenn in einem partiellen Bereich eine völlige Kongruenz in den Werturteilen und Rechtsprinzipien erzielt worden ist, können sich daraus je nach der Gesellschaftsstruktur und der kulturellen Eigenständigkeit der jeweiligen Länder ganz unterschiedliche Konsequenzen ergeben. Gustav Radbruch sprach bekanntlich von der „Stoffbestimmtheit der Idee“.25 Wie die gleiche Idee des schönen Kunstwerks in ganz anderer Art und Weise konkretisiert werden kann, je nachdem, ob dabei als Werkstoff Marmor oder Holz Verwendung findet, so können auch die Erscheinungsformen der Rechtsidee „Gerechtigkeit“ ganz unterschiedlich sein, je nachdem, wie die betreffende Gesellschaft beschaffen ist.26 Wir brauchen jedoch nicht zu resignieren. Was die strafrechtstheoretischen Vorentscheidungen wie etwa für das Tatstrafrecht statt des Täterstrafrechts und die strafrechtlichen Grundprinzipien wie etwa das Gesetzlichkeits- und das Schuldprinzip betrifft, werden sie als ableitbar aus der in jeder Verfassung der modernen Staaten verankerten Menschenrechtsgarantie oder jedenfalls als hochverträglich mit ihr angesehen. Sie sind teilweise, wie das Gesetzlichkeitsprinzip, in internationalen Abkommen ausdrücklich niedergelegt.27 Nicht zu unterschätzen ist, dass bezüglich dieser Vorentscheidungen und Grundprinzipien unter den Strafjuristen ein gemeinsamer Konsens auf internationaler Ebene besteht. Sie werden als dem juristischen Gemeinsinn angehörig erachtet und im Wege der Juristenausbildung an die nächste Generation weitergegeben. Es versteht sich von selbst, dass die praktische Handhabung dieser gemeinen Gedankengüter je nach dem Land und je nach dem Rechtssystem voneinander abweichen kann. Etwa bezüglich des Rückwirkungsverbots kann es fraglich sein, ob dieses Verbot ein abwägungsfähiges Prinzip ist und etwa bei einem schwerwiegenden Staatsunrecht eine Ausnahme zugelassen werden kann. Aber überhaupt gegen das Rückwirkungsverbot, überhaupt gegen das Gesetzlichkeitsprinzip, überhaupt gegen das Tatstrafrecht oder überhaupt gegen das Schuldprinzip zu sprechen 25
Gustav Radbruch, Gesamtausgabe, Bd. 2: Rechtsphilosophie II, 1993, S. 231 f., 453 ff. Hierzu vgl. Makoto Ida, Wozu Rechtsvergleichung heute?, in: Zeitschrift für Japanisches Recht, Nr. 46, 2018, S. 321 ff. 27 Wie o. Fn. 2. 26
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heißt, gegen die Grammatik der Strafrechtswissenschaft zu verstoßen. Insofern haben wir bereits einen wichtigen Konsens herausbilden können. Hier in diesem Zusammenhang möchte ich darlegen, warum ich an die zukünftige Möglichkeit einer internationalen und universell gültigen Strafrechtswissenschaft glaube. Dies deshalb, weil die in jedem Land betriebene Strafrechtsdogmatik kein sich im Vakuum befindliches Dasein führt, sondern sowohl vertikal als auch horizontal in die Diskussionsräume eingebettet ist. Die juristische Argumentation einschließlich der Abwägung der vorgebrachten Argumente hat einerseits – quasi in vertikaler Richtung – eine zeitliche oder geschichtliche Dimension: Wir Juristen haben nach langer Diskussion für den jeweiligen Problemkreis Maßstäbe entwickelt, nach denen die Gewichte der einzelnen Argumente beurteilt werden können. Diese Diskussionssphäre samt ihren geschichtlich herausgebildeten Maßstäben kann man Rechtskultur nennen. Die Werturteile, auf die man sich bei der juristischen Problemlösung beruft, können somit nicht mehr rein subjektiver Natur sein. Sie müssen mehrere Filter passieren und werden dadurch kultiviert und in gewissem Maße objektiviert. Der Rechtsdiskurs findet andererseits – auf horizontaler Ebene – im internationalen Diskussionsraum statt. Die sogenannte „ideale Sprechsituation“,28 die die Philosophen als die prozedurale Voraussetzung der Wahrheitsfindung kontrafaktisch antizipieren wollen, ist für die Juristen dort leicht vorstellbar, wo die nationalen Juristen mit den ausländischen, aus kulturell ganz anderen Ländern kommenden Kollegen über dasselbe dogmatische Thema in einer freien Atmosphäre diskutieren. Jeder der Teilnehmer ist dabei gefordert, seine Lösung so zu begründen, dass sie auch für die in einem ganz anderen (justiz-)kulturellen Kontext lebenden Juristen überzeugend wirken kann. Dafür kann ich bereits einen durchschlagenden Beweis vorlegen: In ostasiatischen Ländern, insbesondere in Korea, Taiwan und Japan, hat sich bereits eine Art von „gemeinem Strafrecht“ entwickelt. Dank der sich unter dem gegenseitigen Einfluss und auch durch die Rezeption der deutschen Dogmatik gebildeten, gemeinsamen Begriffsapparate und Argumentationsmuster können wir Japaner uns mit den koreanischen und den taiwanesischen Kollegen mühelos über verschiedene Strafrechtsfragen verständigen und, auch wenn die Lösungen der jeweiligen Rechtsordnungen voneinander abweichen, sie jedenfalls innerhalb des gesamten dogmatischen Systems verorten. Denkt man sich hinzu, dass wir ähnliche Erfahrungen auch beispielsweise mit den Kolleginnen und Kollegen nicht nur aus den deutschsprachigen Ländern, sondern auch etwa aus Spanien, Polen, Griechenland und der Türkei zu machen pflegen, so glauben wir, jedenfalls solange es sich um Teilbereiche der Strafrechtsdogmatik handelt, auf dem Weg zur internationalen Strafrechtswissenschaft zu sein.
28 Jürgen Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, 1984, S. 174 ff.
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III. Schluss Ich muss hier mit meinem Versuch zu einer universell gültigen Strafrechtsdogmatik abbrechen. Zum Schluss noch ein Wort zum Begriff der Wahrheit. Mir scheint für die Werturteile in der Jurisprudenz oder die juristischen Aussagen, die sie enthalten oder voraussetzen, die sog. Konsenstheorie der Wahrheit geeignet zu sein.29 Nach diesem Konzept gilt eine Lösung als wahr, wenn sie von dem Konsens aller Diskussionsbeteiligten getragen wird, der als Folge des gegenseitigen Austausches der Argumente und Gegenargumente in einer offenen Diskussion erzielt worden ist. Die Qualität der Begründungen wird für entscheidend erachtet; sie ist nach ihrer Überzeugungskraft für alle – auch potentiellen – Diskussionsbeteiligten zu bemessen. Von der Wahrheit kann man danach reden, wenn die Problemlösung nicht nur als in hohem Maße überzeugend, sondern auch als universell gültig und national unabhängig vertretbar charakterisiert werden kann. Jeder weiß, dass es sich hierbei heute um eine weitestgehend unrealistische Vorstellung handelt. Wir können jedoch schon jetzt auch bei der jeweiligen nationalen Diskussion das ferne Ziel der universellen Vertretbarkeit als die regulative Idee voraussetzen und gedanklich antizipieren. Dadurch können wir – realiter oder auch gedanklich – einen gemeinsamen Diskussionsraum auf internationaler Ebene bilden, wo wir versuchen können, der Wahrheit ein Stück näherzukommen. Wir sind gefordert, stets wahrheit-anstrebend mitzudiskutieren. Im Strafrecht geht es um die Begründung der Strafgewalt, deren Ausübung für uns wichtige Rechtsgüter sehr schwer beeinträchtigen kann. Es entspricht dem Gebot der Gleichheit und damit der Gerechtigkeit, dass jeder Straftäter nicht mit einer nur lokal vertretbaren, sondern mit einer übernational gültigen Begründung bestraft wird. Ich möchte nun meine Gedanken, die ich hier formuliert habe, bildhaft zusammenfassen: Wir können uns die uns zur Erlangung einer über das persönliche Dafürhalten hinausgehenden, wahrheitsnäheren Problemlösung verhelfenden Rationalisierungselemente, die sich unter der regulativen Idee der Wahrheit gegenseitig bedingen, wie zwei, an voneinander entfernten Stellen leuchtende Sterne vorstellen, zwischen denen wir unseren forschenden Blick immer hin- und herwenden müssen: 1. Die empirisch zu ermittelnden Regelungsgegenstände einerseits und die regelungsleitenden Wertungsgesichtspunkte andererseits, 2. die von ganz unten her behutsam zu entwickelnde Fallgruppensystematik einerseits und die auf höherer Ebene miteinander konsenserzielend einzuübenden Wertungsentscheidungen und Grundprinzipien des Strafrechts andererseits, und schließlich 3. die sich in der historischen Diskussionssphäre langsam entwickelten und noch zu entwickelnden Denkmuster und Argumentationsmaßstäbe einerseits und die auch im großen internationalen Diskussionsraum als gültig anzusehenden Argumente und Gegenargumente andererseits.
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Hierzu und zum Folgenden Ida (o. Fn. 16), S. 272 f.
Kommunikative Handlung und Wirklichkeit Von Yesid Reyes* In einem im Jahre 20071 veröffentlichten Aufsatz, in dem er das Forschungsprogramm des von ihm geleiteten Max-Planck-Instituts vorstellte, nahm Kollege Ulrich Sieber auf die neuen Herausforderungen Bezug, die sich für das Strafrecht aufgrund der sich verändernden Gesellschaftsstruktur ergeben. Er legte hierzu dar, dass eine Welt, in der Bürger aller Länder dank des technologischen Fortschritts auf immer einfachere und dichtere Art und Weise interagieren, auch neue Deliktsmodalitäten hervorbringt, die verschiedene Bausteine der Strafrechtswissenschaft infrage zu stellen zwingt. Aus Anlass der in diesem Gemeinschaftswerk dem Jubilar erbrachten verdienten Ehrung, will ich hier die Leistungsfähigkeit eines kommunikativen Handlungsbegriffes untersuchen, der in die Konstruktion der Wirklichkeit, auf die das Strafrecht einwirkt, einfließt, und es diesem so ermöglicht, sich an ein in ständiger Änderung befindendes soziales Umfeld anzupassen. Die Sprache ist Handlung,2 soweit wir sie einsetzen können, damit etwas geschieht. Durch Sprache ist es möglich, dass die Personen, mit denen wir interagieren, sich als Folge dieser Interaktion3 auf eine bestimmte Art und Weise verhalten4 (so dass wir, praktisch gesprochen, die Zukunft zu bestimmen imstande sind5), und, was wichtiger ist, durch ihre Hilfe schaffen wir eine Wirklichkeit,6 die die Grenzen der Ontologie überwindet. Die Sprache ist als nicht passiv oder bloß beschreibend (wertungsfrei), sondern im Sinne der Handlung dynamisch.7
* Deutsche Fassung von Manuel Cancio Meliá (Universidad Autónoma de Madrid). 1 Vgl. Ulrich Sieber, Grenzen des Strafrechts, ZStW 119 (2007), S. 1 – 68. 2 Vgl. Rafael Echeverría, Ontología del lenguaje, 6a edición, Dolmen ediciones, Caracas – Santiago de Chile 2002, S. 35. „Worte sind auch Taten“; Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1967, Nr. 546. 3 Vgl. Humberto Maturana/Francisco Varela, El árbol del conocimiento, Lumen, editorial Universitaria, Santiago de Chile 2003, S. 129. Dies bedeutet aber nicht – wie später zu zeigen sein wird –, dass kommunikative Handlungen notwendig stets von einer kommunikativen Intention geleitet würden. 4 Vgl. Rafael Echeverría, Ontología del lenguaje (Fn. 2), S. 34. 5 Vgl. Rafael Echeverría, Ontología del lenguaje (Fn. 2), S. 35. 6 Vgl. Rafael Echeverría, Ontología del lenguaje (Fn. 2), S. 35. 7 Vgl. Rafael Echeverría, Ontología del lenguaje (Fn. 2), S. 202.
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Dementsprechend ist die Grundeinheit der Kommunikation nicht das Wort, das Symbol oder der Satz, sondern die Sprechakte nehmen diese Position ein;8 die Bedeutung, die einem sprachlichen Zeichen (wie einem Satz in der gesprochenen Sprache) in einem bestimmten Kontext (der durch die in der entsprechenden Gemeinschaft geltenden Regeln begrenzt wird) zugeschrieben wird, stellt einen Sprechakt dar.9 Deshalb bedeutet die Benutzung einer Sprache eine Teilnahme an Sprechakten nach Maßgabe von bestimmten allgemein angenommenen10 Regeln zu der Art, wie die sprachlichen Elemente zu benutzen sind.11 Aus diesem Grund ist die Sprache auf der Grundlage der Sprechakte und nicht ihrer einzelnen Bestandteile zu untersuchen.12 Die Regeln der Sprache entspringen der gesellschaftlichen Interaktion und sind nicht bloß regulativ, sondern konstitutiv; dies bedeutet, dass sie uns nicht lediglich über die Verwendungsweise der Sprache orientieren, sondern schaffen sie, so wie die Regeln des Fußballes oder des Schachs13 nicht nur bedingen, dass diese Spiele geordnet gespielt werden,14 sondern ihre Existenz erst ermöglichen.15 Die gesellschaftliche Welt, in der wir leben, besteht aus verschiedenen Bereichen der Interaktion zwischen ihren Mitgliedern, in denen sich eigene Regeln entwickelt haben, die diese Bereiche konstituieren, ihre Aktivität regeln und die Kommunikation darin ermöglichen.16 Wenn also von den Regeln der Sprache die Rede ist, wird nicht auf einheitliche Parameter Bezug genommen, die für alle Bereiche sozialer Interaktion gälten; eine Reihe von Regeln bestimmen die Institution der Ehe, andere die 8 Vgl. John Searle, Actos de habla – Ensayo de filosofía del lenguaje, ediciones Cátedra, Madrid 2007, 6. Aufl., S. 26. 9 Vgl. John Searle, Actos de habla (Fn. 8), S. 27. 10 Vgl. Rafael Echeverría, Ontología del lenguaje (Fn. 2), S. 50; John Searle, Actos de habla (Fn. 8), S. 25 und 31. 11 Vgl. John Searle, Actos de habla (Fn. 8), S. 25 und 26; Michael Pawlik, Normbestätigung und Identitätsbalance: Über die Legitimation staatlichen Strafens, Nomos Verlag 2017, S. 9 und 10. 12 Vgl. John Searle, Actos de habla (Fn. 8), S. 27. 13 „Ist aber das Schachspiel nicht durch seine Regeln definiert? Und wie sind diese Regeln im Geist dessen gegenwärtig, der beabsichtigt, Schach zu spielen?“; Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (Fn. 2), Nr. 205. 14 So meint Wittgenstein: „Wir können uns auch denken, dass der ganze Vorgang des Gebrauchs der Worte in (2) eines jener Spiele ist, mittels welcher Kinder ihre Muttersprache erlenen. Ich will diese Spiele ,Sprachspiele‘ nennen, und von einer primitiven Sprache manchmal als einem Sprachspiele reden (…) „Ich werde auch das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist, das ,Sprachspiel‘ nennen“; Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (Fn. 2), Nr. 7. 15 Vgl. John Searle, Actos de habla (Fn. 8), S. 42 und 43; Rafael Echeverría, Ontología del lenguaje (Fn. 2), S. 224 und 225. 16 Nach Habermas begründen die Subjekte ihre Kommunikation auf einem gemeinsamen Weltsystem; vgl. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Band 1, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1981, S. 376.
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Konstitution von Verbänden, andere die Existenz und die Praxis von Sportarten wie Fußball17 oder Schach, und andere bestimmen, unter welchen Voraussetzungen ein Verhalten als Delikt betrachtet werden kann;18 dies steht der Tatsache nicht entgegen, dass die Menschen gleichzeitig oder nacheinander in verschiedenen gesellschaftlichen Welten (wie dies in der Tat geschieht) agieren können.19 Die Identität einer Kommunikationsregel hängt nicht von der Regelmäßigkeit ihrer korrekten Anwendung ab, was praktisch bedeutet, dass sie auch dann weiter gilt, wenn sie sogar wiederholt gebrochen wird. Was es ihr erlaubt, ihre Identität beizubehalten, ist der Umstand, dass obwohl die Regel gebrochen werden kann, dieser Bruch zu Kritik20 auf der Grundlage des Konsenses der Gemeinschaft über die Geltung dieser Regel führt.21 Was also der Regel Identität verleiht, ist ihre intersubjektive Geltung,22 was bestätigt, dass diese Regeln nur in einer sozialen Welt vorstellbar sind.23 Solange Robinson Crusoe der einzige Mensch war, der seine Insel bevölkerte, war er an keine Kommunikationsregel gebunden, weil er dieser nicht bedurfte;24 hätte er solche geschaffen, hätte niemand sie brechen können, und niemand hätte diesen Regelbruch gerügt; mit anderen Worten, jede Regel, die er für seine unipersonelle Welt geschaffen hätte (solche inbegriffen, die Straftaten beschrieben und die entsprechenden Strafen festlegten) hätte keine Identität, da ihr intersubjektive Geltung fehlt. Die Sprache, sowohl in ihren Symbolen25 als auch in den Regeln, die sie bilden und den Wertungen, die bei Entschlüsselung der Bedeutung der Sprechakte zu ihr gehören, entsteht aus der gesellschaftlichen Interaktion der Menschen, und ist deshalb ein soziales, kein biologisches Phänomen.26 Menschen leben (als soziale Lebewesen) in einer sprachlichen Welt;27 die kommunikative Handlung ist es, die es uns 17
Vgl. John Searle, Actos de habla (Fn. 8), S. 44 und 45. Vgl. Humberto Maturana, La realidad: ¿objetiva o construida? – Fundamentos biológicos de la realidad, Band 1, 2. Aufl., ediciones Universidad Iberoamericana, Iteso y Anthropos, Barcelona 2009, S. 10 und 11. 19 Vgl. Humberto Maturana, La realidad: ¿objetiva o construida? (Fn. 18), S. 11. 20 Vgl. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Band 2, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1981, S. 33. 21 Für Habermas sind diese Kritikpunkte im Prinzip konsensfähig; vgl. Jürgen Habermas, Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft (Fn. 20), S. 33; vgl. Michael Pawlik, Normbestätigung (Fn. 11), S. 11. 22 Vgl. Jürgen Habermas, Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft (Fn. 20), S. 33. 23 Vgl. Humberto Maturana/Francisco Varela, El árbol del conocimiento (Fn. 3), S. 129. 24 „Ein vereinzeltes und einsames Subjekt, das zudem nur über eine der genannten Kompetenzen verfügt“ („sowohl zu regelgeleitetem Verhalten wie auch zur kritischen Beurteilung dieses Verhalten“), „kann das Konzept der Regel so wenig ausbilden wie Symbole bedeutungsidentisch verwenden“; vgl. Jürgen Habermas, Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft (Fn. 20), S. 34. 25 Vgl. Humberto Maturana, La realidad: ¿objetiva o construida? (Fn. 18), S. 70. 26 Vgl. Rafael Echeverría, Ontología del lenguaje (Fn. 2), S. 50. 27 Vgl. Rafael Echeverría, Ontología del lenguaje (Fn. 2), S. 51. 18
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erlaubt, die Gesellschaft als „Lebenswelt von Angehörigen einer sozialen Gruppe“28 aufzufassen. Die Regeln, die es uns erlauben, zu definieren, was in einem bestimmten Kontext eine Strafe ist, gehören ebenfalls zu dieser gesellschaftlichen Welt, der einzigen, in der ein Verbrechensbegriff gedacht werden kann; deshalb ist das Verbrechen kein natürliches Phänomen, sondern eine Kreatur des Menschen als sozialem Wesen, und sein Verständnis und seine Regelung müssen entsprechend in diesem Bereich stattfinden. Dank der Sprache sind die Dinge, die der Mensch wahrnimmt, nicht solche „an sich“, sondern so, wie wir sie nach den konsensgeschaffenen Regeln, die die Sprache darstellen, interpretieren;29 dies bedeutet nicht, die äußere Welt zu verneinen30 (die als solche unabhängig vom Menschen besteht),31 sondern anzuerkennen, dass, da die Welt aus der Perspektive der Sprache betrachtet wird, eine objektive (wertungsfreie) Sicht darauf unmöglich ist. Wir können deshalb nicht sagen, wie die Dinge „an sich“ sind, sondern nur, wie wir sie durch die der Sprache eigenen Symbole, die uns eine Interpretation ermöglichen,32 wahrnehmen; eine Tasse Tee ist eine Tasse Tee nur für uns, nicht für die Fliege, die sich darauf setzt.33 Die Interpretation dieser ontologischen Welt ist also weder statisch noch einförmig, denn sie wird bedingt durch Regeln, deren Konsensfähigkeit innerhalb verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und je nach geschichtlichem Moment, in dem sie gewürdigt werden, variieren kann. Auch wenn die als Sterne am Himmel bekannten Objekte immer „an sich“ seit je gleich bleiben, gab es Zeiten, in denen einige Gesellschaften sie als oben aufgehängte Lampen interpretierten, oder als kleine Löcher, durch welche das sich dahinter befindende Licht durchscheint,34 während andere die Gestirne als Götter identifizierten; was sich im Laufe der Zeit geändert hat sind weder die Sterne, noch die Form der Erde, noch die Funktion des Sonnensystems, sondern die Deutungen des natürlichen Umfelds, die das gesellschaftliche Wesen vornimmt.
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Jürgen Habermas, Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft (Fn. 20), S. 304. „Darum besteht eine Neigung, zu sagen: jedes Handeln nach der Regel sei ein Deuten“; Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (Fn. 2), Nr. 201. Vgl. Michael Pawlik, Normbestätigung (Fn. 11), S. 11. 30 „Wenn man bestreitet, die Dinge so erkennen zu können, wie sie sind, bedeutet nicht zu bestreiten, dass sie in ihrer Existenz das sind, was sie sind. Es geht nur darum zu verneinen, dass wir sie in dem kennen können, was sie wirklich ,sind‘“; Rafael Echeverría, Ontología del lenguaje (Fn. 2), S. 41. 31 „Aus der Abhängigkeit des Begriffs der Wirklichkeit von unserem Sprechen über sie folgt aber nicht, dass auch die Wirklichkeit als solche –die Welt– von unserem Sprechen abhängig wäre“; Michael Pawlik, Normbestätigung (Fn. 11), S. 20. 32 Nach Echeverría leben wir „in Deutungswelten“; Rafael Echeverría, Ontología del lenguaje (Fn. 2), S. 40. 33 Vgl. Rafael Echeverría, Ontología del lenguaje (Fn. 2), S. 51. 34 Vgl. Rafael Echeverría, Ontología del lenguaje (Fn. 2), S. 205. 29
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Mit der menschlichen Tätigkeit geschieht etwas Ähnliches; sie wird nicht auf der Grundlage ihrer verschiedenen natürlichen Bestandteile beschrieben, sondern als komplexe, mit einer Bedeutung versehene Handlung gedeutet. Handlungen sind als Formen der gesellschaftlichen Interaktion eine Kommunikationsform,35 wie die geschriebenen oder gesprochenen Symbole, oder wie bestimmte körperliche Gebärden oder Gesichtsausdrücke;36 die Sprache, die die Interaktion unter Menschen ermöglicht, ist nicht auf Worte oder geschriebene Zeichen begrenzt. Unsere Handlungen sind eine Kommunikationsform, die aus der ausgeführten Tätigkeit und deren Deutung besteht;37 deshalb ist der homo sapiens vor allem ein soziales Wesen.38 Aus der Perspektive der reinen körperlichen Tätigkeit kann ein Tor als Einsatz einer geeigneten Hebelwirkung, um ein rundes Objekt zu bewegen, das durch die Beschleunigung genügend Geschwindigkeit und Wucht entwickelt, um eine gedachte Ebene zwischen drei Stangen und einer auf den Rasen gemalten Linie zu durchqueren beschrieben werden;39 diese Abfolge von Ereignissen in der Welt des Natürlichen erlangt nur dann eine Bedeutung auf der gesellschaftlichen Ebene, wenn sie nach den Regeln des Fußballes interpretiert werden.40 Auch wenn weder Fußball noch Tor ontologische Phänomene darstellen, kann nicht in Zweifel gezogen werden, dass sie gesellschaftlich wirklich sind und unzählige Folgen hervorrufen, die die Welt verändern (neu schaffen); es werden Stadien gebaut, um diesen Sport auszuüben, es werden Mannschaften zusammengestellt, um gegeneinander zu spielen, die Spieler werden unter Vertrag genommen und sie werden mit Geld entlohnt, es werden Wettkämpfe organisiert, die den besten Mannschaften Preise verleihen, es werden Fangruppen gegründet, Übertragungsrechte über Radio oder Fernsehen werden verkauft, es werden die Trikots der besten Spieler vertrieben, es gibt Ausschreitungen und Handgemenge zwischen den Anhängern verschiedener Mannschaften, usw.
35 „… Jedes Handeln stellt ein kommunikatives Ereignis dar“; Michael Pawlik, Normbestätigung (Fn. 11), S. 12 und 13. 36 Habermas bezieht sich auf „Sprechhandlungen“ oder auf „äquivalente nicht-verbale Äußerungen“, die „die Funktion der Handlungskoordinierung übernehmen“, so dass er anzunehmen scheint, dass die Sprache auch körperliche Gesten einbezieht. Vgl. Jürgen Habermas, Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung (Fn. 16), S. 376. 37 Vgl. Rafael Echeverría, Ontología del lenguaje (Fn. 2), S. 211. 38 Echeverría bezeichnet dies als „gesellschaftliches Phänomen“; vgl. Rafael Echeverría, Ontología del lenguaje (Fn. 2), S. 57. 39 Vgl. Yesid Reyes, Strafbare Beteiligung und objektive Zurechnung, Festschrift für Günther Jakobs, Carl Heymanns Verlag, Köln-Berlin-München 2007, S. 557. 40 „Denke, du sagtest jemandem statt ,Bring mir den Besen!‘ – ,Bring mir den Besenstiel und die Bürste, die an ihm steckt!‘ – Ist die Antwort darauf nicht: ,Willst du den Besen haben? Und warum drückst du das so sonderbar aus?‘ – Wird er den weiter analysierten Satz also besser verstehen? – Dieser Satz, könnte man sagen, leistet dasselbe, wie der gewöhnliche, aber auf einem umständlicheren Wege“; Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (Fn. 2), Nr. 60.
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Die Fußballclubs der Gegenwart, wie auch die Vereine anderer Sportarten (Basketball, Volleyball, Baseball oder Fahrradwettrennen), sind Rechtsverbände, wie dies auch die Unternehmen sind, die im privaten Bereich Güter und Dienstleistungen anbieten, oder die Gemeinden, Länder und völkerrechtlich begründete internationale Organisationen. Keiner von ihnen ist eine Fiktion; im Gegenteil, dank ihnen vermögen sich viele Menschen täglich zu ernähren (indem sie Lebensmittel kaufen oder in Gaststätten einkehren), können sich fortbewegen (indem sie ihre eigenen Fahrzeuge kaufen oder die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen), und nutzen die öffentlichen Dienstleistungen auf den Gebieten der Erziehung, Gesundheitswesen, Sicherheitsund Transportwesen; in nicht wenigen Fällen kommt es zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Ländern, die nicht nur das natürliche Umfeld betreffen und Staaten erweitern, verkleinern oder auflösen, sondern Tausende (oder Millionen!) von Verletzten und Toten verursachen. Keine dieser Tatsachen kann als Folge einer Fiktion erachtet werden; wenn Rechtsverbände als Fiktionen bezeichnet werden, wird von der fehlerhaften Annahme ausgegangen, dass die Wirklichkeit nur das natürliche Umfeld sei, in dem der Mensch als Lebewesen sich entwickelt, aber nicht in Betracht gezogen, dass dessen Fähigkeit, gesellschaftlich durch Kommunikation zu interagieren, ihm erlaubt, die Wirklichkeit neu zu erschaffen und jenseits der ontologischen Grenzen zu erweitern. Auch das Geld ist wirklich, aber nicht verstanden als Stück Papier oder Metall, sondern nach Maßgabe der Regeln, die die gesellschaftliche Interaktion um es herum aufgebaut hat; es gibt Menschen, die viel besitzen und unbeschränkt leben und sich ernähren können, weil sie über die entsprechenden wirtschaftlichen Ressourcen verfügen; andere entbehren sogar eines Schlafplatzes, können keine Bildung genießen, haben keinen Zugang zu einer guten medizinischen Versorgung oder verhungern gar, weil sie kein Geld haben, um ihr Überleben sicherzustellen; nichts davon ist Folge einer Fiktion, sondern von gesellschaftlichen Tatsachen, die sich aus der auf der Grundlage von Kommunikation stattfindenden gesellschaftlichen Interaktion ergeben. Das Gehalt, die Bankkredite, die Mietverträge, der Kaufvertrag und die Ehe – um nur einige Beispiele zu nennen – sind ebenfalls wirklich, und verursachen dementsprechend täglich Millionen von Veränderungen der Welt. Diese Wirklichkeiten entspringen Kommunikationsabläufen, die nach Maßgabe der innerhalb der sozialen Gruppe entwickelten Regeln stattfinden, wenn deren Mitglieder bestimmte menschliche Aktivitäten nach Maßgabe dieses Regelwerks deuten. Das Gehalt, der Kaufvertrag, eine Miete, eine Ehe oder eine Scheidung41 existieren nur so weit, wie die Bedingungen dafür erfüllt werden. In einem Kommunikationsvorgang ist es die Tätigkeit des Beobachters, die den Handlungen, die er wahrnimmt, einen Sinn verleiht; durch die Deutung nach Maßgabe der konsentierten Regeln werden sie im sozialen Bereich wirklich, und dort rufen sie Folgen und Veränderungen der Welt hervor. 41 Searle bezieht sich auf diese Wirklichkeiten als „institutionelle Tatsachen“; vgl. John Searle, Actos de habla (Fn. 8), S. 59 und 60.
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Auch das Verbrechen ist ein Beispiel für eine Tätigkeit, die auf dem Gebiet des Natürlichen geschieht, die aber nach den Kommunikationsregeln innerhalb einer sozialen Gruppe gedeutet wird;42 die „natürliche“ Handlung, einen Schnitt im Unterleib eines Menschen mit einem scharfen Gegenstand vorzunehmen, kann eine positiv als Rettungshandlung gewertete Tätigkeit (wenn es sich beispielsweise um eine chirurgische Operation handelt, um den Blinddarm zu beseitigen) darstellen, oder aber einen Angriff gegen einen Menschen (eine Körperverletzung bei der Begehung eines Raubes). Der Umstand, dass das Verbrechen das Resultat von sozialer Interaktion und Deutung ist, bedeutet aber nicht, dass es sich um eine Fiktion handelt; ein Totschlag ist so wirklich, wie die Folgen, die er beim Opfer (dessen Tod) oder beim Täter (die Aufhebung seiner Freiheit oder sogar –in jenen Gesellschaften, die die Todesstrafe akzeptieren– sein Tod) verursacht. Bezüglich des deliktischen Verhaltens (das das Strafrecht eigentlich interessierende Objekt) darf nicht vergessen werden – so selbstverständlich dies auch scheinen mag –, dass die Gesellschaft nur auf ein Verbrechen reagieren kann, wenn sie seine Existenz kennt, und dies ist nur dann der Fall, wenn ein Verhalten von einem Beobachter nach den konsentierten Regeln43 und in einem bestimmten Kontext in diesem Sinne gedeutet werden kann.44 Die Wertung eines Verhaltens nach bestimmten Regeln ist es, was es ermöglicht, dass dieses zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort als Verbrechen bezeichnet werden kann; dementsprechend hängt seine Interpretation von der gesellschaftlichen Gruppe ab, in der es sich ereignet, und vom geschichtlichen Zeitpunkt, in dem es geschieht. Dies erklärt, warum ein und dieselbe Handlung, wie zum Beispiel der homosexuelle Geschlechtsverkehr, in einigen Ländern in einer bestimmten Epoche als strafbar eingeordnet, an anderen Orten und in anderen Stadien der Geschichte aber als gesellschaftlich richtiges Verhalten aufgefasst werden können; während im antiken Griechenland solche Beziehungen akzeptiert wurden, standen in Kolumbien homosexuelle Handlungen bis zur Einführung des Strafgesetzbuches von 1980 unter Strafe. Damit Kommunikation existieren kann, reicht es nicht aus, wenn eine Person durch Zeichen oder Gesten auf eine bestimmte Art und Weise handelt; es ist zudem unerlässlich, dass die anderen imstande sind, die Bedeutung der Handlung 42 Vgl. Yesid Reyes, Theoretische Grundlagen der objektiven Zurechnung, ZStW 105 (1993), S. 114. 43 Wie Parsons unterstreicht: wenn das abweichende Verhalten unbekannt ist (d. h., wenn es keine Kommunikation gibt), ist es unmöglich, darauf zu reagieren; vgl. Talcott Parsons, The Social System, Routledge, London 1991, S. 188. 44 Zur Relevanz des Kontexts bei der Deutung von Verhalten ist folgendes Beispiel Wittgensteins besonders aufschlussreich: „Eine Königskrönung ist das Bild der Pracht und Würde. Schneide eine Minute dieses Vorgangs aus ihrer Umgebung heraus: dem König im Krönungsmantel wird die Krone aufs Haupt gesetzt. – In einer andern Umgebung aber ist Gold das billigste Metall, sein Glanz gilt als gemein. Das Gewebe des Mantels ist dort billig herzustellen. Die Krone ist die Parodie eines anständigen Huts. Etc.“; Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (Fn. 2), Nr. 584.
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zu verstehen.45 Relevant ist hier nicht, dass mit der Absicht zu kommunizieren gehandelt wird,46 sondern dass die durchgeführten Handlungen47 nach Maßgabe der Konvention,48 die die soziale Gruppe entwickelt hat,49 gedeutet werden können, und zudem auf dieser Grundlage ein Interaktionsprozess50 eingeleitet werden kann, auch wenn der Sender durch sein Verhalten etwas anderes mitzuteilen wünscht51 oder glaubt.52 Entscheidend dafür, ob Kommunikation stattfindet, ist, dass ein Beobachter aus dieser konkreten sozialen Gemeinschaft in der Lage des Handelnden fähig ist, die Bedeutung des wahrgenommenen Verhaltens zu eruieren,53 auch wenn der Handelnde kein Interesse hat, etwas durch sein Verhalten zu kommunizieren,54 wie zum Beispiel der Leistungssportler, der vor einem Wettkampf dabei ertappt wird, ein verbotenes leistungsförderndes Mittel einzunehmen.55 Obwohl er 45 Vgl. Humberto Maturana, La realidad: ¿objetiva o construida? (Fn. 18), S. 11 und 12. In der Formulierung Searles, „… sobald der Hörer erkennt, was ich zu erreichen versuche, wird im Allgemeinen die Wirkung erreicht, die verfolgt wurde“; John Searle, Actos de habla (Fn. 8), S. 52. 46 Vgl. John Searle, Actos de habla (Fn. 8), S. 26 und 51. 47 Für die menschliche Kommunikation ist bezeichnend, dass „wenn ich versuche, einer Person etwas zu sagen, habe ich es erreicht, es ihr zu sagen, wenn diese Person erkennt, dass ich ihr etwas sagen will und was ich genau zu sagen versuche“; John Searle, Actos de habla (Fn. 8), S. 55. 48 „Die Bedeutung ist mehr als eine Frage der Intention; es ist zumindest in einigen Fällen eine Frage der Konvention“; John Searle, Actos de habla (Fn. 8), S. 54. 49 „Bedeutungen gelten dank konventioneller Regelung als identisch“ (Jürgen Habermas, Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft (Fn. 20), S. 30). „Man versteht die Bedeutung einer bestimmten symbolischen Handlung, eines Schachzuges z. B., wenn man die Regel für die Verwendung der Schachfigur beherrscht“; (Jürgen Habermas, Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft (Fn. 20), S. 32). 50 „Der Ausdruck ,kommunikative Handlung‘ bezeichnet jene Interaktionen, bei denen die Verwendung der auf Verständnis orientierten Sprache eine die Handlung koordinierende Rolle übernimmt“ (vgl. Jürgen Habermas, Kommunikatives Handeln und detranszendentalisierte Vernunft, Philipp Reclam, Stuttgart 2001, S. 49). 51 „Für eine Theorie des kommunikativen Handelns sind nur diejenigen analytischen Bedeutungstheorien, die an der Struktur des sprachlichen Ausdrucks statt an den Sprecherintentionen ansetzen, instruktiv“; Jürgen Habermas, Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung (Fn. 16), S. 372. 52 „Darum ist ,der Regel folgen‘ eine Praxis. Und der Regel zu folgen glauben ist nicht: der Regel folgen. Und darum kann man nicht der Regel ,privatim‘ folgen, weil sonst der Regel zu folgen glauben dasselbe wäre, wie der Regel folgen“; Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (Fn. 2), Nr. 202. 53 Die Wertung, die dieser Beobachter vornimmt, ist objektiv, denn sie hängt nicht davon ab, was diese Person mit ihrer Handlung mitteilen will; es sind die innerhalb der Gemeinschaft konsentierten Regeln der Sprache, die dazu dienen, das eine jede Person in der Position des Handelnden die Bedeutung seiner Handlung erfassen kann. 54 Vgl. Rafael Echeverría, Ontología del lenguaje (Fn. 2), S. 219 und 220. 55 „So wenig beispielsweise ein Beobachter, der einen Bekannten über die Straße eilen sieht, erkennt, warum dieser sich so beeilt, so wenig kann ein Hörer, der eine an ihn gerichtete Aufforderungen versteht, damit schon wissen, was der Sprecher, indem er das äußert, sonst
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bei seinem Verhalten keine Absicht hatte, eine Dopinghandlung mitzuteilen (im Gegenteil, es ist in seinem Interesse, dass diese unentdeckt bleibt), ist es offensichtlich, dass sein Verhalten von einem sich in seiner Position befindenden Beobachter dergestalt gedeutet werden kann, denn aus dieser Perspektive und in Kenntnis der die Sprache konstituierenden Regeln56 kann er die Bedeutung des wahrgenommenen Verhaltens verstehen57 und auf dieser Grundlage eine soziale Interaktion anstoßen. Einfacher formuliert: Es ist der Beobachter, der aus der Perspektive der Kommunikation der Handlung auf gesellschaftlicher Ebene Sinn verleiht.58 Letzterer Umstand ermöglicht die Behauptung, dass der Beobachter die Welt verändert,59 da er den Kommunikationskreis durch die regelkonforme Deutung von Zeichen schließt, eine weitere Handlung ermöglicht, die ihrerseits den Bereich des natürlichen Umfeldes erweitert und deshalb die Wirklichkeit modifiziert.60 Wenn ich das im vorhergehenden Absatz genannte Verhalten als Dopinghandlung deute, beziehe ich mich auf eine Kategorie, die über die ontologische Welt hinausgeht und deshalb eine Erweiterung dieser rein natürlichen Welt impliziert. Was nicht richtig ist, ist die Behauptung, diese Veränderungskraft der Wirklichkeit, die dem Beobachter zukommt, sei im Rahmen der Gesellschaftswissenschaften eine Anwendungsform der von Heisenberg für die Physik formulierten Unschärferelation;61 während nach der Position Heisenbergs die Präsenz des Beobachters die Struktur der ontologischen Wirklichkeit dergestalt ändert, dass er Unsicherheit darüber schafft, was beobachtet werden soll, ergibt sich bei den Kommunikationsprozessen die Änderung der natürlichen Wirklichkeit durch ihre Interpretation nach den Sprachregeln, was ihre Erweiterung bedeutet, und nicht Unsicherheit bezüglich ihrer ontologischen Struktur. Da die „Wirklichkeit“ sich nicht auf den begrenzten Rahmen des natürlichen Umfeldes beschränkt, in dem der Mensch lebt, sondern als Folge der Kommunikationsprozesse, die den Menschen als soziales Wesen charakterisieren, erweitert wird, beschäftigt sich das Strafrecht mit einer besonderen Art von Kommunikationshandlungen auf diesem Gebiet. Genauer: das Strafrecht beschäftigt sich mit einer besonderen Art kommunikativer Handlungen, die sich aus der Deutung des Verhaltens eines Genoch bezweckt“. Der Adressat könnte perlokutionäre Ziele des Sprechers allenfalls aus dem Kontext erschließen“; Jürgen Habermas, Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung (Fn. 16), S. 372. 56 Zur Verinnerlichung der Regeln, die später zur Wertung eines Verhaltens (wie zum Beispiel die Leistung eines Baseballspielers während eines Spiels) benutzt werden vgl. John Searle, Actos de habla (Fn. 8), S. 23 und 24. 57 Vgl. John Searle, Actos de habla (Fn. 8), S. 52. 58 Vgl. Rafael Echeverría, Ontología del lenguaje (Fn. 2), S. 211. 59 Vgl. Humberto Maturana/Francisco Varela, El árbol del conocimiento (Fn. 3), S. 130. 60 Vgl. Humberto Maturana/Francisco Varela, El árbol del conocimiento (Fn. 3), S. 64. 61 So überträgt zum Beispiel Bergalli die Heisenbergsche Unschärferelation auf die Gesellschaftswissenschaften; vgl. Roberto Bergalli, Relaciones entre control social y globalización: Fordismo y disciplina. Post-fordismo y control punitivo, Sociologías, Porto Alegre, ano 7, n8 13, jan/jun, 2005, S. 195.
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meinschaftsmitglieds durch einen Beobachter (nach von der Gesellschaft selbst konsentierten Regeln, um Verständigung zu ermöglichen) ergeben. Das Strafrecht ist als Wissenschaft62 ein System,63 das wie alle Systeme nicht in der Welt des Ontologischen existiert, so wie es dort kein Strafvollzugssystem gibt (nicht einmal die Gefängnisse selbst existieren ontologisch), und kein Justizwesen, das ermittelt und nicht nur jene bestraft, die individuell ein Verbrechen begangen haben, sondern auch jene, die dies als Teil eines deliktischen Systems (einer kriminellen Vereinigung) oder einer auf Zeit existierenden deliktischen Vereinigung tun, die es in der ontologischen Welt ja auch nicht gibt. Auch wenn keiner dieser Begriffe zur Welt des Natürlichen gehört, ist doch nicht zu bestreiten, dass sie als Teil unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit existieren, einer Wirklichkeit, in der die Verbrechenslehre entwickelt wird, wie auch das gesamte Strafrecht, das Strafvollzugsrecht, die Kriminologie und die Kriminalpolitik, um nur einige der Instrumente zu nennen, mit denen der Staat in die Regelung der gesellschaftlichen (nicht natürlichen) Verhaltensweisen eingreift.
62 Zur Diskussion der Frage, ob die Wissenschaftlichkeit des Strafrechts davon abhängt, ob es den Naturwissenschaften eigenen Parametern (wie zum Beispiel des Kausalzusammenhanges) folgt, vgl. Michael Pawlik, Das Unrecht des Bürgers. Grundlinien der allgemeinen Verbrechenslehre, Mohr Siebeck, Tübingen 2012, S. 5 und 6. 63 Zur Wissenschaft als System und einer Perspektive auf das Strafrecht als System, wie sie spätestens in Feuerbachs Konzeption vorgeschlagen werden, vgl. Michael Pawlik, Das Unrecht (Fn. 62), S. 3. Pawlik nimmt an, dass das Strafrecht heute allgemein als wissenschaftliche Disziplin mit Systemanspruch betrachtet wird (vgl. a.a.O., S. 8), beklagt aber die dürftigen Bezüge in der Fachliteratur darauf, was unter einer systematischen Strafrechtsdogmatik zu verstehen sein soll (vgl. a.a.O., S. 9).
II. Allgemeiner Teil des Strafrechts
Recklessness statt dolus eventualis? Zur Systematik der subjektiven Tatseite de lege ferenda Von Gunnar Duttge
I. Sturm auf die Bastille – Vive le moderne Die rechtsfolgenbezogen wie straftatsystematisch fundamental bedeutsame Unterscheidung zwischen (bedingtem) Vorsatz und (bewusster) Fahrlässigkeit gilt bekanntlich als „eine der schwierigsten und umstrittensten Fragen des Strafrechts“1. Nur allzu berechtigt ist daher die Forderung nach rechtssicherer und zugleich sachgerechter Maßstabsbildung und insbesondere nach überzeugender Erklärung des Umstands, warum ein (rechtsgutsspezifisch) riskantes Verhalten des Täters einmal schon als „Entscheidung für die Rechtsgutsverletzung“2 (und damit als implizite „Planverwirklichung“3), ein andermal hingegen noch als bloß „sträflicher Leichtsinn“ bewertet werden darf. Die gründliche, mittlerweile ein Vierteljahrtausend4 umspannende dogmengeschichtliche Befassung hiermit hat eine erkleckliche Anzahl von vermeintlich ausschlaggebenden Leitkriterien zutage gefördert, ohne dass sich eines hiervon jedoch tatsächlich als gesuchte Zauberformel entpuppte. Entweder erwies sich das präferierte Zentralkriterium als zu stark („billigende Inkaufnahme“, „Gleichgültigkeit“) oder aber als zu schwach („Ernstnahme“, fehlender „tatmächtiger Vermeidewille“). Dennoch schien sich die moderne Strafrechtslehre in pragmatischer Absicht überwiegend mit dem – wenngleich in jeder Hinsicht unbefriedigenden – Status quo arrangiert zu haben, zumal sich das vermeinte Theoriedefizit im 1
Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 69. Hassemer, in: Dornseifer u. a. (Hrsg.) Armin Kaufmann-GS, 1989, S. 289 (295); zuvor Roxin, Strafrechtliche Grundlagenprobleme, 1973, S. 224; ähnlich Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983, S. 482 et passim: „Entscheidung gegen das Rechtsgut“; Schroth, Theorie des strafrechtlichen Vorsatzes, 1986, Kap. 5.8.: „Negation des von einer Strafrechtsnorm normativ geschützten Zustands“. 3 In diesem Sinne der vorsatzspezifische Oberbegriff (unter Einbeziehung des dolus eventualis) bei Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, 4. Aufl. 2006, § 12 Rn 6, 22 f.; siehe auch M. Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, 1997, Kap. 3.3.1.3: „subjektives Geltungsurteil“. 4 Gerechnet von Böhmers Meditiationes in Constitutionen Criminalem Carolinam (1770), der als „Schöpfer“ des dolus eventualis gilt: Schaffstein, Die allgemeinen Lehren vom Verbrechen in ihrer Entwicklung durch die Wissenschaft des gemeinen Strafrechts, 1930 (2. Neudruck 1986), S. 124 Fn. 1. 2
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Sinne der typologischen Indizienlehre5 durchaus auch ins Gegenteil kehren und als (begriffs- und sach-)theoretische Einsicht begreifen lässt. Damit war scheinbar auch dem tradierten Glaubensstreit zwischen Willens- und Vorstellungstheorie(n),6 wie er sich in der jüngeren Dogmengeschichte in der grundlegenden Kritik am voluntativen Vorsatzelement fortsetzte (Freund, Frisch, Frister, Herzberg, Kindhäuser, Puppe u. a.), die besondere Schärfe genommen. Das nicht nur die allgemeinen Medien, sondern auch die Strafrechtswissenschaft aufrüttelnde Autoraser-Szenario hat jedoch die Debattenlage grundlegend verändert: Die augenfällig divergierenden Bewertungen – fahrlässige Tötung versus Mord (oder jedenfalls Totschlag) – im Verhältnis der mehreren, prima vista ähnlich gelagerten Fälle, aber ebenso zu ein und demselben (Berliner) Fall7 wird inzwischen – anders als zuvor – nicht lediglich als Beleg dafür angesehen, dass es eben an einem Konsens über das „richtige“ Abgrenzungskriterium noch fehlt8 und die tradierte „Billigungs“Formel der Rechtsprechung (von der „Hemmschwellen“-These ganz abgesehen) nicht restlos rationalisierbare Interpretationsspielräume eröffnet. Vielmehr findet sich neuerdings die Rechtsfigur des dolus eventualis als solche in Frage gestellt, weil dieser jedenfalls in seiner vorherrschenden Deutung weder begrifflich (Stichwort: „Billigen im Rechtssinne“), methodisch (Stichwort: „Rekonstruktion individueller mentaler Zustände“) noch sachbezogen (Stichwort: „rationale Risikoreflexion“?) adäquat sei, zugleich aber seine Objektivierung zugunsten einer (rein) risikoorientierten Zuschreibung angesichts der hohen (und unflexiblen) Strafrahmen der §§ 212/211 StGB zwangsläufig „Gerechtigkeitsprobleme“ aufwerfe. Eine „differenzierte Unrechtsbewertung“ lasse sich nur durch eine Revision des Allgemeinen Teils des StGB ermöglichen, mit der auf den dolus eventualis vollständig verzichtet und die bisherige kategoriale Zweiteilung der subjektiven Tatseite9 in Vorsatz bzw. Fahrlässigkeit zugunsten eines dreigliedrigen Systems ersetzt wird: Hierin soll der stärks5 Dazu näher Schünemann, in: Weigend/Küpper (Hrsg.) Hirsch-FS, 1999, S. 363, 370 ff.: „Unwertmomente“; zu einem ausdifferenzierten „Entscheidungsbaum“ ausgearbeitet: Philipps, in: Schünemann (Hrsg.), Roxin-FS, 2001, S. 365 ff. 6 Zur älteren Dogmengeschichte s. Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit, 1930, S. 126 ff. 7 Siehe einerseits LG Berlin NStZ 2017, 471 ff. und Urteil v. 26. 3. 2019 – 532 Ks 9/18, andererseits BGHSt 63, 88 ff. (Eigengefährdung als „wesentlicher vorsatzkritischer Gesichtspunkt“); aus dem Schrifttum hierzu einerseits (für Tatvorsatz) Duttge, ZfL 2018, 172 (175 f.), Herzberg, JZ 2018, 122 (128), Kubiciel/Hoven, NStZ 2017, 439 ff., Puppe, ZIS 2017, 439 (442), Schneider, NStZ 2018, 528 ff. („keine nennenswerte Spielräume für sachlich nachvollziehbare Verneinung“), andererseits Jäger, JA 2017, 786 (787 f.), Mitsch, DAR 2017, 70, Momsen, KriPoz 2018, 76 (85 ff., 98 f.), T. Walter, NJW 2017, 1350 ff.; unentschieden Grünewald, JZ 2017, 1069, 1071 f. (einerseits: Urteil des LG Berlin „vertretbar“, andererseits: „Einordnung … als ein in hohem Maße leichtfertiges Verhalten passender …“). 8 Die Vertreter einer „Wahrscheinlichkeitstheorie“ tendieren aufgrund der hohen Risikoträchtigkeit des Tatgeschehens naheliegender Weise zur Annahme von Tatvorsatz, was die Befürworter eines voluntativen Vorsatzelements tendenziell bezweifeln (siehe vorstehende Fn.). 9 Zum Begriff der „subjektiven Tatseite“ näher Duttge, in: Giezek/Kardas (Hrsg.), Obiektywne oraz subiektywne przypisanie odpowiedzialnos´ci karnej, 2016, S. 70 ff.
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te subjektive Tatbezug durch die Absicht bzw. den dolus directus, der schwächste durch die „einfache Fahrlässigkeit“ gekennzeichnet sein; als „Zwischenstufe“10 sei jedoch die im englischen und US-amerikanischen Rechtskreis etablierte Rechtsfigur der „Recklessness“ in das deutsche Strafrecht zu übertragen.11 Die Idee wirkt nicht nur revolutionär, sondern durch ihren pragmatisch-rechtsvergleichenden Impetus fortschrittlich-weltoffen, ist aber keineswegs neu: Sie war schon in den Sitzungen der Großen Strafrechtskommission präsent,12 wurde später von Gunther Arzt als Kategorie des „Vorsatzverdachts“ – freilich allein zwecks Begrenzung des strafrechtlichen Zugriffs13 – ins Spiel gebracht und hernach von Thomas Weigend dezidiert im Kontext eines Aufbrechens des geltenden „Alles-oder(fast)Nichts-Prinzips“, auch zwecks Schärfung und Begrenzung des Vorsatzbegriffs auf seinen wesentlichen Kern („intention“), erwogen.14 Letztgenannter nahm dabei ausdrücklich Bezug auf die schon seit alters her bestehenden fundamentalen Bedenken gegen den dolus eventualis, wie sie etwa bei Ludwig von Bar beredten Ausdruck gefunden haben.15 Franz von Liszt erklärte den dolus eventualis hingegen in seinem Gutachten für den 24. Deutschen Juristentag 1898 zu einer „unentbehrlichen“ Kategorie und sah die Ursache des Übels allein in der Rechtsprechung, „der die wissenschaftliche Vertiefung fehlt“.16 Wenn im Folgenden die Berechtigung der aktuellen Forderung nach einer grundstürzenden Reform der Systematik zur subjektiven Tatseite einer näheren Betrachtung unterzogen werden soll, so geschieht dies zugleich in besonderer Verbundenheit mit dem verehrten Jubilar, der sich in herausragender Weise um den internationalen Strafrechtsdialog verdient gemacht und mit dem Jahrhundertprojekt „Max-Planck-Informationssystem für Strafrechtsvergleichung“ justament zum Allgemeinen Teil des Strafrechts auf Basis einer eigens entwickelten „Metastruktur“ informationsreiche Landesberichte mitsamt einem computerbasierten Informationssystem17 erfolgreich auf den Weg gebracht hat.18 10
Weigend, ZStW 93 (1981), 657 (690). Aktuell befürwortet insbesondere von Hörnle, NJW 2018, 1576 (1578), ausführlich in: JZ 2019, 440 ff., und Hoven, Die Zeit v. 1. 3. 2018, https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgesche hen/2018 - 03/bundesgerichtshof-raser-urteil-berlin. 12 Siehe Mezger und Dünnebier, in: Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 12. Bd., 1959, S. 118 (120). 13 Vgl. Arzt, in: Stree (Hrsg.), Schröder-GS, 1978, S. 119 ff., insbes. 142 f. 14 Näher Weigend, ZStW 93 (1981), 657 ff.; später hat sie auch Perron als „interessante Zwischenkategorie“ angesehen, siehe in: Eser (Hrsg.), Nishihara-FS, 1998, S. 145 (151). 15 v. Bar, ZStW 18 (1898), 534 (556): „… nur ein aus Irrtümern hervorgegangenes und darum irregeleitetes Phantom, geeignet, die Strafjustiz bei dem Volke in Misskredit zu bringen“. 16 v. Liszt, Die Behandlung des dolus eventualis im Strafrecht und Strafprozess, in: ders. (Hrsg.), Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. 2, 1905 (Nachdruck 1970), S. 251 ff. (276, 283). 17 Zugänglich unter der Webadresse: http://infocrim.org. 18 Nähere Informationen unter https://www.mpicc.de/de/forschung/projekte/internationalesmax-planck-informationssystem-fuer-strafrechtsvergleichung/. 11
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II. Überzeugungskraft der Argumente Wer die Lehren des kritischen Rationalismus nicht vergessen hat, wird keine Festlegung und kein Ordnungssystem mit dem Etikett der „Endgültigkeit“ versehen. Alles ist reversibel und allein abhängig von der Qualität an (neuen) Argumenten und (neuen) Einsichten. Zielt die intendierte Revision freilich nicht lediglich auf eine Korrektur in Detailfragen, sondern auf einen grundlegenden Umbau der Gesamtarchitektur (eines wesentlichen Teils), so wird man hierfür um des wirklichen Fortschritts und nicht etwa aus starrem Konservativismus19 um der „altüberkommenen“ Tradition20 willen überzeugende Gründe verlangen müssen. Und diese dürfen sich nicht in einer Kritik am Bestehenden erschöpfen, sondern sollten gerade jenen konkreten Reformvorschlag tragen, der für sich doch in Anspruch nimmt, auf die bisherige – defizitäre – Lage eine bessere Antwort geben zu können. So fragt sich also, was im Einzelnen für die vorgeschlagene Ersetzung des dolus eventualis durch die Kategorie der recklessness sprechen könnte. Vor dem Hintergrund der aktuellen Autoraser-Fälle21 ist der Verweis auf die manifesten Abgrenzungsprobleme zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit mehr als naheliegend: Nach Elisa Hoven erweise sich der Abstand zwischen beiden als „hauchdünn“, was vor dem Hintergrund der gravierend abweichenden Strafrahmen unbefriedigend sei.22 Abgesehen davon, dass bei einem derart schmalen Grat denklogisch eigentlich gar kein Platz für eine „zwischenliegende“ dritte Kategorie sein sollte, würde diese, sofern sie denn de lege ferenda die Systematik des gesamten Strafrechts und damit aller Deliktstatbestände prägte, die Abgrenzungsproblematik aber nicht beseitigen, sondern verdoppeln. Dabei bestünde rechtspraktisch die Gefahr, dass die neue Kategorie der recklessness pragmatisch zu einer Art Sammelbecken für Zweifelsfälle verkommen würde, was die eigentliche Aufgabe einer begründeten Zuweisung des jeweiligen Einzelfalles verfehlte. Denn diese hängt nicht von ihrer gesteigerten oder bloß „mittleren“ Rechtsfolgenrelevanz ab. Wer mit einer „Mittelkategorie“ aber ernst machen will, muss dieser einen gänzlich eigenständigen Bedeutungsgehalt jenseits von Vorsatz oder Fahrlässigkeit zuschreiben. Bemerkenswert ist der Umstand, dass hierzu unter den Reformbefürwortern offenbar weder Einigkeit noch überhaupt Klarheit besteht: Hoven fordert, dass die neue Kategorie „systematisch wie Vorsatz behandelt“23, d. h. dem Vorsatzbereich zugeschlagen werden soll; das widerspricht aber denklogisch der Behauptung von Eigenständigkeit und käme 19
Siehe Habermas, Merkur, Mai 1960, S. 468: „Der neue Konservatismus ist dem alten darin überlegen, daß er sich nicht länger ziert, von einem entwurzelten Baum der Aufklärung die Früchte zu ernten“. 20 Zur traditionalen Herrschaft näher Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 1922, Erster Teil, § 6. 21 Siehe o. Fn. 7. 22 Hoven, Die Zeit v. 1. 3. 2018. 23 Hoven, Thesen zum Vorsatz, Kriminalpolitischer Kreis, AG Reform des Allgemeinen Teils des StGB, S. 4, https://kriminalpolitischer-kreis.de/arbeitsgruppe/ag-reform-des-allgemei nen-teils-des-stgb/.
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per saldo einer rein risikoorientierten Interpretation des dolus eventualis unter Verzicht auf ein voluntatives Element nahe. Tatjana Hörnle verweist dagegen auf die im StGB bereits vermehrt vorhandenen „Leichtfertigkeits“-Tatbestände und kennzeichnet das diesbezügliche Unrecht folgerichtig als „grob sorgfaltspflichtwidriges, hochriskantes Verhalten“24, was aber nicht den postulierten qualitativen Unterschied im Verhältnis zur „normalen“ Fahrlässigkeit zu erklären vermag. Für Hörnle sprechen gegen eine Beibehaltung des dolus eventualis aber auch noch weitere Gründe: Seine Begriffsbestimmung enthalte – jedenfalls in der Rechtsprechungsformel – einen realitätsfernen „rationalistischen Bias“, weil tatsituative Emotionen, täterindividuelle Persönlichkeitsmerkmale und psychologische Überformung durch „wishful thinking“ einer tatsächlichen Kenntnisnahme und Bewertung von Risiken keineswegs selten entgegenstehen. Wenn es in der juristenfernen Lebenswelt mit dem Ausbleiben einer evaluativen Einstellung und mit unsicheren, schwankenden Evaluationen ohne Weiteres eine dritte und vierte Option der subjektiven Haltung zur eigenen Tat gebe, sei die zentrale „Entweder/Oder-Unterstellung“ (entweder „billigende Inkaufnahme“ oder „Vertrauen auf den guten Ausgang“) als Grundlage der Vorsatz-Fahrlässigkeits-Dichotomie sachinadäquat.25 Damit verbindet sich ergänzend das – schon eingangs erwähnte – methodische Monitum, das die Rekonstruierbarkeit von inneren Einstellungen (zur Tatzeit!) prinzipiell bezweifelt und der Strafjustiz de facto Unaufrichtigkeit vorhält, weil der mentale Zustand der Täterperson letztlich gar nicht tatrichterlich „erkannt“, sondern vielmehr „zugeschrieben“ werde.26 Letzteres ist gewiss unbestreitbar und beantwortet gleichwohl noch längst nicht, nach welchen Regeln in Bezug auf welchen Sachgegenstand eine solche Zuschreibung zu erfolgen hat. Will man die Relevanz eines täterindividuellen Tatanteils nicht gänzlich in Abrede stellen,27 lässt sich aber schlechterdings nicht garantieren, dass der Bedeutungsgehalt des „im Kopf des Täters“ Postulierten – „hat vorausgesehen“, „hat in Kauf genommen“, „hat nicht damit gerechnet“ – bei bestmöglicher, alle relevanten Indizien einbeziehender Gesamtwürdigung (§ 261 StPO) niemals fehlsam ist. Dies liegt aber bei den deliktsspezifischen Absichtsmerkmalen und der Schuldzuschreibung (Unrechtseinsicht) nicht anders. Wenn Hörnle mit großem Recht beanstandet, dass die Klassifizierung des subjektiven Tatanteils bislang psychologisch wie auch soziologisch weithin naiv „unter Ausblendung von Sozialisation, Lebensumständen und den Effekten starker Neurotransmitter“ erfolgt, weil es hierfür in der Strafjustizpraxis an der notwendigen professionellen Expertise bzw. schon an der Bereitschaft zu deren Berücksichtigung mangelt, und es 24
Hörnle, JZ 2019, 440 (448), siehe auch zuvor 446: „massive Sorgfaltswidrigkeit“. Hörnle, JZ 2019, 440 (441 f.). 26 Hörnle, JZ 2019, 440 (442 f.); ebenso Hoven, Thesen zum Vorsatz, Kriminalpolitischer Kreis, AG Reform des Allgemeinen Teils des StGB, S. 3, https://kriminalpolitischer-kreis.de/ar beitsgruppe/ag-reform-des-allgemeinen-teils-des-stgb/: „Das von der Rechtsprechung vorausgesetzte Bewusstseinsphänomen ist damit ein weitgehend künstliches Konstrukt, das keinen realen psychischen Sachverhalt abbildet“. 27 Dazu sogleich im weiteren Textverlauf. 25
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generell – zur Vermeidung willkürlicher Zuschreibungen – überhaupt erst eines wissenschaftsfundierten Modells der (umfassenden) Typisierung potentiell relevanter Aspekte bedürfte,28 so begründet das nicht etwa die Notwendigkeit einer neuen Rechtskategorie, sondern beschreibt vielmehr die strafrechtswissenschaftliche Aufgabe auf dem Weg zu einer sachgerechten Handhabung des Vorsatzbegriffs (jenseits seines allgemeinen Begriffs). So hat doch etwa die gewiss nicht geringere kognitionspsychologische Unaufgeklärtheit im Fahrlässigkeitsbereich – z. B. zum sog. hindsight bias29 – bislang auch noch niemanden zur vollständigen Streichung des Fahrlässigkeitsbegriffs, sondern allenfalls dazu veranlasst, dessen tradiertes Verständnis kritisch zu hinterfragen.30 Wenn also der mentale Zustand zum Tatzeitpunkt überhaupt unrechtsrelevant sein soll, dann müssen die tatrichterlichen Feststellungen auch darauf abzielen, diesen „festzustellen“. Der Rückgriff auf „Indizien“ ist dabei keine Besonderheit bei den „inneren Tatsachen“, denn auch die Feststellung etwa der Erfolgskausalität, der Sachqualität des Diebstahlsobjekts oder des tatbestandlich relevanten Status des Opfers als „lebender Mensch“ kann erkenntnistheoretisch niemals unmittelbar-direkt, sondern stets nur auf Basis von (auf Erfahrungen beruhenden) Schlussfolgerungen aus dem Gegebensein von Fakten31 (die selbstredend ihre strafrechtliche Relevanz wiederum durch die gesetzesbegriffliche Inbezugnahme erlangen) erfolgen. Träfe allerdings die Annahme Ingeborg Puppes zu, dass der Richter „das, was er sucht, […] in diesem Kopf im Moment der Tatausführung gar nicht finden würde“32, liefe eine dennoch vorgenommene Zuschreibung von Tatvorsatz nach Maßgabe eines normativ begründeten „Vernünftigkeits“-33 bzw. „Normalitäts“34-Maßstab auf einen Selbstwiderspruch oder jedenfalls auf eine falsche Äquivokation35 hinaus: Denn was immer da zugeschrieben wird – eine reale täterindividuelle Tatbeziehung ist es jedenfalls nicht, was die Verwendung des Vorsatzbegriffes somit zu einer irreführenden werden lässt. In einem aktuellen Beitrag zum Begriff und Beweis des dolus eventualis spricht 28
Hörnle, JZ 2019, 440 (442 f.). Dazu eingehend die zahlreichen Beiträge in Heft 2/2019 der „Rechtswissenschaft“ (jew. m.w.N.). 30 Hörnle scheint dagegen – was inkonsequent wäre – tendenziell der tradierten Lehre von der „objektiven Sorgfaltspflichtverletzung“ nach Maßgabe generalisierter Verhaltensstandards zuzuneigen, siehe dies., JZ 2019, 440 (446 m. Fn. 60). 31 Zutreffend betont von Momsen, KriPoz 2018, 76 (86): Überspringen ist ein „methodischer Fehler“. 32 Puppe, ZIS 2014, 66 (68) und ZIS 2019, 409 [411); insoweit zust. Leitmeier, HRRS 2016, 243 (244 f.). 33 Puppe, ZIS 2017, 441 (442): „Ist eine Gefährdung anderer so groß, anschaulich und unbeherrschbar, dass ein vernünftiger Mensch sie nicht eingehen könnte, wenn er den Erfolg nicht will, so muss sich der Täter, der die Gefahr gleichwohl eingeht, so behandeln lassen, als hätte er den Erfolg gewollt“. 34 Puppe, ZIS 2014, 66 (68); berechtigte Kritik bei Fischer, ZIS 2014, 97 (100 f.). 35 Grdl. William of Sherwood, Introductiones in Logicam, Neuausgabe 1995 (Hrsg.: Brands/Kann), S. 171 ff. 29
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Puppe hingegen – richtigerweise – von der Feststellungsbedürftigkeit einer (vom individuellen Täter verfolgten) „Handlungsmaxime“36 : In der Tat kann es beim Vorsatz nicht um die äußerliche Missachtung von „Risikomaximen der Rechtsordnung“37, sondern allein darum gehen, ob der Täter „die ihm durch die eigene Vernunft gesetzte Grenze nicht-übergehbarer Gefahr“ überschritten hat.38 In der Diktion der modernen Entscheidungstheorie (in ihrer Fassung durch Kahneman/Tversky39): Das Handeln des Täters muss sich nach Maßgabe seines höchstpersönlichen Wahrscheinlichkeitskalküls und seiner Akzeptabilitätsannahmen (auf Basis unterstellter Rechtstreue) als (evident) „inkonsistent“ darstellen, weil von ihm kraft seiner eigenen Vernunftbegabung zu erwarten gewesen wäre, dass er bei einem derart signifikanten „Überschreiten der individuellen Risikoakzeptanzschwelle“40 von seinem Vorhaben Abstand genommen bzw. innegehalten hätte. Leitgedanke dieses Vorsatzverständnisses ist eine täterindividuelle Posteriorisierung des rechtsgutsspezifischen Vermeidegebots zugunsten der egoistischen „Planverwirklichung“, so dass sich im „Lieber-Wollen-als“41 bzw. „Trotzdem-Wollen“42 eine indirekte Entscheidung gegen das auf diese Weise lebenspraktisch für „unbeachtlich“43 erklärte Integritätsinteresse ausmachen lässt. Dass dieses (implizit) rechtsfeindliche Votum des Täters die Unrechts- und Schuldschwere der Tat im Verhältnis zu jenem, der sich mit seinem riskanten Verhalten noch innerhalb des Rahmens rechtsgutserhaltender „Machbarkeit“ wähnt, wesentlich erhöht und damit eine kategorial höhere Strafe rechtfertigt, wird von Hörnle freilich bezweifelt: Für sie relativiert sich der Abstand zu jenem Täter, der keine „tadelnswerte Interessenabwägung“ vornimmt und dennoch in realitätsfremdem Optimismus und sorgloser Selbstüberschätzung rechtlich geschützte Belange verletzt, weil auch damit „nicht notwendigerweise eine respekt- und rücksichtsvollere Einstellung gegenüber Mitmenschen verbunden ist“: In beiden Fällen liege der Kern des moralischen wie rechtlichen Unrechts „in der Rücksichtslosigkeit des im Wissen um die hochgradige Sorgfaltswidrigkeit“ betätigten Verhaltens.44 Die Modi solcher „Rücksichtslosigkeit“ können aber sehr heterogen sein, werden in Moral und Recht durchaus auch sehr verschieden gewichtet (deliktische Absicht vs. Augenblicksversagen) und in der Bevölkerung wesentlich unterschiedlich bewertet (von mangelnder Empathie im Alltag 36
Puppe, ZIS 2019, 409 (411). Philipps, ZStW 85 (1973), 27 (38 f.). 38 E.A. Wolff, in: Lackner/Leferenz/Schmidt/Welp/Wolff (Hrsg.), Gallas-FS, 1973, S. 197 (222). 39 Sog. „Prospect Theory“, siehe Kahneman/Tversky, Econometrica 47 (1979), 263 ff. 40 Duttge, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius (Hrsg.), Handbuch des Strafrechts, Bd. 2, 2019, § 35 Rn. 31. 41 Bung, Wissen und Wollen im Strafrecht, 2009, S. 184, 269: sog. „komparatives Wollen“. 42 Schröder, in: Sauer-FS, 1949, S. 207 (217). 43 Schröder (Fn. 42), S. 220. 44 Hörnle, JZ 2019, 440 (444): „von beiden gleichermaßen objektiv [!] verwirklichte Unrecht“. 37
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über die gezielte Nötigung im Straßenverkehr bis zum Auftragsmord), sofern damit überhaupt eine spezifische Form von persönlicher Einstellung des Täters zu seinem Tun jenseits des bloß objektiven Datums einer mangelnden Sorge45 um die Belange der potentiell Gefährdeten (vgl. § 1 Abs. 2 StVO) gemeint sein sollte. Soweit das nicht der Fall ist, läuft die Positionierung Hörnles hingegen auf eine radikale Entsubjektivierung und damit zugleich Nivellierung des Unrechtsurteils hinaus, das die spezifisch menschliche Potentialität zur zweckgerichteten Gestaltung der sozialen Welten46 ignoriert und an die Stelle des (grundsätzlich) autonomie- und verantwortungsfähigen Individuums ganz im Sinne des modernen „Zeitgeistes“47 den „rücksichtslosen Hochrisikoapparaten“ aus „objektiver Beurteilerperspektive“ setzt.48
III. Begriff der „recklessness“ Eine dahingehende „Normativierung“49 der nur noch nominell „subjektiven Tatseite“ allein nach Maßgabe der ex post festgestellten objektiven Gefährlichkeit wäre genau dasjenige, was sich die Kritiker des tradierten Vorsatzverständnisses offenbar wünschen, damit die rechtliche Zuschreibung nicht mehr von einer „forensischen Exploration der Täterpersönlichkeit“50 und den „Windungen des individuellen Gehirns“51 abhängt. Die Rechtsfigur der „recklessness“ scheint sich hierfür besonders zu eignen, weil sie in deutlicher Nähe zur „Leichtfertigkeit“ gesehen wird, die ihrerseits – nach gängiger Auffassung – ein gesteigertes Maß an „objektiver Sorgfaltspflichtwidrigkeit“ in Abhängigkeit vom „besonders gefährlichen Verhalten“ des Täters bzw. der ihm rein objektiv zurechenbaren Schaffung einer „sehr erheblichen [no45 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, 1922, S. 123: „Wie dem Besorgen als Weise des Entdeckens des Zuhandenen die Umsicht zugehört, so ist die Fürsorge geleitet durch die Rücksicht und Nachsicht. Beide können […] die entsprechenden defizienten und indifferenten Modi durchlaufen bis zur Rücksichtslosigkeit …“. 46 Etwa Stuckenberg, Vorstudien zu Vorsatz und Irrtum im Völkerstrafrecht. Versuch einer Elementarlehre für eine übernationale Vorsatzdogmatik, 2007, S. 408: „Leitbild der actio humana“; s.a. Jakobs, Rechtswissenschaft 2010, 283 (285): „Kenntnis allein führt nicht zu einer Gestaltung der Welt“. 47 Hörnle, JZ 2019, 440 (447): „zeitangemessenes Verständnis von Recht und Staat“. 48 Im Lichte von Art. 1 I GG wirkt es reichlich blass, wenn Hörnle die naheliegende Kritik hieran mittels des Schuldprinzips durch Verweis auf eine Art verfassungsrechtlichen restraint zurückweisen will (JZ 2019, 440 [447]: „Überkonstitutionalisierung“); dagegen zählten in Sieber/Abanto Vásquez (Hrsg.), Tiedemann-FS, 2008, S. 325 ff. zum Schuldprinzip noch sämtliche erforderliche „Kategorien, […] um nur solche Vorfälle zu erfassen, die in einer dem Prinzip ,Kontrolle durch den Täter‘ Rechnung tragenden Weise diesem persönlich zugerechnet werden können“ (340: „der schädliche Kausalverlauf muss für ihn [!] zumindest vorhersehbar gewesen sein …“). 49 Zu den Grenzen einer solchen Normativierung bereits Roxin, in: Rogall (Hrsg.), Rudolphi-FS, 2004, S. 243 ff. 50 Herzberg, JZ 1988, 635 (637). 51 Kubiciel/Hoven, NStZ 2017, 439 (440) unter Verweis auf T. Walter, NJW 2017, 1350.
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tabene: rechtlich missbilligten] Gefahr“ zum Inhalt hat.52 Auf ein entsprechendes Risikobewusstsein beim individuellen Täter kommt es dabei nicht an, weil dies ansonsten den „rücksichtslosen“ Täter, der seine Wünsche in „solipsistischer Bedenkenund Gedankenlosigkeit“53 verfolgt, unberechtigt bevorzugen würde. Diese „Rücksichtslosigkeit“ ist also keine das Tatunrecht ergänzende bzw. überschießende „tadelnswerte Gesinnung“ (etwa im Sinne einer besonderen „Eigensüchtigkeit“ wie im Kontext des zu § 315c StGB etablierten Begriffsverständnisses)54, sondern ergibt sich nahtlos bereits aus der objektiven Qualität eines „wesentlich gesteigerten Unrechts“ der Tatbegehung.55 Hieran anknüpfend schlägt Hörnle daher vor, die „massive [objektive] Sorgfaltswidrigkeit“ und dadurch bewirkte Risikoschaffung genügen zu lassen, ohne zusätzlich (für den Regelfall) ein dahingehendes Risikobewusstsein beim individuellen Täter zu verlangen. Denn nur so sei es möglich, „die Erkenntnisprobleme zu vermindern, die bei Versuchen der retrospektiven Feststellung psychischer Zustände in den Strafverfahren entstehen“56. Die im englischen und US-amerikanischen Strafrecht bekannte Rechtsfigur der recklessness trägt diesen Reformvorschlag freilich nicht: Denn sie wird üblicherweise – Hörnle rekurriert zutreffend auf Section 2.02 (2) c) des amerikanischen Model Penal Code57 – im Sinne eines bewussten Ingangsetzens ungerechtfertigter (erheblicher) Risiken verstanden. Desgleichen hat der englische Court of Appeal im Cunningham-Fall58 das wissentliche Eingehen („knowing“) des (erhöhten) Risikos durch den individuellen Täter verlangt und es nicht genügen lassen, dass dieser sich der Risikoträchtigkeit seines Handelns bei genauerem Bedenken wenigstens hätte bewusst werden können. In der Strafrechtsliteratur ist insoweit auch von „subjective recklessness“ oder „advertent recklessness“ die Rede,59 in der deutschen Re-
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Vgl. Roxin, Strafrecht AT/1 (Fn. 3), § 24 Rn. 88 f.; Volk, GA 1976, 161 (178 f.). NK-Paeffgen, Strafgesetzbuch, 5. Aufl. 2017, § 18 Rn. 50. 54 So aber z. B. Maurach, in: Lüttger/Blei/Hanau (Hrsg.), Heinitz-FS, 1972, S. 414 (417). 55 Siehe BT-Drs. IV/650, S. 132 zu § 18 Abs. 3 E 1962: „wesentlich gesteigerte Fahrlässigkeit“. 56 Hörnle, JZ 2019, 440 (446 f.) – ausgenommen seien jedoch solche Fälle, in denen ausnahmsweise „ein kognitives Defizit das Entstehen von Risikobewusstsein verhindert hat“ (447). 57 Im Original: „A person acts recklessly with respect to a material element of an offense when he consciously disregards a substantial and unjustifiable risk that the material element exists or will result from his conduct“, siehe https://archive.org/stream/ModelPenalCode_ALI/ MPC%20full%20%28504%20pages%29_djvu.txt; dazu auch Weik, Objektive und subjektive Verbrechenselemente im US-amerikanischen Strafrecht, 2004, S. 98 ff. 58 R. v. Cunningham [1957] 2 All E.R. 412. 59 Näher Safferling, Vorsatz und Schuld, 2008, S. 362 unter Verweis auf Ashworth (Principles of Criminal Law, 4. Aufl. 2003) und Lacey/Wells/Quick (Reconstruction Criminal Law, 3. Aufl. 2003). 53
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zeption zumeist gleichgesetzt mit der bewussten (groben) Fahrlässigkeit.60 Gewiss hat das House of Lords in der Rechtssache Caldwell im Kontext des Criminal Damage Acts 1971 wie im Rechtsfall Lawrence für das „reckless driving“ auch schon das (objektiv) unvorsichtige, unaufmerksame oder kopflose Eingehen von (offensichtlichen) Risiken genügen lassen;61 in der Rechtssache Reid zieht Lord Goff of Chievely sogar ausdrücklich eine Bedeutungsäquivalenz mit dem Leichtfertigkeitsbegriff des deutschen Strafrechts in Erwägung:62 Auf „gross negligence“ hob ebenfalls der Entscheid im Adomako-Fall63 ab – freilich zur Begründung einer fahrlässigen Tötung64 – und wies darin zugleich die Caldwell/Lawrence-Grundsätze dezidiert zurück, die auch in der Strafrechtsliteratur als „piece of opportunistic law making“65 eher auf Ablehnung getroffen sind. Safferling resümiert daher in seiner konzisen Analyse, dass von den beiden divergierenden Verstehensweisen von „recklessness“ der Caldwell-Test an Bedeutung weithin verloren hat und vielmehr der – subjektivierende – Cunningham-Test der maßgebliche sein dürfte.66 Vor diesem Hintergrund verdient die Klarstellung Weigends nachdrückliche Beachtung, dass die entstehungsgeschichtlich bedingte Zuordnung der recklessness zur Fahrlässigkeit („risk-creation“) nicht deren begriffliche Nähe zum Vorsatz (auf niedrigster Stufe) verdecken kann: „Recklessness wird also [scil.: von den US-amerikanischen Gerichten] erst dann bejaht, wenn der Täter über die allgemeine Gefährlichkeit seiner Handlungsweise hinaus die besonderen risikoerhöhenden Umstände kennt, die sich letztlich im Erfolgseintritt niederschlagen“67. Demzufolge soll seiner Auffassung nach das „bewusste Eingehen eines unerlaubten Risikos, das Aufsichnehmen der konkreten Gefahr für das rechtlich geschützte Handlungsobjekt, in anderen Worten: der Gefährdungsvorsatz, […] das besondere Kennzeichen“ dieses dritten Modus der subjektiven Beziehung des Täters zur Tat „zwischen“ Vorsatz 60 Z. B. Grünhut, in: Mezger/Schönke/Jescheck (Hrsg.), Das ausländische Strafrecht in der Gegenwart, 1959, S. 133 (195); Watzek, Rechtfertigung und Entschuldigung im englischen Strafrecht, 1997, S. 46. 61 R. v. Caldwell [1981] 1 All E.R. 961 (auch veröffentlicht in: The Journal of Criminal Law, Vol. 45, 1981, 152 ff.) und R. v. Lawrence [1981] 1 All E.R. 974 (The Journal of Criminal Law, Vol. 48, 1984, 155 f.). 62 [1992] 95 CR. App. R. 63 [1994] 3 All E.R. 79, dazu auch Lai, The Journal of Criminal Law, Vol. 58, 1994, 303. 64 Im Kontext des Fahrlässigkeitsdelikts auch schon Schlüchter, Grenzen strafbarer Fahrlässigkeit, 1996, S. 71 f. 65 Norrie, Crime, Reason and History. A Critical Introduction to Criminal Law, 2. Aufl. 2001, S. 63. 66 Safferling (Fn. 59), S. 366 f.: „,Conscious and unreasonable risk-taking‘ scheint die Quintessenz der recklessness zu sein“; ebenso Forster, in: Sieber/Cornils (Hrsg.), Nationales Strafrecht in rechtsvergleichender Darstellung, Teilbd. 3, 2008, S. 662 (665 f.) unter Verweis auf R. v. G. and Another [2004] 1 AC 1034. 67 Weigend, ZStW 93 (1981), 657 (685), s.a. ebd.: „Sie [die Gerichte] nehmen die hohen Anforderungen an das Risikowissen des Täters […] ernst und schließen nicht etwa ohne Weiteres von der – nachträglich leicht feststellbaren – objektiven Gefährlichkeit eines Verhaltens auf die recklessness des Täters“ (687).
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und Fahrlässigkeit darstellen.68 Diese Innovation hätte allerdings in kriminalpolitischer wie deliktssystematischer Hinsicht eine fragwürdige Folge: Entweder käme es dadurch zur umfänglichen Hochstufung bislang allein im Ordnungswidrigkeitenbereich angesiedelter (vorsätzlicher) Verletzungen von abstrakten Gefährdungsverboten (Überholverbot, Geschwindigkeitsbeschränkung u.a.m.), oder aber die neue Kategorie ersetzt cum grano salis (mit höherer Bestrafung!) die bisherige der bewussten Fahrlässigkeit. Weigend hat sich unter Betonung der Konkretheit der Gefahr für die letztere Option entschieden,69 was im Verhältnis zur unbewussten Fahrlässigkeit eine klare Grenzlinie verheißt. Allerdings kann die darin zugleich enthaltene Behauptung einer generell höheren Strafwürdigkeit der bewussten gegenüber der unbewussten Fahrlässigkeit nicht überzeugen;70 eine solche Annahme hätte auch in der großen Mehrzahl der anderen Rechtsordnungen71 keinerlei Vorbild, die – soweit sie überhaupt eine Legaldefinition zum Fahrlässigkeitsbegriff vorsehen – vielmehr in aller Regel beide Formen gleichrangig benennen72 – und dies mit Recht: Denn es kann doch die Ignoranz des seine Umgebung bewusst ausblendenden Egoisten im konkreten Einzelfall sehr wohl schwerer wiegen als die situative Nachlässigkeit oder Selbstüberschätzung desjenigen, der das konkrete Risiko seines Handelns durchaus wahrgenommen hat. Soweit Weigend jedoch den subjektiven (Irr-)Glauben des Täters an die Beherrschbarkeit der Gefahr wiederum ausklammern will (weil es hier an einer „konkreten“ Gefahr fehle)73, hängt die Zuordnung zur Leichtfertigkeits- oder aber Fahrlässigkeitskategorie letztlich wiederum an „Nuancen der inneren Einstellung“74, von denen sich die strafrechtliche Beurteilung doch im Ausgangspunkt gerade unabhängig machen wollte. Davon abgesehen muss dem Vorschlag ein grundlegendes deliktssystematisches Bedenken entgegengehalten werden: Die subjektive Tatseite hat unhintergehbar eine spezifische Beteiligung des individuellen Täters an dem ihm objektiv zurechenbaren Tatunrecht zum Gegenstand, die es erlaubt, ihn überhaupt als „Täter“, d. h. als (rechtlich verantwortungsfähiges) Subjekt gerade dieser 68
Weigend, ZStW 93 (1981), 657 (690). Vgl. Weigend (ebd.), 693 f. – in Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, § 54 II 1 wird für die bewusste Fahrlässigkeit gleichermaßen verlangt, dass der Täter „das Vorliegen der konkreten Gefahr für das geschützte Handlungsobjekt“ erkennt. Vertiefend zur Gleichsetzung von bewussten Fahrlässigkeit und Gefährdungsvorsatz: Engisch (Fn. 6), S. 400 ff. 70 Z. B. Gössel, in: Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilbd. 2, 8. Aufl. 2014, § 42 Rn. 58. 71 Näher LK-Vogel/Bülte, StGB, 13. Aufl. 2020, Bd. 1, Vor §§ 15 ff. Rn. 76 ff.; MüKoStGB-Duttge, § 15 Rn. 60 ff.; zur Fahrlässigkeit im estnischen Strafrecht: Sootak, Juridica International 2003, 73 ff. 72 Eine Ausnahme bildet Art. 22 Abs. 3 türkStGB, der bei Voraussicht des tatbestandlichen Erfolges pauschal eine Strafrahmenerhöhung „um ein Drittel bis um die Hälfte“ vorsieht, s. dazu auch Özbek/Og˘ lakciog˘ lu, ZIS 2019, 330 ff. 73 Vgl. Weigend, ZStW 93 (1981), 657 (695). 74 Was Weigend durchaus einräumt (ebd.). 69
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Unrechtstat, klassifizieren zu dürfen.75 Bei Erfolgsdelikten erfordert das nach Maßgabe des „Korrespondenzprinzips“ (von subjektiver und objektiver Tatseite)76 denknotwendig eine personale Zuschreibung auch des Taterfolges und nicht bloß einer – gewollten/bewussten – Gefahrherbeiführung. Denn das geltende Strafrecht unterscheidet dezidiert zwischen tatbestandlichem Erfolg und einer diesem vorgelagerten (konkreten) Gefährdung (vgl. §§ 315a, c, d Abs. 2 StGB). Zweifelsohne liegt der tatbestandsmäßige Erfolg zum Tatzeitpunkt (§ 8 StGB) noch in der Zukunft und kann deshalb vom handelnden Täter somit nicht als bereits feststehendes Datum „gewusst“ oder „vorausgesehen“ werden. Dennoch muss sich die subjektive Tatbeziehung auf die gesamte Tat, d. h. bei Verletzungstatbeständen eben auch auf die Verletzung des Handlungsobjekts, und nicht bloß auf ihr (nahes) Vorfeld beziehen, sonst fehlt es in Wahrheit an einer solchen. Sofern man für einen „Gefährdungsvorsatz“ bereits das Risikowissen genügen lassen will, deckt sich dieser cum grano salis mit einem versuchsbegründenden Tatentschluss – jetzt aber als allgemeine Kategorie für sämtliche Tatbestände (mit Leichtfertigkeitsstrafbarkeit), ohne dass der Gesetzgeber die jeweiligen deliktsspezifischen Gefährdungstatbestände noch eigens zu konkretisieren und für die Rechtsgemeinschaft transparent zu machen hätte. Wenn in der Folge hieran anknüpfend – wie von Weigend erwogen – auch noch eine (aus Sicht des betroffenen Rechtsgutsobjekts: weitere) Versuchsstrafbarkeit im Sinne der „versuchten leichtfertigen Straftat“ ermöglicht werden sollte,77 wäre de facto ein allgemeines abstraktes Gefährdungsdelikt die Folge, die vom verfassungsrechtlichen ultima-ratio-Gebot zugunsten der menschlichen Handlungsspielräume in einer „Risikogesellschaft“ nicht mehr allzu viel übrig ließe.
IV. Zur „einfachen“ Fahrlässigkeit Das größte Manko des Reformvorschlages liegt jedoch darin, dass die Rückwirkungen für das „einfache“ Fahrlässigkeitsdelikt (nach Weigend: die unbewusste Fahrlässigkeit) bislang nicht hinterfragt werden. Dies ist schon deshalb wenig verständlich, weil der dezidierte Verweis auf die „recklessness“ des Common Law solches nahelegte: Denn die dortige Auseinandersetzung zwischen „Subjektivisten“ und „Objektivisten“ gewinnt ihre besondere Brisanz erst vor dem Hintergrund, dass damit für den Regelfall (im Kernstrafrecht) – vorbehaltlich abweichender statutory offences – nicht etwa allein die „richtige“ Bemessung der mens rea, sondern die Untergrenze der Strafbarkeit überhaupt in Frage steht. Insbesondere für die im hiesigen Kontext interessierende fahrlässige Tötung genügt nämlich die „normale“ Fahrlässigkeit (ordinary negligence) gerade nicht.78 Selbst für diese verlangt der von 75 Z. B. Kindhäuser, in: Byrd/Joerden (Hrsg.), Hruschka-FS, JRE 13 (2005), S. 527 ff.; rechtsphilosophisch M. Köhler, in: Weigend/Küpper (Hrsg.), Hirsch-FS, 1999, S. 65 ff. 76 Näher Duttge, in: Giezek/Kardas (Fn. 9), S. 70 (76 f.). 77 In diesem Sinne die „Zukunftsspekulation“ von Weigend, ZStW 93 (1981), 657 (699). 78 Siehe z. B. Forster (Fn. 66), S. 672; Weik (Fn. 57), S. 115.
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Hörnle in Bezug genommene Model Penal Code79 bemerkenswerterweise eine grobe Abweichung von den allgemeinen Sorgfaltsanforderungen („a gross deviation from the standard of care that a reasonable person would observe in the actor’s situation“), auch in deutlicher Distanz von den zivilrechtlichen Haftungsanforderungen,80 was in der deutschen Debatte um die Grenzen strafbarer Fahrlässigkeit teilweise die Forderung nach dahingehender Entkriminalisierung wesentlich bestärkte.81 Wenn Strafrechtsvergleichung heute verlangt, jenseits des punktuellen Ausschnitts aus der fremdländischen Rechtsordnung auch deren normative Strukturen im Ganzen in den Blick zu nehmen,82 so kann eine solche Divergenz im Grundverständnis und in der normativen Rahmung der subjektiven Tatseite nicht belanglos sein. Das gilt umso mehr, als die neueren dogmatischen und kriminologischen Erkenntnisse im Bereich des Fahrlässigkeitsdelikts83 ohnehin mehr und mehr Distanz nahelegen von der tradierten Lehre, die den Unrechtskern in einer „objektiven Sorgfaltspflichtverletzung“ zu finden glaubt. Diese bildet aber offenbar auch die stillschweigende Basis von Hörnles Reformvorschlag, wenn hier die „Erkennbarkeit des Risikos“ nur in jenen Konstellationen als fahrlässigkeitsbegründend anerkannt werden soll, in denen es „… keine standardisierte Verhaltensvorschrift gab, die die unmittelbare Gefährdung anderer verhindern will“84. Gewiss mögen sich zahlreiche „konkrete Sondernormen“ (im Straßenverkehr und auf anderen Gebieten) als das „Ergebnis einer auf Erfahrung und Überlegung beruhenden umfassenden Voraussicht möglicher Gefahren“85 erweisen; sie machen daher einen evtl. Schadensverlauf aus objektiver Perspektive erwartbar und begründen im Falle eines Schadenseintritts dessen generelle Voraussehbarkeit.86 Diese kennzeichnet jedoch lediglich die allgemeinen Grenzen des (rechtlich) „erlaubten Risikos“, relevant für jedwedes tatbestandsmäßige Unrecht (auch einer Vorsatztat), und besagen nichts darüber, ob auch der individuell Handelnde mit diesem schadensträchtigen Verlauf auch und gerade in seiner konkreten Situation rechnen musste. Mit anderen Worten erübrigt das Vorhandensein standardisierter Verhaltensregelungen nicht – auch nicht in Teilbereichen – die Notwendigkeit zur Feststellung einer konkret-tatsituativen „Sorgfaltspflichtverletzung“, die sich aus nichts anderem als der individuellen Erkennbarkeit jener auch tatsächlich 79
Oben Fn. 57. Dazu näher Weik (Fn. 57), S. 103 m.w.N. in Fn. 75. 81 Insbesondere Schlüchter (Fn. 64), S. 66 ff., 93: „serious and obvious risk“. 82 Dazu wie zu weiteren methodischen Anforderungen statt vieler nur Sieber, Strafrechtsvergleichung im Wandel …, in: ders./Albrecht (Hrsg.), Strafrecht und Kriminologie unter einem Dach, 2006, S. 78 (111 ff.). 83 Zuletzt eingehend die Beiträge anlässlich der 38. (Hannoveraner) Strafrechtslehrertagung im Mai 2019, abgedruckt in ZStW 4/2019. 84 Hörnle, JZ 2019, 440 (446); für eine „Engführung zwischen Sondernormenverstoß und Sorgfaltspflichtverletzung“ aus jüngerer Vergangenheit auch Kudlich, in: Dannecker (Hrsg.), Otto-FS, 2007, S. 373 ff. 85 BGHSt 4, 182 (185). 86 Z. B. Frisch (Fn. 2), S. 131 f. 80
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einschlägigen tatbestandsmäßigen Risikorealisierung ergeben kann.87 Gewiss dürften dabei die hierfür relevanten „Faktoren der Erkennbarkeit“ mitsamt ihrer methodisch-konzeptionellen Grundlegung noch nicht abschließend aufgeklärt sein;88 der rechtliche Rahmen dieser fahrlässigkeitsspezifischen Ausprägung der subjektiven Tatseite (d. h. der Bezug des individuellen Täters zu dem ihm zugeschriebenen objektiven Tatunrecht) wird selbstredend durch das erlaubte Risiko vorab begrenzt, doch ist das Überschreiten dieses Rahmens dem Fahrlässigkeitsdelikt generell als Unrechtstat vorgelagert und kein Bestandteil des Fahrlässigkeitsbegriffs.89 Für den hiesigen thematischen Kontext hat dies schon deshalb größte Relevanz, weil sich von einem konsistenten „dreigliedrigen System“90 nicht sprechen lässt, wenn schon der Sockel – von dem sich die recklessness doch entscheidend abheben soll – derart unsicher ist. Überdies kann ein objektivierendes Verständnis der „Mittelkategorie“ auch deshalb nicht als kohärenter Baustein des Gesamtsystems betrachtet werden, wenn man nicht nur für den dolus directus, sondern auch für die „einfache“ Fahrlässigkeit (gemäß der neueren Fahrlässigkeitslehre) die täterindividuelle (tatspezifische) Kognition für maßgeblich hält. Soweit sich diese schließlich in Bezug auf die unbewusste Fahrlässigkeit auf die bloße – anlassbedingte – Disposition des Täters beschränkt (d. h. im Nichtgebrauch der auch ihm eröffneten Vermeidemöglichkeit bei unterstellter Vermeidemotivation)91, ohne dass der individuelle Täter die anlassbegründende (tatbestandsspezifische) Risikodimension als solche wahrgenommen haben muss,92 steht auch hier ein – wenngleich natürlich rechtlich vorgeprägtes – psycho-situatives Momentum beim individuellen Täter in Frage. Weil dieses aber angesichts der menschlichen Kapazitätsgrenzen zur Erbringung von Aufmerksamkeit und insbesondere zur rechtzeitigen Gefahrenkognition93 leicht in eine täterferne Zuschreibung von (behaupteter) „Normalität“ oder gar des objektiv-rechtlich Erwarteten umschlagen kann, wird man an die „Triftigkeit“ des Anlas87
Zahlreiche Nachweise in MüKo-StGB-Duttge, § 15 Rn. 100, 112 f. Hierzu wie insbesondere zur Notwendigkeit einer „konditionalen Hypothese“ eingehend Burkhardt, in: Kindhäuser/Kreß/Pawlik/Stuckenberg (Hrsg.), Strafrecht und Gesellschaft. Ein kritischer Kommentar zum Werk von Günther Jakobs, 2019, S. 441 ff. 89 Wie hier insbes. bereits Burkhardt, in: Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat, Strafzumessung und Strafprozeß im gesamten Strafrechtssystem, 1996, S. 99 (106); Frisch (ebd.), S. 135 (173): „logisch zwingend“; grundsätzlich eingeräumt auch von Beck (in: Hilgendorf/Kudlich/ Valerius [Fn. 40], § 36 Rn. 102 Fn. 325 [wonach „eine Sondernorm, die ausschließlich das Maß des zulässigen Risikos festlegt, nichts über die Verwerflichkeit des Eingehens des Risikos besagen“ könne]), allerdings ohne daraus die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. 90 Hörnle, JZ 2019, 440 (445). 91 Jakobs, Rechtswissenschaft 2010, 283 (307 f.). 92 Wie hier z. B. LK-Vogel/Bülte, § 15 Rn. 263; Roxin, in: Dornseifer u.A. (Hrsg.), Armin Kaufmann-GS, 1989, S. 237 (249 f.); Weigend, in: Dölling/Erb (Hrsg.), Gössel-FS, 2002, S. 129 (135); a.A. Burkhardt, in: Kindhäuser/Kreß/Pawlik/Stuckenberg (Fn. 88), S. 441 (460); noch enger Struensee, JZ 1987, 53 (60). 93 Dazu näher Duttge, Zur Bestimmtheit des Handlungsunwerts von Fahrlässigkeitsdelikten, 2001, S. 401 ff. 88
Recklessness statt dolus eventualis?
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ses (aufgrund „konkreter/besonderer Anhaltspunkte“)94 substantielle Anforderungen stellen müssen. Ob auf dieser Grundlage dann aber noch ein wesentlicher Abstand zur Denkfigur der „recklessness“ bestünde, wenn sich diese generalisierend in der Missachtung eines „obvious and serious risk“95 erschöpfte, wäre erst noch zu erweisen.
V. Das eigentliche Reformanliegen Allem Anschein nach stellt sich das Unbehagen zur Abgrenzung von bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit – erinnert sei an das aktuelle Autoraser-Szenario – vor allem96 in Tötungsfällen ein; dann aber liegt die zielführende Abhilfe auf der Hand: Solange das positive Recht den Fahrlässigkeitsbereich in zwei Stufen unterteilt, lässt sich nichts Durchgreifendes einwenden, wenn zur Abmilderung des Strafrahmensprungs zwischen § 222 und §§ 212/211 StGB de lege ferenda eine – freilich deliktsspezifische – „Mittelkategorie“ der qualifizierten (leichtfertigen) fahrlässigen Tötung eingefügt würde.97 Der entscheidende Vorzug liegt nicht nur darin, dass diese Option je nach kriminalpolitischem Bedarf zielgerichtet auch in anderem deliktssystematischen Zusammenhang erwogen – oder eben verworfen – werden kann;98 mehr noch erübrigt sich damit eine grundlegende Systemverschiebung in (expliziter oder impliziter) Ausweitung des Vorsatzbegriffes und Entfernung von seinem eigentlichen Kerngehalt. Dieser Versuchung ist freilich auch das geltende Recht mit Blick auf den dolus eventualis ausgesetzt; daher erscheint es bedenkenswert, ob für diesen nicht generell – im Allgemeinen Teil – eine Strafmilderung vorgesehen werden sollte. Tonio Walter hat mit einiger Berechtigung die vom geltenden Recht erzwungene Gleichstellung des „gewissensschweren Bedenkenträgers“ (der dennoch handelt) mit dem skrupellosen Absichtstäter beanstandet;99 auch dies ist allerdings keines-
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Zu den im Einzelnen divergierenden Formulierungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung siehe die Nachweise bei MüKo-StGB-Duttge, § 15 Rn. 122. 95 R. v. Lawrence [1981] 1 All E.R. 974. – Dies gilt auch für die von Hörnle (JZ 2019, 440 [446]) in Anspruch genommene „massive Sorgfaltspflichtverletzung“, die im Übrigen erhebliche Deutungsspielräume eröffnet. Soweit in Abgrenzung zur (einfachen) Fahrlässigkeit auf deren „Erkennen“ abgestellt werden soll, löst dies – entgegen dem eigenen Anspruch (s. o. im Text) – die Feststellungsprobleme hinsichtlich des Mentalen nicht. 96 Zur Vorsatzproblematik in Vergewaltigungsfällen aber Hörnle, ZStW 112 (2000), 356 ff. 97 Hierfür bereits Freund, in: ders. (Hrsg.), Frisch-FS, 2013, S. 677 (694), allerdings auf „besondere Leichtfertigkeit“ begrenzt; Grünewald, JZ 2017, 1069 (1071 f.); Rostalski, GA 2017, 585 (596 ff.), allerdings um den „Versuch einer leichtfertigen Tötung“ erweitert. 98 Wie hier auch Gaede, ZStW 121 (2009), 239 (277 ff.). 99 T. Walter, Der Kern des Strafrechts, 2006, S. 193 ff., 441, 443 und KriPoz 2018, 39, 41; Grünewald, JZ 2017, 1069 (1071) sieht „die Kluft zwischen dolus directus und dolus eventualis wesentlich größer als die zwischen dolus eventualis und bewusster oder besonders grober Fahrlässigkeit“.
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wegs eine neue Idee100 und bedürfte zweifelsohne noch einer näheren, nicht zuletzt auch rechtsvergleichenden Analyse. Denn „am deutschen Strafrechtswesen [muss gewiss nicht] die Welt genesen“101. Aber jede durch Rechtsvergleichung befruchtete Innovation muss sich auch tatsächlich als die bessere erweisen und in die innerstaatliche Systematik integrieren lassen; nicht Harmonisierung um der bloßen Harmonisierung willen, sondern um der besten, wertebasierten Lösung willen muss das Leitziel sein. Dies dürfte der verehrte Jubilar, dem auf diesem Wege die allerherzlichsten Glückwünsche überreicht werden, sicherlich ebenso sehen.102 Ad multos annos!
100 Dazu bereits die – divergierenden – Stellungnahmen in den Beratungen der Großen Strafrechtskommission, vgl. Niederschriften (Fn. 12), einerseits S. 112 (befürwortend: Gallas), andererseits S. 117 (ablehnend Dreher unter Verweis auf die erste Franksche Formel). 101 Kudlich/Hoven, in: Rotsch (Hrsg.), Zehn Jahre ZIS – Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik, 2018, S. 165. 102 Zum „Wertebezug“ z. B. Sieber, ZStW 119 (2007), 1 (53 f.).
Mitwirkung von Führungspersonen an der Tat und individuelle Organisationsverantwortlichkeit Von Marc Engelhart Die Vorfälle in Unternehmen wie der Abgasskandal bei Volkswagen oder der Betrugsfall bei Wirecard werfen Fragen der Verantwortlichkeit der Unternehmen als solche, aber auch die der beteiligten Führungspersonen auf. Der Aspekt des seit über 100 Jahren umstrittenen Unternehmensstrafrechts ist seit den Bestechungsvorfällen bei Siemens, auch insbesondere hinsichtlich der Vermeidung von Rechtsverstößen durch Compliance-Maßnahmen, verstärkt in der Diskussion.1 Ulrich Sieber hat schon früh zentrale Fragen und insbesondere die neuere Entwicklung zum inzwischen allgegenwärtigen Thema der Criminal Compliance aufgegriffen und Impulse gesetzt.2 Mit dem im August 2019 publizierten Gesetzgebungsvorschlag für ein Verbandssanktionengesetz (VerSanG) steht nunmehr ein Vorschlag für eine umfassende Verbandssanktion, die auch Compliance-Aspekte miteinbezieht, im Raum.3 Während der Verband damit Gegenstand vielfältiger Überlegungen ist, steht die Frage einer Reform der Regelungen zur Verantwortlichkeit von Führungspersonen weit weniger im Fokus.4 Daher soll im Folgenden der Bogen von der Bedeutung von Füh1 S. nur den Vorschlag des Landes Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2013 für ein Verbandsstrafgesetzbuch (abrufbar unter: https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumenten archiv/Dokument/MMI16-127.pdf) sowie aus der Wissenschaft Frank Saliger/Michael Tsambikakis/Ole Mückenberger/Hans-Peter Huber (Hrsg.), Münchner Entwurf eines Verbandssanktionsgesetz, München 2019; Martin Henssler/Elisa Hoven/Michael Kubiciel/Thomas Weigend, Kölner Entwurf eines Verbandssanktionengesetzes, Köln 2017 sowie bereits Marc Engelhart, Sanktionierung von Unternehmen und Compliance, 2. Aufl., Berlin 2012, S. 720 ff. 2 Ulrich Sieber, Compliance-Programme im Unternehmensstrafrecht, in: Ulrich Sieber/ Gerhard Dannecker/Urs Kindhäuser/Joachim Vogel/Tonio Walter (Hrsg.), Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht. Dogmatik, Rechtsvergleich, Rechtstatsachen. Festschrift für Klaus Tiedemann zum 70. Geburtstag, Köln/München 2008, S. 461; s. auch bereits Ulrich Sieber, Transnational Enterprises and Criminal Law: A General Analysis and Recommendations for the Future, in: Klaus Tiedemann (Hrsg.), Multinationale Unternehmen und Strafrecht, Köln u. a. 1980, S. 155 sowie zudem Ulrich Sieber/Marc Engelhart, Compliance Programs for the Prevention of Economic Crimes – An Empirical Survey of German Companies, Berlin 2014. 3 Der Vorschlag liegt inzwischen als Regierungsentwurf vor, vgl. BR-Drs. 440/20. 4 Siehe allerdings Jens Bülte, Vorgesetztenverantwortlichkeit im Strafrecht, Baden-Baden 2015; Lutz Eidam, Der Organisationsgedanke im Strafrecht, 2015; Katharina Krämer, Individuelle und kollektive Zurechnung im Strafrecht, Tübingen 2015; Hernán Darío Orozco López, Beteiligung an organisatorischen Machtapparaten, Tübingen 2018; s. auch Gunhild Godenzi, Strafbare Beteiligung am kriminellen Kollektiv, Bern 2015 sowie Ioannis Morozinis,
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rungspersonen für die Deliktsverwirklichung (I.), über ihre Verantwortlichkeit de lege lata als Tatbeteiligte (II.) bis hin zu Ansätzen für eine Fortentwicklung de lege ferenda (III.) gespannt werden.
I. Führungsperson und Kollektiv Als Führungspersonen sind innerhalb einer arbeitsteilig gegliederten Organisation solche Personen einzustufen, die Weisungsbefugnisse und/oder Organisationsbefugnisse hinsichtlich der Festlegung von Kompetenzen und Ablaufstrukturen haben.5 In klassisch hierarchisch gegliederten Strukturen haben Führungspersonen zumeist eine Leitungsposition und sind ranghöher. Dies ist jedoch nicht zwingend. Gerade in dezentral organisierten Einheiten oder in solchen mit flachen Hierarchien („new work“) können diese Elemente auch fehlen oder von untergeordneter Bedeutung sein.6 Wesentlich ist dann v. a. die Befugnis zur konkreten (und wesentlichen) Beeinflussung im Einzelfall (Weisung) oder die zur Strukturierung der Arbeitsabläufe (des Workflows). Die Bedeutung, die Führungspersonen innerhalb des Kollektivs zukommt, liegt v. a. darin begründet, dass Organisationen im Regelfall eine eigene Einheit darstellen, die als System nur teiloffen gegenüber anderen Systemen (wie bspw. dem Rechtssystem) ist. Das hat zur Folge, dass sich organisationsspezifische Eigenheiten ausbilden. Hierbei spielen gruppendynamische Effekte eine wesentliche Rolle.7 Diese schlagen sich in einem spezifischen Unternehmensklima nieder, das einerseits durch die objektiven Rahmenbedingungen in der Organisation und andererseits durch die subjektiven Einstellungen und Wertungen der Unternehmensmitglieder geprägt ist. Dieses Unternehmensklima hat große Bedeutung für die Handlungen und Einstellungen der Organisationsmitglieder, aus rechtlicher Sicht hinsichtlich legaler bzw. illegaler Verhaltensweisen. Führungspersonen nehmen besonderen Einfluss auf dieses Unternehmensklima, bspw. durch persönliche Stellungnahmen und ihr Verhalten („tone from the top“). V. a. aber prägen sie durch strukturelle Vorgaben die Abläufe des Arbeitsalltags. Hier hat die Compliance-Entwicklung der letzten zwei Jahrzehnte gezeigt,
Dogmatik der Organisationsdelikte, Berlin 2010; Thomas Rotsch, Individuelle Haftung in Großunternehmen, Baden-Baden 1998. 5 Dazu bspw. Hans-Georg Soeffner, Individuelle Macht und Ohnmacht in formalen Organisationen, in: Knut Amelung (Hrsg.), Individuelle Verantwortung und Beteiligungsverhältnisse bei Straftaten in bürokratischen Organisationen des Staates, der Wirtschaft und der Gesellschaft, Sinzheim 2000, S. 13 ff. S. auch jew. mwN Engelhart (Fn. 1), S. 611 ff.; Krämer (Fn. 4), S. 268 ff. 6 Vgl. bspw. Dirk Holtbrügge, Neue Organisationsformen, Zeitschrift Führung und Organisation 2001, S. 338 ff. 7 S. m.w.N. Engelhart (Fn. 1) S. 611 ff.
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wie zentral die Schaffung von Strukturen ist, die auf ein rechtskonformes Verhalten ausgelegt sind.8
II. Verantwortlichkeitssystem de lege lata Aus straf- und ordnungswidrigkeitenrechtlicher Sicht ist jedoch die Tätigkeit und die Bedeutung der Führungsperson innerhalb der Organisation nur begrenzt erfassbar. In vielen Fällen wird die Führungsperson nicht oder nur bedingt aktiv unmittelbar an der konkreten Tat mitwirken. Vielmehr trägt sie zur Tatverwirklichung durch ein Anregen, allgemeines Fördern oder auch nur Zulassen krimineller Handlungen anderer Organisationsmitglieder bei. Dass die Führungsperson ggf. den wesentlichen Kontext erst schafft, der die Tat ermöglicht, spielt dabei rechtlich bislang kaum eine Rolle. 1. Beteiligungssystem im StGB und OWiG Das deutsche StGB hat sich nach einer wechselvollen geschichtlichen Entwicklung auf ein differenzierendes Beteiligungssystem festgelegt.9 Es unterscheidet nach §§ 25 f. StGB bei der Beteiligung an einer Tat zwischen Täterschaft und Teilnahme. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Formen liegt in der Art des Unrechts begründet: Täterschaftliches Unrecht stellt auf die Beherrschung einer eigenen Tat ab, während die Teilnahme die Verursachung oder Förderung einer fremden Tat behandelt. Die Unterscheidung innerhalb der Kategorien (unmittelbare Täterschaft, Mittäterschaft und mittelbare Täterschaft sowie Anstiftung und Beihilfe) erfolgt dabei primär nach Art und Umfang der Handlung. Ergänzt wird das differenzierende System des StGB durch das „Einheitstätersystem“ des § 14 OWiG. Allerdings handelt es sich hier nicht tatsächlich um ein originäres einheitliches Beteiligungssystem (wie bspw. in §§ 12 – 14 öStGB), sondern um ein verdecktes Mehrtypensystem, dessen Reichweite sich im Wesentlichen an der des StGB orientiert.10 Insoweit liegt hierin keine sachliche Erweiterung hinsichtlich der Erfassung von Tatbeiträgen von Führungspersonen. Neben dieser individuellen Verantwortlichkeit sieht das StGB nur sehr bedingt eine kollektive Verantwortlichkeit von Verbänden vor. Eine originär strafrechtliche 8 Vgl. nur die Beiträge in Josef Wieland/Roland Steinmeyer/Stephan Grüninger (Hrsg.), Handbuch Compliance-Management, 3. Aufl., Berlin 2020. 9 Vgl. zur geschichtlichen Entwicklung bspw. René Bloy, Die Beteiligungsform als Zurechnungstypus im Strafrecht, Berlin 1985, S. 46 ff. 10 Bloy (Fn. 9) S. 156; Thomas Rotsch, „Einheitstäterschaft“ statt Tatherrschaft, Tübingen 2009, S. 193 ff.; s. auch Marc Engelhart, in: Robert Esser/Markus Rübenstahl/Frank Saliger/ Michael Tsambikakis (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht. Kommentar, Köln 2017, § 14 OWiG Rn. 1 ff.
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kennt das StGB nicht, diese Lücke soll zukünftig das VerSanG füllen. Allerdings kann im Rahmen der §§ 73 ff. StGB mit der Möglichkeit der Dritteinziehung (die Organisation erlangt etwas durch die Tat) in zahlreichen Fällen eine spürbare, sanktionsähnliche Rechtsfolge gegen Verbände verhängt werden. Dies ist nach § 29a OWiG auch im Ordnungswidrigkeitenrecht möglich. Das OWiG kennt darüber hinaus mit § 30 OWiG die zentrale kollektive Sanktion, die unmittelbar gegen die Organisation verhängt werden kann, wenn eine Führungsperson eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit begeht. Ist diese Anknüpfungstat eine Aufsichtspflichtverletzung nach § 130 OWiG, so kann sogar eine Verantwortlichkeit der Organisation für Taten Untergebener (vermittelt über die aufsichtsrechtliche Verantwortlichkeit der Führungsperson nach § 130 OWiG) erreicht werden. Insoweit stellt diese Konstruktion der Aufsichtspflichtverletzung einen bedeutenden Ansatz der Verantwortlichkeit von Führungspersonen dar. 2. Allgemeine Beteiligungsregelungen Ausgehend von diesem differenzierten Beteiligungssystem stellt sich in Fällen der Begehung einer Straftat durch Unternehmensmitglieder die zentrale Frage, ob die Handlungen der Führungsperson, die in einem Bezug zu dieser Straftat stehen, auch für die Begründung eigenen täterschaftlichen Unrechts genügen. Diese Frage wurde in den letzten Jahrzehnten in Weiterentwicklung der klassischen Beteiligungsdogmatik immer wieder bejaht, vor allem im Rahmen der mittelbaren Täterschaft. a) Mittelbare Täterschaft Der derzeit in der Praxis wohl wichtigste Ansatz zur Erfassung von Führungspersonen, der auch international Beachtung gefunden hat,11 liegt in der Figur der mittelbaren Täterschaft in der Form des sog. „Schreibtischtäters“12 kraft Organisationsherrschaft. Diese 1963 von Roxin13 begründete und 1965 von Schroeder14 aufgenommene Variante der mittelbaren Täterschaft zielt auf Täter hinter dem unmittelbar handelnden Täter. Vier Voraussetzungen werden dabei als wesentlich für die 11 S. beispielsweise das peruanische Urteil im Fall Fujimori, dazu Günther Jakobs, Zur Täterschaft des Angeklagten Alberto Fujimori Fujimori, ZIS 2009, 572; Rolf D. Herzberg, Das Fujimori-Urteil: Zur Beteiligung des Befehlsgebers an den Verbrechen seines Machtapparates, ZIS 2009, 576; Thomas Rotsch, Von Eichmann bis Fujimori, ZIS 2009, 549; Claus Roxin, Bemerkungen zum Fujimori-Urteil des Obersten Gerichtshofs in Peru, ZIS 2009, 565. 12 Claus Roxin, in: Heinrich W. Laufhütte/Ruth Rissing-van Saan/Klaus Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch. Leipziger Kommentar, 12. Aufl., Berlin 2007, § 25 Rn. 128 ff. 13 Claus Roxin, Straftaten im Rahmen organisatorischer Machtapparate, GA 1963, 193 ff.; präzisiert in Roxin (Fn. 11) 565 ff.; Claus Roxin, Organisationssteuerung als Erscheinungsform mittelbarer Täterschaft, in: Knut Amelung/Hans-Ludwig Günther/Hans-Heiner Kühne, Festschrift für Volker Krey, Stuttgart 2010, S. 458 ff. sowie Claus Roxin, Zur neuesten Diskussion über die Organisationsherrschaft, GA 2012, 395 ff. 14 Friedrich-Christian Schroeder, Der Täter hinter dem Täter, Berlin 1965.
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Begründung der Organisationsherrschaft angesehen: (1) Anordnungsgewalt des Befehlsgeber in einem hierarchischen System, (2) die Rechtsgelöstheit des Machtapparats, (3) die Fungibilität des Ausführenden und (4) eine erhöhte Tatbereitschaft des Ausführenden.15 Die Rechtsprechung hat diesen Ansatz nicht nur übernommen, sondern auch ausgebaut. So wird eine mittelbare Täterschaft von Leitungspersonen in praktisch jeder Organisationsform (v. a. auch in Wirtschaftsunternehmen) trotz voller Strafbarkeit des unmittelbar Ausführenden angenommen, sofern die Leitungsperson bestimmte organisatorische Rahmenbedingungen zur Verwirklichung des Tatbestandes ausnutzt.16 Der BGH erkannte bereits in seiner Leitentscheidung aus dem Jahre 1994 zur Strafbarkeit ehemaliger DDR-Politikfunktionäre für den Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze (Mauerschützenfälle), und damit innerhalb einer zumindest als teilweise rechtsgelöst einzustufenden hierarchischen Struktur, nicht nur die mittelbare Täterschaft durch Organisationsherrschaft an, sondern hielt eine Übertragbarkeit der Rechtsfigur auf „jegliche staatliche, unternehmerische oder geschäftsähnliche Struktur“17 für möglich. Nachdem diese Erweiterung der mittelbaren Täterschaft im Mauerschützenfall keinen verfassungsrechtlichen Bedenken unterlag,18 stand die Tür für diesen Ansatz offen. Der BGH hielt in zahlreichen nachfolgenden Entscheidungen an der Rechtsprechung fest.19 Dabei verzichtete er allerdings im Wesentlichen auf das Kriterium der Fungibilität und betonte allein die vom Hintermann ausgeübten regelhaften Abläufe:20 Er bejahte die mittelbare Täterschaft von Gesellschaftern, die durch Schulungen ihren Handelsvertretern Rahmendaten (für Betrugshandlungen) vorgaben.21 Auch wendete er die Figur bei kleinen Einheiten wie einer Anwaltskanzlei22 oder einer Tierarztpraxis23 an. Eine Strafbarkeit soll ferner bei der Organisation betrügerischer Täuschungen von Kunden bestehen, die mit Hilfe von durch den Täter angeworbene 15
Der vierte Punkt soll nach Roxin (Fn. 13) GA 2012, 395 (412) allerdings kein eigenständiges Kriterium mehr sein. 16 Günther Heine/Bettina Weißer, in: Adolf Schönke/Christian Schröder, Strafgesetzbuch: Kommentar, 30. Aufl., München 2019, § 25 Rn. 26; zur Entwicklung siehe Francisco Muñoz Conde, Die mittelbare Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate als Instrument der juristischen Aufarbeitung der Vergangenheit, in: Mark A. Zöller/Hans Hilger/Wilfried Küper/ Claus Roxin (Hrsg.), Gesamte Strafrechtswissenschaft in internationaler Dimension: Festschrift für Jürgen Wolter, Berlin 2013, S. 1416 ff. 17 BGHSt 40, 218. 18 BVerfGE 95, 96 (137 ff.). 19 BGHSt 45, 270; BGH NStZ 2008, 89; NStZ 2004, 457 m. Bspr. Thomas Rotsch, Neues zur Organisationsherrschaft, NStZ 2005, 13; ausführlich zur gesamten Entwicklung der Rspr. Bülte (Fn. 4) S. 110 ff.; Rotsch (Fn. 10) S. 376 ff. 20 BGH NStZ 1998, 568. 21 BGHSt 48, 331. 22 BGH NStZ 2000, 596. 23 BGH NStZ 2004, 457.
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und instruierte bösgläubige Vermittler getäuscht wurden.24 Nach Auffassung der Rechtsprechung ist die Beherrschung der regelhaften Abläufe seitens des Individuums (und nicht die des Apparates) entscheidend für das Vorliegen tatherrschaftsbegründender Rahmenbedingungen. Ausschlaggebend sei danach, „ob und in welchem Umfange der Hintermann durch seine Tathandlungen einen auf die Begehung von Straftaten ausgerichteten Geschäftsbetrieb aufbaut bzw. aufrechterhält“.25 Die Abgrenzung zur Mittäterschaft erfolgt dadurch, dass ein deutlicher räumlicher, zeitlicher und hierarchischer Abstand zwischen Tatmittler und Hintermann verlangt wird.26 Der Ansatz des BGH hat sowohl in seiner Form der Anwendung auf Mauerschützen wie auch auf Wirtschaftsunternehmen umfangreiche Reaktionen hervorgerufen.27 So sieht beispielsweise Kuhlen die Annahme der mittelbaren Täterschaft, im Vergleich zu anderen nach geltendem Recht vertretbaren Lösungen wie z. B. der Anstiftung, der Mittäterschaft oder der unmittelbaren Täterschaft als durchaus vorzugswürdig an,28 denn es handele sich nicht um eine ad-hoc Konstruktion des BGH zur Erzielung erwünschter Ergebnisse im Bereich des Organisationshandelns, sondern sei durchaus mit den Grundlagen der mittelbaren Täterschaft vereinbar.29 Während diese Einschätzung für die Erfassung in den Mauerschützenfällen vielfach geteilt wird, ist die Kritik an der Erfassung von Wirtschaftsunternehmen jedoch deutlich stärker.30 In der Tat passt die Figur des Täters hinter dem Täter vielmehr zu bestehenden kriminogenen Strukturen, die sich als Ganzes zur Illegalität orientieren und bei denen der Einzelne klar Teil dieser Struktur ist. So sind kriminelle Einheiten wie Diktaturen oder auch Mafiaorganisationen als organisierte Machtapparate mit ihrer 24 BGH wistra 2013, 389 (hier nahm der BGH nicht unmittelbar Stellung, beanstandete aber die Rechtsauffassung der Vorinstanz, LG Kassel, Urt. v. 15. 6. 2012, 5610 Js 20174/08 – 3 KLs). 25 Vgl. bspw. BGH NJW 2004, 375 (378); BGH NStZ-RR 2004, 110; BGH Beschl. v. 9. 1. 2008 – 5 StR 572/07; BGH NStZ-RR 2015, 341. 26 BGH NStZ 2008, 89 (90). 27 S. bspw. Kai Ambos, Zur Organisation bei der Organisationsherrschaft, in: Manfred Heinrich et al. (Hrsg.), Strafrecht als scientia universalis. Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag am 15. Mai 2011, Berlin u. a. 2011, S. 837; Eidam (Fn. 4) S. 157 ff.; Krämer (Fn. 4) S. 272 f., 278 ff.; Morozinis (Fn. 4) S. 355 ff.; Leon Radde, Von Mauerschützen und Schreibtischtätern, Jura 2018, 1210; Andreas Ransiek, Unternehmensstrafrecht: Strafrecht, Verfassungsrecht, Regelungsalternativen, Heidelberg 1996, S. 46 ff.; Rotsch (Fn. 4) S. 368 ff.; Roxin (Fn. 12) GA 2012, 395. 28 Lothar Kuhlen, Die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme, insbesondere bei den sog. Betriebsbeauftragten, in: Amelung (Fn. 5) S. 71 (80). 29 Kuhlen (Fn. 28) S. 71 (82). 30 Hauke Brettel/Hendrik Schneider, Wirtschaftsstrafrecht, 2. Aufl., Baden-Baden 2018, § 2 Rn. 61; Erik Kraatz, Wirtschaftsstrafrecht, 2. Aufl. 2017, Rn. 66; Claus Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 10. Aufl. 2019, S. 853 ff.; Imme Roxin, Täterschaft und Teilnahme in einem Wirtschaftsunternehmen, in: Festschrift Wolter (Fn. 16) S. 451 (453 ff.); s. auch Radde (Fn. 27) 1210 (1223 f.).
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Rechtsgelöstheit idealtypisch.31 Denn dort bestehen strikte Gehorsamsketten mit schweren Zwangsmaßnahmen bei Ungehorsam, in denen Untergebene tatsächlich nur das Rädchen im Getriebe und austauschbar sind. Jedoch haben Führungspersonen in Wirtschaftsunternehmen selten eine derartige Machtstellung, die einen automatisierten Vollzug ihrer Anordnungen zur Folge hat. Denn die Organisationsstrukturen in Wirtschaftsunternehmen sind, gerade in neueren Führungsformen, nicht mehr (oder nicht mehr allein) hierarchisch-linear, sondern funktionell differenziert und dezentralisiert aufgebaut. Führung im Wirtschaftsunternehmen ist nur bedingt mit in Machtapparaten bestehendem Befehlsrecht vergleichbar, das Arbeitsrecht bietet Unternehmensangehörigen umfangreiche Möglichkeiten und setzt Grenzen. Das heißt nicht, dass in Unternehmen keine psychische Drucksituation wie auf Grund des Gruppenzwangs besteht und auch keine Sanktionen (wie eine Kündigung) zu befürchten sind. Jedoch ist die Qualität von Drucksituation und Sanktion in arbeitsrechtlichen Verhältnissen eine andere als in per se rechtsgelösten Strukturen. Dies bedeutet nicht, dass die Figur der Täterschaft kraft Organisationsherrschaft bei Wirtschaftsunternehmen per se außer Betracht zu bleiben hat. Jedoch sollten die Unterschiede zwischen kriminogen Strukturen und per se legalen Unternehmen dazu führen, dass die Anforderungen an eine Verantwortungsbegründung besonders ausgeprägt und nicht wie in der Rechtsprechung im Unternehmenskontext besonders niedrig sind. Denn letztlich bleibt allein die vorhandene Organisationsstruktur als Ansatz für das Unrecht (ohne dass diese eine besondere Qualität aufweisen müsste), allein die größere Ausstattung mit Kompetenzen macht die tatfernere Führungsperson zum Täter. Dadurch entsteht eine gewisse Beliebigkeit, mit der dem „Organisator“ im Einzelfall eine Täterschaft zugeschrieben werden kann.32 Zudem ermöglicht diese Konturlosigkeit die Erfassung auch von grundsätzlich straflosen Vorbereitungshandlungen.33 Dies entspricht nicht einem klar konturierten Verantwortungsprinzip. So wird für den Normadressaten kaum erkennbar, wann sein Tatbeitrag innerhalb der Organisation eine mittelbare Täterschaft begründet.34 Letztlich erfasst der BGH damit ganz im Sinne eines Risikostrafrechts einen spezifischen unternehmerischen Risikobereich, was in dieser Weise aber vom Gesetzgeber vorgenommen werden sollte.35
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Roxin (Fn. 30) S. 842 f. Bülte (Fn. 4) S. 123 f. 33 Dennis Bock, Criminal Compliance, 2. Aufl., Baden-Baden 2013, S. 303. 34 Radde (Fn. 27) 1210 (1224). 35 S. auch Joerg Brammsen/Simon Apel, Anstiftung oder Täterschaft?, ZJS 2008, 256 (264): „rechtspolitische Befriedung eines Risikobereiches“. Zu Recht konstatieren Heine/ Weißer (Fn. 16) § 25 Rn. 30 dass der BGH angesichts der Untätigkeit des Gesetzgebers die bestehende Lücke durch eine „normative Verantwortungsbegründung für Leitungspersonen innerhalb von Organisationen hinsichtlich eingetretener Rechtsgutsverletzungen“ füllen möchte. 32
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b) Mittäterschaft Will man nicht wie der BGH den Weg über die mittelbare Täterschaft gehen, so liegt die Frage einer Mittäterschaft nahe.36 Wenn man allerdings von den „klassischen“ (strengen) Voraussetzungen ausgeht, und eine gemeinsame Verwirklichung mit arbeitsteiligem Vorgehen, bei denen die Tatbeiträge von ungefähr gleichem Gewicht sind und alle Beteiligte am Tatort anwesend sind, fordert,37 bereitet die Einbeziehung der Führungsperson nicht unerhebliche Probleme. Zwar wird es durchaus eine derartige Komplizenschaft auf Augenhöhe geben können, jedoch wird vielfach weder ein besonders ausgeprägter gemeinsamer Tatentschluss vorliegen (ggf. kennen sich die Beteiligten in großen Organisationen noch nicht einmal oder haben auch gar nicht persönlich kommuniziert) und der unmittelbare Beitrag der Führungsperson an der eigentlichen Tatausführung ist regelmäßig gering, geschweige denn, dass er persönlich anwesend ist. Hier ließen sich diese Defizite der Einbindung der Führungsperson nur durch die Annahme eines Übergewichts bei der Planung und ihrer fortlaufenden strukturellen Einflussnahme kompensieren. Doch im Unterschied zum Agieren eines Bandenchefs38 als zentrale und präsente Entscheidungsmacht wird es zumeist um eine weit weniger gegenwärtige und auf konkrete Sachverhaltsaspekte bezogene Mitwirkung gehen.39 Insoweit bietet auch die Mittäterschaft nur in wenigen Fällen eine passende Lösung. c) Anstiftung und Beihilfe Insbesondere wenn man die Lösungsansätze der mittelbaren Täterschaft und der Mittäterschaft ablehnt, stellt sich die Frage einer Teilnahmestrafbarkeit, so dass als Ansatz oftmals auf eine Anstiftung abgestellt wird.40 Dafür spricht, dass bei einer Anstiftung die Konkretisierung des Tatgeschehens dem Ausführenden überlassen wird, 36 Vgl. für einen solchen Weg bspw. Bernd Schünemann, Die Rechtsfigur des „Täters hinter dem Täter“ und das Prinzip der Tatherrschaftsstufen, in: Andreas Hoyer/Henning Ernst Müller/Michael Pawlik/Jürgen Wolter (Hrsg.), Festschrift für Friedrich-Christian Schroeder zum 70. Geburtstag, Heidelberg 2006, S. 399 (411 f.); Günther Jakobs, NStZ 1995, 26 f.; Hans-Heinrich Jescheck/Thomas Weigend, Lehrbuch des Strafrechts: Allgemeiner Teil, 5. Aufl., Berlin 1995, S. 670. 37 Dies wird vor allem von der strengen Tatherrschaftslehre befürwortet, vgl. Claus Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band 2: Besondere Erscheinungsformen der Straftat, München 2003, § 25 Rn. 198 ff. 38 BGH NJW 1985, 502. Zur geistigen Mitwirkung in der Vorbereitungsphase auch BGHSt, 16, 12 sowie BGHSt 37, 289. Auch zahlreiche gemäßigtere Tatherrschaftsansätze lassen zu, fehlende objektive Mitwirkung im Ausführungsstadium durch zuvorige (subjektive und objektive) Elemente zu kompensieren, s. nur Heine/Weißer (Fn. 16) § 25 Rn. 66 f. 39 S. auch Roxin (Fn. 30) S. 848 ff. 40 Vgl. bspw. Rolf D. Herzberg, Mittelbare Täterschaft und Anstiftung in formalen Organisationen, in: Amelung (Fn. 5), S. 39 (47 f.); Thomas Rotsch, Tatherrschaft kraft Organisationsherrschaft?, ZStW 112 (2000), 562; Timo Schmucker, Strafrechtliche Verantwortlichkeit der Unternehmensleitung durch innerbetriebliche Anweisungen, StraFo 2010, 235 (240 f.).
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die Führungsperson also für ihre Ursachensetzung belangt wird.41 In der Form der Kettenanstiftung können in Weisungsketten zudem mehrere Einflussnehmende als Zwischenanstifter erfasst werden.42 Auch wenn eine Anstiftung in Betracht kommen kann, soweit das Bestimmen zu einer konkreten Tat zu bejahen ist (was allerdings oftmals zweifelhaft sein dürfte), so werden doch damit die Machtverhältnisse nicht zutreffend abgebildet.43 Der entscheidende Einfluss der Führungsperson wird zu einem Teilnahmeaspekt herabgestuft. Dies gilt noch viel mehr für eine Beihilfe, die anders als die Anstiftung auch keine tätergleiche Bestrafung ermöglicht. Zwar wird in vielen Fällen eine physische Beihilfe durch die Rahmenbedingungen, zumindest aber eine psychische Beihilfe durch konkrete Motivation und ein entsprechendes Unternehmensklima in Frage kommen, zumal bezüglich der Haupttat weder Person, Zeit noch Ort besonders konkretisiert sein müssen.44 Eine Bestrafung der Führungsperson wegen bloßer Beihilfe würde aber die Verhältnisse völlig in ihr Gegenteil verkehren, da sie die Tat nicht mehr als eigene behandelt. d) Nebentäterschaft Soweit über die vorgenannten Beteiligungsregelungen keine Zurechnung erfolgen kann oder soll, verbleibt als Lösung noch die Annahme einer Nebentäterschaft. Bei fahrlässigem Handeln kommt ohnehin nur diese in Betracht,45 sie kann im Einzelfall aber auch bei Vorsatztaten greifen.46 Jedoch ist diese Lösung insoweit unbefriedigend, als gerade der kollektive Kontext und die einzelnen und oftmals vielfältigen Bezüge der Handlungen von Führungsperson und Ausführendem zueinander nicht berücksichtigt werden. Die Handlungen stehen eben nicht einfach nebeneinander. Insoweit liegt hierin keine adäquate Verantwortlichkeitszurechnung. 3. Erweiterungen im Besonderen Teil Da die Beteiligungsregelungen im Allgemeinen Teil seit langer Zeit mit Ausnahme der Figur des Täters hinter dem Täter weitgehend unverändert geblieben sind, finden sich vor allem im Besonderen Teil Ausdehnungen. Zu diesen kann man im 41
Herzberg (Fn. 40) S. 39 ff. Schmucker (Fn. 40) 235 (240 f.). 43 Vgl. nur Claus Roxin, Organisationsherrschaft und Tatentschlossenheit, ZIS 2006, 293 (295): „auf den Kopf gestellt“. 44 Zu den geringen Vorsatzanforderungen s. nur BGHSt 42, 135 (136) sowie Thomas Fischer, Strafgesetzbuch, 67. Aufl., München 2020, § 27 Rn. 22 m.w.N. 45 Gerade im Unternehmenskontext ist der Ansatz einer fahrlässigen Mittäterschaft keine allzu fernliegende Idee, da vielfach erst die Kumulation aufeinander bezogener Handlungen zur Schädigung führt. Dies kann jedoch vorliegend nicht vertieft werden. 46 In diese Richtung, da sie die Figur des Täters hinter dem Täter ablehnen, Paul Bockelmann/Klaus Volk, Strafrecht Allgemeiner Teil, 4. Aufl., München 1987, § 24 Rn. 265 f. 42
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weiteren Sinne die zahlreichen Vorbereitungsdelikte zählen, die bestimmte Handlungen kriminalisieren, die ansonsten zumeist nur als Beihilfe erfassbar wären, soweit eine Tat zumindest das Versuchsstadium erreicht hat. Derartige Delikte finden sich in weitem Umfang im Bereich der Cybercrime-Tatbestände (bspw. § 202c StGB), im Bereich der Terrorismusdelikte (v. a. § 89a StGB) oder bei den Sexualdelikten mit der weiten Erfassung von Handlungen in Bezug auf kinderpornografische Schriften in § 184b StGB.47 Bei diesen, vereinzelt auch zweifelhaften Ausdehnungen, steht im Regelfall jedoch nicht die besondere Stellung des Täters innerhalb einer Organisation oder auch die Eingliederung in eine solche im Mittelpunkt, sondern es wird primär eine als besonders schwer erachtete Handlungsform zur tatbestandlichen Täterschaft aufgewertet. Eine besondere Täterform oder Stellung wird im Besonderen Teil klassischerweise v. a. durch das Merkmal der Bandenmitgliedschaft abgedeckt: Eine solche Mitgliedschaft ist schon seit langem ein erschwerender Umstand.48 Da die Bande sowohl aus Teilnehmern als auch aus Tätern bestehen kann, ermöglicht der Ansatz die Auflösung der strengen dualistischen Beteiligungskategorien. Stattdessen stellt er auf eine verfestigte faktische Verbindung zwischen mehreren Personen, nach inzwischen gefestigter BGH-Rechtsprechung mindestens drei, mit der Zielsetzung mehrmaliger gemeinsamer Tatbegehung ab.49 Die Bande hat im Kern immer noch die größte Bedeutung in ihrem klassischen, historisch gewachsenen Bereich des Diebstahls, Raubs, Betrugs und der Hehlerei, ist aber keineswegs mehr darauf begrenzt.50 Die Unterschiede in der Normierung liegen im Wesentlichen darin, ob die bandenmäßige Begehung Qualifikationsmerkmal ist oder „nur“ flexiblerer Strafzumessungsum-
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S. dazu bspw. Ulrich Sieber, Legitimation und Grenzen von Gefährdungsdelikten im Vorfeld terroristischer Gewalt, NStZ 2009, 353 und Ulrich Sieber, Straftaten und Strafverfolgung im Internet, Gutachten C zum 69. Deutschen Juristentag, München 2012. 48 Vgl. zur Entstehungsgeschichte Ludwig Alexander, Komplott und Bande, Berlin 1920, S. 16 ff.; Tun-ming Tsai, Die Bande als Verbrechensform im deutschen, chinesischen und japanischen Strafrecht, Diss. Freiburg 1964, S. 14 ff. 49 Ständige Rspr. seit der Entscheidung des Großen Senats 2001, BGHSt 46, 321. 50 Vgl. u. a. im StGB: bandenmäßige Verleitung zur missbräuchlichen Asylantragstellung (§ 84a); bandenmäßiges Einschleusen (§ 97); bandenmäßige Geldfälschung (§ 146 II), Fälschung von Zahlungskarten, Schecks und Wechseln (§ 152a III) und Fälschung von Zahlungskarten mit Garantiefunktion und Vordrucken für Euroschecks (§ 152b II); bandenmäßige Verbreitung kinder- bzw. jugendpornographischer Schriften (§ 184b II/§ 184c II); bandenmäßige Begehung des Menschenhandels, der Zwangsprostitution und der Zwangsarbeit (§§ 232 – 232b); bandenmäßige Ausbeutung der Arbeitskraft/Ausbeutung unter Ausnutzung einer Freiheitsberaubung (§§ 233 f.); bandenmäßiger Kinderhandel (§ 236 IV); bandenmäßige Geldwäsche (§ 261 IV); bandenmäßige Urkundenfälschung (§ 267 III); bandenmäßiges Verschaffen von falschen amtlichen Ausweisen (§ 276 II) bzw. dessen Vorbereitung (§ 275 II); bandenmäßige unerlaubte Veranstaltung eines Glückspiels (§ 284); bandenmäßige Bestechlichkeit/Bestechung im geschäftlichen Verkehr und im Gesundheitswesen (§ 300); bandenmäßige Computersabotage (§ 303b IV); bandenmäßige Bestechung/Bestechlichkeit (§ 335 II); bandenmäßigen Steuerhinterziehung (§ 370 AO).
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stand. In beiden Fällen wird aber ermöglicht,51 als organisiertes Verbrechen eingestuftes Verhalten als besondere Begehungsformen zu erfassen. Wesentliches Kennzeichen ist dabei, dass der Zusammenschluss als erschwerte Form einer tatbestandlich anderweitigen (und vom Zusammenschluss unabhängigen) Rechtsgutsverletzung begriffen wird. Allerdings passt dieser auf organisierte Kriminalität zugeschnittene Ansatz nur bedingt zu grundsätzlich legalen Strukturen mit überwiegend legalen Tätigkeiten, auch wird es selten klare (Banden-)Absprachen geben; in der Praxis werden „im Bereich des Vermögens- und Wirtschaftsstrafrechts konkludente Bandenabreden nur selten als beweisbar angesehen“.52 Bandenabsprachen sind bei Führungspersonen daher eher die Ausnahme und am ehesten wohl dort zu finden, wo die unternehmerische Tätigkeit a priori auf kriminelle Zwecke (Betrugsmodelle oder Geldwäsche) gerichtet ist. Noch stärker als die Bandendelikte stellen die Organisationsdelikte der §§ 129 ff. StGB auf verfestigte Strukturen und der diesen innewohnenden Eigendynamik ab, womit auch ihre gegenüber der Bande allgemein als höher eingestufte Gefährlichkeit begründet wird.53 Erfasst wird hier nicht nur die Mitgliedschaft, sondern auch die Gründung und damit zumeist die Führungsposition in einer solchen Organisation. Begrenzt sind diese Delikte aber auf kriminelle Zwecksetzungen (und dies auch nur auf „schwerere“ und die öffentliche Sicherheit erheblich beeinträchtigende Straftaten, die im Höchstmaß mit mindesten zwei Jahre Freiheitsstrafe bedroht sind, was allerdings auf die Großzahl der Tatbestände zutrifft).54 Auf legale Wirtschaftstätigkeit sind die Normen daher nicht anwendbar. Wie bei der Bande werden allenfalls Unternehmen mit primär (da nach § 129 Abs. 3 Nr. 2 StGB ein untergeordneter Zweck nicht genügt) krimineller Zwecksetzung erfasst, also der Bereich organisierter Kriminalität. Ebenfalls auf einer verfestigten Organisationsstruktur baut der § 357 StGB auf, der die Verleitung eines Untergebenen zu einer Straftat durch einen Vorgesetzten kriminalisiert. Hintergrund dieses bereits auf das Preußische ALR zurückgehenden Tatbestandes ist die besondere Verpflichtung eines leitenden Amtsträgers, dafür Sorge zu tragen, dass in seinem Bereich keine Straftaten begangen werden.55 Da der Tatbestand nicht nur das Verleiten (und sogar das Unternehmen zu verleiten), sondern auch das Geschehenlassen einbezieht, ergibt sich eine durchaus (moderne) Ver51 Damit soll keineswegs übergangen werden, dass zwischen Tatbestands- und Strafzumessungsmerkmalen bedeutende Unterschiede (v. a. hinsichtlich der Unrechtseinstufung) liegen (sollten). Hierauf kann in diesem Kontext jedoch nicht näher eingegangen werden. 52 Fischer (Fn. 44) § 244 Rn. 36b. 53 Vgl. nur BGHSt 31, 202 (204 ff.). 54 Vgl. BT-Drs. 18/11275, S. 10; in der Praxis ergibt sich daher hieraus keine weitergehende Beschränkung auf besonders schwerwiegende Taten, vgl. nur Fischer (Fn. 44) § 129 Rn. 20. 55 Vgl. die Vorgaben in §§ 342, 346 sowie 68 II 20 ALR, die von § 330 prStGB 1851 (einem § 357 StGB fast wortgleichen Tatbestand) aufgenommen wurden. Näher Kay-Enno Andrews, Verleiten und Geschehenlassen i.S. des § 357 StGB, Göttingen 1996, S. 8 ff.
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pflichtung, aktiv gegen Straftaten vorzugehen. In der Ausgestaltung als Amtsdelikt ist sein Anwendungsbereich allerdings eng gezogen, er wird im wirtschaftsstrafrechtlichen Kontext allenfalls vereinzelt bei öffentlichen Unternehmen, v. a. in öffentlich-rechtlicher Organisationsform, in Betracht kommen. Die Idee einer besonderen Verantwortlichkeit bei Weisungsstrukturen findet sich auch in weiteren Bereichen. So bestehen im Wehrstrafrecht (§§ 34 – 41 WStG) verschiedene Tatbestände, die eine mangelnde Aufsicht oder den Missbrauch der Vorgesetztenstellung kriminalisieren. Im Ordnungswidrigkeitenrecht findet sich in § 130 OWiG die v. a. im wirtschaftlichen Kontext relevante Aufsichtspflichtverletzung, deren Pendant im Völkerstrafrecht findet sich in § 14 VStGB.56 Dieser in einem eigenen Tatbestand umgesetzte Ansatz der Vorgesetztenverantwortlichkeit wurde im Völkerstrafrecht um allgemeine Zurechnungsnormen ergänzt, so in der Form der Superior responsibility in Art. 28 IStGH-Statut bzw. als fehlende Verhinderung von Taten Untergebener in § 4 VStGB.57 Diese Normen erweitern die Beteiligungsgrundsätze des Allgemeinen Teils.58 Insoweit bieten sie durchaus Ansatzpunkte für eine Reform.59 Festzuhalten aber bleibt, dass sich im Besonderen Teil des StGB wie im Allgemeinen Teil bislang nur vereinzelt Normen finden, die die besondere Situation von Führungspersonen aufgreifen.
III. Reformansätze 1. Erweiterungen der Beteiligungsregelungen Ein erster Ansatzpunkt für eine verbesserte Einbeziehung von Führungspersonen könnte in der Erweiterung der bestehenden Beteiligungsregelungen liegen. Hierbei bedürfte es grundsätzlich keiner gesetzlichen Reform, da die nur rudimentären Vorschriften einen weiten Spielraum für die Auslegung zulassen. So wird denn auch, zumeist mit Ablehnung des erweiterten Verständnisses des BGH bei der mittelbaren Täterschaft, eine vertikale Zurechnung in Form der Mittäterschaft vertreten.60 Dies hat zur Folge, dass die Beteiligten bei aller Unterschiedlichkeit 56 Zudem sieht § 15 VStGB noch das Unterlassen der Meldung einer Straftat als eigenen Tatbestand vor. 57 Im VStGB ist der breite völkerrechtliche Tatbestand ausdifferenziert und in §§ 4, 14, 15 VStGB mit verschiedenen Einzelaspekten geregelt worden, vgl. BT-Drs. 14/8524, S. 19 sowie m.N. MüKo-StGB (3. Aufl. 2018)/Weigend, § 4 VStGB Rn. 8. 58 Vgl. nur BGHSt 55, 157 (171) zu § 4 VStGB und den (geringen) Anforderungen an die Vorstellung des Vorgesetzten von der Tat des Untergebenen. 59 S. näher infra unter III.2.b). 60 Vgl. dazu bspw. Helmut Frister, Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl., München 2011, 27/40; Günther Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Berlin 1991, 21/103; Michael Lindemann, Voraussetzungen und Grenzen legitimen Wirtschaftsstrafrechts, Tübingen 2012,
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ihrer Beiträge als Zurechnungsgemeinschaft gesehen werden, bei der sich insbesondere die Führungsperson die Auswirkungen seines Handelns auf weitere Personen zurechnen lassen muss. Um dies im Rahmen der Mittäterschaft zu erreichen, muss der Planung etc. auf Führungsebene ein derartiges Gewicht als mittäterschaftlicher Beitrag zugemessen werden, dass dieser v. a. die mangelnde Anwesenheit bei der Tatausführung kompensiert.61 Mit dem Abstellen auf die Planung wird man jedoch dem Einfluss der Führungsperson in ihrem unternehmerischen Kontext nicht gerecht, es verengt den Blick auch zu sehr auf eine konkrete Einzelfalleinflussnahme. Zudem würde dadurch die Grundstruktur der Mittäterschaft mindestens so stark verändert wie bei der Ausdehnung der mittelbaren Täterschaft deren. Gleiches gilt bspw. für den Ansatz von Schünemann, dass die „doppelte Mitwirkung eines Garanten (zugleich als Unterlassungsbeteiligter und als aktiver Teilnehmer) als Mittäterschaft zu werten sei,62 oder für den Ansatz von Bottke, der eine Mittäterschaft zwischen Hierarchiestufen in Unternehmen bejahen will, wenn die beteiligten Personen durch gleichgeordnete Abstimmung ihrer Tatbeiträge „die Tat gemeinschaftlich herrschaftsausübend bewerken“.63 Die Erfassung der Beiträge von Führungspersonen als Teilnahmestrafbarkeit wiederum kann dort nicht überzeugen, wo die Führungsperson mehr als eine bloße Randfigur ist. Dies gilt auch für die Anstiftung, selbst wenn der Strafrahmen hier dem der Täterschaft entspricht,64 denn die Handlung der Führungsperson ist mehr eine eigene Tat als lediglich die Mitwirkung an einer fremden. 2. Alternative Lösungsansätze Da die klassische Beteiligungsstruktur nur bedingt Lösungswege bietet, soll im Folgenden der Blick auf alternative Ansätze wie die Geschäftsherrenhaftung [a)], die Vorgesetztenverantwortlichkeit [b)], die Fahrlässigkeit [c)] und außerdeutsche Lösungen [d)] geworfen werden. a) Geschäftsherrenhaftung Eine Alternative zur Anwendung der Täterschaft kraft Organisationsherrschaft auf Wirtschaftsunternehmen stellt die bereits seit längerer Zeit diskutierte GeschäftsS. 243 ff.; s. auch Eidam (Fn. 4) S. 144 ff.; Morozinis (Fn. 4) S. 328 f.; Orozco López (Fn. 4) S. 107 ff. 61 Lindemann (Fn. 60) S. 244. 62 Bernd Schünemann, Unternehmenskriminalität, in: Claus Roxin/Gunter Widmaier (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof. Festgabe aus der Wissenschaft, Band IV, München 2000, S. 621 (628 ff.). 63 Wilfried Bottke, Haftung aus Nichtverhütung von Straftaten Untergebener in Wirtschaftsunternehmen de lege lata, Berlin 1994, S. 54. 64 And. aber bspw. Bock (Fn. 33) S. 297 f.
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herrenhaftung dar, die auch im Ausland rezipiert wurde.65 Danach kann sich die Strafbarkeit von Leitungspersonen in Unternehmen bei pflichtwidriger Nichtverhinderung von Straftaten Untergebener aufgrund einer Garantenstellung des Geschäftsherrn nach § 13 Abs. 1 StGB ergeben.66 In Rechtsprechung und Schrifttum besteht zwar weitgehend Einigkeit darüber, dass Inhaber und Leitungspersonen eine strafbewehrte Rechtspflicht zur Beherrschung sachlicher Betriebsgefahren haben.67 Nach wie vor ist jedoch umstritten, ob und inwieweit auch eine Verantwortung für das Verhalten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als „personale Gefahrquelle“ besteht.68 Geregelt ist eine derartige Garantenstellung nur in wenigen speziellen Konstellationen wie § 357 StGB, § 41 WStG oder § 123 SeeArbG. Vor allem in der Literatur wird die Möglichkeit einer Garantenstellung des Geschäftsherrn für betriebsbezogene Straftaten Untergebener, die diese in Erfüllung der ihnen aufgetragenen Aufgaben verwirklichen, vielfach bejaht.69 Der Betriebsinhaber habe aufgrund seines Weisungsrechts die Möglichkeit und Befugnis Straftaten der Betriebsangehörigen im Zusammenhang mit ihren beruflichen Tätigkeiten zu unterbinden.70 Begründen lässt sich die Garantenpflicht somit einerseits mit dem arbeitsrechtlichen Direktionsrecht des Vorgesetzten, andererseits aber auch durch Abstellen auf den Betrieb als Gefahrenquelle.71 Da die aus der Garantenstellung resultierende Pflicht grundsätzlich übertragbar ist, können neben Mitgliedern der obersten Führungsebene bei entsprechender Delegierung auch weitere Personen in den Anwendungsbereich der Geschäftsherrenhaftung einbezogen werden.72 In der BSR-Entscheidung im Jahr 2009 hat der 5. Strafsenat des BGH eine Garantenstellung des Compliance-Officers angenommen und somit dem Modell neue Impulse gegeben.73 Zudem hat der 4. Strafsenat die Geschäftsherrenhaftung 2011 aus65 So bspw. in der Schweiz, vgl. Mark Pieth, Die strafrechtliche Haftung für Menschenrechtsverletzungen im Ausland, Aktuelle Juristische Praxis 2017, 1005 (1008 f.). S. auch Klaus Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht in Europa, in: Uwe Hellmann/Christian Schröder (Hrsg.), Festschrift für Hans Achenbach, Heidelberg 2011, S. 563 (567 f.). 66 Vgl. Lothar Kuhlen, Personifizierte Unternehmensdelinquenz, wistra 2016, 465; Klaus Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht, 5. Aufl., München 2017, Rn. 350 ff.; Maximilian Utz, Die personale Reichweite der strafrechtlichen Geschäftsherrenhaftung, Berlin 2016; Petra Wittig, Wirtschaftsstrafrecht, 5. Aufl. 2020, § 6 Rn. 56 ff.; zur Rspr. s. Gerhard Dannecker/Christoph Dannecker, Die „Verteilung“ der strafrechtlichen Geschäftsherrenhaftung im Unternehmen, JZ 2010, 981. 67 Tiedemann (Fn. 66) Rn. 350 ff. 68 Michael Lindemann/Janita Sommer, Die strafrechtliche Geschäftsherrenhaftung und ihre Bedeutung für den Bereich der Criminal Compliance, JuS 2015, 1057. 69 Vgl. m.w.N. Fischer (Fn. 44) § 13 Rn. 67 ff. 70 Bernd Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, Göttingen 1971, S. 328 f. 71 Lindemann/Sommer (Fn. 68), 1057 (1058). 72 Dannecker/Dannecker (Fn. 66), 981 (983 ff.); Andreas Mosbacher/Alfred Dierlamm, Zur Frage der Garantenpflicht eines Compliance-Officers, NStZ 2010, 268 (269). 73 BGHSt 54, 44.
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drücklich anerkannt, als er grundsätzlich eine Garantenpflicht des Betriebsinhabers bzw. des Vorgesetzen zur Verhinderung von Straftaten nachgeordneter Mitarbeiter aus einer möglichen Überwachergarantenstellung bejahte.74 Er beschränkte die Verantwortlichkeit des Geschäftsherrn entsprechend der klassischen Dogmatik auf die Verhinderung betriebsbezogener („wenn sie einen inneren Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit des Begehungstäters oder mit der Art des Betriebes aufweist“75) Straftaten und schloss Taten, die nur „bei Gelegenheit“ der betrieblichen Tätigkeit begangen werden, aus. In einem Beschluss aus dem Jahre 2018 übernahm auch der 5. Strafsenat diese Ansicht und bejahte die Garantenstellung eines Eigentümers und Betreibers eines Spätkaufs mit Internetcafé, in dessen Räumen ein Angestellter „unter Nutzung der Verkaufs- und Lagerräume gleichsam in Erweiterung des legalen Geschäftsbetriebes Betäubungsmittel an die Ladenkundschaft (…)“ verkaufte.76 Insoweit lässt sich konstatieren, dass die Geschäftsherrenhaftung inzwischen einen festen Platz in der Dogmatik gewonnen hat. Jedoch sind die Probleme der Konstruktion nicht zu übersehen, auch wenn man nicht wie Teile des Schrifttums die Verantwortlichkeit des Geschäftsherrn bzw. der leitenden Angestellten prinzipiell mit dem Hinweis auf den Grundsatz der Eigenverantwortlichkeit der unmittelbar Handelnden ablehnt,77 so dass die Verantwortlichkeit des Arbeitnehmers eine „normative Barriere“ gegenüber einer Unterlassungsstrafbarkeit des Betriebsinhabers bilde.78 Aber diese Kritik zielt zu Recht darauf ab, dass Art und Umfang der Garantenpflicht weitgehend unklar bleiben. Eine generelle Pflicht, Straftaten Untergebener zu vermeiden, ist zu weitgehend, wenn nicht klar ist, wo die Grenze der zumutbaren Erwartung an Präventions- oder Interventionsmaßnahmen verläuft,79 zumal nicht klar ist, wie sich diese allgemeine Pflicht zu strafrechtlichen Sonderregeln (z. B. § 357 StGB, § 41 WStG) verhält. Im Wesentlichen bleibt damit nur ein Anwendungsspielraum für Fälle, in denen konkrete Hinweise auf die Straftat eines Untergebenen hindeuten und dann die Führungsperson nicht einschreitet. Damit wird zwar ein wichtiger Teilaspekt betrieblicher Gefahren abgedeckt, nicht erfasst werden jedoch systematische Weichenstellungen, die erst den Raum für Straftaten ermöglichen, welche selbst noch nicht hinreichend klar konturiert sind. Hinzu kommt, dass im Fokus allein 74
BGHSt 57, 42. BGHSt 57, 42. 76 BGH NStZ 2018, 648. 77 Johannes Wessels/Werner Beulke/Helmut Satzger, Strafrecht Allgemeiner Teil, 49. Aufl., Heidelberg 2019, Rn. 1190; Harro Otto, Die Haftung für kriminelle Handlungen in Unternehmen, Jura 1998, 409 (413); Günter Heine, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen, Baden-Baden 1995, S. 116 ff. 78 Weigend, in: Leipziger Kommentar (Fn. 12), § 13 Rn. 56. 79 Hieran ändert sich auch nichts, wenn man die Pflicht weit zieht und erst über das Kriterium der Zumutbarkeit die daraus folgenden Handlungspflichten begrenzt. Stimmiger erscheint, der Garantenpflicht, die die normative Erwartung ausdrückt, klarere Konturen zu geben. 75
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das Unterlassen der Führungsperson steht, nicht aber die aktiv das Verhalten des Mitarbeiters unterstützenden Teile der Mitwirkung einbezogen sind. b) Vorgesetztenverantwortlichkeit Ein weiterer Ansatz bietet die Regelung der Vorgesetztenverantwortlichkeit.80 Hier findet sich zunächst als allgemeine Zurechnungsnorm in § 14 StGB (und § 9 OWiG) eine zentrale Erweiterung – sei es als Tatbestandserweiterung81 oder auch als Tatbestandsergänzung82 eingestuft –, durch die strafbegründende besondere persönliche Merkmale des Vertretenen dem handelnden Vertreter zurechnet werden.83 Mit dieser „Überwälzung“ der fraglichen Merkmale auf den Handelnden, der nicht selbst die vom Tatbestand vorausgesetzte Qualifikation besitzt,84 werden über die Zurechnungskonstruktion Strafbarkeitslücken beim Handeln für einen anderen geschlossen.85 Hierin liegt ein wichtiger Baustein insbesondere im Wirtschaftsstrafrecht, da somit Pflichten, die nicht natürlichen Personen obliegen (als Folge der Anerkennung dieser Personen als eigene – zumindest teilrechtsfähige – Einheiten), auch mit Sanktionen gegen die für diese Einheiten handelnden natürlichen Personen durchsetzbar sind. Für die Mitwirkung von Führungskräften greift dieser Ansatz aber zu kurz, da es zwar auch um Pflichten gehen kann, die formal rechtlich der natürlichen Person zugeschrieben werden, jedoch zudem stets auch um originäre Pflichten der Führungsperson selbst. Daher sind die bereits genannten, über die Pflichtenübertragung hinausgehenden, Tatbestände der Vorgesetztenverantwortlichkeit von besonderem Interesse. So schlägt beispielsweise Bülte eine gesetzliche Regelung der Vorgesetztenverantwortlichkeit vor, die sich im Wesentlichen an der völkerstrafrechtlichen Figur der Vorgesetztenverantwortlichkeit (superior responsibility) orientiert.86 Begrüßenswert ist, dass er eine Regelung im Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuchs gegenüber Sondervorschriften im Besonderen Teil vorzieht, um eine einheitliche Systematik zu schaffen und einer weiteren Zersplitterung entgegenzuwirken.87 So möchte er eine eigenständige Vorgesetztenverantwortlichkeit in § 25a StGB als Zurechnungsform für eine allgemeine Begünstigung der Begehung zukünftiger Bezugstaten einfügen.88 Ganz im Sinne der traditionellen Vorgesetztenverantwortlichkeit ist der Vorschlag 80
Jakobs (Fn. 11) 572 (574). Jakobs (Fn. 60) 21/10. 82 Perron/Eisele, in: Schönke and Schröder (Fn. 16), § 14 Rn. 1. 83 Eingehend Tobias Ceffinato, Legitimation und Grenzen der strafrechtlichen Vertreterhaftung nach § 14 StGB, Berlin 2012. 84 Perron/Eisele, in: Schönke and Schröder (Fn. 16), § 14 Rn. 1 ff. 85 Krämer (Fn. 4) S. 315 ff. 86 Bülte (Fn. 4), S. 921 ff. 87 Bülte (Fn. 4), S. 922 ff. 88 Ergänzend ist eine Definition des Begriffs des Vorgesetzten in § 11 StGB und eine Anpassung des § 28 StGB vorgesehen, s. Bülte (Fn. 4), S. 925 f. 81
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aber zu stark auf hierarchische Strukturen und den Unterlassungsaspekt zugeschnitten.89 Grundsätzlich noch näher an einer Erfassung wirtschaftlicher Sachverhalte ist § 130 OWiG.90 Denn dieser füllt nicht nur die strafrechtliche Lücke im Bereich von Unternehmen (und zeigt damit allein schon die zu begrenzte Fragmentierung des Strafrechts), sondern verdeutlicht v. a., dass bestimmte Personen (bei § 130 OWiG der Inhaber) die Verpflichtung haben, Normverstößen durch entsprechende Maßnahmen entgegenzuwirken, die ihrem Organisationskreis entstammen,91 auch wenn sich die Norm auf das Unterlassen der gehörigen Aufsicht (ohne näher die aktiven Beteiligungsbeiträge zu thematisieren) beschränkt. Im Rahmen der Compliance-Diskussion hat sich der Umfang und Gehalt der gehörigen Aufsicht verändert, als die Pflichten – vor allem in der Literatur – deutlich ausdifferenziert wurden.92 Da die konkreten Anforderungen an den Unternehmer für das Vorbeugen von Verstößen gegen Verbote in seinem Betrieb vom Einzelfall abhängig gemacht werden, bietet die Norm auch die notwendige Flexibilisierung für die Praxis.93 Insoweit stellt diese Regelung einen passenden Ausgangspunkt dar, auch wenn wiederum der Schwerpunkt zu eng auf dem Unterlassensaspekt liegt. c) Fahrlässigkeitsdogmatik Schließlich ist zu fragen, ob nicht über eine Veränderung der Fahrlässigkeitsdogmatik eine Erfassung von Führungspersonen möglich ist. Denn bereits jetzt wird die organisationsbezogene Zurechnung durch die Fahrlässigkeitsdogmatik ergänzt. Sobald eine individuelle strafrechtliche Verantwortung in Gestalt einer Vorsatzhaftung nicht begründbar ist, kann immer noch eine Fahrlässigkeitshaftung bestehen, wenn das Eingebundensein in eine Organisation in Verbindung mit einem individuellen
89 Allerdings ist der Vorschlag gegenüber den bestehenden Normen zur Vorgesetztenverantwortlichkeit deutlich vorzugswürdig, als bspw. Vorsatz- und Fahrlässigkeitsaspekte ausdifferenziert werden. 90 Hans Achenbach, Gedanken zur Aufsichtspflichtverletzung, in: Martin Böse et al. (Hrsg.), Festschrift für Knut Amelung zum 70. Geburtstag, Berlin 2009, S. 367; Engelhart (Fn. 10) § 130 OWiG Rn. 1 ff.; Klaus Rogall, in: Lothar Senge (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, 5. Aufl., München 2018, § 130 Rn. 1 ff.; Klaus Tiedemann, Die strafrechtliche Vertreter- und Unternehmenshaftung, NJW 1986, 1842. 91 Rogall (Fn. 90) § 130 Rn. 1. 92 Engelhart (Fn. 10) § 130 OWiG Rn. 39 ff. 93 Vgl. bspw. OLG Jena NStZ 2006, 533. Damit soll nicht gesagt sein, dass die Norm nicht noch für die Praxis besser konkretisierbar und operationalisierbar ist (wie bspw. in den als Alternative zum Verbandsstrafrecht vorgesehenen Vorschlägen, vgl. dazu Werner Beulke/ Klaus Moosmayer, Der Reformvorschlag des Bundesverband der Unternehmensjuristen zu §§ 30, 130 OWiG, CCZ 2014, 146), wobei allerdings zu fragen ist, inwieweit hier nicht eine Steuerung durch Unsicherheit vorliegt, vgl. zu dieser Problematik Marc Engelhart, Der britische Bribery Act 2010, ZStW 128 (2016), 882 (925 ff.).
114
Marc Engelhart
Fehlverhalten steht.94 Im Vordergrund stehen hier bislang Sachverhalte, bei denen Rechtsgutsbeeinträchtigungen im Zusammenhang mit wirtschaftlichen Tätigkeiten auftreten,95 die durch eine organisationsbedingte Funktions- und Arbeitsteilung charakterisiert sind.96 So hat bspw. das LG Nürnberg-Fürth die Strafbarkeit eines Speditionsunternehmers bejaht, dessen angestellter Fahrer regelmäßig die Lenkzeiten überschritt und infolgedessen einen tödlichen Verkehrsunfall verursachte.97 Der Unternehmer habe durch seine unzureichende Betriebsorganisation ein „hochgefährliches System“ geschaffen, das Risiken potenziere anstatt sie zu vermeiden, so dass er wegen der „Organisation eines rechtswidrigen Systems“ als fahrlässiger Nebentäter strafbar sei.98 In diesem Fall wird die systematische Nicht- oder Fehlorganisation als Pflichtverletzung eingestuft. Dies vermag grundsätzlich eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit begründen,99 jedoch nur, wenn diese Nicht- oder Fehlorganisation auch im konkreten Fall zum Tragen gekommen ist. Dafür genügt eben nicht die alleinige Feststellung einer Nicht- oder Fehlorganisation, es bedarf der klare Bezug zu einer individualisiert feststellbaren Tat. Eine tendenziell generalisierende Betrachtung des Verhaltens des Vorgesetzten kann hier nicht genügen, wenn man nicht die Fahrlässigkeit in eine allgemeine Wohlverhaltenspflicht wandeln möchte. Das bedeutet auch, dass branchenübliche Standards etc. nur als Ausgangspunkt dienen können, es kommt primär aber auf die Betrachtung der individuellen situationsbezogenen Verkehrswirklichkeit an.100 Insoweit ist eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit dort heranzuziehen, wo die konkrete Unorganisiertheit, die in der konkreten Branche und Situation nicht geduldet werden kann (und die damit auch nicht mehr dem erlaubten Risiko, der Sozialadäquanz und dem Vertrauensgrundsatz entspricht), zu einer konkreten Tat beiträgt. Allerdings lässt sich über die Fahrlässigkeitsstrafbarkeit nicht eine allgemeine Pflicht zur Unterbindung von Rechtsbrüchen (insbesondere Straftaten) jeglicher Art heranziehen, zumal damit auch die Frage der Struktur einer vorsätzlichen Mitwirkung nicht beantwortet wird.
94
Eidam (Fn. 4), S. 235. Dazu Gerhard Dannecker, Fahrlässigkeit in formalen Organisationen, in: Amelung (Fn. 5) S. 209 ff. 96 Dannecker (Fn. 95), S. 209 (210). 97 LG Nürnberg-Fürth NJW 2006, 1824. 98 LG Nürnberg-Fürth NJW 2006, 1824 (Rn. 49, 54). 99 Im Sinne von Wolfgang Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, Heidelberg 1988, S. 333 ff. geht es um „Verhaltensweisen, die die Gefahr in sich bergen, Dritte zu deliktischem Handeln zu motivieren. 100 So i.E. auch Dannecker (Fn. 95), S. 209 (235 f.). 95
Mitwirkung von Führungspersonen an der Tat
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d) Conspiracy, Joint Criminal Enterprise und Vicarious Liability Schließlich ist noch zu überlegen, ob nicht weitere Ansätze, die sich im ausländischen und internationalem Recht zur Erfassung von Beteiligungsbeiträgen finden, herangezogen werden könnten. Hierzu ist die im anglo-amerikanischen Recht vorzufindende Figur der Conspiracy (zumeist als Verschwörung übersetzt) zu zählen.101 Diese spezielle Form der Verbrechensabrede ist bspw. im amerikanischen Bundesrecht in 18 U.S.C. § 371102 gesetzlich geregelt. Der Tatbestand erfordert im Grundsatz nur den Nachweis einer (auch konkludenten) Verabredung von mindestens zwei Personen zur Begehung einer Straftat, einen entsprechenden Vorsatz und den Nachweis einer offenen Handlung („overt act“) eines der Verschwörer im Hinblick auf die Verschwörung.103 Diese vereinfachten Beweisanforderungen an den Nachweis eines Tatbestands und der Beteiligungsform haben dazu geführt, dass in der Praxis eine Vielzahl der Anklagen wegen Verschwörung erfolgen.104 Die Anwendung des Tatbestands ermöglicht, als typische Form der Erfassung von Vorfeldhandlungen, umfangreich Akte von Führungspersonen als der eigentlichen Deliktsbegehung vorausgehend zu erfassen. Jedoch würde hierdurch der Schwerpunkt der Mitwirkung der Führungsperson an der Tat allein auf den vorbreitenden Aspekt und hier wiederum fast ausschließlich auf den der Vereinbarung gelegt, so dass damit letztlich nur ein Ausschnitt der komplexeren Mitwirkung auf Führungsebene abgebildet wird. Hinzu kommen die grundsätzlichen Bedenken gegen einen Conspiracy-Tatbestand mit seiner kaum zu überbietenden Unbestimmtheit, der extremen subjektiven Orientierung und der letztlich kaum materiellrechtlichen als vielmehr verfahrensrechtlichen Motivation (Beweiserleichterung).105 Insoweit kann dieser Ansatz kein Vorbild für ein differenziertes Beteiligungssystem sein. Auf internationaler Ebene hat der ICTY mit der Figur der Joint Criminal Enterprise (JCE) ein konzeptionell auch an die Conspiracy angelehntes Zurechnungsmodell etabliert. Im Verfahren gegen Tadic´ hat die Rechtsmittelkammer des Gerichtshofs dieses als systemorientierte Verantwortlichkeitszuschreibung entworfen, wobei 101 Dazu Carsten Momsen/Lisa Washington, Conspiracy als Beteiligungsmodell, ZIS 2019, 182 u. 243; s. auch Adolf Schönke, Einige Bemerkungen über die conspiracy im englischen und amerikanischen Strafrecht. Deutsche Rechts-Zeitschrift 1947, 331. 102 „Wenn zwei oder mehr Personen sich verschwören … eine Straftat gegen die Vereinigten Staaten zu begehen … und wenigstens eine dieser Personen eine Handlung zur Ausführung der Verschwörung vornimmt, wird jeder mit Geldstrafe oder nicht mehr als fünf Jahren Freiheitsstrafe oder beidem bestraft.“. 103 Vgl. bspw. U.S. v. Dingle, 862 F.3d 607, 614 (7th Cir. 2017); U.S. v. Morrison, 833 F.3d 491, 499 (5th Cir. 2016). 104 Norman Abrams/Sara Sun Beale/Susan Riva Klein, Federal criminal law and its enforcement, 6. Aufl., St. Paul (Minn.) 2015, S. 795 nehmen an, dass „conspiracy charges“ im amerikanischen Bundesstrafrecht häufiger erfolgen als Anklagen wegen anderen Delikten. 105 Krit. auch Momsen/Washington (Fn. 100) 243 (246 ff.).
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Marc Engelhart
hier drei Varianten (JCE I, II und III) unterschieden werden.106 Von Interesse ist vorliegend die Form JCE II, die an der Beteiligung an einem gemeinsamen Unternehmen oder einem kriminellen Zweckverband als eine Art mittäterschaftlicher Mitwirkung anknüpft und aus deutscher Sicht vielfach eine zur Täterschaft erhobene Beihilfe darstellt. Noch weiter geht die Form der JCE III, bei der Taten auch dann zugerechnet werden, wenn diese nicht vom gemeinsamen ursprünglichen Zweck umfasst waren, aber eine Absicht vorliegt, sich an der Unternehmung als solcher zu beteiligen und die Begehung entsprechender Taten vorhersehbar war.107 Gerade die weitgehende Konstruktion der JCE III nähert sich einer objektiven Erfolgshaftung für alle aus einer Gruppe heraus begangenen Taten an und wirft große Zweifel hinsichtlich des Schuldprinzips auf.108 Zu Recht wurde daher der Ansatz im ICC-Statut nicht vollumfänglich übernommen und kann für ein differenzierendes System keine Vorbildfunktion haben.109 Dies gilt schließlich auch für den im anglo-amerikanischen Recht verbreiteten Ansatz der vicarious liability als strafrechtliche Verantwortlichkeit für das Verhalten anderer.110 Hierbei wird u. a. Führungspersonen die Handlung von Mitarbeitern zugerechnet, ohne dass es auf eine eigene Handlung oder einen Vorsatz der Führungsperson ankäme.111 Für eine derartige reine Zurechnungskonstruktion ohne eigene Unrechtsbegründung ist (abgesehen von der Pflichtenzurechnung nach § 14 StGB bzw. § 9 OWiG) in einem schuldstrafrechtlichen System kein Platz. 3. Perspektive: Organisationstäterschaft Der bisherige Überblick hat gezeigt, dass die bestehenden strafrechtlichen Strukturen und Ansätze nur bedingt geeignet sind, Führungspersonen und ihren Einfluss auf Straftaten von Mitarbeitern zu erfassen. Die wesentliche Aufgabe de lege ferenda besteht somit darin, eine Verantwortungszuschreibung zu erreichen, die den entscheidenden Einfluss dieses Personenkreises auf das Kollektiv und dessen Mitglieder erfasst, aber nicht (wie teilweise im ausländischen und supranationalen Recht) die Grenzen individueller Verantwortlichkeit und Schuld auflöst. Dabei ist der Blick nicht allein auf die Führungsperson zu richten, sondern es ist das gesamte Kollektivgeschehen zu berücksichtigen. Das bedeutet, dass in einem 106 ICTY, Urt. v. 15. 7. 1999 – IT-94 – 1-A (Prosecutor v. Dusˇko Tadic´), Rn. 172 ff. Näher Kai Ambos, Internationales Strafrecht, 5. Aufl., München 2018, § 7 Rn. 30 ff. S. auch Stefanie Bock, Zurechnung im Völkerstrafrecht, ZIS 2017, 417 ff. 107 Ambos (Fn. 106) § 7 Rn. 30. 108 Ambos (Fn. 106) § 7 Rn. 32; Bock (Fn. 105) 417 (425). 109 Zur Mittäterschaft im ICC-Statut s. Ambos (Fn. 106) § 7 Rn. 19 ff. 110 Näher mwN Engelhart (Fn. 1) S. 66 ff. 111 Vgl. den Präzedenzfall im US-Bundesstrafrecht U.S. v. Dotterweich, 320 U.S. 277 (1943); s. auch U.S. v. Park, 421 U.S. 658 (1975); U.S. v. Hanousek, 176 F.3d 1116 (9th Cir. 1999).
Mitwirkung von Führungspersonen an der Tat
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System der Mitverantwortung die Verantwortlichkeit von Unternehmen, Führungsperson und Mitarbeiter als unmittelbar Handelndem einzubeziehen ist.112 So erachtet bspw. Alwart eine „hochkomplexe Haftungsmatrix“113 für notwendig; Krämer hält eine Berücksichtigung des mesokriminellen Kontextes bei der individuellen Zurechnung im Rahmen einer Verantwortungsmatrix für geboten.114 Ein solcher Ansatz greift die systemischen Risiken in Unternehmen auf, die auf deren Machtakkumulation (Vermögenswerte, Wissen, Einfluss …) und den gruppendynamischen Effekten beruhen und zu einer nur begrenzten Steuerungsfähigkeit dieser Verbände von außen führen.115 Auf tatnächster Ebene, der des unmittelbar handelnden Mitarbeiters, genügen grundsätzlich die bestehenden strafrechtlichen Regelungen eines auf individuelle Verantwortlichkeit zugeschnittene Systems. Hier geht es im Wesentlichen um die fortlaufende Prüfung, ob das (Wirtschafts-)Strafrecht noch zutreffend die strafwürdigen und strafbedürftigen Handlungen erfasst.116 Bei Führungspersonen stoßen jedoch die klassischen Zurechnungsgrundsätze an ihre Grenzen, da der kollektive Kontext nicht hinreichend beachtet wird. Hier gilt es die besonderen Einflussmöglichkeiten und die Vorbildfunktion von Führungspersonen genauso wie die besondere Verantwortung zur Schaffung einer auf Rechtskonformität angelegten Umgebung und zur Kontrolle und Aufsicht von unterstellten oder auch nur anzuleitenden Verbandsmitgliedern zu berücksichtigen. Ausgangspunkt muss hier ebenfalls ein Konzept individueller Verantwortlichkeit sein, das aber um die individuell beeinflussten kollektiven Elemente zu ergänzen ist. Auf korporativer Ebene ist schließlich das Unternehmensklima mit seiner Unternehmensstruktur und Unternehmenskultur zu berücksichtigen, das als längerfristig verfasste Umgebung wesentlich das Verhalten der Verbandsmitglieder beeinflusst.117 Insoweit bedarf es auch auf dieser Ebene des längst überfälligen Lückenschlusses durch ein ausdifferenziertes Unternehmensstrafrecht. Das geplante VerSanG
112
Da das Wirtschaftsstrafrecht in weitem Umfang akzessorisch ist, ist eine schlüssige Konzeption im Hinblick auf zivilrechtliche (v. a. gesellschaftsrechtliche) und weitere öffentlich-rechtliche Pflichten und Haftungsfragen (wie v. a. in den regulierten Branchen) zu entwickeln. Die erfolgt zunehmend bspw. im Rahmen der Compliance-Diskussion (indem aus Sicht der Prävention auf Rechtsverstöße jeglicher Art abgestellt wird). Hierauf kann vorliegend jedoch nicht näher eingegangen werden. 113 Heiner Alwart, Sanktion und Verantwortung, ZIS 2011, 173. 114 Krämer (Fn. 4) S. 339. 115 Diese Risiken rechtfertigen dabei auch die Etablierung eines Unternehmensstrafrechts, s. Engelhart (Fn. 1) S. 606 ff. 116 Dabei ist v. a. auch (angesichts des Umfangs der Kriminalisierung) verstärkt zu fragen, ob nicht andere Rechtsbereiche außerhalb des Strafrechts besser geeignet sind, um effektiv Missstände zu beseitigen oder zu vermeiden. 117 Dies ist nicht als völlig getrennte Ebene zu sehen, da insbesondere die Führungspersonen die Struktur der Korporative bestimmen, so dass ein wechselseitiges Beeinflussungs- und Abhängigkeitsverhältnis besteht.
118
Marc Engelhart
würde (ohne dass hier auf durchaus kritikwürdige Details eingegangen werden könnte) diese Lücke füllen. In diesem System der Mitverantwortung ist somit der Verband verantwortlich für die allgemeinen kollektiven Rahmenbedingungen, die zu Straftaten führen (Verbandsverantwortlichkeit). Die Führungsperson ist verantwortlich für die in seinem Aufgabenbereich liegenden mangelhaften Rahmenbedingungen, die zu Straftaten führen (Organisationsverantwortlichkeit). Und der unmittelbare Täter ist schließlich für Straftaten verantwortlich, die er im Verbandskontext begeht. Um das Handeln der Führungsperson als eigenes Unrecht innerhalb des kollektiven und korporativen Umfelds konkret zu erfassen, bedarf es der Berücksichtigung mehrerer Aspekte: des Verbandsbezugs, der Anknüpfung an die Führungsposition, des Bezugs zur Gestaltung der Rahmenbedingungen, des Bezugs zur dauerhaften Einflussmöglichkeit auf die Strukturen bzw. auf die einzelnen Personen sowie des Bezugs zur konkret begangenen Tat des unmittelbar handelnden Verbandsmitglieds. Diese Punkte könnten als gesonderte Organisationstäterschaft neben den bestehenden Täterschaftsformen in einem neuen § 25 Abs. 3 StGB erfasst werden: „Wenn ein Verbandsmitglied in Wahrnehmung der Angelegenheiten des Verbands eine tatbestandsmäßige und rechtswidrige Straftat begeht (Anknüpfungstat), ist die Führungsperson wie ein Täter der von dem Verbandsmitglied begangenen Tat zu bestrafen, wenn die Führungsperson die Anknüpfungstat durch organisatorische Strukturen und Vorgaben gefördert oder durch angemessene Vorkehrungen zur Vermeidung von Straftaten wie insbesondere Organisation, Auswahl, Anleitung und Aufsicht hätte verhindern oder wesentlich erschweren können.“
Diese Täterschaftsdefinition bedürfte der weiteren Konkretisierung durch die Definition von Verband, Verbandsmitglied und der Führungsperson, was in § 11 StGB geregelt werden könnte. Der Begriff des Verbands sollte in Anlehnung an das VerSanG gefasst werden,118 der Begriff des Verbandsmitglieds sollte sich auf alle natürlichen Personen, die aufgrund eines Rechtsverhältnisses für den Verband verantwortlich handeln und/oder Arbeitsleistungen erbringen und tatsächlich auf Dauer in die Verbandsorganisation eingebunden sind,119 beziehen. Als Führungspersonen sind schließlich solche Verbandsmitglieder zu erfassen, die Weisungsbefugnisse und/ oder Organisationsbefugnisse hinsichtlich der Festlegung von Kompetenzen und Ablaufstrukturen haben. Es ist also nicht allein auf eine Hierarchie abzustellen, um auch moderne, flachere Unternehmensstrukturen zu erfassen, in denen einzelne Personen ohne spezielle Leitungsfunktion zentrale Organisationsaufgaben wahrnehmen.
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Der Regierungsentwurf des VerSanG sieht in § 2 I Nr. 1 vor, dass juristische Personen des Privatrechts und des öffentlichen Rechts, nicht rechtsfähige Vereine sowie rechtsfähige Personengesellschaft erfasst werden sollen; vgl. BR-Drs. 440/20, S. 4. Vorzugswürdig wäre allerdings eine eigene Definition, vgl. bspw. Engelhart (Fn. 1) S. 721, 680 ff. 119 Dadurch würde der Kreis bspw. nicht auf reine Werkdienstleister erstreckt, vgl. Engelhart (Fn. 1) S. 683 f., 721.
Mitwirkung von Führungspersonen an der Tat
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Mit der Anknüpfung an die tatbestandsmäßige und rechtswidrige Tat des Verbandsmitglieds wird die notwendige Akzessorietät hergestellt, jedoch nicht hinsichtlich der Schuld. Die Schuld wird, der Konzeption des StGB folgend, individuell beurteilt. Als Tathandlung kommt die (vorsätzliche120) Ermöglichung der Tat durch aktives Tun121 oder Unterlassen in Betracht, jedoch eingeschränkt durch den Bezug zu notwendigen organisatorischen Rahmenbedingungen bzw. aufsichtsrechtlichen Maßnahmen. Soweit der Tatbeitrag darüber hinausgeht, kommt eine mittäterschaftliche Beteiligung in Betracht; wenn nur einzelne Unterstützungsmaßnahmen vorliegen (aber nicht systematisch die Organisation beeinflusst wird) ist eine Teilnahmestrafbarkeit möglich. In diesen Fällen bedarf es jedoch einer klarer verfestigten Vorstellung von der Anknüpfungstat, während bei der Organisationstäterschaft eine vagere Vorstellung von Art, Umfang, Ort und Zeit sowie auch des konkreten Täters (der nur dem Kreis der von der Führungsperson beeinflussten Personen zuzurechnen ist) genügt. Mit diesem Ansatz würde nicht nur eine Abstimmung mit dem im Entstehen befindlichen Verbandsstrafrecht erfolgen, sondern es würde die im StGB seit 1870 bestehende Lücke der Erfassung von zentralen Beiträgen in Kollektiven geschlossen werden.
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Die Regelung einer gesonderten Fahrlässigkeitshaftung erscheint angesichts der Weite der Fahrlässigkeitsdogmatik nicht notwendig. Soweit auch die fahrlässige Förderung/Nichtverhinderung von Taten sanktionswürdig ist (bspw. weil innerhalb bestimmter Strukturen erhöhte Anforderungen an Führungspersonen bestehen), sollte dies Sondertatbeständen wie im VStGB oder im Rahmen der Amtsdelikte vorbehalten bleiben. Vgl. zum Aspekt der Fahrlässigkeitshaftung auch Bottke (Fn. 63) S. 70 ff. 121 Der Begriff des „Förderns“ sollte in diesem Zusammenhang nicht gesetzlich definiert werden, sondern der Konkretisierung im Einzelfall überlassen bleiben. Zu verlangen ist hierbei eine Handlung, die die Anknüpfungstat mit einer gewissen Erheblichkeit hat leichter (physisch oder psychisch) durchführen lassen, also deren Abwesenheit ihre Durchführung vor weitere Hürden etc. gestellt hätte.
Das subjektive Rechtfertigungselement als hermeneutisches Problem Von Walter Gropp
I. Innen- und Außenperspektive 1. Das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht als Marktplatz der Meinungen1 Nach Hans-Heinrich Jescheck und Albin Eser ist es Ulrich Sieber, der sich als Direktor des Freiburger MPI für Strafrecht der Strafrechtsvergleichung in besonderer Weise verschrieben hat. Was läge näher als ein Charakteristikum des von ihm mit großem Engagement geleiteten Instituts zum Anlass eines Festschriftbeitrags zu seinen Ehren zu nehmen: die Funktion des MPI als Stätte des vorurteilslosen Gedankenaustauschs zwischen deutschen und ausländischen StrafrechtswissenschaftlerInnen. Während Diskussionen zu Fragen der deutschen Strafrechtsdogmatik in der Regel eher aus der Innenperspektive erfolgen, bietet das Freiburger MPI die Möglichkeit, scheinbar „deutsche“ Streitfragen einmal mit ausländischen KollegInnen zu reflektieren. In diese Lage sah ich mich zurückversetzt, als ich mit ausländischen Freunden, die ich am MPI kennen und schätzen gelernt hatte, im Vorfeld der vierten Auflage meines Allgemeinen Teils2 über die Frage diskutierte, ob in einer Rechtfertigungssituation ein objektiv richtiges Handeln einer Person zur Strafbarkeit führt, wenn die handelnde Person von der rechtfertigenden Situation keine Kenntnis hat oder ihr sonstige spezielle subjektive Voraussetzungen des jeweilige Rechtfertigungsgrundes fehlen: A holt aus Wut über N zu einem Faustschlag gegen N aus und bricht ihm das Nasenbein. Dabei hatte er nicht bemerkt, dass N gerade zu einem Messerstich gegen A angesetzt hatte und der Faustschlag genau die erforderliche Abwehr gegen den Messerangriff des N war. Hat sich A einer vollendeten oder versuchten Körperverletzung nach § 223 StGB schuldig gemacht, weil ihm die Notwehrlage unbekannt war?
1
§§ ohne Zusatz beziehen sich auf das deutsche StGB; Bezeichnungen in der männlichen Form (Täter, Handelnder usw.) erfassen zugleich auch die weibliche Form. Für freundliche Gesprächs- und Diskussionsbereitschaft danke ich meinem Schüler Prof. Dr. Prof. h.c. Arndt Sinn, Osnabrück, sowie den Herren Wiss. Mitarb. Thomas Kolb und cand. iur. Wilhelm Terporten, jew. Gießen. 2 Gropp, Strafrecht Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2015.
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Walter Gropp
Die h.M. im deutschen Strafrecht würde eine Strafbarkeit des A wegen einer versuchten Körperverletzung annehmen.3 In Italien und in der Türkei würde A hingegen wohl straffrei bleiben: Nach Art. 59 Abs. 1 des italienischen codice Rocco sind „Umstände, die die Strafe mildern oder ausschließen, […] dem Täter zu seinen Gunsten anzurechnen, auch wenn er sie nicht gekannt hat oder wenn sie von ihm irrtümlich als nicht vorliegend angenommen werden.“4 Dies gilt selbst für Rechtfertigungsgründe, die in ihrem Wortlaut psychologische Elemente enthalten.5 Der Grund dürfte in dem im italienischen Strafrecht gültigen Prinzip der „offensivitá“ zu sehen sein, nach dem eine Straftat auch in der Verletzung oder Gefährdung eines Rechtsguts bestehen muss.6 Auch in der Türkei wird neben dem Vorliegen der objektiven Rechtfertigungsmerkmale ein subjektives Rechtfertigungselement nicht vorausgesetzt,7 wobei allerdings nicht zu übersehen ist, dass die Beeinflussung des türkischen Strafrechts durch die deutsche Strafrechtswissenschaft, vor allem seit der Einführung des neuen Strafgesetzbuchs von 2004, auch hier zu einer Subjektivierung beizutragen scheint.8 Die für eine Strafbarkeit entscheidende Vorfrage der ausländischen Freunde, ob denn A überhaupt rechtswidrig gehandelt habe, hatte mich nachdenklich gemacht und zu einem Aufsatz in der Festschrift für Kristian Kühl geführt.9 Ich bin damals zu dem Ergebnis gekommen, dass ein in einer Rechtfertigungslage objektiv rechtfertigungsgemäß aber in Unkenntnis der Sachlage Handelnder weder wegen Vollendung noch wegen eines Versuchs bestraft werden kann,10 und habe dies auch in
3 Vgl. Hillenkamp/Cornelius, 32 Probleme aus dem Strafrecht Allgemeiner Teil, 15. Aufl. 2017, S. 38 f.; Kindhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 2017, § 29 Rn. 9; Mitsch, in: Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, Strafrecht Allgemeiner Teil, 12. Aufl. 2016, § 14 Rn. 55 mit Fn. 259; Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil, 9. Aufl. 2017, § 17 Rn. 18 f.; Wessels/Beulke/ Satzger, Strafrecht Allgemeiner Teil, 47. Aufl. 2017, Rn. 406 – alle m.w.N. 4 Zitiert bei Maiwald, Einführung in das italienische Recht und Strafprozessrecht, 2009, S. 96. 5 Maiwald, Einführung in das italienische Recht und Strafprozessrecht, 2009, S. 96; allerdings muss man sehen, dass durch die L. 26 aprile 2019, n. 36 bei Notwehr gegen Hausfriedensbruch die dafür erforderliche Verhältnismäßigkeit angenommen wird, wenn der Täter „zum Zweck der Verteidigung“ handelt. Da dies jedoch als Erleichterung der Annahme von Notwehr verstanden werden soll, dürfte es nicht als Einschränkung der „offensivitá“ zu sehen sein. Für den Hinweis auf die Änderung vom April 2019 danke ich meinem Kollegen Mauro Catenacci, Universitá Roma Tre. 6 Näher Maiwald, Einführung in das italienische Recht und Strafprozessrecht, 2009, S. 42 ff. 7 Vgl. Comoglu, Das subjektive Rechtfertigungselement im türkischen Strafrecht im Spiegel der deutschen subjektiven Rechtfertigungselemente, 2017, S. 43 m.w.N., 52. 8 . Vgl. Comoglu, Das subjektive Rechtfertigungselement im türkischen Strafrecht im Spiegel der deutschen subjektiven Rechtfertigungselemente, 2017, S. 45 f. 9 Gropp, in: Heger/Kelker/Schramm (Hrsg.), Kühl-FS, 2014, S. 247 ff. 10 Gropp, in: Heger/Kelker/Schramm (Hrsg.), Kühl-FS, 2014, S. 258.; krit. und lesenswert hierzu Zabel, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Strafgesetzbuch (NK), 5. Aufl. 2017, vor § 32 Rn. 89a.
Das subjektive Rechtfertigungselement als hermeneutisches Problem
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der vierten Auflage des Lehrbuches zum Allgemeinen Teil so vertreten.11 Diese Aussage halte ich bis heute für richtig; insbesondere auch insoweit, als es nicht die in einschlägigen Veröffentlichungen vielbeschworene personale Unrechtslehre ist, welche eine Strafbarkeit des in Unkenntnis der Rechtfertigungslage Handelnden zu legitimieren vermag. Ob und wann diese Straffreiheit nun auf einer Rechtmäßigkeit des „objektiv rechtmäßigen“ Verhaltens des Irrenden beruht (vgl. FS Kühl) oder trotz einer formal rechtswidrigen Handlung auf dem Fehlen einer tatbestandsmäßigen Unrechtsverwirklichung, soll Gegenstand der folgenden Überlegungen sein. Aber wie auch immer die Antwort lauten wird: Ob die Erfüllung eines subjektiven Rechtfertigungselements vom Handelnden gefordert werden darf, ist eine Frage der Auslegung des jeweils einschlägigen rechtfertigenden Rechtssatzes und damit eine Frage der Hermeneutik. Rechtsphilosophische Überlegungen sollen hier nicht angestellt werden. Sie mögen im Vorfeld der Entwicklung von Rechtssätzen eine tragende Rolle spielen. Liegen anerkannte Rechtssätze aber erst einmal vor, entscheiden die Grenzen ihrer Auslegung über Strafbarkeit und Straffreiheit. 2. Das subjektive Rechtfertigungselement in der Diskussion Zur Frage eines subjektiven Rechtfertigungselementes als Voraussetzung für eine Rechtfertigung bei objektiv gegebener Rechtfertigungslage und zu den Folgen beim Fehlen dieses Rechtfertigungselementes infolge Unkenntnis des Handelnden oder des Fehlens sonstiger besonderer subjektiver Rechtfertigungsmerkmale werden in einschlägigen Stellungnahmen insbesondere drei Ansichten referiert:12 – subjektive Rechtfertigungselemente seien von vornherein nicht anzuerkennen; der Handelnde handele auch dann rechtmäßig, wenn er die rechtfertigende Situation nicht kennt (sog. „objektive Unrechtslehre“); – wer in Unkenntnis einer rechtfertigenden Situation einen tatbestandsmäßigen Erfolg herbeiführt, könne den Rechtfertigungsgrund nicht für sich beanspruchen und sei wegen vollendeter Tat strafbar; – durch die Rechtfertigungslage und die richtige Rechtfertigungshandlung entfalle nur das Erfolgsunrecht der Tat. Es bleibe jedoch mangels Kenntnis von der rechtfertigenden Situation das personale Handlungsunrecht bestehen. Damit liege dogmatisch die Struktur eines Versuchs (zumindest entsprechend) vor und der Handelnde sei wegen Versuchs strafbar, wenn der Versuch der entsprechenden Straftat strafbar ist. Die Argumentationsmuster für und gegen die unterschiedlichen Auffassungen erscheinen schablonenhaft und austauschbar. Die Ursache könnte darin liegen, dass 11
Gropp, AT (Fn. 2), § 5 Rn. 47 ff. Zum Meinungsstand Salimi, Das subjektive Rechtfertigungselement im Strafrecht, 2010, S. 93 ff.; Rengier, AT (Fn. 3), § 17 Rn. 50 ff. 12
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Walter Gropp
zwischen rechtstheoretisch erwünschten und rechtsdogmatisch möglichen Konstruktionen nicht hinreichend unterschieden wird. Die vorgetragenen Argumentationsmuster sollen deshalb auf ihre dogmatische Tragfähigkeit hin näher untersucht werden. Dies betrifft insbesondere die zur Begründung des subjektiven Rechtfertigungselementes vorgetragenen Thesen vom „Spiegelbild“ (II. 1. a)), der Parallelstruktur (II. 1. b)) und der Unrechtskompensation (II. 1. c)), die letztlich angesichts der Wortlautgrenze aus dem nullum crimen/nulla poene sine lege-Grundsatz nicht haltbar sind (II. 1. d), II. 2.). Die Erörterung überprüft aber auch die These von der Strafbarkeit wegen Versuchs (III. 2.) als Folge des Fehlens eines erforderlichen subjektiven Rechtfertigungselementes kritisch.
II. Begründungsmuster zum Erfordernis eines subjektiven Rechtfertigungselementes 1. Die personale Unrechtslehre als unzureichendes Begründungsmuster für subjektive Rechtfertigungselemente Die Bezugnahme auf die personale Unrechtslehre im Begründungsmuster für das Erfordernis eines subjektiven Rechtfertigungselementes13 bedient sich der Schlagworte vom „Spiegelbild“ (a)), von der „Kompensation“ (b)) und von der „Parallelstruktur“ (c)). a) Das subjektive Rechtfertigungselement als Spiegelbild des tatbestandlichen Vorsatzes Wohl am weitesten verbreitet ist die Auffassung, dass das subjektive Rechtfertigungselement eine Art „Spiegelbild“ bzw. Spiegelung des Vorsatzes als Element der Tatbestandsmäßigkeit darstelle.14 Den objektiven und subjektiven Elementen im Bereich der Tatbestandsmäßigkeit entsprächen im Bereich der Rechtswidrigkeit die Rechtfertigungslage und die Rechtfertigungshandlung.15 Zuweilen ist auch von der „Übereinstimmung“16 oder „identischen Grobstruktur“17 die Rede. Auch bilde 13 Zur personalen Unrechtslehre als Begründung für das subjektive Rechtfertigungselement insbesondere Comoglu, Das subjektive Rechtfertigungselement im türkischen Strafrecht im Spiegel der deutschen subjektiven Rechtfertigungselemente, 2017, S. 7; Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2017, § 6 Rn. 12; Rönnau, JuS 2009, 594 (595); Salimi, Das subjektive Rechtfertigungselement im Strafrecht, 2010, S. 15; Wessels/Beulke/Satzger, AT (Fn. 3), Rn. 150, 401; Steinbach, Zur Problematik der Lehre von den subjektiven Rechtfertigungselementen bei den vorsätzlichen Erfolgsdelikten, 1987, S. 118 m.w.N. 14 Vgl. Prittwitz, Jura 1984, 74 (76); Steinbach, Zur Problematik der Lehre von den subjektiven Rechtfertigungselementen bei den vorsätzlichen Erfolgsdelikten, 1987, S. 201. 15 Eisele/Heinrich, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2017, Rn. 212; Streng, in: Dannecker/ Langer/Ranft/Schmitz/Brammsen (Hrsg.), Otto-FS, 2007, S. 469 (470). 16 Kindhäuser, AT (Fn. 3), § 15 Rn. 9; Rengier, AT (Fn. 3), § 17 Rn. 9.
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das subjektive Rechtfertigungselement das Gegenstück der intellektuellen Komponente innerhalb der Tatbestandsmäßigkeit.18 b) Schlussfolgerungen aus strukturellen Parallelen in der Lehre von der Straftat Die Verbindung des Spiegelbildansatzes mit der Lehre von der Straftat stellt die Forderung nach einem subjektiven Rechtfertigungselement als Folge eines „systematischen Denkens“19 her. Wenn die Tatbestandsmäßigkeit der Unwert- und Unrechtsbeschreibung diene und die Rechtfertigungsgründe der Rechtmäßigkeitserklärung, dann müssten beide Stufen des Aufbaus der Straftat auch ähnlich beschaffen sein.20 Wenn man aber davon ausgehe, dass Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit bzw. Rechtfertigungsgründe parallele Strukturen aufweisen,21 dann sei die Schlussfolgerung von der personalen Unrechtslehre auf die Notwendigkeit eines subjektiven Rechtfertigungselementes nur folgerichtig.22 Der „Siegeszug“ der personalen Unrechtslehre „nötige“ zur Anerkennung subjektiver Rechtfertigungsvoraussetzungen.23 Im Grunde werden wir hier Zeugen des Versuchs einer systematischen Auslegung von Rechtfertigungsgründen – orientiert an der Struktur der Tatbestandsmäßigkeit der vorsätzlichen Straftat. Fraglich ist nur, ob solch eine Auslegung zulässig ist.24
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Mitsch, AT (Fn. 3), § 14 Rn. 43; vgl. auch Wessels/Beulke/Satzger, AT (Fn. 3), Rn. 401. Steinbach, Zur Problematik der Lehre von den subjektiven Rechtfertigungselementen bei den vorsätzlichen Erfolgsdelikten, 1987, S. 145; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, Strafgesetzbuch, 30. Aufl. 2019, vor § 32 Rn. 13; vgl. auch Hillenkamp/Cornelius (Fn. 3), S. 35 „Umkehr zu § 16“. 19 Eisele/Heinrich, AT (Fn. 15), Rn. 214; B. Heinrich, Strafrecht Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2019, Rn. 392; Hardtung/Putzke, Examinatorium Strafrecht AT, 2016, Rn. 526. 20 Steinbach, Zur Problematik der Lehre von den subjektiven Rechtfertigungselementen bei den vorsätzlichen Erfolgsdelikten, 1987, S. 309; Wessels/Beulke/Satzger, AT (Fn. 3), Rn. 401. 21 Hilgendorf/Valerius, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 2015, § 5 Rn. 15; vgl. auch Steinbach, Zur Problematik der Lehre von den subjektiven Rechtfertigungselementen bei den vorsätzlichen Erfolgsdelikten, 1987, S. 145. 22 Vgl. Kühl, AT (Fn. 13), § 6 Rn. 12; Steinbach, Zur Problematik der Lehre von den subjektiven Rechtfertigungselementen bei den vorsätzlichen Erfolgsdelikten, 1987, S. 118; Wessels/Beulke/Satzger, AT (Fn. 3), Rn. 150, 401; Salimi, Das subjektive Rechtfertigungselement im Strafrecht, 2010, S. 15. 23 Schünemann, GA 1985, 341 (371). 24 Mehr dazu unten 2. a). 18
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c) Das subjektive Rechtfertigungselement als Kompensation des tatbestandlichen Vorsatzes Während Begriffe wie „Spiegelbild“, „Gegenstück“ und „Parallele“ eher an Übungsstunden im Fach Geometrie erinnern, versucht der Kompensationsgedanke quantitative Argumente für die Notwendigkeit eines subjektiven Rechtfertigungselementes ins Feld zu führen. Der Rechtfertigungsvorsatz auf Rechtfertigungsebene kompensiere sozusagen den bösen Vorsatz auf Tatbestandsebene.25 Auch von einer „Neutralisierung“ der subjektiven Elemente der Tatbestandsmäßigkeit durch subjektive Elemente der Rechtfertigung bzw. der Funktion der subjektiven Rechtfertigungselemente als „Gegengewichte“ zu subjektiven Tatbestandselementen ist die Rede.26 d) Spiegelbild, Parallelstruktur und Kompensation – Beschreibungen statt Begründungen Die unter a) – c) vorgetragenen Argumente beruhen auf einer spezifischen Vorstellung von der Struktur der Straftat. Danach bilden der Vorsatz als Element der Tatbestandsmäßigkeit und die subjektiven Rechtfertigungselemente als Elemente der Rechtfertigungsgründe Bestandteile der Straftat. Selbstverständlich kann man aus der Vorstellung von der Anordnung jener Elemente innerhalb des Aufbaus der Straftat Schlussfolgerungen ziehen. Wenn man der Meinung ist, dass die Tatbestandsmäßigkeit aus objektiven und subjektiven Elementen besteht, dann liegt der Gedanke nicht fern, dass auch die Rechtswidrigkeit aus objektiven und subjektiven Elementen besteht. Der Aufbau der Straftat und Schlussfolgerungen daraus sind aber nicht zwingend, bedürfen vielmehr ihrerseits der Begründung und verfassungsrechtlichen Zulässigkeit. Auf der Grundlage des Spiegelbild-Ansatzes könnte man z. B. nicht erklären, dass ausgerechnet die Rechtsprechung und Anhänger einer kausalen Handlungslehre ein subjektives Rechtfertigungselement fordern, obwohl nach ihren Vorstellungen die Tatbestandsmäßigkeit den Vorsatz als subjektives Element überhaupt nicht kennt. Wenn also auch ohne personale Unrechtslehre ein subjektives Rechtfertigungselement gefordert wird, dann kann die personale Unrechtslehre nicht allein und zwingend das sein, was ein subjektives Rechtfertigungselement als „selbstverständlich“ erscheinen lässt.27 Die Forderung nach einem subjektiven Rechtferti25 Vgl. Hardtung/Putzke, AT (Fn. 19), Rn. 527; Krey/Esser, Deutsches Strafrecht Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2016, Rn. 458; Kudlich, Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2016, Fall 71; Kühl, AT (Fn. 13), § 6 Rn. 12; Rengier, AT (Fn. 3), § 17 Rn. 9, § 18 Rn. 108; Safferling, Vorsatz und Schuld, 2008, S. 201, 209. 26 Bock, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2018, S. 263; Brüning, ZJS 2013, 511 (514); Mitsch, AT (Fn. 3), § 14 Rn. 46; Salimi, Das subjektive Rechtfertigungselement im Strafrecht, 2010, S. 31. 27 Vgl. aber Steinbach, Zur Problematik der Lehre von den subjektiven Rechtfertigungselementen bei den vorsätzlichen Erfolgsdelikten, 1987, S. 145.
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gungselement beruht somit nicht (primär und ausschließlich) auf der personalen Unrechtslehre, obwohl sie mit ihr durchaus strukturell korrespondieren mag. Die Forderung eines subjektiven Rechtfertigungselementes ist vielmehr eine rechtsphilosophische Frage darüber, wie man sich den Menschen als einen Adressaten von strafrechtlichen Verbots- und gesamtrechtlichen Erlaubnissätzen vorstellt. Wer verlangt, dass nur derjenige gerechtfertigt ist, der die rechtfertigende Situation als solche erkannt und aus der entsprechenden Motivation heraus gehandelt hat, der stellt sich einen mündigen, rechtswahrenden Adressaten der Erlaubnissätze vor. Die Rechtfertigung ist dann nur auf Grund einer geistigen Leistung des Handelnden möglich. Für die Befugnis, eine solche Leistung zu verlangen, genügt eine rechtsphilosophische Begründung im Bereich des Strafrechts aber nicht. Hier bedarf es zusätzlich einer speziell strafrechtlichen Legitimation. Diese Fragen bleiben in der gegenwärtigen Diskussion ganz im Hintergrund, weil man glaubt, sie wegen des Hinweises auf die personale Unrechtslehre gar nicht stellen zu müssen – zu Unrecht. Denn die personale Unrechtslehre als Errungenschaft der finalen Handlungslehre28 konnte mit den Grenzen, insbesondere den Freiheitsgarantien, des Strafrechts nur deshalb nicht in Kollision geraten, weil sie den Bereich der Strafbarkeit nicht ausdehnte. Indem man in die Tatbestandsmäßigkeit den Vorsatz und weitere subjektive, für die Unwert- und Unrechtsbegründung notwendige Elemente einbaute, „verschob“ man diese Elemente innerhalb der Struktur der Straftat nur, insbesondere von der Schuldhaftigkeit in die Tatbestandsmäßigkeit. Jene Verschiebung personaler Elemente in die Tatbestandsmäßigkeit konnte das Unrecht „menschengerechter“ erklären, sie änderte an der Gesamtheit der Voraussetzungen der Strafbarkeit aber nichts. Das gesetzlich festgelegte Vorsatzerfordernis wurde der Garantiefunktion des Strafrechts gerecht, unabhängig davon, wo man es innerhalb des Aufbaus der strafbaren Handlung verortete. Für das subjektive Rechtfertigungselement gilt dieser Befund der Unbedenklichkeit im Hinblick auf die Garantiefunktion des Strafrechts hingegen nur eingeschränkt. Dies bedarf der näheren Begründung: 2. Das Wortlautargument: nullum crimen/nulla poena sine lege scripta a) Die Teilhabe der Rechtfertigungsgründe an der Garantiefunktion des Strafrechts Während die Verortung des Vorsatzes in die Tatbestandsmäßigkeit nur auf einer den Handelnden nicht zusätzlich belastenden Verschiebung beruhte, ist es mit der Aufstellung von Rechtfertigungsvoraussetzungen ganz anders: Sie werden in den Aufbau der Straftat von außen eingefügt. Und je mehr Hürden für eine Rechtfertigung aufgestellt werden, d. h. je mehr Merkmale ein Rechtfertigungsgrund aufweist, 28
Näher dazu Gropp, AT (Fn. 2), § 2 Rn. 95 ff.
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desto größer wird der Bereich dessen, was nicht gerechtfertigt wird, desto eher läuft der Handelnde Gefahr, rechtswidrig zu handeln, sich u. U. sogar strafbar zu machen. Nicht so bei den Merkmalen der Tatbestandsmäßigkeit: Je mehr strafbegründende Merkmale eine Tatbestandsmäßigkeit aufweist, desto kleiner ist der Bereich des nach ihr Strafbaren. Deshalb mag der Hinweis auf die Spiegelbildlichkeit des subjektiven Rechtfertigungselementes mit dem Vorsatz oder auf die Kompensation des Vorsatzes durch das subjektive Rechtfertigungselement ein schönes Bild zeichnen, die Spiegelbildlichkeit mit dem Vorsatz ist als Legitimation des subjektiven Rechtfertigungselementes dennoch völlig ungeeignet. Der Umgang mit Merkmalen von Rechtfertigungsgründen als Bedingungen für eine Strafbefreiung bedarf angesichts der Garantiefunktion des Strafrechts einer weit höheren Sensibilität als dies für einfache strafbegründende Merkmale der Fall ist. Der Grundsatz nullum crimen/nulla poena sine lege bedeutet, dass der Gesetzgeber möglichst genau beschreiben muss, was strafbar ist. Was nicht gesetzlich vorgeschrieben ist, darf nicht zur Grundlage für eine Strafbarkeit gemacht werden.29 Aber auch bei den Voraussetzungen der Rechtfertigungsgründe handelt es sich um Elemente, welche über die Strafbarkeit des Handelnden entscheiden. Denn nur, wenn der Handelnde sie erfüllt, bleibt er straffrei. Zum Garantieprinzip des Strafrechts gehört es folglich, dass der Handelnde auch im Bereich der Rechtfertigungsgründe vor seinem Handeln erkennen können muss, unter welchen Voraussetzungen er rechtmäßig handelt und damit straflos bleibt.30 Zu diesen Voraussetzungen gehören auch subjektive Rechtfertigungselemente. Somit haben auch sie am nullum crimen/nulla poena sine lege-Grundsatz teil.31 Dann aber ist es unzulässig, sie über einen eindeutigen Gesetzeswortlaut hinaus als weitere Voraussetzungen bzw. Hürden für eine Rechtfertigung in den rechtfertigenden Rechtssatz hineinzulesen. Das Garantieprinzip des Strafrechts erlaubt es folglich nicht, das „Fehlen“ geschriebener subjektiver Rechtfertigungselemente entsprechend der Notwehr oder dem rechtfertigenden Notstand „aufzufüllen“. Denn dies wäre nicht mehr eine den Wortlaut respektierende systematische Auslegung, sondern eine unzulässige analogia in malam partem. Es bekümmert in höchstem Maße, wie unbekümmert diese Lückenfüllung und weitere, Rechtfertigungsgründe einschränkende Analogien vertre-
29 Vgl. B. Heinrich, AT (Fn. 19), Rn. 24; Satzger, Jura 2016, 154 (154 f.); Rönnau, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar (LK), 12. Aufl. 2006, vor § 32 Rn. 62 jew. m.w.N. 30 LK/Rönnau (Fn. 29) vor § 32 Rn. 64 vor; Schmitz, in: Joecks/Miebach (Hrsg.) Münchener Kommentar (MK-StGB), 3. Aufl. 2017, § 1 Rn. 13 ff. – jew. m.w.N.; vgl. auch Engels, GA 1982, 109 (119); das ist freilich eher eine neuere Entwicklung, and. z. B. noch Günther, in: Samson/Dencker/P. Frisch/Frister/Reiß (Hrsg.), Grünwald-FS, 1999, S. 213 (219): der Grundsatz nullum crimen/nulla poena sine lege gelte nur für genuin strafrechtliche Strafbarkeitsvoraussetzungen, für Erlaubnissätze mithin nicht; Krey, JZ 1979, 702 (711); weit. Nachw. zur älteren ablehnenden Auffassung bei LK/Rönnau (Fn. 29), vor § 32 Rn. 63. 31 Satzger, Jura 2016, 154 (156).
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ten wurden und werden.32 Der Täter muss sich jedoch auch im Bereich der Rechtfertigung am geschriebenen Gesetz orientieren dürfen: Sobald der Gesetzgeber festlegt, was zu Gunsten des Handelnden die Voraussetzungen sein sollen, die sein Verhalten rechtmäßig und straffrei machen, ist das „gewohnheitsrechtliche“ Hinzufügen weiterer ungeschriebener Rechtfertigungsvoraussetzungen über einen bestehenden Wortlaut hinaus eine Aktion zu Ungunsten des Handelnden in Form der Analogie und damit unzulässig. Mit erfreulicher Deutlichkeit findet man hierzu in jüngerer Zeit Ausführungen insbesondere bei Wessels/Beulke/Satzger: „Ein Verstoß gegen das Gesetzlichkeitsprinzip liegt […] vor, wenn sich der Rechtsanwender durch die Restriktion des Erlaubnissatzes über den im Gesetzestext objektiv manifestierten Willen des Gesetzgebers hinwegsetzt.“33 Das Ergebnis lautet somit, dass auch auf der Ebene der Rechtfertigungsgründe die Wortlautgrenze das Maximum dessen beschreibt, was von dem Handelnden verlangt werden darf, damit er gerechtfertigt werden kann. b) Der Wortlaut der Rechtfertigungsgründe als Legitimation für ein subjektives Rechtfertigungselement Wie es das Vorrecht des Gesetzgebers ist, im Rahmen der Verfassung die Voraussetzungen für die Strafbarkeit eines Verhaltens zu definieren, so steht es ihm auch zu, die Voraussetzungen festzulegen, unter denen ein tatbestandsmäßiges Verhalten gerechtfertigt wird. Geschriebene Rechtfertigungsgründe sind danach das Ergebnis von Wertentscheidungen des Gesetzgebers, wann und unter welchen Bedingungen eine Rechtfertigung tatbestandsmäßigen Verhaltens möglich ist.34 Der Hinweis auf den Wortlaut bildet im Bereich der geschriebenen Rechtfertigungsgründe das einzige tragfähige und zulässige Argument für die Legitimation subjektiver Rechtfertigungselemente.35 Es ist ein Trost, dass sich Befürworter wie Gegner eines subjektiven Rechtfertigungselementes immerhin auch auf den Wortlaut von Rechtfertigungsgründen stützen. Insbesondere zu den §§ 32 (Notwehr) und 34 (rechtfertigender Notstand) wird ausgeführt, dass sich die Notwendigkeit eines subjektiven Rechtfertigungselementes aus dem Gesetz ergebe: gerechtfertigt werde nur, wer eine Tat begeht, „um“ „einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff“ bzw. „die Gefahr von […] einem anderen ab32
Vgl. Hardtung/Putzke, AT (Fn. 19), Rn. 525, 567, 610; zahlreiche Nachweise zu älteren Auffassungen bei Engels, GA 1982, 109 (115, 123 f.). 33 Wessels/Beulke/Satzger, AT (Fn. 3), Rn. 394 ff. (395 m.w.N.); vgl. auch Frister, GA 1988, 291 (315); Schönke/Schröder/Hecker (Rn. 18), § 1 Rn. 13; Paeffgen, in: Kindhäuser/ Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Strafgesetzbuch (NK), 3. Aufl. 2010, vor § 32 Rn. 66; LK/Rönnau (Fn. 29), vor § 32 Rn. 66; Satzger, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier (Hrsg.), Strafgesetzbuch (SSW), 4. Aufl. 2019, § 1 Rn. 36; Satzger, Jura 2016, 154 (160 f.). 34 Vgl. Krey/Esser, AT, (Fn. 25), Rn. 459. 35 Vgl. Salimi, Das subjektive Rechtfertigungselement im Strafrecht, 2010, S. 28.
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zuwenden“.36 Den eindeutigen oder zumindest im Sinne eines subjektiven Rechtfertigungselementes auslegbaren Gesetzeswortlaut eines Rechtfertigungsgrundes gilt es zu respektieren.37 Es ist also zunächst der Gesetzeswortlaut von Rechtfertigungsgründen, der zu der Aussage berechtigt, dass bei der Nichterfüllung gesetzlich vorgeschriebener subjektiver Rechtfertigungselemente der entsprechende Rechtfertigungsgrund seine Wirkung nicht entfalten kann. Unberührt davon bleibt freilich die Frage, zu welcher Folge das Fehlen des gesetzlich vorgesehenen subjektiven Rechtfertigungselementes führt.38 3. Ungeschriebene, aber gewohnheitsrechtlich anerkannte Rechtfertigungsgründe Gewohnheitsrechtlich anerkannte Rechtfertigungsgründe verstoßen schon begrifflich39 und auch als Regelungen zu Gunsten des Handelnden nicht gegen den Grundsatz nullum crimen/nulla poena sine lege scripta, auch wenn sie „ungeschrieben“, aber gewohnheitsrechtlich anerkannt (opinio necessitatis + consuetudo)40 subjektive Rechtfertigungselemente voraussetzen. Und selbst wenn opinio necessitatis und consuetudo sich erst nach und nach in Richtung eines subjektiven Rechtfertigungselementes entwickelt hätten, würde sich jene scheinbare Restriktion gerade nicht auf einen strafrechtlich garantierten Zustand beziehen. Der Handelnde kann sich im Bereich strafrechtlichen Gewohnheitsrechts zu Gunsten des Täters eben nicht darauf verlassen, dass sich dieses Gewohnheitsrecht im Laufe der Zeit nicht zu seinen Ungunsten verändert. Auch ungeschriebene anerkannte Rechtfertigungsgründe führen somit nur – aber auch immer – dann zur Rechtfertigung, wenn der Handelnde das gewohnheitsrechtlich Verlangte vollumfänglich erfüllt. 4. Rechtfertigungsgründe ohne subjektives Rechtfertigungselement Wer einen Rechtfertigungsgrund verwirklicht, dessen gesetzliche Formulierung oder gewohnheitsrechtliche Anerkennung ein subjektives Rechtfertigungselement nicht verlangen, handelt auch dann rechtmäßig, wenn er keine Kenntnis von der 36
Vgl. Bock, AT (Fn. 26), S. 263; Eisele/Heinrich, AT (Fn. 15), Rn. 291; Hardtung/Putzke, AT (Fn. 19), Rn. 525; B. Heinrich, AT (Fn. 19), Rn. 388, 429 ff.; Hillenkamp/Cornelius (Fn. 3), S. 35; Kudlich AT (Fn. 25), Fall 71; Rengier, AT (Fn. 3), § 18 Rn. 108; Steinbach, Zur Problematik der Lehre von den subjektiven Rechtfertigungselementen bei den vorsätzlichen Erfolgsdelikten, 1987, S. 117; Salimi, Das subjektive Rechtfertigungselement im Strafrecht, 2010, S. 24. 37 So z. B. beim rechtfertigenden Notstand, vgl. Gropp, AT (Fn. 2), § 5 Rn. 273 f. 38 Dazu näher unten III. 39 Vgl. LK/Rönnau (Fn. 29), vor § 32 Rn. 65. 40 Vgl. Gropp, AT (Fn. 2), § 1 Rn. 87 ff. m.w.N.
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rechtfertigenden Situation hat und dennoch im Sinne des Rechtfertigungsgrundes richtig handelt.
III. Begründungsmuster zu den Folgen des Fehlens subjektiver Rechtfertigungselemente Verlangen geschriebene oder gewohnheitsrechtlich anerkannte Rechtfertigungsgründe die Erfüllung subjektiver Rechtfertigungselemente, so ist eine Rechtfertigung ausgeschlossen, wenn der Handelnde nicht alle geforderten Rechtfertigungselemente erfüllt. Es bleibt die Frage, ob man den so ohne Kenntnis der Rechtfertigungslage bzw. ohne ein spezifisches subjektives Rechtfertigungselement Handelnden bestrafen kann. Hierzu werden im Wesentlichen drei Ansichten vertreten: Strafbarkeit wegen der vollendeten Straftat (1.), wegen Versuchs (2.) sowie eine Straffreiheit (3.): 1. Strafbarkeit wegen der vollendeten Straftat Nach der älteren Rechtsprechung und einem Teil des Schrifttums soll sich der Täter trotz Vorliegens der rechtfertigenden Sachlage wegen einer vollendeten Straftat strafbar machen, wenn er ohne das erforderliche subjektive Rechtfertigungselement handelt.41 Weil der Rechtfertigungsgrund nicht gegeben sei bzw. ein „wesentlicher Teil“ des Rechtfertigungsgrundes nicht vorliege, komme dem Täter der Rechtfertigungsgrund „insgesamt“ nicht zugute.42 An dieser Argumentation ist zwar richtig, dass mit dem Fehlen von rechtfertigenden Elementen die rechtfertigende Wirkung eines Rechtfertigungsgrundes nicht eintreten kann, was die Eigenschaft des Handelns als insgesamt rechtswidrig unberührt lässt. Dies ändert aber nichts daran, dass der verwirklichte Unwert („Erfolg“) rechtskonform und damit kein straftatbestandsmäßiges Unrecht ist. Eine Bestrafung wegen einer vollendeten Straftat trotz des Fehlens jenes straftatbestandsmäßigen Erfolgsunrechts würde folglich bedeuten, dass man den Täter für ein Unrecht verantwortlich macht, das er (im Unterschied zum tatbestandlichen Unwert) gar nicht verwirklicht hat, das nicht einmal existiert! Die h.M. lehnt die Vollendungslösung deshalb zu Recht ab.43
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Vgl. die Nachweise bei Kindhäuser, AT (Fn. 3), § 29 Rn. 10 sowie B. Heinrich, AT (Fn. 19), Rn. 392; Rengier, AT (Fn. 3), § 17 Rn. 16 f. 42 Eisele/Heinrich, AT (Fn. 15), Rn. 214. 43 Vgl Herzberg, JA 1986, 190 (193); Wessels/Beulke/Satzger, AT (Fn. 3), Rn. 406 m.w.N.
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2. Strafbarkeit wegen Versuchs? a) Handlungsunrecht ohne Erfolgsunrecht Die gegenwärtig wohl h.M. bevorzugt eine Strafbarkeit beim Nichterfüllen subjektiver Rechtfertigungsvoraussetzungen aus dem Versuch der betreffenden Straftat. Dabei geht der eine Teil der Meinungen vom Vorliegen eines untauglichen Versuchs aus.44 Das objektive Vorliegen einer rechtfertigenden Situation und die objektiv richtige Reaktion des Handelnden könnten das Unrecht einer vollendeten Straftat nicht verwirklichen (Erfolgsunrecht). Es liege vielmehr lediglich ein Handlungsunrecht vor, welches für die Versuchsstrafbarkeit kennzeichnend sei. Andere45 halten die Situation mit der rechtlichen Situation des Versuchs für „vergleichbar“. Die Versuchsregeln seien daher analog anzuwenden. Entscheidend für die Analogie seien der auf die Unrechtsverwirklichung gerichtete Wille des Täters und das fehlende Erfolgsunrecht. Diese Analogie sei auch im Strafrecht zulässig, weil die Strafbarkeit wegen Versuchs gegenüber einer Strafbarkeit wegen Vollendung eine Besserstellung des Täters bedeute und somit eine analogia in bonam partem vorliege.46 Ob die Versuchsstrafbarkeit wirklich eine Besserstellung des Täters bedeutet, wenn man eine Vollendungsstrafbarkeit mangels einer entsprechenden Unrechtsverwirklichung als mit dem Schuldgrundsatz unvereinbar ablehnen muss, mag bezweifelt werden. Die Frage muss aber nicht entschieden werden. Denn eine Versuchsstrafbarkeit kommt – ungeachtet der Frage der Zulässigkeit einer Analogie – schon aus grundsätzlichen Erwägungen zur Axiologie des Versuchs nicht in Frage: b) Straffreiheit mangels einer Vergleichbarkeit mit der Unwertstruktur des Versuchs Vorab: Zu einer Straffreiheit trotz Fehlens des subjektiven Rechtfertigungselementes oder Teilen von ihm muss kommen, wer der Auffassung ist, dass eine Rechtfertigung ohnehin nur objektiv erfolge. Diese Auffassung kann indessen nicht vertreten werden, soweit Rechtfertigungsgründe schon ihrem Wortlaut nach ein subjektives Rechtfertigungselement verlangen. 44
Vgl. Streng, Otto-FS (Fn. 15), S. 469 (474); Hardtung/Putzke, AT (Fn. 19), Rn. 700, 1202; Hoffmann-Holland, Strafrecht Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2015, Rn. 274; Puppe, Strafrecht Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2016, Rn. 31; Safferling, Vorsatz und Schuld, 2008, S. 209; Schünemann, GA 1985, 341 (373); Steinbach, Zur Problematik der Lehre von den subjektiven Rechtfertigungselementen bei den vorsätzlichen Erfolgsdelikten, 1987, S. 317, 319, 353. 45 Salimi, Das subjektive Rechtfertigungselement im Strafrecht, 2010, S. 101; vgl. auch Kindhäuser, AT (Fn. 3), § 29 Rn. 8, 9; Kudlich, AT (Fn. 25), Fall 71; Kühl, AT (Fn. 13), § 6 Rn. 16; Mitsch, AT (Fn. 3), § 14 Rn. 55; Rengier, AT (Fn. 3), § 17 Rn. 18; Wessels/Beulke/ Satzger, AT (Fn. 3), Rn. 406; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, (Fn. 18), vor § 32 Rn. 15. 46 Vgl. Salimi, Das subjektive Rechtfertigungselement im Strafrecht, 2010, S. 101.
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Die Verneinung einer Strafbarkeit – selbst wegen Versuchs – beruht vielmehr darauf, dass eine Vergleichbarkeit mit der Unwertstruktur des Versuchs, wie für eine Analogie erforderlich und von den Anhängern einer analogen oder gar direkten Anwendbarkeit behauptet, nicht gegeben ist. Denn die Behauptung, dass das Erfolgsunrecht der Tat zwar fehle, hingegen das für eine Versuchsstrafbarkeit hinreichende Handlungsunrecht gegeben sei, verkennt, dass auch ein Versuch nicht nur aus dem bösen Wollen einer Straftat als Handlungsunrecht besteht. Vielmehr muss auch der Versuch nach § 22 neben dem Handlungsunrecht des Entschlusses das „Erfolgsunrecht“ bzw. das objektive Sachverhaltsunrecht des unmittelbaren Ansetzens aufweisen. Dieses unmittelbare Ansetzen ist aber nicht nur die „irgendwie“ getätigte Äußerung jenes bösen Willens. Vielmehr muss sich das unmittelbare Ansetzen – als wesensgleiches minus zur Verwirklichung des gesamten tatbestandlichen Unwertes – auf die gesetzlich beschriebene Straftat erkennbar beziehen. Mag es aus einer wirklichen oder – wie beim untauglichen Versuch – einer nur dem Anschein nach gegebenen Gefährdung bestehen, mag es nach der vom Gesetzgeber vorgegebenen Strafbarkeit des Versuchs aus grobem Unverstand (§ 23 Abs. 3) auch aus einer offensichtlich ungefährlichen Handlung (Versuch des Abschusses einer Passagiermaschine mit einer Schrotflinte) bestehen – alle diese Spielarten des Sachverhaltsunrechts bzw. -unwertes beim Versuch haben eines gemeinsam: sie entsprechen in ihrer Struktur dem rechtlich beschriebenen Unwert und Unrecht der vorgestellten Straftat. Mitsch47 spricht in diesem Zusammenhang vom „rechtsgutsbedrohenden Handeln des Täters“, mit dem er unmittelbar zur Verwirklichung des Tatbestandes ansetzt, wobei es nur noch von Zufälligkeiten abhänge, ob das bedrohte Rechtsgut verletzt wird. So besehen ist der Versuch seiner Struktur nach etwas, was in der Tat ein rechtsgutsbedrohendes, besser: ein zumindest dem Anschein nach gefährliches Handeln darstellt, das aber auf Grund von „Zufälligkeiten“ nicht zum Erfolg führt. Nach der herrschenden Eindruckstheorie als Strafgrund des Versuchs muss der Willensmanifestation des unmittelbaren Ansetzens „die Eignung […] zur Erschütterung des Vertrauens der Allgemeinheit in die Geltung der Rechtsordnung“ innewohnen.48 Der „untaugliche Versuch“ dessen, der die rechtfertigende Situation nicht erkennt und von dem deshalb ein subjektives Rechtfertigungselement nicht erfüllt wird, ist indessen etwas, was zwar aus einem „vorgestellten Unrecht“ bestehen mag, was aber weder das Vertrauen der Allgemeinheit in die Geltung der Rechtsordnung zu erschüttern vermag noch zu einem rechtswidrigen objektiven Sachverhaltsunwert führen kann. Im Unterschied zum untauglichen Versuch und zur Vollendung ist diese Sachverhaltsverwirklichung nicht ein minus, sondern ein dem Recht gemäßes aliud, ist das unmittelbare Ansetzen in der Rechtfertigungslage im Sinne des Rechts, nicht rechts-widrig, sondern recht-mäßig.49 47
Mitsch, AT (Fn. 3), § 22 Rn. 24; gemeint wohl Rechtsgut im Sinne von „Angriffsobjekt“. Rath, JuS 1998, 1006 (1008). 49 Vgl. auch Gropp, Kühl-FS (Fn. 13), S. 257 m.w.N. 48
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Wie der Vollendung der unerkannt gerechtfertigten Straftat kein Erfolgsunrecht innewohnt, stellt auch das unmittelbare Ansetzen zu ihr kein Unrecht dar. Es existiert somit weder ein Erfolgsunrecht noch ein Unrecht des unmittelbaren Ansetzens, für dessen Verwirklichung man den Täter bestrafen könnte. Der Irrende bleibt damit straflos. Diese strukturelle und axiologische Unvereinbarkeit der Willensäußerung des Irrenden mit der Situation beim untauglichen Versuch wird von Rath überzeugend begründet.50 Den Vertretern der herrschenden „Versuchslösung“ fehlt bisher freilich der Mut, ihren eigenen richtigen Ansatz konsequent zu Ende zu führen. Handelt der in Unkenntnis der rechtfertigenden Situation straffrei Handelnde nun aber rechtmäßig oder rechtswidrig? 3. Rechtmäßig oder rechtswidrig? Die Frage wurde unter II. 1., 2. zwischen den Zeilen im Grunde schon beantwortet: Ein straftatbestandsmäßiges Handeln ist insgesamt entweder rechtswidrig oder rechtmäßig. Es ist, weil tatbestandsmäßig, rechtswidrig, wenn es nicht durch einen Erlaubnissatz gerechtfertigt wird. Verlangt ein Erlaubnissatz ein subjektives Rechtfertigungselement und fehlt es beim Täter, ist eine Rechtfertigung auf Grund dieses Erlaubnissatzes nicht gegeben. Das Verhalten bleibt rechtswidrig. Dafür spricht auch der Gehorsam gegenüber dem Gesetz. Wäre das Handeln in Unkenntnis eines Rechtfertigungsgrundes rechtmäßig, dann wäre es völlig unerheblich, ob ein Rechtfertigungsgrund ein subjektives Rechtfertigungselement erfordert oder nicht. Das wäre mit der lex lata nicht vereinbar.51 Insoweit muss auch das Ergebnis des Beitrags in der FS für Kühl korrigiert werden. Es ist aber eine Binsenweisheit, dass nicht alles, was tatbestandsmäßig und rechtswidrig ist, auch strafbar ist. Für den Rücktritt vom Versuch, wo die Aufhebung eines verwirklichten Unrechts strafbefreiend wirkt, ist dies völlig selbstverständlich. Wie die Aufhebung von Unrecht bei gegebener Rechtswidrigkeit, muss aber auch die Unmöglichkeit des Entstehens strafrechtlichen Unrechts bei gegebener Rechtswidrigkeit Berücksichtigung finden: Im Bereich der rechtswidrigen Tatbestandsverwirklichung muss als Voraussetzung einer Strafbarkeit zur abstrakten Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit ein quantifizierbares Unrecht hinzutreten. 50
Rath, Das subjektive Rechtfertigungselement, 2002, S. 263. Vgl. Freund, in: Joecks/Miebach (Hrsg.) Münchener Kommentar (MK-StGB), 3. Aufl. 2017, vor § 13 Rn. 221; für Rechtmäßigkeit, wenn auf Grund isolierten Vorliegens der objektiven Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes die objektiven Unrechtsmerkmale wegfallen, Rath, Das subjektive Rechtfertigungselement, 2002, S. 613 ff. sowie ders., in: Hettinger/Zopfs/Hillenkamp/Köhler/Rath/Streng/Wolter (Hrsg.), Küper-FS, 2007, S. 455 (461 Fn. 21). 51
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Übertragen auf den Ausgangsfall bedeutet das: Der durch eine straftatbestandsmäßige Handlung (Fausthieb des A als vorsätzliche Körperverletzung, § 223) verwirklichte Wille macht die Tat rechtswidrig. Die Rechtfertigungslage (gegenwärtiger rechtswidriger Angriff, erforderliche Verteidigung, § 32 II) ändert daran nichts, weil A nicht ein nach dem möglichen Wortsinn erforderliches subjektives Rechtfertigungselement (Handeln, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff abzuwenden, § 32 II) erfüllt. Auf Grund der Rechtfertigungslage ist aber der verwirklichte Unwert (Bruch des Nasenbeins) rechtskonform und damit kein Unrecht im Sinne einer Vollendung von § 223. Für ein nicht verwirklichtes Unrecht kann A trotz der Rechtswidrigkeit seines Handelns nicht bestraft werden. So zu Recht die h.M. Aber auch die durch Ausholen des A zum Fausthieb als Versuch einer Körperverletzung (§§ 223, 22, 23) straftatbestandsmäßige Handlung verwirklicht einen Unwert, der auf Grund der Rechtfertigungslage rechtskonform und damit kein Unrecht im Sinne eines unmittelbaren Ansetzens zu § 223 ist. Auch insoweit fehlt es folglich trotz der Rechtswidrigkeit des Handelns an einer Unrechtsverwirklichung, für die man A bestrafen könnte. Die Tat des A verwirklicht folglich weder das Unrecht einer vollendeten Körperverletzung noch das Unrecht eines unmittelbaren Ansetzens zur versuchten Körperverletzung. Es ist ein rechtswidriges Verhalten ohne Unrechtsverwirklichung im Sinne von § 223. Eine Notwehr (§ 32) gegen den ohne subjektives Rechtfertigungselement rechtswidrig Handelnden A ist jedoch nicht möglich, weil dieses Handeln objektiv keinen Angriff, sondern eine Verteidigung darstellt. Sein Handeln in Unkenntnis der rechtfertigenden Situation stellt aber auch keine Gefahr im Sinne von § 34 dar, die N abwenden dürfte. Denn gefährlich ist nur, was eine Veränderung in der Außenwelt zu verursachen geeignet ist, die nicht mit der Rechtsordnung vereinbar ist. Die objektiv die Anforderungen eines Rechtfertigungsgrundes erfüllende Handlung des A und ihre Veränderungen in der Außenwelt weisen diese Eigenschaft aber nicht auf.
IV. Zusammenfassung 1. Über das Erfordernis subjektiver Rechtfertigungselemente entscheiden der Wortlaut des jeweils gesetzlich verankerten bzw. die Voraussetzungen eines gewohnheitsrechtlich anerkannten Rechtfertigungsgrundes. 2. Ein nicht gesetzlich vorgeschriebenes subjektives Rechtfertigungselement darf nicht zur Voraussetzung für eine Rechtfertigung gemacht werden, weil dies als ein den Täter belastender Faktor gegen den Grundsatz nullum crimen/nulla poena sine lege scripta verstoßen würde. Dies gilt auch für gewohnheitsrechtlich
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Walter Gropp
anerkannte Rechtfertigungsgründe, für die ein subjektives Rechtfertigungselement nicht vorausgesetzt wird. 3. Rechtfertigungsgründe, die kein subjektives Rechtfertigungselement enthalten, führen deshalb zur Rechtfertigung auch ohne die Erfüllung eines solchen Rechtfertigungselementes. 4. Wer objektiv richtig im Sinne eines Rechtfertigungsgrundes handelt, aber ohne ein erforderliches subjektives Rechtfertigungselement zu erfüllen, handelt rechtswidrig. Er verwirklicht aber weder das Unrecht einer vollendeten Tat noch das Unrecht eines unmittelbaren Ansetzens zum Versuch und kann deshalb nicht bestraft werden.
Genehmigungsprobleme im Umweltstrafrecht Von Claus Roxin
I. Einführung Der Gesetzgeber hat die Zulässigkeit von Eingriffen in die Umwelt nicht selten von einer Genehmigung der zuständigen Behörde abhängig gemacht. So wird nach § 326 Abs. 2 StGB bestraft, wer „Abfälle im Sinne des Abs. 1 … ohne die erforderliche Genehmigung in den, aus dem oder durch den Geltungsbereich dieses Gesetzes verbringt“. § 327 StGB bestraft das ungenehmigte Betreiben von umweltgefährlichen Anlagen, und § 328 StGB pönalisiert den ungenehmigten Umgang mit radioaktiven Stoffen. Aber auch dort, wo das Gesetz, wie bei der Gewässerverunreinigung (§ 324 StGB), ein „unbefugtes“ Handeln unter Strafe stellt, kann die Unbefugtheit durch eine behördliche Genehmigung ausgeschlossen werden. In diesem Zusammenhang sind zwei Fragen in besonderem Maße umstritten. Die erste betrifft den Fall, dass jemand einen Umwelteingriff vornimmt, ohne sich um die erforderliche Genehmigung bemüht zu haben, dass aber die sachlichen Voraussetzungen für eine Genehmigung vorliegen. Ist das strafbar oder straflos? Der zweite Problemfall ergibt sich, wenn jemand trotz Ablehnung der von ihm beantragten Genehmigung den Umwelteingriff vornimmt, weil er die Ablehnung begründetermaßen für rechtswidrig hält. Macht er sich trotzdem wegen eines ungenehmigten Umwelteingriffs strafbar, oder bleibt er wegen der materiellen Rechtmäßigkeit seines Verhaltens straflos? In einem Satz zusammengefasst geht es darum, ob materiell rechtmäßige – also strafrechtlich prinzipiell zulässige – Umwelteingriffe ohne Beantragung und Durchführung eines staatlichen Genehmigungsverfahrens oder entgegen einer rechtswidrig abgelehnten Genehmigung strafbar sind. Beide Sachverhalte sollen im Folgenden nacheinander untersucht werden.
II. Ungenehmigtes Handeln bei genehmigungsfähigen oder genehmigungspflichtigen Umwelteingriffen In den Fällen, in denen die Genehmigung im Ermessen der Behörde steht, also eine bloße Genehmigungsfähigkeit vorliegt, entspricht es der weitaus herrschenden
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Meinung,1 eine Strafbarkeit der ungenehmigten Umweltbeeinträchtigung anzunehmen. Ich hatte schon in meinem Lehrbuch2 gesagt, „das Genehmigungsverfahren würde ad absurdum geführt werden, wenn es unter Berufung auf die Genehmigungsfähigkeit umgangen werden dürfte“. Auf dieses Diktum berufen sich auch die neuesten Stellungnahmen zum Thema.3 Schall erläutert das, indem er darauf hinweist, dass die Bewirtschaftung der Umweltressourcen erheblich erschwert oder gar unmöglich gemacht werde, wenn die Beurteilungsspielräume bzw. das Ermessen der Behörde völlig übergangen würden „und sie möglicherweise von zahlreichen Umweltnutzungen – mangels Antragstellung – nicht einmal etwas erführe“.4 Der Fall einer vom Ermessen der Behörde abhängigen Genehmigungsfähigkeit kann daher außerhalb weiterer Diskussion bleiben. Sehr umstritten ist dagegen der Fall ungenehmigten Handelns beim Bestehen einer Genehmigungspflicht. Eine solche Pflicht kann entweder im Gesetz ausdrücklich festgelegt sein (gebundenes Verwaltungshandeln) oder auf eine „Ermessensreduzierung auf Null mangels Umweltgefährdung“5 zurückgehen. Einen Fall der ersten Art enthält § 6 Abs. 1 des Immissionsschutzgesetzes: „Die Genehmigung ist zu erteilen, wenn 1. sichergestellt ist, dass die sich aus § 5 und einer auf Grund des § 7 erlassenen Rechtsverordnung ergebenden Pflichten erfüllt werden, und 2. andere öffentlich-rechtliche Vorschriften und Belange des Arbeitsschutzes der Errichtung und dem Betrieb der Anlage nicht entgegenstehen.“ Eine Ermessensreduzierung auf Null liegt z. B. vor,6 wenn jemand Abwässer in einen Fluss einleitet (§ 324 Abs. 1 StGB) und vergleichbare Betriebe stets eine entsprechende Genehmigung erhalten haben. In derartigen Fällen ist die Strafbarkeit ungenehmigten Handelns sehr umstritten. Sowohl die Straflosigkeit wie die Strafbarkeit genehmigungslosen Handelns hat zahlreiche Befürworter; auch eine differenzierende Ansicht wird neuerdings von Lüthge/Klein vertreten. So habe ich in meinem Lehrbuch7 einen Tatbestandsausschluss befürwortet: „Die beste Lösung liegt … darin, die Regeln der objektiven Zurechnung anzuwenden, wenn ohne Genehmigung gehandelt worden ist, obwohl eine solche hätte erteilt werden müssen. Denn die fehlende Genehmigung hat sich dann nicht ausgewirkt, weil der hergestellte Zustand dem Recht entspricht.“ Ähnlich sagt Ransiek:8 „Das Schutzgut ist hier nicht berührt, da dem Verwaltungsverfahren zur Konkretisierung des Gewässerschutzes keinerlei Bedeutung zukommt. Da materiellrechtlich die Gewässerbeeinträchtigung erlaubt werden muss, steht das Verhalten des Täters im Einklang 1
Umfassende Nachweise bei Lüthge/Klein, ZStW 129 (2017), 48 (53, Fn. 23). Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 17 Rn. 66. 3 Lüthge/Klein, ZStW 129 (2017), 48 (53); SK-Schall, 9. Aufl. 2016, vor §§ 324 ff. Rn. 87. 4 Zu den wenigen abweichenden Ansichten Lüthge/Klein, ZStW 129 (2017), 48 (54). 5 Saliger, Umweltstrafrecht, 2012, S. 50 f. 6 Vgl. den Fall 5 bei Saliger, Umweltstrafrecht (Fn. 5), S. 59. 7 Roxin AT I (Fn. 2), § 17 Rn. 66. 8 NK-Ransiek, 4. Aufl. 2013, § 324 Rn. 28. 2
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mit dem Umweltverwaltungsrecht. Bestraft würde hier nur die Nichteinhaltung eines materiell unbedeutsamen Verfahrens.“ Andere plädieren für einen Rechtfertigungsgrund. Rudolphi9 erklärt: „… ergibt sich aus dem Wasserrecht eine unbedingte Pflicht, das Einleiten bestimmter Abwässer zu erlauben, so ist damit der Interessenwiderstreit bereits durch das gesetzte Recht entschieden …“ Die rechtfertigende Wirkung eines ungenehmigten Handelns in solchen Fällen wird von ihm bei der Luftverunreinigung deutlich ausgesprochen:10 „Ebenso wie bei § 324 wird man … auch im Rahmen des § 325 das Bestehen einer uneingeschränkten Pflicht, die erforderliche Genehmigung zu erteilen, als Rechtfertigungsgrund anerkennen müssen.“Auch Schmitz11 will „jedenfalls für den Fall eines Genehmigungsanspruchs eine Rechtsgutsverletzung … verneinen und das Verhalten als nicht rechtswidrig“ ansehen. Der These, „es existiere kein Erlaubnissatz dergestalt, dass bei Vorliegen der materiellen Genehmigungsvoraussetzungen auch ohne Beteiligung der Verwaltung gehandelt werden dürfe“ widerspricht er: „Damit wird … ausschließlich auf das Ordnungsunrecht abgestellt, das über die in allen Bereichen des Umweltrechts vorhandenen Ordnungswidrigkeits-Tatbestände erfasst wird.“ Die überwiegende Meinung will jedoch stets eine Strafbarkeit annehmen, wenn genehmigungspflichtige Umwelteingriffe ohne Genehmigungsverfahren durchgeführt werden, rechtlich aber eine Pflicht zur Erteilung der Genehmigung besteht. Das halte ich entgegen meiner ursprünglichen Auffassung für richtig. Denn das verwaltungsbehördliche Kontrollverfahren ist – anders als die Befürworter der Straflosigkeit meinen – keine bloße Formalität, sondern Voraussetzung und Bestandteil eines wirksamen Umweltschutzes. Ob die Genehmigung eines Umwelteingriffs pflichtgemäß erteilt werden muss, hängt – wie der oben zitierte § 6 des Immissionsschutzgesetzes zeigt – von der Erfüllung so zahlreicher aus den verschiedensten Rechtsquellen entspringender Pflichten ab, dass ohne eine kompetente behördliche Überprüfung dieser Voraussetzungen ein gesetzlich garantierter Umweltschutz nicht gesichert ist. Man muss bedenken, dass die mit solchen Umweltfragen auch in anderen Fällen beschäftigte Behörde den weitaus besseren Überblick hat als ein Bürger, der im eigenen Interesse oft geneigt sein wird, einen Umwelteingriff für materiell rechtmäßig zu halten. Das Kontrollverfahren ist also auch in Fällen der Genehmigungspflichtigkeit nicht bedeutungslos, wie Ransiek meint, und seine Umgehung ist auch nicht, wie Schmitz sagt, ein bloßes Ordnungsunrecht, sondern ein Erfordernis des Umweltschutzes. Für Genehmigungsfähigkeit und Genehmigungspflichtigkeit gilt demnach gleichermaßen, dass eine Straffreistellung stets das Durchlaufen des gesetzlich vorgeschriebenen Kontrollverfahrens voraussetzt. Wer also eine genehmigungsbedürf9
Rudolphi, NStZ 1984, 193 (198). Rudolphi, NStZ 1984, 248 (253). 11 MüKo-Schmitz, 2. Aufl. 2013, vor § 324 Rn. 93. 10
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tige Umweltbeeinträchtigung „auf eigene Faust“ (also ohne Genehmigungsverfahren) durchführt, ist auch dann strafbar, wenn sich in dem gegen ihn eingeleiteten Strafprozess herausstellt, dass die Genehmigung hätte erteilt werden müssen. In diesem Sinne äußern sich auch andere Autoren. Ich zitiere nur zwei der jüngsten Stellungnahmen. So betont Schall,12 für die Strafbarkeit genehmigungslosen Handelns bei bestehender Genehmigungspflicht spreche „die besondere Bedeutung des behördlichen Kontrollverfahrens vor allem bei hochkomplexen, mit erheblichen Risiken für Mensch und Umwelt verbundenen Anlagen“. Lüthge/Klein13 weisen mit Recht darauf hin, dass „die Rolle der administrativen Präventivkontrolle nicht isoliert von den Rechtsgütern Umwelt/Mensch zu würdigen ist. Sie dient dazu, diese Rechtsgüter zu schützen. Oder anders ausgedrückt: Durch die Missachtung der Vorkontrolle allein droht den anerkannten Rechtsgütern der §§ 324 ff. StGB … bereits eine Gefahr …“ Das alles führt zu dem Ergebnis, dass die Außerachtlassung eines gesetzlich vorgeschriebenen verwaltungsbehördlichen Kontrollverfahrens auch bei bestehender Genehmigungspflicht als abstrakte Gefährdung der betroffenen Umweltrechtsgüter anzusehen ist. Die Strafbarkeit als abstraktes Gefährdungsdelikt bleibt auch dann bestehen, wenn sich im späteren Strafprozess herausstellt, dass die Behörde zur Genehmigung des Umwelteingriffs verpflichtet gewesen wäre. Auch unter den grundsätzlichen Befürwortern dieses Standpunktes gibt es jedoch differenzierende Ansichten, die teils für eine Einschränkung, teils für eine Erweiterung der Strafbarkeit eintreten. So wollen Lüthge/Klein14 bei Vorliegen eines Genehmigungsanspruchs dem unter Umgehung des Kontrollverfahrens genehmigungslos handelnden Täter einen Strafausschließungsgrund zubilligen, wenn es sich um ein konkretes Gefährdungsdelikt oder ein Verletzungsdelikt handelt.15 Das ist z. B. der Fall bei §§ 324, 324 a Abs. 1 Nr. 2, 325 a Abs. 2, 328 Abs. 3 StGB. Nur bei abstrakten und potenziellen Gefährdungsdelikten, wie etwa §§ 325 Abs. 2, 3, 326, 327 StGB soll eine Genehmigungspflichtigkeit die Strafbarkeit einer Kontrollumgehung bestehen lassen und lediglich bei der Strafzumessung berücksichtigt werden. Begründet wird die Straflosigkeit bei konkreten Gefährdungs- und Verletzungsdelikten damit,16 dass diese Tatbestände „eine tatsächlich eingetretene Rechtsgutsverletzung derart stark in den Vordergrund“ rücken, „dass für die Einstufung des vorgeschalteten Kontrollverfahrens als eigenständiges Rechtsgut insoweit kein Raum verbleibt“. 12
SK-StGB-Schall, vor §§ 324 ff. Rn. 90. Lüthge/Klein, ZStW 129 (2017), 48 (64). 14 Lüthge/Klein, ZStW 129 (2017), 48 (80). 15 Lüthge/Klein, ZStW 129 (2017), 48, detaillierte Angaben S. 80. 16 Lüthge/Klein, ZStW 129 (2017), 48 (67). 13
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Das ist jedoch zu bestreiten. Denn wenn der Gesetzgeber auf eine Verletzung oder konkrete Gefährdung abstellt, knüpft er an einen umweltbeeinträchtigenden Erfolg an. Das Kontrollverfahren soll diesen Erfolg verhindern. Wird es umgangen, so bleibt bei einer Genehmigungspflicht auch insoweit eine abstrakte Gefährdung bestehen, die eine Bestrafung trägt. Saliger17 andererseits neigt zur Bestrafung eigenmächtiger, aber materiell rechtmäßiger Umwelteingriffe auch für den Fall, dass der Täter sich einer behördlichen Kontrolle unterzogen hat. Er schildert einen entsprechenden Sachverhalt: „A hat für sein chemisches Werk eine Einleitungserlaubnis beantragt. Der Antrag wird von der zuständigen Behörde abgelehnt. Dennoch leitet A mit Schadstoffen belastete Abwässer in die Elbe ein. Im Prozess wegen § 324 Abs. 1 stellt sich heraus, dass A wegen einer Ermessensreduzierung auf Null einen Anspruch auf die begehrte Erlaubnis hat.“ Er meint dazu, es werde „wohl unter Berücksichtigung der Gebote der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit eine strenge Verwaltungsaktsakzessorietät“ und damit eine Strafbarkeit „zu befürworten sein“. Wenn aber das vorgeschriebene Kontrollverfahren durchgeführt worden ist, gibt es bei Vornahme einer materiell rechtmäßigen Handlung keinen hinreichenden Grund mehr für eine Bestrafung. Denn es ist nicht einzusehen, warum der Bürger in einem solchen Fall durch eine Strafdrohung genötigt werden soll, einen kostspieligen Prozess anzustrengen und geschäftliche Nachteile auf sich zu nehmen, nur um eine rechtswidrige Behördenentscheidung zu respektieren. Saliger räumt denn auch immerhin ein, es könne „an eine Strafaufhebung gedacht werden, wenn durch eine Gerichtsentscheidung nachträglich festgestellt wird, dass ein Anspruch auf die Erlaubnis bestanden hat“. Nach der hier vertretenen Ansicht wäre schon die Strafbarkeit zu verneinen.
III. Materiell rechtmäßiges Handeln entgegen einem rechtswidrigen belastenden Verwaltungsakt der Umweltbehörde Damit stehen wir vor der zweiten hier zu erörternden Fallgruppe, in der der Täter einem rechtswidrigen Verwaltungsakt der Umweltbehörde zuwiderhandelt, um einen materiell rechtmäßigen Umwelteingriff durchzusetzen. Das ist bei der rechtswidrigen Ablehnung einer beantragten Genehmigung der Fall, aber auch, wenn sonstigen behördlichen Untersagungen oder Anordnungen zuwidergehandelt wird. Die Konstellation umfasst also mehr Sachverhalte als die zuvor (II.) behandelte Problematik der unkontrollierten Durchsetzung eines Umwelteingriffs. Unstrittig ist zunächst, dass ein belastender Verwaltungsakt keine Rechtswirksamkeit hat, wenn er nichtig ist. Das lässt sich schon aus § 43 Abs. 2 Satz 2 des Ver17
Saliger, Umweltstrafrecht (Fn. 5), S. 59, Rn. 136.
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waltungsverfahrensgesetzes entnehmen: „Ein nichtiger Verwaltungsakt ist unwirksam.“ Wie ist es aber bei rechtswidrigen Verwaltungsakten, die wirksam bleiben, solange sie „nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt“ sind (§ 43 Abs. 2 Satz 1 Verwaltungsverfahrensgesetz)? Die Rechtsprechung und die in der Literatur wohl überwiegende Meinung halten auch in diesem Fall eine eigenmächtige Durchsetzung des materiell berechtigten Umwelteingriffs für verboten und strafbar und verweisen den Betroffenen stattdessen auf den Klageweg. So sagt BGHSt 23, 86 ff. (93): „Die spätere Aufhebung eines strafbewehrten Verwaltungsaktes durch die Widerspruchsbehörde oder das Verwaltungsgericht lässt die Strafbarkeit einer bereits vorher begangenen Zuwiderhandlung unberührt.“ Nach BGHSt 31, 314 ff. (315) hängt die Strafbarkeit „vom Inhalt des Verwaltungsaktes ab. Diese Frage ist von seiner Rechtmäßigkeit streng zu unterscheiden. Zuwiderhandlungen gegen Verwaltungsakte können auch dann strafbar sein, wenn diese zwar fehlerhaft, aber gleichwohl gegenüber dem Betroffenen wirksam sind.“ Und das OLG Köln18 sagt mit speziellem Bezug auf das Umweltstrafrecht: „Die in Anlehnung an die grundlegende Entscheidung des BGH (BGHSt 23, 86 ff.) zur Tatbestandswirkung eines angefochtenen amtlichen Verkehrszeichens … entwickelte herrschende Meinung trifft auch und gerade bei den vielfach an eine Verwaltungsrechtsanordnung anknüpfenden Straftatbeständen des Umweltrechts zu.“ In der Literatur hat die Strafbarkeitsthese zuletzt einen eindringlichen Vertreter in der neueren Auffassung von Schall19 gefunden, der sich vor allem an die Monografie von Kemme20 anschließt: „Das entscheidende Argument, das den Ausschlag für die Bindungswirkung auch rechtswidriger Verwaltungsakte gibt, dürfte in der Konkretisierungsfunktion des Verwaltungsaktes zu sehen sein. Denn mit dem Erlass des Verwaltungsakts schafft die Verwaltungsbehörde eine für den Bürger verbindliche Verhaltensnorm, was auch bei rechtswidrigen Anordnungen deshalb sachgerecht ist, weil es zumeist um eine problematische und kontroverse Sach- bzw. Rechtslage geht …“ Die Verwaltungsbehörde solle diese Rechtslage klären, was es notwendig mache, „dass die Behörde ihre Rechtsauffassung vorerst … durchsetzen kann“. Gegen diese sog. strenge Verwaltungsaktsakzessorietät sprechen aber mindestens sechs Argumente, die in ihrer Gesamtheit die Gegenauffassung – also die Straflosigkeit eines Zuwiderhandelns gegen rechtswidrige Umweltverwaltungsakte – als vorzugswürdig erscheinen lassen. 1. Der Gedanke der abstrakten Gefährdung, der beim Unterlaufen der verwaltungsbehördlichen Kontrolle die Strafbarkeit trägt, spielt beim Zuwiderhandeln gegen 18
wistra 1991, 74 f. (75). SK-StGB-Schall, vor §§ 324 ff. Rn. 78. 20 Kemme, Das Tatbestandsmerkmal der Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten in den Umweltstraftatbeständen des StGB, 2007, S. 401. 19
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einen rechtswidrigen Verwaltungsakt keine Rolle. Da der Täter sich dem Kontrollverfahren unterzogen hat und materiell rechtmäßig handelt, ist nicht ersichtlich, worin die Strafwürdigkeit eines solchen Verhaltens liegen soll. 2. Eine Strafdrohung darf sinnvollerweise nicht dazu dienen, einen rechtswidrigen Zustand aufrechtzuerhalten. Es ist entgegen BGHSt 23, 92 nicht ersichtlich, warum „die berechtigten Bedürfnisse der staatlichen Ordnung“ die Kriminalisierung eines Verhaltens fordern sollen, das der Staat nach erfolgter Kontrolle hätte genehmigen müssen und dessen Berechtigung nachträglich gerichtlich festgestellt wird. Eine „verbindliche Verhaltensnorm“, wie Schall meint, ist darin gerade nicht zu sehen. 3. Eine Strafdrohung kann nur durch den Verstoß gegen ein Gesetz (Art. 103 Abs. 2 GG) und nicht durch das Zuwiderhandeln gegen einen rechtswidrigen Verwaltungsakt begründet werden. „Denn damit würde eine Behördenentscheidung zur Grundlage einer strafbaren Handlung gemacht, obwohl doch die Verwaltung selbst nach Art. 20 Abs. 4 GG strikt an das Gesetz gebunden ist.“21 4. Ein rechtswidriger belastender Verwaltungsakt kann jederzeit korrigiert werden. Wenn bei einem Zuwiderhandeln gegen einen rechtswidrig belastenden Verwaltungsakt die Behörde den Argumenten des Betroffenen folgt und ihre fehlerhafte Entscheidung korrigiert, ist es unangemessen, den zu bestrafen, der zu dieser Korrektur durch sein Verhalten Anlass gegeben hat: „Verwaltungsrechtliche Wirksamkeit kann etwas sehr Temporäres sein.“22 5. Die Entscheidung BGHSt 23, 86 ff., auf die sich viele nachfolgende Judikate berufen und die das OLG Köln23 als „grundlegend auch für das Umweltstrafrecht“ bezeichnet hat, betrifft in Wahrheit einen ganz anders gelagerten Sachverhalt, nämlich „die Nichtbeachtung einer durch ein amtliches Verkehrszeichen getroffenen Anordnung“ (Leitsatz 1), gegen die der Täter Widerspruch eingelegt hatte mit der Begründung, „das Parkverbot diene dort nicht der Sicherheit und Leichtigkeit des fließenden Verkehrs“ (a. a. O., S. 86). Hier wird eine Zuwiderhandlung mit Recht bestraft, weil ein Verkehrszeichen sich an alle wendet und Abweichler den geordneten Ablauf der Straßenbenutzung stören. Mit Recht sagen Arzt/ Weber/Heinrich/Hilgendorf:24 „Die … für das Straßenverkehrsrecht zutreffende Entscheidung des BGH gegen ein fehlerhaft aufgestelltes Verkehrszeichen, das später beseitigt wird …, lässt sich auf das Umweltstrafrecht nicht übertragen.“ 6. Schließlich ist zu bedenken, dass das BVerfG zwar nicht ausdrücklich entschieden hat, ob es zulässig ist, das Zuwiderhandeln gegen einen nach stattgehabter Kontrolle erlassenen rechtswidrigen Verwaltungsakt als Straftat zu ahnden.25 21
MüKo-StGB-Schmitz, vor § 324 Rn. 95. MüKo-StGB-Schmitz, vor § 324 Rn. 95. 23 wistra 1991, S. 74 f. 24 Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht BT, 2. Aufl. 2009, § 41 Rn. 26. 25 Vgl. dazu näher MüKo-StGB-Schmitz, vor § 324 Rn. 91. 22
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Aber andere Entscheidungen zeigen, dass das Gericht die Annahme einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit durchweg von der materiellen Rechtswidrigkeit des Täterhandelns abhängig macht. So heißt es in einem Beschluss des BVerfG vom 1. 12. 1992:26 „Es ist mit Art. 8 GG unvereinbar, wenn die Strafgerichte die Weigerung, sich unverzüglich aus einer aufgelösten Versammlung zu entfernen, ohne Rücksicht darauf, ob die Auflösung rechtmäßig war, gemäß § 29 I Nr. 2 VersG ahnden.“ Und in einem weiteren Beschluss vom 7. 3. 199527 sagt das Gericht: „Es verstößt gegen Art. 2 I GG, wenn die Verweigerung der Angabe von Personalien nach § 111 OWiG geahndet wird, ohne dass zuvor die Rechtmäßigkeit der Aufforderung in vollem Umfang überprüft worden ist.“ Rengier28 urteilt mit Recht über die strafbarkeitsbejahende Ansicht: „Nicht zuletzt unter dem Blickwinkel gewisser Tendenzen in der Rspr. des BVerfG ist die h.M. schwer haltbar.“
IV. Zusammenfassung Es ergibt sich also, dass die Strafbarkeit einer ohne die vorgeschriebene Genehmigung vorgenommenen materiell berechtigten Umweltbeeinträchtigung zwar berechtigt ist, wenn der Täter das behördliche Kontrollverfahren umgeht, nicht aber dann, wenn die Verwaltungsbehörde bei bestehender Genehmigungspflichtigkeit eine rechtswidrige belastende Kontrollentscheidung getroffen hat. Auch der Hinweis auf die Möglichkeit, im verwaltungsrechtlichen Eilverfahren eine Entscheidung zu suchen, legitimiert die Strafbarkeit des genehmigungslosen sachlich berechtigten Umwelteingriffs bei rechtswidriger Genehmigungsverweigerung nicht. Denn erstens hilft, wie Saliger29 mit Recht feststellt, die Anrufung des Gerichts auch nicht immer: „So könnte etwa bei einer evident zu Unrecht nicht verlängerten befristeten Genehmigung zur Umweltnutzung nach Ablauf der Frist auch das Eilverfahren die vorläufige Stilllegung des Betriebes nicht verhindern.“ Und zweitens ist die Vermeidung der Umstände und Kosten sowie des Verzögerungsschadens, die mit einem Gerichtsverfahren verbunden sind, ganz allgemein kein ausreichender Grund für eine Kriminalisierung, wenn die Verantwortung für die rechtswidrige Situation bei der Verwaltung liegt. Man wird auch nicht annehmen können, dass die hier bei falschen Kontrollentscheidungen befürwortete Straflosigkeit dadurch zu nachhaltigen Umweltschädigungen führen kann, dass Täter nach §§ 324 ff. StGB sich gegenüber der ablehnenden behördlichen Entscheidung fälschlich im Recht fühlen und sich zu ihrer Ignorie26
BVerfG NJW 1993, 581 ff. (2. Leitsatz). BVerfG NJW 1995, 3110 ff. (1. Leitsatz). 28 Rengier, Strafrecht BT II, 17. Aufl. 2016, § 47 Rn. 17. 29 Saliger, Umweltstrafrecht (Fn. 5), S. 51, Rn. 120, 27
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rung berechtigt glauben. Denn bei der Schwierigkeit der einschlägigen Sach- und Rechtsfragen wird ein Handeln ohne Beratung durch einen umweltstrafrechtlich erfahrenen Anwalt in vielen Fällen einen dolus eventualis nahelegen. Auch droht ja mindestens eine erhebliche Fahrlässigkeitsbestrafung (das Gesetz lässt hohe Freiheitsstrafen zu). Auch muss sich der Täter sagen, dass eine Umweltbeeinträchtigung keinen Nutzen bringt, wenn sie gerichtlicher Überprüfung nicht standhält. Wenn aber der Täter wirklich dem materiellen Umweltrecht entsprechend handelt und ihm dies gerichtlich bestätigt wird, ist eine Kriminalisierung seines Verhaltens unverhältnismäßig. Ich widme diesen kleinen Beitrag meinem verehrten Kollegen Sieber mit herzlichen Geburtstagsglückwünschen! Ulrich Sieber war der erste Nachfolger auf meinem Münchener Lehrstuhl und hat dann als Direktor des Freiburger Max-Planck-Instituts Bedeutendes geleistet. Möchten ihm Gesundheit und Schaffenskraft noch lange erhalten bleiben!
Actio libera in causa als Unterlassenskonstruktion? Von Franz Streng
I. Der Ausgangspunkt Der Verlust der Schuldfähigkeit spätestens im Vorbereitungsstadium einer Tat schließt die Tatverantwortung des Handelnden hinsichtlich der dann tatsächlich durchgeführten rechtswidrigen Tat aus – es sei denn, es waren die Voraussetzungen der actio libera in causa erfüllt.1 In der vorsätzlichen Variante der actio libera in causa wird dem Täter die an sich schuldunfähig begangene Tathandlung gleichwohl als schuldhaft zugerechnet, soweit er vor Eintritt der selbst bewirkten Schuldunfähigkeit den Vorsatz nicht nur hinsichtlich tatbezogener Defektherbeiführung sondern auch hinsichtlich der eigentlichen Tatdurchführung hatte; Rechtsfolge ist ungemilderte Strafbarkeit aus dem mit „natürlichem Vorsatz“ realisierten einschlägigen Vorsatztatbestand. Flankiert wird diese Zurechnungsform durch die fahrlässige actio libera in causa. Diese betrifft Fälle der fahrlässigen Defektherbeiführung, sowie Fälle vorsätzlicher Defektherbeiführung angesichts der erkennbar gewesenen Gefahr, im Zustand der Schuldunfähigkeit eine rechtswidrige Tat zu verwirklichen; Rechtsfolge ist Strafbarkeit aus einem einschlägigen Fahrlässigkeitstatbestand.2 Speziell für vorsätzliche actio libera in causa zweifelt man neuerdings die Tragfähigkeit dieser seit langem etablierten3 Rechtsfigur an. Eine zunehmend vertretene Mindermeinung sieht in ihr einen Verstoß gegen das Koinzidenzprinzip, demzufolge die Schuldfähigkeit des Täters zum Zeitpunkt des unmittelbaren Rechtsgutsangriffs als Tathandlung vorliegen muss. Ein sehr rigides Verständnis des in § 20 StGB mit 1 Vgl. BGHSt 23, 356 (358); dazu Geilen, JuS 1972, 73 f.; Hruschka, SchweizZStr 90 (1974), 48 (53 ff.). 2 So die herkömmliche Rspr. zur actio libera in causa; vgl. etwa RGSt 22, 413 (414 f.); RGSt 73, 177 (182); BGHSt 2, 14 (17 f.); BGHSt 10, 247 (250 f.); BGHSt 17, 259 (261 f.); BGHSt 23, 356 (358); BGHSt 34, 29 (33); BGH NStZ 2000, 584; BGH NStZ 2003, 535 (536). Neuerdings mehren sich die Stimmen, die die fahrlässige actio libera in causa als überflüssige Konstruktion ansehen; vgl. BGHSt 42, 235 (236 f.); Horn, GA 1969, 289 ff.; Paeffgen, ZStW 97 (1985), 513 (524 f.); Otto, Jura 1986, 426 (433); Roxin, Lackner-FS, 1987, S. 307 (312); Hardtung, NZV 1997, 97 (101 f.); Mitsch, JuS 2001, 105 (111 f.); LK-StGB/Schöch, 12. Aufl. 2008, § 20 Rn. 206; Hilgendorf/Valerius, Strafrecht AT, 2. Aufl. 2015, § 6 Rn. 25; Beck, ZIS 2018, 204 (209 f.); Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 323a Rn. 41; Heinrich, Strafrecht AT, 6. Aufl. 2019, Rn. 603; ausführl. dazu Hettinger, GA 1989, 1 (11 ff.). 3 Ausführl. Hettinger, Die „actio libera in causa“: Strafbarkeit wegen Begehungstat, 1988, S. 71 ff.; Hruschka, Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, 2. Aufl. 1988, S. 343 ff.
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„bei Begehung der Tat“ angesprochenen Koinzidenzerfordernisses sowie eine enge Auslegung des Gesetzlichkeitsprinzips aus Art. 103 Abs. 2 GG4 führen die Vertreter dieser Meinung dazu, die bis jetzt vertretenen Begründungsmodelle für actio libera in causa durchwegs abzulehnen und bis zum Eingreifen des Gesetzgebers allein Vollrauschstrafbarkeit gem. § 323a StGB für zulässig zu halten5. In dieser Situation wurde ein neuer Legitimierungsansatz für actio libera in causa vorgestellt, der Aufmerksamkeit verdient und im Folgenden in den Zusammenhang der etablierten Begründungsmodelle gestellt werden soll.
II. Etablierte actio libera in causa-Konstruktionen 1. Vorverlegungslehre bzw. Tatbestandsmodell In Lehre und Rechtsprechung begründet man die actio libera in causa überwiegend mittels der Vorverlegungslehre.6 Diese erklärt die für die Rechtsgutsverletzung kausale Defektherbeiführung – im Regelfall das Sich-Berauschen – zur Tathandlung, auf welche sich der Schuldvorwurf bezieht. Damit trägt man dem Wortlaut von § 20 StGB insoweit Rechnung, als mit der Defektherbeiführung ein Tatbeitrag im Zustand noch bestehender Schuldfähigkeit geleistet wurde; es geht um eine Vorverlagerung des Schuldvorwurfs auf die Herbeiführung der Schuldunfähigkeit. Die tatbestandsbezogene Vorverlegungstheorie stützt sich dabei auf eine Quasi-Tathandlung, näm4
Krit. dazu Streng, Beulke-FS, 2015, S. 313 (316 ff., 321 ff.); ders., in: Bouffier/Horn u. a. (Hrsg.), Grundgesetz und Europa, 2016, S. 471 (477 ff.). 5 Vgl. Hettinger, Die „actio libera in causa“, 1988, S. 436 ff. (449); Paeffgen, ZStW 97 (1985), 513 (526 ff.); Salger/Mutzbauer, NStZ 1993, 561 (565); Hruschka, JZ 1996, 64 (68); Köhler, Strafrecht AT, 1997, 7.II.5.3.1; Sydow, Die actio libera in causa nach dem Rechtsprechungswandel des Bundesgerichtshofs, 2002, S. 164; Zenker, Actio libera in causa, 2003, S. 22 ff., 198; Leupold, Die Tathandlung der reinen Erfolgsdelikte und das Tatbestandsmodell der „actio libera in causa“ im Lichte verfassungsrechtlicher Schranken, 2005, S. 21 f., 195; Thilmann, Die Auswirkungen von Alkohol und Drogen auf die Schuldfähigkeit, 2007, S. 234; Zabel, Schuldtypisierung als Begriffsanalyse, 2007, S. 423; Hilgendorf/Valerius, Strafrecht AT, 2. Aufl. 2015, § 6 Rn. 17 ff., 22; Morge, Die actio libera in causa im Rahmen des § 21 StGB, 2015, S. 50 ff., 253; SSW-StGB/Kaspar, 4. Aufl. 2019, § 20 Rn. 106; Bringewat, Grundbegriffe des Strafrechts, 3. Aufl. 2018, Rn. 478. 6 Vgl. RGSt 22, 413 (414 f.); BGHSt 21, 381 (381 f.); BGHSt 34, 29 (33); Maurach, JuS 1961, 373 (374, 377); Horn, GA 1969, 289 (300); Puppe, JuS 1980, 346 (347); Wolter, Leferenz-FS, 1983, S. 545 (555 f.); Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 20 Rn. 59 ff.; Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 17 Rn. 64; Maurach/Zipf, Strafrecht AT 1, 8. Aufl. 1992, § 36 Rn. 54 ff.; Frister, ZStW 108 (1996), 645 (647, 651); Schlüchter, Hirsch-FS, 1999, S. 345 (358 ff.); Hirsch, Geppert-FS, 2011, S. 233 (236 ff.); Freund, GA 2014, 137 (149); Baumann/ Weber/Mitsch/Eisele, Strafrecht AT, 12. Aufl. 2016, § 17 Rn. 39; SK-StGB/Wolters, 9. Aufl. 2016, § 323a Rn. 31 ff.; Jäger, Strafrecht AT, 8. Aufl. 2017, Rn. 177; SK-StGB/Rogall, 9. Aufl. 2017, § 20 Rn. 72; Heinrich, Strafrecht AT, 6. Aufl. 2019, Rn. 603; Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 25 Rn. 15; Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT, 49. Aufl. 2019, Rn. 665. – Rückwirkende Vorverlagerung bei Spendel, Hirsch-FS, 1999, S. 379; Herzberg, Spendel-FS, 1992, S. 203.
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lich das Herbeiführen der Schuldunfähigkeit. Die immerhin formale Wahrung des Prinzips der Koinzidenz von Tathandlung und Schuld ist derart möglich. Allerdings wird dabei das Schuldurteil vom unmittelbaren Rechtsgutsangriff, nämlich der eigentlichen Tathandlung, gelöst. Letztlich führt dieser legitimatorische Kunstgriff zu erheblichen Widersprüchen, die in der Literatur berechtigte Kritik hervorgerufen haben.7 Einwänden ausgesetzt ist bereits die Unterstellung, die Berauschung werde kausal für den dann später im Zustand der Schuldunfähigkeit begangenen eigentlichen Rechtsgutsangriff. Denn dass der Täter ohne Berauschung, also in fortdauernd schuldfähigem Zustand, den fraglichen Rechtsgutsangriff nicht durchgeführt hätte, dürfte weithin unbeweisbar sein.8 Empirische Befunde belegen, dass der Zusammenhang zwischen Alkoholisierung und Tatbegehung weitgehend als Scheinkorrelation zu verstehen ist; in vielen Fällen ist ein exzessiver Alkoholkonsum bloßer Indikator für diejenigen anderen Probleme, die eigentlich tatauslösend sind.9 Gesichert steht also nur fest, dass die noch schuldfähig begangene Handlung Ursache dafür war, den eigentlichen Rechtsgutsangriff dann im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen zu haben; man müsste folglich eine Ursächlichkeit für die lediglich auf Schuldfähigkeitsebene modifizierte Tatbegehung genügen lassen.10 Doch kann diese sehr begrenzte Ursächlichkeit schwerlich ausreichen, das schuldhafte Vorverhalten als kausal auch für den tatbestandlichen Rechtsgutsangriff, wie er als Tatunrecht dem Schuldurteil zugrunde liegen muss, anzusehen. Als gewichtiges Bedenken gegen die Tatbestandslösung kann zudem gelten, dass bereits die seitens eines Tatentschlossenen zur Tatvorbereitung eingesetzte Defekt7 Vgl. Hruschka, JuS 1968, 554 (556 f.); Küper, Leferenz-FS, 1983, S. 573 (577 ff.); Neumann, Zurechnung und „Vorverschulden“, 1985, S. 25 ff.; Paeffgen, ZStW 97 (1985), 513 (516 ff.); Hettinger, Die „actio libera in causa“, 1988, S. 344 ff., 437 ff.; Joerden, Strukturen des strafrechtlichen Verantwortlichkeitsbegriffs, 1988, S. 39 ff.; Stratenwerth, Armin Kaufmann-GS, 1989, S. 485 (492 f.); Streng, ZStW 101 (1989), 273 (309 f.); ders., JZ 1994, 709 (710 f.); Salger/Mutzbauer, NStZ 1993, 561 (563 ff.); Rath, JuS 1995, 405 (408 ff.); Ambos, NJW 1997, 2296 (2297); Rönnau, JA 1997, 707; Baier, GA 1999, 272 (280 ff.); Jerouschek, Hirsch-FS, 1999, S. 241 (245 ff.); Stühler, Die actio libera in causa de lege lata und de lege ferenda, 1999, S. 49 ff.; Kühl, Strafrecht AT, 8. Aufl. 2017, § 11 Rn. 13 ff.; Kindhäuser/Zimmermann, Strafrecht AT, 9. Aufl. 2020, § 23 Rn. 16 ff.; Hettinger, Rengier-FS, 2018, S. 39 (42 ff.); von Heintschel-Heinegg/Eschelbach, StGB, 3. Aufl. 2018, § 20 Rn. 72 ff.; Schönke/ Schröder/Perron/Weißer, 30. Aufl. 2019, § 20 Rn. 35; Fischer, StGB, 67. Aufl. 2020, § 20 Rn. 52. 8 Zu den hier diskutierten Problemen der Beweisbarkeit des Kausalzusammenhangs vgl. Neumann, Zurechnung (Fn. 7), S. 26 f.; Hettinger, Die „actio libera in causa“, 1988, S. 410 f., 464; Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, 1989, S. 124 f.; Salger/Mutzbauer, NStZ 1993, 561 (564); Rath, JuS 1995, 405 (408); Ambos, NJW 1997, 2296 (2297); NK-StGB/Paeffgen, 5. Aufl. 2017, Vor § 323a Rn. 6, 31 f. 9 Vgl. Felson/Savolainen/Aaltonen/Moustgaard, Criminology 46 (2008), 785 (796 ff.). 10 In diesem Sinne Spendel, Hirsch-FS, 1999, S. 379 (385 f.); Guhra, Das vorsätzlichtatbestandsmäßige Verhalten beim beendeten Versuch, 2002, S. 161; Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 20 Rn. 60.
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herbeiführung spätestens im Moment des Verlusts der Schuldfähigkeit als versuchtes Delikt strafbar wäre11 – sofern der Versuch des fraglichen Delikts unter Strafdrohung steht. Auf die von dem Berauschten tatplangemäß noch selbst zu tätigenden Zwischenakte bis zur dem Tatentschluss entsprechenden unmittelbaren Gefährdung des Opfers soll es hier nicht ankommen.12 In der Konsequenz dieser Vorverlegung der Versuchsphase ergeben sich Ungereimtheiten im Bereich der Tatbeteiligung. Es würden ggf. andere Beteiligte bereits durch die Selbst-Intoxikation des sich Mut antrinkenden Täters oder Mittäters in das Ausführungsstadium versetzt13 und wären deshalb schon dann wegen Teilnahme oder Mittäterschaft an einem Versuch strafbar. Verweigert man sich dieser wohl nicht ernstlich vertretbaren Konsequenz, dann müsste man – gleichfalls schwer vorstellbar – für den Schuldunfähigen den Versuchsbeginn anders definieren, als für den (vermindert) schuldfähigen Teilnehmer oder Mittäter derselben Tat.14 Die an sich schon nicht tragfähige, allein ergebnisorientierte Hochstufung der eigentlich bloß tatvorbereitenden Defektherbeiführung zum strafbaren Versuch führt naheliegender Weise dann auch zu erheblichen Folgeproblemen beim Rücktritt vom so weit vorverlagerten Versuch.15 Zum einen stellt sich die Frage, ob der Schuldunfähige überhaupt noch einen für § 24 StGB relevanten freien Rücktrittswillen bilden kann;16 selbst wenn man dies mit der herrschenden Meinung richtigerweise be-
11 So etwa Puppe, JuS 1980, 346 (348 f.); Roxin, Lackner-FS, 1987, S. 307 (313 ff.); ders., Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 20 Rn. 61; Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, Strafrecht AT, 12. Aufl. 2016, § 17 Rn. 37; SK-StGB/Rogall, 9. Aufl. 2017, § 20 Rn. 72; SK-StGB/Jäger, 9. Aufl. 2017, § 22 Rn. 42; Heinrich, Strafrecht AT, 6. Aufl. 2019, Rn. 609. 12 Differenzierend LK/Hillenkamp, 12. Aufl. 2007, § 22 Rn. 166; Freund, GA 2014, 137 (150 ff.). 13 Die sog Gesamtlösung bezügl. Versuchsbeginn bei Mittäterschaft entspricht der ganz h.M.; vgl. etwa BGHSt 36, 249 (250); BGHSt 39, 236; Küper, Versuchsbeginn und Mittäterschaft, S. 69 f.; Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 21 Rn. 61; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996, S. 681; LK/Hillenkamp, 12. Aufl. 2007, § 22 Rn. 173; Kudlich, PdW Strafrecht AT, 5. Aufl. 2016, S. 177 f.; Kühl, Strafrecht AT, 8. Aufl. 2017, § 20 Rn. 123 ff.; Fischer, StGB, 67. Aufl. 2020, § 22 Rn. 21; für die „Einzellösung“ hingegen etwa Roxin, Strafrecht AT II, 2003, § 29 Rn. 297 ff.; SK-StGB/Jäger, 9. Aufl. 2017, § 22 Rn. 35. 14 Dazu (auch im Zusammenhang mit § 21) schon Neumann, Zurechnung (Fn. 7), S. 38 f.; Streng, JZ 1994, 709 (710); Schönke/Schröder/Perron/Weißer, 30. Aufl. 2019, § 20 Rn. 35. 15 Vgl. zum Ganzen etwa Hettinger, Die „actio libera in causa“, 1988, S. 412 ff.; Herzberg, Spendel-FS, 1992, S. 203 (208 f.); Neumann, Arthur Kaufmann-FS, 1993, S. 581 (584 ff.); Rönnau, JA 1997, 707 (709 ff.); Jerouschek, Hirsch-FS, 1999, S. 241 (252 ff.); Barthel, Bestrafung wegen Vollrauschs trotz Rücktritts von der versuchten Rauschtat?, 2001, S. 68 ff.; NK-StGB/Paeffgen, 5. Aufl. 2017, Vor § 323a Rn. 44. 16 Ablehnend Deiters, in: Schneider/Frister (Hrsg.), Alkohol und Schuldfähigkeit, 2002, S. 121 (135 f.); NK-StGB/Zaczyk, 5. Aufl. 2017, § 24 Rn. 76; SK-StGB/Jäger, 9. Aufl. 2017, § 24 Rn. 75; Frister, Strafrecht AT, 8. Aufl. 2018, 24 Rn. 37.
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jaht, ergeben sich aus der naheliegenden Annahme eines beendeten Versuchs aber zusätzliche, schwer nachvollziehbare Rücktrittshemmnisse17. Ein eigenständig begründetes Tatbestandsmodell nutzt die Konstruktion einer Art mittelbaren Täterschaft,18 bei welcher der Täter sich selbst als schuldunfähiges Werkzeug benutzt. Dies erscheint zunächst als lebensnahe Betrachtung. Letztlich nicht zu überzeugen vermag allerdings die rechtliche Konstruktion dieses Versuchs einer dogmatischen Untermauerung des Tatbestandsmodells.19 Denn der Täter kann selbst nicht zugleich ein „anderer“ i.S.v. § 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB sein. Auch wenn man diesen formalen Einwand dadurch entschärft, dass man nicht auf die fragliche Vorschrift, sondern nur auf die Begründungsstruktur der mittelbaren Täterschaft abhebt und also letztlich § 25 Abs. 1 Alt. 1 StGB anwendet,20 bleiben Defizite; dann nämlich pendelt die Begründung zwischen einerseits dem aus-der-Hand-Geben des Tatverlaufs und andererseits der nun doch eigenhändigen Tatverwirklichung hin und her.21 Der relevante Unterschied zwischen actio libera in causa und mittelbarer Täterschaft, dass nämlich der sich Berauschende durch die Defektherbeiführung das weitere Geschehen noch nicht aus der Hand gegeben hat, wird entweder ignoriert oder verwischt. Die vom Schuldunfähigen willentlich begangene rechtswidrige Tat als bloßen Kausalverlauf ohne personale Unrechtskomponente verstehen zu wollen,22 kann nicht überzeugen. Die Grenzen der Werkzeug-Argumentation werden zudem in der letztlich fiktiven Versuchsbejahung schon für den Zeitpunkt der Defektherbeiführung deutlich; denn u. U. muss der dann Schuldunfähige selbst – als „Werkzeug“ und personenidentisch als dessen „Hintermann“ – noch eine ganze Reihe von Zwischenakten bis zum unmittelbaren Rechtsgutsangriff tätigen. 17 Vgl. Hettinger, Die „actio libera in causa“, 1988, S. 416 ff.; ferner Küper, Leferenz-FS, 1983, S. 573 (588); Rönnau, JA 1997, 707 (710 f.). 18 Vgl. etwa Puppe, JuS 1980, 346 (348 f.); Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 20 Rn. 61; Jakobs, Nishihara-FS, 1998, S. 105 (117 ff., 120); Herzberg, Spendel-FS, 1992, S. 203 (219 f., 222 f.); Hardtung, NZV 1997, 97 (103); Hirsch, NStZ 1997, 230 ff.; Satzger, Jura 2006, 513 (515); Dold, GA 2008, 427; Schünemann, in: Hilgendorf/Schulze-Fielitz (Hrsg.), Selbstreflexion der Rechtswissenschaft, 2015, S. 223 (235); NK-StGB/Schild, 5. Aufl. 2017, § 20 Rn. 112; Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT, 49. Aufl. 2019, Rn. 663. 19 Kritisch zur Konstruktion einer mittelbaren Täterschaft etwa Küper, Leferenz-FS, 1983, S. 573 (590 f.); Neumann, Zurechnung (Fn. 7), S. 34 f.; Paeffgen, ZStW 97 (1985), 513 (518); Hettinger, Die „actio libera in causa“, 1988, S. 407 ff., 463; Streng, JZ 1994, 709 (710); Baier, GA 1999, 272 (279 f.); Hruschka, Gössel-FS, 2002, S. 145 (151 ff.); Mitsch, Küper-FS, 2007, S. 347 (351 ff.); Hoyer, GA 2008, 711 (717); Gropp, Strafrecht AT, 4. Aufl. 2015, § 6 Rn. 105; Kindhäuser/Zimmermann, Strafrecht AT, 9. Aufl. 2020, § 23 Rn. 18; NK-StGB/Paeffgen, 5. Aufl. 2017, Vor § 323a Rn. 7; Hettinger, Rengier-FS, 2018, S. 39 (46 ff.); Schönke/Schröder/Perron/Weißer, 30. Aufl. 2019, § 20 Rn. 35. 20 Vgl. etwa Hirsch, NStZ 1997, 230; Puppe, Strafrecht AT, 3. Aufl. 2016, § 16 Rn. 8. 21 Deutlich bei Hardtung, NZV 1997, 97 (103); Dold, GA 2008, 427 (431 ff.). 22 Dazu Küper, Leferenz-FS, 1983, S. 573 (590 f.); Hruschka, Gössel-FS, 2002, S. 145 (150); Hoyer, GA 2008, 711 (720, 722).
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Auch Vertreter der – wie auch immer konstruierten – Vorverlegungslehre räumen zunehmend ein, dass auf dieser Grundlage keine umfassende Erklärung der actio libera in causa möglich ist. Denn es lässt sich nicht ernsthaft behaupten, eine im Gesetz näher beschriebene Tathandlung sei schon durch die tatvorbereitende Defektherbeiführung realisiert;23 insbesondere eigenhändige Delikte können durch Vorverhalten nicht verwirklicht werden. Auch der 4. Strafsenat des BGH hat dies in seiner Leitentscheidung zu den Verkehrsstraftaten zugrunde gelegt.24 Im Sinne dieser Rechtsprechung sollen allenfalls noch reine Erfolgsdelikte nach den Grundsätzen der actio libera in causa behandelt werden.25 2. Das Ausnahmemodell Das sog. Ausnahmemodell befürwortet für Vorverschuldensfälle, die herkömmlich der actio libera in causa zugewiesen werden, eine Nichtbeachtung des Wortlauts der §§ 20, 21 StGB.26 Dadurch entgeht es den konstruktiven Problemen des Tatbestandsmodells und vermeidet eine Beschränkung auf bestimme Deliktsarten. Untermauert wird dieser Ansatz mit Gedanken der Obliegenheitsverletzung,27 des Rechtsmissbrauchs oder des Gewohnheitsrechts. Den unverkennbaren Konflikt mit dem verfassungsrechtlich abgesicherten Garantieprinzip relativieren manche Vertreter dieser Lehre mit der Erwägung, dass es bei der Frage der Schuldunfähigkeit nicht um Strafbegründung gehe, sondern um Strafausschluss; deshalb unterfalle auch die Frage einer Ausnahme vom Strafausschluss nicht den Ansprüchen der Garantie-
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Ausführl. Horn, GA 1969, 289 (303 ff.); Küper, Leferenz-FS, 1983, S. 573 (579 ff.); Neumann, Zurechnung (Fn. 7), S. 31 ff.; Hettinger, Die „actio libera in causa“, 1988, S. 422 ff., 438 f.; Satzger, Jura 2006, 513 (515 f.); SK-StGB/Wolters, 9. Aufl. 2016, § 323a Rn. 33; Schönke/Schröder/Perron/Weißer, 30. Aufl. 2019, § 20 Rn. 35. – Eingeräumt wird das Problem von Roxin, Lackner-FS, 1987, S. 307 (317 f.); Kudlich, PdW Strafrecht AT, 5. Aufl. 2016, S. 94 f.; Gropp, Strafrecht. AT, 4. Aufl. 2015, § 6 Rn. 108; Baumann/Weber/Mitsch/ Eisele, Strafrecht AT, 12. Aufl. 2016, § 17 Rn. 40 f.; Heinrich, Strafrecht AT, 6. Aufl. 2019, Rn. 603; Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 25 Rn. 15, 18 ff. – Relativierend Freund, GA 2014, 137 (140 ff., 158); SK-StGB/Rogall, 9. Aufl. 2017, § 20 Rn. 73 ff.; Beck, ZIS 2018, 204 (210). – Geleugnet wird das Problem von Hirsch, JR 1997, 391 (393); Hoyer, GA 2008, 711 (715 f.); Puppe, Strafrecht AT, 3. Aufl. 2016, § 16 Rn. 9 ff. 24 BGHSt 42, 235 (238 ff.). 25 BGH, NStZ 1997, 230 (Ls.); weniger restriktive Tendenz bei BGH, NStZ 2000, 584 (585). 26 Dafür etwa Hruschka, JuS 1968, 554 (558 f.); LK/Vogler, 10. Aufl. 1985, § 22 Rn. 107; Otto, Jura 1986, 426 (429 ff.); ders., Strafrecht AT, 7. Aufl. 2004, § 13 Rn. 24 ff.; Jescheck/ Weigend, Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996, S. 446 ff.; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht AT, 6. Aufl. 2011, § 10 Rn. 48; Krey/Esser, Strafrecht AT, 6. Aufl. 2016, Rn. 710; Kühl, Strafrecht AT, 8. Aufl. 2017, § 11 Rn. 18; Lackner/Kühl, StGB, 29. Aufl. 2018, § 20 Rn. 25. 27 Letztliche Ablehnung der actio libera in causa nach Unterfütterung der Ausnahmelösung durch eine Obliegenheitslösung bei Rudolph, Das Korrespondenzprinzip im Strafrecht, 2006, S. 81 ff.; Mack, Trunkenheit und Obliegenheit, 2008, S. 327 ff.
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funktion des Art. 103 Abs. 2 GG.28 Die ganz herrschende Meinung hingegen attestiert dem Ausnahmemodell einen Verstoß gegen das Gesetzlichkeitsprinzip.29 Dieser Einwand gilt besonders für Varianten des Ausnahmemodells, die Tatverantwortung trotz eines tatsächlichen Fehlens von Tatschuld bejahen. Eine solche Verantwortungszurechnung mittels Ausgleichs30 oder Surrogation31 fehlender Schuldfähigkeit durch vorgängiges Fehlverhalten oder im Wege eines „fairen Verantwortungsdialogs als dogmatische Regeln zweiter Stufe“32 erscheint solange ohne Grundlage, wie damit unabhängig von Tatschuld und lex scripta strafrechtliche Verantwortung zugerechnet werden soll. Denn Strafbarkeit ohne formal gesicherten Schuldbezug würde der über das Rechtsstaatsprinzip verfassungsrechtlich abgesicherten Bedeutung des Strafbegründungs- und Straflimitierungselements der Tatschuld widersprechen.33 3. Das Ausdehnungsmodell Ähnlich wie das Ausnahmemodell entgeht auch das Ausdehnungsmodell der actio libera in causa den Problemen, die einer Vertatbestandlichung der dem eigentlichen Rechtsgutsangriff des Berauschten vorgelagerten Phase innewohnen. Allerdings beachtet das Ausdehnungsmodell – anders als das Ausnahmemodell – den Wortlaut des Gesetzes. Es wird davon ausgegangen, dass der den Schuldtatbestand ansprechende Begriff der Tat i.S.v. § 20 StGB nicht auf die eigentliche Tatbestandsrealisierung begrenzt ist, sondern auch das tatbezogene Vorverhalten erfasst.34 Da der 28 Vgl. Schönke/Schröder/Lenckner, StGB, 25. Aufl. 1997, § 20 Rn. 35; ferner Otto, Strafrecht AT, 7. Aufl. 2004, § 13 Rn. 25 f. 29 Für Kritik am Ausnahmemodell Roxin, Lackner-FS, 1987, S. 307 (309 ff.); Hettinger, GA 1989, 1 (17 f.); Landgraf, Die „verschuldete“ verminderte Schuldfähigkeit, 1988, S. 35 ff.; Herzberg, Spendel-FS, 1992, S. 203 (229 ff.); Rath, JuS 1995, 405 (410 f.); Kirsch, Die Geltung des Gesetzlichkeitsprinzips im Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuchs, 2014, S. 265 ff.; Schönke/Schröder/Perron/Weißer, StGB, 30. Aufl. 2019, § 20 Rn. 35a; vgl. ferner BGHSt 42, 235 (241 f.); Krause, Jura 1980, 169 (172); Behrendt, Affekt und Vorverschulden, 1983, S. 65 f.; Salger/Mutzbauer, NStZ 1993, 561 (565); Ambos, NJW 1997, 2296 (2297). 30 Schönke/Schröder/Lenckner, StGB, 25. Aufl. 1997, § 20 Rn. 35 (anders ab 28. Aufl. 2010, § 20 Rn. 35a). 31 Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, 1989, S. 128 ff. 32 Neumann, Zurechnung (Fn. 7), S. 269 ff.; ders., Arthur Kaufmann-FS, 1993, S. 581 (593). 33 Vgl. dazu etwa Küper, Der „verschuldete“ rechtfertigende Notstand, 1983, S. 86; Roxin, Lackner-FS, 1987, S. 307, 309 ff.; Herzberg, Spendel-FS, 1992, S. 203 (231 ff.); Schmidhäuser, Die actio libera in causa: ein symptomatisches Problem der deutschen Strafrechtswissenschaft, 1992, S. 18 ff.; Streng, JZ 2000, 20 (25); NK-StGB/Paeffgen, 5. Aufl. 2017, Vor § 323a Rn. 14 ff. 34 Dass Art. 103 Abs. 2 StGB dem nicht entgegengehalten werden kann, ist an anderer Stelle begründet worden; vgl. Streng, in: Bouffier/Horn u. a. (Hrsg.), Grundgesetz und Europa., 2016, S. 471 (477 ff.).
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Verfasser diesen Ansatz wiederholt und eingehend begründet hat,35 sei im Folgenden nur kurz darauf eingegangen. Für eine die unmittelbare Tatvorgeschichte mit erfassende Definition des Begriffs der Tat i.S.v. § 20 StGB spricht, dass Schuld wertend zugeschrieben wird und nicht starr an die die Tatbestandsmäßigkeit und das Unrecht konstituierenden Realitätsfragmente gebunden ist. Die Schuldwertung lässt sich in ihrer Beurteilungsgrundlage nicht genau auf den Zeitpunkt der Tathandlung begrenzen.36 Besonders deutlich wird dies in § 17 und § 35 Abs. 2 StGB, wo das Vorverschulden des Irrenden die Bewertung seines Handelns prägt, nicht notwendig aber das tatzeitliche innere Verhältnis des Täters zu seiner vorsätzlichen Tathandlung. Für ein weites Verständnis vom Schuldtatbestand im Rahmen der lex lata spricht besonders das Zusammenspiel von § 20 und § 17 StGB.37 Denn die gesetzliche Regelung des Verbotsirrtums überschneidet sich unübersehbar mit derjenigen zur Schuldunfähigkeit. § 20 beschreibt mit der Konstellation fehlender Fähigkeit zur Unrechtseinsicht eine besondere – nämlich durch einen spezifischen Entstehungshintergrund geprägte – Form von Verbotsirrtum i.S.v. § 17. Die allgemeine Regelung des § 17 ist mit der herrschenden Meinung als insoweit letztlich maßgebliche Regelung anzusehen. Hierfür spricht auch die parallele Normierung in § 35 Abs. 2, die den allgemeingültigen Charakter der Ausdehnung des Schuldtatbestandes, wiederum durch eine Vermeidbarkeitsklausel, nachdrücklich bekräftigt. Dass nun aber § 20 keine Vorverschuldensregelung enthält, kann dem nicht entgegengehalten werden.38 Der Gesetzgeber hatte angenommen, angesichts der damals gefestigt erscheinenden actio libera in causaLehre überhaupt keinen Anlass zu haben, zur Ermöglichung einer Zurechnung von Vorverschulden bei § 20 legislativ tätig werden zu müssen.39 35 Vgl. etwa Streng, ZStW 101 (1989), 273 (310 ff.); ders., JZ 1994, 709 (711 ff.); MüKoStGB/Streng, 4. Aufl. 2020, § 20 Rn. 128 ff. 36 Vgl. etwa Lang-Hinrichsen, Engisch-FS, 1969, S. 353 (359 f.); Krümpelmann, GA 1983, 337 (354 ff.); Streng, ZStW 101 (1989), 273 (310 f.); LK/Jähnke, 11. Aufl. 1993, § 20 Rn. 78; Jerouschek/Kölbel, JuS 2001, 417 (422); Safferling, Vorsatz und Schuld, 2008, S. 246; Schönke/Schröder/Eisele, 30. Aufl. 2019, Vor § 13 Rn. 105/106; Fischer, StGB, 67. Aufl. 2020, § 20 Rn. 55. 37 Vgl. Kuhn-Päbst, Die Problematik der actio libera in causa, 1984, S. 112 ff.; Ziegert, Vorsatz, Schuld und Vorverschulden, 1987, S. 189 ff., 198 ff., 211 ff.; ferner Geilen, MaurachFS, 1972, S. 173 (188 ff., 192); Behrendt, Affekt und Vorverschulden, 1983, S. 59 ff.; Krümpelmann, ZStW 99 (1987), 191 (221 ff.); Stratenwerth, Armin Kaufmann-GS, 1989, S. 485 (491 ff.); LK/Jähnke, 11. Aufl. 1993, § 20 Rn. 5; Safferling, Vorsatz und Schuld, 2008, S. 246; MüKo-StGB/Streng, 4. Aufl. 2020, § 20 Rn. 130; Schönke/Schröder/Perron/Weißer, 30. Aufl. 2019, § 20 Rn. 34. 38 So aber etwa Paeffgen, ZStW 97 (1985), 513 (523); Hettinger, Geerds-FS, 1995, S. 623 (654); Ambos, NJW 1997, 2296 (2297); Rönnau, JA 1997, 707 (713); Kirsch, Die Geltung (Fn. 29), S. 283 f.; NK-StGB/Schild, 5. Aufl. 2017, § 20 Rn. 62 ff.; NK-StGB/Paeffgen, 5. Aufl. 2017, Vor § 323a Rn. 23. 39 Vgl. Kuhn-Päbst, Die Problematik (Fn. 37), S. 111 f.; Hettinger, Die „actio libera in causa“, 1988, S. 335 ff.; Streng, JZ 2000, 20 (22); NK-StGB/Schild, 5. Aufl. 2017, § 20 Rn. 25; relativierend Sternberg-Lieben, Schlüchter-GS, 2002, S. 217 (239 f.).
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„Bei Begehung der Tat“ i.S.v. § 20 StGB meint auf dieser Grundlage nicht die Tatbestandsverwirklichung im Sinne von Versuch oder Vollendung und ist daher auch nicht mit den zeitlichen Grenzen der „rechtswidrigen Tat“ zu identifizieren. Vielmehr geht es um strafrechtliche Verantwortungszurechnung, die eine gegenüber dem Unrechtstatbestand (§ 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB) breitere Erkenntnis- und Wertungsbasis voraussetzt. Die Schuldwertung betrifft daher auch das Vorverschulden bezüglich der dann bei Tatbestandsverwirklichung bestehenden Schuldunfähigkeit. Naheliegend erscheint diese Ausdehnung des Schuldtatbestands schon deshalb, weil menschliche Entscheidungsfindung einen weitgehend unbewusst-prozesshaften Charakter trägt, weshalb an dessen Ende – also zum Zeitpunkt des eigentlichen Rechtsgutsangriffs – die Frage nach einem anders-handeln-Können zu spät kommt.40 Da das Ausdehnungsmodell das Tatunrecht nicht tangiert,41 stellt die dem eigentlichen Rechtsgutsangriff vorgelagerte Defektherbeiführung immer eine tatbestandsund unrechtsfreie Vorbereitungshandlung dar – ganz unabhängig vom weiteren Gang der Dinge. Ab dem Vorliegen zumindest eines nach den allgemeinen Regeln definierten rechtswidrigen Versuchs wird im Rahmen der dann erforderlichen Schuldzurechnung die zunächst rechtlich indifferente Vorbereitungshandlung immerhin und nur für die auf das Tatunrecht bezogene Schuldwertung bedeutsam. Lediglich insoweit erfasst die „Begehung der Tat“ i.S.v. § 20 StGB auch Dimensionen des Vorverhaltens.
III. Das Unterlassensmodell Da alle etablierten Begründungsansätze der actio libera in causa entschiedene Kritik erfahren haben,42 hat man einen neuen Anlauf zur Legitimierung eines Tatbestandsmodells genommen. Dieses Unterlassensmodell bezieht den Tatvorwurf auf das Nicht-Erbringen von Vorkehrungsmaßnahmen und erklärt damit die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 13 StGB für die actio libera in causa als einschlägig.43 Allerdings ist auch dieses Begründungsmodell erheblichen Bedenken ausgesetzt.
40
Vgl. Streng, Kindhäuser-FS, 2019, S. 501 (507 ff.). Anders gesehen von Schmidhäuser, Die actio libera in causa (Fn. 33), S. 14; Neumann, Arthur Kaufmann-FS, 1993, S. 581 (588); Hettinger, Geerds-FS, 1995, S. 623 (648); Montiel, Streng-FS, 2017, S. 101 (105 f.). 42 Zu der oben am Tatbestandsmodell und am Ausnahmemodell geübten Kritik kommt hinzu die am Ausdehnungsmodell geübte, die sich vor allem am dort postulierten eigenständigen Tat-Begriff des § 20 festmacht; vgl. etwa BGHSt 42, 235 (240 f.); Gropp, Strafrecht AT, 4. Aufl. 2015, § 6 Rn. 110; Frister, Strafrecht AT, 8. Aufl. 2018, 18 Rn. 18; Heinrich, Strafrecht AT, 6. Aufl. 2019, Rn. 604; Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 25 Rn. 11. 43 So Deiters, in: Schneider/Frister (Fn. 16), S. 121 (133 ff.); Beck, ZIS 2018, 204 (206 ff.); Frister, Strafrecht AT, 8. Aufl. 2018, 18 Rn. 21. 41
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Den hier typischen Fall stellt das unabgeschirmte Weitertrinken angesichts nahenden Vollrauschs i.S.v. alkoholbedingter Schuldunfähigkeit dar.44 Dieses Weitertrinken zu einem Unterlassen des zu trinken Aufhörens umzuformulieren,45 bedeutet jedoch nichts anderes, als aktives Tun in ein Unterlassen umzuflaggen46. Es soll über die Heranziehung von § 13 StGB der Beginn der Tathandlung im Sinne des Tatbestandsmodells möglichst weit vorverlegt werden. Genau diese Vorverlagerung durch das Einfordern von Vorkehrungen stellt nun aber die dem actio libera in causa-Unterlassensansatz eigentümliche Schwäche dar. Zur Zeit des fraglichen Vorverhaltens im Sinne des Unterlassens von Vorkehrungsmaßnahmen gegen zu erwartende Rechtsbrüche besteht nämlich noch keine Gefahr, die abzuwenden der zu späterer Angriffshandlung Entschlossene verpflichtet sein könnte. Dass ein strafbares Unterlassen sich auf ein situativ bereits gefordertes erfolgsverhinderndes Aktivwerden bezieht, macht der Gesetzeswortlaut ganz deutlich. § 13 Abs. 1 StGB stellt darauf ab, dass der Täter „es unterlässt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört“. Führend ist mithin nicht etwa der Begriff des Unterlassens, sondern derjenige der nicht geleisteten Erfolgsabwendung.47 Beim Unterlassen i.S.v. § 13 geht es mithin um ein Nicht-Verhindern bei bereits existentem erfolgsträchtigem Kausalverlauf.48 Eine Untätigkeit im Vorfeld einer noch gar nicht entstandenen Gefahr liegt, wie auch § 8 S. 1 StGB zeigt,49 außerhalb der Reichweite des § 13 StGB.50 – Dass man bei der omissio libera in causa davon abweicht,51 stellt diese Rechtsfigur in Frage,52 tangiert jedoch den dargestellten Grundsatz nicht. 44
204 f. 45
Vgl. aber auch den exotisch anmutenden „Hirnschrittmacher“-Fall bei Beck, ZIS 2018,
Vgl. Deiters, in: Schneider/Frister (Fn. 16), S. 121 (134). Ganz grundsätzlich ablehnend Schönke/Schröder/Bosch, 29. Aufl. 2019, Vor §§ 13 ff. Rn. 159; vgl. auch Sieber, JZ 1983, 431 (436); Lackner/Kühl/Heger, 29. Aufl. 2018, § 13 Rn. 3. 47 Ausführl. Streng, ZStW 122 (2010), 1 ff.; ders., Frisch-FS, 2013, S. 739 (745 f.). 48 Vgl. auch Samson, Welzel-FS, 1974, S. 579 (592 f.); Roxin, Strafrecht AT II, 2003, § 31 Rn. 86; Hettinger, in: Laubenthal (Hrsg.), Festgabe für Rainer Paulus, 2009, S. 73 (82, 84); Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht AT, 6. Aufl. 2011, § 13 Rn. 3; SK-StGB/Rudolphi, 9. Aufl. 2017, Vor § 13 Rn. 6 f.; Schönke/Schröder/Bosch, 30. Aufl. 2019, Vor § 13 ff. Rn. 139, 148 f.; ferner Androulakis, Studien zur Problematik der unechten Unterlassungsdelikte, 1963, S. 83; Herzberg, Die Unterlassung im Strafrecht und das Garantenprinzip, 1972, S. 205; Jescheck/ Weigend, Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996, S. 603 f. 49 Da § 8 allein den Unrechtstatbestand meint, steht diese Norm der oben (in II.3.) dargestellten, den Schuldtatbestand betreffenden Ausdehnungslösung der actio libera in causa nicht entgegen; vgl. MüKo-StGB/Streng, 4. Aufl. 2020, § 20 Rn. 134. 50 Dazu ausführl. anhand des „Ziegenhaarfalles“ (RGSt 63, 211 ff.) Struensee, Stree/Wessels-FS, 1993, S. 133 (155 ff.); Roxin, Strafrecht AT II, 2003, § 31 Rn. 86; ferner Baier, GA 1999, 272 (277, 281). 51 Vgl. für die h.M. Kudlich, PdW Strafrecht AT, 5. Aufl. 2016, S. 140 f.; Kühl, Strafrecht AT, 8. Aufl. 2017, § 18 Rn. 22; Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 49 Rn. 11 f.; 46
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Dies gilt es ganz unabhängig von dem bekannten Meinungsstreit um die Abgrenzung von Tun und Unterlassen festzuhalten, bei welchem der hier favorisierten kausalitätsorientierten Betrachtung die phänomenologisch orientierten Ansätze und die mit der Formel vom Schwerpunkt des Vorwurfs operierende Betrachtung gegenüberstehen.53 Und auch außerhalb der Geltung von § 13 StGB ist das Entstehen eines tatbestandlichen Hilfsgebots regelmäßig an eine bereits bestehende Gefahrenlage gebunden; etwa bei dem echten Unterlassungsdelikt der unterlassenen Hilfeleistung (§ 323c StGB) setzt die Tathandlung des Unterlassens das bereits Vorliegen eines gefahrenträchtigen Unglücksfalls oder einer Gemeingefahr voraus.54 Auf Ebene der in § 13 Abs. 1 StGB angesprochenen Rechtspflicht zum Handeln führt die dem actio libera in causa-Unterlassensmodell eigene Vorverlagerung der Tatbestandsverwirklichung gleichfalls zu Problemen. Denn in den hier zu diskutierenden Fällen der Selbstberauschung kommt als Garantenpflicht eine solche aus einem Vorverhalten in Betracht, das eine Gefahr für das tatbestandlich geschützte Rechtsgut geschaffen hat (Ingerenz). Die fragliche Vorkehrungsmaßnahme soll nun aber den Eintritt einer derartigen garantenstellungsbegründenden Gefahrenlage55 bereits verhindern. Auch auf der Ebene der Rechtpflicht zum Handeln fehlt es also an einer „tatbestandsmäßige(n) Situation“.56 Dass der Umweg über ein auf Vorkehrungen bezogenes Unterlassen nicht widerspruchsfrei möglich ist, zeigt sich speziell bei der vorsätzlichen actio libera in causa noch in weiterer Hinsicht: Es würde nämlich dem zur Begehung einer rechtswidrigen Tat nach vorheriger Berauschung entschlossenen Täter in nachgerade absurder Weise vorgeworfen, sich gegen die von ihm ja beabsichtigte Tat nicht mit Vorkehrungsmaßnahmen gewappnet zu haben. Das hier vorwurfsbegründende Heranziehen von Untätigkeit dient unverkennbar dazu, allein schon den bösen Willen, unabhängig Schönke/Schröder/Bosch, 29. Aufl. 2019, Vor §§ 13 ff. Rn. 144; Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht. AT, 49. Aufl. 2019, Rn. 1218. 52 Kritisch bzw. ablehnend Struensee, Stree/Wessels-FS, 1993, S. 133 (150 f., 156 f.); Baier, GA 1999, 272 (279 ff., 283); Freund/Rostalski, Strafrecht AT, 3. Aufl. 2019, § 4 Rn. 40 ff.; NK-StGB/Gaede, 5. Aufl. 2017, § 13 Rn. 13. 53 Darstellung des Streitstands bei Sieber, JZ 1983, 431 ff.; Struensee, Stree/Wessels-FS, 1993, S. 133 (136 ff.); Roxin, Strafrecht AT II, 2003, § 31 Rn. 69 ff.; LK/Weigend, 12. Aufl. 2007, § 13 Rn. 6 ff.; Streng, ZStW 122 (2010), 1 (7 ff.); Kuhlen, Puppe-FS, 2011, S. 669 ff.; Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, Strafrecht AT, 12. Aufl. 2016, § 21 Rn. 26 ff.; Kühl, Strafrecht AT, 8. Aufl. 2017, § 18 Rn. 13 ff.; NK-StGB/Gaede, 5. Aufl. 2017, § 13 Rn. 4 ff.; Schönke/Schröder/Bosch, 30. Aufl. 2019, Vor §§ 13 ff. Rn. 158 ff. 54 Vgl. Baier, GA 1999, 272 (277); Dehne-Niemann, GA 2009, 150 (154 ff.); NK-StGB/ Gaede, 5. Aufl. 2017, § 323c Rn. 4 ff.; Fischer, StGB, 67. Aufl. 2020, § 323c Rn. 3 ff. 55 Vgl. Roxin, Strafrecht AT II, 2003, § 32 Rn. 143 ff.; Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, Strafrecht AT, 12. Aufl. 2016, § 21 Rn. 70; NK-StGB/Gaede, 5. Aufl. 2017, § 13 Rn. 42 f.; Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 50 Rn. 72, 96; Fischer, StGB, 67. Aufl. 2020, § 13 Rn. 47 ff. 56 Struensee, Stree/Wessels-FS, 1993, S. 133 (155 ff.); Roxin, Strafrecht AT II, 2003, § 31 Rn. 86.
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von einer daraus resultierenden Tathandlung (Berauschung oder Rechtsgutsangriff), zur Schuld- und Strafbegründung heranzuziehen. Auch einige bereits oben (in II.1.) gegen das herkömmliche Tatbestandsmodell erhobene Bedenken sind dem Unterlassensansatz entgegenzuhalten: (1) Für eine Erfüllung des Kausalitätserfordernisses lässt sich lediglich behaupten, dass die noch schuldfähig begangene Handlung/Unterlassung Ursache dafür war, den eigentlichen Rechtsgutsangriff nun als Schuldunfähiger begangen zu haben. Diese partielle Ursächlichkeit reicht aber nicht aus, das schuldhafte Vorverhalten als kausal auch für den tatbestandlichen Rechtsgutsangriff, wie er als Tatunrecht dem Schuldurteil zugrunde liegt, anzusehen. (2) Bereits das Unterlassen der Defektverhinderung seitens eines Tatentschlossenen wäre – bei grundsätzlicher Versuchsstrafbarkeit – als versuchtes Delikt strafbar. Beteiligte würden schon durch die Selbst-Intoxikation des sich Mut antrinkenden Täters oder Mittäters in das Ausführungsstadium versetzt. Entgehen könnte man dem nur durch das Postulieren unterschiedlichen Versuchsbeginns für die verschiedenen Tatbeteiligungsformen. (3) Die allein ergebnisorientierte Hochstufung der eigentlich bloß tatvorbereitenden Defektherbeiführung zum strafbaren Versuch führt zu erheblichen Folgeproblemen für einen Rücktritt vom derart exzessiv vorverlagerten Versuch.
IV. Resümee Der actio libera in causa-Unterlassungsansatz teilt ganz wesentlich die Defizite auch der anderen Tatbestandsmodelle. Als seine spezifische Schwäche bleibt zudem festzuhalten, dass § 13 StGB ein Eingreifen erst bei Vorliegen einer Schädigungsgefahr für fremde Rechtsgüter bei (deshalb) gegebener Garantenpflicht des Täters fordert. Nicht geleistete Vorkehrungsmaßnahmen gegen eine erst später von derselben Person in Gang zu setzende Gefährdungskausalität können daher noch nicht tatbestandsrelevant sein.57 Letztlich folgt die Schwäche des neuen Ansatzes daraus, dass das Erfassen von Vorverschulden mittels einer ganz an Tatbestandsdogmatik orientierten Vorgehensweise von vornherein scheitern muss. Die Ebene der Schuldzurechnung folgt notwendig eigenen Gesetzen. Insbesondere kann für das Verbrechenselement der Schuld das Koinzidenzprinzip richtigerweise nicht gelten. Denn eine derartige zeitliche Fokussierung des Schuldtatbestands lässt sich nur als Relikt des klassischen Schuldverständnisses und des darauf folgenden psychologischen Schuldbegriffs ver-
57
Daher kann der actio libera in causa-Unterlassensansatz auch keine Entschärfung der für die Tatbestandslösung sich ergebenden Probleme leisten, wenn der eigentliche Rechtsgutsangriff des Berauschten in Form von garantenpflichtwidrigem Unterlassen erfolgt; vgl. zu dieser Konstellation Streng, in: Kudlich/Montiel/Schuhr (Hrsg.), Gesetzlichkeit und Strafrecht, 2012, S. 179 (182).
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stehen.58 Mit dem heute herrschenden normativen Schuldbegriff,59 der die Schuldmerkmale nicht als deskriptive Elemente sondern als Ausgangspunkte für Wertungen ansieht, hat die Idee einer engen tatzeitlichen Beschränkung der Schuldmerkmale ihre Legitimation eingebüßt. Jedenfalls gilt dies, seit man den Tatvorsatz nicht mehr als Schuldelement bzw. als Schuldtypus versteht, sondern als subjektives Tatbestandsmerkmal60 einstuft. Dies deshalb, weil man speziell für den Vorsatz eine Koinzidenz bzw. Simultaneität mit der Tatbegehung zweifelsohne zu fordern hat.61 Solange also der Vorsatz noch als Schuldelement eingestuft worden war, hat dieser Aufbau es – trotz des inzwischen geltenden normativen Schuldbegriffs – begünstigt, das eigentlich nur für den Vorsatz relevante Koinzidenzprinzip (oder Simultaneitätsprinzip) für die schuldbegründenden Umstände insgesamt als maßgeblich anzusehen.62 Mit dem neueren Verständnis des Vorsatzes nicht als Schuld- sondern als Tatbestandsmerkmal ist nun das letzte Begründungselement für eine Einhaltung des Koinzidenzprinzips auf Schuldebene hinfällig. Dies zu ignorieren, führt zu einer dysfunktionalen Verengung des Schuldurteils auf einen bloßen Ausschnitt innerhalb eines umfangreicheren Lebenssachverhalts, der in dieser zeitlich kupierten Form einem wertenden Gerechtigkeitsurteil überhaupt nicht zugänglich ist.63 Denn eine zeitlich zugespitzte argumentative Begründung der Schuldwertung amputiert diese um die vielfach aufschlussreiche Vorgeschichte, etwa um ein relevantes Vorverschulden des Täters. Es zeigt sich also, dass das hergebrachte Bemühen um eine systematisierte, rational bzw. logisch handhabbare Begründung (des Ausschlusses) strafrechtlicher Schuld zu einer hoch problematischen Verengung des eigentlich weiter 58 Zur entsprechenden Entwicklung vgl. Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996, S. 419 f.; Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 19 Rn. 10 ff.; Safferling, Vorsatz und Schuld, 2008, S. 29 ff. 59 Dazu ausführl. Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 2. Aufl. 1990, S. 231 ff.; vgl. auch Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996, S. 420 ff. 60 Vgl. Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 59 ff.; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996, S. 241 f.; Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 7 Rn. 15 ff., § 10 Rn. 61 ff.; Safferling, Vorsatz und Schuld, 2008, S. 68 ff.; Heinrich, Strafrecht AT, 6. Aufl. 2019, Rn. 101; Duttge, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius (Hrsg.), Handbuch des Strafrechts, Bd. 1, 2020, S. 311 (314 ff.). 61 Vgl. insoweit zum Koinzidenzprinzip etwa Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996, S. 294; Streng, Beulke-FS, 2015, S. 313 (320); Kühl, Strafrecht AT, 8. Aufl. 2017, § 5 Rn. 20 ff.; NK-StGB/Puppe, 5. Aufl. 2017, § 15 Rn. 100 ff.; Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 14 Rn. 55 ff. 62 Zum Koinzidenzprinzip bei actio libera in causa vgl. etwa BGHSt 42, 235 (241); Jakobs, Nishihara-FS, 1998, S. 105 (108 ff.); Kindhäuser/Hilgendorf, StGB, 8. Aufl. 2020, Vor § 13 Rn. 23, § 20 Rn. 15 ff.; Jäger, Strafrecht AT, 8. Aufl. 2017, Rn. 177; Murmann, Grundkurs Strafrecht, 4. Aufl. 2017, § 26 Rn. 14 ff.; Montiel, Streng-FS, 2017, S. 101 (105 ff.); NKStGB/Schild, 5. Aufl. 2017, § 20 Rn. 104; kritisch Neumann, ZStW 99 (1987), 567 (576 ff.); Jerouschek/Kölbel, JuS 2001, 417 (420 ff.); Streng, Beulke-FS, 2015, S. 313 (321 ff.). 63 Vgl. Streng, ZStW 101 (1989), 273 (311); ders., Kindhäuser-FS, 2019, S. 501 (508 ff.); ferner Neumann, Arthur Kaufmann-FS, 1993, S. 581 (591 f.).
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ausgreifenden Schuldtatbestandes geführt hat. Dieser Fehler lässt sich durch kunstvolle Konstruktionen einer tatbestandsorientierten Strafrechtsdogmatik nicht beheben. Dies war vorstehend gerade auch bezüglich einer Unterlassenskonstruktion der actio libera in causa zu belegen. Man muss daher an die Wurzel der Probleme gehen und der dritten Ebene des Verbrechensaufbaus ihren Eigenwert in Form eines eigenständigen Schuldtatbestands und einer eigenen Schulddogmatik zugestehen.
Subjektive Einstellungen im strafrechtlichen Handlungsbegriff Von Benjamin Vogel
I. Vorbemerkung Gemeinsam mit den Herausforderungen von Globalisierung und Digitalisierung ist das Schaffen Ulrich Siebers am Freiburger Max-Planck-Institut maßgeblich durch Forschungen zur Rolle des Risikoparadigmas im nationalen, europäischen und globalen Sicherheitsrecht geprägt. Charakteristisch ist für ihn hier einerseits die Anerkennung der Notwendigkeit einer sich aus neuen kriminalpolitischen Herausforderungen ergebenden Weiterentwicklung des Strafrechts, andererseits die Einsicht, dass damit vielfach eine Schwächung überkommener rechtsstaatlicher Garantien verbunden ist.1 Dabei geht es auch um einen vermehrten gesetzgeberischen Rückgriff auf Gefährdungsdelikte. Zwar betrachtet Ulrich Sieber Erweiterungen des materiellen Strafrechts häufig als geboten, doch nur unter der Voraussetzung einer sorgfältigen Abwägung der jeweiligen kriminalpolitischen Bedürfnisse mit den sich ergebenden Grundrechtseinschränkungen.2 Zu diesem holistischen, regelmäßig die strafprozessrechtlichen ebenso wie die nicht-strafrechtlichen Auswirkungen einer Reform des materiellen Rechts im Blick behaltenden Ansatz kontrastiert eine nicht zuletzt in der jüngsten Rechtsprechung zu beobachtende Tendenz, den Vorsatzbegriff von einem Schädigungs- zu einem bloßen Gefährdungsvorsatz umzudeuten.3 Angesichts des Potentials dieser Entwicklung, allgemeine Zurechnungsmaßstäbe des Strafrechts in weitem Umfang dem Risikoparadigma zu unterstellen, soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, inwieweit im strafrechtlichen Handlungsbegriff subjektive Einstellungen des Täters weiterhin zu berücksichtigen sind und mithin eine Personalisierung des Schuldvorwurfs geboten ist.
1
Grundlegend Sieber, ZStW 119 (2007), 1, 16 – 26. Vgl. etwa Sieber, NStZ 2009, 353; ders., Straftaten und Strafverfolgung im Internet: Gutachten C zum 69. Deutschen Juristentag, 2012; ders./Verf., Terrorismusfinanzierung: Prävention im Spannungsfeld von internationalen Vorgaben und nationalem Tatstrafrecht, 2015. 3 Vgl. nunmehr insbesondere BGH, NStZ 2020, 602. 2
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II. Zur subjektiven Komponente von Fehlverhalten 1. Intentionalität und Handlung Das Strafrecht dient der Bewehrung von Schutzgütern im Wege der Bewehrung von Normen. Die Suche nach einem Handlungsbegriff zielt somit auf die Grundvoraussetzungen einer Pflichtverletzung ab. Naheliegend ist insofern die Bedeutung jenes Aspekts, der eine menschliche Körperbewegung zur Handlung macht, nämlich die Intentionalität der Bewegung.4 Menschliches Handeln ist immer auf eine Veränderung der äußeren Welt bezogen. Intentionalität der Handlung bedeutet die subjektive Beziehung des Handelnden zu bestimmten Folgen, sei es darauf, ein Körperteil zu bewegen, einen äußeren Gegenstand zu verändern oder einem langfristigen Plan nachzugehen. Erst die Intentionalität erlaubt uns überhaupt, Handlungen sinnvoll zu beschreiben. Regelmäßig stellt ein und dieselbe Körperbewegung unterschiedlichste Handlungen dar. Beispielsweise kann das Herunterdrücken einer Türklinke als bloßes Öffnen einer Tür oder aber als das Hereinlassen eines anderen oder als Teil eines weitergehenden Planes beschrieben werden.5 Ebenso lässt sich das Anrempeln einer anderer Person als unkontrollierte Reflexbewegung, als Versehen oder als Angriff beschreiben. Die ordnende Funktion der Intentionalität für den Handlungsbegriff ist mithin keineswegs banal. Denn nur durch sie lassen sich aus der Menge jener die Körperbewegung begleitenden objektiven Umstände jene herausfiltern, die als Teil der Handlung verstanden werden können.6 Die Berücksichtigung von Intentionalität trifft selbstverständlich noch keine Aussagen über Verantwortlichkeit in einem ethischen oder rechtlichen Sinne.7 Insbesondere ist damit noch nicht gesagt, inwieweit dem Handelnden auch solche objektiven 4
Zur Stellung der intentional-kausalen Handlungslehre innerhalb der philosophischen Handlungstheorie Burkhardt, in: Frisch u. a. (Hrsg.), Lebendiges und Totes in der Verbrechenslehre Hans Welzels, 2015, S. 21 – 32. Vgl. Gallas, ZStW 67 (1955), 1, 38; Welzel, ZStW 51 (1931), 703, 710 – 714; Stuckenberg, Vorstudien zu Vorsatz und Irrtum im Völkerstrafrecht, 2007, S. 411. Ein auf Intentionalität abstellender Handlungsbegriff kann im Übrigen auch unbewusste Körperbewegungen berücksichtigen. Solange sich die Bewegung in eine bewusste Zielsetzung einfügt (beispielsweise das Spielen eines Instruments oder das Anhalten eines Fahrzeugs), ist grundsätzlich unbeachtlich, inwieweit sich der Handelnde dazu auch einzelne Körperbewegungen (etwa Fingerbewegungen oder die Betätigung eines Bremspedals) bewusst vergegenwärtigt; vgl. Gallagher/Zahavi, The Phenomenological Mind, 2012, S. 174; Burkhardt, a.a.O., S. 41 f. Intentionalität ist mithin nicht zwingend als „Absicht“ in einem alltagssprachlichen Sinne zu verstehen, sondern bedeutet lediglich, dass das Subjekt mehr oder weniger bewusst nach bestimmten Zielen strebt; vgl. auch Searle, Wie wir die soziale Welt machen, 2017, S. 66 f. 5 Vgl. Gallagher/Zahavi, The Phenomenological Mind, S. 172 f.; Prinz, Selbst im Spiegel: Die soziale Konstruktion von Subjektivität, 2016, S. 190 f.; vgl. auch Bung, Wissen und Wollen im Strafrecht, 2009, S. 146. 6 Nicht behauptet wird damit eine privilegierte Bedeutung der Eigenwahrnehmung des Subjekts; krit. dazu Bung, Wissen und Wollen im Strafrecht, S. 109 f. 7 Zur Kritik an einer Überdeterminierung des Rechts durch sachlogische Strukturen Stuckenberg, Vorstudien zu Vorsatz und Irrtum im Völkerstrafrecht, S. 56 – 64.
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Umstände zugerechnet werden können, welche von seinem Vorstellungsbild nicht erfassten waren. Zudem folgt aus der Intentionalität menschlichen Handelns nicht, dass der Handelnde nur hinsichtlich der von ihm angestrebten objektiven Gegebenheiten vorsätzlich im Rechtssinne handelt.8 Ein wesentliches Missverständnis der finalen Handlungslehre bestand gerade darin, dass sie ontologischen Strukturen unmittelbar normative Relevanz zubilligte und natürlichen Handlungswillen als strafrechtlichen Vorsatz deutete.9 Erst recht beinhaltet die Annahme von Intentionalität menschlichen Handelns keine Aussage über die Möglichkeit eines freien Willens.10 Die Intentionalität von Handlungen ist normativ aber insofern relevant, als sie erkennen lässt, wo nach der subjektiven Komponente eines Fehlverhaltens zu suchen ist. Denn wenn Handeln immer auf (zumindest) eine als solche wahrgenommene Folge gerichtet ist und sofern der Handelnde dabei zugleich andere mit der Handlung verbundene weitere Folgen erkennt, dann liegt der Handlung eine Gewichtung von Zielen zugrunde. Deutlich wird eine solche Gewichtung neben dem Eventualvorsatz nicht zuletzt beim entschuldigenden Notstand. Der zu einem Fehlverhalten führende subjektive Fehler des Täters liegt demnach darin, dass er sich von den falschen Zielen hat leiten lassen. Dies gilt auch für ein normativ relevantes Unterlassen, sofern die handelnde Person die Möglichkeit einer Abwendung des fraglichen Erfolgs erkennt, sich aber letztlich von anderen Zielen leiten lässt. Dem Unterlassenden wird der Erfolg zugerechnet, weil sein Handeln nicht dem geschuldeten Handeln entsprach. Zugerechnet wird also auch hier letztlich wegen eines pflichtwidrigen Handelns, nicht wegen eines Unterlassens.11 Ähnlich ist es, wenn sich der Handelnde – wie vor allem bei unbewusst fahrlässigem Handeln – neben einer bewussten Zielvorstellung überhaupt keine Vorstellungen über mögliche Begleitumstände oder Nebenfolgen macht. Der Handelnde verfolgt dann sein (in der Regel ein gefährliches Handeln beinhaltendes) Ziel, ohne risikobegrenzenden Umständen (beispielsweise Verkehrsregeln) Aufmerksamkeit zu widmen.12 Er lässt sich also in solchen Fällen einseitig von
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Bung, Wissen und Wollen im Strafrecht, S. 74. Vgl. Welzel, ZStW 58 (1939), 491, 519. Zur Kritik siehe schon Engisch, Festschrift für Kohlrausch, 1944, S. 158; Mezger, Moderne Wege der Strafrechtsdogmatik, 1950, S. 26 f.; Gallas, ZStW 67 (1955), 1, 6 f.; A. Kaufmann, Schuld und Strafe, 1966, S. 41 f. 10 Vgl. Prinz, Selbst im Spiegel, S. 308 f. 11 Diese Einsicht ist für strafbares Unterlassen insbesondere deshalb wichtig, weil sich letztlich nur anhand der tatsächlichen Handlung des Täters feststellen lässt, ob ihm oder ihr im fraglichen Moment eine pflichtgemäße Handlung möglich und zumutbar war. Wahrnehmungshorizont und Steuerungsfähigkeit des Unterlassenden zum Tatzeitpunkt lassen sich nur anhand seiner oder ihrer eben dann getätigten Handlung(en) bestimmen. Auch im Hinblick auf strafbares Unterlassen bildet die Handlung mithin jenen dem Straftatbestand vorausgehenden Grundbegriff; vgl. aber Roxin, in Hilgendorf/Kudlich/Valerius, Handbuch des Strafrechts, Band 2, 2020, § 28, Rn. 74. Ein normativer Sinngehalt ergibt sich aber natürlich erst anhand des Tatbestandes. 12 Kindhäuser, Intentionale Handlung, 1980, S. 211; ähnlich Jakobs, Kritik des Vorsatzbegriffs, 2020, S. 35 f. 9
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einem primären Ziel leiten, was – mangels Beachtung risikobegrenzender Vorsichtsmaßnahmen – Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Schutzgut bedeutet. 2. Wille als Ausdruck von Steuerungsfähigkeit Die vorstehenden Überlegungen setzen voraus, dass dem Willen des Täters im Strafrecht überhaupt Bedeutung zukommt. Dahingehende Zweifel ergeben sich nicht zuletzt unter drei Gesichtspunkten, nämlich erstens der faktischen Begrenztheit von individueller Willensfreiheit, zweitens der Unmöglichkeit einer direkten Wahrnehmung fremder Geisteszustände und drittens des Einwands, eine Berücksichtigung voluntativer Merkmale führe zu einer Privilegierung besonders rücksichtsloser Täter. Strafrechtliche Urteile treffen regelmäßig in hohem Maße stigmatisierende Aussagen über Individuen. Schon allein aus diesem Grund sollte Zurechnung nicht auf Behauptungen beruhen, durch die dem Handeln des Täters eine im Sinne der semantischen Praxis der Gesellschaft unzutreffende Bedeutung zugeschrieben wird. Insofern kann eine Begründung von Verantwortlichkeit mit dem Postulat von Entscheidungsfreiheit mitunter fragwürdig erscheinen. Dahingestellt bleiben darf an dieser Stelle die Frage, ob so etwas wie freier Wille überhaupt möglich ist.13 Zwar legt die heutige neurowissenschaftliche Forschung nahe, an den tatsächlichen Gehalt von Entscheidungsfreiheit keine überhöhten Erwartungen zu stellen.14 Damit erübrigt sich aber keineswegs die Bedeutung des Willens – oder, etwas zurückhaltender formuliert, der individuellen Entscheidung – als Ausdruck von „Steuerungsfähigkeit“15 und damit als Zentralbegriff von Zurechnung. Sicher ist die Funktionsweise kognitiver Prozesse in weiten Teilen immer noch spekulativ und mag sich möglicherweise nie ganz klären lassen.16 Für die Ausgestaltung von Normen dürfte dies aber auch verzichtbar sein.17 Denn kaum zu bezweifeln ist jedenfalls, dass Verhalten in aller Regel durch Normen gesteuert wird. Menschen haben normalerweise die Fähigkeit, ein bisher gezeigtes Verhalten infolge von außen auf sie einwirkenden Faktoren (insbesondere von normativen Erwartungen ihrer Umgebung, d. h. normativer Ansprechbarkeit18) zu ändern. Wenn auch der Verweis auf Entscheidungen des Individuums keine metaphysische Willensfreiheit impliziert, so wird damit also doch eine normativ hochrelevante – wenn auch in der Sache bescheidene – Beobachtung zum 13 Für Zweifel an deterministischen Erklärungsansätzen aus einer dezidiert materialistischen Perspektive Searle, Mind, 2004, S. 161 – 164; vgl. auch Nagel, Mind & Cosmos, 2012, S. 42 – 51; Gabriel, Ich ist nicht Gehirn, 2015. 14 Vgl. Streng, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius, Handbuch des Strafrechts, § 43, Rn. 15 – 17. 15 Streng, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius, Handbuch des Strafrechts, § 43, Rn. 46. 16 Zum Determinismus-Streit Bung, Wissen und Wollen im Strafrecht, S. 76 – 81. 17 So im Ergebnis auch Herzberg, Willensfreiheit und Schuldvorwurf, 2010, S. 92. 18 Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Auflage 2006, § 19 Rn. 36; Herzberg, Willensfreiheit und Schuldvorwurf, S. 92 f.
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Ausdruck gebracht, dass nämlich Menschen in aller Regel dazu befähigt sind, ihr Verhalten durch Koordinierung verschiedener exogener Anreize – nicht zuletzt auch mit Blick auf normative Erwartungen – zu steuern, sich unser Verhalten demnach anhand von Gründen erklären lässt.19 Wichtiger als eine etwaige Willensfreiheit ist im sozialen Miteinander, dass wir das Verhalten anderer Personen anhand von Gründen retrospektiv nachvollziehen und uns damit auch auf zukünftiges Handeln einstellen können.20 Unmittelbar konfrontiert sind wir eben nur mit seiner oder ihrer Handlung, nicht aber mit dem für uns nicht direkt einsehbaren fremden Geist.21 Bei der Erkundung fremder Gründe geht es deshalb nicht darum, Zugang zu fremden geistigen Zuständen zu gewinnen, sondern vielmehr Verhalten im Kontext der handelnden Person zu verstehen.22 Nur indem wir Verhalten derart in den für den Handelnden ersichtlichen Kontext einordnen, können wir feststellen, ob sich unsere Bewertungsmaßstäbe auf denselben Sachverhalt beziehen wie jener, der von ihm zum Tatzeitpunkt vorgefunden wurde. Und nur dann können wir beurteilen, inwieweit dem fraglichen Verhalten für uns tatsächlich eine bestimmte normative Relevanz zukommt und den Handelnden ein Vorwurf treffen kann. Dies ist nicht der Fall, wenn die von uns zugrunde gelegten normativen Erwartungen nicht auf den für ihn ersichtlichen konkreten Sachverhalt übertragbar sind. Aus dem eben Gesagten ergibt sich zudem, dass die Bedeutung individueller Entscheidungen im Strafrecht nicht mit dem Verweis auf die Uneinsehbarkeit fremder geistiger Zustände verneint werden kann. Denn insofern sind die Begriffe Bewusstsein, Intentionalität, Wille und Billigen ohnehin nur Konzepte, mit denen wir uns mittelst äußerlich wahrnehmbarer Umstände eine Vorstellung über die mentale Ebene anderer Personen bilden, insbesondere um dadurch Handlungen zu erkennen und zu strukturieren.23 Objektives Geschehen wird mithin in die Begrifflichkeit mentaler Zustände übersetzt. Daher bedarf es auch nicht der Identifizierung eines reflektierten Entscheidungsakts, an dem es bei vielen strafbaren Handlungen ohnehin fehlen dürfte.24 Neben der Prüfung von solchen die Steuerungsfähigkeit des Handelnden betreffenden Pathologien geht es vielmehr um die Feststellung jener äußeren Umstände, die auf die Handlung ersichtlich Einfluss entfaltet haben. Dafür ist es für den Rechtsanwender unumgänglich, die Perspektive des Handelnden einzunehmen, 19
Im Ergebnis ähnlich Herzberg, ZStW 124 (2012), 12, 22 f. Vgl. Prinz, Selbst im Spiegel, S. 101 f., 361 f. und 369 – 371. 21 Noch weitergehender Prinz, Selbst im Spiegel, S. 107 f., 220 f. und 380 f., der vertritt, dass wir uns der Intentionalität unseres eigenen Handelns erst dadurch bewusst werden, dass wir zuvor das Handeln anderer beobachtet und dadurch Intentionalität gleichsam erlernt haben. 22 Gallagher/Zahavi, The Phenomenological Mind, S. 215 f.; vgl. auch S. 213: „to understand other persons I do not primarily have to get into their minds; rather, I have to pay attention to the world that I already share with them.“ 23 Prinz, Selbst im Spiegel, S. 150 f.; Zahavi, Self and Other, 2014, S. 149 – 151. Vgl. auch Puppe, ZIS 2019, 409, 411. 24 Hörnle, Kriminalstrafe ohne Schuldvorwurf: Ein Plädoyer für Änderungen in der strafrechtlichen Verbrechenslehre, 2013, S. 18 – 21; Puppe, ZIS 7 – 8/2019, 409, 411. 20
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also zu hinterfragen, welche Umstände von ihm wahrgenommen wurden. Die Frage nach dem Maß an Personalisierung einer Handlung bedeutet somit im Kern, Grenzen der für eine Handlung relevanten äußeren Umstände zu identifizieren. Erkennbar wird dies etwa bei der Unterscheidung von Absicht und Eventualvorsatz. Während es zur Bestimmung von ersterer meistens genügen dürfte, den engen räumlich-zeitlichen Kontext der schädigenden Handlung zu betrachten, bedeutet letzterer, dass gegebenenfalls räumlich und zeitlich weit zurückliegende Umstände berücksichtigt werden. Deutlich wird schließlich auch, dass die Berücksichtigung von Absichten und Motiven des individuellen Handelnden nicht schon mit dem Argument einer Privilegierung von Irrationalität und mithin dem Einwand einer unzulässigen Ungleichbehandlung verschiedener Täter abgelehnt werden kann.25 Denn sind Handlungen das Werk einer Person und konstituieren sich also zugleich durch Geschehen in der Außenwelt und mentale Zustände, so stellt sich ja gerade die Frage, inwieweit äußerlich gleich erscheinende Geschehnisse tatsächlich gleichartige Handlungen darstellen. Handlungen lassen sich eben nicht auf objektive Gefährlichkeit reduzieren und daher anhand dieses Kriteriums auch dann noch nicht beurteilen, wenn der Handelnde die Gefährlichkeit erkannte. Denn eine dahingehende Erkenntnis sagt, wie nicht zuletzt die strafrechtlichen Entschuldigungsgründe verdeutlichen, noch nichts über die Qualität der Handlung aus.26 3. Fehler als defizitäre handlungsleitende Einstellungen Klärungsbedürftig ist schließlich, worin genau die normative Bedeutung der oben beschriebenen Gewichtung von Handlungszielen liegt. Klar ist zunächst, dass sich die Annahme eines Fehlverhaltens nicht allein aus dem objektiven Geschehen ergibt, mag dieses auf den ersten Blick noch so eindeutig als das Werk einer feindlichen Willensrichtung erscheinen. Fraglich ist vielmehr, worin der Fehler auf subjektiver Ebene besteht. Dabei ist zunächst ersichtlich, dass dieser Fehler „eine innere Beziehung zwischen der Norm und dem Normadressaten“27 meint, denn ohne eine solche Substantiierung ihres auf die Norm gerichteten Inhalts lässt sich eine Entscheidung nicht als fehlerhaft qualifizieren.28 Eine dahingehende Substantiierung wird möglich, wenn man die Intentionalität von Handlungen in Erinnerung ruft. Unterstellt man die Befähigung zur Koordination gegenläufiger Handlungsziele, so ist der Grund eines Vorwurfs darin zu sehen, dass sich der Handelnde von Handlungszielen hat leiten 25 Ähnlich Roxin, AT, Bd. 1, § 12 Rn. 34; Duttge, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius, Handbuch des Strafrechts, § 35, Rn. 31. 26 Vgl. Hassemer, Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, 1989, S. 305 f.; Kargl, Der strafrechtliche Vorsatz auf der Basis der kognitiven Handlungstheorie, 1993, S. 39 f.; Bung, Wissen und Wollen im Strafrecht, S. 175. 27 Kindhäuser, ZStW 107 (1995), 701, 708. 28 Vgl. Stuckenberg, in: Frisch u. a. (Hrsg.), Lebendiges und Totes in der Verbrechenslehre Hans Welzels, S. 107.
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lassen, deren Gewichtung29 unter normativen Gesichtspunkten fehlerhaft war, mithin in einer „falschen Werthaltung“30. Im Kern geht es also bei der Bestimmung von rechten oder unrechten Handeln darum, inwieweit handlungsleitende Ziele mit rechtlich geschützten Gütern in Konflikt geraten31 und die Handlung insofern Ausdruck einer defizitären Einstellung zu letzteren ist. Das Defizit ergibt sich somit aus einer Bewertung der mentalen Basis der die Handlung leitenden Absicht, das heißt aus jenen mentalen Dispositionen, welche sich in der Koordinierung verschiedener äußerer Anreize und subjektiver Einstellungen letztlich in Gestalt der Handlung durchgesetzt haben.32 Thematisiert ein Vorwurf also notwendigerweise eine in der Handlung zum Ausdruck kommende defizitäre Einstellung zu normativen Erwartungen, so wird zudem deutlich, warum der Vorwurf im Ausgangspunkt immer auf die von der handelnden Person konkret wahrgenommenen möglichen Folgen ihrer Handlung abstellen muss. Denn nur dann lässt sich sagen, welche Koordinationsleistung sie tatsächlich zu erbringen hatte und inwieweit ihr mithin ein Fehler anzulasten ist. Verhaltenserwartungen, die auf eine Koordinierung solcher von der Handelnden nicht erkannten möglichen Folgen abstellen, würden über eine ihr mögliche Verhaltensteuerung hinausgehen.33 Eine davon grundsätzlich unabhängige Frage ist, wie bereits gesagt, ob wegen eines bestimmten Handelns solche vom Täter nicht erkannten Folgen rechtlich zurechenbar sind.34 Nicht zuletzt der entschuldigende Notstand ist ein paradigmatisches Beispiel für die Bedeutung von Einstellungen im strafrechtlichen Handlungsbegriff, da er den Zielkonflikt des Täters hervorhebt.35 Zugleich erklärt die Gewichtung von Handlungszielen die zentrale Bedeutung des Eventualvorsatzes, da es hierbei im Kern darum geht, ob rechtswidrige Handlungsziele gegenüber rechtmäßigen Handlungszielen überwiegten.36 Entsprechend erklärt sich das Verhältnis von Vorsatz und Fahrlässigkeit. Bei letzterer lässt sich dem Handeln gerade nicht die Bereitschaft des Handelnden entnehmen, rechtlich geschützte Zustände der Verfolgung seiner Ziele zu opfern. Konsequent erscheint daher, dass die Rechtsordnung diesem Gesichtspunkt zentrale Bedeutung zumisst, indem sie mit den Kategorien Vorsatz und Fahrlässig29 So im Ergebnis auch Bung, Wissen und Wollen im Strafrecht, S. 184, 269; Schröder, Festschrift für Sauer, 1949, S. 219; Duttge, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius, Handbuch des Strafrechts, § 35, Rn. 26 30 Jakobs, Kritik des Vorsatzbegriffs, S. 36; ähnlich Welzel, ZStW 58 (1939), 491, 533. 31 Vgl. Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983, S. 482. 32 Dahingehend schon Goldschmidt, Festschrift Frank, Band I, 1930, S. 464 f. Vgl. Prinz, Selbst im Spiegel, S. 253 f. und 257 f.; Kargl, Der strafrechtliche Vorsatz auf der Basis der kognitiven Handlungstheorie, S. 64 – 66. 33 Zur Interpretation äußerer Ereignisse als Grundlage von Verhaltenssteuerung Prinz, Selbst im Spiegel, S. 195 – 200. 34 Hörnle, Kriminalstrafe ohne Schuldvorwurf, S. 18 – 21. 35 Dahingehend Duff, Law and Philosophy 12 (1993), S. 359; Herzberg, Willensfreiheit und Schuldvorwurf, S. 121. 36 Ähnlich Frister, ZIS 7 – 8 2019, 381, 382, 384.
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keit zwischen zwei grundlegend unterschiedlichen Fehlertypen differenziert. Deutlich wird damit zugleich, dass „Wollen“ zwar letztlich eine normative Bewertung der handlungsleitenden Zielvorstellungen bedeutet, dass aber die kognitive Grundlage der durch eine Norm pönalisierten individuellen Entscheidung – insbesondere die von der handelnden Person erkannten möglichen Folgen – nicht selbst Gegenstand normativer Erwartungen sein kann.37 Erkennt man entsprechend der obigen Ausführungen Einstellungen als zentrales Element der Bewertung einer Handlung,38 so ist zugleich ersichtlich, dass Verantwortlichkeit stark von der Vorgeschichte des Handelnden abhängig ist, nicht zuletzt von seiner Sozialisation. Denn diese Erfahrungen werden sich regelmäßig auf seine Wahrnehmungsfähigkeit maßgeblich auswirken, insbesondere darauf, ob er in der Lage war, bestimmte Umstände zu erkennen beziehungsweise zu antizipieren und sein Verhalten entsprechend zu steuern. Verfrüht wäre es aber, dies als ein Täterstrafrecht zu kritisieren, welches den Handelnden in letzter Konsequenz dafür bestraft, wer er ist, anstatt für ein Fehlverhalten. Sind Handlungen das Werk von Personen, so lässt sich zwar ersichtlich nicht vermeiden, dass jeder Vorwurf immer auch die Persönlichkeit des Handelnden trifft und mithin nach mentalen Dispositionen differenziert. Daran ändert sich im Übrigen auch dann nichts, wenn man den Vorwurf eines Fehlverhaltens allein mit einer Pflichtverletzung begründet und eine Thematisierung von Persönlichkeitsmerkmalen ausschließen möchte. Denn inwieweit eine Pflichtverletzung vermeidbar war, richtet sich doch letztlich wieder nach den mentalen Dispositionen des konkreten Täters, welche damit den unhintergehbaren Kern eines jeden Vorwurfs bilden. Für menschliches Miteinander ist es unverzichtbar, einander zur Verantwortung ziehen zu können, ohne in jedem Fall danach zu fragen, inwieweit eine Handlung in letzter Konsequenz vermeidbar war.39 Gesellschaft kann nicht auf die Annahme verzichten, Individuen seien – jedenfalls in gewissem Maße – zur Steuerung ihres Verhaltens befähigt.40 Letztverantwortung für eine Hand37 Vgl. aber zum Erlaubnistatbestandsirrtum Stuckenberg, Vorstudien zu Vorsatz und Irrtum im Völkerstrafrecht, S. 496 f. Die hier vertretene Auffassung schließt es natürlich nicht aus, das Nichterkennen bestimmter Folgen zum Anknüpfungspunkt eines Fahrlässigkeitsvorwurfs zu machen. 38 Vgl. schon Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht, 1930, S. 177. 39 Eingehen dazu Strawson, Freedom and Resentment and other Essays, 1974, S. 11 – 13; Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 2008, S. 127 – 132. 40 Die Legitimität eines Vorwurfs scheint demnach eine indeterministische Willensfreiheit nicht zwingend vorauszusetzen, vgl. Prinz, Selbst im Spiegel, S. 299. Mit Prinz lässt sich vielmehr die Annahme von Willensfreiheit als eine „gesellschaftlich geteilte Intuition“ verstehen, die ebenso wie Naturtatsachen Verhalten beeinflussen kann. Wählt man diesen Ausgangspunkt, so sind auch für einen deterministischen Handlungsbegriff die Kategorien Schuld und Vorwurf nicht überflüssig, sondern vielmehr unabdingbar. Denn die auf der Intuition von Willensfreiheit basierende Annahme von Schuld wird gerade durch das Praktizieren von Vorwürfen aufrechterhalten. Der Vorwurf bildet dann innerhalb des sozialen Diskurses jenes Glied, welches die Intuition von Willensfreiheit bestätigt und sich damit – durch das Erschaffen einer normativen Erwartung der Gesellschaft – ganz wesentlich auf zukünftiges
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lung liegt in der Regel beim Subjekt, weil nur es die zugrunde liegenden äußeren Umstände auf eine bestimmte Art und Weise koordiniert und daraufhin Änderungen in der Außenwelt hervorgebracht hat. Im Wissen um die Begrenztheit dieser Fähigkeit impliziert ein Vorwurf daher nicht mehr und nicht weniger, als dass man ab einem gewissen Punkt als Urheber eines Fehlverhaltens angesehen wird,41 weil man ja auch für sich selbst in Anspruch nimmt, zumindest in einem gewissen Maße frei zu sein. Damit zeigt sich zudem, dass ein auf der Intentionalität der Handlung (und damit letztlich auf den Einstellungen des konkreten Täters zu möglichen Folgen seiner Tat) beruhender Vorwurf der besonderen Gefahr eines Täterstrafrechts entgegenläuft, dass nämlich Menschen verantwortlich gemacht werden, weil sie einer Gruppe angehören, der man unabhängig von ihrem Handeln eine Neigung zu sozialschädlichem Tun unterstellt.42 Denn ein auf die Vereinigung von äußeren Geschehen und mentalen Zuständen abstellender Handlungsbegriff fragt nach dem in einer Handlung zum Ausdruck kommenden Zielkonflikt der handelnden Person und verlangt somit vom Urteilenden, alle jene von ihr in der konkreten Tatsituation erkannten Umstände zu berücksichtigen. Eine vorschnelle Verurteilung des Täters auf Grundlage angeblicher charakterlicher Dispositionen wird damit zurückgewiesen.43 Als Voraussetzung eines Vorwurfs wird so vom Urteilenden zumindest verlangt, dass die eigenen, von ihm zugrunde gelegten Vermeidbarkeitsmaßstäbe auch in jener vom Handelnden vorgefundenen Situation ein Fehlverhalten begründen können müssen. Der Urteilende darf demnach mit Blick auf die handelnde Person nicht vorschnell44 normative Erwartungen zugrunde legen, denen er in ihrer Situation selbst nicht genügt hätte. Ein zentral auf konkrete handlungsleitende Einstellungen abstellender Handlungsbegriff bedeutet also das gerade Gegenteil eines auf Ungleichbehandlung und soziale Exklusion hinauslaufenden Charakterstrafrechts.45
Handeln auswirkt. Eine solche Intuition mag man irrational finden, doch sind auch andere gesellschaftlich geteilte Intuitionen dadurch charakterisiert, dass sie für das Leben ebenso notwendig wie empirisch fragwürdig sind – beispielsweise der Glaube an einen guten Ausgang der Dinge innerhalb einer vergänglichen Welt. 41 Herzberg, Willensfreiheit und Schuldvorwurf, S. 91 f. 42 Zum Phänomen der gruppenbezogenen kognitiven Verzerrung der Bewertung von Handlungen Hewstone/Rubin/Willis, Annual Review of Psychology, 53 (2002), S. 580 – 583. Vgl. auch Günther, Schuld und kommunikative Freiheit, 2005, S. 131 f.; Pettigrew, Personality and Social Psychology Bulletin 5 (1979), S. 464 ff. 43 Dazu Lacey, In Search of Criminal Responsibility: Ideas, Interests, and Institutions, 2016, S. 36. 44 Zum Auseinanderfallen von Eigen- und Fremdbewertung Gilbert/Malone, Psychological Bulletin, 117 (1995), S. 26; Malle, Advances in Experimental Social Psychology, 44 (2011), S. 322; ders., in: Chadee (Hrsg.), Theories in Social Psychology, 2011, S. 90 f. 45 Ähnlich Bung, Wissen und Wollen im Strafrecht, S. 113.
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III. Gründe für eine strafrechtliche Berücksichtigung subjektiver Einstellungen 1. Motive für eine Begrenzung von Subjektivierung Aus dem eben Gesagten ergeben sich allerdings noch keine zwingenden Schlussfolgerungen, inwieweit strafrechtliche Zurechnung voraussetzen sollte, dass der Täter die möglichen Folgen seiner Tat erkannte. Neben den Fällen unbewusster Fahrlässigkeit betrifft dies auch die Rolle voluntativer Elemente beim Eventualvorsatz, d. h. die Frage, ob bei einer bewusst herbeigeführten qualifizierten Gefahr den Täter gegebenenfalls auch hinsichtlich solcher Folgen ein Vorsatzvorwurf treffen kann, die er zum Tatzeitpunkt nicht erkannt hatte. Für eine solche Zurückdrängung des voluntativen Elements und mithin der darin zum Ausdruck kommenden schutzgutsfeindlichen Einstellung sind insbesondere zwei Gründe ersichtlich. Zum einen können grundsätzliche Bedenken dagegen bestehen, Einstellungen zum Gegenstand eines staatlichen Vorwurfs zu machen. Begründet wird dies insbesondere damit, dass sich das Strafrecht in einem liberalen Rechtsstaat mit der Verletzung der Rechte der Bürger beschäftigen solle, nicht aber mit deren Innenleben.46 Zum anderen liegt der Kritik am voluntativen Vorsatzelement aber ersichtlich auch ein Bedürfnis nach gesellschaftlicher Stabilität zugrunde. Dies kann Ausdruck eines autoritären Verständnisses von Staat und Strafrecht, aber auch damit begründet sein, dass eine starke Gewichtung personeller Zurechnungsfaktoren den strafrechtlichen Schutz von Opfern unangemessen beschränken könnte.47 Im Kern zeigt sich hier Unbehagen gegenüber dem Umstand, dass die Durchsetzbarkeit eines zentral auf Geisteszustände des individuellen Täters abstellenden Rechts häufig in zweifacher Hinsicht scheitert, nämlich einerseits an der Unvernunft jener Bürger, die schlicht die Folgen ihres Handelns nicht bedenken, andererseits an den sich mit Blick auf das Innenleben der Person ergebenden Nachweisschwierigkeiten. Die daraufhin geforderte Objektivierung von Zurechnungsmaßstäben kann insofern ersichtlich auch eine Reaktion auf die (reale oder scheinbare) Zunahme von heterogegen Wert- und Risikomaßstäben innerhalb pluralistischer Gesellschaften bedeuten.48 Eine Zurückdrängung subjektiver Zurechnungsmaßstäbe ist letztlich Ausdruck der Betonung staatlicher Autorität zulasten einer Berücksichtigung der Individualität des konkreten Täters.49 Zu fragen ist daher, warum das Strafrecht überhaupt auf Fehler in der zur strafbaren Handlung führenden Entscheidungsfindung des Handelnden abstellen sollte. Wäre es nicht zugleich effizienter und fairer, die Tat zuzurechnen, ohne nach den 46 Grundlegend Jakobs, ZStW 97 (1985), S. 761; siehe auch Hörnle, Kriminalstrafe ohne Schuldvorwurf, S. 65. 47 Moran, Rethinking the Reasonable Person, 2003, S. 304 – 307. 48 Vgl. Pflaum, ZStW 128 (2019), 524, 534 – 539. 49 Aufschlussreich zu jüngeren Entwicklungen in der chinesischen Strafrechtsdogmatik Che, in: Hilgendorf (Hrsg.), Das Schuldprinzip im deutsch-chinesischen Vergleich, 2019, S. 3 ff.
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Gründen der strafbaren Handlung zu suchen? Konkreter: Sollte Zurechnung nicht allein auf objektiven Vermeidbarkeitsmaßstäben beruhen, anstatt auf der subjektiven Einstellung des Täters zum Schutzgut? Zwei wesentliche Gesichtspunkte legen jedoch nahe, dass Motive und die ihnen zugrunde liegenden Einstellungen im Strafrecht weiterhin eine zentrale Rolle spielen müssen. Zum einen geht es darum, dass ohne eine Berücksichtigung solcher Merkmale die strafrechtliche Bewertung der Tat letztlich auf bloßen Vermutungen beruht und damit dem Einzelnen gegebenenfalls nicht gerecht wird. Zum anderen gilt es zu beachten, dass Einstellungen der Bürger erhebliche normative Relevanz zukommt, die vom Strafrecht nicht in Zweifel gezogen werden sollte. 2. Schutz vor willkürlicher Rechtsanwendung Für eine Berücksichtigung subjektiver Einstellungen im Strafrecht spricht zunächst die sich aus dem oben beschriebenen Handlungsbegriff ergebende Erkenntnis, dass Handlungen notwendigerweise immer auf einem Bild aufbauen, welches der Betrachter von der handelnden Person hat und ihr darin bestimmte Absichten unterstellt. Denn die Bedeutung eines Verhaltens ergibt sich aus Beobachtungen in der Außenwelt, infolge derer wir auf einen Sinnzusammenhang schließen, den der Handelnde einem Geschehen verleiht.50 Die Bewertung des Bedeutungsgehalts einer Handlung besteht also letztlich darin, anhand von äußeren Geschehnissen die Perspektive der handelnden Person zu verstehen. Nur so lassen sich äußere Geschehnisse zu einem durch ein Subjekt gesetzten Sinnzusammenhang und mithin zu einer Handlung zusammenfügen. Anders als mit Blick auf geistige Aktivitäten des Subjekts lassen sich Handlungen gar nicht denken.51 Die Bedeutung dieses zunächst wenig spektakulären, in der Unterscheidung von objektiver und subjektiver Tatseite zum Ausdruck kommenden Umstands ist entscheidend. Denn er weist darauf hin, dass wir uns bei Betrachtung jeder Handlung immer (wenn regelmäßig auch nur unbewusst) eine Vorstellung von den Wahrnehmungen, Motiven und Einstellungen – den Gründen – des Handelnden machen und diese Vorstellung unser Verständnis der Handlung entscheidend prägt.52 Auch ein nach möglichst umfassender Objektivierung strafrechtlicher Zurechnung strebender Ansatz basiert notwendigerweise auf derartigen Grundannahmen zum Subjekt. Beruht die Bewertung einer Handlung immer auf Vorstellungen von den Gründen des Täters, so erscheint es, will man ihm gerecht werden, geboten, diese Grundannahmen zu prüfen. Die Berücksichtigung der Wahrnehmungen des Subjekts kann unter funktionalen Gesichtspunkten natürlich problematisch sein, insbesondere weil damit – wie nicht 50 Zahavi, Self and Other, S. 112 – 146. Für eine kognitionswissenschaftliche Erklärung dieses Prozesses Prinz, Selbst im Spiegel, S. 354 – 362. 51 Prinz, Selbst im Spiegel, S. 99 – 102. 52 Jones/Harris, Journal of Experimental Social Psychology 3 (1967), S. 23; Malle, in: Chadee (Hrsg.), Theories in Social Psychology, 2011, S. 88 f.; ders./Guglielmo/Monroe, Psychological Inquiry 25 (2014), S. 16 f.
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zuletzt die sogenannten Raser-Fälle verdeutlichen – auch eine irrationale Einschätzung der Situation den Täter entlasten kann. Zur Überwindung der Abhängigkeit der Normgeltung von der Persönlichkeit des konkreten Subjekts wird daher vorgeschlagen, bei der Bewertung eines Geschehens allein auf den Maßstab eines vernünftigen Dritten abzustellen. Demnach soll es also für die Bestimmung einer Handlung darauf ankommen, welchen Sinngehalt ein objektiver Betrachter dem Verhalten zumisst.53 In Erscheinung tritt dieser Ansatz nicht zuletzt bei Theorien, die den Vorsatz mit dem Bewusstsein einer qualifizierten Gefahr begründen und ihn gegebenenfalls auch dann annehmen, wenn der Täter unvernünftigerweise mit einem guten Ausgang rechnete.54 Solche Ansätze erlauben es, vorsätzliches Handeln auch hinsichtlich solcher in der Entscheidungsfindung der handelnden Person nicht berücksichtigten Folgen anzunehmen, sofern diese Folgen vom Standpunkt eines Vernünftigen die natürliche oder zumindest naheliegende Konsequenz der Handlung darstellen. Gesteht man dem Urteilenden jedoch zu, den Sinngehalt der Handlung losgelöst von den Wahrnehmungen des konkreten Handelnden zu beurteilen, so ist dies im Ergebnis in zweifacher Hinsicht problematisch. Erstens wird damit dem konkreten Täter unter Umständen ein nicht auf ihn zutreffendes Erkenntnis- und Steuerungsvermögen unterstellt. Denn zwar mögen bestimmte Umstände für einen außenstehenden Dritten mit Blick auf die Bewertung der Gefährlichkeit der Tat unbeachtlich gewesen sein. Dies schließt aber nicht aus, dass eben dieselben Umstände für den individuellen Täter sehr wohl relevant waren, etwa weil seine Interpretation der Situation auf Erfahrungen und Sichtweisen beruhte, welche die konkrete Tat weniger riskant erscheinen ließen.55 Auch lässt sich ohne eine Berücksichtigung von Motiven nicht sagen, welche – gegebenenfalls weit außerhalb des räumlich-zeitlichen Kontexts der Tat liegende – Umstände von ihm berücksichtigt wurden.56 Die für die Handlung relevanten Umstände lassen sich eben nur dadurch identifizieren, dass der Urteilende auf die Perspektive des individuellen Handelnden abstellt, also auf dessen Wahrnehmungen und Motive. Nur so lassen sich die Umstände identifizieren, welche der Verhaltenskoordination des konkreten Individuums zugrunde lagen. Wird hingegen lediglich auf Kenntnis jener Umstände abgestellt, aus denen sich in den Augen eines Dritten ein unzulässiges Risiko ergibt, während andere Umstände von vornherein als für die Bewertung der Handlung unbeachtlich ausgeschlossen werden, so wird nicht mehr nach der Verhaltenskoordination des individuellen Täters gefragt. In diesem Fall verabschiedet sich das Strafrecht aber von dem Ziel, Verhalten der Bürger 53
Vgl. insb. Jakobs, ZStW 101 (1989), 517, 527; ders., Kritik des Vorsatzbegriffs, S. 44 f. Vgl. NK-StGB/Puppe, 5. Aufl. 2017, § 15 Rn. 68; dies., ZIS 2018, 409, 411; ähnlich Kubiciel/Hoven, NStZ 2017, 439, 441 f. 55 Vgl. Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983, S. 481 u. 486, der für die Annahme von Vorsatz auf die „persönliche Situationseinschätzung“ des Täters abstellt und damit im Ergebnis die Bedeutung von Einstellungen und mithin eines voluntativen Elements letztlich zu bestätigen scheint. 56 Insoweit ähnlich Frister, ZIS 7 – 8 2019, 381, 383; Duttge, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius, Handbuch des Strafrechts, § 35, Rn. 13. 54
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durch Normen zu beeinflussen, d. h. es hört auf, Recht zu sein. Denn normativen Erwartungen kann erst dann entsprochen werden, wenn der Normadressat das Vorliegen der für die Anwendbarkeit der Norm relevanten Tatsachen erkennt. Hierin liegt ersichtlich der Kern der Differenzierung von Wissen und Wollen als Gegensatz zwischen der Wahrnehmung der normativ relevanten Umstände und dem darauf aufbauenden Ergebnis individueller Verhaltenskoordination. Problematisch an einer Loslösung der konkreten Täterpersönlichkeit von der Handlung ist zweitens, dass der Fiktion des objektiven Dritten ein erhebliches Potential innewohnt, Urteile im Kern mit diskriminierenden oder anderweitig fehlerhaften Grundannahmen zu begründen. Denn soll strafrechtliche Zurechnung gerade nicht die Motive und die ihnen zugrunde liegenden Einstellungen des konkreten Täters untersuchen, sondern auf das Erkenntnisvermögen eines Dritten abgestellt werden, so liegt es nahe, dass die Auswahl der für die Handlung als relevant angesehenen Umstände im Ergebnis davon beeinflusst wird, welches Bild der Urteilende von der beschuldigten Person hat.57 Ähnelt sie ihm (etwa im Hinblick auf Sozialisation und Bildungshintergrund), so dürfte der Urteilende zumindest in Grenzbereichen eines unerlaubten Risikos eher dazu tendieren, solche Umstände in die Bewertung der Tat einzubeziehen, die gegen die Vorhersehbarkeit eines Schadens sprachen. Denn ein sich in die Perspektive des Beschuldigten versetzender – oder dies zumindest zu können glaubender58 – Richter wird sich die begrenzten Erkenntnis- und Steuerungsmöglichkeiten in der konkreten Tatsituation stärker bewusst machen.59 Hat der Urteilende hingegen Schwierigkeiten, sich in die Situation der beschuldigten Person zu versetzen, insbesondere weil ihm ihre Persönlichkeit mit Blick auf kulturelle Herkunft und soziales Milieu schwer zugänglich ist, so dürfte er bei risikobehafteten Verhalten eher dazu neigen, dieses für vernünftigerweise nicht nachvollziehbar zu halten, solchen gegen eine Risikowahrnehmung des Täters sprechenden Umständen (etwa in den Raser-Fällen einem erheblichen Maß an Eigengefährdung) unter Verweis auf eine angesichts der Tat naheliegende Irrationalität des Täters die Bedeutung abzusprechen und somit letztlich ein Fehlverhalten zu bejahen.60 Weiß der Urteilende 57 Zum Phänomen des sog. Motivated Reasoning in gerichtlichen Entscheidungen Rachlinski/Johnson, Notre Dame Law Review 84 (2009), S. 1221 – 1226; Nadler/McDonnell, Cornell Law Review, 97 (2012), S. 11 – 16. 58 Zutr. weist Hörnle, NJW 2018, 1576, 1578, darauf hin, dass ein solcher Rekurs auf eigenen Wertungen und Einstellungen des Urteilenden unter Umständen auf einer Verkennung der Täterpersönlichkeit beruht. 59 Zum Zusammenhang zwischen der Bewertung von Charakter und einer darauf aufbauenden Beurteilung von Vermeidbarkeit Nadler, Law and Contemporary Problems, 75 (2012), S. 28 f.; dies./McDonnell, Cornell Law Review, 97 (2012), S. 22 – 33. 60 Lacey, In Search of Criminal Responsibility, S. 36 f.; vgl. auch Günther, Schuld und kommunikative Freiheit, S. 123 – 125. Zu einem solchen – auf eine unzureichende Berücksichtigung äußerer Gründe hinauslaufenden – Attributionsfehler Gilbert/Malone, Psychological Bulletin, 117 (1995), S. 21 ff.; Choi/Nisbett, Personality and Social Psychology Bulletin 24 (1998), S. 958 f.; Sommers/Ellsworth, Personality and Social Psychology Bulletin, 26 (2000), S. 1367 ff.; Alicke/Zell, Journal of Applied Social Psychology, 39 (2009), S. 2089 ff.;
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nichts über die individuelle handelnde Person oder wird von ihm gar verlangt, die Bewertung eines Verhaltens ohne Ansehung der Person zu treffen, so wird die Bewertung der Handlung durch in hohem Maße fehleranfällige Hypothesen zu den Gründen der Handelnden geprägt. So unterstellen wir beispielsweise angesichts eines für uns äußerlich unverständlichen Verhaltens oft vorschnell Irrationalität der Handelnden, ohne nach ihren Gründen zu fragen, eben weil eine nicht auf individuelle Gründe abstellende Bewertung eines Verhaltens regelmäßig nur an eine dem Betrachter bereits vertraute Handlungsontologie anknüpfen und diesbezügliche Analogien zum Verhalten des Beschuldigten bilden kann.61 Problematisch an einer von den Gründen der individuellen Handelnden losgelösten Bewertung der Handlung ist mithin nicht nur, dass damit das Subjekt auf einen Gegenstand der Zuschreibung von Handlungen reduziert wird und das zentrale Problem, worin eigentlich der Fehler des handelnden Subjekts besteht, weitgehend unbeachtet bleibt.62 Vor allem gilt es zu beachten, dass schon die Auswahl der für die Bewertung einer Handlung berücksichtigten objektiven Umstände sowie die Nichtberücksichtigung anderer Umstände darauf beruhen kann, dass der Handelnden im Ausgangspunkt stillschweigend bestimmte Einstellungen zugeschrieben werden. Infolge einer sich so ergebenden negativen Bewertung der Handlung wird der handelnden Person dann gegebenenfalls ein Schuldvorwurf gemacht. Vorurteile des Urteilenden können auf diese Weise letztlich Schuldurteile begründen. Demgegenüber besteht der Vorzug eines personalisierten Handlungsbegriffs darin, dass er solche unter dem Anschein von Objektivität63 verborgene willkürliche Bewertungsmaßstäbe zurückweist und stattdessen vom Urteilenden verlangt, sich mit der Entscheidungsfindung des konkreten Täters in der spezifischen Tatsituation auseinanderzusetzen.64 Dies bedeutet insbesondere, im Detail nach erkennbaren Motiven zu suchen, die angesichts der übrigen Tatumstände Zweifel an einem zunächst scheinbar klaren Sinngehalt der Handlung wecken könnten, beispielsweise ob ein mutmaßlich vernünftiger Handelnder in der konkreten Situation deren qualifizierte Gefährlichkeit nicht doch wahrnahm. Nur so lässt sich verhindern, dass Urteile über Handlungen auf Vorurteilen und anderen ungeprüften Eigenschaften beruhen, die der Urteilende dem Handelnden (zu dessen Gunsten oder Lasten) zuschreibt. Bei der Suche nach den handlungsleitenden Einstellungen geht es demnach nicht darum, Tannenbaum/Uhlmann/Diermeier, Journal of Experimental Social Psychology, 47 (2011), S. 1253. 61 Vgl. NK-StGB/Puppe, § 15 Rn. 73 ff., soweit diese für die Bestimmung von Vorsatz auf solche dem Täter bewusste eindeutige Methoden der Tatbestandsverwirklichung abstellt. Zu Handlungsontologien als Wissensbasis von Handlungsinterpretation Prinz, Selbst im Spiegel, S. 179 f. Auf den engen Zusammenhang zwischen den persönlichen Erfahrungen des Urteilenden und dessen Feststellungen zu subjektiven Merkmalen hinweisend auch Deiters, ZIS 2019, 404. 62 Dazu Streng, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius, Handbuch des Strafrechts, § 43, Rn. 41. 63 Krit. Roxin, Rudolphi-FS, 2004, S. 253 f. 64 So im Ergebnis auch Frister, ZIS 7 – 8 2019, 381, 384 f.
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kommunikativ irrelevanten Faktoren um ihrer selbst willen rechtliche Relevanz zuzubilligen,65 sondern zunächst einmal um ein auf zutreffenden Grundannahmen beruhendes Verständnis der die Handlung tragenden Gründe und mithin der Handlung selbst. Demgegenüber ermöglicht ein Handlungsbegriff, der bestimmte Wahrnehmungen und Motive des konkreten Täters gegebenenfalls als normativ unbeachtlich abzutun erlaubt, ihn auch dann verantwortlich zu machen, wenn aus seiner Sicht eine unzulässige Gefährdung des Schutzguts nicht gegeben war und er insofern gar nicht durch die diesbezügliche Norm angesprochen wurde. Deutlich wird so letztlich der grundlegende Unterschied zwischen einem auf subjektive Einstellungen abstellenden Recht einerseits und jenen auf Vorsatzgefahr abstellenden Ansätzen andererseits. Ersteres Zurechnungsmodell nimmt die Entscheidung des individuellen Täters zum Ausgangspunkt von Verantwortlichkeit und erkennt an, dass die Fehlerhaftigkeit dieser Entscheidung letztlich nur in einer als fehlerhaft bewerteten Verhaltenskoordination liegen kann. Beschreiben lässt sich dieser Fehler, wie oben gesehen, durch die Frage, inwieweit sich in der Handlung defizitäre handlungsleitende Einstellungen durchgesetzt haben, die Handlung also auf normativ kritikwürdigen Gründen beruht. Dafür bedarf es nicht der Identifizierung bewusster geistiger Zustände zum Tatzeitpunkt, denn diese sind zum einen kaum einsehbar und zudem hinsichtlich ihres kausalen Beitrags zur Verhaltenssteuerung uneindeutig. Individuelle Entscheidungen lassen sich vielmehr nur durch eine – maßgeblich soziologische oder psychologische Befunde berücksichtigende66 – Identifizierung der für die konkrete Verhaltenskoordination ursächlichen Gründe bestimmen. Demgegenüber liegt einem auf Vorsatzgefahr abstellenden Modell ein grundlegend anderes Verständnis von Zurechnung zugrunde. Hier nämlich steht im Ausgangspunkt der Verantwortlichkeit die Bewertung eines objektiven Geschehens als gefährlich, welches dem Täter anhand objektiver Vermeidbarkeitsmaßstäbe als Fehlentscheidung zugeschrieben wird.67 Verantwortlichkeit begründet sich so in letzter Konsequenz mithin nicht durch eine Bewertung einer Entscheidung als fehlerhaft, sondern allein durch objektive Zurechnungsmaßstäbe.68 Die Fehlerhaftigkeit einer Entscheidung lässt sich eben nur alternativ entweder durch solche für die Tat ursächliche defizitäre Einstellungen begründen oder durch eine konsequent an objektiven Maßstäben orientierte Zuschreibung. Der zentrale Unterschied besteht insofern im Ergebnis darin, dass ein auf Vorsatzgefahr abstellender Ansatz nur solche Wahrnehmungen des Täters berücksichtigt, die infolge der zugrunde gelegten normativen Maßstäbe für die Bewertung der Fehlerhaftigkeit einer Entscheidung als relevant gelten, womit aber
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Vgl. aber Jakobs, Kritik des Vorsatzbegriffs, S. 45. Hörnle, NJW 2018, 1576, 1578. 67 Tadros, Criminal Responsibility, 2005, S. 359 – 365; Lacey, In Search of Criminal Responsibility, S. 150. 68 Vgl. Burkhardt, in: Frisch u. a. (Hrsg.), Lebendiges und Totes in der Verbrechenslehre Hans Welzels, S. 30 f. 66
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von der tatsächlichen Entscheidung des Täters abstrahiert wird.69 Für ein auf normative Ansprechbarkeit aufbauendes Recht kann ein solcher Ansatz kaum überzeugen. Denn bei ihm darf es letztlich nur darum gehen, von fehlerhaften Entscheidungen auf Verantwortlichkeit zu schließen, nicht von Verantwortlichkeit auf fehlerhafte Entscheidungen. Dabei geht es einem auf Einstellungen abstellenden Ansatz natürlich nicht um irgendeinen „tatbegleitende[n] Gemütszustand“70, sondern um eine normative Bewertung der tatsächlichen Entscheidung des Täters. Die Feststellung der den Gegenstand dieser Bewertung bildenden Entscheidung beruht aber auf einer umfassenden Berücksichtigung der vom ihm erkannten Umstände, weshalb einzelne Teile seiner Wahrnehmung nicht als von vornherein unbeachtlich abgetan werden dürfen. 3. Bedeutung von Einstellungen für intersubjektive Beziehungen Die Berücksichtigung der Geisteshaltung des Täters durch das Strafrecht erscheint auch deshalb geboten, weil die Befolgung von Normen in der Regel auf Einstellungen beruhen dürfte. Denn überwiegend wird Normgehorsam nicht das Ergebnis von bewussten Entscheidungen sein, sondern von internalisierten Normen,71 welche Individuen in der Regel davon abhalten, überhaupt eine Normverletzung in Betracht zu ziehen. Der Vorwurf eines Fehlverhaltens bedeutet insofern, dass sich in der Verhaltenskoordination des Täters seine Ziele gegen die internalisierten Gebote des Rechts durchgesetzt haben. Wird diese Koordinationsfähigkeit mithin in der Regel stark von Einstellungen und den darauf aufbauenden oder durch sie gebildeten Absichten beeinflusst,72 so liegt es nahe, dass sich die rechtliche Bewertung eines Verhaltens maßgeblich auch danach richtet, aus welchen Einstellungen zur Norm es resultiert,73 inwieweit also „Mängel an Normbefolgungsmotivation“74 vorliegen. Ins69
Dahingehend nunmehr aber BGH, NStZ 2020, 602, 605: „Objektiver Bezugspunkt für das im Rahmen der Vorsatzfeststellung relevante Vorstellungsbild des Täters über die mit der Tatbegehung einhergehende Eigengefährdung kann dabei – nicht anders als für die Beurteilung der Fremdgefahr – nur das konkrete Tatgeschehen sein, um dessen subjektive Zurechnung es geht […] Verwirklicht sich daher ein vom Täter vorgestelltes Geschehen, so ist auch die vorsatzkritische Indizwirkung der vom Täter angenommenen Eigengefährdung allein an diesem Sachverhalt zu messen.“ Damit werden aber Bezugsgegenstand des Vorsatzes einerseits und Vorsatzindizien andererseits vermengt. Die systematischen Konsequenzen einer sich so ergebenden Gleichbehandlung von Schädigungsvorsatz und Gefährdungsvorsatz dürfte der Senat kaum in den Blick genommen haben; vgl. krit. Hörnle, NJW 2018, 2018, 1576, 1578; Mitsch, ZIS 2019, 234, 235. 70 Krit. NK-StGB/Puppe, § 15 Rn. 44. 71 Ähnlich Otto, ZStW 87 (1975), 539, 561; vgl. auch Jakobs, ZStW 101 (1989), 516, 517; Duttge, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius, Handbuch des Strafrechts, § 35, Rn. 1; Streng, ebd., § 43, Rn. 17. 72 Ajzen/Fishbein/Lohmann/Albarracín, in: Albarracín/Johnson, The Handbook of Attitudes, Band 1, 2. Aufl. 2019, S. 205 – 219; Blankenship/Allen/Kane/Anderson, in: Albarracín/ Johnson (Hrsg.), The Handbook of Attitudes, Band 2, 2. Auflage, 2019, S. 301 – 306. 73 Die entspricht letztlich der Unterscheidung zwischen „strukturellen Dispositionen“ und „funktionalen Interaktionen“ bei Prinz, Selbst im Spiegel, S. 189.
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besondere werden für die Gesellschaft solche Normverletzungen besonders relevant sein, die Folge einer tiefverwurzelten Ablehnung der Norm sind.75 Vergegenwärtigt man sich die Bedeutung von Einstellungen für die Befolgung von Normen,76 so sollte das Strafrecht als zentrales Instrument normativer Kommunikation der Gesellschaft den Bürgern zudem erst recht nicht vermitteln, auf subjektive Einstellungen zu den Folgen ihres Handelns – etwa Empathie gegenüber anderen77 – komme es nicht an. Beruht gesellschaftliches Miteinander vielmehr wesentlich auf der Schaffung und Stärkung von dahingehenden Einstellungen, nicht zuletzt in Familien, Schulen und durch das Recht selbst, so erschiene es äußerst bedenklich, wenn das Strafrecht diese Bedeutung faktisch in Zweifel ziehen würde.78 Dies betrifft insbesondere die Folgenbezogenheit der Internalisierung von Normen. Bei solchen für intersubjektive Beziehungen wesentlichen Regeln – insbesondere den Geboten der Achtung von Leib, Leben und Eigentum anderer – erlernen und erleben wir Normen nicht als bloße Befehle einer normbegründenden Instanz (beispielsweise der Familie oder des Gesetzgebers) sondern als Ausdruck von Verantwortlichkeit gegenüber anderen.79 Darin kommt ein gesellschaftliches Bedürfnis zum Ausdruck, dass Subjekte mit Blick auf die Folgen ihres Handelns ein Verantwortungsgefühl entwickeln und dementsprechend handeln. Folgenbezogenheit von Normen ergänzt die Notwendigkeit des Normengehorsams also durch ein für gesellschaftliches Miteinander zentrales Element, nämlich durch das Gebot, durch Normgehorsam seiner oder ihrer Verantwortung gegenüber anderen nachzukommen. Diese Folgenorientiertheit normativer Erwartungen würde das Strafrecht aber infrage stellen, wenn es kommunizierte, wichtig sei allein, ob der Täter bewusst Verhaltensgebote verletzt, nicht hingegen darauf, welche Folgen er in Kauf genommen hat.80 Denn letztlich würde so durch das Recht im gesellschaftlichen Diskurs autoritativ vermittelt, maßgeblich seien nicht Handlungsziele, sondern das Hervorrufen von Risiken. Neben abstrakten Gefährdungsdelikten beinhaltet vor allem ein auf das voluntative Element verzichtender Vorsatzbegriff eine solche Aussage. Beiden Konstellationen ist gemein, dass 74
Stuckenberg, Vorstudien zu Vorsatz und Irrtum im Völkerstrafrecht, S. 428. Im Ergebnis ähnlich von Hirsch/Ashworth, Proportionate Sentencing, 2005, S. 151 – 154. 76 Honneth, Das Recht der Freiheit, Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, 2011, S. 155 f.; Bilz/Nadler, in: Zamir/Teichman (Hrsg.), The Oxford Handbook of Behavioral Economics and the Law, 2014, S. 253 – 258. 77 Es verwundert nicht, dass ein dahingehender Kern von Normen in einer dem Paradigma praktischer Vernunft verpflichteten normativen Tradition regelmäßig eher unterbewertet wird; dazu die grundlegende Kritik bei Rorty, Wahrheit und Fortschritt, 1998, S. 241 – 268. 78 Zur Aufgabe des Strafrechts, Wertehaltungen der Bürger abzusichern und zu stärken: Streng, ZStW 101 (1989), 273, 292; Haffke, 1. Festschrift für Claus Roxin, 2001, S. 972. 79 Grundlegend dazu Lévinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, 1992, S. 253 – 263; ders., Die Spur des Anderen, 3. Aufl. 1992, S. 324 – 330; dazu Mensch, Levinas’s Existential Analytic, 2015, S. 145 – 147; Morgan, in: Fagenblat/Erdur (Hrsg.), Levinas and Analytic Philosophy, 2020. 80 Dahingehend auch Bung, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius, Handbuch des Strafrechts, § 24, Rn. 26. 75
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Strafbarkeit unabhängig davon bejaht wird, ob der Täter mit einer Schädigung des Schutzguts rechnete. Auf eine von individuellen Zielvorstellungen entkoppelte Regulierung unzulässiger Risiken kann in vielen Lebensbereichen zwar nicht verzichtet werden.81 Wird jedoch bereits im Rahmen des Vorsatzbegriffs als zentralem Paradigma strafrechtlicher Zurechnung die Bedeutung von folgenbezogenen Einstellungen verneint, so dürfte dies angesichts der engen Beziehung zwischen Strafrecht und moralischen Urteilen82 weitreichenden Einfluss auf den Inhalt der von Individuen internalisierten Normen haben. Denn stellen normative Erwartungen nicht mehr zentral auf die Inkaufnahme der Folgen von Verhalten ab, so liegt der Kern individueller Verantwortlichkeit nur noch in der Ablehnung der Norm und nicht in der Gleichgültigkeit des Täters gegenüber den Folgen der Tat. Eine auf geteilte Werte gestützte Gesellschaft wird so schwerlich gefördert. Ein nicht auf Einstellungen zu den Schutzgütern abstellender Handlungsbegriff birgt so das Risiko, zu einer „sozialen Pathologie“83 zu führen anstatt Gesellschaft zu stabilisieren. Die Bedeutung von Motiven und der ihnen zugrunde liegenden Einstellungen ergibt sich schließlich auch mit Blick auf die Funktion des Strafrechts, das durch das Opfer erlittene Unrecht anzuerkennen. Denn bei der Verletzung von höchstpersönlichen Rechtsgütern wird eine Verurteilung nicht nur darauf gerichtet sein, Dritte sowie das konkrete Opfer selbst des Schutzes des Rechts zu versichern, sondern auch darauf, die Verantwortlichkeit des Täters gegenüber dem Opfer festzustellen.84 Insofern ist zu fragen, inwieweit sich die strafrechtliche Bewertung der Tat von jener laienhaften Bewertung durch das Opfers entfernen darf, damit die staatliche Reaktion auf die Tat durch das Opfer noch als angemessen verstanden wird. Zwar kann es dem Strafrecht nicht darum gehen, in Reaktion auf retributive Emotionen des Opfers blind eine gesellschaftliche Handlungsontologie zu bestätigen. Die Grenzen einer für das Opfer noch anschlussfähigen Kommunikation werden aber dort erreicht sein, wo die strafrechtliche Bewertung der Tat von der Frage losgelöst wird, was der Täter wollte, genauer: welche Motive und Einstellungen dem Tatgeschehen zu entnehmen sind. Beließe es das Strafrecht bei der bloßen Feststellung, der Täter habe in zurechenbarer Weise Rechte des Opfers verletzt, so wäre dies regelmäßig wohl kaum geeignet, die Tat in ihrem sozialen Sinnzusammenhang zu verstehen und rechtliche Aussagen für die Beteiligten kommunikativ anschlussfähig zu machen. Soll Strafrecht – durch angemessene Sanktionen oder Alternativen wie einen Täter-OpferAusgleich – zu einer Aufarbeitung der Situation beitragen, so dürfte es geraten sein, jene den Konflikt maßgeblich prägenden subjektiven Faktoren aufzugreifen, wozu insbesondere auch tatleitende subjektive Einstellungen gehören. Andernfalls steht zu befürchten, dass das Strafrecht letztlich zu einer Praxis zurückkehrt, in 81
Vgl. Prittwitz, Strafrecht und Risiko, 1993, S. 313 – 317. Neumann, ZStW 99 (1987), 567, 589 f. 83 Eingehend zu derartigen Phänomenen als Ergebnis eines Konflikts von Recht und außerrechtlichen Handlungsmaßstäben Honneth, Das Recht der Freiheit, S. 157 – 172. 84 Hörnle/von Hirsch, GA 142 (1995), 261, 275; Hörnle, Kriminalstrafe ohne Schuldvorwurf, S. 52 – 55; Verf., ZStW 129 (2017), 629, 643 f. 82
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der individuelle und gesellschaftliche Gründe85 der konkreten Tat aus dem Blick geraten und – entgegen dem Anliegen einer Rationalisierung von Strafrecht – infolge einer fehlenden Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit des Täters Punitivität befördert wird.86 Denn gerade eine fehlende Zurkenntnisnahme der konkreten Perspektive des Täters lädt dazu ein, dass Urteilende über die der Tat zugrunde liegende Geisteshaltung pauschalisierende Mutmaßungen anstellen und entsprechend wenig Verständnis für ihn aufbringen, mit der erwartbaren Folge eines entsprechend gesteigerten Strafbedürfnisses.
IV. Schlussbemerkung Normen und, als Ausdruck ihrer Wirksamkeit, Vorwürfe wirken sich maßgeblich auf menschliches Verhalten aus. Deshalb erscheint die Diskussion über Willensfreiheit letztlich kaum geeignet, die Legitimität von Kriminalstrafe infrage zu stellen. Ab wann ein Subjekt als verantwortlich gilt, bleibt zwar eine im Kern politische Entscheidung.87 Im Ergebnis zu weniger und nicht etwa mehr Fairness gegenüber dem bestraften Bürger führt es jedoch, wenn unter Verweis auf die Begrenztheit individueller Entscheidungsfreiheit oder aus Sorge vor einem Täterstrafrecht für eine Begrenzung subjektiver Elemente der Tat plädiert wird. Lässt sich die handlungssteuernde Funktion von Normen nicht ernstlich bestreiten, so muss es einem um eben diese Funktion bemühten Strafrecht vielmehr darum gehen, das Verhältnis von Subjekt und Norm zu klären,88 insbesondere das Wesen der zurechnungsbegründenden Fehlentscheidung sowie jener Voraussetzungen, unter denen ein Subjekt in der konkreten Situation als von einer Norm angesprochen gelten kann. Dabei geht es nicht darum, Charakter zu bestrafen, sondern Handlungen in einer dem Einzelnen gerecht werdenden Weise zu verstehen. Aussagen zu einer über die Tat hinausgehenden Beständigkeit von Charaktermerkmalen werden damit gerade nicht getroffen.89 Insofern hat die finale Handlungslehre bereits wichtige Ansätze geliefert – vor allem indem die Trennung von Vorsatz und Schuld90 trotz ihrer Überschneidungen die Unterscheidung zwischen handlungsleitenden subjektiven Einstellungen und Steuerungsfähigkeit erkennen lässt. Die Intentionalität von Handlungen enthält letztlich den Schlüssel zum Verständnis von normativer Ansprechbarkeit und zur Konkreti-
85
Vgl. Roxin, in: Liberal Criminal Theory, Essays for Andreas von Hirsch, 2014, S. 38. Ähnlich Holmgren, in: Shoemaker/Tognazzini (Hrsg.), Oxford Studies in Agency and Responsibility, Band 2, 2014, S. 181 ff.; Lacey, In Search of Criminal Responsibility, S. 171; Nussbaum, Zorn und Vergebung, 2016, S. 256; vgl. auch Günther, Schuld und kommunikative Freiheit, S. 125 f. 87 Jakobs, ZStW 118 (2006), S. 831, 840; Ricœur, Wege der Anerkennung, 2006, S. 143. 88 Hassemer, Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, S. 297. 89 Ähnlich insofern Hörnle, Kriminalstrafe ohne Schuldvorwurf, S. 47 f. 90 Gallas, ZStW 67 (1955), 1, 18 f. 86
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sierung dessen, was unter „Persönlichkeitsäußerungen“91 im Sinne einer personalen Unrechtslehre zu verstehen ist.92 Auch kommunikative Handlungstheorien enthalten implizit immer Grundannahmen zur Geisteshaltung des handelnden Subjekts. Eine Reduzierung der Bedeutung mentaler Zustände auf die Vermeidbarkeit des Normbruchs wird daher der komplexen Wechselwirkung zwischen objektiver und subjektiver Tatseite nicht gerecht.
91
Roxin, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius, Handbuch des Strafrechts, § 28, Rn. 70. Zum finalistischen Erbe des personalen Unrechtsbegriffs Hirsch, ZStW 93 (1981), 831, 838 f.; Safferling, Vorsatz und Schuld, 2008, S. 79 f. 92
III. Besonderer Teil des Strafrechts
Containern: Eigentumsdelikt ohne Eigentumsverletzung? Von Jens Bülte Das AG Fürstenfeldbruck hat am 30. 1. 20191 – bestätigt durch das BayObLG2 – zwei Studentinnen wegen Diebstahls mit vorbehaltenen Geldstrafen von je 15 Tagessätzen à 15 Euro und einer Arbeitsauflage verwarnt. Sie hatten Lebensmittel aus einem verschlossenen Abfallcontainer eines Einzelhandelsgeschäfts in Olching zum eigenen Verbrauch entnommen (sog. Containern). Dem Urteil war ein Strafbefehl über 40 Tagessätze à 30 Euro vorausgegangen und später das von den Angeklagten abgelehnte Angebot zur Verfahrenseinstellung nach § 153a StPO unter der Auflage, acht Stunden gemeinnützige Arbeit zu leisten. Der Leiter des Supermarktes hatte seinen zunächst gestellten Strafantrag wegen der negativen Öffentlichkeitswirkung zurückgezogen. Die Staatsanwaltschaft München II bejahte dennoch das besondere öffentliche Interesse3 und lehnte eine Einstellung nach § 153 StPO trotz nachdrücklichen Drängens des Amtsgerichts ab.4 Der Sprecher des Amtsgerichts wird nach der Urteilsverkündung mit den Worten zitiert: „Man sorgt sich da auch ein kleines bisschen um den Ruf der Justiz.“5 Würden nicht viele andere Staatsanwaltschaften solche Strafverfahren konsequent einstellen, gäbe es in der Tat Anlass zur Sorge um die Justiz selbst, nicht nur um ihren Ruf. Die Staatsanwaltschaft München II beantragte einen scharfen Strafbefehl, bestimmte den Wert der Lebensmittel überhöht nach dem regulären Verkaufspreis, nahm deswegen einen besonders schweren Fall und schließlich ein besonderes öffentliches Interesse an der Verfolgung an. Dieses Vorgehen ist nicht nur eine Fehlallokation von Justizressourcen, sondern die Strafbarkeit der angeklagten Handlungen auch keineswegs so klar, wie die Münchner Justiz annimmt.6
1 AG Fürstenfeldbruck, Urt. v. 30. 1. 2019 – 3 Cs 42 Js 26676/18 in krit. Anm. Jahn JuS 2020, 85 ff. 2 BayObLG, Beschl. v. 02. 10. 2019 – 206 StRR 1013/19, 206 StRR 1015/19, nicht beanstandet durch BVerfG, Beschl. v. 5. 8. 2020 – 2 BvR 1985/19, JZ 2020, 906 ff. m. Anm. Ogorek. 3 Das AG Hamburg sprach dagegen am 26. 3. 2019 zwei Angeklagte frei, nachdem der Marktleiter seinen Strafantrag zurückgenommen hatte (Bericht des NDR 1 Niedersachsen vom 26. 3. 2019). 4 Die Verfahrensdokumente sind abrufbar unter: https://freiheitsrechte.org/containern/. 5 Podolski, Lebensmittel aus der Mülltonne, LTO v. 31. 1. 2019. 6 Vgl. Podolski (Fn. 5).
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Den folgenden Beitrag, der diese These begründen soll, möchte ich Ulrich Sieber verbunden mit den herzlichsten Glückwünschen widmen, den ich als Mediator zwischen verhärteten Fronten kennen- und persönlich besonders schätzen gelernt habe. Ich hoffe, dass der verehrte Jubilar an meinem anderen Blick auf die Strafbarkeit des Containerns als Eigentumsdelikt,7 der auch ein Plädoyer für ein maßvolles und menschliches Strafrecht sein soll, Gefallen findet.
I. Die Fremdheit der Sache und die Dereliktion in § 242 StGB Die bisherigen Entscheidungen zum Diebstahl von Abfall i.w.S. legten ihr Augenmerk auf die zivilrechtliche Eigentumslage. Das ist grundsätzlich konsequent, denn die Fremdheit der Sache in § 242 StGB bestimmt sich nach den zivilrechtlichen Eigentumsverhältnissen. Schon bei Frank8 heißt es hierzu: „Ob das zutrifft [dass eine Sache fremd ist], ist lediglich nach dem bürgerlichen Rechte zu entscheiden“.9 Das Eigentum werde durch das Wegwerfen der Sachen nicht nach § 959 BGB aufgegeben, wenn Lebensmittel in einen abgeschlossenen Abfallcontainer verbracht worden sind. Die Wegnahme der Lebensmittel sei daher ein Diebstahl. Zwar war das RG im Jahr 191410 davon ausgegangen, dass wer Speisereste in einen Gemeinschaftsmülleimer wirft, sein Eigentum aufgebe. Ein Diebstahl an dieser Sache sei dann nicht mehr möglich. Auch Fritsche11 schrieb, der Gedanke, im Wegwerfen einer Sache liege keine Dereliktion sei zunächst befremdend; das Werfen in den Mülleimer sei doch gerade das Schulbeispiel der Eigentumsaufgabe. Doch handelt es sich bei einem abgeschlossenen Abfallcontainer eines Supermarktes eben nicht um einen allgemein zugänglichen Gemeinschaftsmülleimer wie im Fall des RG. Das AG Düren12 hat daher auch die Dereliktion von Lebensmitteln verneint, die auf dem Gelände eines Einzelhandelsunternehmens in zu Entsorgungszwecken bereitgestellte Container verbracht worden waren.13 Diese zivilrechtliche Bewertung überzeugt: Die Eigentumsaufgabe setzt eine einseitige Willenserklärung des Eigentümers voraus, die mangels Empfangsbedürftig7
Zu weiteren strafrechtlichen Aspekten des Containerns Vergho, StraFo 2013, 15 ff. Frank, RStGB, 18. Aufl. 1932, § 242 Anm. III; ebenso Schönke, StGB 3. Aufl. 1947, Anm. 3. 9 Vgl. auch RGSt 61, 337; BGHSt 6, 377 (378); SK-StGB/Hoyer, Bd. V, 9. Aufl. 2019, § 242 Rn. 11; Rengier, Strafrecht BT I, 22. Aufl. 2020, § 2 Rn. 9; Matt/Renzikowski/Schmidt, StGB, 2. Aufl. 2020, § 242 Rn. 7; Welzel, Deutsches Strafrecht, 11. Aufl. 1969, § 46 Anm. 1c; das hat selbst Bruns in seiner berüchtigten und gegenüber zivilrechtlichen Begriffen nahezu aggressiven Schrift „Die Befreiung des Strafrechts vom zivilistischen Denken“ (1938) nicht in Abrede gestellt. 10 RGSt 48, 121 (123). 11 Fritsche, MDR 1962, 714. 12 AG Düren, Urt. v. 24. 1. 2013 – 10 Ds 288/13. 13 Vgl. auch MüKo-StGB/Schmitz, 4. Bd., 3. Aufl. 2017, § 242 Rn. 35. 8
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keit ausschließlich nach dessen tatsächlichen Willen auszulegen ist.14 Es kommt nach h.M. für die Eigentumsaufgabe nach § 959 BGB nur darauf an, ob der Eigentümer das Eigentum beim „Wegwerfen“ bedingungslos aufgeben will. Die Dereliktion liegt also nicht bereits dann vor, wenn der Eigentümer die Sache selbst nicht nutzen möchte; er muss seinen Einfluss auf die Sache vollständig aufgeben wollen.15 Wer Altkleider oder Altpapier zur Abholung für eine gemeinnützige Organisation an den Straßenrand stelle, gebe sein Eigentum gerade nicht auf, weil es zu einer Übereignung genau an diese Organisation kommen soll.16 Damit ist zwischen reiner Aufgabeabsicht und der Aufgabe der Nutzung in der Absicht anderweitiger Verwendung – und sei es durch Dritte oder durch Vernichtung – zu differenzieren, die sich gegenseitig ausschließen.17 Diese Lösung entspricht den zivilrechtlichen Grundsätzen, ist doch auch das Recht, jeden anderen von der Einwirkung auf eine Sache auszuschließen, Teil des Eigentumsrechts nach § 903 BGB. Insofern ist die Ablehnung der zivilrechtlichen Dereliktion selbst dann plausibel, wenn es dem Eigentümer nicht darauf ankommt, dass die Sache noch irgendwie genutzt werden soll, sondern er die Sache ausschließlich vernichten (lassen) will.18 Man kann die Zerstörung von Sachen, die ein anderer noch gebrauchen möchte, mit guten Gründen für sozialschädlich und unverantwortlich halten, insbesondere das Wegwerfen noch zum Verzehr geeigneter Nahrungsmittel. Es kann aber auch gute Gründe dafür geben, einen anderen von der Nutzung einer Sache auszuschließen, die man selbst nicht (mehr) nutzen möchte, wie etwa bei einem selbstgefertigten Kunstwerk,19 persönlichen Fotos oder einer alten Bankkarte.20 Auf die ethische Bewertung dieser Gründe kommt es bei der Entscheidung über die Eigentumsaufgabe nicht an: Der Eigentümer hat grundsätzlich das Recht mit jeder in seinem Eigentum stehenden Sache unvernünftig umzugehen und andere ohne nachvollziehbaren Grund von der Nutzung auszuschließen.21
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Vgl. nur MüKo-BGB/Oechsler, 8. Aufl. 2020, § 959 BGB Rn. 3. Vgl. MüKo-BGB/Oechsler (Fn. 14), § 959 BGB Rn. 3. 16 BayObLG wistra 1986, 268; OLG Saarland NJW-RR 1987, 500; OLG Düsseldorf JMBl NW 1992, 191; für Sperrmüll LG Ravensburg NJW 1987, 3142 f.; vgl. auch Matt/Renzikowski/Schmidt (Fn. 9), § 242 Rn. 9. 17 Hierzu Fritsche, MDR 1962, 714. 18 Vgl. nur LG Magdeburg, Urt. v. 8. 11. 2006 – 9 O 584/06 (118), zitiert nach Juris. 19 LG Ravensburg NJW 1987, 3142 (3142); vgl. auch Fritsche, MDR 1962, 714. 20 OLG Hamm JuS 2011, 755. 21 A.A. wohl AnwK-StGB/Kretschmer, 3. Aufl. 2020, § 242 Rn. 11. 15
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II. Die These vom umfassenden strafrechtlichen Schutz des Eigentums Diese zivilrechtliche Bewertung wird nun in das Tatbestandsmerkmal fremd in § 242 StGB übertragen. Die Gerichtsentscheidungen zum Containern haben angenommen, das Eigentum sei durch § 242 StGB vor Verletzungen durch Wegnahme selbst dann geschützt, wenn diese Eigentumsbeeinträchtigung in ihren Wirkungen noch so marginal, für den Eigentümer irrelevant und für Dritte sogar sinnvoll sein mag, wie bei der Wegnahme von noch verzehrbaren Lebensmitteln, die ein Unternehmen entsorgt hat. Auch dem ausschließlichen Interesse des Eigentümers, andere vernunftwidrig von jeder Einwirkung auszuschließen, bliebe so der vollständige Schutz des Strafrechts erhalten. Doch diese zivilrechtlich plausible Wertung auch ins Strafrecht zu übertragen und so den Gewahrsam und dieses Rumpfeigentum mit dem schärfsten Schwert des Rechtsstaats, der Kriminalstrafe,22 zu schützen, ist keineswegs selbstverständlich, sondern im Gegenteil rechtfertigungsbedürftig. Mit einem fragmentarischen Strafrecht, das nicht Formalpositionen, sondern „werthafte Zustände, Interessen usw.“ schützt,23 ist ein so weitgehender Eigentumsschutz kaum vereinbar. Durch einen solchen formalisierten Eigentumsschutz durch § 242 StGB müsste es zu Wertungswidersprüchen kommen: Die Wegnahme einer zur Vernichtung bestimmten Sache, um sie zu verbrauchen, wäre strafbar, nicht aber ihr vorübergehender Gebrauch, selbst wenn er den Berechtigten ausschließt, der die Sache selbst nutzen möchte.24 Diese Friktion hatte wohl auch das AG München25 gesehen und einen Diebstahl an 18 aus einem Altglascontainer entnommenen Pfandflaschen verneint. Ein Diebstahl scheide mangels messbaren Schadens aus; die Flaschen wären ohnehin eingeschmolzen worden. Diese Begründung überrascht, weil der Vermögensschaden nicht Tatbestandsmerkmal des Diebstahls ist. Da die weit überwiegende Auffassung26 zudem auch wertlose Gegenstände für taugliche Tatobjekte des Diebstahls hält, erscheint die Begründung des AG München prima facie kaum tragfähig. Doch wird seit vielen Jahren die Frage diskutiert, wie nicht strafwürdige Formalverstöße gegen die Eigentumsordnung aus dem Anwendungsbereich des § 242 StGB ausgenommen werden können.27 Dabei hatte man die Fälle des eigen22
Vgl. BVerfGE 90, 145 (172) m.w.N. Vgl. Vogel, in: Leipziger Kommentar, StGB, Bd. 8, 12. Aufl. 2010, Vor §§ 242 ff. Rn. 53. 24 Vgl. zum furtum usus OLG Hamburg JR 1964, 228; ferner Maiwald, Der Zueignungsbegriff im System der Eigentumsdelikte, 1970, S. 145. 25 AG München, Beschl. v. 29. 03. 2017 – 843 Cs 238 Js 238969/16, openJur 2017, 11. 26 RGSt 44, 207 (210); 50, 254 (254); 51, 97 (98); BGH MDR 1960, 689; OLG Düsseldorf NJW 1989, 115 (116); ferner MüKo-StGB/Schmitz (Fn. 13), § 242 Rn. 10 m.w.N.; a.A. Jagusch, in: Leipziger Kommentar, Bd. 2, 8. Aufl. 1958, Bem. B. III 1 vor § 242. 27 Vgl. bereits Lilienthal, ZStW 32 (1911) 1 ff.; Maiwald (Fn. 24), S. 147 ff.; Roxin, Hellmuth Mayer-FS, 1966, S. 467 ff; Sax, Laufke-FS, 1970, S. 321 ff. 23
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mächtigen Geldwechselns oder Einkaufens als Diebstahl und die Raubstrafbarkeit der eigenmächtigen gewaltsamen Vollstreckung von Geldforderungen im Blick.28 Die Strafbarkeit solcher Handlungen sei nicht sachgerecht, weil der „Besitzstand des Eigentümers in keiner relevanten Weise geschmälert sei“ und auch „kein Gericht in einem solchen Fall verurteilen“ würde.29 Zur Umgehung dieses Problems wurde in der Literatur z. T. mit der Annahme einer mutmaßlichen Einwilligung operiert.30 Die Rechtsprechung vermied eine Strafbarkeit der eigenmächtigen Vollstreckung eines Zahlungsanspruchs, indem sie einen tatbestandsausschließenden Irrtum über die Rechtswidrigkeit der Zueignung unterstellte.31 Systematisch sind das jedoch unzureichende Notlösungen und keine validen Begründungen der Straflosigkeit nicht strafwürdiger Handlungen.
III. Ansätze zum Umgang mit Diebstählen ohne materielle Eigentumsverletzungen Lilienthal32 stellte schon 1911 fest, die Abneigung „Strohhalmaffären“ – also die Wegnahme von Ähren vom Feld – als Diebstahl zu behandeln, sei bei Juristen wie Nichtjuristen gleichermaßen verbreitet. Daher drängt sich die Notwendigkeit einer tragfähigen Lösung des Problems nicht strafwürdiger Wegnahmen fremder Sachen auf. Um zu rechtfertigen, dass „wirtschaftlich ausgehöhltes“ Eigentum strafrechtlich nicht geschützt sei, reicht der Hinweis auf solche Friktionen allerdings nicht aus. Nimmt man mit der Übertragung des zivilrechtlichen Fremdheitsbegriffs in das Strafrecht an, der Gesetzgeber habe sich entschieden, grundsätzlich das formale zivilrechtliche Eigentum und den Gewahrsam vor dem Eingriff durch eine auf Dauer angelegte Wegnahme strafrechtlich zu schützen, so hat der Rechtsanwender diese Wertentscheidung zu akzeptieren. Dass die gesetzgeberische Entscheidung in § 242 StGB allerdings tatsächlich zur Strafbarkeit des modernen Ährenlesens führt, ist mit der Feststellung der grundsätzlichen Zivilrechtsakzessorietät der Fremdheit in § 242 StGB keineswegs ausgemacht. Der zivilrechtliche Ausgangspunkt befreit nicht von einer autonomen und an die Zwecke und Ziele des Strafrechts gebundenen Auslegung. So etwas wie einen zwingenden Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung, der einen einheitlichen Eigentumsschutz vorgäbe, gibt es nicht.33
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Zum Diebstahl als „fundamentales Wirtschaftsdelikt“ Vogel (Fn. 23) Rn. 37. Roxin, Hellmuth Mayer-FS (Fn. 27), S. 467 (469 f.). 30 Vgl. hierzu bereits Maiwald (Fn. 24), S. 148 m.w.N. 31 BGHSt 17, 87 (89). 32 Vgl auch Lilienthal, ZStW 32 (1911), S. 1 (21). 33 Hierzu eindrucksvoll Karsten Schmidt in ders. (Hrsg.), Vielfalt des Rechts – Einheit der Rechtsordnung? (1994), S. 9 (14). 29
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1. Die Wertsummentheorie und die zivilrechtliche Sacheigenschaft Die Straffreiheit des eigenmächtigen Geldwechselns oder Vollstreckens eines Zahlungsanspruchs will Roxin über die Wertsummentheorie begründen.34 Dabei geht er von der zivilrechtlich begründeten Annahme aus, Geldschulden seien Wertsummenschulden und keine Gattungsschulden. Der Eigentümer habe regelmäßig kein Interesse an einzelnen Geldscheinen, sondern ausschließlich an ihrem Nennwert. Die Wertsummentheorie rückt damit den Nennwert des Geldes gegenüber seinem Sachwert in den Vordergrund. Es komme bei der Wegnahme von Geld nicht auf den Verlust des konkreten Geldscheins als Sache, sondern des Wertes an. Die Wegnahme des Geldes sei daher in diesen Fällen verbotene Eigenmacht, aber kein Diebstahl. Dieser Ansatz löst möglicherweise das Problem der Diebstahlsstrafbarkeit bei eigenmächtiger Vollstreckung von Geldforderungen, indem die Rechtswidrigkeit der Sachzueignung als Rechtswidrigkeit der Wertzueignung begriffen wird. Für die Straflosigkeit eigenmächtigen Geldwechselns oder heimlichen Einkaufens bietet die Wertsummentheorie jedoch keinen zivilrechtlich belastbaren Ansatz, weil sie ein sachenrechtliches Problem schuldrechtlich lösen will. Roxin stellt nicht das Eigentum an Geldscheinen in Abrede, sondern geht von einer geringeren strafrechtlichen Bedeutung des Eigentums an Geldscheinen aus, weil es dem Eigentümer an Interesse an dem konkreten Schein fehlt. Damit wird der geminderte strafrechtliche Schutz vor Verletzungen zivilrechtlichen Eigentums ohne Verletzung wirtschaftlicher Interessen im Ergebnis durch Lockerung der Zivilrechtsakzessorietät des § 242 StGB und nicht zivilrechtsinhärent verwirklicht.35 2. Die wertlose Sache als Tatobjekt und das Eigentum als Teil der Selbstverwirklichung Letztlich liegt eine Lösung über eine Abweichung des strafrechtlichen Schutz nach § 242 StGB vom zivilrechtlichen Schutz des Eigentums nahe. Beschränkungen des strafrechtlichen Eigentumsschutzes sind sogar bisweilen unumgänglich, wie etwa bei bürgerlich-rechtlichen Rückwirkungen, die wegen Art. 103 Abs. 2 GG nicht ins Strafrecht übertragen werden dürfen, z. B. bei der ex-tunc-Wirkung der Anfechtung.36 Das Verfassungsrecht gebietet also ohnehin, jede zivilrechtliche Wertung bei ihrer Übertragung ins Strafrecht kritisch zu prüfen. Jagusch hat angenommen, wertlose Sachen seien keine tauglichen Tatobjekte des § 303 StGB.37 Daraus folge auch ihre Untauglichkeit als Tatobjekte des § 242 StGB. 34
Roxin, Hellmuth-Mayer-FS (Fn. 27), S. 467 (471 ff.). Vgl. auch die Kritik von Sax (Fn. 27), S. 321 (328 f.). 36 Vgl. nur Kudlich/Noltensmeier, JA 2007, 863 (865 f.); Rengier (Fn. 9), § 2 Rn. 16 m.w.N. 37 Vgl. auch BayObLG NJW 1993, 2760 (2761). 35
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Der Diebstahl von völlig wertlosen Sachen, wie einer Topfscherbe oder einer einzelnen Kornblume auf dem Feld scheitere an der strafrechtlichen Eigentumsfähigkeit dieser Sachen.38 Schröder39 wollte durch Auslegung ermitteln, ob das Fehlen jeglicher wirtschaftlicher Interessenverletzung im Einzelfall zur Nichtanwendung von § 242 StGB führen könne. Dieser Gedanke findet sich auch bei Bosch wieder: Trotz der grundsätzlichen Maßgeblichkeit des formalen Eigentums sei es nicht ausgeschlossen, die Strafbarkeit wegen Diebstahls zu verneinen, wenn das Tatobjekt weder materiellen noch immateriellen Wert habe.40 Gribbohm41 wollte die Wertsummentheorie auch auf Gattungssachen anwenden und begründete die Beschränkung des Diebstahls auf eine „schadensträchtige“ Wegnahme historisch: § 215 PrStGB, dem § 242 StGB entspreche, habe nur die Tat bestrafen wollen, die aus gewinnsüchtiger Absicht begangen worden sei.42 Durch das auf die Sache selbst bezogene Tatbestandsmerkmal der Zueignungsabsicht habe man auch nichts anderes zum Ausdruck bringen wollen, sondern vielmehr bei der Schaffung der Strafvorschrift das Handeln aus Gewinnsucht als konstitutiv für den Tatbestand vorausgesetzt. Dementsprechend sei auch das Preußische Obertribunal davon ausgegangen, dass die Wegnahme einer Sache unter gleichzeitiger unmittelbarer und vollständiger Ersatzleistung kein Diebstahl sei.43 Maiwald44 versteht das von § 242 StGB geschützte Eigentum weniger formal als wirtschaftlich und persönlich. Er nimmt eine strafbare Eigentumsentziehung daher nur an, wenn dem Eigentümer durch die Wegnahme ein personaler Wert genommen wird. Die reine Willenswidrigkeit rechtfertige keine Diebstahlsstrafe, weil die Gewährung rechtlichen Eigentums nicht Selbstzweck, sondern ein Mittel sei, um die Selbstverwirklichung des Individuums zu ermöglichen. Daher sollen – Maiwald argumentiert im Kontext der Wechselgeldfälle – solche Fälle vom Diebstahlsunrecht ausgenommen sein, bei denen der Eigentümer durch den Identitätswechsel keinen Nachteil in seinen Möglichkeiten erleidet. Soweit sicher sei, dass der Eigentümer in seiner konkreten Persönlichkeitsentfaltung nicht so betroffen sei, wie es dem Typus der Eigentumsdelikte abstrahiert zugrunde liege, verdiene die Gerechtigkeit den Vorzug vor der Rechtssicherheit durch Formalisierung.45
38 Jagusch (Fn. 26), Bem. B III 1 vor § 242 in Fortführung der Kommentierung von Nagler in der 7. Aufl. 39 Schönke/Schröder/Schröder, StGB, 15. Aufl. 1970, § 242 Rn. 4a. 40 Schönke/Schröder/Bosch, StGB, 30. Aufl. 2019, § 242 Rn. 7. 41 Gribbohm, NJW 1968, 240 (241). 42 Zur historischen Entwicklung der Diebstahlsstrafbarkeit vgl. nur Lilienthal, ZStW 32 (1911) S. 1 (2 ff.). 43 Gribbohm, NJW 1968, 240 (241). 44 Maiwald (Fn. 27), S. 147 ff. 45 Maiwald (Fn. 27), S. 149.
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3. Differenzierung zwischen Tatobjekt und Schutzgut in § 242 StGB Diese Überlegungen ebnen den Weg zu einem differenzierten materiellen Blick des Strafrechts auf den Eigentumsschutz. Sax46 bestimmte dementsprechend – unter Bezugnahme auf Maiwald – zwar die Fremdheit der Sache zivilrechtlich, aber das Schutzgut des § 242 StGB autonom strafrechtlich. Dieser Gedanke findet sich auch bei Vogel:47 Die Annahme der h.M., das geltende Recht bezwecke einen „formalen Eigentumsschutz“, dürfe nicht den Blick auf die „durchaus offene kriminalpolitische Frage“ verstellen, welches „die Schutzzwecke eines strafbewehrten Diebstahls- und Unterschlagungsverbots sein und wie sie in strafrechtliche Eigentumsschutzkonzepte eingefügt werden sollen“. Damit liegt der Kern einer Restriktion von § 242 StGB offen: die Trennung zwischen Tatobjekt und Schutzgut. Demensprechend differenziert Sax ähnlich wie Maiwald zwischen formal zivilrechtlich bestimmtem Tatobjekt und strafrechtlichem Schutzgut der „inhaltlichen Rechtsmacht“.48 Während die zivilrechtliche Bestimmung das Tatobjekt durch die Systematik des StGB vorgebe, sei das Schutzobjekt die inhaltliche Rechtsmacht des Eigentümers, mit der Sache nach Belieben zu verfahren und andere von störenden Einwirkungen auszuschließen. Bei Ersterem gehe es um den Rechtstitel und bei Letzterem um die Summe der materiellen Befugnisse. Im Eigentum als Rechtsinstitution werde dem Einzelnen einer der wichtigsten Freiräume zur Persönlichkeitsentfaltung durch die gegen andere grundsätzlich rechtlich abgesicherte Verwirklichung des Interesses an Eigenbeherrschung und Eigenverwertung an den ihm gehörenden Sachen gewährt.49 Doch sei allein dieser Wille zur Betätigung des Eigenbeherrschungs- und Eigenverwertungsinteresses geschützt, der nicht mit dem allgemeinen Interesse des Eigentümers an der Achtung seines Eigentums verwechselt werden dürfe. Strafbare Eigentumsverletzung sei – hier beruft sich Sax auf Maiwald – „Willenswidrigkeit“, aber nur, wenn dieses individuelle Interesse durch die Wegnahme der Sache auch tatsächlich verletzt werde. Das sei u. a. dann nicht der Fall, wenn dieses Interesse nicht oder nicht mehr besteht, weil die Sache wertlos, aber aus irgendeinem Grund nicht derelinquiert worden sei, wie etwa bei „Wohlstandsmüll“, aber auch bei Pfandsiegeln oder Verwarnungszetteln, die völlig anderen Zwecken dienen. Bei Abfall habe der Eigentümer grundsätzlich kein Interesse mehr an der Sache als Sache. Der eigenmächtige Tausch von Geld oder Briefmarken sowie die Wegnahme von Sperrmüll fielen damit in die Kategorie der straflosen Wegnahme. Nur wenn der Eigentümer 46
Sax (Fn. 27), S. 321 (326 ff.). Vogel (Fn. 23), Rn. 28. 48 Sax (Fn. 27), S. 321 (331). 49 Zur Überhöhung und „Verkitschung“ des Eigentums etwa durch Dreher (Welzel-FS, 1974, S. 917 [933]), der ausführte, beim Eigentumsschutz gehe es um den „Menschen in seinem Menschsein“ Vogel (Fn. 23), Rn. 33. 47
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ein auf die Sache selbst bezogenes Interesse habe, komme Diebstahl in Betracht.50 Das sei auch bei objektiv wertlosen Sachen möglich, etwa bei der benutzten Fahrkarte als Spesennachweis, bei Zigarettenasche als Silberpoliermittel oder der alten Zeitung mit einer wichtigen Notiz. Die Diebstahlsstrafbarkeit entfiele damit, wenn der Eigentümer kein Interesse an der Sache selbst hat, weder an ihrer Nutzung, noch unmittelbar daran, andere von der Nutzung dieser Sache auszuschließen. Gleichgültig ist, ob man dies mit fehlendem wirtschaftlichem oder ideellem Wert der Sache für den konkreten Eigentümer oder deren fehlender Relevanz für die Persönlichkeitsverwirklichung begründet. Wem die Sache als solche gleichgültig ist, der kann nicht allein deswegen durch den Diebstahl Verletzter sein, weil sein formelles Eigentumsrecht nicht respektiert wurde. Eine andere Auslegung würde § 242 StGB zum abstrakten Gefährdungsdelikt gegen die Eigentumsordnung als Teil der öffentlichen Ordnung werden lassen. Insofern verwundert es, wenn Sax entgegen seiner eigenen Prämisse die Wegnahme von Lebensmitteln, die der Händler ausgesondert hat, um sie (ausschließlich) zur Vermeidung einer Haftung fachgerecht zu entsorgen, als Diebstahl ansieht. Dieser Fall verdeutlicht nämlich gerade, dass der Händler mit der in seinem Eigentum stehenden Sache nicht einmal im weitesten Sinne seine Persönlichkeitsentfaltung betreiben, sondern die Sache schlicht zur Haftungsvermeidung rechtmäßig loswerden will. Es geht ihm weder um die Nutzung der Sache selbst oder den Ausschluss anderer von der Sacheinwirkung, sondern ausschließlich darum, nicht aufgrund fremden Umgangs mit seiner Sache Schaden zu erleiden. Der Ausschluss anderer soll – anders als bei dem persönlichen Brief, Foto oder dem Kunstwerk, die nicht in falsche Hände fallen sollen – nicht der Sache selbst wegen, sondern wegen eines mit der Sache mittelbar verbundenen Haftungsrisikos erfolgen. Sähe man das als Diebstahl an, so verschöbe sich das Rechtsgut des § 242 StGB vom Schutz des Eigentums zum Schutz des Eigentümers vor mittelbaren Haftungsrisiken aus dem Besitz. Es entspricht nicht nur der „Vernunft der Dinge“51 § 242 StGB restriktiv auszulegen, sondern wird auch dem historisch begründeten Charakter und der ursprünglichen Zielrichtung des Gesetzes eher gerecht, wenn es auch kaum gelingen dürfte festzustellen, ob der Gesetzgeber das Containern tatsächlich unter Strafe stellen wollte. Daher muss, wenn bei der Auslegung des § 242 StGB vom Willen des Gesetzgebers die Rede ist, der Wortlaut des Gesetzes vornehmlicher Ausgangspunkt für eine Beschränkung der Strafbarkeit sein. Zwar bietet das Wort „fremd“ keinen Anknüpfungspunkt für die Restriktion über das Schutzgut des § 242 StGB, weil es keinen Bezug zum Wert der Sache beinhaltet. Doch selbst wenn man deswegen davon ausgeht, es entspreche dem objektivierten
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Sax (Fn. 27), S. 321 (336). Roxin, Hellmuth Mayer-FS (Fn. 27), S. 467 (469).
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Willen des Gesetzes,52 das Eigentum grundsätzlich möglichst umfassend zu schützen,53 ist die Auslegung dieses Tatbestandsmerkmals noch nicht das Ende der Auslegung. Vielmehr ist zu fragen, ob die teleologische Reduktion eines anderen Merkmals zulässig und geboten ist, um zu einem angemessenen, weil verhältnismäßigen strafrechtlichen Eigentumsschutz zu gelangen. Vogel hat in diesem Kontext daran erinnert, dass zwar einerseits bei der Auslegung des Strafrechts „gesetzeslosgelöste Rechtsgutsbehauptungen“ unzulässig seien, doch andererseits nicht nur der Ultima-ratio-Grundsatz, sondern auch beachtet werden müsse, dass der umfassende Schutz des Eigentums Aufgabe des Zivilrechts, nicht des Strafrechts sei. Er hat vor einem rechtshysterischen strafrechtlichen Schutz des Eigentums gewarnt.54
4. Vorrang einer teleologischen Reduktion vor prozessualen Notlösungen Dennoch hat Vogel sich letztlich gegen eine materiell-rechtliche Ausklammerung wertloser Sachen aus dem strafrechtlichen Eigentumsschutz ausgesprochen, weil kontraintuitive Ergebnisse wie eine nach § 242 StGB strafbare Wegnahme lästiger Abfälle durch anderweitige Korrektive, z. B. die mutmaßliche oder hypothetische Einwilligung, Irrtümer oder prozessuale Instrumente wie § 248a StGB und §§ 153, 153a StPO vermieden werden könnten.55 Solange solche Lösungen möglich seien, scheide eine Korrektur des gesetzgeberischen Willens durch teleologische Reduktion als „ultima ratio“ aus. Doch zeigt just dieser Fall des Containerns, dass gerade keine anderweitige materiell rechtliche Lösung trägt. Der Eigentümer hat in die Wegnahme weder mutmaßlich, noch hypothetisch eingewilligt, und ein Irrtum der potentiellen Täter liegt nicht vor. Menschen, die Lebensmittel aus Containern bergen, wissen zudem regelmäßig, dass der Einzelhändler eine Wegnahme der Lebensmittel wegen der für ihn damit (vermeintlich) verbundenen Haftungsrisiken ablehnt. Auch gegen eine ausschließlich prozessuale Lösung sprechen gewichtige Gründe.56 Zum Ersten: Warum sollte man ein Problem, das sich aus einer extensiven Auslegung des materiellen Rechts ergibt, über das Prozessrecht lösen? Zum Zweiten: Der Olchinger Fall, in dem das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfol52 Dass auch der objektivierte Wille des Gesetzgebers nur das vorläufige Ergebnis eines demokratischen Diskurses ist, zeigt eindrücklich Martins in Kuhli/Asholt, Strafbegründung und Strafeinschränkung als Argumentationsmuster (2017), S. 45 (46). 53 So Vogel (Fn. 23), Rn. 55. 54 So Vogel (Fn. 23), Rn. 55. 55 Vogel (Fn. 23), Rn. 55; vgl. auch BVerfG Beschl. v. 5. 8. 2020 – 2 BvR 1985/19, JZ 2020, 906 (909). 56 A.A. der Beschluss der Justizministerkonferenz zu Top II 11. „Lebensmittelverschwendung bekämpfen.“ Nr. 3.
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gung fern liegt, der Strafantrag fehlt und eine Einstellung über § 153 StPO ohne (erkennbare) Sachgründe abgelehnt wurde, zeigt, dass das Strafprozessrecht angemessene Lösungen nicht gewährleistet. Zweifelhaft ist auch, ob ein prozessualer Ansatz, der sich – wie die Einstellung nach §§ 153, 153a StPO – der gerichtlichen Kontrolle entzieht, mit Art. 19 Abs. 4 GG vereinbar wäre,57 mag das Bundesverfassungsgericht diesen prozessualen Ausweg für die Strafbarkeit des Bagatelldiebstahls auch in der Vergangenheit unbeanstandet gelassen haben.58 Auf zweifelhafte prozessuale Notlösungen kann der Rechtsanwender schließlich allenfalls verwiesen sein, wenn die Restriktion des § 242 StGB tatsächlich ultima ratio wäre, weil der Gesetzgeber den umfassenden strafrechtlichen Schutz des formalen Eigentums gewollt hätte. Doch ist die These vom umfassenden strafrechtlichen Eigentumsschutz eine unbewiesene und unstreitig nicht absolut geltende – wenn auch nach dem Gesetzeswortlaut plausible – Hypothese. Solange sie nicht gesichert ist, geht es nicht um eine Korrektur der gesetzgeberischen Entscheidung, um Rechtsfindung contra legem, sondern um die Ermittlung von Sinn und Zweck des § 242 StGB und seine interessengerechte Anwendung auf das Containern, gegen die verfassungsrechtlich nichts einzuwenden ist. Denn teleologische Reduktionen von Straftatbeständen unter den Gesetzeswortlaut sind ein ebenso zulässiges wie notwendiges Element der verhältnismäßigen und interessengerechten Auslegung von Strafvorschriften.59 Dabei wird an konkrete Tatbestandsmerkmale angeknüpft, die verfassungskonform, verhältnismäßig und grundrechtswahrend auszulegen sind.60 5. Keine strafrechtlich relevante Enteignung bei fehlendem Interesse des Enteigneten Der richtige Ansatzpunkt für die Straflosigkeit des Containerns dürfte die Absicht der Zueignung, genauer ihre Enteignungskomponente sein.61 Die naheliegende Argumentation, beim Containern stehe die Zueignungsabsicht außer Frage, weil es doch gerade darum geht, sich fremde Lebensmittel zuzueignen, greift zu kurz. Die Zueignungsabsicht muss im Lichte des Schutzgutes des § 242 StGB betrachtet werden, um zu erkennen, dass sie im Fall des Containerns fehlt.
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Vgl. auch Frisch, Wessels/Stree-FS, 1993, S. 69 (105); Weigend, ZStW 109 (1999) 103 (106 f.). 58 BVerfG NJW 1979, 1039 (1040); ebenso unkritisch BVerfGE 90, 145 (187). 59 Vgl. nur BVerfGE 17, 155 (165 ff.); 110, 226 (267); BGHSt 46, 107 (113); BGH NJW 2007, 1602; OLG Karlsruhe NJW 1981, 1383 f.; ferner die weiteren Beispiele aus der Rechtsprechung bei Dannecker/Schuhr, Leipziger Kommentar Bd. 1, 13. Aufl. 2020, § 1 Rn. 326 ff. 60 Zur verfassungskonformen Auslegung im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Dannecker/Schuhr (Fn. 59), § 1 Rn. 336 ff. 61 A.A. Sax (Fn. 27), S. 321 (337).
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Die h.M. legt bei der Interpretation der aus Aneignungsabsicht und Enteignungsvorsatz bestehenden Zueignungsabsicht die sog. Vereinigungslehre zugrunde,62 die nicht allein auf die Zueignung der Sachsubstanz abstellt, sondern auch den Sachwert berücksichtigt. Das RG ließ zunächst für die Aneignung ausreichen, dass der Täter über die Sache in einer allein dem Eigentümer zustehenden Weise verfügte. Voraussetzung für die Enteignung war jedoch, dass die Sache in ihrem funktionalen Wert gemindert, verbraucht und nicht lediglich gebraucht wurde.63 Später bestimmte das RG die Zueignung auch ausdrücklich nach wirtschaftlichen Kriterien, machte aber deutlich, dass Gegenstand der Zueignung nur die Sache selbst sein könne. Heinrich64 hat darauf hingewiesen, dass diese auch vom BGH65 verwendete Vereinigungstheorie nicht als Alternativformel missverstanden werden dürfe.66 Das RG habe die Zueignung vielmehr dahingehend konkretisiert, dass die Sache ihrem Sachsubstanzwert nach ausgenutzt werden müsse, so dass das einfache Gebrauchen der Sache keine Zueignung darstelle. Es war also nicht gemeint, dass der Täter sich entweder die Sache oder deren Wert, sondern dass er sich die Sache wirtschaftlich zueignen müsse.67 Die Judikatur versteht die Zueignung damit bereits seit langem funktionell-wirtschaftlich und nicht sachenrechtlich-begrifflich.68 Dieser Ansatz entspricht der heutigen Rechtsprechung, nicht jede Verfügung über die Sache – mag sie auch dem Eigentümer vorbehalten sein – als Zueignung anzusehen. Die Nutzung der Sache als solcher oder zumindest der Wille zur Nutzung ist zentrale Voraussetzung der Aneignung. Das zeigen auch Entscheidungen, die die Wegnahme einer Rockerkutte zum Zwecke der Zerstörung69 oder die eigenmächtige Inpfandnahme70 nicht unter § 242 oder § 249 StGB fassen. Die Aneignung wird wirtschaftlich-funktional gedacht,71 als Wegnahme der Sache zum Gebrauch wie ein Eigentümer: zur Persönlichkeitsverwirklichung im oben genannten weitesten Sinne. Die h.M. versteht dementsprechend auch die Enteignung funktionell-wirtschaftlich, wenn sie bei der Wegnahme einer Sache, um sie dem Eigentümer zurückzugeben, darauf abstellt, ob dies unter Leugnung des Eigentums geschieht, ob der Eigentümer die Sache „zurückkaufen“ muss.72 62
Fischer StGB, 67. Aufl. 2020, § 242 Rn. 35. RGSt 10, 369 (371); 22, 2 (3). 64 Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht BT, 3. Aufl. 2015, § 13 Rn. 98. 65 Vgl. nur BGHSt 4, 236 (238 f.); BGHSt 35, 152 (157); BGH NJW 1977, 1460; 1985, 812; BGH StV 1983, 329 (330). 66 Etwa von Maiwald (Fn. 27), S. 77. 67 RGSt 40, 10 (12). 68 Vgl. auch Tiedemann JuS 1970, 108 (111) für den Gebrauch von amtlich verwahrtem Geld. 69 BGH NStZ 2011, 699 (700); JuS 2014, 1141. 70 BGH NStZ-RR 1998, 235 (236). 71 Vgl. bereits Frank (Fn.8), § 242 Anm. VII 2a. 72 Vgl. nur Rengier (Fn. 9), § 2 Rn. 132 m.w.N. 63
Containern: Eigentumsdelikt ohne Eigentumsverletzung?
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Sind aber Aneignung und Enteignung wirtschaftlich-funktional zu verstehen, dann kann eine Handlung nur mit Enteignungsvorsatz begangen sein, wenn der Täter die Sache mit dem Vorsatz wegnimmt, den Berechtigten aus seiner funktionell-wirtschaftlichen Stellung als potentiellen Nutzer zu verdrängen. Hat der Täter dagegen nicht den Vorsatz die Persönlichkeitsverwirklichung durch Eigentumsnutzung zu beeinträchtigen, so scheidet Zueignungsabsicht aus. Das ist jedoch der Fall, wenn der Täter eine Sache entwendet, von der er weiß, dass das einzige Interesse des Eigentümers deren ordnungsgemäße Entsorgung ist. Dann liegt nur eine verbotene Eigenmacht, eine formale Störung der Eigentumsordnung vor, nicht aber ein Diebstahl, der den Vorsatz zur Beeinträchtigung des strafrechtlich geschützten materiellen Gehalts des Schutzguts Eigentum voraussetzt. Auch eine Unterschlagung scheidet dann mangels Zueignung aus.
IV. Die mangelnde Schutzgutverletzung als Grund für die Straffreiheit des Containerns Containern ist zwar die Wegnahme eines tauglichen Tatobjekts des § 242 StGB, führt aber zu keiner Beeinträchtigung des Schutzgutes dieser Strafvorschrift. Ein solches Handeln ist daher nicht nur angesichts politischer Kampagnen der Bundesregierung („Zu gut für die Tonne“) und des Kampfs der Europäischen Union gegen Lebensmittelverschwendung nicht strafwürdig; auch insofern irritiert die Berufung des BayObLG auf das europäisch geprägte Lebensmittel- und Abfallrecht zur Begründung der Strafbarkeit. Nicht nur verfassungsrechtliche Gründe – etwa aus Art 20a GG73 – sprechen gegen eine Bewertung des Containerns als so sozialschädlich, dass es strafwürdig sein könnte. Vielmehr gibt auch die Strafrechtsdogmatik eine Strafbarkeit wegen eines Eigentumsdelikts kaum her. Wer solche Handlungen als Diebstahl oder Unterschlagung bestraft, muss diese Taten als Delikte gegen Vermögensinteressen im weitesten Sinne oder gegen die Eigentumsordnung verstehen und den allgemein auch wirtschaftlich verstandenen Zueignungsbegriff vollständig formalisieren. Denn ein Delikt gegen das individuelle Eigentum kann nicht begehen, wer fremdes Individualeigentum materiell nicht beeinträchtigt.
73 Zu weiteren verfassungsrechtlichen Aspekten Dießner, Was ist das Entwenden von Brot gegen das Verbrennen von Brot?, https://verfassungsblog.de vom 22. 10. 2019.
Umweltstrafrecht zu Beginn des 21. Jahrhunderts Kritische Überlegungen Von José de Faria Costa 1. Beginnen wir mit den starken Fragen, den Fragen mit Sinngehalt. Oder, mit anderen Worten: mit den Fragen, die es sich zu stellen lohnt. Das Umweltstrafrecht gliedert sich in eine Logik der Erweiterung des Strafrechts ein. Also als Manifestation des natürlichen Phänomens der Neukriminalisierung. Folglich haben wir es in dieser einfachen, deshalb aber nicht weniger sorgfältigen Lesart mit einem ausgeprägt physiologischen oder natürlichen Phänomen der Strafrechtlichkeit zu tun. Ebenso wie die Strafordnung mit Entkriminalisierungsprozessen konfrontiert ist – d. h., in Fällen, in denen der Gesetzgeber eine Straftat vollumfänglich aus dem Straftatenkatalog streicht – sind auch Phänomene der Neukriminalisierung zu verzeichnen.1 Nach dieser kurzen Einführung lässt sich nun jedoch in vollem Umfang verstehen, was wir untersuchen, was wir fragen wollen. Soll der Schutz der Umwelt strenggenommen in erster Linie oder auch durch das Strafrecht wahrgenommen werden? Wiederholt die Lehre denn nicht fast bis zur Erschöpfung, dass das Strafrecht nur als ultima ratio heranzuziehen ist? Vertritt die aufgeklärtere und sensiblere Strafpolitik denn nicht, dass das Strafrecht stets und unter allen Umständen einen eminent subsidiären Charakter haben soll? Wird uns durch kriminologische Studien denn nicht vermittelt, dass die Erweiterung des strafbaren Bereichs eine deutliche kriminogene Wirkung hat, d. h., dass eine weitere Strafbarkeit nicht nur die Möglichkeit bedingt, dass die Kriminalität durch diese Strafbarkeit zunimmt, sondern dass diese Strafbarkeit eine ausstrahlende kriminogene Wirkung hat? Setzen wir Strafrechtler uns denn nicht alle entschieden für ein minimales Strafrecht ein?2 1
Das ist etwas ganz anderes als das Phänomen der Strafbefreiung/Strafmilderung, da die Rechtsordnung das Verhalten weiterhin als strafrechtlich ahnbar betrachtet, nur aber beispielsweise den abstrakten Strafrahmen reduziert hat (um es zu veranschaulichen, etwa die Höchststrafe von sechs auf vier Jahre reduziert hat) oder erachtet, dass ein Handeln nunmehr keine Straftat mehr darstellt, sondern eine Ordnungswidrigkeit, siehe Faria Costa, José de, Direito Penal, Lisboa, Imprensa Nacional, 2017, S. 45 – 47. 2 Wenn man zugunsten der intellektuellen Wahrheit auch einräumen muss, dass die Verfechtung dieses großen Prinzips des liberalen Strafrechts in jüngster Zeit nicht mehr dem strafrechtlichen Mainstream entspricht. Und aus welchem Grund? Es gibt sicherlich viele, aber einer hängt gewiss mit dem Zeitgeist zusammen. Wir wollen sicherheitsorientierte Gesellschaften. Weil der Wind jedoch von daher weht, besteht erst recht Grund für das unnach-
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Wenn also die Dinge so eingefordert werden oder sich so zeigen, muss man, um ein Minimum an Kohärenz mit den verfochtenen Werten zu gewährleisten, klar und rationell darlegen, ob mit der Verfechtung des sogenannten Umweltstrafrechts starke, sehr starke Werte durchgesetzt werden sollen, die bei Nichtbeachtung oder Nichterfüllung ihrer in der nobleren Vorstellung eines modernen und konsequenten Strafrechts situierten Zwecke das Gegenteil rechtfertigen können. 2. Aber führen wir unsere Besorgnis ein wenig weiter aus. Versuchen wir, zu verdichten und dadurch die Probleme zu verdeutlichen, die sich momentan an unserem kritischen Horizont abzeichnen. Wir wissen nur zu gut, dass seit Ulrich Beck niemand ignorieren kann, dass unsere Zeit als eine Zeit der „Risikogesellschaft“ charakterisierbar ist.3 Mit Sicherheit wollen wir keinerlei Vorteile aus einer derartigen Interpretation der Dinge ziehen, obwohl selbst von den Rängen der sogenannten harten Wissenschaften auf wissenschaftliche Daten gestützte Stimmen laut werden, die keine derart katastrophische Vision zeigen. Aber akzeptieren wir, dass wir in einer Risikogesellschaft leben. Das heißt: dass wir in einer Gesellschaft leben, in der das kollektive und individuelle Alltagsleben sich nicht vorrangig durch Sicherheitserwägungen messen und projizieren lässt, sondern eher durch Unsicherheitsformulierungen, und dass eben deswegen das plurale und lineare Spiel des intergenerationellen Wegs auf wesentlich vorsichtigere Weise betrachtet und bewertet werden muss. Es muss mit mehr „Sorge“ bewertet werden. Sorge nicht nur als bloße juristische Kategorie, die sich in Sorgfaltsregeln ausdrückt, sondern vor allem und überwiegend Sorge als onto-anthropologische Tatsache der menschlichen Wesensart. Wir leben, jede menschliche Gemeinschaft aus historisch situierten Frauen und Männern lebt in einem Geflecht sozial- und deswegen auch juristisch relevanter Beziehungen, aber sie lebt, und das sei unterstrichen, unter der unabwendbaren Voraussetzung einer ontologisch bestimmten Sorge-bei-Gefahr-Beziehung. In diesem Sinne sind wir folglich entschiedene Verfechter der starken Idee, dass die „Sorge“ in allen Bereichen unseres kollektiven Handelns ernst zu nehmen ist. Jedoch bedeutet dieses Verständnis der Dinge nicht, dass man ohne weiteres den Strudel der Kriminalisierung akzeptiert, der offenbar die Festung des Umweltschutzes einnehmen will. Damit nun aber die Argumentation strikt auf der Grundlage der Rationalität erfolgt und sich nicht, im einen wie im anderen Sinn, auf bloßen Glauben stützt, ist eine nicht nur formelle, sondern auch materielle logisch-argumentative Verkettung in langsamen, gemessenen Schritten dringend erforderlich. Gehen wir folglich diesen Weg, denn diese Pflicht obliegt uns Akademikern und Individuellen. a) Umreißen wir zunächst den normativen und kritischen Horizont, in dem wir uns bewegen werden. Wir werden uns von nun an vor dem Hintergrund der kritischen Rationalität bewegen und jeglichen mehr oder minder atavistischen Glauben zurückgiebige Verfechten eines liberal verwurzelten Strafrechts. Das Geschick des Seefahrers zeigt sich eben erst beim Segeln gegen den Wind, und nicht bei günstigem Wind. 3 Beck, Ulrich, Risikogesellschaft – Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986, S. 25 f.
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weisen, so wohlmeinend er auch sein mag. Denn in Belangen, die das individuelle und kollektive Leben der Menschen so sehr und auf so vielfältige Weise betreffen, werden wir nicht selten mit Auslassungen und Bestrebungen konfrontiert, die nichts mit der prosaischeren Rationalität zu tun haben und eher dem reinen Glauben anhängen, um es nicht noch radikaler auszudrücken. Man sollte nicht vergessen, denn im Laufe der Geschichte bestand schon immer, wenn wir brisante oder sogar spaltende Sachverhalte oder Themen unseres kollektiven Wesens behandeln, eine Art natürlicher Tendenz, die Dinge ausschließlich schwarzweiß zu sehen und dabei außer Acht zu lassen, dass die Realität mit den möglichen Lösungen, die sie unserem kollektives Zusammenleben bieten kann, nicht anhand dieser binären Logik betrachtet und angesehen werden darf, sondern sich der Vielzahl an Lösungen und Ansätzen öffnen muss. Einheitliche Visionen, einheitliche Vorschläge, Einheitslösungen sind immer Ausdruck eines Einheitsdenkens. Und die Geschichte, wieder einmal die Geschichte, hat gezeigt, dass das Einheitsdenken den Befürwortern der Vorstellung, dass die Lösungen für die Probleme unseres Gemeinschaftslebens als Äußerungen der Vielfalt und des Teilens zu betrachten sind, nicht gut ansteht. Einheitslösungen, die Lieblingskinder des Einheitsdenkens, sind in gewisser Hinsicht nichts weiter als primitive Äußerungsformen einer eugenischen Vorstellung. Man schafft ein ideologisch festgelegtes Muster, und alles muss sich um dieses Muster drehen, von dem man häufig nicht weiß, woher es kommt oder wozu es nützt.4 Ebensowenig wie wir definieren können, wie der „perfekte Mensch“ beschaffen ist, zum Glück, wie man dick und mehrfach unterstreichen sollte – deshalb müssen der Mensch und die Menschheit immer wertgeschätzt werden und die Vielfalt zur Grundlage haben – kann auch die Umwelt nicht als stabiles und starres Muster eingegrenzt werden. Mehr noch: es gab und gibt keine natura naturans, die Natur bestand immer, und das soll auch so sein, natura naturata. Die Erschaffung einer Vorstellung von Natur als „Paradies“ ist, und wir wollen hier nicht redundant sein, eine romantische Äußerung, die in der klassischen aurea mediocritas verwurzelt ist und auf den Festen der Renaissance insbesondere italienischer Nuance ruht. Die Natur war nie ein Paradies, und die menschliche Natur hat im Überlebenskampf, dem unausweichlichen struggle for life, stets ein ausgewogenes Beuteverhalten gezeigt. Hinzu kommt, dass unsere Vorstellung von Natur in natürlichem Zustand wie soeben betont reine Fiktion ist. Sie ist ein Konstrukt. Wir konstruieren immer, sei es im empirischen Sinne (z. B. Dolmen, Pyramiden, Kathedralen), sei es innerhalb des Horizonts gesellschaftlicher Realität (z. B. Sklaverei, Feudalismus, Staatswesen). Somit dürfen wir, obwohl wir heute über Analyse- und Studieninstrumente verfügen, die wesentlich weiter entwickelt sind, nicht vergessen, dass es sich eben um Analyseund Studieninstrumente handelt, die gerade deshalb nicht die Essenz der Dinge be4 Zur Bedeutung des Einheits- oder allerklärenden Denkens s. unseren Titel Faria Costa, José de, Linhas de Direito Penal e de Filosofia – alguns cruzamentos reflexivos, Coimbra: Coimbra Editora, 2005, S. 212, 213 und 217.
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rühren. Was wir heute als katastrophisch betrachten, kann wissenschaftlich und nicht mehr eschatologisch gesprochen morgen durchaus als konsequent und harmonisch erachtet werden. In diesem Sinne muss, wenn das Vorsichtsprinzip für die Entscheidungen gilt, gelten soll, die wir auf dem unergründlichen Feld der Suche nach Erhalt oder Schutz der Umwelt fällen, auch wenn man nicht genau weiß, was das ist,5 es aus Gründen der Vernunft dann auch für die anzustellenden Untersuchungen gelten. Seien wir vorsichtig, „vor-sichtig“ und kündigen nicht bereits für morgen, weil es intellektuell unehrlich wäre, das Armageddon an. b) An zweiter Stelle sei unmissverständlich betont, dass sich unser kollektives Leben in verschiedenen Bereichen abspielt, die, wenn sie auch voneinander unabhängig sind, sich doch gegenseitig überschneiden und beeinflussen. Wir alle wissen, dass das Recht in all seiner Autonomie einer dieser Kernbereiche ist, der aber Verbindungen mit der Politik, Ethik, Moral und sogar mit der Religion eingeht. Daher ist beispielsweise die politische Dimension unserer kollektiven Lebensweise ein äußerst wichtiger Lösungsaspekt, den uns das Leben vermittelt. c) Doch außerdem und als dritter Moment der Reflexion ist das Recht selbst, in seiner Eigenschaft als Multiversum, ein „reales Konstrukt“6, das sich durch die spezifische Lösung der uns als gemeinschaftlich organisierte Frauen und Männer auf ewig belastenden unergründlichen Probleme behauptet und verwirklicht. Manche Differenzierungen hat die Menschheit als ihr historisches Erbe angehäuft. Nicht alles ist zwangsläufig in derselben Weise lösbar. Es kann durchaus geschehen, dass bei augenscheinlich gleichen (aber beispielsweise in historisch sehr unterschiedlichen Epochen entstanden) Problemen die Gemeinschaft unterschiedliche Lösungsversuche für angemessen erachtet. Die Suche nach den besten Lösungen, und die besten Lösungen müssen sich nicht als die einzigen Lösungen herausstellen, kann und muss mithilfe unterschiedlicher und differenzierter Instrumente erfolgen. Wenn wir einen kleinen Bewässerungsgraben umleiten wollen, benötigen wir keine Planierraupe, sondern es genügt eine einfache, prosaische und jahrtausendealte Hacke. Wenn wir die Rate von Bagatelldiebstählen in einem Problemviertel senken wollen, brauchen wir selbstverständlich kein Heer zu entsenden, sondern sollten eher versuchen, den Lebensstandard der Menschen in diesem Viertel zu erhöhen und die Polizeipräsenz auf den Straßen zu verstärken. Wenn wir die Korruption auf ein erträgliches Maß senken wollen, ist es wichtig und wirklich entscheidend, mehr noch als die abstrakten Strafrahmen der 5
Zur Diskussion hinsichtlich Rolle der Vorsicht als Mechanismus des politischen Risikomanagements und als Prinzip des Umweltrechts: Kohout, Franz, Vorsorge als Prinzip der Umweltpolitik – Eine Analyse rechtlicher Instrumente der Umweltpolitik, München: Tilsner, 1995, S. 26 f.; Fleury, Roland, Das Vorsorgeprinzip im Umweltrecht, Köln: Heymanns, 1995, S. 20 f. 6 Zu dieser Kategorie und ihrer real-wahren Opposition siehe unseren Titel Faria Costa, José de, O perigo em Direito Penal (Contributo para a sua fundamentação e compreensão dogmáticas), Coimbra: Coimbra Editora, 1. Aufl. 1992, Nachdruck 2000, S. 317, 368, 396, 454, 511, 564, 565 und 620.
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damit verbundenen Delikte zu verschärfen oder gar neue strafbare Figuren zu schaffen, rasch, konsequent und ohne Umschweife die Straftaten anzuwenden, die von der Staatsanwaltschaft mit Engagement, Eifer und Hingabe aufzudecken und zur Anklage zu bringen und von den Gerichten in beispielhafter Weise zu entscheiden sind. d) Die modernen Gesellschaften, und damit treten wir in den vierten Punkt der verdichtenden Erwägungen ein, organisieren sich bei der Lösung der konkreten Probleme des Lebens im Gegensatz zu ihren Vorgängern, vor allem beispielsweise hinsichtlich der mittelalterlichen öffentlich-gemeinschaftlichen Struktur, nach Sektoren. Und das ist auch heute noch so, in der Zeitlichkeit einer sogenannten postmodernen Gesellschaft oder, wie wir es vorziehen, einer spätmodernen Gesellschaft. Dieses Modell lässt sich diskutieren. Gewiss. Aber solange wir uns in dieser Form organisieren, können wir dieses Modell nicht für alles akzeptieren, was uns interessiert und es folgerichtig für alles verwerfen, für dessen Anwendung es uns offensichtlich nicht interessiert. Wenn wir vertreten, dass die strafbaren Strukturen, d. h., die Tatbestände der gegenwärtigen (hyperkomplexen, pluralen und demokratischen) Gesellschaften das Prinzip der ultima ratio zu respektieren haben, dann kann diese Sichtweise, dieser kritisch-verstehende Horizont, nicht einfach so aufgegeben werden. Nur absolut außergewöhnliche Gründe können den hohen Rang entthronen, den dieses Prinzip in der Nomenklatur, dem Aufbau oder der Architektur unserer demokratisch angenommenen kollektiven Lebensweise innehat oder einnimmt. Und die folgende Frage kann nur so lauten: gibt es diese absolut außergewöhnlichen Gründe denn überhaupt? Oder sind umgekehrt und im äußersten Fall die übrigen Rechtszweige ausreichend und angemessen, um die Umwelt zu schützen? Mit diesen beiden Zwischenfragen berühren wir unseres Erachtens den problematischen Kern der Frage. Versuchen wir im Folgenden, ihn zu untersuchen. Verstärken wir einen Leitgedanken. Das Strafrecht hat eine unbestreitbar onto-anthropologische Dimension: ubi societas, ubi communitas, ibi crimen. Von dieser Tatsache ausgehend, einer Tatsache, die seitens der Kulturanthropologie verdeutlicht und qualitativ durch wissenschaftliche Daten gestützt wurde – vergessen wir hier nicht die außerordentlichen Untersuchungen Lévi-Strauss’7 – wird offenkundig, dass sich das Strafrecht von der ersten Stunde an als ein unverrückbares geistiges Element des außergewöhnlichen Weges zeigt, den der Mensch vor Jahrtausenden angetreten hat. Aber weil es diese wesentliche Eigenschaft besitzt, müssen wir es in besonders sorgfältiger Weise behandeln und dürfen nur in den Fällen auf es zurückgreifen, die den wesentlichen Kern unserer individuellen und kollektiven Lebensweise berühren oder verletzen. Das Strafrecht kann und darf nicht das Allheilmittel für all unsere individuellen und kollektiven Übel sein, die im gemeinschaftlichen Leben auftreten.
7 Siehe hierzu Lévi-Strauss, Claude, Les structures élémentaires de la parenté, Paris, PUF, 1949, mit einer neu durchgesehenen und korrigierten Ausgabe 1967.
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Unsere Erklärung der Welt und unsere Aufgabe, in der Welt einzugreifen, um sie in aufeinanderfolgenden historischen Kontexten zu organisieren und diese Organisation zu erhalten, lassen heute keine monistische Antwort zu, wie sie beispielsweise das Mittelalter hinsichtlich aller seiner Probleme fand. Wie man weiß, verfügte das Mittelalter im Guten wie im Schlechten letztendlich nur über eine einzige Antwort auf alle Fragen der Welt: die Religion, hier die christliche Religion.8 Die Welt hat sich in vielen ihrer Facetten verweltlicht, aber die geradezu anankastische Tendenz, alles auf einer einzigen Säule beruhend erklären zu wollen, ist geblieben. Verlangen wir dem Strafrecht nicht das ab, was es nicht zu leisten vermag. Verlangen wir dem Strafrecht nicht ab, dass es Leuchtturm oder Allheilmittel, oder, im äußersten Fall, Lösung für alles ist. Das Strafrecht darf nicht in Betracht gezogen werden, weil das ein wahrer Rückschritt der Zivilisation, eine neue Religion wäre. Das heißt: ein Element unserer zeitgenössischen Spiritualität, das nicht als ultima ratio, sondern definitiv als prima ratio herangezogen würde. Die Geschichte hat schon erschöpfend bewiesen, dass wir, wenn das Strafrecht „Leuchtturm“ ist (oder „Leuchtturm“ sein soll), schnell auf eine abwärts führende Bahn hin zur Degradierung der Grundrechte und Garantien eines demokratischen Rechtsstaats geraten, die uns unaufhaltsam zu den brutalsten Formen der Diktatur führt. Eine weitere Erwägung in dieser Hinsicht. Was uns umgibt und daher unbestreitbar beeinflusst, ist alles. Von den Vorstellungen über die Werte, die Architektur, die Kunst, die Literatur, die Musik, das Leiden, die Angst können wir zur sogenannten „Natur“ gelangen.9 Alles, was uns beeinflusst, ist Umwelt. Aber wir, d. h., die Menschheit, beeinflussen ebenso alles und in dieser Hinsicht sind wir, ob wir wollen oder nicht, ebenfalls Umwelt. Und folglich sind, wenn wir intellektuell ehrlich sind, aus dieser Perspektive in ihrer Radikalität nur zwei Sichtweisen möglich: entweder wir gehen von einem anthropozentrischen, aber in der Hauptsache historischen Verständnis aus, oder wir setzen bei einer isonomisch wertenden Sicht bezüglich aller Lebewesen an. Aus Gründen der Überzeugung und der Vernunft verfechten wir ein anthropozentrisches Verständnis der Welt. Einer Welt von historisch situierten Frauen und Männern. Einer Welt der Inklusion, des Gleichgewichts, des Respekts vor Tieren, der Annahme unserer Pflichten gegenüber allem, was uns umgibt, doch definitiv einer Welt, die auf den Menschen zugeschnitten ist, wodurch wir zumindest in diesem präzisen Bereich von all denjenigen abrücken, die von einem posthumanistischen Verständnis sprechen und es verteidigen. Mit anderen Worten: ein posthumanistisches Strafrecht, wie heute der Posthumanismus vertreten wird, wäre alles andere als ein auf dem Schuldprinzip basierendes Strafrecht, sondern eher ein sekundäres, in Sicherheitsmaßnahmen verankertes Recht. Und weil wir so denken, vertreten wir, dass das Strafrecht anthropozentrisch begründet ist, und er-
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S. erneut Fn. 4. Hierzu s. Natali, Lorenzo, Green Criminology (Prospettive emergenti sui crimini ambientali), Torino, G. Giappichelli Editore, 2015, S. 301 – 309. 9
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kennen ihm seine onto-anthropologische Eigenschaft zu.10 Ein letztes Wort in dieser Hinsicht. Wer das soeben Geäußerte als Äußerung einer unerträglichen ahistorischen Ontologifizierung des Strafrechts bewertet oder verurteilt, verfehlt das Ziel der Kritik völlig. Ganz im Gegenteil. Unser Verständnis und unsere Begründung des Strafrechts sind immerwährend historisch. Außerhalb der Geschichte existiert nichts. Nun zeigt uns die Geschichte aber, dass es ohne Strafrecht auch keine Geschichte gibt. So einfach ist das. Es gibt, wie wir denken, eine Sinneinheit in der Form, wie wir die Realität sehen. Und die einzige Realität, die uns interessiert, ist die historische Realität, der wir nicht entkommen. Somit erstreckt sich unsere Verantwortung als moralische Wesen auch auf die Zukunft.11 Daher die Bedeutung der Frage, die uns hier und heute fesselt. In dieser Perspektive – und wir denken, das ist unzweifelhaft klar geworden –, ist das Strafrecht nicht irgendein Instrument, das den Umständen entsprechend einsetzbar ist. Das ist es zwar auch, aber darüberhinaus noch viel mehr. Es ist eine Tatsache unseres individuellen und kollektiven Lebens. Wir denken, dass anhand der gerade angestellten Erwägungen unsere moralische Pflicht gegenüber allem, was uns umgibt, deutlich wird. Gewiss, aber moralische Pflicht, weil wir moralische Wesen sind. Wir wissen jedoch, dass das Strafrecht keinerlei Moral oder Sittlichkeit verteidigen oder schützen soll, sondern eher und definitiv Rechtsgüter.12 Das ist der springende Punkt. Das ist die eigentliche Frage. Die Verdichtung eines Teils der Wirklichkeit in ein Rechtsgut – und die Geschichte des Strafrechts ist ein ausreichender Nachweis dieser Wirklichkeit – erfolgt durch den Vorgang der Neukriminalisierung. Das Problem besteht darin in Erfahrung zu bringen, wann die Verdichtung dieses Stücks axiologisch wertender Wirklichkeit die unleugbare Würde eines strafrechtlichen Rechtsguts erlangt. Des Rechtsguts mit einer derart hohen axiologischen Dichte, dass es zwangsläufig unter den Schutz des Strafrechts fällt. Das impliziert das Eingeständnis – und das ist in diesem Zusammenhang besonders wichtig –, dass weniger dichte Rechtsgüter beispielsweise durch das bloße Ordnungswidrigkeitsrecht ge-
10 So bereits in unserem Faria Costa, José de, Linhas de Direito Penal e de Filosofia – alguns cruzamentos reflexivos (Fn. 4), S. 30 f. und, erheblich früher Faria Costa, José de, O perigo em direito penal, ob. cit., (Fn. 6). Das gesamte Buch basiert auf einem Verständnis und einer Begründung des Strafrechts, das der onto-anthropologischen Dimension seine Wurzeln wie auch seine Flügel verdankt. 11 Hinsichtlich der schwindelerregenden Besorgnis des Rechts nicht nur um das „heutige Opfer“, sondern auch und vor allem um das „Opfer von morgen“: Stella, Federico, Giustizia e Modernità – La protezione dell’innocente e la tutela delle vittime, 3. Aufl., Milano: Giuffrè, 2003, S. 96 f., 515 f. 12 Von besonderem Interesse sind in diesem Zusammenhang die Überlegungen SammüllerGradls in ihrem Buch Sammüller-Gradl, Hanna, Die Zurechnungsproblematik als Effektivitätshindernis im deutschen Umweltstrafrecht, Berlin, Duncker & Humblot, 2015, insbesondere S. 77 – 79.
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schützt werden können.13 Das soll strenggenommen heißen, dass das Heranziehen des Ordnungswidrigkeitsrechts unbedingt eine gültige erste Alternative im Kampf um die Erhaltung der Umwelt ist. Weder sagen noch vertreten wir, dass es bei dieser Grenze bleiben soll. Sondern dass die auf der vorsichtigen Logik schrittweisen Vorgehens aufbauende Entwicklung einer Strafbarkeit in jeder Hinsicht eine begrüßenswerte Art der Gesetzgebung ist. 3. Nachdem wir an den besonders wichtigen Punkten verdichtet und hervorgehoben haben, was Strafrecht ist, müssen wir uns fragen, ob die Umwelt nicht doch unter der Obhut des Strafrechts stehen sollte. Und diese Frage bejahen wir ohne jeden Zweifel. Jedoch ist jetzt zu hinterfragen, wie diese Obhut oder dieser Schutz in strafrechtlicher Hinsicht zu erfolgen haben. Doch betrachten wir die Dinge etwas näher. Es lässt sich selbst seitens der weniger Aufmerksamen nicht abstreiten, dass manche Stücke unserer Wirklichkeit, ob städtisch oder ländlich, Schutz verdienen. Ihr Zerfall ist so offensichtlich, dass ihn verbergen zu wollen nicht nur eine Dummheit wäre, sondern, was in ethischer Hinsicht schlimmer ist, in hohem Grade tadelnswert. In derselben Weise, wie es derart brutale Angriffe gibt, die so erhebliche Schäden verursachen, dass es absurd wäre, sich nicht auf das Strafrecht zu berufen, da es sich um Schäden infolge von Angriffen handelt, bei denen sich das Zivilrecht oder das Verwaltungsrecht nicht als ausreichend erweisen, und in eben diesem Sinne und innerhalb der gesamten Logik eines demokratischen Rechtsstaates ist die Berufung auf das Strafrecht geboten. Zudem gibt es arglistige Formen der Zerstörung labiler Gleichgewichte (vergessen wir nicht, dass sich alles in der natura naturans oder selbst in der natura naturata in labilem Gleichgewicht befindet), die von der Wissenschaft aufgedeckt und bekannt gemacht werden können, damit das Strafrecht gegebenenfalls eingreifen kann. Denken wir hinsichtlich dieses letzten Aspekts an die heute sogenannten „Kumulierungskontexte“14. Ebenso wie der Sinn und Zweck des strafrechtlichen Schutzes von Segmenten des kollektiven Rechtsguts Umwelt nicht angefochten werden darf, ist es unseres Erachtens auch wahr, dass ein solcher Schutz nur in absolut schutzwürdigen Situationen aktiviert werden darf. Nur und ausschließlich. Jeglicher Versuch, Stücke der Wirklichkeit strafrechtlich zu schützen, die sich außerhalb dieses Schutzbereichs befinden, läuft Gefahr, flagrant verfassungswidrig zu sein. Mit dieser Einschränkung wenden wir uns wieder der Art und Weise zu, wie diese werthaltigen Stücke der Umweltrealität zu schützen sind. Letztendlich müssen wir uns hier mit der sogenannten Fragmentarität 2. Grades auseinandersetzen.15 13 Über den Sinn und die Rechtsgrundlagen dieses Zweigs des rechtlichen Multiversums: Vilela, Alexandra, Direito de Mera Ordenação Social: entre a ideia de „recorrência“ e a de „erosão“ do Direito Penal Clássico, Coimbra: Coimbra Editora, 2013, passim. 14 Hinsichtlich der Idee der Kumulierung bei Umweltstraftaten s.: Kuhlen, Lothar, Umweltstrafrecht – auf der Suche nach einer neuen Dogmatik, ZStW 105 (1993), 716 f. 15 Zu dieser Unterscheidung zwischen Fragmentarität 1. und 2. Grades s. unseren Titel Faria Costa, José de, O perigo em Direito Penal (Fn. 6), S. 194, 254, 258 f. sowie unsere Faria
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In dieser Hinsicht sei zu bestätigen, dass der Gesetzgeber sich des gesamten als angemessen erachteten Instrumentariums bedienen soll. D. h., nur, weil wir uns im Bereich des Umweltstrafrechts befinden, darf noch lange keine Einschränkung des modus aedificandi criminis unterstellt werden. Mehr noch. Wenn die Öffnung, die wir hinsichtlich des Konstruktionsmodus verschiedener auf den Umweltschutz abzielender Tatbestände vertreten, in ihrem umfassenden Sinn verstanden werden soll, dann ist es auch unbestreitbar, dass der Gesetzgeber sich nicht auf die stereotypen Formen der Inkriminierung in diesem Bereich zu beschränken braucht. Wir denken hier an die bestehende Tendenz, die Strafbarkeit dieser Normativität der abstrakten Gefährdungsdelikte hemmen zu wollen. In der Tat geht man davon aus, dass die Umwelt durch die Schaffung abstrakter Gefährdungsdelikte in wirksamster und konsequentester Weise strafrechtlich geschützt wird. Wir sind weit davon entfernt, diese hypothetische Tatsache als unmissverständliche Wahrheit zu erachten. Es kann durchaus geschehen, dass je nach zu schützenden Segmenten des Rechtsguts Umwelt eine klassische frei begangene Straftat unter Umständen wirksamer ist, oder dass ein abstraktes Gefährdungsdelikt hinsichtlich einer anderen zu schützenden kritischen Situation die konsequenteste Form des Kampfs gegen die Über- und Angriffe auf die Umwelt ist.16 Zu alledem kommt noch hinzu, dass der Gesetzgeber auch über die Möglichkeit verfügt, sich als erster Vorgehensweise des Ordnungswidrigkeitsrechts zu bemächtigen. Dieser geschmeidigere, aber in seiner Konstruktion raschere und gegenüber wissenschaftlichen Feststellungen empfänglichere Zweig des Rechts ist unseres Erachtens zweifellos der für Umweltschutz geeignetste Strafbarkeitsbereich. Der Gedanke, dass die Verwendung oder Anwendung des Ordnungswidrigkeitsrechts zur Bekämpfung der mit Angriffen auf die Umwelt verbundenen Kriminalität Symptom einer minderen axiologischen Wertschätzung dieser An- oder Übergriffe auf das Stück Wirklichkeit sein könnten, das wir Umwelt nennen, heißt, die Macht und Würde des Ordnungswidrigkeitsrechts nicht zu verstehen. Aber mehr noch: es heißt, in der Strafrechtsordnung in ihrer tiefsten Globalität eine Wertehierarchie beispielsweise zwischen dem klassischen Strafrecht, dem Nebenstrafrecht und dem Ordnungswidrigkeitsrecht sehen zu wollen. Was wir uns vor Augen halten müssen, ist die „Wissenschaft des globalen Strafrechts“, das globale Strafrecht, so, wie wir es seit langem verstehen.17 Und dieses Recht, ein globales Strafrecht, müssen wir um Unterstützung im Kampf gegen die Umweltzerstörung bitten, als ultima oder extrema ratio, und nicht als prima ratio. Costa, José de, Linhas de Direito Penal e de Filosofia – alguns cruzamentos reflexivos (Fn. 4), S. 21 f. 16 Zum Zusammenhang supraindividueller Rechtsgüter und der Deliktsstruktur: Hefendehl, Roland, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, Köln: Heymanns, 2002, S. 147 f. Ebenso, aber im Licht unseres onto-anthropologischen Verständnisses des Strafrechts: D’Avila, Fabio, Das Unrecht der Umweltdelikte – Einige Reflexionen über den Angriff auf Rechtsgüter im Bereich des Umweltstrafrechts, GA 2011, 578 f. 17 Und in unserem jüngsten Faria Costa, José de, Direito Penal, op. cit., (Fn. 1), S. 45 f.
On Ecocrimes and Ecocide in the Global Risk Society Function and Limits of Environmental Criminal Law from the Perspective of the Association Internationale de Droit Pénal By José-Luis de la Cuesta*
I. Established in Paris in 1924 in order to continue with the program and efforts developed during two decades by the International Union of Penal Law (founded in 1889 in Vienna by Franz von Liszt, Gérard Van Hamel and Adolphe Prins), the Association Internationale de Droit Pénal (AIDP) is the oldest and most prestigious academic platform in the field of criminal justice,1 pursuing “the exchange of ideas and cooperation between academics, practitioners and policy makers of various countries” (Art. 3 By-Laws) in order to promote the progress of criminal “legislation and institutions” and “a more humane and efficient administration of justice” (Art. 2). Among the many other academic activities of the AIDP, the International Congress, which takes place every five years, constitutes a major milestone in the life of the Association, since it defines the academic cycle of the AIDP. This begins with the definition of the topics of the (traditionally) four International Colloquia – General part; Special part; Criminal procedure; and International Criminal Law; the resolutions and recommendations of such colloquia are submitted to the following Congress and General Assembly. The selection of the topics in the last decades shows the interest of the AIDP in the debate on the changes and limits of penal law and crime control in the global risk
* University of the Basque Country (UPV/EHU), Spain (GICCAS; IT 1372 – 19). English translation by Dr. Miren Odriozola, Lecturer in Criminal Law, University of the Basque Country (UPV/EHU). 1 de la Cuesta, José-Luis/Ottenhof, Reynald, Un effort centenaire au service de la réforme pénale, de la justice pénale internationale et de la paix: L’Association Internationale de Droit Pénal, in: Revue Internationale de Droit Pénal, vol. 86 3 – 4, 2015, pp. 1221 ff.
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society, where the emergence of security law and its “new architecture”2 is the utmost result of the relevant “paradigm shift”.3 Environmental criminal law was one of the first fields (together to economic criminal law) where the need to assure a more effective prevention pushed4 the traditional criminal law standards and techniques to its limits, advancing the barriers of protection through the recognition of new collective legal values and the expansion of abstract endangerment offences.
II. Soon after the United Nations Conference (Stockholm, 1972), and following the pioneering example of the Council of Europe,5 the protection of the environment was the topic selected for the Preparatory Colloquium organized by the Polish National Group in Jablonna (1978).6 The results of this Colloquium were discussed in Section II of the Twelfth International Congress of Penal Law (Hamburg, 1979), producing a complete set of recommendations,7 both at national and international level, in order to guide the legislator with regard to the introduction of new specific offences to face the most serious attacks against the environment. Environmental protection was again studied at the Preparatory Colloquium held in Ottawa in 1992. Addressing the issue from the perspective of the General Part,8 it prepared the work of Section I of the Fifteenth International Congress of Penal Law
2 Sieber, Ulrich, The New Architecture of Security Law: Crime Control in the Global Risk Society, in: Sieber/Mitsilegas/Mylonopoulos/Billis/Knust (eds.), Alternative systems of crime control: national, transnational, and international dimensions, Duncker & Humblot, Berlin 2018, pp. 1 ff. 3 Sieber, Ulrich, Der Paradigmenwechsel vom Strafrecht zum Sicherheitsrecht: Zur neuen Sicherheitsarchitektur der globalen Risikogesellschaft, in: Tiedemann/Sieber/Satzger/Burchard/Brodowski (eds.), Die Verfassung moderner Strafrechtspflege. Erinnerung an Joachim Vogel, Nomos, Baden-Baden 2016, pp. 351 ff. 4 Sieber, Ulrich, Grenzen des Strafrechts, in: Zeitschrift für die Gesamte Strafrechtswissenschaft, vol. 119(1) (2007), pp. 1 ff. 5 Conseil de l’Europe, La contribution du Droit Pénal à la protection de l’environnement, Strasbourg 1978. 6 Revue Internationale de Droit Pénal, vol. 49 (4), 1978. 7 de la Cuesta, José-Luis/Blanco-Cordero, Isidoro (eds.), Résolutions des Congrès de l’Association Internationale de Droit Pénal (1926 – 2014)/Resolutions of the Congresses of the International Association of Penal Law (1926 – 2014)/Resoluciones de los Congresos de la Asociación Internacional de Derecho Penal (1926 – 2014), Revue Internationale de Droit Pénal, 86(1 – 2), 2015, pp. 99 ff. 8 Revue Internationale de Droit Pénal, vol. 65 (3 – 4), 1994.
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(Rio de Janeiro, 1994), whose resolutions9 took particularly into account the recommendations of various instances of the United Nations and the Council of Europe. In 2010 a declaration on the “The protection of the environment through criminal law” was presented by the AIDP and the Siracusa Institute (ISISC) to the Twelfth United Nations Congress on Crime Prevention and Criminal Justice held in Salvador de Bahia.10 Point 14 f the “Salvador Declaration on Comprehensive Strategies for Global Challenges: of Crime Prevention and Criminal Justice Systems and Their Development in a Changing World”11 recognized the threat posed by increasing criminal attacks on environment, and thus encouraged “Member States to strengthen their national crime prevention and criminal justice legislation, policies and practices” and “to enhance international cooperation, technical assistance and the sharing of best practices in this area”; and invited “the Commission on Crime Prevention and Criminal Justice, in coordination with the relevant United Nations bodies, to study the nature of the challenge and ways to deal with it effectively”. Last but not least, in 2016 an AIDP World Conference on the Protection of Environment through Criminal Law was organized in Bucharest12 in order to examine old and new developments of the criminal law approach in the fight against a form of criminality which is closely linked to economic (and corporate)13 crime and occupies “the fourth position amongst international illicit activities (after drug trafficking, counterfeiting, and human trafficking)”.14
III. The worthiness, necessity and susceptibility of protection of the environment by the means of penal law has never been questioned in the AIDP. On the contrary, firmly convinced that “short-term economic interests” should never prevail over “the longterm ecological interests” (Hamburg, 19), the AIDP has repeatedly insisted on the urgency of facing the “degradation of the environment caused, inter alia by the com9 de la Cuesta/Blanco-Cordero (eds.), Résolutions des Congrès de l’Association Internationale de Droit Pénal (note 7), pp. 369 ff. 10 Vervaele, John A.E., International cooperation in the investigation and prosecution of environmental crime. Problems and Challenges for the Legislative and Judicial Authorities, in: Revue Internationale de Droit Pénal, 87(1), 2016, pp. 251. 11 https://www.unodc.org/documents/crime-congress/12th-Crime-Congress/Documents/Sal vador_Declaration/Salvador_Declaration_E.pdf. 12 de la Cuesta, José-Luis/Quackelbeen, Ligeia/Persak, Nina/Vermeulen, Gert (eds.), Protection of the Environment through Criminal Law (AIDP World Conference, Bucharest, Romania, 18th-20th May 2016), Revue Internationale de Droit Pénal, 87(1), 2016. 13 Particularly, at international level, Nieto-Martín, Adán, Bases para un futuro derecho penal internacional del medio ambiente, in: Revue Internationale de Droit Pénal, vol.82 3 – 4, 2011, pp. 477 ff. 14 de la Cuesta, José-Luis, Protection of the Environment through Criminal Law. Final Recommendations, in: Revue Internationale de Droit Pénal, 87(1), 2016, p. 343.
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mission of crimes against the environment contrary to national and international laws” (Rio de Janeiro, Preamble). And it stated that – even if “the principal role belongs to non-penal disciplines” (Hamburg, 3) – the contribution of penal law to the protection of the environment is not only possible, but can also be essential for the purpose of establishing appropriate means of reaction and sanction, provided that coordination and cooperation, both at national and international level, are assured (Hamburg, 2). Based on this perception, the Eleventh and Fifteenth International Congresses and the 2016 World Conference in Bucharest worked on the key issues of a fundamental debate: the rationale and limits of environmental criminal law. The resulting comprehensive set of guidelines and principles reflect the position of the Association in this field, where penal instruments are usually expected to contribute to a better prevention of dangers (and not only to deal with damages).15 1. The definition of the extension (and borders) of the conditions to be protected constitutes the necessary point of departure for criminal intervention. The issue is particularly important concerning the environment, since it is a concept subject to an extensive doctrinal debate. Following a moderate restrictive perspective, the Resolutions of the AIDP Congresses identify “environment” with “all components of the earth, both abiotic and biotic:” i. e. “air and all layers of the atmosphere, water, land, including soil and mineral resources, flora and fauna, and all ecological inter-relations among these components” (Río, 1). The concept is linked to the “sustainable development” and the “precautionary principle”; the respect for these fundamental axioms “by all natural persons and private and public entities involved in activities that have the potential to harm the environment” is to be ensured by “States and society (…) as far as possible” (Río, 4). 2. Simultaneously – and since, as already said, other disciplines assume here a more prevalent position – relying on empirical research is deemed essential to define the various levels which constitute the appropriate “multi-tiered enforcement approach” (administrative, civil and criminal), within which penal intervention should be limited to “the most serious violations” (Bucharest 1). In this respect, “auxiliary” reinforcing the “efficacy” of administrative or civil law was initially accepted as a penal law function, together with its “independent role in cases of serious attacks on the environment” (Hamburg, 3); however, AIDP’s approach underwent an important evolution and the penal sanctioning of mere disobedience of administrative rules was considered in Rio an insufficient basis for a sentence involving deprivation of freedom or the punitive closure of an enterprise (7) and it was declared ineligible to “constitute a criminal offence” in Bucharest “in the absence of any potential or at least hypothetical endangerment” (2a). In addition to “the (abstract and concrete) endangerment of ecological values in violation of administrative obligations” (Bucharest, 2a), “the production of harmful re15 de la Cuesta, José-Luis, Ecología y Derecho Penal, in: Beristain/De la Cuesta (eds.), Las drogas en la sociedad actual y Nuevos horizontes en Criminología, San Sebastián 1985, pp. 277 ff.
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sults” is naturally the object of incrimination according to the AIDP (Bucharest, 2b); this should always be respectful of the “general principles of criminal law such as the legality and more specifically the lex certa principle” (Bucharest, 5) and therefore, define in a clear and precise way “their key elements”, whose determination should not be left in the hands of “subordinate delegated authorities” (Río, 22). The production of harmful results is to be recognized as an environmental crime, “irrespective of the violation of administrative obligations” (Bucharest, 2b), following the fundamental principle that “the more serious and concrete the danger and harm to the environment and/or human health resulting from environmental crime, the less influence administrative law should have as a condition for criminal liability” (Bucharest 7). In this sense, legislators should also regulate the impact on criminal liability of the presence of licenses (and/or permits) or of the fact of having respected the administrative limits or prescriptions, thus restricting the mitigating (or even exempting) effects of “compliance with the terms of a license or permit or with standards and prescriptions laid down in regulations”, particularly in cases where “an accused acted or omitted to act, knowing that serious harm to the environment would likely result, and such harm does in fact result” (Río 10). Furthermore, since in many legislations there are “not significant distinctions” between the acts which generate criminal enforcement and those that could result in civil or administrative enforcement”, the AIDP demands more intensive efforts in order to assure “greater clarity on which violations are criminal;” and, “where prosecutorial discretion is admitted”, it recommends to require the presence of additional elements “to warrant criminal enforcement”, such as: a “significant environmental or public health danger or harm”, a “deceptive or misleading conduct”, “operating in a clandestine way” (completely outside the regulatory system) and/or “repetitive or continuous violations” (Bucharest, 6). 3. Concerning the protection model, in Rio (21) the option of including environmental penal provisions in the national penal codes was clear for the “core crimes against the environment” – i. e. those “sui generis”, not depending “on other laws for their content”. However, in 2016 the point was to give them “a prominent place in the legislative framework”, admitting that this could be assured either via the penal code or through “a special environmental statute” (Bucharest, 4). 4. As it has been generally acknowledged, addressing environmental infractions requires a “broad gamut of sanctions” (including civil and administrative measures), and the role of penal sanctions within this is to be applied consistently “with the principle of restraint”: when other “civil and administrative sanctions and remedies are inappropriate or ineffective to deal with particular offences against the environment” (Rio, 11). Furthermore, the “toolbox of effective penalties” (Bucharest, 8) should include, in addition to prison – to be limited to the most serious cases (Hamburg 8) – or fines, the use of “the temporary interdiction of production, the closure of the enterprise, professional interdiction, publicizing the conviction …” (Hamburg 8), that can help in pro-
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viding a sufficiently “dissuasive and proportionate” answer (Bucharest, 9) not only to the various levels of seriousness and intervention, but also to the presence of “knowledge, intent, recklessness (dolus eventualis or culpa gravis or its equivalent in national laws)” or even, “where serious consequences are in issue, culpable negligence” (Rio, 9). Complementary sanctions are also deemed very useful in order to reinforce the compensation of harm and the prevention of future damages (Bucharest, 8). 5. Criminological studies have repeatedly underlined the enforcement deficit of penal legislation related to environmental offences. In order to overcome this problem, the AIDP suggests the development of “smart” enforcement tools based, inter alia, on ex ante risk assessment and ex post evidence-based targeting” (Bucharest 11), insisting in the need for and usefulness “of databases on environmental offences and law enforcement performances (…) in order to ensure the predictability of the criminal repression of environmental offenses” (Bucharest 12); a firmer support of “expert evidence” (with the approval of “general criteria guidelines” of assessment) is also demanded, taking into account its “crucial” usefulness at procedural level and its “high technical and factual complexity” (Bucharest 16 – 17). The establishment of research and prosecutorial units and specialized judicial organs should also be encouraged (Bucharest 18), along with the extension of “the use of special investigation techniques” (particularly, regarding “environmental crimes within organized structures”). However, relying “exclusively (…) on the statutory penalty provided for the environmental crime” should not be considered enough to assess “the proportionality test for granting the use of special investigation techniques” (Bucharest, 19). Additional elements foreseen by the AIDP resolutions to ameliorate the results in prosecution relate inter alia to the reinforcement of the public opinion’s conscience on the relevance of these offences, which is essential to improve prevention (Hamburg, 9), and to opening spaces to the citizen participation (Rio 24), allowing “citizens’ lawsuits” and legal action by “NGOs working in the field of environmental protection” (Bucharest 14 – 15). 6. Legal responsibility of (or within) corporations has also been addressed by AIDP resolutions since 1979, when the great incidence of “juridical persons and private, public or State enterprises” in most of the “serious attacks” against the environment was fully acknowledged (Hamburg 6). Criminal liability of corporations for environmental offences was examined more in depth in Rio de Janeiro (12 – 20) and it has been ratified in 2016 in Bucharest. Considering that “prosecuting corporations is necessary to address the corporate culture and organizational defects that give rise to violations and to ensure that corporate management will be involved in addressing criminal misconduct by the company”, the World Conference concluded that “both, corporations and individuals should be held accountable for criminal violations of environmental laws in an independent and autonomous way” (Bucharest 19). The criminal liability of companies needs to rely on: “acts (a) of their employees or agents; (b) committed within the scope of the employment or agency; and (c) committed for the benefit of the corporation”; but mitigation (not exemption) of the penalty could be granted if corporations “voluntarily disclose violations and/or cooper-
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ate during criminal investigations” (Bucharest 23). Regarding managers and directors, the AIDP recommends “the adoption of the responsible corporate officer doctrine” in order to hold corporate officers, “at the highest possible levels within the corporation,” responsible for their “failure” in preventing violations and assuring compliance (Bucharest 22); in any case, it was deemed necessary in Rio de Janeiro to specify in the domestic laws “as clearly as possible the criteria” of individual responsibility “for ensuring compliance” in order “to minimize the risk of injustice arising from uneven application of laws concerning offences against the environment” (Rio 14 – 15). 7. The extraterritorial nature and incidence of many environmental attacks fully justify the traditional demand for the extension of territorial jurisdiction by states, whose implementation “on the basis of the effect theory at least for certain environmental offences (such as e. g. ship pollution or trans-border radiation)” was again referred to in 2016 (Bucharest, 24). The enforcement of extraterritorial jurisdiction can also be helpful “in order to prevent and tackle delocalization (…) to regions where lower environmental standards apply” (Bucharest 25; also 26 – 27). Nevertheless, an appropriate protection of environment requires further and deeper efforts at transnational and international levels. In addition to the intensification of the exchange of information on attacks that “affect the international community” (Hamburg, 15) and the development of a “pro-active criminal policy strategy” with the purpose of reinforcing “intelligence-led policing related to potential serious violations of ecosystems” (Bucharest, 31), the improvement of international mechanisms of police and judicial cooperation and mutual assistance in criminal matters – assuring extradition “in cases of serious violations of the environment” (Bucharest 9) and with full guarantee of “the rights of suspects and victims” – continues to be essential; involving the civil society (specialized NGOs, reliable business actors) in the strategies continues to be essential as well (Bucharest, 28). Already in 1979, the urgency to adopt regional and universal conventions or codes was also underlined to “serve as model for national laws” (Hamburg 14) or to facilitate the prosecution of extraterritorial offences, with a common “minimum standard” (Bucharest 29); to prevent “safe havens” (Bucharest 29) and to solve eventual conflicts of jurisdiction resulting “from the unilateral application of national laws” (Hamburg 16), following an agreed order, such as: “the flag principle; the principle of nationality; the principle of extradite or prosecute; and, in cases of generally acknowledged international crimes, the principle of universality” (Rio 26). Last but not least, the demand for the recognition of the most serious (and intentional) aggressions against environment as international crimes (submitted to a supranational penal jurisdiction; Hamburg, 17; Río, 28) has been another constant matter in the AIDP guiding principles (Hamburg, 13), particularly if “more than one national jurisdiction” or “the global commons outside any national jurisdiction” are affected (Rio 23). In this sense, the 2016 World Conference recommended the incrimination of “environmental war crimes in non-international armed conflicts
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and introducing universal jurisdiction on environmental war crimes” (Bucharest 32), and it required the “prosecution of ecocides by the ICC” as well (Bucharest 33).
IV. As an expression of the agreement of the penal law community on the principal elements that should be considered to implement an adequate protection of environment through penal law, the already explained guidelines constitute a fundamental contribution of the AIDP. Its influence on the environmental criminal policy of many countries can be easily verified having a look at the sources of many penal reforms. Certainly, due to their own nature, the guidelines only refer to the main points which define a criminal policy and leave many issues open to new developments and debates. This is in particular the case of the protection of environment by international criminal law, where – notwithstanding the demands coming from different instances and entities (among them, also, from the AIDP) – the lack of a universal convention and the (continuing) non-recognition of ecocide as an international crime appear as fundamental deficits at the global level. 1. Leaving aside other bilateral or multilateral instruments on particular environmental sectors or elements16 – whose provisions “very rarely”17 generate state duties to incriminate certain behaviours, and are characterized by their inefficacy and low implementation level –,18 the first example of a binding convention already emerged in 1988, when the Council of Europe passed a Convention on the Protection of Environment through Criminal Law (ETS 72).19 Inserted in a combined program of efforts, a global multilateral convention of this kind should be based on the ultima ratio nature of the penal instrument, it should define the main common parameters of incrimination and sanction of natural and legal persons (whose place in the “epicentre of the international criminal law of environment”20 is still waiting for recognition) in order to avoid undesirable divergence of 16 de la Cuesta, José-Luis, La contaminación del mar: crimen internacional, in: de la Cuesta/Fernández-de-Casadevante (eds.), Protección internacional del medio ambiente y Derecho ecológico, Bilbao 1987, pp. 123 ff. 17 Vervaele, International cooperation in the investigation and prosecution of environmental crime (note 10), p. 246. 18 Bachmaier, Lorena, Obstacles to prosecution of environmental crimes and the role of expert evidence. A comparative approach, in: Revue Internationale de Droit Pénal, 87(1), 2016, p. 192. 19 Having received only 3 ratifications, it never entered in force, although its influence was clear at the European Union level as key inspiration for the first Framework Decision 2003/80/ JHA on the protection of the environment through criminal law. 20 Nieto-Martín, Bases para un futuro derecho penal internacional del medio ambiente (note 13), p. 498.
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legislations and assure minimum standards of protection (and sanction).21 It should also concentrate on the supranational aspects of environmental offences, including international models of wilful compliance as a realistic way to face the “greatest challenge”of present environmental criminal policy: “the effectiveness of the enforcement system”.22 Priority should also be given in this text to the efforts to overcome the traditional obstacles to prosecution and international cooperation in criminal matters,23 as well as to the regulation of jurisdictional principles (with the recognition of universal jurisdiction or, at least, supplementary justice)24 and the resolution of conflicts and problems of ne bis in idem.25 The Project of a multilateral convention on eco-crimes, presented by the team directed by Laurent Neyret,26 covers broadly these requirements and deserves being specifically mentioned in this context. 2. Being a “crucial point of the international criminal policy in this field”,27 international instruments should also define ecocide28 as an international crime:29 independent from war crimes,30 falling under the competence of a specialized internation21 Ligeti, Katalin/Marletta, Angelo, Smart enforcement strategies to counter environmental crime in the EU, in: Revue Internationale de Droit Pénal, 87(1), 2016, p. 146. 22 Faure, Michael, Limits and challenges of the criminal justice system in addressing environmental crime, in: Revue Internationale de Droit Pénal, 87(1), 2016, p. 32. 23 Following the example of international instruments applicable in other fields, such as organized crime, whose implication in environmental issues is, as already stated, more and more perceptible; Van Uhm, Daan P., A Green criminological perspective on environmental crime: the anthropocentric, ecocentric and biocentric impact of defaunation, in: Revue Internationale de Droit Pénal, 87(1), 2016, p. 323. 24 de la Cuesta, La contaminación del mar: crimen internacional (note 16), p. 132. 25 Vermeulen, Gert, International environmental norms and standards: compliance and enforcement. Promoting extensive territorial jurisdiction, corporate chain responsibility and import restrictions, in: Revue Internationale de Droit Pénal, 87(1), 2016, pp. 45 ff.; Vervaele, International cooperation in the investigation and prosecution of environmental crime (note 10), pp. 250 ff. 26 Together with another Draft Convention on Ecocide. Neyret, Laurent (ed.), Des écocrimes à l’écocide. Le droit pénal au secours de l’environnement, Bruylant, Paris 2015, pp. 267 ff. and 285 ff., respectively; cf. http://blog.uclm.es/repmult/files/2019/12/EcocideGB072016.pdf for the English version of both drafts (pp. 8 ff. and 26 ff.). 27 de la Cuesta, José-Luis, El derecho al ambiente: su protección por el Derecho penal, in: eRIDP 2017, A-05. 28 On the evolution of the concept of “ecocide”, Higgins, Polly/Shirt, Damien/South, Nigel, Protecting the planet: a proposal for a law of ecocide, Crime Law Soc Change, 59, 2013, p. 256 f. Berat, Lynn, Defending the Right to a Healthy Environment: Toward a Crime of Geocide in International Law, in: Boston University International Law Journal 11, 1993, p. 327, prefers the term “geocide”. 29 Gray, Mark Allan, The International Crime of Ecocide, in: California Western International Law Journal, 26(2), 1995, p. 215 ff. 30 Article. 8 2 b) of the ICC Statute already includes among war crimes “intentionally launching an attack in the knowledge that such attack will cause (…) widespread, long-term and severe damage to the natural environment which would be clearly excessive in relation to the concrete and direct overall military advantage anticipated.”
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al prosecutor31 and under ICC jurisdiction (or, at least, of an international criminal jurisdiction established with this specific purpose). Among precedent efforts to achieve this fundamental goal, leaving aside Falk’s draft international convention on the crime of ecocide and the experience of the Project of Articles on State Responsibility of the International Law Commission,32 Bassiouni’s Project of an International Criminal Code needs to be highlighted in the context of AIDP. In its second edition (1987) it included “environmental protection” in Article XVII of the Special part: identifying “environment” with “the land, air, sea, the fauna and flora of the seas, rivers, and those species of animals deemed endangered of extinction”, the crime of “environmental depredation” was defined there as “the significant pollution by a state, in breach of an international obligation, of the air, sea and rivers in a manner which impacts on other states, or causes damage or harm to another state, or which significantly affects the viability or purity of the same elements, or which destroys in whole or in part, or significantly harms the fauna and flora of the sea and international navigable rivers; and the wilful destruction of the endangered species, or allowing their wilful destruction”.33 Nowadays there are increasing demands for the rejection of ecocide and the recognition as an international crime of the causation of serious, extensive or durable ecological harms as part of a widespread or systematic action which affects the security of the planet and has an international significance.34 In this line, and in the spirit of recognising ecocide as “the missing 5th crime against peace”,35 different proposals to amend the ICC Statute have been presented36 to include ecocide in the list of international crimes. Following the double path opened by previous projects, Article 2 of the Neyret Group’s Draft Ecocide Convention relates the international crime of ecocide to “an adverse impact on the safety of the planet”. This requisite is met 31 With the support of a specialized group of investigation. Sotis, Carlo, Juger des crimes environnementaux internationaux: approche juridictionnelle et institutionnelle, in Neyret (ed.), Des écocrimes à l’écocide (note 26), p. 220 f and 218 f. 32 Higgins, Polly/Shirt, Damien/South, Nigel, Protecting the planet: a proposal for a law of ecocide, Crime Law Soc Change, 59, 2013, p. 259 ff. 33 Bassiouni, M. Cherif, A Draft International Criminal Code and Draft Statute for an International Criminal Tribunal, Dordrecht/Boston/Lancaster 1987, p. 170. 34 Nieto-Martín, Adán/Dopico-Gómez-Aller, Jacobo/Arroyo-Zapatero, Luis, Ecocidio. Es necesaria una convención internacional que defina uno de los peores delitos de nuestro tiempo, in: El País, 12th dec 2019. http://blog.uclm.es/luisarroyozapatero/files/2019/12/ECOCIDIOEL-PAIS.pdf. 35 Gauger, Anja/Rabatel-Fernel, Mai Pouye/Kulbicki, Louise/Short, Damien/Higgins¸ Polly, The Ecocide Project. ‘Ecocide is the missing 5th Crime Against Peace’, 2012. https://sasspace.sas.ac.uk/4830/1/Ecocide_research_report_19_July_13.pdf. 36 Like the one included in the proposal for an international law of ecocide, submitted to the United Nations Law Commission (Higgins, Polly, Eradicating ecocide: laws and governance to prevent the destruction of our planet, Shepheard-Walwyn, London 2010) or, more recently, the proposal of End Ecocide (https://www.endecocide.org/wp-content/uploads/2016/ 10/ICC-Amendements-Ecocide-ENG-Sept-2016.pdf.
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when the incriminated acts (Article 2.1) – that need to take place “in the context of a widespread and systematic action” – cause (art. 2.2) – either “a widespread, constant and serious degradation of the air or the atmosphere, the quality of soil, or the quality of waters and other aquatic elements, the fauna and flora or their ecological functions”; – or “death, permanent disabilities or incurable serious diseases in a population”, – as well as dispossessing “permanently the latter of their lands, territories or resources”. As defined by the Draft, ecocide is an intentional crime, which requires knowledge of the widespread and systematic nature of the actions when the aforementioned acts take place; the fact that the perpetrator knew or should have known that there was a high probability of negatively affecting the safety of the planet is assimilated to intention (art.2.3). The crime of ecocide should not be affected by any statute of limitations (art. 4). The Draft Convention regulates participation in the crime of ecocide (Article 3) and the requirements to establish the criminal responsibility of legal persons (Article 5). Articles 6 – 7 focus on the sanctions against natural and legal persons, and additional criteria for the determination of sanctions against them are provided in Article 8. Confiscation and seizure are addressed in Article 9 and other provisions rule on jurisdiction, investigation, prosecution, participation of civil society, extradition, mutual legal assistance, international cooperation, preventive measures and the implementation of the convention. The Draft Convention also suggests the establishment of a Group for Research and Enquiry on Environmental matters (GREEN) (Article 20) and the election of an International Prosecutor for the Environment (Article 17) by the Assembly of State Parties. The latter also commit to “cooperate with the aim of establishing an International Criminal Court for the Environment which shall be complementary to national jurisdictions and shall have jurisdiction over the crime of ecocide” (Article 19). 3. Provoking further and deeper debates in the academic community on the main contents (and limits) of future conventions on eco-crimes and ecocide and “making social action work” through a “closer integration of theory and practice”37 remain a necessity in order to continue the struggle for an efficient penal protection of the environment at the international level. The AIDP has always promoted this goal, though it would be particularly helpful if the right to an adequate environment38 was at last recognised as a true human right.
37 White, Rob/Kramer, Ronald C., Critical Criminology and the Struggle Against Climate Change Ecocide, in: Critical Criminology, 23(4), pp. 395 f. and 397. 38 de la Cuesta, El derecho al ambiente: su protección por el Derecho penal (note 27).
Tötung des Haustyrannen: Minderschwere Tötung Von Mordechai Kremnitzer und Khalid Ghanayim
I. Einleitung Die meisten Tötungsdelikte in der Gesellschaft ereignen sich im unmittelbaren sozialen Umfeld, innerhalb der Familie, unter Freunden, Bekannten und dergleichen.1 Die Fälle von Tötungsdelikten in der Ehe werden auch als Tötung des Intimpartners (Intimizid, Intimate Homicide) bezeichnet. Dieser Beitrag widmet sich den Tötungsfällen, die innerhalb des eigenen Hauses verübt werden. In der Regel werden Tötungshandlungen innerhalb der Familie von Ehemännern gegen ihre Ehefrauen begangen,2 oft auch im Anschluss an Misshandlungen durch den Ehemann gegen die Ehefrau. Dennoch kann es zu Konstellationen kommen, in denen die misshandelte Ehefrau (battered woman), nach wiederholten Misshandlungen gegen sie, ihren misshandelnden Ehemann tötet. Beispiele der letztgenannten Art finden sich in Israel,3 England,4 den USA,5 Australien,6 Deutschland7 und der Schweiz8. 1 In Australien ereignen sich 40 % der Tötungsfälle in der Familie, zumeist töten die Ehemänner ihre Ehefrauen, siehe Victorian Law Commission: Defences to Homicide, Final Report (Melbourne 2004) paras. 1.2 – 1.4, S. 1 – 2. 2 In Israel wurden in 47 % der getöteten Frauen durch ihre Ehemänner getötet – siehe Neta Fledman, Von der Gewalt in intimen Verhältnissen bis zur Berufung Gesundheitsbehörden (Diss. 2011, Haifa), S. 7. Diese Fälle begründen nach der Reform der Tötungsdelikte im neuen israelischen Strafgesetzbuch schweren Mord – § 301a(a)(6). 3 Nach der Reform von 2019 ist die Haustyrannentötung in § 301b(a) eine minderschwere Tötung, mit 15 Jahren Freiheitsstrafe. Vor der Reform haben die Gerichte wegen Totschlags verurteilt – siehe C.C. (District Cort Tel Aviv) 416 – 93 State of Israel v. Besso, P.M. 1994 (3) 281; Crim. App. 6353/94 Buchbut v. State of Israel, 49 P.D. 647. 4 Siehe R. v. Ahluwalia (Kiranjit) [1992] 4 All E.R. 889; R. v. Hobson [1997] Crim. L. Rev. 759 and Commentary [1998] 1 Crim. App. R. 31. 5 Siehe State v. Norman 378 S. E.2d 8, 324 N.C. 253, 57 USLW 2642 (N.C. 1989); State v. Hundley, 693 P.2d, 475 (Kans. 1985); State v. Wanrow, 559 P.2d 548 (Wash. 1977); State v. Felton, 110 Wis2d 485, 329 N.W. 2d 161 (1983); Joshua Dressler, Battered Woman Who Kill Their Sleeping Tormentors. Reflections on Maintaining Respect for Human Life While Killing Moral Monsters, in: Criminal Law Theory: Doctrines of the General Part (eds. Stephan Shute & A.P. Semester, Oxford 2002) S. 259. 6 Siehe § 304B Criminal Code of Queensland; R. v. Babsek, [1999] QCA 364; Geraldine Mackenzie/Eric Colvin, Homicide in Abusive Relationships. A Report on Defences (Report prepared for the Attorney-General and Minister for Industrial Relations, 2009).
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Es kann verschiedene Fallkonstellationen der Tötung des Haustyrannen geben, welche im Rahmen eines rechtfertigenden oder entschuldigenden Grundes relevant werden und so das Unrecht oder auch die Schuld vollständig aufheben, so z. B.: (1) Die Tötung in rechtfertigender Notwehr, wobei der typische Fall ist, dass der Ehemann angefangen hat, die Ehefrau anzugreifen und ihr erheblichen Schaden zufügen möchte, namentlich bei Gefährdung von Leben, Gesundheit und körperlicher Unversehrtheit, und die Abwendung des Angriffs nur durch den Tod des Haustyrannen möglich ist.9 (2) Die Tötung in entschuldigender Notwehr, die vorliegen kann, wenn sich die Ehefrau gegen den gegenwärtigen Angriff des Ehemannes verteidigt, aber die Grenzen der Verteidigung aus Angst oder Erregung überschreitet. (3) Die Tötung in einem Erlaubnistatbestandsirrtum: ein Beispiel hierfür ist die Situation, wenn die geschlagene Ehefrau ihren tyrannischen Ehemann in der falschen Annahme tötet, dass er sie angreifen und ihr Leben, ihre Gesundheit und ihre körperliche Unversehrtheit schädigen werde, wobei die Tötung die geeignetste Art und Weise gewesen wäre, den Angriff abzuwenden.10 (4) Die Tötung in einem Zustand vorübergehender Unzurechnungsfähigkeit, deren Ursache im „misshandelte Frau-Syndrom“ liegt.11 Es können zudem Situationen entstehen, in denen die Frau aufgrund ihrer akuten seelischen Grenzsituation gar nicht mehr vorsätzlich handeln kann, weswegen fahrlässige Tötung in Betracht kommen kann.12 Ziel dieses Beitrags ist es, solche Fälle zu erörtern, die nicht in die obengenannten Konstellationen fallen, die zu einer vollständigen Rechtfertigung oder Entschuldigung führen können, oder die Frau von der vorsätzlichen Tötung freisprechen. Wir sind der Meinung, dass die vorsätzliche Tötung des Haustyrannen als ein minderschwerer Fall der Tötung anzusehen ist.
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Siehe BGH JZ 1983, 967; BVerfGE 45, 187; BGH NJW 1990, 2896; BGH NJW 2003, 2464; LG Offenburg StV 2003, 672. 8 Siehe BGE 122 IV 1. 9 Siehe auch die Rechtslage in Kanada: R. v. Lavallee, [1990] 1 S.C.R. 852; R. v. Pettel, [1994] 1 S.C.R. 3; R. v. Malott, [1998] 1 S.C.R. 123; Kent Roach, A Preliminary Assessment of the New Self Defence of Property Provisions, 16 Canad. Crim. L. Rev. 275 (2012); siehe auch die US Entscheidungen von State v. Wanrow, 559 P.2d 548 (Wash. 1977); State v. Hundley, 693 P.2d. 475, 479 (Kans. 1985). 10 Zum Erlaubnistatbestandsirrtum siehe Khalid Ghanayim, The Role of Reasonable and Unreasonable Mistake in Justified Defences: A Comparative and Analytical Study, 2007 Oxford University Comparative Law Forum 3 (https://ouclf.law.ox.ac.uk/). 11 Siehe R. C. Cipparone, Comment: The Defense of Battered Women Who Kill, 135 Univ. of Penn. L. Rev. 427 [1987]. 12 Siehe die neuseeländische Entscheidung R. v. Mackenzi, [2000] QCA 324 sowie und die israelische Entscheidung C.C. 6055/07 (District Court Haifa) State of Israel v. Dukulaski (veröffentlicht in Nevo, 4. 2. 2008).
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II. Das Phänomen der Tötung des Haustyrannen durch die misshandelte Ehefrau Es geht vorliegend um die Tötung des misshandelnden Ehemannes durch die Ehefrau. Dieses Phänomen tritt auf, wenn die Ehefrau schweren seelischen Belastungen ausgesetzt war, welche aus erheblicher und fortlaufender häuslicher Gewalt durch den Ehemann resultiert. Drei Bedingungen müssen erfüllt sein: Erstens muss die Frau an erheblicher und fortlaufender häuslicher Gewalt durch den misshandelnden Ehemann gelitten haben; zweitens muss die Frau dadurch schwere seelische Belastungen erlitten haben; und drittens muss die Tötungshandlung in eben jener schweren seelischen Grenzsituation ausgeführt worden sein. Die Tötung könnte unter eine der folgenden Fallkonstellationen subsumiert werden: Die misshandelte Täterin litt unter ernstzunehmenden psychischen Störungen, die – ausgehend vom „misshandelte Frau-Syndrom“ – ihre Schuldfähigkeit und damit auch ihre strafrechtliche Verantwortung erheblich vermindert haben;13 der Tod des Ehemannes in Überschreitung der Notwehrgrenze;14 und der Tod durch kumulative Provokation.15 Außerdem könnte diese Konstellation einen einzigartigen und eigenständigen Fall darstellen. Wie später noch erörtert wird, ist die Tötung des Haustyrannen durch die geschlagene Ehefrau im Vergleich zur Tötung in den oben genannten Konstellationen eine Tötung mit erheblicher Minderung des Unrechts und der Schuld.16 Es handelt sich um Situationen, in denen der gewalttätige Ehemann gegenüber der geschlagenen Frau körperlich überlegen ist. In den meisten Fällen kann die Ehefrau (das Opfer der häuslichen Gewalt) sich nicht selbst verteidigen.17 Ein Verteidigungsversuch würde zu einer heftigen Reaktion des Partners führen und die Misshandlungen noch verschlimmern. In diesen Fällen versucht die Ehefrau die körperliche Überlegenheit des gewalttätigen Ehemannes auszugleichen, indem sie ihn „überrascht“, ihn mit Absicht, i. d. R. mit Vorbedacht (Premeditation) dann tötet, wenn er die Tötungshandlung nicht erwartet, z. B. Tötung durch Vergiften oder im Schlaf.
13 Siehe § 301B(b)(2) des israelischen StGB; R. v. Hobson (Fn. 4); Clair O. Finkelstein, Self-Defense as a Rational Excuse, 57 U. Pitt. L. Rev. 621, 633 (1996); BGH JZ 1983, 967, BVerfGE 45, 187; Thomas Hillenkamp, In Tyrannos – Viktimodogmatische Bemerkungen zur Tötung des Haustyrannen, in: Festschrift für Koichi Miyazawa (Baden-Baden 1995) S. 141, 158; Rita Haverkamp, Zur Tötung von Haustyrannen aus strafrechtlicher Sicht, GA 2006, 586, 595. 14 Siehe § 301B(b)(3) des israelischen StGB. 15 Siehe § 301B(b)(1) des israelischen StGB; Crim.App. 746/14 Hailo v. State of Israel (veröffentlicht in Nevo 31.05.206); Ahluwalia (Fn. 4); Osland v. R. [1998] HCA 75 paras. 170; BGH NStZ 1995, 83; Pearson, [1992] Crim. L. Rev. 193. 16 Siehe unten den Text zu Fn. 70. 17 In den seltenen Fällen, in denen die Ehefrau sich rechtzeitig verteidigt, oder eine andere Person den Angriff des Haustyrannen gegen die misshandelte Ehefrau vereitelt, kommt ein normaler Fall der Notwehr – Siehe oben Fn. 9.
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In diesen Fällen wird der Tötungsakt in der Regel nach dem letzten Ausbruch häuslicher Gewalt ausgeführt. Das Vorhandensein von schwerer und andauernder häuslicher Gewalt durch den Ehemann führt zur begründeten Angst der Ehefrau vor zukünftiger Gewalt, so dass die Tötungshandlung der Abwehr dieser zukünftigen Gewalt dient. Die Realität zeigt, dass die geschlagene Ehefrau nicht nur unter der ständigen Gefahr eines erneuten Auftretens häuslicher Gewalt lebt, sondern auch unter tatsächlicher Gefahr für Leib und Leben. Wie oben erwähnt, überwindet die Ehefrau die körperliche Überlegenheit des Mannes dadurch, dass sie ihn überrascht und ihn hinterlistig oder im Schlaf tötet. Diese Tötung erfolgt i. d. R. mit Vorbedacht und geplant,18 was in vielen Rechtsordnungen als qualifizierte Tötung eingestuft wird.19 Es stellen sich zwei Fragen: Ist die Ratio einer qualifizierten Tötung des Haustyrannen durch die Planung der Tat und den Tötungsüberlegung erfüllt? Wenn wir dies verneinen, stellt die überlegte Haustyrannentötung einen Grundtatbestand der Tötung oder einen minderschweren Akt der Tötung dar?
III. Stellt die geplante und überlegte Haustyrannentötung eine qualifizierte Tötung, etwa schweren Mord dar? Die Planung und die Überlegung werden als qualifiziertes Schuldmerkmal angesehen. Die Schuld bezeichnet das Anders-Handeln-Können, d. h. das psychische Vermögen des Täters, sich den Gesetzen entsprechend zu verhalten. Wenn der Täter mit Vorbedacht und überlegt handelt, so unternimmt er die Tathandlung erst nach einer Zeit des Planens, des Abwägens sowie des Entscheidungsentschlusses zum Töten. Es impliziert, dass der Täter die deutliche und erhebliche mentale Stabilität aufwies, sich zurückzuhalten und sich der Rechtsordnung unterzuordnen. Der Täter hatte genug Bedenkzeit, die Tathandlung nicht vorzunehmen; er traf eine überlegte Entscheidung; es gab keinen äußeren Einfluss, der den Täter zur Tötungshandlung gezwungen hat; seine eigene Selbstdisziplin war auf dem Höchstwert; keine entgegenstehenden Überlegungen kamen auf, und falls sie doch aufkamen, wurden sie unterdrückt; der Täter hatte also vollste Einsicht in das Unrecht der Tat; der Täter handelte aus einer Abwägung heraus und mit einem festen Entschluss und in vollem Bewusstsein zu Gunsten der Tötung; seine Fähigkeiten sind optimal und seine Handlung drückt seine freie Entscheidung aus; mit den Worten Aristoteles‘ „Dass also Gegenstand der Willenswahl etwas von uns Abhängiges ist, das wir mit Überlegungen begehren, so ist auch die Willenswahl ein überlegtes Begehren von etwas, was in un18
Siehe Buchbut (Fn. 3), 653 – 654; Crim. Case 416/93 State of Israel v. Hadad, 1994(3) P.M. 281 (1994). 19 Siehe § 221 – 3 StGB Frankreich; § 166(2)(a) StGB Ungarn; Kap. 21 § 2(1) StGB Finnland; § 298 StGB Niederlande; § 78 StGB Albanien; § 394 StGB Belgien; § 394 StGB Luxemburg; § 82(a) StGB Türkei; § 576 StGB Italien; einige US-Staaten, wie Pennsylvania in sec. 2502, 18 P.Stat.
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serer Macht steht“. Er handelt kaltblütig; kaltblütiges Töten charakterisiert den Vorbedacht, das Töten nach Abwägung, wohingegen es in Fällen von Tötung im Affekt keinen Spielraum für Abwägung, Überlegung oder Planung gibt.20 Kant hat Tötung durch Überlegung im Gegensatz zur Tötung im Affekt wie folgt erklärt: „je kleiner das Naturhindernis (scil.: der Sinnlichkeit, also etwa des Affekts), je grösser das Hindernis aus Gründen der Pflicht, desto mehr wird die Übertretung (als Verschuldung) zugerechnet. Daher der Gemütszustand, ob das Subjekt die Tat im Affekt oder mit ruhiger Überlegung verübt habe, in der Zurechnung einen Unterschied macht, der Folgen hat“. M.a.W., soweit es keine Hindernisse gab, denen der Täter nicht widerstehen kann, oder die Wirkung der Hindernisse für den Täter zu klein waren, so ist die Entscheidung des Täters in der Tathandlung vollständig durchdacht. Es war leicht für den Täter, sich an die Rechtsregeln zu halten, er hatte vollstes Verständnis für das Tatunrecht, hatte volle Fähigkeit, die Tat noch zu vermeiden; er hat die volle Schuld und verdient höchste Vorwerfbarkeit.21 Nach unserer Meinung existieren diese Vorwürfe und Argumente in den meisten Fällen des mit Vorbedacht verübten Tötens, aber nicht in allen; und der Fall der Haustyrannentötung unter Einfluss häuslicher Gewalt ist eindeutig kein solcher Fall. Das Handeln mit Vorbedacht als schuldqualifiziertes Merkmal basiert in der Regel auf einem Normalzustand körperlicher und seelischer Selbstbestimmtheit, und wenn dieses Umfeld nicht existiert, verliert der Vorbedacht seine schuldsteigernde Bedeutung. Genau dieses Umfeld ist es, welches der Haustyrann systematisch zerstört. Die fortlaufende Misshandlung der Ehefrau, die sich in Lebensgefahr befindet, die keine Chance zur Selbstverteidigung oder zur Befreiung aus der Gefangenschaft hat, beraubt sie nicht nur ihrer körperlichen Unversehrtheit, sondern auch ihrer Eigenständigkeit, ihrer Freiheit, ihrer Würde; es verringert ihre Motivation; es beeinträchtigt den Glauben an ihre Selbstbestimmtheit und Fähigkeit zur Gestaltung ihrer Zukunft, Schutzmaßnahmen ergreifen zu können, einschließlich der Möglichkeit, das Haus zu verlassen. Eine Studie zeigt, dass 48 % der Frauen, die häusliche Gewalt erlebt haben, keinerlei Hilfe gesucht haben, und 70 % der geschlagenen Frauen diese Gewalt nicht an die Polizei oder staatlichen Einrichtungen gemeldet haben.22 Die Frau wird immer hilfloser. Der Supreme Court of Canada sagte dazu: „The situation of the battered
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Zum kaltblütigen und affektbezogenen Töten, siehe Buchbut (Fn. 2); Friedrich Wachenfeld, Lehrbuch des deutschen Strafrechts (München 1914), S. 304 – 306; Friedrich Wachenfeld, Die Überlegungen in unserem heutigen Mordbegriff (Göttingen 1887), S. 15 ff. 21 Zu Planung, Vorbedacht und Überlegung siehe Mordechai Kremnitzer, On Premeditation, 1 Buffalo Crim. L. Rev. 727 (1998); Mordechai Kremnitzer/Khalid Ghanayim, Die Reform der Tötungsdelikte (2020), S. 356 ff. 22 Siehe I. D. del Rio/E. S. G. del Valle, Influence of Intimate Partner Violence Severity on the Help-Seeking Strategies of Female Victims and the Influence of Social Reactions to Violence Disclosure on the Process of Leaving a Violent Relationship, 34 J. of Interpersonal Violence 4550 (2019).
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woman […] strikes me as somewhat analogous to that of hostage;“23 und der Supreme Court of Kansas in den USA erklärte: „Battered Women … bears a marked resemblance to that of a hostage or a prisoner of war […]. They live in a constant fear of another eruption of violence“.24 Das Schlimmste für die Ehefrau als Opfer der häuslichen Gewalt ist die Täteridentität und der Tatort. Der Haustyrann ist ihr Ehemann, die letzte Person, von der Gewalt zu erwarten ist – er ist die Person, die die Frau liebt, er sollte sie lieben, für sie sorgen und sie beschützen; doch aus dem Liebhaber wird der Feind. Die Misshandlung geschieht im gemeinsamen Haus, dem Zuhause der Frau, dem letzten Platz, an dem sie mit Erniedrigung und Bedrohung rechnen muss. Damit wird der für sie sicherste Ort zu einer Arena, in der sie um ihr Leben bangen muss. Diese häusliche Gewalt des Haustyrannen verursacht ernstzunehmende Persönlichkeitsveränderungen bei der misshandelten Ehefrau; es geschieht ein Persönlichkeitsverlust, und was übrig bleibt ist nur noch der existenzielle Instinkt der Selbsterhaltung;25 die geschlagene Ehefrau befindet sich im Zustand der Hilflosigkeit, im ständigen Zustand von Frustration, Wut und Angst, vornehmlich aufgrund des Verlusts der Fähigkeit der Selbstverteidigung und des Stressabbaus.26 Die misshandelte Frau ist ebenso einer „ongoing threat of serious injury“27 ausgesetzt. Misshandlungsopfer sind, in den Worten des Supreme Court of Kansas, „in a constant fear of another eruption of violence“,28 und dem Supreme Court of Mexiko folgend, „in a hopeless vacuum of cumulative terror”.29 In diesen Fällen ist die Fähigkeit der Frau, sich selbst oder ihre Kinder zu verteidigen sehr gering oder gar nicht vorhanden. Man kann sagen, dass die geschlagene Ehefrau sich eine spontane Reaktion zu einem Angriff nicht leisten kann, da sie mit einer solchen Reaktion nichts erreichen kann, oder ihre Situation sehr wohl verschlimmern wird. Folglich ist ihre Selbstkontrolle sehr begrenzt; die Frau leidet an Depressionen, Schuldgefühlen, Konzentrationsschwierigkeiten, Erschöpfung, Motivationsverlust, geistigen Störungen, welche sich in Realitätsverzerrung, Interessensverlust, Verlust von Lust und Unternehmungsgeist, anhaltender Traurigkeit, Verzweiflung, Selbst23
R. v. Lavallee (Fn. 9), Rn. 11 (Justice Wilson). State v. Hundley (Fn. 5), 479. 25 Siehe Victorian Law Reform Commission (Fn. 1), Rn. 3.10, S. 62. 26 Crim.App. 1855 – 55 Preshkin v. State of Israel (veröffentlicht in Nevo 24. 03. 2008), Rn. 2 Justice Ababell. 27 Victorian Law Reform Commission, note 1, Rn. 4.15, S. 134; so auch Stephan Trechsel, Haustyrannen,mord‘ – Ein Akt der Notwehr?, Winfried Hassemer zum sechzigsten Geburtstag, Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft – Sonderheft 2000, 183. 28 State v. Hundley (Fn. 5), 479. 29 State v. Gallegos, 719 P.2d 1268, 1271 (1986); diese Ansicht wurde von der Rechtsprechung in Queensland und Northern Territory (Australien) übernommen, siehe dazu R. v. Secretary (1996) 86 A Crim. R. 119; R. v. Stjernquist Transcript of Proceedings (Unreported, Queensland Supreme Court, Carins Circuit County, Derrington J., 19 June 1996) 172 – 173 – citation from Victorian Law Reform Commission (Fn. 1), Rn. 3.51, S. 7. 24
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mordgedanken und sogar Selbstmordversuchen äußern.30 Diese Bedingungen sind Ursache für ein Gefühl der Wertlosigkeit, Schwierigkeiten im Job und Störung der Fähigkeit, zwischenmenschliche Beziehungen aufrecht zu erhalten. Im Ergebnis haben sich ihre Fähigkeiten, die eigenen Optionen zu erkennen, zu überdenken und Alternativen zu wählen drastisch verringert. Gleichzeitig gewinnen existenzbedrohende Ängste die Oberhand sowie das Bewusstsein, unfähig zu sein, um mehr häusliche Gewalt zu ertragen, gepaart mit dem Gefühl, in einer ausweglosen Falle zu sein.31 Die misshandelte Frau befindet sich daher in einem Zustand permanenter eingeschränkter Selbstbestimmung. Vor dem Hintergrund ihrer ernstzunehmenden seelischen Belastung fasst sie den Entschluss zu töten und führt diesen aus – so wie der Ertrinkende sich an der Rettungsleine festhält, um die nächste Misshandlung zu vermeiden und als einzigen Weg, ihr Leben zu retten. Vorbedacht setzt eine Vernunftentscheidung unter vollständiger Selbstbestimmung voraus, was zu einer überlegten Entscheidung zu töten führt, aber er gehört nicht im Geringsten zur Welt der misshandelten Ehefrau. Die Fähigkeit, eine Entscheidung abzuwägen und sich dieser Fähigkeiten sogar bewusst zu sein, ist bei der geschlagenen Ehefrau nicht vorhanden. Die erhebliche emotionale Belastung der Ehefrau als Opfer der häuslichen Gewalt vermindert massiv ihre Fähigkeit, als freier und vernünftiger Mensch Entscheidungen zu treffen und der Rechtsordnung zu folgen. Dementsprechend verringert sich das Maß der Vorwerfbarkeit sehr stark. „Die soziale Vorwerfbarkeit jener, die einen zur häuslichen Gewalt neigenden Haustyrannen getötet haben, ist nicht gleichzusetzen mit der Vorwerfbarkeit eines kaltblütigen Mörders“.32 Es sind meistens Frauen, die aus einem Zustand der Anspannung, aus Verzweiflung und Hilflosigkeit handeln, was ihr psychisches Urteilsvermögen mindert. Das deutsche,33 schweizerische34 und österreichische35 Recht behandelt den emotionalen Zustand der Verzweiflung ähnlich wie den Zustand der Provokation; Tötung im asthenischem Affekt, wie etwa Verzweiflung, ist gleich zu behandeln wie Tötung im sthenischen Affekt, wie durch Provokation. Das englische Recht regelt den sog. Selbstmordpakt (suicide pact), bei dem zwei Personen, zumeist Ehemann und Ehefrau oder Liebespartner, den Entschluss fassen, 30
Siehe Fledman (Fn. 2), S. 27. Siehe Michael A. Buda/Teresa L. Butler, The Battered Wife Syndrome: A Backdoor Assault on Domestic Violence, 23 J. Fam. L. 359, 360 (1984 – 1985). 32 Hadad (Fn. 18), S. 764. 33 Siehe Albin Eser, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch Kommentar, 30. Auflage (München 2019) § 213 Rn. 13a; Klaus Bernsmann, Zur Konkurrenz von „privilegierten“ (§§ 213, 216, 217) und „qualifizierten“ Tötungsdelikten, (§ 211), JZ 1983, 45, 50; Günter Heine, Tötung aus „niedrigen Beweggründen“ (Berlin 1988) S. 268. 34 Siehe Stephan Trechsel, Schweizerisches Strafgesetzbuch Kommentar (Zürich 1992) Art. 113 Rn. 3 – 4. 35 Siehe Ursula Medigovic, Landesbericht Österreich, in: Eser/Perron (Hrsg.), Strukturvergleich strafrechtlicher Verantwortlichkeit und Sanktionierung in Europa (Berlin 2015), S. 432, 468. 31
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gemeinsam Selbstmord zu begehen, aber der Pakt scheitert, sodass ein Partner des Paktes den Tod des anderen Partners verursacht, wohingegen der eigene Tod misslingt. Das englische Recht legt fest, dass trotz Vorliegen der Merkmale der schweren Tötung – Mord – nur Raum für Totschlag bleibt.36 Tötung aufgrund eines Selbstmordpakts ist Tötung aus Verzweiflung.37 Man kann sagen, dass ein Tod aus Verzweiflung im englischen Recht nicht das Unrecht und die Schuld der schweren Tötung – Mord – erfüllt. Es sollte betont werden, dass Haustyrannentötungen keine einfachen Tötungen aus Verzweiflung sind: Erstens ist es eine Verzweiflungssituation, die durch den getöteten Haustyrannen entstanden ist. Zweitens ist es die Art von Verzweiflung, welche eine existentielle Angst um das Leben und damit zwingend den Schutz von Leib und Leben einbezieht; es ist ein Zustand von ungewöhnlicher Grausamkeit des Haustyrannen auf der einen Seite, und der durch ihn bewirkten Hilflosigkeit der Ehefrau auf der anderen Seite.38 Drittens wird nicht nur eine Gefahr für die Gesundheit der Frau begründet, sondern eine existenzielle Angstsituation geschaffen, nämlich eine Angst um Leib und Leben der Frau selbst und um das Leben ihrer Kinder. Unser Ergebnis ist nicht überraschend. Die Kritik, die Überlegung oder der Vorbedacht als erschwertes Schuldmerkmal zu bewerten, konzentriert sich vor allem auf die Fälle der Haustyrannentötungen. Als Argument wird angebracht, dass die Charakterisierung als besonders schwerer Fall der Tötung mit Vorbedacht oder durch Überlegung sich nur auf einen Faktor konzentriert, wobei andere Elemente, die die Schuld des Täters beeinflussen, ignoriert werden. Eine Diagnose, die so plump und so eindimensional ist (abhängig von nur einem einzigen Faktor), dass sie nicht einmal den Geisteszustand des Täters betrachtet, oder seine Motive und Ziele, kann kein ordentliches Urteil nach moralischen Werten bilden.39 Im Besonderen haben Kritiker der Merkmale von Überlegung und Vorbedacht an die Fälle gedacht, in denen der Täter planvoll und überlegt handelt, aber aus verständlichen40 Gründen oder positiven Beweggründen, wie z. B. bei Euthanasie41 oder der 36 Siehe § 4 des Homicide Act 1957; das Gleiche gilt in Nordirland, siehe § 4 Criminal Justice Act (Northern Ireland) 1966. 37 Siehe auch Eser (Fn. 33), § 213 Rn. 13. 38 Siehe auch Buda/Butler (Fn. 31), 360; Buchbut (Fn. 3), 656. 39 Siehe Franz v. Holtzendorff, Das Verbrechen des Mordes und die Todesstrafe (Berlin 1875) 256 ff.; Andrew Ashworth, Principles of Criminal Law, 5th edt. (Oxford 2006), S. 262. 40 Verständlich ist nur der Grund und nicht die Tötung. 41 Nach deutschem, österreichischem und schweizerischem Strafrecht kann die Euthanasie unter den Sondertatbestand der Tötung auf Verlangen fallen, wo der Strafrahmen erheblich geringer als der Strafrahmen von Mord oder eben Totschlag ist; Eser (Fn. 33), § 213 Rn. 13; Jörn Lorenz, Sterbehilfe – Ein Gesetzentwurf (Baden-Baden 2008). Das englische und israelische Strafrecht behandeln die Euthanasie nicht gesondert; nach einigen Law Commissions zur Reform der Tötungsdelikte sollte sie aber einen Sonderstraftatbestand mit 2 Jahren Höchstfreiheitsstrafe darstellen; siehe dazu Criminal Law Revision Committee, Working Paper on Offences against the Person (1976) Rn. 79 – 87; Khalid Ghanayim, Die Reform der
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Haustyrannentötung.42 Die deutsche Rechtsprechung argumentiert, dass bei Vorliegen von außergewöhnlichen Umständen, z. B. wenn der Täter sich in einer ausweglos erscheinenden Situation befindet, wie Verzweiflung, das Unrecht und die Schuld der Tat vermindert werden, sodass die schwerwiegendere Strafe für Mord nicht angewendet werden kann.43 Das kann durch Vermeidung der Anwendung der Tatbestandsmerkmale im Gerichtsverfahren (durch Richter und durch Geschworene) erfolgen. Die Feststellung des Vorliegens oder Nicht-Vorliegens von Vorbedacht und Überlegung wurde von ihnen unter Bezugnahme auf die Motive und Zwecke des Täters getroffen.44 Wegen der Kritik an Vorbedacht und der Überlegung sind sie in einigen Rechtsordnungen gar nicht erst als erschwerende Mordmerkale anerkannt, so z. B. im deutschen Strafrecht nach der Reform von 1941; und wo sie doch als erschwertes Schuldmerkmal gewertet werden, müssen besondere Umstände hinzukommen, so z. B. im schweizerischen Strafrecht bis zur Reform 1990, oder wenn bei Vorliegen minderschwerer Umstände eine schwere Tötung, wie im israelischen Strafrecht, verneint wird.45 In Conclusio stellt die mit Vorbedacht oder Überlegung erfolgte Tötung des häuslichen Tyrannen durch die misshandelte Ehefrau – das Opfer häuslicher Gewalt – und aufgrund dieser Belastung kein schweres Verbrechen, und damit keinen besonderes schweren Mord dar; eine solche Tötung ist als eine minderschwere Tötung zu bewerten.
IV. Tötung des Haustyrannen – Eine minderschwere Tötung Erstens sollte betont werden, dass das Phänomen der Tötung des Haustyrannen durch die misshandelte Ehefrau aufgrund der Misshandlung regelmäßig nicht von schwerwiegender Natur ist. Tötungen des Haustyrannen sind keine Fälle des schweren Mordes. Die Tatsache, dass die Ehefrau besondere Schutzpflichten gegenüber ihrem Ehemann und Lebenspartner gebrochen hat, kann nicht zu ihren Ungunsten einbezogen werden. Offensichtlich hat der misshandelnde Ehemann bereits durch seine Taten und seine Haltung gegenüber seiner Ehefrau die vertrauensvolle BezieTötungsdelikte: Der Übergang von Mord mit milder Strafe zu minderschwerer Tötung, 2020 Mekharei Mishpat (im Druck). 42 Siehe Don Stuart, Canadian Criminal Law (Scarborough, 3rd edt. 1995); Dressler (Fn. 5), S. 259; Graf v. Gleispach, Tötung, in: Gürtner (Hrsg.), Das kommende deutsche Strafrecht BT (Berlin 1936), S. 371, 372; Egment Forreger/Eugen Serrini, Das österreichische Strafgesetz (Wien 1962) 1975, § 76 Anm. I; Law Commission Consultation Paper No. 177: A New Homicide Act for England and Wales?, S. 35. 43 Siehe BGHSt 30, 119. 44 Siehe v. Holtzendorff (Fn. 39), 263; Eberhard Schmidt, Die Lehre von den Tötungsdelikten, DRZ 1949, 198, 200; Eduard Kohlrausch/Richard Lange, Strafgesetzbuch, 39. und 40. Auflage (Berlin 1950) §§ 211, 212 Anm. I; Dietmar Weiss, Die Problematik der Verdeckungsabsicht im Mordtatbestand (Berlin 1997), S. 176 – 177. 45 Siehe § 301 A(b) des israelischen StGB.
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hung zerstört, welche zwischen den Ehepartnern existieren sollte; soweit es keine vertrauensvolle Beziehung gibt, kann von einem Vertrauensbruch auch nicht gesprochen werden. Ferner ist ihr kein Vorwurf zu machen, dass sie die Gelegenheit zur Tötung ihres Ehemannes dann ergreift, wenn er nichtsahnend und zur Verteidigung außer Stande ist, d. h. wehrlos und arglos war. Der Grund dafür ist einfach – zumindest subjektiv und wegen ihrer Persönlichkeitsveränderungen, die aus der Misshandlung resultieren, gibt es keinen anderen Ausweg für sie, sich vor dem nächsten Angriff zu schützen. Bei einem anderen Denkansatz würde dem Haustyrannen ein Vorteil gegenüber der misshandelten Ehefrau zugestanden, was nichts anderes bedeutet, als dass er als körperlich überlegener Partner den Vorteil des „Faustrechts“ hat. Dieser Vorteil ist gleichbedeutend mit „der Herrschaft des Stärkeren“ und der Diskriminierung von Frauen, welche nicht zugelassen werden sollte. Bei der Haustyrannentötung liegt erheblich vermindertes Unrecht und erheblich verminderte Schuld vor, so dass sie keinen besonders schweren Fall der Tötung darstellt, was eine besondere Straferleichterung rechtfertigt. Wie erwähnt, befindet sich die misshandelte Ehefrau in einer so schwerwiegenden seelischen Situation mit großer Verzweiflung, Hilflosigkeit und einem Gefühl der Ausweglosigkeit,46 mit Existenzangst, so dass ihre Handlung für sie den letzten Ausweg darstellt, das eigene Leben zu retten. Oft und typischerweise ist die Frau in völliger Einsamkeit gefangen, in der die Umstände sie daran hindern, sich anderen gegenüber zu öffnen und von ihnen Hilfe zu holen. Diese Einsamkeit erschwert die Belastungssituation massiv. Die Atmosphäre, in welcher das Opfer der häuslichen Gewalt lebt, ist von Stress geprägt, bedrohlich, sie lebt in Angst und Schrecken, welche das Opfer im familiären Umfeld dämpft und es davon abhält, die Ängste zu verbalisieren, sowohl aus Angst vor den Drohungen des Haustyrannen als auch aus Scham, die mit der Kundgabe des Geheimnisses einherginge. Vor diesem Hintergrund entwickelt das Opfer der häuslichen Gewalt Gefühle von erlittener Ungerechtigkeit, Entbehrung und Hilflosigkeit.47 Die misshandelte Frau (das Opfer der häuslichen Gewalt) ist in einer Situation, die der einer Sklavin, einer Geisel, einer Kriegsgefangenen ähneln, da sie vollständigen Gehorsam vom Opfer verlangen.48 Die misshandelte Ehefrau schwebt in ständiger Gefahr und Bedrohung (für ihr Leben durch Gewalt, Bedrohung und Erniedrigung, welche auf das Schüren von Angst, die Unterdrückung von jeglicher Abwehr und die Aufgabe des freien Willens und der Selbstbestimmung des Opfers abzielen) durch den Haustyrannen.49 Das Misshandlungsopfer sieht keinen anderen Weg mehr, sich von der grauenvollen Belastung und dem ständigen Risiko, dem sie ausgesetzt ist, zu befreien, als den Tod des Haustyrannen, was sie in direkten Bezug zu jemanden setzt, der im entschul46
Siehe Buda/Butler (Fn. 31), 360; Buchbut (Fn. 3), 656. Siehe Hadad (Fn. 18), 283. 48 Siehe oben die Darstellung des Supreme Court of Canada (Fn. 23) und von Kansas (Fn. 24). 49 Siehe Buchbut (Fn. 3), 651. 47
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digenden Notstand handelt.50 Sogar wenn diese subjektive Haltung nicht vollumfänglich von der objektiven Realität widergespiegelt wird – die Unfähigkeit andere Auswege zu sehen, könnte in vielen dieser Fälle gemindert werden, was ein minderschweres moralisches Versagen der Frau impliziert.51 Dies sind Situationen, in denen die misshandelte Ehefrau ohne ihre Schuld, sich in extremer seelischer Belastung befindet, die Tötungshandlung beging, und damit das Unrecht und die Schuld der Tat mindert. Die schwerwiegende seelische Belastung, in der die Frau die Tötungshandlung beging, ähnelt dem Zustand der geistigen Störung, welche sehr nahe an Geisteskrankheit ist. Das Besondere an dieser seelischen Belastung der Ehefrau als Opfer der häuslichen Gewalt und Täterin des misshandelnden Haustyrannen ist, dass der Haustyrann der Verursacher ist. Durch das Verhalten des misshandelnden Haustyrannen sind andere Fluchtmöglichkeiten für das Opfer nicht zugänglich, und falls sie zugänglich sind, wird die misshandelte Ehefrau sie aufgrund der drohenden Gewalt seitens des Haustyrannen nicht ergreifen. Grund dafür ist das Grauen, die Stille und die Einsamkeit, die der Haustyrann verursacht, und vor allem die seelische Belastung, die er herbeiführt, welche im Misshandlungsopfer einen Zustand eingeschränkter Anerkennung und Einschränkung ihrer Zukunft hervorruft, wie das Leugnen ihrer eigenen Fähigkeiten und eine extreme Verringerung ihrer Kontrolle über ihr eigenes Schicksal und ihre eigene Existenz. Die häusliche Gewalt kann einen sogenannten „seelischen Tod“ in der misshandelten Frau hervorrufen.52 Es mag Situationen geben, in denen die Ehefrau nicht die Stärke und den Mut hat, sich Hilfe zu suchen. Diese Position wurde durch den Supreme Court of Kansas anerkannt, wörtlich: „there is no easy answer to why battered women stay with their abusive husbands. Quite likely emotional and financial dependency and fear are the primary reasons for remaining in the household. They feel incapable of reaching out for help and justifiably fear reprisals from their angry husbands if they leave or call the police. The abuse is so severe, for so long a time, and the threat of great bodily harm so constant, it creates a standard mental attitude in its victims. Battered women are terror-stricken people whose mental state is distorted and bears a marked resemblance to that of a hostage or a prisoner of war. The horrible beatings they are subjected to brainwash them into believing there is nothing they can do. They live in a constant fear of another eruption of violence. They become disturbed persons from the torture.“53
In diesem Zusammenhang ist es angemessen, auf den israelischen Fall von Carmella Buchbut einzugehen, in dem das oberste Gericht als Fakten darstellt, dass „seit 50 Der entschuldigende Notstand basiert hauptsächlich auf der schweren psychischen Belastung (Theorie des psychologischen Zwangs); siehe Khalid Ghanayim, Excused Necessity: A Defence in the Criminal Code – A Comparative and Doctrinal Study, 11 Canad. Crim. L. Rev. 53 (2006); Klaus Bernsmann, Entschuldigung durch Notstand (1989). 51 In einigen Fällen kann entschuldigender Notstand vorliegen. 52 Siehe Jane Maslow Cohen, Regimes of Private Tyranny: What Do They Mean To Morality And For The Criminal Law, 57 U. Pitt. L. Rev. 757, 790 (1996). 53 Hundley (Fn. 5), 479.
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dem Beginn der Ehe der gewalttätige Ehemann mit einer Schreckensherrschaft in seinem Hause regiert und von seiner Frau völligen Gehorsam verlangte, gegenüber all seinen Launen und Bedürfnissen. Seine Forderungen wurden von verbaler und physischer Gewalt begleitet. Häusliche Gewalt gegenüber seiner Frau wurde zur Praxis. Oft zeigte sich der Körper der Frau übersäht von Blutergüssen. Die Frau wurde gewarnt, es nicht zu wagen, sich über die Verletzungen zu beschweren und ihr wurde verboten, ärztliche Behandlungen zu erhalten, sodass sein Verhalten ihr gegenüber nicht an die Öffentlichkeit käme. Sollte sie sich jemandem anvertrauen, drohte er ihr mit dem Tode, was sie so verschreckte, dass sie den Befehlen Folge leistete.“54 Einmal schlug Carmella Buchbuts Ehemann sie so sehr, dass er einen Krankenwagen rufen musste, das Krankenhauspersonal die Polizei einschaltete und sie trotzdem log. Gemäß dem Gericht geschah dies „wegen ihrer Angst gegenüber der Reaktion des Ehemannes und ihrem Glauben an seine Drohungen, sollte sie über die Misshandlungen sprechen; sie beharrte darauf, sich selbst verletzt zu haben.“55 Ferner gibt es Situationen, in denen die geschlagene Frau sich weigerte, sich selbst als Opfer häuslicher Gewalt anzuerkennen, und sich selbst gar nicht als Opfer sah, sondern als Frau, die eben jene Behandlung verdiente,56 oder sogar selber der Misshandlung schuldig wäre, denn wäre sie eine gute Ehefrau, hätte ihr Ehemann keinen Grund, Hand an sie zu legen.57 Außerdem ist die Hilflosigkeit der geschlagenen Frau keine subjektive, einfache Hilflosigkeit, sondern kann eine objektive Hilflosigkeit werden, in welcher die Frau keine Hilfe mehr erhalten kann: Nicht von ihren Verwandten, Verwandten des gewalttätigen Ehemannes, ihren Freunden, Freunden ihres gewalttätigen Ehemannes und sogar von den Behörden.58 Weiterhin ist eine solche Hilfe ist in den meisten Fällen nur als angeblich existierende Hilfe anzusehen, die in Wahrheit nicht vorhanden ist und falls sie möglich ist, zwecklos ist; als Beispiel kann der englische Hobson Fall dienen, in welchem eine Frau eine über 18 monatelang anhaltende Phase häuslicher Gewalt erduldete, in der sie 30 mal die Polizei um Hilfe bat, aber sich die Umstände nicht besserten.59 Herangezogen werden kann auch der deutsche Fall, in dem eine misshandelte Frau in ihr Elternhaus floh, der misshandelnde Ehemann jedoch die Polizei verständigte, welche die misshandelte Ehefrau dann überredete, zum gewalttätigen Ehemann zurückzukehren.60 Selbst wenn es in den letzten Jahren Verbesserungen innerhalb der Haltung der Behörden gegeben hat, gibt es anhaltende Schwierigkeiten beim Einhalten des rechtlichen Schutzes gegenüber Frauen: Keine Person darf 54
Buchbut (Fn. 3), 651. Buchbut (Fn. 3), 650. 56 Siehe die Victorian Law Commission (Fn. 1) Rn. 4.85, S. 168. 57 Siehe Felton (Fn. 5). 58 Nach der Victorian Law Commission (Fn. 1) Rn. 4.85, S. 167 gehen nur 20 % der geschlagenen Frauen gehen zur Polizei und legen Strafanzeige ein. 59 Siehe R. V. Hobson (Fn. 4). 60 Siehe LG Offenburg StV 2003, 672. 55
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aufgrund ihrer Gefährlichkeit für längere Zeit festgenommen werden. Andere Maßnahmen, wie Hausverbot, bieten keinen langwierigen Schutz für die Frauen; diese Maßnahmen könnten aber die Haltung des Haustyrannen gegenüber ihr und ihrer Reaktion sogar noch verschlimmern. Die Rechtsordnung und die moralische Gerechtigkeit dürfen zudem dem Haustyrannen keine Vorteile gegenüber dem eigentlichen Opfer einräumen – vielmehr ist das Recht der Frau anzuerkennen, in ihrem eigenen Zuhause zu bleiben,61 und sie darf nicht gezwungen werden, den fortlaufenden Zustand des Elends unter ständiger Angst, fortlaufender Erniedrigung, Zwang und besonders den lebensbedrohlichen Risiken der immer nächsten Misshandlung zu akzeptieren. Neben die Ähnlichkeit mit dem entschuldigenden Notstand tritt ebenso die Ähnlichkeit zur Notwehr: Ausgelöst durch Angst vor der nächsten Misshandlung,62 welche jederzeit passieren kann und sie dieses Mal tödlich enden könnte. Wie oben erwähnt, befördert das Vorliegen von ernstzunehmender und fortlaufender häuslicher Gewalt die Existenz realistischer Angst vor zukünftiger Gewalt. Ferner befindet sich die geschlagene Frau in einer ständigen Gefahr vor Misshandlung und die Frau handelt, um sich von dieser Gefahr zu befreien.63 Tötungen des Haustyrannen werden begangen, um weiteren Misshandlungen vorzubeugen, deren Schwere und zeitliches Auftreten der Frau unbekannt sind. Es muss berücksichtigt werden, dass nicht nur körperliche Gewalt zum Zeitpunkt der Misshandlung gemeint ist, und dass unter den Gewaltandrohungen nicht nur bloße Drohungen verstanden werden können, sondern diese als tatsächliche Gewaltakte angesehen werden müssen, da die Möglichkeit der Gewaltanwendung zweifelsfrei ist, oder zumindest beinahe.64 Zusätzlich dient die Tötung des Haustyrannen nicht nur dem Schutz der Ehefrau, sondern auch einem gegenwärtigen und zukünftigen Schutz von Leib und Leben der Kinder;65 der Haustyrann ist gewöhnlich nicht nur gegenüber der Ehefrau, sondern auch gegenüber den Kindern gewalttätig. Die Tötung des Haustyrannen dient somit dem Schutz der misshandelten Ehefrau und ihrer Kinder vor zukünftigen Gewaltakten, und somit befinden sich solche Fälle in direkter Nähe zur Tötung in Notwehr. Dies sind Situationen, in denen die geschlagene Ehefrau den gewalttätigen Ehemann tötet in einem Zustand extremer seelischer Belastung und um zukünftigen Angriffen vorzubeugen, weswegen das Unrecht und die Schuld dieser Tat sich verrin-
61
Siehe Lavallee (Fn. 9), 356 – 357; Ahluwalia (Fn. 4), 892. Siehe Anette Grünwald, Das vorsätzliche Tötungsdelikt (Tübingen 2010), S. 278, 281; Eberhard Struensee, in: Dencker/Struensee/Nelles/Stein (Hrsg.), Einführung in das 6. Strafrechtsreformgesetz 1998 (München 1998), S. 28. 63 Siehe Preshkin (Fn. 26), Rn. 28 (Justice David Cheshin). 64 Siehe Crim.App. 5598 – 99 Anonymous v. State of Israel, 54(1) P.D. 1, 8; Crim.App. 7832/00 Jacobov v. State of Israel, 56(2) 534, 548. 65 Siehe die Fälle Buchbut (Fn. 3); Hadad (Fn. 18); Basso (Fn. 3). 62
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gern. Auffällig ist die Ähnlichkeit zwischen der Tötung eines Haustyrannen und der Tötung aufgrund von Provokation, insbesondere kumulativer Provokationen.66 Diese Fälle sind besonders bemerkenswert, weil die Tötungshandlung hier als eindeutiges Ergebnis von äußeren Einflüssen auf den Täter zustande kommt, welche keine Aussagen über die Persönlichkeit des Täters oder seiner allgemeinen Haltung und seinem Werteverständnis gegenüber menschlichem Leben machen. Die Ehefrau als Täterin und Opfer der häuslichen Gewalt ist keine gewalttätige Person oder mit extremem Egoismus oder sozialer Starrheit behaftet. Befände sich die Ehefrau nicht in einer sehr schweren psychischen Belastungssituation und wäre sie kein Misshandlungsopfer, hätte sie die Tötungshandlung nicht vorgenommen. Außerdem, im Gegensatz zu einer Tatprovokation, welche auch von weniger ernstzunehmenden Wutanfällen abhängen kann, liegt die Verantwortung für die Verursachung der besonders hilflosen Lage mehr bei dem Haustyrannen als bei dem Gewaltopfer. Die Verletzungen des Misshandlungsopfers sind erheblich, da der Haustyrann dem Opfer die Fähigkeit nimmt, ein lebenswertes Leben zu führen, ein angstloses Leben, ein Leben in Würde zu haben und er hat die Kontrolle über Leib und Leben des Opfers. Es ist nicht nur Gewalt per se, sondern auch Versklavung, Bevormundung und gewalttätige Aufdrängung eines Lebensstiles – nicht zu arbeiten, nicht auszugehen, andere nicht anzulächeln, nicht mit anderen zu kommunizieren und natürlich nicht mit anderem darüber zu sprechen, zu lügen,67 es zu verbergen, sich keine Hilfe zu suchen, den Stress, Schmerz und Wut nicht herauszulassen, bis zu einem Punkt der völligen Verzweiflung und Selbstmordgedanken.68 Tatsächlich erschafft der Haustyrann hier eine sklavenähnliche Situation in Anbetracht seiner totalen Kontrolle über die Ehefrau, mit Einschüchterungen und Lebensbedrohungen, welche häusliche Gewalt typischerweise beinhaltet.69 Die Tatsache, dass die Ehefrau den Haustyrannen mit Vorbedacht und durch Planung tötet, ändert nichts an der Unrechts- und Schuldminderung; die Ehefrau befindet sich in einer sehr schweren psychischen Lage, und sie tötet, um zukünftige Gewalt gegen sich selbst und ihre Kinder zu unterbinden. Zusätzlich ist zu erwähnen, dass derjenige, der eine Tötungshandlung nach einer Provokation durchführt, sich zu einer spontanen Reaktion hinreißen lässt, welche am effektivsten ist, und als Antwort auf eben jene Provokation geschieht. Das kann nicht bei einer Frau geschehen, welche das Opfer häuslicher Gewalt ist. Es ist ihr klar, dass sie jegliche aufkeimenden Reaktionen auf die Misshandlungen nicht äußern darf, da eine solche Reaktion das Risiko birgt, die Gewalt nur zu vermehren und zu intensivieren. Weiterhin befindet sich die Ehefrau als Opfer der häuslichen Gewalt in ständiger
66
Siehe Buchbut (Fn. 3),654; Hadad (Fn. 18), 767. Siehe Lavallee (Fn. 8). 68 In Buchbut (Fn. 3) hatte die misshandelte Ehefrau Selbstmordgedanken; siehe auch den Fall Crim.App. 7832/00 Jacobov v. State of Israel, 56(2) P.D. 534, in dem die misshandelte Ehefrau Selbstmord begangen hat. 69 Siehe die Schilderung der Rechtsprechung von Kanada und Kansas über die misshandelte Ehefrau in Fn. 23 und 24. 67
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Angst und folglich ist sie nicht fähig, der Gewalt als Provokation spontan zu widerstehen. Die Haustyrannentötung zeichnet sich durch besondere Merkmale aus, die eigenständig und gesondert geregelt werden müssen. Die Anhäufung der Ähnlichkeiten mit mehr als nur einer der vorgenannten Fallkonstellation verringern die Schuld. Es muss angemerkt werden, dass es sich hier um ein Phänomen handelt, welches starke Komponenten aller oben genannten Phänomene integriert: Die seelische Grenzsituation, in der die Frau dem entschuldigenden Notstand nahe zu sein scheint – welche ihre Schuld massiv verringern würde; ihre Verzweiflung – welcher ebenso ihre Schuld massiv verringern würde; ernstzunehmende und andauernde Misshandlungen begründen Situationen ähnlich der Provokation, welche das Unrecht und die Schuld massiv verringern; die Abwehr von zukünftigen Angriffen gegen die Frau und die Kinder durch den Tod des gewalttätigen Haustyrannen Ehemann, folglich die Ähnlichkeit zur Notwehr, welche das Unrecht maßgeblich verringert. Die Kombination einer extremen seelischen Grenzsituation, von Verzweiflung, Existenzängsten und gerechtem Zorn vor dem Hintergrund des Drangs, diesen schrecklichen Zustand, welchen niemand zu akzeptieren hat, zu entkommen, in einer wirklichen Gefahr für Leib, Leben und Würde mit dem Ziel, seine Verwirklichung zu verhindern – führen zu einer speziellen Situation, in der der Grad des Unrechts und der Schuld erheblich verringert ist.70
V. Haustyrannentötung – Eine Tötung, die aufgrund der Straftheorien eine mildere Strafe verdient Wie vorgehend erwähnt, ist die Haustyrannentötung eine minderschwere Tötung durch die Minderung des Unrechts und der Schuld und verdient somit eine milde Strafe. Diese Schlussfolgerung lässt sich nicht nur auf Grundlage der Vergeltung begründen, sondern auch auf Grundlage der Strafzumessungsprinzipien, der Generalund Individualprävention. Die Haustyrannentötung ist vollkommen anders als die normale Tötung mit Vorsatz und Planung; die Täterin befindet sich in einer erheblichen seelischen Grenzsituation, deren Ursache die gravierenden und andauernden Misshandlungen durch den Haustyrannen ist; die Haustyrannentötung ist nicht gleich Mord, und die Ehefrau ist nicht die typische Mörderin. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass die Ehefrau als Opfer der häuslichen Gewalt und Täterin erneut Straftaten in Zukunft begehen würde; General- und Individualprävention sind in diesem Fall kein Grund oder Rechtfertigungen für Strafverschärfungen. Die Ehefrau hat nicht die Struktur einer kriminellen Person, so dass die Resozialisierung der Ehefrau keiner harten Strafe bedarf. Der Grund der Haustyrannentötung liegt beim tyranni70 Siehe auch R. v. Mackenzi (2000) QCA 324, Per McMurdo P at 19 – 23; Andrew von Hirsch/Nils Jareborg, Provocation and Culpability, in: Ferdinand Schoeman (ed.), Responsibility, Character, and the Emotions: New Essays in Moral Psychology (Cambridge 1987), S. 241, 244.
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schen Gewalttäter, und nicht bei der Ehefrau als Gewaltopfer; die Tötungshandlung deutet nicht auf eine Person hin, die ein Feind des menschlichen Lebens ist. Die Prinzipien der Generalprävention unterstützen nicht die Verhängung einer besonders schweren Strafe.71 Dies ist vielmehr eine Tötung unter besonderen und ungewöhnlichen Umständen. Es gibt keinen Grund zu befürchten, dass eine relativ geringfügige Strafe eine Geringschätzung des Lebens implizieren würde. Im Grunde genommen ist es ein Aufeinandertreffen des Lebens der Frau und des Lebens des gewalttätigen Ehemannes. Da die Tathandlung in diesem Moment einer außerordentlichen seelischen Belastung geschah, ist anzunehmen, dass Selbstjustiz eine untergeordnete Rolle spielt. Folglich gibt es keinen Grund, das Maß an Gerechtigkeit zu übersteigern und harte Strafe zu verhängen. Folglich ist die Haustyrannentötung eine minderschwere Tötung. Weiterhin ist die Haustyrannentötung ein noch minderschwerer Fall im Vergleich zu anderen Fällen der Strafminderung. So ahndet z. B. das israelische Strafgesetzbuch die Tötung aufgrund von Provokation, die Tötung an der Grenze zu Rechtfertigungs- oder Schuldausschließungsgründen und die Tötung durch einen geistig Gestörten als minderschwere Tötung mit 20 Jahren Freiheitsstrafe, während die Haustyrannentötung als minderschwere Tötung mit 15 Jahren Freiheitsstrafe sanktioniert wird.
VI. Schlussfolgerung Eine Haustyrannentötung ist die Tötung des gewalttätigen Ehemannes, die dazu dient, zukünftige Misshandlungen abzuwenden, um die Frau und oft auch die Kinder aus einer Situation von Erniedrigungen und brutalen Ausbrüchen zu befreien. Die Frau reagiert unter erheblicher seelischer Belastung, also in einer emotionalen Grenzsituation, welche durch die fortlaufenden und erheblichen Misshandlungen des Ehemannes entstanden ist. Die Tötungshandlung muss als letzter Ausweg betrachtet werden, um sich vor der ständigen Gefahr um Leib und Leben zu retten; die erheblichen und langandauernden Misshandlungen verursachen eine Gefahr, die einen erdrückenden und tödlichen Angriff auf die eigene Persönlichkeit, die Seele, die Würde und die Freiheit darstellt. Diese Charakterisierung verringert erheblich das Unrecht und die Schuld der Tat, so dass es sich um einen besonders minderschweren Fall der Tötung handelt, der eine besondere Straferleichterung rechtfertigt. Darüber hinaus stützen die Prinzipien der General- und Individualprävention im Rahmen der Strafzumessung eine Reduzierung des Strafmaßes und eine Qualifizierung der Haustyrannentötung als minder schweren Fall. Insgesamt stellt sich damit die Haustyrannentötung als ein Phänomen mit besonderem Charakter dar, das gesondert geregelt und behandelt werden sollte.
71
Siehe auch Gardner (1993) 14 Crim.App.R. (S) 364.
About the Criminal Liability of Wives for Adultery A Classic Example of Oppressing Women Reflections on the Legal History of Roman Antiquity By Volker Krey*
I. Introduction The paper at hand is by its very nature the continuation of the author’s previous publication entitled as follows: “About the Criminal Liability of Wives for Adultery. A classic Example of oppressing Women. Reflections on Legal History. Pre-State Societies, Code of Hammurabi with Sumerian Precursors, and Germanic Law”.1 That previous publication now shall be followed by a continuation, dealing with the Roman Antiquity from the Roman Republic to the Roman Imperial Era. However, initially some preliminary remarks may be allowed: Firstly, the subject matter of those papers about the criminal liability of wives for adultery in its core is nothing less than a classic example of the generic problem “discrimination against and oppression of women”, thus of general interest. Secondly, still today there are states imposing death penalty for adultery only against wives, but de jure or at least generally not against adulterous husbands.2 Thus, the issue of the publication at hand unfortunately is still of current significance. Thirdly, as mentioned above, the focus of the paper at hand is on the Roman Antiquity, namely for the following reasons: On the one hand, the author’s previous publication mentioned above does not cover the epoch of the Roman Antiquity, because otherwise, it would significantly have gone beyond the scope permitted by the editors. On the other hand, the Roman Antiquity first and foremost, but also the Kingdom of the Franks, had great influence on Central Europe’s legal development.3 * First of all, I would like to thank for some assistence by Peter Staudacher, law student at Trier University; in addition Stefan Weber, studying Latin and History, and Dr. Thomas Roggenfelder, Attorney at Law, a former member of the staff of the author’s chair. 1 Volker Krey, About the Criminal Liability of Wives for Adultery … Pre-State Societies, the Code of Hammurabi with Sumerian Precursors, and Germanic Law, in Festschrift for Gerhard Robbers, 2020, p. 69 – 90. 2 Yet, that is a separate matter. 3 Regarding the Roman Antiquity see: Johannes Fried, Das Mittelalter, 2nd edn., Munich 2009, p. 110, 111, 195, 196, 232 et seq.; Hinrich Rüping/Günter Jerouschek, Grundriss der
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Fourthly, pursuant to the geographic size and duration of Rome, the latter was nothing less than the greatest major power within the centuries between the Second Punic War4 and the end of the Western Roman Empire.5 In its period of glory,6 this major power covered Western Europe, Central Europe and Parts of Northern Europe (England), furthermore parts of Eastern Europe (parts of the Balkans), the North African Mediterranean area and parts of the Middle East.
II. Chapter One: The Roman Republic This Era started with the expulsion of the last Etruscan King who ruled Rome, and his violent eviction happened about 500 B.C. The Roman Republic ended almost half a millennium later, more precisely: with the beginning of the Principate of Augustus (27 B.C.). 1. Private Criminal Law and the Law of the Twelve Tables As regards this issue, the author can refer to some of his former publications7 to a certain extent. Thus, relevant insights and views stated there shall be reproduced here, mostly in an abbreviated version where possible and appropriate. But of course, where specific topics of our subject matter “Criminal Liability of Wives for Adultery” are concerned, the presentation hereto will be going beyond the scope of such former publications. a) At the Beginning of the Roman Republic, the law was customary law, applied by judges being part of the upper class (patricians) and thereby concealed from the members of the lower class (plebeians). However, already about five decades later, Strafrechtsgeschichte, 6th edn., Munich 2011, side note 29, 30 – 34; Uwe Wesel, Geschichte des Rechts, 4th edn., Munich 2014, side note 202, 215 – 217; already see: Volker Krey, About Magicians and Witches – Reflections on Legal History – from the Ancient World up to the High Middle Ages, in: Festschrift for Walter Lindacher, Muncich 2017, p. 247; Volker Krey, About Death Penalty, Reflections on Legal History, From the Code of Hammurabi and Sumerian Precursors up to Germanic Law, the Roman Empire and the Middle Ages, Stuttgart 2019, side note 15. Regarding the Frankish Kingdom: Fried (see the footnote at hand, above), p. 66 et seq.; Krey, About Death Penalty (see this footnote, above), side note 28. 4 War against Carthage, 218 – 201 B.C. 5 476 A.D. See text below, Chapter Two at the beginning. 6 Meaning the time from the Principate of Augustus (beginning 27 B.C.) up to the death of the Roman Emperor Marcus Aurelius (180 A.D.). 7 Volker Krey, Interrogational Torture in Criminal Proceedings – Reflections on Legal History – Volume I, in: Rechtspolitisches Forum (Legal Policy Forum), Institut für Rechtspolitik (IRP), University of Trier, No. 68, dated 2014, p. 25 – 30, 32; Krey, in Festschrift for Lindacher (supra note 3), p. 240 et seq.; Krey, About Death Penalty (supra note 3), side note 17 – 24.
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the plebeians achieved, that relevant parts of the law were laid down bei statute law, namely in the famous Law of the Twelve Tables (in Latin: Leges Duodecim Tabularum), dated 451 B.C.8 This statute law aimed at restricting arbitrariness of the judges from the upper class.9 The Leges Duodecim Tabularum for a long time formed the core of Public Criminal Law. However, only part of the criminal offences were covered by such law, and only “in very few cases the death penalty was threatened” (Cicero).10 Even in cases of parricidium (i. e. intentional killing), there was no clear rule of Public Criminal Law but a strange mixture between elements of Private Criminal Law and elements of Public Criminal Law during the first centuries of the Roman Republic.11 Anyhow, adultery commited by wives was not one of the few crimes regulated by the Law of the Twelve Tables. Rather, adultery belonged to the field of Private Criminal Law, 12 as will be shown below. b) Where statute law was lacking, customary law was applicable. A key element of such law was the so-called patria potestas of the pater familias, meaning the comprehensive penal power of the head of the respective family (or extensive family) over its members.13 The patria potestas thereby was the core of Private Criminal Law during the Early Roman Republic.14 aa) Subjects to that power of the pater familias particularly were his wife and his children, moreover also the family’s slaves.15 Regarding the extent of the patria potestas of the head of the family over his wife and his children, that power was for a long time almost unlimited, so to say in principle a full power,16 even including the ius 8 As regards the text above see: Rudolf Düll, Das Zwölftafelgesetz, 3rd edn., Munich 1959 (text with translation into German); also see Volker Krey, Keine Strafe ohne Gesetz, Einführung in die Dogmengeschichte des Satzes „nullum crimen, nulla poena sine lege“, Berlin et al. 1983, side note 9. 9 Krey, Keine Strafe ohne Gesetz (supra note 8), side note 4, 9; Wesel (supra note 3), side note 131. 10 Citation from Düll (supra note 8), p. 48. 11 Thereto in detail Krey, About Death Penalty (supra note 3), side note 17 – 19 with further references. 12 Robert v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Vol. 1, Berlin 1925 (reprint Aalen 1971), p. 55 with footnote 3; Der Kleine Pauly, Lexikon der Antike, Vol. 1, Munich 1979, keyword Adulterium; Der Neue Pauly, Enzyklopädie der Antike, Vol. 1, Stuttgart Weimar 1996, keyword Adulterium; Wesel (supra note 3), side note 133. 13 v. Hippel (supra note 12); Theodor Mommsen, Römisches Strafrecht, Leipzig 1899 (reprint 1961), p. 18; Der Neue Pauly (supra note 12), Vol. 9, 2000, keyword Patria Potestas. 14 See inter alia: v. Hippel (supra note 12), p. 55. 15 Max Kaser/Rolf Knütel, Römisches Privatrecht, 19 th edn., Munich 2008, § 1 side note 4, § 4 side note 4; § 12 side note 2 et seq.; Mommsen (supra note 13), p. 17, 18; Der Neue Pauly (supra note 12, 13), Vol. 9, keyword Patria Potestas. 16 v. Hippel (supra note 12), p. 55 with footnote 3; Kaser/Knütel (supra note 15), § 1 side note 4, § 4 side note 4, § 12 side note 3, 4 with footnote 3; Der Kleine Pauly (supra note 12),
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vitae ac necis (i. e. power over life and death).17 However, such seemingly limitless power de facto did not play a major role, which will be discussed below.18 bb) Nevertheless, if we now turn again to the specific topic “criminal liability of wives for adultery”, the following findings may illustrate, how disproportionate, inhuman and discriminating the treatment of adulterous wives could have been during the era of the Roman Republic: Firstly, in case of adultery of the pater familias’ wife, she was subjected to his patria potestas (here also called manus19). However, this did not apply if she still was living under her father’s patria potestas. Yet, the manus of a pater familias over his daughter could have been expired due to her marriage, with the result that she came under the power of her husband.20 In the latter case, a marriage with full power (manus) of the husband over his wife was established, so to say a marriage with manus.21 Such type of marriages for a long time was the usual case during the era of the Roman Republic; thus, as a rule, a Roman wife in that time lived under the manus of her legal spouse. Nevertheless, towards the end of that era, marriages with manus of the husband increasingly became rare.22 Secondly, pursuant to the statements above, the following applied to an adulterous daughter of the pater familias: If she lived in a marriage with manus of her husband, he had the authority to punish her. In contrast, a married daughter of the pater familias still living under his manus/patria potestas in case of adultery was subjected to his authority to punish her.23 2. Adultery of Wives and the Legal Situation During the Late Roman Republic During the last two centuries B.C., a remarkable development occurred in the field of Roman Criminal Law, namely the attempt to regulate important parts of such law by statute law, more precisely by the so-called Leges Iudiciorum Publicorum (i. e. Vol. 4, Munich 1979, keyword Patria Potestas; Der Neue Pauly (supra note 12, 13), Vol. 9, keyword Patria Potestas. 17 v. Hippel (supra note 12), p. 55 with footnote 3; Kaser/Knütel (supra note 15), § 12 side note 5; Mommsen (supra note 13), here mentioning corporal punishment; killing; banishment out of Rom, p. 23 – but also see p. 18, 19, 689 –; Der Kleine Pauly (supra note 12, 16), Partia Potestas (here only mentioning corporal punishment and killing). 18 See text below, bullet point II. Chapter One, 2. d), 3. a). 19 Kaser/Knütel (supra note 15), § 12 side note 4; § 58 side note 6, 7; Der Kleine Pauly (supra note 12, 16), Vol. 4, keyword Patria Potestas. 20 Kaser/Knütel (supra note 15), § 12 side note 6, 12; § 58 side note 9. 21 See footnote 20. 22 Kaser/Knütel (supra note 15), § 12 side note 12. 23 See: Kaser/Knütel, (supra note 15), § 12 side note 6; Der Neue Pauly (supra note 12), keyword Adulterium.
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statutory provisions on public trials by jury courts). Here, the following brief description shall be sufficient:24 a) The era of the Late Roman Republic from a criminal law point of view was to a certain extent shaped by the above-mentioned Leges Iudiciorum Publicorum. Such courts were since the second century B.C. increasingly created by those laws. They laid down regulations dealing with three relevant legal issues, aiming at more rule of law in criminal matters, namely,25 (a) a legal description of the respective crimes (e. g. murder),26 (b) a legally ordered punishment (e. g. banishment out of Rome), (c) a legally required and regulated trial by Jury Court.27 Under the dictatorship of Sulla (82 to 79 B.C.), seven of such courts, each for specific crimes, were established; these courts were called quaestiones perpetuae.28 b) Regardless of that approach to establish a principle of legality in criminal law (and criminal proceedings) to a certain extent, there was no enactment of the rule of law comparable to the today’s principle nulla poena sine lege.29 Rather, the principle “no punishment without statute law” never had dominated the Roman criminal law, neither during the Late Roman Republic nor during the subsequent Roman Imperial Era (27 B.C. to 476 A.D.).30 c) Just like the Law of the Twelve Tables, the Leges Iudiciorum Publicorum from the time of the late Roman Republic did not lay down any penal provision against adultery.31 24 Thereto more detailed and with further references: v. Hippel (supra note 12), p. 62 – 65; Krey, Keine Strafe ohne Gesetz (supra note 8), side note 35, 70, 84; Krey, Interrogational Torture (supra note 7), p. 27, 28; Krey, in Festschrift for Lindacher (supra note 3), p. 241; Krey, About Death Penalty (supra note 3), side note 22 et seq.; Mommsen (supra note 13), p. 186 et seq., 202 and more often; Wesel (supra note 3), side note 133. 25 See footnote 24. 26 Regarding the crimes regulated here see text below, bullet point c). 27 As regards such trials see: Mommsen (supra note 13), p. 186 et seq., 202 et seq.; Wesel (supra note 3), side note 133. 28 Wesel (supra note 3), side note 133 at the end (bullet point 3.). 29 Thereto with detailed justification and with further references: Krey, Keine Strafe ohne Gesetz (supra note 8), side note 35, 48, 49, 70, 84; Krey, About Death Penalty (supra note 3), side note 23; already see: v. Hippel (supra note 12), p. 54 et seq., 77; Gerhard Schöckel, Die Entwicklung des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots bis zur französischen Revolution, Göttingen 1968, p. 6 – 10; Hans-Ludwig Schreiber, Gesetz und Richter. Zur geschichtlichen Entwicklung des Satzes nullum crimen nulla poena sine lege, Frankfurt a.M. 1976, p. 17 et seq., 25; Andreas Wacke, Römischrechtliche Exegese: Ein Unfall beim „Prellen“, JuS (Juristische Schulung) 1980, p. 204, 205. 30 See supra note 29. 31 v. Hippel (supra note 12), p. 55 footnote 3, p. 64 footnote 10; Mommsen (supra note 13), p. 22 at the end, 23, 689; Der Neue Pauly (supra note 12), Vol. I; Wesel (supra note 3), side note 133, 173.
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Indeed, the latter Leges had enacted numerous criminal rules in order to protect legal interests of the general public (such as rules against Sacrilegium and Peculatus,32 Falsum of coins33 ) as well as legal interests of Roman Citizens (e. g. rules against murder and Iniuria Atrox),34 but there was no criminal provision against adultery. Here, the authorities of the Roman Republic obviously did not see any necessity to change this legal situation, because the patria potestas/manus of the pater familias (respectively the manus of the husband over his adulterous wife) was considered sufficient.35 Thus, punishing an adulterous wife was seen as a private matter and therefore left to the pater familias respectively to her husband, more precisely: to the fatherly patria potestas respectively to the manus of her legal spouse. Such waiving state sanctions by no means was reasonable, not even at first glance, because here the Roman Republic left these wives to the arbitrariness of her father respectively her husband. d) This leads to the following questions: Which kind of sanctions could be imposed in case of a wife’s adultery, namely by her pater familias within his patria potestas (respectively by her husband in case of a marriage with manus)?36 Has there been a serious misogynistic discrimination in the treatment of adultery? At first glance, the answers to these questions, given in the text below (3.), will create a terrifying picture. However, on further consideration you will find a more differentiating view: During the late Roman Republic, the legal situation regarding adulterous wives was increasingly criticized by many as unreasonable, because in part too barbaric and, apart from that, discriminating against wives. All of this is subject of the section below.
32 Apparently meaning theft from a temple; theft or fraudulent activity against public property or public assets. Thereto: v. Hippel (supra note 12), p. 64 with footnote 4; Mommsen (supra note 13), p. 760 et seq., 764 with footnote 2; Wesel (supra note 3), side note 133; already see Krey, About Death Penalty (supra note 3), side note 22. 33 Meaning counterfeiting of coins; see: v. Hippel (supra note 12), p. 64 with footnote 7; Mommsen (supra note 13), p. 669; already see Krey (supra note 32). 34 Iniuria atrox: meaning serious assaults against third parties. See v. Hippel (supra note 12), p. 64 with footnote 6; Krey (supra note 32); Mommsen (supra note 13), p. 789 et seq.; Wesel (supra note 3), side note 133. 35 Mommsen (supra note 13), p. 22, 23. 36 Thereto text above, II. Chapter One, 1. b) bb) with footnotes 20 – 22.
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3. In Case of Adultery: Extent and Barriers of the Patria Potestas of the Pater Familias over his Wife or his Married Daughter Respectively of the Manus of such Daughter’s Husband over his Wife Blatant Discrimination of Wives in Case of Adultery a) Extent and Barriers of such Patria Potestas Respectively Manus of the Spouse aa) Extent of Such Powers De Lege Lata (the Customary Law at that Time) As already mentioned,37 the patria potestas of the pater familias as a penal power of the head of the family over its members, in particular his wife and his children, for a long time was understood as full power being almost unlimited. This meant that such penal power even could cover the ius vitae ac necis (i. e. the power over life and death). (1) Such cruel punishment of the adulterous wife for a long time was accepted by many, if this wife and her sexual partner were caught in the very act.38 However, the following differentiations might have been necessary here: (a) Even in the dramatic situation that the daughter or wife of the pater familias was caught in the act of adultery, killing her by her father or husband might have been legitimate, if any, only on condition that she was subjected to the patria potestas of such a murderous relative. That condition was lacking if he had lost his patria potestas over his daughter by a marriage with manus of her legal spouse. 39 In addition, there also was a lack of such condition if the pater familias’ wife and her husband lived in a marriage without manus.40 (b) The previously mentioned statements not only applied to the pater familias but also to another husband of a wife caught in the act of adultery: In principle, the authority to kill her in such case might have been legitimate, if any, only on condition that she was subjected to his manus; in other words: Both, husband and wife had to live in a marriage with manus.41 (c) Hence, there are good reasons for the assumption that the authority to kill a wife for adultery at best was true for the father of such wife, if he was acting within his patria potestas respectively for the husband of the adulterous wife within his 37
See text above, II. Chapter One, 1. b) aa); 2. C). Thereto: Kaser/Knütel (supra note 15), § 58 Rn. 40; Mommsen (supra note 13), p. 624, 625:“nach altem Herkommen”; also see: Der Kleine Pauly (supra note 12, 16), Vol. 4, keyword “Patria Potestas”. – As to the question, whether the sexual partner of the adulterous wife also could have been killed by the wife’s pater familias respectively her husband, see text below (3) with footnote 42 et seq. 39 Thereto text above, II. Chapter One, 1. b) bb) (with footnote 19 – 23). 40 See supra note 39. 41 See supra note 39. 38
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manus, provided that in both cases the wife and her lover were caught in the act of adultery. (2) This raises the following question: Do the pater familias respectively the husband of an adulterous wife, who is subjected to the patria potestas respectively to her husband’s manus, have the right to kill that woman even if she was not caught in the act? (a) In this context, one could argue that the patria potestas of the pater familias over such adulterous wife, respectively the manus of her husband, in principle were accepted by many as a basis for killing her, namely from the view of “injured honour”: the honour of her family respectively the honour of her husband. This insight resulted in the understanding of such a case of killing as “honour killing” (in German: Ehrenmord). From this point of view, such killing of an adulterous wife by her father or her husband was nothing else than revenge for the injured honour. (b) However, at least the lack of the dramatic element “caught in the very act” makes the killing of the adulterous wife seem inappropriate; hence, one can assume: Such killing might have been judged illegitimate during the period of the Roman Republic, either from its beginning or increasingly over time. (3) Some statements in the secondary literature emphasise that the penal power of the pater familias (his patria potestas) respectively the husband’s manus (in the case of a marriage with manus) was applicable also against the adulterer, meaning the adulterous wife’s sexual partner, at least if both wife and her lover were caught in the very act.42 (a) Here, some authors state that there was a power of the pater familias to kill the adulterous daughter and her sexual partner.43 Other voices in the literature state, that the betrayed husband had the right to kill both.44 Yet, both views are questionable, at least as far as killing the adulterer was concerned, because they ignore that such adulterer was subjected neither to the patria potestas of the adulteress’ pater familias nor to the manus of the affected husband.45 (b) At best, the above-mentioned aspect of the injured honour committed by the respective adultery could possibly have allowed the killing of the adulterous wife and her lover46, particularly because such injury in the case of an adultery, caught in the act, might have be seen as a serious attack at that time. However, killing the lover of an adulterous wife by her father or husband might have been an unreasonable attack against the lover’s family (family/ clan), namely for the following reasons: 42
v. Hippel (supra note 12), p. 56 at the end, 57 footnote 1; Kaser/Knütel (supra note 15), § 58 side note 40. 43 v. Hippel (see supra note 42): killing of such lover. 44 Kaser/Knütel (see supra note 42: the husband may kill his adulterous wife and the adulterer. 45 So convincingly Mommsen (supra note 13), p. 18, 19, 624 at the end, 625, 689. 46 As to the aspect “honour killing”, see text above, 3. a) aa) (2) (a).
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From the then predominant view, the adultery of a husband neither was an offence under the public criminal law nor a misdeed, to be punished with cruel family internal sanctions.47 Correspondingly, also the participation in the adultery of a wife committed by her lover was neither a crime under Roman penal law nor to be punished with cruel family internal sanctions by his pater familias. Thus, adulterous conducts of a male Roman Citizen obviously did not affect the public interests of the Roman Republic so seriously, that public penalties or cruel family internal sanctions by his pater familias were deemed necessary. In short, one can say: When evaluating adultery during the era of the Roman Republic it only was important that women kept marital fidelity.48 Consequently, there was no plausible argument and all the more no persuasive reason to allow the pater familias and/or the husband of an adulterous wife to kill her lover. (4) The previously mentioned statements should have clarified the author’s presumption that a right of the pater familias respectively of the husband to punish the adultery of the daughter or wife with death penalty was increasingly rejected as unreasonable and barbaric during the era of the Roman Republic.49 This led to a growing and finally dominating turn away from such cruel sanctions.50 bb) Barriers of the Patria Potestas and the Manus of a Husband in Case of a Wife’s Adultery As already mentioned, the view is widely held that the patria potestas/manus of the pater familias respectively the husband’s power over his wife (in case of a marriage with manus) cover the right to kill the adulterous daughter or wife.51 However, there are relevant objections against such view, as will be seen in the text below: (1) But first, it seems to be necessary to reject a dubious thesis about our knowledge of the legal reality regarding the treatment of adulterous wives; such thesis states: We do not know anything about the family internal sanctions against the adultery of a wife.52 Indeed, our knowledge to this is poor.53 Nevertheless, there are a number of indications to be named which support the following insights and assumptions about this issue:
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Regarding such misogynist double standards in the treatment of adultery see: Kaser/ Knütel (supra note 42); Mommsen (supra note 13), p. 22, 23, 688 et seq. 48 See: Kaser/Knütel (supra note 15), § 58 side note 40; Mommsen (supra note 13), p. 22, 23, 688 et seq., 691. 49 Kaser/Knütel (supra note 15), § 12 side note 12; Mommsen (supra note 13), p. 689. 50 Der Kleine Pauly (supra note 12, 16), keyword Patria Potestas. 51 Alfred Heuß, Römische Geschichte, new-edited by Hans-Joachim Gehrke, Paderborn 2016, p. 43; already see text above, II. Chapter One, 1. b) aa) and bb), 2. c) and d), 3. a) aa). 52 Der Neue Pauly (supra note 12). 53 Der Kleine Pauly (supra note 12).
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(2) Most likely, there must have been cases of merciless killing adulterous wives. This is supported in particular by the famous “Lex Iulia de adulteriis coercendis”, dated 18 B.C. (being a Roman imperial law of the Emperor Augustus, 27 B.C. to 14 A.D., to combat adultery).54 Already at the beginning of the Roman Imperial Era, this law had forbidden the killing of an adulterous wife by her husband,55 and at the same time had restricted the power of her father to kill this wife or her sexual partner.56 Those legal provisions show that such cases of honour killing57 apparently until the end of the Republic were shameful reality, at least to a certain extent. (3) Let us now turn to attempts at that time, to prevent the killing of adulterous wives, and to the reasons for such attempts. (a) Regarding the latter issue, the main reason may have been the idea of man (in German: Menschenbild), which influenced to a considerable extent the law of the Roman Republic, saying: Life and limb of Roman Citizens in principle were untouchable and therefore had to be respected by the public authority.58 The Roman Citizens as well and particularly the respective heads of the family were likely to have been shaped more or less significantly by this idea of man. Based on the previously mentioned idea of man, a characteristic element of the criminal law of the Roman Republic was the fact that capital punishment against Roman citizens in principle was undesirable59. This principle firstly applied in the field of Private Criminal Law, namely as follows: “Interior offences”, meaning offences inside of the family/clan,60 were punished by the head of the family (pater familias).61 Here, killing the offender by the pater familias in principle was unusual and unwanted; rather, instead of death penalty the most severe punishment usually might have been the banishment from Rome.62 Ce-
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Heuß (supra note 51), p. 332 et seq. Thereto text below, III. Chapter Two, 2. a)–e). Der Kleine Pauly (supra note 12), Vol. I, keyword Adulterium; Mommsen (supra note 13), p. 625. Also see text below, III. Chapter Two, 2. d). 56 See supra note 54 (Heuß), and text below, III. Chapter Two, 2. e). 57 Thereto text above, II. Chapter One, 3. a) aa) (2) (a). 58 Krey, Interrogational Torture (supra note 7), p. 26; Krey, About Death Penalty (supra note 3), side note 19. 59 Krey, Interrogational Torture (supra note 7), p. 26 at the end, 27; Krey, About Death Penalty (supra note 3), side note 17 at the end with further references, 18, 19, 24. 60 v. Hippel (supra note 12), p. 55 et seq.; Krey, About Death Penalty (supra note 3), side note 17; Mommsen (supra note 13), p. 16 et seq., 23. Already see text above, II. Chapter One, 1. b), 2. c). 61 v. Hippel (supra note 12), see supra note 61; Krey, Above Death Penalty (supra note 3), side note 17. Already see text above, II. Chapter One, 1. b), 2. c), 3. a) aa) and bb). 62 v. Hippel (supra note 12), p. 55; Krey, About Death Penalty (supra note 3), side note 17; Mommsen (supra note 13), p. 23. 55
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teris paribus, such instrument was suitable enough to ensure the safety of the family against dangerous members. “External crimes”, meaning criminal offences against members of another family, also were significantly influenced by the mentioned idea of man: Where the fate of a murderer was in the hands of the victim’s family, instead of acts of revenge (killing or selling him into slavery), there was the often or even mostly used solution: “taking blood money in return for waiver of revenge”.63 Moreover, in order to avoid blood feuds between families such solution applied in general.64 Secondly, even in the field of Public Criminal Law, capital punishment or at least its execution were unusual and in principle undesirable during the era of the Roman Republic. In this context, a typical instrument to prevent criminals from being killed was their banishment from Rome.65 However, in this context questions arise whether and if so to what extent that undesirability and rarity of killing criminals even applied to the prosecution by the tresviri capitales, a specific criminal court established in the third century B.C. to fight mass crime in Rome.66 Here, an answer in the affirmative might be doubtful because such court was made for brief and dashing criminal proceedings against slaves and members of the lower class.67 (b) In view of the above-mentioned idea of man and, based on this, the widespread rejection of the death penalty, it seems to be clear that killing an adulterous wife by her pater familias or husband increasingly was considered as unreasonable and barbaric during the era of the Roman Republic. In consequence, there were attempts to end such shameful nuisance as will be shown in the following text (4): (4) The most important attempts to fight the killing of adulterous wives might have been the following ones: (a) On the one hand, the necessity of the involvement of the family council, meaning relatives and friends of the family, according to old customs.68 Therefore, if the head of a family wanted to impose heavy sanctions on a member of his family, e. g. an adulterous wife, he previously had to involve the family council. Here, that council had the chance to prevent cruel penalties, particularly those out of anger. 63
Krey About Death Penalty (supra note 3), side note 17, 18; Wesel (supra note 3), side note 133. 64 v. Hippel (supra note 12), p. 57; Krey About Death Penalty (supra note 3), side note 17, 18; Wesel (supra note 3), side note 133. 65 v. Hippel (supra note 12), p. 59 at the end, 60, 62, 68; Krey About Death Penalty (supra note 3), side note 18; Mommsen (supra note 13), p. 941, 942. 66 Der Kleine Pauly (supra note 12), Keyword Tresviri, 1 b; Krey, About Death Penalty (supra note 3), side note 21; Wesel (supra note 3), side note 133. 67 Der Kleine Pauli, Krey and Wesel (all of them supra note 66). 68 Heuß (supra note 51), p. 43; Kaser/Knütel (supra note 15), § 60 side note 2; Der Kleine Pauly (supra note 12), Vol. IV, keyword Patria Potestas; Mommsen (supra note 13), p. 25.
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The following example may illustrate this: The wife of a pater familias is caught in the act of adultery. Boiling with anger, he will punish her with death penalty. However, the immediately called family council can achieve, if only with an effort, that the adulterous wife will not be killed but instead be punished with banishment from Rome.69 (b) On the other hand, there was a significant limitation of the pater familias’ patria potestas and the husband’s manus by the good morals. To this, the following brief remarks may be sufficient: One of the most important public officials during the Roman Republic was the Censor. Being a key member of the Roman Senate, he played a decisive double role: Firstly, he had to take care of the clarification of the Romans’ financial circumstances in order to draw up the list for the members of the Roman Senate and the Roman Knights pursuant to their assets.70 Secondly, he was competent to act against Roman citizens, even Knights and Senators, in case of serious breaching moral duties.71 In order to punish the offenders of such violations of good morals (in Latin: mos maiorum, i. e. time-honoured good morals or, in other words, ethical and moral precepts of the forefathers),72 the Censor inter alia was able to impose sanctions like tax disadvantages and removal from the Roman Knighthood or Senate.73 (c) Regarding the punishment of adulterous wives within the family by their pater familias respectively husband, let me give a few examples of relevant violating good morals: • Killing such wife without first having involved the family council.74 • Killing such wife contrary to the vote of that council, if she has not been caught in the very act.75 • Killing such wife contrary to the vote of that council, if the adulterous wife has been caught in the act.76 69 In fact, many say that banishment from Rome might have been a typical punishment for adulterous wives. Thereto: v. Hippel (supra note 12), p. 55; Mommsen (supra note 13), p. 23. 70 Heuß (supra note 51), p. 223 at the end, 224. 71 Kaser/Knütel (supra note 15), § 3 side note 3, § 60 side note 2; Der Kleine Pauly (supra note 12, 68); Der Neue Pauly (supra note 12), Vol. 9, keyword Patria Potestas. 72 Kaser/Knütel (supra note 15), § 3 side note 2, 3; Der Neue Pauly (see supra note 71). 73 Kaser/Knütel (supra note 72); Der Neue Pauly (see supra note 72). 74 Here, a case of serious breaching moral duties is given because of obvious arbitrariness. 75 Here as well, obvious arbitrariness is given. Already see text above, II. Chapter One, 3. a) aa) (1) – (4). 76 This punishment might have been be controversial, then. Yet, at least during the era of the late republic, the rejection of such sanction became more and more dominant. See text above (regarding the fact whether or not the adulterous wife has been caught in the act), II. Chapter One, 3. a) aa) (1) – (4).
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• Killing such wife with the approval of the family council because she has been caught in the act. Regarding the latter case, most likely many would have accepted the killing of such wife, namely from the standpoint of that time. This is because of two arguments: At the one hand the family council’s consent. On the other hand, the fact that the wife was caught in the very act, a circumstance at that time often making the adulterous wife’s family respectively her husband’s family boiling with anger. Nevertheless, already then there probably were critical voices against such penalty, namely in the light of the above mentioned idea of man, meaning that the death penalty against Roman citizens in principle was undesirable,77 This statement is supported in particular by the aforesaid “Lex Iulia de adulteriis coercendis”, dated 18 B.C.,78 thus at the beginning of the Roman Imperial Era.79 The latter epoch is subject of the following section.
III. Chapter Two: The Roman Imperial Era The beginning of the Principate of Augustus (27 B.C.) at the same time denoted the beginning of the Roman Imperial Era. Correspondingly, the end of the Western Roman Empire came with the deposition of Romulus Augustus,80 being the last emperor of this empire, by the Germanic military leader Odoacer in 476 A.D.81 1. Introductionary Remarks: About the Increasing Decline of the Criminal Law During the Roman Imperial Era ly:
During this era, the criminal law increasingly lost its characteristic features, nameFirstly, the mentioned importance of Private Criminal Law.82
Secondly, the aforesaid major role of the Roman Censor as guardian for the good morals.83
77
See text above, II. Chapter One, 3. a) bb) (3) with footnote 58 – 67. Already see text above, II. Chapter One, 3. a) bb) (2) with footnote 54 et seq. 79 See text below, III. Chapter Two with footnote 80, 81. 80 Sarcastically called Romulus Augustulus. 81 Heinz Heinen, 2000 Jahre Trier (published by the University of Trier), Vol. 1: Trier und das Treverer Land in römischer Zeit, Trier 1985, p. 366, 367; Heuß (supra note 51), p. 557, 558, 565 et seq.; Krey in Festschrift for Lindacher (supra note 3), p. 241. 82 See text above, II. Chapter One, 1. a) and b), 2. c), 3. a) bb) at the end. 83 Thereto text above, II. Chapter One, 3. a) bb) (4) (b), (c) with footnote 71 – 77. 78
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Thirdly, the previously mentioned image of man, leading to the conviction that in principle, death penalty against Roman Citizens was undesirable,84 a position being from today’s perspective relatively modern and reasonable. Fourthly, also based on such image of man, the prohibition of torturing Roman Citizens in criminal proceeding.85 Fifth, the already discussed Jury Courts (in Latin: quaestiones perpetuae).86 a) The Early Roman Imperial Era (Classic Imperial Era) This epoch lasted about two centuries, more precisely from the Principate of Augustus to the end of the era of the so-called time of the Roman adoptive emperors, the last one being Marcus Aurelius, 161 – 180 A.D.87 During that epoch, the previously mentioned characteristic features of the Roman Republic’s criminal law88 became more and more irrelevant or increasingly were significantly restricted, as will be seen in the following: Firstly, Private Criminal Law became less and less important and was replaced by public criminal Law. This particularly was true in the fields of family law and law governing sexual offences, thus in the here relevant field of the criminal liability for adultery committed by wives – we will come back to that.89 Secondly, the major role of the Roman Censor as guardian of good morals (in Latin mos maiorum) passed away during the last century B.C.,90 probably inter alia due to the dark time of the Roman Civil Wars between 133 up to 30 B.C.91 Thirdly, the image of man, leading to the fact that the death penalty against Roman Citizens in principle was unwanted, became less and less important. Already during the Early Imperial Era, the Roman criminal law became more and more cruelty: Capital punishment increasingly was threatened and executed against members of the
84
See text above, II. Chapter One, 3. a) bb) (3) (a) with footnote 58 et seq., (b). Thereto in detail and with further references Krey, Interrogational Torture (supra note 7), p. 25 et seq., 29, 30. 86 See text above, II. Chapter One, 2. a), b) and c) with footnote 23 – 35. 87 Already see text above, I. Introduction, Fourthly with supra note 6. 88 Thereto text above, II. Chapter Two, 1. before a), from Firstly up to Fifth with footnote 82 – 86. 89 See text below, 2. 90 Kaser/Knütel (supra note 15), § 60 side note 3. 91 With regard to such dark time see: Heuß (supra note 51), p. 167 et seq.; 181 et seq.; 197 et seq.; 209 et seq.; 227 et seq.; 247 et seq.; Greg Woolf, Rom, Die Biographie eines Weltreichs, Deutsche Ausgabe (translated into German by Andreas Wittenburg), Stuttgart 2015, p. 148 – 151, 160 (Gaius Grassus), p. 155, 174, 177 et seq., 194 (Marius and Sulla), p. 175, 181 et seq., 184, 192 et seq., 194 (Pompeius and Caesar), p. 160, 192 et seq. (Octavian and Marc Antony). Also see: Krey, About Death Penalty (supra note 3), side note 24 at the end. 85
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lower class; the same held for corporal punishment. Here, an equal treatment of such members with slaves was emerging.92 Fourthly, the prohibition of interrogational torture, applying during the Roman Republic in favor of Roman Citizens – but not in favor of slaves –, increasingly passed away already during the first and second century A.D., namely in the first place to the detriment of the Lower Class.93 Fifth, the previously mentioned Jury Courts (quaestiones perpetuae), which had established the rule of law to a certain extent, lost their meaning during the first two centuries of the Roman Imperial Era.94 More precisely: Under the dictatorship of Sulla 82 – 79 B.C., seven of such Courts (called quaestiones) had been established.95 However, soon after the beginning of his principate, the emperor Augustus had enacted another one, namely the already mentioned Lex Iulia de adulteriis coercendis, dated 18 B.C. as part of his Marriage Act (Lex Iulia de maritandis ordinibus).96 Sulla’s seven quaestiones had lost their validity already during the Early Roman Imperial Era, especial because at that time the criminal jurisdiction primarily passed to the Emperor, in second line to the Roman Senate.97 In contrast, the later enacted Lex Iulia de adulteriis coercendis, passed by Augustus and therefore had the rank of Roman Imperial Law, in principle remained in force during the Early Roman Imperial Era. Anyhow, it is probable that cases of adultery as crimes against that imperial law increasingly were tried before criminal courts of the Emperor instead of Jury Courts. b) The Late Roman Imperial Era (Post-Classical Imperial Era) aa) This era usually is denoted as the time from the third century A.D. until the end of the Western Roman Empire. However, more appropriate appears the recourse to the death of the mentioned Emperor Marcus Aurelius as the end of the Classic Imperial Era. This is because from then on, the tendency towards a more severe and cruel criminal law with death penalty, whipping/flagellation, brutal
92
Thereto with further references: v. Hippel (supra note 12), p. 70; Krey, Interrogational Torture (supra note 7), p. 25 et seq., 28 et seq., 30 – 33; Krey, About Death Penalty (supra note 3), side note 16 et seq., 24 – 26; Mommsen (supra note 13), p. 406, 407. 93 Krey, Interrogational Torture (supra note 7), p. 29, 31, 33; Krey, About Death Penalty (supra note 3), side note 25, 26. 94 v. Hippel (supra note 12), p. 65 with footnote 6. 95 Krey, About Death Penalty (supra note 3), side note 22 with further references in its footnote 108. 96 Kaser/Knütel (supra note 15), § 58 side note 25 with further references; Wesel (supra note 3), side note 133, 173. 97 v. Hippel (supra note 12), p. 65 with footnote 6; Wesel (supra note 3), side note 133.
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forced labour, even mutilation,98 and to top it all, brutal interrogational torture, was rising.99 In addition, the ab initio existing willingness to consider the Roman Princeps (emperor) as carrier of the state authority became absolutely prevailing since the Late Roman Imperial Era; this unlimited power of the emperor meant not less than: Princeps legibus solutus (the emperor is not bound by the law).100
bb) As was to be expected, the undesirable development that I have just mentioned also had an awful impact on the criminal liability for adultery; we will return to this.101 2. The Regulations on Adultery According to the Lex Julia de Adulteriis Coercendis from the Early Imperial Era a) Criminal Responsibility of Wives for Adultery Such law had – as far as can be seen102 – for the first time threatened those cases of adultery with state punishment, yet thereby waiving the death penalty: Rather, threatened punishments were the banishment from Rome (respectively, as a harder version of that penalty, the “exile to an island”), in addition severe financial penalties.103 b) Criminal Responsibility of the Wife’s Lover (her Sexual Partner) To this, Mommsen has given a short and sweet statement, saying:104 Such punishment had hit the adulterous wife and similarly her lover. In case of banishing those offenders by exile to an island, both were exiled to different islands – obviously an additional harassment. 98
Since the time of the Roman Emperor Diocletian, 284 – 305 A.D., see: v. Hippel (supra note 12), p. 69; Mommsen (supra note 13), p. 982, and 983; already see Krey, About Death Penalty (supra note 3), side note 25. 99 As to such steadily growing severe tightening and brutalization of the Roman criminal law and criminal proceedings during the late Roman Imperial Era, see with further references: Krey, Interrogational torture (supra note 7), p. 30 et seq., 31, 32; Krey, About Death Penalty (supra note 3), side note 25, 26. 100 Ulpian, Digesten (D. 1, 3, 31). 101 See text below, 3. 102 Thereto: Der Kleine Pauly (supra note 12), keyword Adulterium (more precisely: the first sentence); Der Neue Pauly (supra note 12), keyword Adulterium (more precisely: the third sentence). Both point to (possible) older state laws on such adultery from the late Roman Republic, however saying: we do not know anything more. 103 v. Hippel (supra note 12), p. 55 footnote 3, 4, p. 64 footnote 10; Der Kleine Pauly and Der Neue Pauly (see supra note 102); Mommsen (supra note 13), p. 698 et seq., 964, 968; Wesel (supra note 3), side note 173. 104 Mommsen (supra note 13), p. 691, 698.
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c) No Punishment for Adulterous Men In the then dominant Roman misogynistic tradition, the adultery of a husband was not punishable.105 This is because a punishable adultery presupposed the infidelity of a married woman.106 However, if the sexual partner of an adulterous man was a married woman, he was punished for being involved in her adultery, as I said just now.107 Such misogynist double standard in the treatment of adultery during the era of the Roman Republic already was subject of the publication at hand; here it became clear: In the fight against marital infidelity, it only was important, that married women kept marital fidelity.108 In contrast, unfaithful husbands were no suitable offenders of criminal adultery. Entirely, in this sense Mommsen has stated: Adultery committed by a married man only did effect the interests of the general public, if a violation of another marriage was given,109 more precisely: if the unfaithful husband had sexual intercourse with a married woman. d) Ban on Killing his Wife for Adultery, Laid Down in the Lex Iulia de Adulteriis Coercendis of Augustus That ban, laid down by Augustus in his Lex Iulia de Adulteriis,110 surely was long overdue. Here, the unclear legal situation during the time of the Roman Republic, in detail and thoroughly discussed in the text above,111 was adjusted by imperial law in a reasonable manner. By the way, the marriage with manus, which transferred the patria potestas of the wife’s pater familias (head of the family) to her husband and so established the latter’s power (manus) over her,112 already was displaced by the marriage without manus towards the end of the Roman Republic.113
105
Kaser/Knütel (supra note 15), § 58 side note 40; Mommsen (supra note 13), p. 691. See supra note 105. 107 Text above bullet point b), with footnote 104. 108 See text above, II. Chapter One, 3. a) aa) (3) (b) with footnote 47, 48. 109 See supra note 105. 110 Thereto Der Kleine Pauly (supra note 12), keyword Adulterium; Mommsen (supra note 13), p. 625. 111 See text above, II. Chapter One, 2. c), 3. a) aa) and bb). 112 See text above, II. Chapter One, 1. b) bb) with footnote 20 – 23. 113 Kaser/Knütel (supra note 15), § 12 side note 12, § 58 side note 9; already see text above, II. Chapter One, 1. b) bb) with footnote 22. 106
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e) Right of the Pater Familias to Kill his Adulterous Daughter and her Lover In contrast to the husband of the adulterous wife, her father was allowed to kill both, his daughter and her lover, however only under certain circumstances, in particular the following ones:114 Firstly, his daughter and her sexual partner were caught in the very act of adultery. Secondly, the father has to kill both, not only one of them. The latter limitation apparently was intended to prevent any bloodshed, because normally a father hardly was so insensitive and merciless that he was able to kill his daughter and her lover at the same time. Furthermore, the father’s conceivable fear, to make the family of the lover an enemy, might have played a role. 3. Aggravation of the Punishment for Adultery During the Late Roman Imperial Era (Post-Classical Imperial Era) As already mentioned above, the Late Roman Imperial Era, lasting from the death of the Emperor Marcus Aurelius until the end of the Western Roman Empire,115 was characterized by a dramatically increasing decline of the Roman criminal law.116 Here, particularly the tightening of penalties should be mentioned, resulting in the extension of the capital punishment’s scope of application. And in fact, the aforesaid penalties for a wife’s adultery, namely banishment from Rome in connection with financial punishment, were seriously aggravated: Since the end of the third century A.D., death penalty for the wife’s adultery became the rule.117 This brutalization of punishing such crimes unfortunately later on had a significant impact on European Law since the reception of Roman Law; 118 but this is another issue.
114
Mommsen (supra note 13), p. 624 at the end, 625, with reference to sources. Thereto text above, III. Chapter Two, before bullet point 1., and 1. a) and b) aa). 116 See text above, III. Chapter Two, 1. a) and b) with footnote 98 – 100. Already see: v. Hippel (supra note 12), p. 65 et seq., 68 with footnote 6, 7, p. 69, 70; Krey, About Death Penalty (supra note 3), side note 25, 26; Mommsen (supra note 13), p. 911 et seq., 942, 943, 982, 983 and more often; Wesel (supra note 3), side note 133. 117 Kaser/Knütel (supra note 15), side note 16 with reference to sources; Der Kleine Pauly (supra note 12), Keyword Adulterium; Mommsen (supra note 13), p. 699 with reference to sources; Wesel (supra note 3), side note 173. 118 Regarding such reception (in German: Rezeption des Römischen Rechts), beginning at the end oft the 11 th century A.D., see: Fried, Das Mittelalter (supra note 3), p. 110, 111, 195, 196, 232 et seq.; v. Hippel (supra note 12), p. 90, 91, 159 et seq.; Krey, in Festschrift für Lindacher (supra note 3), p. 247; Rüping/Jerouschek (supra note 3), side note 29, 30 – 34; Wesel (supra note 3), side note 202, 215 – 217. 115
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IV. Chapter Three: A Brief Look at the Reasons for the Blatant Misogyny under the Roman Law The misogynistic discrimination of married women compared to married men in the field of criminal sanctions against adultery has been clarified in the publication at hand. This leads to the question regarding the reasons for such misogyny. To this issue, some brief information about opinions on the image of women, expressed during the time of the Roman Antiquity, may be given. In this context, particularly the following primeval fears of men shall be cited:119 The legal discrimination of women was necessary in order to keep in check the uncontrollable women, being driven by their animal nature. Otherwise, the women would dominate the men.120
In addition to the claimed risk of a “female domination” over men, some more of such primeval fears are to be quoted, namely the following ones: The fear of the wife’s weakness, to control her sexual desires (in Latin: infirmitas sexus)121 because such infirmitas endangered the Roman State and particularly the Roman families: Cases of a wife’s adultery could endanger marriages, the patriarchal family structure and important alliances among great families.122
However, in my view a further important primeval fear of men might have been of certain relevance for the mentioned misogyny, namely the husband’s fear, an adultery of his wife could result in the birth of a “cuckoo child”.123
119
Here, the author can rely on a great publication by Evelyn Höbenreich and Giunio Rizelli (with the title: Scylla, Fragmente einer juristischen Geschichte der Frauen im antiken Rom, Wien 2003 – unfortunately not available for the author –), in detail reviewed by Richard Gamauf, in Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Romanistische Abteilung, 121, p. 586 – 592. 120 According to the great Cato, quoted from Richard Gamauf (supra note 119), p. 588, 589. 121 Thereto Augustus Demandt, Das Privatleben der römischen Kaiser, 2nd edn., Munich 1997, p. 85, 86, bullet point 5.f; p. 89, 90, bullet point 5.h, i; p. 95 et seq., bullet point 5. m, n, and more often. 122 Quoted from Gamauf (supra note 119), p. 589 at the end, 590. 123 Meaning an illegitimate child begotten by adultery of a wife.
Is the Possession of the Parthenon Sculptures by the British Museum a Criminal Offense According to English Law? By Christos Mylonopoulos
I. “Cultural Nationalism” and “Cultural Internationalism” In June 1982, Jose Luis Castañeda, a young Mexican journalist, was researching certain Aztec manuscripts in the National Library in Paris. On leaving the library he ‘forgot’ to return the most important of these manuscripts, the Tonalamatl Codex, dating from the 15th c. and consisting of 18 leaves. The French Police in collaboration with Interpol tracked him down to his residence in Mexico. Once tracked, the perpetrator’s reaction was clear: he claimed to have salvaged a part of Mexico’s cultural heritage. Despite the forceful diplomatic remonstrances of the French Government, Castañeda was not extradited and was released. The Codex was deposited in the National Museum of Anthropology and History it the City of Mexico. A tumultuous diplomatic dispute ensued and there were several remarks on the dangers from the generalization of such a practice. The first question that arose was what would happen if the Italians attempted to steal the Gioconda from the Louvre or if the Greeks tried to steal the Sculptures from the British Museum.1 The Castaneda case articulates the contrast between two fundamental deontic propositions: should cultural products be kept in their countries of origin (which entails a demand for repatriation) or in the extensive Museum collections that currently house them? In other words: “cultural nationalism” or “cultural internationalism”? The expressions “cultural nationalism” and “cultural internationalism” originate with Professor Merryman of Stanford University who, in his much-discussed article,2 argued extensively against the return of the Parthenon Sculptures, claiming that such a demand lacks any ethical or legal foundation.3 By the pejorative term “cultural na1
The New York Times, 29. 8. 1982. J.H. Merryman, Thinking about the Elgin Sculptures, 83 Michigan Law Review (1985), p. 1880. 3 See also J. Ulph/I. Smith, The Illicit Trade in Art and Antiquities, International Recovery and Criminal and Civil Liability, Hart Publishing 2012, p. 22 f., A. Sljivic, Why Do You Think It’s Yours? An Exposition of the Jurisprudence Underlying the Debate Between Cultural 2
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Christos Mylonopoulos
tionalism” he implies the view that a cultural product belongs to the region in which it was produced, whilst by “cultural internationalism” he implies the view that cultural products belong to mankind as a whole and should be kept where their integrity, optimal protection and conservation as well as the public’s access to them are ensured. The fact that particular cultural product was produced in a specific place does not mean, according to this opinion, it belongs there. A cultural product may have been produced by a people that no longer exists, or maybe its safekeeping, conservation and protection may be negligent in the region in which it was produced or perhaps the place in which it is kept is so inaccessible and remote that the public’s access to it is disproportionately difficult. Since works of art, like the Sculptures, belong to mankind as a whole, their proper place is where they are best protected and can be a possession of humanity as a whole in the most expedient way. According to Merryman, “cultural nationalism”, on the contrary, expresses dubious values and relies on emotion. Merryman’s arguments are not unfounded. For example, the deontic proposition that placing the Nike of Samothrace in the Louvre rather than in the local museum of this island is preferable, appears to have a rational foundation. But his conclusions, especially with regard to the Sculptures, are definitely unilateral. They rather tend to defend the conservation of the status quo than to contribute to the substantive realization of internationalism, whose essential core consists in the safekeeping, among others, of the integrity of a monument. On the other hand, this opinion focuses only on the negative side of the so called “cultural nationalism”, i. e. they identify it only with the return of monuments to remote places of origin. So Merryman’s arguments may be refuted by the very legal and logical conditions that form the foundation of cultural internationalism. In other words: even by the arguments of “cultural internationalism”, Merryman’s position would surely overcome any objections to the Sculptures’ repatriation not merely on the grounds of international law but also, as we shall see, on the grounds of criminal law and especially English criminal law. In this paper I will try to point out, that the possession of the Sculptures by the British Museum is illegal even on the grounds of English law. First of all: the term “nationalism” does not correspond to the tenets underpinning the demand for repatriation. Instead, it causes disorientation and distortion. On the other hand, the legal rules evoked by the partisans of “cultural internationalism” in the case under scrutiny support the repatriation of the Sculptures rather than the maintenance of the status quo. A logical, rather than legal, overview of the problem highlights the difficulties inherent in internationalist theory. Especially in the case of the Sculptures, their repaNationalism and Cultural Internationalism, 31 George Washington Journal of International Law and Economics (1998), p. 393; P.J. O’ Keefe/L.V. Prott, Law and the Cultural Heritage, Volume 3 – Movement, Butterworths 1989; D.N. Chang, Stealing Beauty: Stopping the Madness of Illicit Art Trafficking, 28 Houston Journal of International Law (2006), pp. 829, 844.
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triation appears even more necessary, even if we endorse the standards of the internationalist theory. If a monument belongs to mankind as a whole, that has an interest in preserving it and ensuring its integrity, the Merryman view must deal satisfactorily with the following question: does the monument’s dismemberment or the preservation of its integrity and the expression of the aesthetic unity attained by its creators satisfy Mankind’s need? If Parthenon’s dismemberment is in keeping with Mankind’s need to enjoy the view of a part of the monument in an international centre like London, then we could claim that the dismemberment of other world monuments is equally permissible. In this case the cutting off of parts from the Taj Mahal or a Myanmar temple in order to exhibit them in a western European capital would be permissible. The same would apply to the sawing of a statue in Iraq or the removal of a rosette window from the Gothic church of a provincial French town so that they may be put on exhibition in New York. However, this would be illegal under both French and international law, meaning that even the French Government does not have the right to do it, pretty much the same way that the Italian Government does not have the right to take down from its current place Da Vinci’s Last Supper in Milan (as if it were the Descent from the Cross of Christ Himself) and sell it to another country so that more tourists get to see it. Consequently, the demand for repatriation of the Parthenon Sculptures does not pose the risk, as many claim, of establishing a similar demand for other whole cultural monuments such as e. g. the Aphrodite of Melos, which possesses integrity as it stands and does not form part of a larger mutilated monument. In other words, the return of the Sculptures does not lend credence to the argument that the Museums in major capitals would be emptied of their contents.
II. The Legal Interest Protected From the Historical Memory to the Historical Identity 1. The Historical Memory If we proceed to an overview of the domestic legislation of various states concerning the legal interests protected by the provisions on antiquities or cultural heritage, but also of the respective international texts, we come to the conclusion, that among them the historical memory of the country plays a crucial role. So the Greek law on antiquities (law 3028/2002) protects “the cultural heritage of the country” with the intention of “preserving historical memory for the sake of the present and coming generation and the improvement of the cultural environment” (Art. 1.1). In Mexico, the National Historic Preservation Act 1966/ 1992 determines that “the spirit and direction of the Nation are founded upon and reflected in its historic heritage” (Art. 1). The Spanish Law 16/25 June 1985 on the Spanish Cultural Heritage stipulates that its aim is the “protection, promotion and transmission to future generations of the Spanish Cultural Heritage” (Preliminary Title – General Clauses- article 1.1). In the USA the National Historic Preservation Act of 1966/1992 provides for (Art. 1) that “the
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spirit and direction of the Nation are founded upon and reflected in its historic heritage” and underlines that “the historical and cultural foundations of the Nation should be preserved as a living part of [the USA] community life and development in order to give a sense of orientation to the American people”. But also international conventions place a particular emphasis on the special bond of the cultural monument with the history and the historical identity of the people in which it originates. Thus, the Preamble to the 1970 UNESCO Convention4 mentions that cultural property constitutes one of the basic elements of civilization and national culture, and that its true value can be appreciated only in relation to the fullest possible information regarding is origin, history and traditional setting. Similarly, the European Convention on the Protection of the Archaeological Heritage5 states that “Archaeological heritage constitutes a fundamental factor for the knowledge of the history of civilizations” and is “the source of European collective memory” and that “European archeological heritage … is an ancient history testimony” (Preamble and Article 1).
2. The Transition to the Historical Identity More precise are other international texts, which go one step further, and explicitly speak of cultural identity (which is based, of course, on historical memory). Thus, the UNESCO Declaration concerning the Intentional Destruction of Cultural Heritage of October 2003 emphasizes that cultural heritage “is an important component of the cultural identity of communities, groups and individuals, and of social cohesion, so that its intentional destruction may have adverse consequences on human dignity and human rights”. Similarly, the Motion of the European Parliament for a Resolution towards an integrated approach to cultural heritage for Europe (2014/2149(INI) stresses that “cultural heritage, both tangible and intangible, plays a significant role in creating, preserving and promoting European culture and values and national, regional, local and individual identity, as well as the contemporary identity of the people of Europe (para H of the Preamble) and that “cultural heritage … is of the greatest importance for European identity”(para 30); Furthermore, the Commission for the Prevention of Crime and Criminal Justice (Vienna 2010) reached the conclusion that “Cultural Property is … unique and important testimony of the culture and identity of peoples”.6 Last but not least, the German Minister of Culture Monika Grütters stressed in her statement on the Bill of Law for the Protection of Cultural Heritage
4 Greek Law 1103/20. 12. 1980 (Government Gazette A. 297) on the Ratification of the Convention signed in Paris on November 17, 1970 regarding the necessary Means of Prohibiting and Preventing the Illicit Import, Export and Transfer of Ownership of Cultural Property. 5 Greek Law 3378/19. 8. 2005. 6 Draft Resolution of 2010 on the Protection against Trafficking in Cultural Property.
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that “the cultural assets that are valuable for the nation” possess an “eminent importance for the preservation of German identity”.7 Scholarship has also pointed out, that the importance of cultural heritage consists in the preservation of the historical identity of people. So Gerstenblith stresses that a fundamental feature of the concept of cultural heritage is the particular link of the work of art with a group, in the sense that the monument is not simply the work or product of a community but it also expresses the identity of that community.8 More explicitly Manacorda emphasizes “that all legal tools endorsed in this field emphasize the correlation between cultural heritage and national identity” and that an attack on cultural assets, such as the destruction of a historical monument constitutes an “attack on the identity of a people” which “renders necessary the harshest of responses”.9 Even Merryman, the vehement opponent of the return of the Parthenon Sculptures, stresses the immense significance of ancient monuments for our identity when he writes that they “constitute an essential part of our common past. They tell us who we are and where we come from, give us cultural identity”.10 Finally, cultural heritage is considered to be a right on which the historical and cultural identity of the peoples is founded.11 3. On the Wider Range of Historicity However, the importance of historicity is not limited to the collective, but it also pertains to the individual level, which enables us to see the link between historical identity and dignity. Actually, at an individual level, the protection of the identity of the person is seen as an element of their individuality and personality and therefore of their dignity. To an even greater extent, historical continuity, the history of a people is an integral part of its identity. The human being is a historical being that would remain incomprehensible without its history (Jaspers)12. No reality is more of the essence for our consciousness than history. Our present experience may be understood with much greater clarity through our history. We are our past, and the present is its 7 Gesetz zur Neuregelung des Kulturgutschutzrechts vom 31. Juli 2015 („Die Kulturnation Deutschland muss weiterhin die Möglichkeit haben, national wertvolles Kulturgut mit einer herausragenden und identitätsstiftenden Bedeutung zu bewahren“). 8 P. Gerstenblith, Identity and Cultural Property: The Protection of Cultural Property in the United States, 75 Boston University Law Review (1995), pp. 559 ff. (569). 9 S. Lanacorda, Criminal Law Protection of Cultural Heritage: An International Perspective, in: Manacorda/Chappell (eds.), Crime in the Art and Antiquities World: Illegal Trafficking in Cultural Property, Springer 2011, p. 24. 10 J.H. Merryman, Thinking about the Elgin Sculptures (note 2), p. 1895. 11 Cf. Janet Blake, On Defining the Cultural Heritage, 49 International and Comparative Law Quarterly (2000), pp. 61 ff. (77), S. Lanacorda, Criminal Law Protection of Cultural Heritage (note 9), pp. 17 ff. (23). 12 K. Jaspers, Einführung in die Philosophie, Zwölf Radiovorträge, Kapitel 9, Die Geschichte der Menschheit.
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past (Sartre)13. Without our past we would not be what we are. Therefore, the past is an essential element of our identity. It is for this reason that the denial of historical facts, such as the Holocaust, has been deemed to be worthy of severe reproof as it disputes the historical identity of a people.14 We are in a position to ascertain from an overview of the various national legal provisions that historicity as an element of the identity of a people is legally recognized and protected. Thus, several domestic legislations have provided that the denial of the Holocaust and of other genocides is a criminal act15 as a refusal of the identity of a people. Because it is impossible to conceive a people without its past, as it is impossible to deprive a physical person of their past, since the damage that befalls it through identity theft, is similar to a moral and social death.
III. Cultural Heritage and the Restriction of State Sovereignty The crucial importance of cultural heritage not only for the particular states but also for the whole mankind finds its characteristic expression also in the fact that, both domestic and international law impose severe restrictions to the right of ownership on ancient monuments, restrictions which are totally incompatible to any right of “genuine” ownership. So, e. g., according to the Greek Law on the protection of antiquities (Law 3028/2002) they are not subject to adverse possession and transaction and may not form part of assets that are subject to confiscation in case of bankruptcy (Articles 7.1, 7.4 and 21.1 of Law 3028/2002). Furthermore, the Greek state does not have the right for example, like the owner of any other movable asset, to destroy an antiquity or alter its character, even if (hypothetically) the Parliament passed a law to this effect. We see, therefore, that the same law that establishes state ownership, also limits the extent of the state’s right of ownership. 13
J.-P. Sartre, L’être et le néant, Éditions Gallimard 1943, p. 157. Also Alasdair MacIntyre advances a narrative conception in giving an account of the way we, as moral agents, arrive at our purposes and ends: As an alternative to the voluntarist conception of the person, he remarks that human beings are storytelling beings. “We live our lives as narrative quests. I can only answer the question ‘What am I to do?’ if I can answer the prior question ‘Of what story or stories do I find myself a part?’. To live a life is to enact a narrative quest that aspires to a certain unity or coherence. […] When confronted with competing paths, I try to figure out which path will best make sense of my life as a whole, and of the things I care about. Moral deliberation is more about interpreting my life story than exerting my will.”; (see A. MacIntyre, After Virtue, Duckworth 1981; Michael J. Sandel, Justice: What’s the Right Thing to Do?, Farrar, Straus and Giroux 2009, pp. 221 – 222. 15 See Lylonopoulos, Zur Strafbarkeit der Leugnung historischer Tatsachen, in: Heger/ Kelker/Schramm (eds.), Festschrift für Kristian Kühl, C.H. Beck 2014, pp. 551 ff. A number of European states, like Belgium, France, Greece, Luxembourg, Austria, Poland, Romania, Switzerland, Spain, the Czech Republic and of course Germany and Israel have decreed that Genocide denial is punishable, under the condition that it took place in public (Switzerland further requires an affront to human dignity). 14
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Yet, an action of this sort would run counter not only to domestic but also to international law. Indeed, the 1954 Hague Convention for the Protection of Cultural Property in the Event of Armed Conflict with Regulations for the Execution of the Convention, which was ratified by 74 states, is founded on the fundamental principle that cultural heritage is the prized property of mankind. Even though the Convention’s stated objective is to protect the cultural heritage of states during armed conflict (since it takes it for granted that no state would even contemplate destroying its own cultural property), already in the Preamble, it lays particular stress on the fact that damage to cultural property, irrespective of the people to which it belongs, entails damage to the cultural heritage of all mankind, since each people makes its contribution to the culture of the world.16 Thus, monuments of cultural heritage such as the Bamiyan Buddhas in Afghanistan, the Library of Sarajevo and the bridge of Dubrovnik being the common patrimony of mankind are regarded as objects of shared interest of the international community as a whole, and impose a self-restriction of the sovereignty of the state in the territory of which they are located. Consequently, the view that the protection of cultural property “lies beyond the national sovereignty of individual states” is currently justifiably upheld.17 In this context the German Minister of Culture, Monica Grütters, emphasized in her aforementioned statement, that the trade originating in the clandestine excavations of the Islamic State constitutes “a barbarous destruction of the cultural heritage of mankind” and that the penalization of this trade by her country “complies with a grave moral imperative and our self-knowledge as a civilized nation”.18 The interest of the international community in ancient monuments which are proclaimed to be components of the global cultural patrimony is a given and so is the state obligation to comply with the imperative of protecting this global cultural patrimony. These quasi-evident observations have practical consequences which have not received proper attention. The most interesting point is that the right of sovereignty is restricted by certain higher values that are recognized and proclaimed in national and international legal texts. The inference that the restriction of sovereignty and sovereign rights of individual states by these values must be uniform and consistent rather than selective and prejudiced is of singular importance. This position is corroborated by the principle of reciprocity, meaning that a country should respect these values in
16 C. Fox, The UNIDROIT Convention on Stolen or Illegally Exported Cultural Objects: An Answer to the World Problem of Illicit Trade in Cultural Property, 9 American University International Law Review (1993), pp. 225 ff. 17 F. Francioni, Beyond State Sovereignty. The Protection of Cultural Heritage as a Shared Interest of Humanity, 25 Michigan Journal of International Law (2004), S. Lanacorda, Criminal Law Protection of Cultural Heritage (note 9), p. 23. 18 See above note 7 on the German Bill of Law for the Protection of Cultural Heritage.
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treating cultural property since it justly demands the respect of these provisions by other states. At this point, let us remind ourselves that, according to the 1970 UNESCO Convention, “museums, libraries and archives should ensure that their collections are built up in accordance with universally recognized moral principles” and that “it is essential for every State to become increasingly alive to the moral obligations to respect its own cultural heritage and that of all nations”. In other words: ownership and sovereignty is restricted not only by the historical, archaeological and artistic value of the monument but also by its significance for the historical identity of the nation with which it is associated. The recognition of the importance of historical identity in other contexts (e. g. Holocaust denial) clearly evinces that a country is not entitled to exert its ownership over ancient monuments, if the manner in which ownership is exerted is detrimental to the historical identity of another nation. Otherwise, it would practice a double standard policy since it accedes to this restriction through the international texts it has ratified in other contexts. To sum up, we could formulate the conclusion that the consideration of ancient monuments as means of expressing the historical consciousness of a people may now be founded on a generally recognized rule of international law.
IV. Is the Possession of the Sculptures Legal? Merryman’s Position and its Refutation Merryman represents the opinion, that from a legal point of view the British Museum is in equitable possession of the Sculptures.19 He states that “It seems clear that under the international law of the time the Ottomans could give Elgin the right to remove the Sculptures” and furthermore that “under the international law of that time, the acts of Ottoman officials with respect to persons and property under their authority were presumptively valid” (p. 1897). Moreover, he admits that, although the scope of the initial firman gave him a limited possibility to take some stones, the final removal of the monuments was ratified by the Sultan and therefore it was thus validated. He concludes that the removal of the Sculptures was legal “under the then applicable international law”,20 since the “rule is that the legal effects of a transaction depend on the law in force at the time” (p. 1900), given that the only standard by which a citizen may judge the legality of his action is the domestic and international law that was applicable at that time.21 19
See J.H. Merryman, Thinking about the Elgin Sculptures (note 2). “Thus if the removal of the Sculptures was proper under the then applicable international law, as it seems to have been”. 21 The above arguments against repatriation are enhanced by outright lies. Fishman argues, e. g., that Elgin removed the Sculptures to save them from destruction during the Greek war of Independence, although the latter had begun at least nine years later. See J.P. Fishman, Lo20
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What surprises us in these arguments, however, is that Merryman invokes international law, but he bases on it only one principle: that of ownership, i. e. whether the Ottomans truly allowed Elgin to acquire ownership of the Sculptures. However, even if this is so, does it mean that the act of removal was in compliance with international law? The question is difficult even for Merryman, since even he admits that “under the new rule [of international law] it might be argued that the Ottoman occupation of Greece and the Ottoman permission to remove Greek antiquities were illegal, thus clouding Elgin’s title to the Sculptures” (n. 64, pp. 1899 – 1900). The issue is crucial, since international law does not decide only about mere ownership. Even if an act does not infringe the right of property, as it is regulated and defined in international law, it may violate a legal right in different frameworks of reference, and principally in international law. Under this point of view, Merryman’s contradistinction between ‘old’ and ‘new’ international law is rather dumbfounding. This contradistinction obscures the picture to a dangerous degree and generates an artificial confusion for the following reasons. If Merryman’s argument was correct, then the war criminals in the Nuremberg and Tokyo trials, Eichmann and the soldiers who executed civilians who tried to cross the borders of East Germany should have been acquitted.22 We have to always keep in mind, that the general principles of law that are recognized by civilized nations were the true legal foundation of Nuremberg. Nowadays, there is no doubt that customary international law constitutes a source of law and is in complete harmony with the principle of legality. The Nuremberg Court, the European Court of Human Rights, the German Constitutional Court and the Rules of the International Criminal Court view these principles as an ultimum refugium. In particular: a) The Nuremberg Court accepted that the imputability of an action may be founded not only on conventional rules and customs but also on the general principles of justice.23 In this case the Court used as a starting point the Hague Convention of 1907 which prohibits the plundering of cultural property, unless this is necessary for the
cating the International Interest in Intranational Cultural Property Disputes, 35 The Yale Journal of International Law (2010), p. 348: “He began removing marble friezes from the Acropolis, then in danger of destruction due to the ongoing Greek War of Independence”(!) 22 This is a still vivid crucial problem, even after the ICC Statute came into force. “Nonretroactivity means that some of the worst of the offenses and offenders are simply out of the scope of the ICC”: L.P. Francis/J.G. Francis, International Criminal Courts, the Rule of Law and the Prevention of Harm: Building Justice in Times of Injustice, p. 66, in: May/Hoskins (eds.), International Criminal Law and Philosophy, Cambridge University Press 2010. Cf. Mylonopoulos, Das Bedürfnis einer allgemeinen Strafrechtstheorie zur Ausgestaltung effektiver und gerechter internationaler Strafnormen, in: Saliger/Kim/Liu/Mylonopoulos/Yamanaka/Zheng/Tavares/Isfen (eds.), Festschrift für Ulfrid Neumann, C.F. Müller 2017, p. 669. 23 H.W. Briggs, The United Nations and International Legislation, 41 American Journal of International Law (1947), p. 219; R.S. Clark, Nuremberg and Tokyo in Contemporary Perspective, in: McCormack/Simpson (eds.), The Law of War Crimes, Martinus Nijhoff Publisher 1997, p. 171.
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conduct of war (Art. 23 g, 28, 47).24 However, because some of the States that took part in WW2 had not signed the Convention and therefore were not legally bound by it, the Nuremberg Court accepted that the Hague Convention was establishing international customary law and therefore the plundering and looting of cultural treasures constituted an infringement of international law, granting to the states that suffered damages the right to demand the restitution of them.25 What is important for our case is the fact, that according to the Nuremberg Court, the 1907 Hague Convention had recognized unwritten customary law which already existed before 1907. It is worth noting, that the above conclusions have already been used in the past with regard to plundered Chinese cultural treasures. So the opinion prevailed, that the looting and destruction of Chinese artifacts was illegal from the moment that the Hague Convention came into force in 1907. It is quite telling that the countries that have removed or traded Chinese Cultural Treasures have not signed the Hague Convention of 1954, the UNESCO Convention of 1970 or the UNIDROIT Convention of 1995, even though none of these three conventions covers antiquities that were removed in the past.26 b) Regarding the murders of East German citizens who attempted to cross the borders, the German Courts accepted that punishing those responsible does not violate the Constitution and the n.c.n.p.s.l. principle.27 c) The European Court of Human Rights in the case Kolk and Kislyiy v. Estonia28 decided that the deportation of non-combatants from Estonia to the USSR in 1949 committed by the appellants constituted a “criminal [act] according to the general principles of law recognized by civilized nations”. The observations made above are, of course, not intended to prove that Elgin committed a war crime in removing the Sculptures, even though he committed an affront to the culture of mankind out of self-interest, since, according to Merryman’s as24 D. Keane, The Failure to Protect Cultural Property in Wartime, 14 DePaul Journal of Art and Entertainment Law (2004), pp. 5 – 6, I. Doimi di Delupis, The Law of War, Cambridge University Press 1988, p. 304; K. Chamberlain, War and Cultural Heritage: An Analysis of the 1954 Convention for the Protection of Cultural Property in the Event of Armed Conflict and its two protocols, Institute of Art and Law, Institute of Art and Law 2004, pp. 9 – 10. 25 H.S. Zhong, The Return of Chinese Cultural Treasures Taken from the Second Opium War (1856 – 1860), doctoral thesis, University of Queensland; S. E. Nahlik, International Law and the Protection of Cultural Property in Armed Conflicts, 27 Hastings Law Journal (1975), pp. 1072 – 1075; A.H. Poulos, The 1954 Hague Convention for the Protection of Cultural Property in the Event of Armed Conflict: An Historic Analysis, 28 International Journal of Legal Information, (2000), pp. 33 – 34. 26 See H.S. Zhong, The Return of Chinese Cultural Treasures Taken from the Second Opium War (note 25), p. 30. 27 See A. Kaufmann, Die Radbruchsche Formel vom gesetzlichen Unrecht und vom übergesetzlichen Recht in der Diskussion um das im Namen der DDR begangenen Unrechts, NJW 1985, S. 84, P.E. Quint, The Border Guard Trials and the East German Past Seven Arguments, 48 American Journal of Comparative Law (2000), pp. 548 ff. 28 Applications no. 23052/04 and 24018/04, decision of 17 January 2006.
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sumption, Elgin’s actions were intended to prevent the French from acquiring the Sculptures. Nevertheless, they do demonstrate the point that the absence, at the time the act occurs, of a specific prohibition of an act that infringes cultural goods does not mean that the latter is in conformity with international law – as Merryman tried to prove – especially given the fact that in the international law currently in force, vandalisms and the destruction of monuments in the course of an armed conflict constitute an international crime according to the Rules of the ICC. So Article 8.2.b.ix of the Rome Statute of the International Criminal Court, 17 July 1998 provides that “intentionally directing attacks against buildings dedicated to religion, education, art, science or charitable purposes, historic monuments, hospitals and places where the sick and wounded are collected, provided they are not military objectives” is an international offense.
V. The McClain/Schultz Doctrine In this context it is a fact of great interest that the return of cultural treasures is becoming gradually accepted on an international level. This trend, proving right the “nationalist” theory, is now clearly expressed in the so-called McClain/Schultz doctrine in the US jurisprudence, which deployed the provisions of an older law, the Mational Stolen Property Act of 1934. According to this doctrine, which is gaining ground day by day, “if a country declares ownership of a work of art, it may be regarded as stolen in accordance with the Mational Stolen Property Act (18 U.S.C. § 2315 (1976)”.29 The doctrine is based on the decision of an American court of 2002, where an art dealer was convicted of conspiracy to deal in stolen antiquities, in accordance with the above act and in conjunction with Egyptian Law 117/1983, according to which all ancient monuments discovered in Egypt after the enactment of this law were regarded as the legal property of this state and therefore, if exported, they would be considered proceeds of theft, as if they had been stolen by a private individual.30 However, the bilateral treaties between the USA and Mexico and between the USA and Peru are even more interesting. In response to Mexican concerns over the illegal export of Mayan artifacts, the USA and Mexico signed a “Treaty of Cooperation Providing for the Recovery and Return of stolen Archaeological, Historical
29 See M.C. Bassiouni, Refections on Criminal Jurisdiction in International Protection of Cultural property, in: Symposium Jurisdictional Issues in the International Movement of Cultural Property, 10 Syracuse Journal of International Law and Commerce (1983), p. 302, US v. Hollinshead 495 F 2d 1154 (1974), US v. McClain 545 F 2d (1977). 30 P. Gerstenblith, The McClain/Schultz doctrine: another step against trade in stolen antiquities, 13 Culture without Context (2003). The decision United States v. Schultz was the first case to achieve a conviction under the National Stolen Property Act (NSPA) by applying a foreign statute to a criminal case.
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and Cultural Properties”31 stipulating that both parties would employ the legal means at their disposal to recover and return objects stolen after the effective date of the treaty. Nevertheless, as Bassiouni already noticed, the combination of the aforementioned National Stolen Property Act and a Mexican Law of 197232 giving a legal title of ownership on all pre-Colombian works of art including those that were acquired and exported before the enactment of the law (this is perhaps the most interesting aspect), resulted in two landmark decisions, the US v. Hollinshead and US v. McClain, which held that an object may be considered as stolen under the National Stolen Property Act subsequent to a declaration of ownership by a foreign country.33 On the same basis, several countries including Guatemala, Peru, Ecuador and Costa Rica, in order to recover works of cultural patrimony (ancient movable monuments) from the USA made unilateral declarations of ownership so that the importers would be considered perpetrators of theft or of possessing stolen goods under the National Stolen Property Act. Against this doctrine (or ‘stratagem’ as Merryman calls it),34 the objection was raised, that the arbitrary transfer of ownership from the individual who exported the work to the state of the artifact’s origin violates the Constitution and the Laws of the country in which it takes place. But this reservation would be meaningful only if the state’s right was based exclusively on the title of ownership. However, in the case of antiquities associated with the historical identity of a people, the right of the people to the monument is not merely a right of ownership but far exceeds it, since it is linked to the interests of the international community. The right of Greece to the Parthenon frieze is not a mere right of ownership but it is connected with the interest of the international community to ensure the best possible protection for cultural monuments and promote and improve their cultural function. In other words, the concept of international protection does not necessarily entail that it must be exercised to the detriment of the country of origin or to put it in other words: Greece also has a claim to the international protection of the Sculptures, their integrity included! So, despite Merryman’s objections, the tendency to return antiquities, even though the act of removing from their country of origin was not illegal under international law at the time the act took place, began definitely to gain ground. Since the beginning of the century, numerous archaeological treasures have been returned under the pressure of a tide of international texts that is gathering strength. In January 2009, the FBI returned to Panama a collection numbering more than 100 pre-Colombian statu31 Treaty of Cooperation Providing for the Recovery and Return of stolen Archaeological, Historical and Cultural Properties of July 12, 1970, U.S.T. 494, T.I.A.S. No 7088. 32 Ley Federal Sobre Monumentos y Zonas Aqueologicos, Artisticos y Historicos, 312 D.O. 16 Lay 1972. 33 See M.C. Bassiouni, Refections on Criminal Jurisdiction in International Protection of Cultural property (note 29), pp. 301 – 302. 34 J.H. Merryman, Thinking about the Elgin Sculptures (note 2), p. 1892.
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ettes (1100 – 1500 AD). In 2011 the Pergamon Museum agreed to return to Turkey a 3000-year old Sphinx that had been transferred to Germany in 1917. In 2013, the Pinaud family announced to the Chinese Government that two bronze sculptures valued at $ 40 million, which had been looted from the Beijing Palace during the Second Opium War (1856 – 1860) by Anglo-French troops, were to be returned.35
VI. The Possession of the Parthenon Sculptures as an Offense As we saw above, even if antiquities are not proceeds of theft but at the time of their export, were legally acquired, this transferred ownership is susceptible to restrictions when the violation of higher values – such as the ones connected to the interests of the international community – may be remedied only by their recovery. That the monument’s integrity constitutes such a higher value is, obviously, more than evident. It is clear, therefore, that recovery is an a fortiori imperative when the acquisition was based on an illicit or criminal action. To begin with, let’s take Merryman’s position, on the question: would Elgin’s behavior be legal if committed today, i. e. under contemporary law (domestic or international)? As already stated, he admitted that, under the rules and principles of international law currently in force, the removal of the Sculptures would be illegal, “thus clouding Elgin’s title to the Sculptures”.36 This position is critical, because it generates, in accordance with English law, questions regarding the liability of the possessors under at least two aspects: first, liability through omission and second, liability on the ground of the English Proceeds of Crime Act (POCA). 1. The Possession of the Parthenon Sculptures as a Crime of Omission In English law, as in the respective continental European legal orders, criminal liability originating in omission presupposes: (i) a duty to act, (ii) knowledge of the circumstances and extent of this duty and (iii) the actual ability to fulfil it.37 This duty emanates either from the law, or from contract or a hazardous situation caused by the perpetrator accused (even without fault) or from the voluntary assump-
35 H.S. Zhong, The Return of Chinese Cultural Treasures Taken from the Second Opium War (note 25), p. 33. 36 As H. Merryman, Thinking about the Elgin Sculptures (note 2) explicitly states on p. 1900: “Under the new rule it might be argued that the Ottoman occupation of Greece and the ottoman permission to remove Greek antiquities were illegal, thus clouding Elgin’s title to the Sculptures”. 37 A. Ashworth, Principles of Criminal Law, 5th ed., Oxford University Press 2006, p. 113.
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tion of care for a third party,38 whilst in some cases omissions following an act for which the person committing the omission has no responsibility may establish liability. Liability may also be established through a continuous behavior according to the so-called “continuing act doctrine”. In all these cases, it is accepted that commission by omission is established.39 Are there circumstances, in the matter of the Sculptures, that establish today a duty to act according to the English law in force? The rules of international law currently in force are extremely explicit. More specifically: a) Even though the provisions of the International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia (ICTY) obviously provide for individual criminal liability for the destruction and vandalism of cultural property in the context of armed conflict and not in time of peace, a research project (at the European University Institute of Florence) is already investigating whether the case-law of the ICTY may be applied to crime committed in time of peace, so that it may be implemented either by national courts or the ICC for actions within their respective jurisdictions. b) The UNESCO Declaration concerning the Intentional Destruction of Cultural Heritage (October 2003-mentioned above), signed in the wake of the destruction of the Bamiyan Buddhas by the Taliban emphasizes that “States should take all appropriate measures [including, therefore, criminal punishment] to prevent, avoid, stop and suppress acts of intentional destruction of cultural heritage, wherever such heritage is located” (Art. III.1); “When conducting peacetime activities, States should take all appropriate measures to conduct them in such a manner as to protect cultural heritage” (Art. IV); “A State that intentionally destroys or intentionally fails to take appropriate measures to prohibit, prevent, stop, and punish any intentional destruction of cultural heritage of great importance for humanity, whether or not it is inscribed on a list maintained by UNESCO or another international organization, bears the responsibility for such destruction, to the extent provided for by international law” (Art. VI); “States should take all appropriate measures, in accordance with international law, to establish jurisdiction over, and provide effective criminal sanctions against, those persons who commit, or order to be committed, acts of intentional destruction of cultural heritage of great importance for humanity, whether or not it is inscribed on a list maintained by UNESCO or another international organization” (Art. VII).
The UNESCO Declaration seeks to establish the legal duty of protecting cultural heritage in time of peace. Its purpose is to produce written law, in addition to the preexisting customary law, establishing an obligation to act. Of course, the Declaration has not yet been transformed into a convention. If the above rules were obligatory, the 38 J. Dressler, Understanding Criminal Law, 3rded., LexisNexis 2001, p. 102; A. Ashworth, Principles of Criminal Law (note 37), p. 45. 39 “Commission by omission”: J. Dressler, Understanding Criminal Law (note 38); A.P. Simester/G.R. Sullivan, Criminal Law, Theory and Doctrine, 3ed edt., Hart Publishing 2007, p. 69 ff.
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destruction of cultural heritage in time of peace would establish the criminal liability of the individual or the state that allowed or did not avert the act, irrespective of the place in which it was committed and the law in force in the country it was committed. But even at the present stage, the Declaration stresses the heavy moral worthlessness of the Museum’s refusal to restore the integrity of the Sculptures and the strong disapproval of the international community towards this omission. Thus, the Declaration, which expressed the repulsion of the international community at the destruction of the Bamiyan Buddhas, as Fishman remarks, “buttresses the position adopted in the ICTY case law that transnational norms may in some instances cabin states’ discretion over disposal of cultural property” and “diminishes the state’s ability to act as a gatekeeper over what shall and shall not be treated as cultural property”.40 c) Far more important, however, is Merryman’s own admission, that perpetuating the present situation is illegal by today’s standards. Under this point of view, the omission of the British Museum to “take all appropriate measures” for remedying a vandalism which, if committed in our times, would be no different to the crimes of ISIS and the Taliban, constitutes a clear commission of destruction of cultural heritage. Therefore, according to English law itself, the perpetuation of this illicit situation raises issues of criminal liability through omission. We may see very clearly the case on the ground of a hypothetical example: If Elgin removed today exactly the same Sculptures, would this be tolerated by the international community? Would it not violate international criminal legislation? Does it not constitute ‘vandalism’? Does it not constitute ‘looting’? The artisan Lusieri himself, who had been tasked with the removal of the Sculptures, admitted “I have even been obliged to be a little barbarous [with the Sculptures]”,41 and Merryman himself acknowledges that “it is undeniable that Elgin’s removals caused serious harm to the structure of the Parthenon”.42 The vandalism committed by Elgin was criminal according to the “general principles of law recognized by civilized nations”43 and the perpetuation of this illicit situation constitutes therefore a crime of destruction of internationally recognized cultural heritage of all mankind committed by omission according to the rules of English domestic law. d) But also according to domestic English law, the omission to restore the integrity of the Sculptures committed by their possessors, raises question of liability on the ground of the Criminal Damage Act of 1971, which in Section 3 provides that:
40 J.P. Fishman, Locating the International Interest in Intranational Cultural Property Disputes (note 21), p. 365 (Fishman too is an opponent of the return of the Sculptures!). 41 J.H. Merryman, Thinking about the Elgin Sculptures (note 2), p. 1884. 42 J.H. Merryman, Thinking about the Elgin Sculptures (note 2), p. 1909. 43 See European Court of Human Rights, case Kolk and Kiislyiy vs. Estonia (note 28).
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“A person who has anything in his custody or under his control intending without lawful excuse to use it or causes or permits another to use it (a) to destroy or damage any property belonging to some other person… shall be guilty of an offence”.44
In our case the possessors of the Sculptures, having them in their custody, contribute to the perpetuation of the barbarian damage caused to the Parthenon by Elgin by omitting the reunification of the monument which belongs to the Greek state qua object of ownership and to the entire mankind qua part of the cultural heritage. e) The 1954 Hague Convention for the Protection of Cultural Property in the Event of Armed Conflict stipulates that “damage to cultural property belonging to any people whatsoever means damage to the cultural heritage of all mankind, since each people makes its contribution to the culture of the world”; and that “the preservation of the cultural heritage is of great importance for all peoples of the world and that it is important that this heritage should receive international protection”.
It is obvious, that the Parthenon has suffered severe damage because of the dismembering of the frieze. It is obvious too, that this damage is recognized by all member states of the Convention as damage to the cultural property of all mankind. Is this not sufficient grounds for the assumption that a legal duty exists for the restoration of the integrity of the monument? According to Nikolai Hartmann, “every value, once conceived, tends to its realization”.45 Thus, in view of the contemporary evolution of International Criminal law, the omission of the British museum to restore the integrity of the monument acquires a definitely criminal character. 2. The Possession of the Sculptures as Money Laundering According to the English Proceeds of Crime Act (POCA) But it is Merryman himself who, in conjunction with later legal developments in the UK, admittedly provides the most essential argument in favor of the Sculptures’ return. Merrryman himself admits that Elgin bribed the Ottomans in order to obtain the necessary permission46 with numerous gifts in both Athens and Constantinople. He further mentions that some of the gifts were given with full transparency and in conformity with the then prevalent customs and were thus legal according to the then applicable law, whilst others were given ‘under the table’ in order to secure a more favorable treatment which he would not otherwise have.47 44 According to the same section “the offence is punishable by imprisonment for ten years”; see D. Ormerod (ed.), Smith & Hogan, Criminal Law, 10th ed., Oxford University Press 2009, pp. 721 f. 45 N. Hartmann, Ethik, 3. edt., Walter de Gruyter 1949, p. 34. 46 J.H. Merryman, Thinking about the Elgin Sculptures (note 2), p. 1901. 47 See also the enlightening work of W. St. Clair, Lord Elgin and the Larbles, 2nded. 1983, p. 93 ff.
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Of course, Merryman concludes that these multiples bribes, which he considers to be indisputable, are not a significant legal consideration and the permissions of the Ottoman authorities were legal irrespective of their motives, since they were later ratified either expressly or by implication from conduct indicating acquiescence.48 Irrespective of the validity of this argument, Merryman’s position is, at least nowadays, inadmissible. The main and simple reason is that the Proceeds of Crime Act has come into force in the UK. The Act provides that bribery is one of the acts on which the legalization of property from criminal activity is predicated and therefore the proceeds of bribery are the proceeds of crime. Bribery, which was in most cases conceived as passive bribery, has been a punishable act in England for centuries, and was usually confused and conflated with the crime of blackmail. Hence, the state official who demanded a material benefit by blackmailing in order to perform an act that was part of his duties was punished. Blackmail of this sort has been punishable in England for 700 years, although the act under the name of bribery appeared in the mid-16th century.49 But not only this: Legislation against bribery was also applied at that time. Judge Noonan mentions the case of Warren Hastings, Governor in the British Colony of Bengal in India, as the first indisputable court-case of bribery in the modern sense, which occurred in 1800, that is 12 years before the looting of the Sculptures by Elgin. This is particularly important because it means that already at the time of the Sculptures’ dismembering the act of bribery was punishable under English law and that bribery legislation was vivid and active at that time.50 Additionally: Further laws on bribery existed in England since ancient times. According to an English decree which remained in force from 1384 till 1881, the Judges 48
Besides, it is beyond any doubt that the ottoman authorities did not give Elgin any right to remove the Sculptures. The letter addressed to Elgin by the ottoman kaymakam Seged Abdullah merely allowed to five English painters, accompanying Elgin “to examine and view, and also to copy the figures remaining there, ab antiquo” it also gave the license to the painters “that as long as the said painters shall be employed in going in and out of the said citadel of Athens, which is the place of their occupations; and in fixing scaffolding round the ancient Temple of the Idols there; and moulding the ornamental sculpture and visible figures thereon, in plaster or gypsum; and in measuring the remains of other old ruined buildings there; and in excavating when they find it necessary the foundations, in order to discover inscriptions which may have been covered in the rubbish; … and that when they wish to take away any pieces of stone with old inscriptions or figures thereon, that no opposition be made thereto”. As Professor Demetriades observes, “we are not going to examine whether this document gave permission to Elgin to remove the sculptures from the Acropolis and transfer them to England. It is obvious that there is no such allusion in it”. See V. Demetriades, Was the removal of the marbles illegal? Document included as Appendix A to the submission of the British Committee for the Restitution of the Parthenon Marbles to the House of Commons Select Committee. 49 J. Lindgren, The Theory, History, and Practice of the Bribery-Extortion Distinction, 141 University of Pennsylvania Law Review (1993), pp. 1695 ff. (1696); see also J.T. Noonan, Bribes, University of California Press 1984, § 315.7. 50 J.T. Noonan, Bribes (1984), pp. 393 ff.
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were forbidden from receiving “robe, fee, pension, gift, nor reward of any but the King, except reward of meat and drink, which shall be no great value”. Similarly, the First Statute of Westminster, the fundamental English law on extortion in force between 1275 and 1968, contained the following provision: “Mo Sheriff, or other officer of the King, shall take any Reward to do his Office, but shall be paid of what he takes of the King”.51 Hence, we may safely deduce from the above, that the looting of the Sculptures was connected with a clear act of bribery in the sense the term had in English law then in force, committed by an English state official since, in addition to the gifts given with transparency, further gifts were given, which were undoubtedly and directly related with overcoming the Ottoman opposition to the removal of the Sculptures and obtaining the relevant permission. Furthermore, we may infer from the Hastings case: (i) that the act of bribery was punished even if the act was committed abroad (though of course in this case it was committed in a colony) and (ii) that even if we accept that the aforementioned provisions referred to passive rather than to active bribery (embracery), in this particular case the imputability in accordance with the English law then in force was adequately established because: – Elgin’s active bribery constituted also an act of participation in passive bribery (since it cannot be seriously claimed that Elgin was blackmailed to take the Sculptures!) and passive bribery was punishable according to English law. – The Sculptures remain the proceeds of crime originating in the passive bribery of the Ottoman authorities. What remains to be examined is whether the active bribery in a foreign country by an English state official was punishable at that time or whether the participation of an English state official in the passive bribery of a foreign subject was punishable by the English law then applicable. But this is not crucial. Because bribery at that time was punishable also under the Islamic criminal law of the Ottoman empire,52 what means that Elgin’s behavior was an offense under this aspect, too. Thus, according to Muslim jurisprudence, specifically the Bursa Shari’a Court Records (BS¸S) of 18th Century, “the crime of bribery is already completed for the person who proposed to give a bribe on whatever stipulations and under whatever circumstances … The agreement should be made between the parties by their free will or consent, and should be formulated before or during the business transaction that is subject to bribery is carried out”.53 51
J. Lindgren, (note 49), p. 1704 with further references. See the thorough work of Ö. Düzbakar, Bribery in Islam Ottoman Penal Codes and Examples from the Bursa Shari’a Records of 18th Century, 51 Bilig Journal of social sciences of the Turkish world (2009), p. 54 ff. 53 Ö. Düzbakar, Bribery in Islam Ottoman Penal Codes (note 52), p. 60. 52
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Furthermore, according to POCA: – every crime and therefore bribery is considered to be a predicate crime for establishing laundering (the POCA follows the so called “all crimes” approach); – even if the predicate crime was committed abroad, the imputability of laundering is not affected, since the legalization of the proceeds took place on British soil (S. 340 (2) b) (Archbold 2006 33 – 29), where the Sculptures are presently kept; – it is inconsequential whether the criminal act took place before the POCA came into force, as long as the legalization is being still committed, i. e. also after the enactment of the law. Further elements of the POCA include: – all benefits resulting directly or indirectly from criminal conduct (S. 340 No 3 & 9) and encompassing every form of property moveable or immovable, material or incorporeal/intangible are regarded as property from criminal conduct (“criminal property”); – an act of legalization is deemed to consist not only in the use of the criminal property but also in the passive possession of that property (POCA, S. 329 Archbold 2006 33 – 13).54 From the above it may be inferred that the passive possession of the Sculptures by the authorities of the British Museum at least fulfil the actus reus of the POCA provisions, since all necessary objective conditions are given.
VII. The Possession of the Sculptures as Moral Stigma But even if this not the case, the possession of the Sculptures is tainted with an intolerable moral stigma,55 which is totally incompatible with the values of our legal civilization. We nurture no illusions: the matter of the return of the Sculptures is principally a political one. However, if we wish to be members of a cultural family that takes law seriously, the principles and rules of domestic and international law must be applied uniformly for all and not selectively just for a few. The retaining of the Sculptures demands the disapproval of the whole civilized community, even if the Trustees of the Museum have another opinion. As it is said, “International crimes such as genocide and war crimes if taken seriously, would seem to demand response regardless of the particular interests and choices of particular political communities. Indeed, the grave nature of such crimes is what allows us to say, quite plau54
See also M. Sutherland Williams/M. Hopmeier/R. Jones (eds.), Millington and Sutherland Williams on The Proceeds of Crime, 5th ed., Oxford University Press 2018. 55 It alludes to the German ‘theory of stigma’ (Lakeltheorie), according to which any object that originates in a criminal act has reduced value and hence the acquirer has fallen prey to fraud, even if, according to civil law, he is obtaining ownership. See Mylonopoulos, Criminal Law, The Special Part, 3ed edt., 2016, p. 465 (in Greek).
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sibly, that states which, by democratic means, choose not to respond are, morally speaking, failing”. Under the premise that violating the historical identity of a people and simultaneously the cultural heritage of mankind is a kind of cultural genocide, the above observation fits exactly to stress the heavy moral shortcoming caused by the possession of the Sculptures.56
56 M. Giudice/M. Schaeffer, Universal Jurisdiction and the Duty to Govern, in: TanguayRenaud/Stribopoulos (eds.), Rethinking Criminal Law Theory, Hart Publishing 2012, p. 243.
Probleme der Rechtfertigung bei der Offenbarung von ärztlichen Geheimnissen (§ 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB) Von Ulfrid Neumann
I. Einleitung Ulrich Sieber, dem dieser Beitrag in kollegialer Hochschätzung gewidmet ist, hat sich in der Festschrift für Albin Eser detailliert mit Fragen des strafrechtlichen Schutzes von ärztlichen Geheimnissen beschäftigt.1 Ich schließe thematisch an diesen Beitrag an, befasse mich aber nicht, wie der Jubilar in der Festschrift für seinen Amtsvorgänger am Freiburger Max-Planck-Institut, mit Problemen des Datenschutzes, wie sie sich im medizinischen Bereich unter den Bedingungen der modernen Informationstechnik stellen, sondern mit allgemeinen Fragen der Rechtfertigung bei der Offenbarung eines ärztlichen Geheimnisses. Auch insoweit stellen sich aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen neue Probleme – hier nicht in der Folge technischer Entwicklungen, sondern aufgrund der Neujustierung rechtspolitischer Wertungen, die beispielsweise dem Schutz kindlicher und jugendlicher Patienten vor Misshandlungen durch sorgeberechtigter Personen eine größere Bedeutung zuerkennen als zuvor.
II. Weichenstellungen 1. Grenzziehung zwischen Tatbestands- und Rechtfertigungsebene Rechtfertigungsgründe sind funktional auf tatbestandsmäßige Handlungen bezogen. Im deutschen Strafrecht ergibt sich das (auch) positiv-rechtlich aus der Bestimmung des § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB, der zufolge rechtswidrig (und deshalb rechtfertigungsbedürftig) nur eine Handlung ist, die den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht. Dieser funktionale Bezug impliziert, dass der Anwendungsbereich (die Extension) des Tatbestands den Anwendungsbereich (die Extension) möglicher Rechtfertigungsgründe begrenzt. Jenseits des Tatbestands ist für Rechtfertigungsgründe kein Raum. Dies bedeutet, dass dort, wo eine Einschränkung der Strafbarkeit im Hinblick auf denselben Faktor sowohl auf der Ebene des Tatbestands als auch im 1
Sieber, in: Arnold u. a. (Hrsg.), Eser-FS, 2005, S. 1155.
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Bereich der Rechtswidrigkeit möglich ist, „Tatbestandslösung“ und „Rechtfertigungslösung“ streng alternativ zu verstehen sind. Bezogen auf die Frage der Strafbarkeit des Arztes nach § 203 StGB im Falle der Zustimmung des dispositionsbefugten Geheimnisträgers: Der Rechtfertigungsgrund der Einwilligung kann nur dann eingreifen, wenn man die Zustimmung des Berechtigten nicht als ein tatbestandsausschließendes Einverständnis wertet.2 Ich gehe im Folgenden mit Ulrich Sieber davon aus, dass es vorzugswürdig ist, die Zustimmung des Berechtigten dogmatisch als rechtfertigende Einwilligung zu qualifizieren.3 Das Merkmal des „unbefugten“ Offenbarens ist dann als Verweis auf die allgemeinen Rechtfertigungsgründe zu verstehen. Da es an dieser Stelle nur um die Reichweite des (auf Rechtfertigungsgründe beschränkten) Themas geht, sei es gestattet, auf eine nähere Begründung zu verzichten – zumal, worauf Sieber zutreffend hinweist, „Tatbestandslösung“ und „Rechtfertigungslösung“ im Ergebnis nicht differieren, sofern man nicht an „Einverständnis“ und „Einwilligung“ hinsichtlich der jeweiligen Voraussetzungen unterschiedliche Anforderungen stellt.4 2. Rechtsgut/Rechtsgüter des § 203 StGB a) Bedeutung der Rechtsgutsbestimmung auf der Rechtfertigungsebene Der Frage nach dem Rechtsgut, das durch den Tatbestand des § 203 StGB geschützt wird, kommt bei der Bestimmung der Reichweite und der Voraussetzungen der beiden hier zentralen Rechtfertigungsgründe (der Einwilligung einerseits, des rechtfertigenden Notstands [§ 34 StGB] andererseits) eine präjudizielle Bedeutung zu. Das wird deutlich, wenn man sich die beiden Pole vergegenwärtigt, zwischen denen sich die Diskussion bewegt, nämlich das Konzept eines rein individuellen, ausschließlich auf Geheimhaltungsinteresse und -willen des Einzelnen bezogenen Rechtsguts einerseits, das eines kollektiven, letztlich als Interesse der Allgemeinheit an der Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens verstandenen Rechtsguts andererseits.5 Hinsichtlich des Rechtfertigungsgrunds der Einwilligung müsste jedenfalls eine Interpretation, die allein auf das Kollektivrechtsgut der (durch das Vertrauen der Allgemeinheit in die ärztliche Verschwiegenheit vermittelten) Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens abstellt, folgerichtig zu dem Ergebnis kommen, dass der betrof2
Für die Einordnung als tatbestandsausschließendes Einverständnis etwa Schönke/Schröder-Eisele, 30. Aufl. 2019, § 203 Rn. 30. 3 Sieber, Eser-FS (Fn. 1), S. 1155 (1160 Fn. 18). Ebenso NK-Kargl, 5. Aufl. 2016, Vor § 201 Rn. 13, 14; Lackner/Kühl, StGB, 29. Aufl. 2016, Vor § 201 Rn. 2. 4 Sieber, Eser-FS (Fn. 1), S. 1160 Fn. 18. 5 Übersicht zur Diskussion bei LK-Schünemann, 12. Aufl. 2010, § 203 Rn. 14 – 17; Jäschke, ZStW 131 (2019), 36 ff; Zander, Umfang und Grenzen des ärztlichen Berufsgeheimnisses in Bezug auf Straftaten. Unter besonderer Berücksichtigung der Situation der forensischen Ambulanzen, 2017, S. 50 ff.
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fene Patient nicht dispositionsbefugt, seiner Zustimmung zur Offenbarung des Geheimnisses also die rechtfertigende Wirkung zu versagen sei. Auch wer das kollektive Rechtsgut als eigenständiges Schutzgut des § 203 StGB neben dem individuellen anerkennen will, kann nicht ohne weiteres begründen, dass die Einwilligung (allein) des Patienten die Preisgabe des Geheimnisses rechtfertigen soll. Gleichgültig, welche Konsequenzen von den Vertretern eines kollektiven Rechtsguts der „Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens“ in diesem Punkt tatsächlich gezogen werden: dass die Identifikation des Rechtsguts (der Rechtsgüter) des § 203 StGB mitentscheidend für die Bestimmung von Reichweite und Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrunds der Einwilligung ist, dürfte außer Streit stehen. Das Gleiche gilt für den Relevanzbereich des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB). Die Bestimmung verweist für die „Abwägung der widerstreitenden Interessen“ explizit und an erster Stelle auf die „betroffenen Rechtsgüter“. Die Frage, welches Rechtsgut/welche Rechtsgüter der Tatbestand des § 203 StGB schützen soll, bekommt damit für die Bestimmung der Struktur und des Gewichts des „Integritätsinteresses“ maßgebliche Bedeutung. Wer davon ausgeht, dass § 203 StGB neben dem individuellen Geheimhaltungsinteresse der unmittelbar betroffenen Person auch ein kollektives Interesse an der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems schützt, kann auf der Seite des Integritätsinteresses ein weiteres Rechtsgut in die Waagschale werfen und diese möglicherweise zum Sinken bringen, wo auf der Grundlage einer exklusiven „Individualschutzlehre“ ein wesentliches Überwiegen des „Eingriffsinteresses“ zu bejahen wäre.6 b) Rechtsgutsstruktur des § 203 StGB Dass der Tatbestand der Verletzung von Privatgeheimnissen jedenfalls auch das individuelle Rechtsguts des Geheimhaltungsinteresses des Betroffenen „Inhabers“ dieses Geheimnisses schützt, steht heute außer Streit. Für diese Auffassung lassen sich zahlreiche überzeugende Argumente anführen. So die äußere Systematik des Gesetzes: die Bestimmung des § 203 StGB findet sich in dem Abschnitt des Strafgesetzbuchs, der Tatbestände der „Verletzung des persönlichen Lebens- und Geheimbereichs“ betrifft. So die Regelung über den Strafantrag (§ 205 StGB), die einen entsprechenden Antrag des Verletzten voraussetzt, und die mit dem Verweis auf das subsidiäre Antragsrecht der Angehörigen (§ 205 Abs. 2 Satz 1) bzw. der Erben (§ 205 Abs. 2 Satz 2) zu erkennen gibt, dass mit dem Verletzten offenbar eine individuelle Person gemeint ist. So schließlich die Gesetzesgeschichte, die erkennen lässt, dass der Schutz individueller Interessen sowohl bei § 203 StGB als auch bei dessen Vorläufern stets (zumindest) im Vordergrund stand.7 6
Zu der entsprechenden Argumentation von Grünwald zugunsten der Anerkennung eines kollektiven Schutzguts des § 203 StGB (zurückhaltend) Jäschke, ZStW 131 (2019), 36 (61). 7 Näher dazu Jäschke, ZStW 131 (2019), 36 (44 ff). Relativierend hinsichtlich des Gewichts dieses Arguments MüKoStGB-Cierniak/Niehaus, 3. Aufl. 2018, § 203 Rn. 3.
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Der Diskussion offen steht damit nur die Frage, ob § 203 StGB neben dem individuellen Rechtsgut des Geheimhaltungsinteresses des Betroffenen zusätzlich das Vertrauen der Allgemeinheit in die Verschwiegenheit der Angehörigen bestimmter Berufsgruppen (und damit auch das gesellschaftliche Interesse an der Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens) schützt. Auch in diesem Punkt lässt sich vorab ein Konsens festhalten. Auch von den Vertretern der „Individualschutzlehre“ wird nicht in Frage gestellt, dass die Vorschrift faktisch auch das gesellschaftliche Vertrauen in die Verschwiegenheit der Angehörigen der aufgelisteten Berufsgruppen stabilisiert.8 Umstritten ist, ob dieser tatsächliche Effekt sich als geschütztes Rechtsgut dem normativen Programm des § 203 StGB zuordnen lässt – mit der Konsequenz, dass er bei der Auslegung des Tatbestands wie auch bei der Bestimmung der Reichweite und der Voraussetzungen der allgemeinen Rechtfertigungsgründe (dazu vorstehend) zu berücksichtigen wäre – oder ob es sich (sit venia verbo) um einen „Kollateralnutzen“ handelt, dem eine normative Relevanz abzusprechen wäre. Die wohl überwiegende Auffassung geht davon aus, dass der Schutz des gesellschaftlichen Interesses an der Verschwiegenheit von Ärzten, Rechtsanwälten und Angehörigen der anderen genannten Berufsgruppen als kollektives Rechtsgut neben das individuelle des persönlichen Geheimhaltungsinteresses tritt.9 Unterschiede bestehen allerdings hinsichtlich des relativen Gewichts des individuellen und des kollektiven Rechtsguts. Teilweise werden beide Rechtsgüter gleichwertig nebeneinandergestellt,10 teilweise wird dem individuellen Geheimhaltungsinteresse der Vorrang zuerkannt.11 Die früher verschiedentlich vertretene Auffassung, dass der Schutz des Gemeinschaftsinteresses im Vordergrund stehe,12 findet heute, soweit ersichtlich, keine Anhänger mehr. Das zentrale Argument, das für eine (jedenfalls: auch) gesellschaftsschützende Stoßrichtung des § 203 StGB vorgebracht wird, resultiert aus der Begrenztheit des schweigepflichtigen Personenkreises. Das Interesse des Einzelnen an der Geheimhaltung bestimmter Informationen über seine Privatsphäre oder seinen Berufsund Geschäftsbereich sei indifferent gegenüber der Person und Gruppenzugehörigkeit dessen, der über eine solche Information verfüge und sie ggf. weitergebe. Deshalb lasse sich aus der Sicht der „Individualschutztheorie“ die Beschränkung des Täterkreises auf Ärzte, Rechtsanwälte usw. nicht begründen. Mit anderen Worten: Die Ausgestaltung des Tatbestands als „Sonderdelikt“ sei nur zu erklären, wenn man das
8
NK-Kargl § 203 Rn. 4; Jäschke, ZStW 131 (2019), 36 (63). Übersicht zur Diskussion bei Jäschke, ZStW 131 (2019), 36 (37 ff.) und bei Zander (Fn.5), S. 53 ff. 10 So etwa MüKoStGB-Cierniak/Niehaus, § 203 Rn. 4 f. 11 Fischer, StGB, 66. Aufl. 2019 § 203 Rn. 3; Schönke/Schröder-Eisele, § 203 Rn. 3; Lackner/Kühl-Heger, § 203 Rn. 1; Michalowski, ZStW 109 (1997), 519 (522). 12 Nachw. bei Jäschke, ZStW 131 (2019), 36 (43 m. Fn. 52). 9
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gesellschaftliche Interesse an der Verschwiegenheit gerade der Angehörigen bestimmter Berufsgruppen bei der Bestimmung des Rechtsguts mit einbeziehe.13 An diesem Argument ist richtig, dass die „Gemeinschaftsschutzlehre“ die Beschränkung einer strafrechtlich sanktionierten Schweigepflicht auf Angehörige der in § 203 StGB genannten Berufsgruppen in der Tat überzeugend begründen kann. Problematisch ist aber die Behauptung, dass dies auf der Grundlage eines rein individualistischen Ansatzes nicht gelingen könne. Denn das Verhältnis des Geheimnisträgers zu dem Arzt, dem Rechtsanwalt etc. unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkt von dem zu einem beliebigen Dritten: Um die Dienste des Arztes etc. erfolgreich in Anspruch nehmen zu können, ist es typischerweise erforderlich, diesem auch sensible Informationen anzuvertrauen. Es besteht in diesem Sinne eine Obliegenheit zur Weitergabe solcher Informationen im Arzt-Patient-Verhältnis, in der Rechtsanwalt-Mandant-Beziehung etc. Der Begriff der Obliegenheit ist dabei im „technischen“ Sinne zu verstehen: Er bezeichnet das Verbunden-Sein zu einer Handlung, deren Unterlassung nicht pflichtwidrig, aber für den Unterlassenden selbst mit Nachteilen verbunden ist. Diese Nachteile sind im Regelfall tatsächlicher Art: Für eine zutreffende Diagnose – und damit für eine gezielte Therapie – ist der Arzt regelmäßig auf Informationen des Patienten angewiesen, an denen dieser grundsätzlich ein Geheimhaltungsinteresse hat. Entsprechendes gilt im Verhältnis zwischen Rechtsanwalt und Klient sowie in den Beziehungen zu Angehörigen der anderen in § 203 StGB genannten Berufsgruppen. Es können sich aber auch rechtliche Nachteile ergeben – etwa, wenn aufgrund falscher oder unvollständiger Angaben des Patienten aufwendige und kostspielige Diagnoseoder Therapiemaßnahmen eingeleitet wurden, die vermeidbar waren und die bei korrekter und vollständiger Information des Arztes vermieden worden wären. Es markiert lediglich die Kehrseite dieser Obliegenheit zur Information (exemplarisch) des Arztes oder des Rechtsanwalts, wenn hervorgehoben wird, dass es im Rahmen von Alltagsverhältnissen in der freien Entscheidung des Geheimnisträgers liegt, ob er die Information an eine dritte Person weitergeben will oder nicht. Das potentielle Opfer hat es insoweit selbst in der Hand, sich vor der Weitergabe von Informationen durch einen Dritten zu schützen; es bedarf deshalb nicht des strafrechtlichen Schutzes.14 Mit diesen im Schrifttum geläufigen Erwägungen lässt sich begründen, dass die Ausgestaltung des Tatbestands der „Verletzung von Privatgeheimnissen“ als Sonderdelikt nicht dazu zwingt, neben dem individuellen auch ein gesellschaftliches Interesse an der Verschwiegenheit der Angehörigen der aufgeführten Berufsgruppen als Rechtsgut des § 203 StGB anzuerkennen. Noch nicht gezeigt ist damit, dass die An-
13
Exemplarisch: MüKoStGB-Cierniak/Niehaus, § 203 Rn. 4. Von Schünemann als „viktimodogmatische“ Argumentation bezeichnet (LK-Schünemann, § 203 Rn. 16 ff). 14
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nahme eines solchen weiteren Rechtsguts des Straftatbestands nicht gleichwohl sinnvoll sein könnte. Entscheidend gegen diese Annahme spricht aber, dass sie im Bereich der ärztlichen Schweigepflicht, für den sie vor allem vertreten wird, entweder zur Konstruktion eines fiktiven kollektiven Rechtsguts oder aber zu einer fragwürdigen „Kollektivierung“ individueller Rechtsgüter führen würde. Ersteres ist der Fall, wenn der Sache nach auf den Gesichtspunkt der „Volksgesundheit“ zurückgegriffen wird:15 Ohne die Gewissheit, dass der Arzt zum Schweigen verpflichtet ist, würden manche Patienten, so die Argumentation, aus Furcht vor Strafverfolgung oder anderen sozialen oder rechtlichen Nachteilen auf einen an sich indizierten Arztbesuch verzichten. Aus der daraus resultierenden Nichtbehandlung ihrer Erkrankungen könnten sich Gefahren für die „Volksgesundheit“ ergeben. Diese Argumentation basiert nicht nur auf fragwürdigen empirischen Annahmen,16 sondern auch auf einem Kategorienfehler. „Gesundheit“ bezeichnet, ebenso wie „Krankheit“, jenseits bestimmter politischer Ideologien, einen Zustand von Individuen, nicht von Kollektiven. Natürlich kann man den individuellen Gesundheitszustand der Mitglieder einer Bevölkerungsgruppe auf die gesamte Gruppe hochrechnen; aber daraus resultiert lediglich ein statistischer Wert, nicht aber ein Gesundheitszustand als Eigenschaft „des Volkes“.17 Ein Rechtsgut der „Volksgesundheit“ gibt es nicht. Zu einer „Kollektivierung“ individueller Rechtsgüter führt die Annahme einer Parallelität von Individualschutz und Gemeinschaftsschutz dann, wenn man argumentiert, gerade durch die Wahrung des individuellen Interesses an Geheimhaltung werde das gesellschaftliche Vertrauen in die Verschwiegenheit der Angehörigen der in § 203 StGB aufgelisteten Berufsgruppen geschützt. Denn in gleicher Weise ließe sich zu praktisch allen individuellen Rechtsgütern ein kollektives Rechtsgut konstruieren. So würde dem strafrechtlichen Eigentumsschutz (beispielsweise durch § 242 StGB) ein kollektives Rechtsgut des „Vertrauens in die Effizienz der Eigentumsgarantie“ entsprechen, dem im Straftatbestand des Hausfriedensbruchs (§ 123 StGB) geschützten individuellen Rechtsgut das gesellschaftliche Vertrauen in die alleinige Verfügungsbefugnis hinsichtlich der eigenen Räumlichkeiten. Die Annahme derartiger kollektiver Rechtsgüter, die nichts anderes wären als Spiegelungen individueller Rechtsgüter auf der Ebene der Gesellschaft, wäre nicht nur methodisch problematisch. Sie würde auch Gefahr laufen, die alleinige Dispositionsbefugnis des Inhabers des individuellen Rechtsguts in Frage zu stellen. Tatsächlich ist das gesellschaftliche Vertrauen in die Verschwiegenheit der Angehörigen der aufgelisteten Berufsgruppen
15
Dazu krit. Jäschke, ZStW 131 (2019), 36 (42). Dazu Jäschke, ZStW 131 (2019), 36 (60). 17 Der Topos der „Volksgesundheit“ ist in diesem Kontext nicht weniger verfehlt als bei der Bestimmung des Rechtsguts der Drogendelikte (dazu NK-Neumann, § 34 Rn. 31). 16
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„nichts anderes als das generalpräventive Interesse, das hinter jeder Bestrafung steht“.18
III. Rechtfertigungsgründe 1. Spezialgesetzliche Regelungen Unter den spezialgesetzlichen Regelungen, die in der Form von Offenbarungsbefugnissen oder -pflichten Rechtfertigungsgründe hinsichtlich der Weitergabe von Patientengeheimnissen statuieren, verdient Hervorhebung die Bestimmung des § 4 des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG).19 Die Bestimmung lautet, soweit sie im vorliegenden Zusammenhang von Bedeutung ist: „(1) Werden Ärztinnen oder Ärzten, Hebammen oder Entbindungspflegern oder Angehörigen eines anderen Heilberufes, der für die Berufsausübung oder die Führung der Berufsbezeichnung eine staatlich geregelte Ausbildung erfordert, … in Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder eines Jugendlichen bekannt, so sollen sie mit dem Kind oder Jugendlichen und den Personensorgeberechtigten die Situation erörtern und, soweit erforderlich, bei den Personensorgeberechtigten auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinwirken, soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird. (2) … (3) Scheidet eine Abwendung der Gefährdung nach Absatz 1 aus oder ist ein Vorgehen nach Absatz 1 erfolglos und halten die in Absatz 1 genannten Personen ein Tätigwerden des Jugendamtes für erforderlich, um eine Gefährdung des Wohls eines Kindes oder eines Jugendlichen abzuwenden, so sind sie befugt, das Jugendamt zu informieren; hierauf sind die Betroffenen vorab hinzuweisen, es sei denn, dass damit der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen in Frage gestellt wird. Zu diesem Zweck sind die Personen nach Satz 1 befugt, dem Jugendamt die erforderlichen Daten mitzuteilen.“
Die Bestimmung statuiert keine Offenbarungspflicht, sondern lediglich eine Offenbarungsbefugnis. Fraglich ist, ob sich diese Offenbarungsbefugnis nach allgemeinen Regeln zu einer strafrechtlich sanktionierten (§§ 223, 13 StGB) Pflicht verdichtet, wenn dem Kind oder Jugendlichen offensichtlich (weitere) Misshandlungen seitens der Eltern oder anderer Personen drohen. Dies ließe sich möglicherweise mit der 18
LK-Schünemann, § 203 Rn. 15 a.E. (unter Hinweis auf Heike Jung und Schmidhäuser); ebenso NK-Kargl, § 203 Rn. 4. 19 „Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG)“ v. 22. 12. 2011 (BGBl I S. 2975). Zu weiteren spezialgesetzlichen Rechtfertigungsgründen (§§ 138, 139 StGB u. a.) vgl. die Auflistung bei LK-Schünemann, § 203 Rn. 120 ff. und NK-Kargl, § 203 Rn. 71 ff.
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Begründung bejahen, dass dem Arzt eine Garantenstellung für die Gesundheit des Patienten obliegt. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass die aus dieser Garantenstellung resultierende Garantenpflicht sich jedenfalls in ihrem Kern auf die Abwehr von Gefährdungen bezieht, die sich aus dem Gesundheitszustand bzw. der gesundheitlichen Disposition des Patienten ergeben. Die Frage, ob sich aus der Garantenstellung des Arztes eine strafbewehrte Pflicht ergeben kann, einen Patienten vor einer Schädigung seiner Gesundheit durch eine dritte Person zu bewahren, war Gegenstand zweier Entscheidungen des OLG Frankfurt20 aus dem Jahre 1999. Der Senat bejahte nicht nur eine aus § 34 StGB abgeleitete Befugnis des Arztes, die Ehefrau eines HIV-infizierten Patienten über die Erkrankung ihres Ehemannes zu informieren. Er erkannte auch auf eine entsprechende rechtliche Verpflichtung, da auch die Ehefrau zu seinen Patienten gehörte. Die Entscheidungen sind im Schrifttum auf Kritik gestoßen.21 Die grundsätzliche Berechtigung dieser Kritik dahingestellt: Wenn § 4 KKG dem Arzt im Falle einer Gefährdung des Wohls eines Kindes oder eines Jugendlichen eine Offenbarungsbefugnis einräumt, die nicht an die engen Voraussetzungen des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB) gebunden ist, dann wird damit eine Zuständigkeit des Arztes für die Wahrung des Jugendlichen- und Kindeswohls anerkannt, die über die Verantwortung, die er für seine erwachsenen Patientinnen und Patienten trägt, hinausgeht. Es dürfte deshalb jedenfalls in dieser Konstellation gerechtfertigt sein, auch eine Informationspflicht des Arztes gegenüber den zuständigen Behörden anzunehmen, sofern eine von Seiten Dritter drohende gegenwärtige Gefahr für die körperliche Integrität des (kindlichen oder jugendlichen) Patienten zu bejahen ist, die im Rahmen der ärztlichen Untersuchung deutlich geworden ist. Ebenso wie bei § 34 StGB stellt sich im Rahmen des § 4 KKG die Frage, ob eine Rechtfertigung auch dann in Betracht kommt, wenn derjenige, zu dessen Gunsten die „Rettungshandlung“ vorgenommen werden soll, dieser Handlung widerspricht. Die Frage dürfte für einsichtsfähige kindliche und jugendliche Patienten zu verneinen sein.22 Mit der Bejahung der Einsichtsfähigkeit wird anerkannt, dass die Dispositionsbefugnis über das Geheimnis bei dem Geheimnisträger selbst liegt. Das Prinzip der Patientenautonomie, das auch einsichtsfähige Kinder und Jugendliche schützt, blockiert grundsätzlich eine paternalistische ärztliche Maßnahme. Ob tatsächlich eine freiverantwortliche, von Willensmängeln freie Entscheidung vorliegt, oder ob der kindliche bzw. jugendliche Patient etwa aus Angst vor den Reaktionen der Erziehungsberechtigten (oder dritter Personen) der Weitergabe der Informationen widerspricht, bleibt sorgfältig zu prüfen.
20 OLG Frankfurt a. M. NStZ 2001, 149 (Urteil); OLG Frankfurt a. M. NStZ 2001, 150 (Beschluss in demselben Verfahren). 21 Wolfslast, NStZ 2001, 151. 22 Ebenso Zander, Umfang (Fn. 5) S. 204.
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2. Einwilligung a) Zustimmung des Geheimnisträgers Die Zustimmung des dispositionsbefugten Geheimnisträgers wird vorliegend als rechtfertigende Einwilligung (und nicht als tatbestandsausschließendes Einverständnis) gewertet.23 Schwierigkeiten bereitet die Frage, wer – im Themenbereich der ärztlichen Schweigepflicht – neben dem Patienten selbst als möglicher Geheimnisträger in Betracht kommt. Das Problem wird unter dem Begriff des „Drittgeheimnisses“ erörtert, der allerdings unterschiedlich interpretiert wird.24 Grundsätzlich kommen neben dem Patienten derjenige, der dem Arzt ein Geheimnis des Patienten anvertraut (1), sowie ein Dritter in Betracht, der ein eigenes Interesse an der Geheimhaltung einer Information hat, die ihn betrifft und die dem Arzt im Zusammenhang mit dessen beruflicher Tätigkeit bekannt geworden ist (2). (1) Hinsichtlich der ersteren Konstellation wird teilweise vertreten, dass nur der Informant Geheimnisträger iSd § 203 StGB sei, nicht aber der Patient, auf dessen Gesundheitszustand sich die Information beziehe. Am Beispiel: Der Ehemann, der dem Art anvertraue, seine Frau leide an epileptischen Anfällen, sei der alleinige Geheimnisträger; der Arzt mache sich folglich nicht strafbar, wenn er mit Einwilligung des Ehemanns (aber ohne Zustimmung seiner Patientin) diese Information weitergebe.25 Begründet wird das außer mit datenschutzrechtlichen Erwägungen, zu denen hier nicht Stellung genommen werden kann, mit dem Argument, es wäre verfehlt, den Arzt, der mit Einwilligung (nur) des Ehemannes die Information weitergebe, zu bestrafen, diesen selbst aber straflos zu lassen.26 Aber das erscheint nicht zwingend. Denn die strafbewehrte Verschwiegenheitspflicht des Arztes resultiert aus der Struktur des § 203 StGB als Sonderdelikt; wenn in dem Beispiel der Arzt, nicht aber der Ehemann bestraft wird, so liegt darin folglich kein Wertungswiderspruch. Vorzugswürdig dürfte sein, gemäß dem Telos des § 203 StGB (Schutz des Interesses des Patienten an der Verschwiegenheit des Arztes) auch in derartigen Fällen den Patienten als alleinigen Geheimnisträger anzusehen. (2) Informationen, hinsichtlich derer ein Geheimhaltungsinteresse einer dritten Person besteht, werden teilweise in außerordentlich weitem Umfang in den Schutzbereich des § 203 StGB einbezogen, soweit sie dem Arzt bzw. dessen Mitarbeiterinnen nur bei Gelegenheit der ärztlichen Tätigkeit bekannt geworden sind.27 Das soll etwa für Beobachtungen gelten, die der Arzt oder eine Mitarbeiterin/ein Mitarbeiter an einer Begleitperson des Patienten im Wartezimmer gemacht hat.28 Aber damit 23
Dazu oben unter II.1. Vgl. die Darstellungen bei Schönke/Schröder-Eisele, § 203 Rn. 31; NK-Kargl, § 203 Rn. 55; LK-Schünemann, § 203 Rn. 99. 25 Arzt/Weber/Heinrich-Hilgendorf, Strafrecht Besonderer Teil, 3. Aufl. 2015, § 8 Rn. 33. 26 Arzt/Weber/Heinrich-Hilgendorf (Fn. 25), § 8 Rn. 38 m. Fn. 108. 27 Übersicht bei LK-Schünemann, § 203 Rn. 39. 28 Nachw. bei LK-Schünemann, § 203 Rn. 39. 24
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wird der Tatbestand, der das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient schützen soll, überdehnt.29 Informationen, die ausschließlich dritte Personen betreffen, werden nur dann vom Schutzbereich des § 203 StGB erfasst, wenn sie innerhalb der geschützten Vertrauensbeziehung erlangt worden sind.30 Die Frage, wer in diesem Fall den Arzt von seiner Schweigepflicht befreien kann, ist umstritten.31 Die Auffassung, die allein dem Dritten die Dispositionsbefugnis zuerkennt, vernachlässigt wiederum die Schutzrichtung des Tatbestands, der auf das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient zielt. Auch bei dieser Konstellation ist deshalb der Zustimmung des Patienten zur Weitergabe der Information rechtfertigende Wirkung zuzuerkennen. 32 In Fällen, in denen das Geheimnis sowohl den Patienten als auch einen Dritten betrifft, steht die Dispositionsbefugnis allein dem Patienten zu. Das gilt beispielsweise für die Information über die Identität des Täters einer dem Patienten zugefügten Verletzung.33 Es gilt auch im Falle einer Kindesmisshandlung, soweit das misshandelte Kind/der misshandelte Jugendliche über die erforderliche Einsichtsfähigkeit verfügt.34 Aus dem Sorgerecht ergibt sich ebenso wenig etwas anderes wie aus dem Umstand, dass die Sorgeberechtigten (ggf.) den Behandlungsvertrag abgeschlossen haben.35 Selbstverständlich kommt im Falle von Kindesmisshandlungen ein im Rahmen des § 203 StGB schutzwürdiges Geheimhaltungsinteresse der Eltern/Sorgeberechtigten auch nicht deshalb in Betracht, weil diese ein nachvollziehbares Interesse an der Nichtweitergabe der Information haben. § 203 StGB dient dem Schutz des Geheimhaltungsinteresses von Patientinnen und Patienten im Verhältnis zu dem behandelnden Arzt, nicht dem Schutz des Täters, der den Patienten/die Patientin misshandelt hat, vor Strafverfolgung. Allerdings kann der jugendliche/kindliche Patient selbst ein Interesse daran haben, die Eltern oder andere Personen vor Strafverfolgung zu bewahren. In diesem Fall hat er die Möglichkeit, die Einwilligung in die Weitergabe der Information über den/die Täter zu verweigern. b) Stellvertretende Zustimmung Schwierigkeiten ergeben sich in den Fällen, in denen das kindliche oder jugendliche Opfer einer Misshandlung durch Eltern oder andere sorgeberechtigte Personen 29
Ebenso LK-Schünemann, § 203 Rn. 39; NK-Kargl, § 203 Rn. 18. LK-Schünemann, § 203 Rn. 39. 31 Nachw. bei LK-Schünemann, § 203 Rn. 99. 32 LK-Schünemann, § 203 Rn. 99 mit dem Hinweis, dass auch die Einwilligung des Dritten (soweit es ausschließlich um dessen Geheimnis geht) die Weitegabe der Information rechtfertigt. Anders insofern Zander, Umfang (Fn. 5), S. 101. 33 So überzeugend Zander, Umfang (Fn. 5), S. 101. 34 Braun, Schweigepflicht in Arztpraxis und Krankenhaus, in: C.Roxin/U.Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 222 (244). 35 Braun (Fn. 34), S. 244. 30
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nach dem Stand seiner Einsichtsfähigkeit nicht einwilligungsfähig ist. Grundsätzlich kommt bei einwilligungsunfähigen Kindern oder Jugendlichen als Rechtfertigungsgrund zunächst eine stellvertretende Einwilligung der Sorgeberechtigten, also im Regelfall der Eltern, in Betracht. Die zivilrechtlichen Bestimmungen (§§ 1626 ff. BGB) können hier analog herangezogen werden.36 Die Entscheidungsbefugnis der Sorgeberechtigten ist auch in den Fällen, in denen die Verletzungen Folge einer Misshandlung des Opfers durch den/die Sorgeberechtigten selbst sind, unproblematisch, soweit diese einer Weitergabe der Informationen, die dem Schutz vor weiteren Misshandlungen dienen sollen, zustimmen. Allerdings dürfte dieser Fall selten sein. Im Regelfall werden die Täter/Innen versuchen, schon gegenüber dem Arzt den Ursprung der Verletzungen zu verheimlichen; dass sie dann, wenn der Arzt gleichwohl die Ursache erkennt, einer Information der zuständigen Behörden zustimmen, ist allenfalls in seltenen Fällen vorstellbar. Die Frage ist, ob und unter welchen Voraussetzungen die Weitergabe der Informationen an das Jugendamt (oder eine andere Behörde) durch den Arzt gleichwohl gerechtfertigt sein kann. Man wird in diesen Fällen jedenfalls nicht von einer „Sperrwirkung“ der Verweigerung der Zustimmung seitens der Sorgeberechtigten auszugehen haben. Die Eltern haben die Entscheidung über die Erteilung oder Verweigerung der stellvertretenden Einwilligung im Interesse des Kindeswohls zu treffen. Auch wenn ihnen dabei ein Bewertungsspielraum zuzuerkennen ist, ist die Entscheidung jedenfalls dann unverbindlich, wenn sie den Interessen des Kindes offenkundig widerspricht.37 Aus dieser Unverbindlichkeit der pflichtwidrigen Entscheidung der Sorgeberechtigten ergibt sich aber noch keine Rechtfertigung für das Handeln des Arztes, der die Behörden entgegen dem Willen der Sorgeberechtigten über den Verdacht einer Kindesmisshandlung informiert.38 Erforderlich ist ein „positiver“ Rechtfertigungsgrund. In Betracht kommen hier neben der Sonderregelung des § 4 KKG39 in erster Linie die mutmaßliche Einwilligung sowie der rechtfertigende Notstand (§ 34 StGB). 3. Mutmaßliche Einwilligung Dass die mutmaßliche Einwilligung als Rechtfertigungsgrund auch bei § 203 StGB grundsätzlich in Betracht kommt, entspricht der einhelligen Meinung.40 Noch nicht geklärt ist dagegen, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen bei Perso36 Zu den Voraussetzungen näher Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Aufl. 2006, § 13 Rn. 92, 93. 37 Näher dazu Zander, Umfang (Fn. 5), S. 141. Die Frage, ob hinsichtlich Vermögensdispositionen anderes gilt, ist hier nicht zu erörtern. 38 Zutr. Zander, Umfang (Fn. 5) S. 141. 39 Dazu oben unter III.1. 40 Statt aller: NK-Kargl § 203 Rn. 61, der zutreffend darauf hinweist, dass dies auch hinsichtlich der Autoren/Autorinnen gilt, die die tatsächliche Zustimmung als tatbestandsausschließendes Einverständnis qualifizieren.
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nen, die konstitutionell nicht einwilligungsfähig sind, auf das Institut der mutmaßlichen Einwilligung zurückgegriffen werden kann. Das betrifft vor allem Kinder/Jugendliche, die aufgrund ihres altersbedingten Entwicklungsstandes nicht in der Lage sind, eine verantwortliche Entscheidung (bzw. überhaupt eine Entscheidung) zu treffen. Die Antwort auf diese Frage hängt auch davon ab, wo man das Institut der mutmaßlichen Einwilligung, das dogmatisch „zwischen der Einwilligung und dem rechtfertigenden Notstand“ steht,41 hinsichtlich seiner „Wertstruktur“ rekonstruiert. Eine zentrale Rolle kommt dabei der Frage zu, ob – wie es die Benennung des Rechtfertigungsgrundes suggeriert – in jedem Fall ein tatsächlicher Wille des Betroffenen als Bezugspunkt der „mutmaßlichen“ Einwilligung vorhanden sein muss, oder ob es in Ermangelung eines solchen tatsächlichen Willen genügt, die Entscheidung auf der Grundlage der einsichtigen Interessen des Betroffenen zu treffen. Es liegt auf der Hand, dass im ersteren Fall der sachliche Bezug des Instituts zur tatsächlichen Einwilligung, im letzteren der zum rechtfertigend Notstand (§ 34 StGB) in den Vordergrund gestellt wird. Die Parallelisierung mit der tatsächlichen Einwilligung geht dort besonders weit, wo als Voraussetzung der mutmaßlichen Einwilligung die (grundsätzliche) Einwilligungsfähigkeit des Rechtsgutsträgers verlangt wird.42 Bei deren Fehlen soll es danach auf den mutmaßlichen Willen des gesetzlichen Vertreters ankommen.43 Das ist folgerichtig, wenn man die mutmaßliche Einwilligung im Sinne einer „vermuteten“ Einwilligung versteht. Dann gilt: soweit die tatsächliche Einwilligung (mangels Einwilligungsfähigkeit) unerheblich wäre, kann es auch auf die „mutmaßliche“ (vermutete) nicht ankommen. Indes: Im Sinne des gleichnamigen Rechtsinstituts ist die „mutmaßliche“ Einwilligung etwas anderes als die „vermutete“.44 Es handelt sich, wie Roxin zutreffend hervorhebt, um ein „normatives Konstrukt“. Dann aber ist es nicht zwingend, als Bezugspunkt eine tatsächliche Einwilligungsfähigkeit des Rechtsgutsinhabers zu verlangen. Als „normatives Konstrukt“ orientiert sich die mutmaßliche Einwilligung notwendiger Weise an den Interessen des Rechtsgutsinhabers, anhand derer die mutmaßliche Einwilligung „konstruiert“ wird. Es ist deshalb auch nicht überzeugend, wenn es als „begriffliche Unmöglichkeit“ bezeichnet wird, bei konstitutionell einwilligungsunfähigen Personen auf eine mutmaßliche Einwilligung abzustellen.45 Das gilt ungeachtet der Frage, ob diese Personen nicht mehr (etwa infolge geistigen Verfalls oder als Koma-Patienten), oder aber (altersbedingt) noch nicht in der Lage sind, einen verantwortlichen Willen zu bil-
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Roxin, Strafrecht AT I (Fn. 36), § 18 Rn. 4. So Roxin, Strafrecht AT I (Fn. 36), § 18 Rn. 4. 43 Roxin, Strafrecht AT I (Fn. 36), § 18 Rn. 4. 44 Otto, Grundkurs Strafrecht AT, 7. Aufl. 2004, § 8 Rn. 130 (Unterscheidung zwischen mutmaßlicher und „gemutmaßter“ Einwilligung). 45 So aber Zander, Umfang (Fn. 5) S. 141 im Anschluss an Merkel. 42
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den.46 Selbst in den Fällen, in denen noch keine Fähigkeit zur Bildung eines natürlichen Willens besteht, kann auf das Institut der „mutmaßlichen Einwilligung“ zurückgegriffen werden. Der mutmaßliche Wille ist in diesen Fällen anhand der objektiven Interessenlage unter Berücksichtigung typischer, genereller Wertvorstellungen zu (re-)konstruieren.47 Die eher einer vordergründigen Logik der Sprache als der Sachlogik verpflichtete Ansicht, ein Rückgriff auf eine mutmaßliche Einwilligung sei bei konstitutionell einwilligungsunfähigen Personen begrifflich unmöglich, kann im Übrigen auch deshalb nicht überzeugen, weil auch diesen Personen ein rechtlich relevanter Wille zugeschrieben wird – im Rahmen des § 203 StGB in Form eines Geheimhaltungswillens,48 bei § 242 StGB in Gestalt eines Gewahrsamswillens.49 Dann aber ist nicht einzusehen, warum es nicht möglich sein sollte, diese Zuschreibung über das Institut der mutmaßlichen Einwilligung in den Fällen zu modifizieren, in denen sie zu Ergebnissen führt, die den Interessen des Kindes offensichtlich zuwiderlaufen. Es sollte deshalb auch bei nicht einwilligungsfähigen Rechtsgutsinhabern auf deren Interessen abgestellt werden, nicht auf eine mutmaßliche Einwilligung der Eltern. Das gilt nicht nur in den Fällen der Einwilligungsunfähigkeit eines misshandelten Kindes (dazu oben), in denen allerdings besonders deutlich wird, dass der Rückgriff auf die mutmaßliche Einwilligung der Eltern zu inakzeptablen Ergebnissen führen kann. Es gilt grundsätzlich, weil das Prinzip der Autonomie verlangt, dass die Entscheidung über die Rechtfertigung einer Rechtsgutsbeeinträchtigung sich an den Interessen (und, soweit möglich, an dem Willen) des Rechtsgutsinhabers orientiert. Das Autonomieprinzip spricht auch gegen die Alternative, bei einwilligungsunfähigen Rechtsgutsinhabern auf die Regeln des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB) zurückzugreifen.50 Auch wenn hier im Ergebnis keine Unterschiede resultieren dürften, sofern man bei internen Interessenkollisionen – richtigerweise – auf die Voraussetzung eines „wesentlichen“ Überwiegens des zu schützenden Interesses verzichtet: Der Rechtfertigungsgrund der mutmaßlichen Einwilligung wahrt den Bezug zur Autonomie der Person, der im Institut des rechtfertigenden Notstands keine Widerspiegelung findet. Die Entscheidung, ob die Voraussetzungen einer mutmaßlichen Einwilligung vorliegen, verlangt eine sorgfältige Abwägung der Pro- und Contra-Argumente. So kann bei § 203 StGB nicht generell von einem mutmaßlichen Willen des Opfers einer Misshandlung ausgegangen werden, die zuständigen Behörden über die Tat zu infor46
So offensichtlich auch Jakobs, der auch bei Neugeborenen auf den Rechtfertigungsgrund der mutmaßlichen Einwilligung zurückgreift (Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, 15/17). 47 Näher dazu NK-Neumann, Vor § 211 Rn. 119 – 121, 136, 137. 48 LK-Schünemann, § 203 Rn. 25. 49 Parallele bei LK-Schünemann, § 203 Rn. 25. 50 Dafür insbes. Merkel, ZStW 107 (1995), 545 (557 ff).
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mieren. Zu berücksichtigen sind hier mögliche Belastungen, denen das Opfer selbst in einem Strafverfahren ausgesetzt sein könnte, bei innerhalb der Familie begangenen Straftaten auch eine Erhöhung des innerfamiliären Aggressionspotentials, die auch das Opfer bedrohen würde.51 Eine mutmaßliche Einwilligung des Opfers ist aber jedenfalls dann anzunehmen, wenn ohne die Einschaltung der Behörden weitere erhebliche Verletzungen drohen würden.52 4. Rechtfertigender Notstand (§ 34 StGB) a) Abgrenzung zur mutmaßlichen Einwilligung Nach dem oben Ausgeführten besteht kein Anlass, auf das Institut des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB) zurückzugreifen, soweit dem Interesse des Geheimnisträgers an der Nichtweitergabe der fraglichen Information lediglich eigene Interessen gegenüberstehen.53 In diesen Fällen ist allein das Institut der mutmaßlichen Einwilligung einschlägig. Dabei ist der mutmaßliche Wille des Rechtsgutsinhabers anhand bekannter subjektiver Präferenzen zu (re-)konstruieren. Soweit derartige Präferenzen nicht bekannt oder (etwa bei Kleinkindern) nicht existent sind, ist allein auf deren objektive, typisierend zu ermittelnde Interessen abzustellen. In diesem Fall geht es faktisch um eine Interessenabwägung. Diese Konstellation liegt deshalb an der Grenze zum rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB). Die Orientierung am Institut der mutmaßlichen Einwilligung wahrt aber den Bezug zur Autonomie des Rechtsgutsinhabers, die beim Rückgriff auf § 34 StGB außer Ansatz bleibt (dazu oben). b) Rückgriff auf § 34 StGB bei Lebensgefahr des Geheimnisträgers? Fraglich ist, ob § 34 StGB auch bei einer rein internen Interessenkollision ausnahmsweise dann zur Anwendung kommen kann, wenn der einwilligungsfähige Geheimnisträger seine Zustimmung zu der Offenlegung einer Information verweigert, deren Weitergabe zur Rettung seines Lebens erforderlich wäre. Es geht hier um die Frage der Zulässigkeit einer aufgedrängten Notstandhilfe in Fällen, in denen der Inhaber des Rettungsinteresses den Rettungseingriff ablehnt. Teilweise wird im Falle einer Lebensgefahr argumentiert, dass in Hinblick auf die – aus § 216 StGB gefolgerte – Nichtdisponibilität des Rechtsguts „Leben“ die Ablehnung des Rettungseingriffs durch den Gefährdeten irrelevant sei. Die Frage wird insbesondere anhand der Konstellation einer aufgezwungenen Rettungshandlung im Falle eines freiverantwortlich unternommenen Suizidversuchs erörtert. Hier wird teilweise unter Rückgriff 51
Zutr. Zander, Umfang (Fn. 5), S. 131 ff. Zander. Umfang (Fn. 5), S. 134. 53 Zu der von der h.M. anerkannten Möglichkeit, auch bei einer rein „internen“ Interessenkollision in bestimmten Fallkonstellationen auf die Regelung des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB) zurückzugreifen, vgl. Schönke/Schröder-Perron, § 34 Rn. 8a; NK-Neumann, § 34 Rn. 32; Kühl, Strafrecht AT, 8. Aufl. 2017, § 8 Rn. 34. 52
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auf § 216 StGB eine Rechtfertigung der in der Rettungshandlung liegenden Nötigung (§ 240 StGB) und/oder Körperverletzung (§ 223 StGB) bejaht.54 Aber das ist in der Begründung problematisch und im Ergebnis zumindest differenzierungsbedürftig. Es ist in der Begründung problematisch, weil aus dem Verbot, einen anderen auch auf dessen Verlangen hin zu töten (§ 216 StGB), nicht das Recht abgeleitet werden kann, einen anderen gegen dessen Willen und ggf. unter Einsatz von Gewalt zum Weiterleben zu zwingen.55 Es ist im Ergebnis differenzierungsbedürftig, weil hinsichtlich der Unterbindung eines Suizidversuchs zwischen einem Appell- und einem Bilanzsuizid unterschieden werden muss. Ein Rettungseingriff ist bei einem eigenverantwortlich gebildeten aktuellen Sterbewillen des Gefährdeten allenfalls dann zulässig, wenn von einer (zwar eigenverantwortlichen, aber) kurzschlüssigen Entscheidung zur Beendigung des eigenen Lebens auszugehen ist.56 c) Notstandsfähige Interessen Als notstandsfähige Interessen kommen bei der Frage einer Rechtfertigung der nach § 203 StGB tatbestandsmäßigen Handlung in erster Linie Individualinteressen (insbesondere: Gesundheitsinteressen) dritter Personen in Betracht.57 Umstritten ist, ob und ggf. inwieweit auch der Schutz kollektiver Interessen den Bruch der Schweigepflicht zu rechtfertigen vermag. Nach der hier vertretenen Auffassung kommt eine Anwendung des § 34 StGB bei § 203 StGB, wie generell, nur dann in Betracht, wenn sich die kollektiven Interessen auf individuelle zurückführen lassen.58 Das ist hinsichtlich des kollektiven Rechtsguts der Sicherheit des Straßenverkehrs der Fall, weil hinter diesem die Rechtsgüter des Lebens und der Gesundheit stehen. Dagegen können „drohende allgemeine Unruhen“ eine Durchbrechung des Arztgeheimnisses nicht rechtfertigen.59 Auch das bloße Strafverfolgungsinteresse ist kein notstandsfähiges Rechtsgut.60 Ein Rückgriff auf § 34 StGB kommt aber in Betracht, soweit es um die Verhinderung künftiger Straftaten geht.61 Die Frage, ob die „tatbestandlichen“ Voraussetzungen der Bestimmung (insbesondere ein wesentliches Überwiegen des Rettungsinteresses sowie die Voraussetzung, dass die Gefahr gegen54
LK-Zieschang, 13. Aufl. 2019, § 34 Rn. 31. Ausf. dazu Neumann, in: Heger/Kelker/Schramm (Hrsg.), Kühl-FS 2014, S. 569 (passim); zust. Frister, Strafrecht AT, 8. Aufl. 2018, Kap.17 Rn. 7 iVm Kap. 16 Rn. 19. 56 Entsprechende Differenzierung bei LK-Zieschang, § 34 Rn. 31 m. Fn. 125; Arzt/Weber/ Heinrich-Hilgendorf (Fn. 25), § 3 Rn. 49. 57 Ausf. zum Anwendungsbereich des § 34 StGB im Rahmen des Tatbestands des § 203 StGB NK-Kargl, § 203 Rn. 64 – 69. 58 NK-Neumann, § 34 Rn. 22; ebenso Frister, Strafrecht AT (Fn. 55), Kap. 18 Rn. 2. 59 And. aber LK-Schünemann, § 34 Rn. 136. 60 Überwiegende Auffassung. Vgl. etwa NK-Kargl, § 203 Rn. 66; LK-Schünemann, § 203 Rn. 141; Michalowski, ZStW 109 (1997), 519 (531). Diff. Schönke/Schröder-Eisele, § 203 Rn. 58. 61 Einhellige Ansicht. Statt aller: NK-Kargl, § 203 Rn. 66. 55
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wärtig und nicht anders abwendbar ist), tatsächlich vorliegen, bedarf auch hier einer sorgfältigen Prüfung, die nicht durch den allgemeinen Hinweis auf die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten ersetzt werden kann.62 Entsprechendes gilt für eine nach § 203 StGB tatbestandsmäßige Handlung, die geeignet ist, einen Unschuldigen vor einer strafrechtlichen Verurteilung zu bewahren. Bei dieser Konstellation wird (soweit die Voraussetzungen einer Notstandslage gegeben sind) die Offenbarung des Geheimnisses durch den (prima facie) Schweigepflichtigen teils grundsätzlich bejaht,63 teils ebenso grundsätzlich verneint.64 Gelegentlich wird auch vorgeschlagen, nach dem Gewicht der drohenden Sanktion zu differenzieren.65 Richtig dürfte sein, eine Rechtfertigung nach § 34 StGB hier dann anzunehmen, wenn der Beschuldigte sich andernfalls nicht sachgerecht verteidigen kann.66 Dagegen kann es auf Art und Maß der drohenden Strafe nicht ankommen; dieses Kriterium ist zu vage, um die Grenze zwischen gerechtfertigtem und nicht gerechtfertigtem Handeln hinreichend zuverlässig zu markieren.67 5. Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193 StGB analog)? Eine analoge Anwendung des Rechtfertigungsgrundes des § 193 StGB auf § 203 StGB wird überwiegend abgelehnt.68 Wohl zu Recht: denn einerseits besteht in Hinblick auf die Möglichkeit, die Offenbarung des Geheimnisses über § 34 StGB zu rechtfertigen, kein nennenswertes Bedürfnis hinsichtlich der Anwendung eines Rechtfertigungsgrundes des berechtigten Interesses;69 andererseits würde dort, wo im Einzelfall die Analogie zu § 193 StGB eine über § 34 StGB nicht zu begründende Rechtfertigung ermöglichen könnte, der durch § 203 StGB gewährleistete Schutz von Privatgeheimnissen contra legem relativiert.
IV. Fazit Die Frage, ob für eine nach § 203 StGB tatbestandsmäßige Preisgabe von ärztlichen Geheimnissen ein Rechtfertigungsgrund eingreift, ist allein anhand der betroffenen individuellen Rechtsgüter und Interessen zu treffen. Weder ist zugunsten der Geheimhaltung ein kollektives Rechtsgut der „Funktionsfähigkeit des Gesundheits62
Zur Sonderregelung des § 4 KKG s. oben unter III.1. NK-Kargl, § 203 Rn. 66; Schönke/Schröder-Eisele, § 203 Rn. 57 a.E.; Fischer, § 203 Rn. 89. 64 LK-Schünemann, § 203 Rn. 142. 65 Michalowski, ZStW 109 (1997), 519 (536). 66 NK-Neumann, § 34 Rn. 25. 67 Ebenso LK-Schünemann, § 203 Rn. 142. 68 LK-Schünemann, § 203 Rn. 131; NK-Kargl, § 203 Rn. 70. 69 Ebenso Sieber, Eser-FS (Fn. 1), S. 1155 (1177). 63
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wesens“, noch sind auf der Gegenseite allgemeine gesellschaftliche Interessen (etwa an der Vermeidung drohender Unruhen) zu berücksichtigen. Die Entscheidung des einwilligungsfähigen und informierten Patienten gegen die Offenbarung des Geheimnisses ist auch dann verbindlich, wenn diese zur Abwendung einer Lebensgefahr erforderlich wäre. Dem zentralen Gesichtspunkt der Autonomie des Geheimnisträgers ist weiter durch den vorrangigen Rückgriff auf das Institut der mutmaßlichen Einwilligung (statt auf die stellvertretende Einwilligung oder den rechtfertigenden Notstand) Rechnung zu tragen.
Legal Provisions on Sexual Offences in the Istanbul Convention and the Turkish Criminal Code By Ays¸e Nuhog˘ lu It is an honor for me to write in the Festschrift for Ulrich Sieber who has supported the foundation of the Max Planck Institute for Foreign and International Criminal Law and Bahçes¸ehir University School of Law Research Group on European Criminal Law at Bahçes¸ehir University. In this respect, I would like to write on recent developments of sexual offenses in Turkey, describing offenses committed against adults and children. The Recommendation of the Committee of Ministers of the Council of Europe on “the protection of women against violence” adopted on 30 April 2002 was expanded and updated on 7 April 2011 to become an international treaty and was opened for signature on 11 May 2011. Turkey was the first country that signed the Convention. The Council of Europe Convention on Preventing and Combating Violence Against Women and Domestic Violence is also named as “I˙stanbul Convention” as it was opened for signature in I˙stanbul. It entered into force on 1 August 2014. The Istanbul Convention consists of four milestones including “support policy to prevent violence against women, prevention of violence, prosecution and protection”. This article studies whether the actions that require sentencing by the Convention are established as an offence in Turkish law and particularly in the Turkish Criminal Code or established in accordance with the requirements of the Convention or not. Chapter IVof the Istanbul Convention that starts with Article 29 is related to substantive criminal law and acts that should be criminalized are defined under this chapter. The Istanbul Convention prohibits violence and recognizes that all forms of violence should be prevented and that offences should be subject to effective and dissuasive sanctions regardless of the existence of the victim’s consent and complaint. Article 3 of the Convention refers to physical, sexual, verbal and economic violence and stipulates that all such forms of violence should be subject to criminal sanctions. In this article, the offences related to sexual violence in the Turkish Criminal Code will be analyzed only in respect to the conditions of the Convention in order to limit its scope.
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Acts involving sexual violence are basically regulated under Articles 102, 103, 104 and 105 of the Turkish Criminal Code. Besides, the commission of some offences is considered as an aggravating circumstance and pornographic acts against children are regulated as Indecency under Article 226.
I. Offence of Sexual Assault Against Adults The offence of sexual assault against adults is regulated in Article 1021 of the Turkish Criminal Code while committing the same act against children is regulated under the heading of sexual abuse in Article 1032. The basic type of sexual assault is regulated in the first alternative of Article 102 of the Turkish Criminal Code while qualified sexual assault is regulated in the second alternative of the same Article. Contact with the body of the victim is essential in order to qualify as an act of sexual assault. Acts that can be qualified as sexual, which do not involve any contact with the body of the victim, are regarded as sexual harassment in Article 105. 1
Criminal Code of Turkey, Article 102: Sexual abuse (1) Any person who attempts to violate sexual immunity of a person is sentenced to imprisonment from five years to ten years upon compliant of the victim. (2) In case of commission of offense by inserting an organ or instrument into a body, the offender is punished with imprisonment may not be less than twelve years. In case of commission of this offense against a spouse, commencement of investigation or prosecution is bound to complaint of the victim. Article 102- Sexual assault (1) Any person who violates the physical integrity of another person, by means of sexual conduct, shall be sentenced to a penalty of imprisonment for a term of two to ten years, upon the complaint of the victim. If the said sexual behaviour ceases at the level of sexual importunity, the term of imprisonment shall be from two years to five years. (2) Where the act is committed by means of inserting an organ, or other object, into the body, the offender shall be punished with a term of imprisonment no less than twelve years. If the act is committed against the offender’s spouse, conducting an investigation and prosecution shall be subject to a complaint by the victim. 2 Criminal Code of Turkey Article 103: Sexual abuse of children (1) Any person who sexually abuses a minor shall be sentenced to a penalty of imprisonment for a term of eight to fifteen years. On occasions when sexual conduct remains as molestation, a penalty of imprisonment for a term of three to eight years shall be imposed. If the perpetrator of the offending crime is a child, the investigation and prosecution shall be subject to the complaint of the victim, his/her parent or his guardian. Regarding the definition of the term sexual abuse: a) Any act of a sexual nature against a minor who has not completed fifteen years of age or, though having completed fifteen years, lacks the competence to understand the meaning and consequences of such acts, b) Sexual acts conducted against any other minor with the use of force, threat, deception or any other method, which affects the will of the child. (2) Where the sexual abuse occurs as a result of the insertion of an organ or an object into the body, a penalty of imprisonment of not less than sixteen years shall be imposed. If the victim has not completed the age of twelve, the penalty cannot be less than eighteen years.
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The major characteristic of the offense of sexual assault is the conduct of non-consensual acts of sexual nature.3 The law does not explicitly have the expression of “non-consensual” or a similar expression. However, it is recognized in practice and in doctrine that an act with the nature of a sexual assault should be conducted with the use of force, threat or deception in order to be considered as an offence. Article 36 of the Istanbul Convention stipulates that “all forms of non-consensual acts” should be criminalized. Article 102 of the Turkish Criminal Code does not specify non-consensual cases. Therefore, acts committed without consent of the victim given with his/her own free will could be considered criminal. However, one cannot claim that the judicial decisions on the interpretation of non-consensual acts and how to prove the conduct of an act non-consensually are in full conformity with the Convention. In other words, the regulation provided by Article 102 and Article 36 of the Convention are compliant with each other. However, this compliance cannot be observed in judicial decisions. In fact, the Court of Cassation acknowledged in its decision of 20. 05. 20084 that acquittals should be made on the grounds of a “lack of medical and legal evidence of the element of force and coercion used in the act”. However, it is the existence of the consent of the victim that must be proved for an acquittal. Thus, the European Court of Human Rights acknowledged in its MC vs. Bulgaria judgment that “proof of the physical resistance of the victim was not necessary in sexual offence proceedings”.5 Conduct of qualified sexual assault against a spouse is defined as an offence subject to a complaint by the victim in the second paragraph of Article 102 of the Turkish Criminal Code. The regulation of the act as an offence subject to a complaint by the victim is against the Article 55 of the Istanbul Convention. However, it should be noted that it is very difficult to collect evidence on the offence and to reach a conviction unless the female victim files a complaint. The conduct of “causing another person to engage in non-consensual acts of a sexual nature with a third person” regulated under Article 36/1-c of the Convention is not separately regulated under the Turkish Criminal Code. On the other hand, the status of indirect offenders is regulated as a general provision under Article 37/2 of the Criminal Code. Thereby, any person who uses another person as an instrument for
. . . Yokus¸ Sevük, Handan: 5237 Sayılı Tu¨ rk Ceza Kanunu’nda Cinsel Saldırı ve Cinsel Taciz Suc¸ ları, in: Türkiye Barolar Birlig˘ i Dergisi, 2005, p. 57, s. 249; Tezcan, Durmus¸/Erdem, Mustafa/Önok, Murat: Teorik ve Pratik Ceza Özel Hukuku, 15th Edition, Ankara 2017, p. 359. 4 th 5 Criminal Chamber of the Court of Cassation, 20. 05. 2008, E. 2008/2477, K. 2008/ 4651. 5 M.C. vs. Bulgaria judgment, 04. 12. 2003, 39272/98, para. 166. 3
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the commission of an offence shall remain culpable as an offender regardless of the form of offence (not only in cases of sexual assault).6
II. Offence of Sexual Abuse Against Children There must be an act involving contact with the body of the child in order to establish the offence of sexual abuse of children as regulated under Article 103 of the Turkish Criminal Code. Conduct of an act without any contact with the body of the child would be considered as sexual harassment offence as regulated under Article 105. According to the regulation in Turkish law, any form of a sexual act against a child under the age of 15 is defined as an offence regardless of the existence of the child’s consent.7 In cases of children between the ages of 15 and 18, consensual sexual intercourse with a child is regulated as a separate offence under Article 104. This offense is subject to a complaint by the victim. Acts conducted with the consent of the child between the ages of 15 and 18 and without the insertion of an organ or an object into the body are not considered as an offence. The offence of sexual abuse in the Turkish Criminal Law is in conformity with the provisions of the Istanbul Convention. However, the offence regulated under Article 1048 is a particularly problematic form of an offence in terms of its regulation. It should be noted that this offence is subject to complaint of the victim. The perpetrator can either be over or under the age of 18. In this case, the wording of the article does not clearly specify who will be the perpetrator or the victim if two children between the ages of 15 and 18 enter into consensual sexual intercourse. The Court of Cassation considers the active person as perpetrator.9 Article 104 should be re-regulated and a regulation, which considers the age difference between the perpetrator and the victim as a basis, should be introduced. The new regulation to be introduced should not stipulate it as a reason for impunity for instance if the age difference between the children entering into sexual intercourse is three years or less.
6 Criminal Code of Turkey article 37/2: (2) Also, a person who uses another person in the commission of a crime is also kept responsible as an offender. The punishment of the persons who uses a person(s) lacking culpability is increased from one–third up to one half. 7 Yas¸ar, Osman/Gökcan, Hasan Tahsin/Artuç, Mustafa: Yorumlu-Uygulamalı Türk Ceza Kanunu, C. III, Ankara 2010, p. 3327. 8 Criminal Code of Turkey, article 104: sexual intercourse between/with persons not attained the lawful age: (1) Any person who is in sexual intercourse with a child who completed the age of fifteen without using force, threat and fraud, is sentenced to imprisonment from two years to five years upon filing of a complaint. 9 14th Criminal Chamber, 04. 04. 2016, E. 2014/3518, K. 2016/3247.
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1. Forced Marriages The act regulated under Article 37 of the Istanbul Convention is not established as a separate offence in Turkish law. However, forced marriages would also constitute the offences of sexual assault or sexual abuse, and the perpetrator would be sentenced based on these offences. Forced marriages should be regulated as a different form of offence with the consideration that legal interests would be protected besides the sexual integrity. 2. Child Marriages The Istanbul Convention does not introduce any provision on child marriages. Child marriages should be analyzed under the category of forced marriage. The marriage age is 18 for men and women according to the Turkish Civil Code. However, women can enter into a marriage at the age of 16 “in extraordinary cases and in cases of very important reasons” (Article 124 of the Turkish Civil Code). While women at the age of 17 can enter into a marriage with the consent of their parents, such a marriage can thereby become legal according to the provisions of the Civil Code. Besides legal marriages, there are marriages concluded particularly with the force of parents. Only a religious ceremony is organized in such marriages, which are also defined as de facto marriage. De facto marriages do not bring any legal consequence with them and deprive women from all rights in case of a divorce. Such marriages of children should be considered as forced marriage. This is due to the fact that the Turkish Civil Code does not take consent of children at the age of 16 or 17 into consideration and requires a decision by a judge or the parental consent for a marriage of children of these ages. Therefore, one cannot talk about consent of a child in cases of a marriage of younger children. The number of children entering into de facto marriages with religious ceremonies is significantly high.10 Therefore, specific forms of offences where child marriages are criminalized are required. While regulating this offence, the sentence should be stipulated not only for parents if both of the parties entering into a marriage are children and safeguard measures instead of sentencing should be stipulated for the children entering into the marriage. If an adult enters into a marriage with a child, the adult should be sentenced while safeguard measure should be imposed for the child in order to ensure the sustainment of education and the provision of care.
10 No specific figures can be presented due to lack of official statistics on the subject. The number is quite high in unofficial statistics.
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III. Other Related Crimes 1. Female Genital Mutilation Article 38/a of the Istanbul Convention states that female genital mutilation should be criminalized. Turkish law does not have any specific regulation that criminalizes female genital mutilation.11 Because female genital mutilation does not constitute any problem as it is currently not applied in Turkey. However, it should be criminalized considering the increasing number of foreigners living in Turkey. 2. Forced Abortion and Forced Sterilization Article 39 of the Istanbul Convention stipulates that forced abortion and forced sterilization should be criminalized. These acts are subject to offenses regulated in Articles 99 and 101 of the Turkish Criminal Code. Abortion is not punishable up to the 10th week of pregnancy with the woman’s consent under Turkish law. Forced abortion in pregnancies less than ten weeks without the woman’s consent is an offence subject to imprisonment for a term of five to ten years. Pregnancies of more than 10 weeks cannot be terminated regardless of the consent of the woman and acts on the contrary are punishable by Article 99. Sterilization with the woman’s consent is not an offence. Sterilization without a woman’s consent is an offence subject to imprisonment from three to six years as regulated under Article 101 of the Turkish Criminal Code. It should be noted that these regulations are in compliance with the Istanbul Convention. 3. Sexual Harassment Sexual harassment as regulated under Article 40 of the Istanbul Convention is not compatible with the acts of sexual harassment established under Article 105 of the Turkish Criminal Code. Acts of sexual harassment in Article 105 are acts with sexual purposes without any contact with the body of the victim. Victims of the offense can be either a child or an adult. Article 40 of the Istanbul Convention cover acts of sexual nature. These acts are those that do not reach the level of raping. The Turkish regulation of the offence of sexual harassment when the victim is an adult and punishment is subject to a complaint of victim is problematic with regards to the requirements of the Istanbul Convention.
11 Female genital mutilation can be sentenced as qualified intentional injury according to the Turkish Criminal Code, Articles 86, 87.
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IV. Common Provisions 1. Aiding and Abetting Article 41 of the Istanbul Convention stipulates that aiding and abetting the commission of the offences established in accordance with Articles 33, 34, 35, 36, 37, 38a and 39 of the Convention should be established as an offence when committed intentionally. The provisions related to jointly committed crimes in Article 37 ff. of the Turkish Criminal Code could meet this requirement. In case of attempting to commit the given offences, sanctions will be imposed in accordance with the provisions related to criminal attempt in Article 35 ff. of the Turkish Criminal Code. 2. Unacceptable Justifications for Crimes, Including Crimes Committed in the Name of So-called “Honor” Article 42 of the Istanbul Convention requires the party states to take measures to ensure that, in criminal proceedings initiated following the commission of any of the acts of violence covered by the scope of the Convention, culture, custom, religion, tradition or so-called “honor” shall not be regarded as justification for such acts. In Turkish law, Article 82/1-k of the Turkish Criminal Code, which entered into force in 2005, establishes the offence of committing act of intentional killing with the motive of tradition as an aggravating circumstance. Customary killing and honor killing were considered to have identical meanings in previous practices of the Court of Cassation.12 The Court distinguished these two notions in its subsequent decisions and decided that aggravating circumstances would be applicable only for customary killings.13 12
1st Criminal Chamber of the Court of Cassation, CD, 07. 10. 2013, E. 2013/2120, K. 2013/5542: In the judgment, it was acknowledged that “the elements of the offence of killing with the motive of tradition (customs) did not exist in the incident where the defendant was angry that his sister and the concerned person run away, did not have the marriage ceremony that he wanted and killed them with his own decision based on his own subjective judgment standards although there was no social expectation or pressure to kill them”. In a similar judgment (General Assembly of Criminal Chambers, 11. 05. 2010, E. 2010/1 – 56, K. 2010/111) the legislator did not make any distinction in this type of offence although the victim is a woman. The notion of “motive of tradition” is a superior notion that also covers the motive of honour in certain circumstances. Some of the intentional killing offences committed with the motive of honour should be punished according to Article 82/1-k of the Turkish Criminal Code”. 13 General Assembly of Criminal Chambers, 14. 06. 2011, E. 2011/1 – 138, K. 2011/130; It was indicated in the judgment that “the legislator preferred to cover the notion of “motive of tradition” and did not use the notion of “motive of honour” deliberately, it required consideration of the honour killings committed with the motive of tradition within this scope while it did not have the will that every act of intentional killing defined as “honour killing” in society should be evaluated within the context of intentional killing with the motive of tradition, identification of the notions of motive of honour and motive of tradition in a way that was not
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Legal regulations in Turkish law are in compliance with Article 42 of the Convention. However, some of the first instance courts used some of the institutions in law in order not to rule for sentencing particularly in cases of child marriages.14 The Court of Cassation does not accept this practice. Customs and tradition are actually the reasons behind the unwillingness of the courts in ruling for sentencing. Child marriages are tolerated and children are even encouraged to marry in some sections of society in Turkey. Although it is not explicitly stated in law that reducing sentences based on unjust provocation is not applicable for sexual offences, the Court of Cassation accepts its inapplicability.15 Practice of unjust provocation in women killings is one of the debated issues. Since unjust provocation is regulated under general provisions in Article 29 of the Turkish Criminal Code, it can in fact be applicable for all offences in cases of the existence of relevant conditions. However, it is clearly stated in the justification of Article 29 that the reduction of a sentence based on unjust provocation cannot be applied in cases of customary killings. An explicit legal regulation should be introduced in Turkish law in order to ensure that the practice of unjust provocation cannot be applicable for women killings. Because the one who kills the woman generally claim that the woman insulted the perpetrator or committed an act that would constitute an unjust provocation. Since the woman is dead and the authenticy of the claim cannot be proved, the reduction of a sentence based on unjust practice is applied according to the principle of “in dubio pro reo”. 3. Sanctions and Measures Sanctions stipulated in the Turkish Criminal Law system are quite heavy. For instance, simple forms of rape, which is defined as qualified sexual assault, is sentenced with an imprisonment for a term of no less than twelve years. The sanction increases in cases of the existence of aggravating circumstances. Qualified sexual abuse against a child is sentenced with imprisonment for a term of no less than sixteen years and with imprisonment for a term of no less than eighteen years if the victim child is under
foreseen by the legislator results from the wide interpretation of the law article in a manner that would result in comparison and this interpretation was not legally allowed according to Article 2/3 of the Turkish Criminal Law”. 14 The doctrine (Koca/Üzülmez, Türk Ceza Hukuku Özel Hükümler, 3rd Edition, Ankara 2016, p. 320) states that child marriages should not be punished. In this case, it is argued that Article 30/4 of the Turkish Criminal Code should be imposed both for the parents and the children who entered into marriage. This opinion is unacceptable and against the Istanbul Convention. 15 th 5 Criminal Chamber, 29. 03. 2006, E. 2006/402, K. 2006/2577.
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the age of twelve. The existence of aggravating circumstance further increases the sentence.
V. Conclusion When the Turkish Criminal Code is compared with the Istanbul Convention in terms of the sexual offences “female genital mutilation” and “child marriages” should be established as an offence in Turkish law and judicial decisions should be changed particularly in regard to the consent of the victim within the context of offences of sexual assault and sexual abuse. Issues such as looking for evidence showing the resistance by the victim, investigations of whether the victim had the opportunity to escape from the scene of the incident and to shout or not result in higher negative figures of these offences in judicial decisions related to the offences of sexual assault and sexual abuse. Because the victim does not report the offence due to the concern of failing to prove the offence and to suffer from secondary victimization. The offence of entering into sexual intercourse with a minor regulated under Article 104 of the Criminal Code has become law insufficiently. Only security measure should be imposed and the children should be provided with the opportunity to continue their education if both the victim and the perpetrator are minors in case of such an offence. In cases where the children are forced to enter into marriage unofficially by their parents, the parents should be sentenced and security measure should be imposed in order to ensure that the children can continue to live their lives like a child.
Zur Schadensberechnung bei Betrug und Untreue – Wider Unmittelbarkeits- und pro objektive Zurechnungskriterien Von Rudolf Rengier
I. Einführung In meiner 1986 erschienenen Habilitationsschrift habe ich mich mit dem Zurechnungszusammenhang zwischen Grunddelikt und qualifizierendem – typischerweise – Todeserfolg befasst.1 Für den damaligen Stand der Diskussion ist der RötzelFall von 1971 aufschlussreich.2 In diesem Fall wollte die Hausgehilfin nach vorangegangenen gewalttätigen Angriffen, durch die sie erheblich verletzt worden war (tiefe Oberarmwunde, Nasenbeinbruch) vor den fortdauernden Angriffen des Täters durch das Fenster auf einen Balkon flüchten und stürzte dabei tödlich ab. Der BGH bejahte damals nur die Tatbestände der vorsätzlichen Körperverletzung und fahrlässigen Tötung und verneinte eine Körperverletzung mit Todesfolge mit der Begründung, letztlich habe erst das Opferverhalten den Tod herbeigeführt; die Verletzungshandlung müsse „unmittelbar“ todesursächlich sein. Demgegenüber habe ich mich um den Nachweis bemüht, dass es bei diesem auch als „Unmittelbarkeitsgrundsatz“ hervorgehobenem Kriterium um Fragen der objektiven Zurechnung geht. Im Lichte dieser Lehre gelangt man zur Frage der Eigenverantwortlichkeit. Da die Hausgehilfin vor fortdauernden Angriffen flüchtete, befand sie sich in einem – entsprechend § 35 StGB – entschuldigenden Notstand, was eigenverantwortliches Handeln ausschließt und daher den Zurechnungszusammenhang nicht unterbricht. Genau auf dieser Linie hat der BGH später den Unmittelbarkeitsgedanken verabschiedet und eine Körperverletzung mit Todesfolge in Entscheidungen bejaht, in denen im Anschluss an vorsätzliche Körperverletzungen grunddeliktisch bedingtes, panikartiges Opferverhalten zum tödlichen Ausgang führte.3 Es kann daher festgehalten werden: Hinter dem früher bei den erfolgsqualifizierten Delikten oft bemühten Unmittelbarkeitsgedanken stecken Zurechnungskriterien, deren Präzisierung durch die objektive Zurechnungslehre sich aufdrängt. 1
Rengier, Erfolgsqualifizierte Delikte und verwandte Erscheinungsformen, 1986. BGH NJW 1971, 152; Rengier, Jura 1986, 143 ff. 3 Zuerst BGH NJW 1992, 1708, dann BGHSt 48, 34, unterstreichend BGH NStZ 2008, 278; näher Rengier, Strafrecht BT II, 21. Aufl. 2020, § 16 Rn. 17 ff. 2
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Daran anknüpfend habe ich 2001 „Gedanken zur Problematik der objektiven Zurechnung im Besonderen Teil des Strafrechts“ formuliert, um den Blick dafür zu schärfen, dass diese Zurechnungslehre über die typischen Erfolgszurechnungsfragen bei den Tötungs- und Körperverletzungsdelikten hinausreicht und gleichermaßen viele andere Tatbestände des Besonderen Teils berührt.4 Der Beitrag hat nicht zuletzt in der Betrugs- und Untreuediskussion eine gewisse Resonanz gefunden.5 Das hat mir Mut gemacht, zu Ehren des Jubilars – mit dem ich langjährig freundschaftlich verbunden bin, seitdem wir uns in Freiburg mehr oder weniger parallel in nebeneinander liegenden Instituten habilitiert haben – ein im Wesentlichen den wirtschaftsstrafrechtlichen Schwerpunkt Ulrich Siebers betreffendes Thema aufzugreifen: Die bei Betrug und Untreue im Rahmen der Schadensberechnung dominierenden Unmittelbarkeitskriterien6 sollen mit der Frage in den Focus gerückt werden, ob und inwieweit hier die Heranziehung von Unmittelbarkeitselementen überzeugt und die objektive Zurechnungslehre eventuell bessere Lösungen anbietet.
II. Die Unmittelbarkeit der Vermögensminderung im Rahmen der Abgrenzung zwischen Diebstahl und Sachbetrug 1. Exklusivitäts- versus Konkurrenzlösung Der BGH hat schon in den 1960er Jahren bezüglich § 263 StGB eine täuschungsbedingte Selbstschädigung des Opfers verlangt und eine solche verneint, „wenn die Täuschung dem Täter nur die Herbeiführung des Schadens durch eine eigene, den Gewahrsam des Inhabers ohne dessen Kenntnis eigenmächtig aufhebende Handlung ermöglichen sollte.“7 In späteren Entscheidungen ist von weiteren selbstständigen deliktischen Schritten die Rede, die eine unmittelbare Verfügung ausschließen.8 Der Unmittelbarkeitsgedanke steht hier im Dienst der exklusiven Abgrenzung zwischen Diebstahl und Sachbetrug mit dem Ziel, den Selbstschädigungscharakter des § 263 StGB hervorzuheben. Vom Täter erschlichene Gewahrsamslockerungen, die 4 Rengier, in: Schünemann u. a. (Hrsg.), Roxin I-FS, 2001, S. 813 ff.; Roxin hat daraufhin sehr wohlwollend gedankt und in dem Beitrag „eine unerschöpfliche Quelle von Anregungen zu weiterer Forschung“ gesehen. 5 Vgl. Saliger, in: Esser/Rübenstahl/Saliger/Tsambikakis (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht, 2017, § 263 StGB Rn. 10; SSW-StGB/Saliger, 4. Aufl. 2019, § 266 Rn. 100; Harbort, Die Bedeutung der objektiven Zurechnung beim Betrug, 2010; Greupner, Der Schutz des Einfältigen durch den Betrugstatbestand, 2017, S. 194 ff.; Gaede, Roxin II-FS, 2011, S. 967; Reschke, Untreue, Bankrott und Insolvenzverschleppung im eingetragenen Verein, 2015, S. 52 f., 270 ff. 6 Die teilweise in den Rang von Unmittelbarkeitsprinzipien erhoben werden, vgl. Jäger, JuS 2010, 761 ff. 7 BGH MDR 1968, 772 im Anschluss an BGH GA 1966, 212. 8 BGHSt 50, 174 (178); BGH BeckRS 2011, 318; AnwK-StGB/Gaede, 3. Aufl. 2020, § 263 Rn. 88.
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ihm die geplante anschließende Wegnahme erleichtern sollen, haben keine Vermögensrelevanz. Offenbar lebt hier in gewisser Weise der Regressverbotsgedanke fort, nach dem ein vorsätzliches Dazwischentreten den Zurechnungszusammenhang unterbrechen soll.9 In der Literatur findet man freilich auch die Ansicht, dass unabhängig vom Regressverbotsgedanken die Anwendung der Kriterien der objektiven Zurechnung zum gleichen Ergebnis führe.10 Dies überzeugt allerdings nicht; denn der Täter, der zuvor die Gewahrsamslockerung erschlichen und dadurch eine erhöhte Verlustgefahr geschaffen hat, knüpft genau an die von ihm gesetzte Ausgangsgefahr an, wenn er anschließend den Verlust durch den Gewahrsamsbruch realisiert. Damit ist der Bogen zur objektiven Zurechnung gezogen. Ersetzt man nun bei der Vermögensverfügung das Unmittelbarkeitskriterium durch das objektive Zurechnungskriterium, so ergibt sich folgende Definition: Vermögensverfügung ist jedes (rechtliche oder tatsächliche) Handeln, Dulden oder Unterlassen, das zu einer objektiv zurechenbaren Vermögensminderung im wirtschaftlichen Sinne führt.11 Für die Gewahrsamslockerungs-Konstellationen folgt daraus die Bejahung des § 263 StGB; denn mit der täuschungsbedingten Gewahrsamslockerung, dem Verfügungsverhalten des Opfers, verschafft sich der Täter die von Beginn an erstrebte Möglichkeit, daran anknüpfend den Gewahrsam zu brechen. Neben dem Diebstahl liegt dann eben auch ein Betrug vor. Im Lichte des gewohnten Exklusivitätsdogmas erscheint das einerseits ungewöhnlich, doch kann man andererseits fragen, welchen Gewinn es bringen soll, das Unmittelbarkeitserfordernis in den Dienst eines vertatbestandlichten Konkurrenzmerkmals zu stellen, zumal wenn der Betrug als mitbestrafte Vortat eingestuft werden kann.12 2. Zwischenfazit eins (1) Bei der Abgrenzung zwischen Diebstahl und Sachbetrug kann man ohne nachteilige Folgen das Unmittelbarkeitskriterium durch die objektive Zurechenbarkeit ersetzen. An die Stelle einer Exklusivitätslösung tritt dann eine Konkurrenzlösung. (2) Hält man das Unmittelbarkeitskriterium für unentbehrlich, sollte man sehen, mit welcher Intention es ins Leben gerufen wurde. Dann könnten erste Zweifel auf9
Vgl. LK/Tiedemann, Bd. 9/1, 12. Aufl. 2012, § 263 Rn. 98; Wang, Die Vermögensverfügung als Tatbestandsmerkmal des Betrugs, 2016, S. 194; Högel, Die Abgrenzung zwischen Trickdiebstahl und Betrug, 2015, S. 216. 10 Högel, Abgrenzung (Fn. 9), S. 220. 11 Nicht anders Pawlik, Das unerlaubte Verhalten beim Betrug, 1999, S. 235 ff. (240 f.), der in der Gewahrsamslockerungs-Problematik eine Frage des „Zurechnungszusammenhangs zwischen Täuschung und Vermögenspreisgabe“ sieht. 12 Zumindest im Ergebnis ebenso bereits Pawlik, Betrug (Fn.11), S. 235 ff., 243; Stuckenberg, ZStW 118 (2007), 878 (901); Krell, NZWiSt 2013, 370 (377 mit Fn. 92).
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kommen, ob es, wie viele es tun, richtig ist, das für die Abgrenzung zwischen Diebstahl und Sachbetrug kreierte Kriterium nicht nur auf die Konstellationen des Forderungsbetrugs, sondern außerdem noch auf den Untreuetatbestand zu übertragen. Diesen Zweifeln wenden wir uns nun zu, und zwar zuerst für den Komplex Forderungsbetrug und anschließend für den Untreuekomplex.
III. Die Unmittelbarkeit der Vermögensminderung beim Forderungsbetrug 1. Einführung Aus dogmatischer Sicht scheinbar konsequent hat man das Unmittelbarkeitserfordernis auf Konstellationen des Forderungsbetruges übertragen. Tiedemann13 resümiert, das Merkmal der Unmittelbarkeit könne dazu beitragen, das Kriterium der Vermögensverfügung zu konkretisieren, sei aber doch unsicher (genauso wie die hier ebenfalls einschlägige Frage der konkreten Vermögensgefährdung). Indes behalte die Unmittelbarkeit auch für den Forderungsbetrug richtungweisende Bedeutung. Im Ergebnis hält Tiedemann fest, dass im Rahmen des Forderungsbetruges rechtliche Erwägungen und Konstruktionen in stärkerem Maße relevant seien als beim Sachbetrug, der uneingeschränkt dem Unmittelbarkeitserfordernis unterliege. Im Folgenden werden sieben einschlägige Fallkonstellationen aufgegriffen. Mit jeder weiteren Konstellation hat sich, so viel sei vorweggenommen, unsere Überzeugung gefestigt, dass der Unmittelbarkeitsgedanke nicht irgendwie eingeschränkt übertragen, sondern durch Kriterien der objektiven Zurechnung ersetzt werden sollte. 2. Fallkonstellationen a) Die Unterschriftserschleichungs-Fälle Vorreiter für die Installierung des Unmittelbarkeitselements auch beim Forderungsbetrug waren Konstellationen der Unterschriftserschleichung: Ein Vertreter nimmt eine Bestellung auf und lässt sie vom Käufer unterschreiben. Dabei hat er von Anfang an vor, die Bestellung nachträglich zu fälschen und etwa die Stückzahl zu erhöhen. Die Bestrafung wegen Betrugs zu Lasten des Käufers soll daran scheitern, dass die Vermögensverfügung den Schaden nicht unmittelbar herbeigeführt habe, weil dafür erst die nachträgliche Manipulation des Vertreters verantwortlich sei.14 Daran anknüpfend sollte man meinen, dass § 263 StGB erst recht entfallen 13 14
Zum Folgenden LK/Tiedemann, § 263 Rn. 109 f. OLG Hamm wistra 1982, 152; OLG Celle NJW 1975, 2218.
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müsste, sofern das Opfer täuschungsbedingt nur eine Blankounterschrift leistet und der Täter abredewidrig etwa ein Bestellformular in schädigender Weise ausfüllt. Indes stößt man auf einige Stimmen, die nicht auf das Ausfüllen des Formulars abstellen, sondern den Betrug mit der Begründung bejahen, schon die Blankounterschrift bedinge eine konkrete Vermögensgefährdung, sofern der Täter davon alsbald Gebrauch machen wolle.15 Bei solchen Stimmen zeigt sich sehr deutlich, dass die Figur der konkreten Vermögensgefährdung hier dazu dient, das Unmittelbarkeitskriterium, das man eigentlich auch beim Forderungsbetrug für sinnvoll und notwendig hält, zu umgehen. Richtig wird dazu bemerkt, insoweit halte man zwar verbal am Unmittelbarkeitserfordernis fest, handhabe es aber viel großzügiger als im Falle einer Gewahrsamslockerung beim Betrug.16 Ergänzend muss man sehen, dass in vielen Konstellationen, bei denen Fragen der konkreten Vermögensgefährdung im Hintergrund stehen, auch aktuelle Stellungnahmen und Diskussionen immer noch nicht die Frage im Blickfeld haben, wie denn – immerhin ein Jahrzehnt nach den maßgeblichen verfassungsgerichtlichen Entscheidungen17 – der Gefährdungsschaden zu beziffern ist. Letztlich stößt man diesbezüglich auf kaum überwindbare Schwierigkeiten: Wie will man den Wert einer unter ein nicht ausgefülltes Bestellformular gesetzten Blankounterschrift bemessen? Alles läuft dann doch entgegen dem Unmittelbarkeitsgedanken darauf hinaus, auf das später ausgefüllte Formular und die sich daraus ergebenden (scheinbar) rechtsgeschäftlichen Bindungen zu schauen. Lehrreich ist die in dubio pro reo-Konstellation einer älteren Entscheidung des OLG Düsseldorf.18 Es konnte nicht geklärt werden, ob das vom Opfer täuschungsbedingt unterschriebene Bestellformular zum Zeitpunkt seiner Unterschrift die vom Täter eingefügten betrügerischen Angaben schon enthielt (in dieser ersten Variante läge unstreitig ein Betrug vor) oder vom Täter erst nach der Unterschrift abredewidrig ausgefüllt wurde (in dieser zweiten Variante läge nach h.M. im Lichte des Unmittelbarkeitserfordernisses kein Betrug,19 sondern eine Urkundenfälschung vor). Die tätergünstigere Variante ist die zweite, weil sich auf deren Tatsachenbasis die Frage der Wahlfeststellung zwischen Betrug und Urkundenfälschung stellt, eine solche aber mangels Vergleichbarkeit des Unrechts unzulässig ist und der Täter somit nicht bestraft werden könnte.
15 LK/Tiedemann, § 263 Rn. 109; Schönke/Schröder/Perron, StGB, 30. Aufl. 2019, § 263 Rn. 61; Fischer, StGB, 67. Aufl. 2020, § 263 Rn. 77. 16 SK-StGB/Hoyer, Bd. 5, 9. Aufl. 2019, § 263 Rn. 173. 17 BVerfGE 126, 170 (211 f., 226 ff.); 130, 1 (47 ff.); zusammenfassend Rengier, Strafrecht BT I, 22. Aufl. 2020, § 13 Rn. 185c ff. 18 OLG Düsseldorf NJW 1974, 1833. 19 Die insoweit nicht den bei Fn. 15 erwähnten gegenteiligen Stimmen folgt; vgl. Rengier, BT I, § 13 Rn. 67 f. und BT II, § 33 Rn. 19; Eisele, Strafrecht BT II, 5. Aufl. 2019, Rn. 559; SSW-StGB/Satzger, § 263 Rn. 190.
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Der Ausweg, in der zweiten Variante einen unmittelbar herbeigeführten Gefährdungsschaden anzunehmen, scheitert, wie erwähnt, an dessen Bezifferbarkeit. Befreit man sich demgegenüber vom Unmittelbarkeitserfordernis und betrachtet die Konstellationen der Blankounterschrift und nachträglichen Verfälschung im Lichte der objektiven Zurechnung, so ergibt sich: In der täuschungsbedingt erschlichenen Unterschrift ist die Verfügungshandlung mit der dadurch geschaffenen Ausgangsgefahr zu sehen, die der Täter plangemäß ausnutzt, um durch nachträgliche Ergänzungen die schädigende Minderung herbeizuführen. Mit anderen Worten: Die nachträglichen Ergänzungen sind das objektiv zurechenbare Bindeglied zwischen der Verfügungshandlung und dem Schaden. Folglich muss in beiden Konstellationen § 263 StGB bejaht werden. Im Lichte dieser Begründung hat sich der Täter auch in jeder Variante des Düsseldorfer in dubio pro reo-Falles gemäß § 263 StGB strafbar gemacht. b) Der Rezepterschleichungs-Fall Die Komplikationen mit dem Unmittelbarkeitselement und dem Gefährdungsschaden veranschaulicht weiter der Rezepterschleichungs-Fall des OLG Stuttgart:20 Der Täter erschleicht in 11 Fällen bei verschiedenen Vertragsärzten Rezepte über ein schmerzstillendes Medikament, reicht sie aber nicht bei Apotheken ein. Hätte er dies getan, wäre die Apotheke grundsätzlich verpflichtet gewesen, das Rezept einzulösen, und die Apotheke hätte im Gegenzug einen Vergütungsanspruch gegen die Krankenkasse erlangt. Das OLG erkennt, dass ein endgültiger Vermögensverlust noch nicht eingetreten ist, meint aber, es liege eine schadensgleiche Gefährdung des Vermögens der verpflichteten Krankenkasse vor, da ihre Inanspruchnahme nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge zu erwarten gewesen sei; das Einlösen des Rezepts sei ein unwesentlicher Zwischenschritt. Beziffert wird der Schaden nicht, obwohl die einschlägigen Entscheidungen des BVerfG zitiert werden. Es ist auch nicht erkennbar, wie eine tragfähige, nicht mehr oder weniger willkürliche Bezifferung gelingen sollte.21 Sieht man näherliegend im Einlösen einen wesentlichen Zwischenschritt, muss man nach dem Unmittelbarkeitsgedanken der bloßen Rezeptausstellung so oder so die betrügerische Relevanz absprechen. Nunmehr folgt das nächste Problem. Löst der Täter das Rezept ein, scheitert der Betrug im Normalfall daran, dass den Apotheker keine Prüfungspflicht trifft und er deshalb keinem Irrtum unterliegt.22 Die Fragen klären sich fast von selbst, wenn man auf den Zeitpunkt schaut, zu dem frühestens ein sicher messbarer Schaden eintritt, dann das Unmittelbarkeitskriterium beiseite lässt und prüft, ob dem Täter der Schaden objektiv zugerechnet werden kann. Nochmals: Auch bei der Vermögensverfügung als Bindeglied zwischen Täuschung 20
OLG Stuttgart NStZ-RR 2013, 174 ff. Schönke/Schröder/Perron, § 263 Rn. 62 stimmt dem OLG Stuttgart zwar zu, äußert sich zur Bezifferbarkeit aber auch nicht. 22 BGHSt 49, 17 (20 f.); Bülte, NZWiSt 2013, 346 (347). 21
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und Irrtum einerseits sowie dem Schaden andererseits geht es um Zurechnungsfragen.23 Ein Schaden entsteht erst, wenn der Täter das erste Rezept einlöst. Dieser Teilakt knüpft an das täuschungsbedingte Verfügungsverhalten des Arztes an. Die Ausgangsgefahr (missbräuchliche Verwendung des Rezepts) hat der Täter geschaffen und dann durch das Einlösen in schädigender Weise realisiert. Nach den Maßstäben der objektiven Zurechnung gelangt man also zu einem vollendeten Betrug, sofern das Rezept benutzt wird. Ist dies (noch) nicht der Fall, liegt kein Betrug und ohne den Schritt zu § 22 StGB auch nicht ein versuchter Betrug vor. Ein dementsprechendes Strafbarkeitsbedürfnis drängt sich zudem nicht auf.24 c) Das Erschleichen von Zugangsdaten zu Konten per Email („digitales Phishing“) Als einer der ersten hat Stuckenberg mit Blick auf das Phishing das Unmittelbarkeitskriterium beim Betrug kritisiert und seine Ersetzung durch die objektive Zurechnung gefordert.25 Im klassischen – anschaulich als „digitales Phishing“ bezeichneten26 – Fall erlangt der Täter durch Täuschungstricks per Email Zugangsdaten und Passwörter namentlich zu Bankkonten, um anschließend vom Konto eines Opfers Überweisungen vorzunehmen. Die mit dem Unmittelbarkeitskriterium arbeitenden Stimmen streiten darüber, ob die erschlichene Preisgabe der Zugangsdaten schon „unmittelbar“ zu einem Gefährdungsschaden führt27 oder eben gerade nicht, weil in dem noch erforderlichen vermögensrelevanten Zugriff auf das Konto ein die Unmittelbarkeit der Verfügung ausschließendes Handeln erblickt wird.28 Es handelt sich, so heißt es im Lichte des Unmittelbarkeitserfordernisses, „im Grunde nur um eine moderne Variante des alten Lehrbuchfalls vom angeblichen Gasmann, der sich den Zutritt zu einer Wohnung erschwindelt, um dort einen Diebstahl begehen zu können.“29 Ob es sich wirklich bloß um eine „moderne Variante“ handelt, ist aber sehr zweifelhaft. Es versteht sich, wie schon ausgeführt, keineswegs von selbst, das Unmittelbarkeitselement, das man für die Abgrenzung von Diebstahl und Sachbetrug ins Leben gerufen hat und dort im Dienst des Exklusivitätsgedankens steht, auf den Forderungsbetrug zu übertragen. Im Lager der Stimmen, die beim Phishing schon vor dem Kontozugriff einen Gefährdungsschaden bejahen und § 263 StGB für vollendet halten, hat sich in jüngerer Zeit eine Stimme konsequent dem Bezifferbarkeitsproblem zugewandt. Danach sol23
Jäger, JuS 2000, 761; Bülte, NZWiSt 2013, 346 (347 f.). Auf dieser Linie auch Bittmann, ZWH 2013, 106 f.; Bülte, NZWiSt 2013, 346 (347 f.). 25 Stuckenberg, ZStW 118 (2007), 878 (899 ff.). 26 Ladiges, wistra 2016, 180. 27 So Weber, HRRS 2004, 406 (408 f.); Ceffinato, NZWiSt 2016, 464 (465 f.). 28 Kölbel, in: Achenbach/Ransiek/Rönnau (Hrsg.), Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 5. Aufl. 2019, 5/1. Kap. Rn. 280 f.; AnwK-StGB/Gaede, § 263 Rn. 90; Popp, NJW 2004, 3517 (3518) und MMR 2006, 84 (85 f.); Schönke/Schröder/Perron, § 263 Rn. 145. 29 Popp, NJW 2004, 3517 (3518). 24
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len „Zugangsdaten zu einem überzogenen Konto ohne Kreditlinie … keinen Schaden (begründen), wohingegen Zugangsdaten zu einem Habensaldo in dessen Höhe einen Schaden begründen, im Einzelfall eventuell begrenzt durch Verfügungslimits o. ä.“.30 Soll das Beziffern tatsächlich so einfach sein? Die Gleichung lautet: Gefährdungsschaden = Habensaldo, also der höchstmögliche Endschaden soll mit dem Gefährdungsschaden nicht nur identisch sein, sondern sogar darüber hinausgehen können, falls in den Habensaldo nur teilweise oder sogar überhaupt nicht eingegriffen wird. All das überzeugt nicht. Den richtigen Weg hat schon Stuckenberg gewiesen:31 Das auf das Bild des Gebens und Nehmens gestützte Unmittelbarkeitserfordernis ist ein von Zufälligkeiten abhängiges Zurechnungskriterium und kann am Schadensende durch Genügenlassen einer Vermögensgefährdung wieder unterlaufen werden. Die Unmittelbarkeit sei auch, so ein weiteres Argument, schwer verträglich mit der Anerkennung mehraktiger Verfügungen, etwa in arbeitsteiligen Organisationen. Es sei auch kaum zu begründen, dass Betrug eine ausschließlich eigenhändige Selbstschädigung sein müsse. Genügten aber mehraktige Verfügungen, sofern ihr Ergebnis dem Getäuschten zurechenbar sei, so könne auch die Frage, inwieweit weitere Täterhandlungen den Schaden herbeiführen könnten, nur nach allgemeinen Zurechnungskriterien entschieden werden. Also: Mit Stuckenberg tritt an die Stelle des Unmittelbarkeitskriteriums die objektive Zurechnung. Diese Zurechnungslehre kennt kein pauschales Regressverbot in dem Sinne, dass vorsätzliches Dazwischentreten einer Person den Zurechnungszusammenhang ausschließt. Von daher ist nicht zu bezweifeln, dass sich die durch die täuschungsbedingte Herausgabe der Zugangsdaten begründete unerlaubte Gefahr in dem Vermögensschaden realisiert, den der Phishing-Täter im Wege anschließender Überweisungen vom Konto des Getäuschten herbeiführt. d) Das Erschleichen von Zugangsdaten zu Konten per Zahlungskarte samt PIN („analoges Phishing“) Nach diesem Blick auf das gleichsam klassische Phishing drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass die vergleichbaren Konstellationen des offline ablaufenden „analogen Phishings“32 entsprechend zu behandeln sind. Charakterisiert sind damit Fälle, in denen Täter die Herausgabe einer fremden Girocard samt PIN erschleichen, um damit anschließend unbefugt Geld abzuheben. Auch hier sieht eine Meinungsgruppe schon im Erschleichen der Zugangsmöglichkeit zu dem Konto einen Betrug mit Gefährdungsschaden.33 Andere lassen einen solchen im Vorfeld liegenden Betrug an der 30
Ceffinato, NZWiSt 2016, 464 (466). Stuckenberg, ZStW 118 (2007), 878 (900 ff.). 32 Ladiges, wistra 2016, 180. 33 Fischer, § 263 Rn. 173; Matt/Renzikowski/Saliger, StGB, 2. Aufl. 2020, § 263 Rn. 122, 234; SSW-StGB/Satzger, § 263 Rn. 155, 190. 31
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kaum zu leistenden Bezifferbarkeit des Schadens34 sowie dem Unmittelbarkeitserfordernis scheitern und gelangen deshalb nur zu § 263a Abs. 1 Var. 3 StGB, sofern der Zugriff auf das Konto gelingt. Der BGH hat in einer ungenauen und viel kritisierten Entscheidung den Tatbestand des Computerbetrugs für unanwendbar gehalten und § 263 StGB bejaht.35 Dies liegt im Ergebnis insoweit auf der Linie der Rechtsprechung, als sie schon zuvor in anderen Konstellationen für den Schritt zum Gefährdungsschaden den bloßen Besitz einer Girocard mit Geheimzahl hat ausreichen lassen.36 Die fragliche BGH-Entscheidung erwähnt aber nur, dass Geld abgehoben wurde und, da § 263a StGB ausscheide, allein § 263 StGB eingreife. Weder geht der BGH hier mit einem Wort auf die Frage des Gefährdungsschadens noch auf seine etwaige Bezifferbarkeit noch auf das Unmittelbarkeitserfordernis ein. Durchaus lehrreich ist, wie das OLG Jena37 in einem vergleichbaren Fall argumentiert: Es sieht einerseits im Erlangen der Zugangsdaten die unmittelbare Überwindung der wesentlichen Zugriffsschwelle und in der Geldabhebung offenbar bloß einen unwesentlichen Akt, betont freilich andererseits, durch die Geldabhebung – verstärkend: „aber auch erst durch diese“ – sei es zu dem Vermögensschaden gekommen. Weshalb dieser entscheidende Schritt zum Vermögensschaden unwesentlich sein soll, bleibt ein Geheimnis. Einmal mehr offenbart sich demnach die Fragwürdigkeit des Unmittelbarkeitsmerkmals. Den Unmittelbarkeitsgedanken damit zu retten, dass man die Anforderungen niedriger ansetzt38 oder in der Geldabhebung „keine relevant eigenmächtige Handlung“ sieht39, überzeugt ebenso wenig. Mit den objektiven Zurechnungskriterien ist die Lösung klar: Die spätere Geldabhebung ist objektiv zurechenbar auf die täuschungsbedingte Erlangung der Zugangsdaten zurückzuführen; der Unmittelbarkeitsaspekt spielt für die Bejahung des § 263 StGB keine Rolle. Ein bezifferbarer Gefährdungsschaden vor der schädigenden Geldabhebung lässt sich nicht feststellen.40
34
Instruktiv Ladiges, wistra 2016, 180 (182); Berster, wistra 2016, 73 f.; Piel, NStZ 2016, 151 (152). 35 BGH NStZ 2016, 149 f.; zur Kritik siehe die Belege in Fn. 34; ferner Rengier, BT I, § 13 Rn. 198a; § 14 Rn. 36. 36 BGH NStZ-RR 2004, 333 (334); NStZ 2011, 212 (213); ablehnend Rengier, BT I, § 11 Rn. 49 f. 37 OLG Jena wistra 2007, 236. 38 SSW-StGB/Satzger, § 263 Rn. 190. 39 Matt/Renzikowski/Saliger, § 263 Rn. 234. 40 Was das Konkurrenzverhältnis mit dem richtigerweise ebenfalls vorliegenden § 263a Abs. 1 Var. 3 StGB betrifft, so tritt der Computerbetrug als mitbestrafte Nachtat zurück (vgl. Rengier, BT I, § 14 Rn. 70).
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e) Zwischenfazit zwei An dieser Stelle, nach Erörterung von vier der sieben angesprochenen Konstellationen zum Forderungsbetrug, soll ein zweites Zwischenfazit – zurückblickend, aber auch schon etwas vorausschauend – in wenigen Thesen die wesentlichen Erkenntnisse festhalten: (1) Das Unmittelbarkeitserfordernis der Vermögensverfügung beim Betrug ist durch Kriterien der objektiven Zurechnung zu ersetzen. (2) Jedenfalls stellt das Unmittelbarkeitserfordernis kein geeignetes Kriterium dar, um es über die Abgrenzung von Diebstahl und Sachbetrug hinausgehend zu verallgemeinern. (3) Bei allen Täuschungshandlungen, mit denen der Täter einen bestimmten, eindeutig finanziell messbaren endgültigen Vermögensverlust erstrebt und erzielt (im Folgenden: „Endschaden“), reicht es für den Zusammenhang zwischen täuschungsbedingtem Verfügungsverhalten und herbeigeführtem Endschaden aus, dass sich im Endschaden die von dem Verfügungsverhalten ausgehende Ausgangsgefahr in objektiv zurechenbarer Weise realisiert. Etwaiges Dazwischentreten des Täters oder Dritter ist im Lichte dieser Zurechnungslehre zu beurteilen. (4) Die Annahme eines im Vorfeld des (erstrebten) Endschadens zugefügten Gefährdungsschadens ist damit nicht ausgeschlossen. Ein solcher muss aber eindeutig – und nicht bloß mehr oder weniger geschätzt spekulativ, also realistisch – bezifferbar sein. (5) Ist ein objektiv zurechenbarer Endschaden eingetreten, interessiert die Frage eines etwaigen zuvor eingetretenen Gefährdungsschadens nicht. Die nunmehr folgende Befassung mit den drei noch verbliebenen Konstellationen wird diese Thesen weiter verifizieren. f) Das Erschleichen einer doppelten Zahlung per Überweisungsträger In dem einschlägigen BGH-Fall von 2014 verkaufte der Täter auf Kaffeefahrten Magnetfeldmatratzenauflagen zum Preis von 899 E. Bezahlt wurde per Einziehungsermächtigung. Insoweit gibt es strafrechtlich nichts zu beanstanden. Indes: Der Täter ließ sich darüber hinaus mit der Begründung, dies sei zur Abwicklung des geschlossenen Kaufvertrages notwendig, von jedem Kunden noch einen vorbereiteten Überweisungsträger unterschreiben, durch den die Kunden ihr Geldinstitut anwiesen, den Kaufpreis auf das Konto des Täters zu überweisen. Dabei beabsichtigte der Täter von Anfang an, sich zu einem späteren Zeitpunkt den Kaufpreis ein zweites Mal bezahlen zu lassen. Tatsächlich tat er dies dann auch in 38 Fällen, und zwar in zeitlicher Hinsicht nach mehr als 1 Jahr, teilweise auch nach mehr als 2 Jahren.41 41
BGH NStZ 2014, 578.
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Dieser zeitliche Abstand stellt für das Unmittelbarkeitserfordernis tatsächlich ein Problem dar. Kann man zwei Jahre nach der Vermögensverfügung (Unterschreiben des Überweisungsträgers) noch von einer „unmittelbar“ vermindernden Folge sprechen, wo die Opfer doch die Anweisung bis zu ihrer Einreichung hätten widerrufen können und der Täter darüber hinaus „dazwischentreten“ musste? Haben die Taten also keinen Selbstschädigungs-, sondern Fremdschädigungscharakter? Geht die etwaige Bestrafung wegen Betruges „sehr weit“, wie Saliger meint?42 Nein, die Bestrafung wegen vollendeten Betruges ist das einzig Richtige. Das Landgericht hat insoweit auf den – nicht näher konkretisierten – Gefährdungsschaden abgestellt; dem hat der BGH zu Recht mangels Bezifferbarkeit widersprochen. Um dennoch das Unmittelbarkeitserfordernis verbal zu retten, greift der BGH auf die Gedanken der gestreckten oder mehraktigen Verfügungen zurück und sieht auch kein Problem darin, dass neben den Opfern (1. Teilakt) auch noch der Täter mitwirken musste (2. Teilakt). Denn unmittelbar herbeigeführt sei der Schaden auch dann noch, wenn „die Kette der Verfügungen zwingende oder wirtschaftliche Folge des durch Täuschung hervorgerufenen Irrtums und der Teilakt, der zum Vermögensverlust führt, dem Getäuschten zuzurechnen ist … So verhält es sich hier“.43 In der Tat: Dem ist zuzustimmen und von unserer Zurechnungsperspektive aus eigentlich kaum etwas hinzufügen. Nur: Was meint der BGH mit der Formulierung „dem Getäuschten zuzurechnen ist“? Dies ist zumindest ungenau formuliert. Soll es heißen, „dem Verfügungsverhalten des Getäuschten zuzurechnen ist“, passt die Aussage. Im Ergebnis kann es allein darum gehen, was dem Täter zuzurechnen ist. Vorzugswürdig ist es daher, an die Stelle der Formulierung: „… dem Getäuschten zuzurechnen ist“ die Formulierung: „… dem Täter zuzurechnen ist“ zu setzen. Fügt man jetzt noch das Wort: … dem Täter „objektiv“ (zuzurechnen ist) ein, erkennt man, wie nahe der BGH in diesem Fall der Sache nach an den hier entwickelten Standpunkt herangerückt ist. Eine Hintertür zum Gefährdungsschaden möchte sich der BGH für den Fall offen halten, dass der Täter beabsichtigt, die Anweisung „zeitnah“ einzureichen. Indes kann ein so unbestimmtes Kriterium das Bezifferbarkeitsproblem nicht beseitigen.44
42 Saliger, in: Esser/Rübenstahl/Saliger/Tsambikakis (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht (Fn. 5), § 263 StGB Rn. 114. 43 BGH NStZ 2014, 578 (579). 44 Im Ergebnis auch nicht überzeugend Bittmann, ZWH 2014, 186 ff., der ab dem ersten Tag der Übergabe des Überweisungsträgers einen sich in gestreckter Weise verwirklichenden Gefährdungsschaden annehmen will und u. a. meint, bankübliche Abzinsungstabellen oder die Vernehmung eines Bankfachmanns könnten die Grundlage für eine rechtssichere Quantifizierung bieten.
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g) Eingehungsbetrug und unechter Erfüllungsbetrug Die von der Rechtsprechung und h.M. getragene und bekannte Konstellation des Eingehungs- und unechten Erfüllungsbetrugs ist besonders geeignet, unsere Gedanken zu verdeutlichen.45 Auf die Schadensfrage bezogen geht es hier um den Eingehungsschaden als Gefährdungsschaden und den späteren Erfüllungsschaden (oder auch: Endschaden). Um den Vermögensschaden zu ermitteln, muss nach h.M. der Schaden unmittelbar vor und unmittelbar nach der Verfügung miteinander verglichen werden.46 Ein Eingehungsschaden schon mit dem Vertragsschluss liegt vor, wenn sich beim Wertvergleich der gegenseitigen Ansprüche ein wirtschaftliches Minus ergibt. Werden in einem solchen Fall die Leistungen tatsächlich ausgetauscht, also in typischen Fällen die Ware geliefert und der Kaufpreis bezahlt, ist der Vermögensverlust endgültig eingetreten (Erfüllungsschaden oder Endschaden). Eingehungs- und Erfüllungsschaden liegen oft zeitnah beieinander, freilich kann sich der Erfüllungsschaden unter Umständen auch erst erheblich später realisieren. Durchaus treffend formuliert die Rechtsprechung, dass sich im Erfüllungsschaden der vorherige Eingehungsschaden materialisiert und dann der Gefährdungsschaden nicht besonders festgestellt werden muss.47 Um die Unmittelbarkeitsklippe bei langen Zwischenräumen zu überwinden, wird schlicht argumentiert, dass ein solcher Erfüllungsschaden immer unmittelbar herbeigeführt sei.48 Das ist alles sehr vernünftig, bestätigt indes nur die Fragwürdigkeit der Argumentation mit dem Unmittelbarkeitsgedanken. Demgegenüber ist das Ergebnis im Lichte der objektiven Zurechnung so einfach nachvollziehbar: Selbstverständlich realisiert sich im Erfüllungsschaden das Schädigungsrisiko, das der Täter mit dem betrügerischen Vertragsabschluss initiiert hat. Der Gedanke, ob der Zeitablauf die Zurechnung unterbrechen könnte, kommt erst gar nicht auf. Es wäre geradezu absurd, bei derartigen klassischen Betrugstaten den Endschaden irgendwie in den Hintergrund treten zu lassen. In der Bedeutung des Endschadens49 ist ja auch der Grund zu sehen, weshalb eine Minderheitsmeinung den Eingehungsschaden überhaupt nicht anerkennt und im Vertragsabschluss bloß einen versuchten Betrug sieht.50
45
Ergänzend Krell, NZWiSt 2013, 370 ff. BGHSt 51, 165 (174); 53, 199 (201 f.); BGH NJW 2013, 1460 f.; SSW-StGB/Satzger, § 263 Rn. 260 ff.; Rengier, BT I, § 13 Rn. 183 ff.; Evers, Das Verhältnis des Vermögensnachteils bei der Untreue (§ 266 StGB) zum Vermögensschaden beim Betrug (§ 263 StGB), 2018, S. 64 ff. 47 BGHSt 60, 1 (9 f.); 61, 48 (74); BGH NJW 2011, 2675 f.; NStZ-RR 2015, 341. 48 BGHSt 61, 48 (74); BGH NStZ-RR 2015, 341 (Eintritt des Erfüllungsschadens in zeitlich hintereinander liegenden Etappen). 49 Zu Recht hervorhebend auch Krell, NZWiSt 2013, 370 (378). 50 Nachweise bei Evers, Verhältnis des Vermögensnachteils (Fn. 46), S. 65; ergänzend Schönke/Schröder/Perron, § 263 Rn. 129 ff. 46
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h) Darlehensbetrug Konsequenterweise müsste jetzt doch entsprechend dem Vorbild des Eingehungsund Erfüllungsbetrugs bei allen gegenseitigen Verträgen mit einem betrugsbedingten Eingehungsschaden ein etwaiger späterer Erfüllungs- oder Endschaden eine vergleichbare Bedeutung haben. Konkret habe ich den Darlehensbetrug, unsere letzte Betrugskonstellation, im Blickfeld. Gewiss handelt es sich um ein Risikogeschäft. Ich sehe auch die Unterschiede zu betrügerischen Kaufverträgen und erkenne, dass es Sinn macht, dem Zeitpunkt des Eingehungsschadens einen zentralen Platz einzuräumen, weil der Darlehensgeber eine finanzielle Leistung erbracht hat und es daher im Falle seiner Täuschung darauf ankommt, ob der Darlehensvertrag im Sinne des Risikogeschäfts wirtschaftlich ausgeglichen ist. Betrügerisches Verhalten der Darlehensnehmer wird in der Regel aber erst entdeckt, wenn die Kredite sichtbar notleidend geworden sind, nicht mehr bedient und schließlich von den Kreditinstituten abgewickelt werden. Dieses Ende markiert den Zeitpunkt des Erfüllungsschadens. Exakt darauf hat das LG Frankfurt in einem Fall mit einem Darlehensbetrugs-Modell zurückgegriffen. Es stellte auf den Vermögensverlust ab, der den geschädigten Banken nach Abzug der geleisteten Zahlungen und Verwertung der Grundschulden im Rahmen der Zwangsversteigerung verblieben war, ermittelte so einen Gesamtschaden von 470.581 Euro und verurteilte dementsprechend. Wie urteilte der BGH dazu (im Jahr 2013)?51 Kurz formuliert: Alles falsch. So lasse sich der Schaden nicht berechnen. Es komme allein auf den Zeitpunkt unmittelbar vor und unmittelbar nach der Vermögensverfügung an. Der tatsächliche Verlauf des Darlehensverhältnisses sei irrelevant. Dann wird das LG auf etwa einer Seite belehrt, welche Faktoren dabei – natürlich ggf. mit sachverständiger Hilfe – zu berücksichtigen seien. Ein paar Stichworte genügen: Minderwert des Synallagmas; bankübliche Bewertungsansätze für Wertberichtigungen; Einschätzung des Ausfallrisikos; Werthaltigkeit der Sicherheiten. Demgegenüber ist nicht zu bezweifeln, dass sich in den von den Banken festgestellten Endschäden die von den Darlehensnehmern beim Vertragsabschluss täuschungsbedingt gesetzten Risiken realisiert haben. Es gibt keinen überzeugenden Grund dafür, den erheblich praktikabler feststellbaren tatsächlichen Verlauf bis zum Endschaden aus der Schadensberechnung auszublenden und statt dessen unsichere und komplizierte Prognosekriterien heranzuziehen. In einem etwas späteren Urteil von 2014 bestätigt der BGH seine Sicht und rügt:52 Soweit die Strafkammer bei der Schadensberechnung von den ausgezahlten Beträgen „lediglich die Verwertungserlöse abgezogen und so den Schaden berechnet hat, wäre dies schon deshalb rechtsfehlerhaft, weil es nicht darauf ankommt, was 51 52
BGH NStZ 2013, 711 f. BGH NStZ 2014, 457 f.
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aus den Sicherheiten später erlöst werden konnte, sondern darauf, welchen Wert sie im Zeitpunkt der schädigenden Vermögensverfügung hatten. Dieser Zeitpunkt ist für die bei der Schadensberechnung vorzunehmende Saldierung der Vermögenswerte der maßgebliche; spätere Entwicklungen haben für die strafrechtliche Beurteilung außer Betracht zu bleiben“. Darauf ist zu erwidern: Sicherheiten werden für den Verwertungsfall bestellt. Daher überzeugt es nicht, einen erst noch – möglicherweise recht aufwändig – zu ermittelnden Prognosewert an die Stelle des erzielten Wertes zu setzen. In der Literatur hat man in dieser Rechtsprechung schon einen „Segen für Strafverteidiger“ gesehen.53 Bedenklicher und zugleich ziemlich aussagekräftig sind Ausweichstrategien, die Instanzgerichte in jüngster Zeit ergriffen haben. Sie haben sich nämlich der Feststellung des Vermögensschadens entzogen, indem sie – vom BGH kritisch bemerkt, aber, da zugunsten des Täters, im Ergebnis nicht beanstandet – gemäß § 154a StPO die Tatvorwürfe des vollendeten Betrugs von der Strafverfolgung ausgenommen und auf versuchten Betrug beschränkt haben.54 Offenbar stößt also die BGH-Rechtsprechung auch bei Wirtschaftsstrafkammern auf Unverständnis, wenn sie von ihnen verlangt, die Schadensfrage allein auf den – möglicherweise lange zurückliegenden – Zeitpunkt des Darlehensvertrages prognosemäßig und umständlich auch dann zu fokussieren, wenn die am Ende geschädigten Kreditinstitute handfeste Schadensberechnungen vorlegen können, die mit dem täuschenden Ausgangsverhalten der Darlehensnehmer in einem objektiven Zurechnungszusammenhang stehen. Am Rande sei noch bemerkt: Eigentlich hätte der BGH gleichermaßen die Ausweichstrategie beanstanden müssen. Der Vorsatz beim versuchten Betrug muss sich doch wohl auch auf einen bezifferbaren Vermögensschaden beziehen, dessen Höhe für die Strafzumessung relevant ist.55
IV. Die Unmittelbarkeit der Vermögensminderung bei der Untreue 1. Einführung In den Köpfen der Rechtsprechung und h.M. ist der Standpunkt relativ fest verankert, dass bei der Schadensberechnung von Betrug und Untreue ein „Gleichklang“ besteht, wie es der BGH bildhaft schön verdeutlicht hat,56 oder sogar ein „Dogma der Identität“ existiert57. Demnach gelten aus dieser Perspektive der h.M. mit Blick auf 53
Becker, NStZ 2014, 457 (458). BGH NStZ 2019, 144; wistra 2019, 150. 55 Kulhanek, NStZ 2019, 145 f. 56 BGH NStZ 2015, 89 (92). 57 Evers, Verhältnis des Vermögensnachteils (Fn. 46), S. 12 ff. 54
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die Untreue die gleichen Grundsätze und folglich sind auch die Unmittelbarkeitskriterien anzuwenden. Bezüglich der Bestimmung des Vermögensnachteils ist so betrachtet darauf abzustellen, ob der Vermögensvergleich unmittelbar vor und unmittelbar nach der Pflichtverletzung zu einer Minderung des Vermögens führt.58 Wir könnten jetzt unmittelbar der „Gleichklangthese“ folgen und unsere bisherigen Erkenntnisse – Ersetzung der Unmittelbarkeitskriterien beim Betrug durch Kriterien der objektiven Zurechnung – unmittelbar beim Untreuetatbestand auf den Prüfstand stellen. Dies wird auch noch geschehen. Zuvor soll aber nicht verschwiegen werden, dass in der Literatur eine Meinung an Zulauf gewinnt, die sich vom Betrugstatbestand löst und das Unmittelbarkeitserfordernis nicht parallel in den § 266 StGB integrieren will. Die wesentlichen Argumente dieser Ansicht sind:59 – Die Untreue ist kein Vermögensverschiebungs- und Selbstschädigungsdelikt, bei dem man das Unmittelbarkeitselement als sinnvolles Abgrenzungskriterium zu einem anderen Straftatbestand verwenden könnte. – Die Untreue ist ein Erfolgsdelikt (Eintritt des Vermögensschadens), das eine Pflichtverletzung erfordert, die zu dem Schaden führt. Bei anderen Erfolgsdelikten wie vor allem den Tötungsdelikten kommt es bezüglich des Erfolgseintritts auf eine wie auch immer geartete zeitliche Nähe nicht an; beispielhaft lässt sich der tödliche Ausgang einer HIV-Infektion nennen, die ein HIV-Infizierter vorsätzlich verursacht hat. – Eng mit dem Unmittelbarkeitsgedanken verbunden ist die im Lager der h.M. immer wieder formulierte Ausklammerung von weiteren eigenmächtigen Handlungen des Täters, des Opfers und Dritter aus dem Zurechnungszusammenhang.60 Diese die Zurechnung unterbrechende Aussage übersieht die besondere Pflichtenstellung des Treupflichtigen, der kraft seiner Garantenstellung alle Gefahren für das von ihm zu betreuende Vermögen abzuwenden hat.61 Die Literaturmeinung, welche die Übernahme des Unmittelbarkeitskriteriums in den Untreuetatbestand ablehnt, muss sich dann der Frage stellen, wie der Zurech58
BGH StV 2019, 744 (745). Lindemann, Voraussetzungen und Grenzen legitimen Wirtschaftsstrafrecht, 2012, S. 72 ff.; Seier/Lindemann, in: Achenbach/Ransiek/Rönnau, Wirtschaftsstrafrecht (Fn. 28), 5/ 2. Kap. Rn. 170 (mit Fn. 383), 220 ff.; Perron, in: Freund u. a. (Hrsg.), Frisch-FS, 2013, S. 857 (860 ff.); Brand, in: Bittmann (Hrsg.), Praxishandbuch Insolvenzstrafrecht, 2. Aufl. 2017, § 28 Rn. 49; Albrecht, GA 2017, 130 (136 ff.); Ensenbach, Der Prognoseschaden bei der Untreue, 2016, S. 107 ff. 60 Namentlich und stellvertretend SSW-StGB/Saliger, § 266 Rn. 89; vgl. ferner Theile, wistra 2010, 457 (462); Kraatz, ZStW 123 (2011), 447 (482 f.); Solka/Altenburg, NZWiSt 2016, 212 ff. 61 Lindemann, Wirtschaftsstrafrecht (Fn. 59), S. 75 f.; Seier/Lindemann, in: Achenbach/ Ransiek/Rönnau, Wirtschaftsstrafrecht (Fn. 28), 5/2. Kap. Rn. 224; Perron, Frisch-FS (Fn. 59), S. 857 (869 ff.); Albrecht, GA 2017, 130 (143). 59
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nungszusammenhang zwischen Pflichtverletzung und Schaden beschaffen sein soll. Die Antwort erleichtert der Gesetzeswortlaut („und dadurch“) und drängt sich auf: Wie bei allen Erfolgsdelikten gelten die allgemeinen Regeln zur Kausalität und objektiven Zurechnung.62 In dem etwaigen Einwand, dass nun der „Gleichklang“ mit dem Betrugstatbestand gestört sein könnte, kann man angesichts der vorgebrachten Argumente keine tragfähige Kritik sehen. Von unserem eingangs entwickelten Standpunkt aus ist bemerkenswert, dass bei der Untreue der Verzicht auf das Unmittelbarkeitserfordernis und der damit verbundene Schritt zur objektiven Zurechnung im Lichte der geschilderten Literaturmeinung auch unabhängig davon erfolgen können, ob man beim Betrug den gleichen Weg befürwortet. Wir sind eingangs genau diesen Weg gegangen und sehen uns darin bestärkt, den „Gleichklang“ dadurch herzustellen, dass wir auch bei der Untreue die richtigen Antworten in dem Schritt zur objektiven Zurechnung sehen.63 Demgegenüber betonen die Befürworter des Unmittelbarkeitselements bei der Untreue dessen Restriktionspotential und stützen sich insoweit auf einen gewissen Rückenwind durch das BVerfG.64 Wir werden diesen Punkt im Blickfeld behalten. Zu bemerken ist an dieser Stelle nur: Beim Betrug ist das Restriktionspotential gering, weil es in den meisten Fällen nur darum geht, ob statt des § 263 StGB ein anderer Tatbestand eingreift. Demgegenüber geht es bei der Untreue häufiger um den Schritt zur Straflosigkeit.65 Damit können wir uns nunmehr konkreten Untreuekonstellationen zuwenden, um sie im Lichte der objektiven Zurechnung zu beurteilen und etwaige Konsequenzen zu bedenken, die der Verzicht auf Unmittelbarkeitskriterien haben könnte.
62 Schönke/Schröder/Perron, § 266 Rn. 39; Perron, in: Böse/Schumann/Toepel (Hrsg.), Kindhäuser-FS, 2019, S. 765 ff.; Lindemann, Wirtschaftsstrafrecht (Fn. 59), S. 72 ff.; Seier/ Lindemann, in: Achenbach/Ransiek/Rönnau, Wirtschaftsstrafrecht (Fn. 28), 5/2. Kap. Rn. 220 ff.; Brand, in: Bittmann, Insolvenzstrafrecht (Fn. 59), § 28 Rn. 44 ff., 49; Albrecht, GA 2017, 130 ff. 63 Zu diesem Gedanken vgl. bereits Brand, in: Bittmann, Insolvenzstrafrecht (Fn. 59), § 28 Rn. 49. 64 Vgl. BVerfGE 126, 170 (202 ff., 213, 215) zum Gebot restriktiver und präzisierender Auslegung. 65 Vgl. Albrecht, GA 2017, 130 (138 f.).
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2. Fallkonstellationen a) Ausstellung von Rezepten durch Vertragsarzt für fingierte und abgerechnete physiotherapeutische Leistungen66 Wir blicken als erstes auf die Konstellation der bekannten Vertragsarzt-Entscheidung von 2016. Dabei geht es uns nicht um das viel erörterte Problem der Vermögensbetreuungspflicht, sondern um die Schadensfrage, die bisher noch keine Aufmerksamkeit gefunden hat. In dem Fall überlassen, einem gemeinsamen Tatplan folgend, zwei von den Krankenkassen zugelassene Physiotherapeuten ihnen zugängliche Krankenversicherungskarten dem Vertragsarzt V, der in 479 Fällen Rezepte für fingierte physiotherapeutische Leistungen ausstellt und die Verordnungen sodann den Therapeuten zuleitet. Diese wiederum lassen sich von den angeblichen Patienten die verordneten Leistungen bestätigen, reichen die Rezepte bei den Kassen ein und erhalten (abgerundet) 50.000 Euro ausbezahlt. Wie einfach könnte doch im Lichte der Bedingungstheorie und objektiven Zurechnung die Feststellung des von V herbeigeführten Schadens in Höhe von 50.000 Euro sein! Es ist überflüssig, dies vorzuexerzieren. Schauen wir uns lieber die Umwege des BGH an: Von der Notwendigkeit ausgehend, für die Schadensberechnung auf den Zeitpunkt vor und nach der Tathandlung abzustellen, werden der Blick auf den möglicherweise zugefügten Gefährdungsschaden gelenkt, die Grundsätze dazu zitiert und dann subsumiert:67 „Bereits mit Ausstellen der Heilmittelverordnung begründet der Vertragsarzt … eine ,Verpflichtung‘ für das Vermögen der Krankenkasse …, da er befugt ist, durch eine solche Verordnung den Anspruch des Patienten gegen seine Krankenkasse auf die Gewährung von Sachmitteln zu konkretisieren … Nach Begründung dieser ,Verpflichtung‘ … waren bei gewöhnlichem Gang der Dinge … die Inanspruchnahme der Krankenkassen nahezu sicher zu erwarten und deren Zahlungen insbesondere aufgrund der schon zuvor mit der Überlassung der Krankenversicherungskarte gezeigten Mitwirkungsbereitschaft der ,Patienten‘ nicht von ungewissen oder unbeherrschbaren Geschehensabläufen abhängig … Die Heilmittelverordnungen waren mithin nach dem Tatplan trotz der Notwendigkeit des Tätigwerdens des Heilmittelerbringers und der Kontrollmöglichkeiten der Krankenkassen und der kassenärztlichen Vereinigung gleichsam sich selbst vollziehend … Auch soweit in der Rechtsprechung gefordert wird, dass über die – hier unzweifelhaft gegebene – reine Kausalität hinaus der Vermögensnachteil unmittelbar auf der Verletzung der vermögensbezogenen Treuepflicht beruhen muss …, fehlt es hieran nicht.“
Es lohnt sich, jetzt etwas innezuhalten. Erinnern wir uns daran, dass der Unmittelbarkeitsgedanke wegen dessen Restriktionspotentials benötigt werden soll; so soll eine unmittelbare Schädigung bei der Tathandlung folgenden eigenmächtigen Handlungen des Täters, des Opfers oder Dritter ausscheiden. Dies aufgreifend zählen wir 66 67
BGH NJW 2016, 3253 ff. BGH NJW 2016, 3253 (3256 f.).
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einmal im Vertragsarzt-Fall die sich an jede Tathandlung des Vanschließenden möglicherweise eigenmächtigen Handlungen auf: (1) Bestätigung der Behandlung durch den Physiotherapeuten; (2) Einholung der Unterschrift durch den angeblichen Patienten; (3) Leistung der Unterschrift durch den Patienten; (4) Einreichung des Rezepts durch den Physiotherapeuten bei der Kasse = die Täuschung, die (5) bei der Kasse den Irrtum hervorrufen und die Vermögensverfügung veranlassen muss. Alle fünf Schritte sollen, wie der BGH meint, „gleichsam sich selbst vollziehend“ geschehen? Man greift zu solchen Behauptungen, um die mit dem Unmittelbarkeitserfordernis zusammenhängende Annahme eines Gefährdungsschadens und insoweit die Strafbarkeit wegen Untreue zu retten. Wie würde man im Lager des BGH die einfache Abwandlung beurteilen, in der zum Zeitpunkt der Entdeckung von den 479 ausgestellten Rezepten nur die Hälfte schon abgewickelt und ausbezahlt ist, während die andere Hälfte, egal aus welchen Gründen, noch unbearbeitet bei den Physiotherapeuten liegt. Im Lichte der geschilderten Entscheidungsgründe und der von der Tathandlung als Prognosepunkt ausgehenden Perspektive müsste der zu beziffernde Gefährdungsschaden derselbe sein, also dem Endschaden von 25.000 Euro entsprechen. Sind die aufgezählten fünf weiteren Zwischenschritte alle, sogar in der Summe, unwesentlich? Wo bliebe insoweit das angebliche Restriktionspotential? Demgegenüber sollte die Annahme naheliegen, dass in der Abwandlung der tatsächliche wirtschaftliche Verlust von 25.000 Euro dem möglicherweise drohenden Verlust von weiteren 25.000 Euro nicht einfach gleichgesetzt werden kann. Solchen Konsequenzen scheint man sich entziehen zu wollen, weil dann das Bezifferbarkeitsproblem auftaucht oder die Krücke des § 154a StPO bemüht werden muss68. Mir liegt daran, gezeigt und auch für den Untreuetatbestand die These bestätigt zu haben: Tritt ein Endschaden ein, ist der Zurechnungszusammenhang mit der pflichtwidrigen Tathandlung nach Maßgabe der objektiven Zurechnungskriterien zu prüfen. Die Frage des Gefährdungsschadens spielt hier keine Rolle. Bleibt der mögliche Endschaden aus, führt auf der Zurechnungsschiene: Tathandlung – Phase des (möglichen) Gefährdungsschadens – Endschaden der Blick rückwärts vom vorgestellten Endschaden zur Phase des etwaigen Gefährdungsschadens zu der Einsicht, dass die 1:1-Umrechnung aus wirtschaftlicher Sicht grundsätzlich nicht tragfähig ist. Folglich kann man dem Bezifferbarkeitsproblem nicht so einfach ausweichen. Und genau darin liegt restriktives Potential, das sich im Lichte der befürworteten objektiven Zurechnungslösung ergibt und die zu schnelle Annahme von Gefährdungsschäden auch bei der Untreue zurückdrängen könnte.
68
Vgl. oben bei Fn. 54.
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b) Nürburgring-Affäre: Untreue durch Landesbürgschaft und gescheiterte Provisionszahlung69 Der Bürgschaftskomplex lässt sich kurz wie folgt umreißen: Im Rahmen des Projekts „Nürburgring 2009“ sagte der u. a. angeklagte ehemalige Finanzminister D von Rheinland-Pfalz 2008 in untreuerelevanter Weise eine Landesbürgschaft über 85 Mio. Euro zur Absicherung von Darlehen zu. Die mit dem Projekt betraute, im Wesentlichen landeseigene, Nürburgring-GmbH meldete 2012 Insolvenz an. Das LG Koblenz verurteilte D im Jahr 2014 wegen Untreue und bejahte einen Gefährdungsschaden. Der BGH vermisste schon mit Blick auf die fehlende Bezifferung eine rechtsfehlerfreie Begründung und rügte weiter unzureichende Ausführungen zur Eintrittswahrscheinlichkeit der Bürgschaft.70 Dann weist der BGH für die neue Hauptverhandlung auf Folgendes hin:71 „Sollte das Land Rheinland-Pfalz zwischenzeitlich auf die Bürgschaften bzw. auf die diese im Rahmen des Umschuldungskonzepts ersetzende Garantie- und Freistellungserklärung finanzielle Leistungen erbracht haben, käme es in dieser Höhe auf die exakte Bezifferung des Gefährdungsschadens im Tatzeitpunkt nicht mehr an. In diesem Fall hätte sich der ursprüngliche Eingehungsschaden in einem Erfüllungsschaden materialisiert und würde sich nach dessen Wert bemessen.“
Ähnlich wie schon zum Eingehungs- und Erfüllungsbetrug ausgeführt wurde,72 ist diesem Blick auf den Erfüllungs- oder Endschaden im Ansatz und im Lichte der objektiven Zurechnungslehre zuzustimmen.73 Ein gravierender Unterschied zu unserer Ansicht bleibt freilich. Wir vertreten, dass für die Schadensfeststellung ein objektiver Zurechnungszusammenhang zwischen Tathandlung und Endschaden ausreicht. Demgegenüber vertritt der BGH, dass der Tathandlung ein unmittelbar eintretender Gefährdungsschaden folgen muss und der spätere Erfüllungsschaden stets zugerechnet und als unmittelbar herbeigeführt fingiert wird, wie langfristig und schwierig der Weg bis zum Umschuldungskonzept auch gewesen sein mag. In der neuen Hauptverhandlung darf demnach die Strafkammer nicht einfach vom Endschaden ausgehen, sondern muss einen Gefährdungsschaden zum Tatzeitpunkt rechtsfehlerfrei ermitteln und begründen, auch wenn die Kammer dann, so äußert sich der BGH, wegen des eingetretenen Endschadens auf die Bezifferung des Gefährdungsschadens soll verzichten können. So einfach wird das indes nicht sein. Das Vorliegen eines Gefährdungsschadens kann nicht abstrakt behauptet werden. Wenn man für ihn im Lichte der Rechtsprechung des BVerfG einen messbaren wirtschaftlichen Verlust verlangt, muss dieser Schaden auch irgendwie konkretisiert, also jedenfalls eine Mindesthöhe festgestellt sein. 69
BGHSt 61, 48 ff. BGHSt 61, 48 (66 ff.). 71 BGHSt 61, 48 (74). 72 Oben III.2.g). 73 Ebenso Brand, NZG 2016, 690 (692 f.); zust. auch Saliger/Schweiger, NJW 2016, 2600 (2601); ablehnend Rönnau/Becker, JR 2017, 204 (211 ff.). 70
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Was die Provisionszahlung in Höhe von 4 Mio. Euro für einen mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit nicht gedeckten Scheck betrifft, wurde die Überweisung im letzten Moment gestoppt. Das LG Koblenz hat einen Gefährdungsschaden in voller Höhe angenommen. Dies beanstandet der BGH zu Recht. Wie will man, wenn der anvisierte Endschaden nicht eintritt, legitimieren, dass ein zeitlich früherer Gefährdungsschaden wirtschaftlich dem Totalverlust entsprechen soll?74 Bilanzrechtliche Anleihen taugen nicht als Allheilmittel.75 Den von den höchsten Gerichten gerne empfohlenen (Aus-)Weg zur Einholung von Sachverständigengutachten hat die nunmehr zuständige andere Strafkammer des LG Koblenz schon beschritten. Anfang 2019, also rund fünf Jahre nach dem ersten Koblenzer und vier Jahre (!) nach dem BGH-Urteil, verlautete, der Prozessbeginn sei immer noch unklar; man warte seit zwei Jahren auf ein in Auftrag gegebenes Sachverständigengutachten, es seien mehrere Rückfragen erfolgt.76 Ein Jahr zuvor hieß es schon, das LG habe diverse Gutachtenaufträge zu komplexen betriebswirtschaftlichen Sachverhalten erteilt.77 Angesichts solch extremer Verfahrensverzögerungen bleibt es „unerfindlich“78, weshalb sich die Rechtsprechung angesichts des angeblich notwendigen Unmittelbarkeitserfordernisses selbst dann noch mit Fragen des Gefährdungsschadens plagen will, wenn sich leicht ein objektiv zurechenbarer Erfüllungs- oder Endschaden feststellen lässt. c) Haushaltsuntreue durch Spekulationen mit Zinsderivaten Ein weiteres treffendes Schlaglicht auf die erheblichen Schwächen des Unmittelbarkeitserfordernisses werfen aktuelle Entscheidungen zu untreuewidrigen Spekulationen mit Zinsderivaten (darunter fallen Optionen, Swaps, Futures) durch kommunale Entscheidungsträger. Im Pforzheimer Fall79 gerieten die Kämmerin und Oberbürgermeisterin durch allein zu verantwortende, haushaltswidrige Spekulationen in einen „Abwärtsstrudel riskanter Finanzgeschäfte“.80 Der endgültig von der Stadt zu tragende Verlust konnte durch Abschluss von Vergleichen mit den beteiligten Finanzinstituten auf ca. 10 Mio. Euro vermindert werden (nach zuvor festgestellten negativen Marktwerten von bis zu 57 Mio. Euro). Nach der Ansicht des BGH soll dieser 74 Deutlicher BGH NStZ-RR 2020, 20: Kein messbarer Vermögensschaden, wenn die Bank treupflichtwidrig erteilte Überweisungsaufträge nicht ausführt. 75 Vgl. die Bemühungen bei Rönnau/Becker, JR 2017, 204, 210 f.; einen Gefährdungsschaden verneinend Saliger/Schweiger, NJW 2016, 2600 (2601). 76 Vgl. die Fundstellen im Internet zu den Suchworten: „Verurteilung des früheren Finanzministers Ingolf Deubel“; „Deubel vor fast fünf Jahren verurteilt: Prozessbeginn unklar“. 77 Suchworte: „Nürburgring: Kein Ende im Untreueverfahren gegen Ex-Minister Ingolf Deubel in Sicht“. 78 Brand, NZG 2016, 690 (693). 79 BGH NJW 2019, 378 ff. mit Anm. Brand = JR 2019, 529 ff. mit Anm. Baur. 80 Baur, JR 2019, 534 (536).
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grundsätzlich objektiv zurechenbare Endschaden in keiner Weise für die Schadensfrage relevant sein. Dabei muss er doch wohl so oder so ermittelt werden, da er immerhin – etwas widersprüchlich – für die Strafzumessung Bedeutung haben soll.81 Im Nürburgring-Fall hat der BGH bei der Bürgschaft dem Endschaden und dem vorangegangenen Umschuldungskonzept eine gewisse Relevanz eingeräumt.82 Es könnte doch auch aus der Sicht des BGH konsequent sein, gleichermaßen im Pforzheimer Fall den Endschaden und die vorangegangenen Vergleiche in die Schadensfrage einzubinden. Solche Erwartungen werden nicht erfüllt. Vielmehr folgen diverse Belehrungen für die Ermittlung des etwaigen Gefährdungsschadens unmittelbar vor und nach den pflichtwidrigen Tathandlungen. Die einschlägigen Stichworte lauten: Eintrittswahrscheinlichkeit der Risiken, Wahrscheinlichkeit einer Gewinnerzielung, Marktwert eines Derivatgeschäfts, Ausfallrisiko, Berücksichtigung finanzmathematischer Berechnungen, betriebswirtschaftliche Bewertungskriterien, mehrfach: Einholung von Sachverständigengutachten. Also weist der BGH – im September 2018 – die Strafsache zur Ermittlung des Vermögensnachteils an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des LG Mannheim zurück. Diese Strafkammer reagiert durchaus schnell: Anstatt, wie man es vielleicht erwartet hätte und es im Nürburgring-Fall ja geschehen ist, diverse Sachverständigengutachten zu all den Finanzgeschäften einzuholen, hat Ende Oktober 2019 die – im ersten Verfahren zu zwei Jahren Freiheitsstrafe mit Bewährung verurteilte – ExKämmerin der Einstellung des Verfahrens gemäß § 153a StPO gegen Zahlung einer Geldauflage in Höhe von 50.000 Euro zugestimmt und kurz danach die – im ersten Verfahren zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten mit Bewährung verurteilte – Ex-Oberbürgermeisterin dies bei einer Geldauflage von 100.000 Euro ebenfalls getan.83 Die Erkenntnis? „Untreue passt nicht mehr immer“, wird festgestellt.84 Das zum Standardrepertoire von Kritikern gehörende Wort mit dem gegenteiligen Inhalt85 hat nun sein Pendant gefunden. Muss man daher darüber nachdenken, möglicherweise gewisse Strafbarkeitslücken durch eigenständige Tatbestände zu schließen?86 Demgegenüber liegt es viel näher, anstatt am Unmittelbarkeitserfordernis als angeblich unentbehrliches Restriktionspotential festzuhalten, auch weil dessen Aufgabe auf 81
BGH NJW 2016, 2585 (2596 Rn. 92), insoweit nicht in BGHSt 61, 48 abgedruckt; Baur, JR 2019, 534 (536). 82 Vgl. oben IV.2.b). 83 Dazu Fundstellen im Internet unter den Suchworten: „Pforzheimer Derivate-Debakel: Was wurde beglichen und was steht noch offen?“; „Mannheim: Rechtsstreit um Pforzheimer Derivate-Skandal vor dem Ende“; „Ex-OB stimmt Einstellung schweren Herzens zu“, Südkurier v. 26. 10. 2019, S. 1. 84 Baur, JR 2019, 534 (536). 85 Seit Ransiek, ZStW 116 (2004), 634: „§ 266 StGB passt immer“, so lautet der erste Satz seines Beitrags. 86 So Baur, JR 2019, 534 (537).
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bedenkliche – freilich nicht näher erläuterte – Weise die Untreuestrafbarkeit ausweite,87 selbiges durch Kriterien der objektiven Zurechnung zu ersetzen. Dadurch gelingt es, insbesondere dem etwaigen Endschaden, dessen Sichtbarkeit zudem vielfach überhaupt erst die strafrechtlichen Ermittlungen einleitet,88 die notwendige Untreuerelevanz zu verschaffen.89 Der Einwand, dass dann Zufälligkeiten der Marktentwicklung eine Rolle spielen können,90 überzeugt nicht; denn diese Zufälligkeit ist im Ausgangsrisiko oft angelegt und dann auch objektiv zurechenbar. d) Zwingende Sanktionen als untreuerelevante Schadensfolgen Im Rahmen des Konzepts „Wahlsieg 2006“ machte sich der damalige rheinlandpfälzische CDU-Partei- und Fraktionsvorsitzende B wegen Untreue strafbar, indem er Mittel der CDU-Landtagsfraktion unerlaubt für Wahlkampfkosten der Partei einsetzte. Rechtlich ist die verbotene Zahlung als rechtswidrige Parteispende zu werten. Da diese Spende weder im Rechenschaftsbericht des CDU-Landesverbandes auftauchte noch an den Bundestagspräsidenten weitergeleitet wurde, setzte dieser gemäß § 31c PartG eine Sanktion in Höhe von ca. einer Million Euro fest, und zwar gegen den Bundesverband der CDU, der seinerseits Regress beim Landesverband nahm. Bezüglich dieses Millionenschadens wurde B ebenfalls wegen Untreue zu Lasten des Landesverbandes verurteilt.91 Die Begründung dafür ist im Lichte der hier vertretenen Lehre einfach: B hat Gelder der Landtagsfraktion veruntreut, einen unvollständigen Rechenschaftsbericht abgeliefert und die illegale Spende nicht weitergeleitet. An diese für das Vermögen des Landesverbandes unerlaubt gesetzten Verlustgefahren knüpfen voraussehbar der Bundestagspräsident, der zum Erlass des belastenden Verwaltungsaktes kraft Gesetzes verpflichtet ist, und der Regress nehmende Bundesverband an. Deren vorsätzliches legales Dazwischentreten unterbricht in keiner Weise den Zurechnungszusammenhang. Wie argumentiert demgegenüber der BGH? Die Unmittelbarkeit des Vermögensnachteils „wird insbesondere nicht dadurch ausgeschlossen, dass die unrechtmäßige Parteispende zunächst noch entdeckt und die Zahlungspflicht auf Grund der parteiengesetzlichen Sanktion des § 31c PartG noch einen feststellenden Verwaltungsakt des Bundestagspräsidenten erfordert. Das Erfordernis der Unmittelbarkeit führt zunächst nicht dazu, dass Pflichtwidrigkeit und Nachteil in einem engen zeitlichen Verhältnis zueinander stehen müssen; denn unmittelbar in diesem Sinne bedeutet nicht zeitgleich, sofort oder auch nur alsbald … In der Sache ist mit Blick auf die ratio legis sowie die Struktur des Tatbestands der Untreue nach … der Kausalzusammenhang 87
Baur, JR 2019, 534 f. (536). Brand, in: Bittmann, Insolvenzstrafrecht (Fn. 59), § 28 Rn. 49 m.w.N. in Fn. 348. 89 Brand, NJW 2019, 381 (382). 90 Baur, JR 2019, 534 (536). 91 BGHSt 60, 94 ff. 88
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zwischen Pflichtverletzung und Nachteilseintritt auch nicht deshalb zu verneinen, weil die Sanktion erst verhängt wird und damit der Vollschaden erst eintritt, nachdem die Tathandlung entdeckt worden ist. Für die Bejahung der Unmittelbarkeit maßgebend ist vielmehr, dass der Schadenseintritt nicht von einer Handlung eines Dritten abhängt, dem ein Beurteilungsspielraum oder Ermessen eingeräumt ist“ (§ 31c PartG).92 Der BGH dehnt das Unmittelbarkeitskriterium so lange aus, bis es der Sache nach passt, den Endschaden zuzurechnen. Liest man alles genau, tauchen laufend Kriterien der objektiven Zurechnung auf.93 Abschließend muss der BGH noch die Zurechnung des gesamten Millionenschadens begründen: „Der Schadenseintritt ist somit dem Grunde und der Höhe nach eine in keiner Weise disponible Folge der vermögensschädigenden Handlung, ohne dass insoweit ein rechtlich bedeutsamer Zwischenschritt notwendig ist; er vollzieht sich trotz der Notwendigkeit des Tätigwerdens des Bundestagspräsidenten in der Sache materiell quasi von selbst … Bei der gebotenen wirtschaftlichen Betrachtung ist damit das Vermögen der betroffenen Partei unmittelbar um den sich aus § 31c I 1 PartG ergebenden und damit bezifferbaren Betrag vermindert …; der Schaden ist hier auch endgültig bei dem von der zunächst belasteten Bundes-CDU in Regress genommenen Landesverband der CDU Rheinland-Pfalz eingetreten.“94 In der Tat ist der „Vollschaden“ endgültig in Millionenhöhe beim CDU-Landesverband eingetreten. So fällt es offenbar sehr leicht, den Gefährdungsschaden aus wirtschaftlicher Sicht mit dem tatsächlichen Schaden gleichzusetzen. Man schaut auf den Endschaden, darf dies aber eigentlich nicht tun, und würde wohl auch in der Praxis gegebenenfalls mit der Anklageerhebung so lange warten, bis die Sanktion tatsächlich verhängt ist. Eigentlich hätte aus der Unmittelbarkeitsperspektive auf den Zeitpunkt der Weitergabe des unrichtigen Rechenschaftsberichts abgestellt und geprüft werden müssen, ob sich ein bezifferbarer Gefährdungsschaden anhand des Grades der Entdeckungswahrscheinlichkeit bestimmen lässt.95 Wie will man eine derartige Schadensfeststellung bewerkstelligen? Man gerät insoweit leicht in den Bereich von Fantasien, aus dem auch die Hilfe etwa von kriminologischen Sachverständigen Auswege kaum zeigen könnte. Im Ergebnis bestätigt sich also erneut, dass die mit dem Unmittelbarkeitserfordernis zusammenhängende prinzipielle Isolierung des Endschadens bei der Schadensfrage nicht überzeugt und aufgegeben werden sollte.
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BGHSt 60, 94 (115 f.). Vgl. schon Brand/Seeland, ZWH 2015, 258 (263 f.). 94 BGHSt 60, 94 (116 f.). 95 Vgl. Altenburg, NJW 2015, 1624 (1625); Brand/Seeland, ZWH 2015, 258 (263 f.); Perron, ZGR 2016, 187 (199 in Fn. 53). 93
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3. Abschließende Diskussion Kommen wir am Ende des Untreueteils auf schon angedeutete Einwände96 gegen die objektive Zurechnungslösung zurück, nämlich auf die Behauptung, dass „der Verzicht auf den Unmittelbarkeitszusammenhang zu einer zeitlich unabsehbaren Ausweitung der Untreuestrafbarkeit führt, die mit den Restriktionsvorgaben des BVerfG zur schadensbegründenden Vermögensgefahr unvereinbar ist“.97 Dies überzeugt nicht. Die prinzipielle Ausklammerung des Endschadens durch das Unmittelbarkeitserfordernis bedingt auf der einen Seite immer wieder dessen Umgehung und führt auf der anderen Seite zu fragwürdigen Annahmen von Gefährdungsschäden oder in der Praxis des Strafverfahrens zur Resignation, weil die Hürde der Bezifferbarkeit nicht überwindbar erscheint. Nicht nur hier im Bereich der Gefährdungsschäden, sondern auch anderswo findet man genügend Restriktionspotential,98 die Unmittelbarkeit ist dafür aber nicht der richtige Platz. Kritiker der objektiven Zurechnung sollten zudem bedenken, dass die Herbeiführung des Endschadens vom Vorsatz des Täters umfasst sein muss.99 Daher sehen wir auch nicht, um die Ausführungen zu den zwingenden Sanktionen abzurunden,100 die Gefahr einer uferlosen Strafbarkeit mit Blick auf die Auslösung von Sanktionen, deren Verhängung von Beurteilungs- oder Ermessensspielräumen abhängt. Soweit hier freilich tatsächlich Sanktionen verhängt werden, wird im Normalfall grundsätzlich die objektive Zurechnung zu bejahen sein, da eine solche Entscheidung zwar ein eigenverantwortliches Dazwischentreten eines Dritten voraussetzt, dieses aber rechtlich gebunden ist und eng mit dem pflichtwidrigen Ausgangsverhalten des Täters zusammenhängt.101 Einschränkend wird allerdings vorsätzliches Handeln oft fraglich sein. Außerdem bestehen erhebliche Zweifel, ob der immer wieder genannte § 30 OWiG102 als Sanktion überhaupt schadensrelevant ist.103 Soweit man im Unmittelbarkeitslager bloß drohende, nicht zwingende Sanktionen als nicht „unmittelbar“ drohend und insoweit als nicht untreuerelevant einstuft,104 stimmen wir im Ergebnis damit überein; denn im Vorfeld einer möglicherweise erfolgenden Sanktionierung lässt sich ein bezifferbarer Gefährdungsschaden grundsätzlich
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Vgl. oben bei Fn. 87. SSW-StGB/Saliger, § 266 Rn. 125. 98 Vgl. Beulke, in: Müller/Sander/Valkova (Hrsg.), Eisenberg-FS, 2009, S. 245 ff.; Rönnau, StV 2011, 753 ff.; SSW-StGB/Saliger, § 266 Rn. 31 ff. 99 Lindemann, Wirtschaftsstrafrecht (Fn. 59), S. 89 f.; Seier/Lindemann, in: Achenbach/ Ransiek/Rönnau, Wirtschaftsstrafrecht (Fn. 28), 5/2. Kap. Rn. 224. 100 Oben IV.2.d). 101 Albrecht, GA 2017, 130 (142 f.); Brand/Hotz, NZG 2017, 976 (981 f.). 102 Auch von den in Fn. 101 zitierten Autoren. 103 Mit guten Gründen verneinend Waßmer, in: Graf/Jäger/Wittig (Hrsg.), Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Aufl. 2017, § 266 StGB Rn. 175c. 104 SSW-StGB/Saliger, § 266 Rn. 94; Solka/Altenburg, NZWiSt 2016, 212 (217 f.). 97
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nicht ermitteln. Wird indes eine objektiv zurechenbare Sanktion verhängt, tritt ein (End-)Schaden ein.105 Schließlich wird zur Verteidigung des Unmittelbarkeitserfordernisses immer wieder ein Strafgerechtigkeits-Argument bemüht:106 „Die Anwendung des Unmittelbarkeitsprinzips auf der Nachteilsseite ist gleichsam die logische Konsequenz aus seiner allgemein anerkannten Anwendung auf der Vorteilsseite. Es ist nämlich ganz herrschende Meinung, dass die durch die Untreuehandlung verursachte Vermögensminderung nur durch einen Vorteil kompensiert wird, der unmittelbar auf der Untreuehandlung beruht, während dagegen ein Vermögensvorteil, der sich nicht aus der pflichtwidrigen Handlung selbst ergibt, sondern durch eine andere, rechtlich selbstständige Handlung hervorgebracht wird, den Vermögensnachteil rechtlich nicht ausräumt … Es ist aber nicht zu begründen, warum anerkanntermaßen nur unmittelbare Vorteile eine Vermögensminderung kompensieren sollen, während nicht nur unmittelbare, sondern auch mittelbare Nachteile zulasten des Beschuldigten berücksichtigt werden dürfen.“
Diesem so genannten „Gebot der Symmetrie auf Vorteils- und Nachteilsseite“107 lässt sich auch im Lichte der objektiven Zurechnung entsprechen. Deren Gedanken können sinngemäß auf die Vorteilsseite übertragen werden, indem man etwa auf einen „inneren Zusammenhang“ derart abstellt, dass „die Chance auf Zuwachs Kehrseite genau desjenigen Risikos ist, das durch die Tathandlung pflichtwidrig geschaffen wurde“.108
V. Fazit Auch im Rahmen der Untreue ist bei der Schadensfeststellung das Unmittelbarkeitskriterium durch Kriterien der objektiven Zurechnung zu ersetzen. Unabsehbare Ausweitungen der Untreuestrafbarkeit sind nicht zu befürchten. Der greifbare Vorteil liegt darin, dass der etwaige Endschaden, dessen Sichtbarkeit oft überhaupt erst die strafrechtlichen Ermittlungen auslöst,109 praxisgerecht in die Schadensberechnung einbezogen werden kann. Unter Umständen erspart man sich zeitraubende und hoch komplexe Bezifferbarkeitsprobleme. Fragwürdige 1:1-Umrechnungen, die den sichtbaren Endschaden faktisch als vollen Gefährdungsschaden definieren, kön105 Ergänzend hierzu überzeugend Reschke (Fn. 5), S. 264 ff., 270 ff., 277 f. zum Fall der Gemeinnützigkeit, deren tatsächliche Aberkennung zu einem objektiv zurechenbaren Endschaden führt, deren bloß drohende Aberkennung aber mangels bezifferbaren Gefährdungsschadens nicht erfasst wird. – Im Lichte des Unmittelbarkeitserfordernisses zum drohenden Verlust im Ergebnis ebenso OLG Celle BeckRS 2012, 20313; Lassmann, NStZ 2009, 473 (477). 106 OLG Celle BeckRS 2012, 20313 (Zitat); ferner Solka/Altenburg, NZWiSt 2016, 212 (214); SSW-StGB/Saliger, § 266 Rn. 78, 94. 107 So SSW-StGB/Saliger, § 266 Rn. 94. 108 Schönke/Schröder/Perron, § 266 Rn. 41. 109 Brand, in: Bittmann, Insolvenzstrafrecht (Fn. 59), § 28 Rn. 49 m.w.N. in Fn. 348.
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Rudolf Rengier
nen unterbleiben. Die Einbeziehung der Perspektive vom Endschaden ausgehend auf das Vorfeld ist zudem geeignet, die Annahme von zweifelhaften, nicht bezifferbaren Gefährdungsschäden zurückzudrängen.110 Der „Gleichklang“ mit dem Betrugstatbestand könnte zwar, muss aber nicht aufgegeben werden, im Gegenteil: Mit den Kriterien der objektiven Zurechnung gelangt man ebenso im Rahmen des § 263 StGB insbesondere beim Forderungsbetrug zu überzeugenderen Ergebnissen und an der Handhabung der Gewahrsamslockerungs-Fälle, von denen aus sich das Unmittelbarkeitserfordernis verbreitet hat, ändert sich auch nicht viel.
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Vgl. auch Perron, Kindhäuser-FS (Fn. 62), S. 765 (768 f.).
Sterbehilfe und Sterbenlassen nach italienischem Recht Von Sergio Seminara
I. Vorbemerkung Ulrich Sieber erweist sich mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten als scharfsinniger Interpret der Moderne, in dessen Forschungstätigkeit die Notwendigkeit einer konstanten Fortentwicklung und Anpassung der strafrechtlichen Strukturen zentrale Bedeutung hat. Dieser Beitrag ist ihm nicht nur als zu ehrenden Strafrechtslehrer, sondern auch als Freund gewidmet. Gegenstand der folgenden Ausführungen sind Problemstellungen, die eine philosophische Grundlage haben, deren aktueller Inhalt jedoch maßgeblich vom Fortschritt der medizinischen Wissenschaft und Technik bestimmt wird. Die ständige Weiterentwicklung der Medizin erlaubt es heute, auch schwer gefährdete Menschenleben dem Tod zu entreißen, wobei aber oft weder eine Autonomie der Lebensfunktionen noch eine ausreichende Würde des Kranken, in seinem prekären Zustand, gewährleistet werden können. Es ist zu beobachten, dass es in diesem Zusammenhang zur Anerkennung von Rechten kommt, die andere, einst als absolut angesehene Werte relativieren – wobei jedoch das paternalistische Antlitz des Strafrechts nicht aufgegeben wird.
II. Der normative Rahmen Das italienische Strafgesetzbuch wurde 1930, in der Blütezeit der faschistischen Ideologie, verabschiedet. Während der heutige Allgemeine Teil des Strafgesetzbuchs sich aufgrund zahlreicher Interventionen des Gesetzgebers und des Verfassungsgerichts stark vom Original unterscheidet, sind im Besonderen Teil noch Vorschriften vorhanden, die klar aus dem faschistischen Gedankengut herrühren, auch wenn sie im Laufe der Zeit eine neue Rechtfertigungsgrundlage gefunden haben können. Zu diesen Tatbeständen gehören zweifellos die Art. 579 und 580 des Strafgesetzbuchs („Ital. StGB“), die die Tötung auf Verlangen bzw. die Anstiftung oder Beihilfe zur Selbsttötung regeln. Art. 579 Ital. StGB lautet wie folgt: „Wer den Tod eines Menschen mit dessen Einverständnis herbeiführt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs bis fünfzehn Jahren be-
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straft.“1 Art. 580 Ital. StGB hat hingegen den folgenden Wortlaut: „Wer andere zum Selbstmord bestimmt oder einen anderen in seinen Suizidabsichten bestärkt oder in irgendeiner Weise die Ausführung erleichtert, wird dann, wenn es zum Suizid kommt, mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zwölf Jahren bestraft. Falls es nicht zum Suizid kommt, wird er mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis fünf Jahren bestraft, sofern der Versuch der Selbsttötung zu schweren oder allerschwersten Körperverletzungen geführt hat.“2
III. Die Frage der Strafbarkeit der Selbsttötung – mit rechtshistorischem Exkurs Festzuhalten ist einleitend, dass das für den Bereich des Lebensendes geltende Regelungsmodell des faschistischen Gesetzgebers nicht als extrem autoritär bezeichnet werden kann. Denn das autoritäre Grundmodell zeichnet sich, wie die Geschichte lehrt, vor allem durch eine strafrechtliche Repression des Suizidversuchs und das Vorsehen weiterer Sanktionen vermögensmäßiger Art gegen den Suizidversuchstäter aus – Maßnahmen, die vom faschistischen Gesetzgeber nicht ergriffen wurden. Auf philosophischer Ebene hat Foucault das autoritäre Modell gut auf den Punkt gebracht. Er betont, dass bezüglich des der klassischen Souveränitätsthese entsprechenden charakteristischen Rechts des Souveräns, über Tod und Leben der Untertanen zu entscheiden, besser vom Recht, sterben oder leben zu lassen, zu sprechen sei.3 1 Nach Absatz 3 ist der Straftatbestand des vorsätzlichen Totschlags anwendbar, wenn die Tat gegen einen Minderjährigen unter 18 Jahren, eine psychisch kranke Person oder eine Person, deren Einwilligung vom Täter mit Gewalt, Drohung oder Suggestion erzwungen oder mit Täuschung erlangt wurde, begangen wird. 2 Absatz 2 sieht eine Erhöhung der Strafe vor, wenn die Tat gegen einen Minderjährigen unter 18 Jahren, eine psychisch kranke Person oder eine Person, deren Einwilligung vom Täter gewaltsam erzwungen wurde, begangen wird, verweist aber auf die Strafnorm der vorsätzlichen Tötung, wenn die angestiftete oder unterstützte Person unter 14 Jahre alt oder nicht zurechnungsfähig ist. Eine eingehende rechtsvergleichende Untersuchung zu dieser Strafvorschrift findet sich in Fornasari, Gabriele/Picotti, Lorenzo/Vinciguerra, Sergio (Hrsg.), Autodeterminazione e aiuto al suicidio, Padua, 2019 (mit Beiträgen von Helfer, Margareth; Marchi, Ilaria; Parizot, Raphaele; Jarvers, Konstanze; Quintero Olivares, Gonzalo; Noseda, John; Bonifacio, Gaetano). 3 Hier ist auf die exzellenten Reflexionen von Foucault, Michel, Il faut défendre la société, Paris, 1997, zu verweisen, in der Übersetzung von Ott, Michaela, In Verteidigung der Gesellschaft, Frankfurt am Main, 5. Aufl. 2016, S. 282 ff. Foucault führt darin aus, dass in der modernen Gesellschaft das Recht, sterben oder leben zu lassen, zu einer Macht über das Sterben oder Leben lassen geworden ist: „Mir scheint, daß eines der grundlegenden Phänomene des 19. Jahrhunderts in dem bestand und noch besteht, was man die Vereinnahmung des Lebens durch die Macht nennen könnte: wenn sie so wollen, eine Machtergreifung über den Menschen als Lebewesen, eine Art Verstaatlichung des Biologischen oder zumindest eine Tendenz hin zu dem, was man die Verstaatlichung des Biologischen nennen könnte“ bezeichnen könnte.
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Ein Sterberecht stand den Untertanen in der Tat nicht zu, wie § 125 „Allgemeines Gesetz über Verbrechen, und derselben Bestrafung“ (das in Österreich am 13. Januar 1787 erlassen worden war) deutlich macht. Obwohl das Allgemeine Gesetz über Verbrechen, und derselben Bestrafung von Rechtshistorikern als das bedeutendste Monument der strafrechtlichen Aufklärungangesehen wird, lautet besagter § 125 wie folgt:4 „Ist der Selbstmord zwar versucht, aber ohne Willen und Mitwirkung des Thäters blos zufällig, oder aus anderen was immer für Ursachen nicht vollbracht worden, ist der Verbrecher, er mag sich eine Wunde beygebracht haben, oder nicht, in das Gefängniß zu verschaffen, wo er, indem ihm jede Handanlangung an sich selbst unmöglich gemacht wird, auf unbestimmte Zeit so lange verbleibet, bis er durch Unterricht überwiesen, daß die Selbsterhaltung gegen Gott, den Staat, und ihn selbst Pflicht ist, eine vollkommene Reue zeigt, und Besserung erwarten läßt.“5 In diesem Zusammenhang sei auch an Cesare Beccaria und den mit „Selbstmord“ überschriebenen § XXXII seines Werks „Dei delitti e delle pene“ (Von den Verbrechen und den Strafen) erinnert. Beccaria definiert darin die gegenüber dem Selbstmörder verhängte Strafe der Konfiskation seiner Vermögenswerte als „unnütz und ungerecht“: „und deswegen ist diese, mag es auch eine Schuld sein, die von Gott bestraft wird, da er allein auch nach dem Tode strafen kann, kein Verbrechen vor den Menschen; denn statt des Schuldigen trifft die Strafe seine Familie.“6 Dieser historischen Vergleich zeigt, dass die faschistische Ideologie eine andere Art von Autoritarismus mit sich bringt: Das Leben gehört nicht mehr dem Souverän, sondern dem Staat, welcher – ohne den Suizid zu verbieten – dem Individuum als Familienvater, Arbeiter, Soldat (die Frau hatte hingegen im Wesentlichen „nur“ eine fruchtbare Mutter und ehrliche Ehefrau zu sein) die Pflicht auferlegt, zum größeren Ruhm der Nation zu leben, was durch die Art. 579 und 580 StGB sichergestellt werden sollte.7 4
Siehe statt aller Tarello, Giovanni, Storia della cultura giuridica moderna, Bologna, 1976, S. 515. 5 § 123 lautet wie folgt: „Selbstmord ist, wenn jemand sich durch eine gewaltsame, und den Tod beförderende Handlung das Leben raubet, zu einer Zeit, da an ihm kein Merkmal einer Sinnenverrückung, oder einer schwereren Krankheit, die den Gebrauch der Vernunft hemmete, wahrzunehmen gewesen. Der Körper des Selbstmörders, wenn er entweder sogleich todt geblieben, oder ohne bezeigte Reue gestorben, ist durch den Schinder einzuscharren. Hat er zwischen der That, und dem erfolgten Tod Reue gezeiget, so ist dem Körper nur die ordentliche Grabstätte zu versagen, und er ohne alle Begleitung, und Gepräng einzugraben.“ 6 Beccaria, Cesare, Über Verbrechen und Strafen, 1766, in der deutschen Übersetzung von Alff, Wilhelm, Frankfurt am Main, 1998, S. 149, wo wie folgt weiter ausgeführt wird: „Würde jemand mir entgegenhalten, daß eine solche Strafe dennoch einen Menschen, der entschlossen ist, sich zu töten, hiervon zurückhalten könnte, so antworte ich: wer ruhigen Herzens auf das Gut des Lebens verzichtet, wer das Dasein hienieden so haßt, daß er ihm eine unglückselige Ewigkeit vorzieht, der dürfte kaum durch den minder wirksamen und ferner liegenden Gedanken an seine Kinder oder Verwandten angefochten werden.“ 7 Zum Unterschied zwischen nationalsozialistischen und faschistischen Strafrechtskonzeptionen, wobei sich erstere auf das Volk und letztere auf den Staat beziehen, vgl. Dahm, Georg, Nationalsozialistisches und faschistisches Strafrecht, Berlin, 1935, S. 6 ff.; sowie,
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Aufgrund dieser den beiden Straftatbeständen zugewiesenen Funktion drängt sich die Frage auf, ob sie im heutigen sozialen und kulturellen Kontext ihren Wortlaut unverändert beibehalten können.
IV. Die Tötung des Einwilligenden (Art. 579 Ital. StGB) Sieht man in der Straflosigkeit der Selbsttötung nach dem faschistischen Strafgesetzbuch eine, wenn auch moderate, Ausnahme von der vollen Umsetzung des Autoritarismus-Gedankens, so könnte man dasselbe für die Vorsehung eines Strafbestands annehmen, der die Tötung der damit einverstandenen Person regelt und dafür eine mildere Strafe als beim Totschlag vorsieht. Dieser Eindruck ist jedoch falsch, da Art. 579 Ital. StGB vor allem aus den beiden im Folgenden dargestellten Gründen eingeführt wurde. Der erste Grund ist, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Italien, infolge des Einflusses der Positiven Schule, Bewegungen zugunsten von aus Mitleid begangenen Tötungen immer mehr Zulauf fanden.8 Der zweite Grund besteht darin, dass das zuvor geltende italienische Strafgesetzbuch von 1889 diesbezüglich nichts vorsah und es daher während der Geltung dieses Gesetzbuches mehrfach vorkam, dass die Gerichte es vorzogen, den Angeklagten, der eine EuthanasieTötung begangen hatte, freizusprechen, unter Berufung auf eine vermeintliche Verständnis- und Willensunfähigkeit des Täters, anstatt die für den Totschlag vorgesehene harte Strafe anzuwenden.
wenn auch mit geringerer Vertiefung, Donnedieu De Vabres, Henri, La politique criminelle des États autoritaires, Paris, 1938, S. 9 ff. Was die faschistische Strafrechtsdoktrin betrifft, siehe statt aller Maggiore, Giuseppe, Principi di diritto penale, Bologna, 1934, II, S. 454: „La esistenza umana appartiene a Dio, alla Patria, allo Stato, alla società, alla famiglia: a tutti questi ordinamenti superindividuali, non all’individuo“ (ins Deutsche übersetzt: Die menschliche Existenz gehört Gott, dem Heimatland, dem Staat, der Gesellschaft, der Familie: all diesen überindividuellen Systemen, nicht dem Individuum); siehe auch Manzini, Vincenzo, Trattato di diritto penale italiano, Turin, 1937, VIII, S. 7: „La vita umana, nello Stato fascista (come del resto in ogni altro Stato moderno), è un bene d’interesse eminentemente pubblico, perché l’essenza, la forza e l’attività dello Stato medesimo risiedono necessariamente nella popolazione, cioè nell’unione di tutti i cittadini“ (ins Deutsche übersetzt: Das menschliche Leben ist im faschistischen Staat (wie in jedem anderen modernen Staat) ein eminent öffentliches Gut, weil das Wesen, die Kraft und die Aktivität des Staates selbst notwendigerweise in der Bevölkerung, d. h. in der Union aller Bürger, liegt). In diesem Zusammenhang sei ferner auf den Beitrag von Seminara, Sergio, La dimensione del corpo nel diritto penale, in: Canestrari, Stefano/Ferrando, Gilda/Mazzoni, Cosimo Marco/Rodotà, Stefano/Zatti, Paolo (Hrsg.), Il governo del corpo, in: Rodotà, Stefano/Zatti, Paolo (Leitung), Trattato di biodiritto, Mailand, 2011, I, S. 190 ff., verwiesen. 8 Eine historische Rekonstruktion liefert Cadoppi, Alberto, Una polemica fin de siècle sul „dovere di vivere“: Enrico Ferri e la teoria dell’„omicidio-suicidio“, in: Stortoni, Luigi (Hrsg.), Vivere: diritto o dovere?, Trento, 1992, S. 140 ff.
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Im Ministerialbericht zum Entwurf des Strafgesetzbuches (Relazione ministeriale sul progetto di codice penale) wird daher auch wie folgt ausgeführt: „Das Prinzip der Nichtverfügbarkeit des Gutes des Lebens darf nicht den wirklich erheblichen Einfluss ignorieren, den die Zustimmung des Opfers für die Beurteilung des Vorsatzes im Allgemeinen und der Persönlichkeit des Täters ausübt. Der niedrigere Grad an Vorsatz und die geringe Gefährlichkeit des Täters kamen in der Gerichtspraxis so deutlich zum Vorschein, dass die Richter, um die Unvereinbarkeit zwischen den starren Strafnormen des Gesetzbuches von 1889 und den tatsächlichen Notwendigkeiten zu überwinden, oft zu ungenauen, extensiven oder analogen Interpretationen derjenigen Vorschrift, die das Verbrechen der Anstiftung oder der Beihilfe zur Selbsttötung regelt, oder zu von Mitleid inspirierten richterlichen Entscheidungen neigten.“9 Der faschistische Gesetzgeber wollte daher mit der Einführung des Art. 579 Ital. StGB betonen, dass auch die Tötung auf Verlangen strafbar ist. Die im Verhältnis zum Totschlag mildere Strafe stellte dabei mehr oder weniger den Preis dar, der zu zahlen war, um eine regelmäßige Bestrafung derartiger Handlungen sicherzustellen, und der Justiz diesbezüglich jegliches Ermessen zu entziehen. Sieht man vom historischen Hintergrund der Strafnorm ab und betrachtet man die Vorschrift aus heutiger Sicht, werden zwei grundlegende Unterschiede zur Tötung aus Euthanasiegründen deutlich. Zum einen liegt das besondere, den Straftatbestand charakterisierende Element der Tötung mit Einwilligung in der rechtsgeschäftlichen Gültigkeit der vom Opfer erteilten Zustimmung, während die Beweggründe und der Krankheitszustand des Opfers völlig unerheblich sind. Darüber hinaus schließt Art. 579 Abs. 3 Ital. StGB die Anwendbarkeit der Norm bei Vorliegen eines durch ein anderes Gebrechen verursachten psychischen Defizits des Opfers – was gerade bei der Euthanasie normalerweise vorliegt – aus.
V. Hilfeleistung zur Selbsttötung (Art. 580 Ital. StGB) Nach dem faschistischen Gesetzgeber war das Strafrechtsystem in Bezug auf den Schutz des menschlichen Lebens um eine Vorschrift zu ergänzen, die die moralische oder materielle Beteiligung an der Selbsttötung anderer unter Strafe stellt. Nach einhelliger Meinung bedeutet die ausdrückliche Typisierung der Hilfeleistung in Art. 580 Ital. StGB, dass sie einer Person zugutekommt, die sich bereits fest und frei zum Suizid entschieden hat. Denn andererseits wäre die Hilfeleistung als Bestär-
9 So die Relazione ministeriale sul progetto di codice penale, in: Lavori preparatori del codice penale e del codice di procedura penale, 1929, Bd. IV Teil IV, S. 373. Vgl. zum fraglichen Punkt Altavilla, Enrico, Delitti contro la persona, in: Trattato di diritto penale, Altavilla, Enrico etc. (Hrsg.), Milano, 1921, X, S. 195 ff.; Maino, Luigi, Commento al codice penale italiano, Torino, 19153, S. 283; sowie Seminara, Sergio, Riflessioni in tema di suicidio e di eutanasia, Riv. it. dir. proc. pen., 1995, S. 708 f.
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kung der Entscheidung des anderen, Suizid zu begehen, anzusehen und somit als Bestimmung oder Anstiftung zur Selbsttötung zu qualifizieren.10 Der Unterschied zur Vorschrift des Art. 579 StGB liegt auf der Hand: Bei der Tötung mit Einwilligung liegt die Tatherrschaft in den Händen des Täters, der – wenn auch mit Zustimmung des „Opfers“ – über die Ausführungshandlung sowohl im An als auch im Quando entscheidet. In dem durch Art. 580 StGB typisierten Fall liegt die Tatherrschaft hingegen in den Händen des Selbstmörders, der bis zum Ende frei ist, seine selbstschädigende Handlung auszuführen. Während der Unterschied in konzeptioneller Hinsicht klar ist, gilt nicht das Gleiche auf der konkreten Ebene, aufgrund der Vielfalt der Situationen, die auftreten können. Dies gilt vor allem in den nicht seltenen Fällen, in denen sich zwei Personen für einen gewaltlosen Selbstmord entscheiden, zum Beispiel durch den Einsatz von Gas: Derjenige, der den letzten Akt, das Öffnen des Verschlusses des Gasschlauches im Raum oder das Einführen des Schlauches in den Fahrgastraum des Autos mit laufendem Motor, vorgenommen hat, kann wegen Tötung mit Einwilligung zur Verantwortung gezogen werden; es wäre jedoch ebenso, sowohl für den einen als auch für den anderen, eine gegenseitige Hilfeleistung zur Selbsttötung denkbar.11 Auch die Unterscheidung zwischen der Tötung mit Einwilligung und den in der Ausführungsphase der Tötung vorgenommenen Beteiligungshandlungen am Suizid eines anderen ist diffizil. Weit verbreitet ist die folgende Meinung: „sollte die Hilfsperson (…) direkt zur Ausführung der Selbsttötung einen Beitrag leisten, würde dies letztendlich dazu führen, dass sie die Rolle des Vollstreckers oder Mitvollstreckers 10 So Cass., Sektion I, 12. März 1988, Nr. 3147. Siehe statt aller Masera, Luca Mario, Delitti contro la vita, in: Viganò, Francesco/Piergallini, Carlo (Hrsg.), Reati contro la persona e contro il patrimonio, Turin, 2011, S. 47; Seminara, Sergio, L’art. 580 c.p. e il diritto di morire, in: Marini, Francesco Saverio/Cupelli, Cristiano, Il caso Cappato. Riflessioni a margine dell’ordinanza della Corte costituzionale n. 207 del 2018, Neapel, 2019, S. 318 f. 11 Siehe hierzu Manzini (Fn. 7), S. 92, der für den Fall des Doppelselbstmordes die folgenden Hypothesen aufstellt: Wenn einer der beiden zu den Ausführungshandlungen der Selbsttötung des anderen beiträgt und überlebt, nachdem er selbst versucht hat, sich das Leben zu nehmen, ist er wegen vollendeter oder versuchter vorsätzlicher Tötung des Einwilligenden strafbar. Leistet er dem anderen nur Hilfe, z. B. indem er ihm das Gift aushändigt, ohne es ihm zu verabreichen, so handelt es sich um eine Teilnahme am Suizid. Führen beide den gemeinsamen Selbstmord aus, z. B. durch Anzünden von Kohle zum Ersticken, haften sie, wenn sie überleben, gegenseitig für die versuchten Tötung der einwilligenden Person bzw., bei Überleben nur einer von beiden, für die vollendete vorsätzliche Tötung der einwilligenden Person. In diesem Sinne hatte sich bereits Impallomeni, Giovanni Battista, L’omicidio nel diritto penale, Turin, 1900, S. 62 F., ausgesprochen, der in Bezug auf den Fall, dass nur einer der beiden die Kohle für den Selbstmord angezündet hatte, für den letzteren eine Verantwortung wegen freiwilliger, vollendeter oder versuchter Tötung und für den anderen eine moralische Hilfeleistung zum Freitod des ersten annahm und zu der Schlussfolgerung gelangte, dass im Falle des Überlebens beider nur der erste wegen versuchter vorsätzlicher Tötung strafbar sei. Ebenso Vannini, Ottorino, Il delitto di omicidio, Mailand, 1935, S. 133; dagegen Manzini (Fn. 7), der bei einer rein passiven Anwesenheit am Tatort eine moralische Hilfeleistung zum Freitod des anderen ausschloss.
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übernimmt, was zur Folge hätte, dass die schwerwiegendere Strafnorm der Tötung des Einwilligenden zur Anwendung kommt“;12 dies soll insbesondere in den Fällen gelten, in denen der Täter, „anstatt den Suizid zu erleichtern, an den ausführenden Tathandlungen (z. B. der Tötung des Täters oder des Mitvollstreckers) mitwirkt (Beispiel: Er zieht am Seil des Erhängten; er hält das Schwert fest, gegen das der Selbstmörder sich werfen wird; er bewirkt die Einführung von Gas in die Kammer, in der der andere sterben will; er hilft, ihm einen Stein an den Hals zu binden, bevor dieser sich ins Wasser stürzt).“13 Auch unabhängig von der Unschärfe des Begriffs „Mittäter“ und der logischen Notwendigkeit, Art. 579 Ital. StGB immer dann auszuschließen, wenn zwischen dem Abschluss der Hilfeleistungshandlung und dem Tod eine freiwillige und bewusste Handlung des „Opfers“ liegt, ist festzuhalten, dass eine klare Trennung zwischen den beiden Straftatbeständen Schwierigkeiten bereitet. Wie in jedem anderen Fall, der sich durch das Fehlen eines starren Gegensatzes zwischen dem Ausführenden und dem Adressaten der Handlung auszeichnet, können das Konzept der Tatherrschaft und die ihm zugrundeliegenden Bewertungskriterien vorliegend von Hilfe sein: Wenn im konkreten Fall eine wirklich gemeinsame Entscheidung der aktiv Handelnden und ein Beitrag beider zur Vorbereitung und zu den unmittelbar vor der Ausführung der Tat liegenden Handlungen vorliegt, verliert es an Bedeutung, ob diejenige Handlung, die unmittelbar das Ereignis herbeigeführt hat, von dem einen oder dem anderen begangen wurde. Daraus folgt, dass Art. 579 Ital. StGB ausgeschlossen ist. Die Validität des Tatherrschaft-Kriteriums wird dadurch bestätigt, dass in den beiden Strafnormen, Art. 579 und Art. 580 Ital. StGB, die Umstände, die ihre Anwendbarkeit ausschließen (unter ausdrücklichem gesetzlichen Verweis auf die dann anwendbaren Strafvorschriften über die vorsätzliche Tötung) unterschiedlich geregelt sind. Während Art. 579 Ital. StGB die Einwilligung bei Minderjährigkeit, bei Geisteskrankheit, bei psychischen Defiziten infolge anderen Krankheiten oder Missbrauch von Alkohol oder Drogen sowie bei Anwendung von Gewalt, Drohung, Suggestion oder Täuschung für unwirksam erklärt (Art. 579 Abs. 3 Ital. StGB), wird die Anwendbarkeit des Art. 580 Ital. StGB nur dann ausgeschlossen, wenn das „Opfer“, d. h. die den Selbstmord begehende Person, weniger als vierzehn Jahre alt oder völlig unzurechnungsfähig ist (Art. 580 Abs. 2 S. 2 Ital. StGB). Im Gegensatz zu Art. 579 Ital. StGB, der eine nach zivilrechtlichen Kriterien wirksam erteilte Einwilligung erfordert, genügt es für die Anwendbarkeit des Art. 580 Ital. StGB, dass die Selbsttötung Ausdruck einer bewussten und freiwilligen Handlung ist, auch wenn sie von einer nur teilweise zurechnungsfähigen Person 12 So wörtlich Fiandaca, Giovanni/Musco, Enzo, Diritto penale, parte speciale., Bd. II Tb. I, Bologna, 20134, S. 45; ebenso Magro, Beatrice, Eutanasia e diritto penale, Torino, 2001, S. 177; Mantovani, Ferrando, Diritto penale, parte speciale., Milanofiori Assago, 2016, I, S. 132. 13 Vgl. Manzini (Fn. 7), S. 92; ebenso Impallomeni (Fn. 11), S. 61. Abweichend davon wird Art. 580 Ital. StGB nach einer zu teilenden Auffassung für diejenigen für anwendbar erklärt, die das Glas mit dem vergifteten Getränk halten, damit der Kranke daraus mit einem Strohhalm trinken kann, so Ramacci, Fabrizio, I delitti di omicidio, Torino, 2016, S. 138.
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begangen wird.14 In Art. 580 Ital. StGB finden, logisch konsequent, die aus Art. 579 Ital. StGB stammenden Kriterien der Gewalt, Bedrohung, Suggestion oder Täuschung keinerlei Erwähnung, da ihr Vorliegen unstreitig die erforderliche Tatherrschaft des Selbstmordanwärters wegfallen ließen und somit die Strafnormen über die vorsätzliche Tötung zur Anwendung kommen würden. Die vorstehenden Ausführungen machen deutlich, wie labil die Grenze zwischen den hier untersuchten Straftaten ist – was zur Folge hat, dass bei Verneinung des Vorliegens des einen Straftatbestands zumindest partiell die Möglichkeit einer Kompensation, durch Ausweitung des operativen Anwendungsbereichs der anderen Strafnorm, in Frage kommt. Hier kommt die Inkongruenz des aktuell geltenden Repressionsmodells der Straftaten gegen das menschliche Leben zum Ausdruck, was einen Eingriff des Gesetzgebers notwendig erscheinen lässt. Aber das ist noch nicht alles. Bei einem unheilbaren Patienten, der unerträglichem Leiden ausgesetzt ist und darum bittet, seiner Existenz möge ein Ende gesetzt werden, verschwindet der evaneszierende Unterschied zwischen den Art. 579 und 580 Ital. StGB sogar vollständig. Völlig zutreffend wurde hierzu das Folgende ausgeführt: „Die Tablette oder tödliche Flüssigkeit dem Patienten zur Verfügung zu stellen, damit er sie einnimmt, bzw. sie auf dessen Wunsch direkt in die Vene zu injizieren und somit eine Situation der medizinischen Kontrolle herbeizuführen, haben dieselbe soziale Bedeutung, wenn sie in lebensbeendender Absicht vorgenommen werden. Täterschaft und Teilnahme haben in dieser Hinsicht keinerlei regulatorisch-typologischen Unwertgehalt, da die Tatherrschaft doch stets beim Arzt und beim Patienten verbleibt.“15 Die daraus resultierende axiologische Aufhebung der Unterscheidungskriterien zwischen den Art. 579 und 580 Ital. StGB macht die Unzulänglichkeit der 14
Wie Manzini (Fn. 7) S. 95, anmerkt, „ist der Wille zum Freitod immer und notwendigerweise abnormal und hat keine rechtliche Relevanz, außer insoweit, dass er die einschlägige Straftat verändern kann. Wer sich selbst tötet, indem er den stärksten Instinkt des Menschen überwindet, befindet sich stets in einem anormalen psychischen Zustand. Es wäre daher inkonsequent, die Teilnahme am Suizid auszuschließen, und wegen der bloßen Willensmängel des Selbstmörders, die nicht die oben genannten Wirkungen herbeiführen können, den des normalen Totschlags zuzulassen.“ Siehe hierzu, statt aller, Strano Ligato, Silvana, Art. 580, in: Forti, Gabrio/Seminara, Sergio/Zuccalà, Giuseppe (Hrsg.), Commentario breve al codice penale, Milanofiori Assago, 2017, S. 1843. 15 Donini, Massimo, Il caso Fabo/Cappato fra diritto di non curarsi, diritto a trattamenti terminali e diritto di morire, in: Marini/Cupelli (Fn. 10), S. 121 f.; ebenso Sessa, Antonio, Le giustificazioni procedurali nella teoria del reato, Napoli, 2018, S. 63; ders., Fondamento e limiti del divieto di aiuto al suicidio (art 580 c.p.): un nuovo statuto penale delle scriminanti nell’ordinanza della Consulta n. 207/2018, in: Marini/Cupelli (Fn. 10), S. 337 ff. Zum gleichen Ergebnis, allerdings mit einer kritischen Sichtweise, kommt Mantovani, Ferrando, Suicidio assistito: aiuto al suicidio od omicidio del consenziente?, in: Giust. pen., 2017, II, S. 37, der die Frage aufwirft, ob eine Unterscheidung zwischen den Art. 579 und 580 Ital. StGB, die auf den Urheber der „letzten“ Handlung in Bezug auf die Suizidhilfe gründet, in Wirklichkeit nicht nur eine „marginale und fungible“ Gegebenheit erfasst und „zu jener ,semantischen Illoyalität‘ der sprachlich-expedentiellen Euphemismen, der Anti-Sprache, gehört, mit denen die libertäre Ideologie gewisse, die Bioethik betreffende Aussagen veredelt.“
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vorhandenen Strafrechtsnormen und die Notwendigkeit einer Reform noch deutlicher. Unabhängig davon, fällt bei den geltenden Strafnormen die Härte des Gesetzgebers auf, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen in der völligen Gleichstellung der für Anstiftung und Beihilfe angedrohten Strafe, obwohl die Anstiftung im Vergleich zur Beihilfe schwerer wiegt; zum anderen in der Bestrafung aller Hilfeleistungsmaßnahmen, ohne zu berücksichtigen, welchen Wirksamkeitsgrad sie in Bezug auf die Selbsttötung hatten.
VI. Die Freiheit, sich nicht behandeln zu lassen bzw. die Therapie abzubrechen Einen weiteren, fundamentalen Orientierungspunkt, über die bisher untersuchten Vorschriften des Strafgesetzbuches hinaus, stellt in der italienischen Rechtsordnung das Gesetz Nr. 219 vom 22. Dezember 2017 dar. Es trägt den Titel „Norme in materia di consenso informato e di disposizioni anticipate di trattamento“ (Vorschriften über die nach Aufklärung erteilte Einwilligung und über die Antizipation der Dispositionen für die Behandlung) und legt in Art. 1 Abs. 5 den folgenden Grundsatz fest: „Jede handlungsfähige Person hat das Recht, (…) jedweden diagnostischen Test und jede ärztliche Behandlung, die vom Arzt für seine Krankheit oder für einzelne Behandlungsmaßnahmen angeordnet werden, ganz oder teilweise abzulehnen. Er hat außerdem das Recht, seine Zustimmung jederzeit zu widerrufen (…), auch wenn der Widerruf die Unterbrechung der Behandlung beinhaltet. Im Sinne dieses Gesetzes gelten künstliche Ernährung und künstliche Hydratation als medizinische Behandlungen, da sie die Verabreichung von Nährstoffen auf ärztliche Verschreibung hin darstellen.“16 Eine derartige gesetzliche Regelung war zwar nicht zwingend erforderlich, da schon kraft Verfassung „niemand zu einer bestimmten medizinischen Behandlung verpflichtet werden kann, es sei denn durch eine gesetzliche Vorschrift“ (Art. 32 Abs. 2 der Verfassung) und dies auch im analogen Grundprinzip, das in Art. 5 der Konvention von Oviedo vom 4. April 1997 festgelegt ist, zum Ausdruck kommt. Die genannte gesetzliche Regelung hat jedoch den Verdienst, dass sie die Freiheit des Patienten, jedwede Therapie abzulehnen und das Sterben zuzulassen, eindeutig und definitiv bekräftigt und so alle Theorien zurückweist, die – auf offene oder ver16
Abs. 6 lautet übersetzt wie folgt: „Der Arzt ist verpflichtet, den vom Patienten zum Ausdruck gebrachte Willen zu respektieren, die medizinische Behandlung zu verweigern oder auf sie zu verzichten, und ist demzufolge von der zivil- und strafrechtlichen Haftung befreit.“ Art. 2 Abs. 1 legt hingegen das Folgende fest: „Der Arzt hat die mit den Mitteln, die dem Zustand des Patienten angemessen sind, Maßnahmen zu ergreifen, um dessen Leiden zu lindern, auch im Falle der Verweigerung oder des Widerrufs der Zustimmung zu einer vom Arzt angeordneten medizinischen Behandlung. Dabei ist stets eine angemessene Schmerztherapie zu gewährleisten.“
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steckte Weise – ein Postulat der Unverfügbarkeit des Lebens, auch für den Rechtsträger selbst, aufstellen wollen.17 Auf einem Terrain, auf dem Liberalismus, Solidarität und Kollektivismus mehr Gelegenheit zur Konfrontation als zur Begegnung gefunden haben – angefangen mit der Frage der Rechtmäßigkeit der Selbsttötung –, kann die Unverfügbarkeit des Lebens, auch für die Person selbst, nicht als Dogma betrachtet werden, sondern vielmehr nur als eine Art Collorario der religiös fundierten Annahme, das Leben selbst gehöre nicht seinem Träger, sondern Gott dem Schöpfer.18 Stellt man sich außerhalb dieser glaubensfundierten Prämisse, ist über das Prinzip der Verfügbarkeit des Lebens in notwendigerweise säkulare Überlegungen einzutreten und es sind auf dieser Basis Reflexionen anzustellen.
VII. Der Fall Antoniani und die Krise des Rechtssystems In der Nacht vom 13. Juni 2014 hatte der international bekannte und erfolgreiche DJ Fabiano Antoniani im Alter von 37 Jahren einen schweren Autounfall, bei dem er Knochenmarksverletzungen erlitt, die zu völliger Lähmung und Erblindung führten. Die zahlreichen fachärztlichen Behandlungen erwiesen sich als wirkungslos und eine experimentelle Therapie, der er sich Ende 2015 in Indien unterzog, blieb ebenfalls ohne Erfolg. Seine Situation war somit aussichtslos und irreversibel, geprägt vom vollständigen Verlust des Sehvermögens und der Bewegungsfähigkeit, mit anhaltenden, unerträglichen krampfartigen Schmerzen, denen er nur mit Schmerzmitteln entgegenhalten konnte. Hinzu kamen schwerwiegende Einschränkungen sowohl der Atemwege – die eine Tracheotomie zur invasiven assistierten Beatmung und damit eine Beeinträchtigung der Stimmbänder notwendig machten – als auch des Verdauungssystems, was eine enterale Ernährung und Hydratation erforderte.
17
Siehe unter anderem Bartoli, Roberto, Ragionevolezza e offensività nel sindacato di costituzionalità dell’aiuto al suicidio, in: Dir. pen. cont., 2018, Nr. 10, S. 110 ff.; Canestrari, Stefano, I fondamenti del biodiritto penale e la legge 22 dicembre 2017 n. 219, in: Riv. it. dir. proc. pen., 2018, S. 55 ff.; ders., I tormenti del corpo e le ferite dell’anima: la richiesta di assistenza a morire e l’aiuto al suicidio, in: Marini/Cupelli (Fn. 10), S. 38 ff.; Gentile, Gianluca, Il caso Cappato e il diritto a morire (senza soffrire), in: Arch. pen. 2018, Nr. 3, S. 11 ff.; Pulitanò, Domenico, Il diritto penale di fronte al suicidio, in: Dir. pen. cont., 2018, Nr. 7, S. 71. 18 Im Katechismus der katholischen Kirche heißt es in § 2280: „Jeder ist vor Gott für sein Leben verantwortlich. Gott hat es ihm geschenkt. Gott ist und bleibt der höchste Herr des Lebens. Wir sind verpflichtet, es dankbar entgegenzunehmen und es zu seiner Ehre und zum Heil unserer Seele zu bewahren. Wir sind nur Verwalter, nicht Eigentümer des Lebens, das Gott uns anvertraut hat. Wir dürfen darüber nicht verfügen.“ In § 2282 heißt es weiter: „Freiwillige Beihilfe zum Selbstmord verstößt gegen das sittliche Gesetz. Schwere psychische Störungen, Angst oder schwere Furcht vor einem Schicksalsschlag, vor Qual oder Folterung können die Verantwortlichkeit des Selbstmörders vermindern.“
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In diesem Zustand unsäglicher Schmerzen und völliger Abhängigkeit von der Pflege durch seine Mutter und seine Freundin reifte in Antoniani die Entscheidung zu sterben, wobei es ihm gelang, den anfänglichen Widerstand der beiden Frauen zu überwinden und ihre Unterstützung zu gewinnen. So wurde Marco Cappato kontaktiert, ein bekannter Vertreter der politischen Bewegung „Movimento Radicale“, die sich bereits früher politisch für die bürgerlichen Rechte und die Euthanasie eingesetzt hatte. Marco Cappato schlug angesichts der therapeutischen Situation Antonianis und nach Feststellung seiner Willensfreiheit zuerst die Möglichkeit vor, das Beatmungsgerätes abzutrennen, erhielt darauf jedoch eine negative Antwort, da die gesundheitliche Situation von Antonioni, mit seiner gegebenen teilweisen AtmungsAutonomie, ein Überleben des Patienten für zwei oder drei Tage wahrscheinlich gemacht hätte. Dies hätte für ihn oder, sofern er sediert worden wäre, für seine Mutter und seine Freundin zu einem übermäßigen Leidensdruck geführt. Marco Cappato hat daher Fabiano Antoniani und die ihm nahestehenden Personen auf den Schweizer Verein Dignitas, als die zuverlässigste Organisation auf dem Gebiet der Begleitung in den Freitod, hingewiesen. Während Antonianis Freundin und seine Mutter die Reise vorbereiteten und die notwendigen Vereinbarungen mit Dignitas trafen, unterzog sich Antoniani einem Fernsehinterview, das sodann in gekürzter Fassung in einer bekannten nationalen Fernsehsendung ausgestrahlt wurde. Darin brachte er, während er mit akuten Schmerzen kämpfte, erneut seinen Todeswunsch zum Ausdruck und bestätigte, dass dies seinem innigsten Willen entspreche und seine Entscheidung definitiv sei. Am 25. Februar 2017 fuhren Cappato, Antoniani sowie dessen Mutter und seine Freundin mit einem speziell für die Reise vorbereiteten Fahrzeug zum Hauptsitz der Dignitas im Kanton Zürich, wo Antoniani zwei Tage später sein Leben beenden konnte, indem er mit seinen Zähnen ein Spezialinstrument drückte, das mit dem Kolben einer Spritze verbunden war, die Natrium-Pentobarbital enthielt (ein Betäubungsmittel, das ein tiefes Koma auslöst und in kurzer Zeit den Tod herbeiführt). Nach seiner Rückkehr nach Mailand erstattete Cappato am 28. Februar 2017 bei den Carabinieri von Mailand Selbstanzeige, berichtete über den Hergang und die Umstände des Freitodes von Fabiano Antoniani und löste damit die Strafverfolgung gegen sich selbst aus. In dem Strafverfahren, in dem allein Marco Cappato wegen der Straftat des Art. 580 Ital. StGB angeklagt wird (obwohl der gleiche Tatvorwurf natürlich auch gegen die Mutter und die Freundin von Antoniani hätte erhoben werden müssen), stellt die Staatsanwaltschaft von Mailand am 2. Mai 2017 beim zuständigen Richter für die Voruntersuchung einen Antrag auf Verfahrenseinstellung. Dieser lehnt jedoch den Antrag ab und ordnet der Staatsanwaltschaft in der mündlichen Verhandlung vom 6. Juli 2018 an, Cappato wegen der Straftat der Anstiftung und Beihilfe zum Selbstmord anzuklagen. Es kommt somit zur Eröffnung des Hauptverfahrens vor dem Schwurgericht, das am 14. Februar 2018 dem von Staatsanwaltschaft und Verteidigung gemeinsam gestellten Antrag entspricht und das Verfassungsgericht anruft,
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um die Frage der Rechtmäßigkeit von Art. 580 Ital. StGB, im Hinblick auf die Verfassung und die Europäische Menschenrechtskonvention, klären zu lassen. Am 24. Oktober 2018 erlässt das Verfassungsgericht einen Beschluss, in dem es Art. 580 Ital. StGB als mit der Verfassung vereinbar erachtet, jedoch gleichzeitig die Notwendigkeit betont, Fälle wie den, um den es im Verfahren gegen Cappato geht, vom Strafrecht auszuschließen. Das Verfassungsgericht setzt in seinem Beschluss – mit einer im italienischen Rechtssystem beispiellosen Entscheidung – das Verfahren aus und vertagt die mündliche Anhörung auf den 24. September 2019, um dem Parlament die Möglichkeit zu geben, bis dahin gesetzgeberisch tätig zu werden.19
VIII. Das Urteil des Verfassungsgerichts und das Recht, in besonderen Fällen das Sterben zu beschleunigen Das italienische Parlament hat es – wie leider zu erwarten war – versäumt, die notwendigen Gesetzesänderungen zu verabschieden. Das Verfassungsgericht hat daher in der Anhörung vom 24. September 2019 Art. 580 Ital. StGB für partiell verfassungswidrig erklärt, und zwar insofern, als keine Straflosigkeit für denjenigen vorgesehen ist, „der bei der Ausführung eines Selbstmordvorhabens einer Person Hilfe leistet, die diese Entscheidung autonom und frei getroffen hat, im Laufe ihres Leben versucht hat, eine lebenserhaltende Behandlung zu erhalten und an einer irreversiblen Krankheit leidet, die Ursprung eines physischen oder psychischen Leidens ist, das ihr unerträglich erscheint, wobei sie jedoch voll und ganz in der Lage ist, freie und bewusste Entscheidungen zu treffen, unter der Voraussetzung, dass das Vorliegen dieser Bedingungen und die Art und Weise der Ausführung von einer öffentlichen Einrichtung des nationalen Gesundheitswesens überprüft wurden, vorbehaltlich der Stellungnahme der territorial zuständigen Ethikkommission.“ Die wesentlichen argumentativen Passagen, die das Verfassungsgericht zu dem vorgenannten Ergebnis haben kommen lassen, sind drei und werden im Folgenden näher erläutert. Der erste Punkt betrifft die Verfassungsmäßigkeit von Art. 580 Ital. StGB: „Unabhängig von den Vorstellungen, die der Gesetzgeber von 1930 hatte, lässt sich die Ratio von Art. 580 Ital. StGB im Lichte des gegenwärtigen verfassungsrechtlichen Rahmens unschwer im Schutz des Rechts auf Leben, vor allem der schwächsten und verwundbarsten Personen, die das Strafsystem tendenziell vor einer extremen und irreparablen Wahl wie der der Selbsttötung schützt, erkennen. Die Norm dient dem stets aktuellen Ziel, Menschen, die in Schwierigkeiten sind und leiden, zu schützen, auch um die Gefahr abzuwenden, dass diejenigen, die sich in einer extremen und 19 Zum richterlichen Beschluss Nr. 219 von 2017 beschränken wir uns hier, in strafrechtlicher Hinsicht auf die von Casonato, Carlo und Riondato, Silvio, in: Fornasari/Picotti/Vinciguerra (Fn. 2) sowie die in Marini/Cupelli (Fn. 10) veröffentlichten Beiträge hinzuweisen.
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unumkehrbaren Geste zum Selbstmord entschließen, Interferenzen jeglicher Art ausgesetzt sind.“20 In der zweiten Argumentationslinie wird die vorangehende vertieft und präzisiert: Auch wenn es zutrifft, dass Art. 580 Ital. StGB unverändert insofern verfassungsmäßig ist, als er dem Schutz der schwächeren Personen vor Einflüssen auf ihre selbstbestimmte Entscheidungsfindung dient, ist „ein begrenzter Bereich vorhanden, in dem der Straftatbestand verfassungswidrig ist, vor allem in Bezug auf die Fälle, in denen es sich beim Selbstmordanwärter – wie vorliegend – um eine Person handelt, (a) die an einer irreversiblen Krankheit leidet und (b) dies Quelle physischer oder psychischer Leiden ist, die sie als absolut unerträglich empfindet, (c) sie durch lebenserhaltende Behandlung am Leben gehalten wird und (d) dennoch in der Lage ist, freie und bewusste Entscheidungen zu treffen“. Die abschließende Urteilspassage betrifft die Regelung, die auf diejenigen Personen anzuwenden ist, die sich in der vorstehend geschilderten Lage befinden, in der die Hilfe Dritter zur Selbsttötung „sich dem Patienten als einzige Möglichkeit darstellen kann, um einer nach seiner eigenen Entscheidung nicht mehr gewollten künstlichen Lebenserhaltung zu entgehen, die er auf der Grundlage von Art. 32 Abs. 2 der Verfassung ablehnen kann.“21 Das Verfassungsgericht führt aus, dass ebenso wie das Gesetz Nr. 209 von 2017 jedem handlungsfähigen Menschen das Recht zuerkennt, jegliche medizinische Behandlung zu verweigern und eine für sein Überleben notwendige künstliche lebenserhaltende Behandlung zu beenden, „es keinen Grund gibt, warum dieselbe Person nicht auch unter bestimmten Bedingungen entscheiden kann, ihrer Existenz mit Hilfe anderer ein Ende zu setzen.“ Bedeutet dies, dass somit alles in Ordnung ist? Trotz der grundsätzlichen Befürwortung der Lösung, zu dem das Verfassungsgerichts gelangt ist, gibt es zwei Aspekte, die nachdenklich stimmen. Der erste betrifft die Abgrenzung der vom Anwendungsbereich des Art. 580 Ital. StGB ausgeschlossenen Personen. Das Verfassungsgericht führt in seinem Urteil aus, es könne nur „denjenigen Personen, die schon durch Verzicht auf die für ihr Überleben notwendige Behandlung das Sterben zulassen könnten, legitimerweise im Selbstmordvorhaben geholfen werden.“ Auch wenn dieses Vorgehen zwar verständlich ist, insbesondere um das Risiko eines so genannten Slippery Slope zu vermeiden, 20
Mit dieser Argumentation verneint das Gericht das Vorliegen einer Verletzung des Grundsatzes der Selbstbestimmung und gelangt zur Vefassungsmäßigkeit von Art. 580 Ital StGB. Siehe zum Thema, neben vielen anderen, Nappi, Antonio, Diritto penale e malattia irreversibile: dal ,dovere di vivere‘ al diritto di autodeterminazione, Neapel, 2019, S. 122 ff.; Risicato, Lucia, L’incostituzionalità „differita“ dell’aiuto al suicidio nell’era della laicità bipolare. Riflessioni a margine del caso Cappato, in: Marini/Cupelli (Fn. 10), S. 289 ff.; Seminara (Fn. 10), S. 325 ff. 21 Der vorgenannte Art. 32 Abs. 2 der italienischen Verfassung lautet übersetzt wie folgt: „Niemand kann zu einer bestimmten medizinischen Behandlung verpflichtet werden, sofern dies nicht gesetzlich festgelegt ist. In keinem Fall darf das Gesetz die Grenzen verletzen, die sich aus der Pflicht zur Achtung der menschlichen Person ergeben.“
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ist offensichtlich, dass damit eine Kategorie von Personen ausgeschlossen wird, die angesichts eines unerträglichen Leidens, auch wenn es nicht aus einer unheilbaren Krankheit herrührt, mit gutem Grund dieselben Forderungen geltend machen könnten.22 Der zweite, auf Zweifel stoßende Aspekt betrifft die Art und Weise, in der das Recht auf Beendigung des Lebens ausgeübt werden kann – insbesondere im Hinblick auf die Gefahr des Missbrauchs: Wer stellt die Entscheidungsfreiheit des Patienten und die bewusste und informierte Natur seiner Entscheidung fest? Kann jeder, auch ein Familienangehöriger oder ein Freund, bei der Selbsttötung Hilfe leisten oder hat es sich dabei um einen Arzt zu handeln? Ist es zulässig, dass sich der behandelnde Arzt dem Wunsch des Patienten durch Berufung auf eine Verweigerung aus Gewissensgründen entzieht? Es ist selbstverständlich, dass man nicht erwarten kann, in einem Verfassungsgerichtsurteil eine ausführliche und minutiöse Reglementierung zu finden. Dies ist auch der Hauptgrund, warum das Verfassungsgericht das Verfahren vertagt und das Parlament aufgefordert hatte, mittels Verabschiedung eines Gesetzes zu intervenieren. Angesichts der Untätigkeit des Gesetzgebers hat das Verfassungsgericht gleichwohl versucht, eine Antwort auf die aufgeworfenen Probleme zu finden, indem es auf das Gesetz Nr. 219 von 2017 über die Einholung der Einwilligung nach Aufklärung verwies, die Strukturen des nationalen Gesundheitsdienstes mit der Überprüfung des körperlichen Zustands des Patienten betraute, die territorial zuständigen Ethikkommissionen mit der Bewertung der Gründe des Suizidantrags beauftragte und die Annahme oder Ablehnung eines solchen Antrags dem Gewissen des einzelnen Arztes übertrug. Dennoch stößt die Schaffung solcher nur grob definierten Obliegenheiten und Garantiepositionen auf Befremden. Am 23. Dezember 2019, kurz vor Fertigstellung des vorliegenden Beitrags, hat das Mailänder Schwurgericht, nachdem die Akten vom Verfassungsgericht zurückverwiesen wurden, Marco Cappato von der Straftat der Hilfeleistung zur Selbsttötung freigesprochen. Der Angeklagte hat einen Akt des zivilen Ungehorsams begangen, indem er sich entschied, einem als anerkennenswert erachteten Suizidverlangen nachzukommen. Aus Gründen des zivilen Gewissens hat er sich unmittelbar nach der Tat selbst angezeigt, um ein Strafverfahren einzuleiten, das die Beseitigung einer ungerechten Strafnorm aus dem Rechtssystem ermöglichen würde. Alles verlief nach dem Plan von Marco Cappato, dem Lob für seine Zivilcourage gebührt. Kein Lob gebührt hin22
Es sei nur der Fall des EuGH, Abteilung V, vom 19. Juli 2012, Nr. 497/09, zitiert, in dem Ulrich Koch, ein deutscher Staatsbürger, im Interesse seiner Frau, die nach einem Unfall fast vollständig gelähmt war und sich auch wegen des durch Krämpfe verursachten Leidens künstlicher Beatmung und kontinuierlicher Pflege unterziehen musste, aktiv geworden ist und das Gericht dem Antrag auf Sterbehilfe nicht stattgegeben hat, weil die Frau nach ärztlichem Gutachten eine Lebenserwartung von mindestens fünfzehn Jahren hatte. Die Gefahr des so genannten Slippery Slope, des rutschigen Hangs, wird kritisch angeführt bei Eusebi, Luciano, Un diritto costituzionale a morire „rapidamente“?, in: disCrimen, 19. Dezember 2018, S. 5.
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gegen dem Parlament, das einmal mehr seine Unfähigkeit zur Ergreifung notwendiger Maßnahmen gezeigt hat.
IX. Schlussbemerkung Es bleibt noch ein letzter Aspekt, der Aufmerksamkeit verdient. In dem oben dargestellten Urteil des Verfassungsgerichts wird die Verfassungsmäßigkeit des Art. 580 Ital. StGB, wie bereits erwähnt, im Hinblick auf den „Schutz des Rechts auf Leben, vor allem der schwächsten und verwundbarsten Personen, die das Strafsystem tendenziell vor einer extremen und irreparablen Wahl wie der Selbsttötung schützen will“, bekräftigt. Das Problem liegt im Adverb „vor allem“, das auf einen quantitativen Koeffizienten der Reichweite des rechtlichen Schutzes abzustellen scheint, so dass davon nicht alle Personen, sondern nur diejenigen, die schwach und verletzlich und damit äußeren Einflüssen preisgegeben sind, erfasst werden.23 In einer anderen jüngst ergangenen Entscheidung hat das Verfassungsgericht den gleichen Bewertungsmaßstab angelegt.24 Es hatte über einen Straftatbestand zu entscheiden, der die Anwerbung und die Beihilfe zur Prostitution, die freiwillig und bewusst ausgeübt wird, unter Strafe stellt (Art. 3 Abs. 1 Nr. 4 und Nr. 8 Gesetz Nr. 75/ 1958). Der Straftatbestand wurde vom Verfassungsgericht für verfassungsmäßig erklärt, und im Urteil wird ausgeführt, dass „selbst in der heutigen Zeit, in der es keine Formen der Zwangsprostitution im echten, eigentlichen Sinn gibt, die Entscheidung ,Sex zu verkaufen‘ in den allermeisten Fällen auf Umständen beruht, die die Freiheit der Selbstbestimmung des Individuums konditionieren und einschränken und die Bandbreite seiner Existenzmöglichkeiten teilweise drastisch reduzieren.“ Auch in diesem Fall findet die Norm somit ihre Rechtfertigungsgrundlage auf einer quantitativen Ebene, durch die Bezugnahme auf die „allermeisten Fälle“. Die sich hier intuitiv stellende Frage lautet wie folgt: Ist der Einsatz des Strafrechts auch dann legitim, wenn das strafrechtlich normierte Gebot auf Fälle anwendbar ist, die außerhalb des Schutzzwecks der Norm liegen? Ist bei einem solchen Übermaß an Repression die Strafe, die gegen Personen verhängt wird, deren Verhalten nicht in den Schutzzweck der Norm fällt, verfassungskonform? Die Antworten, die das Verfassungsgericht in den beiden vorliegend dargestellten Fällen gegeben hat, divergieren. Für Art. 580 Ital. StGB hat das Verfassungsgericht die Situationen/Sachverhalte, die nicht unter die Strafnorm fallen können, herausgearbeitet 23 In dem Verfassungsgerichtsbeschluss Nr. 207 von 2018 führt das Gericht aus, dass Art. 580 Ital. StGB „seine klare Daseinsberechtigung auch und vor allem in Bezug auf kranke, depressive, psychisch schwache oder ältere und einsame Menschen behält, die leicht zu einem vorzeitigen Ausscheiden aus dem Leben veranlasst werden können, wenn das Gesetz jedermann erlauben würde, auch nur bei der Ausführung des suizidalen Vorhabens zu kooperieren, vielleicht sogar aus Gründen des persönlichen Eigennutzes.“ 24 Entscheidung des Verfassungsgerichts vom 7. Juni 2019, Nr. 141.
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und damit dem Erfordernis der Rechtssicherheit Genüge getan. Bei Art. 3 Gesetz Nr. 75 von 1958 hat sich dasselbe Verfassungsgericht hingegen lediglich darauf beschränkt, an die „Befugnis und Pflicht des ordentlichen Richters, die Konfigurierbarkeit der Straftat bei Vorliegen von Verhaltensweisen auszuschließen, die sich in Bezug auf die spezifischen Umstände konkret als frei von jeglichem Schadenspotential erweisen“, zu erinnern.25 Man könnte sagen, dass das Verfassungsgericht im ersten Fall an die Stelle des Gesetzgebers getreten ist, indem es andere, in der Rechtsordnung vorhandene gesetzliche Bestimmungen nach dem Kriterium der Analogie der dadurch geregelten Situationen für anwendbar erklärt hat; es ist jedoch auch wahr, dass es diese Analogie im restriktivsten Sinne gezogen hat, zum Opfer all derjenigen, deren Schmerzenslast und Bewusstseinsgrad der „Unwürdigkeit“ ihres Lebens nicht geringer ist als bei den Personen, denen die Umsetzung ihres Suizidvorhabens erleichtert wurde. Im zweiten Fall hat das Verfassungsgericht hingegen die Unterscheidung zwischen freiwilliger, erzwungener und aus Gründen der Bedürftigkeit erfolgender Prostitution anerkannt und den Untergerichten die schwierige – wenn nicht gar unmögliche – Aufgabe übertragen, dies im jeweiligen Einzelfall zu prüfen und zu entscheiden, wodurch Raum für eine bedenkliche Unbestimmtheit der Norm geschaffen wurde. Bei genauerem Hinsehen machen beide Lösungen trotz ihrer Verschiedenheit deutlich, dass die Zeit der absoluten Werte in vielen existenzrelevanten Bereichen durch eine Ära der relativen Werte, in der eine schwierige Güterabwägung zwischen dem Recht auf Selbstbestimmung einerseits und dem „paternalistischen“ Schutz gefährdeter Personen andererseits zu erfolgen hat, abgelöst wurde.26
25
Zu diesem Urteil siehe Bernardi, Sandro, Sulla legittimità costituzionale dei delitti di reclutamento e favoreggiamento della prostituzione: irrilevante il fatto che l’esercizio del meretricio sia il frutto di una libera scelta?, in: Dir. pen. cont. vom 8. Juli 2019; siehe auch Cadoppi, Alberto: L’incostituzionalità di alcune ipotesi della legge Merlin e i rimedi interpretativi utilizzabili, ebendort, 26. März 2018, sowie allgemein Cadoppi, Alberto (Hrsg.), Prostituzione e diritto penale: problemi e prospettive, Rom, 2014. 26 Zum Thema Paternalismus im Strafrecht ist eine umfangreiche Bibliographie vorhanden. Siehe u. a. die Beiträge in den folgenden Bänden: Cadoppi, Alberto (Hrsg.), Laicità, valori e diritto penale. The Moral Limits of the Criminal Law. In ricordo di Joel Feinberg, Mailand, 2010; Fiandaca, Giovanni/Francolini, Giovanni (Hrsg.), Sulla legittimazione del diritto penale. Culture europeo-continentale e angloamericana a confronto, Turin, 2008; Canestrari, Stefano/Stortoni, Luigi (Hrsg.), Valori e secolarizzazione nel diritto penale, Bologna, 2009; Cadoppi, Alberto/Cornacchia, Luigi/Micheletti, Dario/Tordini Cagli, Silvia, in: Criminalia, 2011, S. 223 ff. Zur Themenbereich der Sterbehilfe und des Sterbenlassens siehe Canestrari, Stefano, Principi di biodiritto penale, Bologna, 2015, S. 66; ders. (Fn. 17), S. 74 ff.; Gentile (Fn. 17), S. 18 ff.; Nappi (Fn. 20), S. 18 ff.; Pulitanò (Fn. 17), S. 65.
Massenproteste im argentinischen Strafrecht Von Eugenio R. Zaffaroni und Guido L. Croxatto
I. Problemstellung Die Art und Weise, wie in Lateinamerika Strafgewalt ausgeübt wird, stellt die strafrechtliche Dogmatik vor ganz andere Probleme als in Europa, vor Probleme, die auch für Autoren aus anderen Regionen der Welt regelmäßig unvorstellbar sein werden. Beispiele hierfür sind etwa jene Fälle, in denen verurteilte Personen (von den lateinamerikanischen Medien entgegen der eigentlich geltenden Unschuldsvermutung schon während des Prozesses als „Verbrecher“ klassifiziert) Folter erlitten haben – in Ländern wie Argentinien, die noch weit von ihrer Abschaffung entfernt sind. Diese müsste eigentlich bei der Bemessung der rechtmäßigen Strafe eingerechnet werden,1 ebenso der Umstand, dass infolge ihrer Verhaftung oder anschließenden Behandlung die Person erkrankte oder Verletzungen erlitt. In solchen Fällen wird die wegen der unerlaubten Handlung verhängte Strafe regelmäßig viel geringer ausfallen als jene dem Beschuldigten vom Staat im Namen der Strafe zugefügten rechtswidrigen Schäden. Es handelt sich um unangenehme Fragen, deren Bedeutung nicht zuletzt durch die Situation der Strafanstalten in Argentinien unterstrichen wird, Fragen, mit denen sich der lateinamerikanische Theoretiker auseinandersetzen muss. Wir befassen uns vorliegend mit einem besonderen Problem, mit welchem das argentinische Recht angesichts häufiger Massenproteste und einem Streben nach deren Kriminalisierung konfrontiert ist. Zunehmende Repression des Protests in Lateinamerika erweist sich zugleich als ein Symptom des Bedeutungsverlusts der Institutionen in unseren Ländern (insbesondere in Brasilien, Chile, Bolivien, Peru, und Ekuador). Die sich hier in besonderem Maße häufenden Demonstrationen und anderen Proteste bringen eine soziale Unzufriedenheit und zugleich Unfähigkeit unserer Demokratien zum Ausdruck, zufriedenstellend auf legitime Forderungen einzugehen, welche sich aus sozialer Marginalisierung und der Verweigerung von Rechten ergeben.2 1 Vgl. Zaffaroni, Las penas crueles son penas, in Derecho penal y criminología, Bogotá 1992. 2 Im Recht (nicht nur, aber vor allem im Strafrecht) besteht ein Problem mit diesen Kategorien. Wir ziehen es vor, den auf einem undeutlichen meritokratischen Ideal basierten Ausdruck „Chancengleichheit“ durch den Begriff Gleichberechtigung zu ersetzen, bei dem Rechte
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Das Thema wurde bereits mehrfach aus verfassungsrechtlicher Sicht als eine Frage der Beschränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung betrachtet.3 Ohne die Wichtigkeit dieser Perspektive zu bestreiten, beabsichtigen wir vorliegend hingegen eine Betrachtung der wichtigsten Probleme, die sich bei Forderungen nach einer Kriminalisierung von Protesten stellen, nämlich Fragen der Tatbestandsmäßigkeit, der Rechtswidrigkeit und der Schuld.4 In Argentinien finden auf den Straßen sehr häufig Massenproteste statt. Auf verschiedenste Weisen5 wird versucht, deren Strafbarkeit6 zu begründen. Obwohl stets eine Neigung dazu besteht, jede größere Versammlung als vandalisch und ihre Veranstalter als verkommen7 zu stigmatisieren, kommt es nur gelegentlich zu Gewalttaten, die häufig zudem durch eingeschleuste Agenten organisiert oder begangen werden. Wir schließen im Folgenden jene Fälle aus, in denen es tatsächlich zu schweren Straftaten kommt – was, wie gesagt, in der Regel nicht vorkommt – und betrachten nur Versuche der Kriminalisierung von jenen Protesten, die man als größere Menschenansammlungen mit minimalen Schadenspotential und daher als einfache Proteste bezeichnen kann. Im Bestreben, einfache Proteste zu kriminalisieren, werden regelmäßig unterschiedlichste bestehende Tatbeständen auf ihre Anpassungsfähigkeit untersucht, um auf diese Weise Strafgewalt zu begründen. Die erste Frage stellt sich somit hinsichtlich der Tatbestandsmäßigkeit. tatsächlich durchsetzbar und nicht nur formaler Ausdruck eines in der Verfassung festgeschriebenen Wunsches sind. 3 So zum Beispiel von Amnesty International, https://amnistia.org.ar/wp-content/uploads/de lightful-downloads/2017/06/AIAR-Documento-El-derecho-a-la-protesta-social-2016-FINAL-. pdf, wo mit Vorsicht geäußert wird: „Streiks, Straßensperrungen, die Umzingelung von öffentlichen Plätzen und sogar die in den sozialen Protesten vorkommenden Unruhen können Störungen und sogar Schaden herbeiführen, die verhindert und repariert werden müssen. Allerdings beeinträchtigen die unverhältnismäßigen Einschränkungen des Protests ernsthaft das Meinungsäußerungsrecht, insbesondere im Falle von Gruppen, die keine andere Form zur öffentlichen Meinungsäußerung haben.“ 4 Schon seit Jahrzehnten wird das Problem des Widerstands gegenüber Verletzungen der Menschenrechte thematisiert: AAVV, Sobre la resistencia a las violaciones de los derechos humanos, Trabajos debatidos en la reunión de expertos celebrada en Freetown, Sierra Leona, del 3 al 7 de marzo de 1981, Serbal/UNESCO, Barcelona 1984. 5 http://www.defensoria.org.ar/wp-content/uploads/2018/02/DERECHO-A-LA-PROTES TA-COS-2018-final.pdf. 6 https://www.cels.org.ar/web/tag/derecho-a-la-protesta/; vorher CELS, El Estado frente a la protesta social 1996 – 2002, Buenos Aires 2003. 7 Diese Stigmatisierung entwickelte sich im XIX. Jahrhundert: Lombroso, Gli anarchici, Turin 1894; Lombroso/Laschi, Le crime politique et les révolutions, Paris 1892; Andrade, Estudio de antropología criminal espiritualista, Madrid 1899, S. 203 ff.; Le Bon, La psicología política y la defensa social, Madrid 1912; Le Bon, Psicología das multidioes, Rio de Janeiro 1954; Sighele, I delitti della folla, Turin 1910; Ramos Mejía, Las multitudes argentinas, Buenos Aires 1912. Im Allgemeinen über die Kriminalisierung von Massen und Anführern van Ginneken, Folla, psicologia e politica, Rom 1989.
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II. Die vergebliche Suche nach Tatbeständen 1. Unterbrechung oder Störung des Verkehrs Artikel 194 des Strafgesetzbuches8 ist der am häufigsten bei der Kriminalisierung einfacher Proteste angewandte Tatbestand, denn im Allgemeinen wird die Unterbrechung irgendeiner Fahrbahn als ausreichend betrachtet, um diesen Tatbestand zu bejahen.9 Es handelt sich dabei um eine extensive Auslegung des Tatbestands, denn obwohl Artikel 194 als Bedingung der Strafbarkeit die Herbeiführung einer Gemeingefahr ausschließt, ist nicht davon auszugehen, dass für die Bejahung des Tatbestands auf jegliche Gefährdung verzichten werden kann. Artikel 194 verlangt eine tatbestandsmäßige Gefahr und nicht bloß eine tatbestandsmäßige Verletzung des Verkehrsrechts. Wenn letzteres der Sinn der Vorschrift gewesen wäre, hätte man in der Fassung des Artikels das Erfordernis irgendeiner Gefährdung und nicht nur einer Gemeingefahr ausgeschlossen. Folglich erfordert der Tatbestand eine nicht gemeine Gefährdung eine Rechtsgut, also mehr als eine bloße Verletzung des Verkehrsrechtes. Gemäß der Staatsorganisation (Artikel 1 der Verfassung) wird der Verkehr in Abhängigkeit von der Art der Fahrbahn auf nationaler, regionaler oder städtischer Ebene geregelt, wobei für Verstöße gegen solche Regelungen dieselben Zuständigkeiten gelten. Je nach Art der Fahrbahn können Verstöße demnach auf Bundes- oder Provinzebene oder aber auf städtischer Ebene gregelt sein. Der Versuch, auf jede Störung des Verkehrs mit dem Strafgesetzbuch zu reagieren, würde eine verfassungswidrige Erweiterung der legislativen Zuständigkeiten der Bundesebene bedeuten. Ein zutreffendes Verständnis dieses Tatbestands erfordert, dass eine Beeinträchtigung – wegen Verletzung oder Gefährdung – irgendeines Rechtsguts nachgewiesen wird, welche sich von der bloßen Verkehrsstörung oder -verhinderung unterscheidet. Denn im argentinischen Recht gilt das Prinzip der Offensivität, das neben dem Garantieprinzip des Artikels 19 der Verfassung10 aufgenommen wurde und die Grundlage der argentinischen juristischen Anthropologie darstellt, in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht und den Menschenrechten, dessen Konventionen Verfassungsrang zukommt (Ziffer 22 des Artikels 75). 8
„Derjenige, der ohne eine Gemeingefahr herbeizuführen, das normale Funktionieren des Land-, Wasser- oder Lufttransports oder die öffentlichen Kommunikationsdienste, die Wasser-, Elektrizitäts- oder Energieversorgung verhindert, stört oder beeinträchtigt, wird mit Gefängnis von drei Monaten bis zu zwei Jahren bestraft.“ 9 Vgl. Gericht 1. Nationale Revisionskammer für Strafrecht, JA, 2002-IV, S. 375 und unser Artikel in derselben, S. 384. 10 „Private Handlungen, die in keiner Weise die öffentliche Ordnung und Moral verletzen noch einen Dritten benachteiligen, sind allein Sache Gottes und der Autorität der Richter entzogen. Kein Angehöriger der Nation soll verpflichtet werden, etwas zu tun, was das Gesetz nicht befiehlt, oder zu lassen, was das Gesetz nicht verbietet.“
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Die Einordnung des Artikels 194 als plurioffensive Straftat (im Sinne einer Verletzung des Verkehrsrechts und einer daraus resultierenden Gefahr für andere Rechtsgüter) findet Bestätigung in der Geschichte dieses durch eine faktische Reform eingeführten Tatbestands, da er einen im Originaltexts des Gesetzbuches ursprünglich vorgesehenen Tatbestand ersetze, welcher sich auf die Gefährdung von Schiffen bezog.11 2. Schaden Ein anderes nicht zu vergessendes Prinzip ist der Grundsatz des Römischen Rechts minima non curat praetor, heute als Grundsatz der Geringfügigkeit übersetzt: Bagatell-Beeinträchtigungen werden dem Prinzip der Offensivität noch nicht gerecht, denn Straftaten müssen Rechtsgüter in hinreichenden Maße beeinträchtigen, was Schäden ausschließt, die in keinem Verhältnis zum Maß der angedrohten Strafe stehen. In anderen Worten: das Maß der Rechtsfolgen der Straftat – die Strafe – muss notwendigerweise mit dem Grad der Beeinträchtigung des Rechtsguts übereinstimmen. Folglich können zum Beispiel die aus der körperlichen Präsenz von Personen resultierenden zwangsläufigen oder üblichen Folgen einer Versammlung noch nicht tatbeständig sein, auch wenn von den sich versammelnden Personen Belästigungen ausgehen, sie durch ihre Fortbewegung oder ihr Verweilen an einem Ort den Verkehr von Fahrzeugen oder Fußgängern unterbrechen, sie Lärm verursachen, die Straßen durch Flugblätter verunreinigen oder Grünflächen beschädigen könnten. Denn insofern sind Störungen über einen vernünftigerweise erforderlichen Zeitraum eine unvermeidliche Folge der Versammlung, was auch solche zur Äußerung von Forderungen übliche Handlungen einschließt, wie etwa das Benutzen von Trommeln, das Abbrennen kleiner Feuerwerke und das Werfen von Flugblättern. 3. Aufruhr Laut Ziffer 1 des Artikels 230 des StGB wird bestraft, wer unter bestimmten Voraussetzungen sich die Rechte des Volkes anmaßt und in dessen Namen Forderungen durchsetzt. Dieser Tatbestand befindet sich unter den Straftaten gegen die öffentliche Gewalt und die verfassungsmäßige Ordnung als Umsetzung des Prinzips der repräsentativen Regierungsführung.12 Nicht jede Forderung des Volkes kann demnach einen Aufruhr darstellt, sondern nur solche, die dieses Prinzip missachten.13 Auch 11 Gesetz de facto 17.567 aus der Zeit der Diktatur von Onganía, in dessen Begründung sich insoweit keine weitere Erklärung der Reform findet. 12 Artikel 1 der Verfassung: „Die Argentinische Nation nimmt die Regierungsform einer repräsentativen Bundesrepublik an, gemäß den Bestimmungen dieses ihres Grundgesetzes.“ 13 „Es werden mit Gefängnis von einem bis zu vier Jahren bestraft: 1) Jede bewaffnete Macht oder Versammlung von Personen, welche sich die Rechte des Volkes anmaßt oder im
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ist die Inanspruchnahme der Rechte des Volkes erforderlich, was bei Demonstrationen und anderweitigen Protesten eben nicht der Fall ist, selbst wenn diese für sich reklamieren, im Namen des Volkes zu sprechen, denn ein solches Vorgehen ist nichts weiter als ein universal einsetzbares rhetorisches Mittel. Wer eine bestimmte Forderung erhebt (etwa gegen eine Preiserhöhung, zugunsten der Wiedereröffnung eines Krankenhauses, gegen den Abriss eines Gebäudes), gefährdet damit nicht das Prinzip repräsentativer Staatsgewalt. 4. Aufstand Obwohl sich die argentinische Rechtsprechung hierzu noch nicht verhalten hat, lässt sich nicht ausschließen, dass der einfache Protest als Aufstandsdelikt gemäß des ersten Abschnitts des Artikels 226 des StGB14 bestraft werden könnte. Doch kann – zumindest in seiner einfachen Form – ein Protest nicht als ein bewaffneter Aufstand betrachtet werden, denn letzterer ist nicht durch den drohenden Einsatz irgendwelcher Waffen geprägt, sondern durch den Einsatz einer Vielzahl von Waffen, deren schädigende Wirkung jenen der Streitkräften ähnelt. Die im Rahmen einer Protests üblicherweise erhobenen Forderungen haben zudem mit einem Widerstandsrecht gegen den Souverän nichts zu tun – was uns zur vertragstheoretischen Debatte zwischen Hobbes und Locke führen würde – denn dieses Recht wird zum Sturz des Unterdrückers ausgeübt, beziehungsweise zum Sturz desjenigen, der kein Souverän mehr ist und sich wegen des Missbrauchs des ihm erteilten Mandats in einen Unterdrücker verwandelt hat.15 Das Widerstandsrecht gegen den Souverän ist letztendlich ein Recht zur Revolution, während der übliche soziale Protest in unserem Umfeld nicht danach strebt, eine Regierung zu stürzen, so dass man sich zu seiner Unterdrückung noch nicht einmal auf Hobbes berufen müsste. Ein erneuter bellum omnium contra omnes droht insoweit gerade nicht.
Namen desselben petitioniert“ (Artikel 22 der Verfassung). Artikel 22 der Verfassung lautet: „Das Volk berät und reagiert allein durch seine Vertreter und die von dieser Verfassung geschaffenen Behörden. Jede bewaffnete Macht oder Versammlung von Personen, welche sich die Rechte des Volkes anmaßt oder im Namen desselben petitioniert, macht sich des Verbrechens des öffentlichen Aufruhrs schuldig.“ 14 „Mit Gefängnis von fünf bis fünfzehn Jahren werden jene bestraft, die einen bewaffneten Aufstand durchführen, um die Verfassung zu ändern, um ein Organ der nationalen Regierung abzusetzen, um Maßnahmen oder Genehmigungen zu erzwingen oder um vorübergehend die Ausübung der verfassungsmäßigen Befugnisse oder deren Gestaltung oder Erneuerung in den gesetzlich vorgesehen Formen zu behindern.“ 15 Aus dieser Perspektive, Feuerbach, Anti-Hobbes oder über die Grenzen der höchsten Gewalt und das Zwangsrecht der Bürger gegen den Oberherrn, Gießen, 1797.
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5. Freiheitsentziehung Bei einer vertieften Suche nach möglichen Gründen der Strafbarkeit von Protesten könnte man möglicherweise auch Artikel 141 des StGB16 in Betracht ziehen, wenn beispielsweise eine Gruppe von Personen jemanden daran hindert, ein Gebäude für kurze Zeit zu verlassen. Im Grunde genommen bedeutet dies jedoch nicht, jemandem die Freiheit zu entziehen, sondern lediglich dessen Bewegungsfreiheit einzuschränken. Jedenfalls aber würde es sich dabei um einen dem Grundsatz der Geringfügigkeit unterfallenden Sachverhalt handeln. Dieser Grundsatz wurde allerdings in einem gerichtlichen Urteil bei der Feststellung einer tatbestandsmäßigen Freiheitsentziehung insofern nicht beachtet, als der Fahrer eines öffentlichen Verkehrsmittels das Fahrzeug nicht an der vom Passagier gewünschten, sondern erst an der nächsten Haltestelle anhielt. 6. Ungehorsam Die Verfassungsmäßigkeit des Artikels 239 des StGB17 ist insbesondere im Falle des Ungehorsams zweifelhaft, da das strikte Legalitätsprinzip nicht beachtet wurde. Wenn man die unbestimmte Formulierung dieses gesetzlichen Tatbestands tatsächlich zugrunde legen würde, wäre das daraus resultierende Verbot in nicht hinnehmbarer Weise entgrenzt. Schon die Verweigerung des Gehorsams gegenüber einem Befehl, die Straße zu verlassen, würde dann eine Straftat darstellen. Diese Rechtsfolge erscheint nur dann hinnehmbar, wenn der Ungehorsam andere wichtige Rechtsgüter gefährden könnte (zum Beispiel die Missachtung eines Befehls, einen Sperrgürtel nicht zu verletzen). Die Unbestimmtheit des Tatbestands macht ihn unvereinbar mit einem rechtsstaatlichen Verständnis von Strafrecht. Der Gesetzgeber hat die gebotene Präzisierung einzelner Sachverhalte unterlassen. 7. Verherrlichung einer Straftat Ähnliches ist beim Tatbestand der Verherrlichung einer Straftat des Artikels 213 des StGB18 zu beobachten, dessen Verfassungsmäßigkeit ebenfalls zweifelhaft ist. Einige Formen des zivilen Ungehorsams (zum Beispiel keine Steuer zu bezahlen) können nach Meinung von Thoreau19 zu strafrechtlichen Folgen führen, auch wenn sie Aus16
„Wer jemandem unrechtmäßig die persönliche Freiheit entzieht, wird mit Gefängnis von sechs Monaten bis drei Jahren bestraft.“ 17 „Mit Gefängnis von fünfzehn Tagen bis zu einem Jahr wird bestraft, wer sich einem öffentlichen Beamten in der rechtmäßigen Ausübung seines Amtes oder einer anderen Person, die diesem auf sein Ersuchen oder infolge einer Rechtspflicht Hilfe leistet, widersetzt oder dessen Befehlen nicht gehorcht.“ 18 „Wer öffentlich ein Verbrechen oder einen wegen eines Verbrechens Verurteilten verherrlicht, wird mit Gefängnis von einem Monat bis zu einem Jahr bestraft.“ 19 Thoreau, Desobediencia civil y otros escritos, Madrid 1994.
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druck von Protest und sozialer Kritik sind. Jede Demonstration zur Unterstützung eines solchen Ungehorsams würde sich insofern als schuldhaft erweisen, obwohl es sich im Kern um eine Form von sozialer Kritik handelt. Auch darüber hinaus sollte dieser Tatbestand ernsthafter verfassungsrechtlicher Kritik unterzogen werden. 8. Kriminelle Vereinigung Nicht geringer ist die Gefahr, dass sobald der soziale Protest sich organisiert und weiterentwickelt, der Versuch unternommen wird, dessen Teilnehmer der Verwirklichung des Tatbestands der kriminellen Vereinigung zu beschuldigen (Artikel 210 des StGB),20 bei welchem allerdings ebenfalls ernsthafte und ungelöste verfassungsrechtliche Probleme ersichtlich sind. Der Tatbestand der kriminellen Vereinigung wurde gegen die Gewerkschaften zu jenen Zeiten angewandt, in denen Streiks als tatbestandsmäßig galten und mit niedrigen Strafen erfasst wurden. In Zeiten politischer Gewalt wurden das Strafmaß angehoben und seitdem nicht wieder gesenkt, auch wenn dieses Phänomen seit Jahrzehnten überwunden ist. Es handelt sich um einen Tatbestand, der die Strafbarkeit von Vorbereitungshandlungen vorsieht, welche sich noch in einem Vorstadium der Versuchshandlung befinden, und der nicht einmal berücksichtigt, ob der Täter seine Pläne möglicherweise wieder aufgegeben hat. Somit hat beispielsweise derjenige, der mit zwei weiteren Personen die Begehung eines einfachen Diebstahls in einem Kaufhaus vereinbart, mit dieser bloßen Vereinbarung den Tatbestand verwirklicht und wird mit dem Äquivalent der Summe des Minimums der Strafe für dreißig Diebstähle bestraft, obwohl kein Diebstahl begangen wurde. Dieser Tatbestand könnte zwar mit der Verfassung kompatibel gemacht werden, soweit es sich um Vereinbarungen für die Begehung von besonders schweren Verbrechen handelt, wie beispielsweise dem Völkermord oder dem Freisetzen von Radioaktivität. Dies geschieht jedoch gerade nicht, wenn bereits die Verabredung jedweder Straftat Strafbarkeit begründen soll, wie es die Vorschrift explizit vorsieht.
III. Rechtfertigung Bis hierher haben wir uns mit dem einfachen Protest befasst, bei dem kein Straftatbestand und nur möglicherweis der Tatbestand einer Ordnungswidrigkeit zu bejahen ist. Allerdings ist auch an Fälle zu denken, in denen Teilnehmer eines Protests einige strafbare Handlungen vornehmen, welche für Konfliktsituationen typisch sind, beispielsweise Widerstand gemäß Artikel 239, irgendein nicht unbedeutender, 20 „Wer an einer kriminellen Vereinigung oder Organisation von drei oder mehr Personen zur Begehung von Delikten teilnimmt, wird wegen Mitgliedschaft in der Vereinigung mit Gefängnis von drei bis zehn Jahren bestraft. Die Leiter oder Veranstalter werden mit Gefängnis von mindestens fünf Jahren bestraft.“
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durch das Schleudern von Steinen entstandener Schaden oder leichte Verletzungen als Folge von Auseinandersetzungen. Selbstverständlich geht es dabei nicht um Sachverhalte, bei denen der Protest nur als Gelegenheit zur Begehung von Straftaten missbraucht wird, etwa zu Diebstahl, Vandalismus oder persönliche Rache. Da es unmöglich ist, die einschlägige Kasuistik an dieser Stelle in vollem Umfang zu bearbeiten, beschränken wir uns im Folgenden auf die Prüfung der häufigsten und wahrscheinlichsten Hypothesen. 1. Notwehr Fraglich ist insbesondere, ob im Hinblick auf die Tatbestandshandlung des Widerstands gegen die Staatsgewalt eine Rechtsfertigung aus Notwehr in Betracht kommt. In diesem Fall müsste sich der Protest gegen einen rechtswidrigen Angriff auf ein notwehrfähiges Rechtsgut richten. Im Allgemeinen finden Proteste in Reaktion auf Unterlassungen des Staates statt, doch kann eine solche Unterlassung durchaus zugleich einen Angriff darstellen. Der Angriff würde unrechtmäßig sein, wenn er ein Grundrecht beeinträchtigt, das dabei sowohl persönlich als auch sozial oder wirtschaftlich21 sein kann. Diese Konstellationen sind in Europa nicht geläufig, aber in unseren Ländern nehmen sie als Ergebnis der sogenannten Anpassungsprogramme zu, mit denen unter anderem die Rechte auf Gesundheit, Arbeit, Erziehung und Sozialfürsorge beeinträchtigt werden. Sofern der Staat einen Angriff durch Unterlassen verübt, würde das Handeln der Beamten, die den Protest unterdrücken, rechtswidrig sein. Unter diesen Umständen könnte im Falle der Tatbestandshandlung des Widerstands das Notwehrrecht geltend gemacht werden, vorausgesetzt, dass die weiteren Bedingungen zur Rechtfertigung erfüllt werden (die in den Ziffern 6 und 7 des Artikels 34 des StGB geregelt sind). Demnach muss das angewandte Mittel vor allem vernünftigerweise erforderlich sein. Es sei betont, dass es demnach im argentinischen Strafrecht also nicht genügt, dass die Verteidigung erforderlich ist, denn sie muss zudem auch rational sein. Diese Voraussetzungen würden nicht erfüllt, wenn eine weitere geeignete und zumutbare Möglichkeit bestünde, einen Anspruch zu erheben, um das Unterlassen des Staates zu beseitigen. Eine rein formal bestehende Möglichkeit ist jedoch insofern ohne Bedeutung, wenn staatliche Beamte bereits den einfachen Protest mit Gewalt unterdrücken. Offensichtlich hat der Widerstand darüber hinaus die Verhältnismäßigkeit 21 Es wird mitunter behauptet, dass die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte nicht durch die Rechtsprechung anerkannt seien. Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte hat aber mit Blick Artikel 26 der Amerikanischen Konvention für Menschrechte und des Protokolls von San Salvador die sich daraus ergebenden Ansprüche in den nachfolgenden Fällen geklärt: Lagos del Campo vs. Peru (31.8.17), Trabajador Cesados de Petroperú u. a. vs. Peru (23.11.17) und San Miguel Sosa u. a. vs. Venezuela (8.2.18), alle in Bezug auf das Recht auf Arbeit, Poblete Vilchez u. a. vs. Chile (8.3.18) und Cuscul Piraval u. a. vs. Guatemala (23.8.18), beide in Bezug auf das Recht auf Gesundheit, sowie Muelle Flores vs. Peru (6.3.19) in Bezug auf das Recht auf Sozialversicherung.
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zu wahren, ohne Dritte außerhalb des Einflussbereiches des Angreifers zu beeinträchtigen. Solche von der aggressiven Unterlassung des Staates nicht selbst beeinträchtige Dritte, die sich dennoch dem Protest anschließen, müssen zudem die Voraussetzungen der Nothilfe durch Dritte erfüllen (Ziffer 6 des Artikels 34 des StGB). 2. Notstand Der rechtfertigende Notstand ist in Ziffer 3 des Artikels 34 des StGB vorgesehen.22 Demnach ist gefordert, dass keine andere geeignete Möglichkeit besteht, um den durch das staatliche Unterlassen drohenden Schaden abzuwehren. Die fragliche Tat muss eine solche Eignung aufweisen, etwa weil sie die am wenigsten schädliche und angemessenste Form ist, die öffentliche Aufmerksamkeit auf den drohenden Schaden zu lenken, weil keine Möglichkeit besteht, um dieses Ziel auf eine andere Art und Weise zu erreichen, weil die Forderung ansonsten nicht zur Kenntnis genommen würde oder weil die Behörden die Notlage nicht wahrnehmen wollen. Wenn die elementaren Bedürfnisse nach Nahrung und Gesundheit nicht berücksichtigt werden und Gefahr für das Leben besteht, wenn es Trinkwasserverschmutzung gibt oder durch Unterernährung irreversible Schäden eintreten und die Behörden auf dahingehende Forderungen nicht eingehen, so ist es zwar weiterhin nicht zulässig, das Rathaus zu zerstören. Doch würde es unter diesen Umständen gerechtfertigt erscheinen, mit Straßensperrungen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und der Behörden auf jene elementaren Bedürfnisse zu lenken, auch wenn die daraus resultierende Behinderung übermäßig lange andauern und den Gebrauch von Grundstücken oder Geschäfte beeinträchtigen. Es handelt sich dann um die Anwendung von weniger schädlichen Mitteln, um die Aufmerksamkeit auf extreme Notlagen zu lenken. Häufig stellet sich drüber hinaus die Frage, ob auch allgemeine, nicht unmittelbar auf einem Unterlassen des Staates beruhende Mängel einen Notstand begründen können. In der Regel führen sich insofern ergebende Bedürfnisse nicht zu einem Notstand. Insbesondere wenn die Mängel durch Umstände wie Kriege, Epidemien oder Erdbeben herbeigeführt wurden, so macht es keinen Sinn, die Kriterien einer von politischen Maßnahmen verursachten und zu schweren Verstößen gegen die Menschenrechte führenden Notlage anzuwenden. Infolge von Katastrophen kann es aber selbst im Hinblick auf allgemeine Mängel zu Notstandsituationen kommen. Wenn etwa im Falle eines Erdbebens jemand sein Haus verlor, hat er zwar kein Recht, das Krankenhaus zu besetzen, jedoch kann nicht bestritten werden, dass ein vor Durst oder Hunger sterbender Junge sich die zwischen den Trümmern des Lebensmittelladens gefundenen Getränken oder Nahrungsmitteln aneignen darf. An dieser Stelle ist es nicht möglich, die in der Realität auftretende 22 „Wer ein Schaden verursacht, um einen nahe bevorstehenden größeren Schaden zu vermeiden, der sich außerhalb seines Einflussbereiches befindet …“
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Vielfalt von einschlägigen Konstellationen zu untersuchen. Die vorangehenden Überlegungen sollten aber genügen, die Komplexität der Probleme zu verdeutlichen, die sich insofern in Ländern wie Argentinien stellen.
IV. Schuld Wenn die Verhaltensweise der am Protest teilnehmenden Personen tatbestandsmäßig und rechtswidrig ist – und sei es lediglich im Hinblick auf eine Ordnungswidrigkeit – stellt sich schließlich noch die Frage eines möglichen Schuldausschlusses, wobei die Schuld im traditionellen normativen Sinne als Vorwerfbarkeit verstanden wird, sowohl im Hinblick auf die zumutbare Möglichkeit der Einsicht der Rechtswidrigkeit als auch auf den entschuldigenden Notstand. Wenn der Protest als unberechtigt betrachtet wird, weil angesichts der vorhandenen und tatsächlich geeigneten institutionellen Möglichkeiten zur Erfüllung der fraglichen Bedürfnisse eine Rechtfertigung ausgeschlossen ist, könnte ein Verbotsirrtum vorliegen, wenn die Akteure des Protests diese Möglichkeit nicht beachteten oder nicht daran glaubten, diese stünde ihnen zur Durchsetzung ihrer Forderungen tatsächlich zur Verfügung, oder wenn sie eine solche Möglichkeit aufgrund früherer Erfahrungen nicht für wirksam hielten. Insofern sich an Protesten normalerweise eine Vielzahl von Personen beteiligen, kann eine Nichtbeachtung institutioneller Möglichkeiten niemals generell unterstellt werden. Ein unvermeidbarer Verbotsirrtum kann unter Umständen lediglich hinsichtlich einiger Teilnehmer zu bejahen sein oder aber sogar hinsichtlich der Mehrheit, wohingegen wiederum andere Teilnehmer sich in einem vermeidbaren oder in gar keinem Irrtum befinden können, da ihnen verfügbare und wirksame institutionelle Mittel zur Geltendmachung ihrer Bedürfnisse bekannt sind. Somit muss die strafrechtliche Vorwerfbarkeit hinsichtlich jeder am Protest teilnehmenden Person gesondert betrachtet werden, also inwieweit sie begriffen hat, dass ihre Verhaltensweise strafrechtlich rechtswidrig war. In einigen Situationen kann selbst die behördliche Reaktion auf den Protesten einen Verbotsirrtum provozieren oder bestärken. Häufig werden Behörden vor Ort auf den Protest reagieren müssen, etwa durch eine Auflösung der Versammlung. Den Teilnehmern wird dann manchmal die Fähigkeit fehlen, die Unzulässigkeit ihres Verhaltens einzusehen. Denn der Staat tritt ihnen gegenüber selbst in Erscheinung, um einen bestimmten Konflikt zu lösen. So werden die Behörden etwa bei Straßensperrungen präsent sein, um die körperliche Unversehrtheit der Teilnehmer sicherzustellen. Unter Berücksichtigung des Umstands, dass hinsichtlich des Verbotsirrtums eine Parallelwertung in der Laiensphäre erforderlich ist, wird es für manche Teilnehmer oft schwer zu verstehen sein, dass der Staat einerseits zur Konfliktlösung und zum Schutz der Fordernden anwesend ist und zugleich deren Bestrafung bezwecken kann.
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Was den entschuldigenden Notstand anbelangt, so sind in Betracht kommende Konstellationen weniger wahrscheinlich, auch wenn eine Entschuldigung grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden kann. Zu denken ist beispielsweise daran, dass infolge völliger Untätigkeit der Behörden und einer damit einhergehenden absoluten Gleichgültigkeit der Öffentlichkeit eine Bewässerung der Felder wegen Wassermangel unmöglich gemacht wird und infolgedessen ein Ernteausfall unmittelbar bevorsteht. Die Akteure des Protests könnten sich infolgedessen dazu entschließen, ihnen nicht gehörendes Wasser umleiten, um ihren Lebensunterhalt und den ihrer – von Hunger und Elend bedrohten – Familien zu retten und dabei ein fremdes Grundstück zur Rettung ihres eigenen beeinträchtigen. Es handelt sich in diesem Falle um einen Konflikt zweier Rechtsgüter von gleicher Bedeutung, weshalb eine Rechtfertigung ausscheidet, bei dem jedoch das Verhalten wegen Notstand entschuldigt ist.
V. Politische Schlussfolgerungen In den vorstehenden Ausführungen wurde Sachverhalte dargestellt, bei denen sich das Strafrecht vor allem mit Fragen politischer Natur auseinandersetzen muss. Die Behandlung solcher Probleme aus rein strafrechtlicher Sicht wird meistens scheitern. Sofern eine Angelegenheit aus ihrem natürlichen Bereich herausgenommen und einem ungeeigneten Bereich (wie dem Strafrecht) zugeordnet wird, ist geradezu garantiert, dass eine Lösung verfehlt wird.23 Folglich besteht der beste Beitrag des 23
In anderen Arbeiten haben wir Stellung gegen die Anwendung der Kategorie oder des Begriffs von „Strafrecht“ bezogen, insofern unseres Erachtens die Strafe und das Recht – zumindest in Lateinamerika – sich in unvereinbarer und expliziter Art und Weise widersprechen, sobald ein Standpunkt der Menschenrechte berücksichtigt wird. Täglich werden in grausamen Gefängnissen, in welchen zudem (vor allem junge arme) Personen sogar häufig sterben (man muss insofern tatsächlich betonen, dass es sich um Personen handelt), die Menschenrechte und die grundlegende Menschenwürde durch die Strafe herabgewürdigt. Hervorzuheben ist etwa, dass in Brasilien täglich mehr als 30 junge Schwarze sterben; beim Aufstand von Altamira starben mehr als 60 Personen – fünfzehn mit durchgeschnittener Kehle – (wobei der Gouverneur des Amazonas, Alliierter von Bolsonaro, behauptete, dass „dort niemand heilig sei“, und er die Barbarei in den Gefängnissen und die Anzahl der Toten als etwas „Positives“ und „Nützliches“ für das Ökosystem rechtfertigte, nämlich als „ökologische“ Sterbefälle). Diese Beobachtungen verwahren sich gegen eine abstrakte strafrechtliche Theoretisierung (auch wenn wir in Deutschland einen akademischen Dialog über Strafrecht nur über Abstraktionen führen könne). Die Vorstellungen der deutschen Dogmatik, die in einiger Hinsicht so nützlich ist, kann an Nützlichkeit einbüßen, wenn dabei der Ernst der humanitären Situation außer Acht gelassen wird. Tobias Barreto, ein berühmter brasilianischer Philosoph, Dichter und Jurist, Mitglied der Schule von Recife, verglich die Aufgabe des Strafrechts (wir schlagen vor, diese Kategorie aufzugeben, das Konzept „Strafrecht“ nicht weiter zu benutzen und stattdessen den Begriff „Recht der Mäßigung der Strafe“ anzuwenden) mit jener des humanitären Völkerrechts. Wir teilen seine Auffassung. Unserer Meinung nach beruht die Aufgabe des lateinamerikanischen Strafrechtlers darin, der grausamen strafrechtlichen Barbarei in Lateinamerika eine „Grenze“ zu setzen, anstatt sie zu rationalisieren oder mit Theorien zu schmücken, die auf direkte oder indirekte Art und Weise Grausamkeit rechtfertigen. Aus diesem Grund lehnen wir es ab, weiter über einen „Strafrecht“ zu reden.
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Strafrechts zur Lösung von Konflikten sozialer Natur darin, Potentiale zur Einschränkung und Mäßigung der Strafgewalt zu stärken, indem deren Anwendung auf extreme Gewalttaten sowie auf jene Personen beschränkt bleibt, die den Protest als Gelegenheit zur Begehung von Straftaten nutzen.
Unserer Meinung nach sind die Tage dieser Kategorie (dieser Studienrichtung, dieser Disziplin, von einigen „Wissenschaft“ genannt) gezählt.
Preußenadler auf dem blauen Euro-Feld eines Kfz-Kennzeichens als Missbilligung der Europäischen Union – Strafbarkeit wegen Urkundenfälschung? Von Frank Zieschang Immer wieder haben sich Strafgerichte mit Fallkonstellationen zu beschäftigen, in denen Bürger „Personalausweise oder Kennkarten des Deutschen Reichs“,1 „Personenausweise“2 oder „Reichsführerscheine“3 benutzen. Hierbei erachten die Gerichte im Hinblick auf eine Strafbarkeit wegen Urkundenfälschung gemäß § 267 StGB insbesondere für maßgeblich, ob die Fälschung auf den ersten Blick erkennbar und damit die Urkundeneigenschaft zu verneinen ist.4 Schaut man sich die einschlägigen Konstellationen im Detail an, sind damit aber weitaus mehr Probleme rund um die Urkundenfälschung verbunden, denen im vorliegenden Beitrag nachgegangen werden soll. Der Jubilar Ulrich Sieber hat sich in seinen wissenschaftlichen Werken mit vielen neuen Fragestellungen grundlegend und weiterführend beschäftigt, jedoch auch die klassischen Bereiche des Strafrechts nie aus den Augen verloren.5 Mögen die hiesigen Ausführungen auf sein besonderes Interesse stoßen. Ausgangspunkt der Überlegungen soll ein Fall sein, den das OLG München im Jahr 2019 zu entscheiden hatte.6 Dem Urteil liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Der Angeklagte A befuhr mit seinem Kfz eine Straße in München. Bei einer Polizeikontrolle stellten die Beamten fest, dass bei beiden an seinem Fahrzeug angebrachten Kennzeichen das blaue Euro-Feld (Sternenkranz mit Erkennungsbuchstabe „D“) mit 1 OLG Bamberg BeckRS 2013, 01135; OLG Celle NStZ-RR 2008, 76; OLG München NStZ-RR 2010, 173; OLG München BeckRS 2018, 23716. 2 OLG Bamberg BeckRS 2014, 12279. 3 Etwa OLG Nürnberg NStZ-RR 2010, 108. 4 Von einer auf den ersten Blick erkennbaren Fälschung gehen aus: OLG Bamberg BeckRS 2013, 01135; OLG München NStZ-RR 2010, 173 (174); vgl. ferner auch OLG Stuttgart NStZ 2007, 527 (528 f.); dagegen im Einzelfall die Urkundeneigenschaft bejahend etwa OLG Bamberg BeckRS 2014, 12279; OLG Celle NStZ-RR 2008, 76 f.; OLG Nürnberg NStZ-RR 2010, 108 f.; OLG München BeckRS 2018, 23716. 5 Zu den Urkundendelikten vgl. Sieber, Computerkriminalität und Strafrecht, 2. Auflage 1980, S. 251 ff., 265 ff. 6 OLG München BeckRS 2019, 4553.
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einem Preußenadler überklebt war.7 A wusste auch von der Veränderung, wollte damit aber nur die Missachtung der Europäischen Union verdeutlichen. Das OLG München vertritt die Auffassung, dass zwar das Kennzeichen im Sinne des § 267 StGB verfälscht wurde, dem A jedoch die Absicht zur Täuschung im Rechtsverkehr fehle, da er lediglich seine Missbilligung der Europäischen Union zum Ausdruck bringen wollte. Daher scheide § 267 StGB aus. Mangels Täuschungsabsicht sei auch § 22 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Nr. 3 StVG (Kennzeichenmissbrauch) nicht verwirklicht. Daher komme lediglich eine Ordnungswidrigkeit nach der FZV in Betracht. Die Entscheidung bietet Anlass, sich zunächst näher mit den objektiven Voraussetzungen des § 267 StGB zu beschäftigen, wobei das von der Vorschrift geschützte Rechtsgut und die Rechtsnatur des § 267 StGB in die Betrachtung einzubeziehen sind. Doch zuerst bedarf es einiger Worte zur speziellen Art der möglicherweise hier in Rede stehenden Urkunde.
I. Beweiszeichen – zusammengesetzte Urkunde Bei gestempelten amtlichen Kennzeichen am Kfz handelt es sich um Beweiszeichen und damit um Urkunden.8 Nach überwiegender Auffassung fallen nicht nur Schriftstücke unter den Urkundenbegriff des § 267 StGB, sondern auch verkörperte Gedankenerklärungen, die durch Symbole oder Zeichen zum Ausdruck gebracht werden.9 Sehr häufig ergibt sich dabei die Gedankenerklärung erst aus der hinreichend festen Verbindung mit einem Gegenstand, sodass eine zusammengesetzte Urkunde vorliegt.10 Demgegenüber wird vereinzelt vertreten, nur aus sich selbst heraus verständliche Schriftstücke seien als Urkunden aufzufassen.11 Die Einbeziehung von Symbolen 7 Aus dem Urteil geht nicht eindeutig hervor, ob nur die Eurosterne oder zusätzlich auch der Erkennungsbuchstabe „D“ überklebt wurden. Zudem bleibt offen, ob A selbst oder ein Bekannter die Aufkleber angebracht hatte. Das Überkleben des Euro-Feldes ist keine Seltenheit; siehe zur Reichsflagge auf dem Euro-Feld AG Altenburg, Urt. v. 21. 4. 2017, 620 Js 40861/16 2 Cs, das sich mit § 22 StVG befasst und insofern eine Strafbarkeit verneint, sowie AG Zeitz, Urt. v. 7. 12. 2016, 13 Owi 739 Js 209364/16, das eine Ordnungswidrigkeit bejaht. Vgl. auch die Einstellungsverfügung der StA Bielefeld vom 10. 4. 2010, 46 Js 39/10. Es kommt auch vor, dass das blaue Euro-Feld etwa mit den Farben des Lieblingsfußballclubs, dem Logo des Autoherstellers, mit einem Sylt-Aufkleber oder schlicht mit schwarzer Folie überklebt wird. 8 Siehe etwa BGHSt 45, 197 (200); BGH NStZ 2014, 272; BGH NStZ 2018, 468. 9 BGHSt 9, 235 (236 ff.); BGHSt 13, 235 (239); Erb, in: Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band V, 3. Aufl. 2019, § 267 Rn. 41 ff.; Fischer, Strafgesetzbuch, 66. Aufl. 2019, § 267 Rn. 5; Rengier, Strafrecht Besonderer Teil II, 20. Aufl. 2019, § 32 Rn. 13. 10 Kindhäuser/Schramm, Strafrecht Besonderer Teil I, 9. Aufl. 2020, § 55 Rn. 33. 11 So etwa Otto, JuS 1987, 761 (762 f.); ders., Grundkurs Strafrecht: Die einzelnen Delikte, 7. Aufl. 2004, § 70 Rn. 9; Samson, JuS 1970, 369 (372).
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oder Strichen widerspreche dem Begriff der Urkunde und verstoße damit gegen Art. 103 Abs. 2 GG.12 Hierbei wird aber nicht hinreichend beachtet, dass der Urkundenbegriff die Einbeziehung von Beweiszeichen nicht ausschließt.13 Zudem sind Schriftzeichen letztlich auch nichts anderes als Symbole, die zur Übermittlung von Erklärungen benutzt werden.14 Ebenfalls die Historie spricht für eine weite Auslegung: So hatte der Gesetzgeber gerade nicht die Definition der Urkunde in § 247 Abs. 2 prStGB übernommen, die den Urkundenbegriff auf Schriften bezog, da man auch Beweiszeichen erfassen wollte.15 Zudem greift der Echtheitsschutz unabhängig davon, ob eine Gedankenerklärung schriftlich oder über Symbole fixiert wird.16 Wortlaut, Historie sowie Sinn und Zweck sprechen daher für eine Einbeziehung von Beweiszeichen in den Urkundenbegriff. Dementsprechend stellt das gestempelte amtliche Kennzeichen am Kraftfahrzeug zutreffend nach Rechtsprechung und Schrifttum eine zusammengesetzte Urkunde im Sinne des § 267 StGB dar.17 Davon geht auch das OLG München aus. Es beschäftigt sich dann aber nicht hinreichend intensiv damit, ob auch die konkret manipulierten Kennzeichen mit dem aufgeklebten Preußenadler sämtliche Merkmale des Urkundenbegriffs erfüllen.
II. Der Urkundenbegriff Bekanntlich versteht man unter einer Urkunde im Sinne des § 267 StGB eine verkörperte Gedankenerklärung, die zum Beweis im Rechtsverkehr geeignet und bestimmt ist und den Aussteller erkennen lässt.18 Es geht hierbei um die Perpetuierungs-, Beweis- und Garantiefunktion der Urkunde.19 Mit einem Kfz-Kennzeichen ist die Erklärung der Zulassungsstelle verbunden, dass das Fahrzeug unter dem Kennzeichen für einen Halter zum öffentlichen Verkehr zugelassen worden ist.20 Darüber hinaus ergibt sich aus dem blauen Euro-Feld im 12
Vgl. etwa Samson, JuS 1970, 369 (372). MüKo-StGB-Erb, § 267 Rn. 42. 14 MüKo-StGB-Erb, § 267 Rn. 45; Puppe, JR 1980, 18 (20). 15 Siehe Motive zum Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund S. 79; RGSt 17, 352 (354). 16 Vgl. auch Puppe/Schumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, NomosKommentar Strafgesetzbuch, 5. Aufl. 2017, § 267 Rn. 54. 17 Etwa BGHSt 45, 197 (200); BGH NJW 2018, 87 (88); BayObLG NJW 1998, 2917; Eisele, Strafrecht – Besonderer Teil 1, 5. Aufl. 2019, Rn. 806; Heine/Schuster; in: Schönke/ Schröder, Strafgesetzbuch, 30. Auflage 2019, § 267 Rn. 36a. 18 Siehe etwa nur BGHSt 45, 197 (200); BGH NStZ 2010, 703 (704); Fischer, § 267 Rn. 2; Nestler, ZJS 2010, 608. 19 Satzger, Jura 2012, 106. 20 Siehe zum gestempelten Kennzeichen am Kfz: BGHSt 45, 197 (200); BGH NJW 2018, 87 (88); Peters, JuS 2019, 33 (37); Trentmann, NZV 2014, 298 (301). 13
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Normalfall die Erklärung, dass es sich um ein Kennzeichen aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Union handelt, wobei der Buchstabe „D“ verdeutlicht, dass es insoweit um Deutschland geht. In dem vom OLG München zu beurteilenden Fall wurde dabei jedoch zumindest die Erklärung, dass das Kennzeichen aus einem Mitgliedstaat der EU herrührt, durch den Aufkleber auf dem Sternenkranz verdeckt. Das Kennzeichen ist von vornherein zum Beweis im Rechtsverkehr bestimmt. Problematisch sind aber die Beweiseignung und die Ausstellererkennbarkeit. 1. Die Beweiseignung Bei der Beweiseignung handelt es sich um ein objektives Merkmal.21 Hierbei ist zu untersuchen, ob die Gedankenerklärung zum Beweis für eine rechtserhebliche Tatsache geeignet ist. Die Erklärung muss objektiv geeignet sein, auf die Bildung der Überzeugung mitbestimmend einzuwirken.22 a) Die Notwendigkeit des Merkmals der Beweiseignung Teilweise wird das Erfordernis der Beweiseignung23 abgelehnt, da es konturensowie inhaltslos sei.24 Diese Ansicht verkennt jedoch, dass dem Merkmal eine wesentliche Bedeutung im Urkundenbegriff zukommt, indem § 267 StGB in bestimmten Fällen aufgrund Fehlens dieser Voraussetzung ausscheidet. Im Einzelnen: Nach ständiger Rechtsprechung und herrschender Meinung im Schrifttum schützt § 267 StGB die Sicherheit und Zuverlässigkeit des Rechtsverkehrs mit Urkunden.25 Der Begriff des Rechtsverkehrs ist dabei umfassend, indem er nicht nur den privaten, sondern vor allem auch den geschäftlichen, behördlichen und gerichtlichen Rechts21 BGH GA 1971, 180; BayObLG NJW 1981, 772 (773); OLG München NStZ-RR 2010, 173 (174). 22 OLG Bamberg BeckRS 2013, 01135; OLG Celle NStZ-RR 2008, 76 f. 23 Im Übrigen wird auch das Merkmal der Beweisbestimmung kritisch gesehen; siehe etwa die Kritik an beiden Merkmalen bei MüKo-StGB-Erb, § 267 Rn. 33 ff.; Krell, GA 2019, 325 (330, 334 ff.); Otto, JuS 1987, 761 (762); Puppe, Jura 1979, 630 (633 f., 636). Aber auch das subjektive Merkmal der Beweisbestimmung hat seine eigenständige Bedeutung: So gibt es nämlich Konstellationen, in denen ein Schriftstück erst nachträglich Beweisbedeutung erhält, etwa ein Liebesbrief in einem späteren Prozess. Der Rechtsverkehr ist auch dann zu schützen, wenn die Beweiserheblichkeit erst nachträglich entsteht. Es verhält sich ebenso wie bei der technischen Aufzeichnung gemäß § 268 Abs. 2 StGB („gleichviel ob ihr die Bestimmung schon bei der Herstellung oder erst später gegeben wird“); Kindhäuser/Schramm, BT I § 55 Rn. 25. 24 Siehe nur Otto, BT § 70 Rn. 18 ff. 25 Siehe etwa BGHSt 2, 50 (52); BGHSt 9, 44 (45); BGHSt 40, 203 (206); RGSt 50, 420 (421); Gössel/Dölling, Strafrecht Besonderer Teil 1, 2. Aufl. 2004, § 52 Rn. 1; Jäger, Examens-Repetitorium Strafrecht Besonderer Teil, 8. Aufl. 2019, Rn. 425; Heger, in: Lackner/ Kühl, Strafgesetzbuch, 29. Aufl. 2018, § 267 Rn. 1; Rengier, BT II § 33 Rn. 1.
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verkehr betrifft. Mit anderen Worten wird die Sicherheit des Rechtsverkehrs als Kollektivwert, als Allgemeinrechtsgut, geschützt.26 Es kann daher nicht überzeugen, wenn die Urkundenfälschung mitunter als individualschützendes Delikt aufgefasst wird.27 Die Befürworter einer solchen Sicht hingegen meinen, es bestehe ein eminentes Interesse aller Teilnehmer am Rechtsverkehr, von Scheinerklärungen verschont zu bleiben. Hierbei handele es sich um ein Interesse des Einzelnen, dem gegenüber die Urkunde gebraucht wird.28 Es gehe um den Schutz der individuellen Dispositionsfreiheit, also darum, dass der Einzelne davor geschützt wird, durch Vorlage unechter Urkunden im Rechtsverkehr zu für ihn nachteiligen Dispositionen veranlasst zu werden.29 Abgesehen davon, dass damit doch recht vage Begriffe benutzt werden, höhlt man letztlich durch eine solche Sicht den umfassenden Schutz des Rechtsverkehrs aus. Es würde vom jeweiligen Belieben des Adressaten der Urkunde abhängen, ob § 267 StGB eingreift oder nicht, denn er müsste in der Konsequenz auf seinen Schutz verzichten können.30 Das hat aber nichts mehr zu tun mit dem Schutz der Urkunde als Beweismittel im Rechtsverkehr, der personenunabhängig ist. Das Funktionieren des Rechtsverkehrs steht nicht im Belieben des Einzelnen, sondern ist ein Interesse der Allgemeinheit. Das entspricht auch der historischen Entwicklung der Urkundenfälschung31 und wird vom Wortlaut des § 267 StGB („Wer zur Täuschung im Rechtsverkehr …“) gestützt. Aus dem Umstand, dass in § 267 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StGB vom „Vermögensverlust großen Ausmaßes“ die Rede ist, folgt im Übrigen entgegen mancher Stimmen im Schrifttum nicht, dass § 267 StGB (auch) ein Vermögensdelikt ist.32 Zwar weist die Urkundenfälschung historisch bedingt eine gewisse Nähe zum Betrug auf, ist jedoch 26
Siehe Eisele, BT I Rn. 781; Klesczewski, Strafrecht Besonderer Teil, 2016, § 17 Rn. 4. Siehe zu einem individualschützenden Ansatz u. a. Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht Besonderer Teil, 3. Aufl. 2015, § 30 Rn. 1; MüKo-StGB-Erb, § 267 Rn. 2 ff.; Hoyer, in: Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band V, 9. Aufl. 2019, Vor § 267 Rn. 11 ff.; Kargl, JA 2003, 604 (609); NK-Puppe/Schumann, § 267 Rn. 8; Puppe, ZStW 130 (2018) 649 (662 f.). 28 NK-Puppe/Schumann, § 267 Rn. 4, 8. 29 MüKo-StGB-Erb, § 267 Rn. 2. 30 Siehe in diese Richtung Sk-StGB-Hoyer, § 267 Rn. 110 f. 31 Siehe nur Begründung zum E 1962, BTDrucks. IV/650, S. 473: Die eigentliche Aufgabe der Urkundenstraftaten liegt darin, das Vertrauen, das im Rechtsverkehr in die Urkunden und ähnliche Beweismittel gesetzt wird, zu schützen. Das will der E 1962 auch dadurch zum Ausdruck bringen, dass er die Urkundenstraftaten in den Abschnitt „Straftaten gegen die öffentliche Ordnung“ einstellt. Siehe auch die Begründung zum Entwurf 1936, S. 236, auf den die Änderungen des § 267 StGB durch die Strafrechtsangleichungsverordnung von 1943 (RGBl I 1943, 295) zurückgehen. Insoweit handelt es sich auch nicht um nationalsozialistisches Gedankengut. 32 So aber etwa Fischer, § 267 Rn. 1; Maier, in: Matt/Renzikowski, Strafgesetzbuch, 2. Aufl. 2020, § 267 Rn. 1; dagegen zu Recht MüKo-StGB-Erb, § 267 Rn. 4; Schönke/ Schröder-Heine/Schuster, § 267 Rn. 1a; Kargl, JA 2003, 604 (610 mit Fn. 65); Maurach/ Schroeder/Maiwald, Strafrecht Besonderer Teil. Teilband 2, 10. Aufl. 2012, § 65 Rn. 6; Wittig, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, Strafgesetzbuch, 4. Aufl. 2019, § 267 Rn. 2. 27
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eigenständig zu sehen, denn es geht dort nicht um Vermögensschutz. Hinzu kommt, dass es sich bei § 267 Abs. 3 StGB um eine bloße Strafzumessungsvorschrift handelt, welche für die Rechtsnatur der Urkundenfälschung nicht maßgeblich ist. Mit der Einführung der Regelbeispiele in § 267 StGB durch das 6. Strafrechtsreformgesetz vom 26. 1. 199833 wollte der Gesetzgeber lediglich an tat- oder täterbezogene Umstände anknüpfen, die nach der Rechtsprechung oder Literatur bereits auf der Grundlage des geltenden Rechts als besonders schwere Fälle gewertet werden und auch in anderen Strafzumessungsvorschriften bekannt sind,34 ohne dass auch nur ansatzweise ersichtlich ist, dass damit eine Änderung der Rechtsgutskonzeption bezweckt war. Es geht daher nach wie vor um den Schutz des Rechtsverkehrs als Allgemeinrechtsgut. Ausgehend davon ist festzustellen, dass es sich bei § 267 StGB um ein abstraktes Gefährdungsdelikt handelt.35 Es wird ein unabhängig vom Einzelfall für den Rechtsverkehr typischerweise gefährliches Verhalten pönalisiert.36 Zwar findet sich zum Teil die Auffassung, bei § 267 Abs. 1 Var. 3 StGB handele es sich um ein konkretes Gefährdungsdelikt.37 Hierbei berücksichtigt man aber nicht hinreichend, dass auch beim Gebrauchen keine Situation eingetreten sein muss, bei der es nur noch vom Zufall abhängt, ob das Rechtsgut beeinträchtigt wird oder nicht, was Kennzeichen der konkreten Gefahr ist.38 Denn der Täuschungsadressat muss lediglich die Möglichkeit haben, von der Urkunde Kenntnis zu nehmen, und das bedeutet nicht unbedingt, dass insbesondere der Täter die Situation nicht mehr beherrschen kann. Da somit insgesamt ein typischerweise gefährliches Verhalten in Rede steht, stellt sich das Problem, dass die Vorschrift selbst dann einschlägig ist, wenn keinerlei Gefahren für den Rechtsverkehr drohen, also bei Ungefährlichkeit im Einzelfall. Ein solches Verhalten mit Kriminalstrafe zu belegen, ist indes unvereinbar mit dem Schuldprinzip.39 De lege lata ist diese Problematik bei der Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale des § 267 StGB zu beachten. Insofern kann nun das Erfordernis der Beweiseignung zur sachgerechten Einschränkung der Vorschrift dienen: Dabei wird zwar im Grundsatz auf die abstrakte Eignung abgestellt.40 Daher ist es etwa unerheblich, wenn sich nachträglich offenbart, dass eine Urkunde tatsächlich gefälscht ist. Jedoch ist zur notwendigen Einschränkung des abstrakten Gefährlichkeitsdelikts bei Ungefährlichkeit im Einzelfall eine gewichtige Ausnahme zu machen: Ist die Manipulation der Urkunde sofort erkennbar und damit offensichtlich, 33
BGBl I, 164. BTDrucks. 13/8587, S. 42. 35 So auch Fischer, § 267 Rn. 1; Kindhäuser/Schramm, BT I § 55 Rn. 4. 36 Da ein bloßes Verhalten in Rede steht, ist es vorzugswürdig, von einem abstrakten Gefährlichkeitsdelikt zu sprechen. 37 Freund, Urkundenstraftaten, 2. Aufl. 2010, Rn. 4 mit Fn. 11, 12; Koch, in: Dölling/ Duttge/König/Rösser, Gesamtes Strafrecht, 4. Aufl. 2017, § 267 Rn. 2. 38 NK-Zieschang, § 315 Rn. 33. 39 Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, 1998, S. 377; NK-Zieschang, § 316 Rn. 4. 40 RGSt 67, 117 (119); RGSt 67, 246 (248). 34
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ist sie von vornherein zum Beweis im Rechtsverkehr ungeeignet. Es fehlt dann schon auf den ersten Blick die Beweiseignung. Dieses Erfordernis ist damit entgegen mancher Stimmen nicht überflüssig, sondern erfüllt eine wichtige Funktion zur Einschränkung des § 267 StGB. Dass in Fällen offensichtlicher Manipulationen die Beweiseignung fehlt, ist im Übrigen auch Auffassung der Rechtsprechung und des Schrifttums,41 ohne dass dies jedoch dogmatisch untermauert wird. b) Die Maßstabperson zur Bestimmung der Beweiseignung Es ist daher in jedem Einzelfall zu prüfen, ob die Beweiseignung aufgrund eines auf den ersten Blick erkennbaren Falsifikats zu verneinen ist. Wäre dies bei den mit dem Preußenadler versehenen Kennzeichen der Fall, läge mangels Beweiseignung schon keine Urkunde vor, sodass lediglich § 274 StGB bezüglich des Ursprungskennzeichens in Betracht käme. So könnte man möglicherweise argumentieren, dass es sich bei den Kennzeichen mit aufgeklebten Preußenadler um offensichtliche Manipulationen handele, da der Eindruck erweckt wird, die Zulassungsstelle, hier war es die Stadt München, sei Teil des Staates Preußen. Unterschiedlich beurteilt man, welche Maßstabperson für die Frage heranzuziehen ist, ob eine offensichtliche Manipulation vorliegt oder eben nicht.42 Zum Teil wird in der Rechtsprechung darauf abgestellt, ob das Falsifikat jedenfalls bei oberflächlicher Betrachtung oder bei einer solchen ohne ausreichenden Bildungs- und Informationshintergrund für ein Original gehalten werden kann.43 Mitunter wird zusätzlich die Sicht einer ausländischen Nichtamtsperson herangezogen.44 Auch findet sich die Auffassung, es sei auf den normalen Betrachter zu rekurrieren und dabei ebenfalls der ausländische Mitbürger sowie der Normalbürger im Ausland als Maßstab einzubeziehen.45 Es ist bereits erläutert worden, dass § 267 StGB einen umfassenden Schutz des Rechtsverkehrs mit Urkunden erreichen will. Dabei ist der Rechtsverkehr ein staatsunabhängiger Gemeinschaftswert.46 In der Konsequenz bedeutet dies, dass nicht nur der inländische, sondern auch der ausländische Rechtsverkehr als geschützt anzusehen ist,47 zumal sich der Rechtsverkehr nicht selten grenzüberschreitend gestaltet. 41
Siehe dazu etwa BayObLG NJW 1992, 3311 (3312); OLG Bamberg BeckRS 2013, 01135 mit Anm. Jahn, JuS 2013, 566; OLG München NStZ-RR 2010, 173 (174); Schäfer, NStZ 1999, 191 (192); Vormbaum, JR 2017, 503 (509). 42 Siehe dazu auch Fahrner, JA 2019, 499 (501 f.). 43 OLG Bamberg BeckRS 2014, 12279; OLG Celle NStZ-RR 2008, 76 (77); OLG München NStZ-RR 2010, 173 (174); OLG München BeckRS 2018, 23716. 44 OLG Bamberg BeckRS 2013, 01135; Jahn, JuS 2013, 566 (567). 45 OLG Nürnberg NStZ-RR 2010, 108 (109); siehe auch Krüger, NZV 2008, 611 (612). 46 Gribbohm, Strafgesetzbuch Leipziger Kommentar, Band VII, 11. Auflage 2005, § 267 Rn. 1; Maurach/Schroeder/Maiwald, BT 2 § 64 Rn. 9; Schroeder, NJW 1990, 1406 (1407). 47 Für den Schutz des ausländischen Rechtsverkehrs auch Schönke/Schröder-Heine/ Schuster, § 267 Rn. 1b; Matt/Renzikowski/Maier, § 267 Rn. 3.
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Mit dem Wortlaut des § 267 StGB ist das zu vereinbaren. Folglich ist nicht allein auf einen durchschnittlichen48 deutschen Betrachter abzustellen, sondern auch auf einen ausländischen, selbst wenn dieser nicht im Inland lebt. Gerade auch bei einem KfzKennzeichen kann dies besondere Bedeutung erlangen, man denke nur an Verkehrsunfälle, an denen Ausländer beteiligt sind. Daraus ergibt sich: Es existiert nicht nur welt-, sondern bereits europaweit eine Vielzahl unterschiedlicher Kennzeichen. Wappen befinden sich zum Beispiel auf dem österreichischen und schweizerischen Kfz-Kennzeichen. Einen (weißen) Doppeladler auf blauem Grund an der linken Seite des Kennzeichens weist das Kennzeichen von Albanien auf. Insbesondere für einen ausländischen Verkehrsteilnehmer führt daher ein Adler auf dem Kennzeichen nicht dazu, dass es sich auf den ersten Blick um eine offensichtliche Manipulation handelt. Das Kennzeichen enthält zudem nach wie vor Daten, die auch ein nichtmanipuliertes Kennzeichen aufweist, und entspricht diesem in der Form. Die Möglichkeit behördlichen Ursprungs des Kennzeichens scheidet jedenfalls nicht „ersichtlich“ aus, vor allem auch bei oberflächlicher Betrachtung.49 Insbesondere für einen ausländischen Verkehrsteilnehmer mag es schwierig sein, die Veränderung zu erkennen.50 Daher ist davon auszugehen, dass es sich nicht um eine offensichtliche Manipulation handelt, die auf den ersten Blick offenbar wird, sodass die Beweiseignung bei dem manipulierten Kennzeichen anzunehmen ist. 2. Die Erkennbarkeit des Ausstellers Nicht unproblematisch ist weiterhin, ob bei den manipulierten Kennzeichen überhaupt der Aussteller erkennbar war. Nur dann kann von einer Urkunde im Sinne des § 267 StGB ausgegangen werden. Unerheblich ist dagegen, wenn der erkennbare Aussteller tatsächlich gar nicht existiert.51 Maßgeblich ist dabei für die Frage, wer als Aussteller hervorgeht, entgegen der Körperlichkeitstheorie nicht, wer die Erklärung eigenhändig hergestellt hat, sondern, von wem die Erklärung geistig herrührt (Geistigkeitstheorie).52 Dabei können auch Behörden Aussteller von Urkunden sein.53 Die vereinzelt vertretene gegenteilige Sicht, wonach nur natürliche Personen 48 Da es um den Schutz des Rechtsverkehrs als Allgemeinrechtsgut geht, ist auf einen Durchschnittsbetrachter abzustellen. 49 Siehe zu diesen Aspekten OLG Bamberg BeckRS 2013, 01135; OLG München NStZRR 2010, 173 (174). 50 Vgl. OLG Nürnberg NStZ-RR 2010, 108 (109). 51 BGHSt 2, 50 f.; BGHSt 5, 149 (151); OLG Bamberg BeckRS 2014, 12279; OLG Celle NStZ-RR 2008, 76; MüKo-StGB-Erb, § 267 Rn. 148; Fahrner, JA 2019, 499 (501); Krüger, NZV 2008, 611; Rengier, BT II, § 33 Rn. 8. 52 Siehe etwa BGHSt 13, 382 (385); BGHSt 33, 159 (160); Böse, NStZ 2005, 370 (372); Joecks/Jäger, Strafgesetzbuch Studienkommentar, 12. Aufl. 2018, § 267 Rn. 33, 60; GSKoch, (Rn. 37), § 267 Rn. 13. 53 BGHSt 7, 149 (152); BGHSt 9, 44 (46); Satzger, Jura 2012, 106 (108).
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als Aussteller in Betracht kommen sollen,54 geht an der Rechtswirklichkeit vorbei, denn Behörden nehmen eigenständig am Rechtsleben teil. Bei den in Rede stehenden Kennzeichen war nun der Preußenadler auf das blaue Feld des Kennzeichens geklebt worden. Dies könnte bedeuten, dass „Preußen“ als Aussteller hervorgeht. Daran wiederum würde sich die Frage anschließen, ob nicht eine Konstellation sogenannter versteckter Anonymität vorliegt. In diesem Fall findet sich zwar eine Ausstellerangabe, sie kann jedoch ersichtlich nicht mit einer bestimmten Person in Beziehung gebracht werden, indem etwa ein Allerweltsname ohne individualisierbaren Zusatz oder ein Phantasiename genannt ist.55 Entsprechend fehlt die Ausstellererkennbarkeit auch bei der Benutzung historischer Namen. Insofern könnte hier das Aufkleben des Preußenadlers möglicherweise bedeuten, dass sich niemand an der Erklärung festhalten lassen will.56 Andererseits ist zu bedenken, dass die Kennzeichen nur in Bezug auf das blaue Feld manipuliert waren, hingegen nicht der übrige Teil. Entsprechend war auf dem Kennzeichen die nicht manipulierte Stempelplakette angebracht. Sie enthält gemäß § 10 Abs. 3 Satz 2 FZV u. a. das farbige Wappen des Landes, dem die Zulassungsbehörde angehört, und die Bezeichnung des Landes sowie der Zulassungsbehörde. Damit ist jedoch die Stadt München trotz des Preußenadlers als Zulassungsbehörde und Aussteller hinreichend erkennbar. Wenn auch der Aussteller sich nicht erst aus völlig außerhalb der Urkunde liegenden Umständen ergeben darf,57 ist es ausreichend, dass er unter Heranziehung von Begleitumständen ermittelt werden kann.58 Solche Umstände sind eben auch gesetzliche Regeln wie § 10 FZV. Somit ist festzuhalten, dass es sich bei den am Fahrzeug befindlichen manipulierten Kennzeichen um Urkunden im Sinne des § 267 StGB handelt. Das OLG München bejaht daher die Urkundeneigenschaft zu Recht, hätte sich aber mit den Detailproblemen durchaus intensiver auseinandersetzen müssen.
III. Die Tatmodalitäten – Verfälschen und Gebrauchen 1. Verfälschen Unter einem Verfälschen einer echten Urkunde gemäß § 267 Abs. 1 Var. 2 StGB versteht man vom Ausgangspunkt die nachträgliche Veränderung des gedanklichen 54
Otto, JuS 1987, 761 (766 f.); Samson, JA 1979, 658 (659 f.). Siehe OLG Bamberg BeckRS 2014, 12279; OLG Koblenz NStZ-RR 2008, 120 (121); Eisele, BT I, Rn. 803; Fischer, § 267 Rn. 11; Otto, BT § 70 Rn. 17. 56 Siehe dazu auch OLG Koblenz NStZ-RR 2008, 120 (121); Fahrner, JA 2019, 499 (501). 57 Schönke/Schröder-Heine/Schuster, § 267 Rn. 17; Weidemann, in: BeckOK, 42. Edition, 01. 05. 2019, § 267 Rn. 13. 58 BGH GA 1963, 16 (17); Lackner/Kühl/Heger, § 267 Rn. 14; Zieschang, in: Laubenthal (Hrsg.), Paulus-FG, 2009, S. 197 (201). 55
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Inhalts und damit der Beweisrichtung der Urkunde.59 Es wird der Eindruck erweckt, dass die Urkunde bereits von vornherein den ihr erst nachträglich beigelegten Inhalt gehabt hat.60 Der Inhalt scheint vom Aussteller der Urkunde herzurühren.61 Hier nun wurde nur am blauen Teil des Kennzeichens eine Veränderung vorgenommen, im Übrigen aber nicht. Möglicherweise blieben daher der gedankliche Inhalt und die Beweisrichtung unverändert. So hat der BGH etwa entschieden, dass eine Strafbarkeit nach § 267 Abs. 1 Var. 2 StGB ausscheidet, wenn jemand das Kfz-Kennzeichen mit einer farblosen Flüssigkeit beschichtet, wodurch bei Blitzlichtaufnahmen eine so starke Reflexion auftritt, dass das Kennzeichen nicht erkennbar ist.62 Das Kfz-Kennzeichen enthalte nicht die Erklärung der fortwährenden uneingeschränkten Ablesbarkeit. Andererseits ist anerkannt, dass nicht nur beim Austausch von Kennzeichen, sondern auch beim Überkleben von Zahlen und Buchstaben ein Verfälschen vorliegt.63 Mit dem am Fahrzeug angebrachten gestempelten Kfz-Kennzeichen ist wie dargelegt vor allem die Gedankenerklärung verbunden, dass dieses Fahrzeug für einen Halter von der Zulassungsstelle zum öffentlichen Verkehr unter einem bestimmten Kennzeichen zugelassen wurde. Darin erschöpft sich jedoch der Erklärungsgehalt nicht. Aufgrund des zwingenden zusätzlichen blauen Feldes mit Sternenkranz geht nämlich auch die Erklärung einher, dass es sich um ein Kennzeichen aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Union handelt.64 Darauf bezieht sich zudem die Beweiseignung und -bestimmung im Rechtsverkehr. Anders als etwa beim bloßen Nachzeichnen der Buchstaben und Ziffern oder beim farbigen Umranden des Kennzeichens65 wird durch den Preußenadler-Aufkleber, der jedenfalls den Sternenkranz überdeckt, der Gedankeninhalt und die Beweisrichtung dahingehend verändert, dass es sich nicht um ein Kennzeichen eines EU-Mitgliedstaates handele. Es erfolgt eine Veränderung der Beweisrichtung bezüglich der Herkunft des Kennzeichens.66 Dass sich bei Prüfung des Kennzeichens schon aus diesem selbst die Unwahrheit dieser Erklärung ergibt – so geht die Stadt München als Zulassungstelle hervor, also eine Stadt in Deutschland, das Mitgliedstaat der EU ist – ändert nichts daran,
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BGHSt 45, 197 (201 f.); OLG Köln NStZ 2010, 520 (521). BGHSt 9, 235 (238); BGH GA 1963, 16 (17). 61 Matt/Renzikowski/Maier, § 267 Rn. 80. 62 BGHSt 45, 197 (202); BayObLG NZV 1999, 213 (214); Krack, NStZ 2000, 423; Kudlich, JZ 2000, 426. 63 BGHR § 267 Abs. 1 Urkunde 2; BayObLG NZV 1999, 213 (214). 64 Mit dem Erkennungsbuchstaben (§ 10 Abs. 10 FZV: Unterscheidungszeichen für den Zulassungsstaat) ist die Erklärung verbunden, um welchen konkreten Mitgliedstaat der EU es geht. 65 Vgl. AG Altenburg, Urt. v. 21. 4. 2017, 620 JS 40861/16 2 Cs. 66 Anders die Einstellungsverfügung der StA Bielefeld vom 10. 4. 2010, 46 Js 39/10: Beim Überkleben der EU-Flagge verändere sich die gedankliche Erklärung und die Beweisrichtung nicht. Hierbei wird aber der eigenständige Aussagegehalt des Euro-Feldes missachtet. 60
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dass die Erklärung tatsächlich inhaltlich modifiziert wurde.67 Damit ist eine Veränderung der Beweisrichtung und folglich ein Verfälschen gegeben.68 Der Beweisgehalt ist ein anderer als zuvor. 2. Gebrauchen Im Fall des OLG München war nicht sicher, ob der Angeklagte selbst die Preußenadler angebracht hatte. Sollte dies nicht der Fall sein, hat er aber zumindest von der verfälschten Urkunde gemäß § 267 Abs. 1 Var. 3 StGB Gebrauch gemacht. Eine Urkunde wird gebraucht, wenn sie demjenigen, der durch sie getäuscht werden soll, so zugänglich gemacht wird, dass dieser die Möglichkeit hat, die unechte oder verfälschte Urkunde wahrzunehmen.69 Ausgehend von diesen Grundsätzen genügt für das Gebrauchen schon, dass jemand mit einem gefälschten Kennzeichen am Straßenverkehr teilnimmt.70 Der Beweisadressat muss nämlich keine bestimmte individualisierbare Einzelperson sein. Der Angeklagte hatte ausweislich des Sachverhalts mit dem Fahrzeug am Straßenverkehr teilgenommen und somit zumindest die dritte Variante des § 267 Abs. 1 StGB verwirklicht.
IV. Der subjektive Tatbestand des § 267 Abs. 1 StGB Auch das OLG München bejaht den objektiven Tatbestand und zudem den Vorsatz, indem es ausführt, der Angeklagte wusste von der Veränderung und benutzte das Fahrzeug in der Kenntnis hiervon. Der 4. Strafsenat des OLG München meint aber, es fehle die Absicht zur Täuschung im Rechtsverkehr. Der Angeklagte habe keine andere Person zu einem rechtserheblichen Verhalten veranlassen wollen. Vielmehr wollte er mit dem Anbringen des Preußenadlers seine Missbilligung der Europäischen Union zum Ausdruck bringen. Auch in anderen Entscheidungen wird die Täuschungsabsicht in vergleichbaren Fällen in Zweifel gezogen, wenn jemand lediglich seine Gesinnung demonstrieren oder den kontrollierenden Polizeibeamten nur provozieren wollte.71 Ebenfalls im Schrifttum findet sich die Auffassung, die Täuschungsabsicht fehle, falls der Betreffende etwa den Gebrauch eines „Reichsführerscheins“ nur als „Jux“ verstehe.72 67 Zudem wurde bereits erläutert, dass es sich trotz der Verwendung des Preußenadlers nicht um eine offensichtliche Manipulation handelt und damit die Beweiseignung gegeben ist; siehe II 1. b). 68 Gleichzeitig liegt damit ein Herstellen einer unechten Urkunde im Sinne von § 267 Abs. 1 Var. 1 StGB vor. 69 BGHSt 36, 64 (65). 70 BGHSt 18, 66 (70 f.); BGH BeckRS 2017, 103450. 71 OLG Bamberg BeckRS 2013, 01135; vgl. auch OLG München NStZ-RR 2010, 173 (174); siehe aber auch OLG Bamberg BeckRS 2014, 12279. 72 Krüger, NZV 2008, 611 (612).
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Grundsätzlich bedeutet Täuschungsabsicht, dass durch den Gebrauch der Urkunde bei einem anderen ein Irrtum über die Echtheit oder Unverfälschtheit herbeigeführt und dieser dadurch zu einem rechtserheblichen Verhalten veranlasst werden soll.73 Der Täter muss sich nicht vorstellen, dass eine ganz bestimmte Person getäuscht wird; es genügt, irgendjemanden irreführen zu wollen und zu einem rechtserheblichen Verhalten zu veranlassen.74 Hier war sich der Angeklagte nun bewusst, dass das Kennzeichen gefälscht ist. Mit dem Überkleben des Euro-Feldes war ihm aber damit auch gleichzeitig gewiss, dass das Kennzeichen am Kfz in seiner Erklärung und Identifizierbarkeit dahingehend, dass es aus einem Mitgliedstaat der EU stammt, verändert ist. Somit fragt sich, welche Vorsatzform das Merkmal „zur Täuschung im Rechtsverkehr“ fordert. Vereinzelt wird dolus directus 1. Grades verlangt,75 also ein Erstreben. Die Rechtsprechung und überwiegende Ansicht im Schrifttum lassen dagegen dolus directus 2. Grades als Gewissheitsvorstellung genügen.76 Mitunter erachten einzelne Stimmen im Schrifttum schon dolus eventualis für ausreichend.77 Insofern gibt der Wortlaut der Norm („zur Täuschung“) keine sicheren Anhaltspunkte. Die systematische Sicht ist wenig ergiebig, da es jeweils von dem konkret in Rede stehenden Delikt abhängt, wie das besondere subjektive Merkmal auszufüllen ist.78 Allgemeingültige Aussagen gibt es insofern nicht. In historischer Sicht lässt sich feststellen: Das seit 1943 einaktige Delikt des § 267 StGB, wonach das Herstellen, Verfälschen oder Gebrauchen zur Tatbestandsverwirklichung jeweils als solches schon genügt, sollte gerade durch das Erfordernis der Täuschungsabsicht neben dem Vorsatz wiederum eine gewisse Einschränkung erfahren.79 Dem widerspricht es, für dieses Merkmal schon dolus eventualis genügen zu lassen. Zwar wird zugunsten der Einbeziehung des Eventualvorsatzes angeführt, dass damit der professionelle Fälscher zuverlässig erfasst werden könne, da er weder dolus directus 1. Grades noch 2. Grades aufweisen müsse.80 Insofern ist jedoch zu bedenken, dass der professionelle Fälscher regelmäßig die Fälschungen aufgrund eines konkreten Auftrags erstellt, sodass er sich im Normalfall darüber gewiss ist, 73 Siehe BGHSt 5, 149 (150 f.); BGHSt 33, 105 (109); Joecks/Jäger, § 267 Rn. 98; Wessels/Hettinger/Engländer, Strafrecht Besonderer Teil, 43. Auflage 2019, Rn. 854. 74 BGHSt 5, 149 (151 f.). 75 So ursprünglich BayObLG NJW 1967, 1476 (1477); Klesczewski, BT § 17 Rn. 51; Vormbaum, GA 2011, 167 ff. (zumindest für das Herstellen und Verfälschen). 76 BGH NStZ 1999, 619 (620); BayObLG NJW 1998, 2917 (unter Aufgabe von BayObLG NJW 1967, 1476); OLG Bamberg BeckRS 2013, 01135; Cramer, JZ 1968, 30 (33); Dzatkowski, JA 2019, 36 (37). 77 Erb GA 1999, 344 (345 f.); Schönke/Schröder-Heine/Schuster, § 267 Rn. 91. 78 Siehe Zieschang, Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2017, Rn. 177. 79 Siehe Begründung zum E 1936, S. 238; Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch, Begründung, Besonderer Teil, 1909, S. 790 f.; vgl. auch Vormbaum, GA 2011, 167 (172 f.). 80 Siehe etwa MüKo-StGB-Erb, § 267 Rn. 209; Schönke/Schröder-Heine/Schuster, § 267 Rn. 91; NK-Puppe/Schumann, § 267 Rn. 104.
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dass diese auch eingesetzt werden. Hinzu kommt, dass für den Fälscher eine Strafbarkeit nach §§ 273, 274, 275, 276 StGB in Betracht kommen kann. Darüber hinaus ist an eine mögliche Strafbarkeit wegen Teilnahme an den Taten des Auftraggebers zu denken. Folglich besteht kein Bedürfnis, auch dolus eventualis ausreichen zu lassen. Umgekehrt kann mit der Nichteinbeziehung des dolus eventualis in die Täuschungsabsicht die Strafbarkeit eines Verteidigers, der dem Gericht Urkunden vorlegt, die er von seinem Mandanten erhalten hat und an dessen Echtheit er zweifelt, mangels Täuschungsabsicht sachgerecht ausgeschieden werden.81 Hinzu kommt, dass § 267 StGB ein abstraktes Gefährdungsdelikt darstellt, das die Strafbarkeit durchaus in das Vorfeld verlagert. Dann aber reicht zur gebotenen Einschränkung für die Täuschungsabsicht dolus eventualis nicht aus. Auf der anderen Seite sprechen gegen eine Begrenzung allein auf dolus directus 1. Grades Sinn und Zweck des § 267 StGB, der den Beweisverkehr mit Urkunden schützen soll. Wenn nämlich der Täter im Sinne von dolus directus 2. Grades sicher weiß, dass sein Verhalten zur Störung des Beweisverkehrs mit Urkunden im Rechtsverkehr führt, erscheint der Schutz des Rechtsverkehrs ebenso erforderlich wie in dem Fall, dass der Täter die Täuschung erstrebt. Das spricht dafür, für die Täuschungsabsicht nicht notwendig dolus directus 1. Grades zu verlangen, sondern auch den dolus directus 2. Grades einzubeziehen. Wenn nun aber der Angeklagte sicher wusste, dass die Identifizierung beeinträchtigt ist, weist er dolus directus 2. Grades auf. Das OLG München meint jedoch, der Täter wollte nur seine Missbilligung über die Europäische Union zum Ausdruck bringen, ein anderer sollte nicht zu einem rechtserheblichen Verhalten veranlasst werden. Insoweit ist jedoch übersehen, dass es bereits ausreichend ist, wenn der Täter die Vorstellung hat, mit der unechten oder verfälschten Urkunde irgendwie auf das Rechtsleben einzuwirken.82 Das muss zudem nicht der einzige Zweck sein.83 Die Täuschungsabsicht braucht noch nicht einmal das dominierende Motiv darstellen. Dementsprechend hat das BayObLG zu Recht die Täuschungsabsicht beim Austauschen von Kfz-Kennzeichen bejaht, selbst wenn dies primär zum Scherz oder aus Imponiergehabe erfolgt,84 denn der Täter weiß sicher, dass er die Identifizierungsmöglichkeiten des Fahrzeugs beeinträchtigt. Auch wenn in erster Linie auf einen außerrechtlichen Effekt abgezielt wird, liegt die Täuschungsabsicht vor, falls damit als sicherer Nebeneffekt eine Be-
81 Siehe zu dieser Konstellation BGHSt 38, 345 (350 f.), der dies als Problem des Eventualvorsatzes ansieht; vgl. zu der Entscheidung des BGH u. a. Beulke, JR 1994, 116; Fahl, JA 2004, 624 (629); Otto, JZ 2001, 436 (437 f.); Puppe, JZ 1997, 490 (493 f.); Scheffler, StV 1993, 470; Wohlers, StV 2001, 420. 82 BGHSt 33, 105 (109); Rengier, BT II § 33 Rn. 40. 83 BGH LM § 267 Nr. 18. 84 BayObLG NJW 1998, 2917 f.; Geppert, JK 99, StGB § 267/25; Lackner/Kühl/Heger, § 267 Rn. 25.
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einträchtigung des Beweisverkehrs einhergeht.85 Insofern denke man wiederum nicht nur an amtliche Stellen wie die Polizei oder an deutsche Mitbürger, sondern auch an ausländische Verkehrsteilnehmer.86 Es kann daher nicht überzeugen, wenn das OLG München die Täuschungsabsicht verneint, denn der Täter weiß sicher, dass er die Identifizierung des Fahrzeugs beeinträchtigt und damit auf das Rechtsleben einwirkt. Die Ablehnung der Strafbarkeit des Angeklagten gemäß § 267 Abs. 1 StGB geht daher fehl.
V. Abschließende Hinweise Festgehalten werden kann somit, dass der Angeklagte richtigerweise wegen Urkundenfälschung zu verurteilen gewesen wäre. Der mit dem Überkleben gleichzeitige verwirklichte § 274 StGB ist vom Unrechtsgehalt des § 267 Abs. 1 Var. 2 StGB richtigerweise mit abgegolten, sodass § 274 StGB von § 267 StGB konsumiert wird.87 Da der Angeklagte § 267 StGB verwirklicht hat, erübrigt sich ein Eingehen auf § 22 StVG, denn dieser tritt aufgrund seiner formellen Subsidiaritätsklausel hinter § 267 StGB zurück.88 Unabhängig davon bleibt aber anzumerken: Richtig ist, dass das OLG München ebenfalls mit § 22 Abs. 2 StVG die Täuschungsabsicht verbin-
85 BayObLG NJW 1998, 2917: Die zuverlässige Identifizierbarkeit von Fahrzeugen aufgrund ihrer Kennzeichen ist für die Belange des Straßenverkehrs von „elementarer Wichtigkeit“. 86 Das AG Altenburg, Urt. v. 21. 4. 2017, 620 JS 40861/16 2 Cs, meint, die Täuschungsabsicht (bei § 22 StVG) könnte vorliegen, wenn der Betreffende das Fahrzeug im Ausland benutzen wollte, indem die Herkunft verschleiert wird, lehnt aber in casu Anhaltspunkte für die Benutzung im Ausland ab. Obwohl sich das OLG München (insbesondere bei § 22 StVG) sehr stark an die Begründung des AG Altenburg anlehnt, bleibt dieser Aspekt in der Entscheidung des OLG München unbeachtet. Unabhängig davon gilt: Geschützt wird von § 267 StGB zwar wie erläutert ebenfalls der Rechtsverkehr im Ausland, aber natürlich auch schon derjenige mit Deutschen und Ausländern im Inland; insoweit ist dem Angeklagten bewusst, dass darauf durch die Manipulation eingewirkt wird. 87 Zutreffend Hohmann/Sander, Strafrecht Besonderer Teil II, 2. Aufl. 2011, § 17 Rn. 57; Maurach/Schroeder/Maiwald, BT 2 § 65 Rn. 79. 88 Aktuell und für die Zukunft ist zudem hinzuweisen auf den das 58. StrÄG vom 12. 6. 2020 (Strafrechtlicher Schutz bei Verunglimpfung der Europäischen Union und ihrer Symbole, BGBl I, S. 1247), das u. a. in § 90c Abs. 2 StGB es unter Strafe stellt, wenn eine öffentlich gezeigte Flagge der Europäischen Union unkenntlich gemacht wird. Dabei wird nach der Gesetzesbegründung unter der Europäischen Flagge der Kreis der goldenen Sterne auf azurblauem Hintergrund verstanden. Bei dem Merkmal „öffentlich“ komme es nicht auf einen hoheitlichen Bezug an, es genüge, wenn sie von jedermann gezeigt wird. Für die Öffentlichkeit reiche es, „wenn die Flagge so angebracht ist, dass sie grundsätzlich für jedermann sichtbar ist, ohne dass es auf die tatsächliche Wahrnehmung ankommt“; BTDrucks. 19/14378, S. 8. Darunter lässt sich auch das Verdecken der Flagge der EU auf dem Kfz-Kennzeichen bei einem im Straßenverkehr geführten Fahrzeug subsumieren.
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det.89 Nur ist diese entgegen der Auffassung des OLG vorliegend ebenso wie bei § 267 StGB gegeben. Die Frage, ob bei der Verwendung von manipulierten Kfz-Kennzeichen oder auch etwa von „Reichsführerscheinen“ und „Kennkarten des Deutschen Reichs“ eine Strafbarkeit wegen Urkundenfälschung in Betracht kommt, kann somit nicht pauschal beantwortet werden. Es hängt jeweils von der Ausgestaltung der Falsifikate im Einzelfall ab, ob die mit dem Urkundenbegriff verbundenen Voraussetzungen erfüllt sind. Zudem bedarf es einer gründlichen Prüfung der Erfordernisse des subjektiven Tatbestands und hier insbesondere der Täuschungsabsicht.
89 Ebenso etwa OLG Naumburg BeckRS 2012, 5938; OLG Stuttgart VRS 36, 306; AG Altenburg, Urt. v. 21. 4. 2017, 620 JS 40861/16 2 Cs; Blum, in: Haus/Krumm/Quarch, Gesamtes Verkehrsrecht, § 22 StVG Rn. 23.
Zur Risikoverteilung zu Lasten des Opfers im Schweizer Betrugstatbestand Von Nadine Zurkinden
I. Die Arglisthürde beim Betrug – eine Schweizer Eigenart zum Nachteil der Opfer? Der Jubilar, dem ich auf diesem Weg ganz herzlich gratuliere, interessiert sich unter anderem für Eigenarten der Strafrechtsordnungen anderer Länder. In einem groß angelegten Projekt, zu dem ich mit Schweizer Länderberichten beitragen durfte, untersucht er rechtsvergleichend die Grundlagen des Strafrechts.1 Eine Schweizer Eigenart stellt die sogenannte Arglisthürde beim Betrug dar. Eine bloße Täuschung reicht in der Schweiz nicht aus, um den Betrugstatbestand zu erfüllen. Die getäuschte Person soll sich vielmehr eigenverantwortlich selbst vor Betrügereien schützen. Auch ein Betrugsopfer in Deutschland soll nicht durch jede Täuschung strafrechtlich relevant getäuscht werden. In der Deutschen Lehre gibt es diverse Vorschläge, unter welchen Tatbestandselementen eine Opfermitverantwortung berücksichtigt werden kann. Angesetzt wird beim Tatsachenbegriff, bei der Täuschungshandlung, beim Irrtum, bei der Kausalität zwischen Täuschung und Irrtum, bei der Kausalität zwischen Irrtum und Vermögensverfügung, bei der objektiven Zurechnung und beim Vermögensschaden. Außerdem wird die Opfermitverantwortung (wie auch in der Schweiz) auch bei der Strafzumessung2 berücksichtigt.3 Schaut man sich die Statistiken an, scheint das Deutsche Betrugsopfer dennoch deutlich besser geschützt zu sein als das Schweizer Betrugsopfer. Pro 100.000 Einwohnern wurden im Jahr 2018 in der Schweiz nur rund 24 Personen wegen Betrugs verurteilt, während es in Deutschland rund 95 Personen waren, was fast dem Vier1 Alle Länderberichte lassen sich auf der Website infocrim.org finden und miteinander vergleichen. Dort finden sich auch weitere Informationen zum Projekt, zum Projektleiter, den Projektleiterinnen, den Autoren und Autorinnen und den gedruckten Veröffentlichungen. 2 Basler Kommentar-Maeder/Niggli, Strafrecht II, 4. Aufl., 2019, Art. 146 StGB N 122. 3 Ackermann, in: Heinrich/Jäger/Achenbach/Amelung/Bottke/Haffke/Schu¨ nemann/Wolter (Hrsg.), Roxin-FS 2011, S. 962 mit zahlreichen Nachweisen; eingehende Analyse aus Schweizer Perspektive und Nachweise bei Sägesser, Opfermitverantwortung beim Betrug, 2014, N 42 ff.; Thommen, ZStrR 2008, 17 (18).
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fachen entspricht.4 Es ist anzunehmen, dass die statistischen Unterschiede nicht darauf zurückzuführen sind, dass es in der Schweiz weniger kriminelle Energie als in Deutschland gibt. Wahrscheinlicher ist, dass die bereits erwähnte Schweizer Arglisthürde dazu führt, dass dasselbe Tatvorgehen in Deutschland zu einer Verurteilung wegen Betrugs, hingegen in der Schweiz zu einem Freispruch führen kann. Die Unterschiede im Deutschen und Schweizer Betrugstatbestand sind auf Differenzen in der Kriminalpolitik zurückzuführen.5 Die beiden Länder haben das Risiko eines Erfolgseintritts in ihrer jeweiligen Gesetzgebung unterschiedlich verteilt. Beim Massenbetrug resultiert daraus in der Schweiz eine besondere Herausforderung, denn die Opfermitverantwortung muss für eine Strafbarkeit grundsätzlich bei jedem einzelnen Opfer geprüft werden. Derweil können die Täter darauf hoffen, in einigen Fällen ungestraft davon zu kommen, weil sich die Opfermitverantwortung nicht bei jedem Opfer ausschließen lässt. Es stellt sich deswegen die Frage, ob das Opfer in der Schweiz nicht gerade bei Massentaten denselben Schutz verdient, wie das Deutsche Betrugsopfer und die Täter entsprechend bestraft werden sollten. Der Fokus des Beitrags liegt dabei auf dem Schweizer Recht. Ein Rechtsvergleich würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. In diesem Beitrag wird zunächst die Risikoverteilung zwischen Opfer und Täter im Schweizer Betrugstatbestand dargelegt (II.). Dann wird den Gründen für diese Risikoverteilung nachgegangen (III.). Schließlich wird für einen höheren Opferschutz plädiert, der dadurch erreicht werden soll, dass Arglist aus der Täterperspektive (welche Opfergruppe wurde generell anvisiert?) zu bestimmen ist, unabhängig vom konkreten Opfer (IV.).
II. Risikoverteilung im Betrugstatbestand der Schweiz 1. Risikoverteilung durch den Gesetzgeber Der Betrug ist ein Erfolgsdelikt.6 Jedem Erfolg geht das Setzen eines Risikos voraus, das sich schließlich verwirklicht.
4 In absoluten Zahlen waren es in Deutschland 2018 78.854 Verurteilungen wegen Betrugs, in der Schweiz waren es 2.058 Urteile. Die jährlichen Verurteilungszahlen des Schweizer Bundesamts für Statistik sind hier abrufbar: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/ kriminalitaet-strafrecht/strafjustiz/jugend-erwachsenenurteile.html; die Statistik des Deutschen statistischen Bundesamts hier: https://www.destatis.de/DE/Themen/Staat/Justiz-Rechtspflege/ Tabellen/verurteilte-strafart.html (Websites abgerufen im Januar 2020). 5 So sieht etwa Cassani, ZStrR 1999, 152 (174) das Tatbestandselement der Arglist als kriminalpolitisches Programm. 6 Basler Kommentar-Maeder/Niggli, Strafrecht II, 4. Aufl., 2019, Art. 146 StGB N 152; Jean-Richard, in: Cavallo/Hiestand/Blocher/Arnold/Käser/Caspar/Ivic (Hrsg.), Donatsch-FS, 2012, S. 77.
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Das Recht und insbesondere das Strafrecht regelt ganz generell die Risikoverteilung zwischen verschiedenen Akteurinnen und Akteuren bzw. zwischen Täter und Opfer.7 Wer ein Risiko für ein Rechtsgut verantwortet, soll grundsätzlich auch die Verantwortung dafür tragen, wenn sich ein Risiko verwirklicht.8 Der Betrug gilt als Beziehungsdelikt.9 Sein Gelingen hängt vom Zusammenspiel zwischen der täuschenden und der getäuschten Person ab. Dies macht die Risikoverteilung bzw. die strafrechtliche Wertung der Verantwortung einer Risikoverwirklichung besonders schwierig. Der schweizerische Gesetzgeber hat durch die Tathandlung der Täuschung zunächst der täuschenden Person die Verantwortung einer Risikoverwirklichung zugewiesen, hat diese Verantwortung mit dem Arglist-Merkmal dann aber in Richtung der getäuschten Person verschoben.10 Laut Cassani „deutet der Begriff der Arglist auf die Essenz des Betruges, die Komplementarität von Täter- und Opferverhalten, hin.“11 2. Unschärfe der Arglist Was „arglistig“ bedeutet, ergibt sich nicht ohne weiteres aus dem Gesetzestext, da er den Begriff nicht näher definiert.12 Aus den Materialien wird ersichtlich, dass die Bedeutung des Begriffs „arglistig“ umstritten war. Einigkeit bestand nur darüber, dass eine einfache Lüge nicht für die Strafbarkeit reichen sollte. Gleichzeitig sollte der Tatbestand aber auch nicht so eng gefasst werden, wie es in Frankreich durch die für Erfüllung des Betrugstatbestands verlangten manoevres frauduleuses der Fall ist.13 Da weder das Gesetz noch die Materialien den Begriff „arglistig“ definieren, obliegt seine Konkretisierung und damit auch die Risikoverantwortungsverteilung zwischen täuschenden und getäuschten Personen den Gerichten.
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Sägesser, Opfermitverantwortung beim Betrug, 2014, N 365. Sägesser, Opfermitverantwortung beim Betrug, 2014, N 365 m.w.Nw. 9 Schultz, ZStrR 1956, 171 (172). 10 Sägesser, Opfermitverantwortung beim Betrug, 2014, N 366. 11 Cassani, ZStrR 1999, 152 (153). 12 Jean-Richard, in: Cavallo/Hiestand/Blocher/Arnold/Käser/Caspar/Ivic (Hrsg.), Donatsch-FS, 2012, S. 80. 13 Jean-Richard, in: Cavallo/Hiestand/Blocher/Arnold/Käser/Caspar/Ivic (Hrsg.), Donatsch-FS, 2012, S. 80 ff. m.w.Nw. und diversen Zitaten aus der Diskussion der zweiten Expertenkommission an der Sitzung vom 26. 9. 1912. 8
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3. Konkretisierung der Risikoverteilung durch die Rechtsprechung zur Arglist und zur Opfermitverantwortung a) Erhöhung der Arglisthürde im Rigi-Entscheid Während das Bundesgericht in seiner älteren Rechtsprechung die Arglisthürde tief ansetzte,14 erhöhte es diese Hürde 1993 im sogenannten Rigi-Entscheid. Die Rigi ist ein Schweizer Berg auf dem Gebiet der Kantone Schwyz und Luzern. Der Täuschende stellte ein Kreditbegehren bei einer Bank. Er gab vor, Strohmann für die wohlhabende Familie Z aus Deutschland zu sein, die auf der Rigi eine Liegenschaft erwerben möchte, aber wohl nicht über eine den schweizerischen öffentlich-rechtlichen Vorschriften entsprechende Bewilligung verfüge. Den Kredit benötige er zur Überbrückung, da noch nicht sämtliche Handelsregistereinträge vollzogen seien. Ohne die üblicherweise erforderlichen Unterlagen und ohne mündliche Rückfragen bei den vom Beschwerdegegner vorgegebenen Auftraggebern zahlte die Bank in der Folge 700.000 Schweizer Franken an den „Strohmann“ aus. Sie erhoffte sich so, die finanzkräftige Z.-Gruppe als Kunden zu gewinnen.15 In der Rechtsprechung vor dem Rigi-Fall prüfte das Bundesgericht die Arglist stets aus der Täterperspektive. Es bejahte sie, wenn sich die Täter besonderer Machenschaften oder Kniffe bedienten (z. B. ein Lügengebäude errichteten) oder, wenn sie bloß falsche Angaben machten, deren Überprüfung den Getäuschten nicht oder nur mit besonderer Mühe möglich oder nicht zumutbar war oder, wenn sie die Getäuschten von einer möglichen Überprüfung abhielten oder nach den Umständen voraussahen, dass diese die Überprüfung unterlassen werden, weil ein besonderes Vertrauensverhältnis bestand.16 Im Rigi-Fall erhöhte das Bundesgericht, die Anforderung an das Lügengebäude, indem es zur Beurteilung, ob ein solches vorlag, die Opfermitverantwortung des konkreten Opfers hinzuzog. Es ist der erste Entscheid, in dem das Bundesgericht die „Opfermitverantwortung“ erwähnte.17 Das Bundesgericht hielt dazu fest: „Wer sich mit einem Mindestmaß an Aufmerksamkeit selbst hätte schützen (BGE 72 IV 128), den Irrtum durch ein Minimum zumutbarer Vorsicht hätte vermeiden können (BGE 100 IV 274; BGE 99 IV 78), ist strafrechtlich nicht geschützt.“18 Es verneinte die Arglist unter dem Gesichtspunkt der Opfermitverantwortung und erwog dazu: „Die Bank hat hier Hand geboten 14 Jean-Richard, in: Cavallo/Hiestand/Blocher/Arnold/Käser/Caspar/Ivic (Hrsg.), Donatsch-FS, 2012, S. 90 m.w.Nw.; Bommer/Venetz, Die Anfänge der bundesgerichtlichen Praxis zum Arglistmerkmal beim Betrug, in: Luminati/Linder (Hrsg.), Gericht und Kodifikation, 2007, 161 ff., 176 ff. m.w.Nw. 15 BGE 119 IV 28, E. 2a). 16 Siehe etwa BGE 107 IV 169, E. 2.a; 118 IV 359, E. 2. 17 Jean-Richard, in: Cavallo/Hiestand/Blocher/Arnold/Käser/Caspar/Ivic (Hrsg.), Donatsch-FS, 2012, S. 93. 18 BGE 119 IV 28, E. 3a). Siehe auch BGE 142 IV 153, E. 2.2.2.: „Arglist scheidet aus, wenn der Getäuschte den Irrtum mit einem Mindestmass an Aufmerksamkeit hätte vermeiden können.“
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zur Ausrichtung eines Kredits, der, wie sie annahm, hätte bestimmt sein sollen zum Kauf von Wohnungen unter Umgehung der öffentlich-rechtlichen Vorschriften über den Grundeigentumserwerb durch Personen im Ausland. Sie hat bei der Kreditvergabe zudem die elementarsten Vorsichtsmassnahmen missachtet. […] Bei dieser Sachlage ist die Arglist auch unter dem Gesichtspunkt der Opfermitverantwortung zu verneinen. Hätte es die Bank abgelehnt, auf das Geschäft einzugehen, und hätte sie die grundlegendsten Sorgfaltsmaßnahmen beachtet, hätte sie keinen Schaden erlitten.“19 Das Bundesgericht hat damit der Opfermitverantwortung der Bank Gewicht gegeben und die Risikoverantwortung in ihre Richtung verschoben. Mit Blick auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung wird in der Lehre jedoch sowohl von einer Tendenz zur Ablehnung von Opfermitverantwortung in der Rechtsprechung geschrieben,20 als auch von einer Zunahme der Berücksichtigung der Opfermitverantwortung bzw. wird festgestellt, dass Fälle gar nicht vor Gericht kommen, da sie von der Staatsanwaltschaft aufgrund der Opfermitverantwortung eingestellt werden.21 Solche Befunde hängen wohl davon ab, welche konkreten Fälle man vor Augen hat. Nach dem Rigi-Entscheid hat das Bundesgericht nämlich in BGE 120 IV 186 die Opfermitverantwortung dahingehend konkretisiert, dass jeweils die Lage und Schutzbedürftigkeit des Opfers im Einzelfall zu berücksichtigen sei, soweit der Täter diese kennt und ausnützt. b) Anpassung der Arglisthürde an das konkrete Opfer aa) Inferiore Opfer Das Bundesgericht führte in BGE 120 IV 186 aus: „Ist das Opfer geistesschwach, unerfahren oder aufgrund des Alters oder einer (körperlichen oder geistigen) Krankheit beeinträchtigt, befindet es sich in einem Abhängigkeits- oder Unterordnungsverhältnis oder in einer Notlage, und nützt der Täter dies aus, ist Arglist zu bejahen. Der Gesichtspunkt der Opfermitverantwortung kann nur dort zur Verneinung der Arglist führen, wo eine derartige Unterlegenheit des Opfers nicht besteht.“22 Im zu beurteilenden Fall hat der Täter durch Vorzeigen von Papieren bzw. einer Visitenkarte mit dem Stempelaufdruck „Fremdenpolizei“ oder mit dem Hinweis „Generalvertreter für Jugoslawien“ seinen Opfern Arbeits- und Aufenthaltsbewilligungen gegen Vorausbezahlung von 10.000 bis 25.000 Franken pro Bewilligung versprochen, obwohl er nicht in der Lage war, solche zu beschaffen. Das Bundesgericht gab der Vorinstanz Recht, die eine Opfermitverantwortung verneinte, weil die Opfer Bürger aus Ex-Ju19
BGE 119 IV 28, E. 3f). Thommen, ZStrR 2008, 17 (27). So wohl auch Stratenwerth/Jenny/Bommer, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I, 7. Aufl. 2010, § 15 N20, die schreiben, dass das Arglistmerkmal nicht mehr viel zur Einschränkung des Tatbestandes beitrage. 21 Jositsch/Lüthi, in: Schwarzenegger/Nägeli (Hrsg.), 6. Zürcher Präventionsforum – Ältere Menschen und ihre Erfahrungen mit der Kriminalität, 2013, in Fußnote 50 m.w.Nw. 22 BGE 120 IV 186, Regeste. 20
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goslawien waren, bei denen infolge der Gräueltaten im jugoslawischen Bürgerkrieg ein großes Sicherheitsbedürfnis bestanden habe und die auch ihren Familienangehörigen mittels Aufenthaltsbewilligungen zu einer sicheren Zukunft in der Schweiz verhelfen wollten. Diese Opfersituation habe der Beschwerdeführer hemmungslos ausgenützt. Das Bundesgericht hielt fest: „Wer, wie der Beschwerdeführer, die Unterlegenheit seiner Opfer derart ausnützt, handelt arglistig. Der Fall unterscheidet sich deutlich von BGE 119 IV 28, wo sich das Opfer – eine Bank, die sich in der Vergabe von Darlehen auskennt – nicht in einer unterlegenen Stellung befand.“23 Bei der Beurteilung eines Betrugs bei einem Fernsehquiz betonte das Bundesgericht außerdem, dass Getäuschte nicht die größtmögliche Sorgfalt walten lassen und alle denkbaren Vorsichtsmassnahmen treffen müssen. Arglist scheide lediglich dann aus, wenn das Opfer die grundlegendsten Vorsichtsmassnahmen nicht beachtet habe. Entsprechend entfalle der strafrechtliche Schutz nicht bei jeder Fahrlässigkeit des Opfers, sondern nur bei Leichtfertigkeit.24 Das Bundesgericht hielt fest, dass Arglist vorliege, da die Quizsendung auf dem Gedanken des „Fairplay“ beruhte. Der Veranstalter musste deshalb keine strengen Überwachungsmassnahmen ergreifen und durfte für die Quizteilnehmer eine Atmosphäre des Vertrauens schaffen, zumal sie in der Regel Kamera-unerfahren waren.25 In einem anderen Entscheid hielt das Bundesgericht fest, dass auch „dilettantische Vorkehren eine besondere Machenschaft nicht aus[schliessen].“26 „Die zum Ausschluss der Strafbarkeit des Täuschenden führende Opferverantwortung kann […] nur in Ausnahmefällen bejaht werden.“27 Dem sei, so das Bundesgericht in einem weiteren Urteil „insbesondere Rechnung zu tragen, wenn der Täter eine besondere Notlage vortäuscht sowie an die Hilfsbereitschaft des Getäuschten appelliert und es folglich nicht um ein lukratives Geschäftsangebot geht, das dieser annehmen oder bei Zweifeln besser ablehnen sollte.“28 bb) Superiore Opfer Auf der anderen Seite haben nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung diejenigen Opfer weniger Schutz und tragen mehr Risikoverantwortung, die besondere Fachkenntnisse und besondere Geschäftserfahrung haben.29 Deswegen wurde im RigiFall30 die Arglist verneint. Ebenso verneinte das Bundesgericht die Arglist und bejahte die Opfermitverantwortung aus Leichtfertigkeit in BGE 142 IV 153. Das Opfer hat einen 2.000 Franken teuren Drucker auf Rechnung an eine unbekannte Pri23
BGE 120 IV 186 S. 190, E. 1c). BGE 126 IV 165, E. 2a). 25 BGE 126 IV 165, E. 2e). 26 BGE 122 IV 197. 27 BGE 135 IV 76, E. 5.2. m.w.Nw. Bestätigt in BGer 6B_595/2011. 28 BGer 6B_518/2012, E. 3.4.1. 29 BGE 135 IV 76, E. 5.2. 30 BGE 119 IV 28, E. 3f. 24
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vatperson geliefert. Die Privatperson war weder zahlungswillig noch zahlungsfähig. Laut Bundesgericht hätte der Verkäufer aufgrund des hohen Preises die Bonität des Käufers rudimentär prüfen müssen.31 Das Bundesgericht hat hier die Arglisthürde deutlich erhöht. Hatte es doch in früheren Entscheiden noch festgehalten, dass arglistig handle, wer eine Leistung verspricht, ohne den Willen zu haben, sie zu erbringen.32 Der Besteller des Druckers hatte mit der Bestellung konkludent versprochen, dafür die verlangte Zahlung zu leisten, obwohl er keinen Zahlungswillen gehabt hatte. cc) Sonderproblem: Massentaten/Serienbetrug Führt ein Betrug oder eine Betrugsmasche zu einer Vielzahl von Opfern (z. B. im Internet), wird es schwierig für jeden einzelnen Fall die Opfermitverantwortung zu prüfen. Verlangt man den Nachweis, dass sich das konkrete Opfer im Einzelfall gerade durch die arglistige Vorgehensweise täuschen ließ und nicht aus anderen Gründen (z. B. aufgrund des gewinnenden Wesens des Betrügers),33 wird es im Zweifel zu Freisprüchen aufgrund von in dubio pro reo kommen.34 In der schweizerischen Lehre wird deswegen vereinzelt gefordert, die Arglist gerade bei Serienbetrügen, die auf eine ganze Opfergruppe angelegt sind, opferunabhängig zu begründen. Wenn die Täuschenden ihre potentiellen Opfer vor der Täuschung gar nicht kennenlernen, etwa weil sie wahllos erfundene Rechnungen versenden, in der Hoffnung, es möge jemand darauf hereinfallen und die Rechnung bezahlen, soll mindestens ein versuchter Betrug vorliegen.35 Sonst würden Täter geschützt, die bequem und billig eine Vielzahl von Menschen täuschen, wobei es sich für sie bereits lohnt, wenn nur wenige darauf hereinfallen.36 Freilich macht in solchen Fällen nicht die Masse die Arglist aus.37 Vielmehr geht es um Täuschungen, die etwa gegenüber inferioren Opfern als arglistig zu qualifizieren sind. Durch die massenhafte Verbreitung erhöhen die Täter die Wahrscheinlichkeit auf solche Opfer zu treffen. Oder
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BGE 142 IV 153, E. 2.2.4. BGE 73 IV 225 Regeste. 33 Jean-Richard, in: Cavallo/Hiestand/Blocher/Arnold/Käser/Caspar/Ivic (Hrsg.), Donatsch-FS, 2012, S. 78, 98. 34 Ackermann, in: Heinrich/Jäger/Achenbach/Amelung/Bottke/Haffke/Schu¨ nemann/Wolter (Hrsg.), Roxin-FS 2011, S. 961. 35 Basler Kommentar-Arzt, Strafrecht II, 3. Aufl., 2013, Art. 146 StGB N 114 f. N 115: „Folglich liegt auch bei Leichtfertigkeit des konkreten Getäuschten immer der Versuch des Täters vor, ,notfalls‘ auch einen nicht leichtfertigen Mitarbeiter des Geschädigten zu täuschen.“ Jean-Richard spricht in diesem Zusammenhang vom „ungezielt gestreuten Lügenköder“, Jean-Richard, in: Cavallo/Hiestand/Blocher/Arnold/Käser/Caspar/Ivic (Hrsg.), Donatsch-FS, 2012, S. 97. 36 Basler Kommentar-Arzt, Strafrecht II, 3. Aufl., 2013, Art. 146 StGB N 90. 37 Basler Kommentar-Maeder/Niggli, Strafrecht II, 4. Aufl., 2019, Art. 146 StGB N 123. 32
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die Täuschung ist so angelegt, dass sie gezielt die selektive Wahrnehmung vieler Menschen ausnutzt, was ebenfalls als arglistig zu bewerten wäre.38 Auch die Anonymisierung der Wirtschaftsbeziehungen (insbesondere im Internet) kann man als Argument für einen besonderen strafrechtlichen Schutz des Publikums ansehen.39 Ein anderer Teil der Schweizer Lehre führt dagegen an, dass blindes Vertrauen in einen virtuellen Unbekannten keinen Schutz verdienen soll, weil das Missbrauchspotential von Kaufgeschäften im Internet allgemein bekannt sei.40 Wird die Arglist verneint, hat dies zur Konsequenz, dass nicht einmal ein versuchter Betrug vorliegen kann.41 Das Bundesgericht setzte sich in BGE 119 IV 284 (Darlehens- und Bestellungsbetrüge) erstmals mit Serienbetrügen auseinander. Es hielt fest, dass die Arglist zwar für jeden Einzelfall überprüfbar sein muss, dass aber bei gleichgelagerten Fällen, die sich bezüglich Opfergesichtspunkten nicht wesentlich unterscheiden, die Arglist zunächst in allgemeiner Weise geprüft werden kann. Nur wenn es deutliche Abweichungen vom üblichen Handlungsmuster gibt, sei eine besondere Auseinandersetzung mit der Arglist im Einzelfall notwendig.42 Als gleichgelagert sah das Bundesgericht die Fälle an, in denen Privatpersonen geschädigt wurden. Da Banken und Versicherungen sich dank ihrer Erfahrung besser gegen Betrug schützen können als private Personen, sei bei ihnen die Arglist jedoch gesondert zu prüfen.43 Bei dieser Rechtsprechung ist das Bundesgericht geblieben.44 Es führt in einem jüngeren Entscheid etwa aus: „Anwendungsfälle nicht arglistiger Täuschungen betreffen in der bisherigen Rechtsprechung insbesondere Banken und sonst im Geldanlagengeschäft berufsmässig tätige Personen als potentielle Opfer. Bejaht wird Arglist demgegenüber bei Ausnutzung des gierig-vertrauensselig-unseriösen Gewinnstrebens gewöhnlicher Leute.“45 In diesem Fall hatte der Betrüger Inserate in einer Tageszeitung und einer Zeitschrift veröffentlicht mit dem Text „Jetzt sofort Bargeld per Telefon (…) auch bei bestehenden Krediten innert 24 Std.“ Damit „richtete er sich gezielt an Personen, denen andere Geldbeschaffungsmöglichkeiten aller Wahrscheinlichkeit nach bereits verwehrt worden waren, und die aufgrund finanzieller Engpässe der Überprü38
Siehe dazu näher unten II.5. Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht, 5. Aufl. 2017, N 91. 40 So Ackermann/Langenegger/Manfrin, in: Furrer, aktuelle Anwaltspraxis, 2011, 1171. 41 Basler Kommentar-Maeder/Niggli, Strafrecht II, 4. Aufl., 2019, Art. 146 StGB N 70 und N 118 ff. 42 BGE 119 IV 284, Regeste. 43 BGE 119 IV 284, E. 6. c). 44 Siehe etwa BGer 6B_609/2011; 6B_150/2017, E. 5. Beachte aber auch BGer 6B_717/ 2012, E. 3.7: mindestens ein zentrales Element einer Täuschungsmaschinerie muss arglistig sein und E. 3.8. m.w.Nw.: die Annahme eines Serienbetrugs darf nicht dazu führen, dass der Grundsatz in dubio pro reo als Beweislastregel unterlaufen wird. 45 BGer 6B_497/2014, E. 3.4.2 mit Verweis auf Basler Kommentar-Arzt, Strafrecht II, 3. Aufl., 2013, N. 67 ff. zu Art. 146. 39
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fung seiner Angaben wenig Zeit und Aufmerksamkeit widmen würden. Diese Situation nutzte der Beschwerdeführer bewusst aus. Dass die Geschädigten sich in erheblichem Mass naiv auf seine Geschäfte einliessen, vermag die dadurch an den Tag gelegte Arglist nicht aufzuheben bzw. vollständig in den Hintergrund zu drängen.“46 Selbst wenn der Täter „nur“ eine Schuldensanierung vermittelt und explizit darauf hinweist, dass das Opfer eine Gebühr zu bezahlen habe, ohne dass ein Kredit vermittelt werde, ist eine Täuschung laut Bundesgericht zu bejahen, wenn der Täter bei den Geschädigten den Eindruck erweckt, die Schuldensanierung werde auch mit Überbrückungskrediten herbeigeführt. Eine solche Täuschung sei selbst dann arglistig, wenn der Vertrag klar formuliert ist und den deutlich hervorgehobenen Hinweis „keine Kreditvermittlung“ enthält. Der Täter habe nämlich, so das Bundesgericht „sein ganzes Geschäftsgebaren auf eine Täuschung der Adressaten aus[gerichtet], wobei er damit rechnen konnte, dass gewisse, besonders schutzbedürftige Empfänger der Schreiben den für sie nur schwer verständlichen Vertrag nicht hinterfragen wu¨ rden. Den Geschädigten kann keine Leichtfertigkeit vorgeworfen werden, weil sie den Hinweis im Kundenvertrag nicht richtig einzuordnen vermochten.“47 Damit kommt es im Ergebnis bei Massentaten für die Erstellung der Arglist nicht auf das konkrete Opfer an, sondern auf das von den Tätern anvisierte Opfer. Selbst wenn keine Person geschädigt würde, wären die Täter dann noch des (mindestens eventualvorsätzlich) versuchten Betrugs strafbar.48 4. Bestehende Unsicherheiten und erfolgloser politischer Vorstoß Obwohl die bundesgerichtliche Rechtsprechung bei Massentaten opferfreundlich zu sein scheint, ist das Arglistmerkmal mit Unsicherheiten behaftet.49 So wird etwa in Fällen des Enkeltrickbetrugs von Anklagen abgesehen, weil sie aufgrund der Opfermitverantwortung als aussichtslos erscheinen.50 Auch die Schweizerische Kriminalprävention51 schreibt auf ihrer Website, dass einige „Betrug“-Arten, insbesondere der Vorschussbetrug und „Abzocke“ in der Schweiz aufgrund der Arglisthürde nicht strafbar seien. Denn in „Abzocke“-Fällen werden auf einer Website oft wahre Anga46
BGer 6B_497/2014, E. 3.4.3. BGer 6B_609/2011, E. 4.3.3. 48 Im Ergebnis ähnlich Thommen, ZStrR 2008, 17 (33 ff.), der die Versuchsstrafbarkeit als Lösung vorschlägt, um eine Strafbarkeit trotz bejahter Opfermitverantwortung zu ermöglichen. 49 Zum Ideenreichtum der Täter zum Ausnutzen von Graubereichen beispielsweise im Subventionsbetrug zu Lasten der ehemaligen EG siehe Sieber, ZStrR 1996, 357 (370). 50 Jositsch/Lüthi, in: Schwarzenegger/Nägeli (Hrsg.), 6. Zürcher Präventionsforum – Ältere Menschen und ihre Erfahrungen mit der Kriminalität, 2013, in Fußnote 50 m.w.Nw. 51 „Die Schweizerische Kriminalprävention (SKP) ist eine interkantonale Fachstelle im Bereich Prävention von Kriminalität und Kriminalitätsfurcht. Sie wird von der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD) getragen […]“ (https:// www.skppsc.ch/de/die-skp/, abgerufen im Februar 2020). 47
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ben darüber gemacht, was für einen Vertrag das Opfer abschließt. Die Schweizerische Kriminalprävention führt dazu aus: „Abzocken bedeutet in den meisten Fällen, einer schlecht informierten Person unter verwirrenden Bedingungen unverhältnismässig viel resp. überhaupt Geld für einen bestimmten Rat oder Kredit, ein gewisses Abonnement oder einen besonderen Gegenstand zu verlangen. […] Damit ein Verhalten im rechtlichen Sinne als betrügerisch eingestuft wird, braucht es eine sogenannte Arglist. […] Bei der Abzocke hingegen hätten sich die Betroffenen grundsätzlich über das Geschäft informieren können, wenn auch unter erschwerten Bedingungen.“52 In vielen Fällen erscheint als stoßend und ist auch für Opfer unverständlich, wenn die Täuschenden straffrei bleiben. Deswegen forderte Jositsch 2012 mit einer parlamentarischen Initiative die Abschaffung der Arglisthürde beim Betrug. Er begründete seine Forderung damit, dass die Arglisthürde die Eigenverantwortung der getäuschten Personen so hoch setzt, dass „zur Freude mutmasslicher Täter Strafanzeigen von der Polizei und den Strafverfolgungsbehörden oft nicht einmal an die Hand genommen oder eingestellt [werden].“53 Wenn nicht generell, sollte gemäß Jositsch die Arglisthürde wenigstens für Serienbetrüge abgeschafft werden. Der Nationalrat hat der Initiative jedoch keine Folge gegeben, nachdem die Mehrheit der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats keinen Bedarf sah, die Arglisthürde zu streichen. Unter anderem, weil das Bundesgericht eine ausgiebige Rechtsprechung entwickelt habe, welche die Arglist ausreichend definiere. Die Minderheit der Rechtskommission führte dagegen an, dass das Erfordernis der Arglist eine erhöhte Opferselbstverantwortung mit sich bringe. Seit der Einführung des Arglistmerkmals im schweizerischen Strafgesetzbuch, das 1942 in Kraft trat, seien die Anforderungen im Geschäftsleben und im Alltagsleben komplexer geworden, und es gelte, das zwischenmenschliche Vertrauen zu schützen.54 52 https://www.skppsc.ch/de/themen/betrug/abzocke/ (abgerufen im Februar 2020). Zum Vorschussbetrug schreibt sie: „Die Verfolgung der Vorschussbetrüger ist aufgrund folgender Punkte in der Regel sinnlos: […] Hätten sich die Betrogenen mit einem Mindestmaß an Aufmerksamkeit vor dem Betrug schützen oder ihren Irrtum durch ein Minimum an zumutbarer Vorsicht vermeiden können, dann liegt im Sinne des Strafgesetzbuches kein Betrug vor. Dem Betrüger kann in diesem Fall keine Arglist vorgeworfen werden.“ Auch die Medien berichten von Fällen, in denen es wegen fehlender Arglist bzw. aufgrund der Opfermitverantwortung nicht zu Strafverfahren kam. Siehe zu sogenannten Kreditfallen auch https://www. beobachter.ch/konsum/konsumentenschutz/schulden-die-tricks-der-kredit-kraken; https://www. srf.ch/news/schweiz/abzocke-statt-kredit-tausende-schweizer-geschaedigt-durch-tueckische-kre ditfalle; https://www.srf.ch/play/tv/kassensturz/video/achtung-kreditfalle-noch-mehr-schuldenstatt-finanzsanierung?id=35ada6e4-5479-4778-a7d1-a75b70a356fc (Websites abgerufen im Februar 2020). 53 Parlamentarischen Initiative 12.438 „Mehr Schutz der Geschädigten beim Betrugstatbestand“, eingereicht von Daniel Jositsch am 4. Juni 2012. Siehe https://bit.ly/39RKy1V (abgerufen im Februar 2020). 54 Bericht der Kommission für Rechtsfragen vom 15. August 2013. Siehe https://bit.ly/ 2s6zzRt (abgerufen im Februar 2020).
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5. Arglistige Täuschung ohne Lüge? Da der politische Vorstoß von Jositsch erfolglos blieb, stellt sich die Frage, ob man das Tatbestandsmerkmal der Arglist dennoch opferfreundlich auslegen kann und sollte. Bei den Massentaten hat das Bundesgericht wie erwähnt (oben II.3) bereits eine opferfreundliche Richtung eingeschlagen. Die erwähnten Unsicherheiten bei Massentaten (II.4.) haben wohl eher damit zu tun, dass sich zunächst die Frage stellt, ob überhaupt eine Täuschung vorliegt. Denn in „Abzocke“-Fällen werden auf einer Website oft wahre Angaben darüber gemacht, was für einen Vertrag das Opfer abschließt. So gibt es diverse Webseiten mit dem Begriff „kredit“ oder „credit“ als Teil ihrer Internetadresse (z. B. fix-credit.ch, schweiz-credit.ch, go-kredite.ch)55. Auf der Homepage wird damit geworben, dass die angebotene Dienstleistung eine clevere Alternative zu Krediten wie Kredit ohne Vorkosten, Privatkredit, Kredit ohne Bonitätsprüfung, Kredit mit Betreibung, Kredit für Arbeitslose sei. Ein „Kreditlexikon“ erklärt zudem Finanz- und Kreditbegriffe. Tatsächlich werden aber keine Kredite angeboten, sondern nur eine kostenpflichtige Vermittlung für eine Finanzsanierung. Zahlreiche verschuldete Personen denken aber, dass sie einen Kredit erhalten, wenn sie einen Vertrag abschließen. Die Websites sind damit m. E. deutlich ersichtlich auf eine Täuschung der Website-Besucher ausgerichtet. Der Begriff „Kredit“ fällt ihnen so oft ins Auge, dass die Websitebetreibenden damit rechnen können, dass kreditsuchende verschuldete Personen nicht erfassen, dass sie bei Abschluss eines Vertrags mit dem Websitebetreiber keinen Kredit erhalten. Dies muss selbst dann gelten, wenn der Hinweis, dass kein Kredit vergeben werde, in großen Lettern auf der Website vorhanden ist. Eine Täuschung lässt sich dann immer noch begründen, hält man sich vor Augen, dass das, was wir Menschen anschauen, wir nur selektiv wahrnehmen. Dies haben etwa die Psychologen Christopher Chabris und Daniel Simons eindrücklich dargestellt und mit Videoexperimenten belegt.56 Im „selective attention test“ von 1999 wurden Probanden gebeten, sich einen kurzen Film anzuschauen, in dem sich sechs Personen (drei mit einem weißen T-Shirt und drei mit einem schwarzen T-Shirt) Bälle zuwarfen. Die Probanden sollten zählen, wie oft die drei Personen in den weißen T-Shirts jemandem den Ball zuwarfen. Während die Bälle hin und her gepasst werden, läuft ein Mensch in einem Gorilla-Kostüm durch das Spielfeld, bleibt in der Mitte stehen, schaut in die Kamera, trommelt sich auf den Brustkorb und geht dann wieder. Der Gorilla ist neun Sekunden lang im Bild. Die Hälfte der Probanden hat den Gorilla nicht bemerkt. Für sie blieb der Gorilla unsichtbar. Erst bei erneutem Schauen, als sie wussten, dass ein Gorilla durchs Bild laufen wird, haben sie ihn bemerkt. Das Experiment hat damit gezeigt,
55 https://www.beobachter.ch/konsum/konsumentenschutz/schulden-die-tricks-der-kreditkraken (abgerufen im Februar 2020). 56 Chabris/Simons, The Invisible Gorilla: And Other Ways Our Intuitions Deceive Us, New York 2010. Die Videos sind hier abrufbar: http://www.theinvisiblegorilla.com/videos.html (abgerufen im Februar 2020).
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dass wir einiges nicht sehen und uns dessen nicht einmal bewusst sind.57 Eine Täuschung muss m. E. deswegen auch dann vorliegen, wenn die Wahrheit (z. B. „kein Kredit“) so dargestellt wird, dass sie bei der üblichen selektiven Wahrnehmung für eine Vielzahl von Menschen unsichtbar bleibt. Dies dürfte insbesondere dann zutreffen, wenn eine Website darauf angelegt ist, die Aufmerksamkeit auf den Begriff „Kredit“ zu lenken. Akzeptiert man, dass damit eine Täuschung feststeht, ist auch die Arglist zu bejahen, da Täter ihre Websites mit Tricks bestückt haben, die (z. B. aufgrund der selektiven Wahrnehmung) geeignet sind, eine große Zahl von Menschen zu täuschen. In der Praxis werden solche Fälle aber offenbar trotzdem mit dem Verweis auf die Arglisthürde eingestellt. Es stellt sich deshalb die Frage, was eigentlich der Grund dafür ist, den Täter einen straflosen „Täuschungsfreibereich“58 einzuräumen.
III. Angeführte Gründe für die Risikoverteilung 1. Eigenverantwortung der getäuschten Person Hinter dem Begriff Opfermitverantwortung steckt weniger eine Mit-Verantwortung59 der getäuschten Person als vielmehr deren Eigenverantwortung. Im Kern geht es darum den Betrugstatbestand restriktiv anzuwenden und ausscheiden zu lassen, wenn die getäuschte Person ihre Eigenverantwortung nicht wahrgenommen hat.60 In der Schweiz scheint man besonderen Wert auf die Eigenverantwortung der Bürger zu legen. Noch vor den Grundrechten hält Art. 6 der Schweizer Bundesverfassung fest: „Jede Person nimmt Verantwortung für sich selber wahr […].“ Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass staatliche Leistungen subsidiär sind.61
57 http://www.theinvisiblegorilla.com/gorilla_experiment.html (abgerufen im Februar 2020). 58 Diesen Begriff verwendet Ackermann, in: Heinrich/Jäger/Achenbach/Amelung/Bottke/ Haffke/Schu¨ nemann/Wolter (Hrsg.), Roxin-FS 2011, S. 955. 59 Von einer Opfermitverantwortung zu sprechen, ist insofern verfehlt, als dass bei einer Risikoverantwortung, die zu Lasten des Opfers geht, der Vertrauensempfänger stets straflos ausgeht. Deswegen weist etwa Arzt darauf hin, dass dem Opfer die Alleinverantwortung zugeschoben wird (Basler Kommentar-Arzt, Strafrecht II, 3. Aufl., 2013, Art. 146 StGB N 119). 60 Basler Kommentar-Maeder/Niggli, Strafrecht II, 4. Aufl., 2019, Art. 146 StGB N 72. Maeder und Niggli weisen zu Recht darauf hin, dass Eigenverantwortung nicht dasselbe ist, wie Mitverantwortung. 61 Gächter/Renold-Burch, in: Waldmann/Belser/Epiney (Hrsg.), Basler Kommentar, Bundesverfassung, Basel 2015, Art. 6 BV N 10.
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Die Bestimmung ist aber auch in Zusammenhang mit Menschenwürde (Art. 7 BV) und der persönlichen Freiheit (Art. 10 BV) zu sehen.62 Entsprechend werden auch in der Diskussion um den Betrugstatbestand diese Grundrechte angeführt, aus denen sich ergebe, dass der Staat nur ganz zurückhaltend mit Regelungen in die Eigenverantwortung von Personen eingreifen darf, da diese sonst zur Unselbständigkeit korrumpiert würden.63 Dem ist entgegenzuhalten, dass die Menschenwürde gerade Grund für einen staatlichen Eingriff und für eine zulässige Beschränkung der persönlichen Freiheit sein kann.64 Wie wichtig einigen Schweizern die Eigenverantwortung ist, zeigt eine (aus deutscher Sicht wohl kurios anmutende) im Jahr 2017 in Basel-Stadt geführte Debatte zur Frage, ob sich Arbeitnehmende im Kanton Basel-Stadt freiwillig monatlich einen Betrag für die Steuern von ihrem Lohn abziehen lassen dürfen. Die Gegner (die schließlich obsiegten) argumentierten unter anderem, dass ein freiwilliger Lohnabzug dem Prinzip der Eigenverantwortung und einem liberalen Verständnis vom Verhältnis der Bürger zum Staat widerspreche und die Arbeitgebenden im Kanton zu Handlangern der Steuerverwaltung machen würden.65 Einige Strafrechtler argumentieren, dass die Eigenverantwortung auch im Strafrecht greifen soll. Das Prinzip der Selbstverantwortung sei im Strafrecht verbreitet.66 Es gehe dabei um den Ausgleich von sozialen und liberalen Prinzipien.67 Schützt sich eine Person durch Unachtsamkeit nicht vor der Gefährdung oder Beschädigung ihrer Güter, soll das Strafrecht sie auch nicht schützen.68
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Häberle, in Ehrenzeller/Schindler/Schweizer/Vallender (Hrsg.), St. Galler Kommentar, Die Schweizerische Bundesverfassung, 3. Aufl., 2014, Art. 6 BV N 15. 63 Sägesser, Opfermitverantwortung beim Betrug, 2014, N 382. 64 Siehe dazu etwa den Fall Manuel Wackenheim v. France, Communication No. 854/1999 vom 17. 07. 2002: Ein 1.14 Meter großer Stuntman hatte sich gegen ein Verbot gewehrt, das in Frankreich das sogenannte Zwergenwerfen verbot. Er könne so seinem Broterwerb nicht nachgehen. Nach Ansicht des Uno-Menschenrechtskomitees verletzt das Zwergenwerfen aber die Menschenwürde. Daher sei es nicht diskriminierend, wenn Frankreich diese DiskothekenAttraktion verbietet, Reuters/NZZ 27. Sept. 2002. 65 Siehe etwa Ratschlag und Gesetzesentwurf zu einer Teilrevision des Gesetzes über die direkten Steuern vom 12. April 2000 (Steuergesetz, StG) betreffend Lohnabzugsverfahren, P170347/P155219, 15. März 2017, 10, online abrufbar: http://www.grosserrat.bs.ch/dokumen te/100385/000000385382.pdf?t=158126808420200209180804; http://barfi.ch/News-Basel/Kei ne-Steuer-Direktabzug-Premiere-in-Basel-Stadt; https://gewerbe-basel.ch/themen/news/lohnab zugsverfahren-ist-vom-tisch/ (abgerufen im Februar 2020). 66 Sägesser, Opfermitverantwortung beim Betrug, 2014, N 382 m.w.Nw. 67 Ackermann, in: Heinrich/Jäger/Achenbach/Amelung/Bottke/Haffke/Schu¨ nemann/Wolter (Hrsg.), Roxin-FS 2011, S. 955. 68 So z. B. Ackermann, in: Heinrich/Jäger/Achenbach/Amelung/Bottke/Haffke/Schu¨ nemann/Wolter (Hrsg.), Roxin-FS 2011, S. 961 m.w.Nw. Kritisch dazu Basler Kommentar-Arzt, Strafrecht II, 3. Aufl., 2013, Art. 146 StGB N 123, der generell kritisiert, dass die Arglist mit diversen Topoi der Täterentlastung verknüpft würde.
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Beim Schweizer Betrugstatbestand konkretisiert die Eigenverantwortung das Tatbestandselement der Arglist.69 Nicht jede Marktschreierei soll strafbar sein.70 Das Opfer soll nicht vor jeder Ent-Täuschung strafrechtlich geschützt werden. Es wird eine Minimalvorsicht von ihm verlangt. Bringt es diese nicht auf, ist eine allfällige Täuschung nicht arglistig.71 So soll erreicht werden, dass das Strafrecht nicht die Leichtsinnigen und Faulen, aber sehr wohl die Dummen und Schwachen schützt.72 Diese Einschränkung beim Betrugstatbestand scheint nicht konsequent zu sein, wenn man sich vor Augen hält, dass bei anderen Straftatbeständen auch die Leichtsinnigen und Faulen geschützt werden. So wird etwa ein Diebstahlsopfer geschützt, dass seine Wertsachen unbeaufsichtigt auf einer Parkbank liegen lässt. Strafbar ist auch der Ladendieb, obwohl sich das Opfer selber schützen könnte.73 Allenfalls könnte man hier einwenden, dass der Diebstahl ein Tätigkeitsdelikt und kein Erfolgsdelikt sei und dass es deswegen beim Diebstahl nicht auf das Opferverhalten ankommt. Allerdings konkretisiert die Eigenverantwortung der getäuschten Person das Tatbestandselement der Arglist. Die Arglist wiederum bezieht sich auf die Täuschung und ist mithin Teil der Tathandlung und nicht Teil des Taterfolgs.74 Es konkretisiert mithin den Handlungs- und nicht den Erfolgsunwert. Somit kann der Grund für das hohe Gewicht der Eigenverantwortung beim Betrug nicht darin liegen, dass der Betrug ein Erfolgsdelikt ist.75 Eigenverantwortliches Handeln des Opfers setzt außerdem voraus, dass sich das Opfer bewusst ist, dass es gegen seine eigenen Interessen handelt. Fehlt dieses Bewusstsein, hat das Strafrecht das Opfer zu schützen und den Täter zu bestrafen.76
69 Je nach Ansicht spielt die Eigenverantwortung schon eine Rolle bei der Feststellung, ob eine für den Betrugstatbestand relevante Täuschung über Tatsachen oder ein strafloses Werturteil vorliegt (Basler Kommentar-Arzt, Strafrecht II, 3. Aufl., 2013,Art. 146 StGB N 41 m.w.Nw.). 70 Jean-Richard, in: Cavallo/Hiestand/Blocher/Arnold/Käser/Caspar/Ivic (Hrsg.), Donatsch-FS, 2012, S. 86 mit Verweis auf BGE 71 IV 13. 71 Basler Kommentar-Maeder/Niggli, Strafrecht II, 4. Aufl., 2019, Art. 146 StGB N 70. 72 Basler Kommentar-Arzt, Strafrecht II, 3. Aufl., 2013, Art. 146 StGB N 59. 73 So schon Arzt, Leichtsinnige juristische Personen, 50, der zu Recht darauf hinweist, dass auch bei Urkunden- und Geldfälschung die Eigenverantwortung des Opfers nicht berücksichtigt wird, wenn es darum geht, die Strafbarkeit des Täters festzustellen. 74 Der Taterfolg ist beim Betrug mehrstufig: der Täter muss beim Opfer einen Irrtum hervorrufen, durch diesen muss das Opfer eine Vermögensdisposition vornehmen und einen Schaden erleiden (siehe Jean-Richard, in: Cavallo/Hiestand/Blocher/Arnold/Käser/Caspar/ Ivic (Hrsg.), Donatsch-FS, 2012, S. 77 m.w.Nw.); Wismer, Das Tatbestandselement der Arglist beim Betrug, 1988, S. 29. 75 Aus dem gleichen Grund erübrigen sich auch Überlegungen zum Vertrauensgrundsatz: er wäre bei der objektiven Zurechnung des Erfolgs zu prüfen; nicht beim Handlungsunwert. Anders aber offenbar Sägesser, Opfermitverantwortung beim Betrug, 2014, N 372 ff. 76 Sägesser, Opfermitverantwortung beim Betrug, 2014, N 387 ff.
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Fazit: die Eigenverantwortung ist keine gute Begründung für einen verminderten Opferschutz beim Betrug und schon gar nicht beim Massenbetrug, der auf die Opfer abzielt, denen nicht bewusst ist, dass sie gegen ihre Interessen handeln. 2. Beziehungsdelikt Als weitere Begründung für einen verminderten Opferschutz wird angeführt, dass der Betrug der Interaktion zwischen Tätern und Opfern bedarf und insofern ein Beziehungsdelikt sei.77 Deswegen komme es für die Beurteilung, ob betrugsrelevante Arglist vorliege, auf das konkrete Opfer an.78 Denn wer am Geschäftsleben teilnehme, dürfe nicht leichtsinnig sein.79 Diese Argumentation bzw. die daraus resultierende Bestimmung der Strafwürdigkeit erscheint ebenfalls nicht konsequent zu sein. Auch Trickdiebe sind nur erfolgreich, wenn Opfer mit ihnen interagieren und auf den Trick hineinfallen. Trickdiebe sind aber unabhängig vom Opfer immer strafbar. Im Schweizer Strafrecht erscheinen Trickdiebe also als strafwürdiger als Trickbetrüger, wenn das konkrete Opfer leichtsinnig war.80 Das kann m. E. nicht richtig sein. Vielmehr müsste die Arglistigkeit des Betrugs an sich beurteilt werden, ohne bei jedem Opfer einzeln zu prüfen, ob das Opfer leichtsinnig war. Dies auch vor dem Hintergrund, dass sich gerade beim Massenbetrug die Täuschungshandlung an eine anonyme Masse richtet. Die Wirtschaftsbeziehungen werden gerade durch das Internet zunehmend anonym. Für eine funktionierende Wirtschaft ist es jedoch unerlässlich, dass Geschäftsbeziehungen grundsätzlich auf Vertrauen basieren und das Vertrauen auch strafrechtlich geschützt wird.81 Die Arglisthürde ist m. E. deswegen allein auf Täter-Seite festzulegen. Welche Opfergruppe wurde mit welchen Mitteln anvisiert? Wie ist z. B. eine Website aufgebaut? Ist dieser 77
Schultz, ZStrR 1956, 171 (172). Ackermann, in: Heinrich/Jäger/Achenbach/Amelung/Bottke/Haffke/Schu¨ nemann/Wolter (Hrsg.), Roxin-FS 2011, S. 961 m.w.Nw. Siehe auch BGE 142 IV 153, E. 2.2.2.: „Dabei sind die jeweilige Lage und die Schutzbedürftigkeit des Betroffenen im Einzelfall entscheidend. Rücksicht zu nehmen ist namentlich auf geistesschwache, unerfahrene oder aufgrund von Alter oder Krankheit beeinträchtigte Opfer oder auf solche, die sich in einem Abhängigkeits- oder Unterordnungsverhältnis oder in einer Notlage befinden und deshalb kaum imstande sind, dem Täter zu misstrauen.“ 79 Ackermann, in: Heinrich/Jäger/Achenbach/Amelung/Bottke/Haffke/Schu¨ nemann/Wolter (Hrsg.), Roxin-FS 2011, S. 961 m.w.Nw. 80 Ähnlich schon Basler Kommentar-Arzt, Strafrecht II, 3. Aufl., 2013, Art. 146 StGB N 67. Zur Abgrenzung von Betrug und Diebstahl siehe etwa Basler Kommentar- Maeder/Niggli, Strafrecht II, 4. Aufl., 2019, Art. 146 StGB N 30, 39, 139 ff., 145 f., 281. 81 In diese Richtung auch Sägesser, Opfermitverantwortung beim Betrug, 2014, N 373 – 374. Siehe auch BGE 142 IV 153, E. 2.2.4: „Der Vorinstanz ist zuzustimmen, dass der Regelfall des Geschäftsalltags nicht aus dem Schutzbereich des Betrugstatbestands ausgeklammert werden darf (vgl. Urteil 6B_497/2014 vom 6. März 2015 E. 3.4.2).“ Allerdings liege kein Alltagsgeschäft vor, wenn sich der Preis eines Druckers auf rund einen Drittel des mittleren verfügbaren Einkommens der Privathaushalte in der Schweiz beläuft. 78
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Aufbau geeignet, um potentielle Opfer zu täuschen? Wer ist offensichtliche Zielgruppe? Etc. 3. Erziehung der Opfer als kriminalpolitische Maßnahme Eine Verschiebung von Risikoverantwortung in Richtung der getäuschten Person wird in der Lehre etwa auch damit begründet, dass die getäuschte Person durch ihre Leichtfertigkeit den Opferschutz verspielt habe.82 Sogar das Bundesgericht hat einmal festgehalten, dass die Opfermitverantwortung der Verbrechensprävention diene.83 Künftige potentielle Opfer sollen also durch die Fehler der Opfer lernen.84 Das dürfte schwierig sein, da potentielle Opfer die bereits gewordenen Opfer in der Regel nicht kennen und die Nicht-Betrugsmaschen auch erst medial bekannt werden, wenn es bereits viele Opfer gab. Es scheint auch etwas zynisch zu sein, von Erziehung der Opfer zu sprechen, zumal trotzdem vom „Opfer“ oder vom „victime“ gesprochen wird. Der getäuschten Person wird damit die Opfereigenschaft zugesprochen und gleichzeitig wird ihr der strafrechtliche Schutz versagt.85 4. Motive des Opfers Schaut man sich die Gründe für den verminderten Opferschutz näher an, entsteht der Eindruck, dass die strafrechtliche Wertung, ob die getäuschte Person die Verantwortung für die Risikoverwirklichung trägt, davon abhängt, aus welchen Motiven sie gehandelt hat. So wird beispielsweise einem Täuschenden einzig ein Verstoß gegen die Geschäftsmoral vorgeworfen,86 der an sich noch nicht strafwürdig erscheint.87 82 Ackermann, in: Heinrich/Jäger/Achenbach/Amelung/Bottke/Haffke/Schu¨ nemann/Wolter (Hrsg.), Roxin-FS 2011, S. 964 m.w.Nw.: „Das Wissensgefälle zwischen Täter und Opfer ist hier rechtlich nicht mehr relevant, weil das Opfer durch seine Leichtfertigkeit die Möglichkeit verspielt hat, den Wissensvorsprung auszugleichen. Entsprechend hat es auch den strafrechtlichen Schutz verspielt.“ Nachweise durch Autorin entfernt. 83 BGE 128 IV 18, E. 3a): „Le principe de coresponsabilité doit amener les victimes potentielles à faire preuve d’un minimum de prudence. Il s’agit d’une mesure de prévention du crime, la concrétisation d’un programme de politique criminelle“. Mit Verweis auf Cassani, ZStrR 1999, 152 (174). 84 Zu Recht kritisch dazu Basler Kommentar-Arzt, Strafrecht II, 3. Aufl., 2013, Art. 146 StGB N 119: „Wie soll die Prävention bei potentiellen Opfern (im Sinne des Lerneffektes – aus Schaden wird man klug) funktionieren, wo wir auf der Täterseite der Generalprävention (Androhung des [632] Strafu¨ bels fu¨ hrt zu Klugheit durch Rechtsgehorsam) eher skeptisch gegenu¨ berstehen?“ Siehe auch N 123. 85 Ähnlich schon Basler Kommentar-Arzt, Strafrecht II, 3. Aufl., 2013, Art. 146 StGB N 119 m.w.Nw. 86 Ackermann, in: Heinrich/Jäger/Achenbach/Amelung/Bottke/Haffke/Schu¨ nemann/Wolter (Hrsg.), Roxin-FS 2011, S. 950. 87 Ackermann, in: Heinrich/Jäger/Achenbach/Amelung/Bottke/Haffke/Schu¨ nemann/Wolter (Hrsg.), Roxin-FS 2011, S. 960.
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Der Getäuschten hingegen wird Leichtsinnigkeit, Spielfreudigkeit und Gier vorgeworfen. Motive, die einen strafrechtlichen Schutz entfallen lassen sollen, zumal sie schon den Motivationszusammenhang zwischen Täuschung, Irrtum und Vermögensdisposition in Frage stellen würden.88 Bei der Verantwortungsverteilung wird bei solchen Lehrmeinungen also auch abgewogen, welche moralischen Vorwürfe schwerer wiegen. Wiegen die moralischen Vorwürfe an die täuschende Person nicht schwerer als die moralischen Vorwürfe an die getäuschte Person, erscheine das Verhalten der täuschenden Person nicht strafwürdig. Sie bewege sich im „Täuschungsfreibereich“89. Dies auch deshalb, weil Menschen besonders leicht hinters Licht zu führen seien, wenn sie selbst auf einen schnellen und mühelosen Profit hoffen. Das Opferverschulden sei dann in der Regel so hoch zu werten, dass nicht mehr von Arglist gesprochen werden könne.90 So hat auch das Bundesgericht im Rigi-Entscheid die Opfermitverantwortung unter anderem deswegen bejaht, weil die getäuschte Bank zu einem rechtswidrigen Geschäft Hand bieten wollte.91 In einem anderen Fall hat es die Opfermitverantwortung unter anderem verneint, weil der Täter an die Hilfsbereitschaft des Opfers appelliert hatte und es „folglich nicht um ein lukratives Geschäftsangebot“92 gegangen sei. Dass Opfer nicht durch das Strafrecht zu schützen sind, wenn sie aus moralisch fragwürdigen Motiven handeln, erscheint auf den ersten Blick nachvollziehbar. Die Gefährlichkeit der Täuschung soll nur strafbar sein, wenn sie einen sozialethischen Unwert darstellt.93 Jedoch wird auf den zweiten Blick klar, dass sich daraus auch schwierige Abgrenzungsprobleme ergeben. Sorglosigkeit, Bequemlichkeit, Leichtsinn, Leichtgläubigkeit, Gier, Aberglaube und Dummheit sind Schwächen, die ineinander übergehen.94 Außerdem stellt sich die Frage, wann und warum die Opfermotive das Verschulden der (durchtriebenen) Täter entlasten sollen.95 Schließlich hat das Bundesgericht in einem frühen Entscheid zum Betrug festgehalten, dass die Rechtsprechung keinen Freibrief gebe „auf die Gutgläubigkeit und Unvorsichtigkeit des
88 Ackermann, in: Heinrich/Jäger/Achenbach/Amelung/Bottke/Haffke/Schu¨ nemann/Wolter (Hrsg.), Roxin-FS 2011, S. 951. So auch das Bundesgericht, Urteil 6B_717/2012, 3.9. 89 Diesen Begriff verwendet Ackermann, in: Heinrich/Jäger/Achenbach/Amelung/Bottke/ Haffke/Schu¨ nemann/Wolter (Hrsg.), Roxin-FS 2011, S. 955. 90 Cassani, ZStrR 1999, 152 (168). 91 Jean-Richard, in: Cavallo/Hiestand/Blocher/Arnold/Käser/Caspar/Ivic (Hrsg.), Donatsch-FS, 2012, S. 94. Zum Rigi-Fall siehe oben II.3.a). 92 BGer 6B_518/2012, E. 3.4.1. 93 Jositsch/Lüthi, in: Schwarzenegger/Nägeli (Hrsg.), 6. Zürcher Präventionsforum – Ältere Menschen und ihre Erfahrungen mit der Kriminalität, 2013, S. 43 m.w.Nw. 94 So Basler Kommentar-Arzt, Strafrecht II, 3. Aufl., 2013, Art. 146 StGB N 119. 95 In diese Richtung gingen bereits frühe Lehrmeinungen aus den 1930er, 1940er und 1950er Jahren. Siehe dazu Jean-Richard, in: Cavallo/Hiestand/Blocher/Arnold/Käser/Caspar/ Ivic (Hrsg.), Donatsch-FS, 2012, S. 85 f. m.w.Nw.
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Gegners zu spekulieren.“96 In neuerer Zeit ist das Bundesgericht, Arzt folgend, dazu übergegangen, bei Privatpersonen als Opfer auch dann Arglist anzunehmen, wenn diese sich aus gierig-vertrauensselig-unseriösem Gewinnstreben haben täuschen lassen.97 Dies ist zu begrüßen. Insbesondere auch weil die Täter gerade beim Massenbetrug auf inferiore Opfer abzielen und auf Opfer, denen eine Überprüfung erst möglich ist, wenn es bereits zu spät ist (der invisible-gorilla-Effekt, siehe oben II.5). Gezielt wird regelmäßig auch auf Opfer, die sich selbst in eine Lage gebracht haben, in der sie für Betrüger angreifbarer werden. Etwa wenn sich ein Opfer stark verschuldet hat und keine Kredite mehr erhält. Zu Recht hat das Bundesgericht aber festgehalten, dass Handlungen oder Unterlassungen des Opfers, die einem qualifiziert täuschenden Verhalten des Täters vorangegangen sind, von vornherein keine Opfermitverantwortung begründen.98 Damit kommt dem Opfer selbst dann strafrechtlicher Schutz zu, wenn die Täuschung oder die Lage, in der sich das Opfer befindet, als selbstverschuldet wahrgenommen werden.99
IV. Plädoyer für mehr Opferschutz bei Massenbetrug Das Tatbestandsmerkmal der Arglist ist unscharf und führt zu Unsicherheiten. Es erlaubt den Gerichten, „den strafrechtlichen Schutz selektiv zu gestalten.“100 Dabei kann und sollte das Gericht die Arglisthürde opferfreundlich auslegen, indem es eine Opfermitverantwortung nicht beim konkreten einzelnen Opfer prüft, sondern beim Verhalten der Täter. Die bereits in diese Richtung gehende Rechtsprechung des Bundesgerichts, das bei gleichgelagerten Fällen, die sich bezüglich Opfergesichtspunkten nicht wesentlich unterscheiden, eine allgemeine Prüfung der Arglist zulässt, solange es in einzelnen Fällen keine deutlichen Abweichungen vom üblichen Handlungsmuster gibt, ist zu begrüßen.101
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BGE 72 IV 126, E. 1. BGer 6B_497/2014; 6B_150/2017; 6B_977/2018. In den Urteilen wird jeweils auf Basler Kommentar-Arzt, Strafrecht II, 3. Aufl., 2013, N. 67 ff. zu Art. 146 StGB verwiesen. Siehe insbesondere Basler Kommentar-Arzt, Strafrecht II, 3. Aufl., 2013, Art. 146 StGB N 81 mit zahlreichen Rechtsprechungsbeispielen. 98 BGE 143 IV 302, Regeste. In dem Fall ging es um eine bei Abschluss einer Vollkaskoversicherung unterbliebene Besichtigung und Prüfung eines Fahrzeugs auf Schäden, die bereits vor Abschluss der Versicherung bestanden haben. Kritisch zu diesem Urteil Villard, L’astuce dans l’escroquerie à l’assurance privée, in: sui-generis 2017, S. 303 ff., DOI: https:// doi.org/10.21257/sg.51 (abgerufen im Februar 2020). 99 A.A. wohl Basler Kommentar-Maeder/Niggli, Strafrecht II, 4. Aufl., 2019, Art. 146 StGB N 72. 100 Cassani, ZStrR 1999, 152 (174). 101 BGE 119 IV 284, Regeste. 97
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Es ist mithin zu prüfen, auf welche Art von Opfern die Täter gezielt haben. Arbeiten die Täter mit Tricks oder legen sie Köder aus, die beispielsweise menschliche Aufmerksamkeitsdefizite gezielt ausnutzen, ist die Arglist zu bejahen, ohne dass bei den konkreten Opfern zu prüfen ist, ob deren Opfermitverantwortung die Arglist ausschließt.102 Entgegen Ackermann ist den Opfern nicht vorzuwerfen, dass sie durch ihre Leichtfertigkeit den Opferschutz verspielt haben.103 Vielmehr soll die Täter der Vorwurf treffen, dass sie es mit ihrem Verhalten auf eine bestimmte Opfergruppe angelegt haben und sie damit ihren „Täuschungsfreibereich“ verspielt haben.104 Abzustellen ist dabei nicht auf diejenigen, die fähig sind, die Täuschung zu durchschauen und die etwa im „selective attention test“105 den Gorilla sehen würden, sondern eben auf jene große Masse, die den Gorilla nicht sieht und deswegen auf entsprechend aufgebaute Täuschungen leicht hereinfällt. Dasselbe muss für den EnkelTrickbetrug gelten. Rufen Täter gezielt ältere Menschen an und bitten sie unter Angabe einer falschen Identität um Geld, spielt es keine Rolle, dass einzelne Zielpersonen Verdacht schöpfen und nicht auf die Täuschung hereinfallen. Vielmehr ist wiederum darauf abzustellen, dass ein großer Teil der Zielgruppe leicht auf diesen Trick hereinfällt.106
V. Fazit Mit dem Arglistmerkmal hat der Schweizer Gesetzgeber eine Strafbarkeitshürde aufgestellt, die den potentiellen Opfern eine gewisse Eigenverantwortung aufbürdet. Die Arglist ist allerdings ein unscharfes Merkmal, das durch die Rechtsprechung konkretisiert werden musste und weiter konkretisiert wird. Die Arglisthürde wird 102
So bereits Jean-Richard, in: Cavallo/Hiestand/Blocher/Arnold/Käser/Caspar/Ivic (Hrsg.), Donatsch-FS, 2012, S. 100: „Deshalb ist zu hoffen, dass das Bundesgericht vom Negativkriterium der Opfermitverantwortung abkehren wird, so dass das ,Köderprinzip‘ bei der Verbrechensbekämpfung den ihm gebührenden Platz erlangen kann.“ 103 Ackermann, in: Heinrich/Jäger/Achenbach/Amelung/Bottke/Haffke/Schu¨ nemann/Wolter (Hrsg.), Roxin-FS 2011, S. 964 m.w.Nw. Zitiert in Fn. 82. 104 Auch Jositsch/Lüthi halten fest: „Kalkuliert der Betrüger ihm wohlbekannte typische Eigenschaften, intellektuelle Mängel oder emotionale Gegebenheiten in seinen Tatplan ein und nützt er diese bewusst aus, bedingt dies eine höhere Schutzwürdigkeit des Getäuschten – gewährleistet durch den staatlichen Strafanspruch.“ (Jositsch/Lüthi, in: Schwarzenegger/Nägeli (Hrsg.), 6. Zürcher Präventionsforum – Ältere Menschen und ihre Erfahrungen mit der Kriminalität, 2013, S. 45 m.w.Nw.). 105 Siehe dazu oben II.5. 106 A.A. und deswegen für die Abschaffung des Arglistelements sind Jositsch/Lüthi, in: Schwarzenegger/Nägeli (Hrsg.), 6. Zürcher Präventionsforum – Ältere Menschen und ihre Erfahrungen mit der Kriminalität, 2013, S. 51 f.: „Es liegt auf der Hand, dass in einem typischen Fall von Enkeltrickbetrug [S. 52] hinsichtlich der Täuschungshandlung keine besondere Arglist auszumachen ist: Der telefonische Anruf zwecks Bitte um Geld unter Angabe einer falschen Identität kann nach geltendem Verständnis nicht a priori als arglistig qualifiziert werden. […] In vielen Fällen schöpfen die zu täuschenden Senioren zudem auch Verdacht.“
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dabei je nach Opfer unterschiedlich hoch angesetzt. Bei inferioren Opfern ist sie niedriger als bei superioren Opfern. Zielen Täter gleichzeitig auf eine Vielzahl von Opfern ab (Massen- oder Serienbetrug), wird es schwierig, für jeden einzelnen Fall zu prüfen, inwiefern die Opfermitverantwortung die Arglisthürde erhöht oder senkt. Gemäß Bundesgericht kann die Arglist in solchen Fällen in allgemeiner Weise geprüft werden, sofern jeweils dasselbe Handlungsmuster vorliegt und sich auch die Opfer ähnlich sind (z. B. alle Opfer sind Privatpersonen; nicht geschäftserfahrene Unternehmen). Die Arglisthürde scheint damit bei Massentaten niedrig zu sein und damit der Opferschutz hoch. Dennoch werden Enkeltrickfälle und Internetbetrugsfälle regelmäßig aufgrund der Opfermitverantwortung eingestellt, zumal oft schon fraglich ist, ob überhaupt eine Täuschung vorliegt. In diesem Beitrag wird argumentiert, dass eine Täuschung bereits dann vorliegt, wenn gezielt die selektive Wahrnehmung von Menschen ausgenutzt wird, um sie dazu zu bringen, sich selber zu schädigen. Mit dem „selective attention test“ und diversen weiteren Experimenten haben Psychologen eindrücklich gezeigt, wie schnell man „Opfer“ der selektiven Wahrnehmung werden kann. Den Täuschenden hier einen Täuschungsfreibereich einzuräumen, erscheint stoßend. Den Opfern die Eigenverantwortung (evtl. sogar als kriminalpolitische Maßnahme) entgegenzuhalten, erscheint zynisch. Allenfalls könnten die Opfermotive (wohl vor allem Geldgier) die Strafwürdigkeit des Betrugs entfallen lassen. Da die Arglist aber Teil des Handlungsunwerts (nicht des Erfolgsunwerts) ist, ist sie täterseitig zu bestimmen. Deswegen ist auch beim Massenbetrug darauf abzustellen, welche Opfergruppen die Betrüger im Visier hatten, nicht aus welchen Motiven einzelne Opfer sich selber geschädigt haben.
IV. Wirtschaftsstrafrecht und Compliance
Die strafrechtliche Verantwortlichkeit deutscher Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen im Ausland Von Martin Böse
I. Einleitung Im September 2012 starben bei dem Brand einer Textilfabrik in Pakistan 259 Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich nicht aus dem Gebäude retten konnten, weil die Fenster vergittert und die Notausgänge verschlossen waren. Ein deutscher Textildiscounter (KiK) wurde daraufhin in Deutschland von mehreren Opfern bzw. deren Hinterbliebenen mit der Begründung auf Schadensersatz verklagt, dass er als Hauptabnehmer der hergestellten Waren für einen ordnungsgemäßen Brandschutz in der Fabrik hätte Sorge tragen müssen. Im Februar 2019 wurden durch einen Dammbruch an einer Eisenerzmine in Brasilien mehr als 270 Menschen getötet, nachdem eine brasilianische Tochtergesellschaft des TÜV Süd dem Betreiber der Mine in einem Gutachten trotz bestehender Mängel die Sicherheit des Dammes bestätigt hatte. Ungeachtet der in Brasilien eingeleiteten strafrechtlichen Ermittlungen wurde auch in Deutschland Strafanzeige gegen einen Mitarbeiter des TÜV Süd und gegen das Unternehmen selbst erstattet.1 Die beiden Fälle führen die Schattenseiten der Globalisierung vor Augen und werfen die Frage nach der Verantwortung deutscher Unternehmen auf, die über ihr Auslandsgeschäft (mittelbar) an deliktischem Verhalten beteiligt sind und/oder davon profitieren. Ulrich Sieber hat bereits vor mehreren Jahrzehnten das breite Spektrum von Straftaten aufgezeigt, an denen multinationale Unternehmen beteiligt sein können (Korruption, Kartellverstöße, Steuerhinterziehung, Umweltstraftaten).2 Der folgende Beitrag knüpft an diese Ausführungen an, konzentriert sich allerdings, den oben genannten Beispielen entsprechend, auf die (strafrechtliche) Verantwortlichkeit transnationaler Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen. 1
Vgl. zu diesen und ähnlichen Fällen die Darstellung durch das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), abrufbar unter https://www.ecchr.eu/cluster/aus beutung-globale-lieferketten/ (6. 12. 2019). 2 Sieber, Transnational Enterprises and Criminal Law: A General Analysis and Recommendations for the Future, in: Tiedemann (Hrsg.), Multinationale Unternehmen und Strafrecht, 1980, S. 155 (159 ff.).
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Bevor dieser Frage nachgegangen wird, bedarf zunächst der Begriff der Menschenrechtsverletzung einer Präzisierung, denn dieser impliziert auf den ersten Blick im vorliegenden Kontext eine unmittelbare Bindung transnationaler Unternehmen an die Menschenrechte. Eine solche Bindung lässt sich indes weder aus den verfassungsrechtlich garantierten Grundrechten, denen nach h.M. keine unmittelbare Drittwirkung zukommt3, noch aus dem Völkerrecht ableiten, dem sich vor allem aufgrund der fehlenden Völkerrechtssubjektivität von Unternehmen nach dem gegenwärtigen Stand der Entwicklung keine völkervertragliche oder völkergewohnheitsrechtliche Bindung an internationale Menschenrechtsstandards entnehmen lässt4. Davon unberührt bleibt indes die grund- und menschenrechtliche Schutzpflicht der Staaten („duty to protect“), die zu einer indirekten Bindung an derartige Schutzstandards führt, soweit den Unternehmen zu diesem Zweck durch die staatliche Gesetzgebung entsprechende Pflichten auferlegt werden.5 Ausfluss dieser staatlichen Schutzpflicht sind insbesondere Strafvorschriften zum Schutz von Individualrechtsgütern (Leib, Leben, Freiheit), aber auch Straftatbestände zum Schutz anderer Rechtsgüter, die zugleich auch eine menschenrechtliche Komponente aufweisen (z. B. Korruptions- und Umweltdelikte).6 Die strafrechtliche Verantwortlichkeit eines Unternehmens muss daher – dem Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 Abs. 2 GG) entsprechend – über eine dem betreffenden Unternehmen zurechenbare Begehung einer Straftat begründet werden.7 Gegenstand der folgenden Ausführungen ist nicht die Strafbarkeit der handelnden natürlichen Person, sondern die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Unternehmens. Das geltende Recht sieht insoweit die Verhängung einer Verbandsgeldbuße vor (§ 30 OWiG).8 Als Anknüpfungstaten der Repräsentanten des Unternehmens kommen dabei nicht nur vorsätzlich begangene Straftaten (bzw. die Beteiligung an diesen), sondern auch Fahrlässigkeitstaten in Betracht. Da es in den meisten Fällen 3
BVerfGE 43, 203 (209); 128, 226 (249). Eingehend Haider, Haftung von transnationalen Unternehmen und Staaten für Menschenrechtsverletzungen, 2019, S. 194 ff., 234 f. 5 Haider, Haftung (Fn. 4), S. 235; vgl. insoweit EGMR NJW 2007, 41 (43); 2010, 3003 (3006); BVerfGE 128, 226 (249). 6 Vgl. zur Korruption Böse, ZIS 2018, 119 ff.; Momsen/Willumat, KriPoZ 2019, 323 (335); zum Umweltschutz Scherf/Gailhofer/HilbertKampffmeyer/Schleicher, Umweltbezogene und menschenrechtliche Sorgfaltspflichten als Ansatz zur Stärkung einer nachhaltigen Unternehmensführung, Umweltbundesamt Texte 102/2019, S. 84 ff., abrufbar unter https://www.um weltbundesamt.de/publikationen/umweltbezogene-menschenrechtliche (6. 12. 2019). 7 Zum Teil wird die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Unternehmens auf „schwere“ Menschenrechtsverletzungen (insbesondere völkerstrafrechtliche Verbrechen und durch internationale Verträge harmonisierte Straftaten) beschränkt, s. die Empfehlung CM/Rec(2016) 3 des Ministerkomitees des Europarats vom 2. 3. 2016, Nr. 44. 8 Auf die geplante Einführung eines Verbandssanktionengesetzes (VerSanG) wird nicht eingegangen (Referentenentwurf des BMJV vom 15. 08. 2019); die dort geregelte Verbandsverantwortlichkeit übernimmt das in § 30 OWiG enthaltene Zurechnungsmodell (§ 3 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 VerSanG-E, s. insoweit auch S. 73 ff. des Entwurfs), so dass die folgenden Ausführungen im Wesentlichen übertragbar sein dürften. 4
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kaum gelingen wird, dem Organ oder Vertreter eines Unternehmens eine vorsätzliche Beteiligung an im Ausland begangenen Straftaten (Menschenrechtsverletzungen) nachzuweisen9, beschränken sich die folgenden Ausführungen auf die Begründung einer Unternehmensverantwortlichkeit über das fahrlässige Verhalten der Leitungspersonen und die Frage, ob und inwieweit aus völker- und unionsrechtlichen Standards (II.) eine menschenrechtliche Sorgfaltspflicht abgeleitet und auf deren Grundlage eine strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen begründet werden kann (III.).
II. Menschenrechtliche Sorgfaltsstandards im Völker- und Unionsrecht Wenige Jahre vor dem eingangs erwähnten Beitrag von Ulrich Sieber hatten die Vertragsstaaten der OECD sich auf Leitsätze für Multinationale Unternehmen verständigt, mit denen u. a. auch die Einhaltung sozialer Standards angemahnt wurde.10 Seitdem hat es auf internationaler Ebene eine Reihe von Initiativen gegeben, mit denen die menschenrechtliche Verantwortung von Unternehmen durch Empfehlungen und Leitprinzipien („soft law“) konkretisiert wurde und unter denen vor allem die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte hervorzuheben sind (1.).11 Die Europäische Union hat diese Standards in mehreren Rechtsakten aufgegriffen und auf dieser Grundlage zum Teil verbindliche Pflichten für Unternehmen formuliert („hard law“), die damit auch Bestandteil der deutschen Rechtsordnung geworden sind (2.).
9 S. die Dokumentation der bislang in Deutschland geführten und schließlich mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellten Ermittlungsverfahren in den Fällen Lahmeyer und Danzer durch das ECCHR (Fn. 1), abrufbar unter https://www.ecchr.eu/fall/bauen-ohne-rueck sicht-das-unternehmen-lahmeyer-und-die-vertreibungen-beim-staudammbau-im-sudan/ (6. 12. 2019) und https://www.ecchr.eu/fall/kein-verfahren-gegen-leitenden-mitarbeiter-der-danzergroup-wegen-menschenrechtsverletzungen-in-der/ (6. 12. 2019); vgl. aber Berufungsgericht ‘s-Hertogenbosch, Urt. v. 21. April 2017 – 20 – 001906 – 10 (Kouwenhoven), ECLI:NL:GHSHE:2017:1760 (Verurteilung eines niederländischen Managers wegen Beteiligung an Kriegsverbrechen); s. dazu Van Gelder/Ryngaert, RIDP 2018, 113 (128). 10 Guidelines for Multinational Enterprises – Annex to the Declaration of 21st June 1976 by Governments of OECD Member States on International Investment and Multinational Enterprises, abgedruckt in: Tiedemann (Hrsg.), Multinational Unternehmen (Fn. 2), S. 193 (198). Die im Jahr 2011 aktualisierten Leitsätze sind abrufbar unter http://mneguidelines.oecd.org/ 48808708.pdf (6. 12. 2019); vgl. zudem den OECD-Leitfaden für die Erfüllung der Sorgfaltspflicht für verantwortungsvolles unternehmerisches Handeln (2018), abrufbar unter https:// mneguidelines.oecd.org/due-diligence-guidance-for-responsible-business-conduct.htm (6. 12. 2019). 11 Eingehende Darstellung der einzelnen Soft-Law-Instrumente bei Haider, Haftung (Fn. 4), S. 215 ff.
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1. Die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte („Ruggie Principles“) Im Jahr 2011 legte der UN-Sonderbeauftragte für Menschenrechte und transnationale Konzerne sowie andere Wirtschaftsunternehmen, John Ruggie, seinen Abschlussbericht vor, der kurz darauf einschließlich der im Anhang enthaltenen Leitprinzipien vom Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen angenommen wurde.12 Diese Leitprinzipien beruhen auf drei Säulen, nämlich der Pflicht der Staaten, die Menschenrechte zu schützen („protect“), auf der Verantwortung der Unternehmen, die Menschenrechte zu achten („respect“), und der Pflicht des Staates zu gewährleisten, dass Betroffene Zugang zu gerichtlichen und außergerichtlichen Rechtsbehelfen haben („remedy“).13 Die mit der zweiten Säule adressierte unternehmerische Verantwortung für die Achtung der international anerkannten Menschenrechte (Nr. 12) verlangt von Unternehmen, nachteilige Auswirkungen auf die Menschenrechte zu vermeiden, die mit ihrer Geschäftstätigkeit, ihren Produkten oder Dienstleistungen unmittelbar verbunden sind (Nr. 13). Die unternehmerische Verantwortung erstreckt sich damit auf die gesamte Wertschöpfungskette und bezieht insbesondere die Auswirkungen der unternehmerischen Aktivitäten von ausländischen Tochtergesellschaften und Geschäftspartnern (Lieferanten, Dienstleistern etc.) ein.14 Die menschenrechtliche Verantwortung erfordert eine Grundsatzerklärung, in der das Unternehmen sich selbst zu seiner Verantwortung zur Achtung der Menschenrechte verpflichtet (Nr. 16) und die Entwicklung eines menschenrechtlichen Sorgfaltsstandards (Nr. 17 ff.). Zu diesem Zweck sollte ein Unternehmen zunächst die tatsächlichen und potenziellen Auswirkungen (d. h. die menschenrechtlichen Risiken) der eigenen Geschäftstätigkeit ermitteln (Nr. 17, 18), auf dieser Grundlage Maßnahmen ergreifen, um solche Auswirkungen zu verhüten oder zu mindern (Nr. 19), und die Wirksamkeit dieser Gegenmaßnahmen regelmäßig überprüfen (Nr. 20). Weiterhin sollten Unternehmen über die betreffenden Verfahren und Maßnahmen öffentlich Rechenschaft ablegen (Nr. 21) und, sofern die eigene Geschäftstätigkeit nachteilige Auswirkungen verursacht oder dazu beigetragen hat, für Wiedergutmachung sorgen (Nr. 22).15 Die UN-Leitprinzipien begründen keine rechtlich verbindlichen Sorgfaltspflichten der Unternehmen16, sondern mit dem Begriff der Verantwortung („responsibili12
Resolution A/HRC/RES/17/4 vom 16. 6. 2011; eine deutsche Fassung der UN-Leitprinzipien ist abrufbar unter https://www.globalcompact.de/wAssets/docs/Menschenrechte/Publika tionen/leitprinzipien_fuer_wirtschaft_und_menschenrechte.pdf (6. 12. 2019). 13 UN-Leitprinzipien (Fn. 12), Nr. 1 ff., 11 ff., 25 ff. 14 UN-Leitprinzipien (Fn. 12), S. 17. 15 Zusammenfassend zu den Kernelementen der menschenrechtlichen Sorgfaltsstandards nach den UN-Leitlinien und anderen Soft-Law-Instrumenten: Scherf/Gailhofer/HilbertKampffmeyer/Schleicher (Fn. 6), S. 38 ff. 16 Haider, Haftung (Fn. 4), S. 224; Spießhofer, NZG 2014, 1281 (1287); Wagner, RabelsZ 80 (2016), 717 (725); s. auch die UN-Leitprinzipien (Fn. 12), S. 2: „Diese Leitprinzipien sind
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ty“) wird vielmehr an die Unternehmen appelliert, in Bezug auf die Achtung der Menschenrechte ihrer sozialen Verantwortung und den insoweit bestehenden Erwartungen der Öffentlichkeit gerecht zu werden.17 Es handelt sich damit um Empfehlungen („soft law“), denen Unternehmen nachkommen „sollten“ („should“) – aber nicht müssen. Von den Staaten fordern die Leitprinzipien allerdings, dass sie gegenüber inländischen Unternehmen die Erwartung zum Ausdruck bringen, dass diese auch bei Auslandsgeschäften die Menschenrechte achten (Nr. 2), und in Wahrnehmung ihrer Schutzpflicht Rechtsvorschriften durchsetzen, mit denen von Unternehmen die Achtung der Menschenrechte eingefordert wird, sowie Unternehmen dazu anhalten, Rechenschaft abzulegen, wie sie ihrer menschenrechtlichen Verantwortung gerecht werden (Nr. 3). Wortlaut („sollten“, „Erwartung“) und Begründung dieser Leitsätze lassen allerdings erkennen, dass den Staaten bei der Wahrnehmung ihrer Schutzpflicht weiterhin ein breiter Spielraum verbleiben soll.18 Dementsprechend hat die Bundesregierung in ihrem Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Leitprinzipien zunächst nur die Erwartung formuliert, dass mindestens die Hälfte aller in Deutschland ansässigen Unternehmen mit über 500 Beschäftigten freiwillig bis 2020 die in den Leitprinzipien beschriebenen menschenrechtlichen Sorgfaltsstandards in ihre Unternehmensprozesse integriert haben, und setzt damit auf die (freiwillige) unternehmerische Selbstverpflichtung (z. B. „Bündnis für nachhaltige Textilien“)19 und/oder Zertifizierungen („Grüner Knopf“)20, hat aber von der Normierung einer verbindlichen menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht (vorerst) abgesehen.21
nicht so auszulegen, dass durch sie neue völkerrechtliche Verpflichtungen geschaffen … würden …“. 17 Ruggie, Protect, Respect and Remedy: a Framework for Business and Human Rights, Report of the Special Representative of the Secretary-General on the issue of human rights and transnational corporations and other business enterprises, A/HRC/8/5, 7. 4. 2008, Rn. 54, abrufbar unter https://www.business-humanrights.org/sites/default/files/reports-and-materials/Rug gie-report-7-Apr-2008.pdf (6. 12. 2019). 18 UN-Leitprinzipien (Fn. 12), S. 4, 5 ff. 19 Nationaler Aktionsplan – Umsetzung der VN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte (2016–2020), S. 10, 19 ff., abrufbar unter https://www.auswaertiges-amt.de/blob/ 297434/8d6ab29982767d5a31d2e85464461565/nap-wirtschaft-menschenrechte-data.pdf (6. 12. 2019). 20 ZEIT-ONLINE vom 19. 9. 2019, abrufbar unter https://www.zeit.de/die-antwort/ 2019 - 09/gruener-knopf-textilien-siegel-fair-mode (6. 12. 2019); vgl. auch www.gruenerknopf.de (6. 12. 2019). 21 Haider, Haftung (Fn. 4), S. 228; s. die entsprechende Kritik von mehreren Nichtregierungsorganisationen (Amnesty International Deutschland, Brot für die Welt, Forum Menschenrechte, Corporate Accountibility [Netzwerk für Unternehmensverantwortung], Germanwatch und Misereor) vom 6. 2. 2017, abrufbar unter https://germanwatch.org/sites/germa nwatch.org/files/publication/17288.pdf (6. 12. 2019).
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2. Menschenrechtliche Sorgfalts- und Berichtspflichten im Unionsrecht Die internationale Entstehung menschenrechtlicher Sorgfaltsstandards hat nicht nur die nationale Gesetzgebung, sondern auch das Unionsrecht maßgeblich beeinflusst und dort – zumindest teilweise – zu rechtlich verbindlichen Standards geführt. So wurde mit der EU-Konfliktmineralienverordnung im Unionsrecht erstmals ein verbindlicher Sorgfaltsstandard zum Schutz von Menschenrechten festgelegt, der dem Importeur von bestimmten Mineralien und Metallen aus Konfliktgebieten Sorgfaltspflichten in Bezug auf die Lieferkette auferlegt; diese Pflichten dienen dem Ziel, tatsächliche und potenzielle Risiken im Zusammenhang mit einer Beschaffung aus Konfliktgebieten zu ermitteln und ihnen zu begegnen und auf diese Weise schädliche Auswirkungen von entsprechenden Geschäftstätigkeiten zu verhindern oder zu mildern.22 Die Einführung eines verbindlichen Sorgfaltsstandards beruhte dabei vor allem auf der Erwägung, dass Menschenrechtsverletzungen in rohstoffreichen Konfliktgebieten weit verbreitet sind, da der Rohstoffhandel häufig der Finanzierung von Konfliktparteien dient, welche die lokale Bevölkerung zu diesem Zweck brutal unterdrücken und ausbeuten.23 Darüber hinaus hat der Unionsgesetzgeber den ebenfalls in den UN-Leitprinzipien angelegten Gedanken aufgegriffen, die Unternehmen dazu anzuhalten, öffentlich Rechenschaft darüber abzulegen, ob und auf welche Weise sie ihre menschenrechtliche Verantwortung wahrnehmen, und die in der EU-Bilanzrichtlinie enthaltenen Berichtspflichten um nichtfinanzielle Angaben zur sozialen Verantwortung des Unternehmens („corporate social responsibility“) erweitert (CSR-Richtlinie).24 Der deutsche Gesetzgeber hat diese unionsrechtlichen Vorgaben umgesetzt, indem er Kapitalgesellschaften einer bestimmten Größenordnung zur Abgabe einer nichtfinanziellen Erklärung verpflichtet hat (§ 289b HGB), die u. a. Angaben zum Geschäftsmodell (§ 289c Abs. 1 HGB), zur Achtung von Menschenrechten (§ 289c Abs. 2 Nr. 4 HGB) und zu den darauf bezogenen Sorgfaltsstandards (Due-Diligence-Prozesse) und deren Evaluation sowie zu den mit der eigenen Geschäftstätigkeit verbundenen Risiken von nachteiligen Auswirkungen und der Handhabung dieser Risiken 22 Art. 3 ff. Verordnung (EU) 2017/821 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. 5. 2017 zur Festlegung von Pflichten zur Erfüllung der Sorgfaltspflichten in der Lieferkette für Unionseinführer von Zinn, Tantal, Wolfram, deren Erzen und Gold aus Konflikt- und Hochrisikogebieten, ABl. EU L 130 vom 19. 5. 2017, S. 1; s. insoweit auch den OECD-Leitfaden für die Erfüllung der Sorgfaltspflicht zur Förderung verantwortungsvoller Lieferketten für Minerale aus Konflikt- und Hochrisikogebieten, abrufbar unter https://www.oecd-ilibrary. org/docserver/3d21faa0-de.pdf?expires=1574944877&id=id&accname=guest&checksum= 03AFE30204AD062E816AFBDC48E894B0 (6. 12. 2019). 23 Erwägungsgründe (2) und (3) der Verordnung; s. insoweit auch die Resolution S/RES/ 1952 (2010) des UN-Sicherheitsrats vom 29. 11. 2010 zur Demokratischen Republik Kongo. 24 Richtlinie 2014/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2014 zur Änderung der Richtlinie 2013/34/EU im Hinblick auf die Angabe nichtfinanzieller und die Diversität betreffender Informationen durch bestimmte große Unternehmen und Gruppen, ABl. EU L 330 vom 15. 11. 2014, S. 1.
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(§ 289c Abs. 3 Nr. 1 – 4 HGB) enthalten. Soweit die Gesellschaft in Bezug auf einen oder mehrere dieser Aspekte kein Konzept verfolgt, hat sie dies zu erläutern (§ 289c Abs. 4 HGB). Ein Verstoß gegen die Pflicht zur Abgabe der nichtfinanziellen Erklärung kann als Ordnungswidrigkeit (§ 334 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3a HGB), die Abgabe einer unrichtigen Erklärung sogar mit Kriminalstrafe geahndet werden (§ 331 Abs. 1 Nr. 1 HGB).
III. Strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen Mit der Umsetzung der CSR-Richtlinie besteht zwar eine Möglichkeit, eine Verbandsgeldbuße gegen Gesellschaften zu verhängen, die gegen die Pflicht zur Abgabe einer (richtigen) nichtfinanziellen Erklärung verstoßen haben. Geahndet wird dabei allerdings nicht die (mittelbare) Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen, sondern allein der Verstoß gegen die Rechenschaftspflicht. Eine Verantwortlichkeit des Unternehmens für strafbare Menschenrechtsverletzungen im Ausland könnte sich allerdings ergeben, wenn sich über die UN-Leitlinien mittelbar eine rechtlich verbindliche menschenrechtliche Sorgfaltspflicht begründen lässt. Ein solcher Fahrlässigkeitsvorwurf kommt aber grundsätzlich nur in Betracht, soweit das deutsche Recht neben vorsätzlichem auch fahrlässiges Verhalten unter Strafe stellt (z. B. §§ 222, 229, 306d, 313 Abs. 2 StGB). Diese Beschränkung auf Fahrlässigkeitstaten gilt allerdings nicht, soweit § 130 OWiG die (fahrlässige) Aufsichtspflichtverletzung als eigenständige Ordnungswidrigkeit ausgestaltet, die damit auch als fahrlässige Anknüpfungstat für eine Verbandsgeldbuße in Betracht kommt, soweit mit der Aufsichtspflicht die Begehung vorsätzlicher Straftaten verhindert oder erschwert werden sollen. Dem weitergehenden Anwendungsbereich entsprechend, soll daher untersucht werden, ob eine menschenrechtliche Sorgfaltspflicht aus § 130 OWiG abgeleitet werden kann (1.), bevor auf eine Verantwortlichkeit für Fahrlässigkeitsdelikte eingegangen wird (2.). 1. Aufsichtspflichten in Betrieben und Unternehmen (§ 130 OWiG) Der Tatbestand der Aufsichtspflichtverletzung knüpft an die Pflicht des Inhabers eines Betriebs oder eines Unternehmens an, durch Aufsichtsmaßnahmen die Begehung von Straftaten in seinem Betrieb bzw. Unternehmen zu verhindern (§ 130 Abs. 1 OWiG). Eine im Inland ansässige Gesellschaft könnte also für eine Straftat, die im Ausland von dem Vertreter einer ausländischen Tochtergesellschaft oder eines ausländischen Zulieferers begangen worden ist, nur dann zur Verantwortung gezogen werden, wenn sich die Aufsichtspflicht der Muttergesellschaft nicht auf die Geschäftstätigkeit im Inland beschränkt, sondern auch auf die Aktivitäten der Tochter-
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gesellschaft bzw. des Zulieferers im Ausland25, mithin die gesamte Wertschöpfungskette als betriebliche bzw. unternehmerische Einheit anzusehen ist.26 Nach allgemeiner Auffassung ist als Betrieb die räumlich-organisatorische Zusammenfassung von Personal- und Sachmitteln unter einheitlicher Leitung anzusehen, während der Unternehmensbegriff nicht als technisch-organisatorische, sondern als rechtlich-wirtschaftliche Einheit (Verwertung eines einheitlichen Kapitals zur Gewinnerzielung) verstanden wird.27 Ausländische Zulieferer und Tochtergesellschaften sind demnach aufgrund ihrer räumlich-organisatorischen Trennung von der inländischen Gesellschaft als eigenständige Betriebe anzusehen. Ihre rechtliche Selbstständigkeit spricht auch dagegen, sie zusammen mit der Inlandsgesellschaft als rechtlich-wirtschaftliche Einheit i.S. eines Unternehmens anzusehen. Dementsprechend wird im Schrifttum eine Aufsichtspflicht der Konzernmuttergesellschaft unter Hinweis auf das gesellschaftsrechtliche Trennungsprinzip abgelehnt.28 Demgegenüber sieht die h.M. als Unternehmen nicht den Unternehmensträger (die Mutterbzw. Tochtergesellschaft als juristische Person), sondern den Konzern als planvoll wirkende Wirtschaftseinheit an und bejaht auf dieser Grundlage eine konzernweite Aufsichtspflicht der Muttergesellschaft, soweit diese faktisch die Geschäftstätigkeit der Tochtergesellschaften bestimmt.29 Diese Sichtweise entspricht dem Unternehmensbegriff im EU-Kartellrecht, den der deutsche Gesetzgeber mit der 9. GWB-Novelle als Grundlage einer bußgeldrechtlichen Aufsichtspflicht im Konzern nunmehr ausdrücklich in § 81 Abs. 3a GWB übernommen hat.30 Auf der Grundlage der h.M. ließe sich daher in dem zweiten der eingangs geschilderten Beispielsfälle eine Pflicht des TÜV Süd (Deutschland) begründen, durch angemessene Aufsichtsmaßnahmen die Begehung von Straftaten durch Mitarbeiter der brasilianischen Tochtergesell25
Zur Anwendbarkeit des § 130 OWiG auf im Ausland begangene, nicht durch Aufsichtsmaßnahmen verhinderte bzw. erschwerte Zuwiderhandlungen siehe unten 3. 26 Gleß, in: Stein/Greco/Jäger/Wolter (Hrsg.), Rogall-FS, 2018, S. 327 (340 f.); Kroker, CCZ 2015, 120 (126); vgl. auch allgemein zur strafrechtlichen Geschäftsherrenhaftung: Gleß, ebenda, S. 336 ff.; Saage-Maaß, NK 2014, 228 (237 f.). 27 Niesler, in: Graf/Jäger/Wittig (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht, 2. Aufl. 2017, § 130 OWiG Rn. 15; Rogall, in: Mitsch (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, 5. Aufl. 2018, § 9 Rn. 75 f., § 130 Rn. 23. 28 Eingehend Aberle/Holle, in: Eisele/Koch/Theile (Hrsg.), Der Sanktionsdurchgriff im Unternehmensverbund, 2014, S. 117, 118 ff.; Koch, ZHR 171 (2007), 554 (574 ff.), jeweils m.w.N.; vgl. auch zur deliktsrechtlichen Konzernhaftung für Menschenrechtsverletzungen: Weller/Kaller/Schulz, AcP 226 (2016), 387 (401 f.); Wagner, RabelsZ 80 (2016), 717 (765 f.). 29 OLG München CCZ 2016, 44 (45 f.); Caracas, Verantwortlichkeit in internationalen Konzernstrukturen nach § 130 OWiG, 2013, S. 81 ff.; Minkoff, Sanktionsbewehrte Aufsichtspflichten im internationalen Konzern, 2016, S. 244 ff.; Muders, Die Haftung im Konzern für die Verletzung des Bußgeldtatbestands des § 130 OWiG, 2014, S. 68 ff.; Niesler, in: Graf/ Jäger/Wittig, Wirtschaftsstrafrecht (Fn. 27), § 130 OWiG Rn. 52 ff.; KK-OWiG/Rogall, § 130 Rn. 27; Vogt, Die Verbandsgeldbuße gegen eine herrschende Konzerngesellschaft, 2009, S. 233 ff. 30 S. dazu BT-Drucks. 18/10207, S. 88 ff.; Ost/Kallfaß/Roesen, NZKartR 2016, 447 (455 ff.).
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schaft (§§ 222, 313 Abs. 2 StGB) zu verhindern, sofern die deutsche Muttergesellschaft einen beherrschenden Einfluss auf deren Geschäftstätigkeit ausübt. Um die Unternehmen im Sinne der nach den UN-Leitprinzipien bestehenden Verantwortung für die Achtung der Menschenrechte in der gesamten Wertschöpfungskette in die Pflicht zu nehmen, könnte nunmehr erwogen werden, die Aufsichtspflicht nach § 130 OWiG nicht nur auf Tochtergesellschaften, sondern auch auf ausländische Zulieferer zu erstrecken (vgl. insoweit den ersten Beispielsfall), wenn und soweit eine deutsche Gesellschaft deren Geschäftstätigkeit (z. B. aufgrund einer wirtschaftlichen Abhängigkeit des Zulieferers gegenüber seinem Hauptabnehmer) faktisch (mit-)bestimmen kann.31 Eine solche Auslegung wäre indes mit dem herkömmlichen Begriffsverständnis nicht mehr vereinbar, da die über eine Wertschöpfungskette verbundenen Unternehmen nicht ein einheitliches Kapital zur Gewinnerzielung einsetzen und dabei als wirtschaftliche Einheit (d. h. unter einer einheitlichen Leitung) agieren. Sie ließe sich auch in der Sache kaum rechtfertigen, denn die Aufsichtspflicht begründet eine Verantwortung, die sich auf die Verhinderung jedweder betriebsbezogenen Straftat oder Ordnungswidrigkeit erstreckt, und setzt dementsprechend eine umfassende Leitungsmacht voraus. Die über Geschäfts- und Vertragsbeziehungen vermittelten Einflussmöglichkeiten auf die Geschäftstätigkeit anderer Gesellschaften sind demgegenüber aufgrund von deren rechtlicher und wirtschaftlicher Selbstständigkeit begrenzt; dies gilt erst recht bei mehrstufigen Lieferketten, bei denen zum Teil nicht einmal eine (unmittelbare) vertragliche Beziehung zur deutschen Gesellschaft besteht. Diese (faktischen) Grenzen, auf andere Betriebe der Wertschöpfungskette Einfluss zu nehmen, werden in den UN-Leitprinzipien ausdrücklich anerkannt [Nr. 19 (b)].32 Selbst wenn seine wirtschaftliche Machtstellung es einem deutschen Unternehmer erlaubt, seine ausländischen Zulieferer mit der Drohung, die Geschäftsbeziehung anderenfalls abzubrechen, zur vertraglichen Übernahme bestimmter Standards zu bringen, so geht damit immer noch keine allgemeine und umfassende Kontrolle der Geschäftstätigkeit einher. Dies wäre jedoch erforderlich, da sich die Aufsichtspflicht nach § 130 OWiG nicht auf bestimmte Straftaten bzw. Menschenrechtsverletzungen beschränkt, sondern darauf gerichtet ist, jedwede betriebsbezogene Zuwiderhandlung innerhalb der wirtschaftlichen Einheit (d. h. der gesamten Wertschöpfungskette) zu verhindern. § 130 OWiG erweist sich damit als zu starr, um als Grundlage für ein nach tatsächlichen Einflussmöglichkeiten abgestuftes Konzept menschenrechtlicher Sorgfaltspflichten dienen zu können. 31
Gleß, in: Rogall-FS (Fn. 26), S. 340 f.; Momsen/Willumat, KriPoZ 2019, 323 (332); zur zivilrechtlichen Deliktshaftung: Osieka, Zivilrechtliche Haftung deutscher Unternehmen für menschenrechtsbeeinträchtigende Handlungen ihrer Zulieferer, 2014, S. 104 f. 32 „Angemessene Maßnahmen nehmen unterschiedliche Formen an, abhängig davon: (i) ob das Wirtschaftsunternehmen eine nachteilige Auswirkung verursacht oder dazu beiträgt, oder ob es lediglich daran beteiligt ist, weil die Auswirkung wegen einer Geschäftsbeziehung unmittelbar mit seiner Geschäftstätigkeit, seinen Produkten oder seinen Dienstleistungen verbunden ist; (ii) welches Einflussvermögen es besitzt, der nachteiligen Auswirkung zu begegnen.“
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2. Allgemeine menschenrechtliche Sorgfaltspflichten Neben einer Aufsichtspflichtverletzung kommt als Anknüpfungstat für eine Unternehmensgeldbuße auch die Fahrlässigkeitstat eines Repräsentanten in Betracht, soweit diesen eine menschenrechtliche Sorgfaltspflicht trifft. Um die Sorgfaltsstandards der UN-Leitprinzipien in rechtsverbindliche Pflichten zu überführen, lassen sich zwei unterschiedliche Begründungsansätze unterscheiden: a) Zunächst könnte erwogen werden, aus einer nichtfinanziellen Erklärung, in der das Unternehmen sich zu seiner menschenrechtlichen Verantwortung bekannt und entsprechende Due-Diligence-Prozesse beschrieben hat, eine rechtlich verbindliche Pflicht des Unternehmens abzuleiten, diesen Sorgfaltsstandard einzuhalten.33 Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass auch bei der Begründung einer Garantenpflicht nach der Rechtsprechung nicht die rechtswirksame Verpflichtung, sondern die tatsächliche Übernahme eines Pflichtenprogramms maßgeblich sei.34 Diese Begründung setzt allerdings voraus, dass durch die tatsächliche Übernahme der Schutzfunktion ein berechtigtes Vertrauen auf deren Wahrnehmung durch die „übernehmende“ Person entsteht, so dass der Rechtsgutsinhaber (oder ein anderer Schutzpflichtiger) daraufhin von eigenen Maßnahmen absehen kann.35 Die CSR-Erklärung ist indes nicht geeignet, bei den potentiellen Opfern von Menschenrechtsverletzungen im Ausland die Erwartung zu wecken, dass das betreffende Unternehmen den beschriebenen Sorgfaltsstandard einhalten wird, denn die CSR-Erklärung ist nicht an Arbeitnehmer ausländischer Zulieferer oder andere Betroffene im Ausland gerichtet, sondern an das Anlegerpublikum und die Kunden im Inland, die sich in ihrem Konsumverhalten (möglicherweise) auch von der Art und Weise leiten lassen, in der ein Unternehmen seiner menschenrechtlichen Verantwortung gerecht wird.36 Eine Bindungswirkung widerspräche überdies der Konzeption des mit der CSRRichtlinie verfolgten Ansatzes, der nicht auf sanktionsbewehrte Pflichten, sondern auf die Kontrollfunktion der Öffentlichkeit setzt. Die CSR-Erklärung begründet daher für das betreffende Unternehmen keine verbindlichen Sorgfaltsstandards. b) Da die Reichweite unternehmerischer Sorgfaltspflichten maßgeblich durch die Verkehrsanschauung (mit-)bestimmt wird, könnte die zunehmende Verbreitung von menschenrechtlichen Sorgfaltsstandards in der unternehmerischen Praxis mittelbar den Sorgfaltsmaßstab prägen und den UN-Leitlinien damit indirekt zur Verbindlichkeit verhelfen.37 So ist in anderem Zusammenhang durchaus anerkannt, dass auch 33
Vgl. Gleß, in: Rogall-FS (Fn. 26), S. 339. Saage-Maaß/Hackmack, Comply 4/2016, 66 (67); vgl. insoweit BGHSt 47, 224 (229 f.). 35 NK-StGB/Gaede, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar zum StGB, 5. Aufl. 2017, § 13 Rn. 38 m.w.N. 36 Vgl. zur deliktsrechtlichen Haftung: Wagner, RabelsZ 80 (2016), 717 (778). 37 Momsen/Schwarze, Criminal Law Forum 2018, 567 (588); Saage-Maaß, NK 2014, 228 (236); Zerbes, in: Jeßberger/Kaleck/Singelnstein (Hrsg.), Wirtschaftsvölkerstrafrecht, 2015, S. 205 (226). 34
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rechtlich unverbindlichen Sonderregeln (z. B. DIN-Normen) eine Indizwirkung bei der Bestimmung der jeweiligen Sorgfaltspflicht zukommen kann.38 Eine im Wege der Auslegung erfolgende Transformation der UN-Leitlinien in rechtlich bindende Sorgfaltspflichten sieht sich allerdings wiederum dem Einwand ausgesetzt, dass sie im Gegensatz zu dem vom Gesetzgeber verfolgten Modell freiwilliger Selbstverpflichtung steht, das mit der Beschränkung auf Publizitäts- und Transparenzpflichten gerade von der Einführung einer verbindlichen menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht abgesehen hat (s. oben II.2.). Wie die EU-Konfliktmineralienverordnung zeigt, sind menschenrechtliche Sorgfaltspflichten, die auf die Vermeidung nachteiliger Auswirkungen der Geschäftstätigkeit in der gesamten Wertschöpfungskette abzielen, im geltenden Recht (noch) die Ausnahme. Diese Zurückhaltung beruht auf der grundsätzlichen Erwägung, dass es nicht zu den Sorgfaltspflichten eines Unternehmers gehört, die Begehung von Straftaten seiner Kunden bzw. Geschäftspartner zu verhindern, sondern der Unternehmer grundsätzlich auf deren Rechtstreue vertrauen darf.39 Für das eigene Verhalten ist vielmehr jedermann selbst verantwortlich, und diesem Prinzip der Eigenverantwortung widerspräche zugleich eine Pflicht, Straftaten Dritter zu verhindern; aus diesem Grund wird im Schrifttum eine restriktive Auslegung der Garantenpflicht des Betriebsinhabers gefordert.40 Die gesetzliche Anerkennung einer solchen Aufsichtspflicht (§ 130 OWiG) zeigt aber zugleich, dass dieser Grundsatz nicht mehr ausnahmslos gilt.41 Daneben finden sich Pflichten, die auf eine Verhinderung von Straftaten Dritter abzielen, in bestimmten Bereichen42, insbesondere sind Unternehmen im Rahmen der Geldwäscheprävention zur Einrichtung eines Risikomanagementsystems und zur Einhaltung kundenbezogener Sorgfaltspflichten verpflichtet (§§ 4 ff., 10 ff. Geldwäschegesetz). Insgesamt sind solche sektorspezifischen Regelungen allerdings vereinzelt geblieben. Die Umsetzung der CSR-Richtlinie lässt zudem deutlich erkennen, dass der deutsche Gesetzgeber gerade keine allgemeinverbindlichen menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten einführen, sondern die freiwillige Implementierung ent38 Kuhlen, Fragen einer strafrechtlichen Produkthaftung, 1989, S. 121; zu den allgemein anerkannten Regeln der Technik (§ 319 StGB): Esser/Keuten, NStZ 2011, 314 (318 f.); Schünemann, in: Küper (Hrsg.), Lackner-FS, 1987, S. 367 (381 f., 394). 39 Zum sog. Regressverbot und zum Vertrauensgrundsatz eingehend NK-StGB/Puppe, Vor §§ 13 ff Rn. 167 ff. m.w.N.; vgl. auch im Zusammenhang mit der zivilrechtlichen Haftung für Menschenrechtsverletzungen: Wagner, RabelsZ 80 (2016), 717 (758). 40 Stein, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum StGB, Bd. 1 (§§ 1 – 37), 9. Aufl. 2017, § 13 Rn. 39, 44; Weigend, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), LK-StGB, Bd. 1 (§§ 1 – 31), 12. Aufl. 2007, § 13 Rn. 55, 56; vgl. zur zivilrechtlichen Deliktshaftung: Wagner, RabelsZ 80 (2016), 717 (771 ff.). 41 Gleß, in: Rogall-FS (Fn. 26), S. 336 f. 42 Vgl. zB die Sorgfaltspflichten nach Art. 4 ff. Verordnung (EU) Nr. 995/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über die Verpflichtungen von Marktteilnehmern, die Holz und Holzerzeugnisse in Verkehr bringen, ABl. L 295 vom 12. 11. 2010, S. 23; vgl. ferner aus dem deutschen Recht: § 68 Abs. 1 AufenthG (zu Kontrollpflichten von Beförderungsunternehmen).
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sprechender Standards befördern wollte (s. oben II.2.). Über die darin zum Ausdruck gekommene Entscheidung des Gesetzgebers würde man sich hinwegsetzen, wollte man aus einem allgemeinen Fahrlässigkeitsmaßstab im Wege der Auslegung allgemeine und verbindliche menschenrechtliche Sorgfaltspflichten ableiten. 3. Extraterritoriale Schutzrichtung von Aufsichtsund Sorgfaltspflichten? Um die strafrechtliche Verantwortlichkeit eines deutschen Unternehmens für im Ausland eingetretene Menschenrechtsverletzungen zu begründen, bedarf es darüber hinaus einer Sorgfaltspflicht, die darauf gerichtet ist, nachteilige Auswirkungen der Geschäftstätigkeit des betreffenden Unternehmens nicht nur im Inland, sondern auch im Ausland zu verhindern, d. h. die Aufsichtspflicht müsste insoweit eine extraterritoriale Schutzwirkung haben. Es geht dabei nicht um die Anwendbarkeit des deutschen Straf- bzw. Ordnungswidrigkeitenrechts, denn diese ergibt sich bereits aus dem sorgfaltswidrigen Verhalten im Inland über das Territorialitätsprinzip (§§ 3, 9 Abs. 1 StGB bzw. §§ 5, 7 Abs. 1 OWiG)43, sondern vielmehr um die inhaltliche bzw. räumliche Reichweite der im Inland missachteten Sorgfaltspflicht. a) Im Rahmen des § 130 OWiG stellt sich insoweit die Frage, ob eine im Ausland begangene Zuwiderhandlung, die nicht durch angemessene Aufsichtsmaßnahmen verhindert oder wesentlich erschwert worden ist, nur dann zu einer bußgeldrechtlichen Verantwortlichkeit führt, wenn die betreffende Tat nach den §§ 3 ff. StGB der deutschen Strafgewalt unterliegt. Für ein solches Erfordernis spricht zunächst der Wortlaut, denn die Zuwiderhandlung ist nur dann mit Strafe oder Geldbuße bedroht, wenn der betreffende Tatbestand auf die Tat anwendbar ist.44 Diese Auslegung lässt sich auch auf den Schutzzweck des § 130 OWiG stützen, der auf das deutsche öffentliche Interesse an der Verhinderung rechtswidriger Taten bezogen ist, so dass an der Ahndung von Aufsichtspflichtverletzungen in Bezug auf der deutschen Strafgewalt nicht unterliegende Zuwiderhandlungen auch kein Sanktionsbedürfnis besteht.45 Dagegen wird allerdings eingewandt, dass die Aufsichtspflichtverletzung abstrakt auf die Verhinderung bestimmter Zuwiderhandlungen bezogen sei und daher nicht ver-
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Böse, RIDP 2018, 213 (220); Gleß, in: Rogall-FS (Fn. 26), S. 342 f.; Zerbes, in: Jeßberger/Kaleck/Singelnstein (Hrsg.), Wirtschaftsvölkerstrafrecht (Fn. 37), S. 205 (224); zur Frage, ob sich die Strafgewalt über Verbände (§ 30 OWiG) nach den §§ 3 ff. StGB oder den §§ 5, 7 OWiG bestimmt, eingehend Schneider, ZIS 2013, 488 ff. 44 Caracas, Verantwortlichkeit (Fn. 29), S. 236 f., der sodann allerdings die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts (§§ 3 ff. StGB) als objektive Bedingungen der Strafbarkeit von diesem Begriff ausnimmt; gegen diese dogmatische Einordnung der §§ 3 ff. StGB: NK-StGB/Böse, Vor §§ 3 ff. Rn. 51 f. m.w.N. 45 Minkhoff, Aufsichtspflichten (Fn. 29), S. 251 f.; i.E. ebenso Momsen/Willutat, KriPoZ 2019, 323 (332).
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lange, dass auf die konkret begangene Tat deutsches Recht anwendbar sei.46 Diese Argumentation erscheint jedoch zirkulär, da sie die Aufsichtspflichtverletzung allgemein auf eine bestimmte Art von Zuwiderhandlungen bezieht, aber eine Antwort darauf schuldig bleibt, ob und inwieweit diese Pflicht auch die Begehung entsprechender Zuwiderhandlungen im Ausland verhindern soll – was gerade bei Verstößen gegen Rechtsnormen, die nur im Inland gelten (z. B. Arbeitsschutzstandards), alles Andere als selbstverständlich erscheint.47 b) Ähnliche Bedenken wirft die Annahme einer extraterritorialen Schutzrichtung allgemeiner Sorgfaltspflichten auf. Zwar deuten das Ubiquitätsprinzip (Begründung deutscher Strafgewalt über den inländischen Handlungs- oder Erfolgsort, § 9 Abs. 1 StGB) und die Unbeachtlichkeit konkurrierenden ausländischen Tatortrechts bei der Teilnahme (§ 9 Abs. 2 S. 2 StGB) darauf hin, dass auch auf das im Ausland eingetretene Erfolgsunrecht deutsches (Straf-)Recht Anwendung findet.48 Allerdings vermögen auch diese Regelungen nichts daran zu ändern, dass der Anwendungsbereich von Sorgfaltspflichten in vielen Fällen auf das Inland beschränkt ist (z. B. im Straßenverkehr), mit der Folge, dass ein Fahrlässigkeitsvorwurf allenfalls auf den Verstoß gegen ausländische Sorgfaltsstandards gestützt werden kann.49 Für eine entsprechende Beschränkung von Sorgfaltspflichten spricht im vorliegenden Zusammenhang der Vergleich mit der zivilrechtlichen Haftung deutscher Unternehmen für im Ausland eingetretene Menschenrechtsverletzungen: Nach internationalem Privatrecht findet auf deliktische Ansprüche der Geschädigten das Recht des Staates Anwendung, in dem der Schaden eingetreten ist (Art. 4 Abs. 2 Rom-IIVerordnung50). Dementsprechend wurde in dem ersten der eingangs geschilderten Fälle die gegen das deutsche Unternehmen (KiK) eingereichte Klage mit der Begründung abgewiesen, dass die deliktischen Ansprüche nach pakistanischem Recht verjährt waren.51 Wird das Deliktsstatut für Menschenrechtsverletzungen über den Ort des Schadenseintritts bestimmt, so gilt dies auch für den haftungsbegründenden Tatbestand einschließlich des anzuwendenden Sorgfaltsstandards, so dass es für die deliktische Haftung deutscher Unternehmen nicht auf die Sorgfaltspflichten nach deutschem Recht, sondern auf diejenigen nach ausländischem (z. B. pakistanischem) Recht ankäme.52 Es wäre nun aber geradezu widersinnig, im Strafrecht von einer 46
Caracas, Verantwortlichkeit (Fn. 29), S. 246 f. („Sachbezogenheit der Pflichtverletzung“). 47 Minkhoff, Aufsichtspflichten (Fn. 29), S. 252. 48 Vgl. Gleß, in: Rogall-FS (Fn. 26), S. 335, 343 f. 49 NK-StGB/Böse, Vor §§ 3 ff. Rn. 65 m.w.N. 50 Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. 7. 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht („Rom II“), ABl. EU L 199 vom 31. 7. 2007, S. 40. 51 LG Dortmund, BeckRS 2019, 388; s. auch OLG Hamm NJW 2019, 3527 (Ablehnung von Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren). 52 Weller/Kaller/Schulz, AcP 226 (2016), 387 (393 ff.); Wagner, RabelsZ 80 (2016), 717 (739 ff., 749 f.); a.A. Saage-Maaß, BB 2015, 2499 (2502); vgl zu einer entsprechenden Ein-
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menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht mit extraterritorialer Schutzrichtung auszugehen und auf dieser Grundlage eine Verbandsgeldbuße zu verhängen, gleichzeitig aber eine zivilrechtliche Haftung des Unternehmens zu verneinen. Die für die straf- und zivilrechtliche Verantwortlichkeit maßgeblichen Sorgfaltspflichten sind vielmehr einheitlich zu bestimmen.53 Nach alledem ist auf der Grundlage des geltenden Rechts eine menschenrechtliche Aufsichts- bzw. Sorgfaltspflicht mit extraterritorialer Schutzwirkung zu verneinen.
IV. Fazit und Ausblick Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen im Ausland setzt eine gesetzliche Grundlage voraus, welche die insoweit zu beachtenden Sorgfaltspflichten verbindlich festlegt. Das geltende Recht enthält eine solche Regelung allenfalls ansatzweise (s. oben III.1. zur Aufsichtspflicht im Konzern), denn ein allgemeiner und für deutsche Unternehmen verbindlicher Sorgfaltsstandard, wie er in den UN-Leitprinzipien beschrieben wird, lässt sich über eine Erweiterung der Aufsichtspflicht auf die gesamte Wertschöpfungskette (§ 130 OWiG) oder eine entsprechende Auslegung allgemeiner Sorgfaltspflichten nicht begründen. Aus der Perspektive des Menschenrechtsschutzes ist dieses Ergebnis ernüchternd, und weitergehende sektorspezifische Regelungen (z. B. zur Geldwäscheprävention) provozieren die Frage, ob grundlegende Menschenrechte im internationalen Wirtschaftsverkehr nicht in gleicher Weise schutzwürdig sind wie die Integrität des Finanzsystems. In anderen Ländern wie u. a. Frankreich ist eine menschenrechtliche Sorgfaltspflicht gesetzlich verankert worden.54 Mit der gesetzlichen Regelung einer verbindlichen Sorgfaltspflicht könnte auch deren extraterritoriale Schutzwirkung klargestellt und im Wege einer Eingriffsnorm (Art. 16 Rom-II-Verordnung) eine einheitliche Grundlage für die zivil- und strafrechtliche Verantwortlichkeit geschaffen werden.55 Für den Fall, dass die Implementierung eines solchen Standards in Deutschland auf freiwilliger Basis nicht gelingt, hat der Entwicklungsminister die Einführung verbindlicher Standards angekündigt,56 und ein (inoffizieller) Entwurf schränkung des strafrechtlichen Ubiquitätsprinzips Böse/Meyer/Schneider, GA 2014, 574 (575). 53 Dazu eingehend A. Schneider, Die Verhaltensnorm im Internationalen Strafrecht, 2011, S. 197 ff. 54 LOI n8 2017 – 399 du 27 mars 2017 relative au devoir de vigilance des sociétés mères et des entreprises donneuses d’ordre; dazu Lelieur, RIDP 2018, 179 (206 ff.). 55 Mansel, ZGR 2018, 439 (470 ff.) m.w.N.; vgl. insoweit § 15 des Gesetzesentwurfs (Fn. 58); kritisch zur Anwendung von Art. 16 Rom-II-Verordnung: Wagner, RabelsZ 80 (2016), 717 (744 ff.). 56 Taz vom 10. 2. 2019, abrufbar unter https://taz.de/Neues-Wertschoepfungskettengesetz/ !5569037/ (6. 12. 2019).
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für ein Sorgfaltspflichtengesetz liegt bereits vor57. Eine solche Regelung entspräche nicht zuletzt auch den kürzlich angenommenen Resolutionen der Internationalen Strafrechtsgesellschaft (Association Internationale de Droit Pénal – AIDP)58, der Ulrich Sieber seit vielen Jahren (u. a. als Vorsitzender der Deutschen Landesgruppe) verbunden ist und dem dieser Beitrag mit den besten Wünschen zum 70. Geburtstag gewidmet ist.
57 Abrufbar unter https://die-korrespondenten.de/fileadmin/user_upload/die-korresponden ten.de/SorgfaltGesetzentwurf.pdf (6. 12. 2019); s. auch bereits den Entwurf von Klinger/Krajewski/Krebs/Hartmann, abrufbar unter https://www.oxfam.de/system/files/gutachten-sorgfalts pflichten-oxfam.pdf (6. 12. 2019). 58 XX. Congress of Penal Law (Rome, 13 – 16 November 2019), Resolutions – Section IV: Prosecuting corporations for violations of International Criminal Law: jurisdictional issues, abrufbar unter http://www.penal.org/sites/default/files/files/XX%20Congress%20Res%20Sec% 20IV%20EN.pdf (6. 12. 2019).
Auf dem Weg zu einem europäischen Wirtschaftsstrafrecht der Menschenrechte? Von Luigi Foffani und Adan Nieto Martin
I. Europäische Initiativen zur Durchsetzung der Menschenrechte gegenüber Unternehmen Die letzten Jahrzehnte erscheinen als die Epoche der Durchsetzung der Menschenrechtskultur gegenüber den Unternehmen, allen voran gegenüber den großen Unternehmen. Nach der bahnbrechenden Verbreitung der „Guiding Principles on Business and Human Rights“ der Vereinten Nationen1 und anderen internationalen Initiativen durch die OCDE2 und ISO3 hat auch die Europäische Union die Initiative ergriffen. Zu erwähnen ist vor allem der „EU Strategic Framework and Action Plan on Human Rights and Democracy“ des EU-Rats vom 25. Juni 2012,4 zu dessen prioritären Zwecke unter anderem – neben der Abschaffung der Todesstrafe, der Folter und anderer grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlungen oder Strafen – auch die Implementierung der UNO-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte gehört:5 Leitprinzipien, die dadurch eine spezifische europäische Dimension, d. h. einen Vorrang innerhalb des „soft law“ der Europäischen Union gewonnen haben. In der strategischen Perspektive der EU rückte daher die Förderung 1 Guiding Principles on Business and Human Rights. Implementing the United Nations „Protect, Respect and Remedy“ Framework, New York/Geneva 2011 (auch in deutscher Fassung: Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte. Umsetzung des Rahmens der Vereinten Nationen „Schutz, Achtung und Abhilfe“, 3. Aufl., Berlin 2020). 2 OECD, G20/OECD-Principles of Corporate Governance, OECD Publishing, Paris 2015 [auch in deutscher Fassung: OECD, G20/OECD-Grundsätze der Corporate Governance, OECD Publishing, Paris 2015]. 3 ISO (International Organisation for Standardisation) 26000:2010, Guidance on Social Responsibility (auch in deutscher Fassung: Die DIN ISO 26000 „Leitfaden zur gesellschaftlichen Verantwortung von Organisationen“ – Ein Überblick). 4 Council of the European Union, EU Strategic Framework and Action Plan on Human Rights and Democracy, Luxembourg, 25 June 2012, 11855/12. 5 Chapter V, „Implementing EU priorities on human rights“: Nr. 16 „Abolition of the death penalty“, Nr. 17 „Eradication of torture and other cruel, inhuman or degrading treatment or punishment“ […], Nr. 25 „Implementation of the UN Guiding Principles on Business and human rights“.
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und Verbreitung einer neuen Art „Compliance Program“6 für die Durchsetzung und den Schutz der Menschenrechte in der Unternehmenstätigkeit in den Vordergrund. Neben der „Pflicht des Staates zum Schutz der Menschenrechte“ steht an erster Stelle der Leitprinzipien „die Verantwortung des Unternehmens zur Achtung der Menschenrechte“: „Wirtschaftsunternehmen sollten die Menschenrechte achten. Dies heißt, dass sie vermeiden sollten, die Menschenrechte Anderer zu beeinträchtigen, und dass sie nachteiligen menschenrechtlichen Auswirkungen, an denen sie beteiligt sind, begegnen sollten“ (Leitprinzip Nr. 11). „Um ihrer Verantwortung zur Achtung der Menschenrechte nachzukommen, sollten Wirtschaftsunternehmen über Grundsätze und Verfahren verfügen, die ihrer Größe und ihren Umständen angemessen sind, einschließlich (a) einer Grundsatzverpflichtung, ihrer Verantwortung zur Achtung der Menschenrechte nachzukommen; (b) eines Verfahrens zur Gewährleistung der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht, das darauf abstellt, die Auswirkungen auf die Menschenrechte zu ermitteln, zu verhüten und zu mildern sowie Rechenschaft darüber abzulegen, wie sie diesen begegnen; (c) Verfahren, die die Wiedergutmachung etwaiger nachteiliger menschenrechtlicher Auswirkungen ermöglichen, die sie verursachen oder zu denen sie beitragen“ (Leitprinzip Nr. 15).
Als „Operative Prinzipien“ von besonderer Bedeutung sind die folgenden, auf Wirtschaftsunternehmen bezogene Leitprinzipien (Nr. 16 – 17) der „Grundsatzverpflichtung“ und der „Sorgfaltspflicht auf dem Gebiet der Menschenrechte“. „Grundsatzverpflichtung“: „Zur Verankerung ihrer Verantwortung zur Achtung der Menschenrechte sollten Wirtschaftsunternehmen ihre Selbstverpflichtung, dieser Verantwortung gerecht zu werden, in einer Grundsatzerklärung zum Ausdruck bringen, die: (a) auf höchster Führungsebene des Wirtschaftsunternehmens angenommen wird; (b) sich auf einschlägiges internes und/oder externes Fachwissen stützt; (c) menschenrechtsbezogene Erwartungen des Unternehmens an die Mitarbeiter, Geschäftspartner und sonstigen Parteien festlegt, die mit seiner Geschäftstätigkeit, seinen Produkten oder seinen Dienstleistungen unmittelbar verbunden sind; (d) öffentlich verfügbar ist sowie intern und extern allen Mitarbeitern, Geschäftspartnern und sonstigen relevanten Parteien mitgeteilt wird; (e) sich in den operativen Politiken und Verfahren widerspiegelt, die notwendig sind, um sie innerhalb des gesamten Wirtschaftsunternehmens zu verankern“ (Leitprinzip Nr. 16).
6 Über die heutige Rolle der sog. „Compliance Programs“ vgl. Ulrich Sieber, FS-Tiedemann, S. 449 ff.; Marc Engelhart, in: Ulrich Sieber (Hrsg.), Prevention, Investigation, and Sanctioning of Economic Crime. Alternative Control Regimes and Human Rights Limitations (International Colloquium Section III, Freiburg, 18 – 20 June 2018), RIDP, 2/2019, 215 ff.
Auf dem Weg zu einem europäischen Wirtschaftsstrafrecht der Menschenrechte? 413 „Sorgfaltspflicht auf dem Gebiet der Menschenrechte“: „Um ihre nachteiligen menschenrechtlichen Auswirkungen zu ermitteln, zu verhüten und zu mildern sowie Rechenschaft darüber abzulegen, wie sie ihnen begegnen, sollten Wirtschaftsunternehmen Sorgfaltspflicht auf dem Gebiet der Menschenrechte walten lassen. Das Verfahren sollte unter anderem darin bestehen, tatsächliche und potenzielle menschenrechtliche Auswirkungen zu ermitteln, die sich daraus ergebenden Erkenntnisse zu berücksichtigen und Folgemaßnahmen zu ergreifen, die ergriffenen Maßnahmen nachzuhalten sowie Angaben dazu zu machen, wie den Auswirkungen begegnet wird. Sorgfaltspflicht auf dem Gebiet der Menschenrechte: (a) sollte sich auf die nachteiligen menschenrechtlichen Auswirkungen erstrecken, die das Wirtschaftsunternehmen durch seine eigene Tätigkeit unter Umständen verursacht oder zu denen es beiträgt oder die infolge seiner Geschäftsbeziehungen mit seiner Geschäftstätigkeit, seinen Produkten oder Dienstleistungen unmittelbar verbunden sind; (b) wird je nach Größe des Wirtschaftsunternehmens, des Risikos schwerer menschenrechtlicher Auswirkungen und der Art und des Kontexts seiner Geschäftstätigkeit von unterschiedlicher Komplexität sein; (c) sollte eine kontinuierliche Aufgabe sein, angesichts der Tatsache, dass sich Menschenrechtsrisiken im Zeitverlauf verändern können, wenn sich die Geschäftstätigkeit und das operative Umfeld eines Unternehmens weiterentwickeln“ (Leitprinzip Nr. 17).
Diese und die darauffolgenden Leitprinzipien – unabhängig von ihrem „soft law“ Charakter – sollten schon jetzt von besonderer Bedeutung für die Erstellung von Compliance-Programme großer Unternehmen sein, zumindest dort, wo Compliance-Programme normativ geregelt sind (wie z. B. in Italien und Spanien7 in Verbindung mit Unternehmenssanktionen8), und vor allem in Bezug auf die multinationale Unternehmen, die auch in den Ländern der Dritten Welt tätig sind, wo die Beachtung der Menschenrechte im Wirtschaftsleben schwer vernachlässigt wird (Ausbeutung von Minderjährigen, Sklaverei, usw.). Für die Implementierung der Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte hat die EU bis jetzt schon drei Aktionspläne angenommen, im Jahre 2012, 20159 und 2020. Dieser jüngste Aktionsplan vom 25. März 202010 sieht unter anderem eine aktive Förderung der Menschenrechte im Unternehmenssektor vor, insbesondere: – „Förderung einer Null-Toleranz-Politik gegenüber Kinderarbeit und Förderung der Abschaffung der Zwangsarbeit“; 7 In Italien durch das Gesetzesdekret vom 8. Juni 2001 Nr. 231 (Art. 6 – 7) und in Spanien durch die StGB-Reform vom 30. März 2015 (LO 1/2015): Art. 31 bis CP. 8 Von strafrechtlicher Natur in Spanien, von (zumindest rein formell) verwaltungsrechtlicher Natur in Italien. 9 Der 1. Aktionsplan wurde zusammen mit dem „Strategic Framework“ veröffentlicht (s. oben Fn. 4). Der 2. Aktionsplan wurde in Dezember 2015 bekannt gemacht: Council of the European Union, EU Action Plan on Human Rights and Democracy, Brüssel 2015. 10 Europäische Kommission/Höher Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, Gemeinsame Mitteilung an das Europäische Parlament und den Rat. EU-Aktionsplan für Menschenrechte und Demokratie 2020 – 2024, Brüssel 25. 3. 2020 [JOIN (2020) 5 final].
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– „Förderung der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht in globalen Lieferketten und der Bemühungen um die Ratifizierung des IAO-Protokolls über Zwangsarbeit“; – „Förderung und Unterstützung der Bemühungen der Partnerländer zur Umsetzung der Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte auf der Grundlage von nationalen Aktionsplänen und einschlägigen Leitlinien zur Sorgfaltspflicht“; – „Unterstützung von Multi-Stakeholder-Prozessen zur Entwicklung, Umsetzung und Stärkung von Standards in den Bereichen ‘Wirtschaft und Menschenrechte’ und Sorgfaltspflicht“; – „Sorgfaltspflicht hinsichtlich der Menschenrechte mit dem Ziel, die EU-Delegationen in die Lage zu versetzen, ihr Engagement im Bereich Wirtschaft und Menschenrechte zu verstärken“.11 Fazit: eines der Hauptziele dieses anspruchsvollen Aktionsplans – und des ganzen Netzes der oben genannten europäischen und internationalen Initiativen – ist die Förderung von Compliance-Programme der Unternehmen (in erster Linie großer Unternehmen) zum Schutz und zur Implementierung der Menschenrechte weltweit.12
II. Eine „menschenrechtliche Sorgfaltspflicht“ in der Lieferkette des internationalen Wirtschaftsverkehrs und der multinationalen Unternehmen Einen besonderen Fokus legt die Europäische Union auf den Schutz der Menschenrechte im internationalen Wirtschaftsverkehr und in der Lieferkette der multinationalen Unternehmen (sog. „global supply chain“). So zielt die EU-Verordnung 2017/82113 über die Einführung von wertvollen Mineralien aus Konflikt- und Hochrisikogebieten – die sich ausdrücklich auf die Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte14 sowie auf den spezifischen OECD-Leitfaden für die Erfüllung der Sorgfaltspflicht zur Förderung verantwortungsvoller Lieferketten für Minerale aus Konflikt- und Hochrisikogebieten15 und auf die allgemeinen 11
Anhang der Gemeinsamen Mitteilung (s. oben Fn. 10). Vgl. dazu – auf zivilrechtlicher Ebene – Markus Krajewski/Miriam Saage-Maaß (Hrsg.), Die Durchsetzung menschenrechtlicher Sorgfaltspflichten von Unternehmen. Zivilrechtliche Haftung und Berichterstattung als Steuerungsinstrumente, Baden-Baden 2018. 13 Verordnung (EU) Nr. 2017/821 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Mai 2017 zur Festlegung von Pflichten zur Erfüllung der Sorgfaltspflichten in der Lieferkette für Unionseinführer von Zinn, Tantal, Wolfram, deren Erzen und Gold aus Konflikt- und Hochrisikogebieten, ABl. L 130 vom 19. 5. 2017, 1 – 20. 14 S. oben Fn. 1. 15 OECD, OECD Due Diligence Guidance for Responsible Supply Chains of Minerals from Conflict-Affected and High-Risk Areas, 3. ed., OECD Publishing, Paris 2016 [auch in 12
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OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen16 bezieht – darauf ab, „das Konzept der verantwortungsvollen Beschaffung“ durchzusetzen und „Verfahren zur Erfüllung der Sorgfaltspflicht in der Lieferkette zu fördern, wenn Unternehmen Erzeugnisse aus Gebieten beziehen, die von Konflikten und Instabilität betroffen sind“.17 In dieselbe Richtung gehen auch die EG-Verordnung 2368/200218 über den internationalen Handel mit Rohdiamanten und die EU-Verordnung 995/201019 über das Verkehr mit Holz und Holzerzeugnissen. Durch diese und andere Initiativen der Europäischen Union20 „werden die finanzielle Transparenz und die Transparenz der Lieferkette sowie die Anwendung von Standards der sozialen Verantwortung der Unternehmen anerkannt und gefördert“21. Im Rahmen der EU-Verordnung 2017/821, „und wie in den OECD-Leitsätzen für die Erfüllung der Sorgfaltspflicht dargelegt, ist die Erfüllung der Sorgfaltspflicht in der Lieferkette ein laufender, in die Zukunft wirkender und reaktiver Prozess, durch den Wirtschaftsbeteiligte ihre Beschaffungen und Verkäufe so überwachen und verwalten, dass sichergestellt wird, dass sie nicht zu Konflikten oder deren negativen Auswirkungen beitragen“22. „Durch die öffentliche Berichterstattung der Wirtschaftsbeteiligten über ihre Strategien und ihre Verfahren zur Erfüllung der Sorgfaltspflicht in der Lieferkette wird die nötige Transparenz geschaffen, um das Vertrauen der Öffentlichkeit in die von den Wirtschaftsbeteiligten getroffenen Maßnahmen zu stärken“23. Art. 3 der EU-Verordnung 2017/821 sieht die „Pflichten zur Erfüllung der Sorgfaltspflichten in der Lieferkette durch Unionseinführer“ vor; Art. 4 die „Pflichten in Bezug auf das Managementsystem“; Art. 5 das „Risikomanagementsystem“; und Art. 6 die „Verpflichtungen zur Durchführung von Prüfungen durch Dritte“. deutscher Fassung: OECD, Leitfaden für die Erfüllung der Sorgfaltspflicht zur Förderung verantwortungsvoller Lieferketten für Minerale aus Konflikt- und Hochrisikogebieten, 3. Aufl., OECD Publishing, Paris 2019]. 16 OECD, OECD Guidelines for Multinational Enterprises, OECD Publishing, Paris 2011 [auch in deutscher Fassung: OECD, OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen, OECD Publishing, Paris 2011]. 17 VO 2017/821 (oben Fn. 13), Erwägungsgrund Nr. 5. 18 Verordnung (EU) Nr. 2368/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2002 zur Umsetzung des Zertifikationssystems des Kimberley-Prozesses für den internationalen Handel mit Rohdiamanten, ABl. L 358 vom 31. 12. 2002, 28 – 48. 19 Verordnung (EU) Nr. 995/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über die Verpflichtungen von Marktteilnehmern, die Holz und Holzerzeugnisse in Verkehr bringen, ABl. L 295 vom 12. 11. 2010, 23 – 34. 20 Vgl. vor allem die Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat, Die Rohstoffinitiative – Sicherung der Versorgung Europas mit den für Wachstum und Beschäftigung notwendigen Gütern, Brüssel, 4. 11. 2008, KOM (2008) 699. 21 VO 2017/821 (oben Fn. 13), Erwägungsgrund Nr. 8. 22 VO 2017/821 (oben Fn. 13), Erwägungsgrund Nr. 11. 23 VO 2017/821 (oben Fn. 13), Erwägungsgrund Nr. 13.
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Verstöße und Sanktionen werden nicht von der EU geregelt: „Die Mitgliedstaaten legen die Regeln über Verstöße gegen diese Verordnung fest“24.
III. Die EU-Richtlinie 2014/95 über die nichtfinanzielle Erklärung der großen Unternehmen und der Gruppen Die Durchsetzung der Menschenrechte und die nötige Transparenz hinsichtlich der Wirtschaftstätigkeit und der Lieferkette bei großen Unternehmen wird durch eine andere europäische Initiative besonders gefördert: die Richtlinie 2014/95/ EU25 über die Angabe „nichtfinanzieller Informationen“ durch bestimmte große Unternehmen und Gruppen, die solche Unternehmen zu einer „nichtfinanziellen Erklärung“ verpflichtet, die u. a. „die Achtung der Menschenrechte“ im Geschäftsverlauf und in der Unternehmenstätigkeit betrifft. Sowohl die Kommission26 als auch das Europäische Parlament27 hatten in den vorigen Jahren wichtige Impulse zur Verbesserung „der Transparenz nichtfinanzieller Informationen von Unternehmen“ gegeben und „anerkannt, dass der Offenlegung von Informationen zur Nachhaltigkeit, wie sozialen und umweltbezogenen Faktoren, durch die Unternehmen eine große Bedeutung zukommt, um Gefahren für die Nachhaltigkeit aufzuzeigen und das Vertrauen von Investoren und Verbrauchern zu stärken. Die Angabe nichtfinanzieller Informationen ist nämlich ein wesentliches Element der Bewältigung des Übergangs zu einer nachhaltigen globalen Wirtschaft, indem langfristige Rentabilität mit sozialer Gerechtigkeit und Umweltschutz verbunden wird“28. „Die Unternehmen, die dieser Richtlinie unterliegen, sollten ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Gesamtbild ihrer Konzepte, Ergebnisse und Risiken vermitteln“29. Zu diesem Zweck führt die Richtlinie eine neue „nichtfinanzielle Er-
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Art. 16 VO 2017/821 (oben Fn. 13), Erwägungsgrund Nr. 20. Richtlinie 2014/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2014 zur Änderung der Richtlinie 2013/34/EU im Hinblick auf die Angabe nichtfinanzieller und die Diversität betreffender Informationen durch bestimmte große Unternehmen und Gruppen, ABl. L 330 vom 15. 11. 2014, 1 – 9. 26 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Binnenmarktakte – Zwölf Hebel zur Förderung von Wachstum und Vertrauen – „Gemeinsam für neues Wachstum“, Brüssel, 13. 4. 2011, KOM (2011) 206. 26 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 6. Februar 2013 zur sozialen Verantwortung der Unternehmen: Förderung der Interessen der Gesellschaft und ein Weg zu einem nachhaltigen und integrativen Wiederaufschwung (2012/2097 (INI)). 28 RL 2014/95/EU (oben Fn. 25), Erwägungsgründe Nr. 1 und 3. 29 RL 2014/95/EU (oben Fn. 25), Erwägungsgründe Nr. 5. 25
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klärung“ (Art. 1) und eine „konsolidierte nichtfinanzielle Erklärung“ der Gruppe (Art. 2) in den Rahmen der allgemeinen Bilanzrichtlinie30 ein. „Große Unternehmen, die Unternehmen von öffentlichen Interesse sind und am Bilanzstichtag das Kriterium erfüllen, im Durchschnitt des Geschäftsjahres mehr als 500 Mitarbeiter zu beschäftigen, nehmen in den Lagebericht eine nichtfinanzielle Erklärung auf, die diejenigen Angaben enthält, die für das Verständnis des Geschäftsverlaufs, des Geschäftsergebnisses, der Lage des Unternehmens sowie der Auswirkungen seiner Tätigkeit erforderlich sind und sich mindestens auf Umwelt-, Sozial-, und Arbeitnehmerbelange, auf die Achtung der Menschenrechte und auf die Bekämpfung von Korruption und Bestechung beziehen“ (Art. 1 „Nichtfinanzielle Erklärung“). Das gleiche gilt für „Unternehmen von öffentlichen Interesse, die Mutterunternehmen einer großen Gruppe“ mit mehr als 500 Mitarbeitern sind (Art. 2 „Konsolidierte nichtfinanzielle Erklärung“).
IV. Plädoyer für eine EU-Richtlinie zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen und nichtfinanziellen gesellschaftsrechtlichen Informationen. Auf dem Weg zu einem europäischen Wirtschaftsstrafrecht der Menschenrechte? Welche Rolle kann und soll das Strafrecht (Wirtschaftsstrafrecht) in dieser neuen Perspektive der Durchsetzung der Menschenrechte im Wirtschaftsverkehr spielen? Der europäische Gesetzgeber lässt den Mitgliedsstaaten viel Spielraum: wie schon oben in Bezug auf die Verordnung 2017/821 (Art. 26) erwähnt, gilt: „Die Mitgliedstaaten legen die Regeln über Verstöße gegen diese Verordnung fest“31. In diesem Bereich des Schutzes der Menschenrechte im internationalen Wirtschaftsverkehr und in der Lieferkette der multinationalen Unternehmen könnten teilweise schon klassische Straftatbestände des Außenwirtschaftsstrafrechts (Embargo-Delikte) in Betracht kommen. Man könnte aber auch an die Einführung neuer ad hoc Inkriminierungen32 denken, die insbesondere (1) die berufsmäßige Beschaffung von Erzeugnissen mit der Kenntnis, dass in ihrer Lieferkette schwere Menschenrechtsverletzungen begangen wurden, und
30 Richtlinie 2013/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über den Jahresabschluss, den konsolidierten Abschluss und damit verbundene Berichte von Unternehmen bestimmter Rechtsformen und zur Änderung der Richtlinie 2006/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG des Rates, ABl. L 182/19. 31 Oben Fn. 24. 32 Vgl. dazu Adan Nieto Martín, Hacia un Derecho penal económico de los Derechos humanos (im Druck); Vincenzo Mongillo, Rivista trimestrale di diritto penale dell’economia, 3 – 4/2019, 630 ff.
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(2) den schweren Verstoß gegen spezifische und in europäischen Verordnungen verankerte Sorgfaltspflichten unter Strafe stellen. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Frage der gesellschaftsrechtlichen Information nach der Einführung der nichtfinanziellen Erklärung für große Unternehmen und Gruppen von Unternehmen. Die EU-Richtlinie 2014/95 stellt eine neue historische Etappe in der Geschichte der gesellschaftsrechtlichen Informationspflichten dar, die im europäischen Recht schon über 50 Jahre verankert sind. Die erste EGRichtlinie, die sich mit dieser Frage beschäftigte, ist nämlich aus dem Jahre 1968.33 Noch älter – in manchen nationalen Rechtsordnungen mit Wurzeln schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts oder am Anfang des 20. Jahrhunderts – ist die Geschichte des strafrechtlichen Schutzes der gesellschaftsrechtlichen Information – vor allem mit dem Straftatbestand der Bilanzfälschung – auf der Ebene der Mitgliedsstaaten: in Deutschland mit den Strafvorschriften der §§ 331 – 332 HGB, § 400 AktG und § 82 GmbHG; in Frankreich mit den Art. L 241 – 3 Nr. 3 und L 242 – 6 HGB (Code de Commerce); in England und Wales mit der sect. 17 Theft Act 1968 („false accounting“); in Italien mit den Art. 2621 – 2622 BGB (Codice Civile); in Spanien mit dem Art. 290 StGB (Código Penal); usw. Die Rechtsprechung des EuGH hatte sich schon vor 15 Jahren mit der Frage des (straf)rechtlichen Schutzes der gesellschaftsrechtlichen Information beschäftigt, nach der italienischen Reform des Handelsgesellschaftsstrafrechts von 2002,34 die die strafrechtliche Regelung der Bilanzfälschung „bagatellisiert“ hatte.35 Mit diesem bedeutenden Urteil im Berlusconi-Fall hat der EuGH zum ersten Mal die Transparenz und Vollständigkeit der gesellschaftsrechtlichen Information als europarechtlich relevantes Rechtsgut ausdrücklich anerkannt: ein Rechtsgut, für dessen Förderung ein angemessener und geeigneter Schutz (durch „wirksame, verhältnismäßige und abschreckende“ Sanktionen) gefordert wird.36 Nach dem EuGH gilt, dass die „Sanktionen bei Straftaten der Bilanzfälschung […] bezwecken, schwerwiegende Zuwiderhandlungen gegen das grundlegende Prinzip zu ahnden, dessen Beachtung das Hauptziel der […Bilanzrichtlinie] ist […], wonach der Jahresabschluss der Gesellschaften, auf die sich diese Richtlinie bezieht, ein den tatsächlichen Verhältnissen
33 Erste Richtlinie des Rates vom 9. März 1968 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten (68/151/EWG). 34 D.lgs. 11. 4. 2002 Nr. 61. 35 EuGH, 3. 5. 2005, Rs. C-387/02, C-391/02 u. C- 403/02, JZ 2005, 997 m. Anm. Satzger; dazu s. auch – vor allem für die ganze Debatte in Italien – Luigi Foffani, FS-Maiwald, S. 153 ff. In neuerer Zeit – nach einer Reihe scharfer Kritik durch die italienische Lehre und auch seitens verschiedener supranationaler Gremien (OECD, GRECO) – wurde die strafrechtliche Regelung der Bilanzfälschung durch das Gesetzesdekret vom 27. 5. 2015 Nr. 69 wieder neugefasst. 36 EuGH, 3. 5. 2005, Rn. 62, 65.
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entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Gesellschaft vermitteln muss“.37 Für den EuGH hat die gesellschaftsrechtliche Information – die diesen besonderen Schutz durch „geeignete Sanktionen“ im Interesse der Gesellschafter und insbesondere der Dritten benötigt – eine rein „wirtschaftlich-finanzielle“ Natur. Aber nach der EU-Bilanzrichtlinie von 2013 und deren Ergänzung durch die EU-Richtlinie 2014/95 über die „nichtfinanzielle Erklärung“ hat die gesellschaftsrechtliche Information heute eine offensichtlich breitere Funktion. Für manche Stakeholder ist heute auch die „nichtfinanzielle“ Information großer Gesellschaften und Gruppen von besonderer Bedeutung, und diese Information kann auch den effektiven Schutz der Menschenrechte sowie des lauteren Wettbewerbs in der Wirtschaft stark beeinflussen. Unter diesen Voraussetzungen und aufgrund der heutigen starken Unterschiede zwischen den verschiedenen nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten in Bezug auf den Straftatbestand der Bilanzfälschung und auf die Natur und Breite des Schutzes der gesellschaftsrechtlichen Informationen – z. B. ist die „unrichtige Darstellung“ der „nichtfinanziellen Erklärung“ heute in Deutschland strafbar (nach § 331 Nr. 1 HGB), aber sie stellt nur eine Ordnungswidrigkeit in Italien und in Spanien dar – wäre es heute sinnvoll, auf der Basis vom Art. 83 Abs. 2 AEUV eine EU-Richtlinie zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen und nichtfinanziellen gesellschaftsrechtlichen Informationen zu schaffen, die einen so wichtigen Bereich des Wirtschaftsstrafrechts zum Schutz des lauteren Wettbewerbs sowie auch der Menschenrechte europaweit rationalisieren und harmonisieren könnte. Es wäre auch ein erster bedeutender Schritt auf dem Weg zu einem echten europäischen Wirtschaftsstrafrecht der Menschenrechte. *** Die Sorge um die europäische Harmonisierung sowie um den Schutz der Menschenrechte im Wirtschaftsstrafrecht war auch immer inspiriert durch die grundlegende Forschung und die Werke unseres verehrten Jubilars Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Ulrich Sieber sowie durch das großartig organisierte AIDP-Vorkolloquium in Freiburg über „Prevention, Investigation und Sanctioning of Economic Crime. Alternative Control Regimes and Human Rights Limitations“ im Jahre 2018.38 Dieses internationale Kolloquium hat uns die wertvolle und unvergessliche Möglichkeit gegeben, uns von unserem großen Maestro Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Klaus Tiedemann zu verabschieden.
37
EuGH, 3. 5. 2005, Rn. 54. Die Beiträge des Kolloquiums sind veröffentlicht in: Revue Internationale de Droit Pénal, 2/2019. 38
Wesentliche Elemente und Implementierung eines effektiven kartellrechtlichen Compliance Programms – unter besonderer Berücksichtigung der kartellrechtlichen Leitlinien des US-amerikanischen Justizministeriums – Von Wolfgang Heckenberger
I. Überblick Im Laufe der letzten 20 Jahre hat der gesamte Bereich der Compliance in der Unternehmenswelt eine enorme Entwicklung genommen.1 Der Druck auf die Unternehmen wie auch auf das Management zu gesetzeskonformem Verhalten, ausgelöst durch Medien, Gesellschaft und vor allem durch Verfolgungsaktivitäten von Kartellbehörden, Staatsanwaltschaften und sonstigen Behörden, hat zu einem stark gewachsenen Compliance Bewusstsein geführt. Infolgedessen kann heutzutage kaum noch ein Unternehmen, und schon gar keines der größeren und international aufgestellten Unternehmen, ohne eine unternehmensweit gültige Compliance Policy und Compliance Programme auskommen. Diese Entwicklung dauert nach wie vor an, da die Anzahl und der Umfang der zu beachtenden Gesetze und Regelungen immer noch zunimmt und dementsprechend auch die Compliance Aktivitäten auf Unternehmensseite daran angepasst werden müssen.2 Außerdem sind Vorstand/Aufsichtsrat bzw. Geschäftsführung – sei es unmittelbar oder mittelbar durch Gesetz – gehalten, in ihren Unternehmen nach den anerkannten Corporate Governance Grundsätzen auch Compliance Programme als elementare Bestandteile einer guten Unternehmensführung („Good Corporate Governance“)
1 In einem weiteren Sinne kann Compliance definiert werden als die Einhaltung gesetzlicher Bestimmungen, regulatorischer Standards und die Erfüllung weiterer wesentlicher und in der Regel vom Unternehmen selbst gesetzter ethischer Standards und Anforderungen; vgl. Eberhard Krügler, Compliance – ein Thema mit vielen Facetten. In: Umwelt Magazin. Heft 7/ 8 2011, Seite 50. 2 Eine erhebliche Ausweitung der Sanktionsmöglichkeiten in Deutschland sieht das derzeit im Gesetzgebungsprozess befindliche Gesetz zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft (VerbandssanktionenG) vor.
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einzurichten.3 Durch die Rechtsprechung sind hierzu Mindeststandards für Compliancestrukturen definiert worden, die als originäre Aufgabe in der Verantwortung der obersten Führungsebene eines Unternehmens liegen und bei Verletzung eine persönliche Haftung nach sich ziehen können.4 Diese Compliance Aktivitäten sind typischerweise integraler Bestandteil eines umfassenden Verhaltenskodexes, den sich bereits ein Großteil der Unternehmen gegeben haben.5
II. Corporate Compliance Programme 1. Umfang von unternehmensweiten Compliance Programmen Ein unternehmensweites Compliance Programm, auch Compliance Management System (CMS) genannt, deckt eine Vielzahl von Rechtsgebieten mit allen Regeln und Bestimmungen ab, die im täglichen operativen Geschäft in besonderem Maße beachtet werden müssen. Zusammengefasst handelt es sich dabei um die Gesamtheit aller internen Regelungen und Prozesse, um ein regelkonformes Geschäftsverhalten sicherzustellen. Das umfasst allerdings nicht nur alle gesetzlichen Regelungen, sondern auch die vom Unternehmen selbst als zentral erachteten ethisch-moralischen Aspekte, die für den Schutz der Reputation des Unternehmens ebenfalls wichtig sind.6 Bezogen auf die gesetzlichen Vorgaben sind unter Risikogesichtspunkten an vorderer Front die Bereiche Kartellrecht, Korruption, Datenschutz, Exportkontrolle oder 3 In Deutschland beispielsweise haftet die Unternehmensleitung gemäß §§ 130 und 30 Abs. 1 i.V.m. § 9 Ordnungswidrigkeitengesetz (OwiG) für einen Gesetzesverstoß, wenn dieser Verstoß auf die Verletzung ihrer Organisations- und Aufsichtspflichten zurückzuführen ist. Ein Verstoß gegen diese Pflichten kann darüber hinaus auch zu Haftungsansprüchen der Gesellschaft selbst gegenüber der Unternehmensleitung führen. Über dieses Haftungsregime wird in der Praxis jedenfalls mittelbar ein hoher Druck auf die Unternehmensleitung zur Einrichtung ausreichender Compliance Maßnahmen erzeugt. Vgl. hierzu auch Ebersoll/Stork, Smart Risk Assessment, 2016, S. 20 f. 4 Vgl. hierzu u. a. auch Pitkowitz, Praxishandbuch Vorstands- und Aufsichtsratshaftung, 2014, S. 71 ff.; Moosmayer, Compliance, 3. Auflage 2015, Rd. 39 ff.; Pelz in: Hauschka/ Moosmayer/Lösler, Corporate Compliance, 3. Auflage 2016, § 5 Rd. 1 ff. mit weiteren Nachweisen; Sieber/Engelhart, Compliance Programs for the Prevention of Economic Crimes, 2014, S. 210 ff. 5 Dieser für alle Mitarbeiter geltende Verhaltenskodex wird auch als „Business Conduct Guidelines“ bezeichnet. Diese Guidelines regeln mehr oder weniger detailliert alle wesentlichen Belange einer „Good Corporate Governance“ und enthalten auch alle von den Mitarbeitern zu beachtenden Verpflichtungen im täglichen Geschäft. Hierunter fallen z. B. auch Regelungen zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen oder auch der Umgang mit Geschenken und Einladungen. 6 Siehe zur Systemprüfung von allgemeinen Compliance Management Systemen auch der vom Institut der Wirtschaftsprüfer (IDW) herausgegebene Prüfungsstandard IDW PS 980: „Grundsätze ordnungsmäßiger Prüfung von Compliance Management Systemen“ vom 11. 3. 2011.
Elemente u. Implementierung eines kartellrechtlichen Compliance Programms
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Geldwäsche zu nennen, wo Gesetzesverstöße besonders nachteilige Konsequenzen für ein Unternehmen nach sich ziehen können. Nicht zu unterschätzen sind aber auch Bereiche wie M&A, Umwelt, Gesundheit und Sicherheit, Sponsoring oder die Beziehung zu Geschäftspartnern. 2. Die generellen Elemente und Ziele eines Compliance Programms Ein Compliance Programm in der Unternehmenswelt ist ein prozesshaft ausgestaltetes Programm, um ein regelbasiertes Marktverhalten des Unternehmens zu gewährleisten und Gesetzes- und sonstige Regelverstöße zu vermeiden und ggf. aufzudecken. Im Hinblick auf diese Zweckbestimmungen lassen sich die typischen Elemente eines Compliance Programms in die folgenden Kategorien aufteilen: a) Prävention (prevent), b) Aufdeckung (detect), c) Reaktion (respond) und d) kontinuierliche Verbesserung (continuous improvement). a) Prävention Hierunter fallen alle Maßnahmen und Prozesse, die im Zusammenhang mit der präventiven Verhinderung von Kartellrechtsverstößen stehen, wie zum Beispiel die unternehmensweite Kommunikation zur Compliance Kultur und zur zwingenden Beachtung der Gesetze, die Durchführung von Schulungsveranstaltungen, aber auch – bei einem weiter gefassten Verständnis – die entsprechende (kartellrechtliche) Beratung des operativen Geschäftes. b) Aufdeckung Über die rein präventiven Maßnahmen hinaus müssen gleichzeitig Risiko Management Prozesse installiert werden, um die individuelle Risikoexposition des Unternehmens zu analysieren und daraus entsprechende Maßnahmen abzuleiten. Diese Risikoanalyse hat sich nicht nur auf das Unternehmen als Ganzes zu richten, sondern muss auch die einzelnen Geschäftsbereiche erfassen, um mögliche Gesetzesverstöße, z. B. durch Audits oder konkrete interne Ermittlungen, aufzudecken. Darüber hinaus müssen Möglichkeiten geschaffen werden, Gesetzesverstöße (anonym oder vertraulich) zu melden. c) Reaktion Sollte es trotz der oben genannten Maßnahmen einmal zu einem Gesetzesverstoß gekommen sein, muss das Unternehmen darauf adäquat reagieren und gegebenenfalls auch disziplinarische und arbeitsrechtliche Sanktionen ergreifen, die bis hin zur Kündigung des Arbeitsvertrages gehen können.
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d) Kontinuierlicher Verbesserungsprozess Schließlich muss das Compliance Programm im Rahmen eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses regelmäßig auf mögliche Verbesserungen und Anpassungen an neue Sach- oder Rechtslagen im Unternehmen hin überprüft werden, um die Effektivität des Programms sicherzustellen.
III. Kartellrechtliche Compliance Programme Der elementare Zweck eines kartellrechtlichen Compliance Programms ist, die Beachtung aller kartellrechts-relevanten Regeln und Gesetze sicherzustellen und die Beteiligung an wettbewerbswidrigen Absprachen zu verhindern. Neben dem eher gesellschaftspolitischen Zweck, das Unternehmen auch im Sinne einer „Good Corporate Citizenship“ als verantwortlich handelndes Unternehmen zu positionieren, hat die Einrichtung eines komplexen und aufwendigen kartellrechtlichen Compliance Programms auch eine erhebliche wirtschaftliche Dimension. Neben den reinen laufenden Kosten für die dafür erforderliche Compliance Organisation gibt es auch erhebliche sonstige Folgekosten, die berücksichtigt werden müssen, wie zum Beispiel die thematische Beschäftigung des Managements, oder auch der Zeitaufwand für die Schulung der Mitarbeiter. Insofern stellt sich natürlicherweise für jedes Unternehmen die Frage, warum es sich lohnen soll, die mit einem effektiven kartellrechtlichen Compliance Programm verbundenen hohen Kosten aufzuwenden, und ob es nicht auch ausreichend sein kann, nur Minimalanforderungen zu erfüllen. Neben diesen eher allgemeinen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gründen stellt sich bei allen Compliance Programmen aber auch die Frage, welche Risiken mit Verstößen gegen die entsprechenden Schutzgesetze verbunden sind, weil von dieser potentiellen Risikoexposition auch abhängt, wie viele Ressourcen das Unternehmen letztlich in ein Programm zur Verhinderung solcher Verstöße zu investieren bereit ist. Diese Frage lässt sich im Bereich des Kartellrechts relativ einfach beantworten, weil Kartellrechtsverstöße aus Unternehmenssicht inzwischen mit zu den größten Risiken gehören, denen ein Unternehmen im operativen Geschäft ausgesetzt ist. Dies hängt vor allem mit den dramatischen Sanktionen und sonstigen Konsequenzen zusammen, die im Falle der Beteiligung an einem schwerwiegenden Kartellrechtsverstoß drohen. In diesem Zusammenhang ist auch das in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegene Aufdeckungsrisiko zu berücksichtigen. 1. Anreize für die Einrichtung eines kartellrechtlichen Compliance Programms Für die Bewertung der Risiken auf der Rechtsfolgenseite einer Kartellrechtsverletzung sind vor allem die nachfolgenden Aspekte von Bedeutung.
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a) Aufdeckungsrisiko Heutzutage haben nahezu alle Länder weltweit Kartellrechtsregime eingeführt und entsprechende Kartellbehörden eingerichtet. Diese Internationalisierung und Globalisierung der Verfolgung von Kartellrechtsverstößen wiederum hat einen eigenen „Wettbewerbsdruck“ unter den Kartellbehörden im Hinblick auf die Kartellverfolgung erzeugt.7 Hinzu kommt, dass in den meisten Ländern daneben auch Kronzeugenprogramme eingeführt wurden, die eine ganz erhebliche Anreizwirkung entfaltet und zu einem Paradigmenwechsel im Bereich der Kartellaufdeckung und -verfolgung geführt haben. Dadurch sind die Zahlen der freiwillig bei den Kartellbehörden angezeigten Kartelle zunächst signifikant angestiegen. b) Sanktionen und andere Konsequenzen bei Kartellrechtsverstößen Die nachfolgend aufgezählten möglichen Konsequenzen einer Beteiligung an einem schwerwiegenden Kartellrechtsverstoß machen deutlich, dass das Kartellrecht aus gutem Grunde mit zu den größten Risikobereichen von Unternehmen gehört: aa) Freiheitsstrafe Für die Unternehmensführung wie auch für die Mitarbeiter dürfte eine mögliche Gefängnisstrafe als Folge eines Kartellrechtsverstoßes die mit Abstand abschreckendste Sanktion sein. Dies gilt in zunehmendem Maße, weil neben Ländern wie den USA, die diesbezüglich schon eine lange Vorgeschichte mit strengen Verfolgungsaktivitäten haben, immer mehr Jurisdiktionen die Möglichkeit von Freiheitsstrafen bei schwerwiegenden Verstößen einführen.8 Daneben können die an einem Kartellrechtsverstoß beteiligten Individuen in den meisten Jurisdiktionen auch mit einer Geldbuße oder Geldstrafe belangt werden. bb) Geldbußen Die Höhe der Geldbußen für Unternehmen ist über die Jahre immer weiter gestiegen und hat in besonderem Maße zur generalpräventiven Abschreckung beigetragen. Dabei dürfte auch ein gewisser Wettbewerb zwischen den Wettbewerbsbehörden um 7 Hier ist besonders die enge internationale Zusammenarbeit der Kartellbehörden im Rahmen des ICN (International Competition Network) und des ECN (European Competition Network) zu erwähnen. Speziell durch das einmal pro Jahr stattfindende Treffen aller Kartellbehörden, aber auch durch die sonstige unterjährige Zusammenarbeit wird eine Gruppendynamik erzeugt, wonach jede Behörde einen intrinsischen Anreiz hat, sich in diesem Kreis auch als durchsetzungsfähige und effektive Behörde darzustellen. 8 So belief sich beispielsweise die durchschnittliche Freiheitsstrafe in den USA für strafbare Kartellrechtsverstöße in den Jahren 2000 bis 2009 auf 20 Monate, in den Jahren 2010 bis 2019 auf 18 Monate; vgl. DOJ, Criminal Enforcement Trends Charts: https://www.justice.gov/ atr/criminal-enforcement-fine-and-jail-charts.
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die höchsten Geldbußen eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt haben. Geldbußen im Milliardenbereich für Großkonzerne im Falle schwerwiegender Kartellrechtsverstöße sind deshalb inzwischen keine Seltenheit mehr.9 cc) Zivilrechtliche Schadensersatzklagen Neben den Geldbußen haben in zunehmendem Maße auch zivilrechtliche Schadensersatzklagen einen erheblichen Anteil daran, dass die negativen Konsequenzen einer Beteiligung an einem Kartellrechtsverstoß immer noch anwachsen. Vor allem die Kartellbehörden und die gesetzgebenden Organe haben in den letzten Jahren große Anstrengungen unternommen, um die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen im Rahmen von Sammelklagen durch Kartellgeschädigte zu erleichtern.10 Abgesehen davon, dass Schadensersatzansprüche heutzutage enorme Größenordnungen einnehmen können, dürfen auch die sonstigen Auswirkungen derartiger Verfahren auf das Unternehmen nicht unterschätzt werden, wie z. B. Prozesskosten, Beanspruchung von Zeit und Aufmerksamkeit von Management, aber auch die damit verbundene erneute negative Publicity. So ist es nicht selten, dass viele Jahre nach rechtskräftiger Bußgeldentscheidung durch die Kartellbehörden immer noch Zivilklagen die Unternehmen beschäftigen. dd) Reputationsschaden Je mehr ein Unternehmen im Lichte der Öffentlichkeit steht, desto größer kann der Reputationsschaden sein, der sich aus seiner Beteiligung an einem Kartell ergibt. Dies gilt in besonderem Maße, wenn die Aufdeckung eines Kartells eine besondere mediale Aufmerksamkeit erhält und das Fehlverhalten und die Schwere des Verstoßes von der Öffentlichkeit als besonders verwerflich angesehen werden. Gerade für (große) international tätige Unternehmen kann ein derartig schwerwiegender Reputationsschaden einen erheblichen negativen Einfluss auf den (globalen) Geschäftserfolg haben.
9
Vgl. z. B. die Bußgelder im LKW-Kartell (https://ec.europa.eu/commission/presscorner/de tail/de/IP_16_2582) oder die Bußgelder gegen große Tech-Unternehmen wie z. B. Google (https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/IP_19_1770). Zur Statistik der EUBußgelder insgesamt vgl.: https://ec.europa.eu/competition/cartels/statistics/statistics.pdf. 10 Hierzu hat der Rat auf EU-Ebene am 21. September 2020 den Text der „Richtlinie über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher“ formal angenommen, so dass jetzt nur noch die formale Zustimmung des EU-Parlaments aussteht. Die Richtlinie, die auch die Einführung von kollektiven Verbandsklagen vorsieht, muss dann von den Mitgliedstaaten innerhalb von zwei Jahren in nationales Recht umgesetzt werden.
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ee) Ausschluss von öffentlichen Ausschreibungen Nicht zuletzt können Kartellrechtsverstöße mit einem Ausschluss von öffentlichen Ausschreibungen für mehrere Jahre sanktioniert werden. Für Unternehmen, deren Geschäftsmodell in erheblichem Maße von Aufträgen mit der öffentlichen Hand abhängig ist, kann eine solche Sanktion in ihren Auswirkungen sogar deutlich gefährlicher und dramatischer sein als die Bezahlung eines (lediglich) sehr hohen Bußgeldes. Im Extremfall kann dadurch das gesamte Geschäftsmodell in den betroffenen Ländern oder Regionen ins Wanken geraten. Besonders risikobehaftet sind zum Beispiel auch kartellrechtswidrige Projekt- oder Preisabsprachen im Zusammenhang mit Ausschreibungen, die von der Weltbank finanziert werden. Hier kann beispielsweise ein Verstoß in einem Land zu einem Ausschluss von weltbankfinanzierten Projekten weltweit führen. 2. Effektive Compliance Programme als bußgeldmindernder Faktor bei der Berechnung von Bußgeldern a) Gegenwärtiger rechtstatsächlicher Stand der Diskussion Die Frage, ob und inwieweit effektive (kartellrechtliche) Compliance Programme als bußgeldmindernder Faktor bei der Berechnung von Bußgeldern berücksichtigt werden sollen, ist seit vielen Jahren nicht nur in Deutschland Gegenstand sehr kontrovers geführter Diskussionen. Von Verbands- und Unternehmensseite wird insbesondere argumentiert, dass durch eine solche Berücksichtigung ein zusätzlicher und sinnvoller Anreiz geschaffen würde, um die hohen Aufwendungen und Anstrengungen zur Implementierung eines effektiven Compliance Systems zu tätigen. Eine Rolle spielt dabei auch der Umstand, dass Unternehmen es als ausgesprochen ungerecht empfinden, wenn ihre Compliance Anstrengungen im Falle eines Kartellverstoßes nicht berücksichtigt werden, obwohl diese ja auch Ausdruck des Bemühens sind, innerhalb der Gesellschaft den Ansprüchen an eine Kultur der „Good Corporate Citizenship“ zu entsprechen, und sie stattdessen ebenso behandelt werden wie ein Kartellbeteiligter, der bislang keinerlei Compliance Bemühungen unternommen hatte. Gleichwohl wurde und wird diese Forderung von der großen Mehrheit der Kartellbehörden kategorisch abgelehnt. Das am häufigsten zu hörende Argument lautet, dass die Beteiligung an einem Kartellrechtsverstoß gerade der Beweis dafür sei, dass das Compliance Programm eben nicht effektiv genug war, sondern versagt hat, weil es den Verstoß nicht verhindern konnte.11 Deshalb verbiete sich auch eine Berücksichtigung des bestehenden Systems zugunsten des Unternehmens. Ein wesentlicher Grund für die ablehnende Haltung auf Behördenseite dürfte aber insbesondere sein, dass eine Behörde kein Interesse hat, neben den sowieso schon immer komplexer und 11 Siehe z. B. Joaquín Almunia, EU Commissioner for Competition, in einer Rede am 25. Oktober 2010: „Why should I reward a compliance programme that has failed?“; https:// ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/SPEECH_10_586.
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aufwendiger zu führenden Ermittlungsverfahren auch noch die Effektivität eines bestehenden Compliance Programms zu prüfen. Allerdings haben sich im Laufe der letzten Jahre mehr und mehr Länder entschieden, effektive Compliance Programme bußgeldmindernd zu berücksichtigen. Hierunter zählen unter anderem Australien, Brasilien, Kanada, Israel, Italien, Spanien, Schweiz und Großbritannien. Die Mehrzahl der Kartellbehörden dagegen hat sich bisher nicht zu einer solchen Anerkennung durchringen können. b) Paradigmenwechsel in den Vereinigten Staaten Vor diesem Hintergrund ist die 1808-Kehrtwendung der Kartellrechtsabteilung (Antitrust Division) des DOJ besonders hervorzuheben, da es sich beim DOJ um eine der global profiliertesten und einflussreichsten Kartellrechtsbehörden handelt. So hat sich das DOJ im Jahr 2019 von seiner bisherigen langjährigen Praxis der Ablehnung einer Berücksichtigung effektiver Compliance Programme verabschiedet und durch deren Anerkennung einen Paradigmenwechsel eingeleitet.12 Aufgrund der Bedeutung des DOJ im Kreis der Kartellbehörden könnte dieser Wende eine erhebliche Breitenwirkung zukommen. Mit den neuen Leitlinien13 werden zukünftig effektive kartellrechtliche Compliance Programme bei Kartellrechtsermittlungen strafmildernd berücksichtigt.14 Sehr interessant ist hierbei aber vor allem die zugrundeliegende Begründung: So stellt das DOJ fest, dass ein Kartellrechtsverstoß eben gerade kein Beweis für die Erfolglosigkeit des Compliance Programms ist, weil es andernfalls auch in rechtstatsächlicher Hinsicht kein wirklich effektives Compliance Programm geben könnte. Vielmehr erkennt das DOJ an, dass kein Compliance Programm jemals alle kriminellen Aktivitäten durch Unternehmensmitarbeiter wird verhindern können.15
12
Vgl. U.S. Department of Justice Antitrust Division, Evaluation of Corporate Compliance Programs in Criminal Antitrust Investigations, July 2019; https://www.justice.gov/atr/page/ file/1182001/download. 13 Nicht zu verwechseln mit der Guidance der Antitrust Division des DOJ sind die verschiedenen Leitlinien der Criminal Division des DOJ. Letztere hat erst im Juni 2020 ein Update ihrer Leitlinien zur Bewertung von Corporate Compliance Programmen veröffentlicht, um noch besser zwischen tatsächlich und nur scheinbar effektiven Corporate Compliance Programmen zu differenzieren. Siehe auch DOJ vom 1. Juni 2020: U.S. Department of Justice Criminal Division, Evaluation of Corporate Compliance Programs (Updated June 2020); https://www.justice.gov/criminal-fraud/page/file/937501/download. 14 Die Leitlinien des DOJ AT Division richten sich primär an Staatsanwälte, da schwerwiegende Kartellrechtsverstöße in den USA strafrechtlich sanktioniert werden. Dies ändert aber nichts daran, dass die hier aufgeführten Elemente eines effektiven Compliance Programms entsprechend auch eine Ausstrahlungswirkung haben in Jurisdiktionen, in denen derartige Kartellverstöße nur bußgeldrechtlich geahndet werden. 15 Vgl. DOJ Leitlinien vom Juli 2019, S. 3.
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Genaugenommen entspricht dies auch nur einer ehrlichen und realistischen Bestandsaufnahme, wonach auch das bestmögliche Compliance Programm Gesetzesverstöße nicht dauerhaft und sicher verhindern kann. Wie überall gibt es auch in der Unternehmenswelt Mitarbeiter, die sich mit krimineller Energie über gesetzliche und Unternehmensvorgaben hinwegsetzen. Das DOJ hat deshalb in seinen Leitlinien neun zentrale Elemente aufgelistet, die typischerweise Bestandteile eines effektiven kartellrechtlichen Compliance Programms sein sollten, und die bei der Bewertung des Compliance Programms zum Zwecke der Strafzumessung zu berücksichtigen sind.
IV. Zentrale Elemente eines effektiven kartellrechtlichen Compliance Programms unter besonderer Berücksichtigung der Leitlinien des DOJ 1. Allgemeine Zielsetzungen eines kartellrechtlichen Compliance Programms Die allgemeine Struktur eines kartellrechtlichen Compliance Programms orientiert sich wie auch bei den generellen Compliance Programmen an den bereits oben genannten vier allgemeingültigen Strukturkriterien, nämlich a) Prävention, b) Aufdeckung, c) Reaktion, und d) kontinuierliche Verbesserung. 2. DOJ Leitlinien zur Beurteilung von Corporate Compliance Programmen in strafrechtlichen Kartellermittlungen Die Leitlinien der Antitrust Division des DOJ mit ihren konkret ausgeführten Elementen bewegen sich um die folgenden drei Fragestellungen, die auch der Ausgangspunkt für die Bewertung der Effektivität eines kartellrechtlichen Compliance Programms sein sollen: (1) Adressiert und verhindert das Compliance Programm Kartellrechtsverstöße? (2) Hat das Programm im Ernstfall einen Verstoß erkannt und eine sofortige Meldung an die Kartellbehörde erleichtert? (3) Inwieweit war eine Person aus dem Management in den Verstoß involviert? Diese Fragen zielen auf den kritischen Bereich eines jeden Compliance Programms, nämlich dessen Eignung zur bestmöglichen Vorbeugung wie auch Aufdeckung von Gesetzesverstößen, aber auch, wie ernsthaft das Programm innerhalb des Unternehmens umgesetzt wurde. Dazu ist auch auf die je nach individueller Situation des Unternehmens umfänglichen Einzelelemente einschließlich der dazu erforderlichen internen Prozesse abzustellen.
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Hierfür hat das DOJ neun zentrale Elemente definiert, anhand derer die Bewertung des Compliance Programms vorgenommen werden kann. a) Struktur und Vollständigkeit eines Compliance Programms Das erste Element bezieht sich auf die allgemeine Bewertung der Effektivität eines kartellrechtlichen Compliance Programms. Damit soll unterschieden werden zwischen Programmen, die ernsthaft versuchen, Gesetzesverstöße zu verhindern, und solchen, die lediglich pro-forma und nur auf dem Papier diesen Eindruck zu vermitteln versuchen, ohne dass ein wirkliches Bekenntnis dahintersteht.16 Das DOJ nennt hier einige Kriterien, die bei der Beurteilung der Ernsthaftigkeit eines Compliance Programms helfen sollen, wie z. B.: – Wann wurde das Programm aufgesetzt und soll es regelmäßig aktualisiert werden? – Bestehen interne Kontrollprozesse zur Stärkung der kartellrechtlichen Compliance Policy? – Gibt es Prozesse zur Erfassung von geschäftsbezogenen Wettbewerberkontakten? – Wie werden Mitarbeiter in risikogeneigten Positionen geschult, um sicherzustellen, dass sie kartellkritische Situationen erkennen und melden können? Viele Details zu den hier aufgelisteten Fragestellungen finden sich wieder in den nachfolgenden aufgeführten Elementen und werden dort mit konkreterem Inhalt gefüllt. Der hier wesentliche Eckpfeiler für die Beurteilung der Effektivität eines kartellrechtlichen Compliance Programms ist die Ernsthaftigkeit, mit der das Programm umgesetzt und im Unternehmen gelebt wird. Dabei spielt die Kommunikation durch das obere Management eine zentrale Rolle. Zwei der vom DOJ angeführten Kriterien sollen aber gleichwohl noch herausgegriffen werden: aa) Gibt es einen Berichtsprozess, der geschäftsbezogene Wettbewerberkontakte nachverfolgt? Darunter ist in erster Linie ein Berichtssystem zu verstehen, wonach die Mitarbeiter jeden Kontakt mit einem Wettbewerber unter Angabe bestimmter Informationen (z. B. Datum, Zeit, Örtlichkeit, beteiligte Personen, relevante Gesprächsthemen etc.) melden müssen. Ein solcher Prozess hört sich zunächst sinnvoll an und dürfte bei den Mitarbeitern auch zu einer entsprechenden Bewusstseinsbildung im Hinblick auf das mit Wettbewerberkontakten verbundene Risiko führen. Dem steht allerdings ein enormer Bürokratieaufwand gegenüber, der hochgerechnet einen durchaus erheblichen Einfluss auf die Effizienz gerade der Vertriebsorganisationen haben dürfte, die ohnehin schon über eine immer stärker zunehmende Verwaltungsbelastung klagen. 16
Siehe DOJ Leitlinien vom Juli 2019, S. 4 f.
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Dieser Aufwand dürfte auch der Grund sein, dass sich bisher, soweit ersichtlich, nur wenige Unternehmen für die Einführung eines derartigen Berichtssystems entschieden haben. Darüber hinaus ist auch fraglich, ob sich ein solches System, das ja auch einen unterschwelligen Misstrauensvorwurf beinhaltet, mit einer modernen Unternehmenskultur verträgt. Richtigerweise sollte man die Beurteilung eines Compliance Programms deshalb auch nicht von diesem Kriterium abhängig machen. bb) Gibt es im Unternehmen eine klar kommunizierte Policy und entsprechende interne Leitlinien im Hinblick auf die Vernichtung von Dokumenten und Behinderung der Justiz? Dieser Punkt hat eine größere Bedeutung vor allem in Jurisdiktionen, in denen die Vernichtung von Dokumenten und Beweismitteln als „Obstruction of Justice“ sanktioniert wird, also insbesondere in angelsächsisch geprägten Rechtssystemen. Andere Jurisdiktionen kennen das Rechtsinstitut der „Obstruction of Justice“ in dieser Form häufig nicht. Gleichwohl muss auch dort den Unternehmen bewusst sein, dass eine offensichtliche Behinderung der Ermittlungsbehörden nachteilige Auswirkungen auf den weiteren Verfahrensablauf haben dürfte. Deshalb hat sich zwischenzeitlich bei dem Großteil der deutschen Unternehmen auch der Ansatz durchgesetzt, dass im Zweifel mit den Ermittlungsbehörden kooperiert werden sollte. Das schließt selbstredend nicht aus, dass im Einzelfall und im besten Interesse des Unternehmens auch eine offensive Verteidigungsstrategie bis hin zur Konfliktverteidigung gewählt wird. Unabhängig davon ist es aber zumindest für jedes größere international tätige Unternehmen empfehlenswert, einen Prozess zu haben, wie man mit sogenannten „document freeze orders/freezing injunctions“ von einem Gericht oder einer Wettbewerbsbehörde umgeht, und wie diese Anordnungen unmittelbar nach Erhalt auch im Unternehmen umgesetzt werden können. b) Compliance Kultur Die zentrale Säule eines jeden Compliance Programms ist eine von der Unternehmensleitung kommunizierte ernsthafte und ausnahmslose Compliance Kultur.17 Nur wenn an dieser Stelle eine klare und unmissverständliche Erwartung an alle Mitarbeiter zur Beachtung aller kartellrechtlichen Gesetze und Regeln kommuniziert wird und von dem Management auch gelebt wird (sog. „Walk the Talk“), können alle anderen Bestandteile eines Compliance Programms ihre Wirkung entfalten. Diese Ansage vom obersten Management („Tone from/at the Top“) muss in regelmäßigen Abständen wiederholt werden und klarstellen, dass eine wie auch immer geartete Beteiligung an rechtswidrigen Kartellabsprachen nicht toleriert wird (Null Toleranz Policy). Infolgedessen müssen bei entsprechenden Gesetzesverstößen 17
Siehe DOJ Leitlinien vom Juli 2019, S. 5 f.
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auch konsequent angemessene Sanktionen getroffen werden, damit die Mitarbeiter die zugrundeliegende Compliance Kultur ernst nehmen. c) Verantwortlichkeit für das Compliance Programm Für alle Compliance Themen muss es im Unternehmen eine klare Regelung der Verantwortlichkeit („Governance Ownership“) geben.18 Regelmäßig liegt diese in der Compliance Organisation unter der Führung des Chief Compliance Officer.19 Dieser muss auch ein hinreichendes Maß an Autorität und typischerweise eine direkte Berichtslinie zum CEO oder zumindest CFO haben, und zwar unabhängig davon, ob er, wie es häufig der Fall ist, daneben auch parallel noch an den Justiziar des Unternehmens berichtet. Außerdem muss die Compliance Abteilung mit allen erforderlichen finanziellen und personellen Ressourcen ausgestattet sein, um die erforderlichen Schulungs- und Kommunikationsmaßnahmen, aber auch die internen Untersuchungen durchführen zu können. Die Mitarbeiter der Compliance Abteilung müssen ebenfalls hinreichende Seniorität im Hinblick auf deren hierarchische Einordung innerhalb der Gesamtunternehmensstruktur besitzen. Ein weiteres Kriterium bezieht sich darauf, ob der Compliance Officer ausschließlich mit Compliance Aufgaben beschäftigt ist, oder ob Compliance nur einen (evtl. sogar nur kleineren) Teil seiner Gesamtaufgaben ausmacht (sog. „Zebra-Funktion“). In Großkonzernen wird letzteres sicher kritischer betrachtet, während bei kleineren Unternehmen je nach Größe nicht erwartet werden kann, dass alle Compliance Verantwortlichen sich exklusiv um Compliance kümmern. d) Risikoanalyse Eines der zentralen Elemente eines jeden Compliance Programms betrifft die Ausgestaltung des unternehmensspezifischen Risiko Managements.20 Diese zweite Säule hat zum Ziel, mögliche Gesetzesverstöße aufzudecken. Kernstück dabei ist die Bewertung der individuellen kartellrechtlichen Risikoexposition. Die Risikoanalyse muss dabei alle Geschäftsbereiche abdecken und dabei die für die einzelnen Geschäftsbereiche individuellen Risiken abbilden. Im Hinblick auf den Inhalt des Compliance Programms ist darüber hinaus zu prüfen, welche Anstrengungen zur Einführung einer unternehmensweiten KartellrechtsPolicy und entsprechenden Schulungsprogrammen unternommen worden sind. Die
18
Siehe DOJ Leitlinien vom Juli 2019, S. 6 f. Soweit das Kartellrecht betroffen ist, liegt insofern auch eine Co-Verantwortung mit dem für Kartellrecht verantwortlichen Juristen nahe. 20 Siehe DOJ Leitlinien vom Juli 2019, S. 7 f. 19
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Ergebnisse der Risikoanalyse müssen außerdem in die jeweiligen Schulungsprogramme integriert werden. Schließlich sind im Hinblick auf die Durchführung der Risikoanalyse die folgenden zwei Punkte zu berücksichtigen: (i) Zum einen müssen die für die Risikoanalyse eingesetzten Ressourcen entsprechend den verschiedenen Risikostufen im Unternehmen allokiert werden. (ii) Zum anderen muss es sich hier auch um einen periodisch wiederkehrenden Prozess handeln, der nicht nur eine einmalige Momentaufnahme darstellt, sondern der auch neue technologische und sonstige relevante Entwicklungen im operativen Geschäft aufgreift und Verbesserungen auf Basis früher aufgedeckter Risiken reflektiert.21 e) Schulungen und Kommunikation aa) Schulungen Eine weitere zentrale Säule neben dem Riskomanagement ist der gesamte Komplex der unternehmensweiten kartellrechtlichen Schulungen, die in bestimmten zeitlichen Abständen (typischerweise alle 2 – 3 Jahre) stattfinden sollten.22 Hier muss jedes Unternehmen auf Basis seiner individuellen Situation entscheiden, wie das Schulungssystem am wirkungsvollsten ausgestaltet werden kann. Regelmäßig kann man unterscheiden zwischen den eher flächendeckenden Schulungsmaßnahmen, die einen breiten Adressatenkreis abdecken, dafür aber auch in der Substanz sich stärker auf die Grundlagen konzentrieren. Hierfür eignen sich vor allem die web-basierten oder auch Video-Schulungen, die im Vergleich zu Präsenzschulungen mit deutlich geringerem Aufwand unternehmensweit ausgerollt werden können. Daneben stehen die Präsenzschulungen für speziell definierte kleinere Zielgruppen, die in vorwiegend kartellanfälligen Positionen arbeiten und einem erhöhten Kartellrechtsrisiko ausgesetzt sind, wie z. B. Mitarbeiter im Vertrieb und solche, die mit der Erstellung von Angeboten und mit Preiskalkulationen betraut sind, oder auch Mitglieder in Verbänden. Schließlich muss auch regelmäßig das Management geschult werden, um in deren Verantwortungsbereich einen überzeugenden „Tone from/at the Top“ zu gewährleisten. Die Schulungsinhalte sollten idealerweise auf die jeweiligen Aufgabengebiete der Mitarbeiter und die damit verbundenen spezifischen kartellrechtlichen Risiken zugeschnitten sein. Der Inhalt ist regelmäßig zu überprüfen and an aktuelle Entwicklungen im Kartellrecht wie auch im Unternehmen anzupassen. Dies ist deshalb wichtig, um die Akzeptanz der Schulungen wegen langjähriger identischer Inhalte und Fallbeispiele nicht zu gefährden.
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Siehe DOJ Leitlinien vom Juli 2019, S. 8. Siehe DOJ Leitlinien vom Juli 2019, S. 8 f.
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Die Schulungsaktivitäten sind sorgfältig zu dokumentieren, einschließlich der Anzahl, Abteilung und Namen der Teilnehmer. Das ist von Bedeutung, um im Falle eines später aufgedeckten Kartellrechtsverstoßes die Effektivität des Compliance Programms und der Schulungen nachweisen zu können. In einem solchen Falle fragen die Behörden auch regelmäßig ab, ob die an dem Verstoß beteiligten Mitarbeiter an Kartellrechtsschulungen teilgenommen haben. bb) Kommunikation Im Zusammenhang mit der Compliance-relevanten Kommunikation im Unternehmen erwartet das DOJ, dass insbesondere disziplinarrechtliche Maßnahmen, wie z. B. Kündigung des Arbeitsvertrages, offensiv kommuniziert werden, um den Mitarbeitern zu demonstrieren, dass es für kartellrechtliche Verstöße keine Toleranz gibt. Dies hat besondere Bedeutung für die Ernsthaftigkeit einer kommunizierten Compliance Kultur im Unternehmen, und ist auch Teil des sogenannten „Tone from/at the Top“ durch die Unternehmensleitung. Diese interne Kommunikation hat sich gleichermaßen auf alle Unternehmenseinheiten und auf alle Länder, in denen das Unternehmen tätig ist, zu erstrecken. Zur Umsetzung dieser Kultur im operativen Tagesgeschäft gibt es in vielen Unternehmen sogenannte „Business Conduct Guidelines“ (BCGs), in denen unternehmensinterne verbindliche Regeln für gesetzestreues Verhalten aufgestellt sind. In der Regel müssen diese BCGs von allen neu eingestellten Mitarbeitern zur Kenntnis genommen und deren Befolgung schriftlich bestätigt werden. f) Regelmäßige Kontrollen, Monitoring and Auditierung Ein weiterer generell anerkannter Bestandteil eines Compliance Programms ist dessen kontinuierliche Überprüfung und Verbesserung bzw. Anpassung an aktuelle Entwicklungen.23 Dies bedeutet einen nicht unerheblichen Aufwand der Unternehmen für die Etablierung einer kritischen Größe der Compliance Organisation, um dieses Kriterium neben den anderen Aufgaben zu erfüllen. Hierzu zählt auch ein auf das jeweilige Unternehmen angepasster Auditierungsprozess, der in regelmäßigen Abständen sowohl das Compliance System als solches, aber auch die stichprobenweise Überprüfung bestimmter Geschäftsvorgänge einem Audit unterwirft. Dadurch soll vor allem für Kartellbeteiligte das Aufdeckungsrisiko erhöht werden. g) Meldewege Ein weiterer integraler Bestandteil eines jeden kartellrechtlichen Compliance Programms ist ein Melde- und Berichtssystem, um Mitarbeitern und externen Personen die Möglichkeit zur anonymen und vertraulichen Meldung von Fehlverhalten zu 23
Siehe DOJ Leitlinien vom Juli 2019, S. 10 f.
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geben. Dabei muss sichergestellt sein, dass die Meldung eines möglichen Kartellrechtsverstoßes durch Mitarbeiter nicht zu wie auch immer gearteten Vergeltungsmaßnahmen führt.24 Diese Meldewege können beispielsweise als interne Kronzeugen-Hotlines oder über einen externen Ombudsmann, der in der Regel Anwalt einer Rechtsanwaltskanzlei ist, eingerichtet werden. Die Meldewege müssen schließlich unternehmensweit entsprechend bekannt gemacht werden und auch für externe Hinweisgeber einfach aufzufinden sein. h) Anreize und Disziplinarmaßnahmen Ein System von Anreizwirkungen und Disziplinarmaßnahmen ist ebenfalls ein wesentliches Element eines effektiven Compliance Programms.25 Dadurch soll unternehmensintern demonstriert werden, dass die Unternehmensführung Compliance ernst nimmt und keinerlei Kartellrechtsverstöße tolerieren wird. Soweit hier Anreizwirkungen genannt werden, sind damit in erster Linie negative Anreizsysteme zur Abschreckung gemeint, also die Sanktionierung von Gesetzesverstößen durch disziplinarische Maßnahmen. Dies kann von der Abmahnung, der Reduzierung oder gar Streichung variabler Gehaltsbestandteile bis hin zur Versetzung und schließlich auch zur Kündigung führen. Allerdings erwähnen die DOJ-Leitlinien auch mögliche positive Anreize, um ein Compliance-gerechtes Verhalten zu fördern. Zwar kann man sich den Einsatz von finanziellen Anreizen beispielsweise in den jährlichen Zielvereinbarungen für ein regelkonformes Verhalten durchaus vorstellen. Genaugenommen kann man dann am Jahresende aber nur feststellen, dass der Mitarbeiter nicht bei der Beteiligung an einem Kartell erwischt worden ist, ohne dass man die negative Tatsache belastbar nachweisen könnte, dass er sich nicht an einem Kartell beteiligt hat. Derartige monetäre Anreize sollten deshalb allenfalls zurückhaltend bewertet werden und bei der Beurteilung der Effektivität eines Compliance Programms keine gesteigerte Rolle spielen. i) Abhilfemaßnahmen und die Rolle des Compliance Programms bei der Aufdeckung von Gesetzesverstößen Das DOJ erkennt zwar ausdrücklich an, dass selbst das beste Compliance Programm nicht jeden Kartellrechtsverstoß verhindern kann. Gerade deshalb ist es aber bei der Bewertung eines Compliance Programms wichtig, wie ein Unternehmen auf einen Verstoß reagiert. Insbesondere hat ein Unternehmen nach Aufdeckung
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Siehe DOJ Leitlinien vom Juli 2019, S. 11. Siehe DOJ Leitlinien vom Juli 2019, S. 11 f.
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einer Kartellrechtsverletzung das gesamte Programm einer Revision zu unterziehen und bei erkannten Schwachstellen Nachbesserungen vorzunehmen.26 Soweit der Kartellrechtsverstoß bei internen Untersuchungen aufgedeckt wurde, ist entscheidend, ob das Unternehmen freiwillig und ohne unangemessene Verzögerung den Verstoß gegenüber den zuständigen Behörden aufgedeckt und einen Kronzeugenantrag gestellt hat. Im Falle behördlicher Ermittlungen kommt es darauf an, ob das Unternehmen umfänglich kooperiert hat. Insofern ist es empfehlenswert, für derartige Situationen grundsätzlich eine Politik der vollen und freiwilligen Kooperation und Offenlegung zu verfolgen. 3. Umsetzung der DOJ Leitlinien in ein konkretes kartellrechtliches Compliance Programm a) Allgemeine Aspekte Die Einführung eines kartellrechtlichen Compliance Programms, das alle hier aufgeführten neun Bestandteile und Kriterien beinhalten soll, erfordert schon auf den ersten Blick einen ganz erheblichen Aufwand. Neben den Kosten allein für den Aufbau und laufenden Unterhalt einer erforderlichen Compliance Abteilung27 kommen noch weitere materielle und immaterielle Kosten dazu, wie zum Beispiel Zeitaufwand auf Managementebene, Mitarbeiterschulungen, oder zusätzlicher Bürokratismus durch die Einführung und Befolgung einer Vielzahl neuer Prozesse (z. B. Risk Management etc.). b) Kein „One size fits all“-Prinzip Vor diesem Hintergrund dürfte einleuchten, dass die Anforderungen an ein effektives Compliance Programm nicht für alle Unternehmen identisch sein können, sondern sich für einen Großkonzern regelmäßig ganz erheblich von den Anforderungen an kleine und mittlere Unternehmen unterscheiden müssen. Alle Elemente in den DOJ-Leitlinien können zwar als „best practice“-Empfehlungen für ein effektives kartellrechtliches Compliance Programm angesehen werden. Allerdings hat das DOJ wohlweislich explizit darauf hingewiesen, dass bei der Evaluierung der Effektivität eines Compliance Programms neben diesen Empfehlungen immer auch die individuelle Situation des betroffenen Unternehmens berücksichtigt werden muss. Aus diesem Grunde sind die Fragestellungen und Elemente der Leit26
Siehe DOJ Leitlinien vom Juli 2019, S. 12 ff. So hat z. B. die Aufdeckung der Korruptionsvorgänge bei Siemens zu einem Aufbau der unternehmensweiten Compliance Abteilung in der Hochphase auf insgesamt ca. 650 VollzeitCompliance Officer geführt. Zuvor bestand die Abteilung aus ca. 60 Personen, von denen die meisten ihre Compliance-Funktion jedoch nur teilzeitmäßig neben ihrer sonstigen operativen Verantwortung ausübten. 27
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linien auch nicht als strenge Checkliste zu verstehen. Entscheidend ist vielmehr, dass jedes Unternehmen durch eine Vielzahl von ganz unterschiedlichen Charakteristika gekennzeichnet ist, dass die Produkte und das Geschäftsmodell des Unternehmens ein eigenständiges kartellrechtliches Risikoprofil aufweisen können, und auch die zur Verfügung stehenden Ressourcen jeweils individuell berücksichtigt werden müssen. Insofern sind die Prüfungsanforderungen an ein Compliance Programm an den individuellen Gegebenheiten eines Unternehmens auszurichten.28 Die bei Großkonzernen aufgesetzten aufwendigen Compliance Programme können deshalb auch nicht der Maßstab sein für kleine und mittlere Unternehmen. Dies wird in der Diskussion um die Einführung von Compliance Programmen auch in kleineren Unternehmen häufig übersehen.
V. Ausblick Ist für große und insbesondere international aufgestellte Unternehmen mit ausreichender Finanzkraft die Einrichtung eines nicht nur kartellrechtlichen, sondern auch eines übergreifenden Compliance Programms keine wirkliche Frage, stellt sich die Situation für kleine und mittlere Unternehmen häufig ganz anders dar. Dies gilt in besonderem Maße, wenn es sich um Unternehmen mit lediglich beschränkter Finanzkraft handelt, für welche die Einführung eines Compliance Programms eine besondere finanzielle Herausforderung darstellen würde. Deshalb wird die weitere Verbreitung von kartellrechtlichen Compliance Programmen gerade auch bei kleinen und mittleren Unternehmen und ebenso bei Familienunternehmen zukünftig in erheblichem Maße davon abhängen, ob und inwieweit man die richtige Balance findet zwischen (1) einerseits ausreichend positiven Anreizwirkungen für die Unternehmen, nicht unerhebliche Aufwendungen und Anstrengungen für die Implementierung eines effektiven kartellrechtlichen Compliance Programms zu tätigen, und (2) andererseits den abschreckenden Konsequenzen bei Gesetzesverstößen wie Freiheitsstrafen, hohen Geldbußen, der Erleichterung der Geltendmachung von zivilrechtlichen Schadensersatzansprüchen, dem Ausschluss von öffentlichen Ausschreibungen und dem unternehmerischen Reputationsschaden. Aufgrund der Entwicklung der letzten Jahre gerade im Bereich der immer weiter ansteigenden Bußgelder und der Erleichterung der Geltendmachung von zivilrechtlichen Schadensersatzansprüchen scheint das bisher bestehende Gleichgewicht 28
Hierzu hat beispielsweise die Strafrechtsabteilung (Criminal Division) des DOJ in ihren aktualisierten Leitlinien vom Juni 2020 zur Bewertung von Unternehmens Compliance Programmen die folgenden nicht abschließenden Kriterien aufgelistet, die eine individuelle Bewertung ermöglichen sollen: (i) Größe des Unternehmens, (ii) betroffene Industrie oder Branche, (iii) geographische Präsenz, (iv) regulatorische Umgebung, und (v) andere sowohl interne als auch externe Faktoren im Hinblick auf das operative Geschäft des Unternehmens; vgl. U.S. Department of Justice, Criminal Division, Evaluation of Corporate Compliance Programs: https://www.justice.gov/criminal-fraud/page/file/937501/download.
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etwas aus der Balance geraten zu sein, was sicherlich mit dazu beigetragen hat, dass die Anzahl der Kronzeugenanträge als Gradmesser signifikant zurückgegangen sind.29 Deshalb kommt in diesem Zusammenhang der Anerkennung von bereits implementierten Compliance Programmen als bußgeldminderndem Faktor bei der Bußgeldberechnung eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu, um die entstandene Unwucht in diesem Gesamtsystem zumindest teilweise wieder auszugleichen.
29 Über die Gründe dafür wird nach wie vor diskutiert. Eine wohlwollende Erklärung ist, dass es immer weniger Kartelle gibt und die Kronzeugen-Programme gemeinsam mit den verstärkten internationalen Verfolgungsbemühungen lediglich zu einer Aufarbeitung der noch aus der Vergangenheit stammenden Kartelle geführt haben. Allerdings muss auch konstatiert werden, dass die vielfältigen verfahrenstechnischen und sonstigen Prozesse nach Aufdeckung eines Kartells im Laufe der letzten Jahre selbst für den Kronzeugen immer weniger kontrollierbar geworden und in nicht wenigen Fällen komplett „aus dem Ruder gelaufen sind“. Vgl. z. B. Andreas Mundt zum Rückgang der Kronzeugenanträge von 2016 mit 59 Kronzeugen bis 2018 auf nur noch 25 Kronzeugen; FAZ vom 16. 09. 2019, Wirtschaft, Seite 17: https://www. bundeskartellamt.de/SharedDocs/Interviews/DE/2019/190916_FAZ.html. Siehe hierzu auch Christian Rusche, Mehr Kronzeugen braucht das Land, IW-Kurzbericht Nr. 38 vom 2. April 2020: https://www.iwkoeln.de/studien/iw-kurzberichte/beitrag/christian-rusche-mehr-kronzeu gen-braucht-das-land-464306.html.
Friktionen in globalisierten Wirtschaftsstrafsachen: § 353d Nr. 3 StGB und die amerikanische Pre Trial-Discovery Von Matthias Jahn
I. Widmung Ulrich Sieber ist als ehemaliger Direktor des Freiburger Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht besonders interessiert an den internationalrechtlichen Fragestellungen. Es verwundert deshalb nicht, dass er die Globalisierung als eine der Herausforderungen der Strafrechtswissenschaft identifiziert hat.1 Nach seiner Analyse sind „Kollisionen zwischen unterschiedlichen – nationalen und funktionalen – Rechtsregimen … in einer pluralistischen globalen Ordnung systemimmanent“.2 Zudem enthält sein beeindruckendes Oeuvre auch Beiträge zu Schnittstellenfragen an der Grenzmarke zwischen Straf- und Zivilrecht.3 Der doppelten Probe auf das Exempel vor dem Hintergrund der Friktionen von Globalisierung und Intradisziplinarität sollen einige Überlegungen zu der aus praktischem Anlass4 neu aufgekommenen Frage dienen, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen die Vorlage von Schriftstücken und anderen Beweismitteln im Rahmen einer pre trial-discovery vor einem amerikanischen Zivilgericht den Straftatbestand der verbotenen Mitteilung über Gerichtsverhandlungen (§ 353d Nr. 3 StGB) erfüllen kann, wenn diese Beweismittel zugleich Bestandteile der Akten eines laufenden deutschen Ermittlungsverfahrens sind.
1
Grdlg. Sieber, ZStW 119 (2007), 1 (3 ff.); ders., RTh 41 (2010), 151 (182). Sieber, RTh 41 (2010), 151 (191). 3 Siehe insbes. Sieber, in: Seebode (Hrsg.), Spendel-FS, 1992, S. 757 ff. 4 Ausgangspunkt war eine Anfrage aus der Praxis, die von Verf. im Zusammenhang eines Rechtsstreits in den USA begutachtet worden ist. 2
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II. Eine neue Rechtsfrage 1. Die Strafvorschrift in § 353d Nr. 3 StGB Es handelt sich um eine in der Rechtsprechung und selbst im strafrechtlichen Schrifttum noch nicht erörterte Problematik. Das verwundert kaum. Die Vorschrift in § 353d Nr. 3 StGB fristet im Zusammenhang der Amtsdelikte im 30. Abschnitt des StGB bislang eine Nischenexistenz.5 Sie wird von der Praxis und Wissenschaft eher stiefmütterlich behandelt und kommt deshalb kaum zur Anwendung.6 Damit fehlt es für die im Nachfolgenden zu behandelnde Frage auch an einem Fundament gefestigter Rechtsprechung. Der BGH hat sich in Strafsachen zu § 353d Nr. 3 StGB – soweit erkennbar7 – bislang noch überhaupt nicht äußern müssen. Dies liegt unter anderem daran, dass mit Blick auf die moderate Freiheitsstrafenandrohung nach den Vorschriften über Gerichtszuständigkeiten und den Instanzenzug in Strafsachen (§§ 25 Nr. 2, 121 Abs. 1 Nr. 1 lit. a, b GVG) in der Regel die Oberlandesgerichte das letzte Wort bei der Auslegung haben. Selbst deren Judikatur ist aber spärlich – es geht nur um eine handvoll Entscheidungen in den letzten vier Jahrzehnten – und durch die häufige Berührung mit sensiblen Fragen der Pressefreiheit auffällig einzelfallbezogen.8 5 Siehe nur Vormbaum, in: Kahlo (Hrsg.), Seebode-FS, 2008, S. 421 und Ladiges, JR 2015, 214: „Dunkelnorm“. Dass ihr vom Gesetzgeber im Jahr 1975 (durch Art. 19 Nr. 199 des EGStGB vom 2. 3. 1974, BGBl. I, S. 469) zu allem Überfluss auch noch die falsche Dunkelkammer zugewiesen worden ist, weil es sich nicht um ein Amts-, sondern ein Presseinhaltsdelikt handelt, ist ebenso beinahe allgemeine Meinung im deutschen wissenschaftlichen Schrifttum wie ihre inhaltliche Angreifbarkeit unter Aspekten eines effektiven Rechtsgüterschutzes. Die nachfolgenden Ausführungen gehen freilich allein von der lex lata aus, denn das BVerfG (E 71, 206 [213 ff.]) hat schon mit Beschluss vom 3. 12. 1985 die Verfassungsmäßigkeit der Regelung ausdrücklich festgestellt und dies im Kammerbeschluss vom 27. 6. 2014 (NJW 2014, 2777 Tz. 18 ff. noch einmal unterstrichen; a.A. dennoch SSW-StGB/Bosch, 4. Aufl. 2019, § 353d Rn. 7). Fragen de lege ferenda (siehe Beschlüsse des 58. Deutschen Juristentags, NJW 1990, 2991 (2992): „§ 353d Nr. 3 StGB ist zu streichen [angenommen 50:23:6]“ und zuletzt Art. 2 Nr. 2 des – ebenfalls erfolglosen – FDP-Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der Pressefreiheit, BT-Ds. 16/956 v. 15. 3. 2006, S. 3: „§ 353d Nr. 3 wird gestrichen“) werden im Nachfolgenden nicht behandelt. In den Worten des Ersten Senats: „Es ist Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, ob er eine andere, möglicherweise bessere oder gerechtere Regelung treffen will“ (BVerfGE 71, 206 [218]). 6 In der Strafverfolgungsstatistik für das Jahr 2017 sind bei insgesamt ca. 4,9 Millionen JsErmittlungsverfahren in der Bundesrepublik Deutschland zwei Aburteilungen nachgewiesen, vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 3 – 2017, S. 44, https://www.destatis.de/DE/ Home/_inhalt.html (zuletzt abgerufen, wie alle nachfolgenden URLs, am 1. 9. 2020). Dazu, dass § 353d Nr. 3 StGB von der Praxis bislang bewusst oder unbewusst ignoriert wird, bereits Bornkamm, Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens, 1980, S. 223. 7 Selbst die Datenbank juris, in der insgesamt mehr als 6,2 Millionen Dokumente und mehr als 115.000 Entscheidungen des BGH nachgewiesen sind, verzeichnet mit der Kombination „BGH“ und „§ 353d Nr. 3 StGB“ keinen Treffer. 8 Während deshalb einige eine künftige Relevanzsteigerung des Tatbestands durch den immer stärkeren Einfluss von social media-Plattformen prophezeien (Ladiges, JR 2015, 209
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2. Bedeutung der Ausgangsfrage zur Reichweite des Verbots der Mitteilungen über Gerichtsverhandlungen für das globalisierte Wirtschaftsstrafrecht Eine Strafbarkeit nach § 353d Nr. 3 StGB kann in Betracht kommen, „wenn Bestandteile einer strafrechtlichen Ermittlungsakte in einem Zivilverfahren eingeführt und in öffentlicher Verhandlung verlesen werden, bevor die jeweiligen Dokumente in einer strafrechtlichen Hauptverhandlung erörtert werden oder das Verfahren abgeschlossen ist“.9 Der Frage, ob und in welchem Umfang dieser Satz auch allgemein für amerikanische Zivilverfahren und speziell für eine Sammelklage (class action) gilt,10 widmet sich der nachfolgende Beitrag. Meine These ist, dass das bisherige Nischendasein der Strafvorschrift im Zusammenhang der Beweisgewinnung durch US-amerikanische pre trial-discoveries11 ganz unverdient ist. Ihr kann vielmehr eine Funktion zukommen, die der eines safe house für aktenkundige Beweismittel nahekommt. Im transatlantischen Diskussionszusammenhang des Wirtschaftsstrafrechts wird man bei parallelen Zivil- und Strafverfahren der Strafnorm des § 353d Nr. 3 StGB deshalb zukünftig Aufmerksamkeit zu widmen haben. Denn das hier zu erörternde Problem ist von außerordentlicher forensischer Relevanz. Die durch die Globalisierung der Absatzmärkte gebündelte Abwicklung von Masse- und Streuschäden, bei denen sich eine Vielzahl von US-Verbrauchern durch ein Produkt in ihren Rechten beeinträchtigt fühlen, besitzt für deutsche Unternehmen mittlerweile ganz erhebliche wirtschaftliche Bedeutung.12 In diesem Zusammenhang dürfte es künftig vermehrt zu einer zeitlichen und inhaltlichen Parallelität von pre trial-discovery einerseits und deutschen Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren
[215]), fordern andere auch unter diesem Aspekt die Abschaffung der „rechtspolitisch verfehlte[n] Norm“ (Eisele, ZRP 2014, 106 [108 f.]). 9 v. Galen/Maass, BlnAnwBl. 2015, 446 (449). 10 Da das Rechtsinstitut der class action im deutschen Recht kein Äquivalent findet, ist der Begriff „Sammelklage“ notwendig unpräzise, vgl. Tilp/Schiefer, NVZ 2017, 14 (15); Lenth, Class action-reaction, 2013 (Diss. Mainz 2012), S. 11 Fn. 15. 11 Auch für diesen Begriff fehlt eine adäquate deutsche Übersetzung. Die pre trial-discovery ist, formal betrachtet, selbst noch keine zivilprozessuale Beweisaufnahme. Sie dient der Ermittlung der prozessrelevanten Tatsachen durch Gewinnung von Beweismaterial. Dadurch soll der Sachverhalt vorgeklärt und der Klageantrag soweit bestimmt werden können, dass der Rechtsstreit in der Hauptverhandlung vor einer jury zügig erledigt werden kann, wenn er nicht – wie im US-Rechtsleben regelmäßig – zuvor im Vergleichswege (settlement) beigelegt wird, vgl. St. Lorenz, ZZP 111 (1998), 35 (47) f.; Gaul, Lehrbuch des Zivilprozessrechts, 2014, S. 105 f. Für eine behutsame Ausweitung der Urkundenvorlage (§ 142 ZPO) im deutschen Zivilprozess sprechen sich, inspiriert durch das US-Vorbild, Zekoll/Haas, JZ 2017, 1140 (1145 f.) aus. 12 Vgl. Hoppe, Die Einbeziehung ausländischere Beteiligter in US-amerikanische class actions, 2005 (Diss. Köln), S. 25 f. und Lenth, Class action-reaction (Fn. 10), S. 5 u. 64 f.
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andererseits13 wegen vergleichbarer Ausgangssachverhalte kommen. § 34 der Federal Rules of Civil Procedure (FRCP)14 ermöglicht es jedem Kläger, ein Unternehmen ohne gerichtliche Erlaubnis und ohne Darlegung plausibler Gründe aufzufordern, Dokumente (writings, drawings, graphs, charts, photographs usw.) vorzulegen.15 Auch die Auslandsbelegenheit des Materials hindert die umfassende Vorlageverpflichtung nach § 34 FRCP grundsätzlich nicht. Beides hat seinen Grund darin, dass sich der amerikanische Zivilprozess viel stärker als das deutsche Verfahren nach der ZPO an einem objektivierten (korrespondenztheoretischen) Wahrheitsbegriff orientiert. Deswegen wird bedenkenlos in Kauf genommen, dass die äußerst invasive und weitgehend im Parteibetrieb durchgeführte Sachverhaltsermittlung in einem langwierigen Verfahren vornehmlich dem Zweck dient, die Klage überhaupt erst schlüssig zu machen.16 Damit muss sich aber auch die Frage stellen, welchen rechtlichen Grenzen der durch eine pre trial-discovery ausgelöst, zusätzlich mit Prozessstrafen nach § 37 FRCP bewehrte Zwang unterliegt, Beweismittel in großer Zahl auf Grundlage einer noch unbestimmten Klageschrift beschaffen und herausgeben zu müssen.17 Diese bedenkliche Entwicklung löst das Bedürfnis nach einer verlässlichen Fixierung rechtlicher Grenzen des deutschen strafrechtlichen Publikationsverbots in § 353d Nr. 3 StGB mit Blick auf den Erhebungsumfang der US-discovery aus. 3. Eine typische Sachverhaltskonstellation Um das Rechtsproblem anschaulich zu machen, sei es an folgendem Sachverhalt exemplifiziert: Die X AG mit Sitz in Deutschland (im Folgenden: X) ist in einem umweltrechtlichen Zusammenhang Beklagte zivilrechtlicher class actions, die in den Vereinigten Staaten von Amerika erhoben worden sind. X führt unabhängig davon 13
Dies bereits mit Blick auf die „kleine“ Unternehmensstrafe der §§ 30, 130 OWiG de lege lata, vgl. Jahn, in: ders./Schmitt-Leonardy/Schoop, Das Unternehmensstrafrecht und seine Alternativen, 2016, S. 53 (86 f.); Schmitt-Leonardy, in: Gassner/Seith, OWiG-Handkommentar, 2. Aufl. 2020, § 30 Rn. 11. 14 www.gpo.gov/fdsys/pkg/CPRT-109HPRT31308/html/CPRT-109HPRT31308.htm. 15 Es wird also, anders als im deutschen Prozessrecht, nicht zwischen Urkunden und Augenscheinsobjekten unterschieden, vgl. Stadler, Der Schutz des Unternehmensgeheimnisses im deutschen und US-amerikanischen Zivilprozeß und im Rechtshilfeverfahren, 1989, S. 76 Fn. 63. 16 Zekoll/Bolt, NJW 2002, 3129 (3133); ähnl. Schack, Einführung in das US-amerikanische Zivilprozessrecht, 4. Aufl. 2011, Rn. 111. 17 Anschaulich Schack, Einführung (Fn. 16), Rn. 98: „Ganz anders als im deutschen Recht ist eine US-amerikanische Klageschrift meist relativ kurz und relativ nichtssagend. Sie besteht im Wesentlichen bloß aus einer Andeutung des Sachverhalts, dem ,short and plain statement of the claim‘, und dem Klageantrag … Tatsachen enthält dieses Gerippe kaum, von Beweisangeboten ganz zu schweigen“. Dies hat in der US-Praxis zu massiven Fehlentwicklungen sog. fishing expeditions geführt, wo im Einzelfall auch schon die Vorlage von bis zu 35 Millionen Urkunden verlangt wurde, vgl. Lang, Die Urkundenvorlagepflichten der Gegenpartei gemäß § 142 Abs. 1 Satz 1 ZPO, 2007, S. 119 unter Hinweis auf Zentith Radio Corp. v. Matsushita Electric Industrial Co. Ltd., 529 F. Supp. 866, 874.
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bereits seit längerer Zeit mit rechtlicher Unterstützung von internationalen Anwaltskanzleien eine interne Untersuchung durch. a) Das deutsche Strafverfahren … Im Rahmen dieser Erhebungen arbeitet X mit Staatsanwaltschaften bei verschiedenen Landgerichten in Deutschland und mit den US-amerikanischen Ermittlungsbehörden – u. a. dem Department of Justice – zusammen. Die Kooperation umfasst auch die Offenlegung von Unterlagen gegenüber den beteiligten deutschen Staatsanwaltschaften, die Beweiswert für die strafrechtliche Aufklärung der Sachverhalte haben. Dies hat auch das Ziel, Beschlagnahmen, Durchsuchungen und andere strafprozessuale Zwangsmaßnahmen abzuwenden.18 X hat den deutschen Staatsanwaltschaften zudem Fragen zum Sachverhalt beantwortet. Die Staatsanwaltschaften haben die von X im Rahmen dieser Zusammenarbeit übermittelten Unterlagen als Asservate zu den Ermittlungsakten genommen. Diese Asservate bilden einen relativ begrenzten Kreis zentraler Beweismittel. Wegen des hohen Aussagewerts dieser Asservate haben die Staatsanwaltschaften bislang von der Anwendung von Zwangsmitteln gegen die X abgesehen. b) … und die parallele US-discovery Nach Eröffnung des class action-Verfahrens in einem US-Bundesstaat hat das zuständige Gericht zunächst mit einer sog. pre trial-order im Beschlusswege nähere zeitliche und inhaltliche Festlegungen für die discovery getroffen. Nach dieser Order haben die Beklagten im Rahmen einer initial production grundsätzlich auch alle Dokumente vorzulegen, die sie im Zusammenhang mit dem gegenständlichen Sachverhalt an Behörden außerhalb der USA übermittelt haben, allerdings in der Regel mit Beschränkungen bzw. Rückausnahmen (restraints). Den völkerrechtlichen Hintergrund für die damit angeordnete Exklusion bildet die amerikanische Rechtspraxis. Sie hält es für möglich, ausschließlich auf Basis der FRCP und damit grundsätzlich ohne Rücksicht auf die zwischenstaatlich vereinbarten Rechtshilferegeln des Haager Beweisübereinkommens (HBÜ) eine Offenlegung von Beweismitteln auch dann zu verlangen, wenn sich diese nicht auf US-Territorium befinden.19 Deshalb kann es leicht zu Kollisionen mit den jeweils innerstaatlich statuierten Grenzen der Handlungsbefugnisse des in den USA beklagten Unternehmens kommen. So lag
18 Zum Hintergrund ausf. Jahn/Kirsch, in: Criminal Compliance Handbuch, Rotsch (Hrsg.), 2015, § 33 Rn. 98 ff. 19 Bareiss, Pflichtenkollisionen im transnationalen Beweisverkehr, 2014, S. 37; Hoppe, Die Einbeziehung ausländischere Beteiligter in US-amerikanische class actions (Fn. 12), S. 141; Stadler, Der Schutz des Unternehmensgeheimnisses im deutschen und US-amerikanischen Zivilprozeß und im Rechtshilfeverfahren (Fn. 15), S. 279 f.; Schack, Einführung in das USamerikanische Zivilprozessrecht (Fn. 16), Rn. 136.
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es etwa im Supreme Court-Leitfall Aérospitale.20 Hier verbot nach dem Beklagtenvortrag ein französisches Strafgesetz, einem nicht HBÜ-konformen Offenbarungsverlangen nachzukommen. Die Rolle dieses französischen Strafgesetzes besetzt vorliegend § 353d Nr. 3 StGB. Die in einem discovery schedule typischerweise ausdrücklich vorgesehene Beschränkung der Beweissammlung für Informationen außerhalb der US-Jurisdiktionsgewalt findet auf dem Boden des deutschen Rechts eine Erklärung gerade dann, wenn man die Grundlage einer generellen Beschränkung (restraint) für die Vorlage von Urkunden (production of documents) in dem materiell-strafrechtlichen Verbot der Mitteilung über Gerichtsverhandlungen nach § 353d Nr. 3 StGB begründet sieht. Eine ausländische beklagte Partei kann sich nach der US-Praxis seit Aérospitale nämlich nur auf solche Begrenzungen der Herausgabepflichten berufen, die vom US-amerikanischen Recht ausdrücklich anerkannt werden. Sie hindern deshalb im Rahmen der discovery-Regeln der FRCP auch nicht die Offenbarungspflicht.21 Deshalb kann das US-Gericht aus Gründen völkerrechtsfreundlichen Verhaltens (comity) die gerichtliche Vorlageanordnung mit Rücksicht auf das ausländische Recht im Einzelfall beschränken.22 Um einen solchen restraint inhaltlich zu rechtfertigen, muss aber § 353d Nr. 3 StGB auch tatsächlich einschlägig sein. Dabei wird im Folgenden insbesondere auf die Frage einzugehen sein, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen im Rahmen einer pre trial-discovery von einer „öffentlichen Mitteilung“ im Sinne der deutschen Strafvorschrift auszugehen ist. Auch ist zu erörtern, ob die Dokumente „amtliche Schriftstücke“ sind, wenn sie – wie bei einer internal investigation heute üblicherweise – im Zuge der Kooperation eines Unternehmens mit der Staatsanwaltschaft freiwillig herausgegeben worden sind.
III. Die inhaltliche Einschlägigkeit des § 353d Nr. 3 StGB im Kontext einer US-Discovery 1. Die Voraussetzungen einer strafbaren Mitteilung über Gerichtsverhandlungen nach § 353d Nr. 3 StGB Da die Voraussetzungen einer strafbaren Mitteilung über Gerichtsverhandlungen nach § 353d Nr. 3 StGB regelmäßig erfüllt sind, gibt das materielle Strafrecht 20 Société Nationale Industrielle Aérospitale v. U.S. District Court for the S.D. of Iowa, 482 U.S. 522 (1987). 21 Vgl. Bareiss, Pflichtenkollisionen im transnationalen Beweisverkehr (Fn. 19), S. 22 unter Hinweis auf Ghana Supply Commission v. New England Power Co., 83 F.R.D. 586 (D. Mass. 1979). Anders wäre dies auf Grundlage der Regelung zu prozessualen Mitwirkungsverboten nach Art. 11 HBÜ, das aber seit Aérospitale in der US-Praxis kaum mehr Anwendung findet. 22 Vgl. Stadler, Der Schutz des Unternehmensgeheimnisses im deutschen und US-amerikanischen Zivilprozeß und im Rechtshilfeverfahren (Fn. 15), S. 78.
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Deutschlands für Aktenbestandteile deutscher Wirtschaftsstrafverfahren tatsächlich einen Grund für den restraint bei der Vorlage von Beweismitteln im Zusammenhang einer US-discovery ab. a) Taugliche Täter: Allgemein-, kein Amtsdelikt Taugliche Täter des § 353d Nr. 3 sind im vorliegenden Zusammenhang nicht nur Staatsanwälte, die sich im Besitz des Originals der Ermittlungsakte befinden.23 Die Vorschrift ist nach dem eindeutigen Wortlaut („Wer“) ein Allgemeindelikt.24 Entgegen der nach allgemeiner Auffassung25 verfehlten Einordung in den 30. Abschnitt ist § 353d Nr. 3 StGB kein Amtsdelikt. Deshalb können auch Personen, die nicht als Angehörige der Justiz Amtsträger im Sinne der Legaldefinition des § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB sind, taugliche Täter sein. Strafbar können sich damit grundsätzlich alle Personen machen, die amtliche Schriftstücke eines deutschen Strafverfahrens von Deutschland aus (§ 9 Abs. 1 StGB) in die Vereinigten Staaten von Amerika mitteilen oder solche Mitteilungen trotz Bestehens einer Garantenpflicht (§ 13 Abs. 1 StGB) geschehen lassen. Damit geraten sowohl die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der X AG in Deutschland als auch deren Rechtsbeistände grundsätzlich in den Einzugsbereich der Strafvorschrift. b) Zum Strafanwendungsrecht nach den §§ 3, 9 Abs. 1 StGB bei Tathandlungen auf US-Territorium Aber auch dann, wenn die inkriminierte Handlung ausschließlich in den Vereinigten Staaten von Amerika – etwa durch Rechtsanwälte oder Unternehmensmitarbeiter im Rahmen des dortigen gerichtlichen Verfahrens – vorgenommen würde, ließe sich ein innerstaatlicher Anknüpfungspunkt begründen, wenn auch ein Erfolgsort i.S.v. § 3 StGB i.V.m. § 9 Abs. 1 StGB in der Bundesrepublik Deutschland läge.
23 So ausdrücklich OLG Hamm NJW 1977, 967 (968); Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht BT 2, 10. Aufl. 2012, § 76 Rn. 8 und MüKo-StGB/Puschke, 3. Aufl. 2019, § 353d Rn. 57 Fn. 181. Die allein von AnwK-StGB/Tsambikakis, 2. Aufl. 2015, § 353d Rn. 26 in Fn. 63 unter Bezugnahme auf LG Hamburg NJW 2013, 3458 (3461) geltend gemachten grundsätzlichen Zweifel, ob „staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren“ dem Begriff des Strafverfahrens in § 353d Nr. 3 StGB unterfielen, dringen nicht durch. Das LG Hamburg hat sich ausdrücklich nur mit dem Fall einer bloßen Vorermittlung der StA befasst. Die StA hatte gerade ausdrücklich mitgeteilt, dass kein Strafverfahren eingeleitet worden sei. 24 Dies schließt selbst den Angeklagten selbst nicht aus, vgl. BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), NJW 2014, 2777 Tz. 38 ff. m. zust. Anm. Ladiges, JR 2015, 209 (214). 25 Statt vieler Többens, GA 1983, 97 (99) und Matt/Renzikowski/Sinner, StGB, 2013, § 353d Rn. 2 a.E. m.w.N.
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Nach der Rechtsprechung des BGH26 muss sich die Auslegung des Merkmals „zum Tatbestand gehörender Erfolg“ dabei nicht in erster Linie am Wortlaut, sondern an der ratio legis des § 9 StGB ausrichten. Nach dem Grundgedanken der Norm solle deutsches Strafrecht auch bei Vornahme der Handlung im Ausland dann Anwendung finden, sofern es im Inland zu der Schädigung von Rechtsgütern oder zu Gefährdungen kommt, deren Vermeidung Zweck der jeweiligen Strafvorschrift ist. Bei § 353d Nr. 3 StGB handelt es sich, auch wenn man klare Kategorisierungen im Schrifttum zuweilen vermisst, um ein abstraktes Gefährdungsdelikt27 in der Form eines Eignungsdelikts. Zu fragen ist also, welchen Rechtsgütern durch die Vornahme einer Tathandlung auf US-Territorium eine abstrakte Gefährdung droht. aa) Das doppelte Rechtsgut des § 353d Nr. 3 StGB Der Vorschrift in § 353d Nr. 3 StGB liegt nach fast einhelliger Auffassung28 eine dualistische Rechtsgutskonzeption zugrunde. Beide Elemente stehen in einem Alternativverhältnis zueinander. Die Strafvorschrift soll in erster Linie nach weithin akzeptierter Vorstellung des Gesetzgebers29 verhindern, dass Beteiligte an Verfahren, die strafrechtlicher Aufklärung und Ahndung dienen, insbesondere Schöffen und Zeugen, durch die vorzeitige Veröffentlichung amtlicher Schriftstücke in ihrer Unbefangenheit beeinträchtigt werden. Der durch eine vorweggenommene öffentliche Diskussion amtlichen Prozessmaterials im Wortlaut, oft schwer trennbar vermischt mit einseitigen Stellungnahmen oder gar unmittelbar auf Einflussnahme angelegten Wertungen, drohenden Voreingenommenheit und den darin liegenden Gefahren für ein gerechtes Urteil soll entgegengetreten werden.30 26
Grdlg. BGHSt 46, 212 (220) – Toeben; BGHSt 42, 235 (242) sowie – sehr früh – Sieber, NJW 1999, 2065 (2071); einschr. aber BGH NStZ 2015, 81 m. Anm. Valerius, HRRS 2016, 186 (188). 27 So auch Busch, NJW 2013, 3461 (3462); SK-StGB/Hoyer, 9. Auflage 2016, § 353d Rn. 10; Schönke/Schröder/Perron/Hecker, StGB, 30. Aufl. 2019, § 353d Rn. 3; MüKo-StGB/ Puschke (Rn. 23), § 353d Rn. 6; Matt/Renzikowski/Sinner, StGB (Fn. 25), § 353d Rn. 2. 28 Siehe BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), NJW 2014, 2777 (2778 Tz. 25); Rennig, in: Graul et al. (Hrsg.) Meurer-GS, 2002, S. 291 (297); Schlüter, Verdachtsberichterstattung, 2011, S. 184 f.; Brugger, VBlBW 1998, 274 (275); Schuppert, AfP 1984, 67 (71 u. 74); Többens, GA 1983, 97 (104 ff.); Maurach/Schroeder/Maiwald, BT 2 (Fn. 23), § 76 Rn. 6; LKStGB/Vormbaum, 12. Aufl. 2009, § 353d Rn. 38 f.; Fischer-StGB, 67. Aufl. 2020, § 353d Rn. 2; krit. Stapper, ZUM 1995, 590 (593). 29 Vgl. BT-Ds. 7/550, S. 282 f. 30 BVerfGE 71, 206 (218 f.); BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), NJW 2014, 2777 (2778 Tz. 26); OLG Stuttgart NJW 2004, 622; Hassemer, NJW 1985, 1921 (1923 – „Schutz der symbolic power der Strafjustiz in der Öffentlichkeit“); Lackner/Kühl/Heger, 29. Aufl. 2018, § 353d Rn. 1; Schönke/Schröder/Perron/Hecker (Fn. 27), § 353d Rn. 40; NK-StGB/ Kuhlen, 5. Aufl. 2017, § 353d Rn. 26; LK-StGB/Vormbaum (Fn. 28), § 353d Rn. 38. A.A. in der Rspr. – vereinzelt – nur LG Lüneburg NJW 1978, 117: „Das weitere Schutzgut der Unbefangenheit von Verfahrensbeteiligten hat nach dem Wortlaut des Gesetzes einen wünschenswert deutlichen Ausdruck nicht gefunden, da es schon nach der Erörterung in einer ersten Verhandlung seinen Schutz verliert, wie sich aus dem Wortlaut des Gesetzes ergibt“.
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Daneben treten in zweiter Linie, dies ebenfalls nach den Vorstellungen des Gesetzgebers,31 als Schutzgut des § 353d Nr. 3 StGB die Persönlichkeitsrechte der vom Verfahren Betroffenen. Hier soll eine Bloßstellung durch Veröffentlichung amtlicher Schriftstücke vermieden werden. Mit Blick auf den Beschuldigten soll zudem die bis zu einem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens zu seinen Gunsten bestehende Unschuldsvermutung gesichert werden, die durch Vorabveröffentlichungen amtlicher Schriftstücke unterminiert zu werden droht.32 bb) Die abstrakte Gefährdung beider Rechtsgüter durch das pre trial-discovery-Verfahren Dass auch abstrakte Gefährdungsdelikte – wie Erfolgs- und konkrete Gefährdungsdelikte – dort, wo die Tat ihre Gefährlichkeit mit Blick auf das im Tatbestand umschriebene Rechtsgut entfalten kann, einen „Erfolgsort“ haben können, entspricht bekanntlich der Auffassung des BGH „seit Toeben“ u. a. zur Verbreitung von Hasskriminalität über das Internet.33 Für die Anwendung deutschen Strafrechts nach den §§ 3, 9 StGB bei der verbotenen Mitteilung über Gerichtsverhandlungen in Fällen der vorliegenden Art liegt auch ein völkerrechtlich legitimierender Anknüpfungspunkt vor. Denn die Tat betrifft zwei gewichtige inländische Rechtsgüter, von denen insbesondere der Schutz richterlicher Entscheidungsfindung objektiv einen besonderen Bezug auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aufweist.34 Damit liegt auch bei Mitteilungen auf US-Territorium eine Anknüpfung für deutsches Strafanwendungsrecht nahe, wenn die Unbefangenheit deutscher Verfahrensbeteiligter oder deren Persönlichkeitsrechte in Mitleidenschaft gezogen zu werden drohen. Dies ist schon im Zusammenhang der Beweissammlung im Rahmen einer pre trial-discovery möglich, nicht erst bei deren öffentlicher Verwertung in einem eventuellen jury-Verfahren, denn „die Unbefangenheit von (deutschen – d. Verf.) Schöffen und Zeugen kann bereits weit vor der Eröffnung der gerichtlichen Hauptverhandlung beeinträchtigt werden. Dies gilt besonders in Fällen, die Gegenstand der
31 Vgl. Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform zum RegE eines EGStGB, BT-Ds. 7/1261, S. 23. 32 BVerfGE 71, 206 (219); BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), NJW 2014, 2777 (2778 Tz. 27); OLG Hamm NJW 1977, 967; Busch, NJW 2013, 3461 (3462); MüKo-StGB/ Puschke (Fn. 23), § 353d Rn. 5. A.A. Vormbaum, FS-Seebode (Fn. 5), S. 421 (430); SK-StGB/ Hoyer (Fn. 27), § 353d Rn. 6; Bornkamm, Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens (Fn. 6), S. 220 f.: nur Schutz der Rechtspflege. 33 BGHSt 46, 212 (221); über deren Berechtigung ist hier nicht zu handeln. Zusf. – auch zur Kritik – Fischer-StGB (Fn. 28), § 9 Rn. 8a; Kudlich/Berberich, NStZ 2019, 633 (638) mit dem auch hier favorisierten Ergebnis einer einzelfallorientierten Prüfung nach der jeweiligen ratio legis. 34 Zu diesem Kriterium BGHSt 46, 212 (224); Hilgendorf, NJW 1997, 1873 (1876); Kudlich/Berberich, NStZ 2019, 633 (638); jew. m.w.N.
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öffentlichen Berichterstattung sind. Darüber hinaus werden die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen so bestmöglich geschützt“.35 Gerade bei einer weltweiten Diskussion über den zugrundeliegenden Rechtstreit, die typischerweise anhebt, wenn ein deutsches Unternehmen in den USA mit einer öffentlichkeitswirksamen class action konfrontiert wird, ist schon im discovery-Stadium konkret zu besorgen, dass sich Mitteilungen aus vorgelegten Dokumenten über Gesichtspunkte, die für eine eventuelle Beteiligung von Verantwortlichen der X relevant sind, weltweit fast in Echtzeit verbreiten. Für solche leaks gibt es mittlerweile zahllose Beispiele. Gerade deshalb wird im Schrifttum36 mit Recht darauf hingewiesen, dass der Tatbestand des § 353d Nr. 3 StGB bei der ständig wachsenden Bedeutung elektronischer Medien und der nahezu unbegrenzten Verbreitungsmöglichkeiten über internationale Datennetze einen neuen Sinngehalt erlangt, weil zwischenzeitlich ohne großen technischen Aufwand und ohne jede Mithilfe durch Medienorgane – sogar im Originalschriftbild und mit dem dadurch verstärkten Charakter amtlicher Mitteilungen – justizielle Schriftstücke durch jedermann verbreitet werden können. cc) Zwischenergebnis Strafbar können sich nach § 353d Nr. 3 StGB vorliegend grundsätzlich alle Personen machen, die amtliche Schriftstücke eines deutschen Strafverfahrens von Deutschland aus (§ 9 Abs. 1 StGB) in die Vereinigten Staaten von Amerika mitteilen oder eine solche Mitteilung trotz Bestehens einer Garantenpflicht (§ 13 Abs. 1 StGB) geschehen lassen. Auf Grundlage der Rechtsprechung des BGH zu anderen Deliktsbereichen ist zudem auch bei Tathandlungen in den USA ein innerstaatlicher Erfolgsort i.S.d. §§ 3, 9 Abs. 1 StGB in der Bundesrepublik Deutschland plausibel begründbar. c) Tatobjekt: Im Rahmen von internen Erhebungen freiwillig herausgegebene Dokumente als „amtliche Schriftstücke“ aa) „Schriftstücke“ Schriftstücke i.S.d. § 353d Nr. 3 StGB sind grundsätzlich alle schriftlich verkörperten Gedankenerklärungen, also insbesondere Urkunden. Auszuscheiden haben Zeichnungen, Fotografien und Tonbandaufnahmen.37 Dass es sich bei den den Staatsanwaltschaften bei den Landgerichten in Deutschland nach den internal investigations übergebenen Unterlagen mehrheitlich um Urkunden im prozessualen Sinne 35
LG Hamburg NJW 2013, 3458 (3461) – Mollath. Von MüKo-StGB/Puschke (Fn. 23), § 353d Rn. 7. 37 Das ist unstreitig, vgl. nur Rennig, Meurer-GS (Fn. 28), S. 297 und NK-StGB/Kuhlen (Fn. 30), § 353d Rn. 9. 36
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der §§ 249 ff. StPO handelt, darf unterstellt werden. Nur Aktenbestandteile wie Konstruktionszeichnungen, Fotos u.Ä. unterlägen von vornherein nicht dem Strafrechtsschutz des § 353d Nr. 3 StGB. Soweit diese Urkunden mit Eingang bei der Staatsanwaltschaft und Zuordnung zu den Ermittlungsakten grundsätzlich geeignete Tatobjekte geworden sind, kommt es nicht mehr darauf an, ob sich eine Veröffentlichung im Rahmen der pre trial-discovery durch Vorlage oder Präsentation einer paginierten Kopie des bei der Staatsanwaltschaft befindlichen Exemplars (Urstück) oder allein auf die in der Hand von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von X sowie deren Rechtsanwälten verbliebenen Abschriften, Kopien, Duplikate, Dateien o. ä. einzelner zugleich in den Akten befindlicher Dokumente stützt.38 Nicht nur etwaige vollständige Kopien der den Staatsanwaltschaften übergebenen Akten, sondern auch die (u. U. zahlreichen) Mehrstücke, Ablichtungen oder Abschriften der Urkunden und weiteren Asservate im Gewahrsamsbereich der X und ihrer Rechtsberater sind also grundsätzlich geeignete Tatobjekte, soweit sie gerade „amtlichen“ Charakter haben. bb) „Amtlicher“ Charakter Umstritten ist allerdings in der Tat seit jeher, wann es sich um solche „amtliche“ Schriftstücke handelt. (1) Mindermeinung: Enge Auslegung Nach einer von einer Mindermeinung39 vertretenen engen Auslegung sind nur solche Schriftstücke als amtlich anzusehen, die von einer amtlichen Stelle hergestellt und dem Verfahren zugeordnet worden sind. Dazu gehörten neben den von den Justizbehörden im betreffenden Verfahren selbst hergestellten Schriftstücken solche Texte aus anderen Verfahren, die förmlich beigezogen wurden sowie zu den Akten genommene Schriftstücke anderer amtlicher Stellen, etwa eine behördliche Sperrerklärung (§ 96 StPO) oder das Gutachten einer öffentlichen Behörde. Eine Beschlagnahme (oder sonstiger Maßnahme nach § 94 StPO) des Schriftstücks eines Privaten hingegen bezwecke die Sicherstellung von Beweismitteln, um deren Unterdrü-
38 Wie hier LK-StGB/Vormbaum (Fn. 28), § 353d Rn. 49 und Schönke/Schröder/Perron/ Hecker (Fn. 27), § 353d Rn. 43 f.; missverständlich (für anwaltliche Schriftsätze) AnwK-StGB/ Tsambikakis (Fn. 23), § 353d Rn. 39. A.A. – insoweit überholt – zu den Vorgängervorschriften zu § 353d StGB in § 17 PresseG v. 7. 5. 1874 RGSt 25, 330 (331). 39 In der Rspr. allein AG Hamburg NStZ 1988, 411 m. zust. Anm. Strate; im Schrifttum Popp/Epple, JR 2018, 362 (366); LPK-StGB/Kindhäuser/Hilgendorf, 8. Aufl. 2019, § 353d Rn. 7; LK-StGB/Vormbaum (Fn. 28), § 353d Rn. 45 f.; NK-StGB/Kuhlen (Fn. 30), § 353d Rn. 10 und Lackner/Kühl/Heger (Fn. 30), § 353d Rn. 4. Noch restriktiver will – allerdings ohne jede Gefolgschaft – Senfft, StV 1990, 411 nur solche Schriftstücke genügen lassen, die von einer Behörde originär für das jeweilige Verfahren erstellt wurden.
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ckung zu verhindern, nicht, um deren Nutzung qua Veröffentlichung auszuschließen.40 (2) Herrschende Meinung: Weite Auslegung unter Einschluss von Privatschriftstücken Die weit überwiegende Auffassung41 lässt demgegenüber die Zuordnung des Schriftstücks zum Verfahren durch einen Amtswalter genügen. „Amtlich“ sind danach bereits alle Schriftstücke, die sich in den Verfahrensakten befinden oder nach dem erkennbaren Willen der Ermittlungsbehörden noch zum Gegenstand des Verfahrens gemacht werden sollen, insbesondere als Beweismittel im Wege der späteren Verlesung oder des Vorhalts. (3) Eigene Stellungnahme zugunsten der herrschenden Meinung Für die h.M. streiten die besseren Argumente. Der Gebrauch des Begriffes „amtlich“ im Strafgesetzbuch ist uneinheitlich. Am ehesten entspricht die Begriffsverwendung in § 353d Nr. 3 StGB systematisch derjenigen in den §§ 102, 353 Abs. 2 StGB, wo nur auf die gegenwärtige Zuordnung zu behördlichen Aufgaben oder Tätigkeiten abgestellt wird.42 Auch mit dem allgemeinen Sprachgebrauch kann der Begriff „amtlich“ zwanglos dahin verstanden werden, dass alle Schriftstücke gemeint sind, die den Behörden der Strafjustiz zur Erfüllung ihrer Aufgabe dienen und entsprechenden Bezug zu den Dienstgeschäften haben. Mit dem Ausdruck wird dann der Gegensatz zu rein privatem, nicht den Bereichen der öffentlichen Gewalten angehörenden Schriftgut bezeichnet.43 Es spricht demgegenüber wenig dafür, dass in § 353d Nr. 3 StGB das Wort „amtliche“ nur in dem auf die Urheberschaft beschränkten Sinn gebraucht werden solle. Der vorangestellte Ausdruck „andere“, der auf „Anklageschrift“ Bezug nimmt, gibt insoweit nichts her. Bedenkt man umgekehrt, dass eine Anklageschrift im Fall der Privatklage nach der eindeutigen Regelung des § 381 StPO gerade auch von einer Privatperson – nämlich den Verletzten i.S.d. § 374 StPO – gefertigt worden sein kann, folgt aus der Anknüpfung „andere“ amtliche 40
So ausdrücklich SK-StGB/Hoyer (Fn. 27), § 353d Rn. 12. RGSt 35, 275 f.; Rennig, Meurer-GS (Fn. 28), S. 291 (301); Ladiges, JA 2019, 368 (369); Brugger, VBlBW 1998, 274 (277); Voßiek, Strafbare Veröffentlichung amtlicher Schriftstücke (§ 353d Nr. 3 StGB), 2004, S. 245; Maurach/Schroeder/Maiwald, BT 2 (Fn. 23), § 76 Rn. 7; BeckOK-StGB/Heuchemer, Stand: 43. Ed. 08/2019, § 353d Rn. 5; HK-GS-StGB/Schmedding, 4. Aufl. 2017, § 353d Rn. 6; Fischer-StGB (Fn. 28), § 353d Rn. 6; Matt/Renzikowski/Sinner, StGB (Fn. 25), § 353d Rn. 6; Schönke/Schröder/Perron/Hecker, StGB (Fn. 27), § 353d Rn. 13; MüKo-StGB/Puschke (Fn. 23), § 353d Rn. 65; SSW-StGB/Bosch (Fn. 5), § 353d Rn. 4; AnwK-StGB/Tsambikakis (Fn. 23), § 353d Rn. 10, 39. 42 Wie hier OLG Hamburg NStZ 1990, 283 (Aufhebung von AG Hamburg NStZ 1988, 411 m. zust. Anm. Strate, wo zugunsten der Mindermeinung noch auf einen Vergleich des § 133 mit § 134 StGB abgestellt worden war, um zu zeigen, dass der Gesetzgeber zwischen dienstlichen und dienstlich verwahrten Schriftstücken unterscheide). 43 Erneut wie hier OLG Hamburg NStZ 1990, 283. 41
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Schriftstücke, dass damit auch Urkunden privater Herkunft gemeint sind, sofern sie für ein Strafverfahren Bedeutung erlangt haben.44 Zuletzt muss auch aus dem mit § 353d Nr. 3 StGB verfolgten Zweck gefolgert werden, dass die Vorschrift gerade nicht nur auf von Amtspersonen gefertigte Schriftstücke anzuwenden ist. Nach bereits dargestellter45 allgemeiner Meinung soll die Vorschrift die Unbefangenheit der Verfahrensbeteiligten, namentlich der Laienrichter und Zeugen, sichern. Diese kann aber auch dadurch gefährdet werden, dass über Aktenteile privater Urheber in der von der Bestimmung umschriebenen Weise berichtet wird. Einer demgegenüber einschränkenden Auslegung der Vorschrift des § 353d Nr. 3 StGB, die ihren Anwendungsbereich derart reduziert, dass es fraglich erscheint, ob die Bestimmung dann überhaupt noch eine zweckentsprechende Funktion erfüllen kann, ist nicht zu folgen.46 Zudem führt die von der Gegenauffassung befürwortete Beschränkung auf behördlich erstellte Schriftstücke des konkreten Verfahrens zu nicht zu rechtfertigenden Abgrenzungsschwierigkeiten.47 Dies gilt im vorliegenden Kontext umso mehr, als die teilweise Reprivatisierung des Ermittlungsverfahrens in Wirtschaftsstrafsachen durch private Erhebungen (internal investigations) dessen „amtlichen“ Charakter im Ganzen zu ändern begriffen ist. Schon aus Anlass der Siemens-Affäre hatte ich kritisiert, dass private Erhebungen im Strafverfahren perspektivisch ein Ausmaß annehmen könnten, welches das aus dem Legalitätsprinzip fließende Ermittlungsmonopol der Staatsanwaltschaft im Ganzen ernsthaft herauszufordern vermöchte.48 Dass sich heute das Interesse staatlicher Ermittlungen im Wirtschaftsstrafverfahren mehr und mehr auf die Arbeitsergebnisse privat veranlasster Erhebungen richtet, erklärt erst das Bedürfnis nach einer Beantwortung der mittlerweile in Rechtsprechung und Schrifttum breit diskutierten Frage, ob und inwieweit solche Erhebungsergebnisse über die §§ 97 Abs. 1 Nr. 3, 160a, 148 StPO vor staatlichem Zugriff im Strafverfahren geschützt sind.49 Der Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Integrität der Wirtschaft vom 6. 6. 202050 geht in § 17 Abs. 1 Nr. 4 VerSanG sogar so weit, die fakultative Strafmilderung für den Verband an die Übergabe der Untersuchungsergebnisse einschließlich aller wesentlichen Dokumente zu knüpfen.
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So erneut überzeugend OLG Hamburg NStZ 1990, 283 (284). Oben Abschn. III.1.b)aa). 46 So bereits Schomburg, ZRP 1982, 142 (144). 47 So auch SSW-StGB/Bosch (Fn. 5), § 353d Rn. 4 mit Beispielen. 48 Jahn, StV 2009, 41 (43); sehr früh dazu auch Sieber, RTh 41 (2010), 151 (158) unter dem Gesichtspunkt der Exterritorialität der privaten Erhebungen im Interesse der SEC. 49 Dazu ausf. Jahn/Kirsch, in: Rotsch (Hrsg.), Handbuch Criminal Compliance, § 33 Rn. 98. 50 BRats-Ds. 440/20. Wie endgültig diese Festlegung ist, mag dem laufenden rechtspolitischen Prozess überlassen bleiben; der Tippfehler in der ersten Fassung des RefE vom 15. 8. 2019 („Untersuchung“ im Singular) spricht a limine nicht dafür, dass hier schon alles in Stein gemeißelt ist, um das Mindeste zu sagen. 45
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Im Ergebnis bekommen daher alle privaten Urkunden und Dokumente von dem Moment an die Qualität eines „amtlichen“ Schriftstückes, von dem an sie in einem behördlichen Verfahren als Beweismittel von Bedeutung sind und sich in amtlicher Verwahrung befinden. Es ist dabei einerlei, ob es sich bei den zu den Akten genommen Unterlagen und Asservaten um Belastungs- oder Entlastungsmaterial handelt.51 Soweit schließlich Hoyer52 als Vertreter der Gegenauffassung – wie aufgezeigt – argumentiert, eine Beschlagnahme (oder sonstige Maßnahme nach § 94 StPO) bezwecke die Sicherstellung von Beweismitteln, um deren Unterdrückung zu verhindern, nicht, um deren Nutzung qua Veröffentlichung auszuschließen, dürfte er Ursache und Wirkung verwechseln. Dass die Maßnahme nach § 94 StPO die Veröffentlichung im Wortlaut bis zum rechtskräftigen Verfahrensabschluss grundsätzlich ausschließt, ist bei sachgerechter Auslegung mit der heute h.M. die Rechtsfolge des materiellen Rechts in § 353d Nr. 3 StGB. Dies hat mit den prozessualen Anordnungsvoraussetzungen des § 94 StPO nichts zu tun. Ob man Rückausnahmen für solche privaten Schriftstücke zu erwägen haben mag, denen offensichtlich unter keinem denkbaren Gesichtspunkt das Gewicht amtlicher Authentizität zukommt, bedarf hier keiner Entscheidung.53 Auch etwaige Gefahren im Sinne einer rechtsmissbräuchlichen Entziehung der aktengegenständlichen Urkunden in ein safe house für zeitlich parallele zivile Rechtsstreitigkeiten sind nicht zu besorgen. Die objektive Kontrollinstanz ist die Staatsanwaltschaft. Sie kann durch Freigabe der Dokumente und sonstigen Beweisgegenstände nach Wegfall der Bedeutung für die Untersuchung (§ 94 Abs. 1 StPO) oder z.B. durch Verfahrensabschluss (§ 170 Abs. 2 S. 1 StPO) die Mitteilung im Wortlaut jederzeit wieder ermöglichen. Dass dabei das Interesse an der Strafverfolgung im Ganzen Vorrang vor zivilrechtlichen Ausgleichs- und Ersatzinteressen hat, hat das BVerfG in seiner letzten Kammerentscheidung zu § 353d Nr. 3 StGB mit einem gewissen Pathos und ausführlichen Referenzen auf die BVerfG-Senatsrecht-
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Zutr. Brugger, VBlBW 1998, 274 (277). In: SK-StGB (Fn. 27), § 353d Rn. 12. 53 So war im Fall AG Hamburg NStZ 1988, 411 m. zust. Anm. Strate in einer deutschen Boulevardzeitung im Rahmen der Berichterstattung über ein schwebendes Ermittlungsverfahren gegen eine Rechtsanwältin ein Bericht unter der Überschrift „P.: Die geheimen Aufzeichnungen des St.-Pauli-Killers” erschienen. Der Bericht enthielt in wörtlicher Wiedergabe umfangreiche Auszüge aus tagebuchmäßigen Aufzeichnungen des P., die nach dessen Tod von der Staatsanwaltschaft als Beweismittel für ein von ihr vermutetes Zusammenwirken zwischen dem P. und der Rechtsanwältin beschlagnahmt worden waren. In solchen Extremfällen mag man darüber nachdenken, warum die privaten Aufzeichnungen eines Mörders „mit der höheren Weihe eines ,amtlichen‘ Schriftstücks belegt werden“ sollten, bloß weil sie von der Staatsanwaltschaft für ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren als Beweismittel sichergestellt worden sind. Dessen ungeachtet hat das OLG Hamburg NStZ 1990, 283 auf die Revision der Staatsanwaltschaft hin das den Freispruch des verantwortlichen Redakteurs bestätigende Berufungsurteil zu AG Hamburg NStZ 1988, 411 aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung zurückverwiesen. 52
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sprechung in einer langen (hier aus Raumgründen nicht wiedergegebenen) Textziffer wortreich betont.54 (4) Zwischenergebnis Mit dem staatsanwaltlichen Akteninhalt identische Mehrstücke, Ablichtungen oder Abschriften der Urkunden und weiteren Asservate im Gewahrsam Verantwortlicher eines deutschen Unternehmens und seiner Rechtsberater sind trotz der Errichtung durch Privatpersonen bzw. privatwirtschaftliche Unternehmen grundsätzlich „amtliche“ Schriftstücke i.S.d. § 353d Nr. 3 StGB. (5) Amtlicher Charakter der Schriftstücke auch bei freiwilliger Herausgabe im Rahmen compliance-induzierter Kooperation mit der Staatsanwaltschaft Zu erörtern bleibt, ob diesem Zwischenergebnis entgegenstehen könnte, dass die Schriftstücke von der Staatsanwaltschaft je nach Lage des Falles nicht beschlagnahmt wurden. Zu entscheiden ist danach, ob jegliche Art der Begründung des „amtlichen“ Verwahrungsverhältnisses genügt oder ob gerade die hoheitliche Beschlagnahme der Dokumente zu fordern ist. Diese Frage stellt sich, weil die deutschen Staatsanwaltschaften nach der freiwilligen Zurverfügungstellung in Frage kommenden Beweismaterials typischerweise von strafprozessualen Zwangsmaßnahmen absehen. Sie wird von der Regelung in § 94 StPO beantwortet. Mit den beiden Instrumenten der Sicherstellung (§ 94 Abs. 1 StPO) und der Beschlagnahme (§ 94 Abs. 2 StPO) soll erreicht werden, dass die für das Verfahren notwendigen Beweismittel zur Verfügung stehen.55 Diese Gegenstände müssen jedoch e contrario § 94 Abs. 2 StPO im Ermittlungsverfahren nur dann beschlagnahmt werden, wenn der Verfügungsberechtigte die Beweismittel nicht freiwillig herausgibt oder von sich aus andient.56 Freiwilligkeit i.d.S. liegt vielmehr auch dann vor, wenn sich der Gewahrsamsinhaber nur deshalb mit der Sicherstellung einverstanden erklärt, weil er – wie typischerweise die Verantwortlichen des deutschen Unternehmens – eine sonst mit einiger Wahrscheinlichkeit erfolgende Durchsuchung und/oder Beschlagnahme abzuwenden sucht (sog. Abwendungsvorlage).57 Auch durch die formlose Sicherstellung des angedienten Beweismaterials entsteht ein öffentlich-rechtliches Verwahrungsverhält54
BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats) NJW 2014, 2777 (2778 Tz. 26). Statt vieler SK-StPO/Wohlers/Greco, 5. Aufl. 2018, § 94 Rn. 1. 56 Vgl. Jahn, in: Heinrich et al. (Hrsg.), Roxin-FS II, 2011, S. 1357 (1365); M.-A. Stein, Der Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen im Strafverfahren, 2013, S. 114. 57 Das ist unstreitig, vgl. nur LR-StPO/Menges, 27. Aufl. 2018, § 94 Rn. 36; SK-StPO/ Wohlers (Fn. 55), § 94 Rn. 7 und M.-A. Stein, Der Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen im Strafverfahren (Fn. 56), S. 113: „Im Übrigen besteht für ein Unternehmen, welches mit einer Durchsuchung rechnen muss, allenfalls die Möglichkeit, gegenüber der Staatsanwaltschaft rechtzeitig eine Kooperationsbereitschaft zu erklären und zuzusagen, dass alle für das Ermittlungsverfahren benötigten Unterlagen freiwillig herausgegeben werden“. 55
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nis (entsprechend §§ 688 ff. BGB) und die Gegenstände werden (ggf. als Asservate) Teil der Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft mit der Folge des § 147 Abs. 1 StPO.58 Erfasst von § 353d Nr. 3 StGB sind also alle Schriftstücke, die für Verfahrenszwecke beschlagnahmt oder auch nur sichergestellt wurden.59 Schriftstücke privaten Ursprungs werden zu amtlichen Verfahrensunterlagen unter Berücksichtigung der Regelung in § 94 Abs. 2 StPO damit zusammenfassend immer schon dann, „wenn sie zu Zwecken des Verfahrens in den Gewahrsam einer daran mitwirkenden Behörde gelangen, und zwar gleichgültig, ob dies auf Veranlassung einer solchen Behörde oder auf Initiative privater oder sonstiger amtlicher Stellen geschieht“.60 (6) „Wesentlicher“ Charakter der sichergestellten Schriftstücke Tatbestandsmäßig kann eine Handlung im Rahmen des § 353d Nr. 3 StGB jedoch nur dann sein, wenn sie sich auf die Publikation des oder der Schriftstücke ganz oder in „wesentlichen“ Teilen bezieht. Unwesentlich sind reine Nebensächlichkeiten sowie bloße Formalien, die – wie etwa Zustellungs- und Ladungsnachweise, Vermerke der Geschäftsstelle u.Ä. – typischerweise auch Teil einer staatsanwaltlichen Ermittlungsakte sind. Wesentlich sind hingegen solche Teile, die für das Urteil über die Berechtigung erhobener Vorwürfe oder ergriffener Verfahrensmaßnahmen bedeutsam sein können.61 Diese Beurteilung im Einzelfall hängt wegen der oben62 bereits dargelegten Hauptzielrichtung der Vorschrift davon ab, „ob die Verlesung des den oder die Vorwürfe zusammenfassenden Anklagesatzes die Unbefangenheit von Verfahrensbeteiligten zu beeinträchtigen geeignet ist“.63 So liegt es bei den hier einschlägigen Dokumenten jedenfalls typischerweise gerade dann, wenn die Staatsanwaltschaft mit Rücksicht auf deren freiwillige Vorlage von Zwangsmaßnahmen gegenüber dem Unternehmen abgesehen hat. Dann kann ihr Bekanntwerden auch das Urteilsvermögen von Verfahrensbeteiligten des deutschen Strafverfahrens wie insbesondere (Berufs-)Richterinnen und Richtern bei der Entscheidung über die etwaige Eröffnung eines Hauptverfahrens oder den Laienrichtern bei einem nachfolgenden Urteil beeinträchtigen, „denn diese könnten durch die darin enthaltenen Einzelheiten … (gemeint ist: die Zitierung von Zahlen, Daten und Namen – d. Verf.) befangen werden“.64
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S. LR-StPO/Jahn, 27. Aufl. 2020, § 147 Rn. 117. So ausdrücklich LK-StGB/Vormbaum (Fn. 28), § 353d Rn. 46 und SK-StGB/Hoyer (Fn. 27), § 353d Rn. 12. 60 Schönke/Schröder/Perron/Hecker (Fn. 27), § 353d Rn. 13. 61 Das ist unstreitig, siehe nur OLG Brandenburg Urt. v. 20. 7. 2016 – (1) 53 Ss 3/16 (18/16), juris, Tz. 18; Schönke/Schröder/Perron/Hecker (Fn. 27), § 353d Rn. 47 und NK-StGB/Kuhlen (Fn. 30), § 353d Rn. 32. 62 Siehe nochmals Abschn. III.1.b)aa). 63 OLG Hamm NJW 1977, 967 (968). 64 Siehe nochmals OLG Hamm NJW 1977, 967 (968). 59
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(7) Weiteres Zwischenergebnis Bei den mit dem staatsanwaltlichen Akteninhalt von Strafverfahren in Deutschland identischen Urkunden und Asservaten im Gewahrsam eines in den USA beklagten Unternehmens und seiner Rechtsberater wird es sich regelmäßig um „amtliche“ Schriftstücke i.S.d. § 353d Nr. 3 StGB und damit taugliche Tatobjekte handeln. d) Tathandlung: Die Voraussetzungen „öffentlicher Mitteilung“ im pre trial-discovery-Verfahren Die Mitteilung i.S.d. § 353 Nr. 3 StGB selbst ist zwar an keine bestimmte Form gebunden. Sie kann also schriftlich durch das Verbreiten von Schriften, aber auch mündlich und durch beliebige Kommunikationsmedien erfolgen.65 Erfasst ist daher sowohl die schriftliche Weitergabe von Dokumenten im Rahmen eines Zivilprozesses, die zugleich Bestandteil der staatsanwaltlichen Ermittlungsakten sind, als auch die wörtliche Mitteilung durch Verlesung im Rahmen einer zivilprozessualen Beweisaufnahme. aa) Mindermeinung: Weite Auslegung Nach einer Mindermeinung66 soll es für die öffentliche Mitteilung bereits genügen, wenn bei der Weitergabe oder sonstigen Verbreitung der Dokumente eine Unterrichtung der Öffentlichkeit letztlich bezweckt wird oder eine wörtliche Wiedergabe des Inhalts der Schriftstücke auch nur droht. Die z. B. bei einer vertraulichen Pressekonferenz durch die Justiz erfolgte wörtliche Wieder- oder Weitergabe eines amtlichen Schriftstücks gegenüber auch einer kleineren Zahl von Medienvertretern soll schon dann als tatbestandsmäßig anzusehen sein, wenn deren Zweck letztlich in einer erst dadurch ermöglichten Unterrichtung der Öffentlichkeit liegt oder dies jedenfalls zu befürchten ist. Legte man diese Ansicht zugrunde, würde man vorliegend wegen des erheblichen öffentlichen Interesses an aussagekräftigen Beweisunterlagen im Zusammenhang mit einem von der Öffentlichkeit in aller Regel mit großem Interesse verfolgten class action-Verfahren in den USA wohl ohne Weiteres von einer öffentlichen Mitteilung auszugehen haben, weil plausibel darstellbar wäre, dass deren wörtliche Wie-
65 So auch Többens, GA 1983, 97 (100); Schönke/Schröder/Perron/Hecker (Fn. 27), § 353d Rn. 46; NK-StGB/Kuhlen (Fn. 30), § 353d Rn. 31 und ausf. MüKo-StGB/Puschke (Fn. 23), § 353d Rn. 63: Darunter fallen Berichte von Presse, Rundfunk, Film und Fernsehen, aber auch die Verbreitung eines Schriftstücks über Internet-Nachrichtenkanäle oder auf Webseiten, mittels Mailinglisten, Newsletter oder als Blog-Mitteilungen, ebenso mittels Videoaufzeichnung, sei es auf Band (analog oder digital), CD-Rom, DVD oder anderen optischen Datenträgern. 66 Mit Nuancen im Einzelnen vertreten von SSW-StGB/Bosch (Fn. 5), § 353d Rn. 8; NKStGB/Kuhlen (Fn. 30), § 353d Rn. 31 und MüKo-StGB/Puschke (Fn. 23), § 353d Rn. 62.
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dergabe im engen zeitlichen Zusammenhang mit der Einspeisung in die pre trial-discovery droht.67 bb) Herrschende Meinung: Enge Auslegung (1) Kernaussage Dies bedarf hier freilich keiner Vertiefung, weil sich jene Auslegung zu weit vom Wortlaut entfernen dürfte. Mitteilen muss der Täter, nicht ein durch Informationen herausgeforderter Dritter. Denn „öffentlich“ wird ein Schriftstück nach herrschender und inhaltlich beifallswürdiger Auffassung68 im üblichen Sprachgebrauch des StGB nur dann, wenn es einem nicht fest umgrenzten Personenkreis zugänglich gemacht wird, so dass unbestimmt bleibt, von welchen und von wie vielen Personen es wahrgenommen werden kann. Nicht öffentlich sind Mitteilungen demnach nur bei einem geschlossenen Adressatenkreis (z. B. einer Pressekonferenz der Justizbehörden) oder in einem zahlenmäßig sehr kleinen, persönlich verbundenen Personenkreis, die nicht auf eine Kettenverbreitung angelegt ist. In beiden Fällen wird keine öffentliche Wirkung erzielt.69 (2) Nicht fest umgrenzter Personenkreis bei Weitergabe im Rahmen der pre trial-discovery einer class action Ungeachtet der Tatsache, dass in beiden Fallgruppen ohnehin noch Beihilfe durch das Fördern einer anschließenden Presseveröffentlichung gemäß §§ 353d Nr. 3, 27 Abs. 1 StGB zu erörtern wäre,70 liegt im hiesigen Zusammenhang der Sachverhalt anders. Die Mitteilung von Dokumenten im Rahmen der pre trial-discovery einer class action (vgl. § 23 FRCP)71 ist öffentlich, weil auf Seiten der Sammelkläger typischerweise ein zahlenmäßig nicht fest umgrenzter Personenkreis steht.
67 So hat, um nur ein Beispiel zu nennen, der Deutsche Umwelthilfe e.V. nach eigenen Angaben in der Pressemitteilung vom gleichen Tage (www.duh.de/pressemitteilung.html?&tx_ ttnews[tt_news]=3769) am 8. 10. 2016 eine 581-seitige (größtenteils geschwärzte) Gerichtsund Behördenakte des VG Schleswig und des Kraftfahrtbundesamts im Zusammenhang der Abgasaffäre zwei Werktage nach Erhalt unter http://l.duh.de/flgo2 ins Internet gestellt. 68 OLG Brandenburg Urt. v. 20. 7. 2016 – (1) 53 Ss 3/16 (18/16), juris, Tz. 14; RGSt 42, 112 (113); 63, 431 (432 f.); Bernuth, SchiedsVZ 2018, 277 (280); Fischer-StGB (Fn. 28), § 353d Rn. 9; Schönke/Schröder/Perron/Hecker (Fn. 27), § 353d Rn. 46; SSW-StGB/Bosch (Fn. 5), § 353d Rn. 8; A.A. allein – irrig (so auch Voßiek, Strafbare Veröffentlichung amtlicher Schriftstücke [Fn. 41], S. 239 f.) – Bottke, NStZ 1987, 314 (317): nur „medienöffentlich“. 69 Vgl. LG Mannheim NStZ-RR 1996, 360 (361 f.) und (in gleicher Sache) AG Weinheim NJW 1994, 1543 (1545). 70 So mit Recht NK-StGB/Kuhlen (Fn. 30), § 353d Rn. 31. 71 Die bundesstaatliche Norm prägt auch dann das einzelstaatliche Recht maßgeblich, soweit sie nicht direkt anwendbar ist, vgl. nur Lenth, Class action-reaction (Fn. 10), S. 12 und Hoppe, Die Einbeziehung ausländischere Beteiligter in US-amerikanische class actions (Fn. 12), S. 47 f., 51.
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Beispielsweise steht es jedem der bevollmächtigten Klägervertreter einschließlich deren Mitarbeitern und support staff frei, Einsicht in die Dokumente zu nehmen. Dieses Recht steht in der Regel nicht nur dem sogenannten lead plaintiffs’ counsel und den weiteren Mitgliedern des plaintiffs’ steering committee zu, sondern auch den übrigen (unter Umständen: hunderten) Klägervertretern, die für einen oder mehrere der Kläger im US-Zivilprozess in Erscheinung treten. Das gilt sowohl in sogenannten multi-district proceedings als auch für die u. U. zahlreichen parallelen Verfahren auf Ebene der US-Einzelstaaten. Vor diesem Hintergrund ist es möglich, dass der berechtigte Empfängerkreis hunderte, wenn nicht sogar tausende Personen umfasst – und dies selbst für Informationen, die als „highly confidential” gekennzeichnet sind. Deshalb ist es im Zeitpunkt der Weitergabe der aus den deutschen Ermittlungsakten „gespiegelten“ Dokumente an die Klägerpartei unabsehbar, von welchen und wie vielen Personen sie wahrgenommen werden können.72 Zudem darf ein US-Gericht zwar eine reine opt-in class action unter § 23 FRCP nicht zulassen.73 Bei einer class action ist der Kreis der Kläger während der pre trialPhase aber grundsätzlich noch erweiterbar (§ 23c Abs. 1 lit. c FRCP).74 Da sich zudem unter bestimmten Voraussetzungen auch ausländische Kläger einer class action anschließen können,75 ist der Kreis der auf Klägerseite Beteiligten potenziell unabsehbar groß. Dazu tritt, dass die pre trial-discovery ein zwar jedenfalls in der USPraxis grundsätzlich nichtöffentliches Verfahren ist. Allerdings umfasst das Akteneinsichtsrecht der Öffentlichkeit grundsätzlich die Gesamtheit des discovery-Materials, und zwar selbst dann, wenn es noch nicht zu den Gerichtsakten gelangt ist. Zudem sind die Kläger und ihre Anwälte prinzipiell berechtigt, jedermann Einsicht in das von ihnen zusammengetragene Material zu gewähren und diese Unterlagen zu veröffentlichen.76 Dem stehen – rechtlich – vom US-Gericht etwa bestimmte und ausgehandelte Schutzanordnungen (protective und stipulated protective orders) schon deshalb nicht entgegen, weil sie nach dem Ermessen des Gerichts ohne Weiteres nachträglich 72 Krit. hierzu auch Eisele, ZRP 2014, 106 (108, 109), der innerstaatlich auf den Untersuchungsausschuss „EnBW-Deal“ verweist, in dem eine öffentliche Verlesung von Vernehmungsprotokollen scheiterte, da für die Ausschussmitglieder das Risiko bestanden habe, sich gem. § 353d Nr. 3 StGB strafbar zu machen. 73 So Schack, Einführung in das US-amerikanische Zivilprozessrecht (Fn. 16), Rn. 208 unter Hinweis auf Kern v. Siemens Corp., 393 Fd3 120, 124 ff. (2d Circ. 2004). 74 Zugleich in deutscher Übersetzung abgedruckt bei Lenth, Class action-reaction (Fn. 10), S. 15. 75 Zu den Einzelheiten des forum shopping Hoppe, Die Einbeziehung ausländischere Beteiligter in US-amerikanische class actions (Fn. 12), S. 156 ff. 76 Vgl. Rendall, Duke L.J. 1980, 766 (778), http://scholar-ship.law.duke.edu/cgi/viewcon tent.cgi?article=2750&context=dlj, unter Hinweis auf die Leitentscheidung in re Halkin, 598 F.2d 176, 188 (D.C. Cir. 1979) sowie Stadler, Der Schutz des Unternehmensgeheimnisses im deutschen und U.S.-amerikanischen Zivilprozeß und im Rechtshilfeverfahren (Fn. 15), S. 173 unter Hinweis auf die nachfolgende Bestätigung der in re Halkin-Grundsätze in Tavoulares v. Washington Post Co., 724 F.2d 1010, 1015 (D.C. Cir. 1984).
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geändert und selbst die Versiegelung von discovery-Unterlagen jederzeit ganz oder teilweise wieder aufgehoben werden kann.77 Unabhängig davon kam es – faktisch –, wie die civil contempt of court-Rechtsprechung der US-Gerichte belegt, schon in der Vergangenheit zu zahlreichen gravierenden Missbrauchsfällen, die es keinesfalls angezeigt sein lassen, von einem geschlossenen, auf Vertraulichkeit angelegten Adressatenkreis, etwa in Analogie zu einer deutschen Justizpressekonferenz, zu sprechen. Dokumentiert sind zahlreiche Fälle der Weitergabe von Prozessdokumenten beklagter Unternehmen.78 Schack79 resümiert trocken: „Es wird zunehmend üblich, dass Kläger oder deren Anwälte ihre discovery-Ergebnisse an Drittinteressenten verkaufen“. cc) Zwischenergebnis Die Weitergabe von solchen Dokumenten im Rahmen der pre trial-discovery einer class action, die zugleich Bestandteil staatsanwaltlicher Ermittlungsakten in Deutschland sind, erfüllt die Voraussetzungen einer „öffentlichen“ Mitteilung i.S.d. § 353d Nr. 3 StGB. 2. Keine Rechtfertigungsgründe aus Verfahrensrecht Eine Rechtfertigung für nach alledem nach § 353d Nr. 3 StGB tatbestandsmäßiges Verhalten kommt aufgrund spezieller gesetzlicher Veröffentlichungsbefugnisse in Betracht, wie sie insbesondere das Verfahrensrecht kennt.80 Die Frage, inwieweit die beteiligten deutschen Staatsanwaltschaften mit für sie rechtfertigender Wirkung verpflichtet wären, im Rahmen einer pre trial-discovery nach den für sie verbindlichen völkerrechtlichen Rechtshilferegeln des HBÜ gegenüber dem US-Gericht, auf Akteneinsichtsgesuche etwaiger – auch ausländischer – Verletzter nach § 406e oder § 474 StPO oder aus anderen Rechtsgründen Mitteilungen aus den Akten zu machen, kann dabei offenbleiben. Wegen des teilweisen über77
Siehe Stadler, Der Schutz des Unternehmensgeheimnisses im deutschen und U.S.– amerikanischen Zivilprozeß und im Rechtshilfeverfahren (Fn. 15), S. 183 unter Hinweis auf Martindell v. Int. Tel. & Tel. Corp., 594 F.2d 296 (2d Cir. 1979). 78 Etwa zum Nachteil von VW in Rodney W. Quinter v. Volkswagen of America, 676 F.2d 969 (3d Cir. 1982): Weitergabe einer Indexliste über Auto-Crash-Tests; zum Nachteil von P&G in Kehm v. Proctor & Gamble MfG Co., 580 F. Supp. 913 (N.D. Iowa 1983): Verkauf von discovery-Dokumenten durch einen Klägeranwalt; zum Nachteil einer Brauerei in Falstaff Brewing Corp. v. Miller Brewing Co., 702 F.2d 770 (9th Cir. 1983): spurloses Verschwinden von discovery-Unterlagen als criminal contempt of court. Weitere Nachw. bei Stadler, Der Schutz des Unternehmensgeheimnisses im deutschen und U.S.-amerikanischen Zivilprozeß und im Rechtshilfeverfahren (Fn. 15), S. 190 ff. 79 Schack, Einführung in das US-amerikanische Zivilprozessrecht (Fn. 16), Rn. 124. 80 Vgl. Rennig, Meurer-GS (Fn. 28), S. 291 (303); NK-StGB/Kuhlen (Fn. 30), § 353d Rn. 36 und LK-StGB/Vormbaum (Fn. 28), § 353d Rn. 61.
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individuellen Rechtsguts81 wirkt schon mangels vollständiger Dispositionsbefugnis weder die Einwilligung der Staatsanwaltschaft noch diejenige des oder der privaten Verfahrensbetroffenen rechtfertigend.82
IV. Gesamtergebnis 1. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 353d Nr. 3 StGB können im Rahmen der pre trial-discovery einer US-class action gegen ein deutsches Unternehmen bei der Weitergabe von solchen Dokumenten erfüllt sein, die zugleich Bestandteil der deutschen Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft sind. 2. Nicht nur vollständige Kopien dieser Ermittlungsakten, sondern auch die verbliebenen Mehrstücke, Ablichtungen oder Abschriften der Urkunden und weiterer Asservate im Gewahrsam der Vertreter des Unternehmens und seiner Rechtsberater sind grundsätzlich geeignete Tatobjekte, weil sie seit der Sicherstellung durch die Staatsanwaltschaft (§ 94 Abs. 2 StPO) amtlichen Charakter i.S.d. § 353d Nr. 3 StGB haben. 3. Strafbar würden sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter deutscher Unternehmen und deren Rechtsbeistände in Deutschland machen, wenn sie diese amtlichen Schriftstücke von Deutschland aus (§ 9 Abs. 1 StGB) in die Vereinigten Staaten von Amerika mitteilten oder eine solche Mitteilung trotz Bestehens einer Garantenpflicht (§ 13 Abs. 1 StGB) geschehen ließen. Auch dann, wenn die Tathandlung ausschließlich in den Vereinigten Staaten von Amerika – etwa durch Rechtsanwälte oder Unternehmensmitarbeiter im Rahmen der pre trial-discovery einer class action in den Vereinigten Staaten – vorgenommen würde, ließe sich ein innerstaatlicher Anknüpfungspunkt nach den §§ 3, 9 Abs. 1 StGB begründen.
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Siehe letztmals Abschn. III.1.b)aa). So auch Schönke/Schröder/Perron/Hecker, StGB (Fn. 27), § 353d Rn. 58; SSW-StGB/ Bosch (Fn. 5), § 353d Rn. 10 und LK-StGB/Vormbaum (Fn. 28), § 353d Rn. 61; NK-StGB/ Kuhlen (Fn. 30), § 353d Rn. 36 a.E.; im Ergebnis ebenso, allerdings dogmatisch als tatbestandsausschließendes Einverständnis eingeordnet von AG Weinheim NJW 1994, 1543 (1545). 82
Corporate Compliance in Context By William S. Laufer* Long before the clarion call for an evidence-based corporate criminal justice, Ulrich Sieber along with Marc Engelhart surveyed German companies in a path breaking analysis of corporate compliance practices.1 Their analysis was detailed, rich in breadth and depth, and reminiscent of the very influential survey of the 500 largest companies in the United States by Marshall Clinard and Peter Yeager.2 Both works broke new (and different) ground, but Ulrich’s benefited greatly from maturing empirical methods, a deeper literature from which to draw, and many years of his own serious reflection.3 The subject of corporate compliance is once again coming of age in the United States, as if it is new, entirely discoverable, and without due regard to regulatory scholars in Australia who are responsible for the lion share of exemplary work on compliance.4 In this brief Essay, I resist the curmudgeon-like exercise of dissecting already well-crafted and executed scholarship. Instead, I will try to place Sieber’s work on corporate compliance and its important legacy into some context. This context is shaped by our experience with corporate criminal law in the United States – an experience that offers some lessons for countries embracing this most formal social control. My two rather modest conclusions are, first, that most corporate crime goes entirely undetected by compliance programs and, if much more wrongdoing was discoverable, there would be far too little self-regulatory capacity in conventional pri* My thanks to Benjamin Vogel and Manuel Espinoza for comments on earlier drafts of this essay. Portions of this essay are borrowed from earlier work of this author without attribution. Please see the references for a list of this work. 1 Ulrich Sieber/Marc Engelhart, Compliance Programs for the Prevention of Economic Crimes: An Empirical Survey of German Companies, 2014; Ulrich Sieber/Marc Engelhart, Compliance Programs for the Prevention of Economic Crimes in Germany: An Empirical Survey of German Companies, in K. Kai/M. Taguchi (eds.), International Trends of Criminal Compliance, 2015, pp. 167 – 274. 2 Marshall B. Clinard/Peter C. Yeager, Corporate Crime, 1980. 3 Ulrich Sieber, Programas de Compliance en el derecho penal de la empresa, in: Luis Arroyo Zapatero/Adán Nieto (eds.), El Derecho Penal Económico en la Era Compliance, 2013, pp. 63 – 110. 4 John Braithwaite, To Punish or to Persuade: Enforcement of Coal Mine Safety, 1985; Peter N. Grabosky/John Braithwaite, Of Manners Gentle: Enforcement Strategies of Australian Business Regulatory Agencies, 1986; Christine Parker/Vibeke Nielsen, The Challenge of Empirical Research on Business Compliance in Regulatory Capitalism, Annual Review of Law and Social Science 5 (2009), p. 45.
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vate sector compliance practices. Second, that compliance expenditures of firms reflect something other than an increase in governance, risk, and compliance (GRC) efficiency or effectiveness – that compliance costs are actually better conceived as preemptive estimated penalties and fines from government functionaries. Support for the first conclusion comes from what we may deduce of the “dark figure” of corporate crime or the difference between all wrongdoing in firms, and that which is ultimately known to the state and, thus, formally actionable. The corporate dark figure, I will argue, is so very formidable that it distorts our thinking about what it means to be compliant. Too many take pride in being in compliance by simply and naively disregarding known base rates of offending. The foundation of my second argument is found in significantly rising compliance costs that, in spite of appearances to the contrary, are most often not connected with evidence-based outcomes, e. g., what works to reduce employee or firm wrongdoing, or firm interest in knowing what works and what does not. Instead, compliance expenditures in the United States are increasingly ratchetted up by threats of looming criminal investigations and charges, compromised-filled agreements and settlements, along with increased regulatory scrutiny. The intensity of these threats are far from perfectly calibrated. Threat intensity turns on a host of factors, including intuitive estimates of suspected, but uncharged, unadjudicated, and unpunished wrongdoing. Expenditures are called for by prosecutors and regulators as the price or cost of uninterrupted self-regulation. Increasing expenditures are aggressively levied like a tax or prescribed like a sanction. Whether a tax or a preemptive penalty, compliance expenditures supplant formal adjudication of corporate criminal wrongdoing that carries graduated, proportional punishments, e. g., the move from self-regulation to enforced self-regulation. Corporate expenditures, conceived this way, poses some challenges to the assumptions underlying regulatory theory. Perhaps you remember a time when some scholars worried that prosecutors in the United States, with the advent of prosecutorial guidelines, all too abruptly wrestled away judicial discretion that vested in the Sentencing Guidelines for Organizations. That feels like so long ago. Without a true public partner in corporate crime control, firms today are alone in investing in compliance and regulatory solutions. Government functionaries simply ask the largest of firms for more and more compliance spending – and fail to do so themselves. Indeed, corporate compliance practices in the United States raise the question: Is there any discretion left for criminal justice functionaries to use the criminal process? That the answer to this question is not so clear reveals much about what may be best considered a new brand of “responsive” regulation.5 Sieber’s important research on corporate compliance deserves to be placed in the broader context of this question, particularly as corporate liability laws in Germany are under review and changing. 5 John Braithwaite, Enforced Self-Regulation: A New Strategy for Corporate Crime Control, Michigan Law Review, 80 (1982), pp. 1466 – 1507; Ian Ayres/John Braithwaite, Responsive Regulation: Transcending the Deregulation Debate, 1992.
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I. Dark Figure of Corporate Crime It is an old story that the formalities of the criminal process miss well more than half of all criminal offending and victimization. Victimization survey data, combined with official Uniform Crime Report data confirm that so much justice is not done – even with the most serious of all offenses. To make this stark, last year a little more than 51 % of all violent crime in the United States was never reported to law enforcement. The difference between unofficial and official data reflects not only the dark figure of crime but what, broadly conceived, may be called remainders of justice.6 Justice remainders include all failures to punish wrongdoing that merit punishment. Justice remainders also include omissions by prosecutors to pursue charges for those suspected of criminal wrongdoing, by police to investigate certain offences, and by citizens to report serious crimes. In any criminal justice system, the total of all remainders is the sum of justice undone. Of course, the story of the dark figure of street crime is an old one. It was first told by some of the early architects of American criminology, including Peter Lejins, Stanton Wheeler, Wesley G. Skogan, Albert J. Reiss, and Thorsten Sellin. It is, however, a new story to deliberate over the dark figure of corporate crime. And this deliberation has some significant relevance for those who study the effectiveness of corporate compliance and corporate self-regulation, more generally. Reflecting on the dark figure problem, corporate criminal wrongdoing represents a class of the most under-adjudicated criminal offenses in federal law.7 Corporate criminal liability remains a rare event. It is estimated that less than two tenths of one percent of all federal cases involve corporate criminal liability. In the federal system, there are approximately 2,000 referrals of corporations for possible prosecution each year, resulting in 200 prosecutions, and producing 150 convictions.8 And all of these numbers are in decline during this presidential administration. With tens of millions of businesses in the United States, and a stable and robust base rate of self-reported criminal wrongdoing in firms, only a very, very small percentage of corporate wrongdoing is actionable. There was a time when introductory textbooks in criminology and criminal justice offered a funnel of the criminal process for street crimes, showing victimization survey data at the top of the funnel and incarceration data at the bottom.9 The funnel was perfectly symmetrical – or nearly so. A funnel of corporate criminal process is impossible to draw anywhere close to scale given the wide open top (more than 30 million businesses in the United States) and narrow bottom of under two hundred convictions. Conceptually, though, the impossible dimensions of this funnel are so very 6 William S. Laufer/Robert C. Hughes, Justice Undone, American Criminal Law Review 58 (2020), p. 155. 7 William S. Laufer, Corporate Bodies and Guilty Minds: The Failure of Corporate Criminal Liability, 2008. 8 TracReport, Justice Department data reveal 29 percent drop in criminal prosecutions of corporations, 2015. 9 Freda Adler/Gerhard O. W. Mueller/William S. Laufer, Criminal Justice, 1994.
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telling. When we study corporate compliance practices – or when front-line compliance professionals do their job – what percentage and kind of criminal wrongdoing are they most often concerned with? It is impossible not to know that there is a significant share of undetected employee wrongdoing – the base rate of wrongdoing in firms. All employee surveys reveal it. And all GRC systems accommodate to it. Much like each and every stage of the criminal justice system, we take comfort in processing only a very small percentage of wrongdoing. We budget for only a small share of it, staff it, and coordinate a decidedly limited capacity with other functions in the systems. Capacity is also a function of changing enforcement and regulatory patterns. In episodic periods of heightened regulation in the United States, public indignation over a wide range of corporate criminal frauds is assuaged and silenced by the rare and largely symbolic prosecutions of a small handful of large firms. During periods of significant regulatory laxity, rates of wrongdoing are well-contained by the private sector’s investment in sophisticated compliance dashboards. And, as usual, corporate crimes go almost entirely unanswered by the state, without significant public outrage and calls for corporate accountability. This discernable move away from command and control approaches applies as well to civil and administrative remedies for corporate wrongdoing. Given the difference between self-reported rates of wrongdoing and official data it is not unreasonable to worry that we may have insufficient self-regulatory capacity to recognize, address, and remedy the justice remainder coming from “corporate” wrongdoing. In fact, the corporate compliance practices that Sieber and Engelhart so carefully analyzed address the very outermost and visible edges of a monstrous iceberg. If firms identified and “processed” all employee wrongdoing the costs of their GRC systems would be that much more extraordinary. Obviously there are consequences to the acceptance of our insufficient self-regulatory capacity. Dramatic deficits in potential regulatory capacity, however, should not be pinned on the private sector as if there is a single culprit. Justice remainders from corporate wrongdoing must be seen as a function of a failed partnership between the regulated (the objects of Sieber’s research) and regulators. Prosecutors and regulators also have failed to invest in the kind of evaluation and GRC science necessary to effectively provide oversight. The loss of the only “compliance counsel” at the United States Department of Justice, with no replacement, signals the impotence of public sector investment in the evaluation function. The state has so significantly failed as a partner in corporate crime control. Simply stated, the government asks the private sector to assume all self-regulatory costs, including investments in detection, monitoring, evaluation, and remediation. And the state bears little to no burden to ensure that firm investments are effective or used to achieve stated objectives, and even less responsibility for justice remainders.
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II. Compliance Costs, Preemptive Penalties, and Progressive Musings Self-regulatory models of compliance and governance, when stripped bare, are really exercises in private ordering. At the same time, the pretense or appearance of self-regulation in firms of scale and power serves as good cover for the lion’s share of justice remainders. The sum total of compliance and regulatory expenditures also betray any speculation about justice remainders for corporate wrongdoing. It is an important regulatory milestone that if one were to add together all enterprise-wide risk, audit, legal, and compliance professionals on the payroll of corporations in the United States, that number would exceed the head count of all municipal police officers.10 Corporations invest in regulatory compliance way in excess of the risks of public adjudication for criminal wrongdoing. In a very real sense, motivated corporations regularly and continually underwrite remainders of justice in their self-regulatory zeal. The prescription for compliance, including cooperation, voluntary disclosures, acceptance of responsibility, and more compliance expenditures, supports a kind of game that also guarantees robust justice remainders. The public and private sector are captured by a “compliance game,” a regulatory status quo where corporate and government players exchange compliance expenditures and an assortment of governance and compliance “chips” that have little to nothing to do with ensuring law abidance.11 This game, described a bit more below, is marked by disincentives for firms to take the measurement of compliance seriously, and a deeply-felt regulatory lethargy to compliance science. The compliance game assumes the need to cover a vast amount of undistributed corporate criminal justice. And, ultimately, the most significant loss is to those for whom justice remains undone. By requiring ever-increasing regulatory expenditures from firms, the state leverages the spending of compliance dollars as a kind of preemptive penalty. This penalty attempts to capture the difference between the costs of stable and longstanding base rates of unadjudicated wrongdoing and the informal adjudication of wrongdoing in corporations. Private and informal acknowledgment of corporate wrongdoing accommodate failures in formal recognition of wrongdoing, in particular resort to the criminal process. Unlike with any other criminal offense, here the offender/victim pays to manage remainders indefinitely. There are many reasons why our moral indignation over corporate criminal wrongdoing is deftly and quite effectively silenced. Foremost is our missing conception of a corporate victim and, as a result, our lack of a full appreciation for the ways 10 William S. Laufer, A Very Special Regulatory Milestone, University of Pennsylvania Journal of Business Law 20 (2018), p. 392. 11 William S. Laufer, The Compliance Game, in: Saad-Diniz/D. Brodowski/A. Luiza (eds.), Regulação Do Abuso No Âmbito Corporativo: O Papel Do Direito Penal Na Crise Financeira, 2015.
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in which this kind of wrongdoing is harmful. There is no study of corporate victimology in spite of a longstanding interest in the harm done to a wide range of corporate stakeholders. Sensitivity to these stakeholders, however, is generally limited to thinking about how they may be affected as collateral consequences of corporate prosecution – not as victims of substantive corporate wrongdoing.12 Justice remainders from corporate frauds, for example, are far easier to live with when unclear and unsure of the ways in which company wrongdoing harms employees, shareholders, debtholders, and consumers. Crafting proportional punishment for violations of corporate criminal law also becomes that much more challenging. It is fair to ask, once again, how remainders fit into the larger account of the justification and value of criminal punishment for corporate wrongdoing. Elsewhere I offered a progressive account of the corporate criminal law that recognized the best of old progressive principles, e. g., using scientific method to advance effective corporate self-regulation and possible co-regulation.13 The objective was to spark some interest in prioritizing corporate accountability by modern progressives. This is a tall task, even for progressives. For corporate crimes, as with other offenses, we are stuck with a “missing victim” problem; a near passivity by the state in ceding responsibility for validating wrongdoing; and a range of informal means to accommodate public sector inaction. Add to this a too big to prosecute, take to trial, and punish problem for the largest and most systemically important firms.14 At the heart of the progressive account is the building of a bridge between some of the foundational principles of twentieth century progressivism and more modern forms of progressive thought and dogma. The structure of the bridge consists of the very kind of compliance science and associated social controls reflected in Sieber’s work. I argue, in complementary ways, that progressive principles borrowed from the last century should support the consolidation of more rigorous compliance measures, measurement, and standards into formal regulatory policies. Where I may depart from more conventional thinking is with a perennial concern over how empirical evidence is cast and often misused. Compliance practices, as I hinted to earlier, may be seen as the centerpiece of a game that appears to look for optimal compliance and even good compliance science, but actually seeks optimal expenditures to minimize liability risks. The game’s design, it is further argued, gives all players moral and legal cover for a status quo that only placates constituencies with the appearance of legitimacy.
12 Paul James Cardwell/Duncan French/Matthew Hall, Tackling Environmental Crime in the European Union: The Case of the Missing Victim?, Environmental Law and Management 23 (2011), p. 113. 13 William S. Laufer, The Missing Account of Progressive Corporate Criminal Law, New York University Journal of Law & Business 14 (2017), p. 71. 14 Brandon L. Garrett, Too Big to Jail: How Prosecutors Compromise with Corporations, 2014.
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I take a critical tack in suggesting that this game is aligned with a regulatory system that has quite limited interest in actively determining the effectiveness and genuineness of compliance, and even less commitment to aggressively using the corporate criminal law. The game further assumes that there is no interest in exploring whether the compliance machine actually affects behavior, organizational decisionmaking, planning, programming, or corporate culture. Players in this game seem inextricably captured by their opponent. The idea of a compliance game holds interest here, in part, because there are too few Siebers doing too few empirical studies of great rigor. With all of the investment in compliance, too few know if our compliance investment actually decreases rates of wrongdoing. Gaming compliance raises some obvious theoretical concerns. But these critical musings are not only academically interesting. Consider, for example, the proposed Corporate Sanctions Act (Verbandssanktionengesetz, the “VerSanG-E” or “CSA”). This legislation would, for the first time, authorize criminal liability for corporations in Germany. This Act not only extends liability to corporates when directors or officers, within the scope of their employment or agency, engage in criminal wrongdoing, but also imposes criminal liability where the entity, through its compliance management systems (“CMS”), engaged in proactive fault, i. e., failed to take reasonable and diligent steps to prevent employees or agents from engaging in criminal wrongdoing. The sanctions in CSA are quite generous. As in the United States, a due diligence prescription (an aggressive combination of cooperation, investigation, disciplinary actions, restitutions, agreement to monitorship, and acceptance of responsibility) may mitigate possible fines, and encourage prosecutors to consider a deferred prosecution agreement. The CSA also recognizes the presence of an “adequate” CMS, no matter whether this system did or did not prevent criminal wrongdoing. Sanctions range from warnings to fines and, in earlier drafts of this Act, corporate dissolution. Provisions of this bill resemble extant law in the United States. There are some differences to be fair, e. g., CSA adopts language similar to the Model Penal Codes “high managerial agent” requirement for the attribution of criminal liability that differ with federal law. But the general mix of significant fines, a known prescription of due diligence, and the recognition of a GRC or CMS system that is adequate or effective, sound all too familiar. In fact, this is the very regulatory architecture that, I argue, encourages a compliance game – a game that does not lead to more effective self-regulation and public accountability for criminal wrongdoing. The provisions in CSA leave the door wide open for firms to spend generously on compliance as a purchase of insurance against entity liability; encourage firms to push the attribution of culpability down the corporate hierarchy; and incentivize law firms, management consultancies, forensic accountancies, along with ethics and integrity consultancies to make determinations about CMS adequacy or effectiveness with far less than evidence-based measurements. There is no incentive for firms to develop adequate or effective CMS until or unless prosecutors and regulators
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develop the capacity to determine the difference between a genuine and cosmetic system. As with federal corporate criminal liability in the United States, these provisions encourage few prosecutions of large entities because of the direct consequences of such a high fine level and the collateral consequences to “innocent” stakeholders. Instead, there are a handful of large corporations diverted from the criminal process with much moral fanfare to promote the idea of fair markets and a level playing field. Small businesses become the likely target. And the “too big” problem remains intractable and undisturbed. More important and relevant to this Essay, the CSA encourages a wide range of corporate justice remainders, as do federal laws in the United State. The solution to this hypothetical compliance game – and justice remainders – may be found in building a body of rigorous evidence-based research on compliance in the tradition of Sieber’s work. Regulatory theories are as vacuous as compliance programs are papered or cosmetic. Theories of responsive regulation assume, among other things, a credible and thus genuine threat from the criminal law, and the availability of an orderly sequence of escalating sanctions.
III. Conclusion It is probably too much to ask that jurisdictions considering corporate criminal liability reflect on the road taken by others. There are, though, lessons to be learned. Compliance expenditures need not be seen only as valuable insurance policies in firm; a gross estimation of corporate integrity, assessed and raised as a preemptive penalty by prosecutors; and a new revenue stream to exploit by consultancies and law firms. The compliance game is so seductive and reinforcing for interested stakeholders, but not inevitable. It is seductive and reinforcing only because so many benefit, and so many are taken by the deeply moving moral rhetoric from around the table about justice, fairness of markets, accountability, transparency, and integrity. The game is so full of seemingly heart-felt sentiments that, at times, it is difficult to tell who are the good guys and who are bad guys.
Wirtschaft und Menschenrechte Perspektiven einer Unternehmensstrafbarkeit Von Attilio Nisco
I. Einführung Unter dem Thema „Wirtschaft und Menschenrechte“ (business & human rights) werden eine Reihe von Initiativen zusammengefasst, die vor allem von den Vereinten Nationen (VN) geleitet werden und darauf abzielen, Unternehmen in den Entwicklungsprozess menschenrechtsorientierter Verhaltensprotokolle einzubeziehen.1 Es wird insbesondere hervorgehoben, dass Unternehmen eine spezifische Sorgfaltspflicht (due diligence) in diesem Feld erfüllen sollen.2 Eine ähnliche Funktion wird im Strafrecht von sog. Compliance-Programmen ausgeübt, die in einigen Rechtsordnungen mit der Androhung von Sanktionen gegen Unternehmen zusammenhängen.3 Unternehmen sind dadurch stimuliert, an der staatlichen Prävention von Verbrechen zu kooperieren, indem sie sich mit Verhaltensprotokollen ausstatten und dadurch eine Milderung oder sogar die Abschaffung der Sanktion erreichen. Die Ausarbeitung von Verhaltensprotokollen stellt daher eine Gemeinsamkeit zwischen human rights law und Wirtschaftsstrafrecht dar. Dies eröffnet neue Perspektiven für eine Unternehmensstrafbarkeit.4 Compliance-Programme im Unternehmensstrafrecht wurden von Ulrich Sieber grundlegend untersucht.5 Die folgenden Überlegungen knüpfen deshalb an eines der wichtigsten Forschungsinteressen des verehrten Jubilars an und sind von seinen Ideen und Visionen beeinflusst. Nach einer Beschreibung der unternehmerischen Aufgaben auf dem Gebiet „Wirtschaft und Menschenrechte“ (II.) wird der vorliegende Beitrag die Verhältnisse zwischen Unternehmensstrafbarkeit und Menschen1
Siehe: https://www.business-humanrights.org/ (Stand: 10. Mai 2020). Mehr dazu infra II. 3 Hierzu Engelhart, Sanktionierung von Unternehmen und Compliance: eine rechtsvergleichende Analyse des Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts in Deutschland und den USA, 2. Aufl., 2012. 4 Vgl. Kubiciel, Menschenrechte und Unternehmensstrafrecht – Eine europäische Herausforderung, Kölner Papier zur Kriminalpolitik 5/2016, abrufbar unter: https://kups.ub.uni-koeln. de/7487/ (Stand: 10. Mai 2020). 5 Sieber, FS Tiedemann 2008, S. 449 ff.; Sieber/Engelhart, Compliance Programs for the Prevention of Economic Crimes. An Empirical Survey of German Companies, 2014. 2
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rechtsverletzungen in einer dreistufigen Dimension darstellen: national, transnational und völkerstrafrechtlich (III.).6 In den Schlussfolgerungen wird für eine Unternehmensstrafbarkeit im Völkerstrafrecht plädiert (IV.).
II. Wirtschaft und Menschenrechte: Aufgaben für Unternehmen Private Unternehmen haben keine völkerrechtlichen Pflichten. Vielmehr sind Staaten verpflichtet, dafür zu sorgen, dass Menschenrechte auch von Unternehmen respektiert werden. Die internationalen Abkommen, die die Staaten zum Schutz der Menschenrechte binden, verlangen in der Regel keine Einführung von konkreten Formen der Unternehmenshaftung bei Menschenrechtsverletzungen, geschweige denn eine strafrechtliche Verantwortung von Unternehmen. Diese Abkommen begründen in erster Linie eine staatliche Haftung, die in Frage kommt, wenn der Staat Private nicht überwacht.7 Es gibt keine klaren Hinweise auf eine grenzüberschreitende Geltung solcher staatlichen Schutzpflichten.8 Auf Initiative der Vereinten Nationen wurden aus diesem Grunde diverse internationale Übereinkommen verabschiedet, die versuchen, private Unternehmen in den globalen Schutz von Menschenrechten einzubeziehen, ohne das traditionelle Schema zu verändern, wonach lediglich Staaten im rechtlichen Sinne verpflichtet sind, Menschenrechte zu respektieren. Die Ausarbeitung solcher Übereinkommen geht auf die siebziger Jahre zurück; im Folgenden werden lediglich die jüngsten und wichtigsten Phasen dieser Entwicklung aufgezeigt. Der Global Compact 2000 ermutigte Unternehmen, Regeln in vier bestimmten Bereichen zu übernehmen (Menschenrechte, Arbeit, Umwelt und Korruption) und sich nicht an Menschenrechtsverletzungen zu beteiligen. Weitere Standards zur Achtung von Menschenrechten seitens privater Unternehmen wurden mit den Normen der Vereinten Nationen über die Verantwortlichkeiten transnationaler Unternehmen und anderer Wirtschaftsunternehmen in Bezug auf die Menschenrechte aus dem Jahr 2003 eingeführt. Die tatsächliche Verbindlichkeit dieser Standards wurde diskutiert und teilweise kritisiert. Einige in diesen Normen angewendeten Begriffe, wie „Ein6 Ähnlich wie hier aber mit umgekehrter Reihenfolge der Darstellung Oehm, in: Krajewski/Oehm/Saage-Maaß (Hrsg.), Zivil- und strafrechtliche Unternehmensverantwortung für Menschenrechtsverletzungen, 2018, S. 181 ff. 7 Zum Ganzen Kubiciel (Fn. 4), S. 5 ff.; ferner zum Thema Karp, Responsibility for Human Rights. Transnational Corporations in Imperfect States, 2014; Köster, Die völkerrechtliche Verantwortlichkeit privater (multinationaler) Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen, 2010; McBeth/Nolan, in: Tully (Hrsg.), International Corporate Legal Responsibility, 2012, S. 175 ff; Ratner, 111 Yale L.J. (2001), S. 452 ff. 8 Vgl. Augenstein/Kinley, When Human Rights ,Responsibilities‘ become ,Duties‘: The Extra-Territorial Obligations of States that Bind Corporations, 2013, abrufbar unter: https:// ssrn.com/abstract=2149921 (Stand 10. Mai 2020).
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flussbereich“ und „Mitschuld“ des Unternehmens bei der Verletzung von Menschenrechten sind unklar, zumindest wenn man daraus Folgen für eine rechtliche und nicht nur moralische Verantwortung von Unternehmen ableiten möchte.9 2011 hat der VN-Menschenrechtsrat die VN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte verabschiedet,10 die einem „Drei-Säulen-Modell“ hinsichtlich der den Staaten obliegenden Verpflichtung folgen: „Schutz, Achtung und Abhilfe“.11 Dieses Modell bezieht sich auf die Anerkennung: „(a) der bestehenden Verpflichtungen der Staaten, die Menschenrechte und Grundfreiheiten zu achten, zu schützen und zu gewährleisten; (b) der Rolle von Wirtschaftsunternehmen als spezialisierte Organe der Gesellschaft, die spezialisierte Aufgaben wahrnehmen, und als solche dem gesamten geltenden Recht Folge zu leisten und die Menschenrechte zu achten haben; (c) der Notwendigkeit, Rechte und Verpflichtungen im Fall ihrer Verletzung angemessene und wirksame Abhilfemaßnahmen gegenüberzustellen.“ An dem Grundsatz, dass der Staat der alleinige Verpflichtete ist, wird festgehalten. Zusätzlich fördern die VN-Leitprinzipien eine aktive Rolle von Wirtschaftsunternehmen, indem sie ihnen auferlegen, es zu vermeiden „durch ihre eigene Tätigkeit nachteilige Auswirkungen auf Menschenrechte zu verursachen oder dazu beizutragen und diesen Auswirkungen entgegenzuwirken, wenn sie auftreten […]“ (Prinzip 13). In diesem Zusammenhang wird eine „Sorgfaltspflicht auf dem Gebiet der Menschenrechte“ als „Verfahren“ vorgesehen, das „[…] unter anderem darin bestehen [sollte], tatsächliche und potenzielle menschenrechtliche Verletzungen zu ermitteln, die sich daraus ergebenden Erkenntnisse zu berücksichtigen und Folgemaßnahmen zu ergreifen, die ergriffenen Maßnahmen nachzuhalten sowie Angaben dazu zu machen, wie den Menschenrechtsverletzungen begegnet wird“ (Prinzip 17). Der Kommentar zu diesem Prinzip besagt, dass „unter menschenrechtlichen Risiken […] die potenziellen nachteiligen Auswirkungen des Wirtschaftsunternehmens auf die Menschenrechte zu verstehen [sind]“, und dass die „Sorgfaltspflicht auf dem Gebiet der Menschenrechte […] in allgemeinere Risikomanagementsysteme der Unternehmen integriert werden [kann], sofern sie darüber hinausgeht, lediglich materielle Risiken für das Unternehmen selbst zu ermitteln und zu steuern, sondern auch die Risiken für Rechteinhaber berücksichtigt.“ Weitere Leitprinzipien beschreiben, wie man diese Verpflichtung erfüllen soll: Unternehmen sollen u. a. Betriebsprozesse überprüfen und organisatorische Maßnahmen zur Verringerung des Risikos von Auswirkungen auf die Menschenrechte bearbeiten (Prinzip 19). 9 Siehe Hillemanns, German Law Journal, Vol. 4 No. 10 (2003). S. 1065 ff.; Kinley/ Chambers, HRLR 6 (2006), S. 447 ff. 10 Die deutsche Version, aus der im Text zitiert wird, wurde von DGCN herausgegeben und ist abrufbar unter: https://www.globalcompact.de/wAssets/docs/Menschenrechte/Publikatio nen/leitprinzipien_fuer_wirtschaft_und_menschenrechte.pdf (Stand 10. Mai 2020). 11 Diese jüngste Entwicklung steht im Zusammenhang mit der Tätigkeit von Prof. John Ruggie als VN-Sonderbeauftragter für Unternehmen und Menschenrechte zwischen 2005 – 2011. Diese Tätigkeit führte zur Erarbeitung der VN-Leitprinzipien 2011. Hierzu Ruggie, Just Business. Multinational Corporations and Human Rights, 2013, S. xv ff.
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Eine Sorgfaltsplicht von Unternehmen in Bezug auf Menschenrechte wird auch von den OECD-Leitsätzen für Multinationale Unternehmen angenommen.12 Anschließend wurde eine Due Diligence Guidance for Responsible Business Conduct veröffentlicht, die die methodologischen Hinweise zur Umsetzung dieser Pflicht und eine äußerst detaillierte Beschreibung des ganzen Verfahrens enthält.13 Die Umsetzung der Verhaltensregeln von Unternehmen im Bereich der Menschenrechte wird hauptsächlich durch Qualitätszertifizierungen (Human Rights Quality Management) auf der Grundlage von Standards, die von unabhängigen internationalen Organisationen (ISO) erlassen werden, überprüft.14 Zurzeit bleibt die unternehmerische Sorgfaltsplicht ein internationales Soft-Law Instrument, das jedoch in ein komplexeres Quellensystem eingefügt wurde. Eine zwischenstaatliche Arbeitsgruppe des VN-Menschenrechtsrats versucht jedoch seit 2014 einen bindenden internationalen Vertrag auszuarbeiten, der auch die Aktivitäten transnationaler und anderer Unternehmen im Hinblick auf Menschenrechte regulieren soll. Eine Einigung schien bis vor kurzer Zeit nicht in Sicht;15 im Juli 2019 wurde jedoch ein Entwurf verabschiedet, mit dem die Staaten ihre Bemühungen um einen Kompromiss verstärken.16 Die Verrechtlichung ganzer Verhältnisse zwischen Unternehmen und Menschenrechten ist damit in ständiger Entwicklung.17 Neben dem Schutz von shareholders und anderen stakeholders, auf die die modernen Corporate Governance-Systeme abzielen, tritt hier der Schutz von human rights holders hinzu. Damit werden eine Ergänzung des risk-based approach18 und mögliche Veränderungen in der Betriebsorganisation gefordert, die sich nicht primär auf das Gesetz beziehen, sondern auf eine „regulierte Selbstregulierung.“19
12 Siehe Kapitel IV der aktualisierten Fassung aus dem Jahr 2011. Ausführlich Krajewski/ Bezorgzad/Heß, ZaöRV 76 (2016), S. 329 ff.; Schank/Hajduk, in Kleinfeld/Martens (Hrsg.), CSR und Compliance, Synergien nutzen durch ein integriertes Management, 2018, S. 79 ff. 13 Due Diligence Guidance for Responsible Business Conduct, 2018 abrufbar unter: http:// mneguidelines.oecd.org/ (Stand 10. Mai 2020). 14 Hierzu Wetzel, Human Rights in Transnational Business. Translating Human Rights Obligations into Compliance Procedures, 2016, S. 229 ff. 15 Volles, in: Rümkorf (Hrsg.), Nachhaltige Entwicklungen im deutschen Recht, 2018, S. 59. 16 Infra III.2.c). 17 Siehe Rodríguez-Garavito, in: Rodríguez-Garavito (Hrsg.), Business and Human Rights. Beyond the End of the Beginning, 2017, S. 11 ff. 18 Vgl. Due Diligence Guidance for Responsible Business Conduct (Fn. 13), S. 15 ss. 19 Zu „Selbst- und Ko-Regulierung“ Sieber, FS Tiedemann 2008, S. 475.
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III. Unternehmensstrafbarkeit infolge von Menschenrechtsverletzungen Sowohl der Schutz von Menschenrechten als auch die Tätigkeit von Unternehmen sind per se in einem globalen Kontext zu betrachten. Der Schutz von Menschenrechten gründet sich auf einem sog. Mehrebenensystem, das im Wesentlichen auf nationalem, supranationalem und internationalem Niveau besteht.20 Die Unternehmenshaftung und die Unternehmensstrafbarkeit verfügen hingegen über kein entsprechend strukturiertes Regulierungssystem.21 Auch im EU-Recht, das durch eine ausgeprägte Harmonisierung gekennzeichnet ist, hat sich noch kein einheitliches Modell der Verantwortlichkeit von Unternehmen für Straftaten oder Menschenrechtsverletzungen etabliert. Aus diesem Grunde ist es notwendig, die vorliegende Untersuchung auf drei Ebenen einzuteilen: national, transnational und völkerrechtlich. 1. Nationale Ebene a) Sorgfaltspflicht auf dem Gebiet der Menschenrechte und Organisationsverschulden Der Grundsatz societas delinquere non potest ist in den meisten Rechtsordnungen überholt. Selbst in Kontinentaleuropa sind verschiedene Modelle der Verantwortlichkeit juristischer Personen für eine Straftat vorhanden.22 Die Natur der Verantwortung („strafrechtlich“, „verwaltungsrechtlich“ oder „tertium genus“, wie in Italien) und ihre jeweiligen Zurechnungskriterien sind unterschiedlich definiert. Besonders reizvoll erscheinen dabei Regelungen, die sich auf einen Organisationsmangel beziehen, an dem die Straftatbegehung anknüpft,23 und der ein Organisationsverschulden des Unternehmens aufzeigt.24 An dieser Stelle ist es nicht erforderlich, dieses Modell dogmatisch zu analysieren. Der Begriff „Organisationsverschulden“ stellt eine Metapher dar, genauso wie der Begriff „juristische Person“ „nur ein Instrument der Rechtssprache ist, das nützlich – sogar unersetzlich in dieser semantischen Funktion – ist, um eine komplexe normative Disziplin der Beziehungen zwischen natürlichen Personen zusammenzufassen“.25 Hier entsteht ein Konkretisierungsbedürfnis von 20
Überblick in Rinceanu, Indice penale 2009, S. 289 ff. Zusammenfassend Tiedemann, Rivista trimestrale di diritto penale dell’economia 2012, S. 1 ff. 22 Ausführlich Fiorella (Hrsg.), Corporate Criminal Liability and Compliance Programs, vol. I und vol. II, 2012; Pieth/Ivory (Hrsg.), Corporate Criminal Liability. Emergence, Convergence and Risk, 2011. 23 Nieto Martín/Selvaggi, in: Fiorella/Valenzano (Hrsg.), La responsabilità dell’ente da reato nella prospettiva del diritto penale „globalizzato“, 2015, S. 38 – 39; Tiedemann (Fn. 21), S. 3 ff. 24 Zum Begriff grundlegend Tiedemann, NJW 1988, S. 1169 ff. 25 Galgano, in: Digesto delle discipline privatistiche. Sezione civile, Band XIII 1995, S. 403. Die Lehre von Galgano, die darauf abzielt, den Begriff „juristische Person“ aus der 21
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Organisationsregeln, deren Verletzung zu einer Verantwortlichkeit juristischer Personen in den jeweiligen strafrechtlichen Gebieten führen kann. Dieses Bedürfnis besteht auch in Rechtsordnungen, die keine strafrechtliche Verantwortlichkeit juristischer Personen im echten Sinne anerkennen und dennoch die Möglichkeit einer Sanktionierung von Unternehmen mit der Verletzung organisatorischer Verpflichtungen verbinden. Dies ist der Fall in Deutschland (§§ 30 und 130 OWiG) und – freilich mit strafähnlichen Sanktionen und im Rahmen eines Strafverfahrens – in Italien (Art. 6 und 7 der gesetzvertretenden Verordnung – decreto legislativo Nr. 231/2001). Nicht zufällig verweist der nationale Aktionsplan der deutschen Regierung zur Umsetzung der VN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte auf „Sanktionierungsmöglichkeiten von Unternehmen nach dem Ordnungswidrigkeitenrecht“,26 während der italienische Aktionsplan das decreto legislativo Nr. 231/2001 in den Mittelpunkt der Umsetzung einer Sorgfaltspflicht von Unternehmen auf dem Gebiet der Menschenrechte stellt.27 Nach dem italienischen Gesetz soll das Unternehmen Compliance-Programme („Organisationsmodelle“) anwenden, um Straftaten zu vermeiden, die mit Menschenrechtsverletzungen eng verbunden sind (u. a. Menschenhandel, Versklavung, Ausbeutung von Prostitution und Kinderpornographie, fahrlässige Tötung und Körperverletzung von Arbeitnehmern, Ausbeutung von Wanderarbeitnehmern, Negationismus, Umweltdelikte). Die Umsetzung solcher Organisationsmodelle ist daher logischerweise in die von den VN geforderte Sorgfaltspflicht zu integrieren. Gleichzeitig verpflichtet die EU-Richtlinie 2014/95/EU bestimmte kapitalmarktorientierte Unternehmen zu einer nicht finanziellen Erklärung, „die diejenigen Angaben enthält, die für das Verständnis des Geschäftsverlaufs, des Geschäftsergebnisses, der Lage des Unternehmens sowie der Auswirkungen seiner Tätigkeit erforderlich sind und sich mindestens auf Umwelt-, Sozial-, und Arbeitnehmerbelange, auf die Achtung der Menschenrechte und auf die Bekämpfung von Korruption und Bestechung beziehen […]“ (Art. 1). In Italien muss diese Erklärung das Organisationsmodell im Sinne des decreto legislativo 231/2001 beschreiben. Die Nichtumsetzung eines Organisationsmodelles wird an sich nicht sanktioniert, aber eventuelle falsche Angaben werden nach dem Prinzip comply or explain verwaltungsrechtlich sanktioniert, solange sie keine Straftat darstellen.28 Unternehmen stehen damit neue Aufgaben bevor, die sich deutlich von der üblichen Erstellung von Bilanzen und Abschlüssen unterscheiden. Ebene der Rechtssubjekte auf die Ebene der Rechtsverhältnisse zu übertragen, wurde aus strafrechtlicher Sicht von Stortoni, Rivista italiana di diritto e procedura penale 1971, S. 1163 ss. behandelt. 26 Nationaler Aktionsplan der deutschen Regierung zur Umsetzung der VN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte 2016 – 2020, abrufbar unter: https://www.csr-in-deutsch land.de/ (Stand: 10. Mai 2020). Zum deutschen Aktionsplan siehe Volles (Fn. 15), S. 57 ff. 27 Piano di azione nazionale impresa e diritti umani 2016 – 2021, abrufbar unter: https:// cidu.esteri.it/comitatodirittiumani/it/informazione_formazione/piano-d-azione-nazionale-su-im presa.html (Stand: 10. Mai 2020). 28 Gem. Art. 3 und Art. 8 decreto legislativo Nr. 254/2016.
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Solange man sich auf Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen im Inland bezieht, scheinen die VN-Leitprinzipien keine großen Neuerungen zu bringen. Eine gewisse Neuerung ergibt sich bei den im Ausland begangenen Verbrechen bzw. Menschenrechtsverletzungen, da in solchen Fällen die Sorgfaltspflicht des Unternehmens eine gründlichere Risikoprüfung erfordert, die je nach Land besondere Aufmerksamkeit öffentlichen und privaten Partnern des Unternehmens schenken soll.29 Der Begriff „complicity“ mit lokalen Behörden oder Partnern, der in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung ist, erscheint jedoch normativ nicht ausreichend definiert.30 Die tatsächliche Einhaltung von diesem Standard hängt von der Möglichkeit ab, Unternehmen wegen den im Ausland begangenen Rechtsverstößen zu verfolgen.31 Dies kann entweder durch eine Erweiterung des nationalen Straf- bzw. Sanktionsrechts (infra III.1.b)) oder durch ein transnationales Recht geschehen (III.2.). b) Erweiterung nationaler Strafgerichtsbarkeit Denkt man an die Erweiterung der Gerichtsbarkeit auf dem Gebiet von Unternehmen und Menschenrechtsverletzungen, stößt man häufig auf das amerikanische Alien Tort Statute. Abgesehen davon, dass es sich dabei um zivilrechtliche Haftung von Unternehmen handelt, unterliegt eine solche Erweiterung der Gerichtsbarkeit manchen richterlichen Schwankungen; seit dem Fall Kiobel hat sie darüber hinaus eine entscheidende Einschränkung erlitten.32 Auch das Strafrecht unterliegt unüberwindbaren territorialen Grenzen.33 In dieser Hinsicht kann die italienische Rechtslage lehrreich sein. Das decreto legislativo 231/2001 kann unter bestimmten Voraussetzungen auf im Ausland begangene Straftaten angewendet werden, sofern die juristische Person ihren Hauptsitz in Italien hat. Die Praxis neigt jedoch dazu, das in Art. 6 it. StGB enthaltene Kriterium anzuwenden, wonach die Straftat als im Inland begangen gilt, wenn ein Teil der Handlung im Staatsgebiet begangen wurde. Im Fall der Bestechung eines ausländischen Amtsträgers bejaht die Rechtsprechung ihre Zuständigkeit, obwohl die Vereinbarung im Ausland beschlossen und ausgeführt wurde, wenn die Tat im Inland und von Seiten der Leitung eines Unternehmens mit Hauptsitz in Italien geplant wurde.34 Gleichzeitig hält die Rechtsprechung das decreto legislativo Nr. 231/2001 auch auf ausländische Unternehmen für anwendbar, selbst wenn 29 Vgl. VN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte (Fn. 10), Kommentar zum 23. Prinzip. 30 Zu diesem Begriff Crespo, in: Crespo/Nieto Martín (Hrsg.), Derecho penal económico y derechos humanos, 2018, S. 19 ff. 31 Hierzu Gobert/Punch, Rethinking Corporate Crime, 2003, S. 146 ff. 32 Kiobel v. Royal Dutch Petroleum Co., 569 U.S. 108 (2013). Zur Bedeutung dieses Falles für die Entwicklung von „business and human rights“, Wetzel (Fn. 14), S. 11 ff. 33 Sie werden unter dem Begriff „internationales Wirtschaftsstrafrecht“ diskutiert: hierzu Tiedemann, FS Yenisey, Bd. II 2014, S. 1973 ff. 34 Kassationshof (Corte di cassazione), Urteil vom 12. Februar 2016, Nr. 11442.
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diese keinen Sitz in Italien haben, aber die Anknüpfungstat (die Handlung) auf italienischen Gebiet begangen wurde. Ausländische Unternehmen, die in Italien tätig sind, sollten daher über „Organisationsmodelle“ gem. italienischem Gesetz verfügen. Trotz dieser erweiternden Auffassungen bleibt ein gravierender Mangel: das decreto legislativo Nr. 231/2001 schweigt zum Thema Konzerne und Unternehmensketten, so dass jede einzelne Gesellschaft ein eigenes Organisationsmodell umsetzen muss. Eine gewisse Koordination innerhalb eines Konzerns ist empfehlenswert, aber eine Zurechnung der Verantwortlichkeit zur Muttergesellschaft fällt schwer und ist lediglich aufgrund der Regeln der Beteiligung natürlicher Personen gem. dem it. StGB möglich.35 2. Transnationale Ebene a) Fragmentarische Entwicklung Das transnationale Strafrecht versucht, die oben erwähnten Grenzen zu überwinden. Die Lehre definiert die „transnationalen Straftaten“ als „die im Völkervertragsrecht geregelten Sachverhalte, die indirekt über die Umsetzung in den Vertragsstaaten strafbare Verhalten mit potenziell grenzüberschreitendem Bezug kriminalisieren, also die Umsetzung von Völkervertragsrecht in nationales Strafrecht“.36 Die unter diese Abkommen fallenden Straftaten stellen nicht notwendigerweise eine Gefahr für die Weltgemeinschaft dar, sie können auch nur eine Gefahr für eine Region oder für ein soziales oder ein wirtschaftliches System darstellen.37 Es handelt sich dabei nicht unbedingt um Straftaten, die Menschenrechtsverletzungen implizieren, denn Menschenrechte und wirtschaftliche Interessen gehören zu den Hauptfaktoren der strafrechtlichen Harmonisierung,38 aber sie prägen nicht immer im gleichen Maße den Harmonisierungsprozess. Die internationalen Übereinkommen fordern in der Regel auch eine Verantwortlichkeit juristischer Personen, dennoch schreiben sie weder eine strafrechtliche Verantwortlichkeit noch bestimmte Zurechnungskriterien vor,39 so dass die genaue Umsetzung dieser (auch menschenrechtlichen) Verpflichtungen im Rahmen des Ermessens einzelner Mitgliedstaaten liegt. Die Harmonisierung der Menschenrechtsschutzsysteme (auch) durch die Verantwortlichkeit juristischer Personen erfolgt daher fragmentarisch. Das ist ein systemimmanentes 35 Zum Thema Devito/Cuomo/Colaluce, Responsabilità amministrativa delle società e degli enti 2/2018, S. 173 ff. 36 Oehem (Fn. 6), S. 186. Siehe auch Boister, Transnational Criminal Law, 2. Aufl. 2018, S. 3 ff. 37 Oehem (Fn. 6), S. 187. 38 Vgl. Sieber, in: Delmas-Marty/Pieth/Sieber (Hrsg.), Los caminos de la armonización penal, 2009, S. 486 ff. 39 Als Beispiel siehe Art. 22 des Übereinkommens des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels vom 16. 05. 2005. Emblematisch auch Art. 10 von dem Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität aus dem Jahr 2000.
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Kennzeichen eines grenzüberschreitenden aber immerhin staatsgebundenen Strafrechts. Die Harmonisierung leidet jedoch auch unter Asymmetrien, die anhand von zwei Beispielen aufgezeigt werden können. b) Asymmetrische Aspekte aa) Korruption Es gibt Strafrechtsgebiete, in denen sich der Schutz von Menschenrechten und der Schutz von finanziellen Interessen mit gleicher Intensität entwickeln, was zu einer raschen Harmonisierung führt. Die Anti-Korruption Gesetzgebung ist ein eklatantes Beispiel dafür. Sie enthält mittlerweile umfassende Regulierungen, die nicht nur aus zahlreichen internationalen Übereinkommen, supranationalen und nationalen Quellen herrühren, sondern auch aus Regelungen der Internationalen Organisation für Normung (ISO 37001) besteht. Daher folgt, dass die Überprüfung des Korruptionsrisikos seitens eines Unternehmens nicht lediglich in Bezug auf die Prävention einer im Gesetz definierten Straftat erfüllt wird, sondern auf einem breiteren Konzept von Korruption beruht, das aufgrund der erwähnten internationalen Quellen bzw. Standards festgestellt wird.40 Darüber hinaus wird Korruption als Phänomen angesehen, das eng mit der Verletzung von Menschenrechten verbunden ist (wenn beispielsweise Gesundheits- oder Körperverletzungen durch einen Verstoß gegen Sicherheitsnormen entstehen, der von korrupten Behörden ermöglicht wurde).41 Es mangelt nicht an Ansätzen, die dahinter ein unabhängiges Menschenrecht sehen, das mit dem Recht auf Nichtdiskriminierung in Zusammenhang steht.42 Aus dogmatischer Sicht muss diese Rekonstruktion etliche kritische Anmerkungen auslösen. Aus rechtspolitischer Sicht bestehen Zweifel, dass diese Expansion der Anti-Korruption dem Menschenrechtenschutz dienen will. Sie scheint vielmehr das Ergebnis einer zunehmenden Ethisierung des Strafrechts43 zu sein und des Willens einiger Länder, ganze Wirtschaftssysteme einem globalen enforcement zu unterwerfen.44
40 Ausführlich Manacorda/Centonze/Forti (Hrsg.), Preventing Corporate Corruption, 2014; Pieth, Anti-Korruption-Compliance. Praxisleitfaden für Unternehmen, 2011. 41 Bishara/Hess, in: Bird/Cahoy/Prenkert (Hrsg.), Law, Business and Human Rights: Bridging the Gap, 2013, S. 71 ff.; Pearson, in: Larmour/Wolanin (Hrsg.), Corruption and Anti-Corruption, 2013, S. 30 ff. 42 Boersma, Corruption: A Violation of Human Rights and a Crime Under International Law?, 2012, S. 202 ff. 43 Vgl. Alagna, Lobbying e diritto penale. Interessi privati e decisioni pubbliche tra realtà e reato, 2018, S. 24 ff. 44 Manacorda, in: Bartoli/Papa (Hrsg.), Il volto attuale della corruzione e le strategie di contrasto, 2019, S. 76 – 77.
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bb) Recht auf Ernährung Ganz anders stellt sich die Situation von sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Menschenrechten dar, die bereits in ihrer Konstellation als Menschenrechte eine zweitrangige Aufmerksamkeit finden.45 Zu erwähnen ist hier insbesondere das Recht auf Ernährung,46 das auf vielfältige Weise durch die Tätigkeit multinationaler Unternehmen verletzt wird.47 Das Recht auf Ernährung kann zum Beispiel durch Auflagen von Vertragsbedingungen, die die Landwirte in einigen Ländern dazu zwingen, typische Anbauten aufzugeben, verletzt werden. Ein anderes Beispiel sind Spekulationen in Bezug auf Finanzderivate, deren Kurs von den Preisen einiger Grundrohstoffe (z. B. Getreide) abhängt, oder irreführende Werbung für bestimmte Produkte zur Säuglingsernährung oder das sog. land grabbing, d. h. der Entnahme von landwirtschaftlichen Flächen zu anderen Produktionszwecken, als zur Befriedigung der Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung.48 Solche Verhaltensweisen können gegen bestimmte Vorschriften verstoßen, die in den sog. entwickelten Ländern im Rahmen des jeweiligen Wettbewerbsrechts, Kapitalmarktrechts, Lebensmittelrechts usw. gelten. Die Einhaltung solcher Vorschriften wird jedoch in den Entwicklungsländern aus verschiedenen Gründen untergraben: Dies kann wegen der Unmöglichkeit ihrer extraterritorialen Anwendung erfolgen oder wegen des Fehlens bzw. der Unwirksamkeit dortiger entsprechender Normen. Selbst wenn sie anwendbar wären, würden die erwähnten Rechtsregime nicht in erster Linie dem Schutz des Rechts auf Ernährung in anderen Ländern dienen. Es stellt sich dann die Frage, ob die Anerkennung der Verpflichtung eines Staates zur Gewährleistung des Rechts auf Ernährung auch eine Verpflichtung zur Durchsetzung dieses Rechts seitens multinationaler Unternehmen mit sich bringen sollte. Die Internationale Strafrechtsvereinigung (AIDP) hat in diesem Zusammenhang vorgeschlagen, die Zuständigkeit des Staates zu erweitern, der die tatsächliche Kontrolle über das Unternehmen hat, wenn daraus eine Verletzung des Rechts auf Ernährung in anderen Ländern folgt. Die AIDP fordert darüber hinaus die Einführung von dazu passenden Compliance-Programmen.49 Dieser Vorschlag kann in technischer Hinsicht mit Sicherheit noch verfeinert werden, wichtig ist jedoch, dass die Strafrechtswissenschaft hier eine Lücke gesehen hat. An diesem Beispiel wird deutlich, 45
Zum zunehmenden Schutzbedürfnis von sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Menschenrechten im Völkerstrafrecht Schmid, Taking Economic, Social and Cultural Rights Seriously in International Criminal Law, 2015. 46 Art. 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und Art. 11 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. 47 Eingehend Nieto Martín, in Derecho penal económico y derechos humanos (Fn. 30), S. 279 ff. 48 Zum land grabbing, Viviani, Diritti umani e diritto internazionale vol. 10, 2016, n. 1, S. 209 ff. 49 Resolutions of the XXTH AIDP-IAPL International Congress of Penal Law on Criminal Justice and Corporate Business, Section II Food Regulation and Criminal Law, RIDPP 2016, „Food regulation and Criminal justice“, S. 13.
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dass die transnationale Ebene des strafrechtlichen Menschenrechtsschutzes nicht nur fragmentarisch, sondern auch asymmetrisch ist. Einerseits ist Korruption – ein Phänomen, das nur mittelbar mit Menschenrechtsverletzungen zusammenhängt – Gegenstand einer intensiven und weitreichenden internationalen Regulierung geworden, die auch Rechtsunsicherheit schafft. Anderseits bleibt das Recht auf Ernährung ohne wirksamen Schutz. So droht die sog. Selbstregulierung lediglich als Produkt einer „Amerikanisierung“ des Rechts50 wahrgenommen zu werden, d. h. als eine Praxis, die von starken Regierungen auferlegt wird, um einige Schlüsselbereiche ihrer wirtschaftlichen Expansion zu schützen, und nicht – oder nicht an erster Stelle – zum Schutz von Menschenrechten. c) Entwurf eines bindenden Übereinkommens Im Jahr 2018 legte die dafür zuständige Arbeitsgruppe des VN-Menschenrechtsrats einen Entwurf für ein bindendes Abkommen zu Wirtschaft und Menschenrechten vor (sog. „zero draft“), der in einer neuen Fassung im Juli 2019 präsentiert wurde („revisited draft“).51 Der Anwendungsbereich des Vertrags ist recht weit gefasst. Er soll für wirtschaftliche Tätigkeiten gelten, die sowohl von natürlichen als auch von juristischen Personen unternommen werden (Art. 1 Abs. 3), ebenso für wirtschaftliche Tätigkeiten mit „transnationalem Charakter“ (gem. der Definition des Entwurfes), und „alle Menschenrechte abdecken“ (Art. 3). Der Entwurf sieht einige „Rechte von Opfern“ von Menschenrechtsverletzungen vor, denen die Staaten einen Zugang zu wirksamen Rechtsbehelfen gewährleisten sollen (Art. 4). Außerdem verpflichtet er die Staaten zu vorbeugenden Maßnahmen, die die Auferlegung einer Sorgfaltspflicht für Unternehmen auf dem Gebiet von Menschenrechten einschließen (Art. 5). Eine der wichtigsten Neuigkeiten des Entwurfs ist die Einführung von Normen über eine Unternehmenshaftung wegen Menschenrechtsverletzungen (Art. 6).52 Erfolgt die Verletzung aufgrund der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit, sind die Staaten verpflichtet, wirksame, angemessene und abschreckende Sanktionen umzusetzen, sowie Entschädigungen zugunsten der Opfer zu gewährleisten. Darüber hinaus wird die Haftung natürlicher bzw. juristischer Personen, die eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben, ausdrücklich auf den Fall ausgedehnt, dass ein Dritter durch einen anderen – infolge mangelnder Aufsicht oder Überwachung – Schaden nimmt, der mit dem Unternehmen durch vertragliche Beziehungen verbunden ist, sofern das Risiko vorhersehbar war. Dies gilt auch für grenzüberschreitende Tätigkeiten unabhängig
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Zum Begriff Nieto Martín, Revista penal 2007, S. 120 ff. Materialen abrufbar unter https://www.business-humanrights.org/en/binding-treaty (Stand: 10. Mai 2020). Zu den Chancen eines bindenden Übereinkommens siehe ferner Deva/ Bilchitz (Hrsg.), Building a Treaty on Business and Human Rights, 2017. 52 Vgl. Lopez, Legal Liability for Business Human Rights Abuses under the Revised Treaty on Business and Human Rights, in: https://www.business-humanrights.org, 11. September 2019. 51
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vom Ort des Schadens. Diese Vorschrift bezieht sich auf natürliche und juristische Personen und auf jedwede Menschenrechtverletzungen. Art. 6 Abs. 7 sieht hingegen eine spezifische Verpflichtung für die Staaten vor, eine strafrechtliche, zivilrechtliche oder verwaltungsrechtliche Verantwortlichkeit juristischer Personen infolge bestimmter gravierender Verbrechen („criminal offences“) einzuführen. Damit sind Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschheit, Folter, Sklaverei und Menschenhandel gemeint.53 Wie in internationalen Verträgen üblich, schreibt auch dieser Entwurf weder die Einführung einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit juristischer Personen vor noch legt er bestimmte Zurechnungskriterien fest. Es ist jedoch denkbar, dass in Rechtsordnungen, die bereits eine Verantwortlichkeit juristischer Personen aufgrund eines Organisationsverschuldens kennen, Art. 6 des Vertrags durch eine Assimilation der Sorgfaltspflicht auf dem Gebiet der Menschenrechte mit dem Organisationsverschulden erfüllt werden könnte, d. h. durch die Einbeziehung dieser Sorgfaltspflicht in die Verhaltensprotokolle, von deren genauer Umsetzung die Freistellung des Unternehmens bzw. eine Reduzierung der Sanktion in nationalem Recht abhängt. Schließlich enthält der Entwurf auch bei der Strafverfolgung von Menschenrechtverletzungen Bestimmungen zur Förderung der staatlichen Kooperation (Art. 10). Die Vorschriften über die Gerichtsbarkeit (Art. 7) und das anwendbare Recht (Art. 9) scheinen sich hingegen hauptsächlich mit Entschädigungsansprüchen des Opfers in Zivilverfahren zu befassen. Dies macht deutlich, dass selbst wenn der Vertrag in seiner aktuellen Form unterzeichnet würde, die Möglichkeit einer strafrechtlichen Verfolgung von Unternehmen wegen transnationaler Menschenrechtsverlet53
Art. 6 Abs. 7 des Entwurfes lautet: „Subject to their domestic law, State Parties shall ensure that their domestic legislation provides for criminal, civil, or administrative liability of legal persons for the following criminal offences: a. War crimes, crimes against humanity and genocide as defined in articles 6, 7 and 8 of the Rome Statute for the International Criminal Court; b. Torture, cruel, inhuman or degrading treatment, as defined in article 1 of the UN Convention against Torture and other cruel, inhuman or degrading treatment or punishment; c. enforced disappearance, as defined in articles 7 and 25 of the International Convention for the Protection of All Persons from Enforced Disappearance; d. extrajudicial execution, as defined in Principle 1 of the Principles on the Effective Prevention and Investigation of Extra-Legal, Arbitrary and Summary Executions; e. Forced labour as defined in article 2.1 of the ILO Forced Labour Convention 1930 and article 1 of the Abolition of Forced Labour Convention 1957; f. The use of child soldiers, as defined in article 3 of the Convention on the Prohibition and Immediate Action for the Elimination of the Worst Forms of Child Labour 1999 g. Forced eviction, as defined in the Basic Principles and Guidelines on Development based evictions and displacement; h. slavery and slavery-like offences; i. Forced displacement of people; j. Human trafficking, including sexual exploitation; k. Sexual and gender-based violence.“ Abs. 8 sieht Folgendes vor: „Such liability shall be without prejudice to the criminal liability under the applicable domestic law of the natural persons who have committed the offences“. Abs. 9 fügt hinzu: „State Parties shall provide measures under domestic law to establish legal liability for natural or legal persons conducting business activities, including those of a transnational character, for acts that constitute attempt, participation or complicity in a criminal offence in accordance with Article 6 (7) and criminal offences as defined by their domestic law“.
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zungen weiterhin der Art und Weise überlassen bliebe, wie ein Staat den Vertrag umsetzt. 3. Völkerstrafrechtliche Ebene a) Wirtschaftsvölkerstrafrecht Weitere Impulse zur Harmonisierung der (strafrechtlichen) Verantwortlichkeit von Unternehmen aufgrund von Menschenrechtsverletzungen könnte das Völkerstrafrecht als spezifischer Bereich des Strafrechts anbieten, der hauptsächlich in dem IStGH-Statut geregelt ist. Die lange Zeit latenten Zusammenhänge zwischen Völkerstrafrecht und wirtschaftlichen Tätigkeiten sind heute Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit in der Strafrechtslehre geworden, die dafür ein neues Konzept entwickelt hat: das Wirtschaftsvölkerstrafrecht.54 Dieser Begriff setzte keine weiteren Rechtsgüter voraus als diejenigen, die bereits durch das Völkerstrafrecht geschützt werden. Er „bezeichnet einen Sektor des Völkerstrafrechts, der sich mit spezifischen Handlungen (und damit in der Regel mit spezifischen Akteuren) befasst“.55 Dabei wird an Handlungen gedacht, die durch drei Merkmale gekennzeichnet sind: „Ihr Bezug zum Wirtschaftsleben […]; ihre (zumindest scheinbare) Legalität; und der Umstand, dass sie im Zusammenhang mit der Ausübung eines anerkannten Berufes stehen“.56 Abgesehen von Fällen, in denen eine eklatante Mittäterschaft von Wirtschaftsunternehmen bei der Begehung internationaler Verbrechen besteht, liegt das Hauptproblem einer Kriminalisierung darin, dass sich solche Handlungen meistens in der Grauzone neutraler Beihilfe bewegen.57 So wäre es beispielsweise bei einem Unternehmen, das Rohstoffe oder Infrastrukturen liefert, die von einer Regierung zur Begehung von Völkermord genutzt werden, notwendig, nachzuweisen, dass die Unternehmensleitung vom völker-mörderischen Zweck wusste, da ein dolus eventualis hier nicht ausreicht.58 Einen solchen Nachweis zu führen wäre überaus schwierig, denkt man beispielsweise an eine Bank, die dem Staat einen Kredit gewährt, der u. a. zu verbrecherischen Aktion verwendet wurde. Nach geltenden Völkerstrafrecht betreffen diese Fragen ausschließlich die Strafbarkeit natürlicher Personen und werden aufgrund der in der völkerstrafrechtlichen 54
Ausgehend vom historischen Hintergrund (I.G. Farben-Prozess) Jeßberger, JZ 2009, S. 924 ff., 931 – 932. Anders der von Naucke eingeführte Begriff der „politischen Wirtschaftsstraftat“ (Naucke, Der Begriff der politischen Wirtschaftsstraftat, Eine Annäherung, 2012; s. auch die zustimmende Kritik von Bung, in: Jeßberger/Kaleck/Singelnstein (Hrsg.), Wirtschaftsvölkerstrafrecht. Ursprünge – Begriff – Praxis – Perspektiven, 2015, S. 129 ff.). 55 Jeßberger, in: Wirtschaftsvölkerstrafrecht (Fn. 54), S. 13 – 14. 56 Jeßberger, a.a.O. 57 M.w.H. Ambos, Wirtschaftsvölkerstrafrecht. Grundlagen der völkerstrafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen, 2018, S. 59 ff. Zur Beihilfe im Völkerstrafrecht ausführlich Heyer, Grund und Grenze der Beihilfestrafbarkeit im Völkerstrafrecht. Zugleich ein Beitrag zur Entwicklung eines Wirtschaftsvölkerstrafrechts, 2013. 58 Vgl. Ambos, Wirtschaftsvölkerstrafrecht (Fn. 57), S. 70 ff.
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Rechtsprechung etablierten und im IStGH-Statut geregelten Formen der Beteiligung – nur mit Schwierigkeiten – beantwortet.59 Eine völkerstrafrechtliche Verantwortlichkeit von Verbänden und Unternehmen scheint jedoch de lege ferenda nicht unvorstellbar.60 Sollte sie eingeführt werden, wären die vorgenannten Fragen sicherlich nicht gelöst, zumindest soweit eine Verantwortlichkeit juristischer Personen in der Regel eine vorherige Feststellung der Verantwortlichkeit einer oder mehrerer natürlicher Personen, die für juristische Person tätig waren, erfordern würde. Die Strafbarkeit des kollektiven Subjekts als solches würde jedoch den kriminalpolitischen Bedürfnissen entsprechen, die seit langem im Wirtschaftsstrafrecht anerkannt worden sind, und damit eine Lücke im Wirtschaftsvölkerstrafrecht schließen.61 b) Strafbarkeit juristischer Personen und völkerrechtliche Compliance-Programme Das Völkerstrafrecht sieht keine Strafbarkeit juristischer Personen aus historischen, politischen und dogmatischen Gründen vor.62 Seit den Nürnbergern Prozessen wurde eine solche Verantwortlichkeit als gefährliche Flucht vor der individuellen Verantwortlichkeit empfunden. Außerdem sind private juristische Personen nach wie vor von völkerrechtlichen Pflichten befreit, wie das oben erwähnte „Drei-Säulen-Modell“ der VN-Leitprinzipien grundsätzlich bestätigt.63 Bei der Verfassung des römischen Statuts wurde zudem festgestellt, dass es aus rechtsvergleichender Sicht kein einheitliches Modell der Verantwortlichkeit juristischer Personen gibt, von dem sich das Statut hätte inspirieren lassen können. Solche Hindernisse scheinen nicht unüberwindbar zu sein. Die völkerstrafrechtliche Verantwortlichkeit juristischer Personen dürfte niemals die individuelle Verantwortlichkeit ausschließen. Es wäre – wenn überhaupt – denkbar, dass die juristische Person in bestimmten Fällen zur Verantwortung gezogen wird, selbst wenn der Täter (als natürliche Person) nicht identifiziert oder identifizierbar ist. Der Mangel an völkerrechtlichen Verpflichtungen von privaten Unternehmen wird immer fragwürdiger, wie die Versuche eines bindenden Übereinkommens zeigen; selbst im Rahmen des Drei-Säulen-Modelles wäre es für die Staaten möglich, sich vertraglich zu verpflichten, Unternehmen wegen internationaler Verbrechen zu verfolgen. Schließlich 59
Siehe Heyer (Fn. 57), passim. Zum Thema Adam, Die Strafbarkeit juristischer Personen im Völkerstrafrecht, 2015; Ambos, Wirtschaftsvölkerstrafrecht (Fn. 57), S. 16 ff.; Meyer, SchwStr, 2013, S. 56 ff.; Stoichkova, Towards Corporate Liability in International Criminal Law, 2010. 61 Ausführlich Adam (Fn. 60), S. 25 ff. Zu der schwer zu rechtfertigenden Ausschließung einer Verantwortlichkeit juristischer Personen im Völkerstrafrecht auch Donini, Il volto attuale dell’illecito penale, 2004, S. 175; Stahn, A Critical Introduction to International Criminal Law, 2019, S. 233. 62 Vgl. Manacorda, Imputazione collettiva e responsabilità personale, 2008, S. 219 ff.; Meyer, ZStW, 2014, S. 122 ff. 63 Oben II. 60
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kann eine Vielfalt von nationalen Regelungsmodellen im Bereich der Strafbarkeit juristischer Personen kein endgültiges Hindernis für eine völkerrechtliche gemeinsame Regelung darstellen, wie es bei anderen kontroversen Gebieten des Völkerstrafrechts der Fall ist (z. B. bei Beteiligungsformen). Zwar wäre eine vorherige Harmonisierung wünschenswert; das Völkerstrafrecht kann jedoch selbst auch als Faktor der Harmonisierung unterschiedlicher Strafrechtssysteme fungieren.64 Ein Teil der Lehre steht einer (völker-)strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen noch immer skeptisch gegenüber. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit den üblichen Einwänden ist hier aus Kapazitätsgründen nicht möglich.65 Es sei nur anzumerken, dass es in der internationalen Debatte nicht mehr um das „ob“ der Strafbarkeit bzw. Sanktionierung juristischer Personen geht, sondern um das „wie.“ Einige Besonderheiten des Völkerstrafrechts dürfen jedoch nicht vernachlässigt werden. Die Einführung einer Verantwortlichkeit von Unternehmen für die Verbrechen, die in dem IStGH-Statut vorgesehen sind, sollte zunächst auf einem Abkommen zur Änderung oder Ergänzung des römischen Statuts beruhen, denn jeder staatlichen Initiative stehen die oben erwähnten Probleme der territorialen Zuständigkeit entgegen.66 Die strafbaren kollektiven Subjekte sollten sorgfältig selektioniert werden, da es häufig im Völkerstrafrecht zu einer Kooperation zwischen privaten, staatlichen und halbstaatlichen Körperschaften (Sicherheitsdiensten, paramilitärischen Gruppen, politischen Parteien usw.) kommt. In Bezug auf Konzerne und Lieferketten sollten spezifische Haftungskriterien festgelegt werden, damit die Verantwortlichkeit nicht auf peripheren Verzweigungen multinationaler Unternehmen beschränkt bleibt. Der wichtigste Punkt betrifft die Bestimmung von einem Zurechnungskriterium, das dem Grundgedanken des Organisationsverschuldens entspricht67 und die Implementierung von Compliance-Programmen mit sich bringt. Hier könnte die Interaktion mit dem Gebiet „business & human rights“ fruchtbar werden. Unternehmen sollten Organisationsmaßnahmen ergreifen, um das Risiko einer möglichen Beteiligung an internationalen Verbrechen zu verringern. Geht man davon aus, dass diese Verbrechen die schwerwiegendsten Formen von Menschenrechteverletzungen verkörpern, muss man zugeben, dass die internationalen Richtlinien über business & human rights, die zur Vermeidung bzw. Verringerung von Menschenrechteverletzungen konzipiert wurden, gleichzeitig dazu dienen, solche Verbrechen zu vermeiden bzw. zu verringern. Im Hinblick auf ihre präventive Funktion stellen damit die Richtlinien der VN und der OECD eine Grundlage für die Ausarbeitung unternehmeri-
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Vgl. Fronza/Malarino, in: Los Caminos (Fn. 38), S. 79 ff. Ein Überblick aus deutscher Sicht in Jahn/Schmitt-Leonardy/Schoop (Hrsg.), Das Unternehmensstrafrecht und seine Alternativen, 2016. In der italienischen Literatur De Simone, Persone giuridiche e responsabilità da reato, 2012. 66 Oben III. Kritisch zu nationalstaatlicher Initiative auch Meyer, SchwStr 2013, S. 72 – 73. 67 Vgl. Adam (Fn. 60), S. 225 ff. 65
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scher Sorgfaltsregeln im Rahmen des Völkerstrafrechts dar.68 Falls die Unternehmensstrafbarkeit aufgrund Organisationsverschuldens im römischen Statut eingeführt würde, würden die Unternehmen, welche die entsprechenden Organisationsmaßnahmen durchführen möchten, dazu veranlasst, sich auf die erwähnten Richtlinien zu stützen und die Sorgfaltspflicht auf dem Gebiet von Menschenrechten durch die in diesen Richtlinien erarbeiteten Methoden zu erfüllen. Diese Tätigkeit könnte mit der Zeit zu einem breiteren Konzept von völkerrechtlichen Compliance-Programmen führen, das dazu dienen müsste, völkerstrafrechtliche Risiken für Unternehmen und Verantwortungsbereiche innerhalb von Unternehmen und Konzernen einzugrenzen.
IV. Schlussbetrachtung Auf nationaler Ebene unterliegt der Schutz der Menschenrechte durch die Verantwortung von Unternehmen vielen Einschränkungen. Die transnationale Perspektive ist bis heute fragmentarisch und asymmetrisch, und selbst ein bindendes Übereinkommen würde den einzelnen Staaten den entscheidenden Schritt überlassen. Eine Ausweitung des Völkerstrafrechts würde hingegen eine Lücke schließen und vor allem eine fruchtbare Interaktion zwischen Sorgfaltspflicht auf dem Gebiet von Menschenrechten und unternehmerischen Compliance-Programmen ermöglichen. Damit wird deutlich, dass das Thema nicht von reinem Soft-Law beherrscht wird, und dass dieses sog. Soft-Law keine lediglich schwache „Alternative“69 zum Unternehmensstrafrecht darstellt, sondern ein mit diesem zu koordinierendem Instrument. Welchen Weg die internationale Gemeinschaft gehen wird, um den Schutz von Menschenrechten durch unternehmerische Verantwortung zu verstärken, ist noch nicht abzusehen. Jedenfalls stellen die Forschungen von Ulrich Sieber auch in diesem Bereich einen unverzichtbaren Bezugspunkt für die künftige Rolle des Unternehmensstrafrechts dar.
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Ähnliche Rekonstruktion wie hier – obschon in Bezug auf die parallele Frage der Verantwortlichkeit von Geschäftsherrn – von Wittig, in: Zivil- und strafrechtliche Unternehmensverantwortung (Fn. 6), S. 217 ff. 69 Adam (Fn. 60), S. 185.
Asset Laundering Through Cryptocurrency in Emerging and Informal Economies The Case of Peru By Víctor Roberto Prado Saldarriaga
I. Introduction Recently Facebook announced that in the first half of the year 2020 it wants to put into circulation in some countries a new cryptocurrency called “Libra”. In this respect, notably questions about its potential stability and support in fiat money have been highlighted. In addition, it has been said that, with Libra, multiple transactions can be carried out from cell phones through WhatsApp messages. Facebook’s announcement is, therefore, an important piece of news not only for its technological significance but also for its remarkable financial and social projection. However, the characteristics of this innovative virtual currency place at the center of the criminal policy debate the threat of a criminal use of Libra that questions its introduction within emerging economies marked by a large informal sector. We will conduct a criminological and legal evaluation of the impact of cryptocurrencies on the prevention and criminal repression of money laundering in the Peruvian reality.
II. Cryptocurrency: Criminogenic Capacity and Prevention There is no doubt that one of the most ingenious contributions of information technology to today’s economic and financial activity is the emergence and circulation of so-called social or private currencies. These include cryptocurrencies or virtual currencies configured through sophisticated cryptography that operate based on Blockchain technology, which makes them reliable and enables the anonymity of their bidders and users. Although they are not issued by official bodies or supported by states, they have achieved rapid insertion and acceptance in commercial traffic and beyond, both internationally and nationally.1 1 Molins-Salomé, Francisco, Criptodivisas, Las Nuevas Monedas: Ventajas e Inconvenientes, retrieved from: https://bit.ly/2MGCDe4.
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While there currently exists a variety of important cryptocurrencies, bitcoin continues to be the most widely recognized and used in financial or commercial transactions. This is due to its special characteristics that allow it to be assimilated or used as a true digital asset. Indeed, as has been pointed out, bitcoin represents “a store of value for those who use it for speculative purposes, and they have an exchange value, or market value, and therefore qualify as an asset as it represents a value to its owner. In addition, it is a digital asset that can be operated through any computer with access to the Internet (…) Consequently, from an economic perspective, bitcoin can be defined as a type of non-financial, digital asset, linked to a value transfer system that acts in a decentralized manner”.2 There are multiple advantages in the creation, issuance and use of cryptocurrencies in private transactions in the context of financial intermediation, trading in stocks or other economic activities. This highlights cryptocurrencies quality as a convenient means of payment which significantly boosts operations among its users, making them an efficient alternative to cash, with better portability and transferability, and no need for intermediaries.3 In addition, cryptocurrencies are marked by “being inalterable and reliable in their operation, so they can be used as a means of transfer and storage of value at lower costs than those of the traditional financial system.”4 However, beyond the above-described capabilities and advantageous features of cryptocurrencies, important warnings about their criminogenic potential have been expressed in recent years. Such warnings denounced the possibility of a sophisticated criminal employment of cryptocurrencies in fraud or money laundering.5 It has been shown that the different types of cryptocurrencies essentially share three characteristics that can be subject to criminal abuse: • The anonymity that cryptocurrencies provide to the transaction’s operators and to the final beneficiary. • The great difficulties encountered in the conventional tracking of operations carried out in the vastness of cyberspace. • The still insufficient regulation and the lack of standardization, at the local, regional and global level, of the issuance, circulation and state supervision of cryptocurrencies as well as of the constitution and operation of businesses providing for the exchange of virtual asset and related services.
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Gutiérrez, Omar/Moreno, Abraham, El Bitcoin: Consideraciones finacieras y legales sobre su naturaleza y propuesta de enfoque para su regulación, ESAN Ediciones, Lima 2018, p. 49 (translation by the author). 3 Arango, Carlos/Bernal-Ramírez, Joaquín/Barrera, María/Boada, Alberto, Criptoactivos, retrieved from: http://alturl.com/oh4ri. 4 Retrieved from: http://alturl.com/4qg56 (translation by the author). 5 Pérez-López, Xesús, Las Criptomonedas: Consideraciones Generales y Empleo de las Criptomonedas como Instrumento de Blanqueo de Capitales en la Unión Europea y en España, Revista de Derecho Penal y Criminología. vol. 18 (2018), p. 187.
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The Financial Action Task Force (FATF) has also added to these warnings by stating that “convertible virtual currencies that can be exchanged for real currency or other virtual currencies are potentially vulnerable to abuse of money laundering and terrorist financing for many reasons. First, they can allow greater anonymity than traditional methods of cashless payment. Virtual currency systems can be marketed on the internet, generally characterized by non-face-to-face customer relationships and can allow anonymous financing (cash financing or third-party financing) through virtual exchangers that do not correctly identify the source of financing. They can also allow anonymous transfers, if the sender and the recipient are not properly identified”.6
The FAFT is also concerned about the constant modification and decentralization of cryptocurrencies’ technological support, which hinders its timely detection by the competent authorities, while also allowing it to repeatedly expand its presence in cyberspace. In this regard, it pointed out that “this problem is exacerbated by the rapidly changing nature of decentralized virtual currency technology and business models, including changes in number and types, or the roles of participants that provide services in systems of virtual currency payment. And above all, the components of a virtual system can be located in jurisdictions that do not have adequate AML/CFT controls. Decentralized virtual currency systems could be complicit in money laundering and could deliberately seek jurisdictions with weak AML/CFT regimes. Decentralized convertible virtual currencies, which allow personto-person transactions anonymously, appear to exist in a digital universe totally out of reach in any particular country”.7
It has also been mentioned that the numerous possibilities for a cross-border and virtual circulation offered by cryptocurrencies contribute to broadening the range of typologies and modus operandi of asset launderers, complicating their detection and interdiction by administrative or crime control agencies. An example for this is that “one of the most interesting options for laundering and most disruptive in terms of prosecution (given its simplicity, its cost-effectiveness compared to other methods, and the technical difficulties associated with its tracing and avoidance) is the mere sending of the tokens to tax havens for their change in legal tender by local exchangers and their subsequent reintroduction to the international financial system”.8 Regarding the Latin American experience on the use of cryptocurrencies in criminal activities, it should be noted that finding to this effect are still preliminary. In fact, only in the last two years have seen attempts to identify some typologies related to crimes of money laundering and cyber fraud. These first findings, which show the 6
FAFT, Directrices para un Enfoque Basados en Riesgo: Monedas Virtuales, Paris 2015, p. 35. 7 FAFT, Directrices para un Enfoque Basados en Riesgo: Monedas Virtuales, Paris 2015, p. 35. 8 Pérez-López, Las Criptomonedas (note 4), pp. 152 – 155 (translation by the author).
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criminal application of bitcoins in the region, were disseminated in the framework of the Biennial Exercise (2017 – 2018) of Regional Typologies conducted by GAFILAT (Financial Action Task Force of Latin America) at the beginning of 2018. On that occasion two criminal modalities hitherto unknown were presented. One of them showed the use of cryptocurrencies in acts of money laundering (acts of conversion and transfer). The other demonstrated the suitability of such virtual currencies to structure complex financial fraud practices. We now summarize the main characteristics of both criminal modalities. In the first typology, operations of conversion and transfer of deposits generated by crimes of illicit drug trafficking were executed through the purchase and sale of bitcoins. The praxis used was as follows: “The natural person, registered with the financial institution as a seller, moves bulky resources in his checking account. The resources come from in-kind deposits from various locations, as well as transfers from diverse legal entities, particularly from the technology sector. Almost all of the resources received are immediately transferred to bitcoin exchange companies”.9
In the second typology, financial fraud was carried out in a pyramidal way, through the capture in cyberspace of virtual currency investors to whom high returns were offered. Perpetrators applied the following modus operandi: “The company, recently registered as the branch of an intermediation and service agency, moves resources incompatible with its financial capacity. Through the investigation it is established that the agency’s partners, being of about 20 years of age, would ultimately be gas station attendants and packagers. The partners of the intermediation company had created another company in the field of web hosting and other internet services that would ostensibly act as virtual currency exchangers. Both companies were located under the same address. According to the website of the intermediation company, it would manage an investment fund, seeking profits in virtual currency. The yields offered by the company would be as high as 30 % per month (more than 2,400 % per year), which was totally incompatible with market rates. Some investors who, in line with the consultancy contract, requested a payout of their investment failed to recover any assets”.10
The risks and criminal methods uncovered by the international experience in the use of cryptocurrencies have promoted the formulation and implementation of prevention and control policies, strategies and measures. In that process, some standards have been defined that guide the state programs and actions of supervision, control and cooperation against the criminal use of virtual currencies or assets. Basically, three basic strategies have been prioritized: (1) Maintaining financial integrity by safeguarding the financial sector from money laundering and terrorist financing through cryptocurrencies. 9 GAFILAT, Ejercicio Bienal de Tipologías Regionales: Casos y Tipologías Regionales 2017 – 2018, GAFILAT-UAFE, Quito 2018, pp.79 – 80 (translation by the author). 10 GAFILAT, Ejercicio Bienal de Tipologías Regionales (note 9), pp. 81 – 83.
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(2) Promoting efficient preventive measures in order to protect users of cryptocurrency. (3) Regulating tax and accounting registries for all types of cryptocurrencies, forcing providers and users to comply with obligations to register their transactions. However, it is worrying that in the design and application of those preventive strategies hitherto fail to address the technological particularities and especially the virtual nature of cryptocurrencies as well as the variety of criminal activities that currently involve cryptocurrencies. Strategies tend to promote or disseminate the configuration of models of regulatory or supervisory systems that are merely “analog” to those that already in place and applied internationally for the prevention, investigation or sanctioning of traditional fraud, money laundering or the financing of terrorism. Hence, recent agreement within the FATF is timely and welcome. Its Plenary approved an Interpretative Note of Recommendation 15 of its well-known 40 Recommendations. This provision is dedicated to New Technologies and has incorporated a large set of innovative objectives, policies and strategies, which should guide and help States to configure adequate regulations as well as suitable procedures for an effective control over transactions, and in particular those of a criminal nature, carried out through cryptocurrencies or “virtual assets”. Among the proposed actions, the implementation of monitoring instruments and registration requirements that should apply to those who operate as “Virtual Asset Service Providers” (VASP) is suggested. Likewise, it provides for the application of interstate cooperation measures against criminal activity that may occur in the process of the commercialization or the transfer of cryptocurrencies. To this is added a requirement for States to provide, under their domestic law, appropriate penal or administrative sanctions that are proportional to the relevance of the crimes and infractions committed in the context of carrying out illegal activities through cryptocurrencies.11 Among the FAFT’s provisions and recommendations, we consider it pertinent to transcribe the following: 1. Countries should consider virtual assets as “assets”, “products”, “funds”, “funds and other assets” or other assets of equivalent value. Countries should apply the relevant measures under the FAFT Recommendations to virtual assets and virtual asset service providers. 2. Countries must identify, evaluate and understand the risks of money laundering and terrorist financing that arise from virtual asset activities and the activities or operations of VASPs. Based on that assessment, countries should apply a riskbased approach to ensure that measures to prevent or mitigate money laundering and terrorist financing are proportional to the risks identified. Countries should 11 GAFILAT, Estándares Internacionales sobre la Lucha contra el Lavado de Activos, el Financiamiento del Terrorismo, y el Financiamiento de la Proliferación de Armas de Destrucción Masiva, FAFT 2018, pp. 77 – 79.
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require VASPs to identify, evaluate and take effective measures to mitigate their risks of money laundering and terrorist financing. 3. VASPs must be licensed or registered. At a minimum, VASPs must be required to be licensed or registered in the jurisdictions where they are created. In cases where the VASP is a natural person, they must be required to be authorized or registered in the jurisdiction where their place of business is located. Jurisdictions may also require that VASPs that offer products and/or services to customers in their jurisdiction or that perform operations from their jurisdiction be licensed or registered in this jurisdiction. The competent authorities must take the necessary legal or regulatory measures to prevent criminals or their associates from possessing, being final beneficiaries, or having a majority or significant participation, or occupying a management function in a VASP. Countries should take measures to identify natural or legal persons that carry out VASP activities without the necessary license or registration and apply appropriate sanctions. 4. Countries should ensure that VASPs are subject to appropriate AML/CFT regulation and supervision or monitoring and that they are effectively applying the relevant FAFT recommendations, in order to mitigate the risks of money laundering and terrorist financing that arise of virtual assets. 5. VASPs must be subject to effective monitoring and guarantee systems for compliance with national AML/CFT requirements. VASPs must be supervised or monitored by a competent authority (not by a self-regulated body -SRB), which must carry out a risk-based supervision or monitoring. Supervisors must have adequate powers to supervise or monitor and ensure compliance by VASPs with the requirements to combat money laundering and terrorist financing, including the authority to carry out inspections, force the production of information and impose sanctions. Supervisors should have the power to impose a series of disciplinary and financial sanctions, including the power to withdraw, restrict or suspend the license or registration of the VASP, when applicable. 6. Countries should ensure that there are a number of effective, proportionate and dissuasive sanctions, whether criminal, civil or administrative, available to deal with VASPs that do not meet AML/CFT requirements, in accordance with Recommendation 35. Sanctions should apply not only to VASPs, but also to their directors and senior managers. 7. Countries must provide quickly, constructively and effectively the widest possible range of international cooperation in relation to money laundering, predicate offenses and terrorist financing in relation to virtual assets, based on Recommendations 37 a 40. In particular, VASP supervisors should exchange information promptly and constructively with their foreign counterparts, regardless of the nature or status of supervisors and differences in nomenclature or status of VASPs.
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Consequently, it is now up to the States to promote the adoption and implementation in their internal legal systems of all those actions recommended by the FAFT. This will facilitate legislative harmonization and international judicial cooperation in criminal matters, thereby preventing impunity of any criminal methods that, through cyberspace, are carried out with the aim of laundering assets by using cryptocurrencies.
III. Cryptocurrencies and Asset Laundering in Peru 1. The Impact of Informality Emerging economy countries are defined as those that have achieved sustained economic growth despite maintaining their underdeveloped status.12 Among its main characteristics is the development of productivity concentrated in the primary and secondary economic sectors. In addition, having a favorable prognosis of continuous increase in its Gross Domestic Product, low inflation and a clear trend towards a constant reduction in unemployment and poverty rates. On a political level, these countries have achieved stability and democratic strength, expressed in governance practices that affirm the rule of law and the administration of justice.13 Main challenges are the goals of increasing productivity, reactivating domestic demand, promoting greater openness towards foreign trade, boosting competition from local markets and ultimately improving the quality of life of the population.14 Peru acquired that status in the last 20 years. It is currently considered as a regional exponent of a solid and promising economy.15 The figures show that in the last decade the Peruvian economy experienced a steady growth, although with a marked downward trend of its gross domestic product with an average of 3 % per year. Its inflation rate has remained low and around 2.4 %, while its accumulated reserves are around 65 billion dollars.16 To all this is added the fact that 7 out of 10 Peruvians belong to the middle class and that the unemployment rate has been reduced to 6.5 %.17 However, some analysts indicate that poverty reduction will be increasingly slow in the next years.18 Informality is understood as a notable lack of regulation regarding certain economic activities, and of the companies and employees active therein, that operate out12
Sharma, Ruchir, Países Emergentes: En busca del Milagro, Ediciones Generales, Madrid 2013, p. 18. 13 Idem, p. 12. 14 Gil, Carlos, El subdesarrollo, in: Bilbao, Javier/Carlos Longás, Juan (eds.), Ternas de economía mundial, Delta Publicaciones, Bilbao 2009, p. 96. 15 Morón, Eduardo, Los Desafíos del Perú, Universidad del Pacífico, Lima 2013, p. 28. 16 Idem, pp. 51 and 52. 17 Idem, p. 108. 18 Alegría, Luis, Unidad de Análisis Económico del diario El Comercio: Perspectivas Regionales para los Próximos Tres Años, 29 September 2019, p. 21.
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side a legal framework.19 This phenomenon has been explained from different approaches. The most widely-recognized highlights the high costs that an adaptation to the regulatory framework would imply for entrepreneurs and investors, and which would not be compensated by gains expected from the respective activity.20 However, the negative effects from informality are numerous. Not only are informal sectors placed outside the legal regulation and the corresponding tax burdens, but they do at the same time exclude themselves from access to essential social services provided by the State.21 Similarly, informality creates vulnerability and a high risk of exposure to extortion, bribery and money laundering practices.22 Unfortunately, a notorious paradox of the emerging Peruvian economy is that it supports a very high rate of informality. Thus, various sources argue that 60 % of the production in Peru is done informally and that 65 % of companies are informal in both their structure and operations. Likewise, seven out of ten Peruvians currently work informally, and 40 % of the active labor force in the country is self-employed in informal microenterprises. These allow us to estimate that more than 10 million Peruvians currently work without labor benefits or social protection. There are also other relevant indicators such as those that show that the informal economy contributes between 30 and 35 % to the Gross Domestic Product. Given the presence and negative effects of the informal sector in the emerging Peruvian economy, experts demand that the State formulates and implements public policies that efficiently respond to the main causes of said problem, namely bureaucratic obstacles, high tax rates and excessive labor costs23. The etiological connections between an emerging economy, informality and money laundering are quite visible in the recent experience of different Latin American countries. The opportunities for expanding and diversifying money laundering in emerging informal economies are multiplied by the tainted nature acquired, as a result of money laundering, by productive, financial and commercial activities. Criminal organizations dedicated to money laundering have managed to adapt and implement procedures and circuits for the surreptitious insertion and circulation of illicit capital, which are more easily mixed and merged with assets that are of legal origin but products of the informal economy. Therefore, analysts always place informality as the most important component among the five risk factors which contribute to the presence and growth of money laundering in those countries that confront this kind of economic reality. Those negative conditions are: (1) the weakness of the banking system; (2) the existence of an underdeveloped financial system; 19
Greco, Orlando, Diccionario Preciso de Economía, Valleta Ediciones, Buenos Aires, 2013, p. 97. 20 Portes, Alejandro/Haller, William, La Economía Informal, CEPAL, Santiago 2004, p. 9. 21 Cimoli, Mario/Primi, Annalisa/Pugno, Maurizio, Un modelo de bajo crecimiento: la Informalidad, Revista CEPAL, vol. 88 (2006), p. 89. 22 Portes et al., La Economía Informal (note 20), p. 15. 23 Morón, Los Desafíos del Perú (note 15) p. 85.
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(3) an extensive underground or informal economy; (4) the weakness of government institutions; (5) inefficient business management. To the aforementioned risk factors one could add the deregulated circulation of cryptocurrencies. Moreover, informality in emerging economies, together with the potential increase in asset laundering operations, fosters the emergence and consolidation of other negative political or psychosocial effects, like the development and influence of parallel powers; the spread within certain social groups of disturbing images about the advantages and impunity of organized crime; the distortion of the main economic indicators, which can increase the danger of a financial crisis.24 In response to the emerging and informal economic reality of Peru, there is no doubt that the more widespread use of cryptocurrencies poses a significant threat in that it increases money laundering operations in the country. This however seems to be of no concern to official bodies, as demonstrated by the objectives set out in the National Plan against Money Laundering and Terrorism Financing 2018 – 2021.25
2. Methods of Money Laundering Using Cryptocurrencies Criminological and criminalistic information about money laundering operations involving cryptocurrencies in Peru is still scarce, dispersed and access to it restricted. Perhaps due to these limitations, official statistics do not include specific data on the methods used to carry out such criminal acts. There is only the possibility of inferring that this kind of criminal modalities are to be found in the quantitative information that is recorded under generic indicators such as “unidentified” or “other” by the Financial Intelligence Unit of Peru (FIU-Peru) in its accumulated statistical reports between January 2010 and September 2019. Based on this residual evaluation methodology, one could assume that the economic impact of asset laundering operations through cryptocurrencies in the twelve-month period between October 2018 and September 2019 amounted to up to 18 million dollars. We have been able to obtain some complementary data from the FIU-Peru that contains details about suspicious transactions in the period between January 2016 and October 2019 that involved cryptocurrencies.26 This information allows us to outline some qualitative and quantitative characteristics about the presence of money laundering operations that applied said modus operandi. It should be noted that in 24 Altvater, Elmar/Mahnkopf, Birgit, La Globalización de la Inseguridad. Trabajo en Negro, Dinero Sucio y Política Informal, Paidos, Buenos Aires 2008, p. 222. 25 CONTRALAFT, Política y Plan Nacional contra el Lavado de Activos y el Financiamiento del Terrorismo, Editado por la Superintendencia de Banca, Seguros y Administradoras privadas de Pensiones, Lima 2018, pp. 61 – 92. 26 Information provided by official letter No. 41224 – 2019-SBS of 25 October 2019.
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the period analyzed, while a total of 183 relevant suspicious transactions were reported, the largest number of reports were filed between January and December 2018 with 56 cases and between January and October 2019 with 107 cases. This means that the annual number of reports involving cryptocurrencies grew at a rate of almost 100 %, which indicates a tendency towards a greater criminal use of cryptocurrencies in laundering activities. Regarding the methods used in reported suspicious transactions, one must note the predominance of conventional modalities such as the use of false identities or front companies. Also relevant are findings regarding the involvement of informal financial intermediaries. This corresponds to our hypothesis that the informal economy provides for greater opportunities for asset laundering, as evidenced by the fact that the highest numbers of suspicious transactions were carried out through unknown or unidentified methods. Furthermore, as regards suspicious transactions that involved cryptocurrencies, a clear majority did not allow for the identification of a particular economic activity, the latter’s type remaining “unreported”. This would indicate that those transactions were in most cases potentially related to informal economic activity (Table 1). Table 1 Reported Economic Activities that Used Cryptocurrencies, 2016 – October 2019 (Source: FIU-Peru) Economic Activities
N88 Suspicious Transaction Reports
Agriculture
1
Retail trade
1
Foreign exchange trading
1
IT
1
Financial intermediation Unidentified
2 12
Other services
15
(Unreported)
150
TOTAL
183
Given the challenges posed by the detection and disruption of acts of money laundering carried out through cryptocurrencies, it is not surprising that of the 183 transactions reported in total, most originated from those obliged entities that are particularly well equipped both as regards the information at their disposal and their technological capabilities, namely banks (76 cases) and payment service providers (91 cases). At the same time, these numbers provide indicators for effectiveness in the monitoring and control of operations involving cryptocurrencies (Table 2).
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Table 2 Obliged Entities that Reported Suspicious Transactions with Cryptocurrencies, 2016 – October 2019 (Source: FIU-Peru) Type of Obliged Entity
N88 Suspicious Transaction Reports
Banks
76
Municipal savings and credit funds
1
Foreign exchange trading
9
Credit and saving unions Payment service providers
1 91
Companies issuing credit and/or debit cards
1
Companies that provide online and other digital transactions
4
TOTAL
183
Regarding personal characteristics of individuals involved, as sender or otherwise as participant, in the suspicious use of virtual currencies, the following findings are worth highlighting: (1) primarily male individuals (137 men compared to 63 women); (2) the highest incidence corresponds to the age group between 26 and 35 years (70 individuals reported), followed by 57 individuals aged between 18 and 15 years; (3) the most often-cited occupation being “independent activity”. However, out of 200 individuals, the economic activity or specific occupation was not specified for 98 individuals. Again, this figure confirms that cryptocurrency asset laundering practices are primarily found in the informal sector. Finally, as regards the involvement of legal persons in transactions suspected of laundering assets through cryptocurrencies, it is interesting that in almost three years only 21 legal persons have been recorded as being involved in such activities. This can be interpreted in two ways. First as a sign for the limitations encountered by the competent control bodies in ensuring effective supervision of obliged entities’ compliance with their due diligence or reporting obligations. Second, as another manifestation of the dominance of informal businesses in the country’s economy. On the economic activity carried out by reported legal entities, the most frequent cases related to stock market activities (5 cases) and to shoe stores (4 cases). However, the most significant finding in this respect is that only a single reported transaction concerned a legal entity whose economic activity was dedicated exclusively to the “sale of bitcoins” (Table 3).
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Víctor Roberto Prado Saldarriaga Table 3 Legal Persons Reported by Economic Activity, 2016 – October 2019 (Source: FIU-Peru) Economic Activity
N88
Stock Market Activities
5
Shoe stores
4
Other types of monetary intermediation
3
Other service activities
3
Bitcoin trading
1
Retail sale of other specialized storage products
1
Business consulting
1
Other types of retail
1
Software creation
1
Other business support services activities TOTAL
1 21
IV. The Current Preventive and Criminal Law Framework Cryptocurrencies did not generate a debate or trigger a special inquiry during the process of reformulating the national policies and strategies against money laundering in the period between 2016 and 2018. Indeed, the official documents resulting from this process did barely mention this new criminal method. Neither the National Assessment of Money Laundering and Terrorist Financing Risks27 nor the National Policy Guidelines against Money Laundering and Terrorism Financing approved by Supreme Decree No. 018 – 2017-JUS28 contained paragraphs related to the criminal use of cryptocurrencies. In a similar vein, GAFILAT’s Mutual Evaluation Report on Peru did not include observations or recommendations regarding possible preventive or repressive measures that the Peruvian State should adopt to mitigate the risks and threats posed by cryptocurrencies. This last omission deserves particular attention, given that the FATF had already in 2015 highlighted that “VA payment products and services (Virtual Currencies) present risks of money laundering and terrorist financing (ML/TF) and other crime risks that must be identified and mitigated”.29 The use of cryptocurrencies in Peru’s current emerging and informal economy has acquired special importance in recent years. Various specialized media outlets reg27 SBS, Evaluación Nacional de Riesgos de Lavado de Activos y Financiamiento del Terrorismo, Lima 2016, pp. 9 – 10. 28 CONTRALAFT, Ejercicio Bienal de Tipologías Regionales: Casos y Tipologías Regionales 2017 – 2018 (note 9). 29 FAFT, Directrices para un Enfoque Basado en Riesgo: Monedas Virtuales, Paris 2015, p. 3 (translation by the autor).
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ularly reported on the advantages and risks of cryptocurrencies.30 Some national cryptocurrencies such as PeruCoin, created by Bits Company, are already circulating in the cyberspace. Likewise, electronic wallets have been configured. More recently, it has been argued that the introduction of BITPoint constitutes a significant step towards Peru soon becoming a reference country for transactions with cryptocurrencies in Latin America.31 It was therefore pertinent that the Peruvian legislator, in collaboration with relevant national organizations, initiated a process of designing a dedicated regulatory framework which would implement control standards compatible with the current characteristics of money laundering through cryptocurrencies. Decisions and efforts in this regard became a priority since the Central Reserve Bank of Peru had already repeatedly issued warnings about the economic impact and risks of the illicit use of virtual currencies. The Bank had notified the national community that “the so-called cryptocurrencies are unregulated financial assets, which do not have the status of legal tender nor are they backed by central banks. Likewise, they do not fully fulfill the functions of money as a medium of exchange, unit of account and reserve of value. Several international authorities have been expressing concern about the risks and speculative factors that explain the high volatility of cryptocurrency prices, which affects those who acquire them. Therefore, it is important to note that people who invest in virtual currencies or cryptocurrencies are aware of risks such as the loss of the value of their investment (due to the high rate of volatility in their price and the possibilities of fraud), as well as their possible use in illegal activities”32
Despite these expectations and the social risks involved, proposals for regulation and preventive supervision have so far not been formally adopted. However, some interesting private and academic initiatives were proposed to overcome this regulatory gap. The alternative proposal of Gutiérrez and Moreno sticks out. It stresses the need to create a dedicated regulatory framework that is adapted to both the characteristics and the opportunities offered by cryptocurrencies in an economic and financial environment such as the Peruvian. They proposed the following: “Since the use of bitcoin as a medium of exchange can compromise the performance of regulated financial services, thus a key precondition of economic and social development, and therefore particularly affects the interests of the public, it is most advisable to opt for a legal framework that addresses this new industry. Historical experience strongly militates against deregulation, since the latter option has usually created environments conducive to abusive business practices to the detriment of users whose protection is one of the purposes of the proper functioning of the financial market”.33
30
E. g. https://bit.ly/2QvQ1D2; https://bit.ly/36niWQ4. Retrieved from: https://bit.ly/37hxFMC. 32 BCR, Riesgos de las Criptomonedas, Retrieved from https://bit.ly/2F3oiUK (translation by the author). 33 Gutierrez & Moreno, El Bitcoin (note 2) p. 89 (translation by the author). 31
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In addition, both authors have formulated some important caveats, which the national legislator must keep in mind when formulating regulation. For example, they demand the need to govern the regulatory process on the basis of the guiding principles of the financial market, such as efficiency, stability and transparency. Likewise, they recommend that the competent regulatory body “must recognize that often it will not be possible to enforce compliance with the rules in line with the principles of financial market law; it is therefore reasonable to resort to incentives such as taxation or mitigating factors in criminal offenses, among others, which must have as a primary objective to provide a minimum protection to the financial market while at the same time ensuring that this industry remains part of the Peruvian economy”.34
Regarding the prevention of the use of cryptocurrencies as a means of money laundering, Lamas-Suárez expressed concern about a regulatory vacuum: “In the case of Peru, to date there is no regulation in the field of anti-money laundering regulations regarding the prevention of money laundering and financing of terrorism in relation to the illegal use of cryptocurrencies”. Likewise, he notes that regulations applicable to companies and individuals involved in currency exchange operations do not entail “any reference to cryptocurrencies or virtual currencies”.35 Other analysts have emphasized the technical and operational limitations of competent authorities. In this respect, it has been stressed that “the outlook for the public sector is particularly worrying: is our Financial Intelligence Unit (FIU) trained to deal with blockchain technology in order to identify the beneficiary of a reported transaction? If the case arises, are our judges trained to understand the intricate network of transactions through which the crime has been committed? There are numerous questions to be resolved.”36
Therefore, one must demand that the FIU-Peru and the Superintendence of Banking, Insurance and Private Pension Administrators should as soon as possible issue, within the specific scope of their supervisory powers, resolutions or guidance to regulate the admission and operation of cryptocurrencies as well as compliance programs, supervision mechanism and sanctions applicable to their providers and users. Moreover, the providers of cryptocurrency services must be designated as obliged entities, and they should, within their business activity, thus be under an obligation to detect and report suspicious operation or transactions to the FIU-Peru. Moreover, the rules and recommendations formulated by the FAFT in the interpretative note to its Recommendation 15 should be considered as a basic framework. To this end, VASP should be subject to an “occasional transaction threshold” of the
34
Gutierrez & Moreno El Bitcoin (note 2) p. 92 (translation by the author). Lamas-Suarez, Luis, Cibercrimen,la criptomoneda y el lavado de activos Jurídica N8 710, Diario Oficial El peruano. 16 de octubre de 2018, p. 3 (translation by the autor). 36 Aguedo, Beatriz, Apuntes Introductorios Sobre el Riesgo de Lavado de Activos y Financiamiento del Terrorismo en las transacciones con Criptomonedas, retrieved from https:// bit.ly/2u5G6fP (translation by the author). 35
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equivalent of 1000 US dollars or 1000 euros, and that, above this threshold, the transaction must be reported. Apart from the aforementioned, in order to ensure an adequate and timely prevention of money laundering through cryptocurrencies, we must also have regard to their impact on our economic environment. The criminological data indicates that such criminal conduct can already be observed, although still discreetly, in the national commercial and financial sphere. However, one must also recognize that the still rather low numbers of money laundering through virtual currencies so far detected in Peru may also indicate the presence of a substantial dark figure, so far hidden within the wide spaces of the informal economy that are characteristic for the country. Hence, it is equally important and relevant for this analysis to assess the capacity of the Peruvian criminal law to repress acts of money laundering through cryptocurrencies. One must thus examine whether existing crimes are sufficiently flexible to adapt to the criminal methods using virtual currencies. It should be noted that Legislative Decree 1106 contains three offences that criminalize money laundering and two auxiliary offences: • the conversion and transfer of assets of illegal origin (Article 1); • the concealment and possession of assets of illegal origin (Article 2); • the transfer, entry or exit of cash or other bearer negotiable instruments of illegal origin (Article 3); • auxiliary offences regarding the violation of the obligation to report suspicious transactions and regarding the withholding, delay or falsification of information (Articles 5 and 6, respectively).37 Starting from the statutory definition of all those offences, it is evident that they were not designed to include cryptocurrencies or virtual assets. This is explained by the fact that the original text of Legislative Decree 1106 dates from 2012, when the issue of criminal use of cryptocurrencies was still unknown. Subsequent reforms to these offences were introduced between 2016 and 2017, thus at a time when there was, at the international level, already evidence that cryptocurrencies could be used to commit money laundering, which became increasingly recognized as “virtual assets”. In spite of this new situation, the aforementioned modifications of Legislative Decree 1106 did not, expressly or implicitly, affect the criminal law’s treatment of asset laundering through cryptocurrencies. Taking into account these antecedents and current characteristics of the Peruvian criminal laws on money laundering, there is a great need to address at least two dogmatic problems. The first is a strictly hermeneutical problem and concerns the question whether cryptocurrencies can constitute an “asset” that should be considered as the object 37 Prado-Saldarriaga, Víctor, Lavado de Activos y Organizaciones Criminales en el Perú: Nuevas Políticas, Estrategias y Marco Legal, IDEMSA, Lima 2019, pp. 86 – 124 and 211 – 245.
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of the offenses established in articles 1, 2 and 3 of Legislative Decree 1106. The second problem is a fundamentally practical problem, since it poses the question whether these offences are flexible enough to cover the different methods that, in the Peruvian context, are starting to appear as frequent forms of money laundering through virtual currencies. With regard to the first problem there is no doubt that we are dealing with what experts have labelled “crypto assets” or “virtual assets”. That is, cryptocurrencies constitute an innovative, though intangible form of value. This progressive and functional reading of the nature of cryptocurrencies leads them to be a possible object of the money laundering offenses. Any formalistic understanding that proposes one to ignore this quality should therefore be rejected as anachronistic. Consequently, for the current Peruvian criminal legislation, cryptocurrencies are virtual assets as recognized and provided by the FAFT: “For the purposes of applying the FATF Recommendations, countries should consider virtual assets as ‘property’, ‘proceeds’, ‘funds’, ‘funds or other assets’ or other ‘corresponding value’. Countries should apply the relevant measures under the FATF Recommendations to virtual assets and virtual asset service providers.”38
Thus, acts that involve the conversion, transfer, acquisition, concealment or possession of virtual assets of illegal origin can constitute a crime and penalized as money laundering. This reading of virtual assets is in line with the broad notion of the object of the offences contained in articles 1 and 2 of Legislative Decree 1106, which extend to all kinds of “goods, effects or profits” of illegal origin. The main international instruments applicable to Peru with regard to the criminalization of money laundering are also extremely flexible in stating that “property shall mean assets of every kind, whether corporeal or incorporeal, movable or immovable, tangible or intangible, and legal documents or instruments evidencing title to, or interest in, such assets”;39 Regarding the second problem, there are in principle also no major difficulties for the application of the offences to the most the frequent methods of money laundering through cryptocurrencies that a currently known. Indeed, all transactions that involve an acquisition, transfer, or exchange of cryptocurrencies of illicit origin, whether they that take place in or through cyberspace or otherwise produce any kind of impact in the real world, will typically amount to the crimes of conversion, transfer, concealment or possession described in articles 1 and 2 of Legislative Decree 1106. This results from a functional interpretation of said modi operandi and their ultimate purpose to carry out money laundering, which, apart from their cyber-related particularities, are only normative variations of the different stages of the money laundering process, namely placement, layering and integration. A hermeneutic reading of 38
GAFILAT, Ejercicio Bienal de Tipologías Regionales (note 9), p. 77. Article 2d of the United Nations Convention against Transnational Organized Crime; Article 1 of the American Regulations on Money Laundering Crimes Related to the Illicit Traffic in Drugs and Other Serious Crimes. 39
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those characteristics does accommodate the virtual criminal conduct with the requirements of the principle of legality and is necessary for ensuring effective crime control in the area of cryptocurrencies. One should recall that “these assets can be stored on any computing device and transferred over the Internet globally in a very short period of time, either in completely decentralized ways (that is from person to person) or with the help of specialized intermediaries that offer a wide range of services, including exchange houses, value storage providers, the issuing and trading of financial derivatives”.40 The possibility of applying existing offences to cryptocurrencies is however not possible with regard to the offences of money laundering provided by article 3 of Legislative Decree 1106. As this provision refers to the transport, transfer, entry into or exit from the national territory of cash or bearer negotiable instruments, it expressly and unequivocally limits the characteristics of the object of the crime to goods or assets of a necessarily physical or material nature. This type of money laundering cannot, therefore, be applied to cryptocurrencies. Consequently, any attempt to interpret the offence in another way will result in a negative analogy contrary to the principle of legality. Cryptocurrencies have neither the physical character of the fiat money nor do they enjoy the recognition and official support of bearer negotiable instruments. Consequently, the transport, transfer, entry into or exit from the national territory of any computer or other digital support of cryptocurrencies of illegal origin still constitutes an atypical and criminally irrelevant conduct. For this reason, it is necessary to call, de lege ferenda, for an urgent reform of article 3 in order for it to also cover cryptocurrencies. To achieve this, it would be enough to add the phrase “or virtual assets” to the current wording of article 3. It should however be noted that, insofar as the wording of the laws allows for it, the aforementioned impunity currently enjoyed by those who transport virtual assets of illegal origin through the national territory can, on the basis of current regulations, possibly already be overcome insofar as these assets are used for the purpose of acts criminalized in articles 1 and 2 of Legislative Decree 1106. Finally, as regards the auxiliary crimes provided for in articles 5 and 6, we do therein not find any limitation with regard to cases related to the use of cryptocurrencies. In order for these offences to be applicable, it is however necessary that virtual asset service providers be designated as obliged entities and thus subjected to the respective obligations (Article 3 of Law 29038). To finish, one can therefore point out that, under current Peruvian criminal law, the commission of money laundering through the use of cryptocurrencies ca already be punished. However, it is still necessary to promote and disseminate a progressive interpretation that is compatible with the standards established by international instruments on the subject. Likewise, some modifications must also be applied to the articles of Legislative Decree 1106. 40
Arango et al., retrieved from: http://alturl.com/oh4ri.
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V. Conclusion The presence of a large informal sector within the emerging Peruvian economy brings with it severe risks of commercial or para-financial activities being increasingly used for carrying out various type of asset laundering. This problem has acquired special significance over the last three years due to the emergence of suspicious transactions carried out through cryptocurrencies. However, the limited information so far available on this innovative criminal modus operandi does not yet allow us to measure the real scale of this phenomenon. Due to its rather limited visibility, this new problem has not been addressed in the recent strategic planning of the national anti-money laundering policy for the period 2018 – 2021. One must therefore urgently call for a set of measures that will allow the competent authorities to equip them with the training an operational needs necessary for investigating money laundering through cryptocurrencies. At the legislative level, it should be a priority to bring Peruvian preventive and criminal norms in line with the international recommendations and standards established by the FAFT. In doing so, it should be taken into account that the creation and circulation of cryptocurrencies can constitute an important technological and financial advance, despite the fact that the also offer new and profitable opportunities for organized crime and money laundering. Peru must have a clear strategic vision for how to address what represents a complex challenge for the stability and transparency of its emerging informal economic. Currently, this task is still pending, but it must not be postponed any longer.
Die Verbandsschuld – Pièce de résistance für ein Verbandsstrafrecht Von Wolfgang Wohlers
I. Die Verbandsschuld als notwendige Voraussetzung für die Einführung der Strafbarkeit von Verbänden Die Diskussion über die Einführung eines Verbandsstrafrechts verläuft in Wellen,1 die in der jüngeren Vergangenheit durch eine in immer kürzeren Abständen aufeinander folgende Kaskade von Entwürfen geprägt wurde. Auf einen aus dem Jahre 1998 stammenden und auf einen später wieder zurückgezogenen Antrag des Bundeslandes Hessen zurückgehenden Entschließungsantrag des Bundesrates2, folgte 2013 der „Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen und sonstigen Verbänden“ des nordrhein-westfälischen Justizministeriums, der zwar einigen akademischen Wirbel erzeugt,3 es dann aber nicht in ein Gesetzgebungsverfahren geschafft hat.4 Und auf den im Jahre 2018 vorgestellten, auf das Reizwort der Strafe verzichtenden, in der Sache aber weitgehend dem Entwurf NRW entsprechenden Kölner Entwurf eines Verbandssanktionengesetzes5 ist nun im Sommer 2019 der im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz erarbeitete „Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung der Unternehmenskriminalität“6 gefolgt, mit dem das Vorhaben nun tatsächlich in einen realen Gesetzgebungsprozess münden könnte.
1 Vgl. hierzu die – wie immer – pointierte Darstellung von Schünemann, StraFo 2018, 317 ff. 2 Vgl. den Antrag des Landes Hessen betreffend Entschließung des Bundesrates zur Einführung strafrechtlicher Verantwortlichkeit für juristische Personen und Personenvereinigungen vom 17. 7. 1998, BR-Drucks. 690/98. 3 Vgl. hierzu Wagner, ZGR 2016, 112 (117 ff.); Wohlers, ZGR 2016, 364 (375 ff.); w.N. bei Wohlers, NZWiSt 2018, 412 Fn. 8. 4 Wohlers, NZWiSt 2018, 412. 5 Vgl. hierzu Schünemann, StraFo 2018, 317, 321 ff.; Wagner, NZWiSt 2018, 399 ff.; Wohlers, NZWiSt 2018, 412 ff. 6 Abrufbar unter: https://www.steuerberater-center.de/media/VerSanG_RefE.pdf (besucht am 9. 12. 2019).
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Mit dem Einschwenken auf den weltweit vorherrschenden kriminalpolitischen Megatrend zur Einführung der Strafbarkeit von Unternehmen7 würde die merkwürdige Situation ein Ende haben, die darin besteht, dass man in Deutschland einerseits behauptet, ein Unternehmensstrafrecht nicht zu haben, man aber andererseits über die Unternehmensgeldbuße (§ 30 OWiG) genau die Effekte erzielt bzw. zu erzielen sucht, die in anderen Ländern über die Unternehmens(geld)strafe erreicht werden sollen.8 Dass sich der Gesetzgeber für oder gegen die (kriminal-)strafrechtliche Verantwortlichkeit von Verbänden entscheidet, wäre allein schon deshalb zu begrüßen, weil damit die vorgebliche Lösung des Problems durch das Abschieben in das – angeblich anderen Grundsätzen verpflichtete – Ordnungswidrigkeitenrecht ein Ende hätte.9 Die grundlegende Bedeutung, die der Diskussion um die Strafbarkeit von Verbänden zukommt, resultiert daraus, dass mit ihr, worauf Klaus Tiedemann bereits 1985 hingewiesen hat, die in Kontinentaleuropa über längere Zeit hinweg als eine unhinterfragte Selbstverständlichkeit angesehene anthropozentrische Ausrichtung des Strafrechts zur Diskussion gestellt wird.10 Dies wirft gewichtige Grundsatzfragen auf, die zwar in der zunehmend pragmatisch ausgerichteten Diskussion um die Einführung des Unternehmensstrafrechts entweder geflissentlich ignoriert oder aber für unbeachtlich erklärt werden,11 die aber dadurch nicht verschwinden und die z. B. auch dann eine Rolle spielen werden, wenn es irgendwann in der Zukunft einmal darum gehen wird, ob und, wenn ja, unter welchen Voraussetzungen man Roboter und/oder Intelligente Agenten strafrechtlich zur Verantwortung ziehen kann.12 7 Zur Entwicklung bis zum Ende der 80er Jahre vgl. Tiedemann, NJW 1988, 1169 ff.; für spätere Zeiträume vgl. Engelhart, NZWiSt 2015, 201 ff.; Kelker, in: Amelung et al. (Hrsg.), Krey-FS, 2010, S. 237 ff.; Heine, ZStrR 119 (2001), 22 (34); Kirch-Heim, Sanktionen gegen Unternehmen, 2007, S. 128 ff.; Zieschang, GA 2014, 91 (96 f.); zu den Gründen, die aus kriminalpolitischer Sicht für die Einführung sprechen, vgl. Dannecker, GA 2001, 101, 102 ff.; ders., in: Schöch et al. (Hrsg.), Böttcher-FS, 2007, S. 483 f.; Ehrhardt, Unternehmensdelinquenz und Unternehmensstrafe, 1994, S. 159 ff.; Heine, ÖJZ 1996, 211 (212 f.); ders., in: Amelung (Hrsg.), Individuelle Verantwortung und Beteiligungsverhältnisse bei Straftaten in bürokratischen Organisationen des Staates, der Wirtschaft und der Gesellschaft, 2000, S. 91 ff., 100 f.; ders., ZStrR 119 (2001), 22 (24 ff.); Jäger, in: Schulz et al. (Hrsg.), Imme Roxin-FS, 2012, S. 48; Kirch-Heim, a.a.O., S. 37 ff.; Mittelsdorf, Unternehmensstrafrecht im Kontext, 2007, S. 9 ff.; Ringelmann, in: Gropp et al. (Hrsg.), Heine-GS, 2016, S. 296 ff.; Roth, ZStrR 115 (1997), 345 (350 ff.); Wohlers, SJZ 2000, 381 (382 f.); LK/Schünemann, 12. Aufl., Vor § 25 Rn. 21; relativierend zu den insoweit im Vordergrund der Diskussion stehenden Topoi der organisierten Unverantwortlichkeit und der kriminellen Verbandsattitüde: SchmittLeonardy, ZIS 2015, 11 (13 ff.). 8 Vgl. Wohlers, in: Hess et al. (Hrsg.), Unternehmen im globalen Umfeld, 2017, S. 269 ff. 9 Vgl. insoweit auch LK/Schünemann, 12. Aufl., Vor § 25 Rn. 20, der die Lösung über das Ordnungswidrigkeitenrecht als „Etikettenschwindel“ einstuft. 10 Vgl. Tiedemann, in: Vogler et al. (Hrsg.), Jescheck-FS, 1985, S. 1418. 11 Dezidiert z. B. in der Begründung des Kölner Entwurfs; vgl. hierzu kritisch Wohlers, NZWiSt 2018, 412 (413 f.). 12 Zur diesbezüglichen Diskussion vgl. Gless/Weigend, ZStW 126 (2014), 561 (574 f.); Gless, GA 2017, 324; Wohlers, in: Bung (Hrsg.), FS Merkel, 2020, S. 423 ff.
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Ulrich Sieber hat wichtige gesellschaftliche Trends – wie z. B. die Europäisierung des Strafrechts13 und die Bedeutung der Digitalisierung der Gesellschaft14 – stets früh erkannt und aufgegriffen. Auch in seiner Funktion als Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht hat er immer Wert daraufgelegt, die Auseinandersetzung mit dringenden gesellschaftlichen Entwicklungen und den hieraus resultierenden bzw. einhergehenden Entwicklungen im Straf- und Strafprozessrecht nicht nur zu begleiten, sondern von der Spitze aus mitzugestalten. Dass der Jubilar vor diesem Hintergrund auch ein Interesse an der Thematik der Sanktionierung von Unternehmen hat,15 ist vor diesem Hintergrund nicht überraschend und dürfte sich zusätzlich auch daraus herleiten, dass sein akademischer Lehrer, Tiedemann, seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts immer wieder dezidiert für die Einführung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen Stellung bezogen hat16 und sich mit Joachim Vogel ein anderer profilierter Schüler Tiedemanns prononciert für die Einführung der Unternehmensstrafe eingesetzt hat.17 Von den aus rechtsdogmatischer Sicht argumentierenden Kritikern einer Einführung eines Unternehmensstrafrechts wird seit Jahrzehnten immer wieder vorgebracht, dass die Strafbarkeit von Verbänden daran scheitern müsse, dass diese nicht handlungs-, nicht schuld- und nicht straffähig seien.18 Der Einwand der mangelnden Handlungsfähigkeit kann nach hier vertretener Auffassung nicht wirklich überzeugen19 und die Frage der Straffähigkeit hängt davon ab, welche (Straf-)Zwecke man mit welchen Sanktionen zu erreichen sucht.20 Als der wirklich zentrale rechtsdogmatische Einwand erweist sich damit die Vereinbarkeit des Unternehmensstrafrecht mit dem Schuldgrundsatz,21 der nach allgemeiner Meinung für das Straf13
Vgl. nur Sieber, Europäische Einigung und Europäisches Strafrecht, ZStW 103 (1991), 957 ff. 14 Vgl. nur Sieber, Computerkriminalität und Strafrecht, 2. Aufl. 1980. 15 Vgl. hierzu nur Hess/Hopt/Sieber/Starck (Hrsg.), Unternehmen im globalen Umfeld. Aufsicht, Unternehmensstrafrecht, Organhaftung und Schiedsgerichtsbarkeit in Ostasien und Deutschland, Fünftes Internationales Symposium der Fritz Thyssen Stiftung in Köln, Köln 2017. 16 Vgl. insbesondere Tiedemann, NJW 1988, 1169. 17 Vgl. insbesondere Vogel, StV 2012, 427 ff. = Vogel, in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Unternehmensstrafrecht, 2012, S. 205 ff.; kritisch zu dem dort vertretenen Standpunkt: Wohlers, NZWiSt 2018, 412 ff. 18 Vgl. nur Wohlers, in: Hess et al. (Fn. 8), S. 273 m.w.N. 19 Wohlers, SJZ 2000, 381 (384 f.); ders., in: Hess et al. (Fn. 8), S. 273; vgl. auch Ehrhardt, Unternehmensdelinquenz (Fn. 7), S. 175 ff.; Kirch-Heim, Sanktionen (Fn. 7), S. 140 ff.; Neumann, in: Lehmkuhl/Wohlers, Unternehmensstrafrecht – materiellrechtliche und prozessuale Aspekte, 2020, S. 55 f.; Schmoller, in: Lehmkuhl/Wohlers, a.a.O., S. 80 f.; Tiedemann, NJW 1988, 1169, 1172. 20 Vgl. hierzu Wohlers, in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Unternehmensstrafrecht, 2012, S. 238 ff. 21 Wohlers, SJZ 2000, 381 (385 f.); ders., in: Hess et al. (Fn. 8), S. 273; vgl. auch Heine, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen, 1995, S. 206; Schmitt-Leonardy, Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?, 2013, Rn. 645; zum Streitstand vgl. Engelhart,
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recht unverzichtbar sein soll22 und der deshalb auch in einem Unternehmensstrafrecht Geltung haben muss.23 Die zentrale Frage ist: Kann gegenüber Verbänden ein Vorwurf erhoben werden, der den Einsatz von Kriminalstrafen legitimiert?24 Unbestritten ist, dass der auf menschliche Individuen als Adressaten strafrechtlicher Normen zugeschnittene tradierte Schuldgrundsatz auf Unternehmen nicht angewandt werden kann.25 Eine Lösung kann vor diesem Hintergrund auf zwei Wegen gesucht werden: Man kann (1) dem Unternehmen die Schuld eines menschlichen Anlasstäters zurechnen (Zurechnungsmodell) oder man kann sich (2) darum bemühen, eine eigene originäre Verbandsschuld als ein funktionsanaloges Pendant zur Schuld des menschlichen Akteurs zu begründen (Verbandsschuldmodell). Sollten sich beide Wege als nicht gangbar erweisen, würde sich schließlich noch die Frage stellen, ob es möglich ist, auf einen schuldfähigen Akteur gänzlich zu verzichten.26 Zurechnungsmodelle sind in den Rechtsordnungen, die über ein Verbandssanktionenrecht verfügen, weit verbreitet27 und werden auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts28 und in der deutschen Strafrechtswissenschaft als mög-
Sanktionierung von Unternehmen und Compliance, 2. Aufl. 2012, S. 353 ff.; Ehrhardt, Unternehmensdelinquenz (Fn. 7), S. 45 ff.; Kirch-Heim, Sanktionen (Fn. 7), S. 155 ff. 22 Vgl. BVerfGE 20, 323 (332 f.); BGHSt 2, 194 (202); tatsächlich stellt sich das Problem in gleicher Weise, wenn man eine Lösung im Ordnungswidrigkeitenrecht sucht, vgl. BVerfGE 20, 323 (333); Böse, ZStW 2014, 132 (142); Otto, Die Strafbarkeit von Unternehmen und Verbänden, 1993, S. 22 f.; Schnitzer, Der Entwurf eines Verbandsstrafgesetzbuches: Rechtspolitische Illusion oder zukünftige Rechtswirklichkeit?, 2016, S. 103; Tiedemann, NJW 1988, 1169 (1171). 23 Engelhart, NZWiSt 2015, 201 (204); Ehrhardt, Unternehmensdelinquenz (Fn. 7), S. 186; Böse, in: Pawlik et al. (Hrsg.), Jakobs-FS, 2007, S. 18 f.; vgl. auch – zum österreichischen Recht – Holzinger/Moringer, ÖJZ 2015, 403 (404 f.); Schmoller, RZ 2008, 8 (10 ff.) = Schmoller, in: Hettinger et al. (Hrsg.), Küper-FS, 2007, S. 453 ff.; ders., in: Dannecker et al. (Hrsg.), Otto-FS, 2007, S. 460 ff. sowie – zum schweizerischen Recht – Forster, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Unternehmens nach Art. 102 StGB, 2006, S. 26. 24 Gräbener, Zweifelssatz und Verbandsstrafe, 2019, S. 189. 25 Forster (Fn. 23), S. 34; Frisch, in: Zöller et al. (Hrsg.), Wolter-FS, 2013, S. 363 f.; Gräbener (Fn. 24), S. 180 f., 186, 237; Heine, ÖJZ 1996, 211 (216); ders., ÖJZ 2000, 871 (880); Hilf, NZWiSt 2016, 189 (190); Jäger, Imme Roxin-FS (Fn. 7), S. 45 f. und 50; Jakobs, in: Prittwitz et al. (Hrsg.), Lüderssen-FS, 2002, S. 570; Kirch-Heim, Sanktionen (Fn. 7), S. 155 f.; Mittelsdorf (Fn. 7), S. 77; Moos, RZ 2004, 98; Neumann, in: Lehmkuhl/Wohlers (Fn. 19), S. 58; Otto Strafbarkeit (Fn. 22), S. 16 f.; Schnitzer Entwurf (Fn. 22), S. 92; Steininger, Verbandsverantwortlichkeitsgesetz Kommentar, 2006, Vorbemerkungen VbVG, Rn. 6 f.; Trüg, StraFo 2011, 471 (474); Wohlers, SJZ 2000, 381 (385). 26 Vgl. auch bereits Kindler, Das Unternehmen als haftender Täter, 2008, S. 224 f.; Schmitt-Leonardy, Unternehmenskriminalität (Fn. 21), Rn. 650. 27 Tatsächlich handelt es sich bei dem von Vogel (StV 2012, 427 [430 f.]) zutreffend als internationale Blaupause für ein Verbandsstrafrecht bezeichneten Modell um ein Zurechnungsmodell, vgl. Wohlers, NZWiSt 2018, 412 ff.; ders., in: Lehmkuhl/Wohlers (Fn. 19), S. 125 ff. 28 Vgl. BVerfGE 20, 323 (336).
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liche Lösungswege ventiliert,29 wobei aber letztlich weitgehend unklar bleibt, was genau die Voraussetzungen der Zurechnung sein sollen und wie bzw. worin sich dieser Ansatz konkret von den Versuchen unterscheidet, eine originäre Verantwortlichkeit des Verbandes zu begründen.30 Abgesehen davon, dass dieser Lösungsweg in den Fällen ins Leere geht, in denen es keinen verantwortlichen menschlichen Anlasstäter gibt und man auf eine virtuelle Anlasstat abstellen müsste,31 stehen Zurechnungsmodelle vor dem grundlegenden Problem, dass eine Schuldübertragung mit den Grundmaximen des kontinentaleuropäischen Strafrechtsdenkens nicht zu vereinbaren ist: Die Verantwortlichkeit beschränkt sich hier, anders als etwa im common law,32 auf die eigene Schuld33 – und die Zurechnung fremder Schuld begründet nun mal keine eigene Schuld desjenigen, dem zugerechnet wird.34 Selbst dann, wenn man – im Anschluss an Joachim Vogel – die Einführung der Strafbarkeit von Verbänden als etwas ansieht, was grundsätzlich im freien Ermessen des Gesetzgebers steht,35 dürfte ein Zurechnungsmodell aus eben diesem Grund die von Vogel geforderte Mindestparallelität mit dem Individualstrafrecht36 nicht gewährleisten können. Als entscheidend erweist sich damit, ob man eine eigene (originäre) Verbandsschuld identifizieren kann und ob diese den Anforderungen entspricht, die man an eine Verbandsschuld als ein funktionsanaloges Pendant zur Schuld(fähigkeit) des Individualstraftäters zu stellen hat.
29 Tiedemann, in: Schoch/Stoll/Tiedemann (Hrsg.), Freiburger Begegnung. Dialog mit Richtern des Bundesgerichtshofs, 1996, S. 48 f. 30 Vgl. beispielhaft die Bemühungen um eine Interpretation des von Tiedemann vertretenen Ansatzes bei Engelhart, Sanktionierung (Fn. 21), S. 355; kritisch zur Unklarheit des Tiedemannschen Ansatzes: Lampe, ZStW 106 (1994), 683 (729). 31 Vgl. hierzu Wohlers, in: Niggli et al. (Hrsg.), Riklin-FS; 2007, S. 295 f.; ders., in: Lehmkuhl/Wohlers (Fn. 19), S. 130. 32 Vgl. Kremnitzer/Ghanayim, ZStW 113 (2001), 539 (542 ff.). 33 Böse, Jakobs-FS (Fn. 23), S. 19; Engelhart, Sanktionierung (Fn. 21), S. 354; von Freier, GA 2009, 98 (108); Greco, GA 2015, 503 (506 f.); Holzinger/Moringer, ÖJZ 2015, 403 (406); Jäger, Imme Roxin-FS (Fn. 7), S. 46 und 50; Mittelsdorf (Fn. 7), S. 82; Otto (Fn. 22), S. 15 f.; Schnitzer (Fn. 22), S. 95; Schünemann, StraFo 2018, 317 (319); Trüg, StraFo 2011, 471 (474); Wohlers, SJZ 2000, 381 (385); ders., ZGR 2016, 364 (378); ders., NZWiSt 2018, 412 (415); ders., in: Lehmkuhl/Wohlers (Fn. 19), S. 131; vgl. auch Jahn/Schmitt-Leonardy/Schoop, wistra 2018, 27 (28 f.); vgl. auch Frisch, Wolter-FS (Fn. 25), S. 355 f., der eine krasse Verletzung der Tiefenstruktur der strafrechtlichen Zurechnung konstatiert. 34 Kirch-Heim, Sanktionen (Fn. 7), S. 158 f.; LK/Schünemann, 12. Aufl., Vor § 25 Rn. 23. 35 Vgl. insbesondere Vogel, StV 2012, 427 (428); grundsätzlich zustimmend, aber relativierend Schmitt-Leonardy, ZIS 2015, 11; dies. (Fn. 21), Rn. 656, 669 f. 36 Vogel, StV 2012, 427 (430).
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II. Die Verbandsschuld: funktionsanaloges Pendant zur Schuld(-fähigkeit) des Individualstraftäters Dass man den für menschliche Akteure entwickelten tradierten Schuldgrundsatz nicht auf Verbände übertragen könne, sondern es darum gehen muss, mit der Verbands-, Unternehmens- oder Betriebsschuld ein funktionsanaloges Pendant zur Schuld des Individualstrafrechts zu finden, ist insbesondere von Günter Heine immer wieder betont worden.37 Die Frage ist dann aber: Was bedeutet eigentlich „funktionsanalog“? Und was bedeutet es, wenn gleichzeitig auch betont wird, dass es um einen Vorwurf eigener Prägung gehe, bei dem auch die Haftungsvoraussetzungen eigenständig zu bestimmen seien?38 Nach Heine handelt es sich bei der Schuld um eine „Systemkategorie, über deren Voraussetzungen auf sozial konsensfähiger Grundlage normativ entschieden wird (normativer Schuldbegriff) und deren Begriffsinhalt bereits im Individualstrafrecht an den spezifischen Aufgaben (Kernstrafrecht, Nebenstrafrecht, Verwaltungsstrafrecht) auszurichten ist. Erkenne man dies an, dann spräche“ – so Heine – „wenig dagegen, sich in einem separaten System für kollektive Verantwortlichkeit über ,Schuld von Verbänden‘ zu verständigen.“39 Die Lösung des Problems sei „in der Ausarbeitung eines vom Individualstrafrecht gedanklich getrennten Systems kollektiver Verantwortlichkeit zu sehen. Die Kernfrage ist allemal, nach welchen Kriterien eine Formulierung kollektiver Verantwortlichkeit in Angriff zu nehmen ist. Die Lösung ist in einer funktions-analogen Übertragung der Zurechnungskategorien des Individualstrafrechts auf Kollektive zu sehen.“40
Methodisch sei es erforderlich, „die Zurechnungskategorien des Individualstrafrechts, angefangen von Handlung, Kausalität und Erfolg, Tatherrschaft bis hin zu subjektiven Elementen sowie der Schuld, auf Organisationen [zu] übertragen“.41 Es geht – so Heine – darum, die Schuld „an den Fähigkeiten des kollektiven, konkreten Normadressaten zu messen“.42 Es geht bei alledem aber „nicht um eine anthropomorphe Weiterentwicklung des personalen Schuldprinzips, sondern um eine originär organisationsbezogene Neubegründung eines systemischen Schuldprinzips, nicht ,Ähnlichkeit‘ ist das neu zu begründende, sondern die Ausfüllung einer analogen
37
Heine, ÖJZ 1996, 211 (217); ders., in: Alwart (Fn. 7), S. 103; ders., in: Hettinger (Hrsg.), Reform des Sanktionenrechts, Band 3: Verbandsstrafe, 2002, S. 137 f.; vgl. auch Hilf, NZWiSt 2016, 189 (190); Löschnig-Gspandl [Hilf], ÖJZ 2002, 241 (251); Schmoller, in: Lehmkuhl/Wohlers (Fn. 19), S. 80; kritisch dazu Steininger (Fn. 25), Vorbemerkungen VbVG, Rn. 6 f. 38 Vgl. Heine, recht 2005, 1 (6). 39 Heine, ÖJZ 1996, 211, (217); vgl. auch ders. (Fn. 21), S. 263 f. 40 Heine, ÖJZ 2000, 871 (880). 41 Heine, ÖJZ 1996, 211 (217); vgl. auch ders., ÖJZ 2000, 871 (879); ders., in: Hettinger (Fn. 37), S. 138. 42 Heine, in: Hettinger (Fn. 37), S. 138.
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Funktion, nicht vorhersehbares Fehlverhalten ist Gegenstand, sondern systemische Fehlentwicklungen“.43
Die so konstruierte kollektive Verantwortlichkeit sei strafrechtlicher Natur, „wenn sie sich in ihren Haftungsvoraussetzungen prinzipiell analog zum Individualstrafrecht ausrichtet, allemal unter Berücksichtigung der andersgearteten Funktionsbedingungen dieser zweiten Spur, scil: andere zeitliche Dimensionen, stärker prospektive Orientierung, besondere Potenz uvm.“44
Die eigentliche Schwierigkeit bestehe darin zu ermitteln, „[n]ach welchem heuristischen Verständnis betriebliches Verschulden funktions-analog zu bestimmen wäre.“45 Besondere Bedeutung habe hier die „Zeitdimension“; es gehe um die Verantwortlichkeit für Ergebnisse „betrieblicher Fehlentwicklungen, die sich nicht auf einzelne Entscheidungen zurückführen lassen, sondern einem meist langjährigen Defizit an Vorsorge bezüglich betrieblicher Risiken entsprechen. In die Begrifflichkeit der klassischen Schulddogmatik gewendet: Es geht im Unternehmensstrafrecht nicht nur um eine Einzeltatschuld, es geht darüber hinaus um einen Schuldsachverhalt, den man in Analogie zu dem dort etablierten (freilich zu Recht verpönten) Begriff der ‘Lebensführungsschuld’ als eine ‘Betriebsführungsschuld’ bezeichnen könnte.“46
Heine ging es vornehmlich darum, über eine eigenständige Spur der Verbandssanktionen zu gewährleisten, dass auch die Fälle erfasst werden, in denen Missstände aus Unternehmen heraus verursacht werden, bei denen, gemessen an den Maßstäben des Individualstrafrechts, eine Anlasstat gar nicht vorhanden war oder bei denen die Ahndung eines Anlasstäters dem Ausmaß des verursachten Unrechts nicht gerecht zu werden vermag.47 Dass und warum aber ein „langjähriges Defizit an Vorsorge bezüglich betrieblicher Risiken“ nicht nur eine haftungsrechtliche, sondern darüber hinaus auch eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des Unternehmens begründen können soll, wird von Heine nicht näher begründet. Der Verweis darauf, dass die Betriebsführungsschuld keine Einzeltatschuld darstelle, sondern etwas, was, (rück-)übertragen in die Kategorien des Individualstrafrechts, eher einer Lebensführungsschuld entspreche, ersetzt diese fehlende Begründung nicht, sondern wirft eher noch zusätzliche Zweifel daran auf, ob es sachgerecht ist, eine so verstandene Betriebsführungsschuld zum Anlass für strafende Sanktionen zu nehmen.
43
Heine, in: Hettinger (Fn. 37), S. 139. Heine, ÖJZ 1996, 211 (217); vgl. auch ders. (Fn. 21), S. 257. 45 Heine, ÖJZ 1996, 211 (217/218); vgl. auch ders., ÖJZ 2000, 871 (880); ders., in: Hettinger (Fn. 37), S. 138. 46 Heine, ÖJZ 1996, 211 (218); ders., in: Hettinger (Fn. 37), S. 138; vgl. auch ders., ÖJZ 2000, 871, 880; ders. (Fn. 21), S. 265 f. 47 Heine, ZStrR 2003, 24 (32 f.); ders., in: Dölling (Hrsg.), Lampe-FS, 2003, S. 589. 44
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Marianne Hilf, die den Topos der funktionsanalogen Verbandsschuld ebenfalls verwendet, betont dezidiert die funktionale Parallelität von Verbands- und Individualschuld. Die Verbandsstrafe habe „den Anforderungen des Schuldprinzips zu entsprechen, allerdings freilich wiederum in seiner funktionsanalogen und daher spezifischen Form des Verbandsschuldprinzips. Das strafrechtliche Schuldprinzip ist zu beziehen auf jenes Subjekt, das als (eigenständiger) Sanktionsadressat in Rede steht, und muss seinerseits den in der Natur bzw. Struktur des Subjekts angelegten Besonderheiten Rechnung tragen. Verbände delinquieren strukturbedingt mittels natürlicher Personen, die Teil oder gar Organ sind. Verbänden kann (und muss) ein (höchst-)verbandspersönlicher Vorwurf gemacht werden, wenn sie sich als Verband für kriminelles anstelle von rechtstreuem Agieren entscheiden, obwohl sie sich für letzteres hätten entscheiden können.“48
Bei der Sanktion gegen einen Verband gehe es „um eine aufgrund und nach Maßgabe eines gegenüber dem Verband erhobenen Vorwurfs (Verbandsschuld) aus spezial- und generalpräventiven Gründen verhängte Sanktion […], die einen sozialethischen Tadel zum Ausdruck bringt“.49 Der Kern des den Verband treffenden Vorwurfs bestehe darin, „dass der Verband die nach den Umständen gebotene und zumutbare Sorgfalt außer Acht gelassen hat, insbesondere Maßnahmen zur Verhinderung solcher Taten unterlassen hat“.50 In der „Unterlassung gebotener, möglicher und zumutbarer Tatverhinderungsmaßnahmen liegt der Vorwurf der Entscheidung (des Verbandes) gegen das Recht“.51 Verbandsschuld bedeutet mithin „Vermeidbarkeit aus Verbandsperspektive“.52 Der Verband wird nur dann strafrechtlich verantwortlich, „wenn er – vermittelt durch seine Entscheidungsträger – die Tatbegehung in zumutbarer Weise hätte verhindern können“.53 Hilf betont deutlich intensiver als Heine die Parallelitäten zwischen Verbandsund Individualschuld. Ihrer Darstellung nach geht es auch bei der Verbandsschuld um „Vermeidbarkeit“, dem Verband werde „ein (höchst-)verbandspersönlicher Vorwurf gemacht“, der dann zu erheben sei, wenn Verbände „sich als Verband für kriminelles anstelle von rechtstreuem Agieren entscheiden, obwohl sie sich für letzteres hätten entscheiden können“. Die Frage ist nun aber: Woraus ergibt sich, dass der Verband sich „als Verband“ für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich auch für das Recht hätte entscheiden können? Und was macht eigentlich die „Höchstpersönlichkeit“ des Vorwurfs gegen den Verband aus? Der Verdacht, dass es sich bei alledem um Worthülsen handeln könnte, die eine Parallelität zum Individualstrafrecht lediglich suggerieren, während es tatsächlich darum geht, dass Sanktionen deshalb verhängt werden sollen, weil man dies „aus spezial- und generalpräventiven Gründen“ 48
Hilf, NZWiSt 2016, 189 (190). Hilf, NZWiSt 2016, 189 (191). 50 Hilf, NZWiSt 2016, 189 (191) unter Bezugnahme auf die Materialien zum öVbVG. 51 Hilf, NZWiSt 2016, 189 (192). 52 Hilf, NZWiSt 2016, 189 (192). 53 Hilf, NZWiSt 2016, 189 (192). 49
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für sinnvoll erachtet, lässt sich nicht gänzlich von der Hand weisen. Die jedenfalls von Befürwortern der Unternehmensstrafe aus dem Kreis der Zivilrechtswissenschaft ganz direkt und vehement befürwortete Konzeption der Unternehmensstrafe als Präventivstrafe54 würde dann aber die Frage aufwerfen, ob die Auflösung der Verbandsschuld im Unrecht nicht möglicherweise eine Erfolgshaftung begründet;55 selbst wenn man dies in Abrede stellt, bleibt es aber dabei, dass sich auch hier wieder die Frage stellt, ob bei derart grundverschiedenen Sachverhalten die Voraussetzungen für eine Analogie überhaupt noch gegeben sind.56 Vor diesem Hintergrund muss danach gefragt werden, was man sich denn nun konkret unter der Verbands-, Unternehmens- oder Betriebsschuld vorzustellen hat. 1. Die Verbandsschuld als „Organisationsschuld“ Ein in der Literatur weit verbreiteter und beispielsweise auch in den Materialien zum schweizerischen (Unternehmensstraf-)Recht ausdrücklich in Bezug genommener Ansatz versteht die Schuld des Unternehmens oder Verbandes als ein Organisationsversagen.57 Verbandsschuld soll vorliegen, wenn Taten, die aus dem Unternehmen heraus begangen werden, dadurch gefördert werden, dass das Unternehmen – durch die hierfür zuständigen Mitarbeiter – die falschen Personen ausgewählt und/ oder das Unternehmen sich in dem Sinne unzureichend organisiert hat, dass die Begehung von Straftaten aus dem Unternehmen heraus nicht verhindert bzw. nicht alles getan wurde, um derartige Taten wenigstens zu erschweren.58 Alternativ oder auch kumulativ wird die Organisationsschuld auch darin gesehen, dass das Entstehen einer kriminellen Verbandsattitüde zugelassen bzw. unterstützt wird.59 Der Sache
54 Vgl. insbesondere Wagner, AcP 206 (2006), 352, 360 ff.; ders., ZGR 2016, 112 (131 ff.); ders., NZWiSt 2018, 399 (401 ff.); vgl. auch Baur/Holle/Reiling, JZ 2019, 1025 (1032 ff.): Sanktionsrecht als Mittel ergänzender Abschreckung; vgl. auch schon Wagner, ZGR 2016, 112 (145 ff.). 55 So auch Schmoller, RZ 2008, 8; ders., in: Dannecker et al. (Hrsg.), Otto-FS, 2007, S. 454 f. 56 Verneinend Moos, RZ 2004, 98 (102). 57 Vgl. Hilf, ZStrR 129 (2011), 258, 264; vgl. auch die Darstellung verschiedener Modelle aus dem deutschen und schweizerischen Schrifttum bei Lütolf, Strafbarkeit der juristischen Person, Zürich 1997, S. 319 ff.; kritisch zur Anknüpfung an das Organisationsversagen: Kindler (Fn. 26), S. 229 ff. 58 Vgl. Ehrhardt, Unternehmensdelinquenz (Fn. 7), S. 192 ff.; Lampe, ZStW 106 (1994), 683 (728); Otto (Fn. 22), S. 29 ff.; Tiedemann, NJW 1988, 1169 (1172); zu den Anforderungen an die Organisation vgl. Paliero, in: Sieber et al. (Hrsg.), Tiedemann-FS, 2008, S. 511 ff. sowie – zu Art. 102 schwStGB – Forster (Fn. 23), S. 226 ff.; Geiger, Organisationsmängel als Anknüpfungspunkt im Unternehmensstrafrecht, 2006, S. 140 ff., 169 ff.; Wohlers, Riklin-FS (Fn. 31), S. 299 f. 59 Vgl. Dannecker, GA 2001, 101 (112, 117); Ehrhardt, Unternehmensdelinquenz (Fn. 7), S. 192 ff.; Lampe, ZStW 106 (1994), 683 (708 f., 731).
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nach geht es also um ein Systemunrecht in der Form eines fehlerhaften Risikomanagements.60 Dem so verstandenen Konzept der Organisationsschuld ist zunächst einmal entgegenzuhalten, dass ein Verband sich nicht selbst organisiert, sondern von seinen Mitgliedern und damit von natürlichen Personen organisiert wird;61 beim Konzept der Organisationsschuld handelt es sich letztlich um ein „kaschiertes Zurechnungsmodell“: dem Verband wird das Organisationsverschulden seiner Mitglieder zugerechnet.62 Hinzu kommt, dass die Umstände, die den Vorwurf des Organisationsversagens ausfüllen, einen allenfalls mittelbaren Bezug zu den aus dem Verband heraus begangenen Anlasstaten haben.63 Die Abkoppelung des Schuldvorwurfs von der konkreten Anlasstat geht dabei über die bei der actio libera in causa vorgenommene Vorverlagerung des Schuldvorwurfs hinaus;64 tatsächlich geht es nämlich – wie Heine vollkommen zutreffend ausgeführt hat – eher um eine Analogie zum Konzept der Lebensführungsschuld.65 Abgesehen davon, dass damit aber alle Einwände, die dem Konzept der Lebensführungsschuld entgegengehalten werden,66 auch das Verbandsstrafrecht treffen,67 wäre damit wieder fraglich, ob das von Vogel betonte Erfordernis einer Mindestparallelität zum Tatschuldkonzept des Individualstrafrechts in Frage gestellt wird. Wenn – wie z. B. im schweizerischen Unternehmensstrafrecht – das tatbestandliche Verhalten des Unternehmens darin besteht, dass das Unternehmen sich fehlerhaft organisiert hat, dann lassen sich das Unrecht und die Schuld des Unterneh-
60 Heine, in: Alwart (Fn. 7), S. 104 ff.; ders., ZStrR 119 (2001), 22 (38); ders. (Fn. 21), S. 254, 271 ff.; vgl. auch Otto (Fn. 22), S. 29; Pieth, ZStrR 121 (2003), 353 (363). 61 Böse, ZStW 2014, 132 (140); Bosch, Organisationsverschulden in Unternehmen, 2002, S. 48 f.; Gräbener (Fn. 24), S. 221 ff., Jäger, Imme Roxin-FS (Fn. 7), S. 50; Neumann, in: Lehmkuhl/Wohlers (Fn. 19), S. 61; Schmoller, in: Lehmkuhl/Wohlers (Fn. 19), S. 82 f.; Schünemann, ZIS 2014, 1 (4); ders., StraFo 2018, 317 (319); Wohlers, SJZ 2000, 381 (385); ders., ZGR 2016, 364 (378 f.); ders., NZWiSt 2018, 412 (415); ders., in: Lehmkuhl/Wohlers (Fn. 19), S. 131 f.; LK/Schünemann, 12. Aufl., Vor § 25 Rn. 24. 62 Frisch, Wolter-FS (Fn. 25), S. 367 f.; Greco, GA 2015, 503 (508); Wohlers, NZWiSt 2018, 412 (415) m.w.N. 63 Bosch (Fn. 59), S. 50; Frisch, Wolter-FS (Fn. 25), S. 366 f.; Gräbener (Fn. 24), S. 225; Jahn/Schmitt-Leonardy/Schoop, wistra 2018, 27 (29); Kindler (Fn. 26), S. 231 f., 239 f.; Neumann, in: Lehmkuhl/Wohlers (Fn. 19), S. 61; Schmitt-Leonardy, Unternehmenskriminalität (Fn. 21), Rn. 687; Schnitzer (Fn. 22), S. 96; LK/Schünemann, 12. Aufl., Vor § 25 Rn. 26. 64 Zur Vorverlagerung des Schuldvorwurfs und zur Parallelität zur actio libera in causa vgl. Roth, ZStrR 115 (1997), 345 (361 f.); Hurtado Pozo, Riklin-FS (Fn. 31), S. 128; vgl. auch Paliero, Tiedemann-FS (Fn. 58), S. 507; Tiedemann, NJW 1988, 1169 (1173); kritisch hierzu Schmitt-Leonardy, Unternehmenskriminalität (Fn. 21), Rn. 688 und 691. 65 Vgl. auch Heiniger, Der Konzern im Unternehmensstrafrecht gemäss Art. 102 StGB, 2011, N 537; Jahn/Schmitt-Leonardy/Schoop, wistra 2018, 27 (29); Kindler (Fn. 26), S. 253 f. 66 Jakobs, Strafrecht Allg. Teil, 2. Aufl. 1993, 17/34 ff.; Roxin, Strafrecht Allg. Teil I, 4. Aufl. 2006, § 19 Rn. 62 f. 67 Vgl. aber Heine (Fn. 21), S. 266, der die Konzeption im Rahmen eines vom Individualstrafrecht konsequent getrennten Unternehmensstrafrecht für möglich erachtet.
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mensdelikts nicht mehr wirklich unterscheiden.68 Das so kreierte „Desorganisationsdelikt“69 begründet einen vollkommen neuen Deliktstypus, bei dem der im Unrecht der Tat aufgehende Schuldvorwurf jede Eigenständigkeit verliert,70 was dann letztlich auf eine Strafe ohne Schuld hinausläuft.71 2. Der Verband als soziale Person bzw. sozialer Akteur Die Vertreter eines zweiten Ansatzes knüpfen mehr oder weniger offen an die auf Otto von Giercke zurückgehende Vorstellung von der juristischen Person als reale Verbandsperson an. Während teilweise – insbesondere von Autorinnen und Autoren aus der Schweiz72 – schlicht und einfach darauf verwiesen wird, dass die Realitätstheorie (in der Schweiz) herrschend sei, wird überwiegend auf die soziale Realität verwiesen, in der Organe als Teile des Verbandes agieren würden, weshalb deren Verhalten als Verhalten des Verbandes zu behandeln sei.73 Auch die Annahme, dass Verbände einen eigenen Willen bilden können,74 wird mehr oder weniger begründungslos aus eben dieser sozialen Realität abgeleitet, was aber letztlich nichts daran ändert, dass auch das anthropomorphisierende Verbandsmodell nicht wirklich darüber hinwegtäuschen kann, dass es auf einer Fiktion aufbaut, deren einziger Zweck darin besteht zu verdecken, dass es doch um eine Zurechnung des Verhaltens (und der Schuld) der Verbandsmitglieder geht.75 An diesem Befund ändert sich auch dann nichts, wenn diese Schlüsse nicht mehr aus dem „Wesen“ des Verbandes abgeleitet, sondern auf eine systemtheoretisch unterfütterte Interpretation des Verbandes als ein eigenständiges autopoietisches System gestützt wird.76 Die systemtheoretisch aufgeklärte Sicht auf das Unternehmen kann – aus der Warte des unbeteiligten Beobachters betrachtet – zeigen, dass innerhalb einer Gesellschaft ein (kriminal-)politisches Bedürfnis dafür besteht, Verbände 68
Vgl. Wohlers, in: Lehmkuhl/Wohlers (Fn. 19), S. 133. Vgl. Jean-Richard-dit-Bressel, Das Desorganisationsdelikt, 2013. 70 So auch Kirch-Heim, Sanktionen (Fn. 7), S. 165 f. 71 Vgl. hierzu unten III.; kritisch auch schon Wohlers, in: Lehmkuhl/Wohlers (Fn. 19), S. 133. 72 Vgl. Bertossa, Unternehmensstrafrecht – Strafprozess und Sanktionen, 2003, S. 54 ff.; Lütolf (Fn. 55), S. 131 i.V.m. 113 ff. 73 Bedecarratz Scholz, Rechtsvergleichende Studien zur Strafbarkeit juristischer Personen, 2016, S. 118 ff.; Böse, Jakobs-FS (Fn. 23), S. 21 ff.; Dannecker, GA 2001, 101 (108 ff.); Ehrhardt, Unternehmensdelinquenz (Fn. 7), S. 144 ff Gomez-Jara Diez, ZStW 119 (2007), 290 (295 ff.); Gräbener (Fn. 24), S. 100 ff.; Hirsch, ZStW 107 (1995), 285 (312 f.); Lampe, ZStW 106 (1994), 683 (708 f., 723 f., 731 ff.); Plüss, ZStrR 127 (2009), 206 (211 ff.); vgl. auch Kindler (Fn. 26), S. 226 ff.; kritisch: von Freier, GA 2009, 98 (109 f.). 74 Bertossa (Fn. 71), S. 55; a.A. Frisch, Wolter-FS (Fn. 25), S. 368: Schnitzer (Fn. 22), S. 95. 75 So auch Kindler (Fn. 26), S. 235 f. 76 Vgl. insbesondere Gomez-Jara Diez, ZStW 119 (2007), 290 (295 ff.); ablehnend: Frisch, Wolter-FS (Fn. 25), S. 369 ff. 69
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zu verantwortlichen Akteuren zu erklären.77 Die Systemtheorie vermag aber keinen Beitrag zu leisten, wenn es darum geht zu entscheiden, ob und, wenn ja, unter welchen Voraussetzungen man – aus der Sicht der am Diskurs über die normative gesellschaftliche Verständigung beteiligten Akteure – Unternehmen als zivil- und/oder strafrechtlich verantwortlich einzustufen hat. Der Verweis darauf, dass sich die heutige Gesellschaft „(wieder) daran gewöhnt [hat], Unternehmen Verantwortung für betriebsbezogene Straftaten zuzuweisen“,78 liefert allenfalls eine – auch als solche nicht über jeden Zweifel erhabene – Beschreibung eines Faktums; abgesehen von dem Verweis auf präventive Bedürfnisse werden aber keine Kriterien angeboten, anhand derer man die Berechtigung und/oder Legitimität der repressiven Sanktionierung begründen könnte. Insoweit gilt das, was Frank Meyer bezogen auf die Einführung der (völker-)strafrechtlichen Verantwortlichkeit multinationaler Unternehmen ausgeführt hat, auch hier: Es geht um „soziologische, bestenfalls rechtspolitische Konzepte, welche ihre rechtsdogmatische Blöße nur spärlich kaschieren“.79 An diesem Befund ändert sich auch dann nichts, wenn zur Begründung der Schuld- und Straffähigkeit auf die von der Rechtsordnung anerkannte Rechtsfähigkeit juristischer Personen verwiesen wird. Paradigmatisch für diesen Ansatz ist der durch Franz von Liszt geprägte Satz: „Wer Verträge schließen kann, der kann auch trügerische oder wucherische Verträge schließen.“80 Dass dies so ist, kann zwar für sich gesehen nicht ernsthaft bestritten werden. Daraus, dass Unternehmens(träger) unter bestimmten Voraussetzungen Handlungs- und Haftungssubjekte im zivilund öffentlich-rechtlichen Sinne sind,81 lässt sich aber nicht zwingend ableiten, dass sie auch bestraft werden können; tatsächlich lässt sich ein derartiger Schluss auch nicht auf die Beleidigungsfähigkeit juristischer Personen stützen82 oder aus der zivilrechtlichen Deliktsfähigkeit ableiten.83 Entscheidend ist und bleibt, ob die spezifischen Voraussetzungen für die Anwendung der spezifischen Sanktion „Strafe“ bei Verbänden gegeben sind oder nicht.84
77
Vgl. hierzu – bezogen auf Unternehmen – Teubner, KritV 1987, 61 ff. sowie – bezogen auf Intelligente Agenten bzw. Softwareagenten – Teubner, Zeitschrift für Rechtssoziologie 27 (2006), 5 (14 ff.); ders., AcP 218 (2018), 155 (163 ff.). 78 So Kubiciel, ZRP 2014, 133 (136). 79 Vgl. auch kritisch Meyer, ZStrR 131 (2013), 56 (80 f.); vgl. auch Schünemann, StraFo 2018, 317 (319) mit dem Hinweis darauf, dass die empirische Basis der systemtheoretischen Ansätze „bröselig“ sei. 80 von Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 22. Aufl., 1919, § 28 I.2, vgl. auch Hirsch, ZStW 107 (1995), 285 (292 ff.); Wagner, NZWiSt 2018, 399 (400); kritisch hierzu: Neumann, in: Lehmkuhl/Wohlers (Fn. 19), S. 58; Schmitt-Leonardy, Unternehmenskriminalität (Fn. 21), Rn. 655. 81 Tiedemann, NJW 1986, 1842 (1844). 82 Ehrhardt, Unternehmensdelinquenz (Fn. 7), S. 190 f. 83 Wohlers, SJZ 2000, 381 (386) m.w.N.; vgl. aber auch Ehrhardt, Unternehmensdelinquenz (Fn. 7), S. 191. 84 Vgl. hierzu unten II.3.
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3. (Verbands-)Schuld als das Zurückbleiben hinter den Erwartungen der Rechtsordnung Während es den Vertretern der beiden oben vorstehend behandelten Ansätze darum geht aufzuzeigen, dass Verbände natürlichen Personen gleichgestellt werden können, knüpfen die Vertreter des nachfolgend darzustellenden Ansatzes beim Begriff der Schuld an. Der Bedeutungsgehalt der Schuld als soziale Schuld wird dahingehend umdefiniert, dass es allein um das Zurückbleiben des Akteurs hinter den Erwartungen der Rechtsordnung geht.85 Voraussetzung für das Bestehen von Schuld ist der Nichtgebrauch der Fähigkeit, das eigene Verhalten ohne Beeinträchtigung fremder Freiheitssphären zu organisieren.86 Die Schuld eines Verbandes besteht darin, dass dieser nicht verhindert hat, dass gegen Rechtsnormen verstoßen wird, obwohl er, vermittelt über seine Organe, die Fähigkeit besessen hat, sich zu einem rechtskonformen Verhalten zu motivieren.87 Soweit man die Figur der Schuld als das Zurückbleiben hinter den Erwartungen der Rechtsordnung nur auf die Verbandsschuld beschränken wollte, würde sich – wiederum – die Frage nach der Mindestparallelität zum Individualstrafrecht stellen. Soweit man – in sich konsequent – die Konzeption der sozialen Schuld auch auf das Individualstrafrecht erstrecken würde, würde sich stattdessen die auch schon oben bei anderen Ansätzen zur Begründung der Verbandsschuld aufgetretene Frage stellen,88 ob eine Sanktion, die unter dieser Voraussetzung verhängt wird, noch etwas sein kann, was sich adäquat unter den Begriff der Strafe fassen lässt. Strafe erschöpft sich nicht darin, dem zu Bestrafenden ein Übel aufzuerlegen, sondern sie drückt einen Tadel aus89 und dieser Tadel ist nur berechtigt gegenüber einem Adressaten, der als solcher die Fähigkeit hatte, sich anders – nämlich rechtskonform – zu verhalten.90 Wird auf das Element des Tadels verzichtet und stattdessen allein darauf abgestellt, durch die Bestrafung Missbilligung zum Ausdruck zu bringen, dann ist man beim Konzept einer reinen Zweckstrafe angekommen, bei der es allein und ausschließlich darum geht, präventive Wirkungen zu erzielen.91 Der Verzicht auf das Tadelselement hat einen „inhaltsleeren“ Schuldbegriff zur Folge, der es beispielsweise 85 Vgl. Engelhart, Sanktionierung (Fn. 21), S. 356; Otto (Fn. 22), S. 17 f.; Roth, ZStrR 115 (1997), 345 (359 f.). 86 Reyes Alvarado, Tiedemann-FS (Fn. 58), S. 423 und 425; vgl. auch Tiedemann, NJW 1988, 1169, 1172. 87 Böse, Jakobs-FS (Fn. 23), S. 21. 88 Vgl. oben II. 1. und II.2. 89 Vgl. nur Wohlers, GA 2019, 425 (427 f.) m.w.N. 90 Frisch, GA 2019, 537 (551); vgl. auch Silva-Sanchez, GA 2015, 267 (271 ff.): Es sind dann keine Strafen, sondern Sanktionen eigener Prägung. 91 Vgl. z. B. Gomez-Jara Diez, ZStW 119 (2007), 290 (297); Gräbener (Fn. 24), S. 237 ff., 245 ff.; Wagner, ZGR 2016, 112 (131 ff.); ders., NZWiSt 2018, 399 (401 ff.); zum Präventionsstrafrecht als verstecktes Endziel vgl. auch Neumann, in: Lehmkuhl/Wohlers (Fn. 19), S. 65.
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auch ermöglichen würde, strict liability-Delikte zu begründen und/oder Kinder, Tiere (und Roboter)92 zu tauglichen Adressaten strafrechtlicher Normen zu machen – immer unter dem Vorbehalt, dass dies aus präventiven Gründen als vorteilhaft einzustufen ist. Eine so verstandene Unternehmensstrafe würde aber nicht nur einen bedenklichen Präzedenzfall begründen;93 eine Strafe, die ohne ein Tadelselement auskommt bzw. auskommen muss, verliert ihren historisch gewachsenen spezifischen Sinn94 und verwandelt sich in eine Beugemaßnahme,95 mittels derer Compliance erzwungen werden soll.96
III. Die Verbandsstrafe als „Strafe ohne Schuld“ Der Befund, dass eine Verbandsstrafe weder über die Zurechnung der Schuld des Anlasstäters zum Verband noch über eine originäre Verbandsschuld begründet werden kann und mithin nichts anderes als eine Fiktion darstellt,97 hat einzelne Autoren dazu veranlasst, die Lösung stattdessen in einem Maßnahmemodell zu suchen.98 Diese Konzeption hat sich bisher nicht durchsetzen können und wird offenbar auch zukünftig einen schweren Stand haben. Stattdessen wird weiterhin versucht, einen vom tradierten Schuldbegriff in grundlegender Weise abweichenden Begriff der Verbandsschuld zu konstruieren oder es wird auf die Kategorie der Schuld sogar gänzlich verzichtet, also die Etablierung einer Strafe ohne Schuld befürwortet. So hat etwa Christian Jäger aus dem von ihm geteilten Befund, dass weder eine Zurechnung der Schuld des Individualtäters noch eine originäre Verbandsschuld überzeugend begründet werden könne, den Schluss gezogen, dass man die „dritte Spur“ einer „handlungs- und schuldunabhängigen Unternehmensstrafe“ einführen sollte.99
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Greco, GA 2015, 503 (505). So auch Greco, GA 2015, 503 (515); Neumann, in: Lehmkuhl/Wohlers (Fn. 19), S. 63 sowie Wohlers, SJZ 2000, 381 (386); relativierend: Wohlers, NZWiSt 2018, 412 (414); ders., in: Lehmkuhl/Wohlers (Fn. 19), S. 134. 94 Vgl. Frisch, Wolter-FS (Fn. 25), S. 369 ff.; Schmitt-Leonardy, Unternehmenskriminalität (Fn. 21), Rn. 711 ff.; Schmoller, in: Lehmkuhl/Wohlers (Fn. 19), S. 78 f.; Wohlers, NZWiSt 2018, 412 (416 f.); ders., in: Lehmkuhl/Wohlers (Fn. 19), S. 134. 95 Schmoller, in: Lehmkuhl/Wohlers (Fn. 19), S. 72 ff.; Wohlers, SJZ 2000, 381 (387 ff.); ders., in: Lehmkuhl/Wohlers (Fn. 19), S. 134 f. 96 Vgl. Wohlers, ZGR 2016, 364 (366 ff., 382 f.); zu den Auswirkungen der ComplianceOrientierung auf das Wirtschaftsstrafrecht vgl. auch Wohlers, in: Hess et al. (Fn. 8), S. 297 ff. 97 Frisch, Wolter-FS (Fn. 25), S. 368; Wohlers, ZGR 2016, 364 (379; ders., in: Lehmkuhl/ Wohlers (Fn. 19), S. 133; vgl. auch Kindler (Fn. 26), S. 276. 98 Vgl. LK/Schünemann, 12. Aufl., Vor Art. 25 Rn. 28 m.w.N.; Stratenwerth, in: Geppert et al. (Hrsg.), Schmitt-FS, 1992, S. 303 ff.; Wohlers, SJZ 2000, 381 (387 ff.); kritisch hierzu Kindler (Fn. 26), S. 267 ff.; Kirch-Heim, Sanktionen (Fn. 7), S. 182 ff. 99 Jäger, Imme Roxin-FS (Fn. 7), S. 51 ff. 93
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Es gehe hierbei – so Jäger – „um eine an den Grundsätzen der Spezial- und Generalprävention orientierte Zuschreibung von Verantwortung für fremdes Handeln und fremde Schuld, die allein daraus resultiert, dass die Straftat dem Organisationskreis des Unternehmens entspringt. Es geht tatsächlich um eine fiktive Gesamtverantwortung, die dem Unternehmen aus spezial- und generalpräventiven Gründen schlicht zugeschrieben wird, ohne dass die Feststellung eines konkreten Organisationsverschuldens überhaupt erforderlich wäre.“100
Wie vorstehend ausgeführt,101 nimmt das Konzept einer „Strafe ohne Schuld“ der Sanktion „Strafe“ ihren spezifischen Sinn, die zu einer Beugemaßnahme mutiert, die sich zwar nahtlos in das Instrumentarium zur Erzwingung von Compliance einfügt, die aber mit dem, was wir mit dem historisch gewachsenen Institut der staatlichen Strafe verbinden, nur noch den Namen gemeinsam hat. Ganz offensichtlich verspricht man sich von der Verwendung des Etiketts „Strafe“ präventive Wirkungen, die bei einer anderen Etikettierung nicht eintreten würden. Liest man die Begründungen der verschiedenen Entwürfe, liegt der Verdacht nahe, dass es jedenfalls auch darum geht, dass der Gesetzgeber mit dem Einsatz des Instruments „Strafrecht“ plakativ und – jedenfalls vordergründig betrachtet – ohne den Einsatz größerer finanzieller Mittel deutlich machen kann, dass er die Problematik der aus Unternehmen heraus begangenen Straftaten ernst nimmt und gegen diese „etwas tut“. Ob es sich bei alledem dann um mehr als reine Symbolik handelt,102 hängt davon ab, ob es aufgrund der Strafandrohung zu Verhaltensänderungen bei den Unternehmen und/oder zu Einstellungsveränderungen in der Bevölkerung kommt. An dieser Stelle tut sich nun ein weites Feld für empirische und rechtsvergleichende Analysen auf: Zunächst einmal wäre zu untersuchen, welche Effekte von welchen Sanktionen gegen Unternehmen ausgehen und wie sich diese Effekte im Vergleich zu Modellen darstellen, die auch oder stattdessen auf Instrumente des Zivil- und des Verwaltungsrechts setzen. Des Weiteren wäre zu klären, ob die mit der Einführung von Sanktionen gegen Unternehmen verbundenen Erwartungen in die verhaltensändernde Wirkung bei den Unternehmen und/oder die Einstellungsveränderungen in der Bevölkerung sich realisieren und das auf die Erzwingung von Compliance abzielende Unternehmenssanktionenrecht mehr darstellt als ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für Beratungsunternehmen und Compliance-Beauftragte. Wenn diese blinden Flecken beseitigt sind, wird es möglich sein zu entscheiden, ob an der Fixierung auf monetäre Sanktionen festzuhalten ist, die jedenfalls in den Rechtsordnungen, in denen diese derzeit bereits in Geltung sind, im Verdacht stehen, bei kleineren Unternehmen existenzvernichtend zu sein, während größere Unternehmen sie auch bei weitgehender Ausschöpfung des Strafrahmens eher aus der Portokasse zu begleichen 100
Jäger, Imme Roxin-FS (Fn. 7), S. 52. Vgl. oben II.3. 102 Zur symbolischen Funktion des Strafrechts vgl. Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts – zur Dogmatik „moderner“ Gefährdungsdelikte, 2000, S. 119 ff. m.w.N. 101
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vermögen. Vor diesem Hintergrund wird man dann auch die Frage beantworten können, ob man nicht besser auf nicht-monetäre Sanktionen103 und/oder auf eine Lösung setzen sollte, die außerhalb des Strafrechts anzusiedeln wäre.104
103
Zur Palette möglicher Sanktionen vgl. Wohlers (Fn. 20), S. 238 ff. Vgl. z. B. das Modell des „Folgenverantwortungsdialog“ und hierzu Jahn/SchmittLeonardy/Schoop, wistra 2018, 27 (29 ff.); vgl. auch bereits Schmitt-Leonardy (Fn. 21), Rn. 808 ff. 104
V. Strafprozessrecht
Der Verteidiger und sein Mandant – von Alsberg bis heute Von Werner Beulke
I. Einführung Das Verhältnis des Mandanten zu seinem Verteidiger ist schon oft thematisiert worden, sodass es schwerfällt, insoweit wirklich „Neues“ in die Diskussion einzubringen1. Andererseits ist es ein zentraler Aspekt, der zu den Wurzeln des Rechtsstaates hinführt und von dem ich deshalb hoffe, dass er bei unserem Jubilar Ulrich Sieber auf Interesse stößt. Wenn die Strafverteidigung, wie wir allseits zu Recht sagen, der Seismograph eines rechtsstaatlichen Verfahrens ist, vielleicht sogar des Rechtsstaates insgesamt, dann ist der Umgang mit unseren Mandanten Seismograph einer rechtsstaatskonformen Verteidigung. Gerade bei einem derartigen „Ewigkeitsthema“ sollten wir uns der historischen Wurzeln unserer heutigen Diskussion bewusst werden. Ein Meilenstein ist hierbei für mich das Wirken des berühmten Strafverteidigers der Weimarer Zeit, Max Alsberg, der den Wandel vom früheren Anwaltsbeamten zum freien Advokaten personifizierte2 und der in seinem viel beachteten Beitrag über „Die Philosophie der Verteidigung“3 aus dem Jahre 1930 Maßstäbe gesetzt hat, an die wir heute anknüpfen können und sollten, auch wenn sich die Atmosphäre in deutschen Gerichtssälen inzwischen in vielfacher Weise gewandelt hat. Die Grundsatzprobleme sind die gleichen geblieben. Der Staat, so lesen wir bei Max Alsberg4, habe ein eigenes Interesse daran, dass der Strafanspruch gegen den Angeklagten nur dann bejaht werde, wenn er tatsächlich bestehe. Der Strafprozess kenne nicht nur ein Überzeugtsein seitens der Anklage, sondern sogar die Anerkennung des Überzeugtseins von der Richtigkeit des Standpunkts der anderen Partei. Dass das wahre Recht auch so gesehen werden könne, wie es der Angeklagte – u. U. im Gegensatz zur Anklage – empfinde, oder dass sein abweichender Standpunkt zumindest verständlich gemacht werde, das zu zeigen sei gerade die Aufgabe des Strafverteidigers. Ihm falle es zu, die prinzipielle und allgemei1
Das Manuskript ist entstanden auf der Grundlage eines Vortrages, den der Verfasser auf der 22. Alsberg-Tagung am 29. 11. 2019 in Berlin gehalten hat. 2 Hillebrand, Max Alsberg (1877 – 1933). Chronik eines Anwaltslebens, 2017, S. 80. 3 Alsberg, in: Taschke (Hrsg.), Max Alsberg – Ausgewählte Schriften, 1. Aufl. 1992, S. 323. 4 Alsberg (Fn. 3), S. 326 – 329.
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ne Problematik der Wahrheits- und Rechtsfindung aufzuzeigen. Den hochgemuten, voreiligen Griff nach der Wahrheit müsse der Kritizismus des Verteidigers hemmen. Wahrheit könne nur im dialektischen Prozess gefunden werden. Oft seien es bloße Zweifel in unterschiedlichen Schattierungen, die der Verteidiger säe, oft aber auch mit einem starken, bis zum letzten gesteigerten Überzeugtsein von der Unhaltbarkeit der Vorwürfe, die dem Angeklagten entgegengehalten würden. Der Streit, den der Verteidiger entfache oder verstärke, sei der Vater aller Dinge, der Widerspruch die wahre Wurzel aller Bewegung und Lebendigkeit. All das entspricht inzwischen dem kleinen Einmaleins der Funktion des Strafverteidigers in einem fairen Strafprozess, so wie ihn insbes. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 6 EMRK fordern. Erfreulicherweise besteht insoweit heute ein Grundkonsens in Rechtsprechung und Schrifttum, was Kontroversen über die daraus abzuleitenden Konsequenzen selbstverständlich nicht ausschließt. Dementsprechend betont auch das Bundesverfassungsgericht unmissverständlich, dass der Verteidiger nicht nur im Privatinteresse des Beschuldigten tätig wird, sondern dass er auch öffentliche Aufgaben wahrzunehmen hat und deshalb als Organ der Rechtspflege bezeichnet werden kann.5 Die vorrangigste öffentliche Aufgabe ist die Garantie der Rechtsstaatlichkeit der Strafrechtspflege. Nur vordergründig agiert der Verteidiger ausschließlich gegen das Verfolgungsinteresse des Staates. In Wirklichkeit kommt die einseitige Unterstützung und die damit angestrebte Waffengleichheit allen zugute. Die Gemeinschaft aller Bürger will die Justizförmigkeit des Verfahrens gewahrt wissen. Das garantiert ihr der Strafverteidiger. Auf Einzelheiten der (eingeschränkten) Organtheorie6 soll hier jedoch nicht vertieft eingegangen werden.7 Einige Stichworte müssen genügen: Aufgrund seiner besonderen Stellung verdient der Verteidiger einen großen Vertrauensvorschuss8 und es werden ihm spezielle Rechte eingeräumt, allen voran das uneingeschränkte Kontaktrecht zum Beschuldigten, § 148 StPO, sowie das Akteneinsichtsrecht, § 147 StPO. 5 BVerfG NJW 2006, 3197 (3198); ebenso BGHSt 29, 99 (106); s. auch EGMR NJW 2004, 3317 und NJW 2006, 2901; zustimmend statt aller: Karlsruher Kommentar zur StPO-Willnow, 8. Aufl. 2019, Vor § 137 Rn. 5; Meyer-Goßner/Schmitt StPO, 63. Aufl. 2020, Vor § 137 11. Abschnitt Rn. 1; Hellmann, Strafprozessrecht, 2. Aufl. 2006, Rn. 490; Krey/Heinrich, Deutsches Strafverfahrensrecht, 2. Aufl.2019, Rn. 342; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 29. Aufl. 2017, § 19 Rn. 3 ff.; SK-StPO-Rogall, 5. Aufl. 2016, Vor § 133 Rn. 95; Schroeder/ Verrel, Strafprozessrecht, 7. Aufl. 2017, Rn. 79. Nach BGH StB 25/20 vom 18. 08. 2020 ist der Pflichtverteidiger sogar „allein“ im öffentlichen Interesse tätig – hier gegen SSW-StPO-Beulke, 4. Aufl. 2020, § 143 Rn. 29. 6 Vert. Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, 1980, S. 164 ff.; Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, 15. Aufl. 2020, Rn. 150; SSW-StPO-Beulke, 4. Aufl. 2020, Einl. Rn. 161 ff. 7 Zu vorrangig verfassungsrechtlichen Ansätzen statt aller: MüKoStPO-Thomas/Kämpfer, § 137 Rn. 4; Radtke/Homann-Reinhart StPO, 2011, § 137 Rn. 10 ff.; Ignor/Danckert, in: Ziegert (Hrsg.), Grundlagen der Strafverteidigung, 2000, S. 17; zur Vertragstheorie: LR-Jahn, 27. Aufl. 2020, Vor § 137 Rn. 29; Jahn, StV 2014, 40 (44). 8 Vgl. BVerfG NJW 2006, 1500 (1501); vgl. BVerfG NJW 2012, 2790 [Rn. 39]; SSWStPO-Beulke, 4. Aufl. 2020, Einl. Rn. 161.
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Als Kehrseite dieser besonderen Machtbefugnisse sind seine Pflichten einzustufen, die es ihm verbieten, das Strafverfahren zu sabotieren.9 Vorrangig geht es um die Pflicht, vor Staatsanwaltschaft und Gericht zwar nicht die ganze Wahrheit sagen zu müssen, aber nur das zu sagen, was wahr ist.10 Ferner muss er beispielsweise auch das Verbot, keine Beweisquellen zu trüben11 und keinen belastenden Beweismitteln „Asyl“ zu gewähren12 beachten.
II. Die Unabhängigkeit des Verteidigers gegenüber dem Mandanten Mir geht es hier jedoch nicht um die Beziehung des Verteidigers zu den Strafverfolgungsorganen, sondern speziell um das Binnenverhältnis des Verteidigers zum Beschuldigten. Die Wächteraufgabe im Interesse der Allgemeinheit bedingt, dass der Verteidiger nicht nur gegenüber dem Staat, sondern auch gegenüber seinem Mandanten unabhängig ist. Manche leugnen zwar diese Unabhängigkeit13, zu Recht sieht das aber die ganz herrschende Rechtsprechung und Lehre anders.14 Kommt es zu Kontroversen zwischen Anwalt und Mandant und verlangt der Mandant eine Vertei9 BGH NStZ 2009, 692; Beulke, in: Böse/Sternberg-Lieben (Hrsg.), Amelung-FS, 2009, S. 543; Beulke/Swoboda (Fn. 6), Rn. 194; anders insoweit Roxin, in: v. Ebert/Rieß/Roxin/ Wahle (Hrsg.), Hanack-FS, 1999, S. 1, 14. 10 BGHSt 2, 375; Dahs, StraFo 2000, 181; zum Ganzen statt aller: Beulke/Ruhmannseder, Die Strafbarkeit des Verteidigers, 2. Aufl. 2010, Rn. 17 ff.; Fahl, Beulke-Symposion, 2012, S. 17 ff.; Gercke, StV 2020, 201; Kindhäuser/Schuhmann, Strafprozessrecht, 5. Aufl. 2019, § 7 Rn. 8 f.; Kudlich, in: Fahl et al. (Hrsg.), Beulke-FS, 2015, S. 831 (835); Lackner/Kühl StGB, 29. Aufl. 2018, § 258 Rn. 9; Eck. Müller, Beulke Symposion, 2012, S. 7 ff.; Müller/ Gussmann, Berufsrisiken des Strafverteidigers, 2007, § 19 Rn. 14 ff.; SK-StGB-Hoyer, 9. Aufl. 2016, § 258 Rn. 28; Wessels/Hettinger/Engländer, 44. Aufl. 2020, Rn. 712; Wu, Beulke-FS, S. 1081; krit. Bernsmann, StraFo 1999, 230; Sommer, Effektive Strafverteidigung, 3. Aufl. 2016, Kap. 1 Rn. 181 ff.; Wohlers, in: Satzger/Fahl/Swoboda/Müller (Hrsg.), BeulkeFS, 2015, S. 1067. 11 RGSt 50, 346, 366. 12 BGH StV 2019, 164; Beulke, StV 2019, 205; weitere Beispiele auch bei Beulke, in: Schünemann/Achenbach/Bottke/Haffke/Rudolphi (Hrsg.), Roxin-FS zum 70. Geburtstag, 2001, S. 1173; Beulke, in: Barton/Fischer/Jahn/Park (Hrsg.), Schlothauer-FS, 2018, S. 315; Bosch, Jura 2012, 938; NK-StGB-Altenhain, 5. Aufl. 2017, § 258 Rn. 32 ff.; SSW-StGB-Jahn, 4. Aufl. 2019, § 258 Rn. 25 ff.; LK-Tonio Walter, 12. Aufl. 2010, § 258 Rn. 68 ff.; Schönke/ Schröder-Hecker, 30. Aufl. 2019, § 258 Rn. 19 ff. 13 S. nur LR-StPO-Jahn, 27. Aufl. 2020, Vor § 137 Rn. 62, § 137 Rn. 27 f.; MüKoStPOThomas/Kämpfer, § 137 Rn. 10; Wolf, Das System des Rechts der Strafverteidigung, 2000, S. 379. 14 BGH StV 1993, 564; SSW-StPO-Beulke, Einl. Rn. 168; Meyer-Goßner/Schmitt, Vor § 137 11. Abschn. Rn. 1; Engländer, Examens-Repetitorium Strafprozessrecht, 10. Aufl. 2020, Rn. 68; Kudlich/Knauer, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius (Hrsg.), Handbuch des Strafrechts, Band 1, 2019, § 16 Rn. 12; Kühne, Strafprozessrecht, 9. Aufl. 2015, Rn. 178; MAHStrafrecht-Salditt, § 1 Rn. 39; MüKo-StGB-Cramer, 3. Aufl. 2017, § 258 Rn. 20; Putzke/ Scheinfeld, Strafprozessrecht, 8. Aufl. 2019, Rn. 389.
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digungsstrategie, die nach Ansicht des Profis in die Katastrophe führen würde, so liegt die Konfliktlösung nicht im Gehorsam des Verteidigers gegenüber seinem Mandanten. Auch hier finden wir bereits bei Max Alsberg wegführende Überlegungen: Es sei sein Glaube an die Kraft des Arguments, der dem seelischen Verhalten des Verteidigers gegenüber seinem Schutzbefohlenen die Richtung gebe.15 Das bedeute selbstverständlich nicht, dass der Verteidiger seinem Mandanten blind Glauben schenke. Im Extremfall dürfe sich der Vertreter der angeklagten Partei sogar in Widerspruch zu dem Vorbringen seines Schutzbefohlenen setzen und müsse mit seinen Beweisanträgen selbst dann gehört werden, wenn ihnen entgegengehalten werden könne, dass der Angeklagte das Gegenteil des unter Beweis Gestellten bereits zugestanden habe.16 Eine solche Extremposition wird heute gerne als inakzeptable „Zwangsbeglückung“ etikettiert.17 Das erscheint mir nicht sachgerecht. Die Grundkonzeption, dass die Verantwortung für eine erfolgreiche Verteidigung in erster Linie beim Strafverteidiger liegt, halte ich nach wie vor für richtig. Ebenso wie der Chirurg den Patienten vor der Operation kaum danach befragen wird, wie er die Schnitte anzusetzen habe, wird sich der Verteidiger nachdem er die notwendigen Informationen erhalten hat, zunächst einmal selbst die seiner Meinung nach effektivste Verteidigungsstrategie zurechtlegen und diese erst in einem weiteren Schritt mit dem Mandanten abstimmen. Der Beschuldigte ist von dieser Aufgabe im Regelfall völlig überfordert. So verstehen beispielsweise nur wenige Betroffene, was in deutschen Gerichtssälen unter der Flagge der „Verständigung“ abläuft. Das Risiko der späteren Aufkündigung der Absprache durch das Gericht nach Abgabe eines qualifizierten Geständnisses seitens des Beschuldigten kann nun wirklich kein juristischer Laie realistisch abschätzen. Nicht zufällig werden Absprache-Verhandlungen üblicherweise zwar mit dem Verteidiger, aber gerade ohne Beisein des Beschuldigten geführt. Dass gerade die Zustimmung des Verteidigers zur Absprache vom Gesetz nicht gefordert wird (siehe § 257c Abs. 3 Satz 4 StPO) kann nur als gesetzgeberischer Faux Pas eingestuft werden.18 Ein Beschuldigter, der ein von den Vorschlägen des Strafverteidigers abweichendes und vorzugswürdigeres Konzept für seine eigene Verteidigungsstrategie unterbreitet, ist bei realistischer Betrachtungsweise nur eine eher theoretische Option – jedenfalls sofern es sich nicht um einen ausgebildeten Juristen handelt. Welcher juristische Laie soll denn ermessen können, ob im Falle des denkbaren Eingreifens von Beweisverwertungsverboten pro oder contra der Einlegung eines Widerspruchs über15
Alsberg (Fn. 3), S. 328 f. Alsberg (Fn. 3), S. 327. 17 Barton, Beulke-FS (Fn. 10), S. 605 (620); Wohlers, Beulke-FS (Fn. 10), S. 1067 (1075 ff.). 18 Vertiefend Beulke, Schlothauer-FS (Fn. 12), S. 315 (329). 16
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wiegen? Solche Beispiele ließen sich unendlich fortführen. Der Strafverteidiger erlebt seine Mandanten wie Käfer, die auf dem Rücken liegen und denen geholfen werden muss, überhaupt erst wieder Land unter die Füße zu bekommen. Die für einen Normalbürger irrwitzigen juristischen Termini empfinden Beschuldigte als dem Wudu-Zauber nahestehende Folterinstrumente. Sie vor dieser Tortur zu bewahren, das ist die zentrale Aufgabe des Strafverteidigers. Andererseits verlangt die Fairness, dass derjenige, um den es geht, sein Schicksal nicht fatalistisch über sich ergehen lassen muss. Konflikte sind zum Beispiel denkbar, wenn es um Trunkenheitsdelikte im Straßenverkehr geht und der Angeklagte, der nicht am Steuer saß, durch ein falsches Geständnis anstelle der Ehefrau, der eigentlichen Unfallverursacherin, die Verurteilung in Kauf nehmen will, um seiner Gattin ihren beruflich benötigten Führerschein zu retten. Beweisanträge nach dem Muster von Max Alsberg in Widerspruch zu einem vorangegangenen Geständnis des Beschuldigten, halte ich zwar – insbesondere bei Anklagen wegen Kapitaldelikten bis hin zu Totschlag und Mord – aufgrund der Unabhängigkeit des Verteidigers vom Mandanten für juristisch zulässig,19 gleichwohl für eine schlechte Lösung. Sollte es zu keiner Einigung kommen, so erscheint es vorzugswürdiger, dass der Wahlverteidiger das Mandat niederlegt und der Pflichtverteidiger wegen fehlenden Vertrauensverhältnisses die Aufhebung der Beiordnung beantragt.20 Aus meiner Sicht führt die organschaftlich begründete Unabhängigkeit vom Mandanten übrigens auch geradezu zwangsläufig zu einem vom Mandantenwillen unabhängigen Zeugnisverweigerungsrecht bzgl. all der Informationen, die der Verteidiger selbst recherchiert hat. Das hat sich zwar bis heute bei uns in Deutschland noch nicht durchsetzen können, in anderen europäischen Ländern – z. B. in Österreich – ist ein derartiger Schutz des Verteidigers vor Preisgabe seiner Verteidigungsinterna hingegen längst Realität.21 Es überzeugt mich nicht, wenn die Gegenansicht die Flagge des Selbstbestimmungsrechts des Mandanten schwingt. Jedenfalls in Wirtschaftsstrafverfahren ist die Befreiung des Strafverteidigers von der Verschwiegenheitspflicht zumeist gerade keine autonome Entscheidung des Beschuldigten, sondern Ergebnis des Drucks, der auf ihn vom Unternehmen, seinem Arbeitgeber, ausgeht. Noch komplizierter wird es, falls das derzeit geplante Verbandssanktionengesetz Wirklichkeit werden sollte, weil dort der Beschlagnahmeschutz bzgl. der beim Anwalt verwahrten Ergebnisse der internen Untersuchungen, die im Auftrag des Unternehmens durchgeführt worden sind, ausdrücklich weiter eingeschränkt werden soll.22 Hier könnte 19 So schon Beulke, Der Verteidiger (Fn. 6), S. 120; Schlothauer, Beulke-FS (Fn. 10), S. 1023 (1029). 20 Noch zurückhaltender Beulke, Der Verteidiger (Fn. 6), S. 122. 21 Vert. Beulke, in: Schulz/Reinhart/Sahan (Hrsg.), Imme Roxin-FS, 2012, S. 555. 22 §§ 18 Abs. 1 Nr. 4, 35. Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft. (Bearbeitungsstand: 16. 06. 2020); mustergültig hingegen insoweit Henssler/ Hoven/Kubiciel/Weigend, NZWiSt 2018, 4, 10 (§ 18 Kölner Entwurf eines Verbandssanktionsgesetzes); dazu Zerbes/El-Ghazi, NZWiSt 2018, 425 (430); Saliger/Tsambikakis/Mü-
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ein Gegenrecht in Gestalt eines eigenen Zeugnisverweigerungsrechts des Verteidigers vielleicht einen allzu großen Appetit der Strafverfolgungsbehörden auf die anwaltsseitig gesammelten Ermittlungsergebnisse zügeln.
III. Das Informationsniveau seitens des Beschuldigten Die Wächterfunktion des Verteidigers, die es ihm einerseits gebietet, im Interesse der Effektivität der Rechtspflege bestimmte prozessual relevante Verhaltensweisen zu Unterlassen23 und andererseits verlangt, sich unabhängig vom Willen des Mandanten für eine bestmögliche Verteidigung einzusetzen, bedingt eine wichtige weitere Grundsatzfrage: Ist es eigentlich ratsam, dass der Verteidiger alles weiß, was seinerzeit in Bezug auf den heutigen Tatvorwurf vorgefallen ist? Entsprechend der allseits bekannten Formel „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“ könnte der Beistand vielleicht besser beraten sein, sich möglichst lange im Stadium des „Nichtwissens“ zu bewegen, um so nicht „Opfer“ seiner Organstellung zu sein. Derjenige, der gutgläubig eine unwahre Behauptung des Mandanten seiner Verteidigungsstrategie zugrunde legt, kann eben gerade nicht gem. § 258 StGB wegen eines Verstoßes gegen die Wahrheitspflicht zur Rechenschaft gezogen werden und er gerät auch nicht in die Zwickmühle, sich im Interesse einer bestmöglichen Verteidigung gegen seinen Auftraggeber durchsetzen zu müssen. Es geht also um die „Gretchenfrage“ jeder Verteidigung: Willst Du als Verteidiger intern alles wissen oder kannst Du besser kämpfen, wenn Du unbefangen bist? Max Alsberg tendierte zu Letzterem. Dass das Bewusstsein des „Nichtwissens“ ein positiver Wert sei, das habe schon die griechische Philosophie erkannt. Es sei „ein Glauben, was dem seelischen Verhalten des Verteidigers gegenüber seinem Schutzbefohlenen die Richtung“ gebe24. Er wolle die eigene Unabhängigkeit vom Staat und vom Mandanten dadurch absichern, dass er sich notfalls über die Unschuld seiner Schutzbefohlenen selbst etwas vormache. Werner Sarstedt hat diese Herangehensweise an das Verteidigungsmandat wohlwollend kommentiert.25 Heute tendiert man aber wohl eher zu einer kritischen Sichtweise. Max Alsberg wird vorgeworfen, er habe bei seiner Zurückhaltung gegenüber allzu großer Ehrlichkeit im Verhältnis Verteidiger/Mandant falsche Impulse gesetzt. Intern müsse Tacheles gesprochen werden. Wer heute junge Anwälte darin ausbilde, wie eine Strafverteidigung de lege artis bewerkstelligt werde, dürfe sich – so wird von Stephan Barton26 nachdrücklich gefordert – keinesfalls am „Modell Alsberg“ orientieren. ckenberger/Huber (Hrsg.), Münchner Entwurf eines Verbandssanktionsgesetzes, 2019, S. 94 f. (zu § 38); s. auch Moosmayer/Petrasch, ZHR 2018, 504 (537). 23 Beulke, Schlothauer-FS (Fn. 12), S. 315 (324); Fischer, StGB, 66. Aufl. 2019, § 258 Rn. 16. 24 Alsberg (Fn. 3), S. 328. 25 Sarstedt, in: Taschke (Hrsg.) (Fn. 3), S.17, 29 ff. 26 Barton, Schlothauer-FS (Fn. 12), S. 81, 91 ff.
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Ich halte auch diese Kritik für überzogen. Im Einzelfall mag der Mandant dazu drängen, gegenüber seinem Anwalt sein Herz auszuschütten, und wenn es sich insoweit um ein tiefes Bedürfnis des Beschuldigten handelt, so sollte sich der Verteidiger dem nicht widersetzen. Keineswegs erscheint es mir aber sinnvoll, seitens des Verteidigers stets umfassende Aufklärung zu verlangen. Zwar sollte der Mandant seinem Verteidiger möglichst viele Fakten benennen, deren Offenbarung im Laufe des Strafverfahrens droht, damit der Anwalt bei Staatsanwaltschaft und Gericht gegen Überraschungen gefeit ist, das sollte aber nicht gleichgesetzt werden mit dem Leitbild des „gläsernen Mandanten“. Ein gut beratener Verteidiger provoziert im Regelfall kein Geständnis des Mandanten ihm gegenüber, auch wenn es nach Eindruck des Anwalts dem Mandanten auf der Zunge liegen mag. Taktisch klüger ist es, nicht alles zu wissen, sondern sich den Elan der unbefangenen Gegenwehr zu erhalten. Jeder Beschuldigte hat ein Recht auf engagierte Verteidigung – der unschuldige wie der schuldige. Der eingeschränkte „gute Glaube“ kann sich für den Verteidiger im Konfliktfall als durchaus geschätztes Schutzschild erweisen. Das ist auch der Leitgedanke der Rechtsprechung des BVerfG zur Geldwäsche bei Entgegennahme eines unter Umständen „kontaminierten“ Verteidigerhonorars.27 Solange der Strafverteidiger nicht mit dolus directus handelt, schützt ihn sein Verteidigerprivileg – und das gilt nicht nur bzgl. der Strafbarkeitsrisiken bei § 261 StGB, sondern auch bzgl. der stets drohenden Strafbarkeit gem. § 258 StGB. Geschützt durch seinen guten Glauben (von dem, wie bereits hervorgehoben wurde, aufgrund des ihm eingeräumten Vertrauensvorschusses im Zweifel immer auszugehen ist28) wird der Verteidiger gerade kein Opfer seiner – wenn auch eingeschränkten – Wahrheitspflicht.29 Jeder erfahrene Verteidiger weiß, dass ihm Mandanten u. U. nicht die Wahrheit sagen und er zieht das von vornherein in Betracht. Eine natürlich erforderliche detaillierte Befragung führt dazu, dass ihm nach möglichst umfassender juristischer Beratung die wichtigsten objektiven Daten mitgeteilt werden. Der Beschuldigte sollte möglichst die rechtlichen Konsequenzen kennen, bevor ins Detail gegangen wird. Das betrifft erst recht die subjektive Seite der vorgeworfenen Tat, so z. B. die subjektiven Aspekte bei den Mordmerkmalen. Ein weiteres lebensnahes Beispiel ist die Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit.30 Die Aussage, „ich habe zwar ein Risiko erkannt, aber fest darauf vertraut, dass der Erfolg ausbleibt, weshalb mir der Vorsatz fehlt“, ist selbst dem unschuldigsten Beschuldigten ohne vorherige Belehrung noch 27 BVerfGE 110, 226; MüKo-StGB-Neuheuser, 3. Aufl. 2017, § 261 Rn. 84 ff.; BeckOKStGB-Ruhmannseder, § 261 Rn. 41 ff. 28 BGH NStZ 2006, 510. 29 Vert. Hellmann (Fn. 6), Rn. 492. 30 BGHSt 7, 369; 36, 9; 63, 88 (Rn. 17); BGH NStZ 2018, 37, 38; Einzelheiten bei Fischer, § 15 Rn. 9 ff.; SSW-StGB-Momsen, § 15 Rn. 46 ff., 55 ff.; Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT, 50. Aufl. 2020, Rn. 333 ff., 338.
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nicht über die Lippen gekommen. Der Normalbürger kennt sich in unserer Fachsprache nicht aus. Die leider immer wieder zu beobachtende Strategie von Polizeibeamten, den juristisch ungeschulten Verdächtigten bei der Erstvernehmung ohne Verteidigermitwirkung in die Enge zu treiben, indem er ihn angefragte subjektive Sichtweisen bestätigen lässt, deren Tragweite er nicht ansatzweise ermessen kann, wird von unserer Gesellschaft zu Unrecht als Meisterleistung kriminalistischer Kunst gefeiert (s. dazu auch sogleich unter IV.). Dem kann der Verteidiger bei Festlegung der Verteidigungsstrategie nur eine möglichst „bürgernahe“ (unjuristisch formulierte) Aufzeigung aller Alternativen entgegensetzen. Er wird dann nach dieser fairen Information von der vom Mandanten laienmäßig umschriebenen, „günstigsten“ Fallgestaltung ausgehen, solange ihn der weitere Prozessablauf nicht zur Korrektur zwingt. Auf eine weitere Offenbarung sollte der Verteidiger trotz der ihm obliegenden Verschwiegenheitspflicht auch intern nicht dringen.
IV. Autonomieprinzip und Pflichtverteidigung Die Hinterfragung des Verhältnisses von Verteidiger und Beschuldigten gibt ferner Veranlassung, zu einem besonders aktuellen Problem Stellung zu beziehen. Es geht um die Umsetzung der Richtlinie EU 2016/191931 „über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls“ in nationales Recht. An dieser Stelle interessiert der Stellenwert des Autonomieprinzips bei der Entscheidung des Beschuldigten, ob ein Pflichtverteidiger hinzugezogen werden soll oder ob er auf den Beistand gerade verzichten möchte. Bei der Neufassung der §§ 141 ff. StPO durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. 12. 201932 wurden Formulierungen gewählt, die zumindest missverständlich sind. Das neue, ab dem 01. 01. 2020 geltende Pflichtverteidigerrecht hat bzgl. der Pflichtverteidigerbeiordnung ein Antragsmodell seitens des Beschuldigten eingeführt (§ 141 Abs. 1 Satz 1 StPO n.F.) und sieht nur noch hilfsweise einen entsprechenden Antrag der Staatsanwaltschaft vor (Einzelheiten s. §§ 141 Abs. 2, 141a, 142 StPO n.F.). Über den Antrag ist spätestens vor einer Vernehmung des Beschuldigten oder einer Gegenüberstellung mit ihm zu entscheiden (§ 141 Abs.1 Satz 2 StPO n.F.). Für die Entscheidung zuständig ist das Gericht, sofern die Staatsanwaltschaft nicht ausnahmsweise im Wege einer Eilentscheidung selbst den Pflichtverteidiger bestellt (§ 142 Abs. 4 StPO n.F.), wobei hinsichtlich der gerichtlichen Zuständigkeit differenzierende Regelungen getroffen wurden (Einzelheiten insoweit s. §142 Abs. 3 StPO n.F.).
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ABl. L 297 vom 4. 11. 2016, S. 1; L 91 vom 5. 4. 2017, S. 40. BGBl I 2019, S. 2128.
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§ 141 Abs. 2 Satz 1 StPO erweckt nun den Anschein, als sei trotz Vorliegens einer notwendigen Verteidigung bei Fehlen des Antrags seitens des Beschuldigten die Bestellung des Pflichtverteidigers im Ermittlungsverfahren die Ausnahme, die nur in den in § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 – 3 StPO n.F. geregelten Fallgruppen eingreift – ergänzt durch weitere Einschränkungen in § 141a StPO.33 Die lückenlose Bestellung eines Pflichtverteidigers bei Fehlen eines entsprechenden Antrags sowohl seitens des Beschuldigten als auch seitens der Staatsanwaltschaft wäre dann also erst gewährleistet, wenn der Beschuldigte gemäß § 201 StPO zur Erklärung über die Anklageschrift aufgefordert, also das Zwischenverfahren eingeleitet worden ist oder wenn sich erst später ergibt, dass die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig ist (§ 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 StPO n.F.). So sehr es zu begrüßen ist, dass nunmehr ein eigenes Antragsrecht des Beschuldigten anerkannt wird, so sehr muss doch gefordert werden, dass für den Fall, dass der Beschuldigte die Pflichtverteidigerbestellung nicht „ausdrücklich beantragt“ (§ 141 Abs.1 Satz 1 StPO n.F.) hilfsweise eine Bestellung des Pflichtverteidigers von Amts wegen stattfindet. Eine notwendige Verteidigung ist eine notwendige Verteidigung – warum nur im Hauptverfahren und nicht auch im Ermittlungsverfahren? Gerade im Falle, dass dem Beschuldigten die Begehung gravierender Delikte zur Last gelegt wir, wie z. B. beim Verbrechensvorwurf (§140 Abs. 1 Nr. 2 StPO n.F.) – aber natürlich nicht nur dort! – ist die Mitwirkung eines Verteidigers immer „im Interesse der Rechtspflege erforderlich“ (Art. 6 Abs. 3 lit. c) EMRK). Nach Art 4 Abs. 5 PKH-Richtlinie hat jeder Mitgliedsstaat sicherzustellen, dass Prozesskostenhilfe unverzüglich und spätestens vor einer Befragung durch die Polizei, eine andere Strafverfolgungsbehörde oder eine Justizbehörde bewilligt wird. Diese Forderung der EU-Richtlinie nach legal aid vor der ersten Vernehmung kann für Deutschland mit seinem System der notwendigen Verteidigung/Pflichtverteidigung doch nur bedeuten, dass der Pflichtverteidiger immer bestellt werden muss, wenn eine Alternative des § 140 StPO n.F. (oder einer der sonstigen Fälle notwendiger Verteidigung, die über das gesamte Prozessrecht verstreut sind) einschlägig ist, die doch in das Gesetz aufgenommen wurden, weil bei ihnen davon auszugehen ist, dass der Beschuldigte ohne Verteidiger nicht zurecht käme. Das ist nicht nur eine Konsequenz der EU-Richtlinie, sondern auch eine Folge des Rechtsstaatsgebots, hier in seiner Ausprägung, dass das Strafverfahren den Grundsätzen des fair trial genügen muss (Art. 20 Abs. 3 GG).34 Eine grundgesetz- und richtlinienkonforme Auslegung des § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO n.F. ergibt, dass in allen Fallgruppen der notwendigen Verteidigung „im Vorverfahren ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte, insbesondere bei einer Vernehmung des Beschuldigten… nicht selbst verteidigen kann“ (§ 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO n.F.) mit der Konsequenz, dass ihm dann auch im Ermitt33 Dazu Beulke, Editorial NStZ Heft 10/2019; SSW-StPO-Beulke, § 141a Rn. 1 ff.; Beulke/ Swoboda (Fn. 7), Rn. 251, 260. 34 Vert. SSW-Beulke, § 140 Rn. 23.
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lungsverfahren, insbesondere vor der ersten polizeilichen Vernehmung, notfalls ein Pflichtverteidiger von Amts wegen bestellt werden muss. Und die Moral von der Geschichte? Auch die Frage, ob im Fall der notwendigen Verteidigung mit oder ohne Verteidiger agiert werden soll, kann nicht allein der Autonomie des Beschuldigten anheimgestellt werden.
V. Der „politisch orientierte“ Mandant Schließlich sei noch ein Aspekt aus dem Themenbereich Verteidiger und Mandant angesprochen, der in jüngster Zeit verstärkt die Fachöffentlichkeit interessiert, nämlich dem der Verteidigung von „politischen Außenseitern“ – sei es im linken, inzwischen aber verstärkt im rechten Spektrum. Auch hier lehrt ein Blick in die Vergangenheit und auf das Schicksal von Max Alsberg, die rechtsstaatliche Funktion des Strafverteidigers nicht aus den Augen zu verlieren. Bedrängt und desillusioniert durch die Nationalsozialisten wurde Max Alsberg schon im Jahre der Machtergreifung Hitlers 1933 in den Suizid getrieben. Obwohl ihm Professuren in England und Amerika angeboten wurden, hat er nicht weiterleben wollen, weil ihm die Bühne fehlte, um sein Talent bei der Einflussnahme auf das Geschick des Strafprozesses unter Beweis zu stellen. Er war stolz darauf, jeden – gleichgültig ob politisch links oder rechts stehend – zu verteidigen. „Je unsympathischer ihm die Sache wurde, umso entschlossener war er, diesen Mann mit allen Mitteln, die ihm zu Gebote standen, zu verteidigen“.35 Seine größte Tragik bestand darin, dass er in einer Reihe von Prozessen gerade denjenigen Kräften zu Etappensiegen verhalf, die ihn später vernichten sollten. Im Gleichklang mit der Mehrheit der Bevölkerung des Deutschen Reiches fehlte ihm der Weitblick hinsichtlich der desaströsen langfristigen Zerstörungswut der Nationalsozialisten. Verhängnisvoll war insbesondere sein phänomenaler Einsatz im schon 1920 stattfindenden Strafverfahren gegen Dr. Karl Helfferich, einem Repräsentanten der alten Eliten des Kaiserreichs, die danach trachteten, die früheren Verhältnisse zu restaurieren.36 Der Beschuldigte war wegen Beleidigung von Minister Matthias Erzberger angeklagt. In diesem Prozess erfolgte die Demontage des als Nebenkläger auftretenden Opfers vorrangig durch die Beweisanträge des Verteidigers Max Alsberg. Die Anträge bezweckten, die Wahrheit der ehrabschneidenden Vorwürfe zu beweisen, dass „Kriegsgewinner“ Matthias Erzberger eine Mitschuld daran trug, dass der greifbare deutsche Sieg im ersten Weltkrieg verhindert wurde. Der Prozess fand den lebhaften Beifall der Rechtspresse. Während des laufenden Verfahrens wurde auf Erzberger beim Verlassen des Gerichtssaals sogar ein Pistolen-
35 Curt Riess, Der Mann in der schwarzen Robe – Das Leben des Strafverteidigers Max Alsberg, 1965, S. 35. 36 Hillebrand (Fn. 2), S. 171.
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attentat verübt, bei dem er eine Schussverletzung in der Schulter erlitt.37 Die Verurteilung des Angeklagten Karl Helfferich zu 300,– RM, die dem Antrag des Staatsanwalts entsprach, der sich im Prozess bereits gegen das Opfer gewandt und im Einklang mit dem Gericht auf die Seite des Angeklagten geschlagen hatte, kann nur als Demütigung des Opfers bezeichnet werden. Dieser hohe Wellen schlagende Strafprozess war ein wichtiger Grundstein für Max Alsbergs atemberaubende Karriere, die ihn in den zwanziger- und Anfang der dreißiger Jahre zu dem gesuchtesten Anwalt Deutschlands gemacht haben, zudem zu einem berühmten Autor von einschlägigen Theaterstücken und Filmen wie der „Voruntersuchung“.38 Obwohl zu seinen Mandanten auch rechtsgerichtete Bürger mit ähnlicher Gesinnung wie Karl Helfferich zählten,39 haben ihn die Nationalsozialisten gehasst, weil er ebenfalls Mandanten aus dem linken politischen Spektrum verteidigt hat. Insbesondere zog er sich durch die Verteidigung von Carl von Ossietzky im Landesverratsprozess (1931) den Zorn der Nationalsozialisten zu.40 Sie haben ihn, einen der bekanntesten deutschen Juden seiner Zeit, schon bald nach der Machtergreifung aus seinem Vaterland vertrieben. Es bleibt die bittere Erkenntnis: Ein sich für unpolitisch haltender Anwalt hat seine eigenen „Henker“ stark gemacht! Von diesem Schicksal geht bis heute die Botschaft aus, die politischen Implikationen einer Verteidigung nicht auszuklammern. Der Strafverteidiger ist kein Mietknecht des Beschuldigten, nach dessen Pfeife er zu tanzen hätte. Die Anwaltschaft ist in der Auswahl ihrer Mandantschaft frei und sie beachtet die Strafgesetze, wie z. B. das Verbot der Beleidigung, der Holocaust-Leugnung oder der Volksverhetzung.41 Jeder hat insoweit seine eigene Firewall zu ziehen. Die politische Naivität der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts ist heute überwunden. Anwälte sind weder auf dem linken noch auf dem rechten Auge blind. Andererseits bedarf es auch insoweit der Mahnung, über die political correctness die Aufgaben des Verteidigers nicht zu vergessen. Eine vielfach beklagte, zunehmende Unduldsamkeit gegenüber Meinungsäußerungen Andersdenkender sollte in der Anwaltschaft keine Heimstatt finden. Letztlich hat jeder Beschuldigte einen Anspruch auf professionellen Beistand – der Mörder oder der Bankräuber genauso wie der Bänker – aber eben auch der Sexualstraftäter oder der Terrorist, gleich welcher Couleur. In der Hoffnung, dass Ulrich Sieber meiner Positionsbestimmung im Verhältnis des Verteidigers zum Beschuldigten zumindest wohlwollendes Verständnis entgegenbringt, wünsche ich dem Jubilar ein langes, gesundes Leben in ungebrochener Schaffenskraft.
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Hillebrand (Fn. 2), S. 180; dazu Barton, Schlothauer-FS (Fn. 12), S. 81. Curt Riess (Fn. 35), S.217. 39 Hillebrand (Fn. 2), S. 185. 40 Hillebrand (Fn. 2), S. 397 f., 408 f., 428. 41 BGHSt 46, 36; 47, 278 (284); BGH NStZ 2006, 510; Fischer, § 130 Rn. 54; s. auch Eck. Müller, Beulke-FS (Fn. 10), S. 889 (896). 38
Die Zunahme des staatlichen Interventionismus bei der Ermittlung von Straftaten Von Juan-Luis Gómez Colomer*
I. Die tatsächliche Lage und ihre Ursachen Ein aufmerksamer Beobachter der Realität nimmt seit einiger Zeit deutlich wahr, dass der staatliche Interventionismus im Strafverfahren, namentlich bei der Ermittlung von Straftaten, deutlich zugenommen hat, was zu einer neuen Ausgestaltung dieses Verfahrensabschnitts geführt hat.1 In Spanien hat ein Gesetz aus dem Jahr 2015 mehrere Maßnahmen, die die genannte Tendenz widerspiegeln, in unser Strafverfahren eingeführt [neue Artikel 588 bis a) bis 588 octies der spanischen Strafprozessordnung, nachfolgend „Span. StPO“].2 Es beunruhigt mich, dass die Verteidigung der Demokratie es scheinbar erforderlich macht, die Ermittlung bis an die Grenze des Zumutbaren zu treiben oder gar ihre Fundamente zu erschüttern, wenn auch nur minimal. Dies scheint mir eher einem schwachen Staat eigen zu sein, dem die Hand zittert, wenn er die Demokratie zu verteidigen hat, und der sich als Antwort zu aggressiven Ermittlungshandlungen entschließt. Zum anderen bemerke ich mit Verwunderung, dass sodann zur Beruhigung der Bevölkerung darauf hingewiesen wird, dass die Demokratie dadurch nicht beeinträchtigt wird und dass der Staat dieselben rechtlichen Garantien einräumt wie bisher, * Aus dem Spanischen von Achim Puetz, Abteilung für Privatrecht, Jaume I-Universität, Castellón. 1 Roxin, C., „Sobre el desarrollo del Derecho Procesal Penal alemán“, in: Duque Pedroza, A. F. (Comp.), Perspectivas y retos del proceso penal, Universidad Pontificia Bolivariana, Medellin (Kolumbien), S. 368 ff. Zu diesem Beitrag heißt es im umfangreichen Schriftenverzeichnis von Claus Roxin, das unter http://www.claus-roxin.de/ eingesehen werden kann, unter Abhandlungen, Aufsätze, Referate, Teil II, Nr. 294, dass es sich um die Erweiterung eines früheren Beitrags handelt, der unter Bücher und Kommentierungen (Teil I, Nr. 38, Beitrag 1) aufgeführt ist. Eine deutsche Fassung des Aufsatzes ist somit nicht von seinem Autor veröffentlicht worden. 2 Organgesetz Nr. 13/2015 v. 5. Okt. 2015 zur Änderung der Strafprozessordung zur Stärkung der Verfahrensgarantien und über die Regelung von technischen Ermittlungsmethoden. Siehe auch die Art. 14 ff. des Übereinkommens über Computerkriminalität, abgeschlossen in Budapest am 23. Nov. 2001 (Ratifizierung im spanischen Amtsblatt – BOE – v. 17. Sept. 2010).
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oder gar noch mehr. Meines Erachtens ist dies entweder eine Übertreibung oder eine Unbesonnenheit, wenn man den Begriff der Garantie auf den einheitlichen, allgemeinen und konstanten verfassungsrechtlichen Schutz allein des Angeklagten beschränkt,3 denn die Realität stellt unter Beweis, dass die Staaten sich über den Weg des Strafverfahrens selbst stärken, um auch die Demokratie zu verteidigen – sicherlich keine schlechte Zielsetzung –, und dazu werden Garantien eingeschränkt und manchmal sogar abgeschafft. Ich möchte nur vor den Gefahren warnen und nicht leugnen, dass der Staat auf bestimmte Arten von Verbrechen mit aller Schärfe reagieren muss. Die Gründe für diesen Anstieg lassen sich wie folgt erklären: Im Allgemeinen haben sich die öffentlichen Strafverfolgungsbehörden (der Staat) bisher als weitgehend unfähig erwiesen, bestimmte schwerwiegende Verbrechen, die vor unseren Augen begangen werden und die Bevölkerung in Angst versetzen (z. B. Terrorismus, Drogenhandel, organisierte Kriminalität jeder Art, Geldwäsche, Cyberkriminalität, Wirtschaftsdelikte, Korruption, Menschenhandel oder Kinderpornografie4), zu verhindern oder zu ermitteln, Anklage zu erheben, stichhaltige Beweise vorzulegen und natürliche oder juristische Personen derentwegen zu verurteilen. Folglich sind das Zusammenleben, der soziale Frieden und die Demokratie selbst in Gefahr. Seinerseits hat auch der Gesetzgeber hinreichend unter Beweis gestellt, dass er nicht dazu in der Lage ist, ein neues Strafverfahren auf der Höhe unserer Zeit zu konzipieren, das diesen neuen Anforderungen an die Verfolgung und Bestrafung der komplexen, grenzüberschreitenden Kriminalität gerecht wird. Das – unbestreitbare – Ergebnis ist, dass Kriminelle, die derartig schwere Straftaten begehen, die Partie gegen die Strafjustiz (also den Staat selbst) gewinnen. Fügt man nun die gegenwärtige Globalisierung und die Überwindung von geografischen Schranken und Grenzen hinzu, so stehen dem organisierten Verbrechen immense Aktionsräume in der ganzen modernen Welt offen. Die Ineffizienz des Staates, in einigen Fällen gar seine Komplizenschaft oder die Duldung des Verbrechens durch den Staat selbst, und die Globalisierung leiten uns zu einer Schlussfolgerung, die man nur als niederschmetternd, angsteinflößend und sicherlich auch als ungemein gefährlich bezeichnen kann: Das organisierte Verbrechen fühlt sich relativ sicher, weil die Straflosigkeit in den weitläufigen Räumen, in denen es sich bewegt, sehr groß ist. Weil die Gesellschaft sich darüber bewusst ist, fordert sie seit einiger Zeit mit großer Dringlichkeit sofortige und sehr wirksame Maßnahmen, um vor allem die genannten, sehr schweren Verbrechen und deren Urheber zu bekämpfen. 3 Ferrajoli, L., Garantismo. Una discusión sobre derecho y democracia (Übers. A. Greppi), Trotta, Madrid 2006, S. 111 ff. 4 Für die Forschung in Bezug auf viele dieser Straftaten (insbesondere die im Bereich der Cyberkriminalität) ist unser verehrter Kollege Ulrich Sieber, dessen Verdienste in dieser Festschrift zu Recht gewürdigt werden, eine Referenz.
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Und hier kommt das Problem, denn die Regierungen neigen oft dazu, die einfachste Lösung zu ergreifen: Sofort werden spektakuläre, sowohl proaktive als auch reaktive Repressionsmaßnahmen bei der Ermittlung der Straftat ergriffen, die manchmal der vorherigen gerichtlichen Kontrolle entzogen werden, um die Bevölkerung zu beruhigen und sich zudem einen Vorsprung bei den nächsten Wahlen zu sichern, was den Staat zum höchsten Wächter macht, eine Art orwellianischer Big Brother. In unserer jüngsten Geschichte hat dies einen sehr wichtigen Einfluss auf die Regelung der Ermittlungshandlungen gehabt, die der Polizei, der Staatsanwaltschaft oder dem Untersuchungsrichter zur einleitenden Aufklärung derartig schwerwiegender Verbrechen zur Verfügung stehen. Zwar ist es wahr, dass schon vor geraumer Zeit direkte und konsequente Maßnahmen ergriffen worden sind, wie zum Beispiel eine stärkere Kontrolle illegaler wirtschaftlicher Operationen, die die Finanzierung organisierter krimineller Gruppen zu unterbinden sucht, da sich der Staat darüber bewusst ist, dass sie ohne Finanzmittel schwerlich überleben können,5 was insbesondere Beschlagnahmen betrifft.6 Die Beseitigung des Bankgeheimnisses7 und der internationale Druck gegen Steueroasen8 haben ebenfalls dazu beigetragen. Schließlich sollte auch die Anerkennung der Pflicht zur Compliance bei juristischen Personen – zur Vermeidung ihrer strafrechtlichen Verantwortung – eine bessere Kontrolle ihrer rechtswidrigen Handlungen sicherstellen.9 Aber trotz der Tragweite dieser Maßnahmen ist es damit nicht genug.
5 Ein strategisches Problem erster Ordnung. Ohne näher darauf einzugehen, siehe das Ministerialdekret Nr. PCI/161/2019 v. 21. Okt. 2019 zur Veröffentlichung der Vereinbarung des Nationalen Sicherheitsrates, mit der die Nationale Strategie zur Bekämpfung der organisierten und der schweren Kriminalität verabschiedet wurde (BOE v. 22. Feb. 2019). 6 Planchadell Gargallo, A./Vidales Rodríguez, C., Decomiso. Estudio de la Normativa Internacional y de la Legislación Española (Aspectos Penales y Procesales), Centro para la Administración de Justicia, Madrid 2018, passim. 7 Bericht v. 24. Mrz. 2000 des Ausschusses für Steuerangelegenheiten der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OCDE), im Einklang mit der Ratsresolution C(97)64/FINAL, über Improving the Access to Bank Information for Tax Purposes, der auf http://www.oecd.org/tax/exchange-of-tax-information/2497487.pdf eingesehen werden kann. 8 Der Vorentwurf eines Gesetzes gegen den Steuerbetrug zur Bekämpfung neuer Formen der Hinterziehung von 2018, der aufgrund des Fehlens einer funktionsfähigen Regierung in Spanien zum Zeitpunkt der Abfassung dieser Zeilen nicht weiter bearbeitet worden ist, sieht eine Aktualisierung und Ausweitung des Konzepts der Steueroase auf der Grundlage der Prinzipien der steuerlichen Gerechtigkeit und Transparenz vor. Sollte das Gesetz verabschiedet werden, so kann die Regierung die Liste der Länder aktualisieren, die als Steueroasen angesehen werden, ebenso wie die der schädlichen Steuerregelungen, die Steuerbetrug erleichtern. 9 Verweisen möchte ich hier nur auf den von mir herausgegebenen Sammelband Gómez Colomer, J.L. (Hrsg.), Tratado sobre Compliance Penal, Tirant lo Blanch, Valencia 2019 (im Druck), passim.
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Die Entwicklung in diesem Bereich stellt uns vor ein fast gänzlich unbekanntes Strafverfahren, das durch die folgenden Merkmale gekennzeichnet ist: (1) War bisher nur der Verdächtige oder der Beschuldigte (der, gegen den ermittelt wird) Gegenstand der Untersuchung, so kann im Ermittlungsstadium oder Vorverfahren heute auch gegen Dritte10 ermittelt werden, das heißt, gegen Personen, die nicht tatverdächtig sind oder mit dem Sachverhalt sogar überhaupt nicht in Verbindung stehen [Art. 588 ter c) Span. StPO]. Zum Beispiel kann auf Informationsnetzwerke zugegriffen und über diese navigiert werden, um nach Daten zu suchen, die personenbezogen sind, die sich auf das Verhalten auswirken oder die mit beiden Mustern zusammenhängen (die sogenannten Verhaltens- und Beziehungsdaten), und die uns dabei helfen, eine Person zu beschuldigen oder die Verdächtigung zu verwerfen.11 Ein weiteres unbestreitbares Beispiel ist der DNA-Test im gesamten familiären Umfeld oder Freundeskreis des Opfers, oder gar bei Bekannten oder Arbeitskollegen, selbst wenn man sich darüber bewusst ist, dass nur eine Person der Täter sein kann;12 oder die Bilderfassung an öffentlichen Orten von anderen Personen als denen, gegen die ermittelt wird [Art. 588 quinquies a).2 Span. StPO]. Vergessen werden sollte schließlich auch nicht die tiefgreifende Reform des Abhörens von Telefonaten durch das genannte Gesetz Nr. 13/2015, eines der wirksamsten Mittel.13 (2) Waren bisher bei der Ermittlung der Straftat die fehlende Transparenz und der Obskurantismus ausgeschlossen, weil die daraus resultierenden Beweise nicht nachprüfbar sind (weswegen sie, sollten sie zugelassen werden, zweifelsohne einem Be10
Marchena Gómez, M., et al., La reforma de la Ley de Enjuiciamiento Criminal en 2015, Ediciones Jurídicas Castillo de Luna, Madrid 2015, S. 227 – 231. 11 Marchena Gómez et al. (Fn. 10), S. 286 ff.; Muerza Esparza, J., Las reformas procesales penales de 2015. Nuevas medidas de agilización, de investigación y de fortalecimiento de garantías en la justicia penal, Thomson Reuters Aranzadi, Cizur Menor 2015, S. 170 – 172. 12 Die Literatur zu diesem wissenschaftlichen Beweismittel, sowohl in Spanien als auch in anderen Ländern, ist unüberschaubar, weswegen ich nur zwei Veröffentlichungen nennen möchte, in denen die wichtigsten Nachweise aufgeführt sind: zum einen, Gómez Colomer, J.L. (Hrsg.), La prueba de ADN en el proceso penal, Tirant lo Blanch, Valencia 2014, insbes. S. 23 ff.; zum anderen, Dolz Lago, M.J. (Hrsg.), La prueba pericial científica, Edisofer, Madrid 2012, insbes. S. 13 ff. Darüber hinaus kann auf die gründliche und fundamentierte Untersuchung – wie es bei diesem ausgezeichneten Juristen nicht anders zu erwarten ist – der spanischen Rechtsprechung zur DNA und ihres Charakters als Beweismittel im Strafverfahren bei Dolz Lago, M.J., La prueba penal de ADN a través de la jurisprudencia. Una visión práctica y crítica, Wolters Kluwer, Madrid 2016, insbes. S. 35 – 101, zurückgegriffen werden. 13 Vgl. die Studie über die Rechtsprechung zur Gültigkeit dieses Beweismittel bei Villegas García, M.A./Encinar del Pozo, M. A., Validez de medios de prueba tecnológicos, Diario La Ley, Nr. 6753, 2017, S. 1 ff. Zur Reform der Telefonüberwachung im Jahr 2015, s. Marchena Gómez et al. (Fn. 10), S. 200 ff.; und Muerza Esparza (Fn. 10), S. 165 ff.; sowie das Rundschreiben der Generalstaatsanwaltschaft Nr. 2/2019 v. 6. Mrz. 2019 über die Überwachung der telefonischen und telematischen Kommunikation.
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weisverbot unterfallen würden), so ist es der gegenwärtigen Gesetzgebung zufolge nun gestattet, die von staatlichen Geheimdiensten öffentlicher Natur (in Spanien, vor allem das Centro Nacional de Inteligencia oder CNI) durchgeführten Ermittlungen in Bezug auf Informationen und andere Erkenntnisse als Beweismittel zuzulassen, ohne ihre Zuverlässigkeit mit Verfahrensgenauigkeit zu überprüfen, einfach weil sie von einem Nachrichtendienst erlangt worden sind [z. B. Art. 588 quinquies a) Span. StPO].14 (3) Wurde bisher die Privatsphäre der Bürger als heiliges und unangreifbares Rechtsgut betrachtet, das von der Verfassung auf höchstem Niveau geschützt wird, so ist es im Zuge der polizeilichen Ermittlung heute gestattet, auf elektronische und computergestützte Mittel zurückzugreifen, um unsere Kommunikation und Beziehungen auszuspionieren [Art. 588 septies a) Span. StPO].15 Zum Beispiel mittels der Installation eines sogenannten „Wurms“ auf unserem Computer, über den die Polizei Zugriff auf alle auf diesem Computer und auf mit ihm verbundenen Geräten enthaltenen Daten hat [Remote Überwachung von Computerausrüstung, Art. 588 septies a) bis 588 septies c) Span. StPO].16 Das heißt, sie hat Zugang zu unserem ganzen Leben. Ein klarer Fall von legaler Anstiftung oder Täuschung durch die Polizei (Entrapment). (4) Wurde schließlich bis jetzt davon ausgegangen, dass bestimmte Überwachungstätigkeiten der Polizei [die der Art. 588 quinquies a) bis 588 quinquies c) Span. StPO]17 nur in sehr schwerwiegenden und gerechtfertigten Fällen zulässig waren, und auch dann nur mit vorheriger gerichtlicher Genehmigung, so wird heute angenommen, dass einige der neuen Überwachungsmaßnahmen, die aufgrund ihres hohen Technologiegehalts und ihrer technischen Zuverlässigkeit dazu geeignet 14
Der spanische Nachrichtendienst unterliegt dem Gesetz Nr. 11/2002 und dem Organgesetz Nr. 2/2002, v. 6. Mai 2002. Seine Hauptaufgabe ist es, dem Regierungspräsidenten und der Regierung der Nation Informationen, Analysen, Studien oder Vorschläge zu unterbreiten, die dazu geeignet sind, Gefahren, Bedrohungen oder Aggressionen gegen die Unabhängigkeit oder die territoriale Integrität Spaniens, die nationalen Interessen und die Stabilität des Rechtsstaats und seiner Einrichtungen abzuwenden. Seine Tätigkeit unterliegt der vorherigen richterlichen Kontrolle, wenn Maßnahmen zu ergreifen sind, die die Unverletzlichkeit des Wohnsitzes und das Kommunikationsgeheimnis beeinträchtigen, sofern diese Maßnahmen zur Erfüllung der dem Dienst übertragenen Aufgaben erforderlich sind. Weiterführende Regelungen gibt es nicht. 15 Rundschreiben der Generalstaatsanwaltschaft Nr. 5/2019, v. 6. Mrz. 2019 über die Durchsuchung von Computergeräten und -ausrüstung. 16 Bueno de Mata, F., Comentarios críticos a la inclusión de la figura del agente encubierto virtual en la LO 13/2015, in: Bueno de Mata, F. (Hrsg.), FODERTICS 4.0 (estudios sobre nuevas tecnologías y justicia: IV Fórum de expertos y jóvenes investigadores en derecho y nuevas tecnologías, celebrado en la Facultad de Derecho de Salamanca, en 2015, Comares, Granada 2015, S. 117 ff. 17 Rundschreiben der Generalstaatsanwaltschaft Nr. 3/2019 v. 6. Mrz. 2019 über die Erfassung und Aufzeichnung mündlicher Kommunikation mithilfe elektronischer Geräte; und Rundschreiben der Generalstaatsanwaltschaft Nr. 4/2019 v. 6. Mrz. 2019 über den Einsatz technischer Geräte zur Bilderfassung, Verfolgung und Ortung.
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sind, auf Inhalte zuzugreifen, die weit über eine bestimmte Ermittlung hinausgehen, wenn auch mit gewissen Ausnahmen und Nuancen weder die Wohnung der Bürger noch ihr Privatleben betreffen dürfen, zulässig sind, sofern sie denn außerhalb der Wohnung installiert werden und zu zufälligen Entdeckungen führen; diese Erkenntnisse werden heute von unserer Rechtsprechung ohne Diskussion als zulässige Beweismittel anerkannt, da sie aufgrund des fehlenden rechtswidrigen Zusammenhangs mit dem tatsächlich gesuchten Beweis nicht Teil der Früchte des vergifteten Baumes sind. Dies ist der Grund, warum die statische Überwachung – ein Lieferwagen auf der Straße, in dem Polizisten lauschen –, die visuelle Überwachung, die akustische Überwachung, insbesondere aus der Ferne [Art. 588 quater a) Span. StPO], Videokameras usw. so nützlich sind beim Kampf gegen das schwerste Verbrechen, dem wir uns heute gegenübersehen.18 Aus dieser Sicht ist alles ein Problem der Grenzen, denn es muss genau bekannt sein, wie weit der Staat bei der Aufklärung des Verbrechens gehen kann. Es ist weder von der Verfassung gedeckt noch ein strafverfahrensrechtlicher Grundsatz, dass dem Vorgehen der Ermittlungsbehörden und der Aufklärung eines Verbrechens keine Grenzen gesetzt sind.19 Und heute müssen diese Grenzen klar auf den Schutz der Demokratie – oder der Freiheit, wenn man so will – ausgerichtet sein. Die genannten aggressiven Methoden sind ohne zeitliche Begrenzung eingeführt worden, für immer könnte man sagen, wodurch die Befugnisse der Polizei bei der Aufklärung des Verbrechens in besorgniserregender Weise zugenommen haben. Es ist daher sinnvoll zu untersuchen, wann das verfassungsrechtliche Interesse zugunsten des Angeklagten und die Einhaltung seiner Verfahrensgarantien über den Interessen an der Aufklärung der Straftat und der Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und des Rechtsfriedens stehen. Die schrittweise Unterdrückung durch die Rechtsprechung, nicht nur in Spanien,20 der Lehre von der Frucht des vergifteten Baumes im Bereich der Beweisverbo-
18 Etxeberria Guridi, J. F., Videovigilancia y Su Eficacia en el Proceso Penal Español, in: Cubas Villanueva, V./Girao Isidro, M.A. (Hrsg.), Los actos de investigación contra el crimen organizado. Agente encubierto, entrega vigilada y videovigilancia, Instituto Pacífico, BreñaLima (Peru), 2016, S. 445 ff. 19 „Es ist auch sonst kein Grundsatz der Strafprozessordnung, dass die Wahrheit um jeden Preis erforscht werden müsste“, heißt es im Urteil des deutschen Bundesgerichtshofs v. 14. Juni 1960 (BGHSt 14, 358, 365), als die Rechtsprechung des amerikanischen Supreme Court (auf die ich in meiner Monographie Gómez Colomer, J.L., El proceso penal alemán. Introducción y normas básicas, Bosch, Barcelona 1985, S. 128, Fn. 1 hingewiesen habe) gerade begann, in ganz Europa bekannt zu werden. 20 Zu der Lage in den Vereinigten Staaten s. Gómez Colomer, J.L. (Hrsg.), Introducción al proceso penal federal de los Estados Unidos de Norteamérica, Tirant lo Blanch, Valencia 2013, S. 358 ff.
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te21 und die Nachsicht in Bezug auf Ermittlungshandlungen, die immer aggressiver auf die Rechte der Bürger einwirken und keiner vorherigen – und allenfalls einer späteren – gerichtlichen Kontrolle unterliegen22, macht dies unbestreitbar deutlich. Spanien ist zwar das Land, das diese Reformen zuletzt gebilligt hat, aber nicht das einzige. Und tatsächlich ist die Zunahme des staatlichen Interventionismus im angelsächsischen Rechtskreis seit langem anerkannt, und Deutschland und Italien haben sich ebenfalls vor kurzem mit dem Thema befasst, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität.23 Zudem stehen europäische Standards zur Verfügung, die bei der Umsetzung zahlreicher Aspekte hilfreich sind, die Spitzentechnologie und Strafermittlung miteinander in Verbindung zu bringen.24 Es ist jedoch unvermeidlich, uns zumindest und vorerst drei wichtige Fragen hierzu zu stellen: (1) Man hat den Eindruck, dass diese strengen Rechtsnormen eher mit Blick auf einen Polizeistaat (in dem Sinne, dass die Polizei eine wahre Staatsgewalt und kein Dienst ist) als auf einen angeklagten Bürger, der vor allem in diesem frühen Stadium 21 Ich habe dieses Thema im Detail in Gómez Colomer, J.L., La evolución de las teorías sobre la prueba prohibida aplicadas en el proceso penal español: Del expansionismo sin límites al más puro reduccionismo. Una meditación sobre su desarrollo futuro inmediato, in: Gómez Colomer, J.L. (Hrsg.), Prueba y proceso penal, Tirant lo Blanch, Valencia 2008, S. 120 – 147, untersucht; unlängst auch in Gómez Colomer, J.L./Planchadell Gargallo, A./ Velásquez, F., La prueba prohibida en el proceso penal, Andrés Morales, Bogotá 2019, S. 113 ff. 22 Ausführlich zu den ebenso modernen wie aggressiven Ermittlungsmethoden, die auf der Nutzung neuer Technologien und wissenschaftlichen Errungenschaften beruhen, Roxin, C./ Schünemann, B., Strafverfahrensrecht, 29. Aufl., C.H. Beck, München 2017, S. 293 ff. Das genannte Organgesetz Nr. 13/2015 v. 5. Okt. 2015 orientiert sich weitgehend an den §§ 81a bis 81h, und 98a bis 111o StPO, um in Spanien nahezu dieselben Ermittlungshandlungen einzuführen. 23 Im Allgemeinen zur Lage in Deutschland, neben den in der vorangehenden Fußnote zitierten Autoren, von zur Mühlen, N., Zugriffe auf elektronische Kommunikation. Eine verfassungsrechtliche und strafprozessrechtliche Analyse, Duncker & Humblot, Berlin 2019, S. 247 ff. Zur Lage in Italien, Conso, G./Grevi, V./Bargis, M., Compendio di Procedura Penale, 8. Aufl., Wolters Kluwer-Cedam, Padova 2016, S. 345 ff.; und Orlandi, R., Usi investigativi dei cosiddetti captatori informatici. Criticità e inadeguatezza di una recente reforma, Rivista Italiana di Diritto e Procedura Penale, 2018, Nr. 2, S. 538 ff. Und zu der in den Vereinigten Staaten, Lafave, W.R./Israel, J.H., Criminal Procedure, Bd. 1, West Publishing, St. Paul (Minn.) 1984, S. 360 ff.; Dressler, J./Thomas III, G.C., Criminal Procedure. Principles, Policies and Perspectives, 4. Aufl., West, St. Paul (Minn) 2010, S. 62 ff.; und Dressler, J./Michaels, A.C./Simmons, E., Understanding Criminal Procedure, Bd. 1, Investigation, 7. Aufl., Lexis Nexis, New Providence (NJ) 2017, S. 65 ff. 24 Zum Beispiel der Rahmenbeschluss 2008/841/JAI des Rates v. 24. Okt. 2008 zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität. Sehr wichtig ist auch der Bericht der Kommission an den Rat über die Modalitäten der Mitwirkung der Europäischen Union in der EuroparatsGruppe von Staaten gegen Korruption (GRECO) [KOM(2011) 307 final v. 6. Jun. 2011], sowie die Schaffung eines Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF) durch den Beschluss der Kommission 1999/352/EG, EGKS, Euratom, v. 28. Apr. 1999 (ABl. L 136, 31. 5. 1999, S. 20 ff.). Beide Einrichtungen üben seitdem eine überwältigende Tätigkeit aus.
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des Verfahrens als unschuldig anzusehen ist, entworfen worden sind. Sie enthalten daher sehr aggressive Maßnahmen, die – da sie als wirksames Beruhigungsmittel für die Bürgerschaft konzipiert sind – wohl dauerhaft in Kraft bleiben werden, zumindest solange die Gesellschaft sich in ständiger Alarmbereitschaft befindet. Man sollte insbesondere die Art. 579, 588 quinquies b) und 588 sexies c) Span. StPO im Detail lesen, bevor man sich zu dieser schwierigen Frage äußert. War dies wirklich notwendig? (2) Alle Maßnahmen, die wir in diese Kategorie einordnen können, stoßen hinsichtlich ihrer Durchführung an die Grenze der Verletzung der Grundrechte des Verdächtigen, gegen den ermittelt wird. Im demokratischen Europa wären zumindest, abhängig natürlich von der konkreten Maßnahme, das Recht auf Vertraulichkeit der Kommunikation, das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung, das Recht auf Schutz der Privatsphäre und das Recht auf Würde betroffen; und auch das neue Grundrecht auf Schutz des virtuellen Umfelds, sofern es anerkannt wird.25 Sollte nun im konkreten Fall ein Verfassungsverstoß festgestellt werden, so wäre alles vergebens, denn die erlangten Beweisergebnisse wären aus dem Verfahren auszuschließen, was den Erfolg der Ermittlung wahrscheinlich ernsthaft in Gefahr bringt. War es wirklich notwendig, ein solches Risiko auf diese Weise einzugehen? (3) Die Hauptfrage ist, ob die merkliche Zunahme des staatlichen Interventionismus im Strafverfahren aus demokratischer Sicht akzeptabel ist oder nicht. Hätte man etwas anderes tun müssen oder auf andere Weise? Hätte man andere Maßnahmen berücksichtigen sollen? Denn die destruktive Kritik ist nutzlos. Es geht nicht an, nur zu sagen, dass man gegen den Computer-„Wurm“ ist, ohne eine andere und fundierte Lösung anzubieten, die die Grundrechte des Verdächtigen achtet und die ähnlich effektiv ist. Sinnvoll wäre es, es der öffentlichen Strafverfolgungsbehörde zu ermöglichen, zu denselben Ergebnissen wie mit den aggressiven Mitteln zu gelangen, aber unter Achtung der Verfassung und ohne unnötige Risiken einzugehen. Es ist jedoch nicht so einfach, eine Antwort zu geben, die die Gesellschaft zufriedenstellt (Kriminalpolitik). Ich möchte auf meine späteren Schlussfolgerungen verweisen, in denen ich versuche, einige Ideen vorzubringen, die ein etwas anderes, aber genauso effektives Niveau bei der Bekämpfung von Straftaten ermöglichen.
II. Die Anpassung an die Verfassung Die zweite Frage ist meines Erachtens die wichtigste. Das oben zitierte Organgesetz Nr. 13/2015 hatte insbesondere zum Ziel, alle Ermittlungshandlungen, bei denen der Einsatz modernster und hochtechnologischer Mittel nicht nur möglich, sondern auch angebracht ist, in den Strafprozess einzuführen.26 Es ging also darum, unsere 25
Marchena Gómez et al. (Fn. 10), S. 371 und 372. Siehe Alonso Salgado, C., El largo camino hasta la Ley Orgánica 13/2015: Algunos aspectos relevantes en relación a la interceptación de las comunicaciones telefónicas“, in: 26
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Gesetzgebung zu modernisieren und in Bezug auf die Bekämpfung von Schwerstkriminalität auf den neuesten Stand zu bringen und zugleich dem Budapester Übereinkommen Folge zu leisten. Aber alles hat ein Limit. Zum einen kann das öffentliche Eingreifen in die Strafermittlung nicht dazu führen, dass der Druck auf, und noch viel weniger die Verletzung von, Verfassungsgarantien des Verdächtigen oder des Angeklagten bei seiner Ausübung gebilligt wird. Zum anderen birgt der staatliche Interventionismus bei der Aufklärung des Verbrechens die offensichtliche und ernsthafte Gefahr – die daher angemessen zu überwachen ist –, dass eine viel aggressivere Ermittlung ermöglicht wird, da der (Kriminal-)Polizei enorme Befugnisse zur Durchführung von Ermittlungshandlungen, die auf der Anwendung und dem Einsatz modernster Technologien beruhen, eingeräumt werden. (1) In Bezug auf den ersten der genannten Aspekte, die Anpassung der Ermittlung an die Verfassung, so ist hinlänglich bekannt, dass in allen westlichen Demokratien bestimmte Ermittlungsmaßnahmen, sowie bestimmte Beweise, einem weiterführenden Schutz durch die Verfassung unterliegen.27 Im Grunde geht es darum, dass es in einer Demokratie dem Gesetzgeber daran gelegen ist, dass der Kampf zwischen Staat – dessen Hauptaufgabe in diesem Bereich die Verfolgung der Straftat und die Bestrafung des Täters ist, um den von ihm gestörten Rechtsfrieden wiederherzustellen – und Beschuldigtem fair (Fairness), gerecht (Due Process), gleichberechtigt (Equality) und unparteiisch (Impartiality) ist, ohne seine Rechte weiter einzuschränken, als dies aufgrund der Natur des Straf- und Strafprozessrechts erforderlich ist, und in jedem Fall nur nach vorheriger Anordnung durch einen Richter. Es geht also um diejenigen Ermittlungshandlungen, die in der spanischen Rechtslehre als „actos garantizados“ (besonders geregelte Ermittlungsmaßnahmen) bezeichnet werden.28 Das Kernproblem besteht darin, den enormen Kampf, der in diesem Spannungsfeld ausgetragen wird (und der meist einen, zumindest anfänglichen, Nachteil für den Beschuldigten birgt, der bis zum Beweis des Gegenteils unschuldig ist), auf rechtlicher und praktischer Ebene auszugleichen. Sehr ähnlich verhält es sich in Bezug auf den verfassungsrechtlichen Schutz: Um das genannte Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, kann es das Gesetz nicht zulassen, und die daraus abgeleitete Praxis auch nicht, dass ein Grundrecht des Angeklagten
Bueno de Mata, F. (Hrsg.), FODERTICS 4.0 (estudios sobre nuevas tecnologías y justicia: IV Fórum de expertos y jóvenes investigadores en derecho y nuevas tecnologías, celebrado en la Facultad de Derecho de Salamanca, en 2015), Comares, Granada 2015, S. 96 – 105. 27 Dieser Schutz ist in Spanien besonders wichtig. Auf die möglicherweise betroffenen Grundrechte habe ich bereits hingewiesen (u. a. Art. 15, 17, 18, 20 und 24 der spanischen Verfassung aus dem Jahr 1978). 28 Siehe Gómez Colomer, J.L., in: Montero Aroca, J./Gómez Colomer, J.L./Barona Vilar, S./Esparza Leibar, I./Etxeberria Guridi, J.F., Manual de Derecho Jurisdiccional, Bd. III, Proceso Penal, 27. Aufl., Valencia 2019, S. 217 ff.
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– oder des Opfers, oder des Popularanklägers29 – durch die Anwendung einer Verfahrensvorschrift verletzt wird, denn dann kommt die Waage aus dem Gleichgewicht und der Staat gewinnt auf rechtswidrige Weise, weil er die Verfassung verletzt hat. Das Gesetz macht daher seinen Umfang und seine Anwendbarkeit – und damit seine Wirksamkeit – von seiner Anpassung an die Verfassung abhängig. Tritt die Verletzung ein, so ist die durchgeführte Handlung oder der Verfahrensschritt unwirksam, da der verfassungsrechtliche Schutz sie nichtig werden lässt. Dies führt uns direkt zu den Beweisverboten, auf die ich hier nicht eingehen möchte, weil es nicht der Punkt ist, zu dem ich heute gelangen will. Ich möchte lediglich den staatlichen Interventionismus im Strafverfahren untersuchen und feststellen, wie er im Gesetz vorgesehen ist, ohne das faire Verfahren, ein Verfahren mit allen Garantien also, zu beeinträchtigen. Die Einhaltung der Verfassung bei der Aufklärung des Verbrechens ist gegenwärtig wahrscheinlich das heikelste Thema des Strafverfahrens in seinem Anfangsstadium, da die in Rede stehenden Interessen eine übertriebene Steigerung der natürlichen Spannungen zur Folge haben. Die Bekämpfung der organisierten Kriminalität, das schwerwiegendste strafrechtliche Problem unserer heutigen Gesellschaft (Drogenhandel, Terrorismus, Mafia, Cyberkriminalität, Korruption, Menschenhandel, Kinderpornografie usw.)30 überfordert die Polizei, die technisch nicht immer angemessen darauf vorbereitet ist. Dies führt dazu, dass bisweilen versucht wird, den Weg abzukürzen und dabei Verfassungsgarantien zu umgehen. Es ist sogar vorgeschlagen worden, für diese Kriminellen ein anderes Straf- und Strafprozessrecht vorzusehen, autoritärer und mit weniger Garantien (Feindstrafrecht).31 Überwachen wir diese Entwicklung nicht, so könnten wir uns in Zeiten zurückversetzt sehen, die niemals wiederkehren dürfen.
29 In Spanien kann das Opfer neben der Staatsanwaltschaft als gleichwertiger Ankläger (dann als Privatanklage bezeichnet) auftreten, ebenso wie jeder andere spanische Bürger, auch wenn er von der Straftat nicht betroffen ist (man redet dann von Popularanklage): Art. 101 und 270 Span. StPO. 30 Wenn sie auch etwas älter sind, kann zum Konzept des organisierten Verbrechens nach wie vor auf die Schriften von Sánchez García de Paz, I., La criminalidad organizada. Aspectos penales, procesales, administrativos y policiales, Dykinson, Madrid 2005, S. 57 ff. und Gómez de Liaño Fonseca-Herrero, M., Criminalidad organizada y medios extraordinarios de investigación, Colex, Madrid 2004, S. 29 ff. zurückgegriffen werden. 31 Aus der umfangreichen Literatur zu diesem Thema sollte es genügen, beim Autor dieses Vorschlags selbst nachzulesen: Jakobs, G./Cancio Meliá, M., Derecho Penal del enemigo, 2. Aufl., Thomson Civitas, Cizur Menor 2006. Für eine Zusammenfassung der Ansicht von Jakob und zu ihrer Kritik siehe Gómez Colomer, J.L., Realidad social, Política Criminal, Dogmática Penal y nuevo proceso penal español adversarial“, in: Carbonell Mateu, J.C./ González Cussac, J.L./Orts Berenguer, E./Cuerda Arnau, M. (Hrsg.), Constitución, derechos fundamentales y sistema penal. Semblanzas y estudios con motivo del setenta aniversario del profesor Tomás Salvador Vives Antón, Tirant lo Blanch, Valencia 2009, Bd. I, S. 753 ff., S. 746 – 750.
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Meines Erachtens ist der Schlüssel zum Erfolg nicht darin zu suchen, die Rechte der Beschuldigten einzuschränken, sondern darin, die Polizei besser vorzubereiten und unsere Staatsanwälte und Richter auf den Kampf gegen das organisierte Verbrechen zu spezialisieren. Eine Förderung der Privatanklage, die des Opfers, die es zu einer Art Privatstaatsanwalt macht, sollte auch nicht ausgeschlossen werden, insbesondere wenn der öffentliche Staatsanwalt letztendlich mit der Ermittlung betraut werden sollte,32 ebenso wenig wie eine verbesserte Popularanklage. Einschränkungen von Verfassungsrechten können in bestimmten Fällen auch zulässig sein, aber nur ausnahmsweise und für einen bestimmten Zeitraum. Das Recht auf Verteidigung sollte jedoch niemals beschnitten werden, was aber – nicht nur in Spanien – auf sehr schwerwiegende und direkte Art geschehen ist, wenn bei Straftaten im Bereich der organisierten Kriminalität, insbesondere des Terrorismus, das Recht des Beschuldigten auf freie Anwaltswahl eingeschränkt wird [Art. 527 a) Span. StPO].33 (2) Hinsichtlich des zweiten Problems – die Gefahren, die den enormen Befugnissen der Polizei innewohnen – sind die von ihr durchzuführenden Handlungen zu untersuchen, ebenso wie die gerichtliche Kontrolle, die erforderlich ist, um die Aggressivität, auf die ich soeben hingewiesen haben, zu vermeiden. Genügen sollte die Lektüre der Vorschriften über die Telefonüberwachung [siehe Art. 588 ter a) bis 588 ter m) Span. StPO], zuzüglich der Bestimmungen in den allgemeinen Vorschriften, die hierauf anwendbar sind [Art. 588 bis a) bis 588 bis k) Span. StPO], soweit sie eine gerichtliche Kontrolle gewährleisten.34
III. Mögliche Lösungen Zur besseren Kontrolle des Interventionismus schlage ich Folgendes vor: (1) Verbesserung der Berufsausbildung der mit der Aufklärung derartiger Straftaten betrauten (Kriminal-)Polizei in den Bereichen Verfassungs-, Straf- und Strafprozessrecht, unter möglichst weitreichender Spezialisierung;
32 Spanien ist eines der wenigen europäischen Länder, in denen die Ermittlungs- oder Aufklärungsphase in den Händen eines Richters und nicht eines Staatsanwalts liegt, wie dies auch in Deutschland vor 1975 der Fall war. Seit Jahren wird versucht, dies zu ändern, jedoch ohne Erfolg. Ich habe meine Gedanken darüber in Gómez Colomer, J.L., 2015, Los fundamentos del Sistema Adversarial de Enjuiciamiento Criminal, Andrés Morales, Bogotá 2015, S. 245 ff. 33 Darauf habe ich in Gómez Colomer, J.L., La exclusión del abogado defensor de elección en el proceso penal, Librería Bosch, Barcelona 1988, S. 61 – 116, hingewiesen. In diesem Werk behandle ich auch die Lage zu diesem Thema in Deutschland und in Italien. 34 Siehe Marchena Gómez et al. (Fn. 10), S. 173 ff.; und Muerza Esparza (Fn. 10), S. 160 f. Auch sollte das Rundschreiben der Generalstaatsanwaltschaft Nr. 1/2019 v. 6. Mrz. 2019 über gemeinsame Bestimmungen und Maßnahmen zur Sicherstellung der technologischen Ermittlungshandlungen in der spanischen Strafprozessordnung, beachtet werden.
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(2) Monothematische kriminologische Maßnahmen zur wirksamen Verhütung der organisierten Kriminalität durch international koordinierte Studien-, Überwachungs- und Kontrolltechniken, die sichere Aktionsschwerpunkte aufdecken und eine „Perimetrierung“ allfälliger Handlungen krimineller Banden ermöglichen; (3) Ausbildung in der Potenzierung der wirksamsten statt der aggressivsten Maßnahmen, indem beispielsweise ein reuiger Zeuge einem Computerwurm vorgezogen wird; und (4) Ausstattung der (Kriminal-)Polizei mit den fortschrittlichsten technischen Aufklärungsmitteln für eine wirksame Bekämpfung, so dass die Technik der Polizei der des Verbrechens überlegen ist. Und all dies unter Beachtung der in unserer Verfassung niedergelegten demokratischen Grundsätze des Strafverfahrens, im Lichte ihrer Auslegung durch den Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und das spanische Verfassungsgericht. Diese Vorschläge könnten dazu beitragen, dem System ein solides Fundament zu verleihen, denn sie stellen eine demokratische Alternative dar, die keinesfalls auf Kosten der Grundrechte der Angeklagten geht, noch zu Lasten der strafverfahrensrechtlichen Pflichten des Staates bei der Strafverfolgung.
Wann verdienen tatrichterliche Feststellungen das revisionsrechtliche Testat „rechtsfehlerfrei“? Von Rainer Hamm
I. Vorbemerkungen Mit dem Verhältnis zwischen materiellem und prozessualem Strafrecht und den dabei auftretenden Wertungs- und Regelungskollisionen hat sich der verehrte Jubilar Ulrich Sieber in einem sehr lesenswerten Aufsatz vor nahezu 20 Jahren in der Festschrift für Claus Roxin befasst.1 Ich will daran anknüpfen und ihm einen Beitrag widmen, der auf der Schnittstelle zwischen Verfahrensrecht und sachlichem Recht eine Praxis der Revisionsgerichte beleuchten soll, die aufgrund einer durchweg gebräuchlichen Terminologie geeignet ist, die Dogmatik und mitunter auch die Gerichte und die „Parteien“ der Rechtsmittelverfahren in die Irre zu führen. Die Rede ist von der häufigen Behauptung in revisionsgerichtlichen Entscheidungen, eine vollständige Überprüfung der tatrichterlichen Beweiswürdigung habe mit dem Ergebnis stattgefunden, dass die tatrichterlichen Feststellungen von Rechts wegen nicht zu beanstanden seien.
II. Entstehungsgeschichte des Problems Dass die „reine Rechtsinstanz“ Revision auch die Art und Weise, in der das Tatgericht die Beweise gewürdigt hat, „etwas angehen“ soll, galt lange Zeit geradezu als abwegig. Und das musste es auch, solange die Frage, ob der Angeklagte der Täter ist und aufgrund welcher Tatsachen er einer bestimmten Straftat schuldig gesprochen wurde, im Jurysystem allein von Laienrichtern (12 Geschworenen) beantwortet werden musste und weder der Schuld- noch der Freispruch mit Gründen versehen wurde. Erst seit es Aufgabe der Berufsrichter in dem nur noch teilweise mit Laien besetzten Spruchkörper ist, die als bewiesen erachteten Tatsachen in einer schriftlichen Urteilsurkunde zu „erzählen“ und sodann auch anzugeben, aus welchen (Indiz-)Tatsachen das Gericht welche Schlüsse gezogen hat, konnten die Revisionsgerichte nach
1 Sieber, in: Roxin-FS, 2001, S. 1113 ff. Der Beitrag befasst im Wesentlichen mit den Widersprüchen zwischen prozessualen Rechten und strafrechtlichen Verboten.
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und nach das entwickeln, was wir heute die „erweiterte Revision“ nennen.2 Das begann mit der Erkenntnis, dass beim Niederschreiben der Urteilsgründe nicht nur hinsichtlich der Subsumtion eines Sachverhalts unter die Normen des materiellen Rechts Fehler gemacht werden können, sondern auch bei der Dokumentation der in der Urteilsberatung durchgeführten Beweiswürdigung. Am ehesten leuchtete das noch bei Verstößen gegen Denkgesetze und gesicherte Erfahrungssätze ein. Dabei konnte zunächst offen bleiben, ob die Regeln der Logik und das Wissen um empirisch naturwissenschaftliche „Gesetzmäßigkeiten“ den parlamentarisch beschlossenen Rechtsnormen gleichgestellt werden könnten. Es genügte die Erkenntnis, dass ihre Verletzung jedenfalls ebenso ungeeignet ist, den Gerechtigkeitsanforderungen an ein Strafurteil zu entsprechen. Auch eine blitzsaubere Subsumtion eines erfundenen oder nur vermuteten Sachverhalts darf nicht als rechtsfehlerfrei bezeichnet und einer Revisionsverwerfung anheimgestellt werden. Denn auch der Begriff des „Beweisens“ ist ein Rechtsbegriff, der z. B. durch Unterschreiten der Mindestanforderungen an den Denkprozess des Tatrichters falsch angewendet werden kann.3 Wird die Täterschaft des Angeklagten (vielleicht sogar allein) damit begründet, dass er kein Alibi hat und wird die Aussage eines Zeugen, der Angeklagte habe sich noch zwei Stunden vor der in Frankfurt begangenen Tat mit ihm gemeinsam in München aufgehalten, deshalb nicht als Alibi gewertet „weil man mit einem schnellen Auto bei freier Strecke auf der Autobahn die Entfernung zwischen den beiden Städten ohne weiteres in 2 Stunden zurücklegen kann“, dann ist eine solch sinnwidrige und (natur-)gesetzwidrige Argumentation schlechterdings nicht geeignet, einen Schuldspruch zu tragen. Dass § 267 Abs. 1 Sätze 1 und 2 vorschreiben, im Falle einer Verurteilung in den Urteilsgründen nicht nur „die für erwiesen erachteten Tatsachen“ anzugeben, „in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden“, sondern (im Sinne einer Sollvorschrift) auch die (Indiz-)Tatsachen, aus denen „der Beweis … gefolgert wird“, kann nur den Zweck haben, dass jene Schlussfolgerungen auf ihre Logik und erfahrungswissenschaftliche Nachvollziehbarkeit überprüfbar gemacht werden sollen. Von dieser Erkenntnis war es dann nur ein kleiner Schritt zu der Aufwertung der Soll- zu einer Mussvorschrift, weil ein Urteil, das nur sagt, dass der Angeklagte auf das Tatopfer geschossen hat, offen lässt, woher die Tatrichter das wissen. Es kann nicht ihrem Belieben überlassen bleiben, ob sie verraten, aus welchen bewiesenen Tatsachen die Täterschaft und die Art der Tatausführung geschlossen wurden. Denn damit bliebe unüberprüfbar, ob lediglich ein Verdacht oder eine bloße Vermutung als Beweis ausgegeben wurde. 2 Näheres dazu Fezer, Die erweiterte Revision – Legitimierung und Rechtswirklichkeit?, 1974, S. 51 ff.: Hamm/Pauly, Die Revision in Strafsachen, 8. Aufl. 2020; Dahs Die Revision im Strafprozess, 9. Aufl. 2017, Rn. 67 – 85; Schneider, NStZ 2019, 324; Barton, JuS 2007, 97; MüKo-StPO-Knauer/Kudlich, Bd. III/1, 2019, § 333 StPO, Rn. 24 – 27. 3 Hamm, in: Fezer-FS, 2008, S. 393 ff.
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War man einmal so weit, so war auch der nächste Schritt folgerichtig: das Postulat, dass auch alle den Feststellungen möglicherweise entgegen stehenden Alternativsachverhalte im Urteil erwähnt und erörtert werden müssen. So war es dann auch nicht verwunderlich, dass der BGH dazu überging, über den eher spärlichen Wortlaut des § 267 StPO hinaus auch noch zu verlangen, dass auch die nicht allzu fern liegende Sachverhaltsalternativen wiederum auf Indiztatsachen aufbauend argumentativ ausgeschlossen werden müssen. Das ist im Prinzip der heutige Stand der von den Revisionsgerichten an die von ihnen zu überprüfenden Urteile angelegten Begründungsanforderungen. Dass sich die einschlägigen Revisionsentscheidungen vielfach eher kasuistisch einzelfallbezogen denn als gemeinsamen Obersätzen folgend lesen, hat der Rechtsprechung den Ruf der Uneinheitlichkeit und Unberechenbarkeit eingebracht.4 Das kann aber auch daran liegen, dass die Frage, ob etwas, das in den Urteilsgründen nicht steht, oft erst mit einiger Fantasie vermisst werden kann. Und dass ein Revisionsrichter ohne einen entsprechenden Anstoß z. B. durch einen Verteidiger, der in der Tatsacheninstanz dabei war und deshalb weiß, welche Sachverhaltsvarianten dort zur Sprache kamen, von sich aus bei der Lektüre des Urteils fragt, ob es nicht auch ganz anders gewesen sein kann, wäre oft zu viel verlangt. Dies gilt umso mehr, als die Revisionsgerichte nach wie vor daran festhalten, dass sie die Ergebnisse der tatrichterlichen Beweiswürdigung nicht durch eigene ersetzen dürfen. Sehr wohl verlangen sie aber, dass die Gründe der tatrichterlichen Beweiswürdigung zu erkennen geben, ob sie auf feststehenden Tatsachen und nicht auf bloßen Vermutungen aufbauen. Die Suche nach im Urteil nicht erörterter „naheliegender, mit den getroffenen Feststellungen unvereinbarer Tatsachen“ kann sich schon deshalb mühsam gestalten, weil die Frage, was „nahe genug“ gelegen hätte, um die Gegengründe nicht verschweigen zu dürfen, oft einer Denksportaufgabe mit vielen Unbekannten gleicht. Zwar muss das Verschweigen der für den Angeklagten günstigeren Sachverhaltsvariante in den schriftlichen Urteilsgründen noch nicht bedeuten, dass sie in der Urteilsberatung schlicht übergangen wurde. Aber je mehr sich in den insoweit lückenhaften schriftlichen Gründen derartige Erörterungen aufgedrängt hätten, umso eher besteht Anlass für das Revisionsgericht „zu besorgen“, dass der betreffende Beratungsgegenstand bereits bei der Entscheidungsfindung nicht bedacht wurde. Der Rechtsfehler, der zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führt, besteht dann in dem fehlenden Nachweis, dass das Tatgericht seine Überzeugung unter voller Ausschöpfung aller für und gegen den Angeklagten sprechenden Tatsachen gewonnen 4 Nachw. bei Frisch, in: Eser-FS, 2005, S. 257 ff. (270); ders., Wandel der Revision als Ausdruck geistigen und gesellschaftlichen Wandels, FS Fezer, 2008, 353 ff., 366 ff.; ders., in SK-StPO, 4. Aufl. vor § 333 Rn. 12 ff., jeweils m.w.N., s. auch LR-Franke, 26. Aufl. 2013, Bd. 7/2, vor § 333 Rn. 11; KK StPO/Gericke, Vor § 333 Rn. 5; MüKo-StPO-Knauer/Kudlich, Vorbem. zu § 333 Rn. 21 f.; Ventzke, HRRS 2008, 180 (182); Knauer, NStZ 2016, 1 ff., 6 (dort freilich in Fn. 61 mit einem Zitat von Alsberg, der schon 1913 die „völlige Unberechenbarkeit“ der Revisionsentscheidungen beklagte.
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hat. Der Verfasser des Urteils muss eben, um dessen Aufhebung vorzubeugen, alle Umstände und Gründe, die gegen seine „Feststellungen“ sprechen könnten, im Urteil erwähnen und argumentativ entweder übernehmen oder ausschließen.
III. Sach- oder Verfahrensrüge bei Beweiswürdigungsfehlern? Darüber, welchen Rechtscharakter eine solche „Nichterörterung naheliegender Sachverhaltsvarianten“ trägt, herrscht in der Terminologie des BGH und des Schrifttums eine erstaunliche Unklarheit. Ob es sich um einen Fehler des sachlichen Strafrechts oder um einen Verfahrensfehler handelt, wäre allein aus der Erkenntnis heraus. dass das Niederschreiben der (vollständigen) Urteilsgründe doch eigentlich eine verfahrensrechtliche und keine im materiellen Strafrecht geregelte Pflicht ist, leicht zu beantworten,5 wenn da nicht die andere Selbstverständlichkeit wäre: Dass der Fehler auch dann, wenn nur eine allgemeine Sachrüge erhoben wurde, durch das Revisionsgericht im Zuge der ihm ohnehin obliegenden Pflicht zur vollständige Überprüfung des Urteilsinhalts auffallen muss, sodass eine darauf gerichtete Verfahrensrüge auch nicht mehr als die betreffenden Passagen des Urteils hätte vortragen müssen. Das gilt jedenfalls dann, wenn die Lücken in den Feststellungen und die Implausibilitäten6 der sie tragenden Beweiswürdigung so sehr ins Auge springen, dass das Revisionsgericht einer Verfahrensrüge gar nicht bedarf, um sich gleichsam selbst eine Verwerfung der Revision zu verbieten. Die Antwort auf die Frage, ob es dazu in anderen Fällen, in denen die Begründungsschwächen des angefochtenen Urteils nicht evident sind, noch einer gesonderten Verfahrensrüge bedarf, sollte am Sinn und Zweck der Vorschrift des § 344 Abs. 2 StPO orientiert werden. Nach § 344 Abs. 1 hat der Beschwerdeführer „anzugeben, inwieweit er das Urteil anfechte und dessen Aufhebung beantrage (Revisionsanträge), und die Anträge zu begründen“. Und nach § 344 Abs. 2 Satz 1 muss „aus der Begründung hervorgehen, „ob das Urteil wegen Verletzung einer Rechtsnorm über das Verfahren oder wegen Verletzung einer anderen Rechtsnorm“ angefochten wird. Aber nur „Ersterenfalls müssen die den Mangel enthaltenden Tatsachen angegeben werden.“ Was folgt daraus in den Fällen, in denen das Urteil „Gründe“ enthält, die diesen Namen nicht verdienen? Liegt das daran, dass der festgestellte Sachverhalt sich überhaupt nicht unter das angewendete Strafgesetz subsumieren lässt, so ist dies ein Fehler „wegen Verletzung einer anderen Rechtsnorm“, nämlich des materiellen Straf5 Barton, JuS 2007, 977, 280: „Man befindet sich geradezu im Kernbereich des Strafverfahrensrechts.“, Frisch, Eser-FS, 2005, S. 257 (264): „Gesetzesverletzungen, die das Revisionsgericht allein anhand der Urteilsurkunde erkennen konnte und …, um nicht sehenden Auges ein mögliches Fehlurteil und damit eine Ungerechtigkeit tolerieren zu müssen, nicht von der Zufälligkeit einer … Verfahrensrüge abzuhängen.“ 6 Dass es bei den „Erörterungsmängeln“ letztlich um Plausibilitätsfragen geht, hat Dahs, in: Hamm-FS, 2008, S. 41 ff. gezeigt.
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rechts. Es bedarf somit keiner Verfahrensrüge, um das Revisionsgericht auf den Fehler aufmerksam zu machen. Der kurze Satz „Gerügt wird die Verletzung sachlichen Rechts“ oder „Es wird die Sachrüge erhoben“, genügt, um den Senat zu verpflichten, die Urteilsgründe auf alle aus ihm erkennbaren Rechtsfehler zu überprüfen. Wirklich alle? Angenommen, es enthalte auch die Angabe von Tatsachen, die einen Verstoß gegen reines Verfahrensrecht dokumentierten. Man denke etwa an die Mitteilung über die Verlesung und Verwertung eines Vernehmungsprotokolls, das gemäß § 252 StPO nicht verlesen werden durfte oder dem nach § 136a Abs. 3 Satz 2 StPO ein absolutes Verwertungsverbot anhaftete. Wenn sich dann noch alle einen solchen „Mangel enthaltenden Tatsachen“ aus dem Urteil ergeben, die Sachrüge erhoben ist und ein materiell-rechtlicher Fehler i. e.S. nicht erkennbar ist, wäre es dogmatisch schwer zu begründen, aber praktisch kaum erträglich, wenn das Revisionsgericht wegen der fehlenden Verfahrensrüge die Revision verwerfen wollte. Besteht der Fehler darin, dass die Beweiswürdigung Lücken enthält oder auf nicht nachvollziehbaren Schlussfolgerungen beruht, nimmt der BGH keinen Anstoß am Fehlen einer Verfahrensrüge und hebt das Urteil „auf die Sachrüge“ auf.7 Ob dies damit begründet werden kann, dass die Subsumtion unter die Normen des materiellen Rechts nicht nur dann fehlerhaft ist, wenn die Norm falsch ausgelegt wird, sondern auch dann, wenn sie auf einen brüchigen Sachverhalt angewendet wurde, oder ob die Sachrüge gleichsam stillschweigend den Verfahrensfehler mit erfasst, wenn die eigentlich nach § 344 Abs. 2 S. 2 StPO in der Revisionsbegründung mitzuteilenden Verfahrenstatsachen sich vollständig aus dem durch das Revisionsgericht ohnehin zur Kenntnis zu nehmenden Urteil ergeben, mag hier nicht erneut erörtert werden, nachdem ich dazu an anderer Stelle eine Lösung angeboten habe,8 die inzwischen auch Gegenstand von Monografien war.9
IV. Das Problem Mir kommt es hier auf eine Art Gegenprobe an, nämlich auf die Frage, was von der verbreiteten Übung der Revisionssenate des BGH zu halten ist, stets dann, wenn man bei der Beratung über Revisionen, die ganz andere Themen zur Überprüfung stellen, keinen Fehler im Sinne der erweiterten Revision entdeckt, dem Tatgericht und seiner Beweiswürdigung eine Art Unbedenklichkeitsbescheinigung auszustellen, die sich, wenn das Verfahren mit der Revisionsentscheidung noch keinen Abschluss findet, zum Ärgernis für die Verteidigung werden kann. 7 Vgl dazu Jähnke, in: Meyer-Goßner-FS, 2001, S. 559 ff.; Momsen, GA 1998, 488. Zur Notwendigkeit der strikten Trennung zwischen Sach- und Verfahrensrüge vgl. MüKo-StPOKnauer/Kudlich, § 344 Rn. 59 ff. 8 So Hamm, in: Rissing-van Saan-FS, 2011, S. 195 ff. 9 Kästle, Das Wesen der strafprozessualen Revision, 2018, S. 26, 148 ff.; El-Ghazi, Die Zuordnung von Gesetzesverletzungen zu Sach- und Verfahrensrüge in der strafprozessualen Revision, 2014; ders., GA 2020, 439 ff.
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Es geht um eine häufig in BGH-Entscheidungen verwendete Formel. Sie findet sich nicht nur in Begründungen für die Verwerfung von Revisionen, sondern auch als obiter dictum im Zusammenhang mit einer Teilaufhebung tatrichterlicher Urteile. Sogar in Entscheidungen, die den Tatrichtern vorwerfen, ihnen seien materiell-rechtliche Subsumtionsfehler unterlaufen, deren Korrektur eigentlich zum Freispruch oder zur Verhängung einer absoluten Strafe (lebenslang) führen müsste (§ 354 Abs. 1 StPO), verweisen die Senate mitunter die Sache an eine andere Kammer zurück mit dem Hinweis, dass dort erforderlichenfalls die „rechtsfehlerfrei“ gefundenen und deshalb von der Urteilsaufhebung ausgenommenen Feststellungen noch „ergänzt“ (freilich nicht widerlegt) werden könnten. Da die somit in Teilrechtskraft erwachsenden Feststellungen also nur noch um zusätzliche Tatsachen angereichert werden dürfen, würde dies gegebenenfalls bedeuten, dass die bisherigen Feststellungen unvollständig sein können. Wieso könnten sie dann auch noch rechtsfehlerfrei sein? Das jüngste Beispiel dafür bildet ein Urteil des 5. Strafsenats vom 19. Juni 2019.10 Das Tatgericht hatte das Mordmerkmal der Heimtücke nach Auffassung des BGH rechtsfehlerhaft verneint und deshalb den Angeklagten, der seine schlafende Ehefrau erschlagen hatte, nur wegen Totschlags zu 13 Jahren statt zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Die Strafkammer hatte dem Angeklagten zubilligt, er habe zwar die Arg- und Wehrlosigkeit seines Opfers ausgenutzt, dabei aber in ihrer beider auswegloser Lebens- und Beziehungslage geglaubt, er handele mit der Tötung „nur zu ihrem Besten“. Der BGH hat ausführlich und unter gründlicher Erörterung der einschlägigen Literatur und teilweise auch in Abgrenzung zu früheren BGH-Entscheidungen begründet, weshalb die StA mit ihrer Revision zu Recht gerügt habe, dass die zusätzlich zur Ausnutzung der Arg- und Wehrlosigkeit erforderliche „feindseligen Willensrichtung“ nicht daran scheiterte, dass die Motivation des Täters auch ein altruistisches Element enthielt, solange er (und der Tatrichter) nicht davon ausgehen konnte(n), dass das Tatopfer (etwa im Sinne eines gemeinsamen Suizids) mit der Tötungshandlung einverstanden gewesen sei. Am Ende der Entscheidung heißt es dann: „Von einer Entscheidung nach § 354 Abs. 1 StPO sieht der Senat ab, um dem zur Entscheidung berufenen Schwurgericht eine umfassende neue Prüfung unter Berücksichtigung der darlegten Grundsätze zu ermöglichen. Der Aufhebung von Feststellungen bedarf es nicht, weil diese rechtsfehlerfrei getroffen worden sind (vgl. § 353 Abs. 2 StPO). Sie können um solche ergänzt werden, die den bisherigen nicht widersprechen. Insoweit bleibt die weitergehende Revision der Staatsanwaltschaft erfolglos.“11
Die in einem markanten Leitsatz herausgestellte und für BGHSt vorgesehene tragende materiell-rechtlich dogmatische Begründung wird an anderer Stelle und von berufeneren Kennern der Dogmatik der Mordmerkmale zu diskutieren sein.12 Mir kommt es hier nur auf den verfahrensrechtlichen Aspekt an: Was wäre, wenn sich 10
BGHSt 64, 111 = NJW 2019, 2413. BGH NJW 2019, 2413 (2416). 12 S. bereits die zutreffende Kritik von Mitsch, NJW 2019, 2416. 11
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in der neuen Hauptverhandlung doch noch herausstellen sollte, dass in Gesprächen zwischen Täter und Opfer durchaus auch ein erweiterter Suizid erwogen oder sogar geplant gewesen sei? Diese zusätzlichen Feststellungen des neu mit der Sache befassten Tatgerichts würden den „aufrecht erhaltenen“ Feststellungen des Erstgerichts in einem für die materiell-rechtlich entscheidenden Punkt diametral widersprechen. Sie wären also nach der gängigen Theorie von der Teilrechtskraft und dem dezidierten Hinweis, dass die bestehen bleibenden Feststellungen nur durch solche zusätzlichen Feststellungen „ergänzt“ werden können, die ihnen nicht widersprechen, „verboten“.13 Aber mit welchem Recht, darf eine reine Rechtsinstanz einer von ihr selbst mit einer neuen Verhandlung beauftragten Tatsacheninstanz verbieten, bestimmte Beweisergebnisse dem neuen Urteil zugrunde zu legen? Der Hinweis auf § 353 Abs. 2 StPO, wonach es der Aufhebung von Feststellungen nur bedarf, „sofern sie durch die Gesetzesverletzung betroffen sind“, überzeugt nicht, weil die Gesetzesverletzung ja gerade darin liegen soll, dass auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen eine Heimtücke verneint wurde. Die Frage stellen, heißt, daran zu erinnern, dass bereits die Institution der horizontalen Teilrechtskraft eigentlich einer gesetzlichen Grundlage entbehrt und vorwiegend aus pragmatischen Gründen von der Rechtspraxis entwickelt wurde. Auch wenn die Trennbarkeit zwischen dem Schuldspruch und dem Rechtsfolgenausspruch angesichts der Wechselbezüglichkeit und weitgehend auch Doppelrelevanz der sie jeweils tragenden Feststellungen heute kaum noch in Frage gestellt wird,14 sollte doch gerade vor dem Hintergrund der erweiterten Revision, deren Grenzen sich in der Praxis an dem „Leistbaren“ orientieren,15 jeder Anschein vermieden werden, dass das Revisionsgericht mit dem Testat der „Rechtsfehlerfreiheit“ seine Überprüfungsmöglichkeiten überschritten und damit auch seine Kognitionspflicht übererfüllt hätte. Nicht anders kann aber auch im Beispielsfall BGHSt 64, 11116 die Bemerkung des Senats verstanden werden, wonach der materiell-rechtliche Aufhebungsgrund (zu Unrecht verneinte Heimtücke) auf dem Fehlen von Feststellungen über gemeinsame Suizidplanungen beruht, während dem neu mit der Sache befassten Tatgericht nur solche zusätzlichen Feststellungen erlaubt sein sollen, die den bisherigen nicht widersprechen. 13 Vgl. zur Problematik der Bindungswirkung bei horizontaler Teilrechtskraft allgemein BeckOK-StPO/Wiedner, 35. Edition 2019, § 353 Rn. 58; MüKo-StPO-Knauer/Kudlich, § 353 StPO Rn. 54, 55. 14 Anders noch mit guten Gründen Grünwald, Die Teilrechtskraft im Strafverfahren, 1964, S. 91 ff. und JR 1979, 300 ff., dort Fn. 6 (S. 301). 15 Vgl. zur „Leistungstheorie“ als Methode zur Abgrenzung zwischen revisiblen und nicht revisiblen Bereichen MüKo-StPO-Knauer/Kudlich, § 337 Rn. 7 – 9 m.w.N. und unter Rückgriff auf die bereits 1938 von Karl Peters in ZStW Bd. 57, S. 52 ff. entwickelte „Leistungsmethode“ El-Ghazi, (Fn. 9), S. 12 ff. 16 S. o. Fn. 11 und 12.
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Die meist sehr formelhaft eingesetzte Wendung von den „rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen“ liest sich regelmäßig wie eine Pflichtübung auf der Agenda des revisionsrechtlichen Prüfprogramms im Rahmen der „erweiterten Revision“. Als die Revisionsgerichte schon in den Zeiten des Reichsgerichts damit begannen, die Vereinbarkeit der Urteilsgründe mit den Denk- und Erfahrungssätzen so zu prüfen, als seien sie Rechtsnormen, wäre noch niemand auf den Gedanken gekommen, das Fehlen derartiger Mängel des angefochtenen Urteils eigens zu betonen. Deshalb finden sich in der gesamten Rechtsprechung des Reichsgerichts, wenn kein aus der Revisionsbegründung gegebener Anlass dazu bestand, niemals Sätze wie: „Die ohne Verstöße gegen Denk- und Erfahrungssätze getroffenen und somit für den Senat bindenden Feststellungen tragen den Schuldspruch nicht.“ Dass ein Urteil frei von Widersprüchen, logischen Brüchen und Verkennungen der Naturgesetze ist, brauchte nicht eigens hervorgehoben zu werden. Es galt als der Normalfall. Seit die Revisionsgerichte mehr als nur die Denk- und Erfahrungssätze sondern auch die Geschlossenheit und Vollständigkeit als Maßstab für die rechtliche Überprüfung „auf die Sachrüge hin“ heranziehen, gilt als Hauptanwendungsfall, die Kritik, der Tatrichter habe bei der Wiedergabe seiner Beweiswürdigung im Urteil „naheliegende“ Geschehensabläufe, die das Ergebnis seiner Erkenntnis, „wie es gewesen ist“, beeinflusst hätten, unerwähnt gelassen und damit möglicherweise übersehen. Dies geht nicht nur über den Wortlaut des § 267 StPO hinaus,17 sondern unterstellt auch ohne weiteres, das Revisionsgericht könne selbst ermessen, wie eine erschöpfende Wiedergabe aller im Kopf des Tatrichters und in der Beratung eines mehrköpfig besetzten Tatgerichts stattgefundener und nicht stattgefundener Gedanken, Informationsverarbeitungen und Erwägungen aussehen müsste. Nur so konnte die Rechtsprechung gleichsam richterrechtlich jenen höheren Begründungsstandard postulieren.
17 Nach § 267 Abs. 5 StPO sind bei einem Freispruch die notwendigen Beweiswürdigungsangaben sogar wesentlich geringer als in § 267 Abs. 1 für einen Schuldspruch. Das hat den BGH nicht daran gehindert, gerade bei Freisprüchen einen besonders strengen Maßstab anzulegen, um zu prüfen, ob der Tatrichter nicht „überhöhte Anforderungen an die Überzeugungsbildung gestellt“ hat. Ein eklatantes Beispiel für die Methode eines Revisionsgerichts, sogar unter eigener Abwägung aller bisher feststehenden (und teilweise sogar nicht einmal im angefochtenen Urteil erwähnten) Indizien die Aufhebung eines Freispruchs zu begründen und dem neu mit der Sache befassten Gericht ein anderes Ergebnis nahezulegen, besteht in dem 2. BGH-Urteil im Falle Harry Wörz BGH NJW 2007, 92. Ausführlich zu diesem Fall Neuhaus, StV 2015, 185. Harry Wörz wurde wegen versuchten Totschlages zum Nachteil seiner getrennt lebenden Ehefrau zu elf Jahren verurteilt. Nach der vom OLG Karlsruhe angeordneten Wiederaufnahme (BeckRS 2004, 09772) erfolgte zunächst ein Freispruch (LG Mannheim 1 Ks 400 Js 37766/01), den der 1. Strafsenat des BGH im Urteil vom 16. 10. 2006 aufhob. Eine andere Kammer des LG Mannheim sprach Wörz am 22. 10. 2009 dann erneut frei (BeckRS 2009, 28167). Der BGH verwarf die Revisionen der StA und der Nebenklage durch Urt. v. 15. 12. 2012 (BGH Urt. v. 15. 12. 2010 – 1 StR 254/10 – BeckRS 2011, 715).
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V. Sachlich-rechtlicher oder Verfahrensfehler? Obwohl das Schreiben und das rechtzeitige Absetzen von Urteilsgründen eindeutig verfahrensrechtliche Pflichten sind und das Unterlassen oder die Fristüberschreitung (§ 265 StPO) sogar als absoluter Revisionsgrund nach § 338 Abs. 7 StPO zu gelten haben, verlangt der BGH bei den der erweiterten Revision zuzurechnenden Darstellungsmängeln nicht einmal eine Verfahrensrüge, sondern hebt die betreffenden Urteile schon dann auf, wenn nur die Sachrüge erhoben und der Darstellungsmangel aus dem Urteil selbst erkennbar ist. Dies hat zu der verbreiteten, aber etwas irreführenden Ausdrucksweise geführt, bei derartigen allein aufgrund der Sachrüge erkennbaren Mängeln des angefochtenen Urteils handele es sich auch um sachlichrechtliche Fehler. In Wahrheit sind es Mängel des verfahrensrechtlichen Vorgangs der Urteilsbegründung. Dass sie nur und schon deshalb auffallen sollten (oder müssten), weil das Revisionsgericht aufgrund der Sachrüge gezwungen ist, die Gründe (und ihre Argumentationsschwächen und Lücken) zur Kenntnis zu nehmen, ist ein pragmatischer und kein dogmatischer Aspekt.18 So erfreulich aus der Sicht der Verteidigung die Auswirkungen der erweiterten Revision sein können, so steckt in der Praxis doch so etwas wie eine Scheinpräzision, die sich in der stets unausgesprochenen Behauptung ausdrückt, bezogen auf den konkreten Fall seien jeweils alle denkbaren und von den Feststellungen abweichenden Sachverhaltsalternativen vom Tatgericht bedacht und vom Revisionssenat mit dem Ergebnis geprüft worden, dass sie entweder als nicht naheliegend oder als unerheblich für das Ergebnis befunden worden seien.
VI. Wie entstehen „Feststellungen“? An dieser Stelle erscheint mir ein Seitenblick auf die Art und Weise, wie in der Praxis die vom Revisionsgericht zu prüfenden tatrichterlichen Feststellungen in die Urteilsurkunde gelangen, notwendig. Darüber hat Ralf Eschelbach in einem Beitrag zur Festschrift für Gunther Widmaier Erhellendes und Lesenswertes mitgeteilt, indem er das übliche Procedere der unter Beteiligung von Schöffen mit den Abstimmungen nach § 263 StPO gefundenen Beratungsergebnisse und schließlich der ohne Beteiligung der meisten Mitglieder des Spruchkörpers nur vom Berichterstatter dokumentierten den Schuldspruch tragenden „Feststellungen“ und ihrer (angeblich auch so beratenen) Beweiswürdigungsgründe schilderte. Die einzelnen Schritte der im Beratungszimmer zusammengestellten „Wahrheit“ genannten Geschichte (welchem Zeugen hat wer geglaubt und welchem nicht?) unterliegen nach h.M. und durchgehender Praxis keinerlei Abstimmungsquoten oder auch nur einer nach-
18 Vgl. zu dieser nicht nur terminologischen Auffälligkeit Hamm, in: Rissing-van Saan-FS, 2011, S. 195 ff. und jetzt El-Ghazí, GA 2020, 439 ff.
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träglichen Detailkontrolle durch diejenigen (Berufs-)Richter, die schließlich das Urteil unterschreiben.19 Wenn dann diese Beweiswürdigungsgründe des angefochtenen Urteils ihre Lücken nicht für jeden Leser erkennen lassen und auch die Revisionsbegründung nicht den Finger auf die Wunde legt, indem sie konkrete Erörterungsmängel benennt, ist es menschlich und erkenntnistheoretisch durchaus verständlich, dass schon die Revisionsstaatsanwaltschaft und dann auch der/die Berichterstatter(in) des Senats es nicht als ihre vordringliche Aufgabe ansehen, nach derartigen Mängeln ausgerechnet in den Teilen des Urteils zu suchen, in denen es über einzelne Aspekte der Beweiswürdigung schweigt.20 Dann sollte aber auch nicht mit der scheinbar beiläufigen Bemerkung, die Feststellungen seien übrigens „rechtsfehlerfrei“, der Anschein erweckt werden, als habe eine solche umfassende Prüfung stattgefunden.
VII. Praxis des nur mündlichen 10-Augen-Prinzips Das gilt erst Recht, angesichts des im BGH fast durchweg praktizierten Verfahrens bei der Beratung über Beschlüsse nach § 349 Abs. 2 StPO, wobei die Mehrheit der Senatsmitglieder (also außer dem Vorsitzende und dem Berichter) erstmals durch diesen, und zwar auch nur mündlich den Gegenstand der Revision, die Zusammenfassung des angefochtenen Urteils und des Streitstandes zwischen Verteidigung und Bundesanwaltschaft sowie einen dann zu diskutierenden Entscheidungsvorschlag erfahren. Dies auch bei Revisionen gegen Urteile mit hunderten von Seiten ohne eine Gelegenheit wahrgenommen zu haben, dessen Begründung mit allen auch „zwischen den Zeilen“ stehenden oder eben auch nicht stehenden Beweiswürdigungserwägungen zu lesen, um sich dann auch noch Alternativszenarien auszudenken, deren Nichterörterung man dem Tatrichter vorwerfen könnte.21 Eine aussagekräftige und realitätsnahe Aussage des Senats (zumal im Falle der in § 349 Abs. 2 StPO geforderten Einstimmigkeit), wonach auch nach Erledigung des in der erweiterten Revision vorgesehenen Prüfprogramms das angefochtene Urteil keinerlei Lücken und Erörterungsmängel enthalte, würde voraussetzen, dass man beim Lesen des tatrichterlichen Urteils auch all das mitbedacht hätte, was nicht drinsteht und was erst unter der Anstrengung eines parallel phantasierten Alternativgeschehens sich anders als im Urteil wiedergegeben abgespielt haben könnte. Gerade 19
615).
Eschelbach, Widmaier-FS, 2008, S. 127 ff.; vgl. auch ders., GA 2019, 593 ff. (613 –
20 Eschelbach, GA 2019, 615: „Daher werden Urteile rechtskräftig, die mit einiger Wahrscheinlichkeit falsch sind.“ 21 Zum gesetzlichen 10-Augen-Prinzip versus der Praxis des 4-Augen-Prinzips vgl. Fischer, NStZ 2013, 425; Mitglieder des 5. Strafsenats des BGH, NStZ 2013, 563, und Erwiderung von Fischer/Eschelbach/Krehl, NStZ 2013, 563, Lamprecht, NJW 2013, 3563; Brodowski, HRRS 2013, 409; Mosbacher, NJW 2014, 124; Fischer/Krehl, StV 2012, 550; Hamm/ Krehl, in NJW 2014, 903 ff.
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weil dies in vielen Fällen eine übermenschliche Leistung bedeuten würde, sollten die Senate auch nicht durch formelhafte Wendungen den Anschein erwecken, als hätten sie damit dem Tatrichter bescheinigt, dass sein Urteil auch den Wahrheitstest einer in jeder Hinsicht sauberen Beweiswürdigung bestanden habe. Denn in diesem Fehlverständnis liegt eine nicht zu vernachlässigende Gefahr, die sich nicht erst in der geringen Erfolgsquote von Wiederaufnahmeanträgen realisiert und die suggeriert, „rechtsfehlerfrei“ bedeute eben doch dasselbe wie „wahrheitsgemäß“. Wem immer bei nachträglichen Versuchen, ein Urteil zu kritisieren oder formell anzugreifen, entgegengehalten wird, schließlich habe es doch auch die Revisionskontrolle bestanden oder: auch „Karlsruhe“ habe daran nichts auszusetzen gehabt, hat größte Mühe, die beschränkte Aussagekraft der Formel von den „rechtsfehlerfreien Feststellungen“ deutlich zu machen.
VIII. Psychologische Hierarchie der Rügetypen Eine weitere Gefahr besteht darin, dass nach der zwar seltener gewordenen aber immer noch vorkommenden Aufhebung eines Urteils aufgrund eines „bloßen“ Verfahrensfehlers die dann völlig überflüssige Formel, die Überprüfung aufgrund der Sachrüge habe „keinen Rechtsfehler“ zutage gefördert, von dem neu mit der Sache befassten Spruchkörper als revisionsgerichtliche „Absegnung“ der früher festgestellten Tatsachen missverstanden wird. Da sie nach einer durchgreifenden Verfahrensrüge nicht bestehen bleiben konnten, hat das neu mit der Sache befasste Tatgericht eigentlich ohne jede Vorgabe und Einschränkung oder gar Bindung an die früheren Feststellungen die Aufgabe, durch eine neue Beweisaufnahme und deren umfassende Würdigung eigene Feststellungen zu treffen. Wenn dann aber noch das von Eschelbach geschilderte Bemühen von tatrichterlichen Urteilsverfassern hinzukommt, die Gründe teilweise auch losgelöst vom Beratungsverlauf möglichst „revisionssicher“ abzufassen, dürfte nach dem Gütesiegel des BGH die Verlockung nicht gering sein, um jeglichem erneuten Aufhebungsrisiko zu entgehen, möglichst wieder dieselben Feststellungen zu treffen. So hat etwa der BGH ein umfangreiches Urteil des LG Münster, das nach einer Hauptverhandlung von 3 1/4 Jahren mit 165 Verhandlungstagen am 29. März 2007 verkündet war, mit Beschluss vom 22. 01. 2008 nach § 349 Abs. 4 StPO aufgehoben.22 Am Ende des vergleichsweise kurzen BGH-Beschlusses heißt es, dass „weder die Schuld- noch die (maßvollen) Rechtsfolgenaussprüche Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten aufweisen“. Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass dies nicht als Empfehlung verstanden wurde (und werden sollte?), nach Möglichkeit
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BGH StV 2008, 283.
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zu den gleichen Beweisergebnissen und zur selben Strafzumessung zu gelangen, um den Umweg über eine neue Revision möglichst kurz und gefahrlos zu gestalten.23 Geradezu unglaubhaft ist der mit dem „Rechtsfehlerfrei-Zeugnis“ erweckte Eindruck, dem kurzen BGH-Beschluss sei auch eine vollständige Überprüfung des Urteils auf Lückenlosigkeit der Indiztatsachen und gedankliche Konsistenz der daraus abgeleiteten Schlüsse vorausgegangen. Von den 974 Seiten erstreckte sich das Kapitel „II. Feststellungen“, über 839 Seiten (von Seite 7 bis 846), gefolgt von weiteren 105 Seiten (bis Seite 951) mit der Überschrift „III. Beweiswürdigung“. Der BGH-Beschluss befasste sich ausdrücklich nur mit einer Verfahrensrüge, in der beanstandet worden war, dass einer der mitwirkenden Richter (der Berichterstatter!) von der Staatsanwaltschaft in einem aus dem Prozess unmittelbar erwachsenen Ermittlungsverfahren gegen einen medizinischen Sachverständigen förmlich als Zeuge über dessen Angaben in der laufenden Hauptverhandlung vernommen worden war. Deshalb hätte er von dem Zeitpunkt seiner Vernehmung an nach § 22 Nr. 5 StPO nicht mehr an der Hauptverhandlung und der Urteilsfindung mitwirken dürfen. Am Ende seines Beschlusses drückt der Senat noch seine Verwunderung aus, dass der Landgerichtspräsident nicht wegen dieser gravierenden Rechtsfolge die Zeugenvernehmung des Richters untersagt hatte. Sodann folgt noch der Hinweis: „Der Strafrechtspflege erwächst durch die Versagung der Aussagegenehmigung in derartigen Fällen kein Nachteil, da die Staatsanwaltschaft vorzugsweise andere Personen, die an der Verhandlung teilgenommen haben, als Zeugen zu den in Frage stehenden Tatsachen hören kann“.24 Da die Aufhebung des gesamten Urteils wegen dieses absoluten Revisionsgrundes (§ 338 Nr. 2 StPO) unvermeidlich war,25 brauchten die anderen Verfahrensrügen, darunter auch auf Verletzung der Aufklärungspflicht und des Beweisantragsrechts gestützte, nicht mehr geprüft zu werden. Damit entfiel auch insoweit eine Beruhensprüfung, die zuweilen einmünden kann in die Erkenntnis über Schwächen der Urteilsgründe. Die in Beweisanträgen aufgestellten Tatsachenbehauptungen lassen sich nämlich auch unabhängig von den strengen Zurückweisungsgründen der §§ 244, 245 StPO im Urteil „vermissen“, sodass sie im Rahmen der Prüfung aufgrund der Sachrüge auch den Bestand des Urteils gefährden können.
23
So auch aus der Perspektive der Instanzverteidiger im konkreten Fall StV 2008, 283; Leu, StV 2009, 507 f. 24 BGH StV 2008, 283 (284). 25 Der Antrag des GBA vom 10. 10. 2007 auf Verwerfung der Revision als offensichtlich unbegründet hatte über 10 Seiten ausgeführt, weshalb die Rüge der Verletzung des § 22 Nr. 5 StPO bereits als unzulässig und jedenfalls als unbegründet erfolglos bleiben sollte, auf weiteren 11 Seiten trat die GBA den anderen Verfahrensrügen entgegen, während sie auf nur gut einer Seite sich mit der (freilich aufgrund eines Verteidigerwechsels nicht ausgeführten) Sachrüge befasste, wobei auch dort schon von den „rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen“ die Rede war.
Wann verdienen tatrichterliche Feststellungen das Testat „rechtsfehlerfrei“?
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IX. Epilog Mir ist bewusst, dass weder dieser Beispielsfall noch die kritische Deutung der BGH-Praxis einen gefestigten rechtstatsächlichen Erfahrungssatz beschreiben können. Zweifellos trifft die manchmal auch anlasslose Bemerkungen in revisionsgerichtlichen Entscheidungen, die tatrichterlichen Feststellungen seien „rechtsfehlerfrei“ getroffen worden, schlicht zu. Dasselbe gilt aber nicht auch stets für den damit erweckten Eindruck, das Testat beruhe auf dem vom Senat tatsächlich absolvierten Prüfprogramm nach den Regeln der erweiterten Revision. Ich kann und will auch nicht behaupten, dass überall dort, wo in Entscheidungen der Revisionsgerichte die Vokabel „rechtsfehlerfrei“ vorkommt, eine Art Scheinpräzision in der Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit vorgegaukelt wird. Selbstverständlich gehört es seit jeher zu den zentralen Aufgaben der Revision, die mit dieser auf Rechtsfragen beschränkten Instanz angefochtenen Urteile darauf zu überprüfen, ob das Verfahren und die sie tragenden Gründe Rechtsfehler enthalten. Also enthält jede Verwerfung der Revision auch unausgesprochen oder ausdrücklich die Behauptung, dies sei nicht der Fall. Dasselbe gilt auch für die von der Rechtsprechung zugelassenen (horizontalen) Teilaufhebungen und der Trennung von aufgehobenen Schuld- und Rechtsfolgenaussprüchen einerseits und den Feststellungen andererseits. Dass in den letzteren Fällen das neu mit der Sache befasste Tatgericht „frei“ ist, „ergänzende“, jedoch nicht den ursprünglichen widersprechende Feststellungen zu treffen, beschränkt die Freiheit der Beweiswürdigung in eine Weise, die sich weder mit dem ursprünglichen Konzept der StPO noch den Fortschritten der erweiterten Revision verträgt. Sie wurde schließlich – wie oben gezeigt – zu dem pragmatischen Zweck entwickelt, nicht sehenden Auges ein mögliches Fehlurteil nur deshalb rechtskräftig werden zu lassen, weil versäumt wurde, eine auf die Mängel der Urteilsbegründung zielende Verfahrensrüge zu erheben. Wenn dies mit den Bordmitteln des Revisionsgerichts erkannt und korrigiert werden kann, mag auch die Ausdrucksweise hingenommen werden, die Aufhebung erfolge „auf die Sachrüge“. Bei Aufhebungen aufgrund von Begründungsmängeln der Beweiswürdigung oder fehlender Plausibilität der tatrichterlichen Feststellungen fehlt kaum jemals der „Zwar-Satz“, wonach es eigentlich die ureigene Aufgabe des Tatrichters ist, den Inbegriff der vor ihm stattgefundenen Verhandlung zu würdigen, während das Revisionsgericht seine Prüfung darauf zu beschränken hat, ob dabei dem Tatgericht Rechtsfehler (einschließlich der Begründungsmängel) unterlaufen sind. Diese Aufgabenteilung zwischen der Revision und dem Tatgerichte sollte dann aber auch nach der (Teil-)Aufhebung im Verhältnis zu der dann mit der Sache befassten Tatsacheninstanz gelten. Das bedeutet, dass der neue Tatrichter allenfalls durch rechtliche Leitlinien in sog. „Segelanweisungen“26 davor bewahrt werden darf, dieselben oder andere Fehler zu 26 Dieser im Justizjargon gebräuchliche Begriff wird in Gerichtsentscheidungen so gut wie nie und im Schrifttum eher selten verwendet; z. B. bei Knauer, NStZ 2016, 1 ff., (10).
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begehen, die auch sein neues Urteil wieder gefährden könnten. Dagegen sollten Hinweise, bei welchen Feststellungen eine solche Gefahr nicht besteht, als Eingriffe in die tatrichterliche Amtsaufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) und die Freiheit der Beweiswürdigung (§ 261 StPO) unterbleiben. Denn das Recht ist auf vollständig und ordnungsgemäß erhobene Tatsachen anzuwenden, dagegen dürfen nicht die Tatsachen an den Rechtsnormen oder auch nur an dem Bedürfnis nach Rechtskraft ausgerichtet werden.27
27 Selbst für den Fall der Aufhebung wegen eines Beweiswürdigungsfehlers gilt nach BeckOK-StPO-Wiedner, § 358 Rn. 6: „An die Auffassung des Revisionsgerichtes zur Beweiswürdigung ist der neue Tatrichter nur im Hinblick auf den konkreten rechtlichen Aufhebungsgrund gebunden; ein bestimmtes Beweisergebnis ist ihm nicht vorgegeben.“
Burden of Proof in Self-Defense Cases By Jiahong He
I. Introduction In China, criminal cases of intentional injury (Article 234), murder (Article 232), causing death by negligence (Article 233), and causing serious injury by negligence (Article 235) occasionally involve claims of self-defense (Article 20), but such claims are relatively difficult to prove. As China’s reform of the Criminal Procedure Law (CPL) in 2012 attached great importance to procedural justice as well as the rights of the accused, the number of criminal cases involving self-defense in legal practice has significantly increased since then. By using the keywords “zhengdang fangwei” (“self-defense” in Chinese) and “xingshi anjian” (criminal case) to conduct an online search in the “Falü Wenshu Wang” (China Judgments Online) database, the author found that a total of 23,249 judgments had been issued in the seven years between January 1, 2013 and December 31, 2019. Of these judgments, 536 were issued in 2013; 2,724 in 2014; 3,201 in 2015; 3,731 in 2016; 4,441 in 2017; 4,532 in 2018; and 4,084 in 2019.1 In recent years, several self-defense cases attracted widespread public attention. This fact indicated a deficiency in the current law and high expectations by the people for social fairness and justice. Against this backdrop, on September 3, 2020, the Supreme People’s Court (SPC), the Supreme People’s Procuratorate (SPP), and the Ministry of Public Security (MPS) jointly promulgated a “judicial interpretation” document entitled “Guiding Opinions on the Application of the Self-Defense Provisions” (hereafter referred to as “Guiding Opinions”). This legally binding instrument, released together with seven so-called “guiding cases,” sets out comprehensive and systematic rules for the proper application of self-defense-related provisions with regard to three aspects: general requirements, specific requirements, and work requirements.2 1 The case search for this paper was conducted on March 25, 2020 by Liang Ying, an LL.M student at the Law School, Renmin University of China. All data originated from “China Judgements Online” at https://wenshu.court.gov.cn. 2 For a full text of the Guiding Opinions, see Zhongguo Fayuan Wang [China Court Online], Lianggao yibu fabu yifa shiyong zhengdang fangwei zhidu de zhidao yijian [SPC, SPP and MPS Releases a Guiding Opinions Document for the Lawful Application of Self-Defense Regime], September 3, 2020 (available at: https://www.chinacourt.org/article/detail/2020/09/ id/5436053.shtml).
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As the “Guiding Opinions” document itself states, its major objectives include “properly implementing the self-defense regime” and “safeguarding the self-defense right of citizens.” Given this latest legal development, we may ask how the judiciary distinguishes between an act of murder (or intentional injury), an act of (non-excessive, totally justifiable) self-defense, and an act of excessive (and thus partially justifiable) self-defense. This is not only a question of applying the law but also, even more importantly, a question of fact-finding. Based on this new guiding instrument, however, judges’ opinions on how to understand these issues may differ and they may therefore deliver contradicting verdicts in similar cases.
II. Murder Cases Involving a Self-Defense Claim 1. Xuan Murder Case On May 28, 2011, an 18-year-old migrant woman surnamed Xuan, who was unable to afford an overnight stay at a hotel at the Guangzhou Railway Station, accepted the invitation by Yang, a 57-year-old train station porter, to spend the night in his rental apartment. That night, Xuan absconded after stabbing Yang to death with a knife. She was later arrested by the police. According to the police, Yang, the victim, was naked when he died from 26 stab wounds, primarily to his head, neck, and chest. The defendant Xuan confessed that Yang had threatened to kill her if she refused to have sex with him. Xuan reported that when Yang went to the bathroom to take a bath, she found a knife and, because she was scared, kept it in her hand. At first, she wanted to intimidate Yang and look for a chance to escape. When Yang came out of the bathroom and demanded to have sex with her, she confronted him with the knife and stabbed him by accident. While Yang tried to grab the knife from her, Xuan was so scared that she could not help herself and stabbed him even more. After he fell on the bed, she proceeded to stab his head before fleeing the scene. In the absence of any eyewitnesses, the main evidence for determining the facts was the defendant’s confession. During the court hearing, the arguments between the prosecution and the defense focused on the question of whether the killing constituted an act of murder or of (nonexcessive, totally justifiable) self-defense. A major difficulty was to find out whether the victim had attempted to rape the defendant. Based on the defendant’s confession, the prosecution maintained that the victim had not caused her substantial harm, and that the act of stabbing with a knife at the ready was a hypothetical defense rather than a real, justifiable self-defense. The defense insisted that the killing was an act of selfdefense. Despite some loopholes in the confession, the Guangzhou Intermediate People’s Court confirmed as follows: First, the killing occurred in the man’s rental apartment, a private space; second, the man was naked when he was found killed; third, there was a big age difference between the man and the woman. According to the court, all these facts pointed to the existence of a rape threat. Finally, the court de-
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cided that the stabbing was a counter-action against the rape attempt and thus constituted self-defense.3 2. Tian Murder Case In February 2006, the defendant Tian and his wife Luo worked at a car shop in Wenzhou and shared a dormitory room with their male colleague Zhang, the victim. At midnight on March 18, when Tian returned to his room, he found that the light in the room was not on and that its door was locked. After entering the room through the window, Tian saw Zhang getting up from being on top of his wife Luo and trying to tie his pants. Luo cried, claiming that she had been raped by Zhang. Tian quarreled and scuffled with Zhang and subsequently used a kitchen knife to strike Zhang’s head, neck, upper limbs, and other body parts, causing him to die on the spot. Tian and Luo fled the scene. In February 2014, Tian surrendered to the police and confessed his crime. The main argument between the prosecution and the defense was whether the killing constituted self-defense. According to the prosecution, the claims that Zhang had raped Luo and that Tian and Zhang had fought each other could only be supported by Tian’s confession and his wife Luo’s testimony, as there was no supporting witness testimony or physical evidence. Therefore, the prosecution concluded that the killing was an act of murder. Tian, by contrast, clung to the claim that his conduct was in response to Zhang’s rape and assault and therefore an act of self-defense. On September 25, 2014, the Wenzhou Intermediate People’s Court issued a verdict in favor of the prosecution, convicting Tian of murder and sentencing him to life imprisonment.4 The case immediately triggered a heated public debate, after a local newspaper in Wenzhou had reported it on June 15, 2015. Public opinion was centered on the questions of whether the act constituted self-defense and whether the court’s verdict was appropriate.5 In response to the public pressure, the trial court had to publish an open statement on June 18, explaining that the verbal statements by Tian and his wife could 3
Wei, Huihui et al., Bang maipiao, laobo yudiao dagongmei; ju xingqin, shaonü cheng sharen xiongshou [Helping to buy tickets, old man seduces a female migrant worker; rejecting sexual assault, the girl becomes a murderer], Xinxi Shibao [Information Times], May 9, 2012 (http://news.gd.sina.com.cn/news/20120509/1290341.html); also Chai, Huiqun/Jia, Xuemei, Qiangjian cunyi, helai ‘zhengfang fangwei’ [How Come There was ‘Self-Defense’, when the Rape Is in Doubt], Nanfang Zhoumo [Southern Weekly], September 20, 2012 (available at: http://www.infzm.com/content/81214). 4 For further information on the case, see a full text of the verdict by Wenzhou Intermediate People’s Court on September 25, 2014 (at: http://www.chnlawyer.net/case/3545.html). 5 See, for example, Xiao, Hui, Yi zhuang ‘guyi sharen an’ beihou de falü zhengyi [Legal Controversies Behind an ‘Murder Case’], Xin Jing Bao [The Beijing News], June 26, 2015 (http://epaper.bjnews.com.cn/html/2015 – 06/26/content_584205.htm); Han, Xiao, Teding qingjing xia wu guodang fangwei de sifa rending [Judicial Determination of Non-Excessive Defense in Specific Circumstances], in: Zhongguo Jianchaguan [Chinese Public Prosecutors], Issue 20 of 2017, pp. 26 – 29.
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not be accepted as sufficient support for the rape claim and that, for lack of objective evidence, it was not possible to establish the fact of rape as true.6 3. Comparison In the above cases, the facts surrounding the alleged murders were ambiguous, but the trial courts arrived at completely opposite decisions in terms of fact finding. In the first case involving Xuan, the court in Wenzhou held that there had been a rape threat despite insufficient evidence, whereas in the latter case of Tian the court in Guangzhou was not convinced of the rape claim because of insufficient evidence. In both cases, the trial courts did not expressly comment on the issue of burden of proof with regard to the self-defense claims, but their decisions reflected a difference in their approaches to distributing the burden of proof. The court in the Xuan case required the prosecution side to bear an unfavorable consequence of the litigation for lack of sufficient evidence, while the court in the Tian case forced the defense side to bear such a consequence under the same condition. This shows that, in order to solve the difficulty of judicial proof in self-defense cases and ensure “similar judgments for similar cases,” it is necessary to elucidate the rules on allocating the burden of proof in such cases.
III. Allocation of the Burden of Proof in Criminal Procedure Law In the field of criminal procedure law, there are a number of Chinese scholars who look at the issue of self-defense through the lens of burden of proof, but their views vary. One view is that the burden should be borne by the prosecution,7 while the other is that it should be borne by the defense.8 Among those who take the latter point of view, some think it entails a shift of the burden,9 whereas others believe it involves a reversal of the burden.10
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A full text of the open statement is available online (at: https://www.sohu.com/a/ 341160972_120032). 7 Gu, Yongzhong, Lun woguo xingshi susong anjian juzheng yeren de tupo [On the Breakthrough of the Burden of Proof in Criminal Public Prosecution Cases], in: Gansu Shehui Kexue [Social Sciences in Gansu], Issue 2 of 2015, pp. 114 – 121. 8 Chen, Guangzhong/Chen, Xuequan, Zhongguo yujing xia de xingshi zhengming zeren lilun [A Theory of the Burden of Proof in Criminal Cases Chinese Context], in: Fazhi Yu Shehui Fazhan [Legal System and Social Development], Issue 2 of 2010, pp. 50 – 57. 9 Huang, Weizhi, Woguo xingshi zhengming zeren fenpei de lilun chonggou [Theoretical Reconstruction of the distribution of criminal burden of proof in China], in: Tianfu Xinlun, Issue 2 of 2008, pp. 69 – 73.
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The “burden of proof” refers to the duty placed upon the parties in a lawsuit to provide evidence to the court proving the facts they claim in the judicial proceedings. In order to understand this definition, two points need clarifying: First, in case of criminal litigation, the burden of proof is typically borne by the public prosecutors, but, given special circumstances, the defendant may also bear the burden. Second, as an issue of judicial adjudication, the burden of proof is central to the court hearing. As it is a duty to provide evidence in proof of one’s claims, the burden of proof should involve the following three concepts: – First, the burden of production: namely, the duty to provide evidence before the court; – Second, the burden of persuasion: the duty to use the evidence to persuade the adjudicators; – Third, the burden of consequence: the duty to bear an unfavorable result when sufficient evidence cannot be provided.11 In a criminal proceeding, the allocation of the burden of proof may be based either on “presumption of innocence” or “presumption of guilt.” If the former principle is implemented, the burden of proof is borne by the public prosecutors, because they must prove the defendant’s guilt; failing this, the court will find the defendant innocent. If the latter principle is implemented, the burden of proof is borne by the defendant, because he or she must prove his or her innocence; otherwise, the court will find the defendant guilty. Article 12 CPL provides: “No one shall be considered guilty unless the People’s Court makes such a guilty judgment according to law.” Despite different interpretations of this provision, Chinese legal scholars widely believe that this provision embodies the tenet of presumption of innocence. The presumption of innocence is based on certain values, such as protecting the rights of the defendant, guaranteeing fairness of judicial practice, and reducing the possibility of wrongful convictions to a minimum. The principle incorporates three points. First, every person shall be presumed innocent until the court issues a judgment of guilty. Second, public prosecutors shall bear the burden of proof, whereas the defendant generally shall have no obligation to prove his or her guilt or innocence. Third, in case the prosecution’s evidence does not meet the standard as required by law, the court must find the defendant innocent. In other words, judicial adjudication in criminal procedure must abide by the principle of “in dubio pro reo.” Apart from the presumption of innocence, the decision on allocating the burden of proof may also be based on other grounds. As far as public prosecutors are concerned, they must bear the burden on two grounds. First, since they are the initiators of a crim10 Fang, Baoguo, Lun bianhu fang de zhengming zeren [On the Burden of Proof on the Side of the Defende], in: Zhengfa Luntan [Forum on Political Sciences and Law], Issue 6 of 2012, pp. 34 – 43. 11 He, Jiahong, Sifa zhengming fangfa yu tuiding guize [Judicial Proof Methods and Presumption Rules], Falü Chubanshe [Law Press China], Beijing 2018, pp. 143 – 144.
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inal procedure, it is for them to provide evidence to the court in support of their claims, as stated by the Latin maxim “semper necessitas probandi incumbit ei qui agit” (meaning “the claimant is always bound to prove”). In China, the equivalent expression is usually “whoever brings a claim bears the burden of proof.” Second, since they already prepared the prosecution, they should be in a better position than their adversaries to provide evidence. As for the defendants, there are also two grounds against their bearing the burden. First, as they are in the passive position of being prosecuted, it is not easy for them to obtain evidence; second, when they reject the charges, it is difficult for them to prove the non-existence of something. In some cases they may be able to present evidence proving their innocence, but this is their right rather than their duty or burden. By law, they may exercise this right and they may also abandon it, but they should not suffer an unfavorable result only because they abandon this right.
IV. Factual Claims in Self-Defense Cases In discussing the “burden of proof,” we also need to clarify its relationship to the “claim of facts.” Their relationship in a litigation may be described in two sentences: there is no burden of proof without a factual claim; the content of proof depends on the claim of facts. Given the close relationship, some scholars believe that the burden of proof includes not only the responsibility to produce evidence, to persuade the adjudicators, and to bear the consequence but also a responsibility to present factual claims.12 In my opinion there is no doubt that the burden of proof must be based on certain factual claims, and those who bear the burden of proof should first raise such factual claims; otherwise, the burden of proof would be like a tree without roots. However, the presentation of factual claims is a precondition for, rather than the content of, the burden of proof. In short, “burden of proof” and “claim of facts” are two separate issues that should not be confused with each other. In a criminal proceeding, the prosecution presents specific factual claims about the alleged crime and these claims are supported by evidence. Based on the presumption of innocence, the defendant may plead guilty or innocent, without having to make specific factual claims, and therefore does not bear the burden of proof. However, it is a defendant’s right to file factual claims, and, given certain circumstances, this right may turn into a duty. For example, if the defendant’s claim of innocence is based on the exclusion of illegality of or culpability for the alleged acts, he or she must provide specific factual claims, such as self-defense, and bear the corresponding burden of proof.
12 See Li, Hanchang, in: Bian Jianlin (ed.), Zhengju Faxue [Evidence Law], Zhongguo Zhengfa Daxue Chubanshe [China University of Political Sciences and Law Press], Beijing 2000, pp. 325 – 326.
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In a self-defense case, the prosecution, after reviewing the entire case, may come to one of the following conclusions: – First, the suspect’s conduct does not constitute a crime (such as murder or intentional injury); – Second, the alleged conduct constitutes a crime rather than an act of self-defense; – Third, the conduct constitutes an act of non-excessive, totally justifiable self-defense; – Fourth, the conduct constitutes excessive self-defense. In the first and third scenarios, the prosecution should drop the charges. In the second and fourth scenarios, the prosecution should decide to prosecute and submit corresponding litigation claims and factual claims to the court. Particularly the third scenario deserves special attention. As public prosecutors in China shoulder the responsibility to objectively ascertain the facts of a criminal case, they are required to consider whether the suspect’s conduct constitutes a crime or whether the conduct may be justified as non-excessive self-defense. According to the CPL,13 prosecutors are required to collect or examine evidence that may prove whether the alleged conduct (i. e., intentional injury or homicide) constituted justifiable self-defense. If the suspect’s conduct constituted non-excessive self-defense, the prosecutors must drop the charges. Needless to say, China’s “judicial organs”14 had for a long time a very narrow concept of self-defense. In cases involving serious bodily injuries or deaths, few accused could be exempted from conviction on grounds of self-defense. In recent years, however, things have been changing. Especially since the SPP issued its twelfth batch of guiding cases on self-defense (this time, four altogether)on December 19, 2018, the number of cases the procuratorates dropped on grounds of self-defense has gradually risen. An online search in the “Bada Fabao,” a law information database administered by Peking University, revealed that, in 2014, such cases numbered 13. This number rose to 53 in 2015; 74 in 2016; 36 in 2017; 104 in 2018; and 215 in 2019.15
13 Article 52 CPL stipulates that “judges, prosecutors and investigators must, in accordance with legal procedure, collect various categories of evidence that may prove the criminal suspect’s or defendant’s guilt or innocence and the severity of the crime.” 14 In China, the term “judicial organs” usually refers to police departments, procuratorates, and courts collectively. 15 The data was retrieved from the “Jiancha Wenshu” (Procuratorial Documents) section of the Bada Fabao database (http://www.pkulaw.cn) on March 15, 2020. Another online search on the same day, using the keywords “self-defense” and “non-prosecution” for the period between 1 January 2014 and 31 December 2019, resulted in a total of 495 documents. Among them were 396 non-prosecution decisions and 99 complaint review decisions. The 99 decisions referred to those made by higher-level procuratorates in response to appeals lodged by litigation parties who were dissatisfied with the previous non-prosecution decisions.
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Nowadays, public prosecutors generally decide not to prosecute if they are convinced that the suspect’s conduct constituted (non-excessive, justifiable) self-defense. But if they do decide to prosecute, they usually raise two types of litigation claims. As regards the first type, the prosecutors will claim that, since the defendant committed a crime, he or she should bear criminal responsibility. Correspondingly, factual claims may point to the fact that the alleged conduct constituted a crime and the fact that the conduct could not be justified as non-excessive self-defense. As for the second type, the prosecutors will claim that, because the alleged conduct exceeded the permitted limits of justifiable self-defense, the defendant should be criminally punished. Hence, the factual claims may point to the fact that the alleged conduct constituted an act of self-defense and the fact that the act of self-defense was excessive. In response to the above-mentioned litigation claims and corresponding factual claims, the defendant may raise three different litigation claims: – First, the alleged conduct does not constitute a crime; – Second, the conduct is an act of self-defense; – Third, the act of self-defense is non-excessive. With regard to the first and third, purely negative litigation claims, defendants need not present corresponding factual claims nor bear the burden of proof. As for the second litigation claim, they have to make a factual claim and bear some burden of proof.
V. Allocation of the Burden of Proof in Self-Defense Cases In a self-defense case, the defendant brings a factual claim of self-defense, but often finds it difficult to provide sufficient evidence. In the above cases involving Xuan and Tian, the main evidence the defendants could provide in support of their self-defense claims were their own statements; however, these one-sided statements were not sufficient to convince the courts. Both cases highlight the defendants’ difficulty in bearing the burden of proving self-defense. Objectively speaking, shifting the burden from the prosecution to the defense is not conducive to the protection or the encouragement of self-defenders. The claim of self-defense may be utilized to counter the prosecution’s first type of litigation claim discussed above, i. e., the defendant should bear criminal responsibility for having committed a crime. As a rule, the prosecution considers the possibility of justifiable self-defense already prior to initiating litigation and is therefore able to provide the evidence as required by the court. Moreover, as the prosecution occupies a stronger position in the litigation than the defense and has more resources for obtaining evidence, it is more reasonable to expect it to bear the burden of proof.
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At this point, it is time to return to the presumption of innocence principle with the purpose of using it as a foundation for highlighting two special rules on the allocation of burden of proof in criminal procedure: the shift rule and the reversal rule. The presumption of innocence principle requires that the burden of proof for the entire case be assumed by the prosecution as the party who raises a criminal charge. Further, the obligation for finding specific facts of a case should also be distributed in accordance with the principle of “whoever brings a claim bears the burden of proof.” As a result, there are cases where the burden of proof may be shifted from the prosecution to the defense. This is what we call the shift rule. The shift rule is not a violation of the presumption of innocence principle, for the rule is meant exactly to serve the implementation of the principle. To be specific, the foundation of the principle is the protection of the rights of the accused, a special value embedded in criminal legislation and criminal procedure. By addressing the question of which side should provide evidence first, legal norms on the shift rule are mainly designed to facilitate the provision and evaluation of evidence. In this sense, the shift rule is conditional upon considerations for the convenient provision of evidence and the efficiency of litigation. In spite of the shift rule, the defendant does not bear the burden of proof for all of his or her claims. If the defendant simply refutes a factual claim (for example, homicide) of the prosecution, he or she will not bear the burden of proof for the refutation. The burden of proof may be shifted to the defendant only when he or she raises a specific, positive factual claim in his or her own defense. Take, for example, a homicide case, where the defendant claims that he or she was not at the crime scene when the crime occurred, because he or she was at another place. Since the defendant claims to have an alibi, he or she is obligated to prove it. Therefore, the burden of proof is shifted from the prosecution to the defendant. Such a shift conforms to the logic of judicial proof. For if the prosecution had to investigate or refute every factual claim of the defendant, the goal of judicial justice and the efficiency of judicial proof would be greatly undermined. Nevertheless, for the sake of the balance of powers and equality of weapons, the legal standard for the burden of proof may be lower for defendants than for public prosecutors. In other words, there is no need for proof on the part of defendants to reach the standard of “being reliable and sufficient” or “beyond a reasonable doubt.” If defendants can prove that the likelihood of their absence from the crime scene is greater than the possibility of their presence, their duty of proof is fulfilled. This is similar to the “preponderance of evidence” standard for civil trials in some common law countries. Once the defendants fulfill their duty of proof, the burden is shifted back to the public prosecutors. Ultimately, the public prosecutors are obligated to provide “reliable and sufficient” evidence to prove that the defendant is the true perpetrator. As noted above, the burden of proof in criminal procedure is generally borne by the public prosecutors. However, under certain circumstances, the law may require
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the defendant, against whom a factual claim is filed, to assume the burden of proof. This is what we call a reversal of the burden of proof, an unconventional rule for allocating the burden. Such a reversal is generally explicitly prescribed in law. The rationale for the lawmakers to prescribe the use of a reversal rule is based on the need for efficient judicial proof and on other social policy considerations. The reversal rule applicable to cases of “extorting confession through torture” as provided by Article 247 Criminal Law is a good example. In criminal procedure, extorting confession through torture is generally presented as a factual issue. In a murder case, for example, the defendant may accuse police investigators of having tortured him to obtain a confession of guilt. This gives rise to a torture case. Since the accusation constitutes a specific factual claim, the burden of proof moves to the defendant. In other words, the general allocation rule, “whoever brings a claim bears the burden of proof,” applies. The current CPL recognizes the rule on the reversal of the burden of proof. Pursuant to Article 59 CPL, prosecutors have the duty to prove the legality of evidence collection in a court hearing. Article 60 CPL continues to stipulate that any evidence obtained by illegal methods, including torture, should be excluded. Based on this reversal rule, the prosecution in a torture case (in the sense of Article 247 Criminal Law) must prove that no torture was used to obtain the confession. If this duty of proof cannot be fulfilled, the prosecution must bear the consequence, i. e., the exclusion of the confession of guilt. Of course, the defendant who brings the torture claim should bear an initial burden, namely the burden of production. For example, the defendant may be required to produce some evidence, such as a personal statement, a medical report on injuries, or a witness testimony, to prove the claim of torture. Similar to the shift rule mentioned above, the standard of proof for the defendant in case of the reversal rule should be lower than that for the prosecution. As the Xuan and Tian cases in this paper illustrate, a defendant may be unable to provide sufficient evidence to prove his factual claim of self-defense. This means that in cases like these, the shift rule is a bad choice. Instead, the reversal rule is a better choice for solving the problem of insufficient evidence in self-defense cases, as the prosecution side will find it easier to bear the burden of proof in such cases. Just as the above torture scenario has shown, defendants in murder cases should bear the initial burden of producing evidence as a reasonable basis for their self-defense claim. As a next step, the prosecutors should bear the burden of counter proof to refute the defendant’s factual claim. The standard of proof for the prosecutors in such cases should be “reliable and sufficient,” a general standard of proof as provided by the CPL for making a guilty verdict.16 This standard should be higher than that im-
16 According to Article 55 para. 2 CPL, “in order that the evidence is reliable and sufficient, the following conditions should be met: (1) all facts for conviction and sentencing are proved
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posed on the defendant who strives to prove his or her factual claim of self-defense. In this sense, the burden of proof is reversed to the prosecution.
VI. Conclusion In summary, the allocation of burden of proof for self-defense in criminal procedure can be reversed with the rules as follows: First, the defendant bears the initial burden of proof for his or her factual claim of self-defense, and the applicable standard of proof should be lower. Second, the prosecution should bear the burden of proof against the self-defense claim, and their standard of proof should be higher. Third, if the evidence of one party fails to persuade the judges, they may make a factual finding in favor of the other party. Finally, if the prosecution insists on excessive self-defense while the defense argues for non-excessive and therefore totally justifiable self-defense, the prosecution side must additionally prove its factual claim of excessiveness. In a nutshell, the defendant brings the claim of self-defense, while the prosecutor bears the burden of proving the non-existence of self-defense. The reverse burden may seem unfair to the prosecution side, but the allocation of the burden of proof in criminal procedure law should be partial. If the disputing parties carried an equal burden of proof, the allocation of burden would be senseless. It goes without saying, however, that such partiality must be compatible with the requirement of judicial fairness from a holistic perspective.
Postscript This paper is dedicated to Professor Ulrich Sieber, an internationally renowned expert in criminal law and the former director at the Max Planck Institute for Foreign and International Criminal Law (currently renamed Max Planck Institute for the Study of Crime, Security and Law). I remember well my exchanges and interactions with him. In 2010, Professor Sieber invited me, with the help of Dr. Zunyou Zhou, one of my former students, to the Max Planck Institute in Freiburg for a two-month research stay. On the first day of my visit to the Institute in late June, I met with Professor Sieber in his office. He spoke with a scholarly air of elegance and humor. During the meeting, I talked about my research on wrongful convictions in China. He expressed interest in this research and afterwards informed me of similar research works by Karl Peters, a German criminal law professor. These works, published in the 1970 s, were entitled “Fehlerquellen im Strafprozess: Eine Untersuchung by evidence; (2) all evidence for making the verdict shall be verified through legal procedures; (3) based on all evidence of the case, a reasonable doubt about the facts is excluded.”
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der Wiederaufnahmeverfahren in der Bundesrepublik Deutschland” (The Source of Errors in Criminal Procedure: A Study of Retrial Procedures in the Federal Republic of Germany). Learning that I had written five crime novels in my spare time, he likened me to Bernhard Schlink, a German professor of public law who had also authored several novels. On one weekend, Professor Sieber and his wife, a judge, invited my wife and me to a famous local restaurant at the Schlossberg for dinner. During dinner, I turned our conversation to international judicial systems. I asked my hosts about the German judicial system and told them about China’s wrongful convictions and judicial reform. Soon afterwards, in July, Professor Sieber asked me to give a lecture on the subject of “Empirical Study of Wrongful Convictions and Torture in China” at the Institute. The lecture, which he chaired, was attended by a large audience. During my stay in Freiburg, I developed a professional friendship with Professor Sieber. We have remained in touch ever since. In December 2011, when Professor Sieber and his family traveled to China, my wife and I invited them to dinner at a Beijing restaurant. Because Zunyou had given Mrs. Sieber and their two children a wrong address for the restaurant, they had to struggle and change buses in the middle of the Beijing rush hour. Meanwhile, we had to wait anxiously for quite some time until they finally arrived. The incident added a “footnote” to our topic of “wrongful convictions” that day. At the end of 2014, my casebook on wrongful convictions, “Back from the Dead,” was published in Chinese by Peking University Press. Later, Ms. Beate Kayser, who had worked at the German Embassy in China for many years, translated the manuscript into German. I asked Professor Sieber and Dr. Zhou to help me find a publisher for the book in Germany. Thanks to their unremitting efforts, Walter de Gruyter, a well-known German press, published the book in 2017 under the title “Tote kehren zurück – Empirische Studien zur Strafjustiz in China” (meaning “Back from the Dead: Empirical Studies on Criminal Justice in China”). Professor Sieber did me a great favor by writing a brilliant preface for the book! (By the way, this publication is currently also available in English, French, Spanish, Portuguese, Hebrew, and Japanese languages.) In November 2017, I revisited the Max Planck Institute. This visit was preceded by my trip to Vienna, Austria, where I attended, as an invited observer, the Seventh Session of the Conference of the States Parties (COSP), the main policymaking body of the United Nations Convention against Corruption. This time, Professor Sieber asked me to deliver a lecture entitled “China’s Anti-Corruption Strategy.” Once again, he personally chaired the lecture. The lecture seemed to have aroused great interest, because the audience raised a wide range of questions in the Questions & Answers session. When the lecture was finished, a journalist of the local newspaper
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Badische Zeitung approached me for an interview.17 In the evening following the lecture, Professor Sieber treated me for dinner and we talked a lot. We had quite some things in common: being in the same age group, facing retirement and, thus, needing to think about a different way of life. Retirement is the last stage of life. For some people, retirement requires no planning, because it is nothing but a continuation of their past life with a pattern set years before, albeit at a gradual, slower pace, until life comes to a halt. However, for most other people, including me, retirement requires careful planning, for many reasons. This is simply because there is little time left for trial and error in terms of decisions or actions, and because our roles in the last station of life change fundamentally. Faced with different, new situations, we also need to learn new knowledge in the coming years. Since time in retirement is limited, people must make important choices. As the Bible says, “you cannot serve both God and Mammon.” I sincerely wish Professor Sieber a healthy and happy retirement!
17 For the interview article, see Steiner, Thomas, “Eine Amnestie für bestechliche Beamte” (meaning “An Amnesty for Corrupt Officials”), Badische Zeitung, November 16, 2017.
§ 203 StGB als Grenze kooperativen Beschuldigtenverhaltens beim Zugriff auf Beweismittel in Anwaltskanzleien Von Hans Kudlich
I. Hinführung und Widmung Ulrich Sieber zu treffen, ist für mich der Glücksfall meines akademischen Lebens gewesen. Nicht nur, dass er es war, der mich nach dem ersten Staatsexamen „an die Uni geholt“1 und dann schon nach relativ kurzer Zeit gefragt hat, ob ich mir vorstellen könnte, nach Promotion und zweitem Examen dort zu bleiben. Und nicht nur, dass ich bei ihm viel über die Organisation eines Lehrstuhls und den Umgang mit Mitarbeitern, Kollegen2 und – nicht zu unterschätzen – der Universitätsleitung lernen durfte. Und schließlich nicht nur, dass er auch privat immer ein offenes Ohr für mich hatte, mir stets den Rücken gestärkt hat3 und mir in schwierigen privaten Situationen4 Trost gespendet hat. Vielmehr habe ich – obwohl unsere wissenschaftlichen Schwerpunkte in einer für ein Lehrer-Schüler-Verhältnis zumindest nicht ganz üblichen Weise deutlich auseinandergedriftet sind – von ihm sehr, sehr viel lernen und adaptieren dürfen, insbesondere soweit es um Fragen der Konzeption und Ausgestaltung von wissenschaftlichen Texten ging. Gleich mein erstes Erlebnis mit ihm war hier prägend: Nach dem unerwartet erfreulichen Examen und einem halben Jahr interner Mitarbeit in einem Repetitorium zur Überarbeitung von Unterrichtsmaterialien habe ich meine Arbeit 1
Ich hatte nach dem Examen eine kleine Stelle an einem nach dem Wechsel von Ellen Schlüchter nach Bochum vakanten Lehrstuhl angetreten, und meine einzige Aufgabe war es, die auf die Stelle entfallende Lehrverpflichtung zu erfüllen. Diese Stelle war auf ein Semester begrenzt, und meine Lebensplanung war darauf ausgerichtet, danach meine geplante Dissertation anderweitig zu finanzieren. Für eine Unterschrift musste ich zu Ulrich Sieber als Institutsdirektor, mit dem ich dann ins Gespräch kam und der mich davon überzeugte, eine nach diesem Semester bei ihm frei werdende Stelle anzutreten. 2 Selbstverständlich gilt hier wie auch an anderen Stellen im Text, etwa bei Beschuldigten, Zeugen oder Anwälten grundsätzlich stets m/w/d. 3 So etwa, als Kollegen in anderen Fachsäulen „Berührungsängste“ wegen einer (neben einer 50 %-Stelle an der Universität) geringfügigen Tätigkeit in einem kommerziellen Repetitorium hatten. 4 So insbesondere beim völlig überraschenden Tod meines Vaters zu Beginn meiner Habilitationszeit.
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beim Jubilar mit dem breiten Selbstbewusstsein angetreten, ein besonderes Talent zum Verfassen juristischer Texte zu haben. Bei Ulrich Sieber zu erleben, wie Texte wirklich gut strukturiert werden, wie viel Akribie man auf das Feilen von Formulierungen und Argumenten verwenden kann und um wie viel besser jeder Entwurf kleinerer Passagen, die er mir anvertraute, auf einmal klang, wenn er sich den Text vorgenommen hatte – das hat mich spontan beeindruckt und demütig gemacht. Das genannte erste Projekt hatte u. a. § 203 StGB zum Gegenstand und befasste sich mit Offenbarungsbefugnissen der Berufsgeheimnisträger in speziellen Situationen (insbesondere zu Abrechnungszwecken). Nach meiner Kenntnis ist dieser Text, dessen Entstehung für mich eine Art „Initiationsritus“ war, später nie mehr in vollständiger Form veröffentlicht worden, weil kurz danach die ersten Fragen eines damals gänzlich neuen Phänomens auftauchten, denen sich Ulrich Sieber dann mit ganzer Kraft als einer der allerersten und mit systembildender Kraft gewidmet hat: dem Internet und insbesondere der Provider-Verantwortlichkeit.5 Dies ist für mich Grund genug, um in dieser Festschrift fast 25 Jahre später ebenfalls einen Beitrag aus dem Umfeld des § 203 StGB zu verfassen, in dem es auch insbesondere um Grund und Grenzen möglicher Offenbarungsbefugnisse geht – dies freilich in einem anderen Kontext, nämlich bei der Frage nach etwaigen Kooperationsmöglichkeiten in Fällen, in denen Strafverfolgungsbehörden auf Beweismittel in Anwaltskanzleien zugreifen wollen. Derartige Konstellationen sind nicht erst und nicht nur durch die Entscheidung des BVerfG in Sachen Jones Day6 in der jüngeren Vergangenheit immer wieder in den Mittelpunkt des Interesses geraten.7 Dabei soll es freilich nicht um die Sonderkonstellation gehen, in der nicht interne Ermittlungen durch eine Kanzlei vorgenommen worden sind, deren Ergebnisse beschlagnahmt werden sollen, sondern es soll um Fälle gehen, in der Anwälte einer Kanzlei selbst im Verdacht stehen (könnten), durch ihre Beratung an einer Straftat teilgenommen zu haben.8
5 Grundlegend als eine der frühen wirklich tiefgehenden Publikationen dazu Sieber, JZ 1996, 429 ff., 494 ff. – die Korrektur- und Kürzungsphase dieses zweiteiligen Beitrags war eine ganz besondere Zeit am Lehrstuhl: Mein damaliger Mitassistent und ich mussten uns den Tag mehr oder weniger aufteilen, um alle Änderungen, die der Jubilar mit einem eigens dafür an seinem Urlaubsort angeschafften Faxgerät an uns schickte, in das Manuskript einarbeiten zu können. Dass die Arbeitskapazität von Ulrich Sieber mithin selbst an einem Urlaubstag derjenigen von zwei Personen, die sich nicht im Urlaub befinden, entspricht, dürfte sich auch in der Folge nicht geändert haben. 6 Vgl. BVerfG NJW 2018, 2385 = NStZ 2019, 159 m. Anm. Knauer. 7 Vgl. dazu auch in diesem Band den Beitrag von Trüg, S. 635. 8 Zu den Grenzen einer Strafbarkeit allein durch Rechtsrat vgl. Kudlich, Die Unterstützung fremder Straftaten durch berufsbedingtes Verhalten, 2004, S. 476 ff.
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II. Ausgangsfall und Problemstellung Als Ausgangspunkt für die nachfolgenden Überlegungen soll folgender Beispielsfall dienen: Rechtsanwälte der berufsständig – etwa als Partnerschaft mit beschränkter Berufshaftung (PartG mbB) – organisierten Kanzlei K haben eine Reihe von Mandanten in einer kapitalmarktrechtlichen Frage beraten und dabei Handelsstrategien als rechtmäßig bewertet und empfohlen, die von einzelnen Gerichten und Staatsanwaltschaften im Nachhinein als verbotene Marktpreismanipulation nach § 119 I Nr. 1 WpHG i.V.m. § 120 III WpHG i.V.m. Art. 15 der Marktmissbrauchsverordnung (VO [EU] 506/2014) eingestuft werden.9 Ungeachtet der nicht ganz einfachen Frage, ob und wann zumindest eine „gutgläubige“ Rechtsberatung bei einer abweichenden Rechtsauffassung der Verfolgungsbehörden überhaupt als strafbare Unterstützung in Betracht kommt,10 werden erste Ermittlungsverfahren gegen Anwälte der K wegen Beihilfe zur Marktpreismanipulation geführt. Für diese Verfahren sind Unterlagen, die in den Räumen der K lagern, als Beweismittel potentiell von Interesse. Auch steht im Raume, dass die K selbst als Nebenbeteiligte beigeordnet wird, da gegen sie ein Bußgeld wegen einer Aufsichtspflichtverletzung nach §§ 130, 30 OWiG verhängt werden soll.11 Hierbei ist absehbar, dass die Staatsanwaltschaft in größerem Umfang Zugriff auf Unterlagen im Gewahrsam der K nehmen (wollen) wird. Der K12 sind solche Strafverfahren mit Unternehmensbezug aus der Beratungspraxis bestens bekannt. Zumindest im Einzelfall rät die K dabei ihren Mandanten durchaus zu einer weitgehenden Kooperation mit den Verfolgungsbehörden, insbesondere soweit es um die Überlassung von Beweismitteln geht, um zum einen weitergehende Durchsuchungsmaßnahmen abzuwenden und zum anderen auch den Abschluss von gegen die Mandanten gerichteten Verfahren zu beschleunigen und etwaige Sanktionen zu mildern bzw. andere Absprachen zu treffen. In ihrem „eigenen“ 9 Zu den Schwierigkeiten der Erfassung „handelsgestützter“ Manipulationen vgl. Kudlich, wistra 2011, 361 ff., sowie eingehend Eichelberger, Das Verbot der Marktmanipulation, 2006, S.171 ff.; Maile, Der Straftatbestand der Kurs- und Marktpreismanipulation nach dem Wertpapierhandelsgesetz, 2006; S.41 ff.; Trüstedt, Das Verbot von Börsenmanipulationen, 2004, S.161 ff. Vergleichbares wäre überall dort denkbar, wo Verstöße gegen eine Primärmaterie (neben-)strafrechtliche Folgen haben kann und eine Beratung oder Gestaltung mit einer gewissen Gleichförmigkeit eine Vielzahl von Sachverhalten betreffen kann, so insbesondere auch im Arbeitsrecht (Gestaltung von Verträgen vermeintlich selbständiger Tätigkeit vs. § 7 SGB IV – § 266a?) oder im Steuerrecht (Gestaltung von Steuersparmodellen bei der Körperschafts- oder Gewerbesteuer – § 370 AO?). 10 Vgl. nochmals Kudlich, Die Unterstützung fremder Straftaten durch berufsbedingtes Verhalten, 2004, S. 476 ff.; aus jüngster Zeit auch Sättele, NStZ 2/2020, S. III (Editorial) – diese Möglichkeit soll (jedenfalls für unser Fallbeispiel) einmal arguendi causa als denkbar erachtet werden. 11 Vgl. zum Zusammenspiel der §§ 30 und 130 (ggf. auch i.V.m. § 9 OWiG) auch Kudlich/ Og˘ lakcıog˘ lu, Wirtschaftsstrafrecht, 3. Aufl. 2020, Rn. 123a. 12 Gemeint ist hier natürlich ganz genau ausgedrückt: den zur K gehörenden bzw. bei dieser beschäftigten Rechtsanwälten.
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Verfahren aber stellt sich nun die Frage, wie von Seiten der K mit der Situation umgegangen werden kann und insbesondere welche Beweismittel an die Verfolgungsbehörden überlassen werden dürfen, ohne gegen § 203 StGB zu verstoßen.
III. Grundlagen einer Lösung Eine Antwort auf diese Frage (dazu später unten IV.) fußt auf dem System des staatlichen Zugriffs auf Beweismittel nach §§ 94 ff. StPO gegenüber verschiedenen Prozessbeteiligten einerseits (vgl. unten 2.) und auf der Systematik des § 203 StGB13 andererseits (vgl. im Anschluss 3.). Vorab lohnt sich freilich ein kurzer Blick darauf, um welche Beweismittel es überhaupt gehen könnte (sogleich 1.). 1. Betroffene Verfahren und Beweismittel Eine erste Frage, die sich die K bei ihren Überlegungen zu einer etwaigen Kooperation stellen muss, ist diejenige nach dem Umfang etwaiger Beweismittel. Zumindest am Anfang der Ermittlungen wird es Beratungsfälle geben, bei denen die Staatsanwaltschaft bereits einen zu Ermittlungen führenden Verdacht etwaiger Straftaten gegenüber K-Anwälten (etwa nach §§ 119, 120 WpHG, 27 StGB) hat. Hier liegt die Durchführung entsprechender Ermittlungsmaßnahmen nahe. Daneben mag es anfangs aber auch noch bislang unbekannte Fälle bzw. Mandate geben, aus denen sich weitere für K-Anwälte strafbare und damit auch für die K bußgeldrelevante Sachverhalte ergeben könnten. Unter dem Gesichtspunkt einer möglichst raschen und kompakten Erledigung eines etwaigen Bußgeldverfahrens könnte das Interesse der K durchaus dahingehen, dass bei den Ermittlungen sogleich auf alle entsprechenden Fälle (oder zumindest: auf die insoweit herangezogenen Fälle insgesamt und nicht „scheibchenweise“) zugegriffen wird. Zumindest soweit es um ein Bußgeldverfahren mit Blick auf §§ 130, 30 OWiG geht, liegt dies allerdings auch nahe. Denn hier kann viel dafür sprechen, dass es sich in einer Konstellation wie der hier skizzierten um eine Daueraufsichtspflichtverletzung handelt,14 bei welcher die einzelnen (potentiell strafbaren) Beratungen nur jeweils als (mehrere) Bedingung(en) der Ahndbarkeit bei der gleichen Aufsichtspflichtverletzung als Tathandlung auftreten. Vor diesem Hintergrund bestünde 13
Die Verschwiegenheitspflicht nach § 203 StGB korrespondiert im anwaltlichen Berufsrecht mit § 43a II BRAO. Im Folgenden wird hier insbesondere auf die – für die Verantwortlichen der PartG mbB noch gravierendere – Strafnorm des § 203 StGB geblickt. Etwaige Rechtfertigungsgründe, die den Verstoß gegen eine Strafnorm rechtfertigen können, dürften freilich zumindest regelmäßig auch geeignet sein, eine Verstoß gegen das anwaltliche Berufsrecht zu legitimieren bzw. das Handeln berufsrechtskonform erscheinen zu lassen. 14 Diese führt nur zu einer einzigen betriebsbezogenen Zuwiderhandlung i.S. des § 30 OWiG, vgl. KK-OWiG-Rogall, 5. Aufl. 2018, § 130 Rn. 74 f.; Cordes/Reichling, NJW 2015, 1335 (1337).
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dann ein relativ weitreichender Verdacht, der weitreichende Beschlagnahmen rechtfertigen könnte, um etwaige weitere dadurch ermöglichte Fälle zu ermitteln. 2. Grundsätzliche Zugriffsmöglichkeiten der Staatsanwaltschaft auf Beweismittel Soweit ein Beschuldigter (bzw. Betroffener) oder ein Dritter etwaige Beweismittel nicht a priori freiwillig herausgibt (was für die K mit Blick auf § 203 StGB mit Schwierigkeiten verbunden wäre, vgl. ausführlicher im Anschluss), gibt es typischerweise für die Strafverfolgungsbehörden zwei Möglichkeiten, um auf bereits existente Sachbeweismittel zugreifen zu können: die Sicherstellung bzw. Beschlagnahme nach § 94 StPO und das Herausgabeverlangen nach § 95 StPO: a) Beschlagnahme, § 94 StPO Beim Verdacht einer Straftat – aber auch bei demjenigen einer Ordnungswidrigkeit, vgl. § 46 I OWiG – hat die Staatsanwaltschaft die Möglichkeit, Gegenstände, die als Beweismittel dienen können, sicherzustellen und dabei auch gegen den Willen des Gewahrsamsinhabers zu beschlagnahmen. Eine solche Beschlagnahme ist grundsätzlich (zu Ausnahmen nach § 97 StPO vgl. sogleich) gegenüber dem Beschuldigten in gleicher Weise zulässig wie gegenüber Zeugen. Grenzen der Beschlagnahme ergeben sich dabei insbesondere aus § 97 StPO bei Beweismitteln, die sich im Gewahrsam bestimmter Berufsgeheimnisträger – insbesondere auch Rechtsanwälte und Strafverteidiger – befinden. Demgegenüber hat der Beschuldigte (und zwar ungeachtet des nemo-tenetur-Grundsatzes!) generell keine Möglichkeit, sich gegen eine Beschlagnahme zu wehren. Eine Ausnahme gilt hier für – auch im Gewahrsam des Beschuldigten befindliche und von ihm selbst gefertigte – Verteidigungsunterlagen, die nach der Rechtsprechung beschlagnahmefrei sein können. Dabei kommt es auch nicht darauf an, ob die Verteidigungsunterlagen für den Beschuldigten selbst bestimmt oder als Mitteilungen an den Verteidiger verfasst sind. Entscheidend ist vielmehr, dass die Unterlagen erkennbar, also für einen Außenstehenden nachvollziehbar, zum Zwecke seiner Verteidigung angefertigt sind.15 b) Herausgabeverlangen nach § 95 StPO Alternativ zur Beschlagnahme als eigenmächtigem Zugriff hat die Staatsanwaltschaft auch die Möglichkeit, eine Person nach § 95 StPO aufzufordern, einen Beweisgegenstand herauszugeben. Dies kommt zum einen in Betracht, wenn die Staatsanwaltschaft zwar davon überzeugt ist, dass die Person den Gegenstand im Gewahrsam hat, sie ihn selbst aber bei ihr nicht finden kann (und eine Mitwirkungspflicht 15
Vgl. etwa BGH NStZ 1998, 309.
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besteht);16 zum anderen ist ein Herausgabeverlangen nach § 95 StPO aber auch eine mildere Maßnahme gegenüber einer Beschlagnahme, indem dem Gewahrsamsinhaber die Möglichkeit gegeben wird, durch die Herausgabe die Beschlagnahme (und insbesondere auch eine dieser vorhergehende Durchsuchung, ggf. verbunden mit einer viel weiter reichenden vorläufigen Sicherstellung von Unterlagen, die zumindest nach § 110 StPO durchgesehen werden) abzuwenden. Hier kann es unverhältnismäßig sein, zu durchsuchen und zu beschlagnahmen, wenn mit einer Herausgabe gerechnet werden kann.17 Kommt der Aufgeforderte dem Herausgabeverlangen nicht nach, so können gegen ihn nach § 95 II 1 StPO bestimmte Ordnungsmittel verhängt werden. Dies gilt nach § 95 II 2 StPO freilich nicht gegenüber insoweit zeugnisverweigerungsberechtigten Personen sowie nach herrschender Meinung auch nicht gegenüber dem Beschuldigten.18 c) Durchsuchungs- und Beschlagnahmeanordnung mit Abwendungsbefugnis Zwischen § 94 StPO und § 95 StPO steht der gesetzlich nicht explizit geregelte, in der Praxis aber nicht selten praktizierte Fall der Durchsuchungs- und Beschlagnahmeanordnung mit Abwendungsbefugnis.19 In der Sache geht es hier darum, dass nicht das Herausgabeverlangen mit der Androhung einer alternativen Durchsuchung und Beschlagnahme verbunden wird, sondern umgekehrt im Durchsuchungsbeschluss die „Abwendung“ einer solchen Maßnahme in Aussicht gestellt wird, wenn etwa die gesuchten Unterlagen „zur Verfügung gestellt“ werden. Dies muss nicht notwendig durch eine Übergabe in (entsprechender) Anwendung von § 95 I StPO erfolgen,20 sondern es kann auch die Sicherstellung bzw. förmliche Beschlagnahme durch einen Zugriff der Staatsanwaltschaft erfolgen, vor welchem die interessierenden Unterlagen aber vom Adressaten der Zwangsmaßnahme „zusammengestellt“ werden. Dies kann erfolgen, um insbesondere die mit der Durchsuchung verbundenen Folgen – und zwar insbesondere auch mit Blick auf etwaige Kollateralschäden durch die Sichtung diverser „überschießender“ Unterlagen, die mit dem Verfahren an sich nichts zu tun hätten – möglichst gering zu halten. 16
Vgl. MüKo-StPO-Hauschild, Bd. I, 2014, § 95 Rn. 2. Vgl. MüKo-StPO-Hauschild, § 95 Rn. 5; ebenso Löwe/Rosenberg-Menges, StPO, Bd. III, 27. Aufl. 2019, § 95 Rn. 3. Diese Möglichkeit existiert auch gegenüber dem Beschuldigten, vgl. MüKo-StPO-Hauschild, § 95 Rn. 12. 18 Vgl. MüKo-StPO-Hauschild, § 95 Rn. 12. 19 Zur Bezugnahme auf dieses Institut in der Rechtsprechung etwa BVerfG BeckRS 2004, 27542; LG Bochum NStZ 2016, 500; LG Neubrandenburg NJW 2010, 691; LG Saarbrücken NStZ 2010, 534; LG Berlin NStZ 2006, 470; LG Halle NStZ 2001, 276. 20 Für eine solche Einordnung aber offenbar Park, Durchsuchung und Beschlagnahme, 4. Aufl. 2018, Rn. 442. 17
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3. § 203 StGB als Grenze einer Kooperation a) Konfrontation vs. Kooperation im Ermittlungsverfahren Sowohl in der Situation einer Beschlagnahme als auch insbesondere als Reaktion auf ein Herausgabeverlangen – und möglicherweise sogar schon vor etwaigen Beweiserhebungen durch die Strafverfolgungsbehörden – lässt sich ein unterschiedlich „kooperatives“ Verhalten des Adressaten der Zwangsmaßnahme vorstellen: Während eine gewaltsame Widersetzung selbstverständlich aus Rechtsgründen untersagt ist, reicht das Spektrum vom Nicht-Nachkommen gegenüber einem Herausgabeverlangen und der intensiven Suche nach und dem Vorbringen von (tatsächlichen oder behaupteten) Weigerungsrechten bis zur – ggf. sogar proaktiven – Herausgabe mit oder ohne vorherigem Herausgabeverlangen oder jedenfalls zur Abwendung drohender Sicherstellungsmaßnahmen. Auch in der Position des Beschuldigten bzw. Betroffenen im Ordnungswidrigkeitenverfahren ist dabei keinesfalls selbstverständlich, dass ein vehementer Widerstand stets das probate Mittel ist. Vielmehr kann es inner- und außerprozessual durchaus gute Gründe geben, mit den Verfolgungsbehörden zu kooperieren. Diese beginnen bei dem denkbaren Bestreben, in einer möglichst konzentrierten Aktion sämtliche möglicherweise bußgeldrelevanten Vorfälle zu erledigen (Rechtskraft!) und den Zugriff der Strafverfolgungsbehörden auf Beweismittel möglichst nicht zu strecken bzw. iterativ zu gestalten. Hinzu kommen gewisse „gestalterische“ Möglichkeiten (gegenüber einer Durchsuchung mit weitgreifenden vorläufigen Sicherstellungen, vgl. o.) und das für die Kanzlei K erst einmal legitime Ansinnen, den staatlichen Behörden gegenüber den Willen zur Rechtstreue und die Übernahme von Verantwortung für ein etwaiges Fehlverhalten im eigenen Hause zu demonstrieren. Zuletzt und vor allem ist auch an die möglicherweise positiven Konsequenzen für eine etwaige Bußgeldbemessung zu denken. b) Strafrechtliche Absicherung des Geheimnisschutzes durch § 203 StGB Sind die Gründe, die für und gegen ein konfrontatives oder eben kooperatives Verhalten sprechen, in einem Strafverfahren für jeden Zeugen und vor allem für jeden Beschuldigten sorgfältig abzuwägen, so ist für die K als Anwaltskanzlei noch ein weiterer wichtiger Punkt zu berücksichtigen: Soweit beabsichtigt wird, sich im Rahmen der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsmaßnahmen kooperativ zu verhalten, stellt § 203 StGB eine sorgfältig zu beachtende Grenze dar. Die Vorschrift dient – wie oben bereits erwähnt – dem Schutz von Privatgeheimnissen und stellt in Absatz 1 Nr. 3 unter Strafe, wenn jemand „unbefugt ein fremdes Geheimnis, namentlich ein zum persönlichen Lebensbereich gehörendes oder ein Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis, offenbart, das ihm als Rechtsanwalt anvertraut worden oder sonst bekanntgeworden ist“. Dadurch wird das schutzwürdige Interesse der Mandanten an einer
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Geheimhaltung auch über die anwaltliche Berufspflicht nach § 43a II BRAO hinaus dokumentiert. In unserem Beispielsfall wäre die Vorschrift dabei jedenfalls grundsätzlich einschlägig, soweit es um Mitteilungen – in mündlicher wie auch in schriftlicher Form bei der Herausgabe von Unterlagen – über die grundsätzliche Existenz oder auch über die konkreten Inhalte einer wertpapierhandelsrechtlichen Beratung durch die K gegenüber irgendwelchen Mandanten geht. Gerade das Material, welches in etwaigen Strafverfahren gegen Mandanten (bzw. deren Mitarbeiter) oder gegen Anwälte der K, aber auch mit Blick auf ein etwaiges Bußgeldverfahren gegenüber K für die Strafverfolgungsbehörden von Interesse ist, dürfte grundsätzlich ganz überwiegend in den Schutzbereich des § 203 StGB fallen. Schon bei einem ersten groben Blick kann dabei davon ausgegangen werden, dass mit Blick auf § 203 StGB deutlich weniger Probleme auftreten, soweit es nicht um ein Herausgabeverlangen geht, dem gefolgt würde, sondern wenn eine Beschlagnahme vorliegt, da hier keine Sachverhalte eigenständig offenbart werden. Freilich ist aber auch hier zu berücksichtigen, dass dann, wenn gegen eine mögliche Beschlagnahme bestehende Rechte (insbesondere Beschlagnahmefreiheit kraft Anwaltseigenschaft) nicht geltend gemacht werden, die Konstruktion einer Strafbarkeit nach §§ 203,13 StGB21 oder (voraussetzungsvoller!) nach §§ 203, 25 I Alt. 2 StGB kaum a priori ausgeschlossen erscheint. c) Grenzen für § 203 StGB – Fälle befugten Handelns Freilich setzt nicht nur § 203 StGB etwaigen Kooperationswünschen Grenzen – vielmehr wird umgekehrt § 203 StGB seinerseits durch das Strafprozessrecht begrenzt, da prozessuale Offenbarungspflichten als Rechtfertigungsmöglichkeiten im Rahmen von § 203 StGB (die dann die „Unbefugtheit“ ausschließen würden22) zu berücksichtigen wären,23 soweit ihnen gegenüber keine Weigerungsrechte bestehen.24 Soweit ein Berufsgeheimnisträger im Einzelfall zur Herausgabe kraft Gesetzes verpflichtet ist bzw. sich gegen einen Zugriff nicht wehren kann, liegt daher keine unbefugte Geheimnisoffenbarung vor. Darüber hinaus ist zumindest zu erwägen, ob im Rahmen von strafprozessualen Zwangsmaßnahmen auch eine Rechtfertigung kraft Interessenabwägung möglich ist. 21 Zu dieser grundsätzlichen Möglichkeit vgl. Fischer, StGB, 67. Aufl. 2020, § 203 Rn. 35; Schönke/Schröder-Eisele, StGB, 30. Aufl. 2019, § 203 Rn. 23. 22 Zur vorzugswürdigen Einordnung der „Unbefugtheit“ als allgemeines Rechtswidrigkeitserfordernis vgl. LK-StGB-Schünemann, Bd. VI, 12. Aufl. 2009, § 203 Rn. 119; Fischer, § 203 Rn. 61; differenzierend und für manche Konstellationen einen Tatbestandsausschluss annehmend Schönke/Schröder-Eisele, § 203 Rn. 29 ff.; für das vorliegende Problem ist die Frage, ob die Unbefugtheit Tatbestandsmerkmal oder Rechtswidrigkeitsmerkmal ist, unerheblich. 23 Vgl. dazu Fischer, § 203 Rn. 73 ff.; Schönke/Schröder-Eisele, § 203 Rn. 43 f. 24 Zu dieser Einschränkung explizit etwa Fischer, § 203 Rn. 77.
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Die Möglichkeit, dass auch die Figur der „Wahrnehmung berechtigter Interessen“25 oder die Anwendung des § 34 StGB26 das Offenbaren „befugt“ machen können, ist im Grundsatz anerkannt. Insoweit könnte auch hier wieder an das Eigeninteresse des Adressaten einer Zwangsmaßnahme (hier also: der K) an einer raschen und möglichst reibungslosen Abwicklung des gesamten Sachverhalts zu denken sein. Auf der anderen Seite stehen die Interessen der Mandanten am Schutz des anwaltlichen Beratungsgeheimnisses sowie über die konkret von einer Herausgabe/Offenbarung betroffenen Individualpersonen hinaus möglicherweise auch die Interessen der Gesamtheit von K’s Mandanten in ihrem Vertrauen auf die Einhaltung der anwaltlichen Verschwiegenheit. Wie bei jeder Interessenabwägung sind jedoch nicht nur die betroffenen Schutzgüter selbst, sondern etwa auch der Grad der Gefährdung zu berücksichtigen, der sich bei der Geheimnisoffenbarung beispielsweise in Fragen der Schutzwürdigkeit des Geheimnisses, des Verbreitungsgrades der Offenbarung oder auch der Sicherheit des Geheimnisses ohne die präsumtiv tatbestandliche Handlung manifestiert. Auf den ersten Blick mag man im Rahmen einer solchen Abwägung auch daran denken, Informationen, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit deliktische Sachverhalte betreffen, generell als weniger schutzwürdig zu betrachten; freilich sind einer solchen Wertung doch sehr enge Grenzen gezogen, da andernfalls insbesondere Strafverteidiger zu mehr oder weniger großen Teilen ihrer Tätigkeit aus § 203 StGB herausfallen würden, was gesetzgeberisch kaum gewollt sein kann.
IV. Kooperationsmöglichkeiten und Weigerungsrechte in verschiedenen Ermittlungssituationen Für die Frage nach dem günstigsten Vorgehen ist daher zu untersuchen, welche Möglichkeiten es gibt, sich in verschiedenen Verfahrenssituationen den Strafverfolgungsbehörden (mit Aussicht auf Erfolg) zu widersetzen oder mit ihnen zu kooperieren und welche Konsequenzen dies ggf. mit Blick auf eine Strafbarkeit nach § 203 StGB hätte. Dabei sind insbesondere etwaige Weigerungsrechte der K bei verschiedenen Ermittlungsmaßnahmen bedeutsam. Da – wie oben angedeutet – diese Rechte bei Beschlagnahme und Herausgabeverlangen zwar unterschiedlich ausgeübt werden, dem Wesen nach aber weitgehend parallel laufen, soll hierbei auf der obersten Ebene der Darstellung nicht zwischen Beschlagnahme nach § 94 StPO und Herausgabeverlangen nach § 95 StPO, sondern nach der Stellung als Beschuldigte bzw. (für die PartG mbB als nicht-natürliche Person de lege lata nur) Betroffene oder als „Zeugin“ differenziert werden.27 25
Vgl. dazu im Rahmen des § 203 StGB LK-Schünemann, § 203 Rn. 131. Vgl. dazu im Rahmen des § 203 StGB Fischer, § 203 Rn. 86. 27 Dass dabei die Bezeichnung als „Zeugin“ verkürzt ist, liegt auf der Hand, da „die PartG mbB“ keine Zeugenstellung in einem Verfahren einnehmen kann, sondern nur einzelne An26
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1. Strafverfahren gegen Mandanten a) §§ 53 und 97 StPO als Ausgangspunkt Im Strafverfahren gegen ihre Mandanten hat die PartG mbB (bzw. haben die in §§ 53 f. StPO bzw. § 97 StPO genannten natürlichen Personen) ein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 53 I Nr. 3 StPO. Entsprechend besteht in diesen Konstellationen grundsätzlich nach dem Wortlaut des Gesetzes auch ein Beschlagnahmeverbot nach § 97 StPO, bzw. bei einem Herausgabeverlangen kann nach § 95 II 2 StPO keine Ordnungsmaßnahme verhängt werden. Zwar resultiert strafprozessual aus einem Zeugnisverweigerungsrecht keine Zeugnisverweigerungspflicht.28 Allein dieser Umstand (und gegebenenfalls auch die Verwertbarkeit in einem Strafverfahren, wenn der Zeuge Aussagen macht bzw. einen Gegenstand herausgibt) ändert aber nicht notwendig etwas an der möglichen Strafbarkeit nach § 203 StGB für den zeugnisverweigerungsberechtigten Zeugen.29 b) Einschränkungen der Beschlagnahmefreiheit? Freilich ist in der jüngeren Vergangenheit eine umfangreiche, sehr ausdifferenzierte und im Einzelfall auch nicht ganz einfach zu überblickende Diskussion über die Beschlagnahme sowohl im Zusammenhang mit Unternehmen (beim Verdacht der Strafbarkeit von Unternehmensmitarbeitern) als auch im Zusammenhang mit Zwangsmaßnahmen bei beratenden Anwaltskanzleien entstanden. Da sich in unserem Beispiel beide Problemfelder – Anwaltskanzlei und arbeitgebende Gesellschaft potentieller Beschuldigter – in Gestalt der K treffen, lohnt ein Blick darauf, ob aus dieser Diskussion Stränge zu berücksichtigen sind, die entsprechende Weigerungsrechte in der vorliegenden Konstellation (Strafverfahren gegen Mandanten) a priori ausschließen würden: aa) Einzelne Äußerungen aus der jüngeren Zeit könnte man auf den ersten Blick so verstehen, dass § 97 I StPO a priori auf Strafverteidiger beschränkt ist (und sonstige Anwälte gerade nicht in seinen Anwendungsbereich fallen). Eine solche Sichtweise wäre jedoch nicht nur klar contra legem (und etwa auch mit Blick auf andere Berufsgeheimnisträger aus dem nicht-juristischen Bereich nicht sinnvoll anwendwälte oder Mitarbeiter. Soweit diese natürlichen Personen sich freilich nach § 53 StPO oder auch § 53a StPO auf Zeugnisverweigerungsrechte berufen können, werden damit auf Zwangsmittel „gegen die PartG mbB“ (d. h. auf an diese oder ihre Organe adressierte Auskunftsersuchen bzw. auf in den Räumen der PartG mbB vorgenommene Durchsuchungen mit Beschlagnahmen) insgesamt die Regelungen Anwendung finden, die auch für zeugnisverweigerungsberechtigte Individualpersonen gelten. Das rechtfertigt hier die verkürzte Umschreibung als „Zeugin“. 28 Vgl. aus jüngerer Zeit anschaulich BGH 3 StR 460/17 = NStZ 2018, 362. 29 Plakativ hierzu auch die zusammenfassende Kommentierung zu dieser Entscheidung von Jäger: „Vor Gericht muss man selbst wissen, ob man sich strafbar machen will“, vgl. JA 2018, 632.
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bar), sondern wird auch von den Einschränkungen, welche v. a. die Rechtsprechung zu § 97 I StPO (und dabei insbesondere auch zu seiner Nr. 3) gerade auch in jüngerer Zeit betont30 (und die auch in den Materialien zum Referentenentwurf eines Verbandssanktionengesetzes diskutiert werden31) nicht getragen: Wenn hier in bestimmten Konstellationen die Anwendbarkeit des § 97 I StPO – mittlerweile gefestigt und auch durch das BVerfG bestätigt32 – ausgeschlossen wird, in denen etwa eine interne Untersuchungen für ein Unternehmen durchführende Anwaltskanzlei entsprechende Unterlagen in ihrem Gewahrsam hat, so geht es sich hier nicht etwa darum, ob diese Kanzlei als Strafverteidiger tätig geworden ist, sondern die Einschränkungen beziehen sich in den Fällen der Strafverfolgung eines Unternehmensmitarbeiters darauf, dass zwischen der die internen Ermittlungen durchführenden Kanzlei und den Mitarbeitern gerade kein Mandatsverhältnis bestanden hat. Ausschlaggebend ist also nicht das Rechtsgebiet – hier: Strafrecht oder Kapitalmarktrecht –, in dem beraten wird, sondern die Frage einer entsprechenden Mandatsbeziehung. Sehr wohl eine Differenzierung besteht insoweit zwar mit Blick auf § 148 StPO, da dieser sich allein auf den Strafverteidiger bezieht. Diese Vorschrift ist aber für Beschlagnahmen nur dann von Interesse, wenn sich Unterlagen (abweichend von § 97 II 1 StPO) nicht beim Berufsgeheimnisträger, sondern beim Mandanten befinden. Denn für den Schriftverkehr zwischen Verteidigung und Beschuldigtem wird eine umfassende Beschlagnahmefreiheit unabhängig davon angenommen, wo die Gegenstände sich befinden.33 Für unseren Beispielsfall spielt dies jedoch keine Rolle, soweit die Beschlagnahme bzw. Herausgabe gerade von Unterlagen bei der K und damit beim Berufsgeheimnisträger Gegenstand ist. bb) Weniger weitgehend, für den vorliegenden Fall aber dennoch relevant wäre eine Einschränkung, die § 97 StPO auf Unterlagen beschränkt, welche erst nach Begründung der Beschuldigtenstellung entstanden sind bzw. jedenfalls zum Berufsgeheimnisträger gelangt sind. Anknüpfungspunkt für ein solches Verständnis könnte die Formulierung in § 97 I StPO sein, soweit die Vorschrift dort von Mitteilungen, Aufzeichnungen usw. des „Beschuldigten“ spricht. Dies könnte bedeuten, dass es nur um solche Unterlagen geht, die zu einem Zeitpunkt in den Gewahrsam des Berufsgeheimnisträger gelangt sind, als schon die Beschuldigteneigenschaft bestanden hat.
30 Vgl. nur LG Bochum NStZ 2016, 500; LG Bonn NZWiSt 2013, 21 (24); LG Hamburg NZWiSt 2012, 26 f.; vgl. auch früher bereits LG Hildesheim NStZ 1982, 394 (395) und OLG Celle NJW 1965, 362 (363); in der Literatur etwa zustimmend Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl. 2020, § 97 Rn. 10a; MüKo-StPO-Hauschild, § 97 Rn. 8 und 64; LR-Menges, § 97 Rn. 21. 31 Vgl. S. 36 des Referentenentwurfs zu einem Verbandssanktionengesetz (VerSanG), Bearbeitungsstand: 15. 08. 2019. 32 Vgl. BVerfG NJW 2018, 2385 (2388 f.). 33 Vgl. KK-StPO-Greven, 8. Aufl. 2019, § 97 Rn. 24; MüKo-StPO-Hauschild, § 97 Rn. 21; MüKo-StPO-Thomas/Kämpfer, § 148 Rn. 19.
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Freilich ist eine solche Sichtweise nicht nur weit davon entfernt, in Wissenschaft und Praxis herrschend zu sein, sondern sie ist auch in hohem Maße kontraintuitiv, soweit es etwa um die anderen in § 97 I StPO genannten Berufsgeheimnisträger geht. Hier wird ein berechtigtes Interesse an einer Beschlagnahmefreiheit gerade regelmäßig an solchen Unterlagen bestehen, die etwa der Arzt vor Begründung der Beschuldigteneigenschaft erstellt hat. Es wäre fast schon paradox, wenn der Patient/ Mandant usw. gerade dann stärker auf den staatlichen Respekt vor dem Vertrauensverhältnis zum Arzt / Rechtsanwalt usw. vertrauen können sollte, wenn er diesen aufsucht, nachdem er sogar von seiner Beschuldigtenstellung in einem Strafverfahren weiß. Auch das Wortlautargument ist aber tatsächlich nicht stark: Denn die StPO verwendet auch sonst ihre Begriffe gerade eher der Gestalt, dass an die aktuelle Verfahrenssituation (und nicht an eine frühere Situation, in der ein für die neue Verfahrenssituation bedeutsamer Umstand entstanden ist) angeknüpft wird. Deutlich wird dies etwa in § 254 StPO, der vom „Angeklagten“ spricht, obwohl es hier unstreitig nicht nur (wenn überhaupt je einmal!) um Äußerungen geht, die nach Eröffnung der Hauptverhandlung getätigt worden sind, sondern geradezu typischerweise um Äußerungen im Ermittlungsverfahren, die also mithin noch als „Beschuldigter“ gemacht wurden. Entscheidend ist auch hier damit nicht der Zeitpunkt, in dem jemand die Aussage gemacht hat, sondern der Zeitpunkt, in dem die Entscheidung getroffen werden muss, ob die Aussage – nämlich in der Hauptverhandlung – verlesen werden darf. Auf § 97 I StPO angewendet würde dies bedeuten: Entscheidend ist nicht der Zeitpunkt, an dem eine Mitteilung, eine Aufzeichnung usw. entstanden ist, sondern der Zeitpunkt, in dem über die Zulässigkeit der Beschlagnahme entschieden werden soll. Auch einige Entscheidungen, die scheinbar für das hier kritisierte Verständnis herangezogen werden könnten, tragen sie bei näherer Betrachtung nicht: - Die Entscheidung des Verfassungsgerichts in Sachen Jones Day34 hat zwar u. a. ein zeitliches Verhältnis zum Gegenstand, befasst sich dabei aber nicht mit der Frage, ob die Unterlagen vor Beginn der Beschuldigtenstellung entstanden sind, sondern ob es verfassungsrechtlich geboten ist, dass während eines Verfahrens gegen Dritte schon ein Beschlagnahmeschutz für ein Unternehmen besteht, bevor auch gegen dieses (etwa mit Blick auf ein Bußgeldverfahren) ermittelt wird. Dies ist nicht nur ein anderes Problem, sondern behandelt auch eine andere Verfahrenskonstellation als eine solche, in welcher das Verfahren gegen die Mandanten von K bereits geführt wird. - Eine Entscheidung des LG Bonn aus dem Jahr 201235 spricht tatsächlich von Unterlagen, die ab Begründung des Verteidigungsverhältnisses (damit auch: der Beschuldigtenstellung) entstanden sind. Allerdings geht es dort nicht allein um § 97 StPO, sondern um § 148 StPO: Wenn ein Beschlagnahmeschutz für Unterlagen beim Mandanten (und damit nicht im Gewahrsam des Berufsgeheimnisträgers) begehrt wird, der wegen § 97 II 1 StPO gerade nicht auf diese Vorschrift gestützt, 34 35
Vgl. BVerfG NJW 2018, 2385 (2390 – Rn. 94 und 95). LG Bonn NZWiSt 2013, 21 (24 f.).
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sondern nur nach § 148 StPO gewährt werden kann, so liegt auf der Hand, dass ein solches Verteidigungsverhältnis (regelmäßig) erst mit Beginn der Beschuldigtenstellung entstehen wird. Aber auch dies betrifft nicht unseren Beispielsfall, soweit unterstellt wird, dass es um Unterlagen geht, die bei der K beschlagnahmt bzw. von der K herausgegeben werden sollen. cc) Eine Berufung auf § 97 I StPO könnte allerdings – und dies durchaus in Übereinstimmung mit der gefestigten, insbesondere jüngeren Rechtsprechung36 – für die K dann ausscheiden, wenn entsprechende Beschlagnahmeanordnungen bzw. Herausgabeverlangen ausschließlich in Verfahren gegen Individualbeschuldigte erfolgen, zu denen kein Mandatsverhältnis bestanden hat, insbesondere weil bzw. soweit die K nur Beratungsmandate mit juristischen Personen, nicht aber mit den individuellen Tätern (die etwa Angestellte dieser juristischen Personen waren) betreut hat. Dies wäre freilich eine Tatsachenfrage des Einzelfalls.37
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Vgl. nochmals LG Bochum NStZ 2016, 500; LG Bonn NZWiSt 2013, 21 (24); LG Hamburg NZWiSt 2012, 26 f. sowie bestätigend BVerfG NJW 2018, 2385 (2388 f.). 37 Soweit die Situation sich so verhält, spricht viel dafür, dass die K sich nicht auf § 97 StPO berufen kann, weil es am Mandatsverhältnis gerade zu dem Beschuldigten fehlen würde, gegen den in dem Verfahren ermittelt wird, in dem die Herausgabeaufforderung erfolgt bzw. die Beschlagnahme stattfindet. Indes ist auch diese Argumentation nicht ganz unproblematisch und bedürfte zumindest einer sehr sorgfältigen Überprüfung im jeweiligen Einzelfall: Denn zum einen wäre zumindest nicht ausgeschlossen, dass die Staatsanwaltschaft die Beschlagnahme nicht im Strafverfahren gegen einen Individualbeschuldigten, sondern etwa in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren nach §§ 130, 30 OWiG gegen dessen Anstellungsgesellschaft anordnet, welche ggf. in einem Mandatsverhältnis zur K steht. Zum anderen ist (und zwar weniger mit Blick auf § 97 I Nr. 1 und 2 StPO, wohl aber) v. a. mit Blick auf § 97 I Nr. 3 StPO die Auslegung, die auch dort ein entsprechendes Mandatsverhältnis fordert, mit Blick auf den insoweit weiteren Wortlaut, der den Beschuldigten nicht explizit erwähnt, zumindest in der Literatur nicht unumstritten (vgl. etwa – wenngleich in den Nuancen unterschiedlich, so doch in der Tendenz – kritisch zur Rechtsprechung Satzger/Schluckebier/Widmaier-Eschelbach, StPO, 3. Aufl. 2018, § 97 Rn. 10; Gräfin v. Galen, NJW 2011, 945; Gercke, in: Zöller/ Hilger/Küper/Rixen [Hrsg.], Wolter-FS, 2013, S. 933 [945]; de Lindvan Wijngaarden/Egler, NJW 2013, 3549 (3552); Jahn, ZIS 2011, 453 [460]; Queling/Bayer, NZWiSt 2016, 417 [420]). Trotz der insoweit relativ gesichert erscheinenden restriktiveren Rechtsprechung nähme sich gerade in einer Konstellation wie der vorliegenden jedenfalls de lege lata noch eine Ausnahme von dieser Rechtsprechung und damit eine Erstreckung des Beschlagnahmeverbots auch auf Verfahren gegen Angestellte der Mandanten der K vergleichsweise gut begründbar aus; denn anders als in klassischen Gestaltungen der Beratung einer Gesellschaft, gegen deren Mitarbeiter ermittelt wird (bei denen ganz offen ist, ob sie gleichläufige oder entgegengesetzte Interessen verfolgen), geht es hier um die Konstellation, in der jedenfalls in dieser speziellen Beratungssituation auch die Mitarbeiter der Mandanten-Unternehmen (zwar kein Vertragsverhältnis haben, aber) in den Schutzbereich dieses Beratungsprozesses fallen. Mag auch ungewiss sein, ob eine Staatsanwaltschaft dieser Argumentation folgt – möglicherweise würde man von der K zumindest erwarten, dass sie diesen Einwand ernsthaft vorbringt, bevor sie in kooperativer Weise Unterlagen herausgibt.
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c) Zwischenergebnis Im Ergebnis spricht daher mehr dafür, von Verweigerungsrechten auszugehen bzw. diese auch bei der insoweit einzigen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit tragfähigen Begründung einer fehlenden Beschlagnahmefreiheit (Beratung allein der juristischen Personen durch die K und Beschlagnahmeanordnungen in Individualstrafverfahren gegen die Mitarbeiter der juristischen Personen) jedenfalls nicht vorschnell auszuschließen. Ergänzend – sowie jedenfalls in Konstellationen, in denen relativ eindeutig ein Verweigerungsrecht besteht – müsste über weitere Rechtfertigungsgründe (kollidierende eigene berechtigte Interessen; rechtfertigender Notstand) nachgedacht werden. Wie oben bereits angedeutet, ist es jedoch argumentativ nicht ganz einfach, soweit explizit normierte Weigerungsrechte bzw. Beschlagnahmeverbote bestehen. Denn die Interessen der K an einer schnellen Klärung der Sachverhalte sind zwar nachvollziehbar, aber nicht so außergewöhnlich, dass der materiell- wie strafprozessrechtliche Normbefehl zur Geheimhaltung dadurch ohne weiteres überlagert wird bzw. man dem Rechtsanwalt nicht zumuten könnte, die Berufung auf das Weigerungsrecht bzw. Beschlagnahmeverbote zumindest zu versuchen. 2. Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen die K PartG mbB a) Beschlagnahme, § 94 StPO Wird mit Blick auf ein Bußgeld nach §§ 130, 30 OWiG – sei es im selbständigen Verfahren, sei es im verbundenen gegen die K selbst – ermittelt, so ist eine Beschlagnahme nach § 94 StPO in Verbindung mit § 46 OWiG zunächst ohne weiteres möglich.38 Fraglich ist allein, ob das auch gilt, wenn es nicht um die allgemeinen Mandatsunterlagen geht, die anlässlich der wertpapierhandelsrechtlichen Beratung entstanden sind, sondern um etwaige interne Zusammenstellungen von Informationen zu diesen Beratungen aus Anlass der nunmehr eingetretenen Situation. Überzeugender erscheint freilich, dass ein etwaiges Verbot einer Beschlagnahme von „Verteidigungsunterlagen“ nicht zu einer Änderung der materiell strafrechtlichen Bewertung führen würde. Denn dieses Beschlagnahmeverbot würde – soweit es denn bestehen sollte – anders als insbesondere das Beschlagnahmeverbot des § 97 StPO nicht auch zum Schutz der Geheimhaltungsinteressen des Mandanten, sondern ausschließlich im Interesse der K selbst bestehen. Daher erscheint durchaus zweifelhaft, ob es
38 Anschaulich dazu, dass in Verfahren gegen die Berater selbst § 97 StPO gerade nicht eingreift Dann, NJW 2015, 2609. Dies würde im Übrigen auch bei – im Folgenden nicht explizit behandelten – Ermittlungen gegen einzelne Anwälte der K als natürliche Personen gelten, da auch hier keine Mandatsbeziehung zum Beschuldigten bestehen würde.
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die Auslegung der zugunsten der Mandanten bestehenden Schutznorm des § 203 StGB beeinflussen kann.39 b) Herausgabeverlangen, § 95 StPO Als Minus zu einer Beschlagnahme ist – wie oben erwähnt – grundsätzlich auch stets ein Herausgabeverlangen vorstellbar. Da indes gegen die Betroffene in einem Bußgeldverfahren kein Ordnungsgeld verhängt wird, droht hier durch eine aktive Herausgabe erkennbar ein Konflikt zu § 203 StGB, der durch § 34 StGB bzw. den Grundsatz der Wahrnehmung berechtigter Interessen gelöst werden müsste. aa) Soweit ersichtlich, ist die hier konkret interessierende Konstellation des Verhältnisses von § 95 StPO zu § 203 StGB für den beschuldigten bzw. bußgeldbetroffenen Berufsgeheimnisträger noch nicht prominent entschieden worden und wird auch in der Kommentarliteratur nicht erörtert. Für auf den ersten Blick ähnliche Konstellationen in Krankenhäusern wird in der Literatur freilich teilweise zur Vorsicht gemahnt,40 um kein Strafbarkeitsrisiko nach § 203 StGB nur deshalb zu begründen, weil man sich als „an sich rechtstreue Institution“ mit einer gewissen Selbstverständlichkeit den Behörden gegenüber kooperativ verhalten will. Das würde dann dazu führen, dass – unabhängig von der konkreten Situation – keinerlei freiwillige Herausgabe ohne zwangsweise Beschlagnahme gestattet ist. bb) Überzeugender dürfte jedoch sein, hier eine Abwägung im Einzelfall vorzunehmen, die (insbesondere bei einer angedrohten Beschlagnahme zu deren Abwendung) dazu führen kann, dass von den Behörden eingeforderte Gegenstände herausgegeben werden dürfen, soweit die Strafverfolgungsbehörden durch die Beschlagnahme ohnehin darauf zugreifen könnten. Hierfür sprechen die folgenden – teils eher pragmatischen, teils dogmatischen – Argumente: So ließe sich bereits erwägen, dass streng dogmatisch betrachtet bereits ein Herausgabeverlangen – sei es nach § 95 I StPO, sei es als Minus zur Beschlagnahme gedacht – eine entsprechende Pflicht begründet; denn würde durch das Verlangen keine Pflicht begründet, dürften konsequenterweise überhaupt nie Ordnungsmittel angedroht bzw. angewendet werden. Freilich ist nicht nur im Detail nicht wirklich geklärt, ob etwa der Beschuldigte a
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Darüber hinaus wäre im Einzelfall kritisch zu prüfen, ob die Qualifikation als „Verteidigungsunterlage“ überhaupt einschlägig ist, wenn der Beschuldigte/Betroffene sich einer Beschlagnahme insoweit nicht widersetzt bzw. wenn eine z. B. zu internen Zwecken gefertigte Zusammenstellung beschlagnahmt werden soll. Schon die in der Rechtsprechung verwendete Formulierung, dass der Beschuldigte sich die „Unterlagen (…) ersichtlich zur Vorbereitung seiner Verteidigung in dem gegen ihn laufenden Strafverfahren anfertigt“ haben muss (BGH NStZ 1998, 309), weist ein Element der Finalität auf, die nur schwer „über den Kopf des Beschuldigten hinweg“ unterstellt werden kann. 40 So namentlich Auffermann/Vogel, NStZ 2016, 387 (389 f.); vgl. auch Kirsch, NZWiSt 2013, 154 (155 – freilich für den zeugnisverweigerungsberechtigten Zeugen, nicht für den Betroffenen).
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priori keine Pflicht zur Herausgabe haben soll41 oder ob der Anspruch nur nicht durchsetzbar ist,42 sondern eine nicht durchsetzbare Pflicht könnte wohl auch nicht dazu führen, dass eine Befugnis im Sinne des § 203 StGB angenommen werden kann. Da § 203 StGB ein grundsätzlich geltendes Verbot enthält, kann eine Handlungserlaubnis als Durchbrechung dieses Verbotes kaum angenommen werden, wenn die indiziell verbotene Handlung gerade nicht erzwungen werden kann.43 Als ein Aspekt bei der umfassenden Abwägung könnte aber der Gesichtspunkt, dass derjenige, der einer – und sei es auch nicht durchsetzbaren – Pflicht nachkommt, sich gerade konsequenterweise pflichtgemäß verhält, eine Rolle spielen. Bedeutend stärker erscheint freilich das Argument, dass mit Blick auf die Führung von Zivilprozessen anerkannt ist, dass ein sein Honorar einklagender Anwalt gegebenenfalls Mandatsgeheimnisse zur Klagebegründung offenbaren darf. Dies zeigt deutlich, dass der Geheimnisschutz des § 203 StGB nicht absolut besteht, sondern einer Abwägung zugänglich ist und dass insbesondere im geschützten Rahmen rechtlicher Verfahren (anders als etwa bei einer Veröffentlichung in einer Tageszeitung) möglicherweise eine etwas geringere Gefahr für die Geheimhaltungsinteressen gesehen wird. Auch für das Strafrecht ist in der Rechtsprechung schon seit BGHSt 1, 366 (= NJW 1952, 151) anerkannt, dass ein einer Straftat angeklagter Anwalt jedenfalls zu seiner Verteidigung im Strafverfahren auch Mandantengeheimnisse erforderlichenfalls offenbaren darf. Dieser Gedanke lässt sich zumindest vorsichtig auf andere Verhaltensweisen übertragen, die sich insgesamt für den Beschuldigten/Betroffenen (etwa mit Blick auf die Sanktionen) positiv auswirken können. Des Weiteren und entscheidend ist bei der Abwägung der Interessen (die bei § 34 StGB nicht auf eine reine Güterabwägung beschränkt ist, sondern tatsächlich eine umfassende Interessenabwägung einschließlich des Grades der jeweils drohenden Gefahren umfasst) jedoch zu beachten, dass die Beschlagnahme der Gegenstände unstreitig möglich wäre. Für das Rechtsgut „Geheimnisschutz“ würde jedenfalls auch ohne die Herausgabe kein „großer Gewinn“ eintreten. Umgekehrt jedoch würden bei einer Durchsuchung und anschließenden Beschlagnahme nicht nur intensivere Eingriffe in die Rechtssphäre der K drohen als bei einer punktuellen Herausgabe, sondern auch die Beschädigung des generellen Schutzguts „Vertraulichkeit der Mandatsbeziehung“ würde noch weit größere Schäden erleiden, könnten doch bei der vorläufigen Sicherstellung mit anschließender Durchsicht (§ 110 StPO) erwartbar auch diverse „Geheimnisse“ weiterer Mandanten (oder auch: der gleichen Mandanten in anderen Sachen) betroffen werden, die bei einer gezielten und punktuellen Herausgabe auf Anforderung nicht tangiert werden. 41
So klingt etwa MüKo-StPO-Hauschild, § 95 Rn. 2. So klingt derselbe Autor in § 95 Rn. 13. 43 Wertungsmäßig scheint dies mit der (täuschungsbedingten oder vermögensbetreuungspflichtverletzenden) Zahlung auf eine verjährte Forderung vergleichbar, bei der ebenfalls der Anspruch besteht, aber eben nicht durchsetzbar ist und daher eine trotzdem erfolgte Zahlung vermögensschädigend ist, vgl. MüKo-StGB-Hefendehl, Bd. V, 3. Aufl. 2019, § 263 Rn. 682 f. 42
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V. Fazit und Schluss Unsere Überlegungen führen skizzenhaft – und für konkrete Einzelfälle ggf. auch an deren Besonderheiten angepasst – zu folgenden Ergebnissen: 1. Soweit die K „nur“ als Zeugin in Anspruch genommen wird, kommt ihr im Anwendungsbereich des § 97 StPO ein Beschlagnahmeverbot zu Gute, das auch bei Herausgabeverlangen zu berücksichtigen ist (vgl. auch nochmals § 95 II 2 StPO). Anderes kann gelten, wenn kein Mandatsverhältnis zu den Individualbeschuldigten, sondern nur zu deren Anstellungsgesellschaft bestanden hat. So weit, so klar. Differenzierter ist die Frage bei einer eigenen Betroffenen-Stellung der K. 2. Problematisch für K wäre hier eine proaktive Herausgabe, und zwar nicht nur auf jeden Fall vor Begründung einer Betroffenen- bzw. Nebenbeteiligtenstellung zu einem konkreten Vorwurf, sondern wohl auch nach formaler Hinzuziehung als Nebenbeteiligte, aber vor präsenten staatsanwaltschaftlichen Aktivitäten in Richtung K (also etwa: vor konkreten Herausgabeverlangen oder einer Beschlagnahme). Selbst im zweiten Fall erscheint die drohende Beeinträchtigung der Mandantengeheimnisse durch eine Beschlagnahme noch nicht so konkret und fassbar, dass sie in der Abwägung hinreichendes Gewicht erlangen kann. Denn immerhin hat der Gesetzgeber durch die Strafdrohung des § 203 StGB deutlich gemacht, wie stark er für den Regelfall die Geheimhaltungsinteressen gewichtet. 3. Am anderen Ende des Spektrums steht die Herausgabe auf eine Anforderung hin, mit welcher zugleich eine Beschlagnahme für den Fall der Nichtbefolgung angedroht wird. Hier hat die Beeinträchtigung von Interessen der K, aber u. U. auch diverser Mandanten in Folge einer Zwangsmaßnahme (Sicherstellung, Durchsicht, spätere Beschlagnahme) einen maximalen Grad an Konkretheit erreicht. Damit kommt die oben skizzierte Abwägung voll zum Tragen (woran sich mit Blick auf § 203 StGB wohl auch nichts ändern würde, wenn als solche erstellte Verteidigungsunterlagen vorliegen). Das Abwarten der angedrohten Beschlagnahme, bei der es dann ebenfalls zu der Offenbarung des Geheimnisses kommt, wäre bloße Förmelei. Die bloße Hoffnung darauf, dass bei der Beschlagnahme Gegenstände, die tatsächlich nicht beschlagnahmefrei wären, „zufällig“ nicht gefunden werden, wäre nicht schutzwürdig. 4. Zwischen diesen beiden Varianten steht die Aufforderung nach § 95 I StPO, die noch mit keiner Beschlagnahmeandrohung verbunden ist (und bei einem Verfahren gegen die K als Betroffene auch nicht mit Ordnungsmitteln durchgesetzt werden könnte). Letztlich wird man bei der Abwägung hier in beide Richtungen gut argumentieren können; meines Erachtens ist es jedoch abermals eine bloße Förmelei, auf eine nachfolgende Beschlagnahmeandrohung zu warten bzw. wäre es der K jedenfalls nicht zumutbar, erst eine Beschlagnahmeandrohung oder gar ihre Anordnung hinnehmen zu müssen, wenn letztlich in jedem Fall doch beschlagnahmt werden könnte.
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Was bleibt zum Abschluss? Natürlich ist dieser Beitrag dem Jubilar mit den allerbesten Wünschen gewidmet, wie das bei Festschriften eben so ist. Und natürlich ist man bei einem Beitrag zu Ehren des „Chefs“ auch nach 18 Jahren eigener Stellung als Lehrstuhlinhaber noch ein wenig nervös, wie der denn so zu den gefundenen Ergebnissen steht.44 Aber im Mittelpunkt soll etwas stehen: Mein großer Dank für alles, was der Jubilar für mich getan hat, und dafür, dass er es war, der mich zu einem Beruf gelenkt und geleitet hat, der für mich immer noch der schönste ist, den ich mir vorstellen kann. Danke, Ulrich Sieber, und alles erdenklich Gute!
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Als ich auf der Strafrechtslehrertagung 2015 einen „etwas anderen“ Strafrechtslehrertagungsvortrag gehalten habe (vgl. Kudlich, ZStW 127 [2015], 635), war meine größte Sorge tatsächlich, wie der Jubilar dieses Format aufnehmen würde. Zum Glück tat er das so, wie ich ihn immer kennen gelernt hatte: bei allem Traditionsbewusstsein offen, tolerant und mit Sinn für Humor.
Wieviel Verletztenrechte verträgt das Strafverfahren? Von Heinz Schöch
I. Die Opferschutzgesetzgebung seit 1986 Bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts wurde das Opfer als vergessene Figur des Strafprozessrechts bezeichnet. Manche sprachen vom bloßen Objekt des Strafverfahrens, weil es im Wesentlichen nur als Zeuge benötigt wurde. Die Gründung verschiedener Opferhilfevereine, die feministische Bewegung und die internationale Bewegung der Restorative Justice trugen dazu bei, dass sich dies den letzten vier Jahrzehnten kontinuierlich änderte.1 Durch das 1. Opferschutzgesetz vom 18. 12. 1986 wurde die Nebenklage und der Verletztenbeistand neugestaltet. Daneben wurden erstmalig Informations- und Beteiligungsrechte für alle Verletzten gesetzlich verankert (§§ 406d – 406h StPO), insbesondere das bis heute umstrittene Akteneinsichtsrecht. Das Adhäsionsverfahren wurde um die Möglichkeit von Grund- und Teilurteilen erweitert (§ 406 Abs. 1 Satz 2 StPO). Zum Schutz des persönlichen Lebensbereichs von Zeugen wurden die Fragerechte der Verfahrensbeteiligten beschränkt (§ 68a StPO) und der Ausschluss der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung erleichtert §§ 171b, 172 Nr. 3 GVG). Die Einführung des Täter-Opfer-Ausgleichs und der Schadenswiedergutmachung als typisierte Strafmilderungsgründe gemäß § 46a StGB durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28. 10. 1994 diente zwar vor allem dem Resozialisierungsinteresse des Täters, ebenso die Einfügung der §§ 155, 155a StPO durch das Gesetz zur strafverfahrensrechtlichen Verankerung des Täter-Opfer-Ausgleichs vom 20. 12. 1999. Jedoch sind beide Gesetze auch von Opferhilfevereinigungen unterstützt worden, weil der Täter-Opfer-Ausgleich und die Schadenswiedergutmachung auch dazu beitragen, die Belastungen des Strafverfahrens für das Opfer zu reduzieren. Das Zeugenschutzgesetz vom 30. 4. 1998 betraf zwar alle Zeugen, wurde jedoch in besonderem Maße beim Opferzeugen relevant. Im Mittelpunkt stand die Aktivierung der Videotechnik zur Vermeidung von Mehrfachvernehmungen und belastenden Konfrontationen in der Hauptverhandlung, insbesondere bei kindlichen und ju1 Ein knapper Überblick über die aktuelle Rechtslage findet sich bei Sieber, Strafprozessrecht, in: Hoeren/Sieber/Holznagel (Hrsg.), Handbuch Multimedia Recht, 49. Aufl. 2019, Teil 19.3, Rn. 181 – 183.
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gendlichen Opferzeugen (§§ 58a, 168e, 247a, 255a Abs. 2 StPO). Aus Verletztensicht besonders wichtig war die kostenrechtliche Verbesserung der Nebenklage für einen kleinen Kreis besonders schutzbedürftiger Opfer durch die Möglichkeit der Beiordnung eines Rechtsanwaltes auf Staatskosten (§ 397a Abs. 1 StPO). Durch das 1. Opferrechtsreformgesetz vom 24. 6. 2004 wurden vor allem die Informations- und Beteiligungsrechte der Opfer im Strafverfahren in den §§ 406d – 406h StPO verbessert und ein weiterer Versuch zum Ausbau des – in der Praxis nach wie vor sehr selten angewandten – Adhäsionsverfahrens unternommen. Mit beiden Schwerpunkten wurde vor allem einem Rahmenbeschluss der Europäischen Union über die Stellung des Opfers im Strafverfahren vom 15. 3. 2001 Rechnung getragen. Durch das 2. Justizmodernisierungsgesetz vom 22. 12. 2006 wurde für einen sehr kleinen Kreis von Opfern schwerster Gewalt- und Sexualverbrechen erstmalig die Nebenklage auch im Verfahren gegen Jugendliche zugelassen (§ 80 Abs. 3 JGG), vor allem mit der Zielrichtung, schwer betroffene Opfer besser gegen unberechtigte Schuldzuweisungen oder rüde Behandlung in der Hauptverhandlung zu schützen. Im 2. Opferrechtsreformgesetz vom 29. 7. 2009 wurden die Informationsrechte des Verletzten noch einmal gestärkt und die besonderen Schutzbestimmungen für jugendliche Zeugen, die bis dahin nur für die unter 16-jährigen galten, auf die unter 18jährigen Jugendlichen erweitert. In den Deliktkatalog der – auf entsprechenden Antrag – zwingenden Nebenklagebefugnis nach § 395 Abs. 1 StPO wurden zusätzlich der Menschenhandel, die Nötigung zur Zwangsheirat und andere besonders schwere Fälle der Nötigung aufgenommen. Jedoch wurden die Beleidigungsdelikte hier ganz gestrichen und in den offenen Auffangtatbestand des § 395 Abs. 3 StPO verwiesen. Dort finden sich jetzt auch der Wohnungseinbruchsdiebstahl und schwere Raubdelikte, bei denen die Nebenklage nur in besonderen Fällen, insbesondere wegen schwerer Folgen der Tat, zuzulassen ist. Nach diesem Gesetz mehrten sich die Stimmen in der Literatur, die meinten, nunmehr sei beim Opferschutz im Strafverfahren genug getan.2 Sie hatten aber nicht mit der Anfang 2010 beginnenden Welle der Empörung über sexuellen Kindesmissbrauch durch Priester, Pfarrer, Lehrer, Internats- und Heimerzieher, Familienangehörige und andere Personen gerechnet. Dabei wurde deutlich, dass es auch die Angst vor einem Strafverfahren war, die zur Mauer des Schweigens beitrug, unter der die Betroffenen Jahrzehnte zu leiden hatten. Dies führte im Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (STORMG) vom 26. 6. 2013 zur Erweiterung der Regelung über die kostenlose Beiordnung eines Opferanwalts (§ 397a StPO). Außerdem wurde ein Recht des Opferzeugen, sich zu den Tatfolgen zu äußern, ausdrücklich anerkannt (§ 69 Abs. 2 Satz 2 StPO). Die Bestimmungen über die richterliche Videovernehmung wurden erweitert,
2
Hilger, GA 2009, 657 (661).
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um Opferzeugen eine Vernehmung in der Hauptverhandlung möglichst zu ersparen (§ 58a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StPO). Die EU-Opferschutzrichtlinie vom 25. 10. 2012 war Anlass für das 3. Opferrechtsreformgesetz vom 21. 12. 2015, in dem vor allem die Informationsrechte des Verletzten erweitert (§§ 406i – 406l StPO) und die psychosoziale Prozessbegleitung für besonders schutzbedürftige Opfer eingeführt wurden (§ 406g StPO). 2017 wurde in § 844 Abs. 3 BGB das Trauerschmerzensgeld für Angehörige getöteter Opfer geschaffen und die Nachstellung (§ 238 StGB) wurde durch eine Umgestaltung des Tatbestandes und die Herausnahme aus dem Katalog der Privatklagedelikte opferfreundlicher gestaltet.
II. Kritik am Opferschutz im Strafverfahren An dem Ausbau des Opferschutzes im Strafverfahren hat es von Anfang an viel Kritik gegeben. Schon bei der Verabschiedung des 1. Opferschutzgesetzes im Jahr 1986 kritisierte Schünemann einen „Paradigmenwechsel von der Täter- zur Opferperspektive“ und sprach von einer „drastischen Tendenzwende zu Gunsten des Genugtuungsbedürfnisses des Verletzten und zu Lasten des Angeklagten und seiner Verteidigungsmöglichkeiten.“3 Auch die späteren Veränderungen bei der Rechtsstellung des Verletzten erfolgten meist gegen den Widerspruch großer Teile der Anwaltschaft. Besonders heftig war die Kritik am 2. Opferrechtsreformgesetz im Jahr 2009. Schünemann meinte, die Nebenklage sei nun endgültig als Instrument des Rachebedürfnisses des Opfers gravierender Personendelikte etabliert worden. Der Gesetzgeber habe jetzt völlig das Augenmaß verloren und „kumulativ zum Offizialprozess zwischen Staat und Angeklagtem einen vom Verletzten betriebenen Parteiprozess attachiert“.4 Bung sprach von einer „Entfesselung der Nebenklage“, die eine massive Umgewichtung der Verfahrensinteressen zulasten der Beschuldigtenseite bewirke.5 Jahn sah sogar die Errungenschaft der Aufklärung in Form eines genuin staatlichen Strafanspruchs bedroht und das Ziel einer rationalen Konfliktverarbeitung im Strafverfahren erschwert oder gar vereitelt.6 Kölbel bezeichnet den deutschen Strafprozess inzwischen als „verletztenzentriertes Verfahren.“7 Margarete Gräfin von Galen hat seit 2011 in mehreren Aufsätzen gefordert, dass das Opfer im Strafprozess nur Zeuge sein dürfe, während es seine spezifischen In3
Schünemann, NStZ 1986, 193 (198). Schünemann, ZIS 2009, 484 (492). 5 Bung, StV 2009, 430 (433, 435). 6 Jahn, Schriftliche Stellungnahme zum Entwurf des 2. Opferschutzgesetzes für die öffentliche Anhörung im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages am 13. 5. 2009, S. 29; in: Deutscher Bundestag, 16. Wahlperiode, Rechtsausschuss, Protokoll Nr. 142, S. 70 ff. (80). 7 Kölbel, Fischer-FS, 2018, S. 689. 4
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teressen in einem opferorientierten Verwaltungsverfahren wahrnehmen solle, in dem es um staatliche Entschädigung für materielle und immaterielle Schäden gehe.8 Der Deutsche Anwaltverein hat sich in einer Stellungnahme zum Entwurf eines 3. Opferrechtsreformgesetzes im Dezember 2014 dieser Forderung angeschlossen.9
III. Instrumentalisierung des Opferschutzes für eine rechtspopulistische Kriminalpolitik Bevor ich auf diese Kritik und auf die Frage eingehe, ob und wie viel Opferrechte der Strafprozess verträgt,10 möchte ich auf die sachfremde Instrumentalisierung des Opferschutzes für eine rechtspopulistische Kriminalpolitik hinweisen. Was Opfer im Straf- und Strafprozessrecht nicht benötigen, ist eine krude Lawand-Order- Kriminalpolitik.11 In den letzten 20 Jahren ist es bei manchen Rechtspolitikern und Medien üblich geworden, den sogenannten Opferschutz für „repressive Strategien von Strafverschärfung, Ermittlungseffizienz und für das Ende übertriebener Rücksichten auf den Straftäter“ zu missbrauchen.12 Regelmäßig geschah dies z. B. im Zusammenhang mit dem Ausbau der Sicherungsverwahrung zwischen 1998 und 2008 in sechs verschiedenen Gesetzen, bis schließlich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und das Bundesverfassungsgericht dem Ausbau ein Ende bereiteten.13 Derartige Strategien haben mit dem realen und berechtigten Opferschutz wenig zu tun. Dieser akzeptiert, dass Hauptaufgabe des Strafprozesses der Nachweis einer strafbaren Handlung des Beschuldigten und deren angemessene Sanktionierung bleibt. Im modernen Verständnis des Opferschutzes dürfen Genugtuungsinteressen des Verletzten nicht mehr mit besonders rigiden Straferwartungen gleichgesetzt werden. Kriminalitätsopfer erwarten eine schuldangemessene und rückfallverhindernde Bestrafung. Sie wollen im Strafverfahren respektvoll und fair behandelt werden. Eine sekundäre Viktimisierung soll vermieden werden. In der Hauptverhandlung wollen sie erfahren, dass es hier auch um den Ausgleich ihrer persönlichen Rechtsverletzung geht und nicht nur um die Erfüllung abstrakter staatlicher Strafzwecke.
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von Galen, StV 2013, 171 (175) m.w.N. DAV Stellungnahme Nr. 66/2014, S. 9. durch die Task Force „Anwalt für Opferrechte“ unter Beteiligung des Ausschusses Strafrecht. 10 Böttcher, Schöch-FS, 2010, S. 929 ff. 11 Ebenso Weigend, Rechtswissenschaft 2010, S. 39 (40). 12 Hassemer, Süddeutsche Zeitung, 27. 4. 2001, S. 2. 13 EGMR NJW 2010, 2495; BVerfG NJW 2011, 1931. 9
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IV. Gründe für einen strafprozessualen Opferschutz In der Auseinandersetzung mit den Kritikern des erweiterten Opferschutzes genügt es nicht, sich auf den Zeitgeist und eine opferfreundlichere Medienlandschaft zu berufen. Vielmehr bedarf es auch einer rechtswissenschaftlich fundierten Begründung. 1. Sachlogischer Grund: größere persönliche Betroffenheit als sonstige Zeugen Anders als die anderen Zeugen ist der Verletzte durch die Tat in seinen Rechtsgütern persönlich betroffen. Bei ihm kann „die erneute Konfrontation mit Tat und Täter Angst und Scham auslösen sowie alte Wunden wieder aufreißen.“14 Deshalb ist es sachgerecht, wenn man ihm bei der Zeugenvernehmung in besonderer Weise entgegenkommt und ihm Angst einflößende Situationen so weit wie möglich erspart, zum Beispiel durch Videosimultanübertragung seiner Vernehmung in der Hauptverhandlung oder durch Beiordnung eines Zeugenbeistands oder eines anwaltlichen Nebenklagevertreters. Dieser kann gezielter als der Vorsitzende im Gerichtssaal unzulässige Fragen beanstanden und Schuldzuweisungen durch den Angeklagten zurückweisen. Auch ein Ausschluss der Öffentlichkeit oder Vernehmungspausen lassen sich mit einem anwaltlichen Beistand leichter erreichen. § 69 Abs. 2 Satz 2 StPO unterstreicht die Sonderstellung der Opferzeugen durch ein besonderes Recht, das nur sie haben: „Zeugen, die durch die Straftat verletzt sind, ist insbesondere Gelegenheit zu geben, sich zu den Auswirkungen, die die Tat auf sie hatte, zu äußern.“ Dies gilt für geladene Opferzeugen selbst dann, wenn das Gericht sie wegen eines Geständnisses des Angeklagten nicht mehr anhören will. Denn für die Bewältigung des Tatgeschehens beim Opfer kann es wichtig sein, auch diese Betroffenheit in Gegenwart des Täters zum Ausdruck zu bringen. 2. Kriminologische Begründung: Erhaltung und Förderung der Anzeigebereitschaft bei der Verletzung von Individualrechtsgütern Nicht nur das Opfer benötigt das Strafverfahren, sondern auch die Strafrechtsordnung benötigt das Opfer. Straftaten gegen Individualrechtsgüter können größtenteils nur deshalb verfolgt werden, weil sich das betroffene Opfer zur Strafanzeige entschlossen hat. Die Anzeigebereitschaft hängt aber wesentlich auch davon ab, welche Erwartungen das Opfer hinsichtlich des dadurch ausgelösten Strafverfahrens hat. Besonders stark ausgeprägt ist diese Abhängigkeit der Anzeigebereitschaft von den Erwartungen des Opfers an das Strafverfahren im Bereich der Sexualdelikte. Eine Un14 Weigend, in: Barton/Kölbel (Hrsg.), Ambivalenzen der Opferzuwendung im Strafverfahren, 2012, S. 29 (48).
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tersuchung des Heidelberger Instituts für Kriminologie unter der Leitung von Dölling im Jahr 2017 ergab bei einer Onlinebefragung von 1406 Opfern von Sexualdelikten eine für kriminologische Untersuchungen relativ hohe Korrelation von +0.49, d. h. je positiver die Erwartungen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit einer Anzeige.15 Positive Erwartungen umfassen das Vertrauen auf rücksichtsvollen Umgang in der ersten Vernehmung, die Erwartung einer Verurteilung des Täters, die Erwartung, Einfluss auf den Verlauf des Verfahrens zu haben, die Erwartung eines fairen Verfahrens, die Erwartung einer gründlichen Aufklärung des Sachverhalts sowie die Erwartung von Rücksichtnahme seitens des Gerichts.16 3. Strafrechtstheoretische Begründung: Positive Generalprävention und Genugtuungsinteresse des Opfers Für das Opfer als Repräsentant der verletzten Rechtsordnung ist es wichtig, dass in einem staatlichen Verfahren festgestellt wird, dass ihm Unrecht geschehen ist und dass darauf angemessen reagiert wird. Die mit der positiven Generalprävention angesprochene Normbekräftigung durch strafrechtliche Ahndung hat auch eine subjektive opferbezogene Komponente, nämlich die Genugtuung. Zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens gehört die Restituierung eines demolierten Rechtsempfindens des Opfers, wie es Jan Philipp Reemtsma ausgedrückt hat.17 Genugtuung als Teilaspekt der positiven Generalprävention18 und der Schuldvergeltung hat nichts mit atavistischer Rache zu tun.19 Vielmehr trägt sie der Tatsache Rechnung, dass die Straftat nicht nur einen objektiven Rechtsbruch darstellt, sondern auch einen personenbezogenen Realkonflikt. Daraus ergibt sich kein Anspruch auf eine bestimmte Bestrafung,20 wohl aber ein Recht auf Teilhabe an der Aufklärung des Sachverhalts und an der Abwehr ungerechtfertigter Verantwortungszuweisungen.21 Die §§ 397 und 400 StPO tragen diesen Gedanken dadurch Rechnung, dass sie dem Nebenkläger zwar das Beweisantragsrecht und eine Rechtsmittelbefugnis bei Freispruch oder unzureichender rechtlicher Qualifizierung der Tat einräumen, aber ein Rechtsmittel in Bezug auf Art und Höhe der Strafe ausschließen.
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Treibel/Dölling/Hermann, FPPK 2017, 355 (359). Treibel/Dölling/Hermann, FPPK 2017, 355 (360). 17 Reemtsma, Das Recht des Opfers auf Bestrafung des Täters – als Problem, 1999, S. 22 (27). 18 Meier, Strafrechtliche Sanktionen, 4. Aufl. 2015, S. 39; Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht, 2014, S. 654 f. 19 Weigend, Rechtswissenschaft 2010, 39 (41). 20 Weigend Rechtswissenschaft 2010, 39 (56). 21 Weigend, Rechtswissenschaft 2010, 39 (57). 16
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4. Verfassungsrechtliche Begründung Von den Kritikern der gesetzlichen Konzeption werden nicht selten auch verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Stärkung der Verletztenrechte geltend gemacht, weil dadurch der Anspruch des Beschuldigten auf ein faires Verfahren beeinträchtigt werde oder gar die Unschuldsvermutung verletzt sei, wenn die Nebenklage nach § 395 Abs. 3 StPO wegen der voraussichtlich schweren Folgen der Tat zugelassen werde.22 Dabei wird nicht bedacht, dass es sich hierbei – sofern man überhaupt von Rechtsbeeinträchtigung sprechen kann – aus der Sicht des Gesetzgebers um mehrpolige Grundrechtsverhältnisse handelt, bei denen ein „Mehr“ an Rechten für einen Grundrechtsträger zugleich ein „Weniger“ für den anderen bedeutet.23 Auf Seiten des Verletzten geht es um die in Art. 1 GG geschützte Menschenwürde, die es gebietet, ihn nicht nur als Objekt des Strafverfahrens, sondern als autonome Persönlichkeit zu behandeln,24 die vor sachwidrigen Bloßstellungen und Beweiserhebungen zu seinem Privat- und Intimleben, die nicht unerlässlich sind, zu schützen ist.25 Das allgemeine Persönlichkeitsrecht begründet bei schwersten Straftaten gegen die Person ein Recht auf Tätigwerden der Strafverfolgungsorgane und im Falle eines Tatnachweises ein Recht auf unrechtsangemessene Sanktionierung des Täters.26 Schließlich gilt das in Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK geregelte Gebot des fairen Verfahrens auch für die Behandlung des Verletzten im Strafverfahren. Das Bundesverfassungsgericht hat dies bereits 1974 im Zusammenhang mit dem Zeugenbeistand „aus dem Schutz der Menschenwürde, den Freiheitsrechten, der Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG und dem Rechtsstaatsprinzip“ abgeleitet.27 Ein so verstandenes Fairnessgebot verlangt Entscheidungen, bei denen die Interessen des Beschuldigten und die Opferbelange abgewogen und in ihrer Bedeutung für ein faires, an Wahrheit und Gerechtigkeit ausgerichtetes Verfahren zu gewichten sind.28 5. Täter-Opfer-Ausgleich und Schadenswiedergutmachung Durch die Verankerung des Täter-Opfer-Ausgleichs und der Schadenswiedergutmachung im Strafrecht sind die Chancen für eine wirkungsvolle Strafmaßverteidi22
von Galen, Der Verletzte als Hindernis für Gerechtigkeit?, in: Mehr Gerechtigkeit – Aufbruch zu einem besseren Strafverfahren, Loccumer Protokolle 09/11, S. 49, 64 f.; ebenso Stellungnahme des Strafrechtsausschusses des Deutschen Anwaltvereins vom Februar 2011 (10/2011) zur ähnlichen Struktur des § 24 Abs. 1 S. 2 GVG nach dem Entwurf des STORMG. 23 BVerfG NJW 2011, 1931 (Leitsatz 2 zur Sicherungsverwahrung). 24 Rieß, Die Rechtsstellung des Verletzten im Strafverfahren. Gutachten C zum 55. Deutschen Juristentag, 1984, C 47 f. Rn. 62. 25 BGH NJW 2005, 1519 ff. 26 Weigend, Rechtswissenschaft 2010, 39 (52); Hörnle, JZ 2006, 950 (952); EGMR, Urt. v. 27. 7. 2004, J./.Türkei (Nr. 26144/95) Rn. 76. 27 BVerfGE 38, 105 (112). 28 Böttcher, Schöch-FS, 2010, S. 929 (938).
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gung auf Seiten des Angeklagten deutlich gestiegen. Das gilt besonders für den typisierten gesetzlichen Strafmilderungsgrund in § 46a StGB, galt aber auch schon vorher bei der allgemeinen Strafzumessungsvorschrift in § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB. Hierfür ist es in der Regel notwendig, dass der Verletzte in der Hauptverhandlung anwesend ist und seine Interessen durch einen rechtskundigen Nebenklagevertreter oder Verletztenbeistand wahrgenommen werden. Eine Wiedergutmachungsvereinbarung mit ausdrücklicher Annahme der Entschuldigung durch den anwesenden Verletzten kann für den Angeklagten zu einer erheblichen Strafmilderung führen. 6. Europarecht Die Ausgestaltung der Verletztenrechte im Strafverfahren wurde in den letzten Jahren auch durch Rechtssetzungsakte der Europäischen Union beeinflusst. Die Empfehlungen des Rahmenbeschlusses des Rates der Europäischen Union über die Stellung des Opfers im Strafverfahren vom 15. 3. 2001 führten zum 1. Opferrechtsreformgesetz vom 24. 6. 2004, in dem die Informations- und Beteiligungsrechte der Verletzten erweitert wurden. Außerdem wurde die Durchführung des Adhäsionsverfahrens durch die Möglichkeit eines Adhäsionsvergleichs erleichtert (§ 405 StPO), und das Absehen von einer Entscheidung wegen fehlender Eignung im Strafverfahren bei reinen Schmerzensgeldansprüchen wurde verboten (§ 406 Abs. 1 Satz 6 StPO). Die Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindeststandards für die Rechte und den Schutz von Opfern sowie für die Opferhilfe vom 25. 10. 2012 war und ist für alle EU-Staaten verbindlich. Sie enthält vielfältige Gewährleistungen für Verletzte bezüglich Information und Unterstützung (Kap. 2), Recht auf Teilnahme am Strafverfahren (Kap. 3) und Schutzmaßnahmen für Opfer mit besonderen Schutzbedürfnissen (Kap. 4). Bei ihrer Umsetzung durch das 3. Opferrechtsreformgesetz vom 21. 12. 2015 stellte der Gesetzgeber fest, dass in Deutschland die meisten Gewährleistungen bereits durch die früheren Reformgesetze realisiert waren. Wichtige Neuerungen betrafen erweiterte Informationsrechte des Verletzten bei der Anzeigeerstattung (§ 158 StPO) und bezüglich seiner Befugnisse im Strafverfahren und außerhalb des Strafverfahrens (§§ 406i, 406j StPO) sowie Übersetzungen und Dolmetschleistungen für Verletzte, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind (§§ 158 Abs. 4, 161a Abs. 5, 163 Abs. 3 Satz 6 StPO, 185 GVG). Die ebenfalls im 3. Opferrechtsreformgesetz geschaffene psychosoziale Prozessbegleitung (§ 406g StPO) geht nicht auf die EU-Opferschutzrichtlinie zurück, sondern wurde infolge der starken Verankerung dieser Idee im Bundesjustizministerium und in einigen Justizministerien der Länder in die Strafprozessordnung aufgenommen.
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V. Stellungnahme zur Kritik am strafprozessualen Opferschutz 1. Zur Kritik an der Sonderstellung von Opferzeugen Die vom Strafrechtsausschuss des Deutschen Anwaltvereins und Frau von Galen geforderte rechtliche Gleichstellung des Opferzeugen mit allen anderen Zeugen29 lässt sich angesichts der zwingenden Regelungen der EU-Opferschutzrichtlinie vom 25. 10. 2012 schon aus europarechtlichen Gründen nicht mehr ernsthaft diskutieren. Unabhängig von dieser formalen Grenze haben auch die vorher genannten Gründe für die Sonderstellung des Opferzeugen so großes Gewicht, dass eine Preisgabe der Verletztenrechte in der StPO sachlich nicht gerechtfertigt ist. 2. Keine Beeinträchtigung legitimer Verteidigungsinteressen durch die Opferrechtsreformgesetze Die erwähnte Kritik zum Paradigmenwechsel und zur Beeinträchtigung der Strafverteidigung durch die Opferschutzgesetze hat den Gesetzgeber nicht beeindruckt. Er hat bei allen Reformschritten darauf hingewiesen, dass aus seiner Sicht durch die gesetzlichen Verbesserungen der Rechtsstellung des Verletzten „die historisch gewachsenen Verteidigungsbefugnisse des Beschuldigten“ nicht beeinträchtigt werden.30 Die „im System des Strafverfahrens grundsätzlich angelegte Rollenverteilung“ bleibe „dabei unberührt“.31 Darüber hinaus wurde bereits im Opferschutzgesetz von 1986 in § 140 Abs. 2 StPO aufgenommen, dass ein Regelbeispiel der notwendigen Verteidigung vorliegt, wenn dem Verletzten nach den §§ 397a, 406g Abs. 3 und 4 StPO ein Rechtsanwalt als Beistand beigeordnet worden ist. Im STORMG vom 26. 6. 2013 wurde die Sollbestellung eines notwendigen Verteidigers bei Beiordnung eines Opferanwaltes sogar zu einem zwingenden Tatbestand der notwendigen Verteidigung nach dem neuen § 140 Abs. 1 Nr. 9 StPO hochgestuft. Keiner der neuen Paragrafen ändert also etwas daran, dass der Beschuldigte sich weiterhin mit den ihm vom Prozessrecht eingeräumten Befugnissen verteidigen darf, selbst wenn dies für den Verletzten belastend ist. Es liegen auch keine empirischen Anhaltspunkte dafür vor, dass die Stärkung der Verletztenrechte die Wahrheitsfindung im Strafprozess beeinträchtigt hat.32 Rein „faktische Veränderungen der früheren Situation, die teilweise durch eine unzureichende Berücksichtigung der Verletzteninteressen gekennzeichnet war“, sind „in gewissem Umfang hinzunehmen.“33 Es gibt kein Recht des Beschuldigten, 29
S. o. Fn. 8 und 9. RegE OpferschutzG, BT-Drs. 10/5305, S. 8. 31 RegE 2. OpferRRG, BR-Drs. 178/09, S. 8. 32 Böttcher, Schöch-FS, 2010, S. 929 (941); LR-Kühne, 26. Aufl. 2006, Band 1, Einl. Abschn. J Rn. 115; AK-StPO/Rössner, Vor § 374 Rn. 89. 33 LR-Rieß, 25. Aufl. 1998, Band 1, Einl. Abschn. I, Rn. 118. 30
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einem hilflosen, uninformierten oder verängstigten Opfer gegenüberzutreten, das seine Interessen nicht in angemessener Form artikulieren kann. Die bisherigen Erfahrungen mit dem verbesserten Opfer- und Zeugenschutz im Strafverfahren haben gezeigt, dass es der strafprozessualen Praxis im Großen und Ganzen gelingt, die erforderliche „praktische Konkordanz“34 im Spannungsverhältnis zwischen den Interessen des Beschuldigten und des Verletzten herzustellen. 3. Die Kritik am Akteneinsichtsrecht des Verletzten Von Anfang an umstritten war das Akteneinsichtsrecht des Verletzten gemäß § 406e StPO. Es besteht die Gefahr, dass das Strafrecht hierdurch für rein zivilrechtliche Beweiszwecke missbraucht wird und dass der Verletzte für seine Zeugenaussage Informationen erhält, die er im Sinne einer einseitigen Interessenverfolgung zulasten des Beschuldigten verwenden könnte.35 Auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Beschuldigten kann durch eine Akteneinsicht des Verletzten beeinträchtigt werden, solange die Anschuldigung nicht bewiesen ist, jedenfalls solange sie noch nicht einmal zu einer Anklage geführt hat. Das Gesetz enthält aber sachgerechte Einschränkungen des Akteneinsichtsrechts, die bei vernünftiger Handhabung nicht zu einer wesentlichen Beeinträchtigung der Verteidigungsinteressen des Beschuldigten führen. Denn nach § 406e Abs. 2 StPO ist die Einsicht zu versagen, soweit überwiegende schutzwürdige Interessen des Beschuldigten oder anderer Personen entgegenstehen, z. B. wenn in der Akte Betriebsgeheimnisse des Beschuldigten oder schwerwiegende Erkrankungen dokumentiert sind. Die Akteneinsicht kann außerdem versagt werden, wenn der Untersuchungszweck gefährdet erscheint (§ 406e Abs. 2 Satz 2 StPO). Das ist dann der Fall, wenn die Gefahr einer Beeinträchtigung der Sachaufklärung besteht. Regelmäßig wird dies dann angenommen, wenn der Verletzte noch nicht vernommen worden ist, auch wenn noch eine richterliche Vernehmung aussteht oder ein Glaubhaftigkeitsgutachten zu erwarten ist. Während beim Beschuldigten nach Abschluss der Ermittlungen die Versagung der Akteneinsicht wegen Gefährdung des Untersuchungszwecks generell ausgeschlossen ist (§ 147 Abs. 2 StPO), kann beim Verletzten auch zu diesem Zeitpunkt noch Akteneinsicht versagt werden, also auch noch nach Anklageerhebung oder Eröffnung des Hauptverfahrens. Dies kommt insbesondere bei Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen in Betracht, wenn die Angaben des Verletzten zum Kerngeschehen von der Einlassung des Angeklagten abweichen und wenn konkrete Anhaltspunkte für eine Falschaussage des Zeugen vorliegen,36 etwa bei wechselnden Einlassungen, bei Besonderheiten der Aussage oder bei Ver34
Rieß, Gutachten zum 55. DJT (Fn. 24), C 54. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 29. Aufl. 2017, § 15 Rn. 14. 36 BGH NStZ 2016, 367.
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dacht auf ein „Präparieren“ des Zeugen.37 Liegen solche Anhaltspunkte aber nicht vor, so bleibt es beim Regelfall der der Akteneinsicht durch einen Rechtsanwalt für das nebenklageberechtigte Opfer. Hierüber existiert nun seit sechs Jahren ein heftiger Meinungsstreit. Der 1. Strafsenat des OLG Hamburg hat in einer Entscheidung vom 24. 10. 2014 und in zwei weiteren Entscheidungen die Auffassung vertreten, dass das gerichtliche Ermessen bzw. der gerichtliche Beurteilungsspielraum bei der Versagung der Akteneinsicht wegen Gefährdung des Untersuchungszwecks bei Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen, „grundsätzlich auf Null reduziert“ sei.38 Das Kammergericht Berlin und die Oberlandesgerichte Schleswig und Düsseldorf sind ihm gefolgt,39 während das OLG Brauschweig ausdrücklich widersprochen hat.40 Der 5. Strafsenat des BGH hat sich deutlich von der Auffassung des OLG Hamburg distanziert, dass mit der Wahrnehmung des Akteneinsichtsrechts typischerweise eine Entwertung des Realitätskriteriums der Aussagekonstanz verbunden sei.41 Er hat aber seinerseits die problematische Auffassung vertreten, dass die Akteneinsicht durch den Verletzten nicht regelmäßig bei der Beweiswürdigung zur Glaubhaftigkeit seiner Aussage berücksichtigt werden müsse,42 sondern nur dann, wenn es mangels anderer Beweisanzeichen in besonderem Maße auf eine Konstanzanalyse ankomme.43 Dem OLG Hamburg ist es jedenfalls gelungen, auf ein Problem aufmerksam zu machen, das in der Routine der Akteinsichtsgesuche von Nebenklägern oft nicht hinreichend beachtet wurde: die mit der Akteneinsicht verbundene Gefahr einer sog. „Konfundierung des Aussagematerials“44, also die Vermengung von genuinen Erinnerungsinhalten mit Informationen aus den Akten, durch die aus aussagepsychologischer Sicht der Beweiswert der Zeugenaussage beeinträchtigt wird. Die für die gerichtliche Beweiswürdigung zur Glaubhaftigkeit des Zeugen gebotene Prüfung der Aussagekonstanz kann bei uneingeschränkter Aktenkenntnis des Zeugen gefährdet sein. Allerdings schießt die rigorose Ermessensreduzierung auf Null m. E. über das berechtigte Ziel hinaus und verbaut den Weg zu anderen Lösungen, die sich in der Praxis bewährt haben und nach wie vor in den meisten Gerichtsbezirken in Deutschland zu überzeugenderen Ergebnissen führen.
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OLG Düsseldorf StV 1991, 202. OLG Hamburg NStZ 2014, 105 ff. m. Anm. Radtke 108 f.; StraFo 2015, 328; 2016, 210. 39 OLG Düsseldorf BeckRS 2016, 01698; OLG Schleswig StraFo 2016, 157; KG NStZ 2016, 438. 40 OLG Braunschweig NStZ 2016, 629 (630) m. Anm. Schöch (631). 41 BGH NStZ 2016, 367. 42 BGH NStZ 2016, 367. 43 BGH StV 2016, 146 m. abl. Anm. Deiters (147 ff.). 44 Baumhöfener/Daber/Wenske, NStZ 2017, 562 (564). 38
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Die Lösung des OLG Hamburg bedeutet nämlich, dass vor allem in Strafverfahren wegen Vergewaltigung, sexueller Nötigung und sexuellem Missbrauch, in denen es außer der Aussage des Opfers keine weiteren Beweismittel gibt, auch der Nebenklageanwalt vor der Hauptverhandlung grundsätzlich keine Einsicht oder nur beschränkte Einsicht in die Strafakten erhält. Er kann deshalb das Opfer im Strafverfahren nicht sachgerecht vertreten und beraten. Er ist auch nicht in der Lage, einen fundierten Adhäsionsantrag vorzubereiten. Tauchen neue Aspekte auf, so ist er gezwungen, eine Unterbrechung der Hauptverhandlung zu beantragen. Das hat in den Regionen, in denen die Gerichte der Entscheidung des OLG Hamburg folgen, dazu geführt, dass der Verteidiger des Angeklagten in der Hauptverhandlung oft mehrere Vernehmungsprotokolle des Opferzeugen vor sich liegen hat, aus denen er diesem dann einzelne Passagen vorhält, um Lücken oder Widersprüche zum Aussageverhalten in der Hauptverhandlung nachzuweisen. Oft liegen die Aussagen viele Monate, manchmal sogar Jahre zurück, so dass das Erinnerungsvermögen auch bei real erlebten Beeinträchtigungen natürlicherweise eingeschränkt ist. Nicht selten sind es sogar mehrere Verteidiger, die dann den Opferzeugen stundenlang ins Verhör nehmen. Der Nebenklagevertreter oder Zeugenbeistand kann auch dann nicht intervenieren, wenn die Fragen den Bereich des Kerngeschehens verlassen oder gar irreführende Vorhalte gemacht werden, da er über den Inhalt der früheren Aussagen seines Mandanten keinerlei Informationen hat. Deshalb ist auch die vom OLG Hamburg vorgeschlagene beschränkte Versagung der Akteneinsicht auf Vernehmungsprotokolle des Zeugen und des Angeklagten keine sachgerechte Lösung. Im Ergebnis führt das nicht selten nach stundenlangen Vernehmungen zu einem Zusammenbruch des Opferzeugen mit dem Ergebnis, dass er zu klaren Aussagen überhaupt nicht mehr in der Lage ist und der Angeklagte aus diesem Grund freigesprochen werden muss. Die grundsätzliche Ablehnung der Akteneinsicht bei Aussage-gegen-AussageKonstellationen beruht m. E. auf einer problematischen Verabsolutierung und schematischen Handhabung des Realitätskriteriums der Aussagekonstanz.45 Dieses wird bereits durch das unbestrittene Vorbereitungsrecht des Zeugen auf seine Vernehmung relativiert, das z. B. den unbeschränkten Zugriff auf eigene Aufzeichnungen gestattet.46 Hinzu kommt, dass die Aussagekonstanz zwar ein wesentliches Realitätskriterium für die Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage ist, aber nicht das einzige und oft nicht einmal das ausschlaggebende, weil es bei längerem Zeitablauf an Bedeutung verliert oder durch wiederholte Vernehmungen ohnehin beeinträchtigt wird.47 Andere Realkennzeichen wie der Detaillierungsgrad der Angaben oder Merkmale aus der Motivations-, Fehlerquellen- oder Kompetenzanalyse können oft größere Bedeutung 45
Schöch, NStZ 2016, 631 f.; ders., Streng-FS, 2017, S. 743 (749 f.); kritisch auch MeyerGoßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. 2019, § 406e Rn. 6b; generell skeptisch auch Deckers, StV 2017, 50 (53 ff.). 46 BGH StV 2017, 146 m. abl. Anm. Deiters. 47 Köhnken, Münchener Anwaltshandbuch Strafverteidigung, 2. Aufl. 2014, § 61 Rn. 92 f.
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für die Glaubhaftigkeitsbeurteilung haben, ebenso Besonderheiten der Aussagegenese, der Persönlichkeitsentwicklung oder der Sexualanamnese. Das OLG Braunschweig hat deshalb dem OLG Hamburg widersprochen und vorgeschlagen, der Gefahr einer Beeinträchtigung des Untersuchungszwecks dadurch zu begegnen, dass der Verfahrensbevollmächtigte des Verletzten zusichert, die Akten nicht an den Verletzten herauszugeben.48 Allerdings ist eine solche Verpflichtungserklärung im Mandatsverhältnis mit dem Zeugen wegen § 11 Abs. 1 Satz 2 BORA weder rechtlich durchsetzbar noch mit der gebotenen Sicherheit zu kontrollieren, worauf das OLG Hamburg zutreffend hingewiesen hat. Dieser Gedanke weist aber den richtigen und praktikablen Weg, den erfahrene Opferanwälte schon seit längerem praktizieren. Sie empfehlen dem Nebenkläger nicht nur, auf sein Recht zur Anwesenheit in der Hauptverhandlung bei der Vernehmung des Angeklagten (§ 397 Abs. 1 Satz 1 StPO) zu verzichten, sondern motivieren ihn auch, auf die Lektüre der Akten zu verzichten, da andernfalls seine Zeugenaussage vor Gericht geringeren Beweiswert haben könnte. Das gelingt auch meistens, weil man ihm oder ihr guten Gewissens klarmachen kann, dass es besser ist, Erinnerungslücken zuzugeben als eine perfekte Wiederholung früherer Aussagen zu präsentieren. Sollte dies in Einzelfällen nicht gelingen, weil der Nebenkläger auf sein persönliches Recht auf Akteneinsicht besteht, so wird er in der Hauptverhandlung regelmäßig vom Vorsitzenden, vom Staatsanwalt oder vom Verteidiger des Angeklagten befragt, ob er die Akten gelesen hat. Diese Frage muss er – unter Androhung einer Bestrafung wegen Falschaussage (§ 153 StGB) – wahrheitsgemäß beantworten, notfalls mit Unterstützung des Opferanwalts, der es als Organ der Rechtspflege nicht hinnehmen muss, dass sein Mandant diese Frage falsch beantwortet. Die Tatsache der vorherigen Akteneinsicht kann das Gericht dann bei der Würdigung der Glaubhaftigkeit der Aussage des Opferzeugen berücksichtigen. Erfahrene Richter sind auch durchaus in der Lage, „präparierte“ Zeugenaussagen zu erkennen oder durch geeignete Zwischen- und Ergänzungsfragen aufzudecken. Diese Handhabung des Akteneinsichtsrechts entspricht nach meinen Informationen aus mehreren Tagungen mit Praktikern und einigen Prozessbeobachtungen durchaus einer verbreiteten gerichtlichen Praxis in den OLG-Bezirken, die der Entscheidung des OLG Hamburg nicht gefolgt sind. 4. Die Kritik an der Nebenklage Am häufigsten wird die mit Aktivbefugnissen und Kostenfolgen verbundene Nebenklage kritisiert, weil sie in besonderem Maß den Genugtuungsbedürfnissen des Verletzten entspreche. Dabei bleibt oft unbeachtet, dass die Nebenklage bereits durch die Streichung des Strafmaßrechtsmittels im Opferschutzgesetz 1986 (§ 400 Abs. 1 StPO) einen Funktionswandel erfahren hat. Sie ist als Abwehr- und Schutz48
OLG Brauschweig NStZ 2016, 629 (630).
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instrument für Opfer schwerer Gewalttaten sowie für missbrauchte Kinder unverzichtbar; dasselbe gilt für die daraus abgeleiteten Verletztenbeistandsbefugnisse im Ermittlungsverfahren (§ 406h StPO). Missbräuche der Nebenklage durch Schüren eines aggressiven Verhandlungsklimas oder durch Zeugenmanipulationen, wie sie über manche dubiose Opferhelfer berichtet werden, sind jedenfalls äußerst selten. Sie rechtfertigen ebenso wenig eine Einschränkung von Rechten des Verletzten wie gelegentlich vorkommende Missbräuche von Verteidigungsrechten deren Abschaffung legitimieren. Falsche Anzeigen und Falschaussagen von aussagepflichtigen Opferzeugen stehen unter Strafandrohung, während der Angeklagte nach wie vor schweigen oder straflos lügen darf. Daran hat die ganze Opferschutzgesetzgebung nichts geändert. Rechtstatsächlich ist auch nicht nachgewiesen, dass die Nebenklage zu einer ungerechtfertigten Benachteiligung des Angeklagten geführt hat. Das ist entgegen manchen Spekulationen auch nicht in der 2010 veröffentlichten empirischen Untersuchung von Barton/Flotho geschehen. Bei der Auswertung von 200 Verfahrensakten mit Nebenklage und 100 Verfahrensakten ohne Nebenklage aber mit Nebenklageberechtigung im OLG-Bezirk Hamm haben die Autoren festgestellt, dass Verfahren mit Nebenklage länger dauern und zu höheren Strafen führen.49 Aber nach dem Untersuchungsdesign kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieses Ergebnis darauf beruht, dass der Anschluss als Nebenkläger im Gesamtbereich der nebenklagefähigen Delikte überwiegend in komplexeren Verfahren und solchen mit schwereren Straftaten erfolgt, die natürlich zu längerer Verfahrensdauer und zu höheren Strafen führen. Es entspricht der praktischen Erfahrung, dass gegenüber den insgesamt ca. 123.000 Verfahren mit nebenklagefähigen Delikten (gem. § 395 Abs. 1 Nr. 1 – 4 StPO) die ca.14.000 Nebenklage-Verfahren pro Jahr auf die schwereren Delikte entfallen. Bei diesen sind oft mehrere Verhandlungstage erforderlich, oft auch mit einer verfahrensverzögernden Beteiligung von Sachverständigen und mit Beweisanträgen während der Hauptverhandlung. Trotz der nicht unbeträchtlichen Ausweitung der nebenklagefähigen Delikte in den Reformgesetzen hat es in den letzten Jahren auch keine wesentliche Zunahme der Nebenklagen gegeben, im Vergleich zu den Zahlen vor der Reform von 1986 sogar einen deutlichen Rückgang. Bis 1986 gab es allein in den alten Bundesländern jährlich ca. 25.000 Verfahren mit Nebenklage50, davon ca. 84 % bei den Amtsgerichten, hauptsächlich wegen fahrlässiger Körperverletzung im Straßenverkehr. Infolge der Neustrukturierung der Nebenklagebefugnis durch das Opferschutzgesetz 1986 ist die Zahl der Strafverfahren mit Nebenklagen zunächst um mehr als die Hälfte zurückgegangen. In den beiden folgenden Jahrzehnten stiegen die Nebenklagen wieder leicht an, blieben aber immer noch weit unter dem Niveau der Jahre bis 1986. In den letzten Jahren vor dem 2. Opferrechtsreformgesetz (2009) bewegten sich die Zahlen 49 Barton/Flotho, Opferanwälte im Strafverfahren, 2010, S. 87 f., 94 f., 131 f., 239; s. auch Barton, StraFo 2011, 161 (164). 50 Rieß (Fn. 24), C 32 m.w.N.
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etwa auf dem Niveau des Jahres 2007 mit 14.568 Verfahren. Nach der Reform blieben die Nebenklagen – entgegen allen Befürchtungen – im Wesentlichen zunächst einige Jahre konstant, gingen aber in den letzten Jahren bis 2017 sogar auf 11.591 pro Jahr zurück, also um rund 3.000 oder 20 %. Etwa 2.500 davon beruhen vermutlich auf der Ersetzung durch die seit 2017 gesetzlich geregelte psychosoziale Prozessbegleitung (§ 406g StPO). Der Nebenklage-Anteil an allen gerichtlichen Verfahren ging von 2,04 % im Jahr 2007 auf 1,65 % im Jahr 2017 zurück, bei den landgerichtlichen Verfahren 1. Instanz blieb er im Wesentlichen konstant (21,22 % und 21,50 %). Hauptverhandlungen mit Nebenklägern bei Amtsgerichten, Landgerichten 1. Instanz und Berufung, Oberlandesgerichten 1. Instanz 2007: 14.568 2010: 14.521 2013: 13.900 2017: 11.591 2018: 11.258 Quelle: Stat. Bundesamt, Strafgerichte (www.destatis.de) 2007, 2020, 2013, 2017, 2018, jeweils Tab. 2.4, 4.4, 5.4, 7.4 (addiert)
Daraus wird ersichtlich, dass angesichts einer um ein Vielfaches größeren Anzahl von Hauptverhandlungen mit nebenklagefähigen Delikten maßvoll mit diesem Institut umgegangen wird. Von einer „Entfesselung der Nebenklage“51 kann also keine Rede sein. Bei der Frage, wieviel Verletztenrechte das Strafverfahren verträgt, bleibt – trotz des insgesamt maßvollen Gebrauchs der Nebenklage – bei diesem Institut ein kleiner Bereich für unverhältnismäßige oder gar missbräuchliche Inanspruchnahme durch Beiordnung von Rechtsanwälten für mehrere Angehörige eines getöteten Opfers. Dies hat sich besonders eklatant im Münchener NSU-Prozess von 2013 – 2018 mit 66 Nebenklageanwälten gezeigt, wobei es bis zu fünf Nebenklageanwälte für Kinder, Eltern, Geschwister und Ehegatten eines Mordopfers gab. Neuerdings berichten einige Vorsitzende von Schwurgerichtskammern, dass es auch bei ihnen zu ähnlichen Konstellationen gekommen sei, in Extremfällen mit bis zu sieben beigeordneten Nebenklageanwälten für ein getötetes Opfer. Das OLG Hamburg und ihm folgend die Oberlandesgerichte Köln und Düsseldorf haben versucht, in Fällen gleichartiger Interessen mehrerer Nebenkläger im Rahmen des durch den Vorsitzenden auszuübenden Ermessens bei der Beiordnung die Wahrnehmung der Interessen der Nebenkläger einem einzelnen Rechtsanwalt anzuvertrauen.52 Allerdings ist dies bisher gesetzlich nicht geregelt.
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Bung, StV 2009, 430 (435). OLG Hamburg NStZ-RR 2013, 193: „Gruppenvertretung“; ähnlich OLG Köln StV 2014, 277 f., 278 f.; zust. Pues, StV 2014, 304 (309). 52
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Insofern ist es sachgerecht, dass das Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens vom 10. 12. 201953 bei gleichgerichteten Interessen mehrerer Angehöriger eines durch eine rechtswidrige Tat Getöteten im Sinne des § 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO die Bestellung oder Beiordnung eines gemeinschaftlichen Rechtsanwalts zugelassen hat (§ 397b Abs. 1 Satz 2 StPO). Allerdings ist auch in solchen Fällen zu beachten, dass gleichgelagerte Interessen nicht automatisch zu bejahen sind und dass dem gemeinsamen Nebenklagevertreter nicht das Risiko der Vertretung widerstreitender Interessen (§ 43a Abs. 4 BRAO, § 3 BORA) aufgebürdet wird.54 Problematisch ist jedoch die darüberhinausgehende Befugnis des Gerichts, auch in sonstigen Fällen gleichgelagerter Interessen einen gemeinschaftlichen Rechtsanwalt als Beistand beizuordnen, selbst wenn die Verletzten damit nicht einverstanden sind (§ 397b Abs. 1 Satz 1 StPO). Bei mehreren Opfern von Sexualdelikten oder Raubopfern ist dies in der Regel ausgeschlossen (z. B. wegen unterschiedlicher Bereitschaft zu einem Täter-Opfer-Ausgleich oder zur Erhebung einer Adhäsionsklage). Der in der Begründung des Regierungsentwurfs enthaltene Verweis auf die Befugnis des Nebenklägers, sich anstelle eines gemeinschaftlichen Nebenklagevertreters durch einen Wahlnebenklagevertreter auf eigene Kosten vertreten zu lassen,55 wird der Situation schwer traumatisierter Opfer nicht gerecht, die bei einem Anwaltswechsel das jeweils Erlebte noch einmal einem anderen Rechtsanwalt berichten müssten,56 zu dem sie möglicherweise kein Vertrauen haben. Auch wenn die verschiedenen Opfer bereits in zivil-, familien- oder sozialrechtlichen Verfahren von einem anderen Rechtsanwalt beraten und vertreten worden sind, ist ein verordneter Anwaltswechsel unzumutbar.57 Im Hinblick auf all diese Bedenken wird die gemeinschaftliche Nebenklagevertretung in der Praxis nur in Verfahren in Betracht kommen, die aufgrund der großen Zahl von Nebenklägern die Gerichte vor kaum zu lösende organisatorische Probleme stellen.58 Jan Philipp Reemtsma war in dem mehrmonatigen Prozess gegen den Haupttäter des an ihm verübten erpresserischen Menschenraubs bis auf die Urteilsverkündung vollständig als Nebenkläger anwesend, nicht aus Rachebedürfnis, sondern – wie er es
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BGBl. 2019, S. 2121. Jahn, Schriftliche Stellungnahme für die öffentliche Anhörung des Rechtausschusses des Deutschen Bundestages am 11. 11. 2019 (BT-Drs. 19/14747) S. 30 f. (https://www.bundestag. de/ausschuesse/a06_Recht/anhoerungen_archiv/stellungnahmen-665734); DAV-Stellungnahme Nr. 35/2019, S. 24 mit Hinweis auf das Risiko der Bestrafung wegen Parteiverrats nach § 356 StGB. 55 BT-Drs. 19/14747, S. 39. 56 DAV-Stellungnahme Nr. 35/2019, S. 25 f. 57 DAV-Stellungnahme Nr. 35/2019, S. 25 f. 58 Heidenreich, Schriftliche Stellungnahme für die öffentliche Anhörung des Rechtausschusses des Deutschen Bundestages am 11. 11. 2019 (BT-Drs. 19/14747) S. 9 (https://www. bundestag.de/ausschuesse/a06_Recht/anhoerungen_archiv/stellungnahmen-665734). 54
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bezeichnete – „zur Abwendung weiteren Schadens“59 für ihn selbst, um zu erfahren, dass „der Sozialverband sich in der Bestrafung (symbolisch) mit ihm“ als Opfer „gegen den Täter solidarisiert“.60 Darum geht es den meisten Opfern. Und zur Nebenklage sagt Reemtsma treffend: Das Gericht ist keine therapeutische Anstalt. Für das Opfer in der Zeugenrolle kann es nur Schutz – Schutz in Grenzen – anbieten und gewähren. (…) Es gibt aber eine Rolle, in der das Opfer diesen Status transzendieren kann: die des Nebenklägers“.61 Die stärkere Einbeziehung des Verletzten in das Strafverfahren ist also kein Hindernis für Gerechtigkeit. Vielmehr trägt sie zu einer Verfeinerung und Differenzierung des Systems der strafprozessualen Wahrheitserforschung bei.
VI. Schluss Ich widme diesen Beitrag Ulrich Sieber, dessen visionäre Gestaltung der „Architektur des Sicherheitsrechts in der modernen Risikogesellschaft“62 ich ebenso bewundere wie seine konzeptionelle Planung bei der Umsetzung der Idee des „Strafrechts, des Sicherheitsrechts und der Kriminologie unter einem Dach“, die ich im Fachbeirat des Freiburger Max-Planck-Instituts von 2006 bis 2018 begleiten durfte.
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Reemtsma, Das Recht des Opfers auf die Bestrafung des Täters – als Problem, 1999, S. 27. 60 Reemtsma (Fn. 59), S. 21. 61 Hassemer/Reemtsma, Verbrechensopfer – Gesetz und Gerechtigkeit, 2002, S. 145. 62 Sieber, Jahrbuch 2018 der Max-Planck-Gesellschaft, https://www.mpg.de/12681874/ mpicc_jb_2018?c=151885 (abgerufen am 24. 11. 2019).
Absprachen in der japanischen Strafprozessordnung – Eine rechtsvergleichende Betrachtung Von Morikazu Taguchi* Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Ulrich Sieber schreibt in einer seiner neuen Veröffentlichungen, das traditionelle Strafrecht sei unter Druck geraten, sich mit dem Paradigmenwechsel in der globalen Risikogesellschaft auseinanderzusetzen.1 Dieser Gedanke trifft auch auf das japanische Strafjustizsystem zu. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts hat es zwei große Reformen erfahren. Die erste Strafjustizreform fand im Jahr 2004 statt, die zweite 2016. In der ersten Reform wurde das Laiengerichtssystem, das sogenannte Saiban-In System, eingeführt,2 die zweite Reform brachte das Absprachesystem hervor. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit dem japanischen Absprachesystem.3 In Japan besteht der Brauch, den 70. Geburtstag „Koki“ zu nennen und zu feiern. „Koki“ bedeutet „die aus alten Zeiten seltene Langlebigkeit“. Heute ist dies zwar * Prof. Emeritus Dr. Dr. h.c., Universität Waseda, Tokio. 1 Vgl. Ulrich Sieber, The New Architecture of Security Law – Crime Control in the Global Risk Society, in: Ulrich Sieber/Valsamis Mitsilegas/Christos Mylonopoulos/Emmanouil Billis/Nandor Knust (Hrsg.), Alternative Systems of Crime Control – National, Transnational, and International Dimensions, 2018, S. 3 f.; ders., Der Paradigmenwechsel vom Strafrecht zum Sicherheitsrecht: Zur neuen Sicherheitsarchitektur der globalen Risikogesellschaft, in: Klaus Tiedemann/Ulrich Sieber/Helmut Satzger/Christoph Burchard/Dominik Brodowski (Hrsg.), Die Verfassung moderner Strafrechtspflege, Erinnerung an Joachim Vogel, 2016, S. 351 ff. 2 Vgl. Morikazu Taguchi, Neue Entwicklungen des japanischen Strafprozessrechts, in: Jan C. Joerden/Andrzej J. Szwarc/Keiichi Yamanaka (Hrsg.), Das vierte deutsch-japanischpolnische Strafrechtskolloquium der Stipendiaten der Alexander von Humboldt-Stiftung, 2011, S. 26 ff. 3 Vgl. Morikazu Taguchi, New Development in Investigation Proceedings and Sanction Systems for Corporate Crime in Japan, 2019 in: Ulrich Sieber (Hrsg.), Prevention, Investigation, and Sanctioning of Economic Crime, National Perspectives, RIDP (Revue Internationale de Droit Pénal) Vol. 90 issue 1, 2019, S. 241 f. Vgl. auch Katsuyoshi Kato, Konsensuales Strafverfahren – insbesondere Opportunitätseinstellungen und Absprachen in Japan, in: Henning Rosenau/Sangyun Kim (Hrsg.), Straftheorie und Strafgerechtigkeit – Deutsch-Japanischer Strafrechtsdialog, 2010, S. 31 ff.; Morikazu Taguchi, Das Sanktionensystem gegen die Unternehmenskriminalität in Japan, in: Arnd Koch/Matthias Rossi (Hrsg.), Gerechtigkeitsfragen in Gesellschaft und Wirtschaft. – 40 Jahre Juristische Fakultät Augsburg, 2013, S. 31 ff. Herrn Dr. Marc Engelhart, Forschungsgruppenleiter „Architektur des Sicherheitsrechts“, Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht, möchte ich für seine sprachliche Unterstützung bei diesem Beitrag herzlich danken.
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nicht mehr so selten, doch „Koki“ wird immer noch als neuer Ausgangspunkt des Lebens besonders gefeiert. Mein Beitrag ist Prof. Ulrich Sieber für sein „Koki“ gewidmet.
I. Einleitung Das Saiban-In System, das 2004 in Japan eingeführt wurde, erkannte die Teilnahme des Bürgers an der Hauptverhandlung des Strafgerichts an, wodurch sich die Hauptverhandlung des Strafgerichts dramatisch veränderte. Die schriftliche und schwer verständliche traditionelle Hauptverhandlung, die nur von Fachjuristen geführt wurde, wurde zur mündlichen und damit verständlichen Hauptverhandlung, da hier auch Laien am Richteramt teilnehmen können. Heute, 10 Jahre nach Einführung des Saiban-In Systems, kann man das System bereits als in der japanischen Gesellschaft verankert ansehen.4 Mit der ersten Strafjustizreform schien sich die japanische Strafjustiz kontinuierlich weiterzuentwickeln. 2009 ereignete sich jedoch ein Fall, der der japanischen Juristenwelt einen Schock versetzte. Ein Staatsanwalt hatte im Dienst Beweise von einem sich in seinem Zuständigkeitsbereich befindlichen Fall manipuliert. Die Bedeutung dieses Falls ist immens, da es sich hierbei nicht um ein zufälliges, sondern um ein tief in der japanischen traditionellen Untersuchungspraxis verwurzeltes Verhalten handelt. In der Praxis war es bisher üblich, dass das zuständige Untersuchungsorgan den verhafteten Beschuldigten vernimmt und das Aussageprotokoll – in vielen Fällen ein Geständnisprotokoll – erstellt, welches der Staatsanwalt dann als einen der wichtigen Beweise in der Hauptverhandlung vorlegt. Oftmals wird die Tatfeststellung des Gerichts diesen Beweisen angepasst. Im vorliegenden Fall hatte der Staatsanwalt der bisherigen Praxis folgend einen derartigen Beweis – eine Diskette – manipuliert.5 Vor Gericht wurde dies erkannt, da der Beweis im Widerspruch zu dem Aussageprotokoll des Beschuldigten stand. Die japanische Strafprozessordnung verbietet in der Regel die Benutzung des Beweises vom Hörensagen.6 Ausnahmsweise kann jedoch z. B. ein Aussageprotokoll zugelassen werden, wenn in der Hauptverhandlung etwas ausgesagt wird, das im Widerspruch zu dem Aussageprotokoll steht.7 Was in diesem Fall klar wurde, ist die Tatsache, dass die traditionelle Rechtspraxis von der Vernehmung des inhaftierten Beschuldigten und der Benutzung seines Aussageprotokolls „übermäßig“ abhängig war. 4 Vgl. Oberster Gerichtshof, Bilanz von 10 Jahren Saiban-In-System, 2019. http://www. saibanin.courts.go.jp/topics/09_12_05-10jissi_jyoukyou.html. Alle Materialien, die in den folgenden Fußnoten zitiert werden, sind auf Japanisch, soweit nicht anders angegeben. 5 Der Staatsanwalt wurde wegen der Unterdrückung von Beweisgegenständen verurteilt (2011). Der Angeklagte wurde mangels Beweisen freigesprochen (2010). 6 § 320 Abs. 1 Japanische Strafprozessordnung (im Folgenden zitiert als JStPO). 7 Z. B., § 321 Abs. 1 Nr. 2 JStPO (Aussageprotokoll vor dem Staatsanwalt), § 322 JStPO (Geständnisprotokoll des Angeklagten).
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Der Fall gab Anlass zu einer neuen Justizreform besonders im Bereich des Untersuchungsverfahrens und des Beweisrechts, die in der ersten Justizreform nicht behandelt worden waren. Im „besonderen Ausschuss für das Strafjustizwesen in der neuen Zeit“ des Justizbeirats im Justizministerium wurde ein Reformentwurf für die Strafprozessordnung 2014 beschlossen und im Mai 2016 vom Parlament verabschiedet.8 Die Kernpunkte des neuen Gesetzes sind die beiden folgenden: Es wurde zum einen ein System eingeführt, das die Aufnahme von Vernehmungen des inhaftierten Beschuldigten vorsah, um diese gerechter zu gestalten, und zum anderen die Möglichkeit der Absprache als neue Methode der Beweissammlung. Von der Möglichkeit der Absprache wurde erstmals am 1. Juni 2018 Gebrauch gemacht. Bis heute gibt es drei Anwendungsfälle, die ausnahmslos Straftaten im Bereich der Unternehmenskriminalität zum Gegenstand haben. Der erste Fall ist der „Mitsubishi-Hitachi-Powersystems-Fall“. Darin hatte eine japanische juristische Person, vertreten durch ihre Vorstände, thailändische Beamte bestochen und damit ein Verbrechen gegen das Gesetz zur Verhütung unlauteren Wettbewerbs begangen. Der Staatsanwalt hatte sich zunächst mit der juristischen Person geeinigt und nur zwei Vorstände angeklagt. Die juristische Person wurde dagegen nicht angeklagt. Das Gericht hat anschließend beide Vorstände zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und die Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Die Zulässigkeit der Absprache im Strafverfahren hat das Gericht in seiner Urteilsbegründung nur kurz bejaht.9 Der zweite Fall ist der „Ehemaliger Präsident des Nissan-Unternehmens Carlos Ghosn-Fall“. Hier wurde Carlos Ghosn wegen der Übertretung des Financial Instruments and Exchange Act und wegen besonderer Untreue nach dem Handelsgesetz angeklagt. Die anderen Vorstände und Angestellten, die sich mit dem Staatsanwalt verständigt hatten, wurden nicht angeklagt. Die erste Hauptverhandlung war bis Dezember 2019 nicht eröffnet worden.10,11,12 Obwohl das Absprachesystem in Japan 8 Gesetz für die Teilreform der Strafprozessordnung und weiterer Gesetze. (Gesetz Nr. 54, 2016). Mit diesem Reformgesetz wurden insgesamt 17 Paragrafen in der JStPO neu geschaffen: 1) § 301-2 (Aufnahme der Vernehmung des Beschuldigten), 2) von § 350-2 bis § 350-15 (Absprachen) und 3) §§ 157-2, 157-3 (Immunitätsforschung). 9 Verurteilung des geständigen Angeklagten (Urteil Landgericht Tokio v. 01. 03. 2019. LEX/DB 25562724) und Verurteilung des nicht geständigen Angeklagten (Urteil Landgericht Tokio v. 13. 09. 2019). Es ist beachtenswert, dass der Staatsanwalt sich mit der juristischen Person verständigt und die natürlichen Personen angeklagt hat. Obwohl ein solches Beispiel vom Gesetzgeber nicht bedacht worden ist, wäre dieses nach geltendem Recht wohl zulässig. 10 Vgl. Asahi-shinbun (Asahi-News Paper), 11. 01. 2019. Der Angeklagte Ghosn wurde im November 2018 festgenommen und im Dez. 2018 wegen des Verstoßes gegen den Financial Instruments and Exchange Act und weiter im Jan. 2019 wegen besonderer Untreue angeklagt. 11 Danach ist die Eröffnung der Hauptverhandlung fast unmöglich geworden, weil am 31. Dez. 2019 der Angeklagte Ghosn, dem die Freilassung gegen eine Sicherheitsleistung in Höhe von 1.5 Mrd. Yen (ca. 12.3 Mio. Euro) unter der Bedingung, das Land nicht zu verlassen, erlaubt worden war, erstaunlicherweise mit einem Privatjet von Japan in den Libanon geflohen ist. Da es kein Abkommen über die Auslieferung flüchtiger Straftäter zwischen Japan und dem Libanon gibt, gibt es auch kaum eine Möglichkeit, dass Ghosn an der japani-
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noch am Anfang steht, wird es doch einen starken Einfluss auf die traditionelle Strafjustiz haben. Dieser Beitrag soll daher zunächst einen Überblick über das Absprachewesen in Japan verschaffen, dann seine Eigenschaften aus einer rechtsvergleichenden Perspektive beleuchten und sich schließlich mit den rechtstheoretischen und verfahrensrechtlichen Aufgaben des japanischen Absprachesystems beschäftigen.
II. Überblick des Absprachesystems in Japan 1. Begründung des Gesetzgebers zum Absprachesystem Bezüglich der Absicht des Gesetzgebers13 sind drei Punkte von besonderem Interesse, nämlich die Notwendigkeit des Absprachesystems, seine gesetzliche Begründung und die Schutzmechanismen gegen Missbrauch. Die Aufgabe des Gesetzgebers lag darin, eine neue Methode der Aussageerlangung einzuführen, um die traditionelle Untersuchungsmethode und die Hauptverhandlung, die sehr stark von der Vernehmung und dem Aussageprotokoll des Beschuldigten geprägt waren, zu überwinden und ein neues Strafjustizsystem zu errichten.14 Der Vorschlag des Justizbeirats und der Regierungsentwurf dazu konzentrierten sich hauptsächlich auf die Einrichtung des Absprachesystems. Die Oberste Staatsanwaltschaft hat sich gegenüber dem Vorschlag zustimmend geäußert und betonte, dass das Abspracheverfahren als alternative Beweissammlungsmethode notwendig sei, um insbesondere Aussagen zur Aufklärung von organisierter Kriminalität zu erhalten.15 Nun gibt es zwei Modelle für Absprachen, zum einen das Mitwirkungsmodell und zum anderen das Selbstbelastungsmodell. Das Erstere erkennt eine Absprache dann an, wenn der Beschuldigte im Untersuchungsverfahren oder an der Hauptverhandlung eines Dritten mitwirkt, und Letzteres auch den Fall, wenn dieser sich selbst beschen Hauptverhandlung teilnehmen wird. Vgl. Asahi-shinbun (Asahi-News Paper), 01. 01. 2020. 12 Im dritten Fall ist der Vorstand einer Firma wegen Unterschlagung im Geschäftsbetrieb festgenommen worden, nachdem es zwischen einem Angestellten dieser Firma und dem Staatsanwalt zu einer Absprache gekommen war. Vgl. Asahi-shinbun (Asahi-News Paper), 11. 12. 2019. 13 Vgl. Takashi Kikkawa/Masayuki Yoshida, Über das Gesetz für die Teilreform der Strafprozessordnung (Gesetz Nr. 54, 2016) (3), Hoso-Jiho (Lawyers Association Journal [LAJ]) Vol. 70, Nr. 1, 2018, S. 75 ff. Diese Unterlagen zeigen den Standpunkt des Justizministeriums und dürfen als Absicht des Gesetzgebers gelesen werden. Vgl. auch Takashi Kikkawa, Abriss über das „Gesetz für eine Teilreform der Strafprozessordnung“, Keijiho-Journal (Criminal Law Journal [CLJ]) Vol. 49, 2016, S. 71 ff. 14 Vgl. Kikkawa et al. (Fn. 13), LAJ S. 76. 15 Vgl. Höchste Staatsanwaltschaft/Büro für die Vorbereitung eines neuen Rechtssystems, Provisorische Richtlinien zum Abspracheverfahren, Horitsu-no-Hiroba, Vol. 71, Nr. 4, 2018, S. 48 ff.
Absprachen in der japanischen Strafprozessordnung
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lastet. Der japanische Gesetzgeber hat nur das erste Modell aufgenommen. Auf beide Modelle wird später noch vertieft eingegangen. Der gesetzliche Grund für das Absprachesystem liegt in der weitreichenden Ermessensbefugnis des Staatsanwalts. Die japanische Strafprozessordnung folgt dem Opportunitätsprinzip,16 das auch für die Absprachen eine gesetzliche Grundlage bietet. Der Oberste Gerichtshof hat in seiner Rechtsprechung mehrmals bestätigt, dass der Staatsanwalt eine weitreichende Ermessensbefugnis hat. Etwas anderes gelte nur bei einem Ermessensmissbrauch. Dieser sei jedoch auf extreme Fälle beschränkt, so z. B. wenn der Staatsanwalt im Rahmen seiner Strafverfolgung ein Verbrechen begeht.17 Er hat zudem bestätigt, dass der Staatsanwalt auch nur Teile der Straftat in seiner Anklage anführen kann, um eine schwierige Beweisführung zu vermeiden.18 Wegen dieses weitreichenden Ermessens kann der Staatsanwalt auch die Mitwirkung des Beschuldigten im Untersuchungsverfahren oder an der Hauptverhandlung eines Dritten in „Verhältnisse nach der Straftat“ gemäß § 248 JStPO einordnen.19 Doch warum er die Mitwirkung des Beschuldigten im Untersuchungsverfahren eines Dritten zu seinem Ermessen zählen darf, ist eine schwer zu klärende Frage, wie sich nachher noch zeigen wird. Nach Ansicht des Gesetzgebers gibt es in der geltenden Strafprozessordnung genügend Sicherheitsvorkehrungen gegen den Missbrauch des Absprachesystems. Grundsätzlich besteht hier nämlich die Gefahr, dass der Beschuldigte eine Falschaussage zur Strafsache eines Dritten macht, weil der Staatsanwalt ihm bestimmte Vorteile für das Erbringen von Beweisen gewährt. Mit anderen Worten besteht immer die Gefahr, einen Dritten in ein Verbrechen zu verwickeln, das dieser nicht begangen hat. Nach Ansicht des Gesetzgebers kann das Absprachesystem diese Gefahr aber mit folgenden Sicherheitsvorkehrungen vermeiden: Erstens muss der Staatsanwalt natürlich die mit Absprachen verbundene Aussage des Beschuldigten wegen der oben genannten Gefahr besonders sorgfältig untersuchen. Zweitens ist es möglich, die Glaubwürdigkeit der Aussage innerhalb eines Kreuzverhörs durch den Verteidiger zu überprüfen,20 da die Beweisaufnahme des Absprachedokuments Teil der
16 § 248 JStPO (Opportunitätsprinzip): Wird die Erhebung einer Anklage nach Berücksichtigung des Charakters, des Alters und der Verhältnisse des Täters, der Schwere und der Umstände der Straftat und der Verhältnisse nach der Straftat unnötig, so kann von der Erhebung der Anklage abgesehen werden, vgl. Hideo Nakamura (Übersetzer), Die japanische Strafprozessordnung, 1970. Die japanische Strafprozessordnung nimmt auch den Anklagemonopolgrundsatz auf, siehe § 247 JStPO: Die Anklage wird durch den Staatsanwalt erhoben. 17 Urteil des OGH v. 17. Dez. 1980, Keishu (Entscheidungssammlung) Vol. 34, Nr. 7, S. 672. 18 Beschluss des OGH v. 27. Jan. 1984, Keishu (Entscheidungssammlung) Vol. 38, Nr. 1, S. 136; Urteil des OGH v. 23. Apr. 2003, Keishu (Entscheidungssammlung) Vol. 57, Nr. 4, S. 467. 19 Vgl. Kikkawa et al. (Fn. 13), LAJ S. 78. Vgl. § 248 JStPO (Fn. 16). 20 Vgl. Kikkawa et al. (Fn. 13), LAJ S. 79 ff.
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Hauptverhandlung des Dritten ist.21 Drittens: da die Teilnahme des Verteidigers am Erörterungs- und Abspracheverfahren notwendig ist,22 kann sie vor einer Falschaussage des Beschuldigten schützen. Natürlich gehört es zur Berufsmoral des Verteidigers, an einer Falschaussage nicht mitschuldig zu sein.23 Und schließlich wird es auch helfen, die Falschaussage des Beschuldigten zu verhindern, dass er mit einer Freiheitstrafe bis zu 5 Jahren bestraft werden kann, wenn er falsch aussagt.24 2. Überblick über das Absprachesystem a) Beteiligte Die Subjekte einer Absprache sind der Staatsanwalt und der Beschuldigte (§ 3502 Abs. 1 JStPO). Das Subjekt einer Absprache kann nur die Person sein, die eine zentrale Rolle für die Absprache spielen kann. Der Staatsanwalt kann sich kraft seines Ermessens mit dem Beschuldigten verständigen. Der Beschuldigte wird zur Mitwirkung zugunsten des Justizorgans motiviert, weil ihm dadurch bestimmte Vorteile gewährt werden. Der Richter spielt dagegen keine Rolle beim Zustandekommen der Absprache. Für die Gültigkeit der Absprache ist die Zustimmung des Verteidigers notwendig, sie muss schriftlich niedergelegt und von Staatsanwalt, Beschuldigtem und Verteidiger unterschrieben werden (§ 350-3 JStPO). b) Art der Handlung der Subjekte Die Inhalte der Mitwirkung des Beschuldigten beziehen sich auf die Strafsache des Dritten: in Betracht kommt a) eine wahre Aussage bei der Vernehmung durch das Untersuchungsorgan oder bei der Zeugenvernehmung in der Hauptverhandlung zu machen, oder b) das Angebot, Beweise zu liefern oder in sonstige Mitwirkungen einzuwilligen (§ 350-2 Abs. 1 Nr. 1 JStPO). „Wahre Aussage“ bedeutet hier Aussage nach dem Gedächtnis. Sie ist daher selbst dann gültig, wenn sich später herausstellt, dass sie nicht wahr ist. Die Möglichkeiten der Maßnahmen des Staatsanwalts in der Strafsache des Beschuldigten, der eine Aussage über die Strafsache eines Dritten gemacht hat, sind: a) das Absehen von der Strafverfolgung, b) die Zurücknahme der Anklage, c) das Erheben oder Zurückhalten bestimmter Anklagepunkte und Gesetzesvorschriften, d) einen Antrag zur Ergänzung, Zurücknahme oder Änderung bestimmter Anklagepunkte oder Gesetzesvorschriften zu stellen, e) eine Aussage zu machen, dass gegen21
§§ 350-2, 350-9 JStPO. Vgl. unten II. 2. e). §§ 350-4, 350-3 JStPO. Vgl. unten II. 2. d) bzw. e). 23 Vgl. Japanischer Verband der Rechtsanwaltsvereinigungen, Berufsrichtlinien des Rechtsanwalts, 2004, § 75: Ein Rechtsanwalt darf nicht zur Falschaussage anstiften oder Beweise, die er als falsch erkennt, vorlegen. 24 § 350 – 15 Abs. 1 JStPO. 22
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über dem Angeklagten eine gemilderte Strafe verhängt werden soll, f) eine Zusage von dem sofortigen Entscheidungsverfahren Gebrauch zu machen, g) einen Antrag im Strafbefehlsverfahren zu stellen (§ 350-2 Abs. 1 Nr. 2 JStPO). Der Grund für diese sehr weitreichenden Inhalte der Maßnahmen des Staatsanwalts soll auch nachfolgend noch kritisch geprüft werden. c) Gegenstand der Absprachen aa) Absprachen sind auf zwei Kriminalitätstypen begrenzt: zum einen auf die Finanz- und Wirtschaftskriminalität und zum anderen auf die Drogen- und Waffenkriminalität (§ 350-2 Abs. 2 JStPO). Der Grund dafür ist, dass der Gegenstand der Absprachen danach bestimmt werden soll, ob das Absprachesystem für die Beweissammlung in besonderer Weise notwendig ist und ob zugleich das Einverständnis der Bevölkerung einschließlich dem des Verletzten leicht eingeholt werden kann. Zu den beiden genannten Kriminalitätstypen gehört z. B. Siegelbruch, Störung der Zwangsvollstreckung, Störung der Versteigerung, Fälschung amtlicher Urkunden, falsche Eintragung in die Urschrift einer amtlichen Urkunde, Fälschung privater Urkunden, Bestechung, Betrug, Untreue, Unterschlagung, Erpressung, Verbrechen gegen das Gesetz gegen organisierte Kriminalität, Übertretung von Strafvorschriften über die Kontrollen von Sprengstoffen, Fortschaffen des Beschuldigten, Einschüchterung von Zeugen und sonstige Finanz- und Wirtschaftskriminalität, Drogen- und Waffenkriminalität usw. Straftaten, für die Todesstrafe oder lebenslange Freiheitsstrafe angedroht sind, sind davon ausgenommen. Also können z. B. Tötung, die Einfuhr von Stimulanzien zum Zweck der Gewinnerzielung, die gewerbliche Überlassung von Stimulanzien oder die Einfuhr von Waffen zum Zweck der Gewinnerzielung nicht Gegenstand von Absprachen sein. bb) Beide Straftaten, d. h. die Strafsache des Beschuldigten selbst und die Strafsache des Dritten, müssen den Gegenstand der Absprachen betreffen. Es muss also einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Straftaten geben (§ 350-2 Abs. 1 JStPO). Nach Ansicht des Gesetzgebers bedeutet dies jedoch nicht, dass beide Straftaten die gleiche gesetzliche Bezeichnung haben müssen, und auch nicht, dass es eine tatsachliche Überlagerung beider Straftaten gibt.25 Auch dies ist später noch kritisch zu analysieren. d) Das Erörterungsverfahren aa) Grundzüge (1) Beteiligte an einem Erörterungsverfahren sind der Staatsanwalt, der Beschuldigte und der Verteidiger (§ 350-4 Abs. 1 JStPO). Solange keiner von ihnen Einwände dagegen erhebt, darf der Staatsanwalt einen Teil der Erörterung auch nur mit dem 25
Vgl. Kikkawa et al. (Fn. 13), CLJ S. 74.
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Verteidiger durchführen. Nach anderer Auslegung darf der Staatsanwalt allerdings nicht einen Teil der Erörterung allein nur mit dem Beschuldigten durchführen, wenn es auch insgesamt keinen Einwand vonseiten des Staatsanwalts, des Beschuldigten und des Verteidigers gibt. Die Erörterung kann jederzeit stattfinden, wenn die drei Beteiligten zu einer Einigung kommen. Jeder von ihnen kann aus eigener Initiative tätig werden. Wenn jedoch nur der Beschuldigte gegenüber dem Staatsanwalt die Initiative ergreift, muss der Staatsanwalt den Beschuldigten belehren, dass ohne den Verteidiger die Erörterung nicht stattfinden kann und dass sich der Verteidiger an den Staatsanwalt zu wenden hat.26 (2) Der Staatsanwalt darf eine Aussage des Beschuldigten über die Strafsache eines Dritten bei der Erörterung zur Kenntnis nehmen (§ 350-5 Abs. 1 JStPO), weil es für den Staatsanwalt bei der Entscheidung über die Absprache mit dem Beschuldigten nötig ist, dass er Informationen über die ihm angebotenen Beweise erhält.27 Dieses „Anhörverfahren“ ist ein Teil der Erörterung, an welcher der Verteidiger teilnehmen darf. Im Unterschied dazu darf der Verteidiger bei der „Vernehmung“ in der Untersuchung nicht anwesend sein. Doch muss der Staatsanwalt den Beschuldigten über das Schweigerecht belehren (§ 350-5 Abs. 1 Satz 2 JStPO). Die Notwendigkeit dieser Belehrung wird dann klar, wenn die Aussage zur Strafsache eines Dritten eine Aussage zur Straftat des Beschuldigten selbst enthält (z. B. im Fall einer Teilnahme). Schließlich sind die Beweise, die im Anhörverfahren gesammelt wurden, in der Hauptverhandlung dann unzulässig, wenn die Absprache nicht zustande gekommen ist (§ 350-5 Abs. 2 JStPO). (3) Der Staatsanwalt muss im Voraus mit dem Justizpolizeioffizier sprechen, wenn er über die von diesem weitergeleitete Sache mit dem Verteidiger und dem Beschuldigten verhandeln möchte (§ 350-6 Abs. 1 JStPO). Der Staatsanwalt kann dabei den Justizpolizeioffizier zu den für die Erörterung nötigen Handlungen veranlassen. So kann z. B. der Justizpolizeioffizier dem Verteidiger den Inhalt von Maßnahmen des Staatsanwalts innerhalb der vom Staatsanwalt erteilten Befugnis vorschlagen. Mit anderen Worten kann der Justizpolizeioffizier zwar kein Beteiligter der Absprachen sein, doch in bestimmten Situationen Beteiligter an der Erörterung. bb) Die Erstellung des Dokuments zur Eröffnung der Erörterung und des Berichts über ihren Ablauf28 Der Staatsanwalt muss das „Dokument zur Eröffnung der Erörterung“ erstellen, um klar zu machen, ob und wann die Erörterung begonnen worden ist. Das Dokument müssen Staatsanwalt, Beschuldigter und Verteidiger unterschreiben. b) Der Staats26
Provisorische Richtlinien (Fn. 15), S. 54. Provisorische Richtlinien (Fn. 15), S. 49. 28 Provisorische Richtlinien (Fn. 15), S. 55. Die Herstellung des Dokuments und des Berichts wird anders als das Absprachedokument nur von den Richtlinien, nicht vom Gesetz angeordnet. 27
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anwalt muss zudem einen „Bericht über den Ablauf der Erörterung“ erstellen, um die wichtigen Punkte zum Ablauf der Erörterung wie Zeit und Ort, Teilnehmer und einen Abriss von der Erörterung aufzuzeichnen. Das Dokument und der Bericht müssen dem Fallbericht beigelegt und mit diesem zusammen aufbewahrt werden. Auf das Verhältnis zwischen dem Dokument sowie dem Bericht und dem Absprachedokument wird nachfolgend noch näher eingegangen werden. e) Abspracheverfahren und Rechtsfolgen aa) Dokumentation Wenn eine Absprache zustande gekommen ist, muss das von Staatsanwalt, Beschuldigtem und Verteidiger unterschriebene „Absprachedokument“ mit dem Inhalt der Absprache verfasst werden (§ 350-3 Abs. 2 JStPO). Der Staatsanwalt muss die Zulassung des Absprachedokuments in der Hauptverhandlung über den Beschuldigten ohne Verzögerung verlangen, wenn er den Beschuldigten wegen seiner Tat angeklagt hat (§ 350-7 Abs. 2 JStPO). Des Weiteren muss der Staatsanwalt die Zulassung des Absprachedokuments auch in der Hauptverhandlung eines Dritten, in der die Aussage des Beschuldigten als Beweis benutzt wird, verlangen (§§ 350-8, 350-9 JStPO). Die Notwendigkeit, in der Hauptverhandlung des Beschuldigten auf das Absprachedokument hinzuweisen, ergibt sich erstens daraus, dass die Rechtmäßigkeit und die Legitimität der Absprache erst dann gesichert sind, wenn die Inhalte der Absprache in der Hauptverhandlung offen gelegt werden, und zweitens daraus, dass die Inhalte der Absprache sich auf die Streitpunkte und die Strafzumessung in der Hauptverhandlung beziehen. Die Notwendigkeit der Beweisaufnahme des Absprachedokuments auch in der Hauptverhandlung des Dritten ergibt sich ebenfalls daraus, dass Rechtmäßigkeit und Legitimität der Absprache sich unmittelbar auf die Glaubwürdigkeit der Aussage des Beschuldigten auswirken. Hier stellt sich die Frage, welche Inhalte der Absprache in dem Dokument enthalten sein sollen. Auch dies wird nachfolgend näher untersucht. bb) Rechtsfolgen Bei Erfolg entfaltet die Absprache Bindungskraft für die Parteien, um die Vollstreckung des konkreten Abspracheinhalts sicherzustellen. Jede Abweichung vom Abspracheinhalt ist daher rechtswidrig. Wenn z. B. der Staatsanwalt entgegen der Absprache auch den Beschuldigten anklagt, so ist die Anklage wegen Unwirksamkeit abzuweisen (§ 350-13 Abs. 1 JStPO). Wenn dagegen der Staatsanwalt einen gegen die Absprache verstoßenden Strafantrag stellt, ist es unnötig, die Anklage abzuweisen, weil das Gericht, das den im Absprachedokument enthaltenen Strafantrag des Staatsanwalts ohnehin zur Kenntnis nimmt, unabhängig davon seine eigene Strafzumessung vornehmen darf.29 Beantragt der Staatsanwalt hingegen eine Änderung eines Anklagepunkts, 29
Vgl. Kikkawa et al. (Fn. 13), LAJ S. 157.
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obwohl es Teil der Absprache war, diesen konkreten Anklagepunkt fallen zu lassen, soll das Gericht die Änderung nicht gestatten (§ 350-13 Abs. 2 JStPO). Des Weiteren gilt ein Beweisverbot für alle Beweise, die der Staatsanwalt beim Handeln gegen die Absprache erhalten hat. Diese können nur dann verwendet werden, wenn der Angeklagte keine Einwände erhebt (§ 350-14 JStPO). Auf der anderen Seite macht sich der Beschuldigte strafbar, wenn er entgegen der Absprache eine Aussage nicht macht oder eine Falschaussage leistet (§ 350-15 JStPO). f) Rücktritt von Absprachen aa) Parteien Die Parteien – Staatsanwalt und Beschuldigte – können jeweils in den folgenden Fällen von der Absprache zurücktreten (§ 350-10 Abs. 1 JStPO): a) Wenn eine der Parteien gegen die Absprache verstoßen hat, kann die andere Partei davon zurücktreten. b) Wenn das Gericht auf eine schwerere Strafe erkannt hat als die, die der Staatsanwalt aufgrund der Absprache beantragt hat, kann der Beschuldigte von der Absprache zurücktreten. c) Wenn sich herausgestellt hat, dass die Aussage des Beschuldigten nicht wahr ist, kann der Staatsanwalt von der Absprache zurücktreten. bb) Gericht Das Gericht kann aber in bestimmten Umständen auch selbst dem Inhalt der Absprache nicht folgen (§ 350-10 Abs. 1 JStPO): a) Das Gericht kann den Antrag des Staatsanwalts über die Änderung eines Anklagepunkts nicht gestatten. b) Das Gericht kann eine schwerere Strafe verhängen als die, die der Staatsanwalt aufgrund der Absprache beantragt hat. c) Das Gericht kann den Antrag des Staatsanwalts auf ein sofortiges Entscheidungsverfahren abweisen. d) Das Gericht kann den Antrag des Staatsanwalts auf ein Strafbefehlsverfahren abweisen. Auch wenn der Richter nicht an die Absprache gebunden ist, soll später noch einmal auf den Grund eingegangen werden, warum genau das Gericht die Befugnis für die Prüfung der Rechtmäßigkeit und Legitimität der Absprache haben kann und soll.
III. Die Konstellation des japanischen Absprachesystems aus rechtsvergleichender Sicht Für eine nähere Analyse der Eigenschaften des japanischen Absprachesystems ist es entscheidend, es mit ausländischen Rechtssystemen zu vergleichen. Hierzu werden vor allem die vergleichbaren Rechtssysteme in den USA und Deutschland her-
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angezogen, weil diese beiden Länder in der Vergangenheit schon häufiger einen großen Einfluss auf das japanische Strafjustizsystem hatten.30 1. Vergleich mit dem amerikanischen Recht a) In den USA kann man zwei Systeme unterscheiden. Zum einen ist dies das Plea Bargaining System, bei dem Verteidigung und Anklage übereinkommen, dass der Angeklagte ein Schuldanerkenntnis (guilty plea) ablegt und dafür eine für den Angeklagten günstige Zusicherung erhält. Auf diese Weise kann das Gericht ein effizientes Verfahren durchführen, da es ohne auf die Tatfrage näher einzugehen sofort mit der Strafzumessung beginnen kann. Die Zusicherung der Anklage kann in dem Absehen von der Strafverfolgung insgesamt oder in der Zurücknahme eines Teils der Anklagepunkte o.Ä. bestehen (sog. fact bargaining). Ein weiteres Mittel ist das sogenannte sentencing bargaining, bei dem ein Antrag auf ein milderes Strafmaß gestellt wird. Nach dem amerikanischen Bundessystem findet das Plea Bargaining System nur unter den Parteien statt. Der Richter nimmt an diesem Verhandlungsverfahren nicht teil und ist somit nicht durch den Inhalt des Übereinkommens gebunden. Wenn der Richter jedoch das Ergebnis des Schuldanerkenntnisses akzeptiert, wird er dadurch gebunden.31 Zum anderen gibt es ein Strafmilderungssystem für den Fall, dass der Angeklagte mit einem Untersuchungsorgan zusammenarbeitet, nachdem er durch ein Schuldanerkenntnis oder einen Schuldspruch im Erkenntnisverfahren verurteilt wurde. Das Erkenntnisverfahren findet statt, wenn der Angeklagte auf unschuldig plädiert hat. Bietet der Angeklagte dem Untersuchungsorgan eine „wesentliche Unterstützung“ (substantial assistance) bei der Untersuchung oder der Strafverfolgung eines Dritten an, darf das Gericht eine Strafmilderung in Abweichung des Strafrahmens der Strafzumessungsrichtlinien (sentencing guidelines) vornehmen.32 Es handelt sich hierbei nicht um einen Deal, sondern um eine Frage der Strafe, die sich nach dem Richterermessen beurteilt. Da die Strafmilderung für die Zusammenarbeit mit einem Untersuchungsorgan die Strafsache eines Dritten betrifft und dagegen die Strafmilderung beim Plea Bargaining immer die Strafsache des Angeklagten selbst betrifft, sind beide Strafmilderungen unterschiedlich.33 Daher ist es theoretisch auch möglich, dass ihm die Strafmilderungsmechanismen doppelt zugutekommen.
30
Vgl. zu weiteren Rechtssystemen Stephen C. Thaman (ed.), World Plea Bargaining: Consensual Procedures and the Avoidance of the Full Criminal Trial, 2010. Vgl. auch Thomas Weigend, Absprachen in ausländischen Strafverfahren – Eine rechtsvergleichende Untersuchung zu konsensualen Elementen im Strafprozeß, 1990. 31 Fed. Crim. P. 11 (c) (1). In den Einzelstaaten nimmt dagegen der Richter teilweise am Plea Bargaining teil (z. B. in New York). 32 United States Sentencing Commission, 2018 Guidelines Manual Annotated, Chapter Five, Part K, § 5 K 1.1. 33 Commentary to § 5 K 1.1 (Fn. 32).
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b) Im japanischen Recht gibt es kein Plea Bargaining System. Eine Ähnlichkeit der Systeme besteht darin, dass in beiden dem Angeklagten bestimmte Vorteile für seine Mitwirkung angeboten werden können. Es bestehen allerdings auch zwei wesentliche Unterschiede. Zunächst können im japanischen System nur zwei Kriminalitätstypen Gegenstand von Absprachen sein, nämlich die Finanz- und Wirtschaftskriminalität sowie die Drogen- und Waffenkriminalität. Im amerikanischen System gibt es dagegen keine solche Begrenzung. Der Grund für diesen Unterschied könnte darin liegen, dass das japanische System den Absprachen großen Erfolg beimisst – anders als die amerikanischen Strafzumessungsrichtlinien sentencing guidelines. Der zweite grundlegende Unterschied besteht darin, dass das amerikanische System für die Mitwirkung an der Untersuchung nur Vorteile im Rahmen der Strafzumessung gewährt, während im japanischen System auch ganz von der Klage abgesehen oder sie nur noch auf einzelne Klagepunkte gestützt werden kann, ähnlich wie beim Plea Bargaining System. Warum das japanische System den Absprachen über die Mitwirkung so freimütig seinen „Segen“ gibt, ist ein noch zu klärendes wichtiges Problem. 2. Vergleich mit dem deutschen Recht a) Auch in Deutschland gibt es zwei Rechtsformen, die mit dem japanischen Recht verglichen werden können. Im Jahr 2009 wurde zunächst das „Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren“ eingeführt.34 Danach sind a) an der Verständigung Richter, Beschuldigte und Staatsanwalt beteiligt, und b) betrifft ihr Gegenstand nicht nur die Rechtsfolgen, sondern auch „sonstige verfahrensbezogene Maßnahmen im zugrundeliegenden Erkenntnisverfahren sowie das Prozessverhalten der Verfahrensbeteiligten“ (§ 257c Abs. 2 StPO). Hierunter fallen viele verfahrensrechtliche Maßnahmen wie z. B. die Verfahrenseinstellung nach §§ 153 f. StPO, die Verfolgungsbeschränkung gemäß § 154a Abs. 2 StPO oder der Verzicht auf das Stellen von Beweisanträgen usw.,35 und c) gibt es bei der Verständigung keine Begrenzung auf bestimmte Kriminalitätstypen. Darüber hinaus gibt es eine Kronzeugenregelung.36 Damit kann das Gericht die Strafe mildern oder von der Strafe absehen, wenn der Täter, der eine bestimmte Straftat begangen hat, durch freiwillige Offenbarung seines Wissens die Tat eines Dritten, die mit seiner Tat im Zusammenhang steht, aufdeckt oder noch verhindern kann.37 34 Mit dem Gesetz v. 29. 07. 2009, BGBl I, S. 2353 wurde das Absprachesystem in die StPO eingeführt (§ 257c StPO usw.). 35 Vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung mit GVG und Nebengesetzen, 61. Aufl., 2018, S. 1214 ff. 36 Vgl. § 46b StGB (Hilfe zur Aufklärung oder Verhinderung von schweren Straftaten). 37 Durch § 46b StGB wurde die Anwendung von § 153b StPO (Absehen von der Verfolgung bei möglichen Absehen von Strafe) förmlich möglich. Vgl. Kazushige Doi, Über die straftheoretische Begründung des Absprachesystems für die Untersuchungs- und Hauptverhandlungsmitwirkung in Japan – unter der Berücksichtigung des deutschen Kronzeugensystems –, Horitsu-Ronsou Vol. 91, Nr. 1, 2018, S. 210.
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Das System wurde 2009 in das Strafrecht eingeführt und erfuhr 2013 eine Reform, die vor dem Hintergrund des Schuldprinzips die Ergänzung um die Bedingung des Vorliegens eines solchen Zusammenhangs vorsah. b) Ein Vergleich der beiden Rechtssysteme zeigt Gemeinsamkeiten, aber auch viele Unterschiede. Einerseits enthalten beide Rechtssysteme den Grundsatz der materiellen Wahrheit, nach dem das Gericht trotz der Absprache das Taterkennungsverfahren aufgrund der Beweise nicht aussparen kann. Andererseits gibt es eben auch viele Unterschiede. So z. B. bei der Vernehmung des inhaftierten Beschuldigten, die eine der wichtigsten Ursachen für die Reform der Strafprozessordnung in Japan war: Anders als in Deutschland kann der Verteidiger in Japan bei der Vernehmung nicht anwesend sein. Zweitens werden Absprachen in Japan nur zwischen den Parteien vorgenommen, während in Deutschland auch der Richter daran beteiligt ist. Drittens können, anders als in Deutschland, wo es diesbezüglich keine Begrenzung gibt, in Japan nur zwei Kriminalitätstypen Gegenstand der Absprache sein. Viertens handelt es sich, obwohl der Erfolg der Absprache in Japan ähnlich wie in Deutschland sehr weitreichend ist, bei japanischen Absprachen immer um die Mitwirkung bei der Strafsache eines Dritten. Im deutschen System betrifft sie immer nur die Strafsache des Beschuldigten selbst, weshalb es sich dort anders als im japanischen Recht um ein Geständnis handeln muss. Und schließlich, obwohl die Aussage des Kronzeugen im deutschen Recht die Strafsache eines Dritten ähnlich wie im japanischen Absprachesystem betrifft, ist sein Erfolg doch nur auf die Straffrage begrenzt. Anders im japanischen Absprachesystem, wo der Erfolg der Absprache auch Auswirkungen auf viele andere Maßnahmen des Staatsanwalts haben kann. 3. Zwei Aufgaben im japanischen Absprachesystem Aus dieser rechtsvergleichenden Betrachtung ist klargeworden, dass das japanische Absprachesystem folgende drei Besonderheiten aufweist: Erstens sind die Fälle von Kriminalität, bei denen es in Japan zu einer Absprache kommen kann, anders als im amerikanischen und deutschen System nur auf zwei Arten begrenzt. Auch wenn dies in gewissen Punkten auch auf den Kronzeugen in Deutschland zutrifft, ist die Regelung dennoch weiter als im japanischen Absprachesystem. Zweitens muss das Gericht in Japan unabhängig von der Absicht der Parteien die Tatsachen des Falls untersuchen. Trotz der grundsätzlichen Ähnlichkeit in der Durchführung der Absprache zwischen den Parteien wird im amerikanischen System das Erkenntnisverfahren ausgespart, wenn die Absprache (plea bargaining) anerkannt worden ist. Und drittens, obwohl das japanische System den amerikanischen Strafzumessungsrichtlinien (sentencing guidelines) und dem deutschen Kronzeugensystem in dem Sinne ähnelt, dass es sich um die Mitwirkung des Beschuldigten an der Untersuchung oder Verfolgung von Straftaten Dritter handelt, gibt es doch einen großen Unterschied zwischen diesen beiden Ländern und Japan, weil das japanische Recht den Absprachen einen die Straffrage überschreitenden, weitreichenden Erfolg beimisst.
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Da die Konstellation des japanischen Rechts einzigartig ist, müssen wir hier spezielle Überlegungen anstellen sowohl in Bezug auf den rechtlichen Grund der Absprachen als auch auf eventuelle verfahrensrechtliche Probleme. Erstens gilt es den rechtstheoretischen und den rechtspolitischen Grund der Absprachen zu beleuchten. Obwohl der Gesetzgeber den gesetzlichen Grund für die Absprachen im Opportunitätsprinzip sieht, stellt sich hier die theoretische Frage, ob der Staatsanwalt die Mitwirkung an der Untersuchung von Straftaten Dritter zu seinem Verfolgungsermessen rechnen darf. Bezüglich des rechtspolitischen Grunds ist zu klären, ob das Absprachesystem mit der Grundstruktur des japanischen Strafprozessrechts, die aus zwei Grundprinzipien, und zwar dem Parteiprinzip (adversary system) und der Instruktionsmaxime (inquisitorial system) besteht, harmonieren kann (siehe unten IV.). Zweitens ergeben sich auch verfahrensrechtliche Fragen, da im japanischen System die Absprache zwischen den Parteien erfolgt. Zunächst geht es um das Gleichgewicht zwischen Staatsanwalt und Verteidiger. Hierunter fällt insbesondere die Informationsgleichheit. Und zweitens müssen wir die Befugnis des Gerichts zur Prüfung der Rechtmäßigkeit und Legitimität der Absprachen, die nur unter den Parteien wirksam bestehen kann, beleuchten. Zum Schluss stellt sich auch die praktische Frage, ob der Richter die Materialien für die Prüfung in ausreichendem Umfang einsehen kann (siehe unten V.).
IV. Theoretische Aspekte der japanischen Absprachen 1. Die Problematik des Mitwirkungsmodells bei Absprachen Im japanischen System ist eine Absprache nur nach dem Mitwirkungsmodell möglich, bei dem der Staatsanwalt dem Beschuldigten für seine Mitwirkung bei der Untersuchung der Strafsache eines Dritten bestimmte Vorteile gewährt. Das Selbstbelastungsmodell, nach dem der Beschuldigte die Schuld auf sich nimmt, wurde dagegen nicht aufgenommen. Bei rechtsvergleichender Betrachtung ist es insoweit schwer nachvollziehbar, warum der Staatsanwalt nach seinem Ermessen dem Beschuldigten für seine Mitwirkung sehr weitreichende Vorteile gewähren kann. Dies allein mit dem Opportunitätsprinzip begründen zu wollen, erscheint fragwürdig. Für das weitreichende Verfolgungsermessen des Staatsanwalts muss es daher noch einen anderen theoretischen Grund geben. Und weiterhin stellt sich die Frage der Harmonisierung mit den strafprozessualen Prinzipien in der japanischen Strafprozessordnung, da sonst aufgrund des Mangels der systematischen Grundlage das neue Absprachesystem ein heterogenes Wesen im japanischen Rechtssystem darstellen würde. Für das Problem des weitreichenden Ermessens des Staatsanwalts kann erstens das Erfordernis des „Zusammenhangs“ in der Vorschrift der Absprachen einen sehr wichtigen Hinweis geben. Und zweitens müssen wir die Harmonisierung mit
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der gemischten Struktur von Parteienprinzip und Instruktionsmaxime im japanischen Strafprozessrecht heranziehen. 2. Der Begriff des Zusammenhangs (a) Der neue § 350-2 Abs. 1 JStPO regelt, dass der Staatsanwalt den „Grad des Zusammenhangs zwischen den betreffenden Straftaten“ zu berücksichtigen hat.38 Voraussetzung dafür ist, dass die Straftaten des Beschuldigten und des Drittens jeweils Finanz- bzw. Wirtschaftskriminalität oder Drogen- bzw. Waffenkriminalität zum Gegenstand haben. Denkbar ist also z. B. die Situation, dass der Vorsitzende und ein Vorstandsmitglied eines Unternehmens beide eine Straftat begehen, die aus dem Bereich der Unternehmenskriminalität stammt. Wenn das Vorstandsmitglied nun aufgrund einer Absprache mit dem Staatsanwalt nicht angeklagt wird, sondern nur der Vorsitzende, ist es klar, dass es einen bestimmten Zusammenhang zwischen der Straftat des Vorsitzenden und der des Vorstandsmitglieds gibt. Was beachtenswert ist, ist die Tatsache, dass die Voraussetzung des Zusammenhangs als eine Modifikation des Regierungsentwurfs im Parlament hinzugefügt worden ist. Der Grund dafür lag darin, dass der Grad des Zusammenhangs zwischen den betreffenden Straftaten sich auf die Glaubwürdigkeit der Beweise auswirkt.39 Der Gesetzgeber geht in seiner Begründung jedoch nicht weiter darauf ein, warum die Glaubwürdigkeit erhöht wird, wenn es einen Zusammenhang gibt. Der Grund dafür läge darin, dass die Aussage des Beschuldigten über die Straftat des Dritten glaubwürdiger erscheint, wenn seine Aussage auch die Aussage über seine eigene Straftat, die mit der Straftat des Dritten in Zusammenhang steht, enthält. Mit anderen Worten unterstützt die Bedingung, dass es einen Zusammenhang geben muss, die Aussage zur Straftat des Beschuldigten selbst. Die Straftaten, die Gegenstand der Absprache sind, sind fast alle solche der organisierten Kriminalität. Da die Aufklärung der Organisationsstruktur immer schwierig ist, ist die Aussage des Teilnehmers sehr nützlich für die Klärung des Verbrechens. Daher soll der Zusammenhang hauptsächlich als der des Teilnehmers verstanden werden. Infolgedessen ist ein einfacher verfahrensrechtlicher Zusammenhang nicht ausreichend. An der Bedingung fehlt es somit, wenn der Zusammenhang beispielsweise lediglich darin besteht, dass der Beschuldigte mit dem Dritten im gleichen Zimmer der Haftanstalt un38 Die Bedingung des Zusammenhangs ist, genauer gesagt, nur ein zu berücksichtigendes Element seitens des Staatsanwalts und damit nicht Bestandteil der Absprache, vgl. Kikkawa et al. (Fn. 13), LAJ S. 93. Daher könne die Absprache theoretisch ohne Zusammenhang bestehen. Doch wäre dies sehr selten, weil der Staatsanwalt dann kaum Anhaltspunkte für eine Verständigung hat. Daher soll der „Zusammenhang“ durch die Auslegung der Vorschrift ein wesentlicher Bestandteil der Absprachen sein. Natürlich wäre es wünschenswert, dies auch mit einer Gesetzesreform klarzustellen. 39 Vgl. Kikkawa et al. (Fn. 13), LAJ S. 93.
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tergebracht war und dort von der Straftat gehört und dann dazu ausgesagt hat.40 Eine solche Aussage des Beschuldigten hat keine Glaubwürdigkeit bezüglich der Straftat des Dritten. Also soll der Begriff des Zusammenhangs auf den materiellen Zusammenhang begrenzt werden.41 Daraus kann man zwei wichtige Folgerungen ziehen: Erstens, der Staatsanwalt darf die Mitwirkung des Beschuldigten an der Untersuchung der Straftat eines Dritten in sein Strafverfolgungsermessen einrechnen, wenn die Aussage des Beschuldigten zur Straftat des Dritten auch die Aussage über seine eigene Straftat enthält. Wenn er die Mitwirkung des Beschuldigten trotz des Fehlens eines Zusammenhangs zwischen beiden Straftaten in sein Verfolgungsermessen eingerechnet hat, ist es sehr zweifelhaft, ob seine Ermessensausführung nach dem Opportunitätsprinzip gerechtfertigt werden kann. Weiter, wenn das Gericht diese Mitwirkung zugunsten des Beschuldigten gewertet hat, könnte es auch zweifelhaft sein, dass man die Frage bejaht, ob es mit dem Schuldprinzip harmonieren kann.42 Mit anderen Worten war die Hinzufügung der Bedingung des Vorliegens eines Zusammenhangs nicht nur aus der praktischen Bedeutung für die Glaubwürdigkeit, sondern auch für die Harmonisierung mit den strafprozessrechtlichen und strafrechtlichen Prinzipien notwendig. (b) Wenn die Aussage des Beschuldigten zur Straftat eines Dritten auch eine Aussage zur eigenen Straftat enthält, muss weiter geprüft werden, ob das Absprachesystem mit der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes über die Unzulässigkeit des Geständnisses aufgrund des Versprechens in Übereinstimmung steht. Nach dieser Entscheidung ist ein Geständnis unzulässig, wenn der Verdacht besteht, dass der Beschuldigte unfreiwillig gestanden hat, etwa wenn der Staatsanwalt verspricht, von der Klage abzusehen, sofern der Geschuldigte gesteht.43 Obwohl die Entscheidung den weiteren theoretischen Grund für den Verdacht einer Unfreiwilligkeit nicht näher dargetan hat, legt die herrschende Meinung dies so aus, dass es grundsätzlich eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine falsche Aussage gibt. Die hier zu prüfende Frage ist daher, ob es eine typische hohe Möglichkeit für eine Falschaussage auch bei der Aussage des Beschuldigten im Abspracheverfahren gibt. Wie schon erwähnt (oben II.1.), gibt es bei den Absprachen viele andere Bedingungen als für das Geständnis bei der Vernehmung im normalen Untersuchungsverfahren. Erstens, bei der Erörterung der Absprachen muss unbedingt der Verteidiger anwesend sein, anders als in der Vernehmung. Zweitens, obwohl der Verteidiger an der Vernehmung des Beschuldigten zur Straftat des Beschuldigten selbst nach § 198 40
Vgl. Kikkawa et al. (Fn. 13), LAJ S. 108, Anm. 1. Vgl. Toshihiro Kawaide, Strafmilderungs- und Strafentlastungswesen durch die Mitwirkung an der Untersuchung und der Hauptverhandlung, in: Norio Takahashi et al. (Hrsg.), Festschrift zum 70. Geburtstag von Prof. Takehiko Sone und Prof. Morikazu Taguchi, Band 2, 2014, S. 431 f.; vgl. auch ders., Erörterung und Absprachen sowie Schutz vor Strafverfolgung, Ronkyu-jurist, Nr. 12, 2015, S. 68. 42 Vgl. Kimihiro Ikeda, Bargaining Justice, in: Masahito Inouye et. al. (Hrsg.), Streitpunkte des Strafprozessrechts, 2013, S. 36. 43 Urteil des OGH v. 1. Juli 1966, Keishu (Entscheidungssammlung) Vol. 20, Nr. 6, S. 537. 41
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Abs. 1 JStPO und an der Vernehmung des Beschuldigten zur Straftat eines Dritten nach § 223 Abs. 1 JStPO nicht teilnehmen darf, kann man die Freiwilligkeit der Aussage des Beschuldigten vermuten, weil diese Vernehmung im Zusammenhang mit der Absprache mit dem Beschuldigten selbst und zwar mit der Zustimmung des Verteidigers durchgeführt wird. Und drittens kann die Glaubwürdigkeit der Aussage des Beschuldigten als Zeuge in der Hauptverhandlung des Dritten im Kreuzverhör bewertet werden, anders als beim Geständnis des Beschuldigten in der Hauptverhandlung des Beschuldigten selbst, wo er wegen seines Schweigerechts als Angeklagter geschützt ist. Aus diesen Gründen gibt es viele Unterschiede zwischen dem Geständnis ohne Absprache und der Aussage mit Absprache. Daher gerät die Anerkennung der Freiwilligkeit einer Aussage bei Absprachen mit der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes zum Geständnis aufgrund eines Versprechens nicht in Widerspruch. 3. Notwendigkeit der Gesetzgebung für das Absprachewesen nach dem Selbstbelastungsmodell Wenn das Absprachesystem nach dem Mitwirkungsmodell auch die Aussage des Beschuldigten über die eigene Straftat fordert, könnte sie sowohl tatsächlich als auch theoretisch nur nach dem Selbstbelastungsmodell erfolgreich durchgeführt werden. Doch der Gesetzgeber hat nur das Absprachesystem nach dem Mitwirkungsmodell eingeführt. In der Diskussion beim Justizbeirat im Justizministerium wurde die Ansicht vertreten, dass das Absprachesystem nach dem Selbstbelastungsmodell für die Erklärung der Strafsache in der Untersuchung oder für die angemessene Bestrafung der Täter nicht unbedingt nützlich sei.44 Aber aus der Gesetzesbegründung geht hervor, dass der Gesetzgeber das Selbstbelastungsmodell nicht aus diesem passiven Grund offengelassen hat. Nach der Erklärung über den Regierungsentwurf im Parlament45 hat der Gesetzgeber das Absprachesystem nach dem Mitwirkungsmodell vielmehr aus folgenden Gründen eingeführt: Zum einen sei es angemessen, zuerst nur das Mitwirkungsmodell einzuführen, weil das Absprachesystem für Japan insgesamt noch neu sei. Und zum anderen müsse der Einfluss der Absprachen nach dem Belastungsmodell auf die japanische Strafjustiz zunächst geprüft werden. Daraus kann man entnehmen, dass das Absprachesystem nach dem Selbstbelastungsmodell eine zukünftige Option für den Gesetzgeber sein kann und keineswegs ausgeschlossen sein muss. Es ist somit notwendig, sich jetzt schon mit der Gesetzgebung für Absprachen nach dem Selbstbelastungsmodell zu beschäftigen.46
44
Vgl. Kikkawa et al. (Fn. 13), LAJ S. 83. Vgl. Makoto Hayashi (Leiter der Abteilung für Strafsachen im Justizministerium), Erklärung des Entwurfs, in: Kikkawa et al. (Fn. 13), LAJ S. 83. 46 Vgl. dazu die Aufsätze aus der Rechtsanwaltschaft über Absprachen nach dem Selbstbelastungsmodell insbesondere bei Unternehmenskriminalität, z. B. Hiroshi Kimeda/Kaku Hirao, Einfluss auf die Unternehmenstätigkeit von der Bargaining Justice nach dem japanischen Modell, Shoji-Homu (Handelsrechtsgeschäft) Nr. 2052, 2014, S. 26 f.; Kaku Hirao, Die 45
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4. Das Parteiprinzip als Grundlage des Absprachesystems Um über die Möglichkeit der Harmonisierung des Absprachesystems mit der japanischen Strafprozessrechtsstruktur diskutieren zu können, muss zunächst das Verhältnis zwischen dem Parteiprinzip (adversary system) und der Instruktionsmaxime (inquisitorial system) in der japanischen Strafprozesswissenschaft geklärt werden. Nach der herrschenden Meinung und der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes ist das Parteiprinzip für das japanische Strafprozessrecht fundamental. Ergänzend dazu wurde die Instruktionsmaxime aufgenommen. Wichtig ist allerdings, dass die beiden Prinzipien nicht mit denen im anglo-amerikanischen oder im kontinental-europäischen Recht gleichgesetzt werden können. Sie wurden im weiten Sinne „japanisiert“.47 (a) Die Japanisierung des westlichen Rechts kann man unverkennbar an der Prozessgegenstandstheorie in Japan erkennen.48 Das japanische Recht hat das sogenannte Anklagepunktsystem („count“ auf Englisch) aufgenommen.49 Gegenstand der Gerichtsverhandlung und des Rechtsspruchs sind nicht die Tatsachen an sich, sondern die Anklagepunkte, die der Staatsanwalt in der Anklageschrift aufgeführt hat und deren Ergänzung, Zurücknahme oder Änderung er später vor Gericht beantragen kann.50 Dies bedeutet die Japanisierung des Begriffs des Prozessgegenstands im anglo-amerikanischen Recht, wo es in der Regel kein Anklageveränderungssystem gibt, oder im kontinental-europäischen Recht, wo es kein Anklagepunktsystem gibt. Und dieses Verständnis zeigten auch die Entscheidungen des japanischen Obersten Gerichtshofes. Nach dem Gesetz kann das Gericht die Erweiterung oder Änderung der Anklagepunkte anordnen.51 Doch es hat entschieden, dass diese Anordnung keine Bargaining Justice nach dem japanischen Modell und die Entsprechung dazu, 2016, S. 86 f. usw. 47 Der Begriff „Japanisierung“ ist heute noch sehr wichtig, weil mit dem Begriff eine Herausforderung für die Integration von Parteiprinzip und Instruktionsmaxime verbunden ist, vgl. Ryuichi Hirano, Die Japanisierung des westlichen Rechts: Strafrecht und Strafprozessrecht, in: Helmut Coing et al. (Hrsg.), Die Japanisierung des westlichen Rechts – Japanischdeutsches Symposion in Tübingen vom 26. bis 28. Juli 1988, 1990, S. 387 ff.; Joachim Herrmann, Die Japanisierung des westlichen Rechts: Strafrecht und Strafprozessrecht, op. cit., S. 397 ff. 48 Vgl. Morikazu Taguchi, Der Prozessgegenstand im japanischen Strafprozessrecht, ZIS 2/ 2008, 70 f. 49 § 256 Abs. 3 JStPO: Die Tatsachen, die die zur Last gelegte Straftat begründen, sind in genau beschriebenen Anklagepunkten anzuführen. Diese Anklagepunkte müssen die Tatsachen, die die strafbare Handlung bilden, möglichst nach Zeit, Ort und Tathergang genau bezeichnen. 50 § 312 Abs. 1 JStPO (Klageänderung): Das Gericht hat dem Staatsanwalt auf Antrag zu gestatten, einzelne Anklagepunkte oder die anzuwendenden Gesetzesvorschriften in der Anklageschrift zu ergänzen, zurückzunehmen oder zu ändern, soweit dadurch die Identität der Tatsache nicht betroffen wird, die die zur Last gelegte Straftat begründen. 51 § 312 Abs. 2 JStPO: Das Gericht kann, wenn es dies für den Fortgang des Verfahrens für zweckmäßig hält, die Erweiterung oder Änderung einzelner Anklagepunkte oder der anzuwendenden Gesetzesvorschriften anordnen.
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Gestaltungskraft für die Erweiterung oder Änderung der Anklagepunkte hat.52 Mit anderen Worten ist das Gericht an die Anklagepunkte, die der Staatsanwalt aufgeführt hat, streng gebunden und kann nicht über Straftaten entscheiden, die in der Anklageschrift nicht enthalten sind. Durch diese Auslegung des Gesetzes hat die Entscheidung dem Staatsanwalt in gewissem Maße eine Dispositionsbefugnis über den Prozessgegenstand erteilt. Andererseits muss das Gericht gleichzeitig die Tatfeststellung nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung53 innerhalb der Anklagepunkte fällen. Es kann also das Erkenntnisverfahren auch beim Schuldbekenntnis des Angeklagten nicht übergehen. Da es innerhalb der Anklagepunkte die materielle Wahrheit finden muss, ist der Grundsatz der materiellen Wahrheit hier zu einem Grundsatz geworden, der nur in begrenztem Umfang gültig ist. Darin kann man auch eine Japanisierung des europäischen Rechtsbegriffs sehen. Weiterhin ermöglicht das japanische Recht auch dem Beschuldigten in bestimmten Fällen eine verfahrensrechtliche Disposition. So darf der Beschuldigte grundsätzlich seine Meinung bzw. Zustimmung äußern. Dies erstreckt sich von einem „kein Einwand“ beim Strafbefehlsverfahren (§ 461-2 JStPO), einer „Zustimmung“ für das sofortige Entscheidungsverfahren (§ 350-16 Abs. 2 JStPO) oder auch einer „Zustimmung“ für die Zulässigkeit der Beweise (§ 326 Abs. 1 JStPO). Diese Mitwirkung kann durchaus von rechtlicher Relevanz sein. (b) Das Absprachesystem soll theoretisch auf dem japanischen Parteiprinzip und auch der japanischen Instruktionsmaxime aufgebaut sein. Das entscheidende Element der Verschiebung von der traditionellen Beweissammlung durch die Vernehmung zur neuen Art des Erwerbs von Aussagen durch Absprachen liegt darin, die eigene Entscheidung des Beschuldigten zu beachten. Man kann das Element auch im staatsanwaltlichen Ermessen bei den Absprachen finden, weil die Absicht des Beschuldigten im Wortlaut „Verhältnisse nach der Straftat“ des Opportunitätsprinzips (§ 248 JStPO) hineingelesen wird.
V. Verfahrensrechtliche Aufgaben von Absprachen 1. Probleme in der Praxis Zunächst soll es um die Garantie der Waffengleichheit bei der Durchführung des Abspracheverfahrens gehen. Besonders wenn der Staatsanwalt, der Beschuldigte und der Verteidiger darüber entscheiden möchten, ob sie sich mit der anderen Partei verständigen, müssen sie im Vorfeld natürlich die gleichen Informationen haben. Hier 52
Urteil des OGH v. 28. April 1965, Keishu (Entscheidungssammlung) Vol. 19, Nr. 3, S. 270. 53 § 318 JStPO (Grundsatz der freien Beweiswürdigung): Über den Wert der Beweise entscheiden die Richter in freier Beweiswürdigung.
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stellt sich die wichtige Frage, ob der Staatsanwalt dem Verteidiger dafür die vorhandenen Beweise im Untersuchungsstadium bekannt geben kann oder muss, und ob er eine zwangsweise Beschlagnahme der Beweise der Verteidigung vornehmen darf. Zweitens wird die Rechtmäßigkeit und Legitimität der Absprachen nachfolgend vom Gericht, das am Abspracheverfahren nicht teilgenommen hat, geprüft. Hier ist zu klären, aufgrund welcher Befugnis das Gericht dies prüfen kann. Darüber hinaus stellt sich die wichtige praktische Frage, welches Material dem Gericht zur Verfügung steht, um die Absprache ordnungsgemäß überprüfen zu können. 2. Gleichheit der Parteien Der Verteidiger nimmt an der Erörterung teil und entscheidet über die Zustimmung zu den Absprachen des Beschuldigten. Er kann die nötigen Informationen natürlich von seinem Klienten – dem Beschuldigten – bekommen. Aber die vorhandenen Beweise beim Staatsanwalt sind natürlich ebenso wichtig für den Verteidiger, der darüber entscheiden muss, ob sich der Beschuldigte mit dem Staatsanwalt verständigen sollte. Die JStPO erlaubt in der Regel nicht die Bekanntgabe der Beweise durch den Staatsanwalt im Untersuchungsstadium.54 Grundsätzlich aber wäre es nicht verboten, dass der Staatsanwalt dem Verteidiger tatsächlich die Beweissituation erklärt.55 Dies ist eine notwendige Auslegung für die Durchführung des Absprachesystems. Natürlich wäre es besser, wenn eine entsprechende Informationsbefugnis für den Staatsanwalt bei den Absprachen gesetzlich geregelt worden wäre. Andererseits wird der Staatsanwalt über die Absprache unter Berücksichtigung aller Beweise entscheiden, die er in der Untersuchung bereits gesammelt hat. Dabei ist noch zu klären, ob er die Dokumente der Besprechung über die Absprache zwischen dem Beschuldigten und dem Verteidiger beschlagnahmen darf, um diese Informationen zu verwerten. Obwohl der Staatsanwalt die Dokumente, die der Verteidiger in Gewahrsam hat und die sich auf die Privatsphäre des Beschuldigten beziehen, ohne Zustimmung des Verteidigers nicht beschlagnahmen darf (§ 105 JStPO), gibt es keine Vorschriften dazu, ob der Staatsanwalt die Dokumente, die der Verteidiger dem Beschuldigten gibt und die der Beschuldigte in Gewahrsam hat, beschlagnahmen darf. Zu dieser Frage gibt es eine wichtige Entscheidung des Oberlandesgerichts Osaka, die die Beschlagnahme durch den Staatsanwalt für rechtswidrig erklärt hat.56 Das Gericht hat dies in seiner Urteilsbegründung damit erklärt, dass der Verteidigungsinhalt grundsätzlich dem Untersuchungsorgan vorbehal54 Vgl. § 47 Satz 1 JStPO (Bekanntmachungsverbot für Prozessakten): Schriftstücke dürfen vor Beginn der Hauptverhandlung nicht öffentlich bekannt gemacht werden. Nach der geltenden JStPO ist die Offenbarung eines Beweismittels unter den Parteien erst nach der Erhebung der Anklage möglich (z. B. §§ 316-14, 316-15, 316-18, 316-20 JStPO usw.). 55 Das Gesetz erlaubt jedoch ausnahmsweise die Veröffentlichung der Prozessakten, vgl. § 47 Satz 2 JStPO: Dies gilt jedoch nicht, wenn die Schriftstücke wegen öffentlichen Interesses oder aus anderen Gründen zur Veröffentlichung geeignet erscheinen. 56 Urteil des Osaka Oberlandesgerichts v. 22. April 2016, Hanrei-Jiho Nr. 2315, S. 61.
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ten bleiben solle. Es sei daher rechtswidrig gewesen, dass der Staatsanwalt mit einer schriftlichen Anordnung die Zelle der Haftanstalt, in der der Beschuldigte einsaß, durchsucht und die Dokumente, die der Verteidiger ihm gegeben hatte, beschlagnahmt hat. Man kann insoweit sagen, dass in bestimmten Bereichen eine Art „Anwalts- und Beratungsgeheimnis“ (bzw. ein attorney client privilege) anerkannt wurde.57 Für das Attorney Client Privilege in Strafsachen hat die Reform des Antimonopolgesetzes in Japan einen wichtigen Hinweis gegeben. Da das alte System für die Milderung und das Absehen von einem Bußgeld (leniency system) im Antimonopolgesetz ein vom Gesetz bestimmtes starres Bußgeldbetragsystem war, konnte die Japan Fair Trade Commission (JFTC) die Höhe des Bußgelds nur schwer kalkulieren, weil sie das Ob und Wie der Mitwirkung eines Unternehmens bei der Aufklärung von Unternehmenskriminalität nicht einzuschätzen vermochte. Wenn ein Unternehmen eine sehr wertvolle Mitwirkung geleistet hatte, konnte die Kommission das Bußgeld nicht niedriger als den im Gesetz bestimmten Betrag festlegen. Daher wurde das neue Ermessenssystem (discretionary surcharge system) eingeführt, wonach die Kommission das Bußgeld umso mehr mildern kann, je stärker das Unternehmen mitgewirkt hat.58 Da unter diesem neuen Bußgeldsystem die Rolle des Verteidigers noch wichtiger werden wird, wurden zugleich mit dieser Reform auch die Regeln und Anordnungen dafür dekretiert, dass die JFTC auf die Dokumente, die den Inhalt der geheimen Beratung des Unternehmens mit seinem Verteidiger enthält, unter bestimmten Bedingungen nicht zugreifen darf. Auch wenn das System nur in der verwaltungsrechtlichen Untersuchung Anwendung findet, ist aber gleichwohl zu überlegen, welchen Einfluss dies auf die ähnliche Situation im Strafverfahren besonders im Abspracheverfahren haben kann. Da die inländischen Rechtsvorgaben miteinander harmonieren müssen, ist das Garantiesystem für das Attorney Client Privilege im Strafverfahren im Folgenden noch näher zu untersuchen. 3. Befugnis des Gerichts zur Prüfung von Absprachen a) Umfang der Instruktionsmaxime Die Instruktionsmaxime im japanischen Strafprozessrecht ist, wie schon erwähnt, nicht nur im Bereich des Prozessgegenstands, sondern auch in den möglichen Verfolgungslinien59 in der Hauptverhandlung begrenzt. Die JStPO enthält das sogenann57
Vgl. Taguchi (Fn. 3), S. 253, 263. Der Reformentwurf des Antimonopolgesetzes wurde im Parlament am 19. Juni 2019 verabschiedet, https://www.jftc.go.jp/dk/kaisei/rlkaisei/index.html. 59 Der Begriff kommt eigentlich aus der Lehre von Wilhelm Sauer, der die Hauptverhandlung als aus den drei Linien von Sachgestaltungslinie, Verfolgungslinie und Verfahrenslinie bestehend gesehen hat, vgl. Wilhelm Sauer, Grundlagen des Prozessrechts, 2. Aufl., 1926, 58
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te „Prinzip der Anklageschrift allein“, wonach der Staatsanwalt dem Gericht die Beweise nicht gleichzeitig mit der Anklageschrift schicken darf.60 Die Beweise sollen in der Regel von den Parteien erst in der Hauptverhandlung beigebracht werden.61 Daher liegt die Verfolgungspflicht in der Hauptverhandlung zuerst bei den Parteien. Das ist das „Prinzip der Parteiverfolgung“. Es gibt aber auch eine Vorschrift für die Beweiserhebung von Amts wegen.62 Doch nach der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes ist ein Gericht dazu nicht verpflichtet.63 Infolgedessen ist die Instruktionsmaxime nicht nur auf den Prozessgegenstand, sondern auch auf die Verfolgungslinie so begrenzt geworden, dass das Gericht hauptsächlich die Prozesshandlungen der Parteien bewertet und wenn nötig ihr Beistand leistet.64 Auch die Rolle des Gerichts beim Abspracheverfahren entspricht der oben bereits geschilderten Thematik zur Instruktionsmaxime im japanischen Strafprozessrecht. Obwohl das Gericht an dem Abspracheverfahren nicht teilnimmt und daher nicht an den Inhalt der Absprachen gebunden ist, hat es doch die Befugnis und Pflicht zu prüfen, ob das Abspracheverfahren zwischen den Parteien gesetzeskonform und gerecht verläuft.65 So kann das Gericht z. B. die Anklage abweisen, wenn der Staatsanwalt den Beschuldigten entgegen der Absprache angeklagt hat. b) Material der gerichtlichen Überprüfung Wie oben erwähnt (II.2.e)), ist die Pflicht des Staatsanwalts, die Zulassung des Absprachedokuments zu beantragen, gesetzlich angeordnet. Diese Antragspflicht wurde nicht nur in der Hauptverhandlung für die Straftat des Beschuldigten selbst (§ 350-8 JStPO), sondern auch in der Hauptverhandlung für die Straftat eines Dritten (§ 350-9 JStPO) geregelt. Die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit dem AbS. 111. Ryuichi Hirano hat zutreffend diesen Begriff als einen nützlichen für den japanischen Parteiprozess wiederentdeckt, vgl. Ryuichi Hirano, Strafprozessrecht, 1958, S. 29. 60 § 256 Abs. 6 JStPO: Der Anklageschrift dürfen weder Schriftstücke noch andere Gegenstände beigefügt werden; ebenfalls darf der Inhalt von Schriftstücken nicht zitiert werden, wenn zu befürchten ist, dass das Gericht dadurch im Voraus in Bezug auf den Fall beeinflusst wird. 61 § 298 Abs. 1 JStPO (Beweisanträge): Der Staatsanwalt, der Angeklagte oder sein Verteidiger können Beweisanträge stellen. 62 § 298 Abs. 2 JStPO: Das Gericht kann, wenn es ihm notwendig erscheint, von Amts wegen Beweise erheben. 63 Urteil des OGH v. 13. Februar 1958, Keishu (Entscheidungssammlung) Vol. 12. Nr. 2, S. 218. 64 Vgl. Morikazu Taguchi, Justizsystem für die Aufklärung der Streitpunkte und der Instruktionsmaxime, in: Masahito Inouye et al. (Hrsg.), Festschrift zum 70. Geburtstag von Prof. Makoto Mitsui, 2012, S. 475 ff. 65 Diese Funktion des Gerichts ähnelt der des Parteiprinzips in USA. Der Richter muss nicht nur die Freiwilligkeit des Schuldanerkenntnisses, sondern auch den sachlichen Grund (factual basis) dafür vor dem Anerkenntnisverfahren bestätigen (Fed. Crim. P., 11 (b) (3). Damit regelt der Richter nicht unmittelbar den Inhalt des Schuldanerkenntnisses, sondern nur das Verfahren.
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sprachedokument in der Hauptverhandlung beruht nicht nur auf der Bestätigung der Gesetzmäßigkeit und Legitimität der Absprache, sondern auch auf der Notwendigkeit der Planung der Gerichtsverhandlung selbst. Das Gericht muss die Absprache daraufhin untersuchen, ob es eine absprachewidrige Handlung des Staatsanwalts oder des Beschuldigten gab, weil diese Frage einen wichtigen Einfluss auf die angemessene Planung Verfahrens hat.66 Es muss sich dabei auf die Inhalte des Absprachedokuments beziehen. Das Gesetz fordert jedoch nur, dass das Dokument das Ergebnis der Absprache enthält (§ 350-3 Abs. 2 JStPO). Nach den provisorischen Richtlinien der Staatsanwaltschaft muss das Dokument je getrennt Aufschluss über die Straftat des Beschuldigten, die Straftat des Dritten, die Inhalte der Mitwirkung des Beschuldigten und die Inhalte der Maßnahmen des Staatsanwalts geben.67 Für das Dokument zählt nämlich nur das Ergebnis der Absprache und nicht der dazugehörige Ablauf der Erörterung. Aber wenn der Richter die Rechtmäßigkeit und Legitimität der Absprache prüfen will, wird er freilich nicht nur das Ergebnis der Absprache, sondern auch deren genauen Ablauf wissen wollen. Von daher ist es problematisch, dass der Ablauf nicht im Absprachedokument, sondern im „Bericht über den Ablauf der Erörterung“, den die provisorischen Richtlinien der Staatsanwaltschaft vorsehen, steht (oben II. 2. d)). Es wäre also notwendig, dass die wichtigen Teile des Ablaufs ebenfalls im Absprachedokument enthalten sind. Die Pflicht zur Erstellung des Berichts über den Ablauf der Erörterung ist nicht im Gesetz, sondern nur in einer Anordnung der Staatsanwaltschaft geregelt. Der Grund dafür liegt darin, dass diese Pflicht von einem „begleitenden Beschluss“ im Parlament herrührt, der als Bedingung für die Entstehung des Absprachegesetzes im Parlament gefasst wurde, um den Ablauf der Erörterung zu klären. In dem Beschluss hieß es, der Staatsanwalt solle einen Bericht über Zeit, Ort und Partner der Erörterung und einen Abriss der Erörterung erstellen und aufbewahren.68 Aufgrund dieses Beschlusses regelt die Staatsanwaltschaft die Pflicht der Erstellung eines Berichts in einer Anordnung.69 Aber es ist noch nicht klar, wie der Bericht in der Hauptverhandlung herangezogen werden wird. Weil sein Inhalt sehr wichtig für die Prüfung der Rechtmäßigkeit und Legitimität der Absprachen ist, soll der Bericht auch in der Hauptverhandlung verfügbar sein. Jedenfalls sollte die Transparenz im Abspracheverfahren noch stärker erweitert werden.
66
Vgl. Kikkawa et al. (Fn. 13), LAJ S. 129. Vgl. Provisorische Richtlinien (Fn. 15), S. 57. 68 Vgl. Kikkawa et al. (Fn. 13), LAJ S. 16. Da der „begleitende Schluss“ eine Kundgebung der Meinung oder des Wunsches des Komitees im Parlament ist, hat er keine gesetzliche Bindungskraft. 69 Vgl. Provisorische Richtlinien (Fn. 15), S. 58. 67
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VI. Fazit Ob das neue Absprachesystem harmonisch ins japanische Rechtssystem eingeführt werden kann und dort auch funktioniert, ist heute noch offen. Daher ist es notwendig, die Eigenschaft des japanischen Systems weiter zu klären und seine zukünftige Aufgabe herauszuarbeiten. Zuerst wurde klar, dass das japanische Absprachesystem anders als das amerikanische und auch als das an sich ähnliche deutsche System ist. Daher muss es sowohl theoretisch als auch verfahrensrechtlich seine eigene Begründung erfahren. Theoretisch muss der Grund dafür gesucht werden, warum der Staatsanwalt die Mitwirkung des Beschuldigten an der Untersuchung der Strafsache eines Drittens in sein Verfolgungsermessen einrechnen darf. Ein wichtiger Hinweis dafür lag darin, dass die Aussage des Beschuldigten zur Straftat des Dritten auch eine Aussage bezüglich der eigenen Straftat enthält, wenn beide Taten miteinander in Zusammenhang stehen. Gerade wegen der Bedingung eines Zusammenhangs kann der Staatsanwalt sein weitreichendes Ermessen für die Strafsache des Beschuldigten selbst ausüben. Aus dieser theoretischen Struktur wird das Absprachesystem nach dem Mitwirkungsmodell mit dem nach dem Selbstbelastungsmodell verbunden. Die Auseinandersetzung damit ist eine wichtige Aufgabe im japanischen Recht. Der rechtliche Grund des Absprachesystems liegt somit nicht nur im Opportunitätsprinzip, sondern auch im noch weiteren Grundsatz des Parteiprinzips im japanischen Strafprozessrecht. Bei den verfahrensrechtlichen Problemen ging es zunächst um die Waffengleichheit von Staatsanwalt und Verteidiger im Abspracheverfahren. Praktisch besonders wichtig ist dabei die Sicherstellung der Informationsgleichheit für die Entscheidung der Absprachen, die damit natürlich auch eine gesetzgeberische Aufgabe ist. Da das japanische Absprachesystem nur von den Parteien durchgeführt wird, muss man darüber hinaus den Grund und die Grenze der Prüfungsbefugnis des Gerichts klären. Nach der japanischen Instruktionsmaxime hat das Gericht die Befugnis und Pflicht, die Prozesshandlungen der Parteien zu bewerten. Daher kann und muss der Richter die Absprachen der Parteien prüfen. Und zuletzt stellte sich eine wichtige praktische Frage, und zwar welche Informationsbasis der Richter für die Prüfung der Rechtmäßigkeit und Legitimität der Absprachen benutzen kann. Dem Richter soll nicht nur das Absprachedokument, sondern auch der Bericht über den Ablauf der Verhandlung zur Verfügung stehen. Das japanische Recht hat somit der Bearbeitung der Strafsache noch eine neue Option hinzugefügt. Heutzutage ist es wünschenswert, dass der Strafjustiz verschiedenartige Werkzeuge für die Bearbeitung verschiedenartiger Kriminalitätstypen zur Verfügung stehen. Die verschiedenartigen Systeme erfordern, dass nicht nur die staatlichen Organe, sondern auch die Bürger eine neue und größere Verantwortung als Verfahrensträger übernehmen. Z. B. kann von dem Verteidiger eine noch wichtigere Rolle erwartet werden und auch der Beschuldigte kann am Verfahren in Zukunft noch weiter teilnehmen. Das neue Absprachesystem ist daher ein Prüfstein
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für diese neue Strafjustizfigur. Wer das neue System geschaffen hat, ging mit der Strömung der Zeit. Doch wer dieses System verbessern kann, ist nicht die Zeit, sondern der Jurist.
Durchsuchung und Beschlagnahme gegen im unternehmensstrafrechtlichen Kontext tätige Rechtsanwälte – im Lichte der VW-Entscheidung des BVerfG Von Gerson Trüg
I. Ausgangspunkte1 Eine erste flüchtige, nicht selten geäußerte Reaktion auf die sog. JonesDay-Entscheidung in der „Dieselaffäre“ der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts2 bestand in einem Verweis auf die Maxime bad cases make bad law (oder auch hard cases make bad law). Dieser eher zur Gewissensberuhigung erfolgte Verweis dürfte nicht tragen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass das BVerfG zumindest im Kern für den hier interessierenden Problemkreis – der Beschlagnahmefähigkeit der Unterlagen interner Untersuchungen3 und die dahin führende Durchsuchung von Rechtsanwaltskanzleien – genau diejenige, übrigens tief in das einfache (Strafverfahrens-)Recht vordringende Entscheidung treffen wollte, die vorliegt und die Ausgangspunkt der hiesigen Betrachtungen ist.4 Mit Beschlüssen jeweils vom 27. 06. 2018 zur Frage der Beschlagnahmefähigkeit bzw. Verwertbarkeit von Dokumenten und Erkenntnissen, die im Rahmen von durch die Volkswagen AG beauftragten Internal Investigations durch die US-amerikanische Sozietät JonesDay produziert wurden, hat das Bundesverfassungsgericht zu einem 1 Zu einer Einbettung der Entscheidung in das überspannende Thema „Unternehmen und Beweis“, Trüg, in: Fischer (Hrsg.), Beweis, 2019, S. 177 – 197. 2 BVerfG, Beschl. v. 27. 6. 2018 – 2 BvR 1405/17 und 2 BvR 1780/17 (LG München I und AG München) – Volkswagen AG; BVerfG, Beschl. v. 27. 6. 2018 – 2 BvR 1562/17 (LG München I und AG München) – Rechtsanwälte der Kanzlei JonesDay LLP; BVerfG, Beschl. v. 27. 6. 2018 – 2 BvR 1287/17 und 2 BvR 1583/17 (LG München I und AG München) – Kanzlei JonesDay LLP; vgl. bereits Jahn/Kirsch, StV 2019, 12. 3 Der Begriff „interne“ Untersuchung wird im Folgenden verwendet, auch wenn es sich bei den Ermittlungen durch JonesDay im Auftrag des Aufsichtsrats des Mutterkonzerns, VW AG, zur Offenlegung der Ergebnisse der Ermittlung gegenüber dem US-amerikanischen Justizministerium (DoJ) eigentlich um eine „externe“ Ermittlung gehandelt hat, dazu Knauer, NStZ 2019, 164; ders., ZWH 2012, 41; ferner Nestler, in: Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis (Hrsg.), Internal Investigations, 2. Aufl. 2016, Kap. 1: Internal Investigations: Definition und rechts tatsächliche Erkenntnisse zu internen Ermittlungen in Unternehmen. 4 Knauer spricht mit Recht von einer „justizfreundlichen Maximallösung“, NStZ 2019, 164.
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der drängendsten Probleme auf dem Gebiet des Strafverfahrensrechts5 (neben ungeklärten arbeits- und gesellschaftsrechtlichen6 Fragen) Position bezogen und die insgesamt fünf Verfassungsbeschwerden (zwei der Volkswagen AG, zwei weitere der Kanzlei JonesDay sowie eine gemeinsame von drei Rechtsanwälten der Kanzlei) nicht zur Entscheidung angenommen. Nachdem das BVerfG zunächst die Verwertung der durch die Staatsanwaltschaft beschlagnahmten Unterlagen im Wege einer – verlängerten – einstweiligen Anordnung (§ 32 BVerfGG)7 ursprünglich vom Juli 2017 untersagt hatte, musste überraschen, dass die Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen wurden8 und (selbst) den beiden Verfassungsbeschwerden der Volkswagen AG eine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung nicht zugesprochen wurde (§ 93a Abs. 2 BVerfGG, allerdings ohne Bindungswirkung, § 31 BVerfGG). Ein aus der Verfassung abgeleiteter umfänglicher Beschlagnahmeschutz für Unterlagen aus internen Untersuchungen besteht daher nach dem Verständnis des BVerfG nicht. Damit wurde eine lange aufgeworfene Streitfrage aus Verfassungssicht dahingehend beantwortet, dass die Strafverfolgungsbehörden auf die Ergebnisse interner Untersuchungen, die sich im Gewahrsam des Unternehmens befinden, zugreifen dürfen und zwar mittels Durchsuchung und Beschlagnahme, also gegen den Willen der betroffenen Unternehmen. Wie dies zu erwarten war, hat sich die forensische Praxis ab sofort unmittelbar eng an die verfassungsgerichtliche Sichtweise angelehnt, auch wenn diese „lediglich“ zum Ausdruck bringt, was von Verfassung wegen „nicht zu beanstanden“ sei.9 Bemerkenswert ist, dass bereits die Perspektive, welche das Gericht einnimmt, verfehlt erscheint. Es wäre zunächst erforderlich gewesen, den Schutzbereich von Art. 12 GG, Art. 13 GG und auch des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung gerade mit Blick auf das Vertrauensverhältnis zwischen einem Rechtsanwalt und seinem Mandanten zu konturieren. Zu erinnern ist daran, dass das Bundesverfassungsgericht selbst in seiner Geldwäscheentscheidung aus dem Jahre 201510 die Be5 Ausführlich zum Streitstand Oesterle, Die Beschlagnahme anwaltlicher Unterlagen und ihre Bedeutung für die Compliance-Organisation von Unternehmen, 2016. 6 BGHZ 135, 244 – ARAG/Garmenbeck, dazu aus jüngerer Zeit etwa Reichert, ZIP 2016, 1189 ff.; Lilie-Hutz/Ihwas, NZWiSt 2018, 349 (352); Pelz, CCZ 2018, 211 (217). 7 BVerfG, Beschl. v. 25. 7. 2017 – 2 BvR 1287/17, 2 BvR 1583/17; Beschl. v. 9. 1. 2018 – 2 BvR 1405/17 – die maßgeblichen Erwägungen des BVerfG finden sich hinsichtlich der unter 2 BvR 1780/17 bearbeiteten Verfassungsbeschwerde der VW AG (die unter 2 BvR 1405/17 u. 2 BvR 1562/17 bearbeiteten Verfassungsbeschwerde wurden als unzulässig gewertet). 8 Vgl. Uwer/van Ermingen-Marbach, AnwBl 2018, 470 (472): „prozedural fragwürdige Abkürzung“. 9 Zutr. Knauer, NStZ 2019, 164 ff.; zu letztgenannter Perspektive auch Momsen, NJW 2018, 2362 (2363). 10 BVerfG, Beschl. v. 28. 7. 2015 – 2 BvR 2558/14, NJW 2015, 2949 Tz. 37 f. (vgl. dazu auch BRAK-Mitt. 2015, 290 m. Anm. Knierim): „Die durch den Grundsatz der freien Advokatur gekennzeichnete anwaltliche Berufsausübung unterliegt unter der Herrschaft des Grundgesetzes der freien und unreglementierten Selbstbestimmung des einzelnen Rechtsanwalts (vgl. BVerfGE 15, 226 (234); BVerfGE 50, 16 (29); BVerfGE 63, 266 (284); 108, 150
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deutung des Vertrauensverhältnisses zwischen Rechtsanwalt und Mandant für die freie Advokatur und die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege mit Blick auf die Rolle des Rechtsanwalts als verfassungsrechtlich geschütztes Organ der Rechtspflege11 insgesamt hervorgehoben hat. Auch in der ein Jahr später ergangenen Entscheidung zum BKA-Gesetz hat das Gericht12 abgehoben auf den „verfassungsrechtlich gebotenen Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen Rechtsanwalt und Mandant“. Besonders hervorzuheben ist, dass das Verfassungsgericht in dieser Entscheidung die durch den Gesetzgeber herangezogene Unterscheidung zwischen Strafverteidigern und in anderen Mandatsverhältnissen tätigen Rechtsanwälten als Abgrenzungskriterium für einen unterschiedlichen Schutz als ungeeignet verworfen hat.13 Bei alledem – so ist festzuhalten – entsteht das Vertrauensverhältnis zwischen Rechtsanwalt und Mandant erst aufgrund der Verschwiegenheitspflicht des Rechtsanwalts und dem auf dieser Pflicht beruhenden Verständnis auf Seiten des Mandanten, dass diejenigen Informationen, welche er „seinem“ Rechtsanwalt anvertraut, vor einer Kenntnisnahme Dritter geschützt sind.
(158); 110, 226 (251 f.). Der Schutz der anwaltlichen Berufsausübung vor staatlicher Kontrolle und Bevormundung liegt dabei nicht allein im individuellen Interesse des einzelnen Rechtsanwalts oder des einzelnen Rechtsuchenden. Der Rechtsanwalt ist ,Organ der Rechtspflege‘ (vgl. § 1 und § 3 BRAO) und dazu berufen, die Interessen seines Mandanten zu vertreten (vgl. BVerfGE 10, 185 (198); 110, 226 (252)). Sein berufliches Tätigwerden liegt im Interesse der Allgemeinheit an einer wirksamen und rechtsstaatlich geordneten Rechtspflege (vgl. BVerfGE 15, 226 (234); 34, 293 (302); 37, 67 (77 ff.); 72, 51 (63 ff.); 110, 226 (252)). Unter der Geltung des Rechtsstaatsprinzips des Grundgesetzes müssen dem Bürger schon aus Gründen der Chancen- und Waffengleichheit Rechtskundige zur Seite stehen, denen er vertrauen und von denen er erwarten kann, dass sie seine Interessen unabhängig, frei und uneigennützig wahrnehmen (vgl. BVerfGE 63, 266 (284); 87, 287 (320)). Dem Rechtsanwalt als berufenem unabhängigen Berater und Beistand obliegt es, seinem Mandanten umfassend beizustehen (BVerfGE 110 226 (252)). Voraussetzung für die Erfüllung dieser Aufgabe ist ein Vertrauensverhältnis zwischen Rechtsanwalt und Mandant. Integrität und Zuverlässigkeit des einzelnen Berufsangehörigen (vgl. BVerfGE 63, 266 (286); 87, 287 (320); 93, 213 (236) sowie das Recht und die Pflicht zur Verschwiegenheit (§ 43a Abs. 2 BRAO und § BORA; vgl. BVerfGE 76, 171 (190)) sind die Grundbedingungen dafür, dass dieses Vertrauen entstehen kann, weshalb die Verschwiegenheitspflicht von jeher zu den anwaltlichen Grundpflichten rechnet und als unverzichtbare Bedingung der anwaltlichen Berufsausübung am Schutz des Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG teilhat (BVerfGE 110, 226 (252)).“ 11 Lilie-Hutz/Ihwas, NZWiSt 2018, 349 (354). 12 BVerfG, Urt. v. 20. 4. 2016 – 1 BvR 966/09, Rn. 257, BVerfGE 141, 220 ff.: „Verfassungsrechtlich nicht tragfähig ist insoweit allerdings die Ausgestaltung des Schutzes der Vertrauensverhältnisse von Rechtsanwälten zu ihren Mandanten. Die vom Gesetzgeber herangezogene Unterscheidung zwischen Strafverteidigern und den in anderen Mandatsverhältnissen tätigen Rechtsanwälten ist als Abgrenzungskriterium für einen unterschiedlichen Schutz schon deshalb ungeeignet, weil die in Frage stehenden Überwachungsmaßnahmen nicht der Strafverfolgung, sondern der Gefahrenabwehr dienen, die Strafverteidigung also hier gerade nicht entscheidend ist.“ 13 Dazu auch Dierlamm, BRAK-Mitt. 2018, 204; vertiefend Lilie-Hutz/Ihwas, NZWiSt 2018, 349 (353).
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In keiner Weise evidenzbasiert ist dabei der Vorwurf des Verfassungsgerichts in der JonesDay-Entscheidung, es bestehe – ohne Beschlagnahmemöglichkeit – „ein hohes Missbrauchspotential“, „Beweismittel könnten gezielt in die Sphäre des Rechtsanwalts verlagert oder nur selektiv herausgegeben werden“ (BVerfG, a.a.O. Rn. 91). Die Verfasser des Regierungsentwurfs zum Verbandssanktionengesetz (Stand 16. 06. 2020) haben diese Behauptungen gleichwohl aufgegriffen und offensichtlich ebenfalls nicht schutzbereichsspezifisch, sondern vom grenzenlosen Topos der „Effektivität der Strafverfolgung“ her gedacht.14 Richtig ist demgegenüber: „Ohne empirische Anhaltspunkte darf nicht pauschal unterstellt werden, dass Rechtsanwälte als Organe der Rechtspflege für ein – berufs- und strafrechtswidriges – Verhalten zur Verfügung stehen.“15 Gerade die Stellung als Organ der Rechtspflege16 und die damit verbundene Organtheorie17 stehen einem solchen institutionalisierten Misstrauen, wie es das BVerfG hegt, entgegen. Die mit der Organtheorie einhergehende Verpflichtung anwaltlicher Berufsträger und ein „hohes Missbrauchspotential“ unter anwaltlicher Beteiligung schließen sich gegenseitig aus. Im Übrigen ist daran zu erinnern, dass § 97 Abs. 2 S. 2 StPO gerade Vorkehrungen gegen Missbrauchsfälle trifft, also dann kein Beschlagnahmeverbot statuiert ist, wenn Berufsgeheimnisträger einer Strafvereitelung verdächtig sind oder wenn die sicherzustellenden Gegenstände aus einer Straftat hervorgebracht, zur Begehung einer Straftat gebraucht oder bestimmt sind oder aus einer Straftat herrühren. Gerade dies kann, je nach Konstellation, bei einer bewussten Verlagerung von Beweismitteln in die Sphäre des Rechtsanwalts der Fall sein. Auch eine wie auch immer näher ausgestaltete Effektivität der Strafverfolgung hätte daher keiner so tief greifenden Einschränkung des Beschlagnahmeschutzes (von der Mandatsbeziehung eines Beschuldigten zu seinem Verteidiger abgesehen) bedurft, wie dies Folge der verfassungsgerichtlichen Sichtweise ist.18 Schließlich: Beweismittel i.S. von pre-existing documents (d. h. solche über die Auflistung in Abs. 1 Nr. 1 – 3 des § 97 StPO hinaus, etwa handelsrechtlich relevante Geschäftsunterlagen, die öffentlich-rechtlichen Buchführungspflichten nach Handelsrecht folgen) sind vom Beschlagnahmeschutz des § 97 Abs. 1 StPO ohnehin und zu Recht nicht erfasst.19 Es handelt sich dabei um Unterlagen, die häufig den Zeitraum 14 Gesetzentwurf der Bundesregierung: Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft. (Bearbeitungsstand: 16. 06. 2020), S. 102. 15 Uwer/van Ermingen-Marbach, AnwBl 2018, 470 (472); zur berechtigten Kritik an der „Missbrauchspotenzial-These“ auch Pelz, CCZ 2018, 211 (214); Momsen, NJW 2018, 2362; Lilie-Hutz/Ihwas, NZWiSt 2018, 349 (352); Wostry, NZWiSt 2018, 356 (358); Knauer, NStZ 2019, 164 (166); Jahn/Kirsch, StV 2019, 12. 16 Dazu jüngst M. Kilian, AnwBl. 2019, 663 ff. 17 Weiterführend Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, Funktion und Rechtsstellung, 1980, S. 50 ff., 143 ff., 258 ff.; ders./Swoboda, Strafprozessrecht, 14. Aufl. 2018, Rn. 150 ff. 18 Uwer/van Ermingen-Marbach, AnwBl 2018, 470 (472). 19 So zu Recht Wimmer, in: NK-WSS, 2017, § 152 StPO Rn. 17; Menges, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 12. Aufl., 97 Rn. 111 ff. m.w.N., die nachvollziehbar darauf abstellt, ob der „Aussagegehalt“ das Vertrauensverhältnis betrifft oder nicht (Rn. 117); so wohl auch LG Gießen 25. 5. 2012 – 7 Qs 100/12.
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der Tatvorwürfe betreffen, in Bezug auf den der betroffene Rechtsanwalt keinerlei eigene anwaltliche Tätigkeit entfaltet haben wird. Derartige Unterlagen unterfallen nicht dem geschützten Mandatsverhältnis, deren – durch das BVerfG so behauptete – Verbringung in die Kanzleisphäre des Rechtsanwalts würde daher nicht zu einem Beschlagnahmeverbot (§ 97 Abs. 1 StPO) führen. Neben den vorbezeichneten subjektiven Grundrechten war und ist zudem eine zu klärende Rechtsfrage – die das Bundesverfassungsgericht ausgeblendet hat –, ob die Rechtsordnung (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 1 EMRK: „faires Verfahren“), und sei es auf dem Gebiet des Privatrechts, einerseits Aufklärungs- und Dokumentationspflichten (im Gesellschaftsrecht hinsichtlich der Durchführung interner Untersuchungen) einfordern, diese Dokumentation dann jedoch andererseits in einem Strafverfahren für beschlagnahmefähig und in malam partem für verwertbar erachten dürfen soll oder ob es sich dabei nicht um einen Widerspruch qua Pflichtenkollision handelt, der aus objektiv-rechtlichen Überlegungen heraus aufgelöst werden muss. Dadurch, dass diese grundrechts- und rechtsordnungsspezifische Perspektive durch das BVerfG verfehlt wurde, geriet dem Gericht der gesamte Prüfungsrahmen unzureichend verengt und damit schief. Die durch das Bundesverfassungsgericht thematisierten Fragen bleiben freilich aktuell. Dies aus zwei Gründen. Zum einen enthält der vorerwähnte Regierungsentwurf in den dortigen §§ 17 – 19 erstmals ausdrückliche gesetzliche Regelungen zu verbandsinternen Untersuchungen. Zum anderen bleiben zur Aufklärung von unternehmensbezogenen Straftaten oder (sonstigen) Compliance-Verstößen Internal Investigations erforderlich (neudeutsch: alternativlos). Unternehmen, insbesondere Aktiengesellschaften, haben bei Verdacht unternehmensbezogener Straftaten häufig jedenfalls im Ausgangspunkt hinsichtlich des „Ob“ keine Wahl20 (bei durchaus offenen Fragen hinsichtlich des „Wie“): Mit Blick auf verwaltungs-, bußgeld- oder strafrechtliche Risiken und auch wegen möglicher zivilrechtlicher Ansprüche müssen die operative Leitung und das Aufsichtsgremium interne Aufklärung betreiben und das erzielte interne Untersuchungsergebnis als Kompass für das weitere Vorgehen einsetzen (Legalitätspflicht). Dabei sollte spätestens jetzt – mit Blick auf den Regierungsentwurf des BMJV – wieder eine verstärkte Diskussion dazu einsetzen, welche konkrete Form interner Untersuchungen das Gesellschaftsrecht namentlich vor dem Hintergrund eines parallelen staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens tatsächlich erfordert und damit zusammenhängend, was sich als überobligationsmäßig darstellt. Es ist schließlich nicht zu erkennen, dass das BVerfG in der JonesDay-Entscheidung und auch der Regierungsentwurf einen wesentlichen Unterschied zwischen der Verteidigung des Unternehmens und derjenigen von Individuen bedacht hätten: sind Individuen Beschuldigte, so kennen diese regelmäßig die ihnen vorgeworfenen Sach20
Vgl. auch Hugger/Pasewaldt, BB 30/2018 – Die Erste Seite.
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verhalte oder können ihren Verteidigern jedenfalls erklären, weshalb sie zu den vorgeworfenen Sachverhalten nichts beitragen können. Unternehmen befinden sich in einer anderen Situation. Aufgrund der arbeitsteiligen Strukturen, erst recht gilt dies in Konzernen, ist der vorgeworfene Sachverhalt der aktuellen Unternehmensführung nicht selten nicht vor Augen. Verstärkt wird dies durch eine personelle Fluktuation im zeitlichen Längsschnitt. Das Unternehmen muss also diejenige Kenntnis, die erforderlich ist, um sich zu den Tatvorwürfen überhaupt verhalten zu können, erst generieren (abgesehen davon, dass es mittlerweile anerkannt und unstreitig ist, dass auch im Bereich der Individualverteidigung zu den Aufgaben von Strafverteidigung zählt, den fraglichen Sachverhalt aufzuarbeiten und dazu eigene Ermittlungen durchzuführen).
II. Kernaussagen des BVerfG und Folgen für die Praxis Nach diesen einleitenden Bemerkungen wird der Blick im Folgenden auf die Kernaussagen des BVerfG in der JonesDay-Entscheidung und die Folgen für die Rechtspraxis gerichtet. 1. Die im unternehmensstrafrechtlichen Kontext tätigen Rechtsanwälte und der Status ihrer Mandanten – vollständiger Schutz nur für und in Bezug auf den „Verteidiger“ sowie den Beschuldigten Die Sichtweise des BVerfG macht für die Frage eines umfänglichen Beschlagnahmeschutzes und damit auch (im Sinne einer Vorwirkung) eines Schutzes vor einer Durchsuchungsmaßnahme eine Differenzierung danach erforderlich, wer Verteidiger und wer lediglich ein sonstiger Rechtsanwalt/Rechtsanwältin im strafrechtlichen Kontext ist. Ferner ist der prozessuale Status des Mandanten entscheidend. a) Schutzgefälle zwischen Verteidiger und sonstigem Rechtsanwalt Es ist vor dem Hintergrund von § 160a Abs. 1 StPO durchaus keine Selbstverständlichkeit, dass das BVerfG ein Schutzgefälle zwischen Verteidigern und sonstigen Rechtsanwälten vertritt. Die Vorschrift lautet bekanntlich: „Eine Ermittlungsmaßnahme, die sich gegen eine in § 53 Abs. 1 Satz 1 Nummer […] 2 [=Verteidiger] […] genannte Person, einen Rechtsanwalt […] richtet und voraussichtlich Erkenntnisse erbringen würde, über die diese das Zeugnis verweigern dürfte, ist unzulässig.“ [Herv. nicht im Original]
Mit der maßgeblichen Reform des § 160a Abs. 1 StPO wollte der Gesetzgeber gerade ein solches Schutzgefälle zwischen Verteidigern und sonstigen Rechtsanwälten
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beseitigen.21 Umgekehrt formuliert: Verteidiger und Rechtsanwälte sind nach dieser Vorschrift zunächst gleichermaßen privilegiert. Deshalb war es gut vertretbar, aus der Ausstrahlungswirkung des § 160a Abs. 1 StPO auf § 97 Abs. 1 StPO zu folgern, dass § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO auch die Kommunikation zwischen dem Nichtbeschuldigten und seinem Rechtsanwalt schützt. Die Gesetzesbegründung aus dem Jahre 2010 hob insbesondere darauf ab, dass dem Anwalt als unabhängiges Organ der Rechtspflege eine besondere Bedeutung zukomme, weil er die Teilhabe am Recht gewährleiste und der Verwirklichung des Rechtsstaats diene. Und dabei insbesondere: Wenn ein Mandant befürchten müsse, dass sich Ermittlungsmaßnahmen, gegen seinen Anwalt richten und als verhältnismäßig angesehen werden könnten, werde der Mandant dem Rechtsanwalt möglicherweise kritische Informationen nicht mehr ohne weiteres anvertrauen.22 Bei alledem bildet § 160a Abs. 1 StPO ebenso wie § 97 Abs. 1 StPO eine „Verlängerung“ des Zeugnisverweigerungsrechts des Verteidigers und Rechtsanwalts aus § 53 Abs. 1 Nr. 2 und 3 StPO. Beide Regelungen sollen gewährleisten, dass „der Hand nicht entrissen werden darf, was der Mund nicht zu offenbaren braucht“.23 Dieses traditionsreiche Wort gilt nun nicht mehr. Denn wörtlich das BVerfG (a.a.O. Rn. 78): „Es ist auch von Verfassung wegen nicht geboten, den absoluten Schutz des § 160a StPO auf den Bereich der Durchsuchungen einschließlich der vorläufigen Sicherstellung zum Zwecke der Durchsicht und auf Beschlagnahmen von Mandantenunterlagen eines Rechtsanwalts auszudehnen. […] Zwar mag das Verhältnis zwischen Verteidiger und Beschuldigtem typischerweise Bezüge zur Menschenwürdegarantie aufweisen […] Darüber hinaus ist eine Ausdehnung des absoluten Schutzes des § 160a I 1 StPO auch auf sonstige anwaltliche Tätigkeiten nicht geboten. Allein die Stellung des Rechtsanwalts als unabhängiges Organ der Rechtspflege und seine Teilnahme an der Verwirklichung des Rechtsstaates rechtfertigen einen Verzicht auf Beschlagnahmen über den Anwendungsbereich von § 97 StPO hinaus nicht (Nachweise).“
b) Prozessualer Status des Mandanten Und weiter in Bezug auf den Status des Mandanten (a.a.O. Rn. 90):
21
Gesetz zur Stärkung des Schutzes von Vertrauensverhältnissen zu Rechtsanwälten im Strafprozessrecht vom 22. 12. 2010 (BGBl. I 2010, 2261); in der bis zum 31. 1. 2011 geltenden Fassung des § 160a Abs. 1 StPO, der überhaupt erst durch das Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG vom 21. 12. 2007 in die StPO eingeführt wurde, waren zunächst lediglich Verteidiger absolut gegen Ermittlungsmaßnahmen geschützt; sonstige Rechtsanwälte lediglich im Rahmen der Verhältnismäßigkeit, § 160a Abs. 2 StPO. 22 BT-Drucks. 17/2637, S. 6. 23 So plastisch Dünnebier, Das Problem einer Sonderstellung der Presse im Strafverfahren, 1966, S. 39.
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„Dass § 97 I 1 StPO bei Beschlagnahmen außerhalb des Berufsgeheimnisträger-Beschuldigten-Verhältnisses dem Strafverfolgungsinteresse Vorrang vor dem Geheimhaltungsinteresse des Mandanten einräumt, ist verfassungsrechtlich danach nicht zu beanstanden.“
Diese Auffassung muss man nicht teilen24, allerdings muss sich die strafprozessuale Praxis daran orientieren und der Regierungsentwurf sieht bekanntlich gerade die verfassungsgerichtliche Sichtweise „umsetzende“ Änderungen in § 97 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 und § 160a Abs. 5 StPO vor: - Abs. 5 des § 160a StPO in der Fassung des Regierungsentwurfs soll danach wie folgt gefasst werden: „(5) die Absätze 1 – 4 finden auf Maßnahmen nach den §§ 94, 95, 100b, 100c, 100g, 102, 103 und 110 keine Anwendung.“ - Abs. 1 Nr. 3 des § 97 StPO in der Fassung des Regierungsentwurfs soll lauten: „3. andere Gegenstände einschließlich der ärztlichen Untersuchungsbefunde, die dem Vertrauensverhältnis des Beschuldigten zu den in § 53 Abs. 1 Nummer 1 bis 3b Genannten zuzurechnen sind und auf die sich das Zeugnisverweigerungsrecht erstreckt.“25 Weil die (sonstigen) Rechtsanwälte selbstverständlich nach wie vor zeugnisverweigerungsberechtigt (§ 53 Abs. 1 Nr. 3 StPO) und (ohne Befreiung von der Schweigepflicht) -verpflichtet sind (§ 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB), wird nunmehr im Falle einer Durchsuchungs-/Beschlagnahmemaßnahme der „Hand gerade entrissen“, was der „Mund nicht zu offenbaren braucht“. Der Gleichklang zwischen Zeugnisverweigerungsrechten und einem Beschlagnahmeschutz ist damit erheblich reduziert. Das Zeugnisverweigerungsrecht behält einen eigenständigen und effektiven Gehalt nur noch in Bezug auf dasjenige, was der Mandant, der nicht Beschuldigter ist, dem Rechtsanwalt, der nicht Verteidiger ist, mündlich mitteilt (und was der Rechtsanwalt nicht nachträglich schriftlich fixiert).26 Für die Rechtspraxis ist also eine Differenzierung zwischen Verteidigern und (sonstigen) Rechtsanwälten sowie zwischen beschuldigten und nicht-beschuldigten Mandanten geboten. Sonstige Rechtsanwälte müssen überlegen und von Fall zu Fall prüfen, welche Informationen seitens ihres Mandanten sie in welcher Form dokumentieren. Dies ist fürwahr unbefriedigend. Das nachfolgende Schaubild zeigt die im unternehmensstrafrechtlichen Kontext tätigen Rechtsanwälte und macht unter Bezugnahme auf die hiesigen Ausführungen deutlich, in welchen Mandatsverhältnissen Kommunikation und Informationsaustausch nicht beschlagnahmefrei sind:
24
Vgl. zur Gegenmeinung Trüg (Fn. 1), S. 177 (188 ff.) m.w.N. Regierungsentwurf (Fn. 14), S. 37, 136 ff. 26 Vgl. dazu anschaulich von Galen, NJW 2011, 945, die darauf hinweist, dass „das Telefonat [zwischen Rechtsanwalt und Mandant] nicht aufgezeichnet werden [dürfe] – die Notizen des Rechtsanwalts über das Telefonat […] aber beschlagnahmt werden“ dürften; siehe ferner Winkler, StraFo 2018, 464; Leipold/Beukelmann, NJW-Spezial 2018, 504. 25
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Im Individualstrafrecht ist die Fokussierung auf den Verteidiger und den Beschuldigten, wie dies die traditionelle StPO vorsieht, häufig nachvollziehbar. Im Unternehmenskontext ist die Frage einer sachgerechten Regelung der Beschlagnahmefreiheit im Verhältnis eines auf dem Gebiet des Unternehmensstrafrechts tätigen Rechtsanwalts zu seinem kontextuell verbundenen Mandanten komplexer und schwieriger. (Mindestens) folgende Personenkreise sind daher durch den hier erörterten Problemkreis tangiert: - Individualverteidiger, - Unternehmensanwalt/-verteidiger, - Interne Ermittlungen durchführender Rechtsanwalt, - Ombudsmann,27
27 Nach überwiegender Ansicht kein Beschlagnahmeschutz, LG Bochum NStZ 2016,500; Queling/Bayer, NZWiSt 2016, 417; abl. Buchert/Buchert, StV 2017, 204; Frank/Vogel, NStZ 2017, 313 (320). In Ansehung der Judikatur des BVerfG in Sachen VW AG/JonesDay wird ein zwingender Beschlagnahmeschutz nicht mehr angenommen werden können.
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- Ggf. Rechtsanwalt eines Whistleblowers (Zeugenbeistand),28 - Syndikusanwalt,29 - sonstiger Zeugenbeistand.30 Bereits das obige Schaubild als solches verdeutlicht, dass der Schutz aus §§ 148, 97 StPO im Unternehmenskontext an Bedeutung verliert, wenn dieser lediglich für zwei Berufsgruppen aus dem Kreis derjenigen Rechtsanwälte greift, die hier auf dem Gebiet des Strafrechts tätig werden und Zugriff auf verfahrensrelevante Informationen haben, alle weitere Kommunikation und die damit verbundenen Informationen hingegen beschlagnahmefähig sind. 2. Vertrauensverhältnis zu wem? Weiter ist der Frage nachzugehen, wer im Unternehmenskontext zu wem ein rechtlich geschütztes Vertrauensverhältnis unterhält. a) Mutterunternehmen vs. Tochterunternehmen Dazu das BVerfG (a.a.O. Rn. 102): „Von Verfassung wegen ist es nicht geboten, Tochtergesellschaften insoweit in den Schutz eines zwischen der Muttergesellschaft und einem Rechtsanwalt geschlossenen Mandatsverhältnisses einzubeziehen und der Muttergesellschaft die Berufung auf ein Beschlagnahmeverbot aufgrund einer beschuldigtenähnlichen Stellung der Tochtergesellschaft zuzubilligen.“
Für die bedeutsame Frage, ob Rechtsanwälte im Kontext interner Ermittlungen in einem Vertrauensverhältnis (wie dies §§ 97 Abs. 1, 148 StPO verlangen) zum Unternehmen stehen, ist diese Sichtweise des BVerfG, die augenscheinlich vom Individualstrafrecht her denkt, auf den ersten Blick einleuchtend. Auf den zweiten Blick überzeugt diese Ansicht dann, wenn man ein Rechtsträgermodell zugrunde legt, sich also jeweils auf eine juristische Person bezieht, obwohl in einem „Unternehmen“ bekanntlich zahlreiche unterschiedliche juristische Personen „unter einem Dach“ zusammengefasst sein können. „Das Unternehmen“ und „die juristische Person“ sind bekanntlich unterschiedliche Regelungsmaterien. Geht man im „Unternehmens“ Strafrecht vom Unternehmen als wirtschaftliche Einheit aus, überzeugt die Sichtweise des Gerichts nicht mehr. An dieser Stelle ist 28
Dazu jüngst Mueller, Crisis of Conscience. Whistleblowing in the Age of Fraud, 2019. Vgl. insoweit bereits die Ausnahme vom Zeugnisverweigerungsrecht aus § 53 Abs. 1 Nr. 3 StPO, dort letzter Halbsatz; erg. EuGH NJW 2010, 3557. 30 Im Falle des Zeugenbeistandes ist ein fehlender Beschlagnahmeschutz besonders problematisch, weil der Zeugenbeistand in zahlreichen Konstellationen namentlich zu Beginn des Mandats nicht hinreichend einschätzen kann, ob und wenn ja in welchem Rahmen seinem Mandanten ein Auskunftsverweigerungsrecht gemäß § 55 StPO zusteht. 29
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daran zu erinnern, dass der aktuelle Regierungsentwurf zwar ebenfalls im Grundsatz das Rechtsträgermodell verfolgt, in § 9 Abs. 2 zur Höhe der Verbandsgeldbuße aber regelt: „Bei der Ermittlung des durchschnittlichen Jahresumsatzes ist der weltweite Umsatz aller natürlichen Personen und Verbände der letzten drei Geschäftsjahre, die der Verurteilung vorausgehen, zugrunde zu legen, soweit diese Personen und Verbände mit dem Verband als wirtschaftliche Einheit operieren.“ (In der Begründung des Regierungsentwurfs, S. 85, wird in Anlehnung an § 81 Abs. 4 GWB darauf abgehoben, es handele sich um die Zusammenfassung derjenigen Rechtsträger, die mit dem betroffenen Verband in einem Konzernverbund unter einheitlicher Leitung stehen). In solchen Konstellationen, in denen eine juristische Person aus einem Konzernverbund Nebenbeteiligte in einem Verbandsbußgeldverfahren ist,31 könnte deren aus § 97 Abs. 1 StPO (i.V.m. §§ 444 Abs. 1, 2, 427 Abs. 1 StPO) folgende Beschlagnahmefreiheit leicht ausgehöhlt werden dadurch, dass diese juristische Person betreffende beschlagnahmefreie Korrespondenz durch Beschlagnahme der entsprechenden Daten auf einem Konzernserver (bei der Konzernmutter) zur Kenntnis der Strafverfolgungsbehörden gelangt.32 Mit Blick darauf bietet sich zur Handhabung des Problemkreises eines effektiven Beschlagnahmeschutzes hinsichtlich solcher Unternehmen, die aus mehr als einer juristischen Person oder Personenhandelsgesellschaft bestehen, möglicherweise künftig eine konzernweite strafprozessuale Lösung an oder man schließt sich der auch hier (vgl. unten) vertretenen Auffassung an, dass die geschützte Kommunikation zwischen Verteidiger und Beschuldigtem (§ 148 StPO) absolut, nicht lediglich in Bezug auf das laufende Verfahren (also relativ) gilt. b) Ermittlungsführer der Internals Investigations vs. Mitarbeiter? Weiter das BVerfG (a.a.O. Rn. 103): „Auch besteht nach herrschender Ansicht in Rechtsprechung und Literatur zwischen den im Rahmen von Internal Investigations befragten Unternehmensmitarbeitern und den die Befragungen im Auftrag des Unternehmens durchführenden Rechtsanwälten keine schützenswerte Vertrauensbeziehung iSv § 97 I StPO, da die Interessen des Unternehmens und die Interessen der befragten Mitarbeiter völlig entgegengesetzt sein können (Nachweise).“ [Herv. nicht im Original]
Zunächst sollte in der Rechtspraxis darüber nachgedacht werden, ob im Rahmen von internen Untersuchungen produzierte Dokumente dem Individualverteidiger von betroffenen Mitarbeitern ausgehändigt werden (was ohnehin einem Gebot der Fairness entspricht, auch wenn diesem Fairnessargument in der Praxis nicht selten der Hinweis auf das attorney-client-privilege im Verhältnis Unternehmen und durch dieses beauftragte Rechtsanwälte entgegengehalten wird). Dann besteht zu31
Zur beschuldigtenähnlichen Stellung des Verbandes zunächst §§ 424, 444 StPO; ferner Jahn, NZWiSt 2013, 28; Bauer, StraFo 2012, 488; Rütters/Schneider, GA 2014, 160 (167). 32 Andere Auffassung LG Braunschweig NStZ 2016, 308 (209); wie hier: Gronke, Verfahrensfairness in transnationalen unternehmensinternen Ermittlungen, 2019, S. 386.
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mindest im Individualverfahren gegen den betroffenen Mitarbeiter ein Beschlagnahmeschutz. Im Verhältnis des Ermittlungsführers der internen Untersuchung zum Unternehmen hängt die Frage der Beschlagnahmefähigkeit vor dem Hintergrund von § 97 Abs. 2 S. 1 StPO davon ab, dass bzw. ob möglichst wenige Unterlagen, etwa „im Rahmen der Genese des Untersuchungsergebnisses bzw. des Schlussberichts, der später gegebenenfalls der Ermittlungsbehörde übergeben werden soll, im Unternehmen gelagert sind, indem zB die externen Untersuchungsführer mit eigenen Datenträgern im Unternehmen arbeiten, Kommunikation mündlich erfolgt und von Zwischenberichten nur via auf den Datenträgern der Untersuchungsführer gespeicherten Präsentationen und Unterlagen Kenntnis genommen wird.“33 Denn immer dann, wenn die Ermittlungsführer nicht Verteidiger sind, hängt die Beschlagnahmefreiheit mit Blick auf den Wortlaut des Abs. 2 S. 1 des § 97 StPO davon ab, ob die relevanten Unterlagen im Gewahrsam des Berufsgeheimnisträgers, der nicht Verteidiger ist, sind (da § 148 StPO beim Nicht-Verteidiger keine Anwendung findet). Mit dem Regelungszweck des § 97 Abs. 1 StPO, eine geschützte Kommunikationssphäre zwischen dem Beschuldigten und der durch Abs. 1 des § 97 StPO erfassten Vertrauensperson herzustellen, ist die Beschränkung auf die Gewahrsamssphäre der Vertrauensperson, die Abs. 2 vornimmt, freilich nur schwerlich vereinbar34, zumal es nicht selten von Zufälligkeiten abhängt, ob sich die fraglichen Unterlagen in der Sphäre des Beschuldigten oder der Vertrauensperson befinden. Abzuraten ist in diesem Kontext jedenfalls von dem im Schrifttum dargelegten Vorschlag einer Befragung durch einen vom Arbeitnehmer selbst mandatierten Anwalt aus der ermittlungsführenden Sozietät.35 Hier ist die Gefahr einer Interessenkollision mit den Händen zu greifen. c) Ermittlungsführer als Verteidiger? Die weitere Frage, ob Ermittlungsführer Verteidiger sind, mit der Folge, dass dann die Unterlagen der internen Untersuchung im Falle einer Nebenbeteiligung auch im Unternehmen beschlagnahmefrei wäre (§ 97 Abs. 1 i.V.m. § 148 StPO), hat eine zeitliche und eine inhaltliche Komponente. aa) Zunächst zur zeitlichen Komponente Dazu das BVerfG (a.a.O. Rn. 93): „Insbesondere hat das [Landgericht] zur Beurteilung der Frage, unter welchen Voraussetzungen sich eine juristische Person in einer beschuldigtenähnlichen Verfahrensstellung 33
NK-WSS-Wimmer (Fn. 19) § 152 StPO Rn. 17. So zu Recht LK-Menges (Fn. 15), § 97 Rn. 27. 35 So aber Gerst, CCZ 2012, 1 (4); krit. auch Gercke, FS für Wolter, 2013, S. 933 (935). 34
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[mit der Folge des Beschlagnahmeverbots aus § 97 Abs. 1 StPO] befindet, einen vertretbaren Maßstab herangezogen. [Nicht erforderlich sei], dass das Unternehmen bereits die förmliche Verfahrensstellung eines Beteiligungsinteressenten innehat, [wohl aber], dass eine künftige Nebenbeteiligung nach objektiven Gesichtspunkten in Betracht kommt (Nachweise). Für eine beschuldigtenähnlichen Stellung wegen einer Nebenbeteiligung im Hinblick auf eine Verbandsgeldbuße nach § 30 OWiG fordert das [Landgericht] nicht einmal, dass bereits ein Straf- oder Bußgeldverfahren gegen eine Leitungsperson des Unternehmens iSv § 30 I OWiG eingeleitet wurde (Nachweise), setzt aber einen ,hinreichenden‘ Verdacht für eine durch eine konkrete Leitungsperson begangene Straftat oder Aufsichtspflichtverletzung iSv § 130 OWiG voraus. Allein die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes einer Leitungsperson soll dagegen nicht genügen.“ [Herv. nicht im Original]
Die danach erforderliche Differenzierung zwischen einerseits „objektiven Gesichtspunkten“ für eine künftige Nebenbeteiligung und andererseits der bloßen „Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes einer Leitungsperson“ weist einen großen Graubereich auf. Beachtlich ist, dass in der Rechtsprechung für den individuell Beschuldigten Grundsätze entwickelt wurden, wonach nicht lediglich auf objektive (= äußere), sondern auch auf subjektive (= innere) Kriterien abgestellt wird zur Klärung der Frage, wann Verteidigung beginnt, also „ab wann“ diese vorliegt. Verteidigung soll danach auch dann vorliegen, wenn zwar noch kein förmliches Verfahren eingeleitet wurde, der Rechtsanwalt seine Tätigkeit aber „aus gutem Grund materiell als Strafverteidigung ansieht“.36 Nimmt man dies ernst, dann kommt es nicht allein auf den Verdachts- oder Wahrscheinlichkeitsgrad an, also gewissermaßen auf eine Perspektive der Strafverfolgung, sondern es ist jedenfalls auch die Perspektive der anwaltlichen Tätigkeit maßgeblich, die unter Bezugnahme auf die im Mandatsverhältnis erlangten Informationen eine Entscheidung trifft und treffen muss, ob Verteidigung vorliegt (vorliegen muss) oder eben nicht. Nur am Rande ist darauf hinzuweisen, dass ein solches Verständnis, das hinweist auf ein „legal privilege“, im europäischen Verfahrensrecht in Kartellsachen bereits seit Jahren anerkannt ist.37 Auch darüberhinaus und beispielhaft: Wenn sich etwa ein Mandant an einen Rechtsanwalt wendet und diesem einen Sachverhalt präsentiert, der bei erster Würdigung durch den Rechtsanwalt eine strafbare Untreue (§ 266 StGB) durch diesen Mandanten darstellen könnte, eine Entscheidung jedoch nicht „on the spot“, also unmittelbar im Mandantengespräch, erfolgen kann, sondern von einer genauen Prüfung von Unterlagen und einer rechtlichen Recherche abhängt, dann handelt es sich hierbei, leicht ersichtlich, „aus gutem Grund materiell [um] Strafverteidigung“, wenn dieser Mandant wissen möchte, wie er sich weiter verhalten soll. Kriterium dafür, ob Strafverteidigung gegeben ist, sollte daher – in Anlehnung an die skizzierte Rechtsprechung des BGH im Individualstrafrecht – sein, ob nach denjenigen Informationen, welche
36
BGHSt 29, 99 (105); vgl. auch Beulke/Swoboda (Fn. 17) Rn. 153 m.w.N. EuGH, Urt. v. 18. 5. 1982 – C-155/97 (AM&S); Kapp/Roth, ZRP 2003, 404; Mehle/ Mehle, NJW 2011, 1639 (1642 f.); Gercke, FS für Wolter, S. 933 (939). 37
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der Anwalt erhält, eine Straftat aufgrund von „zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkten“ (vgl. § 152 Abs. 2 StPO), also so gesehen „objektiv“, möglich ist. An dieser Stelle kommt die bereits oben geschilderte, für das Unternehmensstrafrecht typische Ausgangskonstellation zum Tragen, wonach der Unternehmensverteidiger Sachverhaltsnachforschungen erst vornehmen muss bzw. vornehmen lassen muss, um diejenigen Informationen zu erhalten, die ihm im Falle eines Individualmandats ohne weiteres seitens des Mandanten zu Beginn des Mandats mitgeteilt werden können. Die hier dargelegte Sichtweise führt auch zu einem Gleichklang mit § 148 StPO. Denn nach überwiegender Ansicht ist auch die Vorbereitung auf ein mögliches Ermittlungsverfahren dem Regelungsbereich des § 148 StPO zuzurechnen.38 Das ist bedeutsam, denn selbst wenn man § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO eng auslegen möchte, wie dies das Bundesverfassungsgericht aus eingeschränkter verfassungsrechtlicher Perspektive gebilligt hat, ist in den Konstellationen, in welchen die interne Ermittlung auch der Vorbereitung der Verteidigung dient, eine Privilegierung aus § 148 StPO naheliegend.39 Durch eine umfassende und rechtlich fundierte Dokumentation derjenigen Anhaltspunkte, die aus Unternehmenssicht eine künftige Nebenbeteiligung nach objektiven Gesichtspunkten als „in Betracht“ kommend nahelegen, hat das Unternehmen und die anwaltliche Unternehmensvertretung ein erhebliches Einwirkungspotenzial, die künftige Nebenbeteiligung plausibel darzustellen und damit den Beschlagnahmeschutz auszulösen.40 Dabei empfiehlt es sich, die durch den BGH für das Individualstrafrecht entwickelte Perspektive einzubeziehen und darzulegen, dass und weshalb „objektive Gesichtspunkte“ auch dann gegeben sein können, wenn sich dies aufgrund der Informationen ergibt, welche bislang nur dem Rechtsanwalt infolge der Unterrichtung durch seinen Mandanten vorliegen. Der Ermittlungsführer kann also ausdrücklich strafrechtlich mandatiert sein und die unternehmensinterne Ermittlung zum Zweck der Verteidigung in einem Strafverfahren durchführen und dies eben entsprechend dokumentieren.41 (Dies ist vielleicht sogar naheliegend jedenfalls in der Konstellation, in der die interne Untersuchung nicht lediglich zur Aufklärung eines Sachverhalts bzw. der Ermittlung möglicher ei38 LG Frankfurt StraFo 2004, 239; LG Gießen wistra 2012, 409; LG Braunschweig StV 2016, 352; Mehle/Mehle, NJW 2012, 1639 (1641). 39 Treffend Kempf/Corsten, StV 2019, 59 (63); vgl. auch Graßle/Hieramante, BB 2018, 2051 (2055). 40 Die im Schrifttum in diesem Kontext teilweise propagierte Strafanzeige durch den Verband selbst (krit. dazu Rieder/Menne, CCZ 2018, 203 (208)), der dann zu einem materiellen Beschuldigtenstatus des Verbands selbst führen soll, ist demgegenüber recht offenkundig aus der Perspektive des betroffenen Verbands wenig sachgerecht. 41 Pelz, CCZ 2018, 211 (212), mit dem zutreffenden Hinweis, dass bei gleichzeitiger Durchführung einer internen Untersuchung und der Verteidigung des Unternehmens keine Interessenkollision gegeben ist, weil der beauftragte Rechtsanwalt jeweils lediglich die Interessen des Unternehmens als Mandant wahrnimmt.
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gener Haftungsrisiken oder etwaige Haftungsansprüche gegenüber Dritten dient, sondern auch der Aufklärung im Kontext zumindest möglicher staatsanwaltschaftliche Ermittlungen). Fernliegend ist dies aber dann, wenn die Sachverhaltsaufklärung vor allem die Durchsetzung zivil- oder arbeitsrechtlicher Ansprüche gegen den betroffenen Mitarbeiter vorbereiten soll. Eine Beschlagnahme ist ferner etwa auch dann erlaubt, wenn das Unternehmen allein Verletzter der Tat durch einen Mitarbeiter ist.42 An der Schnittstelle zwischen der zeitlichen und inhaltlichen Komponente steht der Problemkreis, ob auch bei im Ausland geführten Ermittlungsverfahren Unternehmen dann in Deutschland Beschuldigtenrechte geltend machen können, jedenfalls, aber möglicherweise auch darüber hinausgehend, wenn hier Rechtshilfe für den ausländischen Staat geleistet werden soll.43 Mit beachtlichen Argumenten wird im Schrifttum geltend gemacht, dass im Geltungsbereich der EMRK nationale strafprozessuale Vorschriften (§§ 97, 148 StPO) menschenrechtskonform (Art. 6 EMRK) anzuwenden und dem Beschuldigten Verteidigungsprivilegien bei Ermittlungsverfahren von Ratifikationsstaaten der EMRK zuzubilligen seien.44 bb) Zur inhaltlichen Komponente Auch die inhaltliche Komponente der Frage, ob der Ermittlungsführer Verteidiger ist, hängt davon ab, zu welchem Zweck interne Ermittlungen erfolgen. Dies sollte deutlich machen, dass eine Unterscheidung, wie sie auch dem deutschen Gesetzgeber vorzuschweben scheint (vgl. § 18 Abs. 1 Nr. 2 VerSanG des Regierungsentwurfs), zwischen Verteidigung des Unternehmens und Durchführung der internen Ermittlungen kaum trennscharf möglich ist (abgesehen davon, dass die insoweit durch den Regierungsentwurf gegebene Begründung ein Zerrbild anwaltlicher Tätigkeit darstellt45). Denn: Wenn die Verteidigung des Unternehmens in der Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern den für die Verteidigung erforderlichen Sachverhalt überhaupt erst generieren muss und diejenigen Beauftragten, welche mit den internen Ermitt42
Dann scheidet eine Verbandsgeldbuße gemäß §§ 30, 130 OWiG mangels „verbandsbezogener Straf-/Owitaten“ regelmäßig aus, Helmrich, wistra 2010, 333; Peukert/Altenburg, BB 2015, 2822 ff.; Groß/Reichling, wistra 2013, 91 ff.; Rogall, in: KK-OWiG, 5. Aufl. 2018, § 130 Rn. 98. 43 Näher Gleß, in: LR-StPO, 26. Aufl. § 136 Rn. 8; Geis, wistra 2018, 200 (203). 44 Vgl. Thomas/Kämpfer, in: MüKo-StPO, Band 1, 2014, § 148 Rn. 9. 45 Wenn dort behauptet wird, die Verbindung von verbandsinternen Untersuchungen und Unternehmensverteidigung „schwächte die Glaubwürdigkeit der Ergebnisse verbandsinterner Untersuchungen“, eine „funktionale Trennung“ führe „ zu einer erhöhten Glaubwürdigkeit“: Ferner könne eine Trennung „auch der erste Schritt zu einer ernsthaften Selbstreinigung des Verbandes und einem nachhaltigen Kulturwandel sein, da nur ein unabhängiger Untersuchungsführer zum Kern der aufzuarbeitenden Straftat vordringen und hierbei auch eventuelle Verstrickungen der Firmenleitung ernsthaft in den Blick nehmen kann“ (Regierungsentwurf, S. 99 f. unter Bezugnahme auf Mansdörfer, jm 2019, 123 (126)); krit. zu Recht Dierlamm, Editorial StV 11/2019; vgl. aber auch Wehnert, StraFo 2012, 253 (258); Schuster, NZWiSt 2012, 431 (433).
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lungen befasst sind, zumindest im Sinne einer Schnittmenge dieselben internen Erkundungen durchführen (mitunter auch qua Durchführung gemeinsamer „Ermittlungs“-Schritte – bspw. der Befragung von Mitarbeitern), dann ist die Trennung, die dem deutschen Gesetzgeber vorschwebt, zumindest in der Sache nicht eingehalten und stellt eine rein normative Trennung dar, die es rechtstatsächlich nicht gibt) und führt zu diffizilen Abgrenzungsfragen zwischen beschlagnahmefreien Verteidigungsunterlangen und beschlagnahmefähigen Unterlagen aus internen Ermittlungen. Konsensfähig sollte jedenfalls sein, dass der Begriff der – beschlagnahmefreien – Verteidigungsunterlagen weit zu verstehen ist und jedenfalls auch schriftliche Aufzeichnungen des (Unternehmens-)Verteidigers über die Sachverhaltsaufklärung beinhaltet,46 wozu auch durch den Verteidiger bearbeitete Unterlagen aus einer internen Untersuchung gezählt werden sollten. Den Verfassern des Regierungsentwurfs schwebt weiter eine Regelung dahingehend vor, dass eine Milderung der Verbandssanktion eintreten kann, wenn der Verband das Ergebnis der verbandsinternen Untersuchung einschließlich aller für die verbandsinterne Untersuchung wesentlichen Dokumente, auf denen dieses Ergebnis beruht, sowie den Abschlussbericht (so § 18 Abs. 1 Nr. 4 VerSanG) den Verfolgungsbehörden zur Verfügung stellt.47 Eines sollte klar sein: Die Diskussion um die Beschlagnahmefreiheit von solchen Unterlagen und die damit verbundene Frage, ab welchem Zeitpunkt der Verband selbst eine Beschuldigtenstellung oder eine beschuldigtenähnliche Stellung inne hat, wird durch die vorgesehene Regelung jedenfalls de facto obsolet. Denn in diesen Konstellationen liegt eine, normativ betrachtet, „freiwillige“ Herausgabe dieser Unterlagen vor. Im Übrigen ist naheliegend, dass eine solche Regelung faktisch zu einer „Pflicht zur Herausgabe-Kooperation“ des Unternehmens (jedenfalls auf dieser Ebene, vgl. unten) führt.48 Im Übrigen wird durch die Trennung (Unternehmensverteidigung und Durchführung der internen Untersuchung) trennscharf durch das Unternehmen selbst dokumentiert, dass die internen Untersuchungen keine Unternehmensverteidigung darstellen. Möglicherweise ist dies und die daraus entstehende Folge der Beschlagnahmefähigkeit der Unterlagen aus der internen Untersuchung im Unternehmen der eigentliche Grund für die Regelung des 18 Abs. 1 Nr. 4 VerSanG in der Fassung des Regierungsentwurfs.
46 Die gegenteilige Auffassung des LG Stuttgart StV 2019, 7 (11) erscheint unhaltbar, so auch Jahn/Kirsch, StV 2019, 14.; Knauer, NStZ 2019, 164 (166); vgl. generell auch Pelz, CCZ 2018, 211 (213). 47 Was passiert, wenn die Strafverfolgungsbehörden die beschlagnahmefähigen Unterlagen unmittelbar bevor der Verband diese an die Verfolgungsbehörden aushändigen möchte, beschlagnahmt, lässt der Regierungsentwurf offen. 48 Auch wenn es eine Rechtpflicht nicht gibt, vgl. auch Bittmann/Brockhaus/von Coelln/ Heuking, NZWiSt 2019, 1 (3).
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III. Parallele Ermittlungsverfahren Zur Problematik von parallelen Ermittlungsverfahren das BVerfG (a.a.O. Rn. 96): „Soweit die Bf. [VW AG] in diesem Zusammenhang die Ansicht vertritt, der Beschlagnahmeschutz aus § 97 I StPO müsse auch in Parallelverfahren gelten, da es nicht den Strafverfolgungsbehörden überlassen bleiben dürfe, durch die Verbindung oder Trennung von Ermittlungsverfahren oder die Einleitung eines oder mehrerer Ermittlungsverfahren über die Reichweite des grundrechtlichen Schutzes zu entscheiden, zeigt sie nicht auf, warum dies im vorliegenden Fall von Verfassung wegen geboten sein soll.“
Und ferner (a.a.O. Rn. 97): „Deshalb ist es grundsätzlich unbedenklich, den Beschlagnahmeschutz aus § 97 I StPO nur dem im konkreten Verfahren Beschuldigten zugute kommen zu lassen. Allerdings muss im Einzelfall etwas anderes gelten, wenn der Schutz des § 97 I StPO ansonsten umgangen würde (Nachweise).“
Lediglich (a.a.O. Rn. 101): „Die Bf. [VW AG] muss auch nicht befürchten, dass Erkenntnisse aus den bei der Kanzlei JonesDay sichergestellten Unterlagen und Daten, auf die sich das Zeugnisverweigerungsrecht der Rechtsanwälte der Kanzlei JonesDay erstreckt, im Verfahren der StA Braunschweig gegen sie verwertet werden.“
Vor einer solchen Verwertung (vorliegend im Braunschweiger Verfahren gegen die VW AG) schütze dann das Verwendungsverbot des § 160a Abs. 1 S. 2 StPO.49 Diese Ausführungen zur grundsätzlichen Verwertbarkeit in Parallelverfahren sind hochproblematisch. In Verfahren gegen Dritte und wohl auch in einem anderen Ermittlungsverfahren gegen den Beschuldigten wegen sonstiger Vorwürfe50 sind solche Unterlagen, welche „an sich“ § 97 Abs. 1 StPO unterfallen, jedenfalls nicht sicher verfassungsrechtlich beschlagnahmefrei und nicht sicher unverwertbar. Abzustellen sei darauf, ob unterschiedlichen Ermittlungsverfahren jeweils der gleiche Lebenssachverhalt (dieselbe prozessuale Tat, § 264 StPO) zugrunde liegt. Nur wenn dies der Fall ist, soll auch die Beschuldigtenstellung in einem anderen Ermittlungsverfahren zu dem Beschlagnahmeverbot aus § 97 Abs. 1 StPO führen, weil sonst dessen Schutz umgangen werde.51 Betrachtet man exemplarisch die aktuellen strafrechtlichen Diesel-Verfahren, die jeweils unterschiedliche strafprozessuale Taten zum Gegenstand haben, fällt freilich auf, nicht nur, dass die Akten wechselseitig (jedenfalls partiell) durch die zuständi49 BVerfG (Fn. 7) Rn. 101; in der Literatur wird teilweise mit guten Argumenten gefordert, § 97 StPO sei nicht nur in Bezug auf den Beschuldigten des jeweiligen Strafverfahrens anwendbar, Jahn, ZIS 2011, 553; Park, Durchsuchung und Beschlagnahme, Rn. 560. 50 Dazu Pelz, CCZ 2018, 211 (214). 51 Offen gelassen durch BGH NStZ 1997, 562; 1998, 471 (472); krit.: Beulke/Swoboda (o. Fn. 17), Rn. 481; zum Meinungsstand Wohlers/Greco, in: SK-StPO, 5. Aufl. § 97, Rn. 10 m.w.N.
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gen Justizbehörden beigezogen werden, sondern auch, dass Ermittlungsschritte teils verfahrensübergreifend miteinander verwoben sind. Dies hat – aus Strafverfolgersicht – seinen Grund darin, dass offenbar Erkenntnisse aus dem jeweils anderen Verfahren für das eigene Verfahren fruchtbar gemacht werden sollen, ungeachtet des Umstands unterschiedlicher prozessualer Taten. In solchen parallelen Verfahrenskonstellationen ist daher das Abstellen auf dieselbe prozessuale Tat für die Frage der Beschlagnahmefreiheit in dogmatischer Perspektive zu eng. Vor dem Hintergrund einer drohenden Verbandsgeldbuße (§ 30 OWiG) bedeutet dies für die Praxis aber: Das Unternehmen kann nur durch seine Leitungspersonen handeln. Daran knüpft § 30 Abs. 1 OWiG an, in dem gerade Handlungen von Leitungspersonen taugliche Anknüpfungstaten sind. Ermittlungsverfahren gegen diese Leitungspersonen und Verbandsbußgeldverfahren nach § 30 OWiG betreffen also ganz regelmäßig dieselben prozessualen Taten. § 30 OWiG verbindet daher die Rechtsstellung des Unternehmens mit den in Abs. 1 des § 30 OWiG genannten Leitungspersonen sowohl materiell-rechtlich als auch prozessual. Wären Unterlagen aus internen Untersuchungen des Unternehmens in den Ermittlungsverfahren gegen die individuell beschuldigten Organe beschlagnahmefähig, so wäre eine spätere effektive Verteidigung des Unternehmens in einem Verbandsbußgeldverfahren jedenfalls deutlich erschwert. Gerade wegen dieser Verknüpfung wird daher im Schrifttum und vereinzelt in der Rechtsprechung zu Recht ein Beschlagnahmeverbot solcher Unterlagen auch in Verfahren gegen tatverdächtige Mitarbeiter angenommen, sofern diese die dem Unternehmen vorgeworfene Tat als Organe im Sinne des § 30 Abs. 1 OWiG begangen haben sollen. Wegen der Scharnierfunktion des § 130 OWiG, wonach der Verband auch für Verletzungen der Aufsichtspflicht hinsichtlich Zuwiderhandlungen niedrigerer Hierarchiestufen sanktioniert werden kann, ist sachgerecht, bei unternehmensnützigen Tätigkeiten von einem Beschlagnahmeverbot auch gegen Mitarbeiter niedriger Hierarchiestufen auszugehen, also ein weites Verständnis der jeweiligen prozessualen Tat anzunehmen. Weil im Verhältnis Unternehmen vs. Mitarbeiter gerade diese Befürchtung wegen der materiellen und prozessualen Verknüpfung des Unternehmens und seiner Leitungspersonen durch § 30 OWiG gegeben ist, erscheint gut vertretbar, den Beschlagnahmeschutz aus § 97 Abs. 1 StPO in solchen Parallelverfahren anzunehmen. Jedenfalls kann mit gutem Grund so argumentiert werden. Diese Argumentation setzt die Befassung mit einer weiteren Textstelle aus der Entscheidung des BVerfG voraus (a.a.O. Rn. 103): Das BVerfG habe „bereits entschieden, dass sich der Beschlagnahmeschutz aus § 97 StPO bei einem Mandatsverhältnis mit einer juristischen Person nicht auf deren beschuldigten Organe erstreckt. Es hat dabei darauf abgestellt, dass sich die Interessen der Vertreter von juristischen Personen und die Interessen der vertretenen juristischen Personen selbst insbesondere bei Straftaten zulasten der Gesellschaft diametral entgegenstehen können ([…] NStZRR 2004, 83).“
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In dieser Entscheidung aus 2003, auf welche das Gericht in der VW-Entscheidung ausdrücklich Bezug nimmt,52 ging es um die Frage, ob sich die beschuldigten Organe eines Unternehmens auf dessen Vertrauensverhältnis zu demjenigen Berufsträger (durch das Unternehmen mandatierter Wirtschaftsprüfer) berufen konnten, dessen Büroräume durchsucht wurden. Der Beschlagnahmeschutz aus § 97 Abs. 1 StPO bei einem Mandatsverhältnis (§ 53 Abs. 1 Nr. 3 StPO) einer juristischen Person erstreckt sich also nicht auf deren beschuldigte Organe.53 Hier müsste die künftige anwaltliche Vertretung sowohl des Unternehmens als auch betroffener Mitarbeiter (je nach Konstellation) ansetzen und genau darlegen, weshalb objektive Gesichtspunkte für eine Nebenbeteiligung (des Unternehmens) bzw. für eine Beschuldigtenstellung (der Mitarbeiter) konkret zu erwarten sind. Wegen der normativen und tatsächlichen Verschränkung der beiden Sphären (Unternehmen und Mitarbeiter) durch § 30 OWiG erscheint dies jedenfalls möglich und damit gilt umgekehrt: Die Sichtweise des BVerfG in dieser früheren Entscheidung aus dem Jahre 2003 ist nicht zwingend und eigentlich stark zugeschnitten auf die dortige Konstellation, dass es sich um vorgeworfene Straftaten der Organmitglieder zum Nachteil des Unternehmens handelte.
IV. Risiko der „Verwässerung“ der beschlagnahmefreien Sphäre der Unternehmensverteidigung durch zunehmend aktive Aufsichtsräte bzw. deren anwaltliche Vertreter Schließlich birgt eine aktuelle Entwicklung, losgelöst vom JonesDay-Judikat des BVerfG, Zündstoff: In manchen Konstellationen von Verbandsbußgeldverfahren und Ermittlungsverfahren gegen einzelne Repräsentanten des Verbandes – wobei die Unternehmensverteidigung mit der operativen Führungsebene des Unternehmens in Ausfüllung des Mandats vertrauensvoll zusammenarbeitet – gibt der Aufsichtsrat eigene interne Ermittlungen in Auftrag. Weil die Ergebnisse auch dieser Ermittlungen gegenüber den Strafverfolgungsbehörden jedenfalls nicht sicher beschlagnahmefrei sind, kann es vorkommen, dass der Aufsichtsrat die Staatsanwaltschaft in prozessualer und inhaltlicher Hinsicht „rechts überholt“. Dass solche Tendenzen geeignet sind, einen Keil zwischen Vorstand und Aufsichtsrat des betroffenen Unternehmens zu treiben, liegt auf der Hand. Hier sollte genau geprüft werden, ob der Aufsichtsrat tatsächlich eine ihn treffende Pflicht zur Durchführung interner Ermittlungen trotz Durchführung staatsanwaltlicher Ermittlungen hat oder ob er sich nicht auf Auskünfte seitens der operativen Führungsebene oder seitens der durch diese beauftragten Unternehmensverteidigung (eine Befreiung der anwaltlichen Schweigepflicht unter52 Auf diese Entscheidung wird auch im relevanten Schrifttum rekurriert, NK-WSS-Wimmer, § 152 StPO Rn. 13. 53 Vgl. auch Hauschild, in: MüKo-StPO, Band 1, 2014, § 97 Rn. 64; Köhler, in: MeyerGoßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. 2019, § 97 Rn. 10a; a.A. Momsen, Der Betrieb 2011, 1791 (1796).
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stellt) verlassen darf, jedenfalls bis das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsergebnis vorliegt.
V. Fazit Die Sichtweise des BVerfG in der hier JonesDay-Entscheidung zu der mit Blick auf die anwaltliche Tätigkeit bei weitem wichtigste Ermittlungsmaßnahme, der Durchsuchung von Kanzleiräumlichkeiten und der Beschlagnahme von Mandatsunterlagen, wirft gravierende und die anwaltliche Tätigkeit auf dem Gebiet des Strafrechts erschütternde Folgefragen auf. Die anwaltliche Tätigkeit auf dem Gebiet des Strafrechts ist seit Bekanntwerden der Entscheidung nicht mehr dieselbe wie vorher. Außerhalb des reinen Verteidigungsmandats muss künftige anwaltliche Tätigkeit die Gefahr der Beschlagnahme von Mandatsunterlagen – jedenfalls bei Gewahrsam beim Mandanten – stets vor Augen haben und das Bewusstsein eigener Tätigkeit muss diese Möglichkeit einbeziehen. In der Rechtsentwicklung ging das BVerfG daher einen großen Schritt zurück: Das mit der Reform des § 160a StPO verfolgte Ziel aus dem Jahre 2011, das vormals bestehende Schutzgefälle zwischen Strafverteidigern und sonstigen Rechtsanwälten zu beseitigen, ist hinsichtlich der wichtigsten Ermittlungsmaßnahme gegen Rechtsanwälte konterkariert. In Deutschland besteht nunmehr hinsichtlich des Schutzes der Vertrauenssphäre von (nicht unmittelbar ein Verteidigungsmandat führenden) Rechtsanwälten und Mandanten ein niedrigerer Schutz als in zahlreichen weiteren Rechtsstaaten.54 „Abhilfe“ kann derzeit nur kluges eigenes Handeln schaffen.
54 Längst nicht nur im Vergleich mit dem im internationalen Wirtschaftsverkehr und damit auch in grenzüberschreitenden wirtschaftsstrafrechtlichen Konstellationen bedeutsamen USamerikanischen legal privilege, dazu Rieder/Menne, CCZ 2018, 203 (206).
The Disappearance of Criminal Justice By Richard Vogler Over recent years, Professor Sieber and other international scholars have identified a number of serious, contemporary threats to criminal justice practice worldwide, including a “paradigm shift” towards risk-based security law.1 As the twenty first century develops, we are beginning to catch the first glimpses of a new architecture of criminal justice, adapted for this approach, which is heavily influenced by both developments in the global political economy and by digital technology. Two tendencies, the first managerialist and the second technological, have been implicated in these changes. On the one hand, the rapid advance of plea bargaining has already transformed criminal process worldwide from a predominately courtroombased practice, to one which is increasingly carried out by private negotiation. In the field of corporate crime, the doctrine of responsibilisation is shifting the emphasis away from the traditional criminal trial towards managerial regulation and the negotiation of deferred prosecution agreements. On the other, the development of cloudbased surveillant assemblage, as a radical tool of social control in the smart city, means that security risks and crime can be regulated without any formal criminal process at all, through the granting and withholding of benefits or even through the crime-proofing of the internet of things. Even in courts themselves, future decision-making and risk-prediction may be taken out of human hands entirely and be undertaken mechanically by algorithmic process. Mehozay and Fisher have argued that the coalescence of these two approaches: “managerialism” and risk-based algorithmic big data assessment have given birth to a penological transition in which “risk scores gradually replaced considerations of guilt with projections of future dangerousness”.2 Taken together, these developments represent an imminent danger to a social order which is anchored in rightsbased justice and they threaten hard-fought Enlightenment values, most especially the right to a fair and public trial. This contribution, which looks first at the managerialist strategies of the plea bargain and the deferred prosecution agreement and then at digital technologies in criminal justice, argues that lessons should be drawn from the similar diminution of the role of the trial in many jurisdictions during 1
See, eg. Sieber, U., The New Architecture of Security Law-Crime Control in the Global Risk Society, in: Sieber, U./Mitsilegas, V./Mylonopoulos, C./Billis, E./Knust, N., Alternative Systems of Crime Control: National, Transnational, and International Dimensions, Duncker & Humblot, Berlin 2018, pp. 3 – 35. 2 Mehozay, Y./Fisher, E., The Epistemology of Algorithmic Risk Assessment and the Path Towards a Non-Penology Penology, 21(5) Punishment & Society 2019, p. 532.
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the first half of the twentieth century. Although it is inevitable that new forms of global political economy or so-called “information capitalism”3 will require new strategies for the control of deviancy, nevertheless a protective counter-movement which emphasises the continuing centrality of the trial in open court and its adaptability to contemporary technology, remains of vital importance.
I. The Plea Bargain Few changes in criminal justice practice have been more dramatic over recent years than the worldwide shift away from public trials in open court, towards a secret, negotiated process. The imperial expansion of the plea bargaining methodology has been relentless and has reached almost every country on the planet, affecting states as diverse as China4, Nigeria5 and France.6 In their research covering 90 jurisdictions across all six major continents, Fair Trials found a 300 % increase in the number of countries using plea bargaining between 1990 and 2015.7 What is extraordinary is that this has occurred not just in common law jurisdictions such as the United States, where in excess of 97 % of defendants plead guilty,8 or in England and Wales where 93 % do so9, but in the civil law world too. Even those countries which have most steadfastly and vehemently resisted the very idea of plea negotiation, such as Germany10 or Portugal11 have succumbed in the end. Although consen-
3 Zuboff, S., The Age of Surveillance Capitalism: The Fight for a Human Future at the New Frontier of Power, Public Affairs, New York 2019. 4 Lynch, E. M., Maybe a Plea, But is it a Bargain? An Initial Study of the Use of Simplified Procedure in China, 1 China Rights Forum 2009, pp. 67 – 74. 5 Kagu, A. B., Globalisation of Plea Bargaining and its Emergence in Nigeria: a Critical Analysis of Practice, Problems, and Priorities in Criminal Justice Reform, University of Sussex. Ph.D., Sussex 2017. 6 Soubise, L., Guilty Pleas in an Inquisitorial Setting – An Empirical Study of France, 45(3) Journal of Law and Society 2018, pp. 398 – 426. 7 Fair Trials, The Disappearing Trial: Towards a Rights – Based Approach to Trial Waiver Systems, Fair Trials, London 2017, pp. 4 – 32. 8 See Annual Report and Sourcebook of Federal Sentencing 2018, p. 56. https://www.ussc. gov/sites/default/files/pdf/research-and-publications/annual-reports-and-sourcebooks/2018/ 2018-Annual-Report-and-Sourcebook.pdf (accessed 28 December 2019) giving data for Federal offences. The percentage of guilty pleas in State courts is slightly lower. 9 See CPS Annual Report and Accounts Data 2018 – 2019, available at https://www.cps.gov. uk/underlying-data/cps-annual-report-and-accounts-data-2018-2019 (accessed 28 December 2019). 10 Compare e. g., the views of Langbein (Land Without Plea Bargaining: How the Germans do it, 78(2) Michigan Law Review 1979, pp. 204 – 225) with those of Weigend (The Decay of the Inquisitorial Ideal: Plea Bargaining Invades German Criminal Procedure, in: Jackson, J.D./ Langer, M., Procedure and Evidence in a Comparative and International Context: Essays in Honour of Professor Mirjan Damaska, Hart, Oxford 2008, pp. 39 – 64).
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sual disposal has many national variants, this is a truly international phenomenon. Thaman has described it as the “triumphal march” of consensual forms of justice around the world12, and others have talked of “a global boom”.13 Critical voices have likened this international expansion to the affliction of “a lingering disease; the US infection of plea bargaining”14 and a global “disaster”.15 Whatever the case, it is no longer possible to ignore the fact that countries everywhere are moving inexorably towards a radically new form of criminal procedure which holds no significant place in its operation, for any trial of the facts in open court. The attractions of this methodology, which have proved so irresistible to so many states, are all too evident. In a time of austerity, plea bargaining promises an impressive saving of costs in court time. It offers a rapidity and finality in the resolution of cases, which no other mode of criminal disposal can hope to match. It shields victims from the rigours of court appearance and examination and offers more possibilities for reconciliation and restorative justice. It is a highly effective “battering ram” against corruption16 breaking down the walls of silence which surround such covert offending by encouraging minor offenders to testify against major ones, through offers of reduced sentences or impunity. It is no accident that major corporate offending, such as that of Enron, should have been brought down by plea bargaining17 or that plea deals should have enabled the successful convictions of leading figures in FIFA.18 For the same reasons it is an equally potent weapon against organised crime. The surprisingly divergent outcomes of this global move towards consensual disposal have been widely debated. Some scholars, such as Nobles and Schiff, have identified a major epistemic shift in our understanding of justice in these recent developments. According to them, the dominance of the guilty plea is ”justified both in theory and practice by reference to the concepts of autonomy and the autonomous exercise of rights, at the expense of a commitment to the truth of the conviction 11 Compare e. g. the views of Costa Ramos (Is there plea bargaining in the Portuguese Legal System? Carlos Pinto de Abreu e Associados, Lisbon 2014) with those of de Oliveira (Soluções Negociadas de Justiça Penal no Direito Português: uma Realidade Atual Numa Galáxia Distante?, 3(1) Revista Brasileira de Direito Processual Penal 2017, pp. 71 – 102). 12 Thaman, S., Plea-Bargaining, Negotiating Confessions and Consensual Resolution of Criminal Cases, Netherlands Comparative Law Association, Maastricht 2007, p. 1. 13 Della Torre, J., Negotiated Criminal Justice and EU Directives on Procedural Rights, 27(2) European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice 2019, p. 156. 14 Jung, H., Plea Bargaining and its Repercussions on the Theory of Criminal Procedure, 5 European Journal of Criminal Law and Criminal Justice 1997, p. 112. 15 Schulhofer, S. J., Plea Bargaining as Disaster, 101(8) The Yale Law Journal 1992, pp. 1979 – 2009. 16 Makinwa, A. O., The Value of Negotiated Settlements in Foreign Bribery Cases, 2017, available at SSRN 3088555, p. 4. 17 Brickey, K. F., From Enron to WorldCom and Beyond: Life and Crime after SarbanesOxley, 81 Washington University Law Quarterly 2003, pp. 357 – 401. 18 Sheu, V., Corrupt Passions: an Analysis of the FIFA Indictments, 18(1) Texas Review of Entertainment and Sports Law 2016, pp. 65 – 84.
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or the avoidance of wrongful convictions.”19 Others have argued that the adoption of “trial-avoiding mechanisms” has led to an increased bureaucratisation of procedure20 or, as Langer puts it, in a rather weighty neologism, the “administratization of criminal convictions”.21 It is this essential duality of the plea bargain process, at once reinforcing the agency of the autonomous individual, while at the same time submerging her in a rights-free, authoritarian and entirely bureaucratic and subterranean process, that has given rise to this striking indeterminacy. For Damaska, such “new procedural paradigms” are taking shape far beyond the limits of traditional principles and so “without compass, star or landmark, we steer at hazard”.22 Della Torre has described the plea bargain as a “Dr Jekyll or a Mister Hyde” process23 and it is entirely unclear whether, in view of its procedural attributes, it should be seen as a characteristic feature of adversariality or of inquisitoriality. Given its origins in Anglo-American practice24, its global spread through the energetic agency of United States justice bureaux such as OPDAT25 and its association with what Langer describes as the global adoption of “adversarial criminal procedure codes”, 26 it is hard to deny the close connection with adversarial methodology. This is particularly true in the light of the “autonomy” argument advanced above by Nobles and Schiff, and the evident lack of concern, for material, as opposed to procedural versions of truth in a plea-bargained outcome.27 However, on the other hand, the secret, bureaucratic and indeed, potentially coercive nature of the plea-bargaining process, recalls some of the most prominent features of early inquisitoriality and attracts many of the same critiques. Langbein, for example, has memorably observed that “(t)he parallels between the modem American plea bargaining system and the ancient system of judicial torture are many and
19 Nobles, R./Schiff, D., Criminal Justice Unhinged: The Challenge of Guilty Pleas, 39(1) Oxford Journal of Legal Studies 2018, p. 123. 20 Soubise, Guilty Pleas in an Inquisitorial Setting – An Empirical Study of France (note 6), pp. 425 – 426. 21 Langer, M., Plea Bargaining, Trial-Avoiding Conviction Mechanisms, and the Global Administratization of Criminal Convictions. 10 Annual Review of Criminology 2019, p. 2. 22 Damasˇka, M., Negotiated Justice in International Criminal Courts, 2(4) Journal of International Criminal Justice 2004, p. 1019. 23 Della Torre, J., Negotiated Criminal Justice and EU Directives on Procedural Rights (note 13), p. 168. 24 Langer, M., Plea Bargaining, Trial-Avoiding Conviction Mechanisms, and the Global Administratization of Criminal Convictions (note 21), pp. 1 – 67. 25 Langer, M., From Legal Transplants to Legal Translations: the Globalization of Plea Bargaining and the Americanization Thesis in Criminal Procedure, 45(1) Harvard International Law Journal 2014, pp. 1 – 64. 26 Langer, M., Plea Bargaining, Trial-Avoiding Conviction Mechanisms, and the Global Administratization of Criminal Convictions (note 21), p. 10. 27 Della Torre, J., Negotiated Criminal Justice and EU Directives on Procedural Rights (note 13), p. 167.
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chilling.”28 The methodology has been associated with the systemic abuse of human rights, a complete lack of transparency and the use of coercion in an imbalanced power relationship.29 Worse still, the encouragement to plead promotes unequal treatment30 and often bears most heavily and most unfairly on the more vulnerable in society, particularly “those with learning difficulties, autism, mental illness or personality disorder”.31 Similar arguments have been forcefully made in respect of “gender disparities”32 and ethnicity.33 Since it is impossible to locate the plea-bargaining method definitively within either of the two major global trial methodologies, it is not unreasonable to regard it as an entirely sui generis form of procedure; effectively a quite distinct method of criminal process. Moreover it is one which is becoming rapidly the normal method of disposal of criminal cases around the world. It is highly ironic that, after two centuries of struggle to establish the fundamental principles of openness, transparency and fairness in a rights based trial process, these gains should be substantially dissipated in a matter of decades in favour of a procedure which reflects many of the worst characteristics of pre-modern and pre-adversarial practice.
II. The Deferred Prosecution Agreement Another major recent development which diminishes significantly the role of trial in open court, is the adoption by many countries around the world, of the Deferred Prosecution Agreement (DPA) as a means of resolving prosecutions of corporate offenders. The formats of these agreements, like those made pursuant to plea bargaining, vary from country to country, but a DPA is essentially an agreement by an offending company to acknowledge the facts stated in the indictment and to agree to pay a monetary penalty (fine or restitution). The company must also take steps, as set out in the agreement, to modify its behaviour and to ensure fully transparent compliance over a stated period. In exchange, the prosecution is suspended for that period, subject to the proviso that if the company fails to fulfil its obligations, the state 28 Langbein, J. H., Torture and Plea Bargaining, 46(1) The University of Chicago Law Review 1978, p. 8. 29 Rakoff, J. S., Why Innocent People Plead Guilty, New York Review of Books, 20 November 2014. 30 Jung, H., Plea Bargaining and its Repercussions on the Theory of Criminal Procedure (note 14), p. 112. 31 Peay, J./Player, E., Pleading Guilty: Why Vulnerability Matters, 81(6) The Modern Law Review 2018, p. 930. 32 Berdejo, C., Gender Disparities in Plea Bargaining, 94 Indiana Law Journal 2019, pp. 1247 – 1303. 33 Johnson, B. D./Richardson, R., Race and Plea Bargaining, in: Edkins, V. A./Redlich, A. D., A System of Pleas: Social Sciences Contributions to the Real Legal System, Oxford University Press, Oxford 2019, p. 83.
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can proceed with the indictment using the admitted facts in court.34 This offers the obvious advantage of preserving a company from potential collapse and protecting innocent third parties such as employees or customers, as well as ensuring a rigorous policing of the company in future. The notorious difficulties of obtaining the conviction of a company in open court, are avoided35 and, as with plea bargaining, active “co-operation” with the authorities in the bringing to light of covert criminality, is rewarded.36 Although the concept of the DPA was developed in the US for use against both individual and corporate offenders37, it is a methodology which is spreading rapidly. The U.K. passed legislation in 2014 authorizing DPAs for corporate financial crimes38 and France followed suit in 2017 with its Convention Judiciaire d’Intérêt Public.39 Both Canada40 and Singapore41 introduced corporate DPA schemes in 2018 although in the former case it has been rebranded as “remediation”42, while Australia43, New Zealand44 and Germany45 amongst many other countries, are active-
34 Shiner, R. A./Ho, H., Deferred Prosecution Agreements and the Presumption of Innocence, 12(4) Criminal Law and Philosophy 2018, p. 708. 35 Fouladvand, S., Corruption, Regulation and the Law: the Power not to Prosecute Under the UK Bribery Act 2010, in: Ryder, N./Pasculli, L., Corruption, Integrity and the Law: Global Regulatory Challenges, Routledge, London 2019. 36 Cheung, R., Deferred Prosecution Agreements: Cooperation and Confession, 77(1) The Cambridge Law Journal 2018, pp. 12 – 15. 37 Reilly, P. R., Justice Deferred Is Justice Denied: We Must End Our Failed Experiment in Deferring Corporate Criminal Prosecutions, 2 Brigham Young University Law Review 2015, pp. 314 – 318. 38 Crime and Courts Act 2013 c. 22, Schedule 17. See e. g. Bisgrove, M./Weekes, M., Deferred Prosecution Agreements: A Practical Consideration, 6 Criminal Law Review 2014, pp. 416 – 438; Yoh, L. W., The United Kingdom’s Deferred Prosecution Agreement Regime Five Years on: Is It an Effective Tool in Addressing Economic Crime Perpetrated by Companies, Singapore Compoarative Law Review 2019, pp. 137 – 150. 39 Law n82016 – 1691 (Sapin II) was adopted on 9 December 2016 and entered into force in 2017. 40 Criminal Code, RSC 1985, c C-46 as amended by the Budget Implementation Act, 2018, No 1, SC 2018, c 12, Division 20 [Criminal Code]. 41 Criminal Justice Reform Act 2018. See Chua, E./Chan, B., Deferred Prosecution Agreements in Singapore: What Is the Appropriate Standard for Judicial Approval?, 16(1) International Commentary on Evidence 2018. 42 Sakowski, P., A Bargain with Justice? A Perspective on Canada’s New Remediation Agreements, 42(3) Manitoba Law Journal 2019, pp. 365 – 383. 43 Bronitt, S., Submission to the Attorney-General’s Department Improving Enforcement Options for Serious Corporate Crime: a Proposed Model for a Deferred Prosecution Agreement (Dpa) Scheme in Australia Public Consultation Paper, University of Queensland, Brisbane 2017. 44 Griffiths, M., New Zealand Mulls Deferred Prosecution Agreements, 12 February 2019, available at https://globalinvestigationsreview.com/article/1180235/new-zealand-mulls-de ferred-prosecution-agreements, accessed 28 December 2019.
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ly considering similar legislation. It is surely only a matter of time before this methodology expands its reach well beyond the traditional common law world of its origins and widens out to non-corporate offenders. The use of DPAs seems to have attracted many of the same lines of criticism which have surrounded plea-bargaining; namely that it is a “wellspring of unfairness, double standards, and potential abuse of power”.46 It has been argued that DPAs undermine the rule of law47 and the presumption of innocence,48 while encouraging “unconstrained prosecutorial power.49 DPAs may be imposed coercively50 irrespective of factual innocence51 and oppressive conditions may be enforced52 while cases such as that of HSBC, which was considered simply too large to prosecute without causing a wider global banking collapse53, prompt serious concerns about equality of treatment.54 Even though a DPA must be formally confirmed by a court, this does little to deflect criticism of the supposed arbitrary quality of justice, at the whim of the prosecution agencies.55 Moreover, unaccountable decision-making cuts both ways. Robert Barrington, the then Chief Executive of Transparency International has complained that companies “at the right price, can buy their way out of punishment, giving impunity to those who flagrantly broke the law.”56 Koehler, taking an opposite view, has maintained that “any conduct the enforcement agencies find objectionable is fair game to extract a multi-million dollar settlement from a risk-averse corpora45 Macfarlanes, Towards a Transatlantic Model – Germany Looks to Shift on Corporate Criminal Liability, September 24 2019, available at https://www.lexology.com/library/detail. aspx?g=cedfd252-3f96-47ea-ab2b-700e15ae6d50, accessed 28 December 2019. 46 Reilly, P. R., Justice Deferred Is Justice Denied: We Must End Our Failed Experiment in Deferring Corporate Criminal Prosecutions (note 37), p. 351. 47 Arlen, J., Prosecuting Beyond the Rule of Law: Corporate Mandates Imposed through Deferred Prosecution Agreements, 8(1) Journal of Legal Analysis 2016, pp. 191 – 234. 48 Husak, D., Social Engineering as an Infringement of the Presumption of Innocence: The Case of Corporate Criminality, 8(2) Criminal Law and Philosophy 2014, pp. 353 – 369. 49 Reilly, P. R., Justice Deferred Is Justice Denied: We Must End Our Failed Experiment in Deferring Corporate Criminal Prosecutions (note 37), p. 333. 50 Shiner, R. A./Ho, H., Deferred Prosecution Agreements and the Presumption of Innocence (note 34), p. 718. 51 Reilly, P. R., Justice Deferred Is Justice Denied: We Must End Our Failed Experiment in Deferring Corporate Criminal Prosecutions (note 37), p. 350. 52 Shiner, R. A./Ho, H., Deferred Prosecution Agreements and the Presumption of Innocence (note 34), p. 715. 53 The Guardian, 12 December 2012. 54 Packin, N. G. (2013), Breaking Bad: Too-Big-to-Fail Banks Not Guilty as Not Charged, 91(4) Washington University Law Review, pp. 1089 – 1097. 55 Reilly, P. R., Corporate Deferred Prosecution as Discretionary Injustice, 5 Utah Law Review 2017, pp. 839 – 883. 56 Transparency International, Lack of Individual Prosecutions in Rolls Royce Bribery Case – Justice not Served https://www.transparency.org.uk/press-releases/lack-of-individualprosecutions-rolls-royce-bribery-case/ accessed on 28 December 2019.
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tion.”57 According to Janis, this is no more than a ‘‘a state-sponsored shakedown scheme’’.58 The growing use of DPAs can be seen as a feature of the responsibilisation approach to crime and justice59 which shifts the burden of crime control from the state agencies, to civil society itself, empowering and encouraging different sectors, such as the corporate world, to police themselves. As Feeley and Simon, decades ago predicted, “actuarial justice” emphasises the management of risk and the prevention of crime rather than detection, punishment and retribution.60 Such developments contribute to a decisive shift away from the traditional social-contractual conception of crime, followed by proportional punishment, to an emphasis on “pre-crime”61 or “prepression”.62 But this is a particular kind of pre-crime, risk management, based on the manipulation of benefits and deficits.
III. The Social Credit Score Even more radical methods of risk-management and public responsibilisation, which bypass the criminal justice system entirely, are beginning to make an appearance. China has been attempting since the 1990s to build an advanced credit rating system based on social behaviour, but has made significant progress only since 2014 when the State Council released a Planning Outline for the Construction of a Social Credit System 2014 – 2020.63 This involved the recruitment of a number of crucial collaborators at local and national level and in the private sector, including technology giants such as Alibaba, and the creation of several national data platforms to collect, store, share and mine population-wide data.64 In 2015 the government authorised eight private companies to develop voluntary social credit pilots.65 Notable amongst 57 Koehler, M., JPMorgan – A Trifecta of Off-the-Rails FCPA Enforcement, Bloomberg Law 2017, p. 1. 58 Shiner, R. A./Ho, H., Deferred Prosecution Agreements and the Presumption of Innocence (note 34), p. 708. 59 Garland, D., The Limits Of The Sovereign State: Strategies of Crime Control in Contemporary Society, 36(4) The British Journal of Criminology 1996, p. 452. 60 Feeley, M./Simon, J., Actuarial Justice: The Emerging New Criminal Law, in: Nelken, D., The Futures of Criminology, Sage, London 1994, pp. 173 – 201. 61 Zedner, L., Pre-Crime and Post-Criminology?, 11(2) Theoretical Criminology 2007, pp. 261 – 281. 62 Schinkel, W., Prepression: the Actuarial Archive and New Technologies of Security, 15(4) Theoretical Criminology 2011, pp. 365 – 380. 63 Liang, F./Das, V./Kostyuk, N./Hussain, M. M., Constructing a Data-Driven Society: China’s Social Credit System as a State Surveillance Infrastructure, 10(4) Policy & Internet 2018, pp. 434, 425. 64 Ibid. 65 Kostka, G., China’s Social Credit Systems and Public Opinion: Explaining High Levels of Approval, New Media & Society 2019, p. 4.
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these was so-called Sesame Credit. This is a government-private sector collaboration involving the online retail operation Alibaba, to “gameify” obedient citizenship by rewarding individuals with credit points and withdrawing benefits from those without. This is only the first stage of the development. The intention is that by late 2020, every Chinese citizen would be covered by a unified and compulsory national system and already more than 30 bureaucratic bodies have supplied over 400 datasets for use in the project.66 The schemes call for real-time, identity-based numeric appraisal of both creditworthiness and trustworthiness, connected directly with an individual’s identity card numbers and biometric data. Undesirable online comportment, anti-social behaviour as well as the perpetration of frauds, deception or “harm to others” will all be penalised. This is achieved by limitation of access to government and commercial services, restrictions on employment, the schooling of children or access to insurance67, transport, personal loans and visas. According to Qiang, this quiet behavioural modification has already resulted by mid-2018 in more than 11 million people suffering restrictions on the purchase of airline tickets and 4.25 million on the purchase of train tickets.68 Conversely, high scoring provides ease of access to government and commercial services69 and blacklists and redlists are published with the aim of improving law enforcement and regulatory practices.70 In parallel with this approach, “smart cities” which assemble multiple data streams from a wide variety of receptors71, including the internet of things and other sources, can also be used to analyse risk and even to inflict automatic punishment for transgressions. For example, facial recognition technology can identify jaywalkers and immediately send fines to their cellphones by text message and project offenders’ faces onto public screens for shaming.72 To many authors, the so-called “China Model” is nothing more than a “more appealing term for a comprehensive system of state repression, bolstered by the latest 66 Qiang, X., The Road to Digital Unfreedom: President Xi’s Surveillance State, 30(1) Journal of Democracy 2019, p. 59. 67 Creemers, R., Cyber China: Upgrading Propaganda, Public Opinion Work and Social Management for the Twenty-First Century, 26(103) Journal of Contemporary China 2017, p. 97. 68 Qiang, X., The Road to Digital Unfreedom: President Xi’s Surveillance State (note 66), p. 60. 69 Lee, C. S., Datafication, Dataveillance, and the Social Credit System as China’s New Normal, Online Information Review 2019, p. 6. 70 Kostka, G., China’s Social Credit Systems and Public Opinion: Explaining High Levels of Approval (note 65), p. 2. 71 Jameel, T./Ali, R./Ali, S., Security in Modern Smart Cities: An Information Technology Perspective, 2nd International Conference on Communication, Computing and Digital systems, IEEE 2019, pp. 293 – 298. 72 Joh, E. E., Policing the Smart City, 15(2) International Journal of Law in Context 2019, p. 180.
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digital technologies”.73 It is “data-driven authoritarianism”74 or “digital totalitarianism”75 and Xinjiang, in particular, has become “a police state like no other”.76 As an entirely new model of dataveillance it can to some extent displace the normal coercive and criminal justice apparatus of the state. Control and conditioning can now be achieved invisibly and on the basis of co-option rather than coercion of “… a citizenry that continually engages in automatic self-monitoring and adjustment of its behavior in a manner reminiscent of Foucauldian governmentality…” 77 In short, this new, relatively inexpensive and entirely self-sustaining form of individual responsibilisation can achieve its objectives in managing risks and responsive sanctioning of offenders without recourse to any formal criminal justice process at all.
IV. The Role of the Criminal Trial in Future Justice Taken together, these managerialist and technological developments must prompt us to ask whether the trial in open court has any significant future relevance, or can even preserve its current form? To some commentators, the decline in the resourcing of courts and participating defence counsel, will lead inexorably to a colonisation of what remains of the open trial process by scientific reasoning and mechanised resolution. This could prove, it has been suggested, to be “(a)n epistemological shift as profound as the move from the magical to prototypes of our evidential reasoning in the early medieval trial”.78 Machine-learning algorithms offer the potential of less expensive, more effective and unbiased decision-making. Moreover, a more extensive reliance on risk-assessment tools using big data, can offer “enhanced precision and transparency79 and “revolutionize the criminal justice system”.80 According to Morison and Harkens, they can identify how individuals should be processed through the whole system, and “judged in relation to decisions on bail, sentencing, probation
73 Qiang, X., The Road to Digital Unfreedom: President Xi’s Surveillance State (note 66), p. 62. 74 Lee, C. S., Datafication, Dataveillance, and the Social Credit System as China’s New Normal (note 69). 75 Qiang, X., The Road to Digital Unfreedom: President Xi’s Surveillance State (note 66), p. 64. 76 The Economist, 31 May 2018. 77 Kostka, G., China’s Social Credit Systems and Public Opinion: Explaining High Levels of Approval (note 65), p. 4. 78 Sallavaci, O., The Impact of Scientific Evidence on the Criminal Trial: the Case of DNA Evidence, Routledge, London 2014, p. 179. 79 Simmons, R., Quantifying Criminal Procedure: How to Unlock the Potential of Big Data in Our Criminal Justice System, Michigan State Law Review 2016, p. 1016. 80 Simmons, R., Big Data, Machine Judges, and the Legitimacy of the Criminal Justice System, 52 University of California Davis Law Review 2018, p. 1077.
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and parole, among others.”81 While insisting that the judging function must remain a human activity, nevertheless, they predict a more “managerial” role for future judges based on “… new institutional configurations of human-machine interaction, which are augmented in comparison with existing methods of decision-making.”82 A more scientifically rigorous analysis of the facts, capitalising on the benefits of new technologies and conducted as a joint enterprise between prosecution and defence has been proposed by Findley as a “reliability model” with obvious advantages over the adversarial approach.83 Others have regarded the defence as irrelevant to this new methodology, suggesting that “… crime labs can replace part of the function of diminished defense counsel, and can do so in a way likely to garner more sustained political support.”84 Such predictions point towards the extinction of the Enlightenment concept of the public criminal trial as a location in which differing versions of reality may be freely articulated, negotiated and resolved. This is surely a deeply alarming prospect. We have already seen, in the first half of the twentieth century, the oppressive tendencies of criminal justice practice based on scientific rationality, positivist jurisprudence and managerialist “social defence”.85 Such approaches to criminal justice rapidly degenerate into authoritarian control, and critics have warned repeatedly of the dangers of inbuilt bias, lack of transparency and human rights infringements in the use of robotic decision making in criminal courts.86 But this is not to suggest that all managerialist or technological developments necessarily undermine the traditional role of a fair trial in open court. Some advances may actually support it. For example, the robotic analysis of documentary evidence87, the move towards virtual and “E-courts”88, as well as the use of bodycam and webcam 81 Morison, J./Harkens, A., Re-Engineering Justice? Robot Judges, Computerised Courts and (Semi) Automated Legal Decision-Making, 39(4) Legal Studies 2019, p. 624. 82 Ibid., p. 633. 83 Findley, K. A., Toward a New Paradigm of Criminal Justice: How the Innocence Movement Mergers Crime Control and Due Process, 41 Texas Technical Law Review 2008, pp. 173 – 174. 84 Brown, D. K., The Decline of Defense Counsel and the Rise of Accuracy in Criminal Adjudication, 93(6) California Law Review 2005, p. 1634. 85 Vogler, R., A World View of Criminal Justice, Ashgate, Aldershot 2005, pp. 61 – 89. 86 Pagallo, U./Quattrocolo, S., The Impact of AI on Criminal Law, and its Two Fold Procedures, in: Barfield, W./Pagallo, U., Research Handbook on the Law of Artificial Intelligence, Elgar, Oxford 2018, pp. 385 – 409. 87 Serious Fraud Office 2018, https://www.sfo.gov.uk/2018/04/10/ai-powered-robo-lawyerhelps-step-up-the-sfos-fight-against-economic-crime/, accessed 28 December 2019. 88 Gibbs, P., Defendants on Video–Conveyor Belt Justice or a Revolution in Access?,Transform Justice, London 2017; Gerry, F./Muraszkiewicz, J./Iannelli, O., The Drive for Virtual (Online) Courts and the Failure to Consider Obligations to Combat Human Trafficking – a Short Note of Concern on Identification, Protection and Privacy of Victims, 34(4) Computer Law & Security Review 2018, pp. 912 – 919; Rossner, M./McCurdy, M., Implementing Video Hearings (Party-to-State): a Process Evaluation, 2018.
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evidence89 and virtual reality90 in courts, are technological innovations which may serve to reinforce and empower the concept of trial in open court. We may simply need to reimagine the criminal trial as a more transparent, public and ubiquitous entity which is no longer restricted to a single physical space.91 There are, moreover, hopeful signs of resistance. The demands for international legislation aimed at restricting the scope of plea bargaining92 and DPAs and preserving the centrality of the trial process, are becoming more insistent. Critical voices worldwide are raised against the model of self-executing, digital systems of censure and reward which are being developed in China.93 The centrality of the fair trial in open court, perhaps the most precious heritage of the rights struggles of previous centuries, and in many senses the key right upon which the others depend, seems increasingly like a good place on which to make our defence.
89 Fan, M. D., Justice Visualized: Courts and the Body Camera Revolution, 50 University of California Davis Law Review 2017, pp. 897 – 959. 90 Reichherzer, C./Cunningham, A./Walsh, J./Kohler, M./Billinghurst, M./Thomas, B. H., Narrative and Spatial Memory for Jury Viewings in a Reconstructed Virtual Environment, 24(11) IEEE Transactions on Visualization and Computer Graphics 2018, pp. 2917 – 2926. 91 Susskind, R. E., Tomorrow’s Lawyers: an Introduction to Your Future, Oxford University Press, Oxford 2017, pp. 109 – 110. 92 Fair Trials, The Disappearing Trial: Towards a Rights-Based Approach to Trial Waiver Systems (note 7), pp. 52 – 69; Russell, J./Hollander, N., The Disappearing Trial: The Global Spread of Incentives to Encourage Suspects to Waive their Right to a Trial and Plead Guilty, 8(3) New Journal of European Criminal Law 2017, pp. 315 – 321; Della Torre, J., Negotiated Criminal Justice and EU Directives on Procedural Rights (note 13), pp. 169 – 176. 93 Qiang, X., The Road to Digital Unfreedom: President Xi’s Surveillance State (note 66), pp. 53 – 67.
Elektronische Beweismittel im türkischen Strafprozess Von Feridun Yenisey Der verehrte Jubilar Ulrich Sieber, der als Direktor des Max-Planck-Instituts in Freiburg die Gründung der Arbeitsgruppe an der Juristischen Fakultät der Bahçes¸ehir Universität unterstützt hat und mit dem ich als Herausgeber der gemeinsamen T-Serie viele Jahre zusammengearbeitet habe, beschäftigt sich bekanntlich wissenschaftlich besonders intensiv mit dem Computerstrafrecht. Deshalb soll im Folgenden ein Thema erörtert werden, das in der Türkei noch in ständiger Entwickelung begriffen ist; nämlich die Struktur des Computerstrafrechts und die Probleme des Beweiswerts von elektronischen Beweismitteln im türkischen Strafprozess.
I. Grundzüge des Computer- und Internetstrafrechts in der Türkei Das Europäische Übereinkommen über Computerkriminalität vom 23. September 2001 von Budapest (CCC), das vom nationalen Gesetzgeber umzusetzende Regelungen zum materiellen Strafrecht, Strafverfahrensrecht und Grundsätze zur internationalen Zusammenarbeit beinhaltet, wurde von der Türkei am 10. November 2010 unterzeichnet und das diesbezügliche Gesetz Nr. 6533 vom 22. April 2014 wurde am 2. Mai 2014 im Amtsblatt veröffentlicht. Dementsprechend wurden die Straftatbestände im Strafgesetzbuch (TCK)1 und in anderen Gesetzen geändert oder neu geregelt und in der Strafprozessordnung (CMK) neue Regelungen eingeführt. Es ist aber zu bemerken, dass die Umsetzung noch nicht in vollem Einklang mit den Bestimmungen des Budapester Übereinkommens steht, wie wir im Folgenden beschreiben werden.
1 Straftaten auf dem Gebiet der Informatik wurden zuerst im Vorentwurf eines Strafgesetzbuches vom 1989 vorgestellt und traten im Jahre 1991 in Kraft (Olgun Deg˘ irmenci, Bilis¸im Suçları Yüksek Lisans Tezi, ˙Istanbul 2002, S. 154).
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1. Straftaten auf dem Gebiet der Informatik Art. 2 des Budapester Übereinkommens, der den rechtswidrigen Zugang regelt, findet seinen Niederschlag in Art. 243 des türkischen Strafgesetzbuches2: Wer in ein Computersystem als Ganzes oder in ein Teil von ihm rechtswidrig eindringt oder sich dort weiterhin aufhält3, wird mit bis zu einem Jahr Gefängnis oder Geldstrafe bestraft (Art. 243/1 TCK).4 Wenn die Tat mit den Zwecken, die im Anti-Terrorgesetz (TMK) aufgezählt sind, im Rahmen der Tätigkeiten einer Terrororganisation begangen wird, wird sie zum Terrorismusdelikt hochgestuft (Art. 4 TMK) und die Strafe wird um die Hälfte erhöht (Art. 5 TMK). Die erfolgsqualifizierte Begehungsweise ist im dritten Absatz geregelt: Die Strafe wird von sechs Monaten bis zu zwei Jahren bemessen, wenn durch das Eindringen die Daten gelöscht oder verändert werden (Art. 243/3 TCK). Die Strafe wird bis zur Hälfte ermäßigt, wenn die Straftat in Systemen begangen wird, die gegen Zahlung eines Preises benutzt werden können (Art. 243/2 TCK). Der Begriff „Computersystem“ ist im Strafgesetzbuch nicht definiert. Dagegen gibt es eine Definition in der Verordnung über Aufzeichnung der Vernehmung in Bild und Ton (Art. 3/1-b): jedes System, das die Daten verarbeitet, speichert und weiterleitet und Teile hat, die ein Programm und Rechner besitzen, wird als Computersystem bezeichnet. Es gibt keine Regelung im Strafgesetzbuch, dass das Computersystem gegen das unbefugte Eindringen durch ein Passwort geschützt sein sollte. Wichtig ist es, dass eine rechtliche Befugnis vorhanden ist. Demgegenüber sieht das Gesetz zum Schutz persönlicher Daten (KVK) (Ges. Nr. 6698 v. 24. 3. 2016) vor, dass der Inhaber der Daten Schutzmaßnahmen gegen das unbefugte Eindringen treffen muss (Art. 12/ b-c KVK). Das Eindringen mit der Einwilligung des Betroffenen und bei der Erfüllung einer Pflicht werden nicht bestraft. Nachrichtendienstliche, polizeiliche oder strafprozessuale Aufgaben rechtfertigen solche geheime Datenerhebungen, diese werden unten noch näher beschrieben. Art. 3 des Budapester Übereinkommens spiegelt sich nach der Einführung des Datenschutzgesetzes in 2016 im vierten Absatz des Art. 243 des türkischen Strafgesetzbuches wider: Das Abfangen des Datenflusses zwischen zwei Rechnern mit technischen Mitteln (teknik araçlarla izlemek) wird nunmehr von einem bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft (Art. 243/4 TCK). Das Wort Abfangen (izlemek) bedeutet hineinschauen und davon Kenntnis erlangen. Eine ähnliche Regelung findet sich im In2 Silvia Tellenbach, Das türkische Strafgesetzbuch, Sammlung ausländischer Strafgesetzbücher in deutscher Übersetzung, G 118, Berlin 2008, S. 158. 3 Das Merkmal von dort sich weiter aufhalten wurde zwecks der Harmonisierung mit dem Europäischen Übereinkommen über Computerkriminalität eingefügt. 4 Das Eindringen in E-Mails einer fremden Person wird als ein Verstoß gegen Art. 243/1 TCK bestraft (Entscheidung der 12. Strafkammer des Kassationsgerichtshofes vom 13. Januar 2016, Entscheidungsnummer 2016/277; zitiert von: Cengiz Apaydın, Bilis¸im Suçları ve Bilis¸im Ceza Hukuku, ˙Istanbul 2017, S. 117).
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ternetstrafgesetz (Art. 2/1-h), das die Überwachung von Datenfluss (verilerin izlenmesi) ohne einzudringen unter Strafe stellt. Hier ist eine Kenntnisnahme von Inhalten nicht notwendig; die bloße Überwachung ist für die Strafbarkeit ausreichend.5 Art. 4 des Budapester Übereinkommens verpflichtet die Vertragsparteien, das unbefugte und vorsätzliche Beschädigen, Löschen, Beeinträchtigen, Verändern oder Unterdrücken von Computerdaten unter Strafe zu stellen. Diese Regelung wurde durch die Art. 243/3 und 244/2 des türkischen Strafgesetzbuches umgesetzt: Wer die Daten in einem System zerstört, vernichtet, ändert oder unerreichbar macht, Daten in ein System eingibt oder dort vorhandene Daten an eine andere Stelle verschiebt, wird mit Gefängnis von sechs Monaten bis zu drei Jahren bestraft (Art. 244/2 TCK).6 Werden diese Straftaten in Systemen begangen, die einer Bank, einer Kreditanstalt, einer öffentlichen Einrichtung oder Anstalt gehören, so wird die Strafe um die Hälfte erhöht (Art. 244/3 TCK). Diese Straftatbestände sind als Erfolgsdelikte geregelt. Der Täter muss zuerst handeln und ein Erfolg muss eingetreten sein. Die Verpflichtung des Art. 5 des Budapester Übereinkommens, die schwere Behinderung des Betriebes eines Computersystems als Straftat vorzusehen, führte zum Erlass von Art. 244/1 des Strafgesetzbuchs: Wer das Funktionieren eines Computersystems verhindert oder dieses zerstört, wird mit Gefängnis von einem bis zu fünf Jahren bestraft. Wer durch die Begehung der in Art. 244 TCK bezeichneten Taten sich oder einem anderen einen rechtswidrigen Vorteil verschafft und erfüllen diese Taten keinen anderen Straftatbestand, wird eine Gefängnisstrafe von zwei bis zu sechs Jahren und zusätzlich eine Geldstrafe verhängt (Art. 244/4 TCK).7 Dieser am meisten begangenen Straftat der Computerkriminalität fehlt das Merkmal des Täuschens, deshalb ähnelt sie dem Computerbetrug, der im Artikel 8 der Budapester Konvention enthalten ist. Wer sich eine Bank- oder Kreditkarte beschafft, die einer anderen Person gehört, eine solche Karte benutzt und dadurch sich oder einem anderen einen Vorteil verschafft, wird bis zu sechs Jahren Gefängnis und Geldstrafe bestraft (Art. 245/1 TCK). Wer falsche Bank- oder Kreditkarten herstellt und diese zu fremden Bankkonten in Beziehung setzt und derartige Karten verkauft, weitergibt, kauft oder annimmt,
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Berrin Akbulut, Bilis¸im Alanında Suçlar, 2. Aufl., Ankara 2017, S. 165. Eindringen und Ändern des Passwords eines fremden E-Mail-Kontos wird als ein Verstoß gegen Art. 244/2 bestraft (Entscheidung der 8. Strafkammer des Kassationsgerichtshofes vom 30. April 2014, Entscheidungsnummer 2014/11089; zitiert von: Ali Parlar, Türk Ceza Hukukunda Bilis¸im Suçları, 2. Aufl., Ankara 2014, S. 45). 7 Die Überweisung von Gelder eines fremden Kontos in das eigene Konto über Internetbanking wurde von verschiedenen Gerichten erster Instanz unter Art. 244/4 TCK subsumiert und bestraft. Die Generalversammlung des Kassationsgerichtshofes hat diese Rechtsauffassung verworfen und dies als Diebstahl bewertet (Entscheidung vom 17. November 2009, Nr. 2009/268; zitiert von: Ramazan Dog˘ an, Bilis¸im Suçları, Ankara 2014, S. 155). 6
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wird mit drei bis zu sieben Jahren Gefängnis und Geldstrafe bestraft (Art. 245/2 TCK). Die Netzwerkstruktur ist ein Ansatzpunkt zur Begehung von Straftaten. Pornographie, extremistische Propaganda, Betrug im Internet, Glückspiele, Verletzung von Urheberrechten und Verletzung geschützter Daten sind Straftaten, die durch die Digitalisierung über das Internet begangen werden können. Ein Inhaltsdelikt im Übereinkommen über Computerkriminalität, das den Kampf gegen die Internetkriminalität auf eine internationale Basis stellt, ist die Kinderpornographie.8 In der Türkei werden überwiegend die Darstellungen, die auf Erregung sexueller Reize abzielen, als pornographisch eingestuft und die Veröffentlichung solcher Schriften als einfache Pornographie von sechs Monaten bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft (Art. 226/2 TCK). Kindern pornographische Inhalte zugänglich zu machen, wird mit Gefängnis von sechs Monaten bis zu drei Jahren bestraft (Art. 226/1 TCK). Der Einsatz von Kindern, kindesähnlichen Darstellungen oder Personen, die wie ein Kind aussehen, bei der Herstellung von pornographischen Produkten wird schwerer (zwei bis fünf Jahre Gefängnis) bestraft (Art. 226/3 TCK). Eine Veröffentlichung über Medien oder Telemedien wird noch schwerer (sechs bis zehn Jahre Gefängnis und Geldstrafe) bestraft (Art. 226/5 TCK). 2. Gerichtsbarkeit und internationale Zusammenarbeit Die örtliche Zuständigkeit für Inlandstaten liegt bei dem Gericht des Tatortes (Art. 12/1 CMK). Wenn bei Sendungen im Internet die Sendung am Wohn- oder Aufenthaltsort des Verletzten gehört oder gesehen wurde, so ist auch das Gericht jenes Ortes zuständig (Art. 12/5 CMK). Diese Regelung für Inlandstaten bereiten manche Schwierigkeiten bei Ermittlungen zu Internetkriminalität, da die Feststellung der zuständigen Staatsanwaltschaft zusätzliche Ermittlungen im Internet erfordert. Deswegen hat man kürzlich eine Bestimmung in das Polizeigesetz (PVSK) eingefügt, wonach die Polizei im Internet zur Ermittlung der zuständigen Staatsanwaltschaft Informationen über die Identität von Internetabonnenten erlangen und im Internet ermitteln darf. Provider müssen derartige Informationen auf Anforderung der auf Ermittlungen wegen Internetstraftaten spezialisierten Polizeieinheit mitteilen (Zusatzartikel 6/18 PVSK). Bei Straftaten im Cyberspace, die von staatlichen Grenzen unabhängig sind, sind in der Regel mehrere nationale Rechtsordnungen betroffen.9 Das türkische internationale Strafrecht legt in den §§ 8 – 13 TCK fest, ob eine Straftat mit Auslandsbezug der türkischen Strafgewalt unterliegt. 8
Weitere Inhaltsdelikte, die in Frage kommen können, sind extremistische Propaganda, Betrug im Internet, Verletzung von Urheberrechten und die Verletzung von Datenschutz (Hilgendorf-Frank-Valerius, Computer- und Internetstrafrecht, Berlin, 2005, Rn. 451). 9 Murat Volkan Dülger, Bilis¸im Suçları ve ˙Internet Hukuku, 7. Baskı, Ankara 2017, S. 205.
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Auf Taten, die im Inland begangen werden, wird jedenfalls türkisches Strafrecht angewendet und die Anwendbarkeit des türkischen Strafrechts richtet sich nach dem Territorialitätsprinzip (Art. 8 TCK). Wenn der Täter teilweise oder ganz in der Türkei gehandelt hat, oder wenn der Erfolg in der Türkei eingetreten ist, wird die Tat als in der Türkei begangen erachtet. Da die Informationen in der Türkei abrufbar sind, ungeachtet dessen in welchem Land der Inhalt in das Internet eingespeist wird, sind für die Strafrechtsanwendung im Internet die Fälle schwieriger, bei denen die Handlung im Ausland begangen ist und nur der Erfolg in der Türkei eintritt. Ein Grund für die Unerreichbarkeit von Daten im Internet als Beweismittel ist die Ablehnung eines Rechtshilfeersuchens der Türkei bei Straftaten, die in dem jeweiligen Staat nicht als Straftat geregelt sind. Wenn es sich um Erfolgsdelikte handelt, wird der Täter bei Vorhandensein der gegenseitigen Strafbarkeit in der Türkei verfolgt.10 So zum Beispiel bekommt die Türkei bei einer Beleidigung über Internet keine elektronischen Beweismittel von den Vereinigten Staaten von Amerika, wo die Beleidigung nicht bestraft wird. Ähnliche Probleme gibt es in Bereich von Glückspielen im Internet, die in der Türkei verboten sind. Auch die Definition von Terrorismus bereitet Schwierigkeiten für die Strafverfolgung von Propagandatatbeständen im Bereich von Terrorismus (Art. 7 TMK). Hingegen gibt es keine Probleme bei Kinderpornographie, bei der die ausländischen Behörden meistens alle Daten über den Verdächtigen, bis hin zur Adresse von sich aus, ohne ein Ersuchen der Türkei an die türkische Polizei weiterleiten. Türkische Staatsangehörige, die im Ausland eine Straftat begehen, werden in der Türkei nach den türkischen Gesetzen bestraft, wenn sie sich in der Türkei aufhalten und sofern wegen der Straftat noch kein Urteil im Ausland ergangen ist und die Tat nach den türkischen Gesetzen mit einer Strafe von mindestens einem Jahr bedroht ist (Art. 11/1 TCK). Wenn die Strafandrohung bei weniger als ein Jahr Gefängnis liegt, hängt die Strafverfolgung in der Türkei von einem Strafantrag des Opfers oder der ausländischen Regierung ab, der binnen sechs Monaten nach der Einreise des türkischen Staatsangehörigen in die Türkei gestellt werden muss (Art. 11/2 TCK). Da die Antragsdelikte durch Mediationsverfahren erledigt werden, muss die Staatsanwaltschaft vor der Klageerhebung die Mediation versuchen (Art. 174 CMK), die jedoch scheitern wird, wenn sich der Antragsteller nicht in der Türkei aufhält (Art. 253/6 CMK). Wenn eine Internetstraftat, die nach den türkischen Gesetzen mit Gefängnis von mindestens einem Jahr bedroht ist, im Ausland von einem Ausländer zum Nachteil der Türkei begangen wurde, wird sie in der Türkei nach den türkischen Gesetzen bestraft, wenn der Täter sich in der Türkei aufhält und der Justizminister ein Ersuchen stellt (Art. 12/1 TCK). Ob der Ausländer im Ausland wegen dieser selben Tat verur-
10 Diese Regelung hilft aber bei der länderübergreifenden Nutzung des Internets bei abstrakten Gefährdungsdelikten nicht viel (Res¸it Karaaslan, Strafbare Werbung bei OnlineAuktionen, Hamburg 2016, S. 444).
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teilt oder freigesprochen worden war, spielt keine Rolle; auf Ersuchen des Justizministers wird in der Türkei ein neues Strafverfahren eingeleitet (Art. 12/4 TCK). Wurde die Auslandstat des Ausländers zum Nachteil eines Türken oder einer türkischen juristischen Person des Privatrechts begangen, ist die Verfolgung der Straftat in der Türkei davon abhängig, ob der Täter sich in der Türkei aufhält, und ob der Geschädigte ein Antrag gestellt hat. Wenn im Ausland wegen dieser Straftat ein Urteil ergangen ist, gilt das Prinzip des ne bis in idem (Art. 12/2 TCK). Begeht ein Ausländer im Ausland eine nach den türkischen Gesetzen mit einer Strafe von mindestens drei Jahren Gefängnis bedrohte Straftat gegen einen Ausländer, wird er in der Türkei abgeurteilt, wenn die Auslieferung nicht erfolgen kann und der Justizminister ein Ersuchen stellt (Art. 12/3 TCK). Das Universalitätsprinzip im türkischen Strafgesetzbuch ist anwendbar für in einen Katalog von Straftaten,11 sofern ein entsprechendes Ersuchen des Justizministers vorliegt (Art. 13/2 TCK). Personen, die der Begehung von Völkerstraftaten und gewisser Straftaten gegen die türkische Nation und den türkischen Staat verdächtig sind, werden auf Ersuchen des Justizministers in der Türkei erneut abgeurteilt, auch wenn sie im Ausland durch ein ausländisches Gericht bereits verurteilt oder freigesprochen worden waren (Art. 13/3 TCK). Dabei spielen die Straftaten der Beleidigung des Präsidenten der Republik (Art. 299 TCK), Verunglimpfung staatlicher Hoheitszeichen (Art. 300 TCK) und Herabsetzung der türkischen Nation, des Staates der Republik Türkei, der staatlichen Institutionen und Organen (Art. 301 TCK) eine wichtige Rolle, weil sie als Meinungsäußerungsdelikte meistens über das Internet begangen werden. Bei den Taten, bei denen z. B. ausländische Propaganda in der Türkei heruntergeladen wird, gelten die Grundsätze für Inlandstaten und der Täter wird in der Türkei bestraft. Demgegenüber kann das unbefugte Eindringen in ein Computersystem (Art. 243 TCK), das im Ausland begangen worden ist, in der Türkei nicht verfolgt werden, weil die Verhängung einer Freiheitsstrafe oder einer Geldstrafe wahlweise angedroht ist (Art. 14 TCK). Diese Feststellung ist wichtig für das heimliche Eindringen ausländischer Ermittlungsbehörden in Computersysteme in der Türkei, was in der Türkei nicht bestraft werden kann.
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Auf die folgenden Straftaten im Strafgesetzbuch werden die türkischen Gesetze angewendet, wenn sie im Ausland begangen werden (Art. 13/1 TCK): Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 76 – 78), Schleusertum und Menschenhandel (Art. 79 – 80), Straftaten gegen Hoheitszeichen des Staates und gegen das Ansehen von Staatsorganen (Art. 299 – 301), gegen die Sicherheit des Staates (Art. 302 – 308), gegen die Verfassungsordnung und ihr Funktionieren (Art. 309 – 316), gegen die nationale Verteidigung (Art. 317 – 325), gegen Staatsgeheimnisse (Art. 326 – 339) und Straftaten gegen die Beziehungen mit fremden Staaten (Art. 344 – 345).
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II. Anwendung von elektronischen Daten im Strafprozess 1. Die Ermittlung von elektronischen Beweismitteln Computerdaten sind nicht mit der Hand zu fassen, deswegen haben die klassischen Richter Schwierigkeiten damit umzugehen, weil sie an materielle Beweismittel gewöhnt sind. Zudem begehen Täter im Bereich des Internetstrafrechts die Straftaten meistens in einem Internetcafé. Man kann später den Standort des Computers feststellen, aber nicht den Täter. Deswegen wird vorgeschlagen, an solchen Stellen dauerhaft Videoaufnahmen zu machen und diese aufzubewahren. Die Polizei hat eine zentrale Einheit in Ankara, die Ermittlungen im Internet durchführt. Diese Einheit überwacht die offenen Internetquellen ununterbrochen 24 Stunden am Tage und sieben Tage in der Woche, um die Vorbeugung gegen Straftaten effektiv zu gestalten. Man vergleicht diese Tätigkeit mit dem auf Streife gehen von Polizisten in der Stadt. Eine solche Befugnis der Polizei ist in der Budapester Konvention vorgesehen, aber die rechtlichen Garantien, die in Art. 15 der Konvention enthalten sind, sind bei uns noch nicht vollständig umgesetzt. Im Zusammenhang mit heimlichen Datenermittlungen ist die Garantie des Art. 8 EMRK zu beachten. Das Recht auf Achtung des Privatlebens beinhaltet auch den Datenschutz (Art. 20/3 AY).12 Der Schutz vor unzulässigen Datenerhebung, -speicherung und -verarbeitung von Daten, die sich auf eine Person beziehen, auch wenn es sich um keine sensiblen Daten handelt, muss durch eine gesetzliche Regelung gewährleistet sein.13 Die Polizei ist sowohl technisch als auch wissenschaftlich im Bereich von Internetstraftaten für Ermittlungen sehr gut ausgestattet. Die Staatsanwälte hingegen haben keine technischen Spezialeinrichtungen für die Ermittlung von Computerkriminalität, obwohl es in manchen Großstädten Staatsanwälte gibt, die ohne eine spezielle Ausbildung zu „Telekommunikationsstaatsanwälten“ ernannt worden sind, die aber von den Ermittlungen der Internetpolizei abhängig sind. Der Mangel an speziell ausgebildeten14 Staatsanwälten bringt es mit sich, dass die Ermittlungen bei Straftaten, die mithilfe des Internets begangenen worden sind, meistens nicht ausreichend
12 Der Einsatz von verdeckten Ermittlern im Internet ist gesetzlich nicht geregelt. Die existierende Regelung des Art. 139 CMK umfasst diese Ermittlungsmethode nicht (Sacit Yılmaz, Türk Ceza Hukuku Sisteminde Siber Suçlar, Ankara 2016, S. 138). 13 Dieser Aspekt betrifft in erster Linie Datenermittlungen durch Sicherheitsbehörden, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Rotaru v. Rumänien, Urt. v. 4. 5. 2000, § 43 und Leander v. Schweden, Urt. v. 26. 3. 1987, § 48 betont hat (Vera Warnking, Strafprozessuale Beweisverbote in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und ihre Auswirkungen auf das deutsche Recht, Frankfurt am Main 2009, S. 222). 14 Der Europarat hat im Rahmen eines Projektes (Improving the Efficiency of Turkish Criminal Justice System) ein ausführliches Ausbildungsmodul vorbereitet und veröffentlicht (Jones-George-Karagöz-Dülger-Modog˘ lu, Bilis¸im Suçları Eg˘ itim Modülü, Ankara).
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sind, um eine Verurteilung zu ermöglichen, obwohl eine Straftat mit Sicherheit begangen worden ist.15 Die Struktur der türkischen Strafprozessordnung, der alle repressive Strafverfolgungsmaßnahmen von einer Entscheidung des Staatsanwalts abhängig macht (Art. 160/1 CMK), bildet ein Hindernis für schnelle Ermittlungen in Rahmen der Internetkriminalität. In diesem Bereich gehen die Beweismittel sofort verloren, wenn die Polizei nicht rasch handelt. Die Vorgaben der Budapester Konvention über Eilmaßnahmen (Art. 20 CCC) sollte man in der Türkei in absehbarer Zeit gesetzlich umsetzen. Von dem Mangel an Befugnissen im Eilfall profitiert der Straftäter, insbesondere im Bereich des Internetbetrugs. Das Opfer verliert sein Vermögen bis die Ermittlungen über die Staatsanwaltschaft eingeleitet worden sind und die Polizei die Sache untersucht. Wenn die elektronischen Beweismittel über das Internet derart schwer zu gewinnen sind, bestehen wenig Chancen, den Täter zu ermitteln und dem Opfer eine Chance zu verschaffen, sein verlorenes Gut zurückzubekommen. Ein weiteres Problem bei den elektronischen Beweismitteln ist die Einholung und Zuverlässigkeit eines Gutachtens des Sachverständigen. Deswegen werden die Untersuchungen von Datenträgern im gerichtsmedizinischen Institut (Adli Tıp)16 unter ständiger Videoüberwachung gemacht.17 Dabei bereitet die Verwendung von Clouds als Datenspeicher zusätzliche Schwierigkeiten bei der Ermittlung in Internetstrafsachen. Das gerichtsmedizinische Institut arbeitet nur mit übermittelten Datenträgern und darf nicht selber Daten ermitteln, die in der Cloud gespeichert sind. Deswegen kommt es oft zu einem Freispruch, weil die Daten in der Cloud nicht ermittelt werden dürfen. 2. Maßnahmen für die Erhebung von in elektronischer Form vorhandenem Beweismaterial Der zweite Abschnitt des Budapester Übereinkommens verpflichtet die Vertragsparteien, im Übereinkommen vorgesehene spezifische Befugnisse und Verfahren, die notwendig sind, um strafrechtliche Ermittlungen im Bereich von Computerkriminalität durchzuführen, in innerstaatliches Recht umzusetzen. Bei der Schaffung, Umsetzung und Anwendung dieser neuen Befugnisse und Verfahren müssen aber laut Art. 15 des Übereinkommens ein angemessener Schutz der Menschenrechte und Freiheiten vorgesehen sein und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet werden. Ahmet Aslan, Kitle I˙letis¸im Suçları, Ankara 2017, S. 177. Diese Institution hat ihren Namen von ihrer ursprünglichen Aufgabe der Erstellung gerichtsmedizinischer Gutachten, heute hat sich aber der Aufgabenkreis auf die Erstellung technischer, naturwissenschaftlicher und sonstiger Sachverständigengutachten erweitert. 17 Die gerichtsmedizinischen Untersuchungen werden nach international anerkannten Methoden durchgeführt, wie die Prinzipien von Digital Forensics es anfordern (Information Systems Audit and Control Association, Cybercrime Incident Response and Digital Forensics, Illinois 2005, S. 107. 15
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Der Schutz des privaten Lebens (Art. 20 AY), der Wohnung (Art. 21 AY) und der Telekommunikation (Art. 22 AY) sind in der Türkei in der Verfassung garantiert. Jede in Grundfreiheiten eingreifende Maßnahme der Staat muss laut Art. 13 der Verfassung durch ein Gesetz erlaubt sein. Diesbezügliche Regelungen sind in der Strafprozessordnung enthalten, und jede Maßnahme darf nur mit einer richterlichen Anordnung vollstreckt werden. Die neuen Befugnisse, die im Budapester Übereinkommen vorgesehen sind, sind aber im türkischen Recht erst teilweise und unvollständig umgesetzt. So sind zum Beispiel, die umgehende Sicherung gespeicherter Computerdaten (Art. 16 CCC), die umgehende Sicherung und teilweise Weitergabe von Verkehrsdaten (Art. 17 CCC), die Anordnung der Herausgabe (Art. 18 CCC), die Durchsuchung und Beschlagnahme gespeicherter Computerdaten (Art. 19 CCC), die Erhebung von Verkehrsdaten in Echtzeit (Art. 20 CCC) und die Erhebung von Inhaltsdaten in Echtzeit (Art. 21 CCC) teilweise in der Strafprozessordnung, aber auch in verschiedenen anderen Gesetzen geregelt. Ein solches Vorgehen verlangsamt die Ermittlungen wegen örtliche Kompetenzstreitigkeiten zwischen Staatsanwälten oder Behörden außerhalb der Strafjustiz. Eine Durchsuchung eines vom Beschuldigten benutzten Computers, Computerprogramms oder Datenträgers kann nur mit richterlicher Anordnung oder bei Gefahr im Verzug auf Anordnung des Staatsanwalts vorgenommen werden (Art. 134/1 CMK).18 Diese Anordnung kann nur während des Ermittlungsverfahrens getroffen werden und nicht während des Hauptverfahrens. Voraussetzungen einer Anordnung sind einmal das Vorhandensein von gewichtigen Verdachtsgründen gegen den Beschuldigten, die auf konkreten Beweismitteln basieren, und zweitens, dass keine Möglichkeit besteht, auf andere Weise Beweise zu erlangen.19 Die Durchsuchung wird in der Regel ohne Beschlagnahme des Rechners vorgenommen und es kann eine Kopie aller oder einiger im System enthaltener Daten hergestellt werden.20 Ist aber der Rechner, das Computerprogramm oder der Datenträger wegen der nicht erfolgreichen Dechiffrierung unzugänglich oder sind die verdeckten Inhalte unerreichbar, dann ist die Beschlagnahme zulässig. Die Geräte werden nach der Herstellung von Kopien unverzüglich zurückgegeben (Art. 134/2 CMK).21 Bei der Beschlagnahme wird eine Sicherheitskopie von allen im System gespeicherten Daten hergestellt und eine Kopie der Sicherheitskopie wird dem Beschuldigten übergeben (Art. 134/3 und 4 CMK). 18
Cengiz Tanrıkulu, Ceza Muhakemesi Hukukunda Bilis¸im Sistemlerinde Arama ve Elkoyma, Ankara 2014, S. 301. 19 Mehmet Arslan, Die türkische Strafprozessordnung, Schriftenreihe des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht, Band G 125, Berlin 2017. 20 Gökhan Yas¸ar Duran, Ceza Muhakemesi Kanunu’nda Bilgisayarlarda, Bilgisayar Programlarında ve Kütüklerinde Arama, Kopyalama ve Elkoyma, in: Bahçes¸ehir Üniversitesi Hukuk Fakültesi Dergisi, Ocak-S¸ubat 2019, cilt. 14, sayı. 173 – 174, S. 213. 21 Die Rückgabe eines Computers, der noch Spuren einer Straftat aufweist, ist von Seiten der Polizei unerwünscht, aber die gesetzliche Regelung ist zwingend.
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Da die Regelungen über die Durchsuchung von Computern, wie sie in der Budapester Konvention vorgesehen sind, noch nicht in vollem Umfang umgesetzt sind, ist die Koordination der Ermittlungen während einer Computerdurchsuchung und die umgehende Festnahme eines Verdächtigen an einem anderen Ort noch nicht möglich und eine effektive Tatermittlung im Bereich von Computerstraftaten ist sehr schwierig. Die Überwachung des Telekommunikationsverkehrs (Art. 135 CMK) ist auch eine heimliche Beweiserhebungsmethode, und beinhaltet verschiedene Modalitäten. Erstens kann der Telekommunikationsverkehr des Beschuldigten oder Angeklagten abgehört, aufgezeichnet oder bezüglich seiner Signaldaten ausgewertet werden, wenn es sich um die Katalogtaten im Abs. 8 des Art. 135 CMK handelt. Die Überwachung erfolgt auf Anordnung des Richters oder bei Gefahr im Verzug des Staatsanwalts, wenn gewichtige Verdachtsgründe gegen den Beschuldigten vorhanden sind, die auf konkreten Beweismitteln basieren, und keine sonstige Möglichkeit besteht, Beweise zu erlangen (Art. 135/1 CMK). Die weiteren Methoden sind Feststellung des Standorts eines Mobilfunkgeräts zur Festnahme des Beschuldigten oder Angeklagten (Art. 135/5 CMK) und die Feststellung des Telekommunikationsverkehrs des Beschuldigten oder Angeklagten (Art. 135/6 CMK). Wird das Verfahren gegen den Beschuldigten eingestellt oder bestätigt der Richter die Anordnung des Staatsanwalts nicht, dann werden die bisher gemachten Feststellungen oder Aufzeichnungen vernichtet und der Betroffene wird binnen 15 Tagen schriftlich über Gründe, Umfang, Dauer und Ergebnis der Anordnung benachrichtigt (Art. 137/3, 4 CMK). Die gesamte Datenübertragung in der Türkei fließt über ein Zentrum in Ankara (Amt für Telekommunikationstechnologie = Bilis¸im Teknolojileri Kurumu). Es wird meistens behauptet, dass dieses Amt alle Daten unter Kontrolle hält, da dies technisch möglich sei. Für nachrichtendienstliche Zwecke ist es rechtlich zulässig, Daten in Echtzeit bei der Übermittlung zu überwachen (Gesetz über nationale Nachrichtendienste der Türkei; MI˙TK 6/1-g). Aber für repressive Zwecke ist eine solche Überwachung nach der Strafprozessordnung nicht zulässig (Art. 135/1 CMK). Diese Diskussion ist wichtig für die nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 laufenden Terrorermittlungen und für anhängige Strafsachen gegen die mutmaßlichen Terroristen. Der organisatorische Aufbau der terroristischen Bewegung wird durch die verschlüsselte Telekommunikation zwischen Personen über ein Telekommunikationsprogramm nachgewiesen. Die Verbindungsdaten über Telekommunikation zurückliegender Jahre stammt aus nachrichtendienstlicher Tätigkeit, die erst in letzter Zeit an die Strafverfolgungsbehörden übergeben worden sind. Das türkische Recht ist sehr streng bei der Trennung von nachrichtendienstlicher Tätigkeit und Strafverfolgung. Deswegen ist es gesetzlich verboten, Daten, die Nachrichtendienste gewonnen haben, für andere Zwecke zu verwenden (Zusatzartikel 1/1 MI˙TK, Zusatzartikel 7/9 PVSK). Die Regelung für Nachrichtendienste enthält aber eine Ausnahme für Spionage. Zudem hat die Generalversammlung des höchsten Gerichtshofs in Strafsachen kürzlich entschieden, dass die Übermittlung von Daten über das ver-
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schlüsselte Telekommunikationsprogramm alleine ausreichend ist, um eine Verurteilung wegen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation zu begründen.22
III. Schlussbemerkungen Computerstrafrecht und Internetkriminalität verbreiten sich in der globalen Risikogesellschaft zusammen mit den Entwicklungen der Technologie. Diese Entwicklungen bringen eine Umgestaltung der polizeilichen Arbeit und Beweisgewinnung und eine internationale Zusammenarbeit im Bereich des Strafrechts mit sich. Der Jubilar hat sich mit diesen Entwicklungen, ihren Problemen und Lösungen jahrelang auseinandergesetzt und viele wissenschaftliche Publikationen veröffentlicht.23 Das Institute for Global Understanding of Rule of Law an der Juristischen Fakultät der Bahçes¸ehir Universität, freut sich sehr, einen Teil dieses großen Werks für die Türkei zugänglich zu machen. Denn etwa 15 seiner Aufsätze werden derzeit ins Türkische übersetzt und hoffentlich noch vor dieser Festschrift veröffentlicht. Diese Publikation wird ein Wegweiser für die türkischen Juristen sein, die sich über den neuesten Stand der Computerkriminalität informieren wollen.
22 Die Generalversammlung des Kassationsgerichtshofes begründet diese Entscheidung auf der Grundlage der Feststellung, dass dieses verschlüsselte Programm ausschließlich für die Benutzung von Mitgliedern der Organisation hergestellt worden sei, dass ein Anschluss nur aufgrund der Annahme und Erlaubnis der Organisation möglich sei; deswegen können nur diejenigen Personen von diesem Programm als Kommunikationsmittel Gebrauch machen, deren Mitgliedschaft von der Organisation angenommen worden war (Entscheidung vom 13. Juni 2019, Nr. 2019/79). 23 Die türkischen Juristen kennen ein Teil seiner Arbeiten durch Übersetzungen wie z. B. Ulrich Sieber, Internetteki Suçlar ve Suçun Internette Takibi (Das Gutachten für den 69. Juristentag, übersetzt von Yener Ünver und Mustafa Temmuz Og˘ lakçıog˘ lu), Ankara, 2014; Ulrich Sieber, Bilgisayar Suçlulug˘ u, (übersetzt von Yener Ünver) in: Kars¸ılas¸tırmalı Güncel Ceza Hukuku Serisi 13, Internet Hukuku, Ankara 2013, S. 13 – 57.
Digitalisierung, Globalisierung und Risikoprävention Festschrift für Ulrich Sieber zum 70. Geburtstag
Schriften zum Strafrecht Band 373
Digitalisierung, Globalisierung und Risikoprävention Festschrift für Ulrich Sieber zum 70. Geburtstag Teilband II
Herausgegeben von
Marc Engelhart, Hans Kudlich und Benjamin Vogel
Duncker & Humblot · Berlin
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Inhaltsverzeichnis
TEILBAND I I. Grundlagen des (Straf-)Rechts und der Kriminalpolitik Lorena Bachmaier Winter Comparative Law, Legal Metaphors and Negotiated Justice . . . . . . . . . . . . . . .
3
Matthew Dyson Age Before Beauty; Pearls Before Swine: when the Criminal Law’s Content Gives Way . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
Luís Greco Kants Insel. Zu den guten und schlechten Gründen gegen die Vergeltungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27
Tatjana Hörnle Große Erzählungen der Strafrechtsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45
Makoto Ida Zur Wahrheit der strafrechtlichen Problemlösung. oder: auf der Suche nach einer universell gültigen Strafrechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
Yesid Reyes Kommunikative Handlung und Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69
II. Allgemeiner Teil des Strafrechts Gunnar Duttge Recklessness statt dolus eventualis? Zur Systematik der subjektiven Tatseite de lege ferenda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
Marc Engelhart Mitwirkung von Führungspersonen an der Tat und individuelle Organisationsverantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
Walter Gropp Das subjektive Rechtfertigungselement als hermeneutisches Problem . . . . . . .
121
Claus Roxin Genehmigungsprobleme im Umweltstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
137
VI
Inhaltsverzeichnis
Franz Streng Actio libera in causa als Unterlassenskonstruktion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
147
Benjamin Vogel Subjektive Einstellungen im strafrechtlichen Handlungsbegriff . . . . . . . . . . . .
161
III. Besonderer Teil des Strafrechts Jens Bülte Containern: Eigentumsdelikt ohne Eigentumsverletzung? . . . . . . . . . . . . . . . . .
183
José de Faria Costa Umweltstrafrecht zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Kritische Überlegungen . . .
197
José-Luis de la Cuesta On Ecocrimes and Ecocide in the Global Risk Society. Function and Limits of Environmental Criminal Law from the Perspective of the Association Internationale de Droit Pénal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
207
Mordechai Kremnitzer und Khalid Ghanayim Tötung des Haustyrannen: Minderschwere Tötung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
219
Volker Krey About the Criminal Liability of Wives for Adultery. A Classic Example of Oppressing Women Reflections on the Legal History of Roman Antiquity . . .
235
Christos Mylonopoulos Is the Possession of the Parthenon Sculptures by the British Museum a Criminal Offense According to English Law? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
255
Ulfrid Neumann Probleme der Rechtfertigung bei der Offenbarung von ärztlichen Geheimnissen (§ 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
275
Ays¸e Nuhog˘ lu Legal Provisions on Sexual Offences in the Istanbul Convention and the Turkish Criminal Code . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
293
Rudolf Rengier Zur Schadensberechnung bei Betrug und Untreue – Wider Unmittelbarkeitsund pro objektive Zurechnungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
303
Sergio Seminara Sterbehilfe und Sterbenlassen nach italienischem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . .
329
Eugenio R. Zaffaroni und Guido L. Croxatto Massenproteste im argentinischen Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
345
Frank Zieschang Preußenadler auf dem blauen Euro-Feld eines Kfz-Kennzeichens als Missbilligung der Europäischen Union – Strafbarkeit wegen Urkundenfälschung? . . .
357
Inhaltsverzeichnis
Nadine Zurkinden Zur Risikoverteilung zu Lasten des Opfers im Schweizer Betrugstatbestand . .
VII
373
IV. Wirtschaftsstrafrecht und Compliance Martin Böse Die strafrechtliche Verantwortlichkeit deutscher Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen im Ausland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
395
Luigi Foffani und Adan Nieto Martin Auf dem Weg zu einem europäischen Wirtschaftsstrafrecht der Menschenrechte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
411
Wolfgang Heckenberger Wesentliche Elemente und Implementierung eines effektiven kartellrechtlichen Compliance Programms – unter besonderer Berücksichtigung der kartellrechtlichen Leitlinien des US-amerikanischen Justizministeriums . . . . . . . . . . . . . .
421
Matthias Jahn Friktionen in globalisierten Wirtschaftsstrafsachen: § 353d Nr. 3 StGB und die amerikanische Pre Trial-Discovery . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
439
William S. Laufer Corporate Compliance in Context . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
461
Attilio Nisco Wirtschaft und Menschenrechte. Perspektiven einer Unternehmensstrafbarkeit
469
Víctor Roberto Prado Saldarriaga Asset Laundering Through Cryptocurrency in Emerging and Informal Economies. The Case of Peru . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
485
Wolfgang Wohlers Die Verbandsschuld – Pièce de résistance für ein Verbandsstrafrecht . . . . . . . .
503
V. Strafprozessrecht Werner Beulke Der Verteidiger und sein Mandant – von Alsberg bis heute . . . . . . . . . . . . . . . .
521
Juan-Luis Gómez Colomer Die Zunahme des staatlichen Interventionismus bei der Ermittlung von Straftaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
533
Rainer Hamm Wann verdienen tatrichterliche Feststellungen das revisionsrechtliche Testat „rechtsfehlerfrei“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
545
Jiahong He Burden of Proof in Self-Defense Cases . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
559
VIII
Inhaltsverzeichnis
Hans Kudlich § 203 StGB als Grenze kooperativen Beschuldigtenverhaltens beim Zugriff auf Beweismittel in Anwaltskanzleien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
573
Heinz Schöch Wieviel Verletztenrechte verträgt das Strafverfahren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
591
Morikazu Taguchi Absprachen in der japanischen Strafprozessordnung – Eine rechtsvergleichende Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
609
Gerson Trüg Durchsuchung und Beschlagnahme gegen im unternehmensstrafrechtlichen Kontext tätige Rechtsanwälte – im Lichte der VW-Entscheidung des BVerfG
635
Richard Vogler The Disappearance of Criminal Justice . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
655
Feridun Yenisey Elektronische Beweismittel im türkischen Strafprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
667
TEILBAND II VI. Computer- und Informationsstrafrecht Héctor Hernández Basualto Der unbefugte Zugang zu einem Computersystem und die Grenzen des zu beachtenden Willens des Rechtsinhabers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
681
Emmanouil Billis, Nandor Knust und Jon Petter Rui Künstliche Intelligenz und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . .
693
Dominik Brodowski Digitalisierung als Herausforderung und Zukunftsaufgabe für das materielle Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
727
Christoph Burchard Digital Criminal Compliance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
741
Jörg Eisele Strafbares Betreiben von sog. Darknetplattformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
757
Eric Hilgendorf Vom Werkzeug zum Partner? Zum Einfluss intelligenter Artefakte auf unsere sozialen Normen und die Aufgaben des Rechts. Skizze eines interdisziplinären Forschungsprojekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
767
Thomas Hoeren Das Informationsrecht ist tot, es lebe das Informationsrecht. Überlegungen zu einem scheinbar überflüssig gewordenen Fach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
779
Inhaltsverzeichnis
IX
Mustafa Temmuz Og˘ lakcıog˘ lu Aktuelle Rechtsprechung: Materielles Strafrecht (Berichtszeitraum 1. 1. 2030 – 31. 12. 2030) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
791
Lorenzo Picotti Cybercrime und Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
807
Johanna Rinceanu Menschenrechte in der digitalen Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
831
Silvia Tellenbach Ein Streifzug durch das iranische Computerstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
851
Stephen C. Thaman Erzwungene Entschlüsselung Digitaler Dateien. Eine Herausforderung für die Strafrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
867
VII. Strafrecht und Sicherheitsrecht Jan-Hendrik Dietrich Verfassungsschutz in der föderalen Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
885
Wolfgang Frisch Terrorismus und präventives Strafrecht. Zu den Möglichkeiten und Problemen eines sogenannten präventiven Strafrechts gegen terroristische Straftaten . . . .
905
Kurt Graulich Zum Trennungsgebot im Sicherheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
929
Momyana Guneva Haben wir die Büchse der Pandora geöffnet? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
947
Florian Jeßberger Terrorismusstrafrecht und humanitäre Hilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
959
Valsamis Mitsilegas ‘Security Law’ and Preventive Justice in the Legal Order of the European Union. The Case of Counter-terrorism . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
975
Ralf Poscher Virtuelle Versammlungen und Versammlungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
989
Bettina Weißer Unterstützung von Terrororganisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1001 Zunyou Zhou China’s Criminal Law Against Cyberterrorism . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1017
X
Inhaltsverzeichnis
VIII. Internationales und ausländisches Strafrecht sowie Strafrechtsvergleichung Koffi Kumelio A. Afand¯e The Prevention and Repression of the Crime of Genocide: A New Generation out of the Kamite Continent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1033 Gerhard Dannecker Der Grundsatz der Einmaligkeit der Strafverfolgung: Verbot der Parallelverfolgung vor erstmaliger rechtskräftiger Sanktionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1073 Albin Eser Varianten der Strafrechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1095 Robert Esser Die Europäische Ermittlungsanordnung (EEA). Ein Auslaufmodell vor dem Beginn seiner praktischen Erprobung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1111 Peter Frank Völkerstrafrecht in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme der letzten Jahre . . . 1133 Martin Heger Zur Vorgeschichte des Europäischen Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1147 Katsunori Kai Medical Safety and the Role of Criminal Law from the Viewpoint of Comparative Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1165 Hans-Heiner Kühne Der europarechtliche Rechtsschutz gegen eine „red notice“ von INTERPOL
1175
Raimo Lahti Entwicklungstrends der finnischen Strafrechtswissenschaft von den 1970-er bis zu den 2010-er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1183 Frank Meyer Financial Intelligence Units – Epitome and Test Case of Transnational Security Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1203 Walter Perron Gedanken zur Europäischen Ermittlungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1217 Christoph Safferling Ist die Krise des Internationalen Strafgerichtshofs auch eine Krise des Völkerstrafrechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1235 Frank Saliger Zur Nichtanwendbarkeit von § 284 StGB auf von ausländischen Servern hochgeladene und in Deutschland abrufbare Internet-Glücksspiele . . . . . . . . . 1251 Helmut Satzger Umwelt- und Klimastrafrecht in Europa – die mögliche Rolle des Strafrechts angesichts des „Green Deal“ der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1267
Inhaltsverzeichnis
XI
Bertram Schmitt Diversität der Prozesssysteme in der Praxis des Internationalen Strafgerichtshofs. Am Beispiel der Beurteilung der Zulässigkeit und Erheblichkeit von Beweismitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1281 Gerhard Werle und Aziz Epik Strafzwecke und Strafzumessung in der Praxis des Internationalen Strafgerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1299 IX. Strafrechtliche Sanktionen, Strafvollzug und Kriminologie Hans-Jörg Albrecht Organisierte Kriminalität – Strukturen und Erklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1321 Nestor Courakis Juvenile Justice in Greece. An Overview Following the Legislative Reform of 2019 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1335 Dieter Dölling Zum Stand des deutschen Strafzumessungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1345 Thomas Hillenkamp Serientötungen kranker und pflegebedürftiger Menschen. Anmerkungen zum Fall Niels H. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1357 Elisa Hoven Strafzumessung in Australien – ein Vorbild für Deutschland? . . . . . . . . . . . . . 1373 Jörg Kinzig Organisierte Kriminalität und Clankriminalität: Gemeinsamkeiten und Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1391 Luis Arroyo Zapatero Strafe und Zwangsarbeit im Strafvollzug während der ersten Phase des FrancoRegimes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1415 Lucia Zedner and Andrew Ashworth Administrative Sanctions: Two Contradictions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1435 Veröffentlichungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1445 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1473
VI. Computer- und Informationsstrafrecht
Der unbefugte Zugang zu einem Computersystem und die Grenzen des zu beachtenden Willens des Rechtsinhabers Von Héctor Hernández Basualto Vor knapp 45 Jahren, im September 1976, schloss Ulrich Sieber, unser verehrter Jubilar, das Manuskript eines Buches ab, das entscheidend zur rechtswissenschaftlichen Etablierung dessen beitrug, was heute als Computerstrafrecht bekannt ist.1 Zur Zeit der ersten Auflage von „Computerkriminalität und Strafrecht“ ging es für die Strafrechtswissenschaft vor allem um die Frage nach der Erfassung durch das damals geltende Strafrecht von neuen, durch die Entwicklung der Informatik eröffneten Angriffsmöglichkeiten gegen schutzwürdige Rechtsgüter sowie nach der dementsprechend möglichen bzw. nötigen Strafrechtsreform. Heutzutage sind Computerstraftatbestände überall fester Bestandteil der Gesetzgebung, und trotz vieler nationaler Variationen ist es möglich, einen Kern des Computerstrafrechts zu erkennen, zu dem u. a. der Tatbestand des unbefugten Zugangs zu einem Computersystem gehört. Diesbezüglich könnte man davon ausgehen, dass die Konturen des einschlägigen Tatbestands schon klar genug sind, so dass darüber wenig von Interesse zu sagen ist. Eine solche Annahme wäre aber falsch. Nicht zuletzt hat der Jubilar vor einigen Jahren auf die Reformbedürftigkeit hingewiesen, die auch in diesem Bereich und trotz des 41. StrÄndG zur Bekämpfung der Computerkriminalität in Deutschland besteht.2 Der nachfolgende Beitrag befasst sich mit einem in vielen Rechtsordnungen nicht gelösten Auslegungsproblem dieses Tatbestands, nämlich mit der Bedeutung des Willens des Rechtsinhabers3 für die Definition dessen, was als „unbefugt“ zu gelten hat. Das Problem soll anhand zweier Beispiele dargestellt werden.
1
Sieber, Computerkriminalität und Strafrecht, Heymanns Verlag, Köln u.a. 1977. Sieber, Straftaten und Strafverfolgung im Internet. Gutachten C zum 69. DJT, C.H. Beck, München 2012, S. C 84 ff.; dazu auch Sieber, Straftaten und Strafverfolgung im Internet, NJW-Beil. 2012, 86 (89). 3 Unter „Rechtsinhaber“ wird hier diejenige Person verstanden, die über das Recht verfügt, auf ein EDV-System oder Computernetz zuzugreifen und andere davon ganz oder teilweise auszuschließen. Inhaber eines Passworts oder ähnlicher Zugangscodes sind darin eingeschlossen. 2
682
Héctor Hernández Basualto
I. Das „Unbefugte“ bei dem unbefugten Zugang zu einem Computersystem im Allgemeinen In Bezug auf diesen Punkt besteht Übereinstimmung jedenfalls darüber, dass ein Zugang unter Verletzung der objektiven, d. h. von Personen und ihren Zwecken unabhängigen Nutzungsbedingungen, die in der Regel auch Zugangsschranken für die außerhalb eines bestimmten Personenkreises Stehenden darstellen, auf jeden Fall den Tatbestand erfüllt. So handelt zweifellos derjenige tatbestandsmäßig, der sich den Zugang zu einem EDV-System ohne das verlangte Passwort, sondern durch eine Computermanipulation verschafft. Die Frage ist aber, ob und inwieweit ein tatbestandsmäßiger Zugang darüber hinaus anzuerkennen ist. Klar ist, dass die Einbeziehung weiterer Fälle nicht nur denkbar, sondern auch rechtlich möglich, teilweise sogar erwünscht ist. Dies ist offensichtlich z. B. der Standpunkt des Budapester Übereinkommens über Computerkriminalität des Europarats vom 23. 11. 2001, des in diesem Bereich wohl wichtigsten völkerrechtlichen Vertrages. Nach dessen Art. 2 (Rechtswidriger Zugang) stellt die Verletzung von Sicherheitsmaßnahmen nur ein mögliches Qualifizierungsmerkmal von vielen dar, mit denen die Vertragsparteien die Breite des Strafbaren einschränken dürfen. Es ist aber sehr fraglich, dass es Sinn macht, weitere Fälle als Computerdelikte einzustufen. Der Kern der Diskussion geht dahin, ob der Wille des Rechtsinhabers jenseits des Ausdrucks dieses Willens in den konkreten technischen Bedingungen des Systems die Strafbarkeit des Verhaltens begründen darf. Grundsätzlich geht es darum, ob für ein vernünftiges Computerstrafrecht vom Rechtsinhaber gesetzte nicht-technische Nutzungsbedingungen (terms of service, terms of use bzw. terms and conditions) von Bedeutung sein dürfen. Natürlich ist die Diskussion de lege lata in Rechtsordnungen fehl am Platz (siehe aber unten II.), wo der einschlägige Straftatbestand ausdrücklich auf die Überwindung von Sicherheitsvorkehrungen abstellt, wie dies in Deutschland (§ 202a des deutschen StGB: „unter Überwindung der Zugangssicherung“)4 oder in Spanien (Art. 197bis des spanischen StGB: „unter Verstoß gegen die Sicherheitsvorkehrungen, die getroffen wurden, um dies zu verhindern“) der Fall ist. Der Vergleich mit anderen Rechtsordnungen lässt aber ein differenziertes Bild und lebhafte Kontroversen erkennen. Soweit ersichtlich wird die intensivste Diskussion im US-amerikanischen Bundesrecht geführt. § 1030 CFAA (Computer Fraud and Abuse Act 1986)5 stellt das 4 Siehe auch § 118a I des österreichischen StGB („durch Überwindung einer spezifischen Sicherheitsvorkehrung“). In der Schweiz verlangt Art. 143bis StGB eigentlich nur, dass das EDV-System „gegen seinen Zugriff besonders geschützt“ ist. Soweit aber die Tathandlung in einem „Eindringen“ bestehen muss, bedeutet dies, dass auch die Ausschaltung oder Überwindung von Zugangsschranken notwendig ist. Dazu Weissenberger, Art. 143bis, in: Niggli/ Wiprächtiger (Hrsg.), Basler Kommentar Strafrecht, 4. Aufl., Helbing Lichtenhahn, Basel 2019, Rdn. 18. 5 18 U.S. Code § 1030 – Fraud and related activity in connection with computers.
Der unbefugte Zugang zu einem Computersystem
683
Verhalten desjenigen unter Strafe, der auf ein geschütztes EDV-System ohne Genehmigung zugreift (access without authorization) oder einen genehmigten Zugriff überschreitet (or exceeds authorized access).6 Obwohl die zweite Alternative eine extensive Sichtweise nahelegt, hat die Auslegung beider Varianten zu Divergenzen in der bundesstaatlichen Rechtsprechung geführt, mit denen sich der US Supreme Court bislang noch nicht befasst hat. In allen diskutierten Fällen stand außer Frage, dass derjenige, der die Information erlangte, die Genehmigung für den Zugriff auf das System hatte. Freilich verfolgte er Zwecke, die der Rechtsinhaber nicht nur nicht erlaubt, sondern sogar verboten hatte7. Manche Bundesgerichte verstehen die Bestimmungen des CFAA dahingehend, dass der Gesetzgeber damit ein computergestütztes Eindringen (anti-hacking) unterbinden wollte, womit die Verletzung von subjektiven Nutzungsbedingungen für die Tatbestandsmäßigkeit des Verhaltens irrelevant ist. So haben die Bundesgerichte für den 2., 4. und 9. Gerichtsbezirk entschieden. Beim Fall US v. Nosal, den das Berufungsgericht für den 9. Gerichtsbezirk entschied und der auch als Nosal I bekannt ist,8 ging es um einen ehemaligen Angestellten einer Firma, der seine früheren, im Unternehmen noch verbliebenen Kollegen dazu brachte, sich mit ihren Passwörtern Zugang zu der Datenbank des Unternehmens zu verschaffen, sowie Namen und Kontaktdaten herunterzuladen und ihm zu senden, damit er ein neues Unternehmen in derselben Branche gründen konnte.9 Bei dem Fall WEC Carolina Energy Solutions LLC v. Miller, entschieden vom Berufungsgericht für den 4. Gerichtsbezirk,10 ging es um einen Angestellten, der Informationen des Unternehmens herunterlud, bevor er kündigte und mit den erlangten Informationen vor einem potentiellen Kunden als Vertreter eines mit seinem ehemaligen Arbeitgeber konkurrierenden Unternehmens auftrat. Schließlich ging es bei dem berühmten Fall United States v. Valle,11 den das 6 § 1030 (e)(6) erläutert den Satz „exceeds authorized access“ und definiert ihn folgendermaßen: „Mit Genehmigung auf einen Computer zugreifen und einen solchen Zugriff nutzen, um Informationen zu erhalten oder zu ändern, die derjenige, der zugreift, nicht befugt ist, zu erhalten oder zu ändern.“ 7 Dazu unter vielen (mit einem subjektiven Lösungsansatz) Thaw, Criminalizing Hacking, Not Dating: Reconstructing the CFAA Intent Requirement, 103 J Crim L & Criminology 907 (2013). Eine Übersicht zum angelsächsischen Raum gibt Clough, Principles of Cybercrime, Cambridge University Press, Cambridge usw. 2010, S. 40 ff., 48 ff. 8 676 F.3d 854 (9th Cir. 2012); zuvor ging es im Fall LVRC Holdings v. Brekka, 581 F.3d 1127, 1135 (9th Cir. 2009) um einen Angestellten, der, bevor er das Unternehmen verließ, an seine persönliche elektronische Adresse sowie an die seiner Frau Informationen versendete, zu denen er befugt Zugang hatte. 9 Später wurde dieselbe Person aufgrund eines ähnlichen, aber anders gelagerten Falls verfolgt und verurteilt, in dem sie selbst sich mit dem Passwort einer ehemaligen, noch am Unternehmen tätigen Assistentin (mit deren Zustimmung) Zugang zum System verschafft hatte. In diesem Fall, auch als Nosal II (United States v. Nosal, 828 F.3d 865, 9th Cir. 2016) bekannt, bejahte das Berufungsgericht für den 9. Gerichtsbezirk einen unbefugten Zugang. 10 687 F.3d 199 (4th Cir. 2012). 11 Der Fall erregte wegen seiner grotesken Züge große öffentliche Aufmerksamkeit. Der Täter nahm an einer fetischistischen Online-Gemeinschaft teil, innerhalb derer er Bilder von
684
Héctor Hernández Basualto
Berufungsgericht für den 2. Gerichtsbezirk entschied,12 um einen New Yorker Polizisten, der dank seines befugten Zugangs zu der Datenbank der Polizei höchstpersönliche Informationen von Verbrechensopfern erlangte, die er dann als eigene Opfer in einer fetischistischen Online-Gemeinschaft präsentierte. Dagegen vertreten die Berufungsgerichte für den 5., 7. und 11. Gerichtsbezirk eine großzügigere Auslegung des Tatbestands, wonach manche Verletzungen der Bedingungen, die der Rechtsinhaber gesetzt hat, tatbestandsmäßig sein können. In dem Fall International Airport Centers, L.L.C. v. Citrin, entschieden vom Berufungsgericht für den 7. Gerichtsbezirk,13 ging es um einen Angestellten, der vertragswidrig Geschäfte in eigenem Interesse abschloss und vor der Rückgabe seines Geschäftscomputers alle Informationen löschte, um nicht entdeckt zu werden. Der Fall US v. John, den das Berufungsgericht für den 5. Gerichtsbezirk entschied,14 betraf eine Angestellte einer Bank, die private Informationen ihrer Kunden erlangt hatte, um damit Betrügereien zu begehen, die gegen die Unternehmenspolitik verstießen. Im Fall US v. Rodriguez, entschieden vom Berufungsgericht für den 11. Gerichtsbezirk,15 ging es um einen Verwaltungsangestellten der Sozialversicherung, der unter Verstoß gegen die Behördenpolitik aus dem System Informationen über ehemalige Freundinnen und über andere Frauen abrief, um anschließend mit ihnen Kontakt aufnehmen zu können. Was speziell den Umgang mit Webseiten betrifft, wird in den USA eine ähnliche Diskussion geführt. So wurde im Fall EF Cultural Travel BV v. Explorica, Inc., den das Berufungsgericht für den 1. Gerichtsbezirk entschied,16 darin ein „Exzess“ erblickt, dass eine Gruppe ehemaliger Mitarbeiter einer auf Studienreisen spezialisierten Firma, von ihrem früheren Arbeitgeber Informationen aus dem Internet mittels einer speziellen Suchmaschine erlangt hatten. Das Gericht hielt die Verwendung von Suchmaschinen im Internet zwar für unbedenklich, sah aber in der Benutzung vertraulicher Information des früheren Arbeitgebers bei der Gestaltung des Suchalgorithmus eine tatbestandmäßige Handlung. Die Anmeldung auf einer Webseite mit falschen Angaben ist dagegen (auf district court-Ebene) als tatbestandlos betrachtet worden, so z. B. im Fall US v. Drew,17 wo die Mutter einer belästigten Schülerin unter falschem Namen und falscher Altersangabe ein MySpace-Konto erstellt hatte, um dadurch die mutmaßliche Täterin, ebenfalls eine Schülerin, zu schikanieren. Dies führFrauen (unter anderem von seiner Frau und Bekannten) austauschte und Pläne diskutierte, Personen zu entführen, zu foltern und mit ihnen Kannibalismus auszuüben. Es stellt sich jedoch heraus, dass alles reine Phantasie war, dass er die anderen Mitglieder der Gemeinschaft nicht persönlich kannte und, obwohl manche Frauen zu seinen Bekannten zählten, nie etwas unternommen hatte, um ihnen irgendein Übel zuzufügen. 12 807 F.3d 508 (2nd Cir. 2015). 13 440 F.3d 418 (7th Cir. 2006). 14 597 F.3d 263, 271 – 73 (5th Cir. 2010). 15 628 F.3d 1258 (11th Cir. 2010). 16 274 F.3d 577 (1st Cir. 2001). 17 259 F.R.D. 449 (C.D. Cal. 2009).
Der unbefugte Zugang zu einem Computersystem
685
te dazu, dass dieses Mädchen Selbstmord beging. Die Staatanwaltschaft Missouris erhob zwar keine Anklage, jedoch tat dies die Bundesstaatanwaltschaft Kaliforniens (dem Sitz von MySpace) aufgrund des CFAA. Die Angeklagte wurde zunächst verurteilt. Ein Bundesrichter hob das Urteil später aber mit der Begründung auf, die bloße Verletzung der Nutzungsbedingungen der Webseite habe keinen unbefugten Zugang dargestellt.18 Den jüngsten Meilenstein dieser Diskussion in den USA stellt es dar, dass das Bundesgericht für den Bezirk Columbia im Jahr 2018 ein Verfahren über die Verfassungsmäßigkeit der weiten Auslegung des CFAA gerade im Bereich des Zugangs zu Webseiten unter Verletzung deren Nutzungsbedingungen für zulässig erklärt hat (Sandvig v. Sessions, derzeit Sandvig v. Barr).19 In dem Fall geht es um Untersuchungen zur Diskriminierung beim Betrieb von Computerprogrammen im Maklergeschäft, die den wiederholten Zugang mit falschen Benutzerprofilen (und damit unter Verletzung der Nutzungsbedingungen der einschlägigen Webseiten) erforderlich machen. Die für die Untersuchungen Verantwortlichen argumentieren, dass die weite Auslegung des CFAA seitens mancher Berufungsgerichte ihre Tätigkeit unter Strafe stellen würde, was gegen mehrere Verfassungsrechte verstieße. Obwohl das Gericht der engen Auslegung des Gesetzes (S. 26 ff.) folgt, stimmt es mit den Klägern darin überein, dass die uneinheitliche Rechtsprechung die Befürchtungen plausibel erscheinen lässt (S. 19 ff.). Eine ähnliche Diskussion gibt es auch in anderen Rechtsordnungen, was oft in Zusammenhang mit einem vagen Gesetzeswortlaut steht. So verlangt in Chile Art. 2 des Gesetzes Nr. 19.223 (Gesetz gegen Computerdelikte, 1993) einen unberechtigten Zugriff auf ein EDV-System,20 was unterschiedlich ausgelegt wird. Anzuführen ist einerseits der Fall eines Angestellten, der, bevor er das Unternehmen verließ, vertragswidrig an die E-Mail-Adresse seiner Ehefrau Geschäftsinformationen geschickt hatte, die er dann für seine neue Stelle verwendete.21 Einschlägig ist andererseits ein Urteil des Obersten Gerichts (Corte Suprema), das die Strafbarkeit eines ehemaligen Angestellten aus Art. 2 verneinte, obwohl dieser auf das E-Mail-Konto seines früheren Vorgesetzten mit dessen Passwort zugegriffen hatte, um sich Informationen weiterzuleiten, mit der Begründung, der Angestellte habe das Passwort 18 Der Fall gab Anlass zu neuen Vorschriften gegen das sog. cyberbullying, sowohl in Missouri als auch in Kalifornien, ohne jedoch die Verletzung von Nutzungsbedingungen unter Strafe zu stellen. 19 Memorandum Opinion, 30. 3. 2018, Civil Action N8 16 – 1368 (JDB). 20 Eigentlich nicht einmal dies. Das Gesetz spricht nur von einem Zugriff „in der Absicht, in einem EDV-System vorhandene Informationen unberechtigt sich anzueignen, sie zu benutzen oder darüber zu erfahren“. Stillschweigend wird aber anerkannt, um eine vernünftige Auslegung zu ermöglichen, dass nicht der verfolgte Zweck, sondern der Zugriff selbst „unberechtigt“ sein muss. 21 Urteil des Berufungsgerichts Santiago vom 30. 7. 2008, Nr. 14.526 – 2005. Kritisch dazu Lara/Martínez/Viollier, Hacia una regulación de los delitos informáticos basada en la evidencia, RChDT, Vol. 3 (2014), 101 (116); Medina, Estructura típica del delito de intromisión informática, RChDT, Vol. 3 (2014), 79 (82).
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während des Arbeitsverhältnisses von seinem Vorgesetzten bekommen und es (damals) mit dessen Zustimmung benutzt.22 Es existieren aber auch Rechtsordnungen, die auf den ersten Blick auf einen Zugriff unter Überwindung von Sicherheitsmaßnahmen abzustellen scheinen, bei denen aber die bloße Verfehlung der Zwecke des Rechtsinhabers die Tatbestandsmäßigkeit des Verhaltens mit sich bringt. So setzt in Italien Art. 615-ter des StGB ausdrücklich den Zugriff auf ein „durch Sicherheitsmaßnahmen geschütztes“ (protetto da misure di sicurezza) EDV-System voraus. Das tatbestandsmäßige Verhalten besteht aber schlicht in einem missbräuchlichen Zugriff, der nicht notwendigerweise (zumindest nicht nach dem Wortlaut) die Überwindung von Sicherheitsmaßnahmen impliziert, obwohl dies naheliegend erscheint.23 In diesem Zusammenhang hat sich auch die Frage gestellt, wann von einem missbräuchlichen Zugriff die Rede ist. Das wichtige Urteil „Casani“ der Vereinigten Abteilungen des Kassationsgerichts24 betraf den Fall eines Polizeibeamten, der für amtliche Zwecke Zugang zu der Datenbank der Polizei hatte und damit Informationen über Personen erlangte, die er dann für andere, private Zwecke verwendete. Das Urteil legt zunächst einen Streit zwischen objektiven und subjektiven Kriterien für die Anerkennung eines missbräuchlichen Zugriffs nahe. Unter einem „objektiven“ Kriterium wird aber nicht etwa der Zugriff unter Überwindung technischer Zugangsschranken verstanden, sondern lediglich unter Verstoß gegen die vom Rechtsinhaber festgelegten Bedingungen oder gegen geltende Vorschriften. Dies schließt selbstverständlich jede subjektive Zwecksetzung durch den Rechtsinhaber ein. Das einzig „Subjektive“, das damit ausgeschlossen wird, sind die konkreten Zwecke des Täters, der ohne Verstoß gegen die festgelegten (und zwar, auch subjektiven) Nutzungsbedingungen handelt. Daher überrascht es nicht, dass trotz des Bekenntnisses zu einer restriktiven Auslegung die Vereinigten Abteilungen des Kassationsgerichts im konkreten Fall zum Ergebnis gelangten, dass sich der Polizist aus Art. 615-ter des italienischen StGB strafbar gemacht hatte.25 Hinzu kommt, dass die 5. Abteilung des Kassationsgerichts im Jahre 2017 die Frage erneut den Vereinigten Abteilungen vorlegte, um zu klären, ob hinsichtlich Amtsträgern, die ihre Macht missbrauchen,26 geringere Voraussetzungen gelten. Die Abteilungen haben dies bejaht (Urteil „Savarese“).27 22
Urteil des chilenischen Obersten Gerichts vom 3. 7. 2013, Nr. 9238 – 23. Zustimmend dazu Winter, Elementos típicos del art. 2 de la Ley 19.223: Comentario a la SCS de 3. 07. 2013, rol 9238 – 23, RChDCP, Vol. 2 (2013), 278 ff.; Lara/Martínez/Viollier, RChDT, Vol. 3 (2014), 101 (116 f.). 23 Es stellt sich natürlich die Frage, warum der Tatbestand eine solche Vorkehrung fordert, wenn sie für die Tathandlung letztlich entbehrlich ist. 24 Urteil des italienischen Kassationsgerichts vom 7. 2. 2012, Nr. 4694. 25 Dazu Flor, Art. 615-ter, in: Forti/Seminara/Zuccalà (Hrsg.), Commentario breve al Codice penale, 6. Aufl., CEDAM, Milano 2017, S. 2130 f. 26 Es ging um einen ähnlichen Fall: Eine Staatsanwältin hatte auf das amtliche EDVSystem zu nicht amtsbezogenen Zwecken zugegriffen, ohne dabei aber erkennbar eine Vorschrift zu verletzen.
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In diesem verwirrenden Kontext soll hier eine restriktive Auslegung bzw. Gesetzesgestaltung favorisiert werden, die ausschließlich auf die technischen Nutzungsund nicht auf die vom Rechtsinhaber gesetzten subjektiven Nutzungsbedingungen abstellt.28 Dies schon deshalb, weil subjektive Nutzungsbedingungen, wie die Vertreter der restriktiven Auslegung in der US-Rechtsprechung hervorheben, einseitig, beliebig und schrankenlos sind. Das wäre an sich zwar unbedenklich, kann aber keine akzeptable Grundlage für die Strafbarkeit eines Verhaltens bilden. Es würde einen Extremfall der Privatisierung des Strafrechts darstellen, ganz zu schweigen von der gravierenden Rechtsunsicherheit, die ein derart dezentralisierter Straftatbestand mit sich brächte.29 Es wäre befremdlich, wenn z. B. der Zugang eines (bereits strafmündigen) Minderjährigen zu einer als „nur für Erwachsene“ bezeichneten Webseite als strafbarer Zugang zu einem System gelten würde. Denn die einzige tatsächliche Bedingung für einen solchen Zugang stellt die Nutzung einer Internet-Verbindung dar. Dasselbe gilt für den Zugang zu einer Webseite, die eine Registrierung erfordert, wenn der Benutzer sich an einige Pflichtangaben nicht erinnert und daher falsche (erfundene) Angaben macht.30 Und dies gilt auch für das Nachschlagen von Urlaubsangeboten durch einen Angestellten, selbst wenn ihm die Benutzung des Systems für geschäftsfremde Zwecke streng verboten ist.31 Zwar scheinen die Befürworter einer weiten Konzeption Recht zu haben, wenn sie geltend machen, dass es in den umstrittenen Fällen weder um Sudoku noch darum ging, eine E-Mail nachzuschlagen oder bei der Anmeldung an einer Datingseite nicht ganz ehrlich zu sein, sondern um das rechtswidrige Erlangen wertvoller Informationen.32 Das ist richtig. Sämtliche thematisierten Fälle hatten mit nicht frei zugänglichen Informationen zu tun, die entweder für den Arbeitgeber von wirtschaftlichem Wert waren (so bei Brekka, Nosal, Miller, Citrin, John, Explorica sowie den chilenischen Fällen) oder die wegen ihrer höchstpersönlichen Natur den Schutz durch Amtsträger erforderten (so bei Valle, Rodríguez, Casani, Savarese).
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Urteil des italienischen Kassationsgerichts vom 18. 5. 2017, Nr. 41210. Dazu Bertolesi, Accesso abusivo ad un sistema informatico: una nuova actio finium regundorum per i pubblici dipendenti (in attesa delle motivazioni della sentenza Savarese delle Sezioni Unite), Diritto Penale Contemporaneo 6/2017, 262; Bertolesi, Accesso abusivo a un sistema informatico: è reato la condotta del pubblico ufficiale commessa con c.d. sviamento di potere, Dirtto Penale Contemporaneo 10/2017, 283. 28 Wie hier in Chile auch Medina, RChDT Vol. 3 (2014), 79 (93 ff.). 29 Was für die Befürworter der restriktiven Auslegung in der US-amerikanischen Rechtsprechung Grund für die Anwendung der sog. rule of lenity ist. 30 Zu einem so gearteten Fall, verneinend für Chile, Medina, RChDT, Vol. 3 (2014), 79 (81 f.). 31 Bei Nosal I und Miller wird die Frage aufgeworfen, ob es strafbar sein kann, am Arbeitsplatz vertragswidrig die Wettervorhersage, Facebook oder Sportergebnisse aufzurufen oder sich auf einem Datingportal als „groß und attraktiv“ anzumelden, wenn man tatsächlich klein und eher nicht schön ist. 32 So die Mindermeinung bei Nosal I.
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Die verhängnisvolle Schwäche dieser These liegt aber darin, dass sie nicht annährend in der Lage ist, sichere Grenzen zwischen den relevanten und den irrelevanten Fällen zu ziehen. Sie stellt einfach auf die Bedeutung der in Frage kommenden Informationen ab, ohne zu erklären, wieso dies für die Auslegung eines anderen, unabhängigen Merkmals, wie des unbefugten Charakters des Zugriffs, entscheidend sein soll. In Ermangelung einer solchen Erklärung sind die hieraus resultierenden absurden Ergebnisse schlicht die unvermeidbare Folge einer uferlosen Tatbestandsbeschreibung. Das Ziehen vernünftiger Grenzen wird den Staatsanwaltschaft bzw. Gerichten überlassen. Und selbst wenn ein Konsens zu erreichen wäre, indem man nur die für den Schutz wichtiger Rechtsgüter notwendigen Nutzungsbedingungen für relevant ansehen würde, wäre zu erklären, warum diese grundlegende Dimension des Verhaltens, für welche die Existenz eines Computersystems in der Regel ganz zufällig ist, gerade von einer Computerstraftat erfasst werden soll. Man könnte selbstverständlich an die Anwendung u. a. von Tatbeständen zum Schutz vor Wirtschaftsspionage bzw. vor der Verletzung von Geheimnispflichten denken; es würde aber wenig Sinn machen, wenn darüber hinaus eine Computerstraftat nur deshalb Anwendung fände, weil die Informationen zufälligerweise in einem Computersystem gespeichert sind. Wäre der Zugang zu amtlichen oder geschäftlichen Informationen, sofern er in böswilliger Absicht erfolgt, an sich strafbar, dann müsste er auch unter Strafe stehen, wenn die Informationen in einem Datensystem enthalten sind. Dann wäre, falls die allgemeinen Straftatbestände das Verhalten nicht erfassen, die Einführung einer Computerstraftat zur Schließung der Lücke gerechtfertigt. Ansonsten erscheint die Berufung auf das Computerstrafrecht abwegig. Infolgedessen ist die Entwicklung des europäischen Rechts zu begrüßen. Der Rahmenbeschluss 2005/222/JI vom 24. 2. 2005 über Angriffe auf Informationssysteme überließ es noch den Mitgliedsstaaten, den Zugang nur dann zu sanktionieren, wenn hierbei Sicherheitsmaßnahmen verletzt werden (Art. 2). Dagegen setzt jetzt die Richtlinie 2013/40/EU vom 12. 8. 2013 über Angriffe auf Informationssysteme voraus, dass der strafbare Zugang „durch eine Verletzung von Sicherheitsmaßnahmen erfolgt“ (Art. 3). Noch wichtiger sind die Ausführungen im Erwägungsgrund Nr. 17 der Richtlinie: „Im Rahmen dieser Richtlinie sollten vertragliche Verpflichtungen oder Vereinbarungen zur Beschränkung des Zugangs zu Informationssystemen durch Benutzerverwaltungsrichtlinien oder Dienstleistungsbedingungen sowie arbeitsrechtliche Streitigkeiten in Bezug auf den Zugang zu Informationssystemen eines Arbeitgebers und deren Nutzung für private Zwecke keine strafrechtliche Haftung begründen, wenn ein Zugang unter diesen Umständen als unberechtigter Zugang gelten und damit die einzige Grundlage für die Strafverfolgung bilden würde“.
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II. Verwendung eines fremden Passworts: Sonderfall? Wenn für die Bewertung eines Zugangs als „unbefugt“ die technischen Nutzungsbedingungen des Computersystems entscheidend sein müssen, dann sollte die Verwendung eines hierfür bestimmten und freiwillig weitergegebenen Passworts den Tatbestand grundsätzlich nicht erfüllen. Aber auch in Bezug hierauf sind Schwankungen in der Lehre und Rechtsprechung verschiedener Rechtsordnungen festzustellen. Dies gilt selbst für solche, die zumindest den zuvor diskutierten Verstoß gegen die vom Rechtsinhaber festgelegten Zwecke für nicht ausreichend erachten. In diesen Rechtsordnungen scheint jedenfalls Übereinstimmung darüber zu herrschen, dass die Verwendung eines vom Berechtigten aus eigenem Entschluss und ohne Rechtsverletzung mitgeteilten Passworts nicht unbefugt im Sinne des Straftatbestands sein kann.33 Aber jenseits dessen ist alles umstritten. Zunächst sind die Fälle zu erörtern, bei denen der Berechtigte einem Nichtberechtigten sein Passwort gegen den Willen dessen, der den Zugang regelt, weitergibt, so dass der Nichtberechtigte mit diesem Passwort auf das System zugreifen kann. So wurden die bereits erwähnten US-amerikanischen Nosal-Fälle, obwohl das erkennende Gericht eine restriktive Auslegung vornahm, abweichend entschieden, je nachdem, ob das Passwort gegen den Willen des Rechtsinhabers von einer berechtigten Person selbst (dann straffrei) oder von einer anderen Person mit der Zustimmung einer berechtigten Person mittels des sog. password sharing (dann strafbar) benutzt wurde. Die letztgenannte Konstellation wurde auch im schweizerischen Schrifttum als tatbestandsmäßig bewertet.34 Dieses Ergebnis ist jedoch kaum nachvollziehbar. Klar ist zwar, dass die Zustimmung der berechtigten Person die tatbestandmäßige Handlung eines Dritten gegen den Rechtsinhaber nicht rechtfertigen kann, fraglich bleibt aber, wieso die Handlung des Dritten überhaupt tatbestandsmäßig sein kann, wenn sie, genauso wie die der berechtigten Person, technisch „korrekt“ ist und nur den darüber hinaus gehenden Willen des Rechtsinhabers verfehlt. Im Grunde genommen geht es auch hierbei um die Verletzung eines Verbots, was jedoch für das Vorliegen einer Computerstraftat ohne Bedeutung sein sollte. Soweit der Zugang mit dem vom Rechtsinhaber freiwillig herausgegebenen Passwort erfolgt,
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So ist z. B. in den österreichischen Gesetzesmaterialien zu lesen, dass „die Verwendung eines von der berechtigten Person – wenn auch unbefugterweise – mitgeteilt erhaltenen Passworts auch nicht unter den Begriff der ,Überwindung‘ einer Sicherheitsvorkehrung zu subsumieren sein wird“ (ErlRV 285 BlgNR XXIII. GP, 7); dazu Bergauer, Das materielle Computerstrafrecht, Jan Sramek Verlag, Wien 2016, S. 97; Fabrizy, StGB und ausgewählte Nebengesetze, 11. Aufl., Manz, Wien 2013, § 118a Rdn. 2. Ebenso in Deutschland: „Der Verschaffung des Zugangs zu Daten mit Hilfe des freiwillig durch den Berechtigten herausgegebenen Passworts stellt bereits keine Computerstraftat im Sinne des § 202a StGB dar. Es fehlt an dem objektiven Tatbestandsmerkmal der Überwindung der besonderen Zugangssicherung“ (BT-Drs. 16/3656 S. 18). 34 Weissenberger, Art. 143bis, Rdn. 19.
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macht es überhaupt keinen Unterschied, ob das Verbot durch einen Angestellten oder durch einen Dritten verletzt wird.35 Weiter kommen die Fälle in Betracht, bei denen der Zugang mit einem Passwort erfolgt, das zwar freiwillig, aber durch Täuschung erlangt wurde. Die Fälle der Verwendung von Passwörtern, die durch „Phishing“ oder ähnliche Konstellationen erlangt wurden, betrachten mehrere Rechtsordnungen als tatbestandsmäßig. Sie werden also so behandelt, als ob sie völlig anders gelagert wären als diejenigen Fälle, in denen die berechtigte Person lediglich die Zwecke des Systeminhabers verfehlt. Dies ist z. B. in Spanien,36 in der Schweiz37 und in Österreich38 der Fall. Im deutschen Schrifttum ist die Frage bekanntlich umstritten,39 während die Rechtslage in Chile unklar ist.40 Hier tauchen erneut erhebliche Abgrenzungsschwierigkeiten auf. Würde jedes täuschungsbedingte Erlangen eines Passworts als tatbestandsmäßige Überwindung von Sicherheitsmaßnahmen gelten, dann müsste der Tatbestand auch dann bejaht werden, wenn der Angestellte, Partner oder Verwandte, an den das Passwort freiwillig weitergegeben wird, über seine rechtswidrigen Absichten täuscht. Wenn diese Art der Täuschung ausreicht, um eine tatbestandsmäßige Überwindung von Sicherheitsvorkehrungen anzunehmen, dann ist die Abgrenzung zu dem als nicht tatbestandsmäßig betrachten verbotswidrigen Zugang kaum möglich. Denn hierfür ist es unerheblich, welche Art von Beziehung zwischen dem Täter und dem Passwortinhaber 35
Für Deutschland Eisele, § 202a, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 30. Aufl., C.H. Beck, München 2019, Rdn. 22. 36 So Castiñeira Palou/Estrada i Cuadras, in: Silva Sánchez/Ragués i Vallès (Hrsg.), Lecciones de Derecho penal. Parte especial, 4. Aufl., Atelier, Barcelona 2015, S. 165. 37 Weissenberger, Art. 143bis, Rdn. 19, unter Verweis u. a. auf den Bundesgerichtsentscheid (BGer.) vom 18. 3. 2008, 6B 456/2007, der aber nur auf die Antragsberechtigung der Passwortinhaberin eines EDV-Systems einging, dessen Inhaberin eine Firma war, nicht auf die Reichweite des Merkmals. Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: Jemand drang in das passwortgeschützte E-Mailkonto einer Person ein. Das für den Zugang zum Konto notwendige Passwort erlangte er, indem er die ihm bekannte „Geheimfrage“ im E-Mailkonto richtig beantwortete, worauf ihm ein neues Passwort angezeigt wurde. 38 Bergauer, Das materielle Computerstrafrecht, S. 434. 39 Popp, Von „Datendieben“ und „Betrügern“ – Zur Strafbarkeit des so genannten „phishing“, NJW 2004, 3517 (3518); Popp, „Phishing“, „Pharming“ und das Strafrecht, MMR 2006, 84 (85); Graf, „Phishing“ derzeit nicht generell strafbar!, NStZ 2007, 129 (131); Eisele, § 202a, Rdn. 22; Graf, § 202a, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, Strafgesetzbuch, 5. Aufl., Nomos, Baden-Baden 2017, Rdn. 64. AA Fischer, Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen, 63. Aufl., C.H. Beck, München 2016, Rdn. 9a; Seidl/Fuchs, Die Strafbarkeit des Phishing nach Inkrafttreten des 41. Strafrechtsänderungsgesetzes, HRRS 2010, 85 (88); Stuckenberg, Zur Strafbarkeit von „Phishing“, ZStW 118 (2006), 878 (906); Hilgendorf, § 202a, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, 12. Aufl., De Gruyter, Berlin/New York 2010, Rdn. 17; Hilgendorf/Valerius, Computer- und Internetstrafrecht, 2. Aufl., Springer, Heidelberg usw. 2012, Rdn. 584. 40 Dazu Rosenblut, Punibilidad y tratamiento jurisprudencial de las conductas de phishing y fraude informático, RJMP Nr. 35 (2008), 254 ff.; Oxman, Estafas informáticas a través de Internet, RDPUCV Vol. XLI (2013), 211 ff.
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besteht. Soll die Abgrenzung praktikabel bleiben, muss ein von solchen Zufälligkeiten unabhängiges Kriterium gefunden werden. Meines Erachtens sollte darauf abgestellt werden, ob der Passwortinhaber das Bewusstsein der Weitergabe des Passworts hat. Nur wenn die Täuschung bewirkt, dass der Rechtsinhaber nicht wahrnimmt, dass er sein Passwort weitergegeben hat, sollte eine Überwindung von Sicherheitsmaßnahmen angenommen werden, weil es dann an der Freiwilligkeit fehlt.41 Ansonsten sollte es unerheblich sein, zu welchem Zweck freiwillig weitergegebene Informationen nach Auffassung des Rechtsinhabers verwendet werden dürfen.42 Diesbezügliche Identitäts- bzw. Motivirrtümer sollten außer Acht bleiben.43 Damit ist es möglich, den rechtswidrigen Zugang als Folge des klassischen Phishings (E-Mail- bzw. WebSpoofing) von dem des technischen Phishings (unter Anwendung von Schadprogrammen), einschließlich der Pharming-Fälle, reibungsfrei abzugrenzen.44 Soweit in den letzteren Fällen der Passwortinhaber glaubt, er greife mit der Eingabe des Passworts lediglich auf das System zu, ohne dessen Weitergabe zu bemerken, ist eine tatbestandsmäßige Überwindung zu bejahen. Dagegen ist dies bei den ersteren Fällen zu verneinen, soweit die Weitergabe bewusst erfolgt.45 Ob es angebracht bzw. legitim ist, weitere Strafvorschriften einzuführen, um speziell das klassische Phishing bzw. den hierauf gestützten Zugang zu einem EDV-System strafrechtlich an sich zu erfassen,46 darf hier offenbleiben. Zunächst gilt klarzustellen, was noch unter „unbefugt“ vernünftigerweise zu verstehen ist.
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Im Ergebnis auch Popp, NJW 2004, 3517 (3518), der aber darauf abstellt, ob der Berechtigte weiß, dass die Information dem Adressaten nicht bekannt ist. 42 Graf, NStZ 2007, 129 (131). 43 Popp, NJW 2004, 3517 (3518). 44 Die Tatbestandsmäßigkeit des technischen Phishings steht, soweit ersichtlich, außer Frage, vgl. in Deutschland Eisele, § 202a, Rdn. 22; Graf, § 202a, Rdn. 83; Hilgendorf/Valerius, Computer- und Internetstrafrecht, Rdn. 563. Trotz mancher Zweifel auch Marberth-Kubicki, Computer- und Internetstrafrecht, 2. Aufl., C.H. Beck, München 2010, Rdn. 114. 45 Das Gegenargument von Seidl/Fuchs, HRRS 2010, 85 (88), für den Tatbestand sei es ohne Belang, wie der Zugangsschutz überwunden werde, so dass das „selbstschädigende“ Verhalten des Opfers einer Strafbarkeit des Phishers nicht entgegenstehe, übersieht, dass die Freiwilligkeit des Passwortinhabers entweder für das Merkmal, dass die Daten nicht für den Täter bestimmt sind, oder für das Merkmal der Überwindung von Sicherheitsvorkehrungen entscheidend sein muss. 46 Es ist klar, dass der Phisher nach dem Zugriff auf das System andere Straftatbestände (etwa Computerbetrug, Datenbeschädigung usw.) verwirklichen kann.
Künstliche Intelligenz und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Von Emmanouil Billis*, Nandor Knust** und Jon Petter Rui*** Es sind mehr als zehn Jahre vergangen, seitdem unser verehrter Lehrer und Mentor, Ulrich Sieber, mit der für ihn typischen motivierenden und großzügigen Unterstützung die Grundsteine für die produktive wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen den drei Autoren dieses Beitrags am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht gelegt hat. Daher möchten wir nun den Gefeierten mit der erstmaligen Präsentation des Forschungsgegenstands unseres neuen gemeinsamen Projekts in diesem Artikel ehren. Das Gesamtprojekt, dessen erste Phase für die nächsten drei Jahre geplant ist, befasst sich mit den Perspektiven der umfassenden rechtstheoretischen, -politischen und -technischen Analyse und Regulierung der Entwicklung und Anwendung von künstlicher Intelligenz (KI) in den Bereichen Kriminalitätskontrolle und Strafjustiz. Es handelt sich um ein interdisziplinäres und systemübergreifendes Projekt, das von der juristischen Fakultät der Universität Tromsø (Norwegen) in enger Kooperation mit der am Freiburger Max-Planck-Institut angesiedelten Otto-Hahn-Forschungsgruppe zu Alternative and Informal Systems of Crime Control and Criminal Justice und der Data-Science-Fakultät der Cornell University (USA) durchgeführt wird. Im vorliegenden Beitrag beschränken wir uns auf einen bestimmten Aspekt der relevanten Themenbereiche: auf die Frage der konzeptuellen Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsbegriffs als Leitlinie (vor allem im Hinblick auf Effektivitätsgesichtspunkte) und gleichzeitig als normative Limitierung (grundsätzlich in rechtsstaatlicher und menschenrechtlicher Hinsicht) bei der Anwendung von KI in kontemporären strafrechtsrelevanten Konstellationen, beispielsweise bei der Analyse und Nutzung von sogenannten Big Data zu Strafjustizzwecken oder der Verwendung von autonomen Waffensystemen in bewaffneten Konflikten. So baut diese Studie auch auf unser unmittelbar vorangegangenes interdisziplinäres und rechtsvergleichendes Projekt zum Proportionalitätsprinzip auf, das im Oktober 2019 mit einem internationalen Workshop in Freiburg unter der Ägide von Ulrich
* Forschungsgruppenleiter, Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht. ** Associate Professor, Juristische Fakultät, Universität Tromsø. *** Professor, Juristische Fakultät, Universität Bergen.
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Sieber erfolgreich abgeschlossen wurde.1 Auch diese Arbeitsweise eines synthetischen Projektaufbaus ist in erster Linie den methodologischen Ansätzen des Gefeierten und seinen progressiven wissenschaftlichen Vorstellungen zu verdanken.
I. Begriffsbestimmung 1. Künstliche Intelligenz, Rechtswissenschaft und Strafrechtspolitik Die intensive Beschäftigung nicht nur der technischen Wissenschaften, sondern auch eines wichtigen Teils der gegenwärtigen juristischen Lehre und Forschung mit aktuellen Fragen und Herausforderungen der unterschiedlichen KI-Systeme, ist ein weiterer Beweis für den schon empirisch unschwer feststellbaren enormen Bedeutungszuwachs der Anwendung solch fortgeschrittener und hochkomplexer Technologien in vielen Bereichen des rechtlich regulierten Lebens im Alltag der Gesellschaft.2 Es bedarf keiner endgültigen Definition des KI-Begriffs, um in die unterschiedlichen Problemstellungen einsteigen zu können, auch wenn im Hinblick auf die tiefere Gesamtbetrachtung der diversen Aspekte eines mehrschichtigen Projekts – und vor allem in Bezug auf die gegenseitigen De-Kodierungsprozesse3 zwischen 1 Siehe hierzu Bampasika, European Criminal Law Review 1/2020, 126. Der Sammelband mit den Einzelbeiträgen und Forschungsergebnissen wird im Januar 2021 bei Hart Publishing erscheinen. Siehe Billis/Knust/Rui (Hrsg.), Proportionality in Crime Control and Criminal Justice, 2021. 2 Charakteristisch dafür sind z. B. die sich auch auf die ethisch-rechtlichen Probleme der KI-Nutzung konzentrierenden, hochaktuellen Forschungsprogramme und Arbeiten diverser Expertengruppen auf internationaler und regionaler Ebene, wie der European Commission High-Level Expert Group on Artificial Intelligence (AI HLEG, https://ec.europa.eu/digital-sin gle-market/en/high-level-expert-group-artificial-intelligence); der Council of Europe European Commission for the Efficiency of Justice (CEPEJ, https://www.coe.int/en/web/cepej/home/); des Council of Europe Ad hoc Committee on Artificial Intelligence (CAHAI, https://www.coe. int/cahai und https://www.coe.int/ai); der European Union Agency for Fundamental Rights (FRA, https://fra.europa.eu/en/publication/2018/big-data-discrimination); der Organisation for Economic Co-Operation and Development (OECD) Council on Artificial Intelligence (https:// www.oecd.org/going-digital/ai/); des AI Now Institute at New York University (https://ainowin stitute.org); der IEEE Global Initiative on Ethics of Autonomous and Intelligent Systems (https://ethicsinaction.ieee.org); des Future of Life Institute (https://futureoflife.org/ai-princi ples/); des AI4EU consortium (https://www.ai4eu.eu); der European Association for Artificial Intelligence (EurAI, https://www.eurai.org); der Association for the Advancement of Artificial Intelligence (AAAI, http://www.aaai.org); des CLAIRE Research Network (https://claire-ai. org); der Foundation for Legal Knowledge Based Systems (JURIX, http://jurix.nl); und der Society for the Study of Artificial Intelligence and Simulation of Behaviour (AISB, https://aisb. org.uk/). 3 Vgl. hierzu z. B. über „the programmability of law (i. e. whether it can be transposed in computer code instructions which a machine can follow and execute)“ und „the algorithmization of the law“, Hilgendorf, in: Hilgendorf/Feldle (Hrsg.), Digitization and the Law, 2018, S. 13 ff.
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Informatik und Recht – die analytische Auseinandersetzung mit vorhandenen und, falls nötig, die Entwicklung schlüssigerer Definitionen in der Tat zentral sind. Jedenfalls dient es der Anschaulichkeit, wenn hier die folgende technische Erklärung des KI-Begriffs von der Hochrangigen Expertengruppe für Künstliche Intelligenz (HighLevel Expert Group on Artificial Intelligence) der Europäischen Kommission auch im Rahmen des vorliegenden einführenden Beitrags als Arbeitsdefinition verwendet wird:4 Ku¨ nstliche Intelligenz oder KI-Systeme: Ku¨ nstliche-Intelligenz-(KI)-Systeme sind vom Menschen entwickelte Software- (und möglicherweise auch Hardware-)Systeme, die in Bezug auf ein komplexes Ziel auf physischer oder digitaler Ebene agieren, indem sie ihre Umgebung durch Datenerfassung wahrnehmen, die gesammelten strukturierten oder unstrukturierten Daten interpretieren, Schlussfolgerungen daraus ziehen oder die aus diesen Daten abgeleiteten Informationen verarbeiten und über die geeignete(n) Maßnahme(n) zur Erreichung des vorgegebenen Ziels entscheiden. KI-Systeme können entweder symbolische Regeln verwenden oder ein numerisches Modell erlernen, und sie können auch ihr Verhalten anpassen, indem sie analysieren, wie die Umgebung von ihren vorherigen Aktionen beeinflusst wird. (…) Der Lebenszyklus eines KISystems umfasst die Phasen der Entwicklung (einschließlich Forschung, Entwurf, Datenbereitstellung und eingeschränkte Erprobungen), Einführung (einschließlich Umsetzung) und Nutzung.
Die OECD hat folgende ähnliche, von der OECD-Sachverständigengruppe fu¨ r KI (AI Group of Experts, AIGO) erläuterte Definition übernommen:5 4
Europäische Kommission, Hochrangige Expertengruppe für künstliche Intelligenz, Ethik-Leitlinien für eine vertrauenswürdige KI, 8. April 2019, S. 47 (englische Fassung: HighLevel Expert Group on Artificial Intelligence, Ethics Guidelines for Trustworthy AI, 8 April 2019, S. 36). S.a. Europäische Kommission, Hochrangige Expertengruppe für künstliche Intelligenz, Eine Definition der KI: Wichtigste Fähigkeiten und Wissenschaftsgebiete, 8. April 2019, S. 6 (englische Fassung: High-Level Expert Group on Artificial Intelligence, A definition of AI: Main capabilities and scientific disciplines, 8 April 2019, S. 6). Diese Dokumente sind online abrufbar unter https://ec.europa.eu/futurium/en/ai-alliance-consultation/guidelines. 5 OECD, Artificial Intelligence in Society, OECD Publishing 2019, Paris, S. 15 (https://doi. ¨ bersetzungsorg/10.1787/eedfee77-en; nicht-amtliche Übersetzung durch den Deutschen U dienst der OECD). S.a. OECD, Recommendation of the Council on Artificial Intelligence, OECD/LEGAL/0449 (https://legalinstruments.oecd.org/en/instruments/OECD-LEGAL-0449). Interessant ist ferner folgende Arbeitsdefinition der Council of Europe European Commission for the Efficiency of Justice (CEPEJ), European Ethical Charter on the Use of Artificial Intelligence in Judicial Systems and their Environment, Februar 2019, S. 69: „ARTIFICIAL INTELLIGENCE (AI). A set of scientific methods, theories and techniques whose aim is to reproduce, by a machine, the cognitive abilities of human beings. Current developments seek to have machines perform complex tasks previously carried out by humans. However, the term artificial intelligence is criticised by experts who distinguish between ,strong‘ AIs (yet able to contextualise specialised and varied problems in a completely autonomous manner) and ,weak‘ or ,moderate‘ AIs (high performance in their field of training). Some experts argue that ,strong‘ AIs would require significant advances in basic research, and not just simple improvements in the performance of existing systems, to be able to model the world as a whole“ (Dokument online abrufbar unter https://www.coe.int/en/web/cepej/charters). Für eine weitere
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Ein KI-System ist ein maschinenbasiertes System, das fu¨ r bestimmte von Menschen definierte Ziele Voraussagen machen, Empfehlungen abgeben oder Entscheidungen6 treffen kann, die reale oder virtuelle Umgebungen beeinflussen. Es nutzt maschinelle und/oder menschliche Inputs, um ein reales und/oder virtuelles Umfeld zu erfassen, davon ausgehend (automatisch, z. B. mithilfe von ML, oder manuell) Modelle zu erstellen und mittels Modellinferenz Informations- oder Handlungsoptionen zu ermitteln. KI-Systeme können mit einem unterschiedlichen Grad an Autonomie ausgestattet sein. Der Lebenszyklus eines KI-Systems umfasst folgende Phasen: i) Planung und Design, Datensammlung und -verarbeitung sowie Modellierung und Auswertung, ii) Verifizierung und Validierung, iii) Einfu¨ hrung sowie iv) Betrieb und Monitoring.
Diese Definitionen umfassen verschiedene KI-Techniken, auf die sich die wissenschaftliche Forschung in den letzten Jahren systematisch fokussiert hat, wie z. B.:7 – das maschinelle Denken (Planung, Terminierung, Wissensrepräsentation und Schlussfolgerung, Suche, Optimierung);8 Arbeitsdefinition von KI, siehe Council of Europe Commissioner for Human Rights, Unboxing Artificial Intelligence: 10 steps to protect Human Rights, Recommendation, 2019, S. 5. 6 Vgl. auch Europäische Kommission, Hochrangige Expertengruppe für künstliche Intelligenz, Eine Definition der KI: Wichtigste Fähigkeiten und Wissenschaftsgebiete, 8. April 2019, S. 3 (englische Fassung: High-Level Expert Group on Artificial Intelligence, A definition of AI: Main capabilities and scientific disciplines, 8 April 2019, S. 3): „Es gilt zu beachten, dass der Begriff ,Entscheidung‘ im weiten Sinne als jedes Auswählen einer durchzufu¨ hrenden Handlung zu verstehen ist und nicht notwendigerweise bedeutet, dass KI-Systeme völlig autonom sind. Die Entscheidung kann also auch in der Auswahl einer Empfehlung an einen Menschen bestehen, der dann die endgu¨ ltige Entscheidung trifft.“ 7 Europäische Kommission, Hochrangige Expertengruppe für künstliche Intelligenz, Ethik-Leitlinien für eine vertrauenswürdige KI, 8. April 2019, S. 47 (englische Fassung: HighLevel Expert Group on Artificial Intelligence, Ethics Guidelines for Trustworthy AI, 8 April 2019, S. 36). Laut OECD, Artificial Intelligence in Society (Fn. 5), S. 15: „Die KI-Forschung unterteilt sich einer gängigen Klassifizierung zufolge in die Entwicklung von KI-Anwendungen (z. B. Natural Language Processing – NPL), Techniken zum Trainieren von KI-Systemen (z. B. neuronalen Netzen), Optimierungsarbeiten (z. B. One-Shot-Learning) und Untersuchungen zu gesellschaftlichen Fragen (z. B. Transparenz).“ 8 Europäische Kommission, Hochrangige Expertengruppe für künstliche Intelligenz, Eine Definition der KI: Wichtigste Fähigkeiten und Wissenschaftsgebiete, 8. April 2019, S. 3 (englische Fassung: High-Level Expert Group on Artificial Intelligence, A definition of AI: Main capabilities and scientific disciplines, 8 April 2019, S. 3): „Schlussfolgern und Entscheiden. Diese Gruppe von Techniken umfasst Wissensrepräsentation und -verarbeitung, Planung, Terminierung, Suche und Optimierung. Mithilfe dieser Techniken ist das System in der Lage, aus den von den Sensoren gelieferten Daten Schlussfolgerungen zu ziehen. Damit das geleistet werden kann, mu¨ ssen Daten in Wissen umgewandelt werden. Daher beschäftigt sich ein Bereich der KI mit der Frage, wie solches Wissen am besten modelliert werden kann (Wissensrepräsentation). Im Anschluss an die Wissensmodellierung werden im nächsten Schritt Schlussfolgerungen aus dem Wissen gezogen (Wissensverarbeitung). Dazu gehören die Bildung von Ru¨ ckschlu¨ ssen durch symbolische Regeln, Planungs- und Terminierungsaktivitäten, Durchsuchen eines umfassenden Lösungspakets und Optimierung unter allen Problemlösungsalternativen. Im letzten Schritt wird entschieden, welche Handlung erfolgen soll. In der Regel ist der Teil der Schlussfolgerung und Entscheidungsfindung in einem KI-System sehr komplex und erfordert eine Kombination aus mehreren der genannten Techniken.“
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– das maschinelle Lernen (machine learning, insb. überwachtes Lernen, unüberwachtes Lernen und bestärkendes Lernen, z. B. unter Verwendung von Algorithmen,9 die auf den Konzepten der neuronalen Netze/neural networks und des Deep Learning, der Entscheidungsbäume/decision trees usw. beruhen);10 und – die Robotik.11 KI bezeichnet somit „Systeme mit einem ,intelligenten‘ Verhalten, die ihre Umgebung analysieren und mit einem gewissen Grad an Autonomie handeln, um bestimmte Ziele zu erreichen. KI-basierte Systeme können rein softwaregestu¨ tzt in einer virtuellen Umgebung arbeiten (z. B. Sprachassistenten, Bildanalysesoftware, Suchmaschinen, Sprach- und Gesichtserkennungssysteme), aber auch in Hardware-Systeme eingebettet sein (z. B. moderne Roboter, autonome Pkw, Drohnen oder Anwendungen des ,Internet der Dinge‘).“12 Insgesamt kann eine ganze Reihe 9
CEPEJ, European Ethical Charter on the Use of Artificial Intelligence in Judicial Systems and their Environment, Februar 2019, S. 69: „ALGORITHM. Finite sequence of formal rules (logical operations and instructions) making it possible to obtain a result from the initial input of information. This sequence may be part of an automated execution process and draw on models designed through machine learning.“ Vgl. auch Martini, Blackbox Algorithmus – Grundfragen einer Regulierung Ku¨ nstlicher Intelligenz, 2019, S. 4 ff. 10 Nach der Definition der CEPEJ, European Ethical Charter on the Use of Artificial Intelligence in Judicial Systems and their Environment, Februar 2019, S. 69: „Machine learning makes it possible to construct a mathematical model from data, incorporating a large number of variables that are not known in advance. The parameters are configured gradually during the learning phase, which uses training data sets to find and classify links. The different methods of machine learning are chosen by the designers depending on the nature of the tasks to be completed (grouping). These methods are usually classified into three categories: (human) supervised learning, unsupervised learning and reinforcement learning. These three categories group together different methods including neural networks, deep learning, etc.“ S.a. Europäische Kommission, Hochrangige Expertengruppe für künstliche Intelligenz, Eine Definition der KI: Wichtigste Fähigkeiten und Wissenschaftsgebiete, 8. April 2019, S. 3 – 4 (englische Fassung: High-Level Expert Group on Artificial Intelligence, A definition of AI: Main capabilities and scientific disciplines, 8 April 2019, S. 3 – 4). 11 Europäische Kommission, Hochrangige Expertengruppe für künstliche Intelligenz, Eine Definition der KI: Wichtigste Fähigkeiten und Wissenschaftsgebiete, 8. April 2019, S. 5 (englische Fassung: High-Level Expert Group on Artificial Intelligence, A definition of AI: Main capabilities and scientific disciplines, 8 April 2019, S. 4): „Robotik. Die Robotik lässt sich als ,KI im Einsatz in der physischen Welt‘ (auch als eingebettete KI bezeichnet) definieren. Ein Roboter ist eine physische Maschine und muss die Dynamik, Ungewissheit und Komplexität der physischen Welt bewältigen. Die Fähigkeiten des Wahrnehmens, Schlussfolgerns, Handelns und Lernens sowie der Interaktion mit anderen Systemen sind in der Regel in die Steuerungsarchitektur des Robotersystems integriert. Neben der KI spielen bei der Entwicklung und Anwendung von Robotern auch andere Disziplinen wie Maschinenbau und Steuerungstheorie eine Rolle. Beispiele fu¨ r Roboter sind Roboter-Manipulatoren, autonome Fahrzeuge (z. B. Autos, Drohnen oder Flugtaxis), humanoide Roboter, Staubsauger-Roboter usw.“ 12 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Ku¨ nstliche Intelligenz fu¨ r Europa, Brussels, 25. 4. 2018, COM(2018) 237 final. S.a. Commission Staff Working Document, Liability for emerging digital technologies, SWD(2018) 137 final; Mitteilung der
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verschiedener KI-Anwendungen erfasst werden, die – vor allem mit Blick auf die Optimierung der Entscheidungsprozesse und der Kosteneffektivität – positiv auf die individuelle und soziale Lebensgestaltung der Menschen wirken und zur Bewältigung komplexer Herausforderungen der globalen Risikogesellschaft13 beitragen können.14 Gleichzeitig bringt die verbreitete Nutzung der KI-Technologie auch bedeutende Gefahren mit sich, die mit sozial-ethischen, ethisch-rechtlichen und rechtspolitischen Grundsatzfragen über Gerechtigkeit und soziale Legitimation verbunden sind.15 Generell handelt es sich hierbei um die Achtung der Menschenrechte und demokratischen Kontrollmechanismen sowie um Fragen zum Anthropozentrismus16 und der Vertrauenswürdigkeit (insbesondere Zuverlässigkeit, Ordnungs- und Rechtsmäßigkeit, Robustheit und Sicherheit), der Objektivität und Unvoreingenommenheit, der Transparenz, der Erklärbarkeit als auch der Rechenschaftspflicht von KISystemen.17 In Bezug auf strafrechtsrelevante Konstellationen und zur Lösung aktuKommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Koordinierter Plan fu¨ r ku¨ nstliche Intelligenz, Bru¨ ssel, 7. 12. 2018, COM(2018) 795 final. 13 Zum Begriff Sieber, in: Sieber/Mitsilegas/Mylonopoulos/Billis/Knust (Hrsg.), Alternative Systems of Crime Control. National, Transnational, and International Dimensions, 2018, S. 3 ff. 14 Für eine Beschreibung der wichtigsten modernen KI-Anwendungen siehe OECD, Artificial Intelligence in Society (Fn. 5), S. 47 – 80. S.a. die Einzelbeiträge in Pereira/Machado/ Costa/Cardoso (Hrsg.), Progress in Artificial Intelligence, 2015. Mit Fokus auf rechtlich relevante Anwendungen Wagner, Legal Tech und Legal Robots. Der Wandel im Rechtsmarkt durch neue Technologien und ku¨ nstliche Intelligenz, 2018. S.a. Wischmeyer, AöR 143 (2018), 1 (2 ff.). 15 Zu den wichtigsten ethisch-rechtlichen Problemen und Herausforderungen bei der Entwicklung und Anwendung von KI-Systemen siehe die interessante Studie von The IEEE Global Initiative on Ethics of Autonomous and Intelligent Systems, Ethically Aligned Design: A Vision for Prioritizing Human Well-being with Autonomous and Intelligent Systems, 2019 (https://standards.ieee.org/content/ieee-standards/en/industry-connections/ec/autonomous-sys tems.html). S.a. Bynum, in: Zalta (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (https:// plato.stanford.edu/archives/sum2018/entries/ethics-computer/). Ferner Rath/Krotz/Karmasin (Hrsg.), Maschinenethik. Normative Grenzen autonomer Systeme, 2019. 16 Vgl. z. B. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Schaffung von Vertrauen in eine auf den Menschen ausgerichtete künstliche Intelligenz, Bru¨ ssel, 8. 4. 2019, COM(2019) 168 final. S.a. European Commission, High-Level Expert Group on Artificial Intelligence, Policy and Investment Recommendations for Trustworthy AI, 26 June 2019. 17 Allgemein hierzu CEPEJ, European Ethical Charter on the Use of Artificial Intelligence in Judicial Systems and their Environment, Februar 2019; OECD, Recommendation of the Council on Artificial Intelligence, OECD/LEGAL/0449 (https://legalinstruments.oecd.org/en/ instruments/OECD-LEGAL-0449). Ausführlicher OECD, Artificial Intelligence in Society (Fn. 5), S. 81 – 120. Laut der Europäischen Kommission, Hochrangigen Expertengruppe für künstliche Intelligenz, Ethik-Leitlinien für eine vertrauenswürdige KI, 8. April 2019, S. 2 – 3: „(…) Eine vertrauenswu¨ rdige KI zeichnet sich durch drei Komponenten aus, die während des gesamten Lebenszyklus des Systems erfu¨ llt sein sollten: a) Sie sollte rechtmäßig sein und somit alle anwendbaren Gesetze und Bestimmungen einhalten, b) sie sollte ethisch sein und somit die Einhaltung ethischer Grundsätze und Werte garantieren und c) sie sollte robust sein,
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eller Probleme der (nationalen, internationalen und transnationalen) Kriminalitätskontrolle und/oder Strafjustizhandhabung können unterschiedliche Formen von KI-Systemen u. a. in den folgenden, rechtsstaatlich und menschenrechtlich hochsensitiven Bereichen eingesetzt werden: – Big Data:18 In Bezug auf die Sammlung, Organisation und Analyse von Big Data zu Zwecken der Risikoeinschätzung, Kriminalitätsbekämpfung und Strafverfolgung ist es eine schwierige Aufgabe, robuste Mechanismen und transparente Methoden zu entwickeln, welche die gesetzmäßige, proportionale, faire und nicht diskriminierende,19 systematische, nicht ausschließlich automatisierte20 und zugleich und zwar sowohl in technischer als auch sozialer Hinsicht, da KI-Systeme selbst bei guten Absichten unbeabsichtigten Schaden anrichten können. (…) Es muss gewährleistet sein, dass die Entwicklung, Einführung und Nutzung von KI-Systemen die Anforderungen an vertrauenswürdige KI erfüllen: 1) Vorrang menschlichen Handelns und menschliche Aufsicht, 2) technische Robustheit und Sicherheit, 3) Schutz der Privatsphäre und Datenqualitätsmanagement, 4) Transparenz, 5) Vielfalt, Nichtdiskriminierung und Fairness, 6) gesellschaftliches und ökologisches Wohlergehen sowie 7) Rechenschaftspflicht.“ S.a. G20-Ministertreffen in Japan, Künstliche Intelligenz soll Regeln folgen, Spiegelonline 08. 06. 2019 (https://www.spie gel.de/wirtschaft/unternehmen/g-20-wirtschaftsminister-regeln-zu-kuenstlicher-intelligenz-be schlossen-a-1271563). Ebenso CoE, Schlussfolgerungen der hochrangigen AIFINCoE Konferenz, 26. und 27. Februar 2019, Helsinki (https://www.coe.int/en/web/artificial-intelligence/ schlussfolgerungen-der-konferenz-in-helsinki). Ferner CoE, Committee of Experts on Internet Intermediaries (MSI-NET), Algorithms and Human Rights. Study on the human rights dimensions of automated data processing techniques and possible regulatory implications, DGI(2017)12. 18 CEPEJ, European Ethical Charter on the Use of Artificial Intelligence in Judicial Systems and their Environment, Februar 2019, S. 70: „BIG DATA (metadata, large data sets). The term big data refers to large sets of data from mixed sources (e. g. open data, proprietary data and commercially purchased data). For data derived from judicial activity, big data could be the combination of statistical data, records of business software connections (application logs), court decisions’ databases, etc.“ S.a. CoE, Consultative Committee of the Convention for the Protection of Individuals with regard to Automatic Processing of Personal Data (T-PD), Guidelines on the Protection of Individuals with regard to the Processing of Personal Data in a World of Big Data, T-PD(2017)01, S. 2: „Big Data: there are many definitions of Big Data, which differ depending on the specific discipline. Most of them focus on the growing technological ability to collect, process and extract new and predictive knowledge from great volume, velocity, and variety of data. In terms of data protection, the main issues do not only concern the volume, velocity, and variety of processed data, but also the analysis of the data using software to extract new and predictive knowledge for decision-making purposes regarding individuals and groups. For the purposes of these Guidelines, the definition of Big Data therefore encompasses both Big Data and Big Data analytics.“ Für mehr Einzelheiten siehe unten (II.). 19 Für einen Überblick über die hierzu wichtigsten Fragestellungen, siehe European Union Agency for Fundamental Rights (FRA), #BigData: Discrimination in data-supported decision making, FRA Focus, 2018 (https://fra.europa.eu/en/publication/2018/big-data-discrimination). S.a. FRA, Data quality and artificial intelligence – mitigating bias and error to protect fundamental rights, FRA Focus, 2019 (https://fra.europa.eu/en/publication/2019/artificial-intellig ence-data-quality). Vgl. auch Amnesty International and Access Now, The Toronto Declaration: Protecting the right to equality and non-discrimination in machine learning systems, 2018 (https://www.accessnow.org/the-toronto-declaration-protecting-the-rights-to-equality-and-
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effektive Synthese und Verarbeitung großer Mengen diverser Daten aus einer Vielfalt von Quellen ermöglichen und gleichzeitig ein hohes Maß an Datenschutz und Schutz der Privatsphäre gewährleisten. In der neuen digitalen Sicherheitsarchitektur können die sich auf Big Data stützenden KI-Systeme nicht nur zum Ziel der Predictive Justice eingesetzt werden, sondern u. a. auch zum sogenannten Predictive Policing sowie zur automatisierten Erkennung und Abwehr von Bedrohungen sogar in Echtzeit (z. B. durch Gesichtserkennung und andere fortgeschrittene Überwachungsmechanismen, durch hoch entwickelte Anti-Malware-Algorithmen gegen digitale Angriffe usw.) beitragen. Die rapide elektronische Korrelation hoher Datenvolumina kann ferner vornehmlich zur Aufdeckung komplexer Fälle von Cyber- und Wirtschaftskriminalität, organisierter Kriminalität und Terrorismus genutzt werden.21 Gleichzeitig kann, zumindest nach heutigem technologischem Stand, die sicherheitsbedrohende Gefahr des Missbrauchs von KI- und Big Data-Systemen für Cyber-Angriffe und andere kriminelle Zwecke nicht ausgeschlossen werden.22 – Predictive Policing und Bewertung des Ru¨ ckfallrisikos: Die Hauptbedenken in (mit etwas Übertreibung könnte man sagen) Minority Report23-ähnlichen Konstellationen betreffen nicht nur datenschutzrelevante Fragen, sondern auch die Gefahren der Unzuverlässigkeit, Intransparenz, Voreingenommenheit und Ungleichbehandlung beim Entscheidungsprozess sowie „das Risiko, dass verzerrte Wahrnehnon-discrimination-in-machine-learning-systems/). Vgl. ferner Barocas/Selbst, California Law Review 104 (2016), 671 (673 ff.). 20 Vgl. Art. 22(1) der Verordnung (EU) 2016/679 des Europa¨ ischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natu¨ rlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung): „Die betroffene Person hat das Recht, nicht einer ausschließlich auf einer automatisierten Verarbeitung — einschließlich Profiling — beruhenden Entscheidung unterworfen zu werden, die ihr gegenu¨ ber rechtliche Wirkung entfaltet oder sie in a¨ hnlicher Weise erheblich beeintra¨ chtigt.“ S.a. Art. 11 Richtlinie (EU) 2016/680 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natu¨ rlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhu¨ tung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2008/977/ JI des Rates. Vgl. auch CoE, Übereinkommen zum Schutz des Menschen bei der automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten, Straßburg/Strasbourg, 28.I.1981 (SEV 108). 21 Zu den relevanten hochkomplexen Herausforderungen für Kriminalprävention, Strafverfolgung und Strafjustiz auf globaler Ebene, Vogler, in: Billis/Knust/Rui (Hrsg.), Proportionality in Crime Control and Criminal Justice, 2021. S.a. Zavrsˇnik, European Journal of Criminology 2019 (https://doi.org/10.1177/1477370819876762); Zavrsˇnik, in: Zavrsˇnik (Hrsg.), Big Data, Crime and Social Control, 2018, S. 3 ff. 22 Zusammenfassend zu verschiedenen Problemebenen und praktischen Beispielen der Nutzung von KI im Bereich der digitalen Sicherheit siehe OECD, Artificial Intelligence in Society (Fn. 5), S. 67 – 69 mit weiteren Verweisen. Vgl. auch King/Aggarwal/Taddeo/Floridi, Science and Engineering Ethics 2019 (https://doi.org/10.1007/s11948-018-00081-0). 23 US-amerikanischer Science-Fiction-Thriller des Regisseurs Steven Spielberg aus dem Jahr 2002.
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mungen, sogenannte Biases, aus der analogen in die digitale Welt übertragen werden.“24 – Predictive Justice:25 Die technologische Vorwärtsentwicklung in den gegenwärtigen KI-Systemen bietet nicht nur fortschrittliche Werkzeuge zur Erhöhung der Effektivität und Effizienz der Strafjustiz in prozessökonomischer, forensischer und diagnostischer Hinsicht, sondern dient auch der sogenannten Predictive Justice. In Bezug auf die automatisierte elektronische Analyse großer Mengen von Gesetzesvorschriften, Anwalts- und Gerichtsakten, richterlichen Entscheidungen usw. sowie die anschließende Modellbildung basierend auf der Korrelation relevanter Informationen mithilfe von KI-Algorithmen und mit dem Ziel, Prognosen über das zukünftige Ergebnis anderer gleichartiger Verfahrenstypen zu stellen, werden jedoch ähnliche Einwände erhoben wie bei den Predictive-Policing-Technologien. Noch dazu ist zu beachten, dass, im Vergleich zu anderen, einfacher zu 24 OECD, Artificial Intelligence in Society (Fn. 5), S. 16, 64 – 65 mit weiteren Verweisen. Mehr dazu CEPEJ, European Ethical Charter on the Use of Artificial Intelligence in Judicial Systems and their Environment, Februar 2019, S. 48 – 57. S.a. Selbst/Boyd/Friedler/Venkatasubramanian/Vertesi, Fairness and Abstraction in Sociotechnical Systems, FAT* 2019: Conference on Fairness, Accountability, and Transparency (https://doi.org/10.1145/3287560. 3287598); Wilson, in: Zavrsˇnik (Hrsg.), Big Data, Crime and Social Control, 2018, S. 108 ff. Für Beispiele der praktischen Anwendung von KI zum Zweck des Predictive Policing und/ oder der Rückfallrisikobewertung siehe u. a. Cavadas/Branco/Pereira, in: Pereira/Machado/ Costa/Cardoso (Hrsg.), Progress in Artificial Intelligence, 2015, S. 513 ff.; Egbert, Aus Politik und Zeitgeschichte 32 – 33 (2017) (http://www.bpb.de/apuz/253603); Institut fu¨ r musterbasierte Prognosetechnik, Predictive Policing Made in Germany (PRECOBS, https://www.ifmpt. de); Kartheuser, Predictive Policing in den USA. Kontrolle ist gut, Überwachung ist besser, Spiegel Online, 27. 1. 2018 (https://www.spiegel.de/panorama/justiz/predictive-policing-in-losangeles-kontrolle-ist-gut-ueberwachung-ist-besser-a-1188578.html); Levine/Tisch/Tasso/Joy, The New York City Police Department’s Domain Awareness System, INFORMS Journal on Applied Analytics 2017 (https://doi.org/10.1287/inte.2016.0860); Chicago Police, Violence Reduction Strategy (VRS, https://home.chicagopolice.org/violence-reduction-strategy-vrs/); Perrot, European Police Science and Research Bulletin 16 (2017), 65 (65 ff.); Rademacher, AöR 142 (2017), 366 (367 ff.); Rigano, National Institute of Justice Journal 280 (2019), 1 (1 ff.). Aus der europäischen Rechtspraxis von Interesse sind z. B. die Vorschriften der Richtlinie (EU) 2016/681 des Europa¨ ischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 u¨ ber die Verwendung von Fluggastdatensa¨ tzen (PNR-Daten) zur Verhu¨ tung, Aufdeckung, Ermittlung und Verfolgung von terroristischen Straftaten und schwerer Kriminalita¨ t. 25 CEPEJ, European Ethical Charter on the Use of Artificial Intelligence in Judicial Systems and their Environment, Februar 2019, S. 74: „PREDICTIVE JUSTICE. Predictive justice is the analysis of large amounts of judicial decisions by artificial intelligence technologies in order to make predictions for the outcome of certain types of specialised disputes (for example, redundancy payments or alimentary pensions). The term ,predictive’ used by legal tech companies comes from the branches of science (principally statistics) that make it possible to predict future results through inductive analysis. Judicial decisions are processed with a view to detecting correlations between input data (criteria set out in legislation, the facts of the case and the reasoning) and output data (formal judgment such as the compensation amount). Correlations deemed to be relevant make it possible to create models which, when used with new input data (new facts or precisions described as a parameter, such as the duration of the contractual relationship), produce according to their developers a prediction of the decision (for example, the compensation range)“.
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quantifizierenden Prozessen (z. B. Bilderkennung), die mathematische Modellierung bestimmter sozialer Phänomene, wie der subjektiven richterlichen Entscheidungsfindung, technisch erheblich komplexer und mit größeren Risiken im Hinblick auf die Richtigkeit der nötigen Korrelationen verbunden ist.26 Darüber hinaus stellt die Nutzung solcher KI-Algorithmen, die konkrete Vorhersagen über Erfolgswahrscheinlichkeiten oder über die Entscheidungen bestimmter Richter machen können, seitens der Parteien und Anwälte zu Zwecken der eigenen Strategieplanung im Strafprozess eine rechtlich und politisch umstrittene Angelegenheit dar.27 – Autonome Waffensysteme: Die im humanitären Völkerrecht viel debattierte Anwendung solcher (von menschlichen Operators gesteuerten oder völlig selbstständig operierenden) KI-Waffentechnologien in bewaffneten Konflikten ist u. a. mit grundlegenden Fragen zur Effektivität und proportionalen Nutzung, Vertrauenswürdigkeit, Transparenz und Erklärbarkeit als auch zur Rechenschaftspflicht und Zurechnung verbunden.28 – Autonome Fahrzeuge und Roboter: Derartige KI-Systeme können zweifellos große Vorteile im Hinblick auf Kosten, Lebensqualität, Umwelt und (Verkehrs-)Sicherheit bringen. Gleichzeitig gehen damit schwierige Fragen über die Vertrauenswürdigkeit, Robustheit, Steuerung und Aufsicht der autonom handelnden Maschinen sowie vor allem über die Übernahme von Verantwortung bei Unfällen und Schadensverursachungen einher.29 Bei all diesen Beispielen lässt sich nicht leugnen, dass die (bislang größtenteils noch experimentelle) Anwendung von KI-Technologien zur praktischen Bewältigung der Ressourcenprobleme sowie zur Steigerung der Wirksamkeit, Prozessöko26 Ausführlich CEPEJ, European Ethical Charter on the Use of Artificial Intelligence in Judicial Systems and their Environment, Februar 2019, S. 29 ff., 57 ff., 75. Vgl. auch Berman/ Hafner, Communications of the ACM 32 (1989), 928 (928 ff.); Lauritsen, The Journal of Robotics, Artificial Intelligence & Law 1 (2018), 67 (71 – 72); Rizer/Watney, Texas Review of Law & Politics 23 (2019), 181 (183 ff.). S.a. Re/Solow-Niederman, Stanford Technology Law Review 22 (2019), 242 (242 ff.). 27 Siehe z. B. zum kürzlich eingeführten Strafverbot der analytischen Nutzung der Identifikationsdaten von Richtern zu Prognosezwecken in Frankreich (Art. 33 LOI n8 2019 – 222 du 23 mars 2019 de programmation 2018 – 2022 et de réforme pour la justice), Schonander, French judicial analytics ban undermines rule of law, CIO, 3. Juli 2019 (https://www.cio.com/ article/3406797). 28 Siehe unten (III.). 29 Siehe u. a. Gless/Silverman/Weigend, New Criminal Law Review 19 (2016), 412 (412 – 436); Hilgendorf, in: Hilgendorf/Feldle (Hrsg.), Digitization and the Law, 2018, S. 57 – 89. S.a. Feldle, Notstandsalgorithmen. Dilemmata im automatisierten Straßenverkehr, 2018. Vgl. auch Beck, in: Hilgendorf/Feldle (Hrsg.), Digitization and the Law, 2018, S. 41 – 55. Vgl. ferner European Committee on Crime Problems (CDPC), Concept Paper, Artificial Intelligence and Criminal Law Responsibility, in Council of Europe Member States – The Case of Automated Vehicles, CDPC(2018)14Rev; Commission Staff Working Document, Liability for emerging digital technologies, SWD(2018) 137 final.
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nomie und Kosteneffizienz der Kriminalitätskontroll- und Strafjustizsysteme erheblich beitragen kann – zukünftig wahrscheinlich noch in größerem Ausmaß.30 Gleichzeitig kann die asymmetrische Machtbeziehung zwischen Staat und Bürger*innen in einem für individuelle Freiheit und Menschenrechte besonders sensiblen Bereich ebenso nicht bestritten werden. Dementsprechend ist es für Wissenschaft, Politik und Praxis überaus wichtig, robuste Mechanismen und Methoden zu entwickeln und anzuwenden, die die Gerechtigkeitsgarantien von Transparenz, Objektivität, Unvoreingenommenheit, Gleichbehandlung, des effektiven Schutzes der Privatsphäre, der umfassenden richterlichen Kontrolle schwerer Eingriffsmaßnahmen und der substantiellen Prozessteilnahme für sämtliche interessierte Akteure gewährleisten können. Die Bezugnahme auf einen traditionellen Eckpfeiler des modernen Rechtsstaats, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, kann eine zentrale Rolle für die hierzu nötigen Abwägungsprozesse auf allen drei Ebenen der staatlichen Gewaltenteilung spielen. 2. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Kriminalitätskontrolle und Strafjustiz Die raison d’être für die Ausübung aller Staatsgewalt, nämlich die Freiheit und Menschenwürde jedes einzelnen Individuums zu schützen, kommt am besten in den Ideen vom Gesellschaftsvertrag und dem Grundsatz der Rechtstaatlichkeit zum Ausdruck. Eine grundlegende negative Pflicht der liberalen Rechtsstaaten und internationalen Gemeinschaften ist es, amtliche Zwangsmaßnahmen zu begrenzen, die die individuelle Freiheit einschränken und eine direkte Bedrohung der Menschenwürde darstellen. Dies wird erreicht, indem die Definition der individuellen Grund- und Menschenrechte verfassungsrechtlich und gesetzlich verankert wird. Gleichzeitig haben moderne demokratische Staaten und Institutionen die positive Pflicht, die ungehinderte Ausübung dieser Rechte aktiv zu garantieren. Dies hat oft zur Folge – zur Vorbeugung von Risiken für die Freiheit und Menschenwürde und als Schutz der Öffentlichkeit vor Bedrohungen von innen oder außen – Sicherheits- und Zwangsmaßnahmen einführen zu müssen. Zusätzlich zu den hierzu präventiv wirkenden Instrumenten der Kriminalitätskontrolle müssen die Strafjustizsysteme so gestaltet werden, dass sie schweren Eingriffen in die Freiheiten, individuellen Menschenrechte und kollektiven Rechtsgüter anderer Individuen wirksam und gerecht begegnen können. Fundamentale Menschenrechtsgarantien, wirksame Sicherheits- und Vorbeugungsmechanismen und funktionierende Strafjustizsysteme tragen fraglos zur Sicherung des gesellschaftlichen Friedens in der heutigen globalisierten Welt bei. Aber Janus hat zwei Gesichter: Die positive Pflicht, Freiheit und Menschenwürde aktiv zu schützen, steht oft im Konflikt mit der negativen Pflicht, die menschlichen Frei30 Vgl. Kuner/Cate/Lynskey/Millard/Loideain/Svantesson, International Data Privacy Law 8 (2018), 289.
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heiten vor Eingriffen der Staatsgewalt zu bewahren. Dies erfordert ein stetiges Abwägen zwischen positiven und negativen Staatspflichten. Wie das richtige Gleichgewicht hergestellt werden kann, zählt zu den schwierigsten Fragen, die die juristische Forschung und die Rechtspolitik an- und umtreiben. Moderne Rechtssysteme bieten drei verschiedene Ebenen, auf denen die konkurrierenden Interessen gegeneinander abgewogen werden können: die Legislative, die Exekutive und die Judikative. Auf der Suche nach angemessenen Mitteln zur Erfassung des Gleichgewichts sind insbesondere im Bereich des Verfassungsrechts das Konzept und die Anwendung der sogenannten Verhältnismäßigkeitsprüfung oft untersucht worden.31 Dagegen haben sich bislang die Kriminalitätskontrolle und Strafjustiz mit dem Umfang und den Grenzen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes rechtsdogmatisch und konzeptuell – mit Ausnahme von Strafzumessungsfragen32 – weniger befasst.33 Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und die damit gewährleisteten Gerechtigkeits- und Menschenrechtsgarantien sind Grundsteine des demokratischen und sozialen Rechtsstaates. Gleichzeitig stellt die in der Rechtspolitik und in rechtssoziologischen Debatten omnipräsente Frage nach Effektivität ein wesentliches Element gegenwärtiger Verbrechensbekämpfungsstrategien, Konfliktlösungsmechanismen und Sanktionsmodelle dar. In der Tat können Effektivität und Verhältnismäßigkeit sowohl als entgegengesetzte als auch als wechselseitig abhängige Konzepte verstanden werden. In Anbetracht der Herausforderungen, welche die rapiden technologischen Entwicklungen in der modernen globalen Risikogesellschaft für die Prävention und Verfolgung von Straftaten mit sich bringen, ist es eine dringende Aufgabe der nationalen und internationalen Rechtsordnungen, die herkömmlichen Ansätze zu den Begriffen „Effektivität/Effizienz“ und „Verhältnismäßigkeit“ zu hinterfragen und ihre Kriminalitätskontroll- und Strafjustizmodelle entsprechend zu optimieren bzw. neue zu schaffen. Vor allem die großen Änderungen in der Architektur der Strafrechtsysteme, zu welchen die Entwicklung und Einführung von KI-Technologien gerade führen, müssen in dieser Hinsicht untersucht werden. Jedoch kommen auch hierbei weiterhin die zwei bekannten zentralen Probleme des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zum Tragen: das Fehlen einer genauen und abschließenden Definition seiner Einzelelemente und seine Inkommensurabilität.34 In den folgenden Betrach31 Siehe z. B. Barak, Proportionality. Constitutional Rights and their Limitations, 2012; ferner die Beiträge in Ellis (Hrsg.), The Principle of Proportionality in the Laws of Europe, 1999, sowie in Huscroft/Miller/Webber (Hrsg.), Proportionality and the Rule of Law. Rights, Justification, Reasoning, 2014; Sullivan/Frase, Proportionality Principles in American Law. Controlling Excessive Government Actions, 2009. 32 Siehe z. B. von Hirsch/Ashworth, Proportionate Sentencing. Exploring the Principles, 2005; Lacey/Pickard, The Modern Law Review 78 (2015), 216; Miceli, Eur J Law Econ 46 (2018), 303; Staihar, Iowa L. Rev. 100 (2015), 1209; Thorburn, in: Zedner/Roberts (Hrsg.), Principles and Values in Criminal Law and Criminal Justice, 2012. 33 Siehe hierzu die thematisch breit gefächerten Einzelbeiträge in Billis/Knust/Rui (Hrsg.), Proportionality in Crime Control and Criminal Justice, 2021. 34 Siehe u. a. Duff, in: Billis/Knust/Rui (Hrsg.), Proportionality in Crime Control and Criminal Justice, 2021.
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tungen werden wichtige Fragen über die proportionale Anwendung von KI anhand von zwei hochrelevanten Beispielen konkreter beleuchtet: von Big Data (unter II.) und von den autonomen Waffensystemen (unter III.).
II. KI, Verhältnismäßigkeit und staatliche Kriminalitätskontrolle: Das Beispiel von Big Data 1. KI und Big Data im Bereich der Kriminalitätskontrolle Bei Eingriffen in die Freiheit der Privatsphäre einer Person und dem Schutz persönlicher Daten ist der Staat verpflichtet, zwei rechtsstaatliche Grundregeln zu beachten. Die erste Regel ist formeller35 Art: Eingriffe müssen gesetzlich vorgesehen sein. Die zweite Grundregel ist eine materielle Begrenzung aller drei Staatsgewalten einschließlich der Legislative: das Gebot der Verhältnismäßigkeit. Wie oben dargestellt, basieren KI-Anwendungen primär auf der Analyse von Daten unter Zuhilfenahme von Algorithmen. Diese Art der Analyse erfordert die Erhebung großer Mengen roher Daten, der sogenannten Big Data. Die Erhebung persönlicher Daten durch staatliche Behörden im Kontext der Kriminalitätskontrolle stellt gemäß Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) einen „Eingriff“ in das Privatleben dar.36 „Privatleben“ umfasst „jede Information über eine bestimmte oder bestimmbare natürliche Person“.37 Persönliche Daten im Sinne von Art. 8 EMRK können somit alles sein, von einem Namen, Foto, einer E-Mail-Adresse, Bankverbindung, GPS Trackingdaten, Beiträgen auf Internetseiten sozialer Netzwerke (einschließlich „likes“) bis zur IP-Adresse eines Computers.38 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat entschieden, dass nicht nur „direkte“ 35 Bezüglich „formelle“ versus „materielle“ Schranken staatlichen Handels siehe z. B. Barak, Proportionality (Fn. 31), S. 108, 139, 230 – 232; Dorsen/Rosenfeld/Sajó/Baer, Comparative Constitutionalism. Cases and Materials, 2003, S. 43 – 44; Epping, Grundrechte, 2017, S. 22 ff; Polakiewicz/Sandvig, in: Schroeder (Hrsg.), Strengthening the Rule of Law in Europe: From a Common Concept to Mechanisms of Implementation, 2016, S. 115 – 134; Tamanaha, On the Rule of Law. History, Politics, Theory, 2004, S. 91 – 113; Wennerström, The Rule of Law in the European Union, 2007, S. 76 – 84. 36 Siehe z. B. EGMR Brunet gegen Frankreich, Beschwerde Nr. 21020/10, Urteil vom 18. September 2014, § 31 (Registrierung persönlicher Daten in der polizeilichen Datenbank); EGMR M.N gegen San Marino, Beschwerde Nr. 28005/12, Urteil vom 7. Juli 2015, § 55 (Kopieren und anschließende Speicherung von Bankdaten durch die Polizei, die aus Kontoauszügen, Schecks, treuhänderischen Verfügungen und E-Mails abgerufen wurden); EGMR Big Brother Watch und andere gegen Vereinigtes Königreich, Beschwerde Nrn. 58170/13, 62322/14 und 24690/15, Urteil vom 13. September 2018, §§ 314 – 321 (massenhafte Kommunikationsüberwachung und anschließende Auswertung), der Fall ist vor der Großen Kammer anhängig. 37 EGMR Benedik gegen Slowenien, Beschwerde Nr. 62357/14, Urteil vom 24. April 2018, § 102. 38 European Union Agency for Fundamental Rights, Handbook on European data protection law, 2018, S. 350.
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persönliche Daten in den Schutzbereich von Art. 8 fallen; es genüge, wenn die Information detailliert genug sei, um die Identität der Person festzustellen.39 Folglich gelten Informationen, die zur Identifikation einer Person führen oder führen können, als persönliche Daten. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass sogar die Erhebung öffentlicher Informationen, wie Open Source Big Data, die im Internet verfügbar sind, in den Bereich des Privatlebens fallen, wenn sie systematisch gesammelt und von Behörden in Dateien gespeichert werden.40 Damit wird offensichtlich, dass bereits die Sammlung und Speicherung von Daten, die beispielsweise eine Voraussetzung für jede Art eines Predictive Policing Systems sind, einen Eingriff in das Privatleben gemäß Art. 8 EMRK darstellen.41 Im Anschluss an die Sammlung und Auswahl der Daten zur Analyse („mining“) sind die Datensätze für die Analyse bereit. Die Analyse persönlicher Daten (und anderer Daten) bedeutet einen wesentlich anderen Eingriff in die Privatsphäre als die Sammlung und Speicherung persönlicher Daten. Der erste und bedeutendste Unterschied zwischen bloßer Sammlung und Speicherung und der Analyse von Daten besteht darin, dass letztere (auf der Basis von Korrelationen) neue und zuvor unbekannte Informationen über die Person „produziert“. Zum Beispiel ist ein elektronisches System in Chicago in der Lage vorherzusagen, welche Individuen voraussichtlich an Waffengewalt beteiligt sein werden.42 Die Real-Time Analysis Critical Response (RACR) Abteilung der Polizeibehörde von Los Angeles hat gemeinsam mit einem privaten Technologieunternehmen (Palantir) ein KI-Tool zur Vorhersage gewöhnlicher Verbrechen entwickelt, das ursprünglich angewandt wurde, um Terroristen aufzuspüren.43 In New Orleans hat sich Palantir mit dem Bürgermeisteramt zusammengeschlossen, um die 1 % der gewalttätigen Autofahrer*innen der Stadt zu identifizieren.44 Unternehmen wie FaceFirst kombinieren Gesichtserkennungstools mit KI, um Lösungen zur Prävention von Diebstahl, Betrug und Gewalt anzubieten.45 Zweitens 39 EGMR P. und S. gegen Polen, Beschwerde Nr. 57375/08, Urteil vom 30. Oktober 2012, § 130. 40 EGMR Shimovolos gegen Russland, Beschwerde Nr. 30194/09, Urteil vom 21. Juni 2011, § 55 mit weiteren Hinweisen. 41 Die gleiche Schlussfolgerung zieht Brinkhoff, European Journal for Security Research 2 (2017), 57 (60). 42 Oswald/Grace/Urwin/Barnes, Information & Communications Technology Law 27 (2018), 223 (224). 43 Ferguson, The Rise of Big Data Policing. Surveillance, Race and the Future of Law Enforcement, 2017, S. 1 – 2. 44 Ferguson, Rise (Fn. 43), S. 34. Für weitere Beispiele siehe Brinkhoff, European Journal for Security Research 2 (2017), 57 (61 – 66); Oswald/Grace/Urwin/Barnes, Information & Communications Technology Law 27 (2018), 223 (227 – 231); Rademacher, AöR 142 (2017), 366 (369 – 372); Gavaghan/Knott/Maclaurin/Zerilli/Liddicoat, Government Use of Artificial Intelligence in New Zealand. Final Report on Phase 1 of the New Zealand Law Foundation’s Artificial Intelligence and Law in New Zealand Project, 2019, S. 19 – 29; Zavrsˇnik, European Journal of Criminology 2019, 1 (2 – 3) (https://doi.org/10.1177/1477370819876762). 45 OECD, Artificial Intelligence in Society (Fn. 5), S. 69.
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hat die Analyse bekannter persönlicher Daten das Potential, neue persönliche Daten offenzulegen.46 Bei neuen Informationen über eine Person kann es sich um sensible persönliche Daten handeln, was z. B. der Fall ist, wenn die Daten einen Zusammenhang zwischen einer Person und einer kriminellen Handlung etablieren und dadurch ein Verdacht begründet wird. Ein dritter Punkt bei der Verwendung von Algorithmen ist, dass es einige Unsicherheiten darüber gibt, wie Algorithmen neues Wissen produzieren. Ein Problem besteht darin, dass die Öffentlichkeit selten wirklich weiß, wie ein Algorithmus funktioniert; wir wissen, welche Information eingespeist wird und was herauskommt, aber was dazwischen passiert, ist eine „Black Box“.47 Daher ist die Funktionsweise von Algorithmen oft nicht transparent und erklärbar.48 Des Weiteren ist es eher unwahrscheinlich, dass die Behörden oder die privaten Unternehmen, die den Algorithmus entwickelten, die genaue Funktionsweise der Algorithmen im Bereich der Kriminalitätskontrolle preisgeben.49 Die Tatsache, dass Algorithmen auf einer statistischen Ebene (und nicht auf der Ebene von Ursache und Wirkung) funktionieren, verstärkt das Problem.50 Zudem ist nachgewiesen, dass die durch Algorithmen gewonnenen Informationen verzerrt, diskriminierend51 und in vielen Fällen unzuverlässig sein können.52 46
Temme, European Data Protection Law Review 3 (2017), 473 (478); Wachter/Mittelstadt, Columbia Business Law Review 2019, 494 (559, 577, 615 – 617). 47 Rubinstein, International Data Privacy Law 3 (2013), 74 (76); Mittelstadt/Allo/Taddeo/ Wachter/Floridi, Big Data & Society 3 (2016), 1 (6) (https://doi.org/10.1177/ 2053951716679679); Wachter/Mittelstadt, Columbia Business Law Review 2019, 494 (502) mit weiteren Hinweisen; Rademacher, AöR 142 (2017), 366 (377); Wischmeyer, AöR 143 (2018), 1 (42 – 46). 48 Ohm, in: Lane/Stodden/Bender/Nissenbaum (Hrsg.), Privacy, Big Data and the Public Good. Frameworks for Engagement, 2014, S. 100: „When a program thrives on surprising correlations and produces inferences and predictions that defy human understanding… …(h) ow can you provide notice about the unpredictable and unexplainable?“. S.a. Burrell, Big Data & Society 2016, 1 (1 – 10) (https://doi.org/10.1177/2053951715622512); Kuner/Svantesson/ Cate/Lynskey/Millard, International Data Privacy Law 7 (2017), 1 (2); Rademacher 2017, S. 376 – 377; Kuner/Cate/Lynskey/Millard/Loideain/Svantesson, International Data Privacy Law 8 (2018), 289 (290 – 291); Wischmeyer, AöR 143 (2018), 1 (42 – 65). 49 Burrell, Big Data & Society 2016, 1 (3 – 4) (https://doi.org/10.1177/2053951715622512); Wischmeyer, AöR 143 (2018), 1 (48); Wachter/Mittelstadt, Columbia Business Law Review 2019, 494 (503); OECD, Artificial Intelligence in Society (Fn. 5), S. 66. 50 Wischmeyer, AöR 143 (2018), 1 (24); Zavrsˇnik, European Journal of Criminology 2019, 1 (10) (https://doi.org/10.1177/1477370819876762). 51 Barocas/Selbst, California Law Review 104 (2016), 671 (677 – 693); Mittelstadt/Allo/ Taddeo/Wachter/Floridi, Big Data & Society 3 (2016), 1 (8 – 9) (https://doi.org/10.1177/ 2053951716679679); Rademacher, AöR 142 (2017), 366 (371); Wischmeyer, AöR 143 (2018), 1 (26 – 30). 52 Rademacher, AöR 142 (2017), 366 (376); Zavrsˇnik, European Journal of Criminology 2019, 1 (7) (https://doi.org/10.1177/1477370819876762): „Concerning data, first of all, criminality – by default – is never fully reported. The dark figure of crime is a ,black box‘ that can never be properly encompassed by algorithms. The future is then calculated from already selected facts about facts. Predictions can be more accurate in cases where ,reality‘ does not change dramatically and where the data collected reflect ,reality‘ as closely as possible. Se-
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Diese Probleme sind schwerwiegende Aspekte, die in allen Bereichen der Gesellschaft, in denen Algorithmen zur Anwendung kommen, beachtet werden müssen. Im Bereich der Kriminalitätskontrolle jedoch greift der Staat mit seinen stärksten und invasivsten rechtlichen und faktischen Maßnahmen in die Rechte des Einzelnen ein. Das Resultat eines Verfahrens gegen ein Individuum könnte die Verhängung einer Strafe sein. Strafe ist der stärkste sozialethische Vorwurf der Gesellschaft gegen eine Person. Ein weiterer Aspekt bei der Anwendung von KI zur Kriminalitätskontrolle ist, dass die persönlichen Daten einer großen Zahl von Personen, die weder verdächtig noch Tatbeschuldigte sind, zum Zwecke der systematischen Analyse benötigt werden. Das Paradox, die Freiheit der Bürger gleichzeitig durch einen Eingriff in ihre Freiheit und ihr Privatleben zu schützen, ist dem Bereich der Kriminalitätskontrolle immanent.53 2. Gesetzliche Regulierung von Big Data: Die Notwendigkeit demokratischer Kontrolle Sowohl bei der Sammlung und Speicherung von Big Data als auch der Analyse der Daten handelt es sich um „Eingriffe“ in das Privatleben, die gemäß Art. 8 EMRK „gesetzlich vorgesehen“ sein müssen. Der EGMR verlangt für die Erfüllung des Gesetzlichkeitsprinzips kein Parlamentsgesetz.54 Im Fokus steht das Prinzip der Vorhersehbarkeit. Daher genüge es, wenn der Eingriff durch eine Regelung für den Einzelnen vorhersehbar sei.55 Jedoch verlangen zumindest jene Rechtssysteme, die Teil der kontinentaleuropäischen Tradition sind, meist, dass Eingriffe in die Freiheiten der cond, crime is a normative phenomenon, that is, it depends on human values, which change over time and place. Algorithmic calculations can thus never be accurately calibrated given the initial and changing set of facts or ,reality‘.“ 53 Brinkhoff, European Journal for Security Research 2 (2017), 57 (59, 62); Rademacher, AöR 142 (2017), 366 (393 – 394); Gavaghan/Knott/Maclaurin/Zerilli/Liddicoat, Government (Fn. 44), S. 29: „(t)he use of predictive algorithms in the criminal justice context remains highly controversial“; Wischmeyer, AöR 143 (2018), 1 (7 – 8): „Und der Gebrauch von Systemen durch Hoheitsträger zum Zwecke des Predictive Policing verlangt nach einer gesetzgeberischen Ausgestaltung, die sich der besonderen Sensibilität und der Kategorien dieses Sach- und Rechtsgebiets bewusst ist.“; Zavrsˇnik, European Journal of Criminology 2019, 1 (16) (https://doi.org/10.1177/1477370819876762). S.a. OECD, Artificial Intelligence in Society (Fn. 5), S. 64: „Criminal justice is a sensitive point of interaction between governments and citizens, where asymmetry of power relations and information is particularly pronounced.“ S.a. z. B. Rubinstein, International Data Privacy Law 3 (2013), 74 (77): „With its massive scale, continuous monitoring from multiple sources, and sophisticated analytic capabilities, BD makes aggregation more granular, more revealing and more invasive“; Tene/ Polonetsky, Northwestern Journal of Technology and Intellectual Property 11 (2013), 239 (270): „In a big data world, what calls for scrutiny is often not the accuracy of the raw data but rather the accuracy of the inferences drawn from the data“. 54 EGMR Kruslin gegen Frankreich, Beschwerde Nr. 11801/85, Urteil vom 24. April 1990, § 29. 55 Z. B. EGMR S. und Marper gegen Vereinigtes Königreich, Beschwerde Nrn. 30562/04, 30566/04, Urteil der Großen Kammer vom 4. Dezember 2008, §§ 95 – 96.
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Bürger durch ein Gesetz im Sinne eines Parlamentsgesetzes vorgesehen sind (lex scripta, lex parlamentaria).56 Ziel und Zweck dieses formellen rechtsstaatlichen Erfordernisses ist zweierlei. In erster Linie sollen Eingriffe vom Volk selbst (indirekt) durch seine demokratischen Repräsentanten entschieden werden. Zweitens soll die Macht des Staates, in das Leben der Bürger*innen einzugreifen, nicht konzentriert, sondern auf Legislative, Exekutive und Judikative verteilt sein und diese drei Gewalten sollen sich gegenseitig kontrollieren. In Bezug auf die Sammlung und Speicherung von Daten im Rahmen der Kriminalitätskontrolle müssen europäische Rechtssysteme im Einklang mit dem Gesetzlichkeitsprinzip stehen.57 Allerdings gibt es dazu gegenteilige Beweise.58 Da es sich bei der Analyse von Daten im Vergleich zur Sammlung und Speicherung um einen wesentlich anderen Eingriff in die Privatsphäre handelt, ist zudem fraglich, ob das Gebot der Gesetzlichkeit auch in diesem Zusammenhang beachtet wird. Zum Beispiel hat das Gebot der Gesetzlichkeit auf zwei Ebenen Bedeutung: auf der EU-Ebene und auf nationaler Ebene. Auf EU-Ebene geht es insbesondere um die Frage, ob die EU-Datenschutzrichtline für Strafverfolgungs- und Strafvollstreckungsbehörden59 die Verwendung von Algorithmen zur Datenanalyse umfasst. Die Richtline beruft sich weitestgehend auf die Prinzipien und Definitionen der EU-Datenschutz-Grundverordnung (EU-DSGVO),60 wobei sie der besonderen 56 Siehe Sieber, ZStW 121 (2009), 1 (51): „Im allgemeinen Völker- und Europarecht wird eine demokratische Legitimation von Staatsgewalt außerhalb des – durch ein Volk mit gemeinsamen soziokulturellen Werten gebildeten – Nationalstaates teilweise grundsätzlich abgelehnt.“ Zudem Peristeridou, The Principle of Legality in European Criminal Law, 2015, S. 79 – 82 mit weiteren Hinweisen. 57 Auf der Ebene des Europarates siehe Empfehlung Nr. R (87)15 des Ministerkomitees über die Nutzung personenbezogener Daten im Polizeibereich, 17. September 1987 und Übereinkommen über Computerkriminalität, CETS Nr. 185, Budapest, 23. November 2001. Auf EU-Ebene siehe Richtlinie (EU) 2016/680 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natu¨ rlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhu¨ tung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2008/977/JI des Rates (EU-Datenschutzrichtlinie). 58 Siehe z. B. EGMR S und Marper gegen Vereinigtes Königreich, Beschwerde Nrn. 30562/04, 30566/04, Urteil der Großen Kammer vom 4. Dezember 2008, § 99 (Verstoß). S.a. EGMR Benedik gegen Slowenien, Beschwerde Nr. 62357/14, Urteil vom 24. April 2018, §§ 122 – 134 (Verstoß); EGMR Centrum for Rättvisa gegen Schweden, Beschwerde Nr. 35252/08, Urteil vom 19. Juni 2018, §§ 99 – 178 (kein Verstoß) und EGMR Big Brother Watch und andere gegen Vereinigtes Königreich, Beschwerde Nrn. 58170/13, 62322/14 und 24690/15, Urteil vom 13. September 2018, §§ 460 – 468 (Verstoß). Die beiden letzten Fälle sind vor der Großen Kammer anhängig. S.a. Rubinstein/Nojeim/Lee, International Data Privacy Law 4 (2014), 96 (97). 59 Richtlinie (EU) 2016/680 (EU-Datenschutzrichtlinie). 60 Verordnung (EU) 2016/679 des Europa¨ ischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natu¨ rlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung).
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Natur der Datennutzung im Bereich der Strafverfolgung und Strafvollstreckung Rechnung trägt. Im Vergleich zur Datenverarbeitung für kommerzielle Zwecke, welche durch die EU-DSGVO geregelt wird, ist bei der sicherheitsrelevanten Datenverarbeitung ein gewisses Maß an Flexibilität erforderlich. Daher unterliegt diese nicht dem Grundsatz der Transparenz. Auch die Grundsätze der Datenminimierung und Zwecklimitierung werden mit einer gewissen Flexibilität umgesetzt.61 Die Grundprinzipien der EU-DSGVO sind im Rahmen der Richtlinie mutatis mutandis anwendbar. Gemäß Art. 4 (1)(a-f) der Richtlinie müssen Mitgliedstaaten sicherstellen, dass personenbezogene Daten a) auf rechtmäßige Weise und nach Treu und Glauben verarbeitet werden, b) für festgelegte, eindeutige und rechtmäßige Zwecke erhoben und nicht in einer mit diesen Zwecken nicht zu vereinbarenden Weise verarbeitet werden, c) dem Verarbeitungszweck entsprechen, maßgeblich und in Bezug auf die Zwecke, für die sie verarbeitet werden, nicht übermäßig sind, d) sachlich richtig und erforderlichenfalls auf dem neuesten Stand sind; dabei sind alle angemessenen Maßnahmen zu treffen, damit personenbezogene Daten, die im Hinblick auf die Zwecke ihrer Verarbeitung unrichtig sind, unverzüglich gelöscht oder berichtigt werden, e) nicht länger, als es für die Zwecke, für die sie verarbeitet werden, erforderlich ist, in einer Form gespeichert werden, die die Identifizierung der betroffenen Personen ermöglicht, f) in einer Weise verarbeitet werden, die eine angemessene Sicherheit der personenbezogenen Daten gewährleistet, einschließlich des Schutzes vor unbefugter oder unrechtmäßiger Verarbeitung und vor unbeabsichtigtem Verlust, unbeabsichtigter Zerstörung oder unbeabsichtigter Schädigung durch geeignete technische und organisatorische Maßnahmen. Die im Schrifttum vorwiegend vertretene Auffassung ist, dass die Datenanalyse anhand von Algorithmen (KI/maschinelles Lernen) nicht vollumfänglich von der EU-DSGVO umfasst und/oder mit den Grundprinzipien der EU-DSGVO zum Teil nicht vereinbar ist.62 Das Prinzip der Zweckbegrenzung ist beispielsweise nur schwer mit KI in Einklang zu bringen, da es die Sammlung von Daten dermaßen eingrenzen 61
European Union Agency for Fundamental Rights, Handbook on European data protection law, 2018, S. 283. 62 Tene/Polonetsky, Northwestern Journal of Technology and Intellectual Property 11 (2013), 239 (256 – 263); Rubinstein, International Data Privacy Law 3 (2013), 74 (75 – 79); Temme, European Data Protection Law Review 3 (2017), 473 (485); Kuner/Svantesson/Cate/ Lynskey/Millard, International Data Privacy Law 7 (2017), 1 (1 – 2); Kuner/Cate/Lynskey/ Millard/Loideain/Svantesson, International Data Privacy Law 8 (2018), 289 (290 – 291); van den Hoven van Genderen, European Data Protection Law Review 3 (2017), 338 (338 – 340, 346 – 347, 351 – 352); Wachter/Mittelstadt, Columbia Business Law Review 2019, 494 (620): „The current remit of data protection law works well to govern input data, but fails to provide meaningful control over how personal data is evaluated“.
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würde, dass eine effiziente Datenanalyse oftmals nicht vorgenommen werden könnte.63 Die Schwierigkeiten, den Zweck der Verarbeitung zu definieren und nur Dateien zu diesem Zwecke aufzubewahren, verschärfen sich, weil es unmöglich ist vorherzusagen, was der Algorithmus lernen wird: auch der Zweck kann sich ändern, während die Maschinen lernen und sich entwickeln.64 Gemäß Kuner u. a. ist die Spannung zwischen den Datenschutzgesetzen und der Nutzung von KI „so fundamental that any effort to reconcile them runs the risk of substantially weakening data protection or substantially interfering with the benefits of AI or both. … The advent of AI may well require rethinking of fundamental data protection principles, not just because they pose an unnecessary burden to the use of AI tool, but because they do too little to protect privacy in this critical field.“65 Diese Erkenntnisse führen zu der Schlussfolgerung, dass die Datenanalyse durch Algorithmen auf EU-Ebene nicht angemessen gesetzlich geregelt ist. Weder die EUDSGVO noch die EU-Datenschutzrichtlinie für Strafverfolgungs- und Strafvollstreckungsbehörden bieten eine ausreichende rechtliche Grundlage. Die EU-Mitgliedstaaten müssen die Grundverordnung und die Richtlinie in ihre nationale Gesetzgebung umsetzen. In diesem Zusammenhang ist zweifelhaft, ob das Gesetzlichkeitsprinzip im Bereich der Analyse personenbezogener Daten sowohl auf EU-Ebene als auch auf nationaler Ebene der EU-Mitgliedstaaten gebührend berücksichtigt wird. Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass neu entwickelte internationale zwingende und nicht zwingende (Rechts-)Instrumente, die sich mit der Datenanalyse durch Algorithmen befassen, nicht ausreichend beachten, dass die Nutzung von KI im Bereich der Kriminalitätskontrolle zu einem Eingriff in die Freiheitsrechte der Bürger*innen führen kann und daher angemessener demokratischer Legitimation bedarf.66 Ein Grund hierfür könnte sein, dass die meisten Richtlinien, die durch diese Instrumente aufgestellt werden, allgemeinen Charakters sind und nicht speziell auf 63 Siehe Jasserand, European Data Protection Law Review 4 (2018), 152 (152 – 167) zum Grundsatz der Zweckbindung und der Auswirkung auf die Verwendung von gemäß EUDSGVO im Bereich der Kriminalitätskontrolle gesammelter Daten. 64 The Norwegian Data Protection Authority: Artificial intelligence and privacy, Report, January 2018, S. 16 – 18. 65 Kuner/Cate/Lynskey/Millard/Loideain/Svantesson, International Data Privacy Law 8 (2018), 289 (291). 66 Siehe z. B. CoE, Consultative Committee of the Convention for the Protection of Individuals with regard to Automatic Processing of Personal Data (T-PD), Guidelines on the Protection of Individuals with regard to the Processing of Personal Data in a World of Big Data, T-PD(2017)01; CEPEJ, European Ethical Charter on the Use of Artificial Intelligence in Judicial Systems and their Environment, Februar 2019; OECD, Recommendation of the Council on Artificial Intelligence, OECD/LEGAL/0449 (https://legalinstruments.oecd.org/en/ instruments/OECD-LEGAL-0449); Europäische Kommission, Hochrangige Expertengruppe für künstliche Intelligenz, Ethik-Leitlinien für eine vertrauenswürdige KI, 8. April 2019, nennt den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (S. 12 – 13, 22, 33, 36, 37), aber nicht das Gebot der Gesetzlichkeit im Bereich der Kriminalitätskontrolle.
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Kriminalitätskontrolle ausgerichtet sind. Eine andere Erklärung könnte sein, dass die spezielle Natur und die Auswirkung der Datenanalyse auf Bürger*innen im Bereich der Kriminalitätskontrolle nicht ausreichend bedacht wurden. Interessant ist zum Beispiel die Beobachtung, dass es, als sich neue Technologien entwickelten, in der Vergangenheit einige Beispiele gab, bei denen die Exekutive diese Technologien im Bereich der Kriminalitätskontrolle zu nutzen begann, noch bevor sich die Legislative der Sache annehmen konnte.67 In einigen dieser Fälle fand die Exekutive die Rechtsgrundlage für diese Eingriffe im Wege einer extensiven und/oder analogen Auslegungen des existierenden Rechts.68 Eine derartige Vorgehensweise steht in gravierendem Widerspruch zum Prinzip der Gewaltenteilung: die Exekutive greift in die Befugnisse der Legislative ein. Diese Machtverschiebung ist ein fundamentales Problem demokratischer Legitimierung.69 Daher wird argumentiert, dass die demokratische Teilhabe bei der Entwicklung der Nutzung von KI im Bereich der Kriminalitätskontrolle oberste Priorität haben muss.70
67 Es gibt zahlreiche Beispiele von Strafverfolgungsbehörden, die selbst beschlossen haben, KI-Technologien anzuwenden, die unmittelbar in das Privatleben der Bürger eingreifen, ohne demokratische Legitimation, siehe z. B. Brinkhoff, European Journal for Security Research 2 (2017), 57 (61 – 63) (Nutzung von KI-Technologien durch die niederländischen Strafverfolgungsbehörden); Ferguson, Rise (Fn. 43), S. 187 – 201 (Situation in den USA) und Oswald/Grace/Urwin/Barnes, Information & Communications Technology Law 27 (2018), 223 (227 – 229) (das Durham HART Modell). In Norwegen hat die Zollbehörde 30 Mio. Euro in die KI-Technologie des privaten Unternehmens Palantir investiert, die unter anderem von sozialen Netzwerken erworbene persönliche Informationen analysiert („Storebror ser deg“, Dagbladet 6. Februar 2018, https://www.dagbladet.no/kultur/storebror-ser-deg/69411920). 68 Siehe z. B. EGMR Kruslin gegen Frankreich, Beschwerde Nr. 11801/85, Urteil vom 24. April 1990, § 11 (Berufung auf Rechtsprechung, die in Bezug auf andere Ermittlungsmaßnahmen zur Vornahme einer Telefonüberwachung entwickelt wurde, Verletzung von Art. 8). S.a. EGMR Malone gegen das Vereinigte Königreich, Beschwerde Nr. 8691/79, Urteil vom 2. August 1984 (Plenum), §§ 69 – 80 (Berufung auf das Post-Gesetz zur Vornahme einer Telefonüberwachung, Verletzung von Art. 8). Ein weiteres Beispiel stellt die dänische Strafverfolgungsbehörde dar, die vor dem Obersten Gericht in Dänemark die Auffassung vertrat, dass Regelungen zur Vornahme von Durchsuchungen und Beschlagnahmen analog auf die Durchführung von Datenüberwachung anwendbar seien; diese Begründung wurde vom Gericht abgelehnt (Ugeskrift for Retsvæsen 2001, S. 1276). 69 Eine interessante Frage ist, ob und in welchem Maße diese Entwicklung ein Zufall ist. Siehe Thon/Nes, European Data Protection Law Review 3 (2017), 16 (17). 70 Z. B. Burrell, Big Data & Society 2016, 1 (10) (https://doi.org/10.1177/ 2053951715622512); Brinkhoff, European Journal for Security Research 2 (2017), 57 (59); Ferguson, Rise (Fn. 43), S. 201; Oswald/Grace/Urwin/Barnes, Information & Communications Technology Law 27 (2018), 223 (242); Wischmeyer, AöR 143 (2018), 1 (6 – 9, 18 – 19, 66); Smith/Browne, Tools and Weapons. The Promise and Peril of the Digital Age, 2019, S. 11.
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3. Verhältnismäßigkeit als materielle Begrenzung der gesetzlichen Regulierung von Big Data Das Gebot der Verhältnismäßigkeit bindet alle Staatsgewalt.71 Obwohl wir uns in diesem Beitrag auf die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei der gesetzlichen Regulierung von KI im Bereich der Kriminalitätskontrolle fokussieren, ist hervorzuheben, dass diese Bewertung der Verhältnismäßigkeit in Bezug auf KI-Maßnahmen durch den Gesetzgeber und die Schlussfolgerungen des demokratisch gewählten Parlaments auch maßgebliche Auswirkungen auf die Beurteilung der Legitimität von KI durch andere Staatsorgane haben. Die Exekutive muss KI im Rahmen der gesetzlichen Grenzen anwenden. Die Normenkontrolle durch die Judikative ist eng damit verknüpft, ob, wie und inwieweit der Gesetzgeber die Verhältnismäßigkeit des jeweiligen Gesetzes bewertet hat. Je bedachter und ausführlicher das demokratische Parlament Fragen der Verhältnismäßigkeit behandelt hat, desto größer ist die durch die Judikative ausgeübte Selbstkontrolle bei der Prüfung von Verhältnismäßigkeitsfaktoren. Ein prominentes Beispiel ist die prozessbasierte Kontrolle des EGMR.72 Der Schwerpunkt des Straßburger Gerichts auf die Entwicklung der gesetzgeberischen Verhältnismäßigkeit hat Auswirkungen auf die Mitgliedstaaten des Europarates.73 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit umfasst mehrere Elemente, die in den verschiedenen Rechtssystemen mit geringfügigen Abweichungen zum Ausdruck kommen. Auch ihre Anwendung kann sich etwas unterscheiden, z. B. je nachdem welchem Element stärkeres Gewicht gegeben wird.74 Gleichwohl scheint dies eher eine Frage der Begrifflichkeit und der praktischen Anwendung als eine des Inhalts und der Gegebenheiten zu sein. Vier wesentliche Bedingungen können identifiziert werden, denen genügt werden muss, um den materiellen Anforderungen einer rechtsstaatlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung standzuhalten: der Eingriff muss einen legitimen Zweck verfolgen, er muss dazu geeignet und erforderlich sein. Schließlich muss der Eingriff (wenn er die vorangegangene Prüfung bestanden hat) gegen das zu schützende Menschenrecht abgewogen werden. Die legitime Notwendigkeit des Ein71
Siehe jedoch Fontanelli, Oxford Journal of Legal Studies 36 (2016), 630, der dagegen hält, dass Beurteilungen der Verhältnismäßigkeit im Bereich der Internet-basierten Aktivitäten aufgegeben werden soll. Seiner Meinung nach soll der EuGH „let go of the comfortable terminology/mythology on proportionality and allocate liability with policy-oriented pragmatism“ (658). 72 Siehe De Schutter/Tulkens, in: Brems (Hrsg.), Conflicts between Fundamental Rights, 2008, S. 188 – 189; Gerards/Brems (Hrsg.), Procedural Review in European Fundamental Rights Cases, 2017, S. 1 – 13; Rui, Nordic Journal of Human Rights 2013, 48; Spano, Human Rights Law Review 2014, 498; Spano, Human Rights Law Review 2018, 8; Arnardóttir, Human Rights Law Review 2017, 9. 73 Kavanagh, Oxford Journal of Legal Studies 34 (2014), 443; Saul, Human Rights Law Review 2015, 745; Donald/Leach, Parliaments and the European Court of Human Rights, 2016. 74 Grimm, University of Toronto Law Journal 2007, 383 ff.
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griffes muss ein stärkeres Gewicht haben als das Menschenrecht, in das eingegriffen wird (Angemessenheit oder Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne). Diese Elemente der Verhältnismäßigkeitsprüfung finden sich z. B. in Art. 52 Nr. 1 Charta der Grundrechte der EU, in den Entscheidungen des EGMR75 und in zahlreichen europäischen Verfassungen, z. B. in jenen von Belgien,76 Finnland,77 Frankreich,78 Deutschland,79 Irland,80 Italien,81 Norwegen,82 Portugal,83 Spanien84 und der Schweiz.85 Um Hinweise auf Inhalt und Anwendung der Elemente des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu finden und diese zu analysieren, ist man weitgehend auf Entscheidungen von Gerichten angewiesen, die sich mit dem Verhältnismäßigkeitsbegriff befasst haben. So muss der erste Beurteiler (Gesetzgeber) den nachfolgenden Beurteiler (nationale Gerichte) oder sogar den dritten Beurteiler (internationale Gerichte) zu Rate ziehen. Es erübrigt sich darauf hinzuweisen, dass Gesetzgeber und Gerichte die Legitimität ihrer Macht aus unterschiedlichen Quellen beziehen. Zudem kommen ihnen in einer liberalen Demokratie, die an das Rechtsstaatlichkeitsprinzip, vornehmlich an den Grundsatz der Gewaltenteilung, gebunden ist, unterschiedliche Rollen zu. Daher wird die Prüfung der Verhältnismäßigkeit durch den ersten Beurteiler hinsichtlich
75 McBride, in: Ellis (Hrsg.), The Principle of Proportionality in the Laws of Europe, 1999, S. 24 – 26; Barak, Proportionality (Fn. 31), S. 183 – 184; Gerards, International Journal of Constitutional Law 2013, 466 ff.; Harris/O’Boyle/Bates/Buckley, Law of the European Convention on Human Rights, 2014, S. 519 – 520; Brems/Lavrysen, Human Rights Law Review 2015, 139 ff.; Schabas, The European Convention on Human Rights. A Commentary, 2016, S. 406. Abweichend Christoffersen, Fair Balance: Proportionality, Subsidiarity and Primarity in the European Convention on Human Rights, 2009, S. 135 und Christoffersen, Menneskerettens proportionalitetsprincip, 2015, S. 1 – 7. 76 Lenaerts/Gérard, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa. Band X Grundrechte in West-, Nord- und Südeuropa, 2018, S. 74 – 75, 77. 77 Ojanen, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa. Band X Grundrechte in West-, Nord- und Südeuropa, 2018, S. 368 – 370. 78 Ducoulombier, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa. Band X Grundrechte in West-, Nord- und Südeuropa, 2018, S. 8 – 11. 79 Epping, Grundrechte (Fn. 35), S. 22 – 29; Kingreen/Poscher, Grundrechte Staatsrecht II, 2017, S. 32 – 33; Sachs, Grundgesetz. Kommentar, 2018, S. 853 – 858. 80 Doyle, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa. Band X Grundrechte in West-, Nord- und Südeuropa, 2018, S. 240. 81 Manes, in: Tiedemann/Sieber/Satzger/Burchard/Brodowski (Hrsg.), Die Verfassung moderner Strafrechtspflege. Erinnerung an Joachim Vogel, 2016, S. 406 f. 82 Siehe z. B. Rt. 2014, S. 1105; HR-2018 – 104-A; HR-2018 – 699-A (Supreme Court Judgments); Rui, Lov og Rett 2018, 129 – 130. 83 Pereira da Silva/Duarte Coimbra, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa. Band X Grundrechte in West-, Nord- und Südeuropa, 2018, S. 661. 84 Medina Guerrero, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa. Band X Grundrechte in West-, Nord- und Südeuropa, 2018, S. 633 – 634. 85 Rhinow/Schefer/Uebersax, Schweizerisches Verfassungsrecht, 2016, S. 229 – 231.
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Funktion, Schwerpunkt, Richtung und Inhalt nicht dieselbe sein wie die durch den zweiten und dritten Beurteiler. Die Entwicklung eines Verhältnismäßigkeitskonzepts durch den demokratisch legitimierten Gesetzgeber muss auf dem bereits existierenden Konzept des durch die Rechtsprechung entwickelten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aufbauen. Die funktionellen und materiellen Unterschiede zwischen beiden Konzepten erfordern eine andere tiefere Untersuchung bezüglich der vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber vor Gesetzesverabschiedung vorzunehmenden Verhältnismäßigkeitsprüfung der für den Eingriff maßgeblichen Rechtsgrundlage. Die Entwicklung eines Konzepts der gesetzgeberischen Verhältnismäßigkeit im Bereich der Kriminalitätskontrolle und KI erfordert die Anwendung anderer als der traditionellen rechtsdogmatischen Methoden, wie z. B. der Systemtheorie, Netzwerktheorie und Kommunikationstheorie. Zudem müssen über das Recht hinaus andere Gebiete miteinbezogen werden. Kenntnisse aus Fachrichtungen wie der Kriminologie, Computerwissenschaft, Mathematik, Politikwissenschaft und Philosophie sind nötig, um die Elemente des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus Sicht des demokratisch legitimierten Gesetzgebers erfassen zu können. Ein gesetzgeberisches demokratisches Verhältnismäßigkeitskonzept wird auch in anderen Bereichen, in denen formelle Aspekte der Rechtstaatlichkeit eine gesetzliche Regelung verlangen, von allgemeinem Interesse sein. Der Fall der Nutzung von KI bei der Kriminalitätskontrolle stößt jedoch, wie bereits oben erwähnt, an die Grenzen des traditionellen Verhältnismäßigkeitsmodells. Schlüsselwörter sind das Gebot eines rechtmäßigen Zwecks, die Ungewissheit, Undurchsichtigkeit und Unerklärbarkeit der Arbeitsweise von Algorithmen („Black-Box“) sowie das Problem der Einseitigkeit und der Diskriminierung. Neue Technologien, die die Intrusivität von KI reduzieren, wie z. B. generative adversarial networks, federated learning, matrix capsules, differential privacy, homomorphic encryption, transfer learning und explainable AI (XAI)86 werden bei der weiteren Analyse von KI im Bereich der Kriminalitätskontrolle und dem Paradigma der demokratisch legitimierten gesetzgeberischen Verhältnismäßigkeit von besonderer Bedeutung sein.
III. KI, Verhältnismäßigkeit und humanitäres Völkerrecht: Autonome Waffensysteme „Certainly, weighing the expected collateral damage against the anticipated military advantage will never be a job for one’s pocket calculator.“ Frits Kalshoven87
Ein weiteres relevantes und aktuelles Beispiel der engen Verbindung zwischen KI und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bzw. dem Verhältnismäßigkeitsprin86 The Norwegian Data Protection Authority: Artificial intelligence and privacy, Report, January 2018, S. 26 – 27 mit weiteren Hinweisen. 87 Kalshoven, American Journal of International Law 40 (1992), 39 (44).
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zip88 im Bereich der Kriminalitätskontrolle ist die Nutzung autonomer Waffensysteme (AWS) im Rahmen von bewaffneten Konflikten. Die Interaktion zwischen KI und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist mit dem Einsatz von AWS eng verbunden.89 Dabei stellt sich die Frage, ob der Einsatz von AWS im Rahmen von bewaffneten Konflikten mit dem humanitären Völkerrecht und dem darin tiefverwurzelten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz – sowie den damit verbundenen anderen Grundprinzipien – vereinbar ist.90 Ulrich Sieber hat bereits früh erkannt, dass die rein strafrechtliche Betrachtungsweise des Systems der Kriminalitätskontrolle nicht der „Realpolitik“ dieses Systems entspricht, sondern man eher von einem weiten Begriff des Sicherheitsrechts ausgehen muss.91 In diesem Zusammenhang hat Sieber auch die Rolle des humanitären Völkerrechts immer wieder hervorgehoben und dessen Anwendung im Kampf gegen besondere Formen der Kriminalität diskutiert.92 An dieser Stelle folgt nun ein Überblick über die gegenwärtigen Herausforderungen, die sich aus dem Einsatz von KI im Rahmen bewaffneter Konflikte ergeben, und eine Erörterung der Rolle, die der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dabei spielt.93 88
Für eine ausführliche Darlegung über den Grundsatz der Proportionalität im (humanitären) Völkerrecht siehe Gardam, American Journal of International Law 87 (1993), 391 (391 – 413). 89 Siehe hierzu van den Boogard, Proportionality and Autonomous Weapons Systems, Amsterdam Law School Legal Studies Research Paper No 2016 – 07 (= Journal of International Humanitarian Legal Studies 2015, 247). 90 In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass diese vollautonomen Waffensysteme nach dem jetzigen Wissensstand noch nicht fest zum militärischen Einsatz kommen. Siehe Report of the International Committee of the Red Cross (ICRC) meeting on autonomous weapon systems, 26 – 28 March 2014, (https://www.icrc.org/en/document/report-icrc-meetingautonomous-weapon-systems-26-28-march-2014); van den Boogard, Proportionality and Autonomous Weapons Systems, Amsterdam Law School Legal Studies Research Paper No 2016 – 07 (= Journal of International Humanitarian Legal Studies 2015, 247). 91 Für einen ausführlichen Gesamtüberblick siehe Sieber, in: Tiedemann/Sieber/Satzger/ Burchard/Brodowski (Hrsg.), Die Verfassung moderner Strafrechtspflege. Erinnerung an Joachim Vogel, 2016, S. 351 – 372. Siehe zu den Grenzen des Strafrechts Sieber, ZStW 119 (2007), 1 (1 – 68). Ferner Sieber, in: von Bogdandy/Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Yearbook of United Nations Law 14 (2010), S. 1 – 50. 92 Sieber, in: Sieber/Mitsilegas/Mylonopoulos/Billis/Knust (Hrsg.), Alternative Systems of Crime Control. National, Transnational, and International Dimensions, 2018, S. 19. Siehe hierzu auch Sieber, in: Manacorda/Nieto Martín (Hrsg.), Criminal Law Between War and Peace – Justice and Cooperation in Criminal Matters in International Military Interventions, 2009, S. 35 – 69. 93 Im Rahmen dieses relativ neuen Forschungsgebiets gibt es mittlerweile eine sehr hohe Anzahl von Untersuchungen und Projekten, die sich gezielt mit der Interaktion von KI und Waffensystemen auseinandersetzen. Hierbei sei insbesondere auf das Projekt „War-Algorithm Accountability“ (https://pilac.law.harvard.edu/waa) und die Arbeitsgruppe „Group of Governmental Experts of the High Contracting Parties to the Convention on Certain Conventional Weapons mandated to examine issues related to emerging technologies in the area of lethal autonomous weapon systems in the context of the objectives and purposes of the Convention“ hingewiesen. Die Ergebnisse der Arbeitsgruppe wurden in der UNODA Occasional
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1. Einsatz von AWS im Rahmen bewaffneter Konflikte Bereits der Einsatz von Waffensystemen, die durch einen Operator aus der Entfernung gesteuert werden (klassischer Drohneneinsatz), hat im Rahmen des humanitären Völkerrechts Diskussionen hervorgerufen. Im Zentrum steht dabei die Frage, ob eine Person aus einer solchen Entfernung und ohne direkt vor Ort im Kriegsgeschehen involviert zu sein, die richtige Entscheidung über die Verhältnismäßigkeit der kriegerischen Maßnahme treffen kann, wenn ein Großteil der für die Entscheidung wesentlichen Informationen auf einem Algorithmus basierend computergeneriert ist. Es geht somit um die Entscheidung über und die Steuerung von Maßnahmen, welche auf einer Abwägung komplexer Faktoren beruhen, die teilweise aus Algorithmen resultieren. Eine Person muss in einer Einzelfallabwägung entscheiden, ob die Voraussetzungen dafür erfüllt sind, eine bestimmte Maßnahme vorzunehmen, um das angestrebte legitime militärische Ziel zu erreichen. Somit kommt es zu einer Entscheidungsfindung durch menschliche Abwägungen zwischen einem legitimen militärischen Ziel und einem potenziellen Kollateralschaden. Im Fall von AWS stellt sich die (rechtliche) Betrachtungsweise nochmals anders dar. Hierbei geht es vor allem darum, welche Bedeutung den Algorithmen von AWS mit Blick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zukommt. Grundsätzlich hat der Einsatz von Algorithmen im Rahmen von Waffensystemen auf See und Land bereits eine lange Tradition.94 Dementsprechend alt und konstant ist auch die Diskussion auf der ethischen, politischen und rechtlichen Ebene.95 Durch die derzeitigen technologischen Fortschritte gewinnt die Diskussion jedoch neue Intensität, da rein technisch bereits auch im militärischen Einsatz menschliche Entscheidungen gänzlich durch algorithmenbasierte Entscheidungsfindungen abgelöst werden könnten.96 Papers No. 30. November 2017, Perspectives on Lethal Autonomous Weapon Systems, publiziert und sind unter https://www.un.org/disarmament/publications/occasionalpapers/unodaoccasional-papers-no-30-november-2017/ abrufbar. Für die Nutzbarkeit von Algorithmen zur Verhältnismäßigkeitsbestimmung siehe die Forschungsarbeit von Dogot, Métamorphoses juridiques de la guerre : vers une régulation de la sécurité globale par la gestion du risque; für einen kurze interaktive Zusammenfassung dieser Arbeit siehe: http://podcasts.ox.ac.uk/legalmetamorphosis-war. Siehe auch Wagner, in: Saxon (Hrsg.), International Humanitarian Law and the Changing Technology of War, 2013, S. 99 ff.; Wagner, in: Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, 2016; Wagner, Vereinte Nationen (2/2016), 73 (73 ff.). Ferner wird die Fragestellung der Interaktionen von KI und humanitärem Völkerrecht auch von den Autoren dieses Beitrags im Rahmen eines Forschungsprojekts weiter vertieft. 94 Lewis/Blum/Modirzadeh, War-Algorithm Accountability, Research Briefing, Harvard Law School Program on International Law and Armed Conflict, Executive Summary, 2016, (http://blogs.harvard.edu/pilac/files/2016/08/Executive-Summary-—-War-Algorithm-Accounta bility-August-2016.pdf), S. i. 95 Lewis/Blum/Modirzadeh, War-Algorithm Accountability (Fn. 94), S. iii. 96 Diese neue Stufe der Intensität von Algorithmen innerhalb des humanitären Völkerrechts ist explizit in einem offenen Brief von führenden Wissenschaftler*innen hervorgehoben worden; der offene Brief wurde am 28. Juli 2015 bei der Eröffnung der IJCAI (International
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Auf völkerrechtlicher Ebene gibt es klar definierte Regelungen für die Einschränkung von Gewalt. Einerseits gibt es Normen, welche die Ausübung von militärischer Gewalt grundsätzlich verbieten und diese nur in Ausnahmefällen erlauben: ius ad bellum bzw. ius contra bellum.97 Andererseits gibt es die Regelungen des ius in bello, welche die militärische Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts in einem klar umgrenzten rechtlichen Rahmen hält.98 Diese speziellen Regelungen des ius in bello werden auch als humanitäres Völkerrecht bezeichnet. Hierbei sollen im Falle eines bewaffneten Konfliktes die nicht an den Feindseligkeiten beteiligten Personen und ihre Lebensgrundlage vor den Auswirkungen der Kampfhandlungen weitmöglichst geschützt werden.99 Das humanitäre Völkerrecht stellt somit ein rechtliches (Sub-)System dar, das vor allem dem Schutz von Menschen in bewaffneten Konflikten dient. Die Entwicklung weg vom Begriff des Kriegsvölkerrechts und dem Recht der bewaffneten Konflikte zeigt den Hauptfokus dieses Rechtssystems auf: die möglichst „humane“ Ausgestaltung von bewaffneten Konflikten.100 2. Verhältnismäßigkeit und weitere Grundprinzipien des humanitären Völkerrechts Neben einem sehr detaillierten Regelungskatalog zum Schutz des Individuums, aber auch anderer rechtlich geschützter Rechtsgüter, unterliegen die rechtlich zulässigen Handlungen innerhalb eines bewaffneten Konflikts auch allgemeinen Grundprinzipien. Dazu gehören das Unterscheidungsgebot, das Verhältnismäßigkeitsprinzip, das Vorsorgeprinzip und die Martens’sche Klausel. Auch wenn der Hauptfokus im vorliegenden Beitrag auf dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und der KI liegt, so muss dennoch auf alle ebengenannten Grundprinzipien kurz eingegangen werden, da diese als holistisches System in einer Gesamtheit interagieren.
Joint Conference on Artificial Intelligence) öffentlich verlesen, siehe hierzu die deutsche Version des Briefs „Autonome Waffen: Ein offener Brief von KI- und Robotik-Forschern“ (https://futureoflife.org/open-letter-on-autonomous-weapons-german/). S.a. Lewis/Blum/Modirzadeh, War-Algorithm Accountability (Fn. 94), S. iii. 97 Bothe, in: Graf Vitzthum/Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 2019, S. 762 f.; Heintschel von Heinegg, in: Epping/Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Völkerrecht, 2018, S. 1131 ff. 98 Bothe, in: Graf Vitzthum/Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 2019, S. 762 f.; Hobe, Einführung in das Völkerrecht, 2014, S. 523 ff. 99 Meltzer, Interpretive Guidance on the Notion of Direct Participation in Hostilities under International Humanitarian Law, International Committee of the Red Cross, 2009, abrufbar unter https://shop.icrc.org/guide-interpretatif-sur-la-notion-de-participation-directe-aux-hostili tes-en-droit-international-humanitaire-2605.html. 100 Hobe, Einführung in das Völkerrecht, 2014, S. 523 f.; Bothe, in: Graf Vitzthum/Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 2019, S. 817 f. Für einen kurzen Überblick bzgl. der Entwicklung siehe Heintschel von Heinegg, in: Epping/Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Völkerrecht, 2018, S. 1278.
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a) Unterscheidungsgebot Nach dem Unterscheidungsgebot muss im Rahmen von bewaffneten Konflikten zwischen Kombattanten und Zivilisten unterschieden werden. Gemäß Art. 51 Abs. 2 Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (ZPI)101 dürfen „[w]eder die Zivilbevölkerung als solche noch einzelne Zivilpersonen … das Ziel von Angriffen sein. Die Anwendung oder Androhung von Gewalt mit dem hauptsächlichen Ziel, Schrecken unter der Zivilbevölkerung zu verbreiten, ist verboten.“ Hieraus wird klar, dass es sich bei diesem Gebot um einen hochkomplexen Abwägungsprozess handelt, der durch Soldat*innen bzw. AWS in der konkreten Situation nur schwer vorgenommen werden kann. Die Verschiebung bewaffneter Konflikte hin zu einer asymmetrischen Kriegsführung, das fehlende öffentliche Tragen von Uniformen im Rahmen der Konflikte und die damit einhergehende erforderliche Interpretation von menschlichem Verhalten und Intentionen in der konkreten Situation führt gerade Maschinen bei der Beurteilung der Situation an ihre Grenzen.102 Bei dieser Art neuer Kriegsführung, wie beispielsweise der „urban warfare“ und der asymmetrischen Kriegsführung, geht es nicht mehr nur um die Erfassung und Unterscheidung von Uniformen oder anderen klaren optischen Unterscheidungsmerkmalen durch die Sensoren der AWS, sondern vielmehr um die Erfassung, Unterscheidung und Interpretation von menschlichem Verhalten im Einzelfall.103 Diese Herausforderung stellt sich ebenfalls in den Fällen und Situationen, in denen ein/e Soldat*in verwundet wurde oder sich ergeben hat (hors de combat). Um dies zu leisten, muss das AWS die Fähigkeit besitzen, die hors de combat-Situation neu einzuordnen, das menschliche Verhalten zu interpretieren und die eigene Handlung entsprechend neu anzupassen. Somit müssen die Sensoren und Algorithmen des AWS eine Neuinterpretation der tatsächlichen (Konflikt-)Lage und der damit verbundenen menschlichen Verhaltensweise (Bewegungsmuster etc.) vornehmen können. Diese Art der Neuevaluierung einer Situation innerhalb eines bewaffneten Konfliktes stellt eine hohe Anforderung an die zeitnahe Entscheidungsfindung dar.
101 Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (ZPI), angenommen in Genf am 8. Juni 1977. 102 Kritisch hierzu Sharkey, International Review of the Red Cross 94 (2012), 787 (788). König, Autonome Waffensysteme und das humanitäre Völkerrecht, IFSH, IFAR2 Fact Sheet, Dezember 2017, S. 3; Geiss, Die völkerrechtliche Dimension autonomer Waffensysteme, Friedrich-Ebert-Stiftung, Juni 2015, (https://library.fes.de/pdf-files/id/ipa/11444-20150619. pdf), S. 14. 103 Geiss, Waffensysteme (Fn. 102), S. 14. Dies auch, wenn in diesem Zusammenhang oft gerade die fehlende menschliche und somit emotionslose Komponente als zielführend dargelegt wird. Somit sollen bestimmte menschliche Fehlentscheidungen, die in diesen Ausnahmesituationen auf menschlichen Emotionen fußen, durch Maschinen eben verhindert werden.
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b) Verhältnismäßigkeitsgebot Ein weiteres Grundprinzip des humanitären Völkerrechts ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Dieses Prinzip schützt gemäß Art. 51 (5) (b) ZP I vor einem Angriff, „bei dem damit zu rechnen ist, dass er auch Verluste an Menschenleben unter der Zivilbevölkerung, die Verwundung von Zivilpersonen, die Beschädigung ziviler Objekte oder mehrere derartige Folgen zusammen verursacht, die in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen“. Dieses Grundprinzip wird ebenfalls in Art. 57 ZP I genannt und gilt ferner als Völkergewohnheitsrecht.104 Wie bereits weiter oben erwähnt, kommt es auch im Falle von bewaffneten Konflikten zu einer Interaktion zwischen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und der Frage nach Effektivität. In Bezug auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit innerhalb des humanitären Völkerrechts ist eine Situation während eines bewaffneten Konflikts mit zwei unterschiedlichen Zielsetzungen zu evaluieren: Einerseits möchte eine Konfliktpartei mit der geplanten Handlung einen unmittelbaren und konkreten militärischen Vorteil erlangen (Effektivität). Andererseits darf der durch die militärische Handlung verursachte Kollateralschaden nicht außer Verhältnis zum erlangten militärischen Vorteil stehen (Verhältnismäßigkeit). Diese Abwägungsentscheidung basiert auf einer Vielzahl von Einzelumständen, welche nicht nur aus „harten“, sondern auch aus „weichen“ Informationen bestehen, die in ihrer Gesamtheit zu einer proportionalen Entscheidung führen sollen. Da die Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in diesem Kontext zur Erfüllung der Tatbestandmerkmale eines Kriegsverbrechens und somit zur strafrechtlichen Sanktionierung individuellen Verhaltens führen kann,105 hat der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, ICTY)106 im „Stanislav Galic“-Verfahren einen „Proportionalitätstest“ entwickelt.107 Um die Verhältnismäßigkeit eines Angriffs festzustellen, muss diesen Vorgaben entsprechend untersucht werden, ob eine durchschnittlich gut informierte Person aus der Sicht des Täters unter den zum fraglichen Tatzeitpunkt bestehenden Umständen und unter vernünftiger Zuhilfenahme der ihm oder ihr zur Verfügung stehenden Informationen als Folge des Angriffs eine exzessive Anzahl zi104 Customary IHL Database, Rule 14 (https://ihl-databases.icrc.org/customary-ihl/eng/ docs/v1_rul_rule14). 105 Siehe hierzu z. B. Art. 8 (2)(b)(iv) Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, angenommen am 17. Juli 1998 in Rom (IStGH-Statut): „… Im Sinne dieses Statuts bedeutet Kriegsverbrechen … andere schwere Verstöße gegen die innerhalb des feststehenden Rahmens des Völkerrechts im internationalen bewaffneten Konflikt anwendbaren Gesetze und Gebräuche, nämlich jede der folgenden Handlungen: … vorsätzliches Führen eines Angriffs in der Kenntnis, dass dieser auch Verluste an Menschenleben, die Verwundung von Zivilpersonen, die Beschädigung ziviler Objekte oder weit reichende, langfristige und schwere Schäden an der natürlichen Umwelt verursachen wird, die eindeutig in keinem Verhältnis zu dem insgesamt erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen …“. 106 Für weitere Informationen siehe https://www.icty.org/. 107 ICTY Prosecutor v. Galic, Case No. IT-98 – 29-T, Judgment, § 58.
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viler Opfer hätte erwarten müssen.108 Die Vorgaben dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung beinhalten folglich viel mehr als eine reine Abwägung quantitativer Daten; vielmehr umfassen sie eine Mischung von empirischen Daten, Wahrscheinlichkeiten, vergangenen Beobachtungen und einer komplexen Zusammensetzung all dessen, um den potenziellen Kollateralschaden zu bestimmen.109 Diese Pluralität unterschiedlicher Faktoren verdeutlicht, dass die rechtmäßige Anwendung und Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eine der größten Herausforderungen innerhalb eines bewaffneten Konflikts ist – und nun auch für AWS.110 Sassóli hat in diesem Zusammenhang festgehalten, dass aber genau dies im Rahmen des humanitären Völkerrechts gegen die theoretische Möglichkeit einer rechtmäßigen Nutzung von gänzlich autonomen Waffensystemen spricht, da diese Systeme den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eben nicht anwenden können, solange sie nicht in Echtzeit mit den militärischen Operationen und Plänen aktualisiert werden.111 c) Vorsorgeprinzip Ein weiteres Grundprinzip innerhalb des humanitären Völkerrechts stellt das Vorsorgeprinzip dar. Gemäß Art. 57 (1) ZP I sind bei Handlungen in einem bewaffneten Konflikt die Zivilbevölkerung, Zivilpersonen und zivile Objekte zu verschonen. Dieses Prinzip ist fest mit dem Unterscheidungsprinzip und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip verbunden und umfasst zur Vermeidung ziviler Verluste die gesamte Vorbereitung und Planung eines bewaffneten Einsatzes.112 Es gilt auch während der bereits begonnenen Kampfhandlungen, so dass kontinuierlich entsprechende Nachbesserungen und Maßnahmen getroffen werden, um die Zivilbevölkerung und zivilen Ziele bei sich veränderter Sachlage weiterhin bestmöglich zu schützen. Daher muss ein/e Soldat*in trotz vorheriger sorgfältiger Planung „in the loop“ bleiben, um auf neue Situationen entsprechend des Vorsorgeprinzips reagieren zu können.113 Dabei ist fraglich, ob ein/e Soldat*in eine Intervention noch vornehmen kann, wenn ein AWS dabei ist, Regeln des humanitären Völkerrechts zu brechen. Somit kommt es nach Geiss nur dann zu einer echten Vorsorge im Sinne des Vorsorgeprinzips, wenn AWS ausschließlich dort eingesetzt werden, wo von vornherein ausgeschlos108 „… [i]n determining whether an attack was proportionate it is necessary to examine whether a reasonably well-informed person in the circumstances of the actual perpetrator, making reasonable use of the information available to him or her, could have expected excessive civilian casualties to result from the attack“, so ICTY Prosecutor v. Galic, Case No. IT98 – 29-T, Judgment, § 58. 109 Ford, South Carolina Law Review 69 (2017), 413. 110 Schmitt, Essays on Law and War at the Fault Lines, 2011, S. 189 ff.; Schmitt/Thurnher, Harvard National Security Journal 4 (2013), 231 (280); Sharkey, in: Lin/Abney/Bekey (Hrsg.), Robot Ethics: The Ethical and Social Implications of Robotics, 2012, S. 123 f. 111 Sassóli, International Law Studies 90 (2014), 308 (320). 112 Geiss, Waffensysteme (Fn. 102), S. 16. 113 Geiss, Waffensysteme (Fn. 102), S. 16.
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sen werden kann, dass AWS auf Zivilbevölkerung und zivile Ziele treffen können.114 Gleichwohl betont Geiss richtigerweise, dass diese Feststellung fernab der Rechtsund Kriegswirklichkeit liegt, da die heutigen neuen Kriegsformen eine solch klare Abgrenzung nicht mehr zulassen.115 d) Martens’sche Klausel Als letztes Grundprinzip muss in diesem Zusammenhang noch die Martens’sche Klausel genannt werden. Hierzu hält Art. 1 (2) ZP I fest: „in … Fällen, die von diesem Protokoll oder anderen internationalen Übereinkünften nicht erfasst sind, verbleiben Zivilpersonen und Kombattanten unter dem Schutz und der Herrschaft der Grundsätze des Völkerrechts, wie sie sich aus feststehenden Gebräuchen, aus den Grundsätzen der Menschlichkeit und aus den Forderungen des öffentlichen Gewissens ergeben.“ Folglich sollen bei der Überprüfung von Handlungen und Angriffen im Rahmen eines bewaffneten Konflikts, welche nicht von den Regeln des humanitären Völkerrechts erfasst sind, die Grundsätze der Menschlichkeit und des öffentlichen Gewissens angewandt werden. Die Anwendbarkeit dieser Regel kann sicherlich als Auffangnorm des humanitären Völkergewohnheitsrechts verstanden werden, jedoch verdient sie gerade hinsichtlich der schnell fortschreitenden Entwicklung neuer Waffentechnologien besondere Beachtung bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit von AWS im Rahmen bewaffneter Konflikte. Diese Auffangnorm zeigt die ursprüngliche, oben genannte Formel auf: Das humanitäre Völkerrecht im Allgemeinen und das darin fest verankerte Verhältnismäßigkeitsgebot sowie die damit verbundenen weiteren Grundprinzipien im Speziellen fokussieren auf den Schutz des Menschen und die Einhaltung eines möglichst humanen Umgangs in einer extremen Ausnahmesituation wie der des bewaffneten Konflikts. Diese dringend notwendige Einhaltung von Mindeststandards und die Nutzung dieser Mindeststandards zur Evaluierung von Gesetzen und Situationen sind feste Pfeiler und immer wiederkehrende Grundgedanken von Sieber in seinen Werken – der Mensch und dessen Schutz stehen immer im Fokus seines Handelns und seiner Werke. Nun stellt sich aber gerade im Rahmen der Nutzung von KI in Form der AWS innerhalb des Schutzbereichs des humanitären Völkerrechts die Frage, wie der Mensch bei „nicht-menschlichen“ Abwägungsprozessen durch „kill robots“ mit meist tödlichen Folgen geschützt werden kann.116
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Geiss, Waffensysteme (Fn. 102), S. 17. Geiss, Waffensysteme (Fn. 102), S. 17. 116 Siehe hierzu auch Anderson/Reisner/Waxman, International Law Studies 90 (2014), 386 (386 – 411). 115
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3. KI und Verhältnismäßigkeitsabwägungen Einerseits wird die Auffassung vertreten, dass AWS „emotionsloser“ unterscheiden und somit in militärischen Stresssituationen besser geeignet sind, verhältnismäßige Entscheidungen zu treffen. Die gesammelten und verarbeiteten Informationen dienen den AWS als Hypothesen, um die Zielerfassung im Rahmen der Registrierung von (Un-)Regelmäßigkeiten der äußeren und inneren Umwelt vorzunehmen. Die Prozessoren und Algorithmen der AWS haben keine Posttraumatische Belastungsstörung oder andere psychische Vorbelastungen und sind somit nicht stressanfällig; damit kann ihre Nutzung den Menschen als schwächstes Glied in militärischen Entscheidungsprozessen ausklammern und etwaige Kriegsverbrechen verhindern.117 Andererseits ist diese Betrachtungsweise des Entscheidungsfindungsprozesses sehr linear, da es sich bei bewaffneten Konflikten im 21. Jahrhundert um Auseinandersetzungen handelt, die von solch einer sich ständig ändernden Komplexität sind, dass eine komplett starre Erfassung kriegerischer Situationen (durch Sensoren) und eine damit verbundene unflexible Auslegung und Anwendung von vorher festgelegten Rechtsregeln (durch Prozessoren und Algorithmen) nicht möglich ist.118 Vielmehr bedarf es einer kontextuellen Intelligenz, die auch jenseits von vorab festgelegten Algorithmen funktioniert.119 Algorithmen können nicht auf zukünftige Daten trainiert werden, sondern die Berechnung wird immer darauf fokussieren, anhand vorher festgelegter Algorithmen die Fehlerwahrscheinlichkeiten zu minimieren bzw. die Treffer-Wahrscheinlichkeit zu maximieren.120 Die Herangehensweise sowie die Unterscheidungs- und Entscheidungsfindung von AWS sind folglich immer rein mathematischer Natur. Menschen hingegen verstehen die Umwelt in einer vielfältigen Art und Weise mit automatisierten Inferenzen, die umgangssprachlich als „Intuitionen“ beschrieben werden.121 Genaue diese Inferenzen entstehen eben nicht durch eine rein algorithmenbasierte Abgleichung und Auslegung von gesammelten Informationen, sondern durch die Interpretation von Informationen anhand einer exzentrischen Positionierung, welche es Menschen ermöglicht, die eigenen Handlungen aus der Sicht einer anderen Person wahrzunehmen.122 Diese Fähigkeit befähigt Menschen vorherzusehen oder zumindest zu erahnen, welche potenzielle (menschliche) Reaktion unsere Handlungen und unser Verhalten auslösen wird.123 Sie gilt für die Entscheidungsfindung im Rahmen bewaffneter Konflikte
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Geiss, Waffensysteme (Fn. 102), S. 17. Geiss, Waffensysteme (Fn. 102), S. 17. 119 In diesem Zusammenhang sehr weiterführend Noll, in: Liljefors/Noll/Steuer (Hrsg.), War and Algorithm, 2019, S. 78 ff. 120 Hildebrandt, German Law Journal 21 (2020), 74 (76 – 77). 121 Hildebrandt, German Law Journal 21 (2020), 74 (77). 122 Hildebrandt, German Law Journal 21 (2020), 74 (77). 123 Hildebrandt, German Law Journal 21 (2020), 74 (77). 118
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als wesentlich.124 Da moderne Konflikte durch eine hohe Komplexität, sich ständig ändernde Situationen und Unvorhergesehenes gekennzeichnet sind,125 erscheint es äußerst fraglich, ob AWS entsprechend reagieren können, wenn von der geplanten militärischen Vorgehensweise durch spontane Veränderungen abgewichen werden muss.126 Wie oben beschrieben leitet sich bereits der Name des Systems des humanitären Völkerrechts aus dem Grundgedanken der Humanität ab – Notstandssituationen wie eine kriegerische Auseinandersetzung sind so menschlich wie möglich auszugestalten. Der Einsatz von „nicht-menschlichen“ Maschinen, die nicht nur die militärische Maßnahme ausführen, sondern eben auch selbst die Entscheidung über die militärische Maßnahme treffen, rückt den Menschen und dessen Entscheidungsfähigkeit so weit in den Hintergrund, dass die ursprüngliche Idee des Schutzes des Menschen vor potenziellem menschlichen Fehlverhalten durch dieses Rechtssystem ad absurdum geführt wird.127 Auch hinsichtlich der Feststellung von (individueller strafrechtlicher) Verantwortlichkeit für potenzielles Fehlverhalten bedarf es in dieser neuen Konstellation möglicherweise einer vollkommen neuen Evaluierung. Der besondere Schutz von Menschen innerhalb des humanitären Völkerrechts wird durch den Einsatz von AWS eben nicht mehr im ursprünglich vorgesehenen Maße gewährleistet. AWS operieren innerhalb von bewaffneten Konflikten ohne menschliches Eigenrisiko, so dass ihre Handlungen bei potenziellen menschlichen Kollateralschäden gemäß dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch wesentlich höheren Standards unterliegen sollten.128 Ferner wird bei der potenziellen Anwendung von AWS in bewaffneten Konflikten immer wieder betont, dass es einer „bedeutenden“ bzw. „effektiven“ menschlichen Kontrolle bedarf oder ein „angemessener Grad an menschlicher Entscheidungskraft“ gegenüber Waffensystemen und der Gewaltanwendung gesichert sein muss.129 Demnach wäre das „A“ in AWS nicht als vollständig autonom zu ver124 In diesem Zusammenhang wird in dem Text von van den Boogard folgendes Zitat von Lieutenant-General Mart de Kruif zitiert: „A computer can do many things, but it does not have a soul. Our soldiers can beat any computer. They don’t need to be programmed, updated independently, function on only a combat ration, are equipped with a unique capability to adapt, and in addition to their knowledge, they use their intuition“, siehe van den Boogard, Proportionality and Autonomous Weapons Systems, Amsterdam Law School Legal Studies Research Paper No 2016 – 07), S. 1 – 2 (= Journal of International Humanitarian Legal Studies 2015, 247) (Hervorhebungen der Autoren des vorliegenden Beitrags). 125 Geiss, Waffensysteme (Fn. 102), S. 18. 126 Sharkey, International Review of the Red Cross 94 (2012), 787 (790); Scharre, Joint Force Quarterly 61 (2011), 89 (92). 127 In diesem Zusammenhang wird hervorgehoben, dass „menschliche Kontrolle“ im Rahmen des humanitären Völkerrechts vonnöten ist, siehe hierzu Davison, A legal perspective: Autonomous weapon systems under international humanitarian law, in: UNODA Occasional Papers, No. 30 (Perspectives on Lethal Autonomous Weapon Systems), 2017, S. 11 ff. (https://www.un.org/disarmament/wp-content/uploads/2017/11/op30.pdf). 128 Geiss, Waffensysteme (Fn. 102), S. 18. 129 Siehe Davison, Autonomous weapon systems (Fn. 127), S. 11 f. und Geiss, Waffensysteme (Fn. 102), S. 25 f. Genau mit diesem Hinweis schließt auch der in Fn. 96 genannte
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stehen, so dass das „Humane“ im humanitären Völkerrecht doch noch als wesentlich zu erachten ist.
IV. Ausblick Die oben genannten Fragen, aber auch die Fragen nach der (strafrechtlichen) Verantwortlichkeit von Individuen und Staaten sind Aspekte, die die Autoren in Teilprojekten weiter untersuchen werden. Diese Komplexität und die damit verbundenen Implikationen erfordern ein gesamtheitliches Verständnis von den technischen Grundlagen der neuen Technologien, der ethischen und moralischen Tragweite dieser Entwicklung und den rechtlichen Voraussetzungen. Genau hier setzt das in der Einführung erwähnte Forschungsprojekt der Autoren dieses Beitrags an: Es werden die unterschiedlichen Systeme (Recht, IT, Wirtschaft, Politik) in ihrer operativen und selbstreferentiellen Geschlossenheit analysiert und ihre strukturellen Kopplungen beobachtet. Jedes der Systeme folgt seiner eigenen (Unterscheidungs-)Logik, einer eigenen binären Codierung und somit einer eigenen Sprache. Ziel des Projekts ist es, genau diese Codierung bzw. Sprache untereinander verständlich zu machen, so dass im Wege der Innen-Außen-Differenz/System-Umwelt-Differenz die neu gewonnenen Informationen in der eigenen Sprache/im eigenen Code in das jeweilige System eingespeist werden können. Diese „re-entry“ soll im Rahmen einer interdisziplinären Gesamtanalyse der unterschiedlichen Systeme geschaffen werden. Wir freuen uns sehr darüber, dass der Gefeierte bereits signalisiert hat, bei unserem Forschungsprojekt auch weiterhin aktiv mitzuwirken.
Brief: „… Einen militärischen Wettlauf um KI-Waffen zu beginnen ist eine schlechte Idee und sollte durch ein Verbot autonomer Angriffswaffen, die nicht von Menschen gesteuert werden, unterbunden werden.“
Digitalisierung als Herausforderung und Zukunftsaufgabe für das materielle Strafrecht Von Dominik Brodowski Mit dem Wirken von Ulrich Sieber ist kaum ein Teilgebiet des Strafrechts so eng verbunden wie das Computerstrafrecht, der Wandel hin zur Informationsgesellschaft und, in neuerer Terminologie, die Digitalisierung. Diesen strafrechtlichen, strafprozessualen und informationsrechtlichen Problemstellungen hat er nicht erst seit seiner grundlegenden Dissertationsschrift1 konsequent viel Aufmerksamkeit geschenkt. Seine klaren, ausgewogenen und auf einem hohen Technik- wie Rechtsverständnis fußenden Analysen beeinflussten und beeinflussen die Rechtsentwicklung in Deutschland, Europa und etlichen weiteren Rechtssystemen der Welt2 gleichermaßen maßgeblich wie ganze Generationen von Wissenschaftlern.3 Als ich Ulrich Sieber zum Anlass der Vorbereitung des 69. Deutschen Juristentag 2012, für den er das Gutachten C zu „Straftaten und Strafverfolgung im Internet“ verfasste,4 persönlich kennenlernen durfte, prägte dies – und prägte er – meinen weiteren Werdegang entscheidend.5 Seitdem verbindet uns ein enger wissenschaftlicher Austausch, insbesondere zu Fragen des Computerstrafrechts.6 In herzlicher Verbundenheit widme ich dem Jubilar den nachfolgenden Beitrag, in dem ich der Frage nachgehe, in welcher Weise sich die vielbesungene Transformation der Digitalisierung im Bereich des materiellen Strafrechts zeigt, und in dem ich hierzu die zentralen materiell-strafrechtlichen Herausforderungen der Digitalisierung für das Strafrecht zusammenführe.7 1
Sieber, Computerkriminalität und Strafrecht, 1980 (2. Aufl. 1997). In spanischsprachigen Ländern soll der Jubilar bereits mit seinem Namen – dank phonetischer Überschneidungen – für die strafrechtliche Verfolgung von Cyber-Kriminalität stehen. 3 Daher bezeichnet Schjolberg, The History of Cybercrime: 1976 – 2014, 2014, S. 3 den Jubilar zurecht als „Pionier“ und hebt hervor, dass Ulrich Sieber „the first academician expert on computer crime outside [the] USA“ war. 4 Sieber, Straftaten und Strafverfolgung im Internet – Gutachten C zum 69. Deutschen Juristentag, 2012. 5 An dieser Stelle sei dem Jubilar sowie den damaligen Vorsitzenden Gunter Widmaier und Helmut Satzger dafür gedankt, dass sie mir eine über die bloße Schriftführung aktive Mitwirkung an dieser Veranstaltung ermöglicht haben. 6 Pars pro toto sei auf das gemeinsam verfasste Kapitel „Strafprozessrecht“ in: Hoeren/ Sieber/Holznagel (Hrsg.), Handbuch Multimedia-Recht, 2018, verwiesen. 7 Ich greife nachfolgend in erheblichem Umfang und in teils wörtlicher Übernahme (vgl. VVdStRL 72 [2012], 701, 707 Nr. 48) auf mein Vortragsmanuskript „Digitalisierung – Herausforderungen für das Strafrecht“ für die „RichterInnenwoche 2019“ zurück, welches in 2
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I. Schutzbedürftigkeit der Informationstechnik Es ist heutzutage eine ebenso banale wie basale Aussage, dass mit der Digitalisierung die moderne Gesellschaft von der Informationstechnik abhängig geworden ist. Störungen und vor allem Angriffe auf diese Informationstechnik und die darin gespeicherten Daten können nicht nur Schäden im Wirtschaftsleben zur Folge haben, sondern sich auch unmittelbar auf Leib und Leben auswirken. 1. Schutz der Vertraulichkeit, Integrität und Verfügbarkeit von informationstechnischen Systemen und der darin gespeicherten Daten Das materielle Strafrecht wurde 1986, maßgeblich beeinflusst durch den Jubilar,8 zum Schutz der Vertraulichkeit, Integrität und Verfügbarkeit von informationstechnischen Systemen und der darin gespeicherten Daten dahingehend ergänzt, dass die Informationstechnik als solche zu einem Schutzobjekt wurde.9 Diese drei informationstechnischen Schutzziele – oftmals mit der englischen Abkürzung CIA für Confidentiality, Integrity and Availability bezeichnet10 – stehen im Herzen des Übereinkommens über Computerkriminalität des Europarats, der sogenannten CybercrimeConvention oder Budapest-Konvention aus dem Jahre 2001.11 Fast wortgleiche Verpflichtungen fanden sich zudem in einem EU-Rahmenbeschluss über Angriffe auf Informationssysteme aus 200512 und finden sich nunmehr in der (diesen Rahmenbeschluss ersetzenden) Richtlinie über Angriffe auf Informationssysteme aus 2013.13 Diese europarechtlichen Pönalisierungsverpflichtungen und deren nationale Umsetzung haben als Gemeinsamkeit einen ausgesprochen formalen Schutz der Informationstechnik. Paradigmatisch hierfür ist, dass Computersysteme und Computerdaten als solche vom Wortlaut der Vorschriften erfasst werden. Es erfolgt keine Differenzierung, ob es sich bei den Daten um belanglose Kopien allgemein verfügbarer Katzenvideos handelt oder aber um wertvolle unveröffentlichte Vortragsmanuskripte. Auch soll – so eine umstrittene Entscheidung des OLG Nürnberg – der Mitarbeiter Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), Digital Justice – Die Zukunft ist da, Wien: Neuer Wissenschaftlicher Verlag, 2020 veröffentlicht wurde. 8 Nachgewiesen etwa durch MüKoStGB-Graf, Bd. IV, 2017, § 202a Rn. 5. 9 2. WiKG v. 15. 5. 1986, BGBl. 1986 I, 721. 10 Statt vieler Sieber, in: Delmas-Marty/Pieth/Sieber (Hrsg.), Les chemins de l’harmonisation pénale, 2008, S. 127 (129). 11 SEV Nr. 185. Zum Regelungsinhalt siehe zusammenfassend Brodowski, in: Hauck/Peterke (Hrsg.), International Law and Organised Crime, 2016, S. 334 (341 ff.). 12 Rahmenbeschluss 2005/222/JI […] über Angriffe auf Informationssysteme, AblEU 2005 L 69, 67. 13 Richtlinie 2013/40/EU […] über Angriffe auf Informationssysteme, AblEU 2013 L 218, 8; siehe hierzu Haase, Computerkriminalität im Europäischen Strafrecht, 2017, S. 146 ff. sowie Sieber, in: Sieber/Satzger/von Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, 2014, S. 435 ff.
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als derjenige, der die Daten auf seinem Arbeitslaptop eingetippt hat, diese Daten straflos wieder löschen dürfen, weil er und nicht der Arbeitgeber über diese Daten formell verfügungsbefugt ist.14 Der Vorteil dieses formalen Schutzkonzepts liegt aber auf der Hand, wenn man die Strafnormen innerhalb der Wortlautgrenze einer funktional-wertenden Interpretation unterzieht, also die spezifischen Gefährdungen und – spiegelbildlich – das „Nutzungsinteresse des legitimen Nutzers“ in den Mittelpunkt rückt. Denn das Strafrecht schützt die Informationstechnik nicht um ihrer selbst willen, sondern um des Menschen willen.15 Mit einem solchen Ansatz lässt sich der strafrechtliche Schutz dann zwar einerseits fokussieren auf Daten, an denen tatsächlich ein Vertraulichkeits- oder Integritätsinteresse besteht und belanglose Daten und Veränderungen vom Schutz ausnehmen. Andererseits aber lassen sich, wegen der formalen Anknüpfung an Daten und damit einer Entwicklungsoffenheit und Weite der Tatbestände, alle relevanten und auch neueren Angriffsformen auf Informationstechnik strafrechtlich erfassen, einschließlich Ransomware,16 Denial of Service-Angriffen17 und Seitenkanalangriffen.18 2. Strafschärfungen und Zuspitzungen des formalen Schutzkonzepts (Datenhehlerei; Digitaler Hausfriedensbruch) Die Stärken dieser formalen Anknüpfung an Daten – Wertungsoffenheit und Weite – werden aber zugleich oft als Schwäche angesehen, denn sie begrenzen die Möglichkeiten, das ganze Spektrum des materiellen Unrechtsgehalts abzubilden. Zwar sind die präventiven Wirkungen einer höheren Strafandrohung, wenn es sie denn überhaupt gibt, sehr begrenzt.19 Aber mit dem Strafrahmen oder dem typisierten 14
OLG Nürnberg StV 2014, 296. Brodowski, ZIS 2019, 49 (53 ff.). 16 Siehe nur Vogelgesang/Möllers, jM 2016, 381. 17 Siehe nur BGH NJW 2017, 838. 18 Aus informationstechnischer und kryptologischer Sicht hierzu exemplarisch Kocher, in: Koblitz (Hrsg.), Advances in Cryptology – CRYPTO ‘96, S. 104 (insb. S. 112 f.); Beutelsbacher, Kryptologie, 2015, S. 152 ff.; Eckert, IT-Sicherheit, Konzepte – Verfahren – Protokolle, 2018, S. 83 ff.; aus strafrechtlicher Sicht Brodowski, ZIS 2019, 49 (49 ff.). 19 Siehe nur Bernasco/Van Gelder/Elffers (Hrsg.), The Oxford Handbook of Offender Decision Making, 2017; Lüderssen, in: Hassemer/Lüderssen/Naucke (Hrsg.), Hauptprobleme der Generalprävention, 1979, S. 54 (70 f.). Im Bereich der hauptsächlich ökonomisch motivierten Cyberkriminalität i.e.S. (Kshetri, The Global Cybercrime Industry, 2010; Wall in: Bellini/ Brunst/Jähnke (Hrsg.), Current issues in IT security, 2010, S. 51 ff.) dürften es nicht selten Fehleinschätzungen über die Höhe der Sanktionswahrscheinlichkeit (Pauwels/Weerman/ Bruinsma/Bernasco, Perceived Sanction Risk, Individual Propensity and Adolescent Offending: Assessing Key Findings from the Deterrence Literature in a Dutch Sample, European Journal of Criminology 8 [2011], 386) und deren temporale Marginalisierung (Mamayek/ Paternoster/Loughran, in: Bernasco/Van Gelder/Elffers (Hrsg.), The Oxford Handbook of Offender Decision Making, 2017, S. 209 ff.; Nagin/Pogarsky, Time and Punishment: Delayed 15
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Unrechtsgehalt einer Strafvorschrift korrelieren auch die Möglichkeiten des Einsatzes solcher prozessualer Ermittlungsmöglichkeiten – wie etwa einer Telekommunikationsüberwachung oder auch einer sogenannten Online-Durchsuchung –, die nur bei schwerer oder besonders schwerer Kriminalität zur Verfügung stehen. Dies ist der Hintergrund, warum – auch auf europastrafrechtlicher Grundlage20 – vermehrt Strafschärfungen erwogen werden für informationstechnische Angriffe auf kritische Infrastrukturen, für Angriffe auf IT-Systeme von Unternehmen, oder auch für Angriffe, die zu einem gravierenden Vermögensschaden führen.21 Zudem sind Bestrebungen zu verzeichnen, das formale Schutzkonzept weiter zuzuspitzen, um vermeintliche Lücken des strafrechtlichen Schutzes zu schließen: Die 2017 eingeführte, praktisch bislang irrelevante Strafvorschrift der Datenhehlerei (§ 202d Abs. 1 StGB) stellt das Handeltreiben mit ausgespähten Daten unter Strafe, gleich ob es sich bei den „gestohlenen Daten“ um Katzenbilder oder um Kreditkartendaten handelt.22 Noch weitergehend sind wiederkehrende Versuche, eine Strafvorschrift des „digitalen Hausfriedensbruchs“ einzuführen, die jede unbefugte Beeinflussung und jeden unbefugten Gebrauch eines jeden informationstechnischen Systems erfassen soll, solange diese „geeignet ist, berechtigte Interessen eines anderen zu beeinträchtigen.“23 Wehe dem, der ungefragt den digitalen Temperaturregler einer Heizung nur um ein Viertel Grad verändert und damit berechtigte Klimaschutz- und Energiekosteninteressen eines anderen beeinträchtigt (§ 202d Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3 Nr. 2 StGB-E)! Zielführender wäre es, spezifisch den Missbrauch fremder informationstechnischer Systeme unter Strafe zu stellen, also die Verwendung eines täterfremden Systems zur Begehung einer anderen Straftat24 – so wie es etwa für Botnetz-Kriminalität typisch ist. 3. Gewährleistung von IT-Sicherheit Zudem ist mehr Aufmerksamkeit auf das Grundproblem zu richten, konkret auf die Abhängigkeit unserer digitalisierten Gesellschaft von der modernen Informationstechnik und damit von einer Informationstechnik, die in hohem Grade angreifbar
Consequences and Criminal Behavior. Journal of Quantitative Criminology 20 [2004], 295 ff.) sein, die zur Ineffektivität der Abschreckungswirkung des IT-Strafrechts beitragen. 20 Art. 9 Abs. 4 RL 2013/40/EU (Fn. 13). 21 Exemplarisch hierfür BR-Drs. 168/19. 22 Zum Hintergrund und zur Auslegung dieser Strafvorschrift siehe Brodowski/Marnau, NStZ 2017, 377; Golla/von zur Mühlen, JZ 2014, 668; Singelnstein, ZIS 2016, 432; Stam, StV 2017, 488; Stuckenberg, ZIS 2016, 526. 23 Exemplarisch BT-Drs 19/1716. Kritisch hierzu insb. Buermeyer/Golla, K&R 2017, 14; Mavany, ZRP 2016, 221. 24 Ähnlich auch Buermeyer, LTO v. 06. 10. 2016, https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/ entwurf-straftatbestand-digitaler-hausfriedensbruch-botnetze-internet/2/ (29. 11. 2019).
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oder „unsicher“ ist.25 Zugespitzt ließe sich sagen: die digitale Gesellschaft lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht gewährleisten will. Denn noch immer wird in der Diskussion über die Digitalisierung, aber vor allem in der Entwicklung informationstechnischer Hard- und Software zu stark auf Funktionalitäten und zu wenig auf die Gewährleistung von IT-Sicherheit geachtet, mithin auf eine solide Risikoabschätzung und -abwägung verzichtet. Eine entsprechende Inpflichtnahme zur Gewährleistung von IT-Sicherheit ist zwar nicht allein – und wohl auch nicht primär – strafrechtlich zu diskutieren.26 Doch Ansätze zur Regulierung der IT-Sicherheit auch durch das Bußgeld- und Strafrecht sind bereits zu verzeichnen,27 vor allem im Datenschutzrecht: Nach Art. 5 Abs. 1 lit. f, Art. 32, Art. 83 DS-GVO28 werden Datenverarbeiter, die ihre Systeme unzureichend gegen Angriffe von Dritten schützen, mit einer Verwaltungssanktion belegt.29 Im (Kern-)Strafrecht wäre hieran anknüpfend zu diskutieren, ob jedermann, der auf seinem Computer nicht regelmäßig Updates einspielt, sich wegen fahrlässiger Tötung strafbar macht, wenn ein Dritter dies ausnutzt, um über diesen Computer einen tödlichen Angriff auf eine kritische Infrastruktur auszuüben; gleiches ließe sich diskutieren, wenn jemand die Software seines „selbstfahrenden Autos“ nicht aktualisiert, ein Dritter dies ausnutzt, sprich dieses Auto „hackt“ und dieses zielgerichtet in eine Menschenmenge steuert. In diesem Spannungsfeld zwischen Herausbildung von Sorgfaltspflichten, Vertrauensgrundsatz und Regressverbot30 sollte aber zur Abgrenzung der Verantwortungsbereiche ein strafbegründender Risikozusammenhang nur dann bejaht werden, wenn jemand zur Gefahrabwendung rechtlich verpflichtet, also Garant ist (so jedenfalls der Hersteller eines potentiell gefährlichen Produkts), oder aber wenn konkrete und ernstzunehmende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass ein Dritter die konkrete Sorgfaltspflichtverletzung zur Begehung einer Straftat ausnutzt. Andernfalls darf jedermann auf die Einhaltung der Rechtsordnung durch Dritte vertrauen und, abseits von Sonderpflichten, auch „unsichere“ IT verwenden.31
25 Brodowski/Freiling, Cyberkriminalität, Computerstrafrecht und die digitale Schattenwirtschaft, 2011, S. 24 ff. 26 Exemplarisch zum Zivilrecht Wiebe, NJW 2019, 625. 27 Zusammenfassend hierzu Brodowski, in: Borges/Sorge (Hrsg.), Law and technology in a global digital society, 2020 m.w.N. 28 Verordnung (EU) 2016/679 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten […], AblEU 2016 L 119, 1. 29 Entsprechende Geldbußen wurden bereits u. a. in Deutschland, Italien, Malta, Norwegen und Portugal verhängt, vgl. http://enforcementtracker.com/ (29. 11. 2019). 30 Umfassend zu diesem Ansatz: Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, S. 230 ff. Den Stand der deutschen Diskussion zu Regressverbot und Vertrauensgrundsatz fasst LK-Vogel/Bülte, Bd. I, 2020, § 15 Rn. 224 ff. zusammen. 31 Zu diesen Fragen siehe allgemein Brodowski, in: Kipker (Hrsg.), Cybersecurity. Rechtshandbuch, 2020, Rn. 82 ff.; ergänzend Gortan, CR 2018, 546; Mansdörfer, in: Barton u. a. (Hrsg.), Fischer-FS, 2018, S. 160 f.; Bruckmüller/Schumann, in: Eisenberger/Lachmayer/ Eisenberger (Hrsg.), Autonomes Fahren und Recht, 2017, S. 123 (131 ff., 143 f.).
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II. Automatisierung von Entscheidungen Eine zweite Entwicklungslinie der Digitalisierung ist, dass zunehmend „Maschinen“ anstelle von Menschen Informationen bewerten und auf dieser Grundlage Entscheidungen treffen.32 1. Betrug und Computerbetrug Im Strafrecht hat man auf nationaler wie auf europäischer Ebene33 vergleichsweise früh auf diese Automatisierung vermögensrelevanter Entscheidungen durch bzw. für den Verletzten reagiert: So ist der Straftatbestand des Computerbetrugs (§ 263a StGB) spezifisch dadurch zu erklären, eine rechtlich äquivalente Handhabung einer „digitalen“ Situation im Vergleich zu einer „analogen“ Situation ermöglichen zu wollen. Hier steht daher bislang eine „betrugsäquivalente“ Prüfung im Vordergrund, die darauf abstellt, ob das gegenüber einem „Computer“ gezeitigte Verhalten, bei hypothetischer Betrachtung, eine menschliche Person getäuscht hätte.34 2. Algorithmen und „Künstliche Intelligenz“ Dieses Denkmodell in Analogien zwischen „analogen“ und „digitalen“ Situationen hilft jedenfalls dann weiter, wenn ein klar strukturiertes Programm – ein Algorithmus – eine Entscheidung eines Menschen nachzubilden versucht, wie bei einem Geldautomaten (statt der Kassiererin einer Bank), aber auch bei einem Internetversandhändler, der Bestellungen vollautomatisiert ausführt. Seine Zukunftstauglichkeit ist allerdings noch nicht bewiesen in Bezug auf neuere informationstechnische Ansätze, die statt klar strukturierter Programmvorgaben auf verteilte, dynamische und selbstlernende Elemente (machine learning) und bewusste Unschärfen setzen und damit „künstliche Intelligenz“ zu erzeugen suchen. Beispielhaft sei verwiesen auf die Algorithmen sozialer Netzwerke, die über die Hervorhebung von Beiträgen von Nutzern entscheiden35 und damit von hoher Relevanz für Meinungsbildungsprozesse im politischen Diskurs sind. Noch relevanter für das Strafrecht ist der Einsatz verteilter, dynamischer, selbstlernender Elemente und „künstlicher Intelligenz“ allerdings dort, wo infolge von vermeintlich autonomer Entscheidungen informationstechnischer Systeme gravierende Auswirkungen auf Individualschutzgüter zu befürchten sind. Paradigmatisch hierfür ist die Diskussion über das autonome Fahren 32 Siehe nur Sieber, in: Delmas-Marty/Pieth/Sieber (Hrsg.), Les chemins de l’harmonisation pénale, 2008, S. 127 (129). 33 Art. 8 Cybercrime-Konvention des Europarats (Fn. 11); Art. 3 […] Rahmenbeschluss zur Bekämpfung von Betrug und Fälschung im Zusammenhang mit unbaren Zahlungsmitteln, AblEG 2001 L 149, 1; Art. 6 Richtlinie (EU) 2019/713 […] zur Bekämpfung von Betrug und Fälschung im Zusammenhang mit unbaren Zahlungsmitteln …, AblEU 2019 L 123, 18. 34 Siehe nur BGHSt 47, 160. 35 Siehe hierzu nur Lischka, ITRB 2018, 235.
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geworden, wobei sich diese Diskussion zumeist auf die Auflösung von Dilemma-Situationen konkretisiert hat:36 Wie soll ein autonomes Fahrzeug entscheiden, wenn es nur noch die Wahl hat, entweder eine junge Familie zu überfahren oder mit einem Ausweichmanöver in letzter Sekunde einen alten, ohnehin todkranken Mann zu töten? So relevant und wichtig es ist, diese Diskussion über Dilemmata jetzt und rechtsgrundsätzlich zu führen, so sehr zeigt sie auch eine Technikgläubigkeit: Sie zeugt von einem quasi blinden Vertrauen in die Technik, dass diese die Situation blitzschnell und umfassend erfassen kann – inklusive des Alters und vielleicht sogar des Gesundheitszustands aller Personen im Gefahrenbereich –, und dass die Technik selbst in der Dilemma-Extremsituation perfekt funktioniert und die vorgegebene (ethisch nur vermeintlich einwandfreie) utilitaristische Lösung herbeiführt. 3. Diffusion von Verantwortung und Zurechnung Stärker akzentuiert werden sollte hingegen die grundsätzliche Frage der Verantwortungszuschreibung in Situationen der Ungewissheit und des Zusammenwirkens vieler Akteure bzw. Menschen. Damit verbunden ist zunächst die Frage, welche strafrechtlichen Sorgfaltspflichten beispielhaft heute für die vielen tausend Programmierer gelten, die tagtäglich an der Weiterentwicklung von Softwarekomponenten arbeiten, deren Nutzungszwecke sich oftmals nicht voraussehen lässt. Damit verbunden ist auch die Frage, inwieweit man angesichts der Angreifbarkeit und Fehleranfälligkeit von IT-Systemen auf das rechtmäßige Verhalten anderer Menschen und auf den korrekten Ablauf informationstechnischer Vorgänge vertrauen darf.37 Grundsätzlich stellt sich ferner die Frage, welche Risiken wir als Gesellschaft bereit sind, einzugehen – etwa welche Fehlerquoten wir im Hinblick auf Unfälle selbstfahrender Autos akzeptieren wollen:38 eine Fehlerquote wie ein Durchschnittsfahrer, wie ein idealer Autofahrer, oder aber Super-human-Fähigkeiten? Diskussionen über die Strafbarkeit(en) der Nutzer, Betreiber, Hersteller und Programmierer 36 Exemplarisch hierzu Wörner, ZIS 2019, 41; Bruckmüller/Schumann, in: Eisenberger/ Lachmayer/Eisenberger (Hrsg.), Autonomes Fahren und Recht, 2017, S. 123; Beck, in: Oppermann/Stender-Vorwachs (Hrsg.), Autonomes Fahren – Rechtsfolgen, Rechtsprobleme, technische Grundlagen, 2017, S. 33; Engländer, ZIS 2016, 608; Gless/Janal, JR 2016, 561; Hilgendorf in: Hilgendorf/Feldle (Hrsg.), Digitization and the Law, 2018, S. 57; Hörnle/ Wohlers, GA 2018, 12; Lutz, NJW 2015, 119; Weigend, ZIS 2017, 599; Zurkinden, recht 2016, 144 sowie Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (Hrsg.), Ethik-Kommission „Automatisiertes und vernetztes Fahren“, Bericht Juni 2017, https://www.bmvi.de/Shared Docs/DE/Publikationen/DG/bericht-der-ethik-kommission.html (29. 11. 2019). Siehe ferner Gless/Weigend, ZStW 126 (2014), 561; Hallevy, Liability for Crimes Involving Artificial Intelligence Systems, 2015. 37 In diese Richtung bereits oben I.3. bei und mit Fn. 30 f. 38 Zum erlaubten Risiko im Kontext des autonomen Fahrens siehe Zurkinden, recht 2016, 148 ff.; Zurkinden, AI and driverless cars: from international law to test runs in Switzerland to criminal liability risks, in: Jacquemin/de Streel (Hrsg.), L’Intelligence Artificielle et le Droit, Brüssel 2017, 350 ff.; Bruckmüller/Schumann, in: Eisenberger/Lachmayer/Eisenberger (Hrsg.), Autonomes Fahren und Recht, 2017, S. 123 (138 ff.).
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eines selbstfahrenden Autos, sollte ein solches Auto einen Unfall verursachen, erscheinen zumindest teilweise ein Ausweis des Wunsches zu sein, auch in Situationen einer Verantwortungszersplitterung bzw. -diffusion doch auf den „einen“ Schuldigen zeigen zu können, der strafrechtlich zu Rechenschaft zu ziehen ist – obschon zunächst, auch im Rahmen einer Risikoabwägung, digitale Sorgfaltspflichten erst herauszuarbeiten wären, und erst deren Verletzung strafrechtlich zu adressieren ist.
III. Daten- und Geheimnisschutz Mit der Digitalisierung unserer Gesellschaft geht einher, dass wir unzählige Spuren in der digitalen Welt hinterlassen.39 Die Speicherung, Verknüpfung, Nutzung und Veröffentlichung personenbezogener Daten wird jedenfalls dann zu einer Herausforderung für das Strafrecht, wenn sie unsere Privatsphäre verletzt, aber auch, wenn diese unsere – zumindest aus einer normativen Perspektive: einigermaßen freie und nicht manipulierte – Selbstbestimmung gefährdet.40 1. (Höchst-)Persönlicher Lebensbereich; Post- und Fernmeldegeheimnis; Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse Bereits seit längerem zum acquis des materiellen Strafrechts gehören Bestimmungen zum Schutz des Post- und Fernmeldegeheimnis und der räumlichen Privatund Intimsphäre (§§ 201 ff.) sowie dem Schutz von Geschäftsgeheimnissen (§ 23 GeschGehG).41 All diese sind durch technische Mittel jedenfalls quantitativ, teils auch qualitativ gesteigerten Bedrohungen ausgesetzt, und vor allem der Gefahr der Perpetuierung von Verletzungen – etwa der Verbreitung über soziale Medien. Dies ist Hintergrund für die auch in diesem Kontext zu verzeichnende Expansion des materiellen Strafrechts. Flankiert wird der strafrechtliche Schutz durch den for39 Zur digitalen Forensik und zum Nutzen dieser Spuren als Beweismittel siehe nur Casey, Digital Evidence and Computer Crime, 3., 2011; Heinson, IT-Forensik, 2015; Dewald/Freiling, Forensische Informatik, 2015; Jahn/Brodowski in: Hecker/Weißer/Brand (Hrsg.), Rengier-FS, 2018, S. 409 ff.; Momsen in: Fahl u. a. (Hrsg.), Beulke-FS, 2015, S: 871 ff. sowie Brodowski in: Buschmann u. a. (Hrsg.), Digitalisierung der gerichtlichen Verfahren und das Prozessrecht, 2018, S. 83. 40 Zum verfassungsrechtlichen Hintergrund siehe nur BVerfGE 65, 1 (Volkszählung) sowie zuletzt BVerfG, Beschl. v. 6. 11. 2019 – 1 BvR 16/13, Rn. 79 ff. (Recht auf Vergessen I); ergänzend Schwabenbauer, Heimliche Grundrechtseingriffe, 2013, S. 90 ff., S. 140 ff., S. 165 ff.; Golla, Die Straf- und Bußgeldtatbestände der Datenschutzgesetze, 2015, S. 86 ff.; zur europäischen Perspektive grundlegend EuGH, Urt. v. 08.04.02014 – C-293/12 und C-594/ 12 (Digital Rights Ireland und Seitlinger u. a.), Rn. 27 f. 41 Zur europäischen Perspektive siehe Richtlinie (EU) 2016/943 […] über den Schutz vertraulichen Know-hows und vertraulicher Geschäftsinformationen (Geschäftsgeheimnisse) vor rechtswidrigem Erwerb sowie rechtswidriger Nutzung und Offenlegung, AblEU 2016 L 157, 1.
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malen Schutz der Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme und der in solchen Systemen gespeicherten (persönlichen) Daten.42 2. Schutz personenbezogener Daten Für einen allgemeinen Schutz personenbezogener Daten brachte die DS-GVO zwar keine Revolution, aber doch tiefgreifende Veränderungen mit sich. Die teils wenig bestimmten Anforderungen an die Erhebung, Speicherung, Verknüpfung, Verbreitung, Weitergabe und Nutzung personenbezogener Daten werden dabei – so die Intention des europäischen Gesetzgebers – durch ein einschneidendes Regime europäischer Verwaltungssanktionen43 abgesichert, mit Geldbußen von bis zu 4 % des gesamten weltweiten Jahresumsatzes von Unternehmen (Art. 83 Abs. 5, Abs. 6 DSGVO). Bislang konzentriert sich die Sanktionierungspraxis der Datenschutz-Aufsichtsbehörden auf evidente Verstöße gegen die DS-GVO, was maßgeblich auf einigen regulatorischen Unsicherheiten beruhen dürfte, wie sie etwa zum Kreis der Verantwortlichen,44 zu Zurechnungsmaßstäben sowie zu den konkreten Handlungsmaßstäben, Sorgfaltspflichten und Anforderungen an die IT-Sicherheit45 bestehen. Kriminalstrafrechtlich wird ein Datenschutzverstoß in Deutschland durch § 42 BDSG dann erfasst, wenn der Täter nicht allgemein zugängliche Daten in Bereicherungs- oder Schädigungsabsicht verarbeitet.46 Doch neben dogmatischen Einzelfragen und einem Vollzugsdefizit in der Praxis ist in diesem Kontext das Grundproblem noch nicht gelöst, ob und inwieweit die „Allzweckwaffe“ des Datenschutzes hinreichend passgenau ist, um die besonders schwerwiegenden und strafwürdigen Erscheinungsformen von Datenschutzverletzungen auch kriminalstrafrechtlich zu adressieren. 3. Abgrenzung der Verantwortungsbereiche Über den Grundkonflikt zwischen Datensparsamkeit einerseits, datenbezogenen wirtschaftlichen Interessen andererseits ist erneut auf die Verteilung und Ausdifferenzierung von Verantwortlichkeiten hinzuweisen:47 In welchem Maß trifft einen 42
Siehe oben I.1. Allgemein zu Verwaltungssanktionen und weiteren quasi- und parastrafrechtlichen Mechanismen der modernen Regulierung Sieber (Hrsg.), Prevention, Investigation, and Sanctioning of Economic Crime, Antwerpen 2019, 2 Bde. = RIDP 90 (2019) I + II. 44 Exemplarisch hierzu Bülte, StV 2017, 460 (467 f.); BeckOK-DSR-Brodowski/Nowak, 30. Ed. 2019, § 41 BDSG Rn. 14 m.w.N. 45 Exemplarisch hierzu und zu den Auswirkungen auf die Bestimmtheit (Art. 49 Abs. 1 Satz 1 EU-Grundrechtecharta) siehe Bülte, StV 2017, 460 (464 ff.); Schneider in: Saliger u. a. (Hrsg.), Neumann-FS, 2017, S. 1425 (1425 ff.). 46 Zu § 42 Abs. 2 Nr. 1 BDSG als Grundtatbestand siehe BeckOK-DSR-Brodowski/Nowak, 30. Ed. 2019, § 42 BDSG Rn. 4. 47 Siehe bereits oben I.3. 43
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viel zu leichtsinnigen Nutzer eine Mitverantwortung, in welchem Maß trifft einen Diensteanbieter, der personenbezogene Daten unzureichend schützt, eine Mitverantwortung, und in welchem Maß ist der vorsätzlich handelnde Angreifer zur Rechenschaft zu ziehen, der diese personenbezogenen Daten ausspäht und missbraucht? Die Antwort der DS-GVO ist es, sowohl den Angreifer als auch den Diensteanbieter als Datenverarbeiter sanktionenrechtlich in die Pflicht zu nehmen.48 Das erscheint – jedenfalls im (groß-)unternehmerischen Kontext – zwar nicht von vornherein als unbillig, doch sollte dies letztlich nicht außer Verhältnis zum Grad des jeweiligen individuellen Verschuldens stehen.
IV. Verbreitung des Tatmittels IT Weitere Ausprägung der Digitalisierung ist die verbreitete Verfügbarkeit von Informationstechnik, die sich gleichermaßen als nützliches Werkzeug einsetzen lässt wie als Tatmittel.49 Das ist zwar bei einem Küchenmesser nicht anders, das sich nicht nur zur Zubereitung kulinarischer Köstlichkeiten, sondern auch zu einer Körperverletzung oder zu einem Mord einsetzen lässt. Doch gibt es gewichtige Besonderheiten, welche die verbreitete Verfügbarkeit des Tatmittels IT zu einer besonderen Herausforderung für das Strafrecht werden lassen: Zunächst bedeutet die Automatisierbarkeit und Skalierbarkeit von Informationstechnik,50 dass der Aufwand für jeden zusätzlichen Empfänger einer Hassbotschaft und auch für jede zusätzliche betrügerische Mail marginal ist. Das verändert Anreizstrukturen für die Begehung von Straftaten, so dass sich auch minimale Betrugsschäden pro Verletzten in Summe für den Täter lohnen können.51 Sodann geht mit dem Tatmittel IT eine räumliche52 und teils auch zeitliche Entgrenzung einher, womit eine Absenkung der Hemmschwelle zur Begehung von Straftaten verbunden ist. Schließlich führt die verbreitete Flüchtigkeit von Daten leicht zum Trugschluss, im Internet bewege man sich hinreichend anonym,53 was die Hemmschwelle weiter sinken lässt,54 weil das eigene Verhalten für sanktionslos gehalten wird. 48
Siehe oben bei und mit Fn. 28 f. Siehe, statt vieler, Kshetri, cybercrime industry (Fn. 19), S. 1 f.; Chawki u. a., Cybercrime, Digital Forensics and Jurisdiction, Cham 2015, 3; Vogel, Towards a global Convention against cybercrime, Revue électronique de l‘AIDP 2008, C-07:1, 1 f.; Brodowski/Freiling, Computerkriminalität (Fn. 25), 28. 50 Brodowski/Freiling, Computerkriminalität (Fn. 25), S. 57 f.; Sieber, in: Delmas-Marty/ Pieth/Sieber (Hrsg.), Les chemins de l’harmonisation pénale, 2008, S. 127 (132). 51 Zu prozessualen Folgeproblemen („Massenverfahren“) siehe nur BGHSt 56, 109; Kuhli, StV 2016, 40 ff. 52 Siehe nur Sieber, in: Delmas-Marty/Pieth/Sieber (Hrsg.), Les chemins de l’harmonisation pénale, 2008, S. 127 (134); Wörner, ZIS 2012, 458. 53 Brodowski/Freiling, Computerkriminalität (Fn. 25), S. 57 f.; Sieber, in: Delmas-Marty/ Pieth/Sieber (Hrsg.), Les chemins de l’harmonisation pénale, 2008, S. 127 (133); monographisch Brunst, Anonymität im Internet, 2009. 49
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1. Tatbegehung mittels Informationstechnik Eine Tatbegehung mittels Informationstechnik lässt sich materiell-strafrechtlich meist ohne Schwierigkeiten erfassen, da die meisten Straftatbestände lediglich eine bestimmte Verletzung eines Schutz- bzw. Rechtsgut als notwendige Voraussetzung einer Strafbarkeit voraussetzen. Bei diesem Idealtypus eines vorsätzliches Verletzungs- bzw. Erfolgsdelikt, wie er nicht nur in den Tatbeständen des Totschlags, der Körperverletzung und der Sachbeschädigung verwirklicht ist, ist im Hinblick auf die objektive Tatbestandsmäßigkeit eines Täterverhaltens allein erforderlich, dass hierdurch ein strafrechtlich relevanter Verletzungserfolg kausal und objektiv zurechenbar herbeigeführt wurde; als Konsequenz dieser Grundstruktur kommt es auf die Begehungsweise etwa einer Beleidigung (hate speech55) oder eines Betruges – ob „online“ oder „offline“ – schlichtweg nicht an. 2. Spezifische Gefährdungen durch Informationstechnik Gewissen legislativen Nachsteuerungsbedarf gab bzw. gibt es allerdings bei solchen Straftatbeständen, die an körperliche Gegenstände oder eine bestimmte Art der Tatbegehung anknüpfen. In diesem Sinne ist die Weiterentwicklung der Schriftendelikte hin zu Inhaltsdelikten zu begrüßen, insbesondere im Bereich der Strafbarkeit von Kinderpornografie.56 Weiterer legislativer Handlungsbedarf besteht dort, wo aus den geschilderten Besonderheiten des Tatmittels Informationstechnik eine besondere Gefährdungslage resultiert. Dies betrifft insbesondere die Strafbarkeit der Anbahnung von Sexualkontakten mit Kindern (Cybergrooming, § 176 Abs. 4 Nr. 3 StGB), da bei Nutzung Informations- und Telekommunikationstechnologie natürliche psychologische Schutzmechanismen umgangen werden. Daneben bestehen spezifische Gefährdungen nicht nur bei der Verletzung des persönlichen Lebens- und Geheimnisbereichs durch technische Mittel,57 sondern auch bei der Nutzung des machine learning zur Generierung täuschend echter Imitationen von Wort, Bild und Ton.58 Solche „deep fakes“ sind nicht nur ein Problem im Hinblick auf die Generierung von fake news,59 sondern auch, weil sich damit ein immer perfiderer digitaler Identitätsdiebstahl begehen ließe – so, wenn ein CEO fraud60 dadurch perfektioniert 54
Siehe oben bei und mit Fn. 19. Siehe hierzu bereits Sieber, ZRP 2001, 97. 56 Hierzu Regierungs-Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Modernisierung des Schriftenbegriffs und anderer Begriffe sowie Erweiterung der Strafbarkeit nach den §§ 86, 86a, 111 und 130 des Strafgesetzbuches bei Handlungen im Ausland, BRDrs. 167/20, BT-Drs. 19/19859. 57 Siehe hierzu oben III.1. 58 Beispielhaft https://lyrebird.ai und https://www.youtube.com/watch?v=YfU_sWHT8mo (29. 11. 2019). 59 Hierzu Holznagel, MMR 2018, 18; Hoven, ZStW 129 (2017), 718. 60 Vgl. nur Buss, CR 2017, 410. 55
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wird, dass der Irrtum des Verfügenden durch einen täuschend echten Anruf unter Verwendung der Stimme des Vorstandsvorsitzenden hervorgerufen oder verstärkt wird. 3. Kriminalisierung des Tatmittels IT Ein Dauerstreitpunkt ist allerdings der Umgang mit Informationstechnologie, soweit sie nicht als „neutral“, sondern als „kriminell“ wahrgenommen wird. Dies wurde zunächst virulent im Kontext sogenannter „hacking tools“, also von „Vorrichtungen einschließlich […] Computerprogramm[en]“, die vorrangig oder auch dazu geeignet sind, IT-Straftaten zu begehen: Man denke etwa an Schadsoftware, aber auch an Software zum Aufspüren von Sicherheitslücken. Eine Kriminalisierung des Umgangs mit solchen Tatmitteln ist – in näher spezifiziertem Umfang – europarechtlich gefordert61 und in §§ 202c, 263a Abs. 3, 303a Abs. 3, 303b Abs. 5 StGB überschießend62 umgesetzt; die Auslegung aber in Folge einer Kammerentscheidung des BVerfG Restriktionen unterworfen.63 Doch auch soziale Netzwerke werden vermehrt nicht als „neutral“, sondern zumindest als „gefährlich“ angesehen. Dies erklärt die Inpflichtnahme der Betreiber sozialer Netzwerke durch das Netzwerkdurchsetzungsgesetz: Diese können mit einer Geldbuße belegt werden, wenn sie keine adäquaten Strukturen für eine Compliance dahingehend bereithalten, dass rechtswidrige Inhalte von Nutzern nach Meldung alsbald gesperrt oder gelöscht werden.64 Sinnvollerweise ist das aber zu kombinieren mit einer Strafverfolgung derjenigen, die selbst eine Beleidigung oder eine Volksverhetzung begangen haben. Entsprechende konzertierte Aktionen der Strafverfolgungsbehörden erfolgen beispielsweise in Nordrhein-Westfalen unter dem Schlagwort „Verfolgen statt nur Löschen“ und sind erstaunlich effektiv;65 eine tiefgreifende Inpflichtnahme bewirkt das jüngst beschlossene Gesetz gegen Rechtsextremismus und Hasskriminalität mit einer Meldepflicht an das BKA. Dasselbe Grundproblem zeigt sich schließlich beim rechtspolitisch derzeit diskutierten Straftatbestand des „Zugänglichmachens von Leistungen zur Begehung von Straftaten“ (§ 126a StGB-E). Der ursprüngliche Gesetzentwurf aus Nordrhein-Westfalen66 verfolgte das durchaus legitime Ziel, das Betreiben von kriminellen Handels61
Art. 6 Cybercrime-Konvention des Europarats (Fn. 11); Art. 7 RL 2013/40/EU (Fn. 13). Ein restriktiverer Ansatz findet sich beispielsweise in § 126c öStGB (Missbrauch von Computerprogrammen oder Zugangsdaten). 63 BVerfGK 15, 491. 64 Allgemein zu dieser vierten Stufe von Compliance im Bereich des Cybercrime siehe Brodowski, Cybercrime and Cybercrime-Compliance, in: Saad-Diniz u. a. (Hrsg.), Direito penal econômico nas ciências criminais, Belo Horizonte 2019, S. 13 (19 ff.). 65 BT-Drs. 19/17741 i. d. F. BT-Drs. 19/20163. Zu den Aktionen in NRW siehe https:// www.justiz.nrw/Mitteilungen/2017_08_30_PM_Hasskriminalitaet_im_Netz/index.php; https:// www.land.nrw/de/pressemitteilung/neue-medienpartner-staerken-initiative-gegen-hassrede (29. 11. 2019). 66 BR-Drs. 33/19; hierzu Ceffinato, ZRP 2019, 161. 62
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plattformen im Darknet durch einen eigenständigen, den Unrechtsgehalt adäquat abbildenden Straftatbestand zu erfassen. Einer aktualisierten Entwurfsfassung zufolge soll hingegen jeder mit Strafe belegt werden, der einem „Dritten eine internetbasierte Leistung zugänglich macht, deren Zweck oder Tätigkeit darauf ausgerichtet ist, die Begehung von rechtswidrigen Taten zu ermöglichen, zu fördern oder zu erleichtern“.67 Das wäre nicht nur hochgradig unbestimmt – wie lässt sich die Ausrichtung etwa von Bitcoins bestimmen? –, es würde zudem einer Umkehr des sogenannten Vertrauensgrundsatzes Vorschub leisten: Derzeit darf man grundsätzlich darauf vertrauen, dass andere Menschen bereitgestellte Waren (wie Küchenmesser) oder Dienstleistungen (wie Kommunikationsplattformen) rechtmäßig verwenden. Tun sie das nicht, so sind (jedenfalls vorrangig) diese zur Rechenschaft zu ziehen.68 Zukünftig wäre jeder Anbieter, dessen internetbasierte Leistung auch zu illegalen Zwecken missbraucht werden könnte, viel zu vorschnell dem Vorwurf der Strafbarkeit ausgesetzt. Diese Umkehrung des Vertrauensgrundsatzes steht einer freiheitlichen Gesellschaft nicht gut zu Gesicht; auf eine derart weitreichende Inpflichtnahme aller Diensteanbieter sollte verzichtet werden. *** Dieser Streifzug hat vier Bereiche herausgearbeitet, in denen sich die transformative Kraft der Digitalisierung im Bereich des materiellen Strafrechts bereits gezeigt hat – zum Teil aber auch noch zeigen wird oder noch zeigen muss. Zu wünschen bleibt, dass das Wirken Ulrich Siebers auch die zukünftige Rechtsentwicklung positiv beeinflussen wird – ad multos annos!
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Dieser Vorschlag ist insb. enthalten im – innerhalb der Bundesregierung nicht abgestimmten – (Referenten-)Entwurf eines IT-Sicherheitsgesetzes 2.0, verfügbar unter https://netz politik.org/2019/it-sicherheitsgesetz-2-0-wir-veroeffentlichen-den-entwurf-der-das-bsi-zur-ha ckerbehoerde-machen-soll/ (29. 11. 2019); hierzu Kubiciel/Mennemann, jurisPR-StrafR 8/2019 Anm. 1; Greco, ZIS 2019, 435; Zöller, KriPoZ 2019, 274. 68 Zum Vertrauensgrundsatz siehe bereits oben bei und mit Fn. 31 f.
Digital Criminal Compliance Von Christoph Burchard
I. Einführung und konzeptionelle Annäherungen Ulrich Sieber zu ehren fällt leicht, aber eben auch schwer, weil man so viel ansprechen müsste, um seinen wissenschaftlichen Leistungen, seinem (internationalen wie nationalen) wissenschaftspolitischen Trendsetting wie auch ihm persönlich1 nur ansatzweise gerecht zu werden. Daher sei hier (exemplarisch) nur ein wissenschaftlicher Punkt herausgestrichen, der in der Rückschau auf sein so reiches Œuvre überdeutlich vor Augen tritt. Namentlich sein visionäres Vermögen, zukünftige Transformationen der Lebens- und Rechtswirklichkeit stets fest im Blick und sie bereits heute umfassend analysiert zu haben, bevor sie anderen morgen (oder in der Tat erst übermorgen) gewahr werden. Erinnert sei (ebenfalls exemplarisch) nur an die „Entdeckung“ der Computerkriminalität2 (im Jahre 1977), des europäischen Strafrechts3 (im Jahre 1991), der computergestützten Rechtsvergleichung4 (Anfang der 2000er) und des Sicherheitsrechts5 (in den letzten Jahren). In diesem explorativen Geiste soll dem Jubilar hier ein Beitrag zugeeignet werden, der einige Schnittstellen dieser gesellschaftlichen und rechtlichen Transformationen beleuchtet: die sich global abzeichnende, durch informationstechnologische Fortschritte nunmehr möglich werdende sowie Sicherheit bzw. Kontrolle betonende Herausbildung von sog. Digital Criminal Compliance,6 die sich nahtlos in die von Ulrich Sieber bereits vor Jahren 1 Persönlich denke ich hier insbesondere an die herzliche Anteilnahme, die er nach dem tragischen Tod von Joachim Vogel gezeigt hat. 2 Bahnbrechend Sieber, Computerkriminalität und Strafrecht, 1977; bereits zuvor Sieber, DSWR 1974, 245. 3 Richtungsweisend Sieber, ZStW 103 (1991), 957. 4 Grundlegend Sieber, in: Sieber/Albrecht (Hrsg.), Strafrecht und Kriminologie unter einem Dach, 2006, S. 78. 5 Umfassend Sieber, in: Sieber/Mitsilegas/Mylonopoulos/Billis/Knust (Hrsg.), Alternative Systems of Crime Control, 2018, S. 3; ders., Journal of Eastern-European Criminal Law 1 (2016), 14. 6 Grundsätzlich hierzu Sieber, in: Sieber/Mitsilegas/Mylonopoulos/Billis/Knust (Hrsg.), Alternative Systems of Crime Control, 2018, S. 3 (21 ff.); ders., The Quarterly Review of Corporation Law and Society 4 (2006), 73; ders., in: Sieber/Dannecker/Kindhäuser (Hrsg.), Tiedemann-FS, 2008, S. 461; ders./Engelhart, Compliance Programs for the Prevention of Economic Crimes, 2014.
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Christoph Burchard
erkannte Entwicklung hin zu einer Informations-, Risiko- und Weltgesellschaft einfügt.7 *** Digital (Criminal) Compliance (DCC) ist eines der neuen „Buzz-Worte“ im globalen Compliance-Betrieb, dessen konzise und systematische Aufarbeitung freilich noch aussteht.8 DCC meint die Digitalisierung der gemeinen, aus der heutigen (Wirtschafts-)Strafrechtslandschaft nicht mehr wegdenkbaren Criminal Compliance. DCC beruht auf smart data analytics, insbesondere auf dem Einsatz von sog. Künstlicher Intelligenz (KI)9 zur Auswertung großer Datensätze (vulgo Big Data), um die Einhaltung der strafrechtlichen Ge- oder Verbote in und durch Verbände10 sicherzustellen.11 Getragen wird dies (stark vereinfachend) von verschiedenen akteursspezifischen Motiven, die häufig, aber nicht zwingend konvergieren. Man denke (abermals stark vereinfachend und nur exemplarisch) daran, strafrechtliche Rechtsgüter durch die Verwendung von intelligenten Big Data-Analysen effektiver zu schützen (regulatorische Perspektive), individuelle und organisationale Haftungsrisiken auf diesem Wege effizienter zu minimieren (verbandsinterne Perspektive) oder entsprechende DCC-Produkte teuer zu verkaufen (Perspektive des „compliance-industriellen Komplexes“). DCC ist dabei als weiterer Baustein in einer übergreifenden Compliance-Organisation zu begreifen. Eine vollständige Vereinseitigung des Compliance-Managements auf DCC steht mit anderen Worten (noch) nicht in Rede. Digitale und menschliche Compliance-Maßnahmen werden also auch in Zukunft ineinandergreifen (müssen). Wie schon die traditionelle, bringt auch die Bewegung hin zu digitalisierter Criminal Compliance einen Staat zum Ausdruck, der die aus und durch Verbände begangenen Straftaten nicht (länger) ignorieren kann und zugleich nicht stark genug ist (oder sein will), diese selbst in Angriff zu nehmen.12 Typisierend gesprochen kann (oder will) er also die verbandsinterne Verbindlichkeit seiner strafrechtlichen Geund Verbotsnormen nicht selbst umfassend garantieren (z. B. kriminogene Verbandsattitüden13 nicht verbindlich ausschließen); und er kann (oder will) compliance inci7 Hierzu zuletzt Sieber, in: Sieber/Mitsilegas/Mylonopoulos/Billis/Knust (Hrsg.), Alternative Systems of Crime Control, 2018, S. 3 (27 ff.). 8 Wichtige Vorarbeiten liefern Schemmel/Dietzen, in: Breidenbach/Glatz (Hrsg.), Handbuch Legal Tech, 2018, S. 137; Neufang, IRZ 2017, 249. 9 In welcher Spielart auch immer, z. B. auf der Grundlage von machine learning, neuralen Netzwerken etc. 10 Seien sie privatrechtlich verfasst (Stichwort: DCC in Unternehmen) oder öffentlichrechtlich aufgestellt. 11 So allgemein etwa Engelhart, The Nature and Basic Problems of Compliance Regimes, 2018, S. 2. 12 Hierzu auch Wessing, in: Hassemer/Kempf/Moccia (Hrsg.), Volk-FS, 2009, S. 865 (868 ff.); Kuhlen, in: Herzog/Neumann (Hrsg.), Hassemer-FS, 2010, S. 875. 13 Hierzu im Überblick etwa Schmitt-Leonardy, Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?, 2013, S. 190.
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dents (aka Verdachtsfälle einer Straftatbegehung) nicht umfassend durch seinen eigenen Strafrechtsstab aufklären (so dass Verbände ihre eigenen internal investigations anschieben müssen). Sollte in Zukunft der Staat also DCC in bestimmten Feldern verbindlich machen wollen, würde er dadurch das Heft des Handelns (sei es symbolisch oder tatsächlich) bei der Prävention und Repression von Criminal Compliance bezogenen Straftaten zurückzugewinnen suchen. All das ruft die Rechtfertigungsfrage für DCC auf. Und da selbst gute Zwecke (z. B. der effektive Schutz strafrechtlicher Rechtsgüter) nicht jede Mittel legitimieren und das Stammtischargument „Wer als Beschäftigter eines Verbands nichts zu verbergen hat, muss sich auf DCC einlassen!“ nicht trägt,14 muss diese Rechtfertigungsfrage in aller Ernsthaftigkeit gestellt und beantwortet werden. Von vorneherein auszuschließen sind insofern zwei vereinfachende datenschutzrechtliche Rechtfertigungsstrategien. Da und sofern die Einhaltung strafrechtlicher Vorschriften im und durch den Verband personengenau kontrolliert werden soll (also personenbezogene Input-Daten verarbeitet und personenbezogene Output-Daten generiert werden sollen), kann DCC erstens schon begriffsnotwendig nicht mit der Anonymität der Daten-Analyse legitimiert werden.15 Ferner sollte zweitens eine Rechtfertigung kraft einer freiwilligen datenschutzrechtlichen Einwilligung der Verbandsmitglieder strukturell ausgeschieden werden. Denn Beschäftige stehen in der Regel (Ausnahmen mögen diese bestätigen) in einem die Freiwilligkeit ausschließenden Abhängigkeitsverhältnis zum DCC verwendenden Verband (vgl. hierzu auch die Wertung von § 26 Abs. 2 BDSG). Um DCC zu rechtfertigen, gilt es also – gerade im Vergleich zu „traditionellen“ Compliance-Systemen – die Chancen und Potentiale (hierzu unten II.) gegen die Risiken und Herausforderungen von DCC (hierzu unten III.) abzuwägen. Erste – aufgrund der festschrift-typischen Beschränkungen bewusst skizzenhafte und holzschnittartige – Annäherungen an all dies nimmt der vorliegende Beitrag vor. DCC wird dabei im Zeichen einer globalisierten Wirtschaftsverfassung als ein rechtsordnungsübergreifendes Thema begriffen, sodass jurisdiktionsspezifische Einordnungen (z. B. nach Maßgabe des BDSG oder der DSGVO) bewusst außen vorgelassen werden. Es geht mit anderen Worten im Folgenden um die grundsätzlichen Chancen und Risiken von DCC. Jurisdiktionsgenaue Einpassungen in das jeweils geltende (Verfassungs-, Strafprozess-, Datenschutz-, Arbeits- und Gesellschafts- etc.) Recht sowie in je gesonderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen16 müssen daher weiteren Untersuchungen vorbehalten werden. 14 Hierzu allg. Bennett, The Privacy Advocates: Resisting the Spread of Surveillance, 2008, S. 97. 15 So im Ergebnis auch Rudkowski, NZA 2019, 72 (73 ff.) m.w.N. 16 Ist etwa der „Kampf gegen Korruption“ – wie in manchen lateinamerikanischen Staaten – von hoher gesellschaftspolitischer Relevanz, weil keine allgemeine culture of integrity herrscht, wird die Rechtfertigung von korruptionsspezifischer DCC anders diskutiert werden als in Staaten, in denen die Korruptionsbekämpfung rechtstatsächlich eine weniger bedeutsame Rolle spielt.
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II. Chancen und Potentiale von Digital Criminal Compliance Die Chancen und Potentiale von Digital Criminal Compliance lassen sich – ganz im Zeichen der allgemeinen Digitalisierungsbewegung – auf die Verheißung von digitalen Effektivitäts- und Effizienzgewinnen zuspitzen, die sich im Vergleich zur traditionellen (menschlichen) Criminal Compliance einstellen sollen. Die Stärken des digitalen (unten 2.) sollen gleichsam die Schwächen des menschlichen Faktors (unten 1.) in Criminal Compliance-Programmen und -Ermittlungen überwinden. Beispielhaft hierfür steht das predictive policing am Arbeitsplatz (unten 3.). 1. Schwachstellen der traditionellen (menschlichen) Criminal Compliance Criminal Compliance setzt maßgeblich auf Kontroll-17 und „Kulturbildungs“maßnahmen18 in Verbänden, die der Begehung von Straftaten entgegenwirken sollen. Nach Maßgabe des herkömmlichen Criminal Compliance-Paradigmas steigt dadurch die Komplexität der (z. B. Corporate) Governance des betroffenen Verbands: Je mehr Compliance-Maßnahmen implementiert werden, desto mehr wird der zu steuernde Verband paralysiert.19 In diesem Sinne besteht ein idealtypischer Zielkonflikt zwischen der (insbes. wirtschaftsverfassungsrechtlich notwendigen, also unternehmerischen) Beweglichkeit eines Verbands und der Einhegung von Straftatbegehungsrisiken.20 Beides gilt es zu praktischer Konkordanz zu bringen, da weder ein durch zu viel Criminal Compliance gelähmter noch ein durch zu wenig Criminal Compliance entfesselter Verband in einer rechtsstaatlich verfassten, von einem schwächer werdenden Staat zeugenden liberalen Wirtschaftsordnung gewollt sein kann. Herkömmliche Criminal Compliance-Organisationsformen begegnen daher einem „funktional-zeitlichen Dilemma“,21 da eine hemmende ex ante-Prüfung aller verbandsinternen Entscheidungen (in extremo die in einen regressus ad infinitum mündende Prüfung von Prüfungsentscheidungen, Stichwort: three lines of defense22) schlechterdings nicht in Betracht kommt.
17
Hierzu allg. etwa Nieto Martín, in: Kuhlen/Kudlich/Ortiz de Urbina (Hrsg.), Compliance und Strafrecht, 2013, S. 27 (38). 18 Hierzu allg. Griffith, William and Mary Law Review 2016, 2075 (2094). 19 Hierzu etwa Idler/Weber, in: Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis (Hrsg.), Internal Investigations. Ermittlungen im Unternehmen, 2016, S. 623 (639). 20 Vgl. hierzu – aus wirtschaftsliberaler Perspektive – Uwer, in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Die Handlungsfreiheit des Unternehmers – Wirtschaftliche Perspektiven, strafrechtliche und ethische Schranken, 2009, S. 127. 21 Neufang, IRZ 2017, 249 (249). 22 Vgl. etwa Obermayr, in: Hauschka/Moosmayer/Lösler (Hrsg.), Corporate Compliance, 2016, § 44 Rn. 116 ff.
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Criminal Compliance muss daher faktisch häufig im Rückschaumodus agieren. Mit Neufang lässt sich auch sagen: „Compliance-Organisationen rennen Verstößen gegen Gesetze, Regularien, marktübliche Standards, technische Normen oder interne operationelle Produktionsvorgaben regelrecht hinterher.“23 Da diese Rückschau von Menschen vorgenommen wird, werden viele ex ante potentiell verfügbare Datenpunkte ex post unberücksichtigt bleiben. Dazu gesellt sich der kognitionspsychologisch nicht ausschließbare hindsight bias – gleichsam der menschliche Fehler, die Vorhersehbarkeit eines bereits eingetretenen (Compliance relevanten) Ereignisses zu überschätzen bzw. die tatsächlichen Risiken eines nicht eingetretenen Compliance-Verstoßes zu unterschätzen.24 Das bisher Gesagte bedingt auch die klassische Abgrenzung zwischen prospektiven Compliance-Programmen, die der Prävention von Straftaten dienen, und retrospektiven Compliance Ermittlungen (aka internal investigations), die der Aufarbeitung (möglicher oder tatsächlicher) compliance incidents verschrieben sind.25 2. Die Verheißungen der Digitalen Criminal Compliance An all diesen (menschlichen Schwach-)Stellen setzen die Verheißungen der Digitalisierung an. Digitalisierung lässt sich dabei – ganz grob gesprochen – nicht als neutrale technologische Innovation, sondern als soziale Praktik beschreiben, die soziale (Macht- etc.)Verhältnisse stabilisiert, perpetuiert, transformiert oder gar revolutioniert.26 Die Verheißungen von DCC beginnen damit, dass der rückschauende Verlust von Daten sowie menschliche Rückschaufehler digital ausgeschlossen werden sollen. DCC wird so – allemal vorgeblich – zum Medium einer umfassenderen, perfekteren, neutraleren und objektiveren Compliance. Schemmel/Dietzen haben dies (mit einem euphorischen Zungenschlag) wie folgt formuliert: „Von künstlicher Intelligenz angetriebene sog. ,smart machines‘ sind Menschen in vielerlei Hinsicht zweifellos überlegen. Sie verfügen über ein nahezu perfektes ,Gedächtnis‘ und können vermittels komplexer Algorithmen große Datenmengen konsistent, schneller und präziser als Menschen verarbeiten. Sie führen mithin zu einer signifikanten Effizienzsteigerung in ihrem Anwendungsbereich.“27
23
Neufang, IRZ 2017, 249. Vgl. nur Blank/Musch/Pohl, Social Cognition 2007, 1; aus rechtlicher Sicht auch Ahrendt, Entscheidungen unter Unsicherheit. Die verhaltenspsychologische Ausrichtung der aktienrechtlichen Vorstandshaftung, 2017. 25 Zu dieser Abgrenzung Engelhart, The Nature and Basic Problems of Compliance Regimes, 2018, S. 2. 26 Hierzu allg. Burchard, Jahrbuch für Recht und Ethik 27 (2019), S. 527 (530 ff.) = Normative Orders Working Paper 02/2019, S. 3 ff. 27 Schemmel/Dietzen, in: Breidenbach/Glatz (Hrsg.), Handbuch Legal Tech, 2018, S. 137 (151) (Herv. im Org.). 24
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Smart data analytics verspricht zudem – unabhängig davon, ob diese Versprechungen tatsächlich halten – Echtzeitanalysen von (qua definitionem28 menschlich weder überblickbaren noch prima facie zusammengehörigen) Big Data, wodurch DCC zeitlich dynamisch sowie funktional aktiv zur Verhinderungen von Straftaten aufgestellt wird – und zwar im bewussten Gegensatz zum statisch-reaktiven herkömmlicher Criminal Compliance. Die präventive Vorhersage (fachbegrifflich Prädiktion genannt) von Straftaten bzw. Straftatbegehungsrisiken rückt so in das Zentrum der Compliance-Organisation – und so quasi aus dem „Schatten der Beurteilung historischer Ereignisse“ heraus.29 In diesem Sinne geben sich Schemmel/Dietzen abermals zuversichtlich, wenn sie in Aussicht stellen: „Aus strafrechtlicher Sicht wäre es ein grundlegender Durchbruch, mittels prädiktiver und präskriptiver Analysen komplexer Datenmengen die zukünftige Begehung von Straftaten in Echtzeit identifizieren und verhindern zu können.“30
Die Überantwortung dieser Echtzeitanalysen auf smart machines bzw. legal compliance tech löst zu guter (?) Letzt das Governance-Problem eines durch DCC kontrollierten Verbands. Entscheidungen müssen nicht aufwendig von Menschen nachlaufend überprüft werden, bevor sie implementiert werden, da sie idealiter (?) im Maßstab 1:1 bereits digital geprüft worden sind, wenn sie in Aktion gesetzt werden. In diesem Sinne besteht dann auch kein Zielkonflikt mehr zwischen der Beweglichkeit eines Verbands und seiner Compliance-Organisation – oder zwischen Vertrauen (keine Kontrolle der Entscheidungsträger in Verbänden) und Misstrauen (Kontrolle der Entscheidungsträger in Verbänden). Vielmehr lässt sich (allemal scheinbar) maximale unternehmerische Entscheidungsfreiheit im Verband mit maximaler Kontrolle durch den Verband digital verbinden, um so ein strafrechtsgerechtes Wirtschaften im und durch den Verband zu ermöglichen. Selbst wenn durch den Einsatz von DCC bestimmte Straftaten nicht verhindert werden konnten (z. B. weil sie selbst durch den Einsatz sog. selbstlernender Systeme nicht vorhergesagbar waren), erlaubt die für DCC aufzubauende Dateninfrastruktur eine schlagkräftige rückblickende Ermittlung des oder der Verantwortlichen. Denn DCC impliziert, gleichsam als Nebenprodukt, eine „beweisrechtlich eindeutige Datensicherung,“31 auf die interne Ermittler und staatliche Strafverfolger zugreifen können.
28
Hierzu etwa Wierse/Riedel, Smart Data Analytics: Mit Hilfe von Big Data Zusammenhänge erkennen und Potentiale nutzen, 2017, S. VI, S. 46 f. 29 So plastisch Neufang, IRZ 2017, 249 (250). 30 Schemmel/Dietzen, in: Breidenbach/Glatz (Hrsg.), Handbuch Legal Tech, 2018, S. 137 (144). 31 So deutlich Neufang, IRZ 2017, 249 (252).
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3. Beispiel: Predictive policing am Arbeitsplatz Ein im Arbeitsrecht bereits diskutiertes32 Beispiel für DCC liefert das sog. predictive policing33 von Arbeitnehmern durch Arbeitgeber am Arbeitsplatz. Mit Rudkowski34 lässt sich dies wie folgt definieren: Beim predictive oder, in der technischen Weiterentwicklung und in der Expansion der verwendeten Datenmengen, Big Data policing35 prognostiziert sog. KI durch die Auswertung bestimmter Datensätze, wer Straftaten in Zukunft wo begehen wird. Diese Prädiktion lässt sich „technisch unproblematisch auch auf die Begehung von Straftaten oder Pflichtverletzungen durch Arbeitnehmer im Betrieb“ übertragen. Informationstechnisch wird der Arbeitgeber u. a. in den Stand versetzt, personengenaue Prädiktionen dazu aufzustellen, „welche Arbeitnehmer sich als besonders anfällig für die Begehung von Compliance-Verstößen zeigen könnten.“ Die entsprechenden Prädiktionen sollen dabei umso genauer und umfassender ausfallen, je mehr Datensätze über Arbeitnehmer (oder sonstige Compliance relevante Personen, wie Zulieferer etc.) zur Verfügung stehen. Die Möglichkeiten zur (verbands-)eigenen Datenerhebung umfassen dabei das flächendeckende E-Mail-Monitoring, den Mitschnitt von Telefonaten sowie das Tracking von IT-Inhalten, der Browsernutzung und der GPS-Koordinaten von Mitarbeitern.36 All das ist keine dystopische Science-Fiction, sondern ist vielmehr bereits (nicht nur im Ausland)37 u. a. unter dem Titel electronic performance monitoring genutzte Realität. Ebenfalls bereits praktiziert wird das sog. Chippen von Beschäftigten, also die (vermeintlich „freiwillige“, s. oben I.) Implantierung von Computerchips,38 die verschiedenste Criminal Compliance relevante Datenpunkte über Arbeitnehmer etc. (Wer trifft sich mit wem etc.?) erfassen und einem DCC-Algorithmus zuführen können. Weitere (personalisierte oder generelle) Datensets können von Drittanbietern (Facebook etc.) eingekauft oder von staatlichen Stellen bezogen werden, um das analysierbare Big Data zu verbreitern.
32
Hierzu Rudkowski, NZA 2019, 72; Dzida, NZA 2017, 541; einen vergleichbaren Mechanismus stellt dar: Däubler, Digitalisierung und Arbeitsrecht, 2018, S. 279 ff. 33 Hierzu auch Burchard, Jahrbuch für Recht und Ethik 27 (2019), S. 527 (537 ff.) = Normative Orders Working Paper 02/2019, S. 13 ff. – Zum Predictive Policing im deutschen Schrifttum etwa Rademacher, AöR 2017, 366; Singelnstein, NStZ 2018, 1. 34 Die folgenden Zitate stammen von Rudkowski, NZA 2019, 72 (72). 35 Hierzu etwa Ferguson, The Rise of Big Data Policing, 2017. 36 Vgl. nur Moore/Akhtar/Upchurch, in: Moore/Upchurch/Whittaker (Hrsg.), Humans and Machines at Work. Dynamics of Virtual Work, 2018, S. 17 (18 ff); aufschlussreich The Wall Street Journal v. 19. 6. 2019, The New Ways Your Boss Is Spying on You (zuletzt abgerufen am 05. 12. 2019). 37 Zum „Fall“ Zalando etwa Zeit-Online v. 19. 11. 2019, Zalando soll Tausende Mitarbeiter systematisch kontrolliert haben (zuletzt abgerufen am 05. 12. 2019). 38 Aufschlussreich Spiegel Online v. 20. 10. 2019, „Der Chip ist Teil meines Körpers geworden“ (zuletzt abgerufen am 05. 12. 2019).
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Dass sich all dies wie selbstverständlich und ohne viel Federlesen als predictive policing am Arbeitsplatz ausflaggen lässt, ist bezeichnend. Das Gewaltmonopol des Staates für (vorhersagende) Polizeiarbeit am Arbeitsplatz wird konkludent aufgegeben und dem Arbeitgeber das policing seiner Arbeitnehmer rechtlich ermöglicht.
III. Risiken und Herausforderungen von Digital Criminal Compliance So verheißungsvoll DCC-Systeme und die damit verbundenen Effektivitäts- und Effizienzsteigerungen für die Criminal Compliance von Verbänden auch klingen mögen, so sehr dürfen darüber die damit einhergehenden Risiken und Herausforderungen nicht vergessen werden. Obwohl DCC im Vergleich zur traditionellen (menschlichen) Compliance teleologisch nichts Neues bringt (Stichwort: Effektivierung des Rechtgüterschutzes; Effizienzsteigerung bei der Minimierung von Haftungsrisiken etc.), fallen die quantitativen Zuwächse an Kontroll- und Überwachungsmöglichkeiten im und durch den Verband so beträchtlich aus, dass sich DCC auch qualitativ von der klassischen Criminal Compliance abhebt – und folglich auch der eigenen Risiko- und Herausforderungsanalyse und damit der eigenen Rechtfertigung bedarf. Insofern kann summarisch zwischen den technischen und technikrechtlichen (unten 1.) sowie den sozialen (unten 2.) und dogmatischen (unten 3.) Risiken und Herausforderungen von DCC unterschieden werden. 1. Technische und technikrechtliche Risiken und Herausforderungen Zunächst ist der Einsatz von DCC mit teils erheblichen informationstechnischen und -ethischen Schwierigkeiten verbunden. Diese wurden bis dato vor allem mit Blick auf die staatliche Nutzung von sog. KI bei der Strafverfolgung, z. B. beim algorithmic risk assessment im Rahmen der Strafzumessung in den USA, diskutiert.39 Sie stellen sich bei der privaten Nutzung im Rahmen von Compliance-Programmen und -Ermittlungen in besonderer Schärfe, weil die Bindung an rechtsstaatliche und grundrechtliche Standards in privatrechtlichen Kontexten brüchig(er) wird. Im Überblick: Setzt DCC auf Prädiktionen (z. B. welcher Arbeitnehmer besonders „gefährlich“ ist), stellt sich das bias in, bias out-Problem.40 Je schlechter bzw. vorurteilsbehafteter also die verwendeten Trainingsdatensätze eines Prädiktions-Algorithmus sind, desto mehr werden sich diese (Input-)Mängel in den algorithmischen (Output-)Vorhersagen fortsetzen. Wollte ein transnational tätiges Unternehmen z. B. staatliche Strafver39 Hierzu in der Übersicht Burchard, Jahrbuch für Recht und Ethik 27 (2019), S. 527 (537 ff.) = Normative Orders Working Paper 02/2019, S. 13 ff. 40 So prägnant Mayson, The Yale Law Journal 2019, 2218.
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folgungsdaten aus den USA verwenden, um zu ermitteln, welcher seiner Mitarbeiter besonders affin für Straftaten ist, müsste es bedenken, dass diese Strafverfolgungsdaten die allgegenwärtige Rassendiskriminierung in der US-Strafverfolgungspraxis reflektieren, mit der Folge, dass eine DCC-Prädiktion junge männliche Afroamerikaner als besonders überwachungsbedürftig ausflaggen wird.41 Da eine „selbst“kritische Reflexion von Trainingsdaten bzw. Inputs heutigen smart data analytics schlicht nicht möglich ist, muss hier menschlich nach- und gegengesteuert werden.42 Die vorschnelle Annahme, dass Prädiktions-Algorithmen „von Natur aus“ objektiv und neutral sind, zeugte überdies von informationstechnologischer Naivität.43 Vielmehr spiegeln Algorithmen (im Guten wie im Schlechten) die Wertevorstellungen der Programmierer wider (weshalb große Tech-Unternehmen heute auf die Inklusivität und Diversität ihrer Programmierteams achten). Bündig zusammengefasst lässt sich sagen, dass Algorithmen normativ sind (und auch sein sollen, wenn man etwa eine jurisdiktionsspezifische, z. B. europäische Dimension der DCC programmatisch umsetzen will). Normativ verstandene Algorithmen bauen auf (bewussten oder unbewussten) Wertentscheidungen auf, die es ggf. (!) faktisch-transparent zu machen gilt, um ggf. (!) rechtlich-transparente Regelungen für DCC erlassen zu können; etwa ab welchem deliktsspezifischen Wahrscheinlichkeitsgrad,44 dass ein Arbeitnehmer einen Compliance-Verstoß vorbereitet,45 dieser Arbeitnehmer stärker überwacht, in eine Compliance-Schulung entsandt oder gar „gefeuert“ werden darf (oder gar muss). Die Offenlegung der verwendeten Algorithmen (also nicht dass,46 sondern wie Prädiktionen angestellt werden) steht freilich in Zielkonflikten mit dem Paradigma möglichst effektiven Rechtsgüterschutzes einerseits (man bedenke: Ist der Algorithmus bekannt, können und werden Arbeitnehmer ihr Verhalten anpassen, um unter dem DCC-Radar zu bleiben!) und mit dem Schutz von Betriebsgeheimnissen andererseits (man bedenke: Ein effektiver Wettbewerb von DCC-Produkten setzt voraus, dass der jeweilige Code als proprietär gehandhabt wird, er also geheim bleibt!). Es steht daher zu vermuten, dass die etwaige Offenlegung von DCCAlgorithmen im privaten Compliance-Sektor weitreichende Folgefragen nach sich ziehen wird, deren Beantwortung alles andere als geklärt ist.
41 Hierzu Angwin/Larson/Mattu/Kirchner, Machine Bias – There’s software used across the country to predict future criminals. And it‘s biased against blacks. ProPublica v. 23. 5. 2016, https://www.propublica.org/article/machine-bias-risk-assessments-in-criminal-sentencing (zuletzt abgerufen am 05. 12. 2019). 42 Hierzu Kroll et al., Pennsylvania Law Review 2017, 633. 43 Hierauf kritisch verweisend Schwintowski, NJOZ 2018, 1601 (1603); Mayson, The Yale Law Journal, 2019, 2218 (2224); Algorithms and Human Rights, Council of Europe, 2018, S. 7. 44 Wohlgemerkt: Prädiktionen können „nur“ Wahrscheinlichkeiten und keine Gewissheiten liefern. 45 Wohlgemerkt: nicht bereits begangen hat. 46 Hierzu Oltmanns/Fuhlrott, NZA 2019, 1105 (1110).
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Dabei muss eine effektive Compliance-Organisation darauf bedacht sein, Verbandshierarchien nicht dergestalt zu reproduzieren, dass Führungskader de facto von der DCC-Supervision befreit werden, weil sie im Gegensatz zu Untergebenen besondere (Herrschafts-)Kenntnisse von den algorithmischen Abläufen haben, die ihnen sog. oracle attacks erlauben (also die menschliche Vorhersage digitaler Vorhersagen, um diese zu unterlaufen). Eine DCC, die nur die „kleinen Fische“ in den Blick nimmt und die „großen Fische“ aus selbigem verliert, wäre nicht im Sinne des effektiven Anhaltens eines Verbands zur Strafrechtstreue, darf der „Fisch doch nicht vom Kopf her stinken“ – bzw. ist doch bekanntlich der tone from the top entscheidend für die Compliance eines Verbands.47 Schließlich darf nicht übersehen werden, dass – den ursprünglich gegenläufigen Hoffnungen der Führungsebenen von Unternehmen zuwider – der pro forma-Aufbau eines Compliance-Management-Systems keine automatische Enthaftung des Verbands bzw. der Verbandsverantwortlichen nach sich zieht.48 Dies kommt nur dann in Betracht, wenn die Wirksamkeit der verbandsinternen Criminal Compliance bei der Prävention und Repression von compliance incidents feststeht. Mit Blick auf DCC bedeutet das freilich, dass die digitale Wirksamkeit von DCC-Systemen strafjustiziell überprüft werden wird – und dass Verbände rekursive Prognosen über diese strafjustiziellen Wirksamkeitsstudien vornehmen werden müssen, um ihr compliancespezifisches Haftungsrisiko einschätzen und einpreisen zu können. Deshalb muss die Forderung erhoben werden, dass im allseitigen Interesse beim Einsatz von DCC Rechtssicherheit über die (straf-)rechtlich notwendigen Wirksamkeitsund Intensitätsgrade von DCC geschaffen wird. Hierzu stehen die Debatten bestenfalls noch am Anfang. Allen Bedenken zum Trotz steht zu erwarten, dass sich die technischen und technikrechtlichen Risiken und Herausforderungen von DCC lösen oder zumindest abschwächen lassen sollten. In der Tat sind die Schwächen der Digitalisierung der Lebenswirklichkeit von heute der Motor für deren weiterreichende Digitalisierung von morgen49 – z. B. weil die Kompensation von biases in den Trainingsdatensätzen prädiktiver Algorithmen deren Weiterentwicklung Vorschub leistet, etwa indem Trainingsdatensätze von den besagten biases initial bereinigt oder sie in der Datenverarbeitung herausgerechnet werden. 2. Gesellschaftliche Risiken und Herausforderungen Schwerer wiegen daher die gesellschaftlichen Verwerfungen, die mit DCC einhergehen könn(t)en. Zuspitzen lassen sich diese auf die (nicht nur verbandsinterne, sondern allgemeine soziale) Normalisierung und Internalisierung eines post-panopti47
Vgl. nur Moosmayer, Compliance, 2015, Rn. 366 ff. m.w.N. Vgl. nur Schulz, Compliance-Management im Unternehmen, 2017, Rn. 58. 49 Hierzu Burchard, Jahrbuch für Recht und Ethik 27 (2019), S. 527 (545 ff.) = Normative Orders Working Paper 02/2019, S. 22 ff. 48
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schen Machtausübungs- und Freiheitsbegrenzungsmodus. Dieser ist ein zentraler Baustein der sich heute herausbildenden Überwachungsgesellschaft (wohlgemerkt: nicht Überwachungsstaat). Überdies basiert er auf dem Mythos vermeintlich objektiver und neutraler Technologie; ein Mythos, der theologische Züge aufweist, sozial überaus wirkmächtig ist und vergessen lässt, dass technologische Entwicklungen immer auch Ausdruck von sozialen Herrschaftsbeziehungen sind.50 DCC beruht entscheidend, wie oben deutlich wurde, auf smart data analytics, die mit personenbezogenen Big Data operiert. Big Data will aber zunächst gewonnen werden, wozu eine immer weiterreichende Überwachung, sei es am Arbeitsplatz oder darüber hinaus, der Compliance relevanten Personen innerhalb und außerhalb eines Verbands notwendig wird. Je weiter diese Überwachung greift, desto mehr obsiegt das Kontroll- oder Misstrauensparadigma. Mitarbeiter und Beschäftigte von Verbänden werden „folgerichtig“, und durchaus compliance-typisch, in erster Linie als Risiko geführt; und nicht als geschätzte und in ihrer Selbständigkeit zu fördernde Arbeitnehmer oder Führungskräfte, denen man normativ vertrauen sollte (und nicht schlicht muss, weil Kontrolle in jeder Hinsicht zu teuer ist). Bereits Luhmann lässt sich entnehmen, dass Überwachung in und durch Verbände zum Ausdruck bringt, dass Kontrolle über Vertrauen gestellt wird.51 Im Compliance-Jargon lässt sich das damit erklären (wohlgemerkt: nicht zwingend rechtfertigen), dass Verbände ihren Mitgliedern misstrauen müssen, weil erstere es zur Verhinderung von Haftungsrisiken nicht wagen dürfen, letzteren zu vertrauen. Dieser allgemeine Schwund an zwischenmenschlichem Vertrauen passt in eine Zeit, in der ganz allgemein zero trust-Gesellschaften gepredigt werden bzw. Vertrauen in Menschen durch Vertrauen in Technik ersetzt wird, um soziale Komplexitäten und Zukunftsunsicherheiten zu reduzieren.52 Damit geht ein weitergefasstes soziales Obsiegen des Sicherheits- über das Freiheitsdenken einher, was paradoxerweise im Gewande der freiheitlichen Verteidigung der Sicherheit (z. B. indem die Effektivierung des Rechtsgüter- in den Dienst des Grundrechtsschutzes gestellt wird, etwa um Anleger vor Insidertrading zu schützen) geschieht – und so neoliberale Werte bestärkt und diese als alternativlos53 hinstellt. Im Gegensatz zur unübersehbaren, gleichsam stets manifesten Überwachung im Panoptismus Foucaults54, verflüssigt55 sich diese im Rahmen von DCC und der dafür 50 Eingehend Burchard, Jahrbuch für Recht und Ethik 27 (2019), S. 527 (529 ff.) = Normative Orders Working Paper 02/2019, S. 2 ff. 51 Luhmann, Trust and Power, 1979, S. 90 ff., S. 179; weiterführend Taekke, Surveillance & Society 2011, 441 (441). 52 Hierzu auch Burchard, Jahrbuch für Recht und Ethik 27 (2019), S. 527 (537 ff.) = Normative Orders Working Paper 02/2019, S. 13 ff. – Vgl. auch Donick, Die Unschuld der Maschinen. Technikvertrauen in einer smarten Welt, 2019. 53 Zu dieser Alternativlosigkeit in anderem Kontext Brown, Constellations 2000, 208. 54 Beinahe heute bereits klassisch Foucault, Überwachen und Strafen, 1994, S. 251 ff. 55 Prägnant Bauman/Lyon, Liquid Surveillance, 2013, S. 9.
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notwendigen Datengewinnung. Verflüssigte Überwachung ist lediglich latent, tritt als Verwirklichung von Freiheit auf, erweitert scheinbar den Möglichkeitshorizont der Überwachten56 und spielt dabei mit der Exponierungslust57 vieler Mitmenschen, die Daten aus eigenem Antrieb sammeln und „gerne“ zur Verfügung stellen. Die für DCC notwendige Überwachung von Beschäftigten etc. im und durch einen Verband verharrt so in einem (nur theoretisch, nicht aber praktisch leicht einsehbaren) blinden Fleck.58 DCC kann daher als post-panoptisch eingeordnet werden;59 und in DCC reproduziert sich eine besondere Spielart des heutigen „Überwachungskapitalismus“60 im Verband. All dies dürfte zu einer (weiteren, bereits stark vorangeschrittenen) Normalisierung und Internalisierung eines post-panoptischen Überwachungsmodus führen. Als spezifisches neo-liberales Machtphänomen in die Welt tretend, sucht DCC zunächst die verbandsinterne und in der Folge auch die allgemeine soziale Konformität des Einzelnen (eben die Compliance zunächst des Mitarbeiters und dann des Bürgers) herzustellen. Ob all diese Transformationen gesellschaftlich und gesellschaftspolitisch wünschenswert sind und die Effektivierung des strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes durch DCC z. B. das Obsiegen des Kontroll- und Misstrauensparadigmas tragen, bedarf der breiteren Diskussion. Dies gilt umso mehr, als datenschutzrechtliche Ansprüche – z. B. gegen eine Vollüberwachung von Arbeitnehmern, die (allemal nach deutschem Denken) in den Kern der Menschenwürde eingreifen würde61 – wohl keine hinreichenden Schranken schaffen, um den durch DCC perpetuierten (also keineswegs dadurch in Frage gestellten, sondern vielmehr dadurch verfestigten) Machtasymmetrien zulasten der überwachten Mitarbeiter entgegenzuwirken. 3. Dogmatische Risiken und Herausforderungen Die im Vorstehenden angerissenen technischen, technikrechtlichen und sozialen Risiken und Herausforderungen bilden sich schließlich und wenig überraschend in besonderen dogmatischen Schwierigkeiten ab, die sich bei der Erfassung von DCC stellen und die die allgemeinen dogmatischen Schwierigkeiten bei der Konzeptualisierung von Criminal Compliance zuspitzen und verschärfen.
56
Vgl. Bauman/Lyon, Liquid Surveillance, 2013, S. 108. Vgl. Harcourt, Exposed – Desire and Disobedience in the Digital Age, 2015. 58 Aufschlussreich Chen, Employees say Google is trying to spy on them. That’ll be hard to prove. – What does spying mean when workplace surveillance is the norm? https://www.tech nologyreview.com/s/614623/google-spying-employees-calendar-extension-surveillance-work place-labor-law-nlra-nlrb/ (zuletzt abgerufen am 05. 12. 2019). 59 Im Überblick Caluya, Social Identities 2010, S. 621. 60 Zuboff, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, 2018. 61 Dies erkennt auch Rudkowski, NZA 2019, 72 (74). 57
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Dies beginnt bei der Privatisierung der Strafrechtspflege bzw. ihrer Überantwortung an Akteure jenseits der tradierten Strafverfolgungsorgane.62 Die Herausbildung von Normkonformität wird durch DCC in die Hand von Verbänden gelegt, deren Machtausübung durch eine post-panoptische Überwachung und Konformitätserziehung weder politisch direkt kontrollierbar wird noch demokratisch unmittelbar legitimiert ist. Dieser schleichende Übergang von Staatsaufgaben auf private Verbände steht hier zwar nicht im Zentrum der Kritik; letztere kann dadurch aber besonders plastisch vor Augen geführt werden. Strafprozessdogmatisch reißt DCC zudem die Grenzen zwischen Prävention und Repression ein und legt den Fokus auf ersteres. Das ist Ausdruck und Vorschein der heutigen Konstruktion umfassender Sicherheitsarchitekturen,63 die die (sehr deutsche) Abgrenzung zwischen Polizei- und Strafverfahrensrecht weitgehend hinfällig macht. Ferner werden klassische liberal-rechtsstaatliche Machtbegrenzungsstrategien geschleift. Die Unschuldsvermutung wird rechtsprinzipiell in Frage gestellt.64 Das Erfordernis eines Anfangsverdachts, der (staatliche) Ermittlungen an das Vorliegen bestimmter inkriminierender Tatsachen koppelt, verflüchtigt sich zusehends, wenn und soweit DCC (wie auch das staatlich predictive und Big Data policing) die zu überwachenden Personen gleichsam unter Generalverdacht stellt, sie also nicht länger als Bürger führt, sondern als zu bewertende Risiken. Und auch (rechts-)praktisch wird der Anfangsverdacht in einer post-panoptischen Überwachungsgesellschaft, die durch DCC im Verband reproduziert und perpetuiert wird, desto mehr marginalisiert, je mehr Big Data zur Verfügung steht; denn dadurch lassen sich jederzeit „irgendwelche“ Verdachtsmomente automatisch generieren.65 Schließlich steht auch der in dubio pro reo-Gedanke zur Diskussion, wenn und soweit DCC auf prädiktiven Wahrscheinlichkeitsberechnungen (z. B. dass ein Mitarbeiter ein Schmiergeld zahlen wird) beruht, weil in solchen Prädiktionen die berechtigten (menschlichen) Zweifel nicht länger einen konzeptionellen Stand haben. – Strafrechtsdogmatisch verschieben sich mit der durch DCC weiter beschleunigten Hinwendung zu Prädiktionen zudem, wie Harcourt herausgearbeitet hat, unsere grundlegenden Vorstellungen von gerechter Strafe.66 Nicht zuletzt deswegen, weil Strafe nicht mehr rück-, sondern vorausschauend (prädiktiv) ausgestaltet wird; und weil sich das zurückschauende Tat- in ein Täterstrafrecht wandelt, das vordringlich die (Un-)Gefährlichkeit der (potentiellen) Täter (im Fall von DCC: des Beschäftigen eines Verbands) in den Blick nimmt. – Man mag insofern zwar kritisch einwenden, dass diese im besten Sinne li62 Zu diesem „klassischen“ Einwand gegen Criminal Compliance und internal investigations etwa Greeve, StraFo 2013, 89. 63 Siehe zur heutigen Sicherheitsarchitektur Sieber, in: Tiedemann u. a. (Hrsg.), Vogel-GS, 2016, S. 351 (354 ff.). 64 Allg. zur Rolle der Unschuldsvermutung im Rahmen von Criminal Compliance und internal investigations vgl. Jahn, AnwBl 2013, 207; Sieber, in: Sieber/Mitsilegas/Mylonopoulos/Billis/Knust (Hrsg.), Alternative Systems of Crime Control, 2018, S. 3 (24 ff.). 65 Hierzu mit Beispielen Ferguson, Pennsylvania Law Review 2015, 327 (330). 66 Harcourt, Against Predictions, 2008, S. 173 ff.
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beralen, eben freiheitsverbürgenden Prinzipien in der Praxis vielfach nicht wirken und fruchten (z. B. wenn und weil unter dem Deckmantel eines de iure geltenden Tatstraf(prozess)rechts de facto täter- oder gar feindstrafrechtlich gehandelt wird). Mit der Erosion der besagten Prinzipien verflüchtigen sich dann freilich auch die Möglichkeiten, einen defizitären status quo prinzipienbasiert zu attackieren. Das schleift die Handhaben einer kritischen Dogmatik, insbesondere wenn und weil man gegen eine – wie man immer wieder hört – im guten Bürgerinteresse liegende technologische Effektivierung, Objektivierung, Neutralisierung des Rechtsgüterschutzes (durch DCC) antreten muss. Grundsätzlich mag man gegen diese dogmatischen Skizzen einwenden, dass sie das Strafrechtliche über das Gesellschafts- und Arbeitsrechtliche von DCC stellen. Und liegt es nicht im ureigensten Interesse und ist es nicht das ureigenste Recht des Arbeitgebers, seine Arbeitnehmer durch Weisungen und Kontrollen zur Normkonformität anzuhalten, um Haftungsrisiken zu vermeiden?67 Die aus der Diskussion von internal investigations bekannten Rationalitätenkonflikte68 zwischen Straf(prozess)recht einerseits und Gesellschafts- bzw. Arbeitsrecht andererseits werden mit DCC also auf das gesamte Criminal Compliance-Management ausgedehnt. Und wie bei den internal investigations ist es alles andere als geklärt,69 welchen dogmatischen Rationalitäten der Vorrang gebührt und ob die Abgrenzung dieser Rationalitäten (und damit dieser Rechtsgebiete) überhaupt noch Sinn ergibt, wenn wirtschaftliche Akteure vormals beim Staat monopolisierte Aufgaben wahrnehmen und sich ein hybrides bzw. amorphes Sicherheitsrecht herausbildet, das traditionelle dogmatische „Gewissheiten“ (z. B. darüber, was Strafe „ist“) fundamental in Frage stellt. DCC muss daher zugleich Grund und Anlass sein, um diese fundamentalen herrschaftstheoretischen Fragen rechtsdogmatisch in Angriff zu nehmen. Insbesondere ist zu klären, wie dem Einzelnen hinreichende Sicherungen seiner Freiheit gewährt werden können, namentlich ob diese Freiheit als originäre Freiheit70 zu denken oder ob sie durch die verinnerlichte Macht des (Post-)Panoptismus vorgegeben und dadurch bereits immanent beschränkt ist.71
IV. Ausblick Digital Criminal Compliance verheißt große Chancen und Potentiale, impliziert jedoch auch etliche tiefgreifende Risiken und Herausforderungen – sei es auf gesellschaftlicher, rechtstheoretischer oder rechtsdogmatischer Ebene. Der vorliegende 67
Dazu allgemein Maschmann, NZA-Beilage 2012, 50 (50). Hierzu etwa Ponßen, JZ 2019, 778. Illustrativ auch Michalke, ZIS 2018, 334 (334). 69 Vgl. nur Nestler, in: Knierim u. a. (Hrsg.), Internal Investigations. Ermittlungen im Unternehmen, 2016, S. 3. 70 So präskriptiv (und natürlich nur exemplarisch) Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Metaphysik der Sitten, Erster Teil, 2018 (1797), S. 47. 71 So analytisch insbes. Foucault, Überwachen und Strafen, 1994, S. 260. 68
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Beitrag konnte dies nur sehr bündig herausstellen. Wer wie ich das Privileg hatte, Ulrich Sieber wissenschaftlich in action zu erleben, wird wissen, dass er stets das systematische Ganze im Blick hat. Gleichwohl sei ihm die vorliegende Skizze von DCC hier in Hochachtung und in der Hoffnung zugeeignet, dass DCC ein Thema behandelt, das es – wie viele von ihm entdeckte und geprägte Themen – heute zu diskutieren gilt, bevor uns die aktuellen Entwicklungen morgen vor vollendete Tatsachen stellen.
Strafbares Betreiben von sog. Darknetplattformen Von Jörg Eisele
I. Einleitung Mit Ulrich Sieber besteht eine wissenschaftliche Verbindung nicht nur als Redakteur des Inlandsteils der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (ZStW), für die er aktiv als Mitherausgeber tätig ist, sondern auch als stellvertretender Vorsitzender der Association Internationale de Droit Pénal (AIDP), deren Vorsitzender der Jubilar ist. Darüber hinaus besteht mit dem Europäischen Strafrecht und dem Informationsstrafrecht auch ein großer Überschneidungsbereich in den Forschungsschwerpunkten. Vor allem das Informationsstrafrecht hat in jüngerer Zeit eine starke Renaissance erfahren, was sich in verschiedenen Gesetzgebungsvorhaben der aktuellen Legislaturperiode widerspiegelt.1 Breitere Aufmerksamkeit haben zwei Gesetzentwürfe2 „für das Betreiben von internetbasierten Handelsplattformen für illegale Waren und Dienstleistungen“ erfahren, da diese ihren Grund auch in dem Attentat im Münchner Olympia-Einkaufszentrum aus dem Jahre 2016 finden. Da diese Entwürfe neben spezifischen informationsstrafrechtlichen Fragen auch ganz grundsätzliche Probleme aufwerfen, sollen diese im Folgenden näher analysiert werden.
II. Das Münchner Attentat Am 22. Juli 2016 tötete ein 18-Jähriger im Rahmen eines Attentats beim Münchner Olympia-Einkaufszentrum neun Menschen und verletzte weitere fünf durch 1
Vgl. etwa den Referentenentwurf des BMJV vom 4. September 2019 eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Modernisierung des Schriftenbegriffs und anderer Begriffe sowie Erweiterung der Strafbarkeit nach den §§ 86, 86a, 111 und 130 des Strafgesetzbuches bei Handlungen im Ausland; vgl. https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Doku mente/RefE_Schriftenbegriff.pdf;jsessionid=852A1E57743C919AD4BFDBDD3A15CCF9.2_ cid289?__blob=publicationFile&v=2 (Stand: 08. 09. 2020) oder den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs – Strafbarkeit der Bildaufnahme des Intimbereichs (sog. Upskirting), BR-Drs. 443/19. 2 Gesetzentwurf des Bundesrates, BT-Drs. 19/9508; Referentenentwurf vom 27. 3. 2019, vgl. http://intrapol.org/wp-content/uploads/2019/04/IT-Sicherheitsgesetz-2.0-_-IT-SiG-2.0.pdf (Stand: 08. 09. 2020).
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Schüsse. Bei der anschließenden Festnahme tötete er sich selbst. Die Tatwaffe, eine Pistole vom Typ Glock 17 mit über 500 Schuss Munition, hatte er bei einem Waffenhändler im sog. „Darknet“ erworben. Der Verkauf wurde über die Plattform „Deutschland im Deep Web“ abgewickelt, die von einem Administrator unter dem Pseudonym „luckyspax“ betrieben wurde. Die Plattform enthielt verschiedene Unterkategorien, wie „Politik und Wirtschaft“ oder „Computer, Technik und Multimedia“, die vornehmlich dem reinen Informationsaustausch dienten, daneben aber auch die Kategorie „Spackentreff“ mit den Unterkategorien „Betrug und Täuschung“, „Waffen (Herstellung, Vertrieb …)“ und die Kategorie „Drogen“. Der Verkäufer der späteren Tatwaffe wurde vom Landgericht München I wegen fahrlässiger Tötung in neun Fällen, fahrlässiger Körperverletzung in fünf Fällen sowie Verstößen gegen das KrWaffG und das WaffG zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt.3 Das Landgericht Karlsruhe verurteilte den Betreiber der Plattform Ende des Jahres 2018 ebenfalls wegen fahrlässiger Tötung in neun Fällen, fahrlässiger Körperverletzung in fünf Fällen sowie Beihilfe zu den Waffendelikten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren.4 Trotz der nicht unerheblichen Strafe für den Plattformbetreiber wird seitens der Politik Bedarf gesehen, einen eigenständigen Straftatbestand „für das Betreiben von internetbasierten Handelsplattformen für illegale Waren und Dienstleistungen“ zu schaffen. Bereits die 88. Justizministerkonferenz sprach sich für eine erleichterte Strafverfolgung von schweren Straftaten im Darknet aus.5 Sodann sieht auch der Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD die Einführung einer Strafbarkeit für das Betreiben krimineller Infrastrukturen, wie etwa das Betreiben eines Darknet-Handelsplatzes für kriminelle Waren und Dienstleistungen, vor.6 Inzwischen wurde ein entsprechender Gesetzentwurf vom Bundesrat und ein Referentenentwurf vom Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat vorgelegt.7 Im Folgenden möchte ich in einem ersten Schritt untersuchen, ob überhaupt Strafbarkeitslücken bestehen, bevor sodann die Vorschläge zur Schaffung eines solchen Straftatbestandes kritisch gewürdigt werden sollen und auf alternative Lösungen geblickt werden soll.
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LG München I BeckRS 2018, 5795. LG Karlsruhe StV 2019, 400 ff. 5 TOP II.2, Erleichterung der Verfolgung schwerer Straftaten im Darknet; https://jm.rlp.de/ fileadmin/mjv/Jumiko/II.02_Erleichterung_Verfolgung_Straftaten_Darknet_ohne_Abstim mungsergebnis.pdf (Stand: 08. 09. 2020). 6 Koalitionsvertrag 19. Legislaturperiode, 2018, S. 128; dazu Greco, ZIS 2019, 435; Rückert/Wüst, KriPoZ 2018, 247 (251). 7 Vgl. oben Fn. 2. 4
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III. Strafbarkeit des Betreibers de lege lata 1. Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung Geht man davon aus, dass der Münchner Attentäter seine Taten voll verantwortlich beging, so stellt sich zunächst die Frage, ob der Verkäufer der Waffe überhaupt wegen fahrlässiger Tötung gemäß § 222 StGB bestraft werden kann. Denn insoweit könnte die objektive Zurechnung wegen eigenverantwortlichen Dazwischentretens Dritter – nämlich des Attentäters – zu verneinen sein. Und dies müsste dann konsequenterweise auch für den Betreiber der Darknet-Plattform gelten. Obgleich solche „Waffenverkaufsfälle“ in der Literatur seit jeher streitig diskutiert werden, hat das Landgericht München I – soweit ersichtlich – erstmals über die Strafbarkeit des Verkäufers entschieden. Teilweise wird im Schrifttum beim Verkauf von Waffen, aber auch bei Verstößen gegen Aufbewahrungspflichten mit dem Verantwortungsprinzip argumentiert und die objektive Zurechnung bei einem voll verantwortlich handelnden Dritten verneint, weil sich nicht die spezifische Gefahr des Waffenverkaufs, sondern eine erst vom Dritten beim Einsatz der Waffe eigenverantwortlich begründete Gefahr im Tod des Opfers realisiert habe, sodass das Dazwischentreten des Dritten den Zurechnungszusammenhang zwischen Verkauf und Tod unterbreche.8 Das LG München I verweist zur Begründung seiner abweichenden Position darauf, dass der BGH im Fall des Amokschützen von Winnenden die Strafbarkeit des Vaters wegen fahrlässiger Tötung schon wegen unzureichender Aufbewahrung der Waffe gebilligt habe und daher erst recht der Verkäufer einer Waffe verantwortlich sei.9 Allerdings muss man sehen, dass der BGH in diesem Fall gerade auf die psychischen Probleme des Amokschützen und damit eine im Raum stehende fehlende Eigenverantwortlichkeit hingewiesen hatte.10 Blickt man freilich auf den Schutzzweck der Vorschriften des Waffenrechts, so ist das Ergebnis dennoch zutreffend und die objektive Zurechnung und damit die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Verkäufers zu bejahen.11 Die Vorschriften des Waffenrechts möchten gerade verhindern, dass rechtswidrig erworbene Waffen vom Käufer zur Schädigung Dritter eingesetzt werden.12 Daraus folgt dann auch, dass die Verurteilung des Betreibers der Plattform wegen fahrlässiger Tötung überzeugend ist. Denn insoweit gilt hinsichtlich des Schutzzwecks der waffenrechtlichen Vorschriften konsequenterweise nichts ande-
8 Ceffinato, JuS 2017, 403 (407 f.); Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 2017, § 4 Rn. 85. 9 LG München I BeckRS 2018, 5795 Rn. 670. 10 BGH JR 2013, 34 (Amoklauf von Winnenden). 11 LG Karlsruhe StV 2019, 400 (404) und dazu Eisele, JuS 2019, 1122 ff.; LG München I BeckRS 2018, 5795 Rn. 678; vgl. ferner Schünemann, GA 1999, 207 (223 f.). 12 Bejahend Heinrich, Strafrecht Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2019, Rn. 254; Mitsch, ZJS 2011, 128 (130); ders., JuS 2013, 20 (22).
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res, zumal das LG Karlsruhe festgestellt hatte, dass sich der Betreiber wegen Beihilfe zu den waffenrechtlichen Straftaten des Verkäufers strafbar gemacht hat.13 2. Beihilfestrafbarkeit Gerade die eben genannte Beihilfestrafbarkeit verdient im Folgenden nähere Betrachtung, da sie für die Qualifizierung der Plattform Bedeutung erlangt. a) Sog. neutrale Beihilfe Es geht schlicht um die Frage, ob das Betreiben einer solchen Plattform nicht eine sog. neutrale Beihilfe darstellt, die von vornherein aus der Beihilfestrafbarkeit auszuklammern ist.14 Der BGH stellt bekanntlich im Anschluss an Roxin15 für eine strafbare Beihilfe darauf ab, ob das Handeln des Haupttäters ausschließlich darauf abzielte, eine strafbare Handlung zu begehen und der Hilfeleistende dies wusste oder er wenigstens das Risiko eines strafbaren Verhaltens erkannte und dieses derart hoch war, dass er sich mit seiner Hilfeleistung die Förderung eines erkennbar tatgeneigten Täters angelegen sein ließ.16 Auf Grundlage dieser Formel kann man mit dem LG Karlsruhe eine Strafbarkeit wegen Beihilfe zu den waffenrechtlichen Delikten aufgrund der bloßen Errichtung und des Betreibens der Plattform verneinen, weil diese jedenfalls in ihrer Gesamtfunktion primär dem Meinungsaustausch diente und nicht der Förderung erkennbar tatgeneigter Täter.17 Jedoch begründet sodann jedenfalls die Schaffung der Unterkategorie „Waffen“ mit Foren für den Verkauf eine Förderung des illegalen Waffenhandels, die über eine neutrale Beihilfe hinausgeht. Denn die Nutzung erfolgte nur für registrierte Personen, nur anonym und nur bei Bezahlung mit der virtuellen Währung Bitcoin, sodass illegale Verkäufe ersichtlich verschleiert werden sollten.18 Auch der notwendige Gehilfenvorsatz ist zu bejahen, da der Betreiber wusste, dass er damit Waffenhandel ohne die erforderliche Erlaubnis förderte. Hingegen ist eine Beihilfe zu Tötungsdelikten regelmäßig abzulehnen, da sich Vorsatz zur Tötung von Menschen kaum erweisen lassen wird, da der illegale Waffenkauf aus ganz unterschiedlichen Motiven erfolgen kann.19 13
Sogleich III.2. Eisele, in: Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, Strafrecht Allgemeiner Teil, 12. Aufl. 2016, § 26 Rn. 111 ff. 15 LK-Roxin, Bd. I, 10. Aufl. 1985, § 27 Rn. 19; siehe auch Roxin, FS Miyazawa, 1995, 501 (515). 16 BGHSt 46, 107 (112); ferner BGH NStZ 2000, 34; NJW 2001, 2409 (2410). 17 LG Karlsruhe StV 2019, 400 (401). 18 LG Karlsruhe StV 2019, 400 (402); Safferling/Rückert, in: Analysen und Argumente, 2018, Ausgabe 291, 1 (10); hinzu kam im Fall des LG Karlsruhe, dass der Betreiber das konkrete Angebot erneut einstellte. 19 Vgl. auch LG Karlsruhe StV 2019, 400 (402); näher zur hier nicht zu vertiefenden Vorsatzfrage Greco, ZIS 2019, 435 (443 ff.). 14
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b) Haftungsprivilegierungen nach TMG Hinsichtlich der Frage einer Beihilfestrafbarkeit sind zudem die Regelungen des Telemediengesetzes über die privilegierte Haftung von Providern zu beachten. Nach § 10 S. 1 Nr. 1 TMG sind sog. Hosting-Provider für fremde Informationen, die sie für einen Nutzer speichern, nicht verantwortlich, sofern sie keine Kenntnis von der rechtswidrigen Handlung oder der Information haben. Privilegiert wird demgemäß das Anbieten von Speicherplatz.20 Dabei ist anerkannt, dass auch Betreiber von Darknet-Plattformen als Hosting-Provider einzustufen sein können.21 Dies folgt bereits daraus, dass eine Darknet-Plattform keineswegs einen rechtswidrigen Zweck verfolgen muss. Damit ist beim Betreiber aber positive Kenntnis von der rechtswidrigen Information, die ein Nutzer eingestellt hat, erforderlich. Bloßer Eventualvorsatz genügt nicht.22 Der Anbieter muss nach h.M. zumindest die genaue Fundstelle der rechtswidrigen Information kennen.23 Nur allgemeine Hinweise auf die Speicherung rechtswidriger Inhalte lassen die Haftungsprivilegierung nicht entfallen.24 Eine Pflicht zur (proaktiven) Suche nach rechtswidrigen Inhalten – etwa mit Hilfe eines Filtersystems – besteht gemäß § 7 Abs. 2 TMG nicht.25 Umgekehrt muss sich die Kenntnis aber auch nur auf die von dem Dritten eingestellte Information, nicht aber auf später offline begangene Straftaten beziehen, die als Folge eines Angebots auf der Plattform begangen werden. Dass insoweit regelmäßig nur eine Strafbarkeit des Betreibers wegen Unterlassens der Löschung des Verkaufsangebots in Betracht kommen soll,26 weil zum Zeitpunkt der Einrichtung der Plattform entsprechende Inhalte noch nicht vorhanden seien, ist freilich nicht zutreffend, wenn die Plattform von Anfang an primär zu kriminellen Zwecken errichtet wurde27 oder wie im Fall des Münchner Attentäters der 20
So ausdrücklich Bode, ZStW 127 (2016), 937 (981). Safferling/Rückert, in: Analysen und Argumente, 2018, Ausgabe 291, 1 (11); ferner Ceffinato, JuS 2017, 403 (407). 22 BT-Drs. 14/6098, 25. 23 Eisele, Computer- und Medienstrafrecht, 2013, § 4 Rn. 17; Kudlich, JA 2002, 798 (801); ferner Fischer, 67. Aufl. 2020, § 184 Rn. 31: positive Kenntnis einer konkreten Internetadresse; näher Paul, Primärrechtliche Regelungen zur Verantwortlichkeit von Internetprovidern aus strafrechtlicher Sicht, 2005, S. 155 ff. 24 Eisele, Computer- und Medienstrafrecht, 2013, § 4 Rn. 17; Gercke/Brunst, Internetstrafrecht, Rn. 600. 25 EuGH Urt. v. 16. 2. 2012 – C-360/10, Abl. EU 2012 C 98, 6 f. Nr. 33 ff.; LG Oldenburg NStZ 2011, 655 (656); Sieber, in: Hoeren/Sieber/Holznagel, Hdb. Multimedia-Recht, 52. Aufl. 2020, Kap. 19.1. Rn. 53. 26 Ceffinato, JuS 2017, 403 (405); Safferling/Rückert, in: Analysen und Argumente, 2018, Ausgabe 291, 1 (10). 27 So formuliert der BGH bei Urheberverletzungen umgekehrt: „Das Geschäftsmodell der Beklagten ist nicht von vornherein auf Rechtsverletzungen angelegt. Das Berufungsgericht hat ohne Rechtsfehler angenommen, dass legale Nutzungsmöglichkeiten des Dienstes der Beklagten, für die ein beträchtliches technisches und wirtschaftliches Bedürfnis besteht, in gro21
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Betreiber die entsprechende illegale Kategorie schafft und das entsprechende Verkaufsangebot nach Umstrukturierungsmaßnahmen auf der Plattform erneut postet bzw. aktualisiert.28 In solchen Fällen kann man die Haftungsprivilegierung bereits nach § 7 Abs. 1 TMG versagen, soweit sich der Anbieter die kriminellen Inhalte durch bewusste Übernahme zu eigen macht,29 oder jedenfalls die Privilegierung des § 10 TMG verneinen, weil über das privilegierte Hosting hinaus weitere Handlungen des Betreibers hinzukommen. Auch wird man positive Kenntnis voraussetzen können, wenn die Plattform primär kriminellen Zwecken dient.30 Festzuhalten bleibt damit, dass die Haftungsprivilegierung jedenfalls dann nicht eingreift, wenn es sich um eine auf Straftaten zielende Plattform handelt oder der Betreiber aktiv auf die Angebote einwirkt.
IV. Eigenständige Strafbarkeit des Betreibers de lege ferenda 1. Inhaltliche Grundzüge der Entwürfe Die eingangs bereits angesprochenen Reformvorschläge möchten mit einem neuen § 126a StGB bereits das Anbieten einer internetbasierten Leistung, deren Zweck oder Tätigkeit auf die Begehung von Straftaten gerichtet ist, pönalisieren. Mit Verweis auf das Bundeskriminalamt wird davon ausgegangen, dass es ca. fünfzig entsprechende Plattformen im Internet gibt. Zwischen dem Entwurf des Bundesrates und des Referentenentwurfs des BMI bestehen hinsichtlich der tatbestandlichen Voraussetzungen vier größere Unterschiede, wobei der Entwurf des Bundesrates enger gefasst ist als der Referentenentwurf: Erstens erfasst der Bundesratsentwurf nur solche internetbasierten Leistungen, deren Zugang beschränkt ist. Zweitens zielt er nur auf bestimmte Katalogtaten. Drittens sieht der Referentenentwurf des BMI zum Ausgleich seiner weiten Strafbarkeit eine Ausschlussklausel für den Fall vor, dass der Zweck der Straftatbegehung nur ein untergeordneter ist oder ausschließlich der Erfüllung rechtmäßiger dienstlicher oder beruflicher Pflichten dient. Und viertens sieht der Referentenentwurf als Qualifikation neben der Gewerbsmäßigkeit auch das Handeln als Bandenmitglied vor, worauf im Folgenden freilich nicht weiter eingegangen werden soll. Inhaltlich geht es jeweils um internetbasierte Leistungen, die darauf ausgerichtet sind, Straftaten zu ermöglichen. Ausgeklammert sein sollen hingegen legale Plattformen, die von den Nutzern lediglich im Einzelfall zu Straftaten missbraucht werden, indem etwa verbotswidrige Käufe abgewickelt oder Betrugsstraftaten begangen werßer Zahl vorhanden und üblich sind.“ Vgl. BGH ZUM-RD 2013, 514 (517); Bode, ZStW 127 (2016), 937 (984 f.). 28 Zur aktiven Begehung Greco, ZIS 2019, 435 (440). 29 Vgl. nur BGH NJW 2008, 1882 (1883 f.); Altenhain, AfP 1998, 457 (459); Greco, ZIS 2019, 435 (448). Haft/Eisele, JuS 2001, 112 (116). 30 Vgl. auch Greco, ZIS 2019, 435 (448).
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den. Eine vergleichbare Offline-Strafbarkeit besteht nicht. Lediglich einige Sondervorschriften, wie etwa § 29 Abs. 1 Nr. 10 BtMG, der die Verschaffung der Gelegenheit zum unbefugten Erwerb oder zur unbefugten Abgabe von Betäubungsmitteln erfasst, pönalisieren entsprechende Verhaltensweisen.31 Für solche Fälle soll dann übrigens § 126a StGB-E im Wege der formellen Subsidiarität zurücktreten. 2. Begründung der Entwürfe und Kritik Die fast gleichlautenden Begründungen weisen zunächst darauf hin, dass mangels hinreichender Festigkeit der Struktur die Strafbarkeit wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung nach § 129 StGB ausscheiden wird.32 Eine Beihilfe des Betreibers i.S.d. § 27 StGB sei oft nicht nachweisbar, da die Kommunikation verschlüsselt sei und diese auch teilweise vollautomatisiert ablaufe. Auch werde die Beihilfe dem aktiven Charakter der Tathandlung nicht gerecht. Dies ist aber schon deshalb nicht überzeugend, weil es sich erstens nicht um eine neutrale Beihilfe handelt und zweitens die Beihilfestrafbarkeit gerade an die aktive Schaffung der Plattformstrukturen anknüpft, sodass nicht nur von einem unterlassenen Löschen auszugehen ist.33 Hinsichtlich Waffen- und Betäubungsmitteldelikten lässt sich zudem häufig eine Beihilfe annehmen und auch nachweisen, da die Betreiber jedenfalls in der Vergangenheit häufig zur Kooperation mit den Strafverfolgungsbehörden bereit waren, um durch Aufklärungshilfe in den Genuss der Strafmilderung des § 46b StGB zu gelangen. In der Praxis wird in Einzelfällen sogar Mittäterschaft zwischen Verkäufer und Plattformbetreiber angenommen, wenn der Betreiber als Treuhänder bei den Zahlungen fungiert und er aufgrund einer nicht unerheblichen Provision auch ein Tatinteresse besitzt.34 Und schließlich kommt bei Taten Dritter, die mit einem illegal erworbenen Gegenstand begangen werden, auch eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit in Betracht.35 Soweit hinsichtlich einiger der im Bundesratsentwurf genannten Taten eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit nicht besteht, ist dies kein durchschlagender Einwand, da gerade hinsichtlich der unmittelbar beim Verkauf begangenen Katalogtaten häufig eine Beihilfe anzunehmen sein wird und in Fällen, in denen gar keine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit angedroht ist, das Unrecht der Taten ohnehin bereits geringer ist, so dass kein Strafbedürfnis hinsichtlich eines vorgelagerten Betreibens besteht. Ernsthafte Straf-
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Vgl. auch § 52 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 lit. c WaffG, da nach § 1 Abs. 4 WaffG i.V.m. Anlage 1, Abschnitt 2 Nr. 9 auch die Vermittlung des Erwerbs, des Vertriebs oder des Überlassens von Waffen ein Handeltreiben darstellt; vgl. ferner §§ 184b Abs. 1 Nr. 1 Var. 2 und 184c Abs. 1 Nr. 1 Var. 2 StGB für das Zugänglichmachen von Kinderpornografie; vgl. auch Bachmann/Arslan, NZWiSt 2019, 241 (243). 32 BT-Drs. 19/9508, S. 10 ff. 33 Vgl. oben III.2.b). 34 Gegen eine Mittäterschaft Ceffinato, JuS 2017, 403 (407 f.); Greco, ZIS 2019, 435 (441); Safferling/Rückert, in: Analysen und Argumente, 2018, Ausgabe 291, 1 (10). 35 Vgl. oben III.1.
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barkeitslücken bestehen damit nicht.36 Auch das Argument, dass die Betreiber überwiegend im Ausland sitzen und daher nicht ermittelt werden können, vermag kaum zu überzeugen, da dies selbstverständlich auch für einen vorgelagerten Straftatbestand gelten würde. Belegt wird dies dadurch, dass parallel zu einer solchen Strafvorschrift eine deutliche Ergänzung des § 5 StGB geplant ist, um überhaupt zu einer Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts zu gelangen.37 Ferner muss man sehen, dass die geplante Vorschrift inhaltlich auch gar keine Lücken hinsichtlich der Beteiligung an anderen Straftaten schließt, sondern allein das Betreiben der Plattform mit einer weiten Vorverlagerung der Strafbarkeit als abstraktes Gefährdungsdelikt pönalisieren soll. Das Unrecht der später begangenen Taten ist nach der Konzeption beider Entwürfe gerade unerheblich, was sich in einem recht geringen Strafrahmen widerspiegelt. Daher verwundert es auch nicht, dass es nicht um den Schutz derjenigen Rechtsgüter geht, die durch die nachfolgend begangenen Taten Dritter betroffen sind. Diffuses Schutzgut soll vielmehr die öffentliche Sicherheit und Ordnung sein, da einem unbegrenzten Adressatenkreis kriminelle Waren und Dienstleistungen zugänglich gemacht werden.38 Beide Vorschläge sind letztlich deutlich zu weit gefasst. Mag auch das Bundesverfassungsgericht trotz der unscharfen Fassung des Tatbestandes diesen im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 GG noch billigen, so bestehen doch Bedenken hinsichtlich des Schuldprinzips.39 Insoweit ist nämlich zu beachten, dass die Vorschläge auch legale Handlungen erfassen. „Internetbasierte Leistungen“ werden nicht nur auf Plattformen dargeboten, vielmehr stellen auch Knotenpunkte zum Austausch der Daten oder Anonymisierungsdienste solche Leistungen dar, sodass sich schnell die Frage nach einem Eventualvorsatz der Betreiber stellen könnte, wenn diese wissen, dass ihre Dienste zu Straftaten genutzt werden (können).40 Die Verwendung des sog. Tor-Browsers für den Zugang zum Darknet, der auf dem Mozilla-Firefox aufbaut, ist ebenfalls legal und bietet gerade in autoritären Staaten oftmals die einzige Möglichkeit einigermaßen sicher zu kommunizieren.41 Dass dessen Verwendung sodann vom Bundesratsentwurf bereits als „technische Vorkehrung“ im Sinne des Tatbestandes eingestuft wird,42 verkennt die technischen Gegebenheiten, da dieser von jedermann rechtmäßig binnen kürzester Zeit auf dem Rechner installiert werden kann. Ein ernsthaftes Zugangshindernis kann darin nicht gesehen werden, sodass der Tatbestand weitgehend leerlaufen würde. Die Kritik an einer zu weiten Fassung 36
So auch Bachmann/Arslan, NZWiSt 2019, 241 (244); Greco, ZIS 2019, 435 (448 f.). § 5 Nr. 10b soll lauten: „Anbieten von Leistungen zur Ermöglichung von Straftaten (§ 126a StGB), wenn sich die angebotene internetbasierte Leistung auf die Ermöglichung von rechtswidrigen Taten im Inland bezieht“. 38 BT-Drs. 19/9508, S. 11. 39 Dieses ist aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG und dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG abzuleiten. 40 Greco, ZIS 2019, 435 (446 f.). 41 Zu den technischen Hintergründen näher Greco, ZIS 2019, 435 (436 ff.). 42 Vgl. BT-Drs. 19/9508, S. 11. 37
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betrifft dann aber auch gerade den Gesetzentwurf des BMI, der auf die Nennung spezifischer Straftaten überhaupt verzichtet und eine sehr unscharf gefasste Bagatellklausel enthält. Der kriminelle Zweck kann gerade nicht – wie es sich die Entwürfe vorstellen43 – in Anlehnung an die kriminelle Vereinigung nach § 129 StGB bestimmt werden, denn dort beruht die Zwecksetzung auf der Willensübereinstimmung der Beteiligten zur Begehung von Straftaten. Vielmehr müsste hier § 202c Abs. 1 Nr. 2 StGB aus dem Computerstrafrecht Vorbild sein. Dort werden Computerprogramme erfasst, deren Zweck die Begehung einer Straftat nach § 202a oder § 202b StGB ist. Insoweit kommt es nach h.M. auf eine „verobjektivierte“ Zwecksetzung an, wobei nicht allein der Wille des Betreibers maßgeblich ist.44 Zudem muss man sehen, dass der kriminelle Zweck der Plattform leicht dadurch umgangen werden kann, dass ein großes legales Umfeld um einzelne kriminelle Kategorien gebaut wird. Wenn man aber schon einen Straftatbestand schafft, müssen gerade einzelne kriminelle Zwecke, die bewusst vom Betreiber angelegt sind, ebenfalls die Strafwürdigkeit begründen. An diesem Punkt sind die Entwürfe also sogar zu eng. Die Plattform „Deutschland im Deep Web“, über die der Waffenkauf im Münchner Fall abgewickelt wurde, war – wie bereits erwähnt – ganz überwiegend ein Kommunikationsforum mit legalen Inhalten; Unterstrukturen zu kriminellen Zwecken waren eher beiläufig vorhanden. Beide Gesetzentwürfe würden diesen Fall erstaunlicherweise nicht erfassen. Beim Entwurf des BMI würde wohl die Ausschlussklausel des § 126a Abs. 4 Nr. 1 StGB greifen.
V. Fazit und Diskussionsvorschlag Aus meiner Sicht bedarf es aufgrund der genannten Kritik und mangels entscheidender Strafbarkeitslücken eines solchen Straftatbestandes nicht. In Wahrheit würde dieser vor allem dazu dienen, bei Diensten jeder Art zügig einen Anfangsverdacht hinsichtlich einer Tat nach § 126a StGB zu begründen, um dann mit weiteren strafprozessualen Maßnahmen breitflächig ermitteln zu können. Erfolgsversprechender erscheinen einzelne, ergänzende prozessuale Maßnahmen. So sieht der Bundesratsentwurf zu Recht eine Ausdehnung der Postbeschlagnahme vor. Denn während die Kommunikation und die Bezahlung mittels Bitcoin anonymisiert im Netz erfolgen können, muss die Lieferung der Gegenstände, soweit es sich nicht um digitale Hackertools usw. handelt, offline per Paket erfolgen. Seit langem weisen die Strafverfolgungsbehörden darauf hin, dass dies der vielversprechendste Ansatz ist. Allerdings ist § 99 StPO hinsichtlich seiner Voraussetzungen umstritten. Hier sollte in der Tat geregelt werden, dass den Strafverfolgungsbehörden auch Auskünfte über noch 43
BT-Drs. 19/9505, S. 11; Referentenentwurf BMI vom 27. 3. 2019; vgl. http://intrapol.org/ wp-content/uploads/2019/04/IT-Sicherheitsgesetz-2.0-_-IT-SiG-2.0.pdf, S. 79. 44 Vgl. BT-Drs. 16/3656, S. 12; BVerfG ZUM 2009, 745 f.; Eisele, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, § 202c Rn. 4.
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nicht ein- und vor allem bereits ausgelieferte Postsendungen erteilt werden müssen.45 Ferner muss diskutiert werden, inwieweit die Strafverfolgungsbehörden Zugriff auf Accountdaten der Nutzer erhalten und ggf. eine kriminelle Plattform zum Zwecke der Strafverfolgung übernehmen und betreiben dürfen. Der Entwurf des BMI sieht hier mit § 163g StPO insoweit eine Regelung vor, die jedoch deutlich zu weit geraten ist und hinsichtlich des Selbstbelastungsverbots großen Bedenken ausgesetzt ist. Möchte man trotz der genannten Bedenken einen neuen Straftatbestand schaffen, so sollte dieser die zentralen Fälle, aber auch nur diese, erfassen. Insoweit wäre folgende Fassung vorzuschlagen: Wer als Telemediendiensteanbieter eine Plattform im Internet betreibt, die ihrem Zweck nach beim Handel von Waren oder Dienstleistungen insgesamt oder in einzelnen Teilen darauf gerichtet ist, Straftaten Dritter nach Abs. 2 zu ermöglichen oder zu fördern (enger: Vorschub zu leisten), wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist. Rechtswidrige Taten im Sinne des Satzes 1 sind […]. Um von vornherein Anbieter – wie Anonymisierungsdienste oder Knotenpunktbetreiber – aus der Strafbarkeit auszunehmen, sollte diese auf das Betreiben einer Plattform beschränkt werden. Dieser Begriff erfährt schon deshalb eine gewisse Präzisierung, da er in § 1 Abs. 1 Netzwerkdurchsetzungsgesetz Verwendung findet. Ferner sollten aus diesem Grund nur Plattformen erfasst werden, die als Marktplätze dem Handel von Waren und Dienstleistungen dienen. Um eine Umgehung zu verhindern und um Handlungen wie beim Münchner Attentat zu erfassen, müssten aber auch einzelne kriminelle Unterstrukturen der Plattform einbezogen werden. Zudem sollten entsprechend dem Bundesratsentwurf nur bestimmte gravierende rechtswidrige Taten erfasst werden. Ungereimt ist insoweit derzeit etwa, dass die einfache Datenveränderung nach § 303a StGB erfasst wird, während die Dienstleistung eines Auftragskillers, der eine Tat nach § 212 oder § 211 StGB begehen soll, keine Strafbarkeit begründet, was freilich die grundsätzlichen Schwierigkeiten bei der Fassung eines solchen Tatbestandes erneut verdeutlicht. Letztlich könnte man darüber nachdenken, nur das Vorschubleisten zu bestimmten Straftaten zu erfassen, um eine Konnexität zwischen Betreiben der Plattform und den nachfolgenden Taten herzustellen. Insoweit könnte § 180 Abs. 2 StGB Vorbild sein, der bei Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger das Vorschubleisten durch Vermittlung erfasst.46 Politisch dürfte eine solche auf das Unrecht der begangenen Straftaten bezogene Tatbestandsfassung, die rechtsstaatlich zu begrüßen wäre, vermutlich wenig Anklang finden. Denn das Vorschubleisten ist wiederum mit einem entsprechenden erhöhten Tatnachweis verbunden. Möchte man davon absehen, gelangt man freilich wieder zu den grundlegenden Einwänden gegen eine solche Vorschrift zurück.
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Näher BT-Drs. 19/9508, S. 14. Zum Vorschubleisten Eisele, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, § 180 Rn. 6.
Vom Werkzeug zum Partner? Zum Einfluss intelligenter Artefakte auf unsere sozialen Normen und die Aufgaben des Rechts Skizze eines interdisziplinären Forschungsprojekts Von Eric Hilgendorf
I. Einleitung Fast täglich berichten die Massenmedien über weitere, staunenswerte Fortschritte in der Entwicklung Künstlicher Intelligenz (KI), die es möglich machen sollen, menschliche Bedürfnisse in einem bisher ungeahnten Maße zu befriedigen. Die Einsatzmöglichkeiten von KI erscheinen fast unbeschränkt – von der industriellen Produktion über den Handel, die Freizeit, die Mobilität bis hin zur medizinischen Versorgung und Pflege.1 Es liegt auf der Hand, dass eine derart mächtige Technologie auch Probleme aufwirft. Einschlägige Stichworte lauten: technisch gestützte Totalüberwachung, drohende Haftungslücken bei durch Maschinen bewirkten Schäden, Monopolbildung und neue Abhängigkeiten von nicht mehr kontrollierbaren Mega-Unternehmen, bis hin zum Fähigkeitsverlust bei Menschen, die mehr und mehr Aufgaben an Maschinen abgeben. Um diese und andere Probleme zu lösen, wurden zahlreiche Vorschläge formuliert, wie die Entwicklung, Erprobung und der Einsatz von KI reguliert werden könnten.2 1
Es existieren inzwischen zahlreiche gute Einführungen zu KI und ihren Anwendungen. In Auswahl: Eberl, Smarte Maschinen. Wie Künstliche Intelligenz unser Leben verändert, 2016; Ford, Aufstieg der Roboter, 2016 (engl. 2015); Kaplan, Künstliche Intelligenz. Eine Einführung, 2017 (engl. 2016); Lenzen, Künstliche Intelligenz. Was sie kann & Was uns erwartet, 3. Aufl. 2019; Zweig, Ein Algorithmus hat kein Taktgefühl, 2019; vertiefend Ertel, Grundkurs Künstliche Intelligenz. Eine praxisorientierte Einführung, 4. Aufl. 2016; Russel/Norvig, Artificial Intelligence. A Modern Approach, 3. Aufl. 2016. Zur ethischen Analyse umfassend Bendel (Hrsg.), Handbuch Maschinenethik, 2019. Aus juristischer Sicht Gaede, Künstliche Intelligenz – Rechte und Strafen für Roboter? Plädoyer für eine Regulierung künstlicher Intelligenz jenseits ihrer reinen Anwendung, 2019. 2 Siehe insbesondere die Vorschläge der EU High Level Expert Group on AI, im Internet unter https://ec.europa.eu/digital-single-market/en/high-level-expert-group-artificial-intelligen ce. Die Gruppe legte im Sommer 2019 einen Leitfaden mit dem Titel „Ethical Guidelines on Artificial Intelligence“ vor, der sich auf das Konzept „trustworthy AI“ fokussiert.
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Kaum thematisiert wurde bislang, dass sich KI als Regelungsbereich in zumindest einer Hinsicht erheblich von anderen techniknahen Regelungsmaterien wie Medizinprodukten, dem Straßenverkehr oder dem Internet unterscheidet: mit dem Fortschritt der KI entstehen Artefakte, die, anders als alle bisherigen technischen Hervorbringungen, echten Akteursstatus gewinnen könnten3 oder von Menschen jedenfalls als Akteure wahrgenommen werden. Dies wird dazu führen, dass Maschinen in neuartiger Weise auf die Entstehung und Veränderung menschlicher Sozialnormen einwirken könnten, und zwar weit über die Formulierung von Klugheitsregeln im Umgang mit gefährlichen Artefakten hinaus. Wir haben uns angewöhnt, die Leistungsfähigkeit von Technik nur mit Blick auf technische Gegebenheiten zu bewerten. Ein Auto ist „besser“ als ein anderes, wenn es schneller fährt, weniger Reparaturen erfordert oder höhere Sicherheit bietet als das andere Fahrzeug. Ein Roboter „leistet mehr“ als ein anderer, wenn er in seinem Einsatzgebiet die jeweiligen menschlichen Bedürfnisse (noch) schneller, vollständiger und effizienter erfüllen kann. Technik wird jedoch nicht nur mit Blick auf menschliche Zwecksetzungen entwickelt und eingesetzt, sie wird auch von Menschen genutzt: Menschen interagieren oft eng mit ihren selbstgeschaffenen Werkzeugen. Dabei wirkt die Technik auf die Menschen zurück.4 Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, dass Technik dem Menschen auch Anpassungsleistungen abverlangt; der bekannte Slogan „Technik muss dem Menschen dienen“ erfasst nur eine Seite der Wirklichkeit. Treffend spricht Grunwald geradezu von einem „Technik-Paradox“.5 Bei der Bewertung von Technik muss deshalb immer auch ihr Nutzer in den Blick genommen werden. Hinzu treten weitere Formen „technikinduzierter“ Verhaltensänderung: Wie setzt der Mensch sein Werkzeug ein? Welche Folgen ergeben sich daraus für den Nutzer des Werkzeugs, aber auch für Dritte? Wie wirkt sich die Interaktion mit dem Artefakt auf die Einstellungen und Normen der beteiligten Menschen aus? Bei der Technikfolgenabschätzung6 lassen sich cum grano salis drei Perspektiven unterscheiden: Zunächst der Blick auf die (zu erwartenden) positiven Folgen, also den Nutzen des Technikeinsatzes: Gewinne an Zeit und Bequemlichkeit, dadurch neue Möglichkeiten anspruchsvoller Freizeitgestaltung, neue soziale Möglichkeiten, 3 Ein solcher Akteursstatus von Maschinen ist mit guten Gründen außerordentlich umstritten, vgl. etwa Loh, Roboterethik. Eine Einführung, 2019, S. 48 ff. Eine weiterführende Typologie „maschineller Akteure“ haben Zafari und Koeszegi vorgelegt, siehe ihren Text „Machine Agency in socio-technical systems: A typology of autonomous artificial agents“, in: 2018 IEEE Workshop on Advances Robotics and its Social Impacts (ARSO), im Internet unter https://ieeexplore.ieee.org/document/8625765. 4 Dies ist ein klassisches Thema der Techniksoziologie, siehe nur Häußling, Techniksoziologie, 2. Aufl. 2019, S. 60 ff. (Technik als kulturelle Form der Welterschließung), 66 ff. (Technik als künstliches Organ des Menschen), 114 ff. (Soziologie technischer Artefakte). 5 Grunwald, Der unterlegene Mensch. Die Zukunft der Menschheit im Angesicht von Algorithmen, künstlicher Intelligenz und Robotern, 2019, S. 149. 6 Grunwald, Technikfolgenabschätzung. Eine Einführung, 2. Aufl. 2010.
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ökonomische Vorteile. Dem stehen mögliche negative Folgen, also Risiken, gegenüber, die infolge des Einsatzes der Technik entstehen: drohende Schäden an Leib oder Leben, Vermögensschädigungen, und andere Verletzungen menschlicher Interessen. Hinzu tritt eine dritte, meist übersehene Perspektive: Wie wirkt sich die Existenz oder der Einsatz der Technik auf das Verhalten menschlicher Akteure, seien es die Nutzer des technischen Artefakts oder Dritte, aus? Die damit angedeuteten Probleme werden noch komplizierter, wenn man nach den Auswirkungen des Einsatzes von humanoiden Artefakten im sozialen Kontext fragt. Menschen können „nicht zueinander kommen, ohne einen Prozess der Formung dieses ,Zueinander‘ auszulösen“, formulierte Heinrich Popitz.7 Wie verhält es sich, wenn Menschen mit Maschinen zusammenkommen, die sich wie Menschen verhalten und vielleicht sogar wie Menschen aussehen? Unser Verhalten humanoiden Maschinen gegenüber ist ambivalent. Einerseits zeigen Menschen eine erhebliche Tendenz zum Anthropomorphismus, d. h. zur Vermenschlichung der ihnen gegenüberstehenden Artefakte. Selbst wenn sie uns äußerlich kaum ähneln, schreiben wir ihnen Intentionen und Gefühle zu; werden Maschinen „misshandelt“, so empfinden wir Mitleid.8 Andererseits besitzt unsere Spezies offenbar ein sehr starkes Bedürfnis nach Singularität, welches wohl biologisch verankert ist, jedoch kulturell verstärkt wird.9 Dieses Singularitätsbedürfnis prägt schon lange unser Verhältnis zu Tieren, wirkt sich jedoch heute in erheblichem Maße auch auf die Debatten um Künstliche Intelligenz und z. B. deren möglichen Akteursstatus aus. Der Antagonismus dieser beiden Neigungen ist möglicherweise mitverantwortlich für ein psychologisches Phänomen, welches man als „Uncanny Valley“10 beschrieben hat: Roboter, die z. B. durch einen großen Kopf und Kulleraugen dem Kindchenschema entsprechen, empfinden wir als „süß“, doch wenn uns die Maschinen sehr ähnlich sind, verspüren wir ein Gefühl des Unheimlichen und der Angst, das erst wieder verschwindet, wenn uns die Maschinen zum Verwechseln gleichen.
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Popitz, in: Pohlmann/Eßbach (Hrsg.), Soziale Normen, 2006, S. 74. Zum Selbsttest betrachte man das Video „Every time Boston Dynamics has abused a robot“ (2015) unter Youtube. 9 Dies gilt gerade für das Christentum, zu dessen Leitvorstellungen es gehört, dass nur Menschen, und nicht auch Tiere, eine Seele besitzen und unsterblich sind. In anderen Religionen, z. B. im Hinduismus und im Buddhismus, besitzt der Mensch keine derartige Sonderstellung. 10 Eberl, Smarte Maschinen (Fn. 1), S. 322 ff. Das Phänomen scheint allerdings in unterschiedlich starker Form aufzutreten. Manche KI-Forscher berichten, dass es ihnen noch nie begegnet ist. 8
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Schon offenkundig nicht-humanoide „sprechende Maschinen“ wie Alexa11 dürften andere Wirkungen auf den Menschen besitzen als einfache Lautsprecher. Welchen Einfluss können humanoide intelligente Agenten auf den Normbildungsprozess bei Menschen haben? Bei autonom agierenden lernfähigen Maschinen tritt hinzu, dass das Verhalten der Maschine nicht mehr sicher voraussagbar ist. Wie wirken derartige Maschinen mit ihren vom menschlichen Programmierer nicht mehr vollständig determinierten Entscheidungen auf den Menschen und darüber hinaus auf die menschliche Sozialordnung zurück? Es liegt nahe, auch an Beeinflussungen und Lerneffekte in umgekehrter Richtung zu denken. Maschinen können so programmiert werden, dass sie aus dem Verhalten von Menschen lernen, insbesondere aus den menschlichen Reaktionen auf maschinelles Verhalten. Derartige Feedback-Schleifen sind heute schon umsetzbar, so etwa bei dem Sprachavatar Tay, der in der Lage war, aus den Reaktionen seiner Gesprächspartner Schlüsse zu ziehen und sich dementsprechend anzupassen12 (dass Tay dabei „das Falsche“ lernte und deshalb rasch wieder von Netz genommen werden musste,13 spielt hier keine Rolle). Besonders interessant sind Begegnung von Mensch und intelligenter Maschine im virtuellen Raum.14 In einer computergenerierten künstlichen Realität können beide in einer Weise interagieren, die für Menschen kaum mehr von der natürlichen Realität zu unterscheiden ist.15 In einer solchen Umgebung würden wohl auch die verfremdenden Effekte wegfallen, die die Mensch-Maschine-Interaktion in der realen Welt noch begleiten. Damit wären die Voraussetzungen einer störungsfreien wechselseitigen Verhaltensbeeinflussung – Mensch-Maschine, Maschine-Mensch – gegeben. Ein solches Szenario dürfte freilich noch auf absehbare Zeit der Science-Fiction zuzurechnen sein. Dass solche Wirkungen auftreten werden, und dass diese Wirkungen andere sein werden als die „einfacher“ Werkzeuge, erscheint kaum zweifelhaft. Aufschlussreich ist vielleicht der Vergleich mit Tieren: Juristisch gesehen sind Tiere genauso wie in11
„Alexa“ heißt die KI-gestützte und cloud-basierte Sprachsoftware des US-Konzerns Amazon, die in immer mehr Endgeräte integriert wird, https://developer.amazon.com/de-DE/ alexa. 12 Siehe den Artikel „Tay“ in der englischsprachigen Wikipedia. 13 Hilgendorf, in: Barton u. a. (Hrsg.), Fischer-FS, 2018, S. 99 (109 ff.). 14 Zum Themenfeld „virtuelle Realität“ einführend Fellner, Virtuelle Realität in Medien und Technik, in: Neugebauer (Hrsg.), Digitalisierung. Schlüsseltechnologien für Wirtschaft und Gesellschaft, 2018, S. 19 ff. Umfassend zum Thema „Virtualität“ Kasprowicz/Rieger (Hrsg.), Handbuch Virtualität, 2020. Man beachte, dass „Digitalisierung“ und „Virtualisierung“ nicht dasselbe bedeuten: Eine „virtuelle Darstellung“ nutzt Digitalisierung, um ein Phänomen in digitalisierter Form abzubilden, d. h. zu simulieren. Näher dazu Hilgendorf, Digitalisierung, Virtualisierung, und das Recht, in: Kasprowicz/Rieger (Hrsg.), Handbuch Virtualität, S. 405 ff. (406). 15 In den drei „Matrix“-Filmen wird diese Idee genial umgesetzt (Matrix, 1999, Matrix Reloaded 2003, Matrix Revolutions, 2003).
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telligente Artefakte Sachen,16 aber die psychischen Wirkungen, die von ihnen ausgehen, unterscheiden sich erheblich von denen, die von unbelebten Gegenständen verursacht werden: Tiere sind unsere Partner und Freunde, spenden Trost und sind Gegenstand von Zuneigung und Liebe. Anders als im Falle unbelebter Gegenstände17 werden derartige emotionale Bindungen an Tiere von der Gesellschaft auch nicht als unnatürlich oder abnormal angesehen.18 Im Gegenteil: selbst in der Philosophie wird das Mitleid mit Tieren als Ausweis eines moralisch guten Charakters betrachtet.19 In der Psychologie und Psychiatrie, teilweise auch in der Altenpflege, werden Tiere eingesetzt, um Patienten zu therapieren.20 Es ist wahrscheinlich, dass wir bald technische Agenten entwickeln werden, die mit Menschen wie andere Menschen interagieren. Die Maschinen sind dann nicht mehr nur Werkzeuge, werden jedenfalls nicht mehr wie bloße Werkzeuge wahrgenommen, sondern sind in gewissem Sinne unsere neuen Partner. Es ist deshalb durchaus nicht unwichtig, frühzeitig sicherzustellen, dass es eine Partnerschaft zu unseren Bedingungen sein wird. Künstliche Akteure, auch wenn sie ohne Gefahr benutzt werden können und ethisch wie rechtlich einwandfrei sind, vermögen Einfluss auf das Verhalten einer Person auszuüben und so möglicherweise mittelbar Risiken erzeugen, die auf den ersten Blick nicht sichtbar sind. Da bisherige Maschinen über keine vergleichbare Interaktionsfähigkeit verfügten, handelt es sich hierbei um ein neues Phänomen, dem mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte als bisher. Im Folgenden sollen zunächst Bereiche aufgezeigt werden, in denen intelligente technische Artefakte die Entstehung und Veränderungen von sozialen Normen unter Menschen beeinflussen könnten (I.). Sodann wird an einigen Beispielen der Frage nachgegangen, welche Herausforderungen diese Entwicklung für das Recht bergen könnte (II.). Abschnitt (III.) ist den Reaktionsmöglichkeiten von Staat und Gesellschaft gewidmet, und Abschnitt (IV.) enthält ein knappes Fazit.
II. Zum Einfluss technischer Artefakte auf soziale Normen Menschen leben in einer Welt voller Normen. Damit sind nicht faktische Gleichförmigkeiten im Verhalten gemeint, sondern „normative“ Vorgaben, die menschli16
BayObLG NJW 1993, 2760 (2761); Kindhäuser/Hilgendorf, Lehr- und Praxiskommentar Strafrecht, 8. Aufl. 2020, § 242 Rn. 5. 17 Zur sog „Objektophilie“ vgl. Loh, Roboterethik (Fn. 3), S. 82 f. 18 Etwas anderes gilt für sexuelle Beziehungen zu Tieren (Zoophilie, Sodomie), die in Deutschland bis 1969 nach § 175b StGB sogar strafrechtlich erfasst waren und heute dem § 17 TierSchutzG unterfallen können. 19 Schopenhauer, Preisschrift über die Grundlage der Moral, in: ders., Sämtliche Werke. Textkritisch bearbeitet und herausgegeben von Frhr. von Löhneysen, Band III, 1980, S. 770 ff. 20 Sog. „tiergestützte Therapie“ oder „tiergestützte Intervention“. Zunehmend werden auch tierähnliche Roboter eingesetzt, etwa die bekannte „Robbe“ Paro.
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ches Verhalten anleiten und bestimmen.21 In der Rechtswissenschaft hat es sich eingebürgert, zwischen Recht, Moral und Sitte zu unterscheiden, wobei die Trennlinien zwischen Moral und Sitte nicht immer klar erkennbar sind. In diesen Zusammenhang gehört auch die Theorie der Verhaltensnormen, die häufig auf den Strafrechtler Karl Binding zurückgeführt wird.22 In den modernen Sozialwissenschaften verwendet man heute die Bezeichnung „soziale Normen“ („social norms“),23 wenn man über Normen sprechen möchte, die nicht rechtlicher Natur sind. Soziale Normen und Rechtsnormen stehen offenkundig in einem engen Zusammenhang miteinander, sie beeinflussen und durchdringen sich gegenseitig.24 Im Hinblick auf mögliche Einflüsse humanoider Maschinen auf die Entstehung und Veränderung sozialer Normen bei Menschen ist die Frage besonders interessant, wie soziale Normen entstehen und wie sie sich verändern.25 Überblickt man die Ansätze im Zusammenhang, so erscheint es mehr als wahrscheinlich, dass nicht-menschliche, aber menschenähnliche Akteure erheblichen Einfluss auf die Ausbildung, Veränderung und Verbreitung von menschlichen Sozialnormen nehmen könnten. Es handelt sich hierbei allerdings um eine empirische Fragestellung, die nicht in den Kompetenzbereich einer sich als dogmatisch verstehenden Rechtswissenschaft, sondern eher in den der (Technik-)Soziologie und Psychologie fällt.26 Es lassen sich jedoch bereits heute zumindest einige Fallbeispiele und Problembereiche identifizieren, die auch für Juristen interessant sind: Ein schon älteres und eher harmloses Beispiel ist das Tamagotchi,27 ein in der zweiten Hälfte der 90er Jahre weltweit populäres elektronisches Spielzeug, durch das ein virtuelles Küken mit körperlichen und emotionalen Bedürfnissen simuliert wurde, um das sich der Nutzer zu kümmern hatte. Versagte er, so „starb“ das Küken. Obwohl es sich ganz offensichtlich nicht um ein echtes Küken handelte, sorgten sich Millionen Menschen höchst umsichtig und liebevoll um das virtuelle Wesen, und trauerten, wenn es infolge eines Aufmerksamkeitsmangels „verstarb“.
21 Zu den vielfältigen Bedeutungen des Wörtchens „normativ“ nur Hilgendorf, in: ders./ Kudlich/Valerius (Hrsg.), Handbuch des Strafrechts Bd. 2, 2010, § 27 Rn. 83 ff. 22 Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 1, 4. Aufl. 1922, S. 45. 23 Repräsentativ Hechter/Opp (Hrsg.), Social Norms, 2001. 24 Überblick bei Hilgendorf, in: ders./Kudlich/Valerius (Hrsg.), Handbuch des Strafrechts Bd. 1, 2019, §1 Rn. 5 ff. 25 Aus der sozialwissenschaftlichen Literatur Horne, Sociological Perspectives on the Emergence of Norms, in: Hechter/Opp, Social Norms (Fn. 23), S. 3 ff. 26 Häußling, Techniksoziologie (Fn. 4). Auch die Rechtssoziologie kann grundsätzlich eine Zuständigkeit für sich reklamieren. Das skizzierte Problem scheint jedoch bislang noch nicht behandelt worden zu sein. 27 Eine Wortschöpfung aus dem Japanischen von „tamago“ (Ei) und „wotchi“ (engl. watch, Uhr).
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Ein aktuelleres Beispiel für die verhaltensändernde Wirkung technischer Artefakte ist das Smartphone.28 Obwohl erst vor gut 20 Jahren erfunden, ist es heute für viele, besonders jüngere Menschen ein unverzichtbarer Begleiter geworden, den sie immer bei sich führen. Die Beziehung zwischen technischem Artefakt und Mensch ist so intim, dass sich viele offenbar wie „nackt“ fühlen, wenn sie das Gerät nicht mit sich tragen. Teilweise ist der psychische Konnex dermaßen eng, dass das Handy fast wie ein Körperteil empfunden wird.29 Damit einher gehen nicht bloß die bekannten Probleme für den Schutz der Privatsphäre, sondern offenbar auch ernste Suchtgefahren.30 Tamagotschis und die älteren Smartphones kamen ohne Künstliche Intelligenz aus, und waren trotzdem in der Lage, das Verhalten ihrer Nutzer massiv in einer Weise zu beeinflussen, die über den Einfluss eines „normalen“ Werkzeugs auf das Verhalten seines Nutzers weit hinausgeht. Aus dieser Perspektive betrachtet, erscheinen manche der zu erwartenden Formen der Mensch-Roboter-Kooperation nicht mehr ganz harmlos: Junge Menschen erlernen ihr Sozialverhalten gerade auch in Auseinandersetzung mit anderen Kindern und Jugendlichen.31 Schon bald werden „autonome“ Roboter als Spielgefährten für Kinder und Heranwachsende verfügbar sein. Wie wirkt sich die Interaktion mit der Maschine auf die Entwicklung des kindlichen Verhaltens und der kindlichen Sozialnormen aus? Wie wird das menschliche Miteinander beeinflusst, wenn „mitmenschliches“ Verhalten in Auseinandersetzung mit einer Maschine erlernt wurde? Ist es denkbar, die Ausbildung menschlichen Sozialverhaltens durch eine entsprechende Programmierung der Maschinen zu beeinflussen?32 Wenn ja, sollten tatsächlich die Hersteller allein über die in ihren Artefakten „verbauten“ sozialsteuernden Faktoren bestimmen können? Oder gibt es (rechtlichen) Regulierungsbedarf? Auch Erwachsene werden in Zukunft mehr und mehr mit humanoiden Maschinen zu tun haben – als „Arbeitskollegen“, in der Ausbildung, beim Sport und in anderen Bereichen des Freizeitverhaltens. Industrieroboter ersetzen menschliche Arbeiter. Welche Auswirkungen hat das Verhalten des maschinellen „Kollegen“ auf das Sozialverhalten des menschlichen Arbeiters, etwa im Hinblick auf Höflichkeit und Rücksichtnahme gegenüber genuin menschlichen Kollegen? Die zu erwartenden Proble28 Dazu schon Köhler, Der programmierte Mensch. Wie uns Internet und Smartphone manipulieren, 2012, S. 83 ff. und passim. 29 Es erscheint deshalb nicht ausgeschlossen, dass entsprechend miniaturisierte Geräte eines Tages in den menschlichen Körper implantiert werden. 30 Spitzer, Die Smartphone-Epidemie. Gefahren für Gesundheit, Bildung und Gesellschaft, 2018. 31 Bauer, Wie wir werden, wer wir sind. Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz, 2. Aufl. 2019, S. 50 f. Allgemein zur Herausbildung des „Selbst“ Werth/Denzler/ Mayer, Sozialpsychologie. Das Individuum im sozialen Kontext, 2. Aufl. 2020, S. 187 ff. 32 Köhler, Der programmierte Mensch (Fn. 28), S. 84 ff., Spitzer, Smartphone-Epidemie (Fn. 30), S. 267 f. (Manipulation zu Werbungszwecken).
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me dürften umso größer sein, je humanoider der Roboter ist, je weniger also der Unterschied zwischen Mensch und Maschine erkennbar wird. Denkbar und wohl sogar wahrscheinlich sind Fehlerwartungen aufseiten des Arbeiters, der z. B. bei unerwarteten Zwischenfällen von seinem „Kollegen“ (für Menschen) selbstverständliche Hilfestellungen erwartet, für die die Maschine aber nicht programmiert wurde. Denkbar ist, dass in Zukunft Sexroboter Prostituierte ersetzen werden – welche Auswirkungen wird das auf das Sexualverhalten und die zwischen den Geschlechtern geltenden Verhaltensstandards haben?33 Wird vielleicht das jeweils andere Geschlecht als Sexualpartner überflüssig oder zumindest als zweitrangig empfunden, weil Maschinen die eigenen Wünsche besser befriedigen können? Können sich Menschen in Maschinen verlieben? Entsprechende Szenarien sind aus der Science-Fiction-Literatur bekannt.34 Die Realität scheint noch anders auszusehen. Immerhin weiß der Volksmund zu berichten, dass manche Männer ihr Auto mehr lieben als ihre Frau. Sollten vielleicht „Liebesroboter“ zumindest so gestaltet werden, dass sie jederzeit als Maschinen erkennbar bleiben? Im Straßenverkehr lernen Menschen auch durch das Verhalten ihrer menschlichen Interaktionspartner – sprich: der anderen Verkehrsteilnehmer – hinzu. Wer rücksichtslos fährt und anderen z. B. die Vorfahrt nimmt oder die Reihenfolge beim Einscheren im „Reißverschlussverkehr“ nicht beachtet, muss mit Reaktionen der anderen Verkehrsteilnehmer rechnen, die vom Stirnrunzeln oder Schimpfen über Aufblenden und Hupen bis hin zu einer Strafanzeige (oder Selbstjustiz!) reichen können. Durch derartige Reaktionen lernen Autofahrer hinzu und passen ihr Verhalten den sozialen Standards an. Doch was passiert, wenn Autos von Computern gesteuert werden, die Fehlverhalten anderer Fahrer nicht bloß in Sekundenbruchteilen erkennen, sondern das von ihnen kontrollierte Fahrzeug auch blitzschnell an die neue Situation anpassen können – bislang ohne dem „unsozial“ agierenden menschlichen Fahrer eine Rückmeldung zu geben?35 Es ist zu erwarten, dass damit die eben skizzierten Lernvorgänge beim menschlichen Fahrer ausbleiben werden. Steuern wir also auf eine Ära zu, in der sich auf den Straßen überwiegend nur noch Verkehrsrowdys und absolut regeltreue maschinelle Fahrer bewegen? Dies könnte, ganz anders als es sich die Vordenker des automatisierten Fahrens erhoffen, der Verkehrssicherheit durchaus abträglich sein, vor allem wenn man bedenkt, dass der menschliche Fahrer bislang nicht ohne Weiteres wahrnehmen kann, ob ein fremdes Fahrzeug von einem Computer oder einem anderen menschlichen Fahrer gesteuert wird. 33 Bendel, Sexroboter aus Sicht der Maschinenethik, in: ders. (Hrsg.), Handbuch Maschinenethik (Fn. 1), S. 335 ff.; vgl. auch schon Hilgendorf, in: Gruber/Bung/Ziemann (Hg.), Autonome Automaten. Künstliche Körper und artifizielle Agenten in der technisierten Gesellschaft, 2014, S. 221 ff. 34 Das Spektrum reicht von E.T.A. Hoffmanns Geschichte „Der Sandmann“ (1816) bis hin zur Figur des japanischen Ingenieurs Nomura-san und seiner robotischen Gefährtin Mikiko aus dem Roman „Robocalypse“ von Daniel H. Wilson, 2011. 35 Diese Fragestellung verdanke ich Frau Kollegin Sabine Köszegi, TU Wien.
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Es ist nicht schwierig, sich ähnliche Szenarien in weiteren Anwendungsbereichen der KI vorzustellen: Pflegeroboter ersetzen menschliche Pflegekräfte36 – wie wirkt sich dies auf das Sozialverhalten pflegebedürftiger alter Menschen aus? Welche Rückwirkungen auf das Verhalten menschlicher Pfleger und darüber hinaus auf die Arbeitsbedingungen in der jeweiligen Pflegeeinrichtung sind zu erwarten? Bereits Realität ist der Einsatz von Robotern und KI im Krieg37 – welche Auswirkungen hat dies auf das Verhalten der beteiligten menschlichen Akteure? Könnte die Bereitschaft, Kriege zu führen, zunehmen? Welche Auswirkungen hat die Verwendung humanoider Kriegsroboter auf die zwischen (gegnerischen) Soldaten geltenden sozialen Normen? Und kann und sollte das Recht derartigen Entwicklungen Rechnung tragen? Noch weitgehend in den Bereich der Phantasie zu verweisen ist die Vorstellung, Menschen könnten eine übermächtige, sie schützende und versorgende Maschine als Gott verehren – die literarischen Ausarbeitungen des Thema wirken jedoch so überzeugend, dass diese Idee keinesfalls pauschal als abwegig verworfen werden sollte.38 Immerhin hat die Evangelische Kirche in Deutschland bereits vor einigen Jahren einen „segenspendenden“ Roboter in Dienst gestellt.39
III. Wie sollten Recht und Gesellschaft reagieren? Es liegt auf der Hand, dass zumindest einige der oben skizzierten Szenarien nicht unproblematisch sind und möglicherweise ein Tätigwerden des Gesetzgebers oder zumindest Anpassungsleistungen bei der Rechtsanwendung erfordern. Dies betrifft etwa die Herausbildung von mangelnder sozialer Kompetenz bei Kindern, oder die Entwicklung von rücksichtslosem Verhalten beim Autofahren. Über die Bewertung anderer denkbarer Verhaltensveränderungen lässt sich zumindest streiten, etwa über das Auftreten von ernsthaft empfundenen Liebesbeziehungen zu Maschinen. Durch den Kontakt mit intelligenten Artefakten erlernte Verhaltensveränderungen bei Menschen lassen sich in aller Regel nicht als Schäden i.S. des Schadensersatzrechtes einstufen.40 Der parlamentarische Gesetzgeber oder der zuständige Ver36
Bendel, Pflegeroboter aus Sicht der Maschinenethik, in: ders., Handbuch Maschinenethik (Fn. 1), S. 301 ff.; Münch, Autonome Systeme im Krankenhaus. Datenschutzrechtlicher Rahmen und strafrechtliche Grenzen, 2017. 37 Misselhorn, Autonome Waffensysteme/Kriegsroboter, in: Bendel (Hrsg.), Handbuch Maschinenethik (Fn. 1), S. 319 ff.; Löffler, Militärische und zivile Flugroboter. Ausgewählte Problemfelder beim Einsatz von Kampf- und Überwachungsdrohnen, 2018. 38 Vgl. die bereits 1928 erschienene Geschichte „The Machine Stops“ von E.M. Forster. 39 Das Gerät trug den Namen „BlessU-2“, https://gott-neu-entdecken.ekhn.de/veranstaltun gen-projekte/projekte-der-ekhn/segensroboter-blessu-2.html. 40 Zum Schadensbegriff Deutsch, Unerlaubte Handlungen, Schadensersatz und Schmerzensgeld, 3. Aufl. 1995, Rn 423: „Schaden ist jeder Nachteil, der an den Rechtsgütern einer Person entsteht“.
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ordnungsgeber hat aber die Möglichkeit, Vorgaben für Hersteller zu formulieren, deren Verletzung ihrerseits sanktioniert werden kann. So könnte man daran denken, Fahrzeuge ab einem bestimmten Automatisierungsgrad durch farbige Leuchtbänder zu kennzeichnen, die erkennbar machen, wann das Fahrzeug in einem hoch- oder vollautomatisierten Modus unterwegs ist. Für humanoide Sexspielzeuge wäre sicherzustellen, dass sie immer noch als Maschinen erkennbar bleiben.41 Derartige Herstellervorgaben ließen sich durch Zertifizierungs- oder Zulassungsregeln sichern. Treten durch „maschineninduzierte“ Verhaltensänderungen Schäden auf, so ließe sich an eine Herstellerhaftung denken. Allerdings erscheinen der Zurechnungszusammenhang und die Vorwerfbarkeit einer Sorgfaltspflichtverletzung zumindest problematisch, wenn etwa ein Arbeiter A eine sofortige Hilfeleistung gegenüber einem Kollegen B unterlässt, weil er „instinktiv“ davon ausgeht, dass der unmittelbar danebenstehende Roboter R eingreifen würde (wofür dieser aber nicht programmiert ist). Einen bei B entstehenden Schaden wird man dem Hersteller H nicht vorwerfen können, es sei denn, er hätte gegen verpflichtende Vorgaben für die Produktion dieses speziellen Robotertyps verstoßen. Eine Haftung nach dem Produkthaftungsgesetz (ProdHaftG) würde voraussetzen, dass das System einen Fehler aufweist, § 1 Abs. 1 ProdHaftG.42 Zu denken ist natürlich auch an eine neue Form von Gefährdungshaftung, die die Haftung schon an das Inverkehrbringen von gefahrträchtigen intelligenten Artefakten knüpft.43 Ähnliches gilt für eine strafrechtliche Verantwortlichkeit. Da dem Hersteller im Regelfall weder Vorsatz noch Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist, würde im eben skizzierten Grundfall eine strafbare Körperverletzung ausscheiden. Tritt die Verletzung geschriebener Sorgfaltsnormen hinzu, so käme ein Fahrlässigkeitsdelikt in Betracht. De lege lata ließe sich an einen neuen Gefährdungstatbestand denken, der das Inverkehrbringen von gefahrträchtiger KI unter Strafe stellt, sofern ein Schaden eintritt.44 Man beachte jedoch, dass in unserem Fall der Schaden erst infolge einer Verhaltensänderung bei einem Menschen, dem „Verlernen“ eines Hilfereflexes, aufgetreten ist. Derartige Schädigungsformen wird man einem Hersteller kaum zur Last legen können. Die rechtspolitische Diskussion darüber hat freilich noch nicht einmal begonnen. Von großer praktischer Bedeutung ist etwa die Frage, inwieweit der Hersteller autonomer technischer Systeme bereits heute Fehlverhalten von Menschen in Rechnung stellen muss. Der Vertrauensgrundsatz besagt, dass der Fahrer eines Fahrzeugs 41
Siehe oben bei und nach Fn. 33. Dazu § 3 ProdHaftG: Ein Produkt hat einen Fehler, wenn es nicht die Sicherheit bietet, die berechtigterweise erwartet werden kann. 43 Näher zur Gefährdungshaftung im Kontext von Robotik Hilgendorf, Zivil- und strafrechtliche Haftung für von Maschinen verursachte Schäden, in: Bendel, Maschinenethik (Fn. 1), S. 437 (444 ff.); allgemein Deutsch, Unerlaubte Handlungen (Rn. 40), Rn. §§ 22 – 27. 44 Das Auftreten eines Schadens ließe sich gesetzlich als objektive Bedingung der Strafbarkeit konstruieren, dazu Hilgendorf, Fischer-FS (Fn. 13), S. 99 (111). 42
Vom Werkzeug zum Partner?
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grundsätzlich darauf vertrauen darf, dass die übrigen Verkehrsteilnehmer sich verkehrsordnungsgemäß verhalten.45 Dieser Grundsatz wird erst aufgehoben, wenn es Indizien dafür gibt, dass sich andere Verkehrsteilnehmer nicht an die Verkehrsregeln halten werden, etwa am Straßenrand spielende Kinder oder auf dem Bordstein balancierende Betrunkene. Im Zeitalter des automatisierten Fahrens erscheinen folgende Erweiterungen des Vertrauensgrundsatzes46 denkbar: (1) Auch im Verhältnis zu automatisiert fahrenden Autos wird der menschliche Fahrer grundsätzlich davon ausgehen dürfen, dass das andere „System“ ordnungsgemäß funktioniert und den Wagen nach den Regeln der Straßenverkehrsordnung fährt. Erst wenn klare Indizien auf das Gegenteil hindeuten, wird der Vertrauensgrundsatz durchbrochen und der Fahrer ist verpflichtet, besondere Sorgfalt walten zu lassen. (2) Welche Verhaltensformen von menschlichen Fahrern muss umgekehrt das technische System antizipieren und in Rechnung stellen?47 Darf das System von ordnungsgemäß ihr Fahrzeug führenden menschlichen Fahrern ausgehen, oder muss mögliches Fehlverhalten berücksichtigt werden? Und wenn letzteres der Fall ist: Gilt dies bloß für unvermeidbares menschliches Fehlverhalten (z. B. die berühmte „Schrecksekunde“), oder ist auch vermeidbares Fehlverhalten zu antizipieren, etwa eine Tendenz zu Rowdytum gegenüber automatisiert fahrenden Fahrzeugen? Muss der Hersteller bei der Programmierung seiner PkwSysteme in Rechnung stellen, dass Menschen mutwillig in den Weg des Fahrzeugs springen werden, um die Bremsfähigkeit des Wagens auszutesten? Nicht ganz so Wagemutige werden sich möglicherweise damit begnügen, einen Einkaufswagen auf die Straße zu stoßen. Muss Derartiges vorausgesehen und bei der Programmierung berücksichtigt werden? Und was gilt für andere Verhaltensweisen, die Menschen möglicherweise infolge der Einführung automatisierter Fahrzeuge entwickeln werden? (3) Nicht uninteressant ist schließlich auch, inwieweit der Vertrauensgrundsatz im Verhältnis KI zu KI gilt. Dürfen die KI-Systeme von Fahrzeug A unterstellen,48 dass die entsprechenden Systeme bei Fahrzeug B fehlerfrei funktionieren? Welche Standards von Leistungsfähigkeit dürfen vorausgesetzt werden, etwa im Verhältnis von Premiumfahrzeugen zu älteren Modellen? Und was gilt gegenüber altmodischen Fahrzeugen ganz ohne autonome Systeme?
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Kindhäuser/Hilgendorf, Lehr- und Praxiskommentar Strafrecht, § 15 Rn. 61. Zum Folgenden schon Hilgendorf, Automatisiertes Fahren als Herausforderung für Ethik und Rechtswissenschaft, in: Bendel, Maschinenethik (Fn. 1), S. 355 (365 f.). 47 Es geht hier wohlgemerkt nicht um Pflichten des Systems selbst, sondern um Herstellerpflichten. 48 Genauer ausgedrückt: Dürfen Fahrzeuge mit der „eingebauten“ Prämisse programmiert werden, dass die korrespondierenden Systeme anderer Fahrzeuge korrekt funktionieren? 46
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In unserem Zusammenhang ist vor allem die Fallgruppe 2 von Interesse. Wie alle anderen hier behandelten Fragestellungen zeigt sie, dass wir viel mehr empirisches Wissen brauchen, um tragfähige juristische Bewertungen vornehmen und rechtspolitische Vorschläge formulieren zu können. Immerhin wird man festhalten dürfen, dass der Staat schon jetzt verpflichtet ist, die Entwicklung einerseits nutzbringender, andererseits aber auch potentiell gefahrenträchtiger Technologien wie der KI zu beobachten und bei konkreten Gefahren einzuschreiten, um mögliche Fehlentwicklungen und die Gefahr von Schädigungen, vor allem Schädigungen an Leib oder Leben von Menschen, möglichst frühzeitig zu erkennen und abzuwehren. Es steht zu erwarten, dass sich mehr und mehr länderübergreifende, vielleicht sogar globale Regelwerke für KI etablieren werden. Dabei ist nicht nur an internationale Abkommen, sondern auch an andere Formen grenzüberschreitender Governance zu denken. Technik ist, anders als das Recht, von vornherein international. Es ist deshalb zu vermuten, dass die Globalisierung der Technik auch dem Rechts- und Governancevergleich neuen Auftrieb geben wird.
IV. Fazit Um ihre positiven Potentiale entfalten zu können, muss KI nicht bloß so gestaltet sein, dass sie sich in das von uns geschaffene Netzwerk von sozialen und rechtlichen Normen einfügt. Ethische und rechtliche „Compliance“ reichen also nicht aus. Erforderlich ist vielmehr auch, dass mit KI ausgerüstete technische Artefakte für den jeweiligen Einsatzkontext optimiert wurden, also so gestaltet sind, dass im Zusammenspiel mit den jeweiligen menschlichen Partnern keine unerwünschten Nebeneffekte auftreten. Dies gilt auch für ungeklärte Auswirkungen auf das Sozialverhalten der beteiligten menschlichen Akteure. Dabei sind von Kontext zu Kontext unterschiedliche Folgen zu erwarten. Um die sozialen Auswirkungen von KI auf den Menschen zu erfassen, sind nicht bloß technische, sondern auch und vor allem sozialwissenschaftliche Kompetenzen erforderlich. Wir benötigen mehr empirisches Wissen, um die sozialen Wirkungen von KI besser zu verstehen. Erst dann wird man den rechtlichen Rahmen entsprechend anpassen können.49
49 Nach Manuskripteinreichung wurde bekannt, dass das im obigen Text skizzierte Projekt ab März 2020 von der Volkswagenstiftung gefördert wird, vgl. Contextualizing Robot Behavior: Should Robots Become Human Again? unter http://www.robotrecht.de.
Das Informationsrecht ist tot, es lebe das Informationsrecht Überlegungen zu einem scheinbar überflüssig gewordenen Fach Von Thomas Hoeren Ulrich Sieber hat sich viele und gute grundlegende Gedanken zur Bedeutung des Informationsrechts gemacht.1 Er gehört zu den Nestoren der Disziplin und hat sowohl als Anwalt wie auch als Forscher die informationsrechtliche Szene nachhaltig beeinflusst. Diese müsste es also interessieren, wie sich die Szene weiterentwickelt und was mit ihr derzeit geschieht. Das Informationsrecht steht vor einer großen Sinnkrise. Es droht zu sterben, hat aber große Aussichten, als Phoenix aus der Asche aufzustehen.
I. Das Informationsrecht ist tot 1. Information als Alltagsgegenstand Noch in den siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts waren informationsrechtliche Themen nur etwas für ausgewiesene Spezialisten. Die Szene kannte sich; es gab zunächst mit CR, dann mit MMR nur wenige Publikationsmöglichkeiten. Das hat sich nachhaltig geändert. Jedermann spricht jetzt über das Zeitalter der Digitalisierung; jedermann hat Ahnung von Computern, Internet und Daten. Man hört allenthalben von Daten als Öl der Digitalwirtschaft.2 Politiker aller Fraktionen und Couleur wissen etwas über Google, Facebook und Co. zu referieren, wollen die Macht des Silicon Valley kontrollieren.3 Und auch an den Universitäten fühlt sich jeder berufen, etwas über das Informationszeitalter beizutragen. 1
Sieber, in: Hoeren/Sieber/Holznagel (Hrsg.), Handbuch Multimedia-Recht, 29. EL., August 2011, Allgemeine Probleme des Internetstrafrechts, Teil 19.1, Rn. 3 – 11; Sieber/Höfinger, in: Hoeren/Sieber/Holznagel (Hrsg.), Handbuch Multimedia-Recht, 18. EL, Oktober 2007, Allgemeine Grundsätze der Haftung, Teil 18.1, Rn. 1 – 134; Sieber, NJW 1989, 2569 – 2580. 2 Wandtke, MMR 2017, 6 – 12; Spitz, Daten – das Öl des 21. Jahrhunderts? Nachhaltigkeit im digitalen Zeitalter, 2017; Bitkom (Hrsg.), Industrie 4.0 – Die neue Rolle der IT, 2016, 7 f. 3 So bspw. Wirtschaftsminister Altmaier (CDU), verfügbar unter https://www.handelsblatt. com/politik/deutschland/gesetz-entwurf-altmaier-will-die-datenmacht-der-digitalkonzerne-be grenzen/25091466.html?ticket=ST-22037900-et2gLHaCidvDsKriAJA0-ap2 und Arbeitsmi-
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2. Die Macht der Forschungsgelder Noch vor Jahren wurde man belächelt, wenn man einen Antrag auf Forschungsgelder für ein spezifisches informationsrechtliches Thema stellen wollte. Überhaupt wusste die Hochschule nicht, was sie mit den argwöhnisch beäugten Drittmitteln anfangen sollte. Das Geld galt als schmutzig, die Einwerbenden als verrückte Spinner. Heute will jeder an die Fleischtöpfe. Drittmittel gelten als schick, auch bei Hochschulleitungen und Dekanaten.4 Und beim Thema digitale Gesellschaft lechzen die klassischen Drittmittelgeber wie Pawlowsche Hunde und scheinen unendliches Geld abzusondern. 3. Der Niedergang des europäischen Schuldrechts Zusätzlich kam ein weiterer Drive durch eine unerwartete Wendung bei den Rechtswissenschaftlern. Einige hatten sich schon vor Jahren verrannt in der These, man könne dem römischen Recht eine zweite Renaissance im Rahmen der Vereinheitlichung europäischen Schuldrechts bescheren.5 Viele Forschungsarbeiten, Promotionen und Habilitationen wurden dazu geschrieben.6 Ganze Lehrstühle wurden neu auf diesen Fokus ausgerichtet. Doch die Europäische Kommission war nicht überzeugt.7 Das Projekt kam völlig zum Erliegen. Also suchten arbeitslose Akademiker neue Beschäftigungsmöglichkeiten, insbesondere im Informationsrecht. Denn wie schon gesagt, einen Computer beherrscht heute jeder. 4. „Geistiges Eigentum“ Besondere Schwierigkeiten bereitete eines der Kernstücke des Informationsrechts, das Urheberrecht.8 Dieses Rechtsgebiet war klassisch von der Trias antagonister Heil (SPD), verfügbar unter https://www.handelsblatt.com/politik/deutsch-land/daten sammler-arbeitsminister-heil-will-macht-der-digitalkonzerne-beschraenken/24305488.html (jeweils zuletzt abgerufen am 2. 4. 2020). 4 Hierzu näher: https://www.forschung-und-lehre.de/universitaeten-zu-50-prozent-aus-pro jekt-und-drittmitteln-finanziert-500/ (zuletzt abgerufen am 2. 4. 2020). 5 Basis dieser Bewegungen war das grundlegende Meisterwerk von Zimmermann, Law of obligations, 1996. Zimmermann konnte als Professor in Afrika von der Tatsache profitieren, dass dort römisches Recht noch eine Bedeutung für das südafrikanische Zivilrecht hat. Infolge dieser epochalen Studie erschienen dann zahlreiche andere, ähnlich gelagerte Veröffentlichungen; siehe etwa ders., The New German Law of Obligations: Historical and Comparative Perspectives, 2005 oder ders., Archiv für die civilistische Praxis 193,1993, 121. 6 So z. B. Blüm, Das Gemeinsame Europäische Kaufrecht als wesentlicher Zwischenschritt zu einem kodifizierten Europäischen Vertragsrecht? Eine Untersuchung des Entwurfs der GEKR-VO unter Berücksichtigung der Principles of European Contract Law sowie des Draft Common Frame of Reference, Jena 2015. 7 Sirena, ZEuP 2018, 838 – 861; Zinner, VuR 2019, 241. 8 Hoeren, EuZ 2012, 2.
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nistischen Interessen der Kreativen, der Verwerter und der Nutzer geprägt. Meist haben die Kreativen dabei das Nachsehen, da sie alle ökonomisch wertvollen Rechte pauschal an die Verwerter abgegeben haben. Die Verwerter benutzen in der Öffentlichkeit und gerade gegenüber den Nutzern die Schutzbedürftigkeit der Kreativen, die sie selbst ausgebeutet haben. Gerade die Musikindustrie ist dafür bekannt, dass sie durch so genannte Rechte-Buy-Out-Verträge9 den Künstlern sämtliche Rechte wegnimmt und auf sich übertragen lässt. Deshalb hat die Musikindustrie, unter dem Vorwand sich für die Künstler einzusetzen, nur ihren eigenen Vorteil im Sinn. Urheberrecht wandelt sich zu einem reinen Wirtschaftsrecht der Verwerter. Die Künstler haben ihre Rechte doch schon längst abgegeben. Waren früher die Reihen fest geschlossen für kleine Zirkel verwerterfreundlicher Claqueure, schwappte um die Jahrtausendwende aus den USA10 eine neue Ausrichtung über den Kontinent, die die sozialökonomischen Folgen eines „zu viel“ an Urheberecht problematisierte.11 Das wiederum sorgte für enorme Ängste bei den mächtigen Verwertern, vor allem als das Max-Planck-Institut in München ähnliche Töne anschlug. Sie drohten an Einfluss zu verlieren – an eine – so ihre Paranoia – zusammengewürfelte, chaotische Truppe aus Hackern, Politikwissenschaftlern und nutzerfreundlichen Urheberrechtlern. GEMA & Co. beschlossen, das Problem an der Wurzel zu packen. Man richtete immer mehr neue Lehrstühle ein, die sich den Schutz des „geistigen Eigentums“ auf die Fahne geschrieben hatten. Und so findet man in Bayreuth, Osnabrück oder Berlin immer mehr Professoren, die das Hohelied des ach so schutzwürdigen Verwerters singen und die den Titel „geistiges Eigentum“ in ihrer Lehrstuhlbezeichnung aufgenommen haben.12 Das Konzept des geistigen Eigentums13 stammt aus der preußischen Diskussion um 1830, als man der Bevölkerung klarmachen musste, warum Preußen unbedingt ein Urheberrecht braucht. Da war es plakativ einfach zu sagen, Urheberrecht sei so eine Art Eigentum. Das kann gar kein Eigentum sein, zum Glück, denn das Urheberrecht ist ja zeitlich begrenzt, das passt überhaupt nicht zum Eigentum. Auch wenn das Urheberrecht verfassungsrechtlich als Eigentum im Sinne von Art. 14 GG geschützt sein und ins Englische mit „Intellectual property“ übersetzt werden mag – mit Eigentum hat das nichts zu tun.
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Durch BGH gebilligt: BGH, Urt. v. 17. 10. 2013 – I ZR 41/12, NJW 2014, 1949. Benkler, 22 Intern. Rev. L. & Econ. 81, 2002, 369; ders., 114 Yale L.J. 273, 2004; ders., The Wealth of Networks: How Social Production Transforms Markets and Freedom, 2006. 11 Dazu Leistner/Hansen, GRUR 2008, 479. 12 Nicht ohne Grund hat das Max-Planck-Institut in München den Begriff nach kurzer Zeit wieder aus der Institutsbezeichnung herausgestrichen. 13 Siehe dazu https://www.deutschlandfunk.de/welcher-schutz-fuers-geistige-eigentum.761. de.html?dram:article_id=215814 (zuletzt abgerufen am 2. 4. 2020). 10
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5. Einzelgänger statt Kooperation Schließlich tragen wir (und da nehme ich mich nicht aus) als Informationsrechtler selbst einen Teil der Verantwortung. Wir haben zu stark auf der Eigenständigkeit unseres Forschungsgegenstandes beharrt. Deshalb haben wir jeden Kontakt – auch untereinander – sträflich vernachlässigt und uns in dem Gefühl des autonomen Einzelgängers gesonnt. Ich habe das erst als gefährliche Tendenz erkannt, als ich einen Kollegen aus Kassel um seine Papiere aus einem Forschungsprojekt bat, da ich ein thematisch ähnliches Forschungsprojekt für das gleiche Ministerium zu einem späteren Zeitpunkt plante. Einsilbig und schroff lehnte der Kollege die Bereitstellung ab. Wie viel mehr hätten wir erreichen können, wenn wir zumindest untereinander freundschaftlich kooperiert, uns wissenschaftlich unterstützt und in Forschungsbünden vernetzt hätten.
II. Es lebe das Informationsrecht Meines Erachtens ist das Informationsrecht zwar sterbend, aber noch lange nicht tot. Mit den richtigen Strategien und den richtigen Themen hat es sogar gerade jetzt, im vielbeschworenen Zeitalter der Digitalisierung, besondere Wichtigkeit. 1. Informationsrecht als Spezialmaterie Auch wenn viele von Information und Informationsrecht reden, ist bei genauerem Hinsehen das Informationsrecht eine Spezialmaterie für und von Spezialisten. Es erfordert ein sehr hohes Niveau an Informatik und Informationswissenschaft, um die komplexen Fragen etwa von KI oder der Governance von und durch Algorithmen nachvollziehen so können.14 Auch braucht man besondere Kenntnisse und Erfahrungen in der Geschichte des Informationsrechts, um längst bekannte Probleme einordnen und als solche warnend benennen zu können. Und man braucht endlich einmal eine profunde Forschung unter Einbeziehung ökonomischer und philosophischer Denkmodelle, um dem Forschungsgegenstand Information Rechnung zu tragen. Das letzte Buch, das in dieser Form geschrieben wurde, war das Buch von Jean Nicolas Druey über „Information als Gegenstand des Rechts“, geschrieben 1996. Seitdem ist Schweigen im Walde.
14 Hierzu wurde im September 2019 das gleichnamige Forschungsprojekt GOAL am ITM (Westfälische Wilhelms-Universität Münster) gestartet, hierzu näher: https://goal-projekt.de/ (zuletzt abgerufen am 2. 4. 2020).
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2. Forschungsgelder, kein Gießkannenprinzip Solche erfahrenen Informationsrechtler brauchen auch die Geldgeber, um manche Schreierei nach Forschungsmitteln zu entmythologisieren. Bei den vielen Papierchen sind dringend Mahner in der Wüste wichtig, die den Kaiser darauf hinweisen, dass er keine Kleidung trägt. Es bedarf dringend einer breit angelegten Zusammenschau der verschiedenen Trends im Informationsrecht unter Abkehr kurzlebiger Tagesthemen, mit Blick auf die wesentlichen Metathemen. Vieles von dem, was derzeit an Legel Tech, KI und Big Data diskutiert wird, würde sich dann als kurzlebige Eintagsfliege entpuppen. 3. Der Niedergang des Schuldrechts als Chance Auch wenn das Projekt des europäischen Schuldrechts außer Papieren wenig gebracht hat, bietet es für das Informationsrecht große Chancen. Denn die Qualität dieser Papiere ist zum großen Teil sehr gut und sollte für neue Regulierungsansätze im Informationsrecht genutzt werden. Es fehlt im Übrigen gerade in der Nähe zu diesem Projekt an Ansätzen zu einer Gesamtschau auf das Sachenrecht und auf die Nähe des Sachenrechts zum Immaterialgüterrecht. Dann kann vielleicht die übrige Frage nach einem Dateneigentum zufriedenstellend gelöst werden.15 Diese übergreifende Sicht wäre auch geboten, um das Urheberrecht aus seinem Nischendasein zu führen. Urheberrecht ist nur besonderes Privatrecht. Forscher müssten endlich den Nachweis führen, dass urheberrechtlich das Abstraktionsprinzip genauso gilt wie der Bestimmtheitsgrundsatz bei Verfügungen über Nutzungsrechte. Und das gilt nicht nur für Urheberrecht, sondern auch für den gewerblichen Rechtsschutz wie die Marke oder das Patent. Zum Schutz der Kreativen könnte das klassische Zivilrecht viel beitragen, wie etwa den Gedanken der strukturellen Vertragsimparität oder dem Blick auf den Nutzer als Verbraucher. Aber das Gewährleistungsrecht des BGB ist veraltet. Die vertragsrechtlichen Regeln etwa zur Sicherung der Datenqualität sind überaltert.16 Sie stammen aus den warenorientierten Wirtschaftsstrukturen des 19. Jahrhunderts und sichern allenfalls ausnahmsweise eine Haftung in vertraglichen oder vertragsähnlichen Verhältnissen. Dementsprechend erörtern die wenigen Literaturstimmen zur Datenqualität bei Big Data im Kern nur die Haftung für Übertragungsfehler.17 Zum Schwur kommt die Thematik Informationshaftung in der Informationsgesellschaft dadurch, dass nunmehr Daten selbst zum Gegenstand von Verträgen gemacht werden. Traditionell geht die Rechtswissenschaft für den damals einzig denkbaren Fall eines Informationsverkaufs in Buchform davon aus, dass hierbei der vertraglich vorausgesetzte Ge15
Hoeren, MMR 2019, 5; Hoeren, MMR 2013, 486. Die folgenden Überlegungen basieren auf den Vorgaben des deutschen Zivilrechts. Allerdings sieht die Rechtslage in anderen EU-Staaten nicht besser aus. 17 Vgl. Peschel/Rockstroh, MMR 2014, 571. 16
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brauch nur schwer bestimmt werden könne.18 Ein Käufer/Leser eines Buches hege keine schützenswerten Erwartungen an den Inhalt eines Buches19; solche Erwartungen seien regelmäßig nur irrelevante Informationswünsche. Grenzen seien erst überschritten, wenn eine überdurchschnittlich hohe Zahl von Druckfehlern vorliege, Seiten fehlten oder eine Gesetzessammlung vollständig veraltet sei.20 Alternativ wird mit Zusicherungen21 oder einem selbständigen Beratungsvertrag22 gearbeitet. Ansonsten bestehe die Gefahr, dass die gewöhnlich zu fordernde Verlässlichkeit der tatsächlichen Angaben verschuldensunabhängig zur Gewährleistung führen würde.23 Hintergrund für diese restriktive Haltung soll Art. 5 III 1 GG sein, der sowohl den Buch-Autor wie dessen Verleger privilegiere.24 Daraus schließt der BGH, dass Druckfehler „durch eine verkehrsübliche und wirtschaftlich allgemein vertretbare Herstellungsweise zwar weitgehend, aber nicht mit Sicherheit vermeiden lassen. Es kann deshalb im Einzelfall so liegen, daß der Verkehr auf die Abwesenheit eines einzelnen solchen Fehlers nicht vertraut und nicht vertrauen darf.“25 Selbst wenn man diese Privilegierung anerkennt, kommt diese aber nicht auf Datenlieferanten im Big Data-Zeitalter zur Anwendung. Immerhin sind Daten seit der Schuldrechtsreform „sonstige Gegenstände“ gem. § 453 I 2. Alt. BGB, sodass die §§ 433 ff. BGB entsprechend anwendbar sind.26 Veraltet sind auch die deliktischen Haftungsregeln. Vorgesehen ist nur ein Schutz gegen den informationsrechtlichen Super-GAU, den vollständigen Verlust der Daten über die Konstruktion eines Eigentumsverlusts (§ 823 Abs. 1 BGB).27 Im Übrigen rächt es sich, dass die Bewertung von Rohdaten etwa im Falle des Scorings selbst nach Auffassung des BGH als Erstellung und Mitteilung von Werturteilen gesehen wird. So soll § 824 I BGB voraussetzen, dass unwahre Tatsachen mit18 BGH, Urt. v. 08. 06. 1988 – VIII ZR 135/87, NJW 1988, 2597; auch dazu Wertenbruch, NJW 2004, 1977 (1979 f.); Haberstumpf, NJOZ 2015, 793 (796) hält daran fest, dass nur der körperliche Gegenstand Anknüpfungspunkt für einen Sachkauf sein könne. 19 H. P. Westermann, in MünchKomm, BGB § 434, 8. Aufl. 2019, Rn. 79. 20 AG Stuttgart, Urt. v. 12. 07. 1994 – 11 C 6932/94, NJW-RR 1995, 565; s. auch Faust, in: Bamberger/Roth/Hau/Poseck, BGB § 434, Rn. 70; Foerste, NJW 1991, 1433 (1436); Soergel/ Huber, 12. Aufl. § 459 aF, Rn. 344. 21 BGH, Urt. v. 13. 02. 1973 – 1 BvL 21/71, NJW 1973, 843; BVerfG, Urt. v. 13. 02. 1973 – Az. 1 BvL 21/71, NJW 1973, 843; krit. dazu Soergel/Huber, 12. Aufl. § 459 aF, Rn. 344. 22 BGH, Urt. v. 08. 02. 1978 – VIII ZR 20/77, NJW 1978, 997; näher Köndgen, JZ 1978, 389; v. Herzberg, Die Haftung von Börseninformationsdiensten, 1987. 23 H. P. Westermann, in MünchKomm, BGB 8. Aufl. 2019, § 434, Rn. 79. 24 Kritisch dazu schon: Foerste, NJW 1991, 1433 (1434). 25 BGH, Urt. v. 05. 06. 1970 – I ZR 131/68, NJW 1970, 1963. 26 RegE, BT-Drs. 14/6040, S. 24; Jickeli/Stieper, in: Staudinger, 17. Aufl. 2017, BGB § 90 Rn. 17; Beckmann, in: Staudinger, BGB,. 17. Aufl. 2017, § 453 Rn. 37. So auch OLG Düsseldorf, Beschl. v. 17. 02. 2010 – 17 U 167/09, BeckRS 2010, 9514; LG München I, Urt. v. 10. 12. 2008 – 16 HK O 10382/08, BeckRS 2009, 88429. 27 OLG Karlsruhe, Urt. v. 30. 03. 1995 – 2 AZR 1020/94, NJW 1995, 2742.
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geteilt werden, nicht bloß Werturteile.28 Vor abwertenden Meinungsäußerungen und Werturteilen biete § 824 I BGB hingegen keinen Schutz. Eine Ausnahme gelte erst dann, „wenn bei der Äußerung aus Sicht des Empfängers die Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens oder Meinens gegenüber den zu Grunde liegenden Tatsachen in den Hintergrund treten.“29 Auch soll das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb nicht weiterhelfen; denn bei der im Rahmen von § 823 I BGB notwendigen Güterabwägung sei zu bedenken, dass Art. 5 I GG nicht die „Verbreitung zutreffender und sachlich gehaltener Informationen am Markt“ verbiete, „die für das wettbewerbliche Verhalten der Marktteilnehmer von Bedeutung sein können, selbst wenn die Inhalte sich auf einzelne Wettbewerbspositionen nachteilig auswirken.“30 4. Kampf dem „geistigen Eigentum“ Erbitterter Widerstand ist auch für die nächsten Jahrzehnte geboten, um dem dümmlichen Zugang zum Immaterialgüterrecht als „geistigen Eigentum“ Grenzen aufzuzeigen. Als Alternativkonzept kommt vor allem aus den USA der legendäre Satz wohl von Stewart Brand aus der Hacker-Konferenz 1984: „Information wants to be free“31. Ich halte den Satz für wenig hilfreich. Information wants gar nichts. Information kann überhaupt nichts wollen. Das andere Problem ist, dass der Satz gegen das kantische Prinzip des Sein-Sollen-Dualismus verstößt. Selbst wenn Information empirisch frei sein will, heißt das nicht, dass sie normativ frei sein soll. Das sind die beiden Ebenen, die man immer nach Kant auseinanderhalten soll. Aus einem reinen Sein kann ich kein Sollen ableiten. Es muss noch ein zusätzlicher Satz her, der sagt, dass irgendetwas sein soll. Also kann der Satz nicht richtig sein. Vielleicht kann man daher den Satz von Brand im Sinne Kants als regulative Idee verstehen.32 Ich habe ansonsten noch keine andere Rechtfertigung für den Satz gefunden, dass Wissen von der Grundanlage frei zu sein hat. Immaterialgüterrecht hat von der Prämisse auszugehen, dass Informationen niemandem gehören. Wir stehen auf den Schultern von Riesen, unser Wissen kommt woanders her. Es wäre gefährlich für eine Gesellschaft, wenn wir einen Grundsatz hätten, der heißt: Every Information wants to be paid. Das heißt aber nicht, dass wir kein Urheberrecht brau28
BGH, Urt. v. 22. 02. 2011 – VI ZR 120/10, NJW 2011, 2204. Kritisch dazu: Weichert, ZRP 2014, 168 (170 f.). 29 Wagner, in MünchKomm, BGB § 824, 7. Auflage 2017, Rn. 16. 30 BGH, Urt. v. 22. 02. 2011 – VI ZR 120/10, NJW 2011, 2204. 31 https://en.wikipedia.org/wiki/Information_wants_to_be_free (zuletzt abgerufen am 2. 4. 2020). 32 Im Weiteren seien aus Platzgründen nur noch einige Hinweise auf weitere Veröffentlichungen des Verfassers eingefügt, die die obigen Ideen vertiefen, z. B. Hoeren, in: Arno R. Lodder, Alfred Meijboom, Dinant. L. Osterbaan (EDS), IT Law – The Global Future, NVvIR, 2006, 149.
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chen. Wir brauchen Urheberrecht, wir brauchen Patentrecht, aber als Ausnahmeerscheinungen.33 Und Ausnahmen, das haben wir als Juristen immer gelernt, haben eine interessante Eigenschaft: Sie sind eng auszulegen und damit rechtfertigungsbedürftig. Wir können nur Monopolrechte bis 70 Jahre nach Tod des Urhebers im Urheberrecht geben, wenn es eine ganz klare Rechtfertigung für so ein weites Monopolrecht gibt.34 Dieser Ansatz in der Informationsfreiheit führt zur Qualifizierung etwa des Urheberrechts als legitimationsbedürftige Ausnahme, die nur bei hinreichender Originalität und Kreativität gerechtfertigt ist.35 Das führt ferner dazu, dass die Schranken notwendigerweise im Lichte der Verfassung und der Informationsfreiheit weit auszulegen sind.36 Dem Versuch von GEMA & Co., wissenschaftspolitisch, d. h. durch die Einrichtung entsprechender Forschungseinrichtungen, Positionen der Verwerter an den Hochschulen zu etablieren, sollte auf jeden Fall der akademische Mittelfinger entgegengehalten werden. Es bleibt zu hoffen, dass die klassisch geprägten Kollegen an einer Fakultät nicht in den gefährlichen Sog des politischen Kampfbegriffes des 19. Jahrhunderts geraten und laut schreiend nach mehr geistigem Eigentum verlangen. Dann müsste man aber auch fragen dürfen: Warum schützen wir ein so kurzlebiges Produkt wie Software eigentlich urheberrechtlich? Wem ist als Programmierer damit gedient zu wissen, dass er bis 70 Jahre nach seinem Tod noch so einen weiten Schutz bekommt? Oder noch radikaler: Können wir nicht endlich dieses furchtbare SonderFotorecht abschaffen, das so viele Menschen schon in Bedrängnis gebracht hat? Die Wissenschaft hat meines Erachtens im rechtspolitischen Alltagsgeschäft keine Aufgabe. Der „Kampf ums Recht“ muss von den Lobbyisten, den Interessenvertretern, den betroffenen Kreisen ausgetragen werden. Die Wissenschaft kann nicht der Gesellschaft sagen: „So sieht die ideale Wissensordnung aus“. Wir können und müssen als Rechts-Forscher aber auf grobe Fehler hinweisen und angeblichen Sinn dekonstruieren.37 Und wir können als Wissenschaftler vor allem auf die Verfahrens-un-gerechtigkeit mancher Diskussion hinweisen. In Anlehnung an Habermas und Apel38 muss diskurstheoretisch jeder das Recht und die Möglichkeit haben, fair und gleich seine Interessen zu artikulieren und sich einzumischen in diesen Kampf um das Informationsrecht.39 Und gerade da gibt es massive Missbräuche. 33 Weiter Hoeren, Information als Gegenstand des Rechtsverkehrs – Prolegomena zu einer Theorie des Informationsrechts, MMR-Beil., 1998, 6. 34 Hoeren, Urheberrecht 2000 – Thesen für eine Reform des Urheberrechts, MMR 2000, 3. 35 Dreier/Schulze, UrhG § 2 Rn. 6; Raue, JZ 2013, 280 f. 36 Weiterführend dazu: Dreier/Schulze, UrhG vor. § 44a, Rn. 1, 7. 37 Dazu Hoeren, NJW 2008, 2615. 38 Jürgen Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln. 1983, S. 97 – 99; Karl-Otto Apel, in: Karl-Otto Apel/Matthias Kettner (Hrsg.): Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht und Wissenschaft, 1992, S. 29 ff. 39 Das ist auch der Ansatz von Lawrence Lessig, der früher bemerkenswerte Studien zum Urheberrecht veröffentlicht hat, sich dann aber als Harvard Professor entschieden hat, sich
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Wo bleiben z. B. die Verbraucherschutzverbände im Urheberrecht? Wer vertritt wirklich die Interessen der Nutzer und Kreativen? Die Frage des Urheberrechts ist kaum ernsthaft Gegenstand von Verbraucherschutzpolitik gewesen. Auch die Urheber selbst haben im Urheberrecht wenig zu sagen, zumindest wenn es um die Diskussion in Deutschland40 und der EU geht.41 Insofern gibt es noch viel tun – will man nicht das Urheberrecht in die Hypertrophie, den Kollaps treiben. 5. Vernetzung des Informationsrechts Dringend bedarf es einer institutionellen und individuellen Vernetzung des echten Informationsrechts. Dies ist allein schon deshalb geboten, um die Sichtbarkeit unserer Fragestellungen bei Hochschulleitungen und Drittmittelgebern deutlich zu erhöhen. Zum Beispiel könnte die DFG das Informationsrecht als eigenständige Rechtsdisziplin anerkennen und damit auch dem Fach Anerkennung zukommen lassen. Infolgedessen würde ein besonderer Drive entstehen, etwa für Informationsrecht als selbstverständlicher Teil des Lehrstoffes an Fakultäten. Institute auf diesem Gebiet wären selbstverständlich gekennzeichnet durch Institutsleiter zivilrechtlicher, strafrechtlicher und öffentlich-rechtlicher Prägung und einer Korona von Informatikern, Politologen, Philosophen. Nur so wäre es wahrscheinlich möglich, aus dem Strafrecht Rückschlüsse für zivilrechtliche Konstruktionen rund um das Dateneigentum zu ziehen oder Querschnittsmaterien wie Datenschutz oder Kartellrecht grenzüberschreitend zu bearbeiten. Doch die Jurisprudenz hat das Wissen um sich selbst und die eigenen Stärken vergessen. Zu stark ist der Zwang zur Interdisziplinarität in Forschung und Lehre. Das letzte Lehrbuch, das den zivilrechtlichen Studierenden noch den Unterschied zwischen Recht und Anspruch und den Sinngehalt eines Gestaltungsrechts klarmachen konnte, erschien 1991 (Gernhubers legendäres „Bürgerliches Recht“). Längere rechtsdogmatische Aufsätze finden kaum noch den Weg in die Fachzeitschriften, in denen sich der Hang zum knappen, praxisorientierten Übersichtsaufsatz fatal breitgemacht hat. Die Politik hat sich fast vollständig von der früher gängigen Einbeziehung von Rechtswissenschaftlern in Gesetzgebungsvorhaben verabschiedet; wissenschaftliche Fachbeiräte sind in Berlin und Brüssel weitgehend ersetzt worden dem Lobbyismus und dem fairen Zugang zum Kampf ums Recht zu widmen. Siehe ders., Republic lost, 2. Aufl. 2015. 40 Dies zeigte sich vor allem bei dem Kampf um die Verteilungsgerechtigkeit bei der VG Wort, als gerade die Urheberverbände auf den armen Kläger Martin Vogel einschlugen, der zugunsten der Kreativen gerichtlich eine Umverteilung der Geldtöpfe bei der VG Wort durchsetzen konnte. 41 Dies zeigt gerade die Diskussion um die Urheberrechtsrichtlinie, nach deren Verabschiedung ich die Konsequenz in Münster gezogen habe, keine Vorlesung mehr zum Urheberrecht zu halten, sondern zu urheberrechtlichen Fragen des gewerblichen Rechtsschutzes. Diese Reaktion schien mir vor allem angemessen, als wieder einmal die Urheberrechtsverbände in das Horn der Verwerter bei der rechtspolitischen Diskussion um die Urheberrechtsrichtlinie getrötet haben.
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durch lobbyistische Quick-and-dirty-Informationen. In einer Gesellschaft, in der alles schnell gehen und machbar sein muss, gelten klassische Juristen häufig als Spielverderber, als Legastheniker des Fortschritts. Doch letztendlich hilft es nicht, die „Gesellschaft“ für den Bedeutungsverlust der Rechtsdogmatik verantwortlich zu machen. Es sind die Juristen selbst, denen es nicht gelungen ist, ihr Proprium genauer zu definieren und ihr Selbstverständnis nach außen zu präsentieren. Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine eigenständige Theorie der Rechtswissenschaft als Fach mehr, sondern stattdessen Adaptionen aus anderen Fächern, sei es der Philosophie oder der Ökonomie. Und so kommt es zum Niedergang der Rechtsdogmatik bei Förderorganisationen ebenso wie in der Politik. Es entstehen gesetzliche Regelungen, deren Halbwertszeit gleich null ist, bei denen das Änderungsgesetz noch vor dem Hauptgesetz im Bundesgesetzblatt erscheint. Beispiele solcher handwerklich schlechten Schlampergesetze kennen die meisten Juristen zur Genüge. Erwähnt seien nur die ständig und falsch überarbeiteten Regelungen zu den Informationspflichten im Fernabsatzrecht. Im Strafrecht denke man an die juristisch unverständliche Stalkingregelung in § 238 des Strafgesetzbuchs, wonach jemand mit Haft bis zu drei Jahren bestraft wird, wenn er „eine andere vergleichbare Handlung“ vornimmt und dadurch die „Lebensgestaltung“ des anderen „schwerwiegend beeinträchtigt“. Von der Politik und den Lobbyisten werden solche Absurditäten stillschweigend und achselzuckend hingenommen. Hauptsache, man hat etwas getan, für die künftigen Wählerinnen und Wähler, für die Wirtschaft. Den Rest möge die Rechtsprechung lösen. Die gesellschaftlichen Kosten für die Beerdigung der Rechtswissenschaft sind hoch. Wenn Jura zur Governance verkommt, entsteht symbolische Gesetzgebung ohne Effizienz. Wenn in der Jurisprudenz der Primat ökonomischer Effizienz gelten soll, wird die Rechtsbefolgung zu einem reinen Kostenfaktor. Juristen drohen endlich zu dem zu werden, was ihnen Kirchmann 1848 prophezeite, zu „Würmern, die nur von dem faulen Holze leben“. Kirchmann hatte vor 160 Jahren auch schon die richtige Ursache für die von ihm postulierte „Werthlosigkeit der Jurisprudenz“ benannt: „Dies eben ist das Klägliche der Jurisprudenz, dass sie die Politik von sich aussondert, dass sie damit sich selbst für unfähig erklärt, den Stoff, den Gang der neuen Bildungen zu beherrschen oder auch nur zu leiten, während alle anderen Wissenschaften dies als ihren wesentlichen Teil, als ihre höchste Aufgabe betrachten.“42 Wer anderes will, muss Geld in die Hand nehmen, muss viel Energie und Engagement in die Renaissance der Rechtsdogmatik stecken. Insofern wäre es an DFG & Co., auch der Dogmatik eine Chance zu geben. Und an der Rechtswissenschaft selbst, nicht den eigenen Tod blind zu übersehen, sondern junge Forscher neben aller Ökonomie, Soziologie und Politologie auch zum rechtssystematischen Nachdenken zu ermuntern.
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Wertmann, Die Werthlosigkeit der Rechtswissenschaft, 1848, S. 31.
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III. Und was machst Du, Ulrich? Lieber Ulrich, ich, hoffe, Du bleibst in all diesen Umbrüchen weiterhin dem Informationsrecht treu. Ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass Du jetzt Fliegenfischen oder Golfspielen gehst. Ich sehe Dich eher als richtigen Motor, Initiator, Vordenker für das Informationsstrafrecht.43 In dieser Gewissheit biete ich Dir an, Dich in unsere Hall of Fame aufzunehmen. Um den Studenten und der Öffentlichkeit zu zeigen, dass Informationsrecht eine lange Vergangenheit mit vielen klugen Köpfen überall in der Welt hat, haben wir im ganzen Institut die Porträts berühmter Vordenker mit Lebenslauf. Es wäre uns eine besondere Freude und Ehre, Dich ebenfalls in diesem Kreis verewigen zu können. Und mit Dir, Deinen Ideen, Deiner Innovativität noch viele Jahre zu rechnen.
43 Dies gilt auch und besonders in Deiner Eigenschaft als Mitherausgeber des renommierten Handbuches Multimediarecht. Sicherlich wirst Du bald Zeit finden, den lange erwarteten und von Dir so heiß umkämpften Teil zum Internetstrafrecht zu vervollständigen.
Aktuelle Rechtsprechung: Materielles Strafrecht (Berichtszeitraum 1. 1. 2030 – 31. 12. 2030) Von Mustafa Temmuz Og˘ lakcıog˘ lu Der Berichtszeitraum ist im Wesentlichen von der Rechtsprechung des neu eingerichteten 7. Strafsenats für Cyberkriminalität geprägt.1 Zudem musste sich der BGH gleich mehrmals im Vorlageverfahren nach § 121a GVG zu neu in Kraft getretenen bzw. zwischenzeitlich modifizierten Strafgesetzen verhalten.2 Die Entscheidungen zum Allgemeinen Teil betreffen insbesondere die grundsätzliche Frage der „Zurechenbarkeit“, wo Rechtsprechung und Lehre immer noch bemüht sind, klarere Verantwortungsstrukturen für Rechtsverletzungen zu schaffen, für die unmittelbar Künstliche Intelligenz bzw. Computerprogramme ursächlich waren (der Gesetzgeber hielt sich gerade in diesem höchst problematischen Bereich strafrechtlicher Gefährdungshaftung bis vor kurzem noch zurück, mit § 21a StVG scheint man einen ersten Schritt zu einem mit Argusaugen beobachteten Paradigmenwechsel zu nehmen, vgl. im Folgenden I). Entscheidungen zum Besonderen Teil (im Folgenden II.) ergingen überwiegend, aber nicht ausschließlich zu neuen Strafgesetzen, die sich gerade im Cyberstrafrecht meist als digitale Pendants für analoge Straftatbestände präsentieren.3 Aber auch über Straftatbestände aus dem analogen Zeitalter war zu entscheiden, wobei die Judikatur in diesem Bereich dem Rechtsanwender anschaulich vor Augen führen kann, dass die digitale Transformation kein Siebtes Strafrechtsreformgesetz herausfordert, sondern nicht selten auch nur altbekannte Proble1 Zudem wurden ihm die Gerichtsbezirke Brandenburg und Braunschweig zugewiesen, die zwischenzeitlich dem Zuständigkeitsbereich des Sechsten Strafsenats unterlagen. 2 § 121a GVG war ein besonders umstrittener Punkt innerhalb des Maßnahmenpakets des Bundes für eine effektivere Strafrechtsverfolgung und -anwendung von 2027 (BGBl., S. 1834). Die Vorschrift ermöglicht es jedem Gericht erster oder zweiter Instanz, die Sache dem zuständigen Strafsenat zur Entscheidung vorzulegen, wenn diese die Subsumtion unter einen Straftatbestand zum Gegenstand hat, über den noch nicht höchstrichterlich entschieden worden ist. Auf diese Weise soll es ermöglicht werden, sofortige Rechtsklarheit bzw. die Schaffung von Auslegungsleitlinien für neue Straftatbestände zu schaffen. Die im Hinblick auf eine Erweiterung der Vorlegungsmöglichkeiten geäußerten Bedenken, wonach der Gedanke der Rechtseinheit in keinem vernünftigen Verhältnis zu den mit einer Erweiterung von Vorlegungsmöglichkeiten für die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege zu erwartenden Nachteilen (Stichwort: „Überlastung“) stehe (so bereits KK/Feilcke, 8. Aufl. 2019, § 121 GVG Rn. 14 zur alten Rechtslage), wurden mit der Erwägung zurückgewiesen, dass es sich nicht um eine Vorlegungspflicht handele. Zudem habe es schließlich der Strafgesetzgeber in der Hand, einer Überlastung durch eine restriktive Strafgesetzgebung vorzubeugen. 3 Das ging bereits in den Anfängen schief. Zur Analogie als Regelungstechnik im Computerstrafrecht vgl. bereits Schuhr, ZIS 2012, 441.
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me in neuem Gewand erscheinen lässt, weswegen diese auch von den Straftatbeständen der „alten Garde“ bewältigt werden können (wo dies nicht der Fall ist, muss dies nicht unbedingt ein Symptom ihrer Sanierungsbedürftigkeit darstellen, sondern könnte vielleicht auch als Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsprinzips eingeordnet werden). Ausgeblendet wird im Folgenden das Strafprozessrecht, wo die schleichende Verbreitung des Predictive Policing4 ebenso Anlass zur Sorge bereitet wie die automatisierte Erstvernehmung von Zeugen bzw. potentiellen Beschuldigten in transportablen „Aussage-Kammern“ am Tatort, deren K.I. Mikro-Gesten der (nicht selten noch aufgewühlten) Personen registriert und das Vernehmungskonzept an diese anpasst.5 Der Fokus lag indessen auf der mit Spannung erwarteten „Smart-Lens“-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts,6 die im Ergebnis dann doch wenig Überraschungen bot, wenn der Zweite Senat die Verwertbarkeit von Videos, die auf einer Smart-Kontaktlinse eines Mordopfers gespeichert sind7 – rekurrierend auf die traditionelle Tagebuch-Rechtsprechung – bejaht.8
I. Strafrecht Allgemeiner Teil 1. Strafrechtliche Verantwortlichkeit für Äußerungen eines persönlichen Avatars Das BayObLG (v. 27. 2. 2030 – 206 StRR 1013/29) hob die Verurteilung einer Angeklagten wegen schwerer Beleidigung gem. § 185a StGB für ehrverletzende Inhalte auf, welche die von ihr verwendete Bot-Software9 generiert hatte. Bei dem Profil der Angeklagten handelte es sich um einen Beauty-Blog (mit über 730.000 Followern). Nachdem sie immer mehr Anfragen und Reaktionen auf ihre Beiträge bekam, beschloss sie eine neuartige Avatar-Bot-Software zu verwenden, welche die Gesichtszüge und Gesten der Nutzerin abspeichert und eine virtuelle Kopie dieser erzeugt, die dann in Echtzeit halb- oder vollautonom Inhalte auf der Seite der Influencerin generiert. Dabei werden, je nach gezahltem Preis, die Benutzer-Avatare auf einen bestehenden Pool an Hintergrundbildern platziert bzw. Videos vollständig neu gerendert. Während das Äußere des Avatars auf neuester Technik basierte, erfolgte die Inhal4 Hierzu Gerberding/Wagner, ZRP 2019, 116; Härtel, LKV 2019, 49; Singelnstein, NStZ 2018, 1. 5 Stoklas, ZD-Aktuell 2018, 06363. 6 BVerfGE 182, 90 = NJW 2030, 1125. 7 https://www.wired.com/story/mojo-vision-smart-contact-lens/. 8 Pikant an der Entscheidung war lediglich, dass die Geschädigte während des Geschlechtsakts mit dem Angeklagten (welcher um die Aufnahme nicht wusste) getötet wurde. In der Verfassungsbeschwerde wurde zudem angebracht, dass es sich bei den sichergestellten Videos um solche im „Cache“ der Linse handelte, die nach 24 Stunden automatisch gelöscht worden wären, solange sie die Geschädigte nicht archiviert hätte. 9 https://mixed.de/samsung-enthuellt-neon-und-niemand-weiss-was-die-technologie-wirk lich-kann/.
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tegenerierung nach einem zwischenzeitlich überholten Modell (sog. „TrigrammMarkov-Generator“),10 das aus Beispielstexten Wahrscheinlichkeiten für Wortfolgen in Nutzerbeiträgen errechnet. Mittels dieser Wahrscheinlichkeiten kann die Software die im Beispielstext enthaltenen Wörter neu formulieren. Das Programm ist also abhängig von den „Lerninhalten“ und kann keine Inhalte selbst generieren bzw. Wortschöpfungen kreieren; für maximale Zielgruppenrelevanz werden die Beispielstexte aus den aktuellsten Beiträgen der Zielgruppe gebildet, welche die Angeklagte entsprechend auf „Beauty-Blogs“ beschränkt hatte, die typischerweise wenig Kontroversen auslösen. Nach den Benutzerrichtlinien des sozialen Netzwerks ist die Verwendung derartiger ultrarealistischer „Bot-Avatare“, mit denen sogar ein virtueller Video-Chat möglich ist, zulässig, wenn die Beiträge entsprechend gekennzeichnet werden; die Angeklagte verwendete jedoch ein weiteres Programm, mit dem die Markierung der so generierten Inhalte – in Echtzeit – entfernt wurde. Nach den tatrichterlichen Feststellungen hatte das Programm, das zunächst „einwandfrei“ funktionierte, plötzlich begonnen, innerhalb weniger Minuten, sowohl beleidigende Texte als auch Videos, in denen der Avatar Schimpfwörter benutzt, auf mehreren tausend Beauty-Blog-Seiten zu teilen. Als einzelne Nutzer hierauf reagierten, generierte das Programm zum Teil Texte im Privatchat, die eine Entschuldigung enthielten, teils aber auch die beschimpfenden Inhalte wiederholten oder intensivierten. Es folgten Anzeigen und Strafanträge der Adressaten bzw. Blog-Nutzer. Die Angeklagte schaltete das Programm sofort ab, als sie die Aussetzer bemerkte. Es ließ sich nicht klären, ob ihr Avatar von Dritten gehackt wurde oder – nach den Urteilsfeststellungen naheliegender – schlicht auf Datenbestände zugegriffen hatte, in denen wechselseitig auch zahlreiche Beleidigungen fielen.11 Während das AG Weißenburg i. Bay. eine Strafbarkeit der Angeklagten mit einer Überwachergarantenstellung begründete, insbesondere davon ausging, dass die Angeklagte vorsätzlich den Eindruck vermitteln wollte, dass alle vom Avatar geteilten Inhalte von ihr stammen, bejahte das BayObLG zwar eine „Äußerung“ der Angeklagten: diese habe nämlich durch die Verwendung des Avatars die Inhaltegenerierung zurechenbar verursacht. Jedoch belegten die Feststellungen nicht die Annahme eines dolus eventualis. Für das Für-Möglich-Halten reichten zwar ein abstraktes Vorstellungsbild des Verwenders vom Einsatz des Social-Bots aus; der Täter müsse also nicht sicher wissen, dass es zur Tatbestandsverwirklichung kommen wird. Erforderlich sei jedoch, dass der Verwender die Möglichkeit des Erfolgseintritts zumindest erkennt und sich dessen im Zeitpunkt der Tathandlung auch bewusst ist. Dies liege hier fern, da die Auswahl der Zielgruppe nicht erwarten ließ, dass das Gerät in kurzer Zeit mit Beschimpfungswörtern und volksverhetzenden Inhalten konfrontiert wird12 (freilich stellt sich hier die Frage, ob man nicht ebenso davon ausgehen könnte, dass überall im Internet mit 10
Vgl. auch Volkmann, MMR 2018, 58 m.w.N. U. a. auch bei einem kontroversen Bild einer erfolgreichen Bloggerin, die sich halbnackt auf ein Grillgitter gelegt hatte: hier hatten einige Nutzer die Nutzerin als „Schlampe“ und „Flittchen“ beschimpft; Begriffe, die der Avatar im Privatchat ebenso „verwendete“. 12 Zu diesem Aspekt bereits Volkmann, MMR 2018, 58 (62). 11
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einem rauen Ton zu rechnen ist). Auch eine Unterlassungshaftung komme insofern nicht in Betracht, da die Angeklagte hierfür bereits zum Zeitpunkt der „Schaffung des Gefahrenherds“ in Kauf hätte nehmen müssen, dass das Programm beleidigende Äußerungen generieren könnte. Eine strafrechtliche Gefährdungshaftung für alle denkbaren Äußerungen, die das Programm generiere, könne nicht dogmatisch konstruiert werden, sondern falle unter den Zuständigkeitsbereich des Gesetzgebers (wie auch der Gefährdungshaftungstatbestand des § 21a StVG zeige). 2. Cybermobbing durch Unterlassen Mit einer eher klassischen Frage der Überwachergarantenstellung der Eltern für das Kind hatte sich das OLG Hamm zu beschäftigen (v. 11. 11. 2030 – 4 RVs 127/30). Den Feststellungen der Vorinstanz zufolge, hatte der 11-jährige Sohn der Angeklagten gemeinsam mit drei weiteren Schülern eine Klassenkameradin so lange drangsaliert (in Form von Beleidigungen, Smart-Phone-Terror und Schubsern in der Schulpause), bis die Eltern der Geschädigten beschlossen, die Schule zu wechseln. Die Vorinstanz bejahte zwar eine Garantenstellung der Angeklagten, die als Eltern dazu verpflichtet seien, die notwendigen Maßnahmen zu treffen, damit ihr Kind keine Straftaten begehe. Allerdings sei es den Eltern (wie auch Lehrern) nicht möglich gewesen, erfolgsabwendend einzugreifen, insb. hätten die Eltern verschiedene Präventionsmaßnahmen (Beratung, Erziehungsmaßregeln, Überwachung etc.) angestrengt; eine weitergehende Kontrolle des Kindes sei den Eltern – auch im Lichte des Art. 6 GG – entgegen der Auffassung der revidierenden Staatsanwaltschaft nicht zuzumuten. Das Urteil fand breite Zustimmung. Insofern erstaunt es, dass nunmehr darüber diskutiert wird, einen eigenständigen Straftatbestand für die Aufsichtspflichtigen zu schaffen, nachdem der Vorstoß die Strafmündigkeit von Jugendlichen (zumindest für bestimmte Deliktsgruppen) auf 12 Jahre herabzusetzen, ebenso vehement zurückgewiesen worden war wie die Schaffung eines eigenständigen Straftatbestands für Cybermobbing.13 3. Augmented Reality und eigenverantwortliche Selbstgefährdung Schon seit geraumer Zeit wurde davor gewarnt, dass Werbung unter Verwendung der sog. „Augmented Reality“14-Technik gerade bei älteren Personen zu ge-
13 Hierzu bereits Preuß, KriPoz 2019, 93; monographisch Doerbeck, Cybermobbing – Phänomenologische Betrachtung und strafrechtliche Analyse, 2019. 14 Unter erweiterter Realität (auch englisch augmented reality, kurz AR) versteht man die computergestützte Erweiterung der Realitätswahrnehmung. Häufig wird die Technologie zur Ergänzung von (Echtzeit-)Videos mit computergenerierten Zusatzinformationen oder virtuellen Objekten genutzt (anfangs noch im Rahmen der Analyse von Fußballspielen oder in Navigationsgeräten; nunmehr v. a. im Marketing-Bereich); zu den Einsatzgebieten der AR und den damit verbundenen Rechtsfragen vgl. bereits Hilgert, CR 2017, 472. Zur Nutzung von
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fährlichen Schreckreaktionen führen könnte und dementsprechend auch für eine strengere Regulierung dieser Form von Reklame plädiert.15 Das LG Stade (v. 12. 6. 2030 – 132 Qs 88/29) hatte sich nunmehr mit dem tragischen Fall des Todes einer Passantin zu beschäftigen, welche die Werbung nicht als solche erkannt hatte. Die Geschädigte stand unter einem Wartehäuschen einer Bushaltestelle und hielt Ausschau nach dem nächsten Bus. An den Wänden des Wartehäuschens waren keine Werbeplakate bzw. normales Plexiglas angebracht, sondern durchsichtige Monitore. Auf diesen wurden in regelmäßigen Abständen Werbefilmchen abgespielt, die auf das reale Umfeld im Hintergrund (Hochhäuser, Kreuzungen, Läden) angepasst waren. In einem der Werbungen sprang ein Löwe auf die Straße, der kurze Zeit später nach einem Schokoriegel griff. Der Löwe sah äußerst realistisch aus, sodass sich die Illusion für das nicht gewohnte Auge erst durch den Schriftzug im Anschluss bemerkbar machte. Auf dem Glasmonitor waren auch keine Warnhinweise angebracht. Die Geschädigte, die vertieft in ihr mobiles Tablet blickte, kannte diese Technik nicht. Sie erschrak, als sie kurz aufblickte und durch den Monitor den virtuellen Löwen sah, derart heftig, dass sie einen unkontrollierten Satz nach hinten machte und dabei unglücklich mit dem Kopf auf den Boden schlug. Sie starb am Tatort. Das LG Stade verurteilte sowohl den für dieses Werbungskonzept zuständigen Mitarbeiter als auch die Werbeagentur wegen fahrlässiger Tötung gem. § 222 StGB i.V.m. § 2 I VerbStrG. Eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung der Angeklagten sei unabhängig davon zu bejahen, dass es sich bereits um eine geläufige Technologie handele, von denen viele Firmen Gebrauch machten und mit denen die meisten Verbraucher vertraut seien. Denn je realistischer die Abbildungen würden, umso schwieriger sei es (auch für Personen, welche die Technologie kennen), zwischen Realität und sog. „erweiterter Realität“ zu unterscheiden. Dies könne jedoch nicht zulasten des Verbrauchers gehen; vielmehr müsse der Verwender – m. E. zutreffend – dafür Sorge tragen, dass die Adressaten im Stande bleiben, AR als solche zu erkennen. Insofern sind die Grundsätze zur eigenverantwortlichen Selbstgefährdung – wie sie im Kontext der Verwendung von Virtual-Reality-Applikationen – konkretisiert wurden nicht anwendbar, da sich der Nutzer im Unterschied zur VR weder bewusst noch freiwillig den Inhalten aussetzt. 4. Digital antizipierte Notwehr Das OLG Naumburg (v. 22. 02. 2030 – 2 Rv 157/29) hob die Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung gem. §§ 223, 224 I Nr. 2 StGB in einem Fall auf, in dem der Angeklagte unter Verstoß gegen das Waffenrecht eine computergesteuerte Selbstschussanlage in seinem Garten positioniert hatte. Die Anlage hatte aufgrund Augmented Reality während der Fahrzeugführung Will NJW 2019, 1633. Grundlegend Hoeren, FS-Koehler, 2014, S. 299 ff. 15 https://www.horizont.net/marketing/nachrichten/Augmented-Reality-Wie-Pepsi-die-Lon doner-mit-Meteoriten-Tentakel-und-Tiger-veraeppelt-119782.
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einer Verschmutzung der Sensoren eine Gartenreinigungskraft nicht richtig erkannt und – nach Abgabe eines Warnschusses (welche die Geschädigte wiederum nicht hörte, weil sie einen Gehörschutz trug) – am Bein getroffen. Das OLG betont hierbei, dass – wie das AG ebenso zutreffend erkannt habe – eine Strafbarkeit des Angeklagten nicht schon an einer „eigenverantwortlichen“ Entscheidung der KI (mithin der Selbstschussanlage) scheitere; ebenso habe der Mitarbeiter infolge der Programmierung des Geräts nicht mit einer Gefahr für sich während der Verrichtung seiner Arbeit rechnen müssen. Umgekehrt sei die Auffassung der Vorinstanz, die eine „präventive“ Notwehr gem. § 32 StGB pauschal ablehnt, rechtsfehlerhaft. Bürger hätten das Recht, den Schutz von Heim und Gut durch einen Verteidigungsautomaten selbst in die Hand zu nehmen; dabei sei es unschädlich, dass der Angeklagte gegen das Waffengesetz verstoßen habe, jedenfalls habe dies keinen Aussagegehalt für eine potentielle Rechtfertigung nach § 32 StGB.16 Zudem ermögliche es die heutige Technik, die Parameter für eine „zukünftige Notwehrhandlung“ bereits beim Aufstellen des Geräts den Anforderungen des § 32 StGB entsprechend einzustellen, sodass die Notwehrhandlung „in spe“ nicht zu einem Glücksspiel verkomme, wie noch im Kontext zu älteren Selbstschussanlagen eingewendet wurde.17 Wenn aber eine präventive Notwehr nicht gänzlich abgelehnt werden könne, müsse im vorliegenden Fall erwogen werden, inwiefern der Angeklagte für die „fehlerhafte“ Einordnung der Geschädigten als Angreifer strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann. Dabei dränge die Konstellation zu einer Einordnung als Erlaubnistatbestandsirrtum, sodass dem Angeklagten allenfalls Fahrlässigkeit zur Last falle.18 Diesbezüglich ließen die Feststellungen allerdings noch offen, inwiefern der Angeklagte, der den Geschädigten mit der Reinigung der Anlage beauftragt habe, überhaupt eine Sorgfaltspflicht verletzt habe; zudem müsse eruiert werden, ob eine fehlerhafte Programmierung der Selbstschussanlage dahingehend bestand, dass sie „aktiv“ blieb, obwohl sie infolge der Verschmutzung nicht mehr im Stande war, potentielle Gefahren richtig einzuordnen. 5. (Schwere) Fahrlässige Körperverletzung infolge verbotener Dilemmata-Programmierung eines teilautomatisierten Fahrsystems (§§ 229, 229a Nr. 3 StGB) Der BGH hat die Strafbarkeit eines Angeklagten wegen fahrlässiger, schwerer Körperverletzung gem. §§ 229, 229a Nr. 3 StGB19 infolge eines Unfalls während 16
Rönnau, JuS 2015, 880 (881); vgl. auch Kunz, GA 1984, 539 (544). Mitsch, in: Baumann/Weber/Mitsch, StrafR AT, 11. Aufl. 2003, § 17 Rn. 15. 18 Trentmann, JuS 2018, 944 (949); ders. Jura 2019, 330. 19 Die Vorschrift fand trotz erheblicher Kritik im Gesetzgebungsverfahren ihren Weg in das StGB, nachdem man sich immer häufiger über den Strafrahmen des § 229 StGB – gerade in Fällen bewusster Fahrlässigkeit – beklagte, der bei schweren Verletzungsfolgen das „objektive Unrecht“ und dem Vergeltungsbedürfnis des Geschädigten nicht hinreichend gerecht werde, vgl. BT-Drs. 29/2533, S. 22. 17
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der Fahrt mit seinem teilautonomen PKW20 aufgehoben und den Angeklagten freigesprochen (v. 4. 2. 2030 – 4 StR 112/2029). Das erkennende Tatgericht hatte festgestellt, dass der Angeklagte von der zuständigen Behörde aufgefordert wurde, den aus dem Ausland importierten Wagen auf seine Programmierung in sog. „Dilemma-Konstellationen“ überprüfen und ggf. umprogrammieren zu lassen.21 Dieser Aufforderung kam der Angeklagte nicht nach, wobei sich nicht nachweisen ließ, ob dies absichtlich bzw. in dem Wissen geschah, dass das Fahrzeug so eingestellt war, dass sich das System in Notstandssituationen (und zwar in solchen, in denen sich nicht alle Beteiligten am Geschehen von vornherein im Gefahrbereich befinden22) stets für den Fahrer entschied. Nach einer Richtlinie 2027/34/EG des Europäischen Parlaments dürfen Kfz mit hoch- oder vollautomatisierter Fahrfunktion in Dilemma-Konstellationen dagegen nur zugunsten des „Fahrers“ eingestellt sein, wenn sich die beeinträchtigten Dritten ohnehin im Gefahrbereich befanden.23 Hierüber ist der Fahrer umfassend aufzuklären. Als sich der Angeklagte mit seinem PKW auf den Weg zur Arbeit machte, lief an einer vielbefahrenen Straße innerorts unvermittelt ein Kleinkind auf die Straße. Die spätere Geschädigte, die Mutter des Kleinkinds, rannte dem Kind hinterher und zog es weg, stand allerdings noch selbst auf der Straße; der Angeklagte realisierte die Gefahr und wollte geistesgegenwärtig abbremsen und das Lenkrad umreißen; das System rechnete zutreffend aus, dass ein Ausweichmanöver für den Fahrer mit mehr Risiko verbunden war als eine potentiell für die Geschädigte lebensgefährliche Kollision. Daher blockierte es das Lenkrad, als es das Ausweichmanöver registrierte sofort und es kam zum Aufprall, bei dem sich die Geschädigte mehrere Halswirbel brach und querschnittsgelähmt blieb. Der Vierte Senat verneinte zunächst – wenig überraschend – eine unmittelbare, an die Fahrt knüpfende, Fahrlässigkeitsstrafbarkeit schon deswegen, weil der Angeklagte keine Möglichkeit hatte, in das Geschehen einzugreifen. Im Anschluss diskutiert er allerdings den Fahrlässigkeitsvorwurf, der nach Auffassung der Vorinstanz darin bestand, die Dilemmata-Software des hochautonomen Fahrzeugs nicht den europäischen Vorgaben angepasst zu haben. Aber auch diesbezüglich kommt der Senat im Ergebnis zur Straflosigkeit mit der – an den Gedanken des fehlenden Pflichtwidrigkeitszusammenhangs knüpfenden – Überlegung, dass sich das System auch bei einer zulässigen Programmierung dafür hätte entscheiden dürfen, nicht einzugreifen, da beim autonomen Fahrer die Entscheidung, nicht auszuweichen, mangels „Not20
https://www.zeit.de/mobilitaet/2018 - 08/autonomes-fahren-robotik-kuenstliche-intelli genz-auto-mobilitaet. 21 Grundlegend hierzu Weigend, ZIS 2017, 599; Gless/Weigend, ZStW 126 (2014), 561; Engländer, ZIS 2016, 608; Hilgendorf, in: Autonome Systeme und neue Mobilität, 2017, S. 143; Wörner, ZIS 2019, 41. 22 Zu dieser Fallgestaltung Engländer, ZIS 2016, 608 unter Bezugnahme auf Kohler, ARSP 8 (1915), 411 (431 f.); hierzu ebenfalls Wörner, ZIS 2019, 41 (48). 23 Oder anders herum formuliert: Der PKW darf nicht dahingehend programmiert werden, im Falle eines Notstandes „korrigierend“ zugunsten (bzw. vorbehaltlos) den Fahrzeuginsassen – um jeden Preis – zu schützen, so lautete bereits der „dogmatische Befund“ in der Strafrechtswissenschaft, statt vieler Wörner, ZIS 2019, 41 (48).
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standshandlung“ ebenso wenig über § 34 StGB gerechtfertigt werden müsste. Freilich könnte man diesbezüglich einwenden, dass die Software, die noch auf dem Pkw des Angeklagten gespeichert war, letztlich „aktiv“ in das Geschehen eingriff und diesen zu einem „Nichteingreifen“ zwang; insofern könnte man – die grundsätzliche Frage, ob der schmale Grat zwischen Unterlassen und aktivem Tun über die Recht- und Unrechtmäßigkeit von Handlungen entscheiden sollte, ausblendend – die Vergleichbarkeit der hypothetisch hinzugedachten Situation durchaus anzweifeln.24 Der Straftatbestand des § 21a StVG, der das Benutzen (der Gesetzgeber gab den tradierten Begriff des „Führens“ auf) oder Halten eines halb- oder vollautomatisierten Kfz unter Strafe stellt, wenn das Kfz eine Tötung oder Körperverletzung eines Verkehrsteilnehmers (außer der Fahrzeuginsassen) verursacht hat,25 mithin der erste echte strafrechtliche Gefährdungshaftungstatbestand, war zum Tatzeitpunkt noch nicht in Kraft getreten. 6. Persönliche Vorwerfbarkeit bei vorgeschlagener Kosten-Nutzen-Analyse Die Hinzuziehung smarter Analyseprogramme zur Berechnung und Abschätzung potentieller Risiken für das Gesellschaftervermögen (besondere Formen sog. „RoboAdvisor“26) darf – so der Sechste Senat – weder pauschal zur Verneinung eines Untreuevorsatzes führen noch über eine analoge Anwendung des § 17 StGB Berücksichtigung finden, wenn sich die „Prophezeiung“ des Programms (etwa hinsichtlich des Ausfallsrisikos bei einem Kreditgeschäft) nicht bewahrheitet, v. 3. 6. 2030 – 6 StR 133/29. Der BGH hält damit an seiner Tendenz fest, einer „Flucht in die Software“ entgegenzuwirken. Die Hinzuziehung derartiger Programme entfalte allerdings eine wichtige Indizwirkung (wie die Hinzuziehung sonstiger Gutachter und Experten auch), vornehmlich im Kontext der Ermittlung einer Pflichtverletzung. Dabei betont der Sechste Senat in einem obiter dictum, dass auch die Hinzuziehung solcher Analyseprogramme Berücksichtigung finden müsse, deren Verwendung nach den Vorschriften des WpHG, BörsenG und KWG verboten sei.
24 Es hat etwas Ironisches an sich, dass der Angeklagte in seiner Einlassung die Bemerkung fallen ließ, dass es ohnehin ein „Unding“ sei, dass er wegen dem geltenden Verbot der fahrerprivilegierenden Programmierung, ein Fahrzeug führen müsse, das ihm in Dilemma-Konstellationen aufzwinge, die Gefahr hinzunehmen, statt die bestmögliche Option für dessen körperliche Unversehrtheit auszuwählen, er sich aber in der konkreten Situation selbst für das gefährlichere Manöver entschied. 25 Es handelt sich um eine objektive Bedingung der Strafbarkeit, vgl. BT-Drs. 30/1265, S. 56. 26 https://www.dasinvestment.com/fintechs-erster-robo-advisor-draengt-ins-kreditgeschaeft/.
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II. Strafrecht Besonderer Teil 1. Delikte gegen das Leben und die körperliche Unversehrtheit a) Verleitung zur Selbsttötung, § 216a n.F. StGB Im Vorlageverfahren nach § 121a GVG27 entschied der Fünfte Senat (v. 6. 5. 2030 – 5 StR143/29), dass zur Auslegung der Tathandlung des Verleitens im neu eingefügten Tatbestand der Verleitung zur Selbsttötung (§ 216a StGB) das etablierte Begriffsverständnis zum (praktisch freilich unbedeutsamen) § 160 StGB übertragen werden kann. Erforderlich ist demnach ein „Einwirken“ auf den potentiell Suizidwilligen; als Kommunikationsdelikt verlange § 216a StGB, dass der Adressat eine Erklärung wahrnehme; die bloße Schaffung einer suizidfördernden Situation (Positionieren von Medikamenten zur Selbsttötung im Schlafzimmer) genüge nicht. Umgekehrt erfordere der Wortlaut „Verleiten“ nicht, dass sich der Adressat für einen Suizid entscheide, geschweige denn unmittelbar ansetze (wie dies in der Literatur teilweise einschränkend gefordert wurde28); dagegen spreche bereits der gesetzgeberische Wille, den Tatbestand in Anbetracht der sich in neuerer Zeit mehrenden „SuizidForen“ in sozialen Netzwerken, als abstraktes Gefährdungsdelikt auszugestalten.29 b) Exoskelett als gefährliches Werkzeug gem. § 224 I Nr. 2 StGB Der Dritte Senat hat in einem Fall, in dem ein Fabrikmitarbeiter in einer hoch technisierten Produktionsfirma aufgrund persönlicher Befindlichkeiten einem Kollegen einen Faustschlag verpasste, die Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung gem. § 224 I Nr. 2 StGB aufrechterhalten (v. 6. 5. 2030 – 3 StR 90/30). Der Geschädigte war infolge des Faustschlags drei Meter durch den Raum geschleudert worden, erlitt allerdings nur einen Bluterguss unter dem rechten Auge, weil sowohl der Angeklagte als auch der Geschädigte von seinem Arbeitgeber mit Exo-Skeletten30 ausgestattet wurden, die den Körper der Mitarbeiter unterstützen und deren Bewegungen verstärken sollen. Der Senat sieht es als unschädlich an, dass der Faustschlag selbst eine Handlung mittels eines „Körperteils“ darstellt und damit – nach ständiger Rechtsprechung – nicht unter § 224 I Nr. 2 StGB subsumiert werden könnte.31 Denn die Stärke des Faustschlags werde erst durch das Exo-Skelett ermöglicht. Dies unterscheide die Konstellation von früheren Entscheidungen, in denen die erlittenen Verletzungen (etwa bei einem Anfahren mit einem Kraftfahrzeug32) erst infolge eines Sturzes eintreten. Ebenso sei es – wie der Fall selbst belege – nicht von Relevanz, 27
Siehe bereits Fn. 2. So etwa Kudlich, NStZ 2025, 155 (157). Krit. Kubiciel, NK 2025, 1 (12). 29 BT-Drs. 26/2465 S. 14. 30 https://www.golem.de/news/german-bionic-aktives-exoskelett-cray-x-hilft-beim-heben1904 - 140431.html. 31 Hardtung, in: Münchener Kommentar StGB, 3. Aufl. 2017, § 224 Rn. 15 m.w.N. 32 Vgl. etwa BGH StV 2013, 438. 28
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dass der Geschädigte seinerseits ein Exo-Skelett trug und damit keine Gefahr einer besonders schweren Verletzung bestand. Der Fall hat in der Presse unter der Überschrift „Bad Iron Man“ eine öffentliche Debatte rund um den Vertrieb derartiger „körperlicher Upgrades“, aber auch zur rechtlichen Zulässigkeit einer arbeitsrechtlichen Verpflichtung zum Tragen derartiger „Schutzanzüge“ ins Rollen gebracht.33 Der unlängst bekannt gewordene Sachverhalt, in dem ein Mitarbeiter seinen Arbeitgeber wegen Muskelschwunds und Verletzungen durch einfachste Tätigkeiten zuhause ohne Exoskelett verklagt hat, dürfte die Diskussion weiter anheizen. 2. Delikte gegen das Allgemeine Persönlichkeitsrecht a) Bedrohung mit einer Verleumdung Das AG Sindelfingen (v. 28. 03. 2030 – 17 Ds 74 Js 18981/29) entschied, dass die bloße Ankündigung in einer Talk-Show, alsbald mit neuen unangenehmen Wahrheiten über einen lokalen Kommunalpolitiker „herauszurücken“, nicht den Tatbestand der Bedrohung (mit einem Vergehen) erfülle. Bekanntermaßen hatte der Gesetzgeber mit einer erneuten Änderung des § 241 StGB den Bezugspunkt der Bedrohung auf alle denkbaren Vergehen erstreckt,34 was freilich Anwendungsfriktionen (Bedrohung mit einer Bedrohung?) nach sich zog. Das AG Sindelfingen stellt dabei in erster Linie den Vorsatz des Angeklagten bzgl. der Bezugstat in Frage, der jedenfalls fernliege, wenn er selbst von der Wahrheit des „zurückgehaltenen“ Sachverhalts ausgehe. Freilich könnte man bereits im objektiven Tatbestand verlangen, dass sich aus der Bedrohung der potentielle Charakter einer Verleumdung für den Adressaten ergeben muss. Bei Bekundungen gegenüber Dritten wird dies – wenn die Drohung Wirksamkeit entfalten soll – gerade, wie auch der vorliegende Fall zeigt, nicht der Fall sein. Anders formuliert: Der Angeklagte müsste bereits für einen verständigen Dritten mit der Begehung einer Verleumdung drohen. b) Satirische Deep-Fake-Videos Das OLG Düsseldorf (v. 24. 09. 2030 – 5 Ss 83/29) entschied, dass der Tatbestand der Identitätstäuschung nach § 267a StGB35 einer verfassungskonformen Auslegung in denjenigen Fällen bedarf, in denen das „Deep Fake“-Video (speziell solch eines, bei dem mit Hilfe Künstlicher Intelligenz die gesprochenen Worte einer Person durch eingesprochene Worte samt angepasster Mimik ersetzt werden36) satirisch eingeklei33 Martini/Botta, NZA 2018, 625. Zum Exoskelett im System der gesetzlichen Krankenversicherung Krüger, NZS 2019, 441. 34 BT-Drs. 28/1423, S. 22. 35 Eingefügt durch das Gesetz zur Verbesserung des Persönlichkeitsrechtsschutzes v. 23. 3. 2024. Zum davor noch eher unausgegorenen Schutz des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts im StGB Og˘ lakcıog˘ lu, Sagen Dürfen, 2021, S. 322 ff. 36 Lantwin, MMR 2019, 574.
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det ist. Soweit sich aus dem übrigen Videoangebot des Betreibers ergebe, dass es sich um Deep-Fake Videos handele und diese wiederum dazu dienten, an der politischen Meinungsbildung teilzuhaben bzw. an bestimmten Personen und Ereignissen Kritik zu üben, müsse eine Tatbestandsverwirklichung im Lichte des Art. 5 I GG verneint werden. Tatbestandlich könne dies an der Täuschungs- bzw. Schädigungsabsicht, die § 267a StGB verlangt, festgemacht werden. 3. Gemeingefährliche Delikte Das OLG Dresden (v. 19. 09. 2030 – 1 OLG 22 Ss 563/29) hat eine Verwirklichung des § 316 StGB, der noch keine Änderungen erfahren hat, obwohl sich autonome Verkehrsnetze in Großstädten nach und nach mehren, in einem Fall verneint, in dem sich der Fahrer im betrunkenen Zustand (1,2 Promille) per Smart-Phone-Applikation einen – innerhalb eines eingeschränkten Straßennetzes im Zentrum – vollautonom fahrenden PKW in der Innenstadt lieh und sich von diesem nach Hause fahren ließ. Der Angeklagte verstieß hierbei gegen die AGB des Autoverleihers, wonach die Benutzung des Gefährts nicht im betrunkenen Zustand erfolgen darf (die automatische Kontrolle des Atemalkoholgehalts hatte man zwischenzeitlich deaktiviert, da die Kunden häufig falsche Testergebnisse beklagten); der Senat hatte im konkreten Fall ein „Führen“ des PKW verneint, weil der Angeklagte zu Beginn der Fahrt die vollautonome Fahrweise angewählt habe. Zwar müsse er (worauf ihn das System bei Fahrtantritt auch aufmerksam macht) jederzeit damit rechnen, das Steuer übernehmen zu müssen, auch innerhalb des „vollautonomen Verkehrsnetzes“. Dies genüge jedoch nicht für ein „Führen“ im Sinne der Vorschrift. Insofern könne hier nichts anderes gelten als bei einem betrunkenen Fahrlehrer, bei dem das OLG Dresden schon vor 25 Jahren entschieden hatte, dass die Annahme eines Führens in derartigen Fällen gegen das Analogieverbot verstoßen würde.37 4. Vermögensdelikte a) Diebstahl und Unterschlagung Der Diebstahl unter Zuhilfenahme einer Drohne erfüllt nach Auffassung des BayObLG (v. 20. 3. 2030 – 206 StRR 1213/29) keine der in § 243 I StGB genannten Regelbeispiele. Im konkreten Fall hatte der Angeklagte eine Paketdrohne38 umprogrammiert, um von Lieferdiensten „frisch abgelieferte“ Pakete wiederum aufzunehmen und wegzutransportieren. Der § 243 I Nr. 1 StGB erfasse nur das Eindringen „natürlicher Personen“, zumal die bösen Drohnen in vielen Fällen von räumlich außerhalb der in der Vorschrift genannten Schutzsphären operieren. Ebenso scheide § 243 I 37
OLG Dresden NJW 2006, 1013 m. krit. Anm. Eisele, JA 2007, 168. https://parcellab.com/blog/logistik/fliegende-lieferanten-wann-setzen-sich-lieferdrohnenim-e-commerce-durch/. 38
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Nr. 2 StGB aus: die Pakete selbst seien nicht gegen die Wegnahme besonders gesichert: dies gelte trotz des Umstands, dass inzwischen fast alle Pakete dank eines kleinen GPS-Peilsenders geortet bzw. etwaiger Barometer Veränderungen in der Höhenlage des Paketes dem Besteller per Smartphone-App gemeldet werden könnten. Insofern gelte hier nichts anderes als für Sicherungsetikette, welche den Gegenstand nicht gegen eine Wegnahme sichern, sondern lediglich die Wiedererlangung des Pakets ermöglichen.39 Angesichts häufigerer Berichte von Drohnendiebstählen sah sich aber das BayObLG wohl veranlasst, einen unbenannten, besonders schweren Fall anzunehmen. Sozusagen mit einem umgekehrten Fall hatte sich das KG (v. 12. 12. 2030 – 161 Ss 150/30) zu beschäftigen: Der Täter hatte eine Paket-Drohne eines bekannten OnlineHändlers mittels Elektroimpuls lahmgelegt, sodass sowohl die Drohne als auch das auf dem Weg zu einem Kunden transportierte Paket auf den Boden stürzten. Im Anschluss nahm er, wie von Anfang an geplant, das Paket an sich. Während die Vorinstanz wegen Diebstahls in einem (unbenannt) schweren Fall gem. §§ 242 I, 243 StGB verurteilte, wies das KG darauf hin, dass § 242 I StGB am (immer noch geltenden) Dogma der Notwendigkeit eines Gewahrsamsbruchs scheitere. Zwar stehe der faktisch-normative Gewahrsamsbegriff einer Sachherrschaft der Mitarbeiter des Logistikunternehmens nicht entgegen. Doch hätten diese durch die Beschädigung der Drohne auch den Gewahrsam an dem Paket verloren. Insofern sei der Fall nicht mit sonstigen Fällen des Gewahrsamsbruchs in seiner intensivsten Form (bspw. der Tötung im Rahmen einer Wegnahme40) vergleichbar, da der Angeklagte im vorliegenden Fall das Paket erst im Anschluss an sich nehmen konnte. Insofern komme nur eine Strafbarkeit wegen Unterschlagung gem. § 246 I StGB in Betracht. Die rechtliche Einordnung des KG bleibt freilich angreifbar; schließlich erscheint bereits fraglich, den Gewahrsamsverlust auf die Zerstörung der Drohne (ihrerseits strafbar als besonders schwerer Fall der Sachbeschädigung gem. § 303 IV StGB n.F.) zurückzuführen, obwohl die Drohnen allesamt „getraced“ werden, ihr letzter Standort also von den Gewahrsamsinhabern abgerufen werden kann. Insoweit dürfte die Konstellation weniger mit den klassischen Fällen verlorengeganger, sondern – wenn überhaupt – innerhalb eines fremden Gewahrsamsbereichs vergessener Sachen vergleichbar sein. b) Aufnahme in einen Clan als „Vorteil“ i.S.d. § 265d I, VII StGB Das OLG Saarbrücken (v. 15. 05. 2030 – Ss 104/2029) entschied, dass die versprochene Aufnahme in einen renommierten „Clan“ im E-Sport einen Vorteil i.S.d. § 265d I StGB (der über die Gleichstellungsklausel für sog. „professionellen
39 40
Bosch, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019 Rn. 28. Vgl. etwa Kudlich, JA 2017, 428 (430).
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E-Sport“ nach § 265d VII StGB Anwendung findet41) darstellen kann; gerade bei Wettbewerben mit mehreren Wettstreitern sei aber ein genauerer Blick auf das Merkmal der Unrechtsvereinbarung zu werfen. So wirke sich das Versprechen einem Clanmitglied gegenüber, sich besonders für einen Sieg zu bemühen, um einem anderen rivalisierenden Clan Punkte zu stehlen zwar zugunsten eines Wettbewerbsgegners aus, sei aber auch von Vorteil für den Sportler bzw. dessen Clan selbst. 5. Gesundheitsrecht a) Recht auf reproduktive Selbstbestimmung In einem aufsehenerregenden Nichtannahmebeschluss hat das BVerfG (v. 20. 11. 2030 – 2 BvR 31/29) die gesetzliche Regulierung der Genmanipulation (bzw. deren weitreichendes Verbot) nach den Vorschriften des ESchG für verfassungsgemäß erklärt. Zwar intensiviere sich der Eingriff in das zweifelsohne bestehende Recht der sich fortpflanzenden Individuen auf reproduktive Selbstbestimmung (Art. 2 I i.V.m. Art. 1 GG) mit fortschreitender Technik;42 allerdings sei dieser Eingriff nicht nur vor dem Hintergrund zu sehen, dass mit der Zulassung eines „Baby-Designing“ das Menschenbild des Grundgesetzes aufgegeben werde, sondern auch vor der Tatsache, dass jedenfalls der Staat nicht dazu gezwungen werden könne, an einer „Verbesserung“ des Genoms mitzuwirken. Dies führe aber zur Konsequenz, dass eine kontinuierliche Lockerung der Regulierung nur denjenigen zugutekommt, die sich derartige „genetische enhancements“ leisten könnten. Dies sei aber im Hinblick auf die ohnehin bestehende soziale Privilegierung wohlhabenderer Personen keine Entwicklung, der im Sozialstaat Vorschub geleistet werden sollte.43 b) Nano-Technologie und Arzneimittelrecht Dass das Gesundheitsrecht den aktuellen Entwicklungen in der Bionikforschung und Nanotechnologie meilenweit hinterherhinkt, hat ein publik gewordener Fall in Düsseldorf anschaulich demonstriert.44 Ein schwerkranker Krebspatient hatte sich, nachdem andere Therapien fehlschlugen, von einem Angeklagten, der als Tumorforscher in einem renommierten Medizintechnikkonzern angestellt war, mit sog. Nanopartikeln behandeln lassen, die über den Blutstrom in ein Tumor-Blutgefäß gelangen und dort den Tumor bekämpfen sollten. Die Nano-Partikel waren noch nicht zugelassen (das Zulassungsverfahren geriet aufgrund der schwierigen Einordnung der Partikel als Arzneimittel i.S.d. § 2 I Nr. 1 AMG a.F. ins Stocken; insbesondere 41
Angestoßen wurde die Diskussion rund um die Notwendigkeit einer Regulierung des E-Sports von Kubiciel, ZRP 2019, 200. 42 Lindenberg, NZFam 2019, 941. 43 Vgl. hierzu auch Deutscher Ethikrat, Eingriffe in die menschliche Keimbahn, 2019, S. 184. 44 https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/heilung-durch-nano-449986.
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war unklar, ob es sich nicht um ein Medizinprodukt nach § 2 IIIa AMG i.V.m. § 2 III Nr. 7 MPG a.F. handeln könnte45). Diese Schwierigkeiten sah auch die Staatsanwaltschaft Düsseldorf, welche – nach Schlagzeilen wie „Versuch am Menschen?“ umgehend Ermittlungen einleitete, das Verfahren aber letztlich – zumindest faktisch wohl auch vor dem Hintergrund, dass die Therapie erfolgreich war – letztlich nach § 170 II StPO einstellte (v. 03. 05. 2030 – 1613 – 6 – 137 Js 276 – 29).
III. Und jetzt wieder 2020. Alles Gute dem Jubilar! Zukunftsvisionen haben immer etwas Fantastisches an sich; dies auch, weil man nicht selten dazu neigt, das Potential der technischen Fortentwicklung und der baldigen Alltagstauglichkeit präsenter Innovationen viel zu hoch anzuschlagen und im gleichen Maße zu unterschätzen. Ich denke hier bspw. an die Ankunft Marty Mc Flys zurück in die Zukunft, namentlich in das Jahr 2015:46 Autos und Skateboards können in der Vision von Bob Gale fliegen, die Kleidung passt sich dem Körper an, überall erscheinen Hologramme; aber auf das Faxgerät (!) ist immer noch Verlass. Das vom Verfasser gezeichnete Strafrechtsjahr 2030, der es mit einem Zeitraum von zehn Jahren und einem renitent straf- bzw. sicherheitsrechtsaffinen Strafgesetzgeber zugegebenermaßen einfacher mit seiner Prognose hat als Zukunftsforscher, kommt demgegenüber in vielerlei Hinsicht eher konservativ daher. Auch im Jahre 2030 geht es wieder „nur“ um die Auslegung alter und neuer Tatbestandsmerkmale zur Lösung überwiegend trivial anmutender Strafrechtsfälle. Nur einzelne Ausprägungen des „Kriminalstrafrechts of the future“, insbesondere die lediglich angedeuteten Entwicklungen im Strafprozessrecht, mag man als Vorboten dystopischer Strafrechtsrealitäten einordnen, die heute allerdings auch schon existieren.47 Solch eine Vision ist einerseits ernüchternd, weil sie der Strafrechtszu(ku)nft den utopischen Glanz nimmt. Zugleich mag sie aber eine vom Verfasser manifestierte Hoffnung darstellen, dass das Strafrecht und der Strafrechtsdiskurs (zumindest in zehn Jahren) überhaupt noch denselben Stellenwert einnimmt wie heute. Denn gerade dieser rationale, auf den Säulen des freiheitlich-libertären Rechtsstaats geführte Diskurs mag uns vor einem Strafrecht 3.0 bewahren, das den Herausforderungen der digitalisierten Gesellschaft erlegen ist und sich diesem untergeordnet hat. Die mittelfristige Prognose machte es möglich, klassisch-düstere Zukunftsbilder von einem funktionalen Straf45
Volkmann, Rechtliche Herausforderungen der Nanotechnologie im Arzneimittelrecht, 2017, S. 30. 46 Zurück in die Zukunft II (Originaltitel: Back to the Future Part II) ist eine ScienceFiction-Filmkomödie des Regisseurs Robert Zemeckis aus dem Jahr 1989; der Hauptprotagonist Marty Mc Fly reist mit einer Zeitmaschine in die Zukunft (namentlich in das Jahr 2015), um sich dort einen Almanach (!) zu kaufen, der die Sportergebnisse der Jahre 1950 bis 2000 enthält, weil er in seiner Gegenwart mit Sportwetten Geld verdienen will. 47 Und die Strafprozessrechtswissenschaft auch beschäftigen, vgl. nur Rüscher, NStZ 2018, 687; Ruppert, Jura 2018, 994; Kahler/Hoffmann-Holland, KriPoz 2018, 267; Oehmichen/ Weißenberger, KriPoz 2019, 174; Boehme-Neßler, NJW 2017, 3031.
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recht innerhalb einer Zwei-Klassen-Gesellschaft im Jahre 2077 auszublenden, in der bionisch fortentwickelte Cyberpunks einen Hackerkrieg gegen korrupte Technologiekonzerne führen. Die großen Ängste (und großen Erzählungen48) rund um einen völligen Funktionsverlust des Strafrechts in einer Gesellschaft des „Homo Deus“49 konnten auf diese Weise noch verdrängt bzw. ihre Bewältigung den „Großen“ überlassen werden:50 Zu diesen zählt zweifelsohne der Jubilar, dem ich diesen Beitrag in großer Bewunderung widme. Als Visionär und Global-Player der deutschen Strafrechtswissenschaft hat dieser zu Topoi wie Digitalisierung, Computerstrafrecht und Cyberkriminalität bereits geforscht, als ich noch Super Mario Bros. auf dem Nintendo-Entertainment-System gespielt habe.51 Ich werde jetzt eine Kopie dieses Beitrags in der Nähe des Max-Planck-Instituts vergraben; sollte sich im Jahre 2030 ergeben, dass ich auch nur über ein halb so gutes Händchen wie der Jubilar für die relevanten Themen der Zukunft verfügte,52 darf ich bereits zufrieden sein.
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Vgl. Hörnle, in dieser Festschrift, S. 45. Harari, Homo Deus – Eine Geschichte von Morgen, 2016. 50 Vgl. nur aus neuerer Zeit Frisch, GA 2015, 65; ders. GA 2019, 185; Hillenkamp, ZStW 2015, 10; Kudlich, ZStW 2015, 635; Hilgendorf, ZStW 2018, 674; Bung, ZIS 2018, 65; Herzberg, GA 2015, 250; Jahn/Brodowski, JZ 2016, 969; Kubiciel, ZIS 2018, 60; das heißt selbstverständlich nicht, dass sich die neue Generation der Strafrechtswissenschaft keine Gedanken darüber macht, vgl. nur Rostalski, GA 2019, 481; Mavany, KriPoz 2016, 106; Simmler/Markwalder, Roboter in der Verantwortung, ZStW 2017, 20; Reißmann, KriPoz 2019, 183. 51 Vgl. nur Sieber, NJW 1989, 2569; die NES erschien als erste Konsole nach dem ersten Video Game Crash 1983, am 1. 9. 1986 in Deutschland und wurde bis in Mitte der 90er-Jahre vertrieben. 52 Die Überschriften der Beiträge von Ulrich Sieber scheinen die heute am relevantesten betrachteten Themengebiete wiederzugeben, vgl. etwa, ZRP 2001, 97 („Die Bekämpfung von Hass im Internet“); CR 1995, 100 („Computerkriminalität und Informationsstrafrecht“); MMR 1999, 1 („Die rechtliche Verantwortlichkeit im Internet“). 49
Cybercrime und Strafrecht* Von Lorenzo Picotti
I. Einführung: Der Einfluss der neuen Technologien auf das Strafrecht und das Werk Ulrich Siebers 1. Das Verhältnis zwischen Strafrecht und Informationstechnologien (sog. IT) steht seit etwa einem halben Jahrhundert im Blickpunkt von Lehre, Rechtsprechung und Gesetzgebung, sowie von den wichtigsten internationalen Organisationen,1 die in wiederkehrenden „Wellen“ und mitunter auch aufgrund dringender Notsituationen, tätig geworden sind, und mittlerweile ein immer umfangreicheres, wenn auch nicht immer systematisches neues Regelwerk, sowie wichtige theoretische Ausarbeitungen hervorgebracht haben. Heute kann man nicht mehr nur noch von einem speziellen Gebiet des Straf- und Strafprozessrechts, dem „Computerstrafrecht“, sprechen, wie man es bis vor einigen Jahren kannte und wie es dementsprechend in besonderen Kursen an den Universitäten gelehrt wird. Heute braucht man vielmehr eine veränderte Sichtweise: man muss das gesamte Strafrecht, wie auch allgemein die Rechtsordnung, aus dem Blickwinkel der neuen Technologien und ihren Auswirkungen auf die Organisation und das gesamte Funktionieren des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Systems betrachten. Die weit verbreitete Anwendung der Informationstechnologien beeinflusst nämlich die Formen der sozialen und zwischenmenschlichen Beziehungen im öffentlichen, privaten, wirtschaftlichen, kulturellen, nationalen und supranationalen Kontext, mit allen sich daraus ergebenden Folgen für die allgemeine Rechtstheorie und – soweit von Interesse – für den allgemeinen Verbrechensbegriff. Der Strafrechtler muss sich mit anderen Worten mit der „Computer-“ oder besser gesagt der „Cyberrevolution“2 auseinandersetzen, denn der technologische Wandel hat gezeigt, dass diese von struktureller und strategischer Bedeutung nicht nur für die Entwicklung des Rechts, sondern vor allem für die Entwicklung der heutigen globa* Übersetzung von Konstanze Jarvers, Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht, Freiburg i. Br. 1 In Europa von der OECD über den Europarat bis hin zur Europäischen Union und weltweit von den Vereinten Nationen, über die G 8 und die WHO bis zur WIPO. 2 Siehe unten II.1.
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lisierten Gesellschaft ist. Auf diese Weise wird der technologische Wandel zu der fortschrittlichsten Grenze, oder sogar zur „mobilen“ Grenze, die sich unaufhörlich weiterbewegt und zukünftige Trends und gewaltige Möglichkeiten für weitere flächendeckende Entwicklungen aufzeigt, wie sie heute vor allem durch die Entwicklung und Anwendung der künstlichen Intelligenz und der Robotik antizipiert werden. Man muss gerade deshalb von einer „Revolution“ sprechen, weil dieses Phänomen alle Lebensbereiche und Interessen der Einzelnen und der Gemeinschaft betrifft. Außerdem geht es über die – an sich schon außerordentliche – Veränderung der Modalitäten und Inhalte von Informationen hinaus, die jedem in beliebiger Entfernung jederzeit und überall zugänglich sind. Die Tatsache, dass man in Bezug auf die Auswirkungen dieser strukturellen Veränderungen auf die heutige Gesellschaft ein „Vorher“ und ein „Nachher“ bestimmen kann und muss, zeigt am besten, dass es sich um eine echte Revolution handelt. Diese Auswirkungen wurden im Strafrecht von der wissenschaftlichen Arbeit Ulrich Siebers von Anfang an aufgegriffen. Sie war darüber hinaus konstruktiv und vorwärtstreibend, auch bei zahlreichen Gelegenheiten zur Zusammenarbeit mit internationalen Gremien oder nationalen Gesetzgebungsorganen. Wir wollen ihn mit dieser Schrift ehren, weil wir nicht nur seine national und international exzellenten Qualitäten als Gelehrter und Förderer der Strafrechtswissenschaften, sondern auch seine nicht minder anzuerkennende Großzügigkeit und Sensibilität durch die freundschaftliche Verbindung zu vielen Kollegen jeden Alters und jeglicher Herkunft, zu deren Kreis zu gehören auch ich die Ehre habe, zu schätzen gelernt haben. 2. Es war gerade die erste systematische Arbeit unseres Jubilars, die Ende der siebziger Jahre entstandene berühmte blaue Monografie „Computerkriminalität und Strafrecht“3, die er unter der Leitung seines großen und heute betrauerten Lehrers Klaus Tiedemann aus seiner Doktorarbeit entwickelt hatte, die die Grundlagen für eine strukturierte dogmatische Ausarbeitung dieses neuen Bereichs des Strafrechts gelegt hat. Gleichzeitig hat sie dem Gesetzgeber grundlegende Orientierungspunkte für die Schaffung neuer Normen und Rechtsbegriffe gegeben, deren Notwendigkeit seitdem in immer mehr Strafrechtssystemen zu spüren ist.4 Die schnelle Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien und vor allem die verbreitete Anwendung neuer IT-Produkte und -dienste in immer breiteren gesellschaftlichen Bereichen führte Schritt für Schritt zu einer Ausweitung ihres Wirkungshorizonts, der Mitte der 1990er Jahre mit der Öffnung des Internetzugangs für die Öffentlichkeit explodierte. Es war ein historischer Wendepunkt, der schnell zu der neuen globalen Dimension führte, die wir heute als Cyber3
Ulrich Sieber, Computerkriminalität und Strafrecht (1. Aufl. 1977), 2. Aufl., Köln 1980. Zu den wichtigen Beiträgen zu den Vorarbeiten für die Reform des Strafgesetzbuchs durch das 1986 beschlossene Zweite Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität (2. WiKG), das die ersten neuen Straftatbestände der Computerkriminalität enthielt, siehe insbesondere Ulrich Sieber, Informationstechnologie und Strafrechtsreform, Köln 1985. 4
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space kennen. Eine Veränderung, die aus kriminologischer und strafrechtlicher Sicht den Übergang vom Begriff der Computerkriminalität zu dem viel weiteren und handfesteren Begriff der Cyberkriminalität markiert.5 Ulrich Sieber hatte die strukturell supranationale Dimension der von ihm aufgeworfenen wegbereitenden Fragen bereits bestens verstanden und betrieb auch systematisch rechtsvergleichende Forschung auf europäischer und weltweiter Ebene.6 Nach einem unvergesslichen vorbereitenden Kolloquium, das er 1992 in der Würzburger Residenz organisiert und geleitet hatte,7 leitete er auch die zweite Sektion des 1994 von der AIDP in Rio de Janeiro8 organisierten XIV. Internationalen Strafrechtskongresses. Mit all dem hat er seine führende Position auf diesem Gebiet behauptet, wie seine zahlreichen wissenschaftlichen Beiträge in den folgenden Jahren zeigen,9 die in unzählige Sprachen übersetzt wurden.10 Hervorzuheben ist insbesondere der erhellende Bericht zum 69. Deutschen Juristentag, in dem die neuen Themen des materiellen Strafrechts systematisch mit den immer drängenderen des Strafprozessrechts und der internationalen Zusammenarbeit verwoben wurden.11 Darüber hinaus wurde sein Beitrag bezeichnenderweise in das wichtigste internationale Dokument zu diesem Thema, das Europaratsabkommen über Computerkriminalität aufgenommen, das am 23. November 2001 in Budapest zur Unterzeichnung aufgelegt wurde und zu dem unser Jubilar einen bedeutenden Beitrag geleistet hat. Das Abkommen stellt nach wie vor den wesentlichen Bezugspunkt für die Harmonisierung und Anpassung der nationalen Rechtsordnungen dar, und zwar nicht nur 5
Siehe näher hierzu unten III. Ulrich Sieber, The International Handbook on Computer Crime, Chichester u. a. 1986; Ulrich Sieber (Hrsg.), Legal Aspects of Computer-Related Crime in the Information Society – COMCRIME-Study (prepared for the European Commission), Würzburg 1998. Vgl. dort auch den nationalen italienischen Bericht, herausgegeben von Lorenzo Picotti in Zusammenarbeit mit Francesca Ruggieri und Marco Sforzi. 7 Siehe den entsprechenden Tagungsbericht mit allen eingereichten nationalen Berichten in Ulrich Sieber (Hrsg.), Information Technology Crime. National Legislation and International Initiatives, Köln u. a. 1994. 8 Der entsprechende Tagungsbericht mit den vom Plenum angenommenen Empfehlungen ist abgedruckt in der Revue Internationale de Droit Pénal, 1994, und jetzt auf der Website www.penal.org. Für einen Kommentar hierzu siehe Lorenzo Picotti, Le „Raccomandazioni“ del XIV Congresso Internazionale di Diritto penale in tema di criminalità informatica, in Riv. trim. dir. pen.ec. 1995, 1279 f. 9 Vgl. im Hinblick auf die Europäisierung des Strafrechts nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon insbesondere Ulrich Sieber, Computerkriminalität, in: Ulrich Sieber/FranzHermann Brüner/Helmut Satzger/Bernd von Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, Baden-Baden 2011, § 24, S. 393 f. 10 Hier soll nur die überaus wichtige (von Marco Sforzi auf Italienisch übersetzte) Studie über die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Internet Service Provider erwähnt werden: Ulrich Sieber, Responsabilità penali per la circolazione di dati nelle reti internazionali di computer. Le nuove sfide di Internet, in: Riv. trim. dir. pen. ec., 1997, 743 f. und 1193 f. 11 Ulrich Sieber, Straftaten und Strafverfolgung im Internet. Gutachten C zum 69. Deutschen Juristentag, München 2012. 6
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der europäischen Länder, sondern auch vieler wichtiger dem Abkommen beigetretener Länder anderer Kontinente, wie z. B. der Vereinigten Staaten, Japans, Südafrikas. Die Herausforderungen, die die Informationstechnologie heute an das Strafrecht stellt, betreffen zum einen die weite Verbreitung ihrer Anwendungen (Hardware und Software); zum anderen betreffen sie weitere Entwicklungen: die zunehmende Automatisierung durch künstliche Intelligenz, deren Fähigkeit, enorme Datenmengen zu verwalten (die sogenannten Big Data), sowie die damit verbundene Ausbreitung der Robotik auf viele verschiedene Bereiche menschlicher Aktivitäten. An dieser Stelle kann man nur einige problematische Überlegungen zu den heute drängenden Fragen anstellen, ausgehend von der radikalen Frage, „ob“ das Strafrecht angesichts dieser neuen Realität12 eingreifen kann und muss, und ob die Krise, die notwendigerweise seine traditionellen Begriffskategorien berührt, mit einer entsprechenden dogmatischen und normativen Entwicklung und Verfeinerung überwunden werden kann.13
II. Automatisierung und „Hyperkonnektivität“ als Grundlage der Cyber-Revolution: das Konzept des Cyberspace 1. Für diesen Beitrag sollen zwei grundlegende Merkmale der „Cyberrevolution“ hervorgehoben werden. Das erste ist die zunehmende Automatisierung, die sich von der „Datenverarbeitung“, verstanden als rein „mechanische“ Verarbeitung auf der Grundlage mathematischer Berechnungen,14 bis zum Einsatz immer schnellerer und leistungsfähigerer elektronischer Prozessoren entwickelt hat. Diese führen digitale Programme aus, die nach immer ausgeklügelteren Algorithmen auf Bitsequenzen aufbauen, und können so komplexe und außerordentlich präzise Ergebnisse erzielen, und zwar unendlich viel schneller als es mit der intellektuellen Kraft eines Menschen aus Fleisch und Blut möglich ist. Diese Ergebnisse sind sogar immer autonomer und innovativer als die ursprüngliche Programmierung. Die neuen Programme lernen und korrigieren sich nämlich von selbst gemäß den Zwecken, für die sie konzipiert sind. Das zweite, damit eng zusammenhängende Merkmal ist die Netzwerk-Konnektivität, die heute zu einer „Hyper-Konnektivität“ geworden ist. Die wachsende Menge 12
Siehe unten IV. Siehe unten V. 14 Daher sprach man ursprünglich von einfachen „elektronischen Rechnern“, wie der englische Begriff „computer“ ausdrückt, der auf die sogenannte Turingmaschine zurückgeht (vgl. Alan Turing, On computable numbers, with an application to the Entscheidungsproblem, 1936). Turing schlug als erster ein mathematisches Modell vor, das den menschlichen Rechenvorgang simulieren konnte, indem er ihn in seine letzten Schritte zerlegte, die auch mechanisch hätten durchgeführt werden können. 13
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der gespeicherten und verarbeiteten Daten, bis hin zum gewaltigen Big Data, wird ermöglicht und täglich gesteigert durch die Schnelligkeit der Sammlung und des Datenaustauschs, die durch die parallele Entwicklung von Netzwerken und Übertragungsstrukturen erreicht wird. Kürzlich haben wir den 50. Jahrestag des ersten Computernetzwerks, dem Embryo des Internets, gefeiert. Die Entwicklung von Kommunikationsprotokollen zwischen verschiedenen Systemen und zwischen Netzen von Netzen hat, ausgehend vom World Wide Web, zu einem permanenten Austausch und zur Nutzung von immer mehr Daten- und Informationen aller Art (einschließlich Audios, Videos und Bildern) geführt. Dadurch werden nicht nur die technologischen, sondern auch die sozialen Grundlagen des heutigen Cyberspace geschaffen, so dass man heute von einer „Infosphäre“ spricht, in die wir alle dank der „Hyper-Konnektivität“, ständig eintauchen.15 Mit dem Begriff Cyberspace verbindet man nämlich die Idee eines globalen „Raums“ mit der der „Kybernetik“. Fälschlicherweise wird der erste als „virtuell“ bezeichnet, weil er eher ein unverzichtbarer Bestandteil der multidimensionalen und dynamischen Realität der heutigen Welt ist. Demgegenüber deutet die „Kybernetik“ die Mechanismen und die Technik an, mit denen Lebewesen und Maschinen miteinander und mit der äußeren Umwelt kommunizieren und diese kontrollieren.16 Angesichts dieser Entwicklungen interessiert den Strafrechtler an der IT am meisten die Automatisierung, die immer wichtigere Teile der menschlichen Tätigkeit ersetzt und sogar weiterentwickelt.17 Durch die Robotik kommen zur Verarbeitung von Daten und Informationen noch körperliche Tätigkeiten, nämlich die Ausführung komplexer Handlungen hinzu. Diese reichen von massiven Beiträgen zur industriellen Produktion über die Erforschung von außerirdischen Gebieten wie dem Mars- oder Mondboden sowie die dortige Materialsuche und -gewinnung, bis hin zu ferngesteuerten heiklen chirurgischen Eingriffen. Im militärischen Bereich denke man an die Suche nach oder die Platzierung von Minen oder Sprengstoffen oder den Einsatz von Drohnen und intelligenten Waffen usw. Weitere Anwendungen betreffen unser tägliches Leben, von der Hausarbeit (putzen, Rasen mähen) bis hin zum automatisierten Fahren, wie es bereits zu15 Zu den wichtigen theoretischen Entwicklungen siehe insbesondere Luciano Floridi, The Fourth Revolution. How the Infosphere is Reshaping Human Reality, Oxford 2014. 16 Der Begriff stammt von dem Griechischen kyber, was Steuermann oder Lotse bedeutet, und wurde zu Beginn des letzten Jahrhunderts von Norbert Wiener für die neue Wissenschaft verwendet, die sich mit den Mechanismen beschäftigt, durch die Mensch, Tier und Maschine mit der äußeren Umwelt kommunizieren und diese steuern: Norbert Wiener, Cybernetics: Or Control and Communication in the Animal and the Machine (1. Aufl. 1948), 2. überarbeitete Auflage Paris 1961. 17 Zu den konzeptuellen und rechtlichen Auswirkungen dieses technologischen Elements auf die Formulierung und Interpretation der Tatbestände der Computerkriminalität sei verwiesen auf Lorenzo Picotti, Diritto penale e tecnologie informatiche: una visione d’insieme, in: Alberto Cadoppi/Stefano Canestrari/Adelmo Manna/Michele Papa (Hrsg.), Cybercrime, Mailand 2019, Kap. II, S. 35 f., insbesondere S. 43 ff. auch für eine genauere Untersuchung der verschiedenen Straftaten.
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nehmend bei PKWs, LKWs, Flugzeugen, Schiffen, Zügen, U-Bahnen usw. der Fall ist. Um es auf den Punkt zu bringen: Der Mensch wird in immer weiteren Bereichen individuellen und kollektiven Handelns ersetzt, und zwar sowohl intellektuell bei Erforschung, Erwerb, Erfassen, Selektion und Speicherung neuer Informationen als auch bei der Kontrolle und Durchführung komplexer und voneinander abhängiger Aktivitäten, die sich in beeindruckender Weise entwickeln können. 2. Die grundlegende qualitative Bedeutung der Automatisierung wird schon länger in den strafrechtlichen Definitionen anerkannt, die in den wichtigsten supranationalen Quellen enthalten sind, und zwar in denen, die die Bekämpfung der Computer- und Cyberkriminalität stärken und harmonisieren sollen. Hier soll nur Art. 1 der bereits erwähnten Cybercrimekonvention des Europarats und Art. 2 der Richtlinie 2013/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates über Angriffe auf Informationssysteme18 genannt werden. Neuartig ist dabei, dass die Informatik (aber noch mehr ihre Weiterentwicklung, durch die Kybernetik) bis zur Wurzel des menschlichen Handelns vordringt und zum einen seine kognitiven Fähigkeiten berührt, nämlich die „äußere“ Welt zu kennen und aus ihr zu lernen, indem diese Systeme direkt Informationen und Daten suchen und beschaffen, wie es in den so genannten klugen Systemen geschieht; zum anderen berührt die Informatik die noch wichtigere, aber eng damit verbundene Fähigkeit zur Selbstbestimmung, indem sie unter den möglichen Alternativen die Daten und Informationen auswählt, die für „Entscheidungen“ berücksichtigt werden sollen.19 18 Dies sind die interessanten Definitionen dieser Richtlinie: a) „Informationssystem“ eine Vorrichtung oder eine Gruppe miteinander verbundener oder zusammenhängender Vorrichtungen, die einzeln oder zu mehreren auf der Grundlage eines Programms die automatische Verarbeitung von Computerdaten durchführen, sowie die von ihr oder ihnen zum Zwecke des Betriebs, der Nutzung, des Schutzes und der Pflege gespeicherten, verarbeiteten, abgerufenen oder übertragenen Computerdaten; b) „Computerdaten“ jede Darstellung von Tatsachen, Informationen oder Konzepten in einer für die Verarbeitung in einem Informationssystem geeigneten Form, einschließlich eines Programms, das die Ausführung einer Funktion durch ein Informationssystem auslösen kann; c) „juristische Person“ jedes Rechtssubjekt, das den Status der juristischen Person nach dem anwendbaren Recht besitzt, mit Ausnahme von Staaten oder anderen Körperschaften des öffentlichen Rechts in der Ausübung hoheitlicher Rechte und von öffentlich-rechtlichen internationalen Organisationen; d) „unbefugt“ ein in dieser Richtlinie genanntes Verhalten, einschließlich Zugang, Eingriff oder Abfangen, das vom Eigentümer oder einem anderen Rechtsinhaber des Systems oder eines Teils des Systems nicht gestattet wurde oder das nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften nicht zulässig ist. 19 Symptomatisch für diese Entwicklung ist die Zurückhaltung, mit der das europäische Rechtssystem die rechtliche Wirksamkeit vollständig automatisierter, die Rechte Einzelner betreffender Entscheidungen begrenzt, sie aber gleichzeitig immer häufiger anerkennt: Siehe bereits Art. 15 der RL 95/46/EG und jetzt Art. 22 Abs. 1 der VO 2016/679/EU vom 27. 4. 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der RL 95/46/EG, der wie folgt lautet: „Die betroffene
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Heute kann man von einem Äquivalent des menschlichen „Willens“ sprechen, der durch Computer oder besser durch sog. „intelligente Computersysteme“20 ausgedrückt wird. Es findet bereits beispielhafte juristische und auch strafrechtliche Anerkennung, z. B. in Bezug auf Wirksamkeit von Rechtshandlungen oder Urkunden, die durch solche Systeme (wie z. B. beim Börsenhandel, oder bei Entscheidungen der Verwaltung oder mittlerweile auch der Justiz) automatisch erstellt werden. Natürliche oder juristische Personen hätten diese nicht in der gleichen Zeit, auf die gleiche Art und mit dem gleichen Inhalt erstellen können. Aus diesem Blickwinkel scheint die Idee überwunden, dass die IT und die kybernetischen Systeme nur „Werkzeuge“ in den Händen einzelner Personen seien. Sie sind vielmehr „intelligente Akteure“, was bereits auch in der deutschen Literatur21 festgestellt wurde. Dies ist aber immer im Verhältnis zur Menge und Qualität der Daten zu sehen, über die diese Akteure verfügen oder die sie erwerben können. Zur Veranschaulichung: Es ist klar, dass ein selbstfahrendes Auto umso zuverlässiger sein wird, je mehr Informationen es autonom und schnell von der Außenwelt sammeln kann. Und zwar entweder mit optischen, akustischen oder thermischen Sensoren oder durch Verbindungen zu Terminals und Informationssystemen im Straßennetz (sog. intelligente Straße), die z. B. aktualisierte Daten über Wetter, Verkehr, Straßenbelag, eventuelle Hindernisse oder abnormales Fahrverhalten anderer liefern Person hat das Recht, nicht einer ausschließlich auf einer automatisierten Verarbeitung – einschließlich Profiling – beruhenden Entscheidung unterworfen zu werden, die ihr gegenüber rechtliche Wirkung entfaltet oder sie in ähnlicher Weise erheblich beeinträchtigt“. Abs. 2 enthält aber eine Reihe von Ausnahmen und Bedingungen, die in der entsprechenden Bestimmung des Art. 11 der RL 2016/680/EU vom 27. 4. 2016 über die Verarbeitung personenbezogener Daten für die Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten weniger streng sind. 20 Man spricht von „künstlicher Intelligenz“ in verschiedenen Bedeutungen: Suchmaschinen können auf der Grundlage von Frequenzen, Präferenzen und Korrelationen, die durch die Suche, durch die von den Nutzern hinterlassenen Daten und durch die verwendeten Geräte (wie z. B. Cookies) gewonnen werden, Informationen (inklusive gezielter Werbung oder sozialen Gruppen mit ähnlichen Interessen, denen man beitreten könnte, usw.) anzeigen und personalisieren. Am anspruchsvollsten sind die Robotik, die Heimautomation und das Fahren von Fahrzeugen, auf das noch zurückzukommen sein wird. In der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, den Europäischen Wirtschaftsund Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen vom 7. 12. 2018 KOM(2018) 795, mit dem Titel „Koordinierter Plan für künstliche Intelligenz“ ist folgende Definition enthalten: „Künstliche Intelligenz (KI) bezeichnet Systeme mit einem ,intelligenten‘ Verhalten, die ihre Umgebung analysieren und mit einem gewissen Grad an Autonomie handeln, um bestimmte Ziele zu erreichen. Wir nutzen KI täglich, um beispielsweise unerwünschte E-Mails zu blockieren oder mit digitalen Assistenten zu sprechen. Mit der zunehmenden Rechnerleistung, der Verfügbarkeit von Daten und Fortschritten bei den Algorithmen hat sich KI zu einer der bedeutendsten Technologien des 21. Jahrhunderts entwickelt“. Aus der endlosen Literatur zu den rechtlichen Gesichtspunkten vgl. Woodrow Barfield/Ugo Pagallo (Hrsg.), Research Handbook on the Law of Artificial Intelligence, Edgar 2018 sowie die folgenden Fußnoten. 21 Sabine Gless et al., If Robots Cause Harm, Who Is to Blame: Self-Driving Cars and Criminal Liability, in: 19 New Criminal Law Review 2016, 412.
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können. Auf dieser Grundlage kann das automatisierte Fahrzeug sofort in Echtzeit „Entscheidungen“ treffen (Bremsen, Beschleunigen, Lenken usw.), und zwar unabhängig von jeglicher Kontrolle oder Einwirkung durch den Menschen. Gleiches gilt für den ganzen riesigen Bereich des „Internet der Dinge“ (Internet of Things), von dem wir immer mehr umgeben sind. Das sind „Dinge“, die sich, wenn auch nur um notwendige Wartungen oder Ersatzteilwechsel anzuzeigen oder zur Fernsteuerung (wie z. B. das banale Einschalten der Heizung im Ferienhaus), automatisch mit dem Netz verbinden. Dadurch kommunizieren und arbeiten sie ohne unser Wissen miteinander oder mit sachkundigen Unternehmen mit entsprechenden Algorithmen, um die notwendigen Schritte in Echtzeit durchzuführen. In diesem Szenario muss unsere Privatsphäre, die auf einen immer entlegeneren Mythos schrumpft, eine andere Dimension und Qualität bekommen. Der Anspruch, „Dritte auszuschließen“ oder zumindest die Verarbeitung personenbezogener Daten zu kontrollieren, muss geopfert oder, eleganter ausgedrückt, mit anderen betroffenen Interessen (Rechtsgütern), ausgeglichen werden.22 Dabei überwiegt das Bedürfnis nach bestmöglicher Funktionalität der automatisierten Systeme in den verschiedensten Bereichen, von der eigenen und unser aller Sicherheit über das Gesundheitswesen, die Verwaltung, den Verkehr bis hin zu Produktion, Handel und sogar Werbung. Für den Juristen und insbesondere für den Strafrechtler werden durch die Tatsache, dass die intelligenten Computersysteme keine bloßen Hilfsmittel mehr sind, sondern immer offenkundiger autonom handeln und sogar zu Robotern werden, neue Probleme bei der Zuschreibung von Verantwortlichkeit aufgeworfen. Dis gilt für die häufigen Fälle, in denen sie rechtswidrigen Schaden oder die Verletzungen individueller oder kollektiver Rechtsgüter oder sogar von Grundrechten verursachen, angefangen vom Leben und der persönlichen Unversehrtheit bis hin zur Freiheit der Selbstbestimmung, der Meinungsfreiheit oder der Vermögensverfügungsfreiheit usw. Ohne jedoch an dieser Stelle auf all die neuen Herausforderungen eingehen zu können, die die unaufhörliche technologische Entwicklung und ihre stetigen Auswirkungen auf die heutige globale Gesellschaft in naher Zukunft an das Strafrecht stellen werden,23 möchte ich mich hier darauf beschränken, einige spezifisch strafrechtliche Aspekte, die sich aus der Untersuchung der gegenwärtigen Rechtslage ergeben, zu vertiefen, um auch für die künftige Forschung Anregungen zu bekommen. 22
Siehe unter IV.2. Der nächste (XXI.) Internationale Kongress der Association International de Droit Pénal, der für 2024 geplant ist, wird ganz dem Thema „Artificial Intelligence and Criminal Justice“ gewidmet sein. Dieses wird, wie üblich, in vier Bereiche gegliedert ein: der Allgemeine Teil befasst sich mit „Traditional Criminal Law Categories and AI: Crisis or Palingenesis?“, der Besondere Teil mit „Old and New Criminal Offences: AI Systems as Instruments and Victims“, das Strafprozessrecht mit „AI and Administration of Justice: Predictive Policing and Predictive Justice“, und das internationale Recht mit „International Perspectives on AI: Challenges for Judicial Cooperation and International Humanitarian/Criminal Law“. Siehe hierzu, sowie für wichtige bibliographische Angaben das von Katalin Ligeti herausgegebene Concept Paper, Artificial Intelligence and Criminal Justice, abrufbar unter www.penal.org. 23
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III. Vom Computercrime zum Cybercrime: die Kriminalität im Cyberspace 1. Die Entwicklung der Informatik und Kybernetik hat mit dem erwähnten epochalen Schritt der Öffnung des Internets für die Öffentlichkeit die technische und strukturelle Grundlage des Cyberspace gefunden, in die wir heute eingetaucht sind.24 Mit ihren radikalen Auswirkungen auf alle Bereiche der heutigen globalen Gesellschaft, einschließlich des Strafrechts, hat sie den Übergang von der Begriffskategorie des Computer crime (Computerdelikt) zu der – nicht nur kriminologischen, sondern auch strafrechtlichen – Kategorie des Cybercrime (Cyberdelikt) bewirkt.25 Auf die Computerdelikte hatte sich bezeichnenderweise noch 1989 der Europarat in seiner Empfehlung zur Computerkriminalität26 bezogen, in der eine begrenzte Liste von Straftaten vorgesehen war, deren Einführung den nationalen Gesetzgebern vorgeschlagen wurde. Von dieser Empfehlung ging auch die AIDP-Resolution zur Computerkriminalität aus, die 1994 in der Sektion II des oben erwähnten Kongresses von Rio de Janeiro unter dem Vorsitz von Ulrich Sieber verabschiedet wurde. Sie unterstrich im Übrigen bereits die Notwendigkeit, „Präventivmaßnahmen“ einzuführen und spezifische Fragen zum Schutz der Privatsphäre, verfahrensrechtliche Gesichtspunkte und solche der internationalen Zusammenarbeit im Lichte der neu entstehenden technologischen Welt zu berücksichtigen.27 Angesichts der beschleunigten Entwicklung durch das Internet hat der Europarat nach intensiven Vorarbeiten, auch mit dem erwähnten Beitrag von Ulrich Sieber, nur wenige Jahre später die grundlegende Cybercrimekonvention von 2001 verabschiedet, in der ein wesentlich umfassenderes und vor allem (für die beitretenden Staaten) 24
Siehe oben II.1. Lorenzo Picotti, Presentazione, in: ders. (Hrsg.), Il diritto penale dell’informatica nell’epoca di Internet, Padua 2004, S. VII. 26 Vgl. Conseil de l’Europe, Recommandation n8R (89) 9 sur la criminalité en relation avec l’ordinateur, veröffentlicht mit dem Rapport final du Comité européen pour les problèmes criminels mit préface von August Bequai, La criminalité informatique, Strasbourg 1990. In einer ersten „Mindestliste“ gab es acht Inkriminierungen, die neben dem Computerbetrug, der als die größte und gefürchtetste Bedrohung der neuen Kriminalitätsform angesehen wurde, der Reihe nach folgende Straftaten enthielt: Fälschung von Computerdaten, Beschädigung von Daten und Computerprogrammen, Computersabotage, unbefugter Zugang, unbefugtes Abfangen, unbefugte Vervielfältigung eines geschützten Computerprogramms und unbefugte Vervielfältigung einer Topographie für Halbleiterprodukte (die damals von grundlegender Bedeutung für die Entwicklung der Computerindustrie war). In einer zweiten „fakultativen Liste“ wurde empfohlen, vier weitere Straftaten unter Strafe zu stellen: unbefugte Veränderung von Daten oder Computerprogrammen, Computerspionage, unbefugte Benutzung eines Computers und unbefugte Benutzung eines geschützten Computerprogramms. 27 Siehe die vom XV. Kongress verabschiedeten allgemeinen Berichte und Empfehlungen unter www.penale.org. Hierzu auch Lorenzo Picotti, Le „Raccomandazioni“ del XV Congresso Internazionale di diritto penale in tema di criminalità informatica, in: Riv.trim.dir.pen.ec., 1995, 1279 f. 25
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verbindliches systematisches Regelwerk vorgesehen ist. Dieses betrifft das materielle Strafrecht, das Verfahrensrecht und die internationale Zusammenarbeit, deren absolute Notwendigkeit sich inzwischen gezeigt hat. Beschränkt man sich hier auf die wichtigsten materiellrechtlichen Inhalte, so ist darauf hinzuweisen, dass die Straftaten, die von den nationalen Rechtsordnungen eingeführt werden sollen, über die grundlegende Trias der zu schützenden Rechtsgüter, nämlich „Vertraulichkeit, Integrität und Verfügbarkeit von Daten und Systemen“ (Confidentiality, Integrity, Avalaibility: sog. CIA) hinausgehen. Auf die CIA nehmen die Artikel 2 bis 6 Bezug, wobei an erster Stelle der rechtswidrige Zugang steht, an zweiter Stelle dann das rechtswidrige Ausspähen, gefolgt vom Eingriff in Daten und in ein System und der neuen Vorbereitungshandlung des Missbrauchs von Vorrichtungen.28 Neben den beiden klassischen Computerstraftaten der Datenfälschung (Art. 7) und des Computerbetrugs (Art 8) sind am Ende nämlich noch Straftaten vorgesehen, die solche „Inhalte“ betreffen, die nicht zwingend durch Daten oder Computersysteme übermittelt werden, wie die Kinderpornographie (Art. 9) oder Urheberrechtsverletzungen und damit zusammenhängende Straftaten (Art. 10). 2. Neben den Straftaten, die als Computerdelikte im engeren Sinne umschrieben werden können, weil sie unvermeidlich als wesentliche Tatbestandsmerkmale auch ausdrückliche Beschreibungen technischer Elemente (wie: „Computersystem“, „Computerdaten“, „Übertragung von Computerdaten“, „Computerprogramm“ usw.) enthalten, entsteht daher eine weitere Kategorie von Straftaten, die als „Cyberdelikte in weiterem Sinne“ bezeichnet werden kann. Auch wenn diese nicht unbedingt die oben genannten technischen Elemente als Tatbestandsmerkmale enthalten, gebührt ihnen besondere Aufmerksamkeit, weil ihnen mit angemessenen Strafen begegnet werden muss, wenn sie online begangen werden. Um sie zu verfolgen und Beweise für ihre Begehung zu gewinnen, sind insbesondere technische Ermittlungsinstrumente und Methoden der Beweiserhebung und -sicherung sowie eine enge und effiziente internationale Zusammenarbeit unerlässlich. Diese sind dieselben, wie sie für Computerdelikte im engeren Sinne und für jede andere Straftat, die „elektronische Spuren“ hinterlässt, vorgeschrieben sind (so auch Art. 14, Abs. 2, insbesondere Buchstabe c) der Cybercrimekonvention) 28 Hiermit wird eine Handlung, die vor der Strafbarkeitsschwelle des Versuch liegt, als vollendete Straftat bestraft, nämlich die Herstellung, die Verbreitung und sogar der bloße Besitz von Vorrichtungen (Software und Hardware), die zur Begehung solcher Straftaten entwickelt oder sogar nur „in erster Linie dafür ausgelegt oder hergerichtet“ sind: diese Voraussetzung macht das komplexe Problem von „dual use“-Vorrichtungen deutlich, die sowohl legal als auch illegal genutzt werden können. Man denke nur an Software, die von Systembetreibern verwendet wird, um auf die Systeme anderer zuzugreifen und dabei die damit verbundenen Sicherheitsmaßnahmen für Updates oder Sicherheitstests zu überwinden. Noch relevanter ist die Verwendung von Spionageprogrammen (sog. Trojaner oder Computerdetektoren) durch Polizeibeamte oder Geheimdienste zur Durchführung von Online-Durchsuchungen, mit dem Ziel, Straftaten zu ermitteln und nachzuweisen oder Telefongespräche oder Umgebungsdaten über die mobilen Geräte der Benutzer, auf die diese Spionageprogramme ohne deren Wissen installiert werden, abzuhören.
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Mit der Entwicklung und Ausweitung des Cyberspace vergrößert sich die Kategorie der Cyberdelikte immer mehr und ist heute fast unbestimmbar. Sie kann nämlich jede Art von Straftat umfassen, sowohl Computerdelikte im engeren Sinne als auch allgemeine Delikte, die auch im Cyberspace begangen werden können. Hierzu gehören Straftaten, die durch „Kommunikation“ und vor allem durch „Verbreitung“29 von strafbaren Inhalten im Netz begangen werden. Sie sind, wie die Straftaten der Online-Verleumdung30 oder der Kinderpornographie31 zeigen, äußerst leicht zu begehen und haben unermesslich größere schädliche Auswirkungen, als wenn sie mit den traditionellen Kommunikationsmitteln (wie Post, Presse, Radio, Fernsehen, Fotos) begangen worden wären.32 Es entstehen aber auch viele andere Arten von Straftaten, die verschiedenste Rechtsgüter verletzen und sehr viel bedrohlicher werden, wenn sie im Cyberspace begangen werden, so dass nicht nur auf Ermittlungsseite, sondern auch auf normativer Ebene angemessene Reaktionen erfolgen müssen. Man denke nur an die Straftatbestände, die nach und nach zur Bekämpfung des Terrorismus eingeführt wurden, der sich (auch) im Netz offenbart. Dieses wird sowohl als Ort der Propaganda und der Bekehrung, als auch als Mittel zur „Anwerbung“, „Ausbildung“ und Organisation anderer Vorbereitungstätigkeiten, wie z. B. Auslandsreisen in Gebiete, die für terroristische Aktivitäten ausgewählt wurden oder zur Finanzierung auch durch Online-Sammlungen, genutzt.33 Zu berücksichtigen sind ferner die neuen Tatbestände oder Erschwerungsgründe, die schrittweise in verschiedenen Rechtsordnungen eingeführt wurden, um solche Erscheinungsformen schwerer zu treffen, die auch offline auftreten können, wie Cy-
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Siehe hierzu Lorenzo Picotti, Profili penali delle comunicazioni illecite via Internet, in: Il diritto dell’informazione e dell’informatica, 1999, Nr. 2, 283 f. 30 In diesem Sinne bereits Lorenzo Picotti, Profili penale, S. 303. In Bezug auf die neuere Lehre und Rechtsprechung siehe Francesco Pio Lasalvia, La diffamazione via web nell’epoca dei social network, in: Alberto Cadoppi/Stefano Canestrari/Adelmo Manna/Michele Papa (Hrsg.), Cybercrime, Kap. IX, S. 331 f. 31 Siehe hierzu die vergleichende Studie von Ulrich Sieber, Kinderpornographie, Jugendschutz und Providerverantwortlichkeit im Internet – Eine strafrechtsvergleichende Untersuchung, Mönchengladbach 1999 und aktuell Lorenzo Picotti, Online Child-Pornography Offences: a Brief Overview, in F. Dünkel-FS, 2020 (S. 207 ff.). 32 Weitere bedeutende Inkriminierungen der Cyberdelikte (im weiten Sinne) betrafen die Propaganda und die Aufstachelung zu Hass und Rassendiskriminierung, die insbesondere Gegenstand des vom Europarat am 28. Januar 2003 angenommenen Zusatzprotokolls zum Übereinkommen über Computerkriminalität betreffend die Kriminalisierung mittels Computersystemen begangener Handlungen rassistischer und fremdenfeindlicher Art sind. 33 Vgl. Ulrich Sieber, Instruments of International Law: Against Terrorist Use of Internet, in: Marianne Wade/Almir Maljevic (Hrsg.), A War on Terror? The European Stance on a New Threat, Changing Laws and Human Rights Implications, New York u. a. 2010, S. 171 f.; zum italienischen Recht: Lorenzo Picotti, Terrorismo e sistema penale: realtà, prospettive, limiti, in: Riv. trim. Dir. Pen. Contemporaneo, 2017, 249 f.
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berstalking, Cybermobbing, Rachepornos34, bis hin zur Cybergewalt gegen Frauen, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kürzlich wieder in die Kategorie der „häuslichen Gewalt“ aufgenommen hat.35 Angesichts der neuen Situation hat sich daher die Herangehensweise an die Computerkriminalität oder besser gesagt, an die Kriminalität „im“ Cyberspace, Schritt für Schritt geändert, da sich diese nicht mehr auf eine geschlossene oder begrenzte Anzahl von Straftaten und damit von potenziellen Opfern beschränken lässt. Sie umfasst vielmehr eine wachsende Bandbreite von Rechtsverstößen und Grundrechtsverletzungen, von denen viele als neu eingestuft werden, weil sie das Ergebnis dieser technologischen Entwicklung sind.36 Ein Beispiel: Wenn und soweit sie im Cyberspace begangen wird, kann eine Erpressung ein Cyberdelikt (im weiteren Sinne) darstellen. Sie kann begangen werden, indem Daten eines fremden Computersystems durch eine widerrechtlich aus der Ferne installierte Schadsoftware verschlüsselt werden. Mit dem Eindringen in den Computer erzeugt der Täter eine Bedrohung oder Gewalt37 und zwingt das Opfer, das seine Daten wiederbekommen möchte, dazu, ein ungerechtfertigtes Lösegeld (oft in Bitcoin, in anderer virtueller Währung oder im sog. Dark Web) zu zahlen, damit es den erforderlichen Entschlüsselungscode bekommt. Ein weiteres Beispiel für ein allgemeines Delikt, das – auch was Gefährlichkeit, Verbreitung und Schwierigkeiten bei der Prävention und Repression betrifft – „neue“ 34
Illegale Verbreitung von sexuell eindeutigen Bildern oder Videos (Anm. d. Übers.). Vgl. EGMR, 5. Sektion, 11. Februar Beschwerde Nr. 56867/15, Buturuga ./. Rumänien. 36 Bezeichnend ist, dass seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon im Jahr 2009 die „Computerkriminalität“ (im weiten Sinn) ausdrücklich Gegenstand der konkurrierenden EUZuständigkeit ist. Dies betrifft sowohl das materielle (Art. 83 Abs. 1 AEUV) als auch das Strafprozessrecht (Art. 82 AEUV). Siehe hierzu Lorenzo Picotti, La nozione di „criminalità informatica“ e la sua rilevanza per le competenze penali europee, in: Riv.trim.dir.pen.ec., 2011, Nr. 4, 827 f. Hinzuzufügen ist, dass alle EU-Quellen, die den Grundsatz der „gegenseitigen Anerkennung“ von strafrechtlichen „Urteilen und gerichtlichen Entscheidungen“ der Mitgliedstaaten, gemäß Art. 82 AEUV (ehemals Art. 31 EUV), und den nationalen Umsetzungsvorschriften anwenden, die „Computerkriminalität“ (seit 2002) in die „Liste der Straftaten“, für die das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit aufgehoben werden muss, aufgenommen haben: vgl. hierzu, mit den kritischen Aspekten der Umsetzung in die italienische Rechtsordnung, Lorenzo Picotti, Il campo di applicazione del mandato d’arresto europeo: i reati „in lista“ e „fuori lista“ e la disciplina della legge italiana di attuazione, in: Marta Bargis/ Eugenio Selvaggi (Hrsg.), Mandato d’arresto europeo. Dall’estradizione alle procedure di consegna, Turin 2005, S. 127 f. 37 Nach dem italienischen Strafgesetzbuch ist „Gewalt gegen Sachen“ – eine Voraussetzung der Erpressung wie auch anderer Straftaten (z. B. die eigenmächtige Ausübung eigener Rechtsansprüche durch Gewalt gegen Sachen, Art. 392 c.p.) – auch dann gegeben, „wenn ein Datenverarbeitungsprogramm ganz oder teilweise verfälscht, verändert oder gelöscht wird oder wenn der Betrieb eines Datenverarbeitungs- oder Telekommunikationssystems behindert oder gestört wird“ (Art. 392 Abs. 3 c.p., eingefügt durch L. 23 dicembre 1993, n. 547). Hierzu Lorenzo Picotti, Stichwort Reati informatici, in: Enc. Giur. Treccani, vol. aggiorn. VIII, Roma 2000, S. 16 f. 35
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Charakteristika aufweist, wenn es im Netz begangen wird, ist die Geldwäsche. Sie kann durch elektronische Geldtransfers, Investitionen oder andere Handlungen im Netz (oder im Dark Web) erfolgen, zum Beispiel durch die Bewegung und den Austausch von virtuellen Währungen wie Bitcoin oder Ethereum. Diese basieren auf Blockchainsystemen, durch anonyme Handlungen, die geeignet sind, Geld oder sogar immaterielle Werte zu ersetzen und so die Identifizierung des kriminellen Ursprungs dieser Werte zu erschweren (sog. Cyberlaundering).38 Auch der ganze illegale Handel (mit Drogen, Waffen, bis hin zu Menschen oder Organen usw.) sowie die kompliziertesten Betrügereien, z. B. durch Phishing-Techniken, können im Cyberspace begangen werden. Hierbei kommt auch die künstliche Intelligenz zur Anwendung, die kriminelle Handlungen schneller, sicherer und geschützter macht, indem sie entweder den günstigsten Zeitpunkt oder die verletzlichsten Opfer auswählen.
IV. Das interaktive web und die doppelte Rolle der Nutzer als Täter und Opfer des Cybercrime: Neue zu schützende Rechtsgüter und Grundrechte 1. Das Netz hatte ursprünglich eine nur in eine Richtung verlaufende Struktur, in der der normale Nutzer passiver Empfänger von Information und Kommunikation war. Auf diese konnte er zugreifen, er konnte sie lesen oder erwerben, ihre Erzeugung und Verbreitung lag aber in den Händen eines relativ begrenzten Personenkreises (den sog. Content Providern, oder allgemeiner, den Internet Service Providern und Webmastern). Die Überwindung dieser Struktur war durch einen technischen Aspekt gekennzeichnet, der Anfang der 2000er Jahre mit der Entwicklung des sog. web 2.0 auftauchte. Dieses bot immer mehr Möglichkeiten der aktiven Interaktion zwischen den Nutzern, die nun ihre eigenen Inhalte in Blogs, Foren und sozialen Netzwerken erstellen und teilen konnten. Hierauf folgte der sprunghafte Anstieg der Nutzung mobiler Geräte jeder Art (insbesondere Tablets und Smartphones), was durch die Weiterentwicklung der Speicher-, Verbindungs- und Grafikkapazitäten ermöglicht wurde. Hierdurch können die Nutzer selbst immer und überall verschiedenste und komplexe Multimedia-Inhalte (wie Audios, Videos und auch dreidimensionale Bilder) erzeugen und ins Netz stellen oder sich in Chats, Streamings oder Videokonferenzen in Echtzeit verbinden (sog. web 3.0). Heute spricht man sogar von einem web 4.0, das von der künstlichen Intelligenz beherrscht wird. In diesem erstellen und verbreiten die Nutzer nicht nur systematisch Informationen, Inhalte und Daten, sondern sie dienen – dank gezielter Konfigurierung von Orten, Diensten und Apps im Cyberspace – auch als unerschöpf38 Dieses Phänomen ist auch Gegenstand der RL 2018/1673/EU vom 23. 10. 2018 über die strafrechtliche Bekämpfung der Geldwäsche. Hierzu Lorenzo Picotti, Profili penale del cyberlaundering: le nuove tecniche di riciclaggio, in: Riv.trim.dir.pen.ec., 2018, Nr. 3 – 4, 590 f.
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liche Quelle für solche Daten, die (mit oder ohne ihr Wissen bzw. ihre Einwilligung) systematisch aus all ihren Aktivitäten, ihrem Browsen und ihren Nutzungen ermittelt werden. Auf diese Weise ist das Cyberspace zu einer riesigen Datenbank geworden, anhand derer systematisch Profile aller dort agierenden Personen erstellt und ihre Vorlieben, kulturellen, ideologischen und politischen Orientierungen sowie ihr Konsum und ihre Ausgaben ermittelt werden können. Hiermit ist auch die beeindruckende Entwicklung von Werbung, Handel, sowie unternehmerischen, produktiven und wirtschaftlichen Aktivitäten aller Art verbunden.39 Der Nutzer wird dadurch zu einem potentiellen Opfer sowie zu einem potentiellen Täter von Verletzungen schutzwürdiger Rechte,40 parallel zu dem, was im realen Leben geschieht, aber auf eine völlig neue Art mit qualitativ viel einschneidenderen Wirkungen.41 Hier soll das Beispiel von Minderjährigen genügen, die das Netz als festen und manchmal krankhaft konditionierenden Bestandteil ihres täglichen Lebens als „Digital Natives“ nutzen: Daher entwickeln sie nicht nur bessere Fähigkeiten bei der Verarbeitung von Informationen sowie der Entwicklung sozialer Beziehungen, sondern es entstehen auch sehr alarmierende Phänomene wie Sexting, Cybermobbing, Rachepornos oder Misshandlungen, die mit unterschiedlichsten auch tödlichen Gefahren verbunden sind (Blue Wahle42 ist ein tragisches Beispiel) und die die persön-
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So wird das Cyberspace immer strukturierter und entwickelt sich zu einer riesigen Datenbank (deshalb sprechen wir von Big Data), die von Suchmaschinen und Systemen der künstlichen Intelligenz erfasst und verarbeitet wird. Diese Systeme schaffen eine immer verfeinerte „Web-Semantik“, mit der immer höherwertigere Informationen gefunden und verarbeitet werden. Mit dem erreichten Grad an technologischer Automatisierung und Leistungsfähigkeit bei der Sammlung, Speicherung und Verarbeitung von Daten werden digitale Alter Egos geschaffen, die die Menschen immer mehr „ersetzen“, wenn es darum geht, zu erkennen und zu entscheiden, welche Maßnahmen ergriffen und welche Positionen eingenommen werden sollen. Parallel hierzu gibt es in verschiedenen Bereichen beunruhigende Konzentrationen oder sogar Monopoltendenzen bei den Giganten des Webs. Dies hat sich bereits in den Kartellermittlungen und -verfahren der Europäischen Kommission gegen Facebook, Google, Amazon usw. gezeigt. 40 Vgl. Lorenzo Picotti, I diritti fondamentali nell’uso ed abuso dei Social Network. Aspetti penali, in: Giur. merito, 2012, Nr. 12, 2522 f. 41 In Anwendung der Definition der RL 2012/29/EU vom 25. 10. 2012 über den Schutz der Opfer von Straftaten können die Opfer von Cyberdelikten als transnationale Delikte (wie auch die speziell geschützten Personen wie Kinder oder diskriminierte Personen) oft als „gefährdet“ angesehen werden, da sie keine „Staatsangehörigen“ der Mitgliedstaaten sind, in denen die Tat begangen wird. 42 „Blue Whale Challenge“ ist ein Spiel für Teenager, dessen Ursprünge noch unbekannt sind und das sich im Internet verbreitet hat. In Italien wurde ein 23-jähriges Mädchen wegen Stalking und schwerer Nötigung angeklagt, weil sie zusammen mit einem heute 16 Jahre alten Mittäter eine Mitschülerin dazu gezwungen hatte, sich als erste von 50 Mutproben Schnitte am Körper zuzufügen und ihnen davon Fotos zu schicken.
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liche Entwicklung und die erfolgreiche Eingliederung in das reale Leben irreparabel beeinträchtigen können.43 Die allgegenwärtige Ausbreitung des Cyberspace und der dadurch ermöglichten rechtswidrigen Verhaltensweisen schafft ein dringendes Bedürfnis nach einem angemessenen strafrechtlichen Schutz, da Rechtsgüter verletzt werden, die eines entsprechenden Schutzes würdig und bedürftig sind. Sie sind identisch (wie z. B. Ehre, Ansehen oder Vermögen) sehr ähnlich (wie z. B. Integrität von Daten und Systemen) oder jedenfalls nicht geringwertiger (wie z. B. IT-Vertraulichkeit und Datenschutz) als die Rechtsgüter, die bereits strafrechtlich geschützt sind, wenn die entsprechenden Straftaten offline begangen werden. Die neuen Besonderheiten der Rechtsgüter, die im Cyberspace verletzt werden können, verleihen diesen oft eine größere und manchmal sogar eine grundlegendere Bedeutung, wie im Falle des IT-Vertraulichkeit und der IT-Sicherheit.44 2. Bezeichnend ist die Entwicklung des Rechtsgutes der Vertraulichkeit, das die neue Dimension der IT-Vertraulichkeit erreicht hat. Dies ist ein Grundrecht, das verstanden wird als das Recht auf einen exklusiven IT-Raum, der als solcher frei von Eingriff bzw. Zugang und Manipulation durch Dritte bleiben muss, da er ein wesentliches Mittel für das heutige individuelle und gesellschaftliche Leben ist. Sogar der Staat darf dieses Recht nur in den abschließend vom Gesetz vorgesehen und gerichtlich überprüfbaren Fällen einschränken.45 Es wird von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf Art. 8 der Konvention und vom Gerichtshof der Europäischen Union auf Art. 7 der EU-Grundrechtecharta gestützt.46 43
Vgl. die Daten der wichtigsten internationalen und nationalen Stellen, die sich mit dem Schutz von Kindern im Internet befassen: Hinweise hierzu bei Ivan Salvadori, Sexting, minori e diritto penale, in: Alberto Cadoppi/Stefano Canestrari/Adelmo Manna/Michele Papa (Hrsg.), Cybercrime, Kap. XIII, S. 567 f. 44 Hierzu gleich unten IV.2. 45 Zur „IT-Vertraulichkeit“ als neues Rechtsgut, das sich von der Vertraulichkeit der Kommunikation und der Privatsphäre unterscheidet, siehe Lorenzo Picotti, Reati informatici, S. 20; Für ein aktualisiertes Bild siehe Ivan Salvadori, I reati contro la riservatezza informatica, in: Alberto Cadoppi/Stefano Canestrari/Adelmo Manna/Michele Papa (Hrsg.), Cybercrime, Kap. XVII, S 656 f. Was die Rechtsprechung betrifft, so erkennt das Bundesverfassungsgericht dieses „Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“ unabhängig vom Datenschutz an, das von dem umfassenden allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) mitumfasst ist, indem es Grenzen und Bedingungen für die sog. Online-Durchsuchung skizziert, BVerfG v. 27. 2. 2008 – 1 BvR 370/07 und 1 BvR 595/07, BVerfGE 120, 274; dazu Ulrich Sieber, Stellungnahme zu dem Fragenkatalog des Bundesverfassungsgerichts in dem Verfahren 1 BvR 370/07 zum Thema der Online-Durchsuchungen (2007); italienische Kommentierung von Roberto Flor, Brevi riflessioni a margine della sentenza del Bundesverfassungsgericht sulla c.d. online-Durchsuchung, in: Riv. trim. dir. pen. ec., 2009, S. 695 f. 46 Es umfasst die computergestützte und telematische Kommunikation als solche, und zwar unabhängig von ihrem „persönlichen“ oder besser zwischenmenschlichen Charakter, wie er hingegen bei den traditionellen Korrespondenzformen (Telefon, Telegramm, Brief) vorausgesetzt wird: So rechtfertigt sich die Unabhängigkeit der genannten Inkriminierungen gemäß Art. 3 der Cybercrimekonvention und Art. 4 der RL 2013/40/EU, die ergänzt werden durch
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Das eigenständige Recht auf den Schutz der eigenen „persönlichen Daten“ weist – egal wo diese aufbewahrt oder verarbeitet werden und auch unabhängig von der Informationstechnologie – eine autonome Tragweite auf. Diese geht jetzt weit über den ursprünglichen angelsächsischen Begriff der Privacy hinaus, der als bloße Schutzbarriere für das Privatleben (das Recht, „allein gelassen zu werden“) vor ungerechtfertigtem Eindringen durch die Massenmedien, damals vor allem die Presse, angesehen wurde.47 Heute, in der allgegenwärtigen Dimension des Cyberspace, wird dieses neue Grundrecht nicht nur seit dem am 28. Januar 1981 in Straßburg zur Unterzeichnung aufgelegten Übereinkommen Nr. 108 des Europarats „zum Schutz des Menschen bei der automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten“ besonders gewürdigt, sondern findet auch in Art. 8 der EU-Grundrechtecharta eine eigene Gestalt. Darin werden die Rechte der Person an ihren eigenen Daten mit dem damit einhergehenden und immer stärker werdenden Bedürfnis nach ihrer „Verbreitung“, also der Verfügbarkeit für Dritte abgewogen. Diese Verfügbarkeit ist eine wesentliche Voraussetzung für verschiedenste Dienstleistungen, die auch, aber nicht nur zugunsten des Betroffenen erbracht werden (z. B. Gesundheits- und Sozialdienste, die Erfüllung aller Arten von vertraglichen Verpflichtungen oder die Personalisierung von Werbung oder anderen Dienstleistungen, die auf dem sog. „Profiling“ des Nutzers basieren).48 Also muss man heute neue und differenzierte Regelungen schaffen, um die Bedingungen und Grenzen festzulegen, wann die Verarbeitung dieser Daten zulässig ist, und zwar in jeder Phase, von der Sammlung, Speicherung, Übermittlung und Verbreitung bis zur Bereitstellung an Dritte. Hierbei sind die Grundprinzipien der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit mit den entsprechenden Sicherheitsgarantien anzuwenden, sowie die Verantwortlichkeit der Verarbeitenden und anderer beteiligter Personen für die Risiken zu bestimmen, denen die Rechte anderer ausgesetzt sind.49 Hierzu gehören das Recht auf Information über die Zwecke und Methoden
den rechtswidriger Zugang zu Informationssystemen gemäß Art. 2 und 3 sowie die in Art. 6 und 7 geregelten „vorbereitenden“ Straftaten, für deren Verwirklichung „persönliche“ Inhalte nicht erforderlich sind. 47 Man beachte den historischen Beitrag von Samuel D. Warren/Louis D. Brandeis, The Right to Privacy, in: Harvard Law Review, 1890, Nr. 5, 193 f. 48 Zur Entstehung dieses „neuen“ Rechts, als das Recht, die eigenen Daten und deren Verbreitung zu kontrollieren, siehe in der italienischen Lehre die grundlegenden Beiträge von Stefano Rodotà, beginnend mit seiner wegweisenden Monographie Elaboratori elettronici e controllo sociale, Bologna 1973 bis hin zu seiner letzten: Il mondo nella rete – Quali diritti quali vincoli, Roma-Bari, 2014. 49 Nach dem in Art. 8 der Grundrechtecharta enthaltenen europäischen Modell, muss eine mit durchgreifenden Kontroll-, Genehmigungs-, Untersuchungs- und Sanktionsbefugnissen ausgestattete Aufsichtsbehörde die Wirksamkeit der Regelung gewährleisten. Sie soll das Ungleichgewicht zwischen dem Betroffenen und den für die Verarbeitung Verantwortlichen ausgleichen. Letztere können nämlich mit Einwilligung des Betroffenen enorme Datenmen-
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sowie die Inhaberschaft an der Datenverarbeitung, damit man diese verschiedenen Phasen der Verarbeitung „zulassen“ oder zumindest ihre verschieden Phasen „kontrollieren“ kann, bis hin zur Inanspruchnahme des sog. Rechts auf „Vergessenwerden“.50 Eng verbunden mit diesen neuen Rechtsgütern ist auch das ebenso neue Rechtsgut der IT-Sicherheit, heute besser bekannt als Cybersicherheit (sog. Cybersecurity). Diese ist nicht mehr nur als eine Obliegenheit des Betroffenen zu verstehen, die dazu dient (auch strafrechtlichen) Schutz der eigenen Interessen zu erhalten, und deshalb „disponibel“ ist, wie es sich noch aus der in Art. 3 der RL 2013/40/EU, sowie in Art. 615-ter c.p. vorgesehenen Voraussetzung für die Strafbarkeit des rechtswidrigen Zugangs zu Informationssystemen ergibt. Die IT-Sicherheit ist schon lange zu einer Pflicht geworden, deren Verletzung in vielen Bereichen auch bestraft wird, wie das z. B. Art. 169 des italienischen Datenschutzgesetzes in der Fassung von 2003 gegenüber Inhabern von personenbezogenen Daten bestimmte, die nicht den durch spezielle Ministerialerlasse festgelegten und aktualisierten „Mindestsicherheitsanforderungen“ entsprachen.51 Heute werden angesichts der neuen VO 2016/679/EU, der so genannten Datenschutzgrundverordnung, andere und weitergehende Verpflichtungen zur Risikobewertung und -vermeidung sowie zur angemessenen Reaktion auf unerwünschte Ereignisse festgelegt. Diese wenden sich nicht nur an die für die Datenverarbeitung Verantwortlichen, sondern auch an die Auftragsverarbeiter, an Programmierer, In-Stallers usw., und zwar bereits bei der Planung und Konfiguration der Systeme (by design). Wegen der engen globalen Verflechtung aller Dienste und Aktivitäten im Cyberspace zeigen die neuesten Bestimmungen, dass die Sicherheit der Netze und Informationssysteme eher eine allgemeine „präventive“ Garantiedimension besitzt. Dies gilt für alle Dienste, Funktionen und Beziehungen, und damit auch für die Rechte, die dort ausgeübt werden. Auf diese Weise wird die IT-Sicherheit zu einem indisponiblen öffentlichen Rechtsgut, weil sie einen kollektiven Wert besitzt, dessen konkrete Gestaltung von den hierzu besonders befugten Behörden festgelegt und kontrolliert wird. Bei dieser Entwicklung werden Internet Service Provider immer wichtiger. Für ihre verschiedenen Dienstleistungen und Aktivitäten werden ihnen zwangsläufig immer strengere zivil-, verwaltungs- und strafrechtliche Pflichten und eine entsprechende Verantwortung auferlegt. Die rechtliche Grundlage und deren präzise und gen erfassen und kontrollieren. Der Betroffene kann die Einwilligung häufig nicht verweigern, weil er sonst auf die an sie gebundenen Dienste und Leistungen verzichten muss. 50 Dieses Recht wurde vom Gerichtshof der Europäischen Union in seinem historischen Urteil (Große Kammer) vom 13. Mai 2014, Rechtssache C-131/12, Google Spain gegen Agencia Española de Protección de Datos (AEPD) und Mario Costeja González, feierlich anerkannt und ist nun in Art. 17 der VO 2016/679/EU (Datenschutzgrundverordnung) enthalten. 51 Siehe hierzu Lorenzo Picotti, Sicurezza, informatica e diritto penale, in: Massimo Donini/Massimo Pavarini (Hrsg.), Sicurezza e diritto penale, Bologna 2011, S. 217 f.
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notwendigerweise differenzierte Abgrenzung wirft jedoch erhebliche rechtliche (wie auch rechtspolitische) Probleme auf. Die Rechtsprechung der Europäischen Gerichte in Straßburg und Luxemburg in den letzten Jahren zeigt deutlich die Unzulänglichkeit der Regelung der RL 2000/31/EG über den elektronischen Geschäftsverkehr. Diese orientiert sich noch immer am Modell der Haftungsbefreiungen und „Privilegien“ für Internetdienstanbieter, wie es der US-Millennium Copyright Act von 1997 umschreibt. Insbesondere durch die Kategorie der so genannten aktiven Host-Provider, die dank der neuen Technologien und vor allem der künstlichen Intelligenz die von ihnen gehosteten und im Netz zur Verfügung gestellten Inhalte auswählen, katalogisieren, präsentieren und in vielerlei Hinsicht grundlegend kontrollieren können, hat sich eine weite Auslegung ihrer Verpflichtungen zur Zusammenarbeit mit den Behörden sowie zur Entfernung illegaler oder schädlicher Inhalte aus dem Netz entwickelt.
V. Schlussbemerkungen: Die Notwendigkeit einer Anpassung der Strafrechtskategorien und Stärkung der Garantien im Cyberspace 1. Die andauernde Entwicklung und Ausbreitung des Cyberspace hat zur Folge, dass die Wirkung des geltenden (Straf-)Rechts verpufft. Einerseits fördert bzw. erzwingt sie sogar dessen ständige Anpassung. Eine solche ist die wesentliche Voraussetzung dafür, dass das Recht seine Regulierungsfunktion aufrechterhalten kann, und das dank aller ihm zur Verfügung stehenden Mittel: von der „evolutionären“ Auslegung bis zur analogen Anwendung, von der Änderung oder Schaffung von Gesetzen bis hin zur Entwicklung innovativer begrifflicher und dogmatischer Kategorien, für die die Lehre Ulrich Siebers seit langem den Weg bereitet hat. Andererseits scheint die Cyberrevolution, wie jede strukturelle Realität, die den Überbau bedingt, gerade die Beziehung der IT-Technologien zum Recht neu zu bestimmen, indem sie ihre Aufgaben und Einsatzmöglichkeiten berührt, und schließlich ihren wesentlichen Kern infrage stellt: Die Technologie scheint in Konkurrenz zur Regelungsfunktion der Rechtsordnung, ihrer primären Funktion, zu stehen, da der von Natur aus „technische Kodex“ für sich in Anspruch nimmt, auch das neue Gesetzbuch zu sein: „Code is Law“, um das berühmte Buch von Lawrence Lessig zu zitieren.52 Der technologische Selbstschutz und die Selbstregulierung, die sich die großen Herren des Netzes vor allem selbst auferlegen, tendieren dazu, „Recht“ zu werden oder dieses zu ersetzen, weil die von ihr geschaffenen „Regeln“ in Echtzeit wirksame Sanktionen liefern können. Die drastischste Folge ist der Ausschluss von Diensten, Netzen und Internetverbindungen, weil damit das Verhalten von Nutzern, 52 Lawrence Lessig, Code and Other Laws of Cyberspace (1st ed. 1999), 2nd ed., New York 2006.
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Konkurrenten und Dritten unmittelbar beeinflusst werden kann, bis hin zu dem Punkt, an dem die Ausübung ihrer (Grund-)Rechte eingeschränkt werden kann. Schon seit einiger Zeit ist klar, dass die utopische oder romantische Vorstellung unhaltbar ist, dass das „Netz“ ein rechtsfreier Raum sei,53 ein Freihafen der Anarchie oder der totalen Freiheit, der nicht begrenzbar sei durch die Staatsgewalt, die nur innerhalb ihrer geografischen Grenzen ihre Souveränität ausüben kann. Auch aus der obigen kurzen Untersuchung ergibt sich die Notwendigkeit eines effektiven (straf-)rechtlichen Schutzes von oftmals vorrangigen Rechtsgütern, die im Cyberspace auf immer neue Art und Weise verletzt werden. Diese Verletzungen erfolgen manchmal geräuschvoll, manchmal verdeckt und still und zwar nicht nur durch Cyberkriminelle bzw. entsprechende kriminelle Organisationen, sondern auch durch missbräuchliches Verhalten, das durch die neue außergewöhnliche Machtkonzentration gefördert wird. So sehr, dass der Entwurf einer Internet Bill of Rights, einer „Verfassung für das Internet“,54 maßgeblich gefördert, ausgearbeitet und mitgetragen wurde. Hiermit sollten die Grundrechte im Cyberspace – ausgehend von denen, die in den internationalen Konventionen enthalten sind und von den Gerichten nach und nach ausgearbeitet wurden – gegenüber jedermann anerkannt und garantiert werden.55 Das Hauptkriterium muss sein, dass das, was offline illegal ist, online nicht legal sein kann, auch wenn es in neuen und unerwarteten Formen auftritt. Dieses Prinzip muss aber angemessene Mittel finden, um wirksam zu werden. Hierzu gehört eine klare rechtliche Definition der illegalen Inhalte und Handlungen, die im Cyberspace zu bestrafen sind. Dabei sind die Neuartigkeit und Komplexität der sich dort abspielenden Beziehungen und der Techniken, mit denen sie sich entwickeln, zu berücksichtigen: Daher kann nicht jede Frage oder jeder Schutzbedarf mit der einfachen begrifflichen Ausweitung der geltenden Normen und traditionellen dogmatischen Kategorien auf die neuen Phänomene gelöst werden. Es ist deshalb offensichtlich, dass ein allgemeiner rechtlicher Rahmen entwickelt werden muss, in den auch neue Kriterien für die Zurechnung der strafrechtlichen Ver53 Siehe in der italienischen Literatur Govanni Ziccardi, Hacker – Il richiamo della libertà, Milano 2011, mit zahlreichen bibliografischen und Rechtsprechungshinweisen, auch in Bezug auf die amerikanische Praxis. 54 Ausgehend von der „Internet Magna Carta“ von Tim Berners Lee und der Studie des „Berkman Center“ der Harvard University haben sich auf internationaler Ebene eine Reihe von Initiativen entwickelt, darunter die Arbeit des „Internet Governance Forum“ und der „Dynamic Coalition on Internet Rights and Principles“. Hierauf nimmt auch die in Italien von der 2014 vom Präsidium der Abgeordnetenkammer eingesetzten Kommission unter dem Vorsitz von Stefano Rodotà durchgeführte Studie Bezug, die am 28. 7. 2015 eine kurze, aber effektive „Erklärung zu den Rechten im Internet“ vorgestellt hat. Sie besteht aus einer Präambel und 14 Artikeln, in denen ebenso viele Rechte anerkannt werden: vgl. https://www.ca mera.it/application/xmanager/projects/leg17/commissione_internet/dichiarazione_dei_diritti_in ternet_pubblicata.pdf. 55 Vgl. Rodotà, Il mondo nella rete, S. 61 f., 69 f.
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antwortung eingefügt werden, die die besonderen Merkmale der im Cyberspace begangenen strafrechtlich relevanten „Handlungen“ berücksichtigen. Das Novum der technologischen Entwicklung und insbesondere der Cyberrevolution, die angesichts der nächsten anwendungsbezogenen Entwicklungen (künstliche Intelligenz und Robotik), voraussichtlich zu weiteren tiefgreifenden Veränderungen führen wird, muss auf der juristisch-strafrechtlichen Ebene bewusst gestärkt und darf gewiss nicht unterschätzt werden. Nur so kann man angesichts der unbestreitbaren Notwendigkeit einschneidender Reformen die Festigung der gleichfalls primär erforderlichen rechtsstaatlichen Prinzipien einer demokratischen Gesellschaft garantieren. Diese kann sich ihrer Regulierungs- und wenn nötig Sanktionierungsaufgabe, angesichts des „technischen Codex“ und der „de facto“-Regulierung durch die Machtverhältnisse im Cyberspace, nicht entziehen, erst recht nicht in Zukunft in einer Welt, die von Robotern beherrscht werden wird. 2. Die Grundbegriffe Handlung und Erfolg, Kausalzusammenhang und objektive wie subjektive Zurechnung usw. sind angesichts der Automatisierung, der Entmaterialisierung, der andauernden Interaktion und Interdependenz, die das Cyberspace charakterisieren, zu überdenken. Dabei muss man aber immer berücksichtigen, dass es im Grunde um die sich im Cyberspace abspielenden zwischenmenschlichen Beziehungen und Interessenkonflikte geht. Wesentlicher Teil der Handlung ist hier gerade nicht die körperliche Bewegung, sondern sie wird nun von der Computertechnologie und damit von der Automatisierung dominiert, die dann die Kausalität beeinflusst, als ein Zurechnungszusammenhang zu einem Erfolg, der eher als deren wenn auch begrifflich abtrennbare rein naturalistische „Folge“ angesehen werden kann. Der Erfolg kann nämlich außerhalb des Cyberspace eintreten, wenn z. B. Tod, Verletzung, Personen- oder Vermögenschäden durch Roboter, selbstfahrende Autos, Cyberterrorismus oder Cyberextorsion verursacht werden; der Schaden kann auch ein immaterieller bzw. psychischer sein, wie z. B. bei Cybermobbing oder Cyberstalking. Oft kann die Vollendung aber auch komplett „innerhalb“ des Cyberspace liegen, wie bei der Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit eines Systems aufgrund eines DoS-Angriffs, infolge einer Vielzahl von Computer-„Aktionen“, die von einer eigens für diesen Zweck programmierten und aktivierten Software gestartet und ausgeführt werden. Der Grundbegriff der Tatbestandserfüllung muss daher nicht nur bei Computerdelikten im engeren Sinne, sondern auch bei Cyberdelikten im weiteren Sinne einen immer relevanteren „Anteil“ von Handlungen berücksichtigen, die im Netz oder sogar durch Computersysteme erfolgen. Sie geschehen bei der Ausführung von Programmen, die auf mehr oder weniger ausgefeilten und komplexen Algorithmen basieren, die von Menschen (Herstellern, Servicetechnikern, Inhabern, Nutznießern usw.) konzipiert, aktiviert oder kontrolliert werden. Dabei ist es aber schwer, ihnen rechtlich die Begehung oder gar den entsprechenden bewussten Willen zuzurechnen, der erforderlich ist, damit der für die Tatschuld erforderliche Vorsatz oder jedenfalls die subjektive Vorwerfbarkeit erfüllt ist.
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Aufgrund der genannten technischen Merkmale der Automatisierung und der „Hyper-Konnektivität“,56 die sich auf den Verkehr, die Bereitstellung und die Beständigkeit von Daten und Inhalten im Netz erstrecken, muss auch der Begriff der Vollendung der im Cyberspace begangenen Straftat überdacht werden. Es breiten sich nämlich nicht nur die „Wirkungen“ in Zeit und Raum aus, wie sich beispielhaft im Google-Fall gezeigt hat, wo es um das Recht auf „Vergessenwerden“57 ging, sondern auch der strafrechtlich relevante Zeitraum der Tatbestandserfüllung wird durch die automatisierten Funktionen der Speicherung, des Teilens und des Verkehrs, die nur teilweise von Betreibern und Nutzern der Computersysteme ex ante oder ex post „beherrschbar“ sind, verlängert und in gewisser Hinsicht dauerhaft. Diese besondere Dauerhaftigkeit der Cyberdelikte kann auch nicht auf ein bloßes, strafloses post factum reduziert werden, denn die Verlängerung der tatbestandmäßigen Handlung und/oder des tatbestandsmäßigen Erfolgs kann nicht von den technischen Elementen getrennt werden, aus denen sie bestehen. Dabei werden, wie gesagt, für die Tatbestanderfüllung die besonderen durch die IT bestimmten Merkmale vorausgesetzt, durch die der Täter den Tatbestand erfüllt. Einen methodologischen Hinweis liefern kann die traditionelle dogmatische Unterscheidung zwischen dem Zeitpunkt der formalen Vollendung der Straftat, der eintritt, wenn die wesentlichen Tatbestandsmerkmale in ihrem Mindestinhalt verwirklicht worden sind, und dem Zeitpunkt der materiellen Beendigung, der eintritt, wenn die Straftat in ihrem spezifischen verletzenden Inhalt endgültig „erschöpft“ ist, weil der maximalen Grad der Schädigung des geschützten Rechtsgutes erreicht ist.58 Man kann nun nicht sagen, dass sich das Cyberdelikt in der ziemlich langen Zwischenzeit „erschöpft“, die zwischen Vollendung und Beendigung liegt und in der die Verletzung bestehen bleibt oder sich sogar verschlimmert. Das Phänomen ist wohl nicht unter die echten Dauerdelikte (wie z. B. die Entführung) zu fassen, die voraussetzen, dass die Fortdauer der Rechtsgutsverletzung (hier im Beispiel die persönliche Freiheit des Opfers) von einer direkten und gleichzeitigen willentlichen Handlung des Täters abhängt, der sie jederzeit abbrechen könnte (daher sprechen Einige von einer gemischten Straftat, einem Begehungsdelikt bei der 56
Siehe oben II. Siehe oben Fn. 50. 58 Diese Unterscheidung, die bereits in der allgemeinen Verbrechenslehre von Francesco Carrara, Momento consumativo del furto, in: Lineamenti di pratica legislativa penale, Torino 1874, S. 229 f., anerkannt wurde, wird nicht nur in den italienischen Lehrbüchern übernommen: vgl. Ferrando Mantovani, Diritto penale – Parte generale, 10. Aufl., Padua 2017, S. 425 f.; Hans-Heinrich Jescheck/Thomas Weigend, Lehrbuch des Strafrechts – Allgemeiner Teil, 5. Aufl., Berlin 1996, § 49 III, S. 517. In Bezug auf die Absichtsdelikte siehe auch Lorenzo Picotti, „Dolo specifico“ und Absichtsdelikte – der sog. Handlungszweck zwischen gesetzlicher Formulierungstechnik und dogmatischen Begriffen, in Wolfang Frisch-FS, Berlin 2013, S. 363 ff.; ders., Zwischen ,spezifischem‘ Vorsatz und subjektiven Unrechtselementen – Ein Beitrag zur typisierten Zielsetzung im gesetzlichen Tatbestand, Berlin 2014, S. 35 ff. (Übersetzung von Thomas Vormbaum). 57
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anfänglichen Herbeiführung und einem Unterlassungsdelikt bei der späteren Aufrechterhaltung des rechtswidrigen Zustands).59 Die besondere Automatisierung und „Hyper-Konnektivität“ der IT, die die Ausbreitung und Dauerhaftigkeit der Straftat im Cyberspace bestimmen, entziehen sich zwangsläufig der direkten und kontinuierlichen nachträglichen Kontrolle des Täters, der sich ihrer bedient hat. Es handelt sich daher also um eine neue dogmatische Kategorie, die die Besonderheiten dessen, was im Cyberspace passiert, für die Vielzahl der möglichen Straftaten erfassen muss. Man denke nur an die einfache online begangene üble Nachrede, die nach ihrer formellen Vollendung, die mit der ersten „Kommunikation“ des den Ruf anderer schädigenden Inhalts an mehrere Personen (auch durch Veröffentlichung auf einer Website oder in einem sozialen Netzwerk) erfolgt, zu einer Verlängerung, Verschlimmerung und Ausbreitung der Verletzung in Zeit und Raum führt. Diese wird vom Täter nicht mehr beherrscht, ist aber sicher vorhersehbar und zum Zeitpunkt der Handlung akzeptiert. Dasselbe gilt für die Verbreitung von Kinderpornografie, die Straftat des „Rachepornos“, die Verbreitung von Hassreden im Cyberspace usw. Die tatbestandsmäßige Handlung weist daher eine verlängerte bzw. hinausgezögerte Vollendung auf, die über den Zeitpunkt der formalen Vollendung hinausgeht und bis zur materiellen Beendigung andauert, die schwer, aber nicht unmöglich festzustellen ist. In diesem verlängerten Zeitraum ist es, wie auch bei der entsprechenden Ausbreitung im globalen Cyberspace, wohl dogmatisch nicht richtig, von einer menschlichen tatbestandsmäßigen Handlung zu sprechen, weil sie nicht mehr auf die Beherrschung durch den bewussten Willen oder jedenfalls auf die aktuelle Beherrschbarkeit durch den Menschen zurückgeführt werden kann, auch wenn die daraus resultierende tatbestandsmäßige Verletzung, sicherlich immer noch als direkte Folge eines solchen Verhaltens im Cyberspace entsteht. Es scheint nun ein eigener Erfolgsbegriff zu entstehen, der sich vom traditionellen naturalistischen unterscheidet, wenn er auch in Bezug auf die Verletzung des Opfers und der geschützten Interessen und Rechte gleichwertige Merkmale aufweist. Die Voraussetzungen und Grenzen der objektiven Zurechnung und der subjektiven Vorwerfbarkeit (aufgrund von Vorsatz oder Fahrlässigkeit) müssen aber im Lichte der IT und des ihr zugrunde liegenden, im Cyberspace etablierten Konfliktverhältnisses bestimmt werden. Die Entscheidung, sich auf die Automatisierung und die „Hyperkonnektivität“ mit all den oben erwähnten technischen Besonderheiten zu verlassen, hat zur Folge, dass sie der Täter kennt oder zumindest kennen kann, sie in Kauf nimmt, und damit die Verantwortung für die Folgen übernimmt. 59 Zu den Kennzeichen des Dauerdelikts in der italienischen Lehre vgl. u. a. Mario Romano, Commentario sistematico del codice penale, 3. Aufl., Mailand 2004, Pre-Art. 39, §§ 118 f., S. 344 f.; zum postfactum siehe die Monografie von Salvatore Prosdocimi, Profili penali del postfatto, Mailand 1982.
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Wenn der Vollendungszeitpunkt, nach dem das zeitlich und räumlich anwendbaren Strafrecht zu bestimmen ist, diese weitere Verlängerung und Ausbreitung der tatbestandsmäßigen Handlung im Cyberspace umfassen muss, so muss der Beginn der Verjährung z. B. auf den Zeitpunkt der materiellen Beendigung verschoben werden, weil der Strafanspruch, wie bei Dauerdelikten und solchen mit verlängerter Vollendung, bis dahin fortbesteht.60 Daraus folgt, dass nach den allgemeinen Grundsätzen eine strafrechtlich relevante Beteiligung Anderer (z. B. anderer Nutzer sozialer Netzwerke, die die Nachricht oder den verletzende Inhalte billigen und verbreiten, oder Internet Service Provider, die z. B. der Verpflichtung zur Sperrung oder Löschung nicht nachkommen), nach Art. 110 c.p. bzw. §§ 27 ff. StGB sowohl durch aktives Tun als auch durch Unterlassen möglich ist.61 Die wichtigsten Garantenstellungen, die die Provider durch ihre die rechtlichen Interessen von Nutzern und Dritten gefährdenden Tätigkeiten innehaben, müssen in breiterem Umfang anerkannt, aber auch gesetzlich präzisiert werden. Dies gilt aber nur für die Risiken und innerhalb der Grenzen, wie die Gefahrenquellen, aus denen sie stammen, beherrschbar sind. Der Grund hierfür liegt in der Tatsache, dass sie, wegen der klugen Systeme und der künstlichen Intelligenz, im neuen technologischen Kontext immer weniger passive, rein technische und automatische Funktionen erfüllen. Um den Umfang der Pflichten zu bestimmen, deren Einhaltung technisch und persönlich durchsetzbar ist, und deren Verletzung daher zu einer strafrechtlichen Verantwortung führen kann, können natürlich nicht die zivilrechtlichen Modelle der verschuldensunabhängigen Produkthaftung angewendet werden. Ebenso wenig anwendbar ist das Modell der Verantwortlichkeit eines Unternehmens für Straftaten, die Personen in übergeordneter oder eventuell auch untergeordneter Position vorgeworfen werden können, weil es deren strafrechtliche Verantwortung voraussetzt. Dies sind jedoch weite, noch nicht eingehend erforschte, die Grundbegriffe der Verbrechenslehre62 betreffende Bereiche, die offen sind für eine erneute Reflexion 60 Der Begriff der Straftat mit „verlängerter Vollendung“ wurde vor Kurzem in der italienischen Rechtsprechung entwickelt und betrifft Straftaten wie Korruption oder Wucher, die alternative Vollendungszeitpunkte aufweisen können, weil ihre Verwirklichung auch durch mehr als eine Handlung erfolgen kann: wenn z. B. aufgrund rechtswidriger Vereinbarungen oder Versprechen, mit denen die Straftat bereits vollendet ist, mehrere Zahlungen erfolgen, ist die materielle Rechtsverletzung erst mit der letzten Zahlung beendet und somit beginnt erst mit dieser die Verjährung zu laufen (siehe Art. 158, Abs. 1 c.p. und ausdrücklich zum Wucher Art. 644-ter c.p.). 61 Siehe in diesem Sinne die Entscheidung des Kassationsgerichtshofs vom 27. 12. 2016, n. 54946, Tavecchio, mit der die Verurteilung eines Bloggers bestätigt wurde, der einen Text mit beleidigenden Ausdrücken auf seiner Website „gelassen“ hatte, obwohl er auf deren Inhalt aufmerksam gemacht worden war. 62 Neben den Begriffen Handlung und Erfolg beziehe ich mich auf die schon länger genannten Begriffe Kausalität, Unterlassung, Beteiligung, Versuch, Vorsatz und Fahrlässigkeit,
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und dogmatische Ausarbeitung durch den Strafrechtler. Dieser muss, gerade um seine Aufgabe als Jurist nicht zu verfehlen, seine intellektuellen Werkzeuge und Begriffskategorien an die neue technologische Praxis anpassen können, gerade um die wesentliche Bedeutung eines auch strafrechtlichen Schutzes in diesem Bereich zu bekräftigen und gleichzeitig die grundlegenden Prinzipien und Garantien einer demokratischen Rechtordnung zu bewahren. Abschließend sei gestattet, noch einmal an die Arbeit und das Beispiel von Ulrich Sieber zu erinnern, der einen wichtigen Teil seines Engagements unserer Association Internationale de Droit Pénal (AIDP) gewidmet hat, die für die Themen der modernen globalen Gesellschaft besonders empfänglich ist. Ein solches war – 20 Jahre nach dem genannten Kongress in Rio 1994 – auch 2014 Gegenstand des XVIII. internationalen Kongresses (zufällig wieder in Rio de Janeiro) mit dem übergeordneten alle vier Sektionen betreffenden Thema „Informationsgesellschaft und Strafrecht“.63 Angesichts der rasanten Weiterentwicklungen, die durch die Etablierung und die Ausbreitung immer anspruchsvollerer Anwendungen der künstlichen Intelligenz und der Robotik anstehen, wird der nächste XXI. Internationale Kongress, der für 2024 geplant ist, dem Thema „Künstliche Intelligenz und Strafjustiz“ gewidmet sein.64 Hierzu wird unser Jubilar wieder seinen unersetzlichen Beitrag an Wissen und Erfahrung einbringen können, auf einem Gebiet, das er seit vielen Jahren als ein kluger und vorausschauender Wegbereiter erforscht hat. Und dies ist der aufrichtige Wunsch, den wir ihm und auch uns allen gegenüber zum Ausdruck bringen.
vgl. Lorenzo Picotti, Internet e responsabilità penali, in: Giovanni Pascuzzi (Hrsg.), Diritto ed informatica, Mailand 2002, S. 117 f. 63 Die vier Resolutionen zum allgemeinen Teil, besonderen Teil, Strafprozessrecht und internationalen Strafrecht und die allgemeinen Berichte finden sich auf der Website www.pena le.org. 64 Siehe hierzu Fn. 23.
Menschenrechte in der digitalen Krise Von Johanna Rinceanu
I. Einführung Für den Schutz und die Durchsetzung von Menschenrechten birgt das 21. Jahrhundert als Zeitalter der Digitalisierung zweifellos zahlreiche neue Chancen. Es schenkt Dissidenten, Protestierenden, Menschenrechtsorganisationen und -aktivisten erstmals weltweit eine Stimme. Sie machen den digitalen Raum zu ihrer (Welt)Bühne: „lokal ist global“.1 Betrachtet man jedoch die jüngsten Entwicklungen im deutschen IT-Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht, scheint das Informationszeitalter die Menschenrechte eher in eine neue „digitale Krise“ zu stürzen und zwar direkt vor unserer Haustür. Insbesondere der Katalog des § 1 Abs. 3 Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) hat einer Vielzahl der – seit langem hoch umstrittenen – Tatbestände rund um Meinungsäußerungsfreiheit und Informationsfreiheit2, Kunstfreiheit, Recht auf Privatsphäre, aber auch Religionsfreiheit neue Aktualität verliehen. Private IT-Diensteanbieter werden in diesem Prozess zu Hütern praktischer Konkordanz wider Willen und zu Gatekeepern an der Schwelle der Menschenrechte. Abermals realisieren sich Risiken, die Ulrich Sieber bereits vor über 20 Jahren im CompuServe-Verfahren3 identifiziert hat. Die Schnittstelle von Menschenrechten, Strafrecht und Digitalisierung eignet sich daher wie kaum eine andere für einen Festschriftbeitrag. Im Folgenden wird das Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken vorgestellt und kritisch beleuchtet (II.), auf die Kompetenzabsicherung näher eingegangen (III.) sowie die Vereinbarkeit des NetzDG mit den Grund- und Menschenrechten diverser Akteure im digitalen Raum analysiert (IV.). Im Anschluss wird die „virale“ Verbreitung des NetzDG vorgestellt (V.). Schließlich wird ein kritischer Blick auf den Entwurf eines Gesetzes zur Bekämp1 Internet & Gesellschaft Co:llaboratory, „Menschenrechte und Internet“ – Zugang, Freiheit & Kontrolle, Abschlussbericht 2012, S. 19. 2 Zur Informationsfreiheit der Nutzer siehe Sieber/Nolde, Sperrverfügungen im Internet – Nationale Rechtsdurchsetzung im globalen Cyberspace?, 2008, S. 77 ff. 3 Vgl. Sieber, JZ 1996, 429 ff. und 494 ff.; id., Verantwortlichkeit im Internet: Technische Kontrollmöglichkeiten und multimedialrechtliche Regelungen, 1999.
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fung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität geworfen, der vor allem eine Verschärfung des NetzDG vorsieht (VI.). Die Schlussbetrachtung (VII.) wagt einen Blick in die Zukunft von Internet Governance und Menschenrechten. Während seiner Zeit als Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht hat Ulrich Sieber meine Forschungsinteressen vor allem im Bereich der Menschenrechte und des Strafrechts stets wohlwollend begleitet. Hierfür danke ich ihm sehr herzlich! Der vorliegende Beitrag ist ihm mit den besten Wünschen für weitere erfolgreiche und schöpferische Jahre im globalen Cyberspace gewidmet.
II. Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz) 1. Entstehung und Zielsetzung Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht von Online-Hasskriminalität4 und Fake News5 in der Presse berichtet wird. „Abgründe“ von Vorurteilen, Ressentiments und Fanatismus tun sich im Netz auf, die in die reale Welt übergreifen und – möglicherweise, wenn auch bislang nicht durch Studien belegt – von einer zunächst verbalen Eskalation zu rassistisch, antisemitisch und rechtsextremistisch motivierten Anschlägen führen.6 Diese Veränderung des öffentlichen Diskurses in sozialen Netzwerken, die „Verrohung der Debattenkultur“7 durch „aggressive, verletzende und oftmals hasserfüllte“8 sowie andere strafbare Inhalte, die schließlich zu Opfern körperlicher Gewalt in der realen Welt führten, haben den Gesetzgeber ausweislich seiner eigenen Begründung dazu veranlasst, die Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken zu verbessern. Mit dem Regelwerk des NetzDG wird die bisher eigenverantwortliche Bekämpfung von Online-Hasskriminalität und Fake News durch IT-Diensteanbieter und ihren selbstgesetzten Kommunikationsregeln gesetzlichen Vorgaben unterworfen. Ziel des Gesetzes, das am 1. Oktober 2017 in Kraft getreten ist, ist die Beseitigung
4 „Hasskriminalität“ wird in diesem Zusammenhang als strafrechtlich relevante Verbreitung von Inhalten im Netz verstanden. Was unter einem strafrechtlich relevanten Inhalt gemeint ist, legt § 1 Abs. 3 NetzDG in Form einer Auflistung von Straftatbeständen fest. 5 Unter „Fake News“ fallen strafrechtlich relevante Falschinformationen, die über soziale Medien verbreitet werden. 6 von Altenbockum, FAZ v. 21. Februar 2020, S. 1. Die jüngste terroristische Gewalttat von Hanau, bei der neun Menschen mit Migrationshintergrund ermordet wurden, reiht sich in eine Reihe von rassistisch motivierten Verbrechen, wie die Morde der NSU, die Ermordung des CDU-Politikers Walter Lübcke und der Anschlag auf die Synagoge von Halle. 7 BT-Drucks. 18/12356, S. 13. 8 BT-Drucks. 18/12727, S. 2.
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von Störungen der öffentlichen Sicherheit und eine Veränderung der Debattenkultur9 in sozialen Netzwerken durch private Akteure. 2. Wesentlicher Inhalt Das NetzDG richtet sich an „Anbieter sozialer Netzwerke“ mit mehr als zwei Millionen im Inland registrierten Nutzern (§ 1 Abs. 2 NetzDG). Was genau unter „soziale Netzwerke“ zu verstehen ist, erläutert § 1 Abs. 1 NetzDG. Demnach handelt es sich um „Telemediendiensteanbieter, die mit Gewinnerzielungsabsicht Plattformen im Internet betreiben, die dazu bestimmt sind, dass Nutzer beliebige Inhalte mit anderen Nutzern teilen oder der Öffentlichkeit zugänglich machen.“ Vom Gesetz explizit ausgenommen werden Plattformen mit journalistisch-redaktionell gestalteten Angeboten, die vom IT-Diensteanbieter selbst verantwortet werden sowie Individualkommunikation und geschlossene Gruppenkommunikation wie Messenger-Dienste oder WhatsApp-Gruppen. Betroffen sind damit IT-Diensteanbieter in der Größenordnung von Google, Facebook, YouTube, Twitter und Instagram. Solche Diensteanbieter werden durch das NetzDG als Private verpflichtet, ein transparentes Beschwerdemanagement (in Sinne von „Compliance-Regeln“) für einen effizienten Umgang mit Beschwerden über rechtswidrige Inhalte einzurichten. „Rechtswidrige Inhalte“ in diesem Sinne listet § 1 Abs. 3 NetzDG in einem Straftatenkatalog abschließend auf.10 Das Beschwerdemanagement-Verfahren muss gewährleisten, dass der IT-Diensteanbieter unverzüglich von der Beschwerde Kenntnis nimmt und prüft, ob der in der Beschwerde gemeldete Inhalt rechtswidrig und zu entfernen oder der Zugang zu ihm zu sperren ist. Ein offensichtlich rechtswidriger Inhalt muss innerhalb von 24 Stunden nach Eingang der Beschwerde – ein nicht offensichtlich rechtswidriger Inhalt in der Regel innerhalb von sieben Tagen – gelöscht oder der Zugang zu ihm gesperrt werden. Das NetzDG spezifiziert in diesem Zusammenhang nicht näher, was unter „offensichtlich rechtswidrigem Inhalt“ zu verstehen ist. Im 9
Müller-Franken, AfP 1/2018, 1 (2). § 1 Abs. 3 NetzDG listet folgende Tatbestände auf: § 86 StGB (Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen), § 86a StGB (Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen), § 89a StGB (Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat), § 91 StGB (Anleitung zur Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat), § 100a StGB (Landesverräterische Fälschung), § 111 StGB (Öffentliche Aufforderung zu Straftaten), § 126 StGB (Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten), §§ 129 – 129b StGB (Bildung krimineller Vereinigungen, Bildung terroristischer Vereinigungen, Kriminelle und terroristische Vereinigungen im Ausland), § 130 StGB (Volksverhetzung), § 131 StGB (Gewaltdarstellung), § 140 StGB (Belohnung und Billigung von Straftaten), § 166 StGB (Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen), § 184b StGB i.V.m. § 184d StGB (Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornographischer Schriften i.V.m. Zugänglichmachen pornographischer Inhalte mittels Rundfunk oder Telemedien; Abruf kinder- und jugendpornographischer Inhalte mittels Telemedien), §§ 185 – 187 StGB (Beleidigung, Üble Nachrede, Verleumdung), § 201a StGB (Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen), § 241 StGB (Bedrohung) oder § 269 StGB (Fälschung beweiserheblicher Daten). 10
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Falle der Löschung muss der Inhalt zu Beweiszwecken gesichert und für einen Zeitraum von zehn Wochen gespeichert werden. Der IT-Diensteanbieter muss schließlich den Beschwerdeführer, der nicht notwendigerweise Verletzter sein muss, und den Nutzer (i.S.v. Verfasser) über jede Entscheidung unverzüglich informieren und seine Entscheidung begründen (§ 3 NetzDG). Transparenz erhält das Beschwerdemanagement der einzelnen IT-Diensteanbieter durch die Verpflichtung halbjährig, und damit in regelmäßigen Abständen, einen deutschsprachigen Bericht über den Umgang mit den Beschwerden über rechtswidrige Inhalte auf ihren Plattformen im Bundesanzeiger und auf der eigenen Homepage zu veröffentlichen (§ 2 NetzDG). Verstößt ein IT-Diensteanbieter gegen seine Beschwerdemanagement- und Berichtspflichten gem. §§ 2 und 3 NetzDG, indem er „vorsätzlich oder fahrlässig ein Beschwerdemanagement gar nicht oder mangelhaft einrichtet, organisatorische Unzulänglichkeiten nicht beseitigt oder die gesetzlichen Vorgaben für das Beschwerdemanagement über einen nicht unerheblichen Zeitraum verfehlt“,11 begeht er eine Ordnungswidrigkeit. Diese kann mit Geldbuße von bis zu fünfhunderttausend Euro, in Ausnahmefällen von bis zu 5 Millionen Euro, geahndet werden (§ 4 NetzDG). Eine Verfolgung des Inhabers des Unternehmens, der das soziale Netzwerk betreibt, ist durch die parallele Anwendung des § 130 OWiG möglich, sofern „die Zuwiderhandlung gegen die Pflicht zur Vorhaltung eines wirksamen Beschwerdemanagements oder gegen die Berichtspflicht durch gehörige Aufsicht hätte verhindert oder wesentlich erschwert werden können“.12 Eine Geldbuße kann schließlich gem. § 30 OWiG gegen juristische Personen und Personenvereinigungen festgesetzt werden. Aufgrund des Verweises auf § 30 Abs. 2 S. 3 OWiG in § 4 Abs. 2 NetzDG „verzehnfacht sich das Höchstmaß der Geldbuße […] für die im Gesetz bezeichneten Tatbestände.“ Da es sich bei den Betreibern in der Regel um juristische Personen handelt, reicht der Bußgeldrahmen somit de facto bis zu 50 Millionen Euro. Bußgeldleitlinien sollen orientiert an der Größe des Netzwerks sowie den Tatumständen und -folgen zu mehr Transparenz führen, vermögen dies aber nur unzureichend.13 Das NetzDG legt den IT-Diensteanbietern schließlich die Pflicht auf, einen inländischen Zustellungsbevollmächtigten und eine inländische Auskunftsperson für Auskunftsersuchen einer inländischen Strafverfolgungsbehörde zu benennen und auf der eigenen Plattform in leicht erkennbarer und unmittelbar erreichbarer Weise auf diese aufmerksam zu machen (§ 5 NetzDG). Auch diese Pflichten sind bußgeldbewehrt. Einer in ihren Persönlichkeitsrechten verletzen Person haben ITDiensteanbieter Auskunft über die Identität des Nutzers zu erteilen, allerdings steht dieser Auskunftsanspruch unter Richtervorbehalt (§ 2 NetzDG i.V.m. § 14 Abs. 3 – 5 TMG). 11
BT-Drucks. 18/12356, S. 12. BT-Drucks. 18/12356, ibid. 13 https://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/Themen/Fokusthemen/NetzDG_Bu% C3%9Fgeldleitlinien.pdf?__blob=publicationFile&v=3. 12
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3. Regulierte Selbstregulierung oder selbstregulierte Zensur? Mit dem NetzDG wurde ein System der „Regulierten Selbstregulierung“ eingeführt (§ 3 Abs. 6 NetzDG). Gemeint ist damit die Einrichtung einer Prüfungsstelle für Online-Inhalte, die nicht offensichtlich rechtswidrig sind. Die Einrichtung soll von mehreren Anbietern sozialer Netzwerke oder Institutionen getragen werden, die eine sachgerechte Ausstattung sicherstellen. Zudem muss sie für den Beitritt weiterer Anbieter, insbesondere sozialer Netzwerke, offenstehen (§ 3 Abs. 6 Nr. 5 NetzDG). Zu den Aufgaben der Einrichtung gehört es, die Sichtung durch unabhängige und sachkundige Prüfer zu gewährleisten und eine sachgerechte Ausstattung vorzuweisen, die eine zügige Entscheidung über die Rechtswidrigkeit des gemeldeten und übertragenen Inhalts innerhalb sieben Tagen sicherstellt (§ 3 Abs. 6 Nr. 1 und 2 NetzDG). Des Weiteren sind in einer Verfahrensordnung konkrete Vorgaben für das Prüfverfahren zu machen sowie eine Beschwerdestelle einzurichten, damit sich Nutzer, deren Inhalte zu Unrecht gelöscht wurden, hiergegen beschweren können (§ 3 Abs. 6 Nr. 3 und 4 NetzDG). Damit können IT-Diensteanbieter in Zweifelsfällen über die Rechtswidrigkeit von Inhalten die Entscheidung über die Löschung oder Sperrung einer Einrichtung der Regulierten Selbstregulierung übertragen. Gleichzeitig haben die Betroffenen, soziale Netzwerke, Beschwerdeführer, Verletzte und Nutzer Gelegenheit – nachdem sie von der Übertragung informiert wurden –, gegenüber dieser Einrichtung Stellung zu nehmen. Der IT-Diensteanbieter kann eine Stellungnahme bereits mit der Übertragung der Entscheidung über die Rechtswidrigkeit von Inhalten verbinden.14 Die von der Einrichtung gefällte Entscheidung ist für die IT-Diensteanbieter bindend: Wird ein Inhalt für rechtswidrig im Sinne des NetzDG erachtet, muss der ITDiensteanbieter diesen unverzüglich löschen oder sperren. Kommt die Einrichtung zum Ergebnis, dass der Inhalt nicht rechtswidrig ist, so ist es dem IT-Diensteanbieter verwehrt, den Inhalt zu löschen oder zu sperren. In einem solchen Fall kann gegen den IT-Diensteanbieter auch kein Bußgeld verhängt werden.15 Die Unterwerfung unter die Entscheidungsgewalt der Einrichtung hat zur Folge, dass die IT-Diensteanbieter weder ihre Policy Rules16 noch ihre Compliance Regeln weiter anwenden kön14
BT-Drucks. 18/13013, S. 21. BT-Drucks. 18/13013, ibid. 16 Policy Rules sind vom Strafrecht unabhängig und können über dieses hinausgehen. Twitter formuliert beispielsweise in einer Richtlinie zu Hass schürendem Verhalten, die Bestandteil der AGBs sind: „Du darfst keine Gewalt gegen andere Personen fördern, sie direkt angreifen oder ihnen drohen, wenn diese Äußerungen aufgrund von Abstammung, ethnischer Zugehörigkeit, nationaler Herkunft, sexueller Orientierung, Geschlecht, Geschlechtsidentität, religiöser Zugehörigkeit, Alter, Behinderung oder ernster Krankheit erfolgen. Wir erlauben auch keine Accounts, deren Hauptziel darin besteht, basierend auf diesen Kategorien Schaden gegen andere anzustiften. […] Wir haben Missbrauch, der durch Hass, Vorurteile oder Intoleranz motiviert ist, den Kampf angesagt.“ Müller-Franken, AfP 1/2018, 1 (12), macht zu Recht darauf aufmerksam, dass „[e]in Gesetz, das sozialen Netzwerken das Aufstellen und Anwenden eines derartigen Regelwerks generell verbieten wollte, […] diese indes in ihrem 15
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nen.17 Andererseits wird den IT-Diensteanbietern die Möglichkeit eröffnet, sich von Fehleinschätzungen bezüglich der Evidenz der Rechtswidrigkeit von Inhalten zu exkulpieren, indem sie die Entscheidung auf die Einrichtung übertragen. Die Übertragung der Entscheidung darf jedoch nur in umstrittenen Einzelfällen und bei lediglich „schlicht“ rechtswidrigen Inhalten erfolgen, und nicht systematisch. Letzteres wiederum wäre bußgeldbewehrt. Die Einrichtung der Regulierten Selbstregulierung ist der Aufsicht des Bundesamts für Justiz (BfJ) unterworfen.18 Durch den enormen Zeitdruck, die sich täglich ändernde Masse digitaler Inhalte19 sowie die Drohung mit empfindlichen Geldbußen durch das NetzDG werden ITDiensteanbieter zu Zensoren wider Willen. „Da sich die Rechtswidrigkeit von Inhalten in der Regel weder leicht feststellen lässt, noch offensichtlich ist, bleibt den ITDiensteanbietern letztlich nur die – quasi prüfungslose – Entfernung solcher Inhalte“.20 Dafür setzt das NetzDG bislang entsprechende Anreize. Die Befürchtung ist, dass im Zweifel auch rechtmäßige Inhalte gelöscht werden („overblocking“).21 Der Online-Citoyen steht einer solchen Kollateralzensur zunächst einmal machtlos gegenüber, da das NetzDG bislang kein Verbot der Löschung rechtmäßiger Inhalte enthält. Das BfJ prüft lediglich, ob die IT-Diensteanbieter einen rechtswidrigen Inhalt nicht oder nicht rechtzeitig gelöscht haben. Es prüft nicht, ob der Inhalt zu Recht als rechtswidrig eingestuft wurde. Die Provider können allerdings auch durch die Verfasser, die Inhaltsanbieter unter Druck geraten: Die Wiederherstellung gelöschter Inhalte („put-back-Verfahren“) ist mit Hilfe eines Beschwerdeverfahrens innerhalb der Einrichtung der Regulierten Selbstregulierung ein gangbarer, bisher jedoch ein rein theoretischer Weg. Löschen oder sperren IT-Diensteanbieter hingegen in Eigenregie Inhalte, kann der Nutzer die Entscheidung auf zivilrechtlichem Wege angreifen.22 Das Kostenrisiko trägt dabei allerdings der Nutzer.23 grundrechtlich geschützten Recht verletzen [würde], der Kommunikation auf ihren Plattformen einen Rahmen zu geben.“ 17 Müller-Franken, AfP 1/2018, 1 (9). 18 Das Bundesamt für Justiz hat den Verein Freiwillige Selbstkontrolle MultimediaDiensteanbieter e.V. (FSM) erst kürzlich als erste solche Einrichtung der Regulierten Selbstregulierung nach § 3 Abs. 6 NetzDG anerkannt. Dies teilte die Behörde am 23. 01. 2020 mit. Belastbare Erfahrungswerte liegen somit noch nicht vor. Bislang waren die IT-Diensteanbieter schon aus diesem Grund auf sich gestellt. 19 Allein auf YouTube werden pro Minute mehr als 400 Stunden Videoinhalt hochgeladen. 20 Stellungnahme von Google an das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (NetzDG-E), S. 13, abrufbar unter https://www.bmjv.de/SharedDocs/Ge setzgebungsverfahren/Stellungnahmen/2017/Downloads/03302017_Stellungnahme_google_ youTube_RefE_NetzDG.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (Stand: 9. März 2020). 21 Zweifel am „overblocking-Argument“ hegt Schiff, MMR 6/2018, 369. 22 Vgl. z. B. OLG Oldenburg vom 1. 7. 2019, 13 W 16/19. 23 Müller-Franken, AfP 1/2018, 1 (13).
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III. Kompetenzabsicherung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes Kritisch hinterfragt wird die Gesetzgebungskompetenz des Bundes zum Erlass des NetzDG; die Diskussion lässt auch nach über zwei Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes nicht nach. Laut Gesetzesbegründung24 ergibt sich die Gesetzgebungskompetenz des Bundes aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG (Recht der Wirtschaft) sowie aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG (öffentliche Fürsorge in Bezug auf Jugendschutz), und hinsichtlich der Bußgeldvorschriften aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG (Strafrecht). 1. Recht der Wirtschaft Als Kompetenznorm im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung nennt die Gesetzesbegründung vorrangig das Recht der Wirtschaft (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG). Hierfür müsste jedoch das NetzDG hauptsächlich das wirtschaftliche Leben und die wirtschaftliche Betätigung von IT-Diensteanbietern regeln. Erklärtes Ziel des Gesetzes ist jedoch primär die Regulierung von Kommunikation in sozialen Netzwerken, um effektiv gegen Hasskriminalität, Fake News und andere strafbare Inhalte im Netz vorgehen zu können. Dieses Ziel hat mit dem Recht der Wirtschaft reichlich wenig zu tun. Die Beseitigung von Störungen der öffentlichen Sicherheit durch das Löschen oder Sperren von strafbaren Inhalten im Netz ist demnach eher Polizeirecht denn ein wirtschaftsrechtliches Handlungsinstrument. Eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes kann daher nicht mit dem Recht auf Wirtschaft begründet werden.25 2. Öffentliche Fürsorge in Bezug auf Jugendschutz Als zweiten Titel für die Gesetzgebungskompetenz des Bundes wird die öffentliche Fürsorge (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG), soweit Belange des Jugendschutzes betroffen sind, genannt. Unter Jugendschutz wird der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Gefahren für ihre Entwicklung und ihr Wohlergeben verstanden. Auch hier mag diskutabel sein, ob die Idee einer Regulierung der Debattenkultur im Netz den Jugendschutz vor Augen hatte. Ob die Inpflichtnahme „privater“ Akteure ohne weiteres eine „öffentliche“ Fürsorge darstellen kann, wird in der Gesetzesbegründung nicht einmal diskutiert. Dabei fällt die „private“ Fürsorge nicht unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG. Es bedarf an dieser Stelle schon eines großen juristischen Spagats, den Kompetenztitel des Bundes der öffentlichen Fürsorge beziehungsweise dem Jugendschutz zu entnehmen.
24
BT-Drucks. 18/12356, S. 13. Siehe Müller-Franken, AfP 1/2018, 1 (4); Kirchberg, in: Barton/Eschelbach/Hettinger et al. (Hrsg.), Fischer-FS, 2018, S. 1075 (1081). Andere Auffassung Schiff, MMR 6/2018, 66, der das Recht der Wirtschaft weit auslegt. 25
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3. Strafrecht Als weiteren möglichen Kompetenztitel nennt die Gesetzesbegründung schließlich das Strafrecht (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG). Alleine die Tatsache, dass das NetzDG auch bußgeldbewehrte Handlungspflichten – und damit Ordnungswidrigkeiten normiert, – legitimiert den Bund nicht automatisch zum Erlass des Gesetzes gem. Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG. Entscheidend ist vielmehr, ob in der Sache objektiv eine bundesrechtliche Zuständigkeit besteht.26 Diese könnte durch die den IT-Diensteanbietern auferlegten Handlungspflichten der §§ 1 – 3 NetzDG begründet werden. Die Handlungspflichten beziehen sich auf die in § 1 NetzDG aufgelisteten Straftatbestände des Strafgesetzbuchs und sollen „der Verhinderung einer Perpetuierung der Verwirklichung objektiv gegebener und nicht gerechtfertigter Straftaten im Internet dienen.“27 Damit ist ein unmittelbarer inhaltlicher Zusammenhang zwischen den Bußgeldvorschriften des § 4 NetzDG und den Handlungspflichten nach den §§ 1 – 3 NetzDG begründet. Das NetzDG könnte auf diese Weise insgesamt dem Bereich des Strafrechts nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG zugeordnet werden.28
IV. Menschenrechte unter Beschuss Mit dem Inkrafttreten des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes zum Zwecke der Regulierung von Kommunikation in sozialen Netzwerken wurden gleich mehrere Menschenrechte diverser Akteure im digitalen Raum unter Beschuss genommen. OnlineCitoyens müssen um ihre Meinungsäußerungs-, Informations- und Kunstfreiheit bangen, wenn IT-Diensteanbieter ihre Webseiten lokal sperren oder global löschen.29 Dies geschieht in den meisten Fällen und Deliktsbereichen ohne die Autoren eines gelöschten Beitrags oder eines gesperrten Accounts vorher anzuhören oder ihnen geeignete Rechtsbehelfe zur Verfügung zu stellen. Zudem werden den IT-Diensteanbietern mit Lösch-, Speicher-, bald aber ggf. auch Übermittlungspflichten zahlreiche Eingriffe in das informationelle Selbstbestimmungsrecht aufgegeben. Diese gehen nicht nur zum Nachteil der Inhaltsanbieter. Auch Beschwerdeführer, die nicht zwangsläufig mit der verletzten Person identisch sind, müssen um ihre Persönlichkeitsrechte und ihre Privatheit, aber z. B. auch ihren Anspruch auf Justizgewähr
26
Kirchberg, Fischer-FS (Fn. 25), S. 1075 (1084). Kirchberg, Fischer-FS (Fn. 25), S. 1075 (1086). 28 Kirchberg, Fischer-FS (Fn. 25), S. 1075 (1087); andere Auffassung Müller-Franken, AfP 1/2018, 1 (4), der eine Gesetzgebungskompetenz basierend auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG ablehnt. 29 Google hat in seiner Stellungnahme an das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (NetzDG-E) darauf hingewiesen, dass eine globale Löschung von Inhalten einen Verstoß gegen das Territorialitätsprinzip und gegen den völkerrechtlichen Grundsatz der Staatensouveränität darstellt, S. 21. 27
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fürchten. Die IT-Diensteanbieter müssen sich wiederum vor allem um ihre Berufsfreiheit sorgen. Aufgrund der Vielzahl der durch das NetzDG betroffenen Grundrechtsträger und der jeweils betroffenen Grundrechte können an dieser Stelle nur Schlaglichter auf etwaig betroffene Rechte geworfen werden. Eine umfängliche Darstellung der Auswirkung des NetzDG auf die Grund- und Menschenrechte sämtlicher Akteure im digitalen Raum würde den Rahmen eines Festschriftbeitrags sprengen. Die Gegenüberstellung und Querschnittsbetrachtung der vielseitigen Eingriffe sollen dennoch deutlich machen, was für ein komplexes Unterfangen praktische Konkordanz in der digitalen Gesellschaft ist. Dies zeigt, dass gerade das NetzDG die Situation der Grundund Menschenrechte in der Informationsgesellschaft wie unter dem Vergrößerungsglas präsentiert. 1. Meinungsäußerungs-, Informations- und Kunstfreiheit „Jeder Mensch hat das Recht auf unbehinderte Meinungsfreiheit. Jeder Mensch hat das Recht auf freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen Informationen und Gedankengut jeder Art in Wort, Schrift oder Druck, durch Kunstwerke oder andere Mittel eigener Wahl sich zu beschaffen, zu empfangen und weiterzugeben“.30 Diese in Art. 19 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) verankerten Menschenrechte gelten offline wie online gleichermaßen. In den Schutzbereich der freien Meinungsäußerung fallen Meinungen, das heißt durch das „Element der Stellungnahme und des Dafürhaltens geprägte Äußerungen“.31 Dabei kommt es nicht darauf an, „ob sie sich als wahr oder unwahr erweisen, ob sie begründet oder grundlos, emotional oder rational sind, als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt werden“.32 Scharfe, übersteigerte, polemische, verletzend formulierte und schädliche Aussagen33 fallen ebenso wie hasserfüllte, hetzerische und rassistische Äußerungen („Hatespeech“) unter den Meinungsbegriff und damit in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit. Vom Schutzbereich erfasst werden darüber hinaus Tatsachenmitteilungen, sofern sie Voraussetzung für die Bildung von Meinungen sein können. Nicht mehr erfasst werden hingegen bewusst oder erwiesen unwahre Tatsachenbehauptungen, mithin Fake News, da sie zu der menschenrechtlich gewährleisteten Meinungsbildung nichts beitragen können.34 Bei Mischäußerungen, die tatsächliche und wertende Bestandteile enthalten, muss die Äußerung im Interesse eines wirksamen Menschenrechtsschutzes „insge30
Art. 19 Abs. 1 und Abs. 2 ICCPR. Vgl. BVerfG v. 27. August 2019 – 1 BvR 811/17. 32 Vgl. BVerfG v. 27. August 2019 – 1 BvR 811/17. 33 Müller-Franken, AfP 1/2018, 1 (2). 34 Vgl. BVerfG v. 27. August 2019 – 1 BvR 811/17. 31
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samt als Meinungsäußerung angesehen werden, weil andernfalls eine wesentliche Verkürzung der Meinungsfreiheit“35 droht. Werden die digital verbreiteten Inhalte der klassischen Medien (Presse und Rundfunk) als rechtswidrig klassifiziert und gelöscht oder gesperrt, sind zudem die Grundrechte der Presse- und Rundfunkfreiheit betroffen. Gleiches gilt für die Löschung oder Sperrung von künstlerischen Äußerungen oder Bildern, die in die Kunstfreiheit eingreifen. Die in Art. 19 Abs. 1 und Abs. 2 ICCPR verankerten Menschenrechte sind allerdings nicht vorbehaltlos gewährleistet. Nach Art. 19 Abs. 3 ICCPR unterliegen sie bestimmten, gesetzlich vorgesehenen Einschränkungen, die erforderlich sind für die Achtung der Rechte oder des Rufs anderer oder für den Schutz der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung (ordre public), der Volksgesundheit oder der öffentlichen Sittlichkeit.36 Der Erlass eines Gesetzes genügt dem Erfordernis der „gesetzlichen vorgesehenen Einschränkung“ im Sinne von Art. 19 Abs. 3 ICCPR dabei nicht. Vielmehr müssen die Einschränkungen hinreichend klar und vorhersehbar sein. Das Erfordernis der Notwendigkeit impliziert darüber hinaus eine Bewertung der Verhältnismäßigkeit von Einschränkungen, um sicherzustellen, dass diese auf ein bestimmtes Ziel gerichtet sind und die Rechte der betroffenen Personen nicht unangemessen beeinträchtigen. Der daraus resultierende Eingriff in die Rechte Dritter muss begrenzt und im Interesse des durch den Eingriff gestützten Interesses gerechtfertigt sein. Schließlich müssen die Einschränkungen das am wenigsten einschneidende Instrument unter denjenigen sein, die das gewünschte Ergebnis erzielen könnten. Das NetzDG ist – unbestrittenermaßen – ein Gesetz im Sinne von Art. 19 Abs. 3 ICCPR. Die darin regulierte Einschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit der Online-Citoyens ist jedoch weder hinreichend klar noch in irgendeiner Weise vorhersehbar. Der Staat überträgt IT-Diensteanbietern die Entscheidungshoheit über Zensurmaßnahmen und schafft dadurch ein privates Meinungswächtertum.37 Private sehen sich in der Pflicht unter Androhung hoher Bußgelder und kurzer Deadlines darüber zu entscheiden, ob ein Online-Inhalt einen der in § 1 Abs. 3 NetzDG genannten Straftatbestände erfüllt oder nicht, und ob sie diesen löschen oder sperren oder nicht. Innerhalb sehr kurzer Reaktionsfristen müssen sie eine „Abwägung zwischen kontroversen Inhalten und dem Schutz der Meinungsfreiheit [vornehmen]“38 und das ohne vorherige Anhörung des Nutzers und ohne richterliche Kontrolle. IT-Dienste35
Vgl. BVerfG v. 27. August 2019 – 1 BvR 811/17. Art. 19 Abs. 3 ICCPR. 37 Müller-Franken, AfP 1/2018, 1 (7). 38 Stellungnahme der Google Ireland Ltd. an das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz zum vorgeschlagenen Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität, S. 2, abrufbar unter https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsver fahren/Stellungnahmen/2020/Downloads/011720_Stellungnahme_google_RefE__Bekaemp fung-Rechtsextremismus-Hasskriminalitaet.pdf?__blob=publicationFile&v=3 (Stand: 9. März 2020). 36
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anbieter werden auf diese Weise in die Rolle einer privaten Paralleljustiz gedrängt. Darin ist eine konkrete Gefährdung der Meinungsäußerungs-, Informations- und Kunstfreiheit zu sehen. Die Problematik der Inpflichtnahme Privater als Meinungswächter verschärft sich dadurch, dass das den IT-Diensteanbietern an die Hand gegebene Instrumentarium gem. § 1 Abs. 3 NetzDG an Bestimmtheit zu wünschen übrig lässt. Zahlreiche Entscheidungen zu mehreren Tatbeständen des Katalogs zeigen, dass die jeweilige Auslegung an den Grenzen der Meinungsfreiheit erheblich umstritten ist. Ordinäre Fäkalausdrücke wurden zum Teil als „haarscharf an der Grenze des von den Betroffenen noch hinnehmbaren“ und damit noch als von der Meinungsfreiheit gedeckt bewertet.39 Selbst im Kontext des § 130 StGB wurden einige Staatsanwaltschaften erst durch Gerichte zur Einleitung von Ermittlungsverfahren gezwungen. Nicht einmal die Strafverfolgungsbehörden sind also in der Lage zur trennscharfen Bewertung der Inhalte in sozialen Netzwerken. Erst recht unverhältnismäßig sind diese Eingriffe im Fall der Delegation der Inhaltskontrolle an Private. 2. Allgemeines Persönlichkeitsrecht, im Besonderen: Informationelles Selbstbestimmungsrecht Es ist eine Frage des – grundrechtlichen und auch zivilrechtlichen – allgemeinen Persönlichkeitsrechts gem. Art. 2 Abs. 1 (i.V.m. Art. 1 Abs. 1) GG, ob und wann ein Verletzter Schutz gegen Herabwürdigung durch Beiträge in sozialen Netzwerken beanspruchen und damit selbst über die Darstellung der eigenen Person in der Öffentlichkeit verfügen kann. Dieses Recht steht der Meinungsfreiheit der Inhaltsanbieter ggf. diametral entgegen und sucht praktische Konkordanz. Durch die mit dem NetzDG abverlangten Verarbeitung personenbezogener Daten ist aber auch die besondere Ausprägung des informationellen Selbstbestimmungsrechts in mannigfacher Weise tangiert. Der Gesetzgeber delegiert im NetzDG zahlreiche Eingriffe in das informationelle Selbstbestimmungsrecht an den IT-Diensteanbieter. Der Staat mischt sich auf diese Weise in die private Kommunikation seiner Bürger ein und verlangt die mehrwöchige Speicherung personenbezogener Daten von Inhaltsanbietern, ggf. auch Beschwerdeführern und Verletzten. Weder Wort- oder Bildbeiträge noch die dazugehörigen Bestands- und Verkehrsdaten können nach dem freien Willen der Beteiligten entfernt (oder konsensual beibehalten) werden. Das NetzDG gibt vielmehr vor, welche Daten wo und wie gespeichert oder gelöscht werden müssen. Erst recht gilt dies für die geplanten Weiterentwicklungen des NetzDG und die darin vorgesehenen Melde- und Übermittlungspflichten.40 39
Vgl. Beschluss des LG Berlin vom 09. 09. 2019 – 27 AR 17/19. Auf diese mögliche – und sehr invasive – Entwicklung wird in diesem Beitrag unter VI. noch zurückzukommen sein. 40
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Nicht zuletzt aufgrund der schon erwähnten erheblichen Auslegungsspielräume bei der Bewertung von Inhalten führt dies zu einer breiten Verunsicherung aller Beteiligten und zu Erosionen der Grenze des Privaten. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Volkszählungsurteil41 eine zentrale Kernaussage zum (in Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG verankerten) Recht auf Datenschutz – und gleichzeitig einen der wichtigsten Beiträge zur Fortentwicklung des Datenschutzrechts – getroffen. „Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wären eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß. Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen. […] Dies würde nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungsfähigkeit und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist.“42 Die in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts beschriebene Unsicherheit ergreift nicht nur Inhaltsanbieter, die immer weniger überblicken können, welche breiten und langanhaltenden Datenschatten ein „Posting“ wirft. Auch Verletzte oder andere mögliche Beschwerdeführer schrecken möglicherweise – zukünftig, aber auch schon jetzt – vor einem Kontakt mit dem sozialen Netzwerk zurück, wenn sie sich nicht mehr sicher sein können, ob ihre personenbezogenen Daten zwischen Privaten verbleiben und nicht für den staatlichen Zugriff bevorratet oder diesem sogar zukünftig proaktiv preisgegeben werden müssen. 3. Berufsfreiheit Das in Art. 12 GG verankerte Grundrecht auf Berufsfreiheit gewährleistet die Freiheit der Wahl von Beruf und Arbeitsplatz sowie die freie Berufsausübung.43 Unter den Schutzbereich fällt die gesamte berufliche Tätigkeit, insbesondere auch die gegenständliche Ausgestaltung des Berufs. Grundrechtsträger sind natürliche Personen und nach Art. 19 Abs. 3 GG auch (inländische sowie europäische44) juristische Personen, soweit sie eine „Erwerbszwecken dienende Tätigkeit ausüben, die ihrem Wesen und ihrer Art nach in gleicher Weise einer juristischen wie einer natür-
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BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 15. Dezember 1983 – 1 BvR 209/83. BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 15. Dezember 1983 – 1 BvR 209/83, Rn. 146. 43 Gröpl, in: Christoph Gröpl/Kay Windthorst/Christian von Coelln (Hrsg.), StuKo GG, 4. Aufl. 2020, Art. 12, Rn. 15. 44 Vgl. zur Erstreckung der Grundrechtsberechtigung auf juristische Personen aus Mitgliedstaaten der Europäischen Union BVerfGE 129, 78 (94 ff.). 42
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lichen Person offensteht“.45 IT-Diensteanbieter fallen damit unter den Schutzbereich der Berufsfreiheit. Die Berufsfreiheit wird jedoch nicht schrankenlos gewährleistet. Nach Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG darf in die Berufsausübung aufgrund einer gesetzlichen Grundlage und unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eingegriffen werden.46 Das NetzDG verpflichtet in § 3 Abs. 2 soziale Netzwerke offensichtlich rechtswidrige Inhalte sowie schlicht rechtswidrige Inhalte innerhalb bestimmter Fristen zu löschen oder zu sperren. Diese Verpflichtung greift berufsregelnd in die Berufsfreiheit der IT-Diensteanbieter ein. Voraussetzung für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit eines solchen Eingriffs ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Verfolgung eines legitimen Zweckes und die Einhaltung des Gebots der Verhältnismäßigkeit.47 Zweck des NetzDG ist die Beseitigung von Störungen der öffentlichen Sicherheit und eine Veränderung der Debattenkultur zur Bekämpfung von Hasskriminalität und Fake News in sozialen Netzwerken. Gegen die Legitimität solcher Zwecke können keine Zweifel bestehen. Ist das NetzDG zur Erreichung seines legitimen Zwecks jedoch auch verhältnismäßig, d. h. geeignet, erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinne? „Eine gesetzliche Regelung ist bereits dann verfassungsrechtlich geeignet, wenn mit ihrer Hilfe der gewünschte Erfolg gefördert werden kann, wobei die Möglichkeit der Zweckerreichung ausreichend ist“.48 Das unverzügliche Löschen bzw. Sperren von offensichtlich und schlicht rechtswidrigen Inhalten gem. § 3 Abs. 2 NetzDG ist geeignet, Störungen der öffentlichen Sicherheit zu beseitigen und die Debattenkultur zur Bekämpfung von Online-Hasskriminalität und Fake News zu verändern. Der durch das NetzDG erfolgte Eingriff in die Berufsfreiheit der IT-Diensteanbieter muss darüber hinaus erforderlich sein. Ein Eingriff ist immer dann erforderlich, wenn es kein geeignetes milderes Mittel gibt, das den Zweck ebenso gut oder in ähnlicher Weise erreichen kann.49 Als milderes Mittel wäre hier entweder eine Verschärfung der von den sozialen Netzwerken selbstgesetzten Kommunikationsregeln (Policy Rules) denkbar; ebenfalls vorstellbar wäre eine Kombination aus Selbstregulierung und Handlungssteuerung in Form einer „kooperativen, privat-öffentlichen Stra-
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StRspr des Bundesverfassungsgerichts, vgl. BVerfGE 50, 290 (363); BVerfGE 105, 252 (265). 46 StRspr des Bundesverfassungsgerichts, vgl. nur BVerfGE 135, 90 (111), m.w.N. 47 Ladeur/Gostomzyk, Gutachten zur Verfassungsmäßigkeit des Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz –NetzDG) i. d. F. vom 16. Mai 2017 – BT-Drs. 18/12356 – Erstattet auf Ansuchen des bitkom, 2017, S. 33, abrufbar unter https://www.bitkom.org/sites/default/files/file/import/Netz DG-Gutachten-Gostomzyk-Ladeur.pdf (Stand: 9. März 2020). 48 StRspr des Bundesverfassungsgerichts, vgl. BVerfGE 126, 112 (144). 49 BVerfGE 80, 1 (30).
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tegie“,50 die mit Aufsichtsverfügungen arbeitet und IT-Diensteanbietern mehr Handlungsspielraum eröffnen würde. Das NetzDG darf über das zur Verfolgung seines Zwecks erforderliche Maß nicht hinaus- und nicht weitergehen, als der mit ihr intendierte Schutzzweck reicht.51 Die gesetzliche Auferlegung von bußgeldbewehrten Löschungs- und Sperrpflichten innerhalb kurzer Fristvorgaben nach Beanstandung oder Kenntnis führt jedoch in vielen Fällen mangels eindeutiger Rechtmäßigkeit zur Entfernung oder Sperrung von rechtmäßigen Inhalten und damit zu erheblichen Kollateralschäden.52 Jeder Zweifelsfall wird mutmaßlich zu Lasten der Kommunikationsfreiheiten gehen.53 Die Löschungs- und Sperrpflichten nach § 3 Abs. 2 NetzDG gehen über das zur Verfolgung seines Zwecks erforderliche Maß hinaus. Die Regelung des § 3 Abs. 2 NetzDG ist schließlich auch unverhältnismäßig im engeren Sinne, da sie IT-Diensteanbietern bußgeldbewehrt eine hohe Belastung auferlegt, ohne eine Differenzierung nach der Schwere der Beeinträchtigung vorzusehen: „Sollen auch geringfügig belastende Äußerungen, die von ganz Wenigen gelesen werden, mit großem Aufwand gelöscht und verfolgt werden?“54 Für eine Güterabwägung lässt das Gesetz weder Zeit noch Raum. Das NetzDG greift damit in unverhältnismäßiger Weise in die Berufsfreiheit der IT-Diensteanbieter ein. Der Druck auf die IT-Diensteanbieter durch die Androhung rechtlicher Sanktionen verletzt nicht nur ihre Berufsfreiheit, sondern übt mittelbar auch Druck auf sie aus, durch kursorische Entscheidungen über die Zulässigkeit von Meinungsäußerungen das Grundrecht der Meinungsfreiheit der Nutzer, mithin ihrer Kunden, zu verletzen.55 50 Siehe dazu Ladeur/Gostomzyk, Gutachten zur Verfassungsmäßigkeit des Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz –NetzDG) i. d. F. vom 16. Mai 2017 – BT-Drs. 18/12356 – Erstattet auf Ansuchen des bitkom, 2017, S. 58. 51 Vgl. BVerfGE 79, 179 (198); BVerfGE 100, 226 (241); BVerfGE 110, 1 (28). 52 Der Entwurf zum NetzDG sah ursprünglich noch größere Kollateralschäden vor: ITDiensteanbieter sollten – über die Löschung beanstandeter Inhalte hinaus – auch zur Löschung sämtlicher „Kopien“ verpflichtet werden. Hierfür hätten mächtige Filter und damit potente Zensurmaschinen eingesetzt werden müssen, die alle identischen Inhalte ohne Berücksichtigung des jeweiligen Kontextes entfernt hätten. Siehe dazu die Stellungnahme von Google an das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (NetzDG-E), S. 22. 53 Stellungnahme von Google an das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (NetzDG-E), S. 14. 54 Ladeur/Gostomzyk, Gutachten zur Verfassungsmäßigkeit des Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz – NetzDG) i. d. F. vom 16. Mai 2017 – BT-Drucks. 18/12356 – Erstattet auf Ansuchen des bitkom, 2017, S. 60 f. 55 Ladeur/Gostomzyk, Gutachten zur Verfassungsmäßigkeit des Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungs-
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V. „Exportschlager“ NetzDG Innerhalb kürzester Zeit ist das NetzDG zum Exportschlager geworden. Länder wie Äthiopien, Kenia, Philippinen, Malaysia, Vietnam, Indien, Singapur, Venezuela, Honduras, Frankreich, Großbritannien, Russland, Belarus und Australien sowie die EU haben in Anlehnung an das NetzDG ihrerseits Gesetze erlassen, um Online-Hassreden, sowie Hetze und Fake News im Internet zu bekämpfen.56 Mit Ausnahme von Indien, Kenia, Vietnam und Australien haben sich die genannten Länder – wie auch die EU – expressis verbis auf das NetzDG als Inspiration oder Begründung für ihre Modelle berufen.57 Sie alle haben Gesetze eingeführt, die soziale Netzwerke dazu auffordern, innerhalb kurzer Fristen unerwünschte politische Inhalte, die auf ihren Plattformen verwendet werden, zu löschen oder zu sperren. IT-Diensteanbieter, die ihrer Pflicht zur Löschung oder Sperrung von strafbaren Inhalten und Hasskriminalität nicht nachkommen, werden mit empfindlichen Bußgeldern belegt. In einem solchen Gesetzeskonzept ist strukturell die Gefährdung der Kommunikationsfreiheit angelegt.58 Das NetzDG hat sich damit – unbeabsichtigt – zu einer Matrix für eine weltweite Internetzensur entwickelt.
VI. Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität 1. Zielsetzung Der Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität (GBRH-E) vom 18. Februar 2020 ist ein weiterer Vorstoß zur Bekämpfung von Hass und Hetze und der Verbreitung rechtswidriger Inhalte im Internet. Das Gesetz soll eine intensivere und effektivere Strafverfolgung ermöglichen und dadurch den öffentlichen Frieden sowie den freien politischen Diskurs als Grundlage einer demokratischen Gesellschaft wieder hochhalten.
gesetz – NetzDG) i. d. F. vom 16. Mai 2017 – BT-Drs. 18/12356 – Erstattet auf Ansuchen des bitkom, 2017, S. 80. 56 Nach der Einschätzung von Freedom House zur Freiheit im Internet (2019) werden fünf dieser Länder als „nicht frei“ eingestuft (Honduras, Venezuela, Vietnam, Russland und Weißrussland), fünf als „teilweise frei“ (Kenia, Indien, Singapur, Malaysia und Philippinen) und nur drei als „frei“ (Frankreich, Großbritannien und Australien), S. 84. 57 Mchangama/Fiss, The Digital Berlin Wall: How Germany (Accidentally) Created a Prototype for Global Online Censorship, 2019, S. 17. 58 Müller-Franken, AfP 1/2018, 1 (7).
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2. Wesentlicher Inhalt Der Entwurf sieht eine Verschärfung der Vorschriften des Strafgesetzbuchs (StGB-E), der Strafprozessordnung (StPO-E), des Bundeskriminalamt-Gesetzes (BKAG-E), des Telemediengesetzes (TMG-E) und des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG-E) vor. Aus Kapazitätsgründen kann im Folgenden lediglich kurz auf die vorgeschlagenen Verschärfungen des NetzDG eingegangen werden. Kern des GBRH-E ist die in § 3a NetzDG-E vorgesehene Einführung einer Meldepflicht der Anbieter sozialer Netzwerke für bestimmte Straftaten aus dem Katalog des § 1 Abs. 3 NetzDG. IT-Diensteanbieter müssen demzufolge dem Bundeskriminalamt (BKA) zur Ermöglichung der Verfolgung von Straftaten Inhalte übermitteln, die dem Anbieter in einer Beschwerde über rechtswidrige Inhalte gemeldet worden sind, die der Anbieter entfernt oder zu denen er den Zugang gesperrt hat und bei denen konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie mindestens einen der in § 3a Abs. 2 Nr. 3a) NetzDG-E genannten Tatbestände erfüllen und nicht gerechtfertigt sind (§ 3a Abs. 2 NetzDG-E). Die Übermittlung an das BKA muss den Inhalt und – sofern vorhanden – die IP-Adresse einschließlich der Portnummer, die der Nutzer verwendet hat, als er den Inhalt mit anderen Nutzern geteilt oder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat, enthalten (§ 3a Abs. 4 NetzDG-E). Der IT-Diensteanbieter informiert seine Kunden 14 Tage nach der Übermittlung an das BKA über die Übermittlung. Innerhalb der 14-Tage-Frist kann das BKA dem IT-Diensteanbieter anordnen, die Information an den Kunden wegen Gefährdung des Untersuchungszwecks, des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der persönlichen Freiheit einer Person oder von bedeutenden Vermögenswerten zurückzustellen (§ 3a Abs. 6 NetzDGE). Im Falle einer solchen Anordnung obliegt es dem BKA, den Nutzer über die Übermittlung eines Inhalts zu informieren, sobald dies ohne Gefährdung des Untersuchungszwecks erfolgen kann (§ 3a Abs. 6 NetzDG-E). 3. Kritische Anmerkungen Die Meldepflichten der IT-Diensteanbieter, die an die Lösch- und Sperrpflichten anknüpfen, ist eine höchst problematische Fortentwicklung des durch das NetzDG etablierten Compliance-Systems. Auf der Basis einer Meldepflicht sollen Täter gezielt verfolgt werden. Hierfür müssen IT-Diensteanbieter darüber entscheiden, wann konkrete Anhaltspunkte im Sinne eines Anfangsverdachts in Bezug auf bestimmte Straftatbestände vorliegen. Durch diese gesetzlich vorgesehene proaktive Meldepflicht werden Private zu „Subsumptionswächtern komplizierter strafrechtlicher Tatbestände“59 gemacht. Die in59 Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins durch den Ausschuss Strafrecht zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung des Rechstextremismus und der Hasskriminlität (Januar 2020), S. 4, abrufbar unter https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungs verfahren/Stellungnahmen/2020/Downloads/012820_Stellungnahme_DAV_RefE__Belaemp
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itiale Entscheidung darüber, welche Inhalte strafrechtlich verfolgt werden sollten, wird Privaten auferlegt.60 Hierin ist deutlich ein Systembruch zu erkennen, da Strafverfolgung ureigene hoheitliche Aufgabe ist. Durch die vorgesehene massenhafte Übermittlung von Inhalten, IP-Adressen und Passwörtern durch Private an das BKA, würde eine vorratsmäßige Datensammlung von noch nie dagewesenem Ausmaß generiert werden. Die Übermittlung von Daten stünde im Widerspruch zu den Pflichten der IT-Diensteanbieter zur Gewährleistung von Datensicherheit und führe zu einer Pflichtenkollision.61 Eine solche Übermittlung würde ohne hinreichende Kontrollmechanismen, wie beispielsweise in Form eines Richtervorbehalts, erfolgen.62 Die Herausgabe von Passwörtern würde ohne weiteres „Online-Hausdurchsuchungen“ durch Polizeidienststellen ermöglichen. Unklar ist, wie die Verarbeitung, Speicherung und Löschung der massenhaften Daten beim BKA geregelt wird. In höchstem Maße bedenklich ist darüber hinaus die Heimlichkeit der gesetzlich vorgesehenen Übermittlung der Daten durch Private an das BKA. Die proaktive Übermittlung „personenbezogener Daten stellt einen weitgehenden Eingriff in das Grundrecht auf Datenschutz sowie das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung dar“.63
VII. Schlussbetrachtung Das Internet bietet als globale Kommunikationsplattform eine einzigartige Möglichkeit „überall und augenblicklich mit Milliarden von Menschen aus der ganzen
fung-Rechtsextremismus-Hasskriminalitaet.pdf;jsessionid=CE98DC499D8D882830A543AE6 E1C40D4.2_cid289?__blob=publicationFile&v=3 (Stand: 9. März 2020). 60 Stellungnahme von bitkom vom 17. Januar 2020 zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität, S. 8, abrufbar unter https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Stellungnahmen/ 2020/Downloads/011720_Stellungnahme_Bitkom_RefE__Belaempfung-RechtsextremismusHasskriminalitaet.pdf;jsessionid=CE98DC499D8D882830 A543AE6E1C40D4.2_cid289?__ blob=publicationFile&v=3 (Stand: 9. März 2020). 61 Stellungnahme der Google Ireland Ltd. an das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz zum vorgeschlagenen Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität, S. 3. 62 Stellungnahme des Verbandes der Internetwirtschaft e.V. vom 17. Januar 2020 zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität, S. 4, abrufbar unter https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Stel lungnahmen/2020/Downloads/011720_Stellungnahme_eco_RefE__Belaempfung-Rechtsextre mismus-Hasskriminalitaet.pdf;jsessionid=CE98DC499D8D882830 A543AE6E1C40D4.2_ cid289?__blob=publicationFile&v=3 (Stand: 9. März 2020). 63 Stellungnahme von bitkom vom 17. Januar 2020 zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung des Rechstextremismus und der Hasskriminlität S. 10.
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Welt in Verbindung zu treten“64 und Aufmerksamkeit zu generieren. Davon profitiert auch der Einsatz für die Menschenrechte. Die große Mehrheit der Menschen nutzt das Internet für rechtmäßige Zwecke, jedoch gibt es auch menschenrechtsfeindliche Äußerungen von Gruppierungen und Personen, die Hassreden, Drohungen, gewalttätige, grausame, schädliche oder gefährliche Inhalte, Aufrufe zu Gewalt oder Fake News über das Internet verbreiten. Der digitale Raum ist jedoch kein rechts- und straffreier Raum.65 Rechtswidrigen Inhalten gilt es entschlossen, gleichzeitig aber auch adäquat entgegen zu treten. ITDiensteanbieter waren bereits vor Erlass des NetzDG als Host-Provider verpflichtet, rechtswidrige Inhalte ab Kenntnis unverzüglich, d. h. ohne schuldhaftes Zögern, zu entfernen.66 Das NetzDG überträgt nun die Rechtsdurchsetzung größtenteils Privaten. Dadurch entzieht sich der Rechtsstaat seiner Verantwortung und nimmt massive Einschränkungen der Kommunikationsfreiheit, aber auch der Berufsfreiheit, in Kauf. „Doch gerade in dem Bereich, in dem die genaue Grenzziehung zwischen erlaubter und verbotener Äußerung unklar ist und eine sorgfältige Abwägung verfassungsrechtlicher Interessen geboten ist, sollte die rechtliche Bewertung nicht durch private Unternehmen erfolgen, sondern Richtern [und damit dem Rechtsstaat] vorbehalten bleiben.“67 Zum „Overblocking“ des NetzDG tritt mit dem geplanten GBRH-E die Gefahr eines „Overreporting“ hinzu, die sich ebenfalls zu Lasten der Meinungsfreiheit auswirkt. Das NetzDG macht soziale Netzwerke zu privaten Meinungswächtern wider Willen. In Zukunft sollen sie darüber hinaus auch im Kontext des NetzDG – wie bisher schon im Bereich der Telekommunikationsüberwachung – zu Erfüllungsgehilfen der Strafverfolgungsbehörden gemacht werden. Die Kunden können sich nicht mehr sicher sein, ob sie sich noch in einem normalen Nutzungsverhältnis mit dem IT-Diensteanbieter befinden, oder bereits Beschuldigte eines von diesem zwangsweise in Gang gesetzten Ermittlungsverfahrens sind.68 Auch die Verletzten werden sich – ggf. mit Ausnahme reiner Antragsdelikte – über weite Strecken nicht bewusst sein, ob ihre personenbezogenen Daten Gegenstand von langfristig gespeicherten Meinungsäußerungen, oder sogar bereits von Ermittlungsverfahren sind. 64 Siehe Stellungnahme von Google an das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (NetzDG-E), S. 5. 65 Zur Strafverfolgung im Internet siehe Ulrich Sieber, Straftaten und Strafverfolgung im Internet. Sonderdruck aus: Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 69. Deutschen Juristentages, Band 1 – Gutachten, 2012, S. C1 – 157. 66 Vgl. Art.14 ECommerceRichtlinie2000/31/EG bzw. §10 TMG. 67 Stellungnahme von Google an das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (NetzDG-E), S. 14. 68 Siehe dazu zu Recht die Stellungnahme der Google Ireland Ltd. an das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz zum vorgeschlagenen Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität, S. 29.
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Wie im Zusammenhang mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung unter Verweis auf das Volkszählungsurteil des BVerfG ausgeführt, hat gerade diese Unsicherheit negative Folgen für das Gemeinwohl. Zurückhaltung und Einschüchterungseffekte drohen nicht nur unter Datenschutz-Gesichtspunkten69 ; ein solcher „chilling effect“ im Sinne einer vorauseilend gehorsamen Selbstzensur ist auch im Bereich der Meinungsfreiheit eine anerkannte Gefahr für ein demokratisches Gemeinwesen. Es ist äußerst fraglich, ob dies der adäquate Weg ist, rechtswidrigen Inhalten im digitalen Raum zu begegnen. Zu Recht hat Ulrich Sieber bereits vor über 20 Jahren gefordert, dass „dem Missbrauch des Internet durch einzelne Straftäter [..] nicht mit einer Behinderung des Datenverkehrs zu Lasten aller Benutzer [begegnet werden darf]“.70 Dieses Postulat gilt bis heute.
69 Zum Datenschutzstrafrecht grundlegend Nolde, Datenschutzstrafrecht, in: Böttger (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht in der Praxis, 2. Aufl. 2015, S. 1112 – 1173. 70 Sieber, JZ 10/1996, 494 (505).
Ein Streifzug durch das iranische Computerstrafrecht Von Silvia Tellenbach Lange bevor Ulrich Sieber sich im Jahre 2014 aufmachte, die Islamische Republik Iran zu besuchen, waren bereits zahlreiche seiner Schriften zum Informationsrecht dort und trieben ihr Wesen in den Zitaten iranischer Kollegen1 und den Fußnoten ihrer Arbeiten.2 So liegt es nahe, ihm hier einen kleinen Streifzug durch das iranische Recht zum Cybercrime anzubieten.
I. Einführung Bereits in den 1960er Jahren gab es in Iran die ersten Computer in der Nationalbank, bei Ölgesellschaften und in der Universität Teheran.3 Iran gehörte dann zu den Ländern des Nahen Ostens, in denen sich das Internet in den letzten 30, besonders in den letzten 20 Jahren rasch verbreitete. In den staatlichen Entwicklungsplänen wurde die Computerisierung für zahlreiche Bereiche des staatlichen Lebens als zu fördern festgeschrieben.4 In Verwaltung, Justiz, Wissenschaft, Wirtschaft und weiteren Gebieten schritt die Computerisierung schnell voran. Weite Kreise der Bevölkerung, vor allem der städtischen, schafften sich Zugang zum Internet, einerseits junge Leute, aber andererseits auch quer durch alle Altersgruppen all diejenigen, die Information und Kommunikation auf verschiedensten Gebieten suchten – Kultur, Politik, Wirtschaft und weiteres –, die sie in der Medienlandschaft Irans nicht fanden. Vor allem da das Internet seinem Wesen nach grenzenlos ist, bedeutete es für viele Menschen in Iran eine Öffnung des Tors zu der Welt außerhalb der Islamischen Republik Iran. 2018 sollen laut Weltbank ca. 70 % der Bevölkerung Zugang zum Internet ge1
Auch in Iran selbstverständlich beiderlei Geschlechts. Vgl. z. B. Qa¯gˇ a¯r Qiyu¯nlu¯ (Ghajar Ghionloo), Siya¯mak, Muqaddama-yi huqu¯q-i saibar, ˙¯ ‘im-i saibarı¯, ˇ ara ¯ tifa/Akbarı¯, ‘A ¯ tifa, G Teheran 1391/2012, S. 265, 623; ‘Abba¯sı¯ Kalı¯ma¯nı¯, ‘A ˙ ˙ Teheran 1394/2015, S. 92 f., 98; ‘Azı¯zı¯, Amı¯r Mahdı¯, Huqu¯q-i kaifarı¯-yi gˇ ara¯yim-i ra¯ya¯na’ı¯, ˙ ¯ q-i kaifarı¯-yi fana¯warı¯-yi ‘ittila¯‘a¯t, 2. Aufl. 1394/2015, S. 54 f., 198; ‘Alı¯pu¯r, Hasan, Huqu ˙ ˙ ˙˙ 4. Aufl. Teheran 1395/2016, S. 410. 2
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Ba¯yı¯, Husain‘alı¯/Pu¯rqahrama¯nı¯, Ba¯bak, Barrası¯-yi fiqhı¯-yi huqu¯qı¯-yi gˇ ara¯yim-i ra¯ya¯˙ˇga¯h-i ‘ulu¯m wa farhang-i Isla¯m – Mu‘a¯wanat-i pazˇ˙u¯hisˇ¯ı-yi daftar-i tablı¯g˙ a¯t-i na’ı¯, Pazˇ u¯his Isla¯mı¯-yi hauza-yi ‘ilmiya-yi Qum, 1388 (2009), S. 56 ff. 4 Siehe dazu Pakzad, Batoul/Ghassemi, Ghassem, Cybercrimes in Iran: Perspectives, Policies and Legislations, in: Manacorda, Stefano u. a. Hrsg, Cybercriminality: Finding a Balance between Freedom and Security, Milano 2012, S. 139 – 163 (141).
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habt haben.5 Während das Internet zunächst aus dem Blickwinkel des Nutzens für Wirtschaft und Wissenschaft betrachtet wurde, wurde durch die Erweiterung des Spielraums für freie Meinungsäußerung während der Präsidentschaft von Mohammad Khatami (1997 – 2005) den Konservativen in der iranischen Machtelite erstmals deutlich, dass das Internet mit seinen Informationsmöglichkeiten außerhalb der staatlich kontrollierten Medien unerwünschte Wirkungen auf die Bevölkerung haben könnte. Die Konservativen sehen das Internet als Gefahr und wollen die Bürger von den für verderblich erklärten ausländischen Einflüssen fernhalten, denen sie durch das Internet ausgesetzt sind.6 Die Rolle, die den neuen sozialen Medien bei den Unruhen von 2009 („Grüne Bewegung“) und später 2017 und 2019 für die Organisation von Demonstrationen zukam, verstärkte die Bestrebungen nach einer umfassenden Kontrolle des Zugangs zum Internet und den modernen sozialen Medien aller Art. Eine gemäßigte Gruppe, zu der auch Staatspräsident Rohani und eine Reihe von Ministern zählen, will zwar die Verbreitung und Modernisierung des Internets fördern und mehr Kommunikationsfreiheit zulassen, der religiöse Führer Khamene’i hat aber seine Macht genutzt, die Befürworter des Internets zurückzudrängen, auch indem er die Internetpolitik 2012 einem Hohen Rat für den Cyberspace übertragen hat, in dem seine Anhänger eine entscheidende Mehrheit haben.7 Und es lassen sich heute mehrere Wege erkennen, wie die neuen Kommunikationsmöglichkeiten kontrolliert werden sollen. Das Computerstrafrecht, vor allem das Gesetz über Computerkriminalität von 2009 und die Ermittlung und Verfolgung von Straftaten im Netz durch die 2011 gegründete Internetpolizei (FATA), die ein Teil der allgemeinen Polizei ist, ist nur einer dieser Wege. Außer den Gebieten, die weltweit beim Computerstrafrecht eine Rolle spielen, wie Straftaten gegen den Computer und Straftaten mittels des Computers wie beispielsweise Vermögensdelikte, fallen in Iran die Verfolgung und Verurteilung von Bürgern nicht nur wegen Straftaten nach dem Gesetz über Computerkriminalität, sondern auch nach dem Strafgesetzbuch und anderen Gesetzen wegen Taten auf, die letztlich Äußerungen oppositioneller Auffassungen sind.8 Dazu kommen verschiedene Geheimdienste, die Informationen im Netz sammeln und auch an die Jus5
https://data.worldbank.org/indicator/IT.NET.USER.ZS. Das schließt nicht aus, dass auch der religiöse Führer Khamene’i seine Homepage hat (http://farsi.khamenei.ir), ebenso wie zahlreiche andere Geistliche, die sich auch sonst der modernen Medien, z. B. des in Iran verbotenen Twitterns, bedienen (https://www.handelsblatt. com/unternehmen/it-medien/kurznachrichtendienst-twitter-bleibt-im-iran-verboten/22911342. html?ticket=ST-2335091-YtTBBdinIhJVqNtfn5oo-ap5). 7 http://www.majazi.ir/general_content/75705 – Der Einfluss dieses Rates wurde 2015 noch weiter gestärkt, indem der religiöse Führer zahlreiche bis dahin bestehende Institutionen, die sich mit Fragen des Internets befassten, wie z. B. der Hohe Rat für Informatik und der Hohe Rat für Informationsaustausch, auflöste und in den Hohen Rat für Cyberspace integrieren ließ, vgl. https://www.iranhumanrights.org/2015/09/khamenei-internet-policy-iran/; https://www. iranhumanrights.org/wp-content/uploads/EN-Guards-at-the-gate-High-quality.pdf, S. 18). 8 Vgl. hierzu die zahlreichen Beispiele in den Berichten von Menschenrechtsorganisationen wie z. B. Amnesty International oder Reporter ohne Grenzen. 6
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tiz weitergeben, das Sperren von Internetseiten, was die Bürger jedoch häufig durch VPNs und andere Mittel umgehen, ferner der immer weiter fortschreitende Aufbau eines nationalen Internets mit dem Ziel, die Bürger vom globalen Internet abzuhalten und selbst die technischen Möglichkeiten zu haben, jederzeit in nachrichtendienstlichen Aktivitäten in die Kommunikation der Bürger einzudringen.9 Schließlich wurde bei den Revolutionsgarden10 die sogenannte Cyberarmee aufgebaut, bestehend aus IT- Spezialisten, die sich als Hacker betätigen, Schadprogramme einschleusen, Seiten stilllegen und sonstige Angriffe gegen Rechner durchführen. Wir wollen uns im Folgenden auf das computerbezogene Strafrecht beschränken, das in mehreren Gesetzen aus den letzten 20 Jahren unterschiedliche Aspekte erfasst. Das Gesetz über Computerkriminalität von 2009 ist hier zwar das wichtigste, es hat jedoch schon früher Gesetze gegeben, die der Erwähnung wert sind.11
II. Cybercrime und islamisches Recht? Hier ist der Augenblick, zunächst eine andere Frage zu stellen. In der Islamischen Republik Iran hat alles Recht islamisch zu sein.12 Wie steht es mit der Islam-Kompatibilität von Computerstrafrecht? Dazu ist festzuhalten, dass die Straftatbestände und Strafen, die im Westen genannt werden, wenn von islamischem Strafrecht die Rede ist (Ehebruch, Alkoholgenuss, Steinigung, Auspeitschung etc.) nur einen sehr beschränkten Teil des islamischen Strafrechts ausmachen. Die Deliktskategorie, die in der Praxis weit über 90 % aller Straftaten erfasst, sind die Taten, die mit den sogenannten ta‘zı¯r-Strafen geahndet werden, also mit Strafen, die im Rahmen der islamischen Prinzipien von der Obrigkeit, ursprünglich dem Richter, heute in den Ländern mit islamischem Strafrecht, also auch in der Islamischen Republik Iran, durch den Gesetzgeber festgelegt sind.13 Der Durchschnittsbürger muss sich keine Gedanken machen, ob ein Gesetz im Einklang mit dem Islam steht. Ein Gesetz wird vom Parlament verabschiedet, dann geht es in den Wächterrat. Dessen Aufgabe ist es, das Gesetz auf seine Verfassungsmäßigkeit und seine Übereinstimmung mit den Prinzipien des Islams zu prüfen (Art. 94 Verf.). In Streitfällen hat der Schlichtungsrat das letzte Wort (Art. 112 Verf.). Tritt das Gesetz in Kraft, so kann man von seiner Islamkonformität ausgehen. Das gilt auch für das Computerstrafrecht. 9
Im November 2019 war der Ausbau des nationalen Internets soweit gediehen, dass Iran auf Geheiß des Nationalen Sicherheitsrats mehrere Tage lang vom globalen Internet abgeschnitten werden konnte, während das nationale Internet in Iran weiter funktionierte, https:// www.dw.com/de/internet-im-iran-bleibt-auf-unbestimmte-zeit-gesperrt/a-51339953. 10 „Wächterkorps der islamischen Revolution“, von Khomeini begründete linientreue Truppe, die heute Armeestärke hat, und über erheblichen Einfluss in der Wirtschaft und im Medien-und Kommunikationssektor verfügt. 11 Siehe dazu ‘Abba¯sı¯ Kalı¯ma¯nı¯/Akbarı¯ (Anm. 2), S. 19 f. 12 Vgl. Art. 4 der Verfassung. 13 Mit Ausnahme Saudi-Arabiens, das bis heute noch kein Strafgesetzbuch hat.
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– Ja, es geht sogar noch weiter. Wir werden sehen, dass das Gesetz zum elektronischen Geschäftsverkehr Bezug auf das Urheberrechtsgesetz von 1969 und das Gesetz über Übersetzungen und Kopien von 1973 nimmt, also Gesetze aus der Schahzeit. Freilich wurden nach der islamischen Revolution viele Gesetze abgeschafft, aber in der Praxis gilt heute, dass auch ein solches altes Gesetz stillschweigend als islamkonform behandelt wird, solange niemand geltend macht, es sei unislamisch. Aber selbstverständlich gibt es Autoren, die sich mehr Gedanken über den islamischen Charakter von Cybercrime und seine Bestrafung machen. Da gibt es etwa ein Werk über Cybercrime in der islamischen Rechtswissenschaft (fiqh) und im positiven Recht, von zwei Autoren, von denen nicht bekannt ist, welche Position sie hatten, aber bei denen nach Name und Ort des Verlags nahe liegt, dass sie dem geistlichen Stand angehören oder ihm zumindest nahe stehen.14 Sie gehen bei den einzelnen Delikten nicht nur auf die Strafbarkeit nach dem „weltlichen“ Recht ein, sondern fragen, nach welchen Prinzipien des islamischen Rechts die Strafbarkeit des fraglichen Verhaltens zu begründen ist. Das wird ausführlich etwa am Beispiel der Computersabotage ausgeführt. Anhand der schiitischen Rechtsquellen werden die maßgeblichen Prinzipien herausgearbeitet. An erster Stelle steht das Prinzip, dass niemand einem anderen Schaden zufügen darf. Weitere Prinzipien verlangen beispielweise, dass man keine unerlaubten Verfügungen treffen, niemandem übel mitspielen und kein Unrecht begehen darf, indem man Grenzen überschreitet und einem Gegenstand einen anderen als den ihm zukommenden Platz gibt (zulm). Aus˙ ist, was führlich wird auch erörtert, inwieweit ein nichtmuslimisches Opfer geschützt 15 durchweg bejaht wird.
III. Frühe computerbezogene Gesetze Die früheste Regelung war im Jahr 2000 die Anfügung einer gesetzlichen Erläuterung an Art. 1 des Pressegesetzes, die bestimmte, dass alle elektronischen Veröffentlichungen von den Vorschriften des Pressegesetzes mitumfasst seien.16 Damit galten auch die zahlreichen Straftatbestände des Pressegesetzes. Hier sticht bei den Presseinhaltsdelikten besonders Art. 26 hervor, der die Verunglimpfung des Islams und seiner heiligen Werte in einem Maße, das auf einen Abfall vom Islam hinausläuft, als Apostasie bestrafen will. Und die Apostasie, die im iranischen Strafgesetzbuch selbst nicht eindeutig geregelt ist,17 ist nach dem islamischen Strafrecht mit der Todesstrafe bedroht. 14
Ba¯yı¯/Pu¯rqahrama¯nı¯ (Anm. 3). Ba¯yı¯/Pu¯rqahrama¯nı¯ (Anm. 3), S. 126 ff. 16 30. 1. 1379 = 18. 4. 2000. 17 Art. 220 StGB bestimmt, dass bei (religiösen) hadd-Delikten, die nicht im Strafgesetz˙ buch geregelt sind, der Richter gem. Art. 167 der Verfassung zu verfahren hat, d. h. die im 15
klassischen Recht vorgesehene Strafe zu verhängen hat. Diese Norm ermöglicht auch die
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Wenige Monate später erging ein strafbewehrtes Gesetz zum Schutz der Rechte von Softwareentwicklern.18 Um die Jahreswende 2003/2004 traten weitere Gesetze in Kraft, die für die Bestrafung von Cyberkriminalität von Bedeutung waren. Das war zum einen das Militärstrafgesetzbuch von Ende 2003,19 das an seinem Ende in einem Kapitel „Sonstiges“ eine Vorschrift enthielt, die in der Folgezeit häufig genannt wurde, nämlich Art. 131. Danach machen sich Militärangehörige strafbar, die unter anderem Daten in Computersystemen und damit zusammenhängender Software unbefugt ändern oder löschen, klassifizierte Informationen aus Computersystemen an den Feind oder unbefugte Personen preisgeben, Datenträger stehlen oder zerstören oder sich rechtswidrig Gelder mithilfe des Computers aneignen. Die Bedeutung, die die Entwicklung von Computern und Internet für die Wirtschaft hatte, zeigte sich auch darin, dass als eines der frühen Gesetze im Zusammenhang mit der neuen Entwicklung Anfang 2004 ein detailliertes Gesetz zum elektronischen Geschäftsverkehr erging.20 Es lehnt sich im Aufbau, bei einer Reihe von Definitionen und bei einigen einzelnen Vorschriften eng an das UNCITRAL-Modellgesetz zum elektronischen Geschäftsverkehr von 1996 an,21 geht aber beispielsweise im Umfang seiner Regelungsmaterien, z. B. zum Verbraucherschutz (Art. 33 ff.), zum Marketing (Art. 50 ff.), zum Schutz privater Daten (Art. 58 ff.), zum Schutz von Urheberrechten (Art. 62 f.), Geschäftsgeheimnissen (Art. 64 f.) und Warenzeichen (Art. 66) darüber hinaus. Das Gesetz enthält eine Reihe von Strafvorschriften. Art. 67 stellt den computerbezogenen Betrug, Art. 68 die computerbezogene Fälschung unter Strafe, beide mit Strafdrohungen von einem bis zu drei Jahren Gefängnis und Geldstrafen. Art. 69 und 70 ahnden Verstöße gegen die Verbraucherschutz- und Marketingvorschriften mit Geldstrafen. Wer über die elektronischen Medien Werbung betreibt, darf das nicht in einer Weise tun, die die Gesundheit der Verbraucher gefährdet (Art. 51), widrigenfalls wird er mit einem bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft (Art. 71). Mit der gleichen Strafe hat zu rechnen, wer ohne die ausdrückliche Erlaubnis der Betroffenen Daten speichert, verarbeitet oder verbreitet, welche deren stammesmäßige oder ethnische Herkunft, weltanschauliche oder religiöse Überzeugungen, oder charakterliche Eigenheiten betreffen sowie Daten zur körperlichen, psychischen oder sexuellen Situation der Betroffenen bekannt werden lässt (Art. 58, 71). Werden Verletzungen der hier genannten Vorschriften zum Schutz persönlicher Daten von Zertifizierungsdienstleistern begangen, so ist die in Art. 71 vorgesehene Höchststrafe zu verhängen (Art. 72). Außerdem haben wir hier die einzige Vorschrift dieses Gesetzes vor uns, in der auch die fahrlässige Begehung der Tat mit Strafe bewehrt ist, nämlich drei Monate bis ein Jahr Gefängnis und Geldstrafe (Art. 73). Die gleiche Strafe steht auf die Verurteilung wegen des im Strafgesetzbuch nicht vorgesehenen Abfalls vom Islam, was aber in der Praxis so gut wie nie geschieht. 18 4. 10. 1379 = 24. 12. 2000. 19 9. 10. 1382 = 30. 12. 2003. 20 17. 10. 1382 = 7. 1. 2004, https://www.wipo.int/edocs/lexdocs/laws/en/ir/ir008en.pdf. 21 ˙ ula¯mrida¯, Huqu¯q-i gˇ aza¯-yi ihtisa¯s¯ı: gˇ ara¯yim-i ra¯ya¯na’ı¯ dar Siehe dazu Muhammadnasl, G ˙ 1395/2016, S. 195 ff.˙ ˙ ˘ ˙ ˙ Ira¯n, 2. Aufl. Teheran
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Verletzung von Urheberrechten (Art. 74). Dabei geht es um den Schutz der Urheberrechte von Autoren, Komponisten und Künstlern gemäß dem Urhebergesetz von 1969,22 dem Gesetz über Übersetzungen und Kopien von Büchern, sonstigen Publikationen und Audioprodukten von 197323 und schließlich dem Gesetz über den Schutz von Software-Entwicklern von 2000. Mit Gefängnisstrafen von einem bis zu zweieinhalb Jahren und24 Geldstrafe wird nach Art. 75 bestraft, wer rechtswidrig Geschäfts- oder wirtschaftliche Geheimnisse erlangt oder weitergibt oder wer unter Bruch eines Arbeitsvertrags, der das Stillschweigen über derartige Geheimnisse vorsieht, diese erlangt oder an Dritte weitergibt, um Unternehmen zu schädigen. Schließlich sind auch Verstöße gegen die Vorschriften über Warenzeichen (Art. 66) mit ein bis drei Jahren Gefängnis und Geldstrafe bedroht (Art. 75).
IV. Gesetz über Computerkriminalität 1. Allgemeines Mit der raschen Verbreitung von Computern, Internet und sonstigen elektronischen Kommunikationsmitteln nahm auch die Zahl der Straftaten zu, bei denen diese Medien eine Rolle spielten. Es gab aber noch kaum rechtliche Regelungen, die die besonderen Umstände der aufkommenden Cyberkriminalität berücksichtigten. Abgesehen von den oben geschilderten frühen Gesetzen musste man mit der Cyberkriminalität nach dem allgemeinen Strafrecht umgehen. Das Bewusstsein, dass das ungenügend sei, verbreitete sich aber mehr und mehr. Darum wurde bereits 2002 eine Kommission eingesetzt, die ein Gesetz über Cyberkriminalität erarbeiten sollte. Es dauerte allerdings mit vielen Diskussionen noch fast sieben Jahre, bis das Gesetz über Computerkriminalität 2009 (im folgenden Cybercrime-Gesetz) in Kraft treten sollte. Es enthält 56 Artikel und 25 gesetzliche Erläuterungen. Es behandelt sowohl materiellrechtliche wie auch prozessrechtliche Aspekte und wurde laut seinem Art. 55 zunächst zur Gänze in das 5. Buch des iranischen Strafgesetzbuchs als Art. 729 – 782 eingefügt. Als 2015 die neue iranische Strafprozessordnung25 in Kraft trat, wanderten die strafprozessrechtlichen Vorschriften weiter und sind heute Art. 664 – 687 irStPO, während das 5. Buch des Strafgesetzbuchs jetzt mit Art. 756 endet.
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3. 9. 1348 = 24. 11. 1969. 26. 9. 1352 = 17. 12. 1973. 24 Die englische Übersetzung bei WIPO (Anm. 20), die „oder“ schreibt, ist unzutreffend. 25 Vgl. zu dieser Tellenbach, Silvia, Zum Strafprozessrecht der Islamischen Republik Iran unter besonderer Berücksichtigung der Strafprozessordnung von 2014, in: Feridun Yenisey’e Armag˘ an, Hrsg. Ays¸e Nuhog˘ lu, Istanbul 2014, S. 1185 – 1216. 23
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2. Materielles Recht Das Gesetz über Cybercrime ist in weiten Teilen von dem Budapester Übereinkommen über Computerkriminalität von 2001 inspiriert,26 auch wenn es stellenweise davon abweicht oder Regelungen enthält, die sich in diesem nicht finden. Bezeichnend ist jedenfalls das Lehrbuch von Muhammadnasl über Cybercrime,27 das zu An˙ fang jedes Kapitels beschreibt, inwieweit sich eine Regelung des iranischen Cybercrime-Gesetzes an eine entsprechende Regelung des Budapester Übereinkommens hält oder andere Regelungen vorsieht. Das Gesetz besteht aus drei Abschnitten für materielle, prozessuale und Schlussbestimmungen; einen Abschnitt über internationale Zusammenarbeit enthält es nicht. Im materiellrechtlichen Teil findet sich eine Reihe von Strafvorschriften, die den Verpflichtungen des Übereinkommens folgen. In den meisten Fällen sehen sie Gefängnisstrafen von 91 Tagen28 bis zu zwei Jahren29 und/oder Geldstrafe vor. Strafvorschriften betreffen etwa den rechtswidrigen Zugang zu Daten (Art. 729 5. Buch irStGB),30 das rechtswidrige Abfangen von Daten (Art. 730), den Eingriff in Daten, Computer- und Telekommunikationssysteme (Art. 736, 737) sowie computerbezogene Fälschung (Art. 734, 735) und computerbezogener Betrug (Art. 741).31 Bei diesen beiden fällt auf, dass die subjektive Seite des Tatbestands im Verhältnis zu den Vorgaben des Budapester Übereinkommens weitgehend entfallen ist, und das, was dort als Absicht verlangt, aber auch für ausreichend angesehen wird, in den objektiven Tatbestand verschoben wird. So müssen die gefälschten Daten nicht in der Absicht erstellt worden sein, im Rechtsverkehr als echt angesehen oder einer Handlung zugrunde gelegt zu werden, sondern es reicht, wenn sie dazu geeignet sind (Art. 734). Beim Betrug muss die Beschädigung des Vermögens nicht in der Absicht erfolgt sein, sich oder einem anderen einen 26
Siehe Pakzad/Ghassemi (Anm. 4), S. 140. Siehe Anm. 21. 28 Sieht das Gesetz Gefängnisstrafen bis zu drei Monaten vor, so sind diese obligatorisch in alternative Strafen umzuwandeln (Art. 65 StGB), daher finden sich häufig Freiheitsstrafen mit einer Untergrenze von 91 Tagen. 29 Bei Delikten mit Gefängnisstrafen bis zu zwei Jahren ist der Versuch straflos, Art. 122 i.V.m. Art. 19. 30 Das Islamische Strafgesetzbuch von 2013 umfasst vier Bücher mit insgesamt 738 Artikeln, das erhalten gebliebene fünfte Buch des Strafgesetzbuchs von 1996 umfasst die Artikel 498 – 756. Die Artikel 498 – 738 gibt es also doppelt; darum muss immer gesagt werden, um welches Buch es sich handelt. 31 Die letzten beiden mit einer Strafdrohung von ein bis fünf Jahren Gefängnis. Es ist umstritten, ob diese Vorschriften die Tatbestände des Computerbetrugs gem. Art. 67 und der Computerfälschung gem. Art. 68 Gesetz zum elektronischen Geschäftsverkehr als neuere Normen abgeschafft haben oder ob Art. 67, 68 als speziellere Normen weitergelten, vgl. dazu näher Ba¯ba¯lu¯’ı¯, Mahmu¯d, Qa¯nu¯n-i ta‘zı¯ra¯t dar nazm-i huqu¯qı¯-yi kanu¯nı¯, 4. Aufl. Teheran ˙ besteht ˙ 1397/2018, S. 863 f.,˙ 883. Eine ähnliche Diskussion für Art. 131 MilStGB, vgl. Ila¯hı¯ma¯nisˇ, Muhammad Rida¯/Sadranasˇ¯ın Abulfadl, Muhasˇsˇa¯-yi gˇ ara¯yim-i ra¯ya¯na’ı¯, Teheran ˙ f. ˙ ˙ ˙ 1397/2018, S. 30 27
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wirtschaftlichen Vorteil zu verschaffen, sondern dieser Vorteil muss erlangt worden sein (Art. 741 StGB). Für beide Tatbestände liegt die Strafe mit einem bis zu fünf Jahren Gefängnis und/oder Geldstrafe oder beidem relativ hoch. Über das Budapester Übereinkommen hinausgehend sieht das iranische Gesetz eine ausdrückliche Vorschrift für den Fall vor, dass eine berechtigte Person am Zugang zu Daten, Computer- und Telekommunikationssystemen durch Verbergen von Daten, Ändern des Passworts oder Verschlüsselung gehindert wird (Art. 738). Ferner wird der Eingriff gem. Art. 736 – 738 besonders schwer, nämlich mit Gefängnis von drei bis zu zehn Jahren bestraft, wenn er mit der Absicht der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgeführt wurde und Einrichtungen der Daseinsvorsorge betraf, wie Gesundheitsdienste, Wasser, Strom- und Gasversorgung, Telekommunikation, Transport und Banken (Art. 739). Schließlich enthält das iranische Gesetz ausführliche Vorschriften über Computerspionage. Strafbar sind Zugang und Abfangen geheimer Daten, also Daten, deren Bekanntwerden die Staatssicherheit oder nationale Interessen beeinträchtigt und die als geheim klassifiziert sind (Gesetzeserläuterung 2 zu Art. 731), sowie ihre Enthüllung gegenüber unbefugten Dritten, mit Strafschärfungen auf fünf bis 15 Jahre Gefängnis, wenn es sich bei diesen um ausländische Regierungen, Organisationen, Firmen oder sonstige Gruppen oder ihre Agenten handelt (Art. 731). Gesondert unter Strafe gestellt wird auch die Beschädigung von Sicherheitsmaßnahmen von Computer-und Telekommunikationssystemen, wenn sie in der Absicht geschieht, geheime Daten zu erlangen (Art. 732).32 Eine weitere Strafvorschrift bezieht sich auf Staatsbedienstete, die für die Sicherung derartiger Daten und die entsprechenden Systeme verantwortlich und dafür geschult33 sind oder denen diese Daten anvertraut wurden und die aus Fahrlässigkeit in der Form von Nachlässigkeit, Unvorsichtigkeit oder Nichtbeachtung von Sicherheitsmaßnahmen Unbefugten den Zugriff auf derartige Daten oder Systeme ermöglicht haben (Art. 733). Eine bedeutsame Abweichung von den Vorgaben des Budapester Übereinkommens findet sich bei der Pornographie. Während das Budapester Übereinkommen seine Unterzeichner zum Erlass von Vorschriften zur Kinderpornographie verpflichtet, sieht das iranische Gesetz Vorschriften zur Bekämpfung der Pornographie überhaupt, also auch bei Erwachsenen vor (Art. 742). Das wird mit der strengen islamischen Moral in allen Fragen mit sexuellem Bezug erklärt.34 Spezielle Vorschriften zu 32 Diese Vorschrift dürfte 2009 in das Gesetz aufgenommen worden sein, weil damals die Strafbarkeit des Versuchs im iranischen StGB noch nicht ausreichend formuliert war. Nach Ba¯ba¯lu¯’ı¯, (Anm. 31), S. 858, ist sie durch die spätere Regelung der Versuchsstrafbarkeit in Art. 122 StGB v. 2013 implizit abgeschafft worden. Muhammadnasl (Anm. 21) sieht in dieser ˙ Vorschrift allerdings keine Kriminalisierung des Versuchs von Computerspionage, weil ein solcher einerseits auch mit anderen Mitteln als der Zerstörung von Sicherungsmaßnahmen durchgeführt werden könnte, und andererseits hier auch eine andere Absicht als die der Spionage ausreicht, S. 55. 33 Zum Umfang der notwendigen Schulung siehe Ba¯ba¯lu¯’ı¯ (Anm. 31), S. 810. 34 Ila¯hı¯ma¯nisˇ/Sadranasˇ¯ın (Anm. 31), S. 81; siehe auch Muhammadnasl (Anm. 21), S. 117; ‘Abba¯sı¯ Kalı¯ma¯nı¯/Akbarı¯ (Anm. 2), S. 80; ‘Azı¯zı¯ (Anm. 2), S.˙ 155.
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Kinderpornographie, etwa Strafschärfungen, finden sich im Gesetz nicht.35 Im Hinblick auf Kinderpornographie von Bedeutung dürfte jedoch eine Zuständigkeitsvorschrift sein, nach der iranische Gerichte immer zuständig sind, wenn bei der Tat der Missbrauch eines Kindes unter 18 Jahren vorliegt, ungeachtet dessen, ob Täter oder Opfer Iraner sind oder nicht (Art. 664 irStPO). Bestraft wird, wer pornographische Inhalte übermittelt, verbreitet, mit ihnen handelt oder solche Inhalte mit der Absicht des Handels oder der Zersetzung der Moral produziert oder speichert (Art. 742). Als pornographischen Inhalt definiert Gesetzeserläuterung 4 zu Art. 742 jede echte oder echt wirkende visuelle oder akustische Darstellung oder Text, der Männer oder Frauen in ihrer Nacktheit, ihre Sexualorgane, einen Geschlechtsverkehr oder sonstige sexuelle Handlungen zeigt. Eine präzisere Umschreibung der sexuellen Handlung, wie sie sich etwa in Art. 9 Abs. 2 des Budapester Übereinkommens durch die Formulierung „eindeutig sexuelle Handlung“ findet, enthält diese Vorschrift nicht und lässt dem Richter damit großen Spielraum. Erweitert wird der Bereich der Strafbarkeit auch dadurch, dass laut Gesetzeserläuterung 1 auch Darstellungen, die nicht pornographisch, sondern nur unanständig sind, strafbar sind. Als unanständig definiert werden Inhalte, die obszöne Bilder und Szenen enthalten – wiederum eine Formulierung, die vieles offen lässt. Während die Strafe gemildert wird, wenn die pornographischen Darstellungen an weniger als zehn Personen übermittelt werden, ist das Maximum der Strafe zu verhängen, wenn der Täter gewerbsmäßig oder organisiert handelt, sofern er nicht wegen des Stiftens von Verderben auf Erden36 zu bestrafen ist (Art. 286 StGB). Auf dieser Verweisnorm beruht die gelegentlich anzutreffende Behauptung, dass nach dem Cybercrime-Gesetz sogar die Todesstrafe möglich sei.37 Der Tatbestand des Verderben Stiftens auf Erden gehört im iranischen Strafgesetzbuch zum Kernbereich der religiösen Strafen, den hadd-Strafen. Er basiert auf der Koransure 5,33,38 ˙ die denjenigen, die Krieg gegen Gott führen und auf Erden Verderben stiften wollen, Tötung, Kreuzigung, Hand und Fuß abhacken oder Verbannung als Strafe androht. Die schiitische Rechtswissenschaft hat diese Sure über Jahrhunderte diskutiert und dazu verschiedene Meinungen vertreten, die hier nicht dargelegt werden können. Das iranische Strafgesetzbuch folgt jedenfalls einer Auffassung, die es dem Gesetzgeber zwar erlaubt, Kreuzigung oder Amputationsstrafen entfallen zu lassen, die Todes35
Kritisiert z. B. von Ila¯hı¯ma¯nisˇ/ Sadranasˇ¯ın (Anm. 31), S. 82. Dieser Tatbestand wird in englischen Texten meist als corruption on earth bezeichnet, was bisweilen zu dem falschen Sprachgebrauch Korruption auf Erden in deutschen Texten führt. 37 https://www.article19.org/data/files/medialibrary/2921/12-01-30-FINAL-iran-WEB% 5B4%5D.pdf, S. 29. 38 http://islam.de/13827.php?sura=5: „Der Lohn derjenigen, die Krieg führen gegen Allah und Seinen Gesandten und sich bemühen, auf der Erde Unheil zu stiften, ist indessen (der), daß sie allesamt getötet oder gekreuzigt werden, oder daß ihnen Hände und Füße wechselseitig abgehackt werden, oder daß sie aus dem Land verbannt werden. Das ist für sie eine Schande im Diesseits, und im Jenseits gibt es für sie gewaltige Strafe“. 36
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strafe wird jedoch beibehalten (Art. 286). – Was aber bedeutet Verderben stiften auf Erden? Art. 286 führt eine breite Kasuistik von Taten auf,39 die, wenn sie in erheblichem Ausmaß und in einer Art begangen werden, die zu einer gravierenden Verletzung der öffentlichen Ordnung des Landes, Unsicherheit, Schäden an Personen und Vermögen oder Verbreitung von Verderbtheit und Prostitution führen, als Verderben stiften auf Erden gelten sollen. Es geht hier im Grunde um Taten, die nach Art und Ausmaß als gefährlicher Angriff auf die Grundordnung von Staat und Gesellschaft angesehen werden. Und zu diesen Taten kann im Extremfall auch die Produktion, Speicherung oder Verbreitung von Pornographie zählen. Die Grenzen dieses Tatbestands sind jedoch unklar – was bedeutet erhebliches Ausmaß? Gravierende Verletzung? – und die Interpretation kann je nach Richter sehr unterschiedlich ausfallen, wie auch von iranischen Wissenschaftlern kritisiert wird.40 Beim Schutz der Darstellung von Personen geht es weniger um den Schutz der Privatheit als vielmehr um den Schutz des Ansehens eines Opfers. Strafbar macht sich, wer mithilfe von Computer- und Telekommunikationssystemen die Darstellung von Personen in Ton oder Bild ändert oder verzerrt und sie verbreitet oder dabei wissentlich von derartigen Daten Gebrauch macht (Art. 744), ferner wer auf diese Weise private Darstellungen oder Darstellungen von Familien in Ton oder Bild oder sonstige persönliche Geheimnisse ohne Zustimmung der Betroffenen und ohne gesetzliche Rechtfertigung verbreitet oder anderen unerlaubt den Zugriff auf derartige Darstellungen ermöglicht (Art. 745). In beiden Fällen ist die weitere Voraussetzung, dass die Tat geeignet ist, das Ansehen des Opfers nach den üblichen Maßstäben zu beschädigen, im Falle des Art. 745 auch, einen wirtschaftlichen Schaden zuzufügen.41 Schließlich ist das Verbreiten von Lügen mit der Absicht, einen anderen zu schädigen, oder in der Öffentlichkeit Unruhe zu verbreiten oder in eigener Formulierung oder durch Zitat einer natürlichen oder juristischen Person ausdrücklich oder in Andeutungen eine unwahre Tatsache zur Last zu legen. Diese Vorschrift ist der Vorschrift des Art. 698 parallel gebaut; sie unterscheidet sich im Wesentlichen durch die Mittel der Tatbegehung, in Art. 698 durch Schriftstücke aller Art, in Art. 746 durch Computer und Telekommunikation. Nach seiner systematischen Stellung soll der Gesetzgeber diese Tat als Delikt gegen Personen betrachtet haben,42 demgegenüber vertreten andere43 die Auffassung, dass es sich um eine Tat gegen die öffent-
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Hier sind z. B. Taten gegen die körperliche Unversehrtheit von Personen, gegen die innere und äußere Sicherheit des Staates, Verbreitung von Lügen, Taten gegen das Wirtschaftssystem, Schaffen von Stätten von Verderbtheit und Prostitution genannt. 40 Siehe dazu Mirmuhammad Sa¯diqı¯, Husain, Huqu¯q-i kaifarı¯-yi ihtisa¯s¯ı: g˘ ara¯’im ‘alaih-i ˙ ˙ (2017), ˙ S. 64.; kritisch ˘ auch ˙ ˙ ‘Azı¯zı¯ (Anm. 2), amniyat wa-asa¯yisˇ, 35. ˙Aufl. Teheran 1396 S. 163. 41 In beiden Fällen sind 91 Tage bis zu zwei Jahren Gefängnis oder Geldstrafe oder beides vorgesehen. 42 Azı¯zı¯ (Anm. 2), S. 180. 43 Sa¯diqı¯, (Anm. 40), S. 263. ˙
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liche Sicherheit und Ordnung handele, eine Auffassung, die von der Anwendung dieses Straftatbestands in der Praxis durchaus gestützt wird. Ein Schwerpunkt des Gesetzes ist ein Abschnitt, der mit „Strafrechtliche Verantwortlichkeit von Personen“ überschrieben ist, aber nur juristische Personen behandelt und dabei weit über das hinausgeht, was der westliche Leser unter einer solchen Überschrift erwartet. Bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes gab es in Iran noch keine strafgesetzliche Normierung der Strafbarkeit juristischer Personen. Erst im neuen iranischen Strafgesetzbuch von 2013 wurde die Strafbarkeit juristischer Personen allgemein festgelegt, allerdings nur juristischer Personen des Privatrechts.44 Nach dem Cybercrime-Gesetz von 2009 ist zunächst Voraussetzung für die Verantwortlichkeit juristischer Personen, dass die Tat im Namen oder zum Nutzen der juristischen Person geschehen sein muss. Dann wird detailliert festgelegt, wer innerhalb der juristischen Person aktiv geworden sein muss, damit diese zur Verantwortung gezogen werden kann: das ist zum einen der Leiter, definiert als derjenige, der die Vertretungsmacht, Entscheidungsgewalt oder die Aufsicht über die juristische Person innehat45 wenn er selbst gehandelt hat (a), die Tat auf seine Weisung hin verübt wurde (b) oder ein Angestellter mit seiner Kenntnis oder infolge seiner mangelnden Aufsicht die Tat verübt hat (c); unabhängig davon ist die juristische Person schließlich aber auch strafbar, wenn ihre gesamte oder ein Teil ihrer Aktivitäten der Begehung von Computerstraftaten gewidmet war (d) (Art. 747). Die Bestrafung der juristischen Person hindert die Bestrafung der natürlichen Person, die die Tat begangen hat, nicht (Gesetzeserläuterung 2 zu Art. 747). Bis dahin lassen die Formulierungen, von Punkt (d) einmal abgesehen, das Vorbild des Budapester Übereinkommens erkennen. Die Strafen für juristische Personen sind Geldstrafen in Höhe des Drei- bis Sechsfachen der für natürliche Personen vorgesehenen Obergrenze der Geldstrafe, dann aber eine vorläufige Schließung bei Taten, die bei natürlichen Personen mit bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe bedroht sind, und zwar für die Dauer von einem bis zu neun Monaten, im Wiederholungsfall von einem bis zu fünf Jahren. Bei Taten, die mit höherer Freiheitstrafe bedroht sind, dauert eine vorläufige Schließung ein bis drei Jahre, im Wiederholungsfalle wird die juristische Person endgültig aufgelöst (Art. 748). 46 Und hier dürfte die Bedeutung der Vorschrift für die Praxis liegen.
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Staatliche juristische Personen sowie nicht-staatliche juristische Personen des öffentlichen Rechts, die hoheitliche Aufgaben wahrnehmen, sind nicht strafbar, Gesetzeserläuterung zu Art. 20 StGB. Vgl. dazu Tellenbach, Silvia, Zum Strafgesetzbuch der Islamischen Republik Iran von 2013, ZStW 126 (2014), S. 775 – 801 (781). 45 Gesetzeserläuterung 1 zu Art. 747. 46 Das Strafgesetzbuch von 2013 sieht die Schließung als Sanktion vor, aber ohne weitere Vorgaben, was die Dauer betrifft, ferner Einziehung und Geldstrafe sowie weitere Sanktionen, die auf das Geschäftsleben zugeschnitten scheinen, wie ein befristetes Verbot von geschäftlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten, eines Aufrufs zu Kapitalerhöhungen oder der Ausgabe von Handelspapieren (Art. 20).
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Das Cyber-Crime Gesetz enthält nämlich sowohl gegen Zugangsprovider wie auch gegen Hostingprovider Strafvorschriften, und derartige Provider sind in der Regel juristische Personen. Art. 749 bestimmt für Zugangsprovider die Pflicht, entsprechend technischen Kriterien und der Liste, die von dem im Folgenden zu besprechenden Komitee festgesetzt wird, kriminellen Inhalt, der im Rahmen des Gesetzes festgelegt ist, zu filtern. Bei vorsätzlicher Unterlassung ist die Schließung des Zugangsproviders vorgesehen, bei fahrlässiger Unterlassung beim ersten und zweiten Verstoß Geldstrafen, beim dritten Verstoß eine zeitlich begrenzte Schließung von einem Jahr bis zu drei Jahren. Dann aber werden in Gesetzeserläuterung 1 angefangen von der Website des Obersten religiösen Führers über die Webseiten diverser staatlicher Stellen bis hin zu den Websites natürlicher und juristischer Personen, die sich in Iran aufhalten, deren Identität zu ermitteln ist und die erreichbar sind, zahlreiche Webseiten aufgezählt, bei denen auf Anordnung der ermittelnden Justizbehörden eine Filterung bis zum Erlass des endgültigen Urteils unterbleibt, sofern die Inhaber der Webseite den kriminellen Inhalt von sich aus unverzüglich entfernen. Dieselben Strafen sind für Hostingprovider vorgesehen, die es unterlassen, einen Inhalt zu sperren, sobald sie eine entsprechende Anordnung des Komitees oder der Justizbehörden erhalten haben (Art. 751). Das Cybercrime-Gesetz verpflichtet die Justiz, ein Komitee für die Festlegung strafbarer Inhalte zu schaffen (Art. 750). Der Generalstaatsanwalt hat den Vorsitz inne, Mitglieder sind unter anderem Vertreter der Ministerien für Erziehung, Informations- und Kommunikationstechnologie, Nachrichtendienst, Justiz, Wissenschaft, Forschung und Technologie, Kultur und islamische Führung, der Leiter der Organisation für die Verbreitung des Islams, der Leiter des Fernsehens und der Oberkommandierende der Polizei, eine Zusammensetzung, also von Mitgliedern, die der religiösen Führung nahestehen und die bereits zeigt, dass der Inhalt des Netzes massiv weltanschaulich kontrolliert werden soll. Diese Kommission hat eine lange Liste von unzulässigen Inhalten zusammengestellt, bei deren Vorliegen die entsprechenden Seiten zu filtern sind. Es handelt sich dabei um zehn Gruppen, beginnend mit Verstößen gegen die Sittlichkeit und die öffentliche Moral, gegen heilige Werte des Islams (muqaddasa¯t), gegen die öffentliche Ordnung und Sicherheit, über Verstöße im Zusammenhang mit Computerstraftaten, sowie Aufhetzung zu allgemeinen Straftaten bis zu verbotenen Inhalten im Zusammenhang mit der Wahl des Parlaments, des Expertenrats47 und des Staatspräsidenten und weiteren Gruppen. In diesen zehn Gruppen werden insgesamt 94 Verstöße genannt, von der Aufforderung zum Bombenlegen oder Stimmenkauf bis zur Satire gegen Regierungs- oder öffentliche Stellen und der Beleidigung des Islams, die sich an Strafvorschriften aus dem Strafgesetzbuch, dem Pressegesetz und zahlreichen anderen Gesetzen orientieren.48 Diese große Zahl von unzulässigen Inhalten bedeutet für Zugangs-und Hostingprovider einen erheblichen Druck. 47 Der Expertenrat wählt einen neuen religiösen Führer, wenn das Amt durch Tod oder Amtsunfähigkeit des bisherigen Inhabers vakant wird, Art. 107 Verfassung. 48 https://internet.ir/crime_index.html.
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Bemerkenswert ist schließlich eine Vorschrift, nach der die unerlaubte Nutzung einer internationalen Verbindung für Gespräche von außerhalb Irans nach Iran oder umgekehrt mit ein bis drei Jahren Gefängnis, hohen Geldstrafen oder beidem bestraft wird (Art. 752). Grund dafür soll sein, dass derartige Verbindungen über einen backbone in den USA liefen und hohe Kosten für den Staat verursachten, der für eine Nutzung der Ressourcen zahlen müsste. Diese Vorschrift soll nach dem Gesetzgeber in erster Linie Geschäftsleute mit Auslandskontakten betreffen.49 Es bleibt aber doch das Misstrauen, dass dieses Verbot auch Auslandskontakte der Bürger einschränken soll. Abschließend ist auf den Abschnitt Strafschärfungen hinzuweisen. Er bestimmt zum einen, dass die Strafe für eine Straftat nach diesem Gesetz dem obersten Drittel des Strafrahmens zu entnehmen ist, wenn der Täter ein staatlicher Bediensteter, Richter oder Militärangehöriger, ein Betreiber oder Besitzer eines Computer- oder Telekommunikationsnetzwerks ist und die Tat bei der Ausübung seiner Funktionen begeht, wenn die bei der Tat verwendeten Computer oder Telekommunikationsnetzwerke der Regierung oder einer Institution oder einem Zentrum gehören, das öffentliche Dienstleistungen erbringt, oder wenn die Tat ein erhebliches Ausmaß hat (Art. 754). Zum andern kann bei mehr als zweimaligem Rückfall der Täter je nach Höhe einer verhängten Freiheitsstrafe für eine Frist von einem Monat bis zu fünf Jahren von allen elektronischen Diensten, beispielsweise Internet, Mobiltelefon, Onlinebanking, ausgeschlossen werden (Art. 755). 3. Verfahrensrecht Zugangsprovider sind verpflichtet, alle Verkehrsdaten für mindestens sechs Monate zu speichern, ebenso alle Bestandsdaten bis zu sechs Monaten nach Beendigung des Vertragsverhältnisses (Art. 667 StPO). Hostingprovider müssen alle gespeicherten Inhaltsdaten und Verkehrsdaten, die aus irgendwelchen Änderungen resultieren, bis zu 15 Tagen speichern, ebenso die Bestandsdaten bis zu sechs Monate nach Beendigung des Vertragsverhältnisses (Art. 668). Weitere Voraussetzungen für diese Speicherungen sieht das Gesetz nicht vor. Ist die Sicherung von gespeicherten Daten für Ermittlungen oder das Hauptverfahren notwendig, so können die Justizbehörden gegenüber denjenigen, die Besitz oder Kontrolle über die Daten haben, eine Anordnung zur Sicherung dieser Daten für eine Dauer von bis zu drei Monaten erlassen, die aber bei Notwendigkeit durch richterliche Anordnung verlängert werden kann. In Eilfällen wie z. B. Gefahr von Verlust, Zerstörung oder Beseitigung von Daten können auch Polizeibeamte eine solche Verfügung erlassen, haben aber die Sachlage binnen 24 Stunden den Justizbehörden mitzuteilen.50 Wer es unterlässt, die Anordnung zu befolgen, die gesicherte Daten bekannt werden lässt, oder Personen, die von den erwähnten Daten betroffen 49 50
Siehe dazu Muhammadnasl (Anm. 21), S. 159 f. ˙ Zur Frage einer richterlichen Genehmigung schweigt das Gesetz.
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sind, von dem Inhalt der Anordnung unterrichtet, macht sich strafbar (Art. 669). Die Justizbehörden können anordnen, dass die in Art. 667 – 669 genannten gesicherten Daten der Polizei herausgegeben werden (Art. 670); von den Justizbehörden ist nicht die Rede, was in der iranischen Literatur als Redaktionsversehen angesehen wird.51 Auch hier wird eine Unterlassung bestraft. Die Durchsuchung und Beschlagnahme von Daten, Computer- und Telekommunikationssystemen erfolgt auf richterliche Anordnung in den Fällen, in denen ein erheblicher Verdacht in Bezug auf die Aufdeckung einer Straftat, die Ermittlung eines Täters oder das Auffinden von Beweismitteln besteht (Art. 671). Die Durchsuchung und Beschlagnahme hat in Gegenwart des Verfügungsberechtigten bzw. der Personen stattzufinden, die gesetzlich zur Kontrolle über die Daten und System befugt sind. Sind die Berechtigten nicht anwesend und die Durchsuchung und Beschlagnahme dringlich, so erlässt der Richter eine diesbezügliche Anordnung in Abwesenheit der Berechtigten, für die er die Gründe in der Anordnung angibt (Art. 672). Eine Durchsuchungs- und Beschlagnahmeanordnung enthält genaue Angaben über die Daten, auf die sie sich bezieht und wie die Maßnahme durchzuführen ist (Art. 673). Eine Durchsuchung umfasst den Zugang zu Computer- und Telekommunikationssystemen, Datenträgern sowie gelöschten und verschlüsselten Daten (Art. 674). Zeigt sich im Verlauf der Durchsuchung und Beschlagnahme, dass eine Ausdehnung auf andere derartige Systeme, die im Besitz oder unter der Kontrolle des Beschuldigten stehen, notwendig ist, so darf sie mit richterlicher Anordnung geschehen (Art. 678). Computer- und Telekommunikationssysteme werden beschlagnahmt, wenn die gespeicherten Daten nicht leicht zugänglich sind oder einen erheblichen Umfang haben, die Durchsuchung und Analyse der Daten ohne entsprechende Systeme nicht möglich ist, der gesetzlich Berechtigte zustimmt, eine Kopie der Daten technisch nicht möglich ist oder eine Durchsuchung vor Ort die Daten beschädigen würde (Art. 676). Eine Einschränkung der Zulässigkeit von Durchsuchung und Beschlagnahme auf den Verdacht besonders schwerer, in einem Katalog erfasster Straftaten, oder wenn Ermittlungen auf andere Weise wesentlich erschwert oder aussichtslos wären, wie wir sie aus dem deutschen Recht kennen, besteht nicht (§ 100 dStPO). Es bestehen nur gewisse Vorgaben für die Durchführung einer grundsätzlich zulässigen Durchsuchung und Beschlagnahme von Daten, Computer und Telekommunikationssystemen durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Art. 675, 677). Insbesondere ist eine Beschlagnahme verboten, die zu einem erheblichen körperlichen oder finanziellen Schaden für Personen oder zu einer Beeinträchtigung der Daseinsvorsorge führen würde, außer wenn sie wegen wichtigerer Interessen, z. B. der Staatssicherheit, erforderlich ist (Art. 679). Der Betroffene hat ein Beschwerderecht gegenüber dem Richter, der die Durchsuchungs- und Beschlagnahmeanordnung erlassen hat, die daraufhin ergehende Entscheidung ist anfechtbar (Art. 682).
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Muhammadnasl (Anm. 21), S. 172. ˙
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Eine besondere Vorschrift für das Erheben von Verkehrsdaten in Echtzeit fehlt. Das Erheben von Inhaltsdaten in Echtzeit richtet sich nach den allgemeinen Vorschriften für das Abhören von Telefongesprächen, gleichgestellt ist der Zugang zu gespeicherter nichtöffentlicher Kommunikation wie E-Mails und SMS (Art. 683). Telefongespräche dürfen laut Gesetz nur beim Verdacht von Straftaten gegen die innere und äußere Sicherheit des Landes und bei Taten abgehört werden, die mindestens mit mehr als zehn Jahren Gefängnis oder sehr hoher Geldstrafe52 bedroht sind (Art. 150, 302 irStPO i.V. Art. 19 StGB). Sie erfolgt mit Zustimmung des Obersten Richters der Provinz für eine festgelegte Zeit und Häufigkeit.
V. Schluss Wir sind am Ende unseres Streifzugs angelangt, bei dem natürlich vieles ausgelassen werden musste. Ein Blick zurück: Die internationalen Entwicklungen im Computerstrafrecht sind in Iran wohlbekannt, und vieles davon ist in die Gesetzgebung eingeflossen. Eine Reihe von Besonderheiten wird aber sichtbar, vor allem die Ausweitung der Ahndung von Pornographie, die umfangreichen und strengen Filterund Speichervorgaben für Provider, mit einschneidenden Folgen für Verstöße sowie die niedrigen Schranken für Durchsuchung und Beschlagnahme. So bleibt noch, dem Jubilar alle guten Wünsche für das 71. und alle folgenden Lebensjahre auszusprechen. Mögen ihm noch lange Zeit Gesundheit und Schaffenskraft erhalten bleiben, jedoch mit dünner werdendem Terminkalender, der ihm Zeit lässt, an einem Tag auch einmal einfach das zu tun, worauf er gerade Lust hat.
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Diese wird ständig an die Inflation angepasst und kann daher hier nicht beziffert werden.
Erzwungene Entschlüsselung Digitaler Dateien Eine Herausforderung für die Strafrechtswissenschaft Von Stephen C. Thaman
I. Einführung Ulrich Sieber beschreibt den Paradigmenwechsel des Strafrechts von einem mehr oder weniger offenem, repressivem Instrumentarium, um Straftaten aufzuklären und Schuldige zu Verantwortung zu bringen, zu einem präventivem Sicherheitsrecht, das überwiegend geheim und oft ohne Richtervorbehalt, Informationen sammelt, um nach Gefahrenquellen zu fahnden. Seine Sorgen wachsen, dass der behauptete Gewinn an Sicherheit mit einer gefährlichen Unterminierung unserer Menschenrechte bezahlt wird.1 Die Enthüllungen von Edward Snowden im Jahr 2013 über das Spionageprogramm der U.S. National Security Agency (NSA) zeigten das neue Überwachungsparadigma, das zur Folge hat, dass alle Bürger potentielle Verdächtige sind, deren geheime Gespräche, Äußerungen, Bewegungen und tägliche Aktivitäten aufgezeichnet und gespeichert werden.2 Die Telekommunikations(TK)-Provider, die früher vielleicht noch mit der NSA zusammengearbeitet hatten, haben rebelliert und End-to-End Verschlüsselungsprogramme entwickelt, die die Kontrolle digitaler Dateien weithin in die Hände der IT-Konsumenten legen. Die meisten Experten stimmen darin überein, dass es für strafrechtliche Ermittlungsorgane beinahe unmöglich ist, die neue Verschlüsselungstechnologie zu brechen, um an verschlüsselte Gespräche oder Texte anzukommen.3 Wenn die staatli1 Sieber, Ulrich, The New Architecture of Security Law – Crime Control in the Global Risk Society, in: Sieber, Ulrich/Mitsilegas, Valsamis/Mylonopoulos, Christos/Billis, Emmanouil/ Knust, Nandor (Hrsg.), Alternative Systems of Crime Control, Berlin 2018, S. 3 (27). 2 Siehe Ross, Jacqueline E., The emergence of foreign intelligence investigations as alternatives to the criminal process: a view of American counterintelligence surveillance through German lenses, in: Ross, Jacqueline E./Thaman, Stephen C. (Hrsg.), Comparative Criminal Procedure. Cheltenham, U.K./Northhampton, MA 2016, S. 475 (494). 3 Sieber, Ulrich, Straftaten und Strafverfolgung im Internet, in: Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), 69. Deutscher Juristentag, München 2012, S. C 119; Gliksberg, Candice, Decrypting the Fourth Amendment: Applying Fourth Amendment Principles to Evolving Privacy Expectations in Encryption Technologies, 50 Loyola of Los Angeles Law Review (2017), 765 (791); Bunzel, Heide, Erkenntnisgewinn aus konzelierten Daten. Zur
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chen Organe nicht mehr die Verschlüsselung brechen können, dann gibt es nur zwei Optionen, an digitalen Klartext zu kommen: (1) der Verdächtige muss entweder gezwungen werden, die Zugangscodes zu nennen, bzw. selbst die Dateien entschlüsseln und liefern; oder (2) die Verschlüsselung muss durch die Anwendung von Behelfslösungen (workarounds) umgangen werden. Die erfolgreichste Umgehungstaktik besteht darin, einen Defekt oder eine Schwachstelle in der Verschlüsselungssoftware auszunutzen, um Zugang zum Klartext zu erhalten während das Gerät benutzt wird, d. h., bevor der Text verschlüsselt wird, also durch Hacking.4 Die Schwachstelle kann vom TK-Provider in die Software eingebaut werden, eine sog. Hintertür, die dann im Fall einer richterlichen Anordnung geöffnet werden kann, um an ermittlungserhebliche Texte zu kommen. Behörden können auch heimlich in das Haus oder Büro des Verdächtigen eindringen und ein Gerät wie einen „Keylogger“ am Computer fixieren, um z. B. das Passwort beim Eintippen überwachen zu können sowie andere Kommunikation bevor eine Verschlüsselung stattfindet.5 Bis vor kurzem haben Ermittlungsorgane einen ziemlichen Erfolg beim Gebrauch von Workarounds gehabt,6 und es war daher nicht notwendig, den Verdächtigen zu zwingen, bei der Entschlüsselung mitzuwirken. Aufgrund der verbesserten Verschlüsselungstechnologie aber versucht der Überwachungsstaat jetzt immer mehr, entweder die IT-Kunden zu zwingen, ihre digitalen Texte bzw. Gespräche selbst zu entschlüsseln, oder er versucht, die TK-Provider zu zwingen, entweder eine Hintertür in die Systeme einzubauen oder überhaupt eine Verschlüsselung zu verbieten. Als Ergebnis dieser Versuche, gibt es inzwischen interessante Rechtsprechung, die die Verfassungsmäßigkeit der Zwangsentschlüsselung thematisiert. Ich werde im Folgenden die US-amerikanische Rechtsprechung und Literatur zur Zwangsentschlüsselung mit der Diskussion in Deutschland und mit den Gesetzen und der Rechtsprechung in anderen Ländern, die sich mit dem Problem befasst haben, vergleichen. In den USA dreht sich die Diskussion um den IV. Zusatzartikel der Bundesverfassung, der das Volk gegen unverhältnismäßige Durchsuchungen Verpflichtung einer Entschlüsselung kryptografisch gesicherter Daten zum Zwecke der Erkenntnis- und Beweisgewinnung im Strafverfahren, Berlin 2011, S. 95; Liebig, Britta Maria, Der Zugriff auf Computerinhaltsdaten im Ermittlungsverfahren. Hamburg 2015, S. 126. 4 Kerr, Orin S./Schneier, Bruce, Encryption Workarounds, 106 Georgetown Law Journal (2016), 989 (991). 5 Zu den Gefahren der Online-Durchsuchung, Keylogging und Screen/Application Shots s. Roggan, Frederik, Die strafprozessuale Quellen-TKÜ und Online Durchsuchung: Elektronische Überwachungsmaßnahmen und Risiken für Beschuldigte und die Allgemeinheit, Strafverteidiger 2017, 821 (825). Zur Geschichte und Häufigkeit des Gebrauchs von Keyloggern: Cohen, Aloni/Park, Sunoo, Compelled Decryption and the Fifth Amendment: Exploring the Technical Boundaries, 32 Harvard Journal of Law and Technology (2018), 169 (213 – 13). 6 In den USA haben Ermittlungsbeamten laut Kerr/Schneier (Fn. 4), 989 (991) in ungefähr der Hälfte der Fälle und laut Sacharoff, Laurent, Unlocking the Fifth Amendment: Passwords and Encrypted Devices, 87 Fordham Law Review (2018), 203 (209) „in den meisten Fällen“ Erfolg durch „workarounds“. Siehe auch Bunzel (Fn. 3), S. 42 – 43.
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schützt und einen begründeten Verdacht und einen Richtervorbehalt erfordert, und um den V. Zusatzartikel, der u. a. den Schutz von nemo tenetur gewährleistet, d. h. das Privileg, nicht gezwungen zu werden, gegen sich selbst auszusagen. Ich werde Analogien zu anderen herkömmlichen Methoden, selbstinkriminierende Aussagen eines Verdächtigen zu erwirken, ziehen und hierbei näher betrachten: das Verhör, die Durchsuchung, die Überwachung privater Gesprächen und die Vorladung (subpoena). Historisch gesehen konnten Ermittlungsbeamte immer Mitbürger und juristische Personen verpflichten, bei der Strafverfolgung von Dritten mitzuwirken. In allen TKÜ-Gesetzen werden die Service Providers zur Mithilfe beim Abhören von Telefongesprächen verpflichtet. Hier spielt nemo tenetur keine Rolle. In diesem Beitrag werde ich mich aber ausschließlich mit der Verpflichtung Verdächtiger, ihre eigenen Dateien zu entschlüsseln, befassen.
II. Zwangsmaßnahmen im Ermittlungsverfahren, die Zugang zu selbstinkriminierenden Aussagen ermöglichen 1. Die Analogie zum Verhör Früher konnte man einen Verdächtigen peinigen, um die zu einer Verurteilung notwendigen Informationen in schriftlicher oder mündlicher Form zu erlangen. Dies ist natürlich heute nicht mehr der Fall. Das Schweigerecht (nemo tenetur), sowie völkerrechtliche Verträge verbieten die Folter, sogar wenn sie als präventive Maßnahme viele Menschenleben retten könnte. Hier kann man von einem absoluten Beweiserhebungsverbot sprechen. Aber gibt es wirklich absolute Verbote? In den USA sowie in Deutschland gibt es Stimmen die behaupten, dass sogar Folter akzeptabel sein könnte, wenn es sich um eine „tickende Zeitbombe“ handelt, die das Leben vieler Menschen gefährdet.7 Der IV. und V. Zusatzartikel der US-Verfassung sind klassische gegen den Staat ausgerichtete Abwehrrechte und wenn die Gerichte einen Verstoß gegen sie feststellen, werden die dadurch direkt oder indirekt erlangten Beweismittel grundsätzlich als unverwertbar erklärt, so lange der Ermittlungsbeamte nicht etwa in „good faith“ agiert hatte.8 In den meisten europäischen Staaten aber ist ein Grundrechtsverstoß nur ein Faktor, der gegen andere abgewogen werden darf, bevor die Frage eines Beweisverwer7 S. dazu Bunzel (Fn. 3), S. 332 – 36; Dershowitz, Alan, Want to Torture? Get a Warrant. San Francisco Chronicle, 22. Jan. 2002. 8 Zu Beweisverwertungsverboten bei Verstoß gegen den IV. Zusatzartikel und die Ausnahme für „good faith“ s. Thaman, Stephen C., The U.S. Foreign Intelligence Surveillance Act and the Erosion of Privacy Protection, in: Sieber, Ulrich/Mitsilegas, Valsamis/Mylonopoulos, Christos/Billis, Emmanouil/Knust, Nandor (Hrsg.), Alternative Systems of Crime Control, Berlin 2018, S. 217 (230 – 33).
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tungsverbots entschieden wird. Im Sozialstaat haben der Staat, die Staatsanwaltschaft und das mutmaßliche Opfer auch Rechte, manchmal vom Verfassungsrang, die gegen die des Beschuldigten abgewogen werden können. Ein Faktor, der in Deutschland in die Waagschale gelegt wird, ist die verfassungsmäßige Verpflichtung, eine effektive Strafrechtspflege zu garantieren. Hier kann der Ansatz der „crime control“, in ein Verfassungsprinzip umgemünzt, durchaus höher als der „due process“Grundsatz eingestuft werden, sogar höher als der Schutz althergebrachter Menschenrechte.9 Alle unter Folter entstandene Aussagen oder indirekt gewonnene Beweismittel (Früchte des verbotenen Baumes) sind grundsätzlich unverwertbar. Aber dasselbe gilt laut dem EGMR nicht unbedingt bei grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, die nicht die Qualität von Folter erreicht.10 Und im Vereinigten Königreich11, in Italien, und vielleicht auch in Deutschland, dürfen entscheidungserhebliche gegenständliche Beweismittel verwertet werden, die durch rechtswidrige, gegen Art. 3 EMRK verstoßende, aber nicht als Folter einzustufende Verhörmethoden erlangt worden sind.12 Wenn ein Geständnis in den USA wegen polizeilicher Verhörtaktiken als „unfreiwillig“ eingestuft wird, sogar wegen Betruges, eines Versprechens, Drohungen, usw., die nicht die Schwere eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK erreichen, gilt dennoch die Fernwirkung, die sich auf entscheidungserhebliche gegenständliche Beweismittel erstreckt,13 und sogar auf die Leiche eines Mordopfers wie im Fall Gäfgen.14 Die schwache Fernwirkung von Verstößen gegen nemo tenetur in vielen europäischen Ländern führt leider dazu, dass Ermittlungsorgane theoretisch einen Verdächtigen zwingen könnten, sein Passwort zu offenbaren, und dann trotzdem die entschlüsselten Texte als Beweismittel verwerten könnten. Und sogar wenn die betroffene Person gezwungen wird, selber die Texte zu entschlüsseln, könnten die nichtverwertbaren Texten doch eine Fundgrube von persönlichen Informationen enthalten, die nutzbar sind, um die Ermittlung voranzutreiben und um entscheidungserhebliche gegenständliche Beweismittel zu erlangen. 9 Siehe Packer, Herbert, The Courts, the Police and the Rest of Us, 57 Journal of Criminal Law, Criminology and Political Science (1966), 238 (239) zur klassischen Alternative – „crime control“–„due process“ – im Rahmen der Theorie der Beweisverwertungsverbote. 10 Gäfgen v. Germany, EGMR (GC), No. 22978/05, 1. Juni 2010, § 167. 11 § 76 (5) Police and Criminal Evidence Act. 12 In Italien ist das corpus delicti grundsätzlich immer verwertbar. Dazu Thaman, Stephen C., Balancing Truth Against Human Rights: A Theory of Modern Exclusionary Rules, in: Thaman, Stephen C. (Hrsg.), Exclusionary Rules in Comparative Law, Dordrecht 2013, S. 409 (434 – 35). 13 Elstad v. Oregon, 470 U.S. 298 (1985); United States v. Patane, 542 U.S. 630, 637 – 38 (2004). 14 Brewer v. Williams, 430 U.S. 387 (1977). D. h., solange die Leiche nicht sonst zwingend entdeckt worden wäre. Nix v. Williams, 467 U.S. 431, 446 – 47 (1984) (Doktrin des „inevitable discovery“).
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2. Die Analogie zur Durchsuchungsanordnung Wenn Ermittler den begründeten Verdacht haben, dass sich Schriften oder elektronische Geräte in einer Wohnung oder in einem Büro befinden, die Informationen enthalten, die zur Klärung einer schweren Straftat dienen könnten, dann können sie eine Durchsuchungsanordnung beantragen, die genau beschreibt, welche Informationen beschlagnahmt werden dürfen, und welche Computer oder andere Behälter durchsucht werden können. Sie dürfen auch Gewalt anwenden, um die Tür zu öffnen, wenn der Besitzer ihnen den Zugang verweigert.15 In den Ländern des Common Law hat es einen bedeutenden Paradigmenwechsel hinsichtlich der Durchsuchung nach und der Beschlagnahme von privaten Schriften und Privateigentum gegeben. Im berühmten Fall Entick v. Carrington von 1764 verkündete das Gericht unmissverständlich, dass die Wohnung eines Bürgers nie durchsucht werden darf, um seine persönlichen Schriften oder Papiere zu beschlagnahmen. Der Fall drehte sich um eine Verleumdung des Königs, aber das Gericht betonte, dass die Regel sich auch auf die Ermittlung schwerwiegender Straftaten sowie Mord erstreckt.16 Dieser Ansatz war auch in den USA bis zum Jahre 1967 vorherrschend. Im Fall United States v. Boyd, ein Zivilverfahren, hat der oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten (U.S. Supreme Court, im Folgenden: USSC) entschieden, dass der Staat weder Vollmacht habe, Geschäftsunterlagen herauszufordern noch nach ihnen in einem Privatraum zu suchen, um sie als Beweismittel in einem Strafverfahren zu verwerten. Nur rechtswidrig beschaffte Gegenstände („fruits of crime“), kriminelle Werkzeuge („instruments of crime“) oder gesetzlich verbotene Gegenstände („contraband“) durften das Ziel einer Vorladung (subpoena) oder Durchsuchung sein. Die Beschlagnahme oder Vorladung von persönlichem Eigentum oder Schriften, um sie gegen den Eigentümer in einem Strafverfahren zu verwerten, verstoße nicht nur gegen den IV. Zusatzartikel, sondern auch gegen den V. Zusatzartikel, „die in diesem Sinne (…) fast zusammen fließen.“17 Der V. Zusatzartikel schützte ursprünglich gegen staatlichen Zwang, „Beweismittel gegen sich selbst vorzulegen“, wie es in der Virginia Declaration of Rights von 1776 lautet, statt nur „gegen sich selbst auszusagen“, wie es wörtlich im Zusatzartikel steht.18 Diese sog. „mere evidence rule“ wurde erst 1967 aufgehoben,19 im selben 15
Siehe 18 U.S.C. § 3109. Wilson v. Arkansas, 514 U.S. 927, 931 – 34 (1995). 19 Howell’s State Trials, cite, at 1066 (English Court of Common Pleas) (1764) 17 Boyd v. United States, 116 U.S. 616, 630 (1886). Die Boyd-Doktrin schuf ein „erhabenes, übergreifendes Bollwerk absoluten Schutzes“, Sacharoff (Fn. 6), 203 (204). 18 Auf Grund dieses Wortlautunterschieds, der nicht nur in Virginia sondern auch in 22 anderen Einzelstaaten zu finden ist, könnten diese Staaten die Zwangsentschlüsselung als einzelstaatlich verfassungswidrig erklären, ohne die Rechtsprechung des V. Zusatzartikel zu berücksichtigen. Siehe Rangaviz, David Rasoul, Compelled Decryption and State Constitutional Protection Against Self-Incrimination, 57 American Criminal Law Review (2020), 157 (161 – 62). 16
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Jahr als der USSC festlegte, dass nicht mehr Eigentumsrechte, sondern eine „angemessene Privacyerwartung“ („reasonable expectation of privacy“) ausschlaggebend für den Schutz des IV. Zusatzartikels sei.20 So lange Eigentum (wie ein Computer) oder Schriften aufgrund eines Richtervorbehalts und bei einem begründeten Verdacht21 ohne die Mitwirkung des Verdächtigen beschlagnahmt werden, dürfen sie verwertet werden. Bis zu diesem Paradigmenwechsel hatte es gewisse Ähnlichkeiten zwischen der Rechtsprechung des USSC und des deutschen BGH gegeben. Man denke an die Tagebuch-22 und Tonbandaufnahmeentscheidungen,23 in denen der BGH ein Beweisverwertungsverbot hinsichtlich äußerst persönlicher Schriften etc. anerkannte. Hier erkannte man ein Kernbereich an, der zum Schutz der menschlichen Würde (Art. 1 Abs. 1 GG) und zur Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG ggf. i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) sogar bei begründetem Verdacht und Richtervorbehalt unantastbar sein dürfte. Es ist auch wichtig zu betonen, dass eine Durchsuchungsanordnung eine detaillierte Beschreibung der zu durchsuchenden Orte und der zu beschlagnahmenden Gegenstände enthalten sollte. Die Beamten, die eine Durchsuchung durchführen, dürfen nur da suchen, wo die beschriebenen Gegenstände aufgefunden werden könnten. Wenn es um Schriften oder Papierakten geht, gibt es aber Probleme. Wenn die Ermittlungsbeamten ermächtigt sind, das Büro eines Geschäfts oder einer Rechtsanwaltskanzlei zu durchsuchen, wie können sie das tun, ohne bspw. in alle Akten zu schauen, um die beschriebenen, beschlagnahmbaren Akten zu finden? Bei solchen Durchsuchungen gibt es immer ein Risiko des Herumstöberns („rummaging“), um das beabsichtigte Objekt zu finden, oder eines „Angelausflugs“ („fishing expedition“) nach etwas Neuem. In den USA spricht man hierbei von Maßnahmen der Minimierung („minimization“), um das Herumstöbern und die Suche nach „Zufallsfunden“ zu beschränken. Trotz des Genauigkeitserfordernisses erlauben US-Gerichte oft ausgedehnte Durchsuchungen und Beschlagnahmen, wenn es um Büros, Aktenschränke oder jetzt auch Computer- und andere elektronische Geräte geht.24 Natürlich ist es schwer, Minimierungsmaßnahmen bei einer Festplattendurchsuchung anzuwenden,25 und die US-amerikanischen, wie die deutschen Entscheidungen erlauben den Beamten die Öffnung fast jeder Datei während der Durchsuchung.26 19
Warden v. Hayden, 387 U.S. 294, 295 – 96 (1967). Katz v. United States, 389 U.S. 347, 348 – 61 (1967). 21 Natürlich gibt es auch Ausnahmen für Gefahr im Verzug. 22 BGHSt 19, 325, 326, 327 – 28 (1964). 23 BGHSt 14, 358, 359 – 60, 364 – 65 (1960). 24 Sacharoff (Fn. 6), 203 (214 – 15). 25 Siehe Bunzel (Fn. 3), S. 382. 26 Sacharoff (Fn. 6), 203 (215). In Deutschland, erlaubt das BVerfG eine „erste Sichtung“, um die Kernbereichsrelevanz einer Datei zu prüfen, Bunzel (Fn. 3), S. 352. 20
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Es ist fraglich, ob das vom BVerfG im Jahr 2008 im Online-Durchsuchungsfall artikulierte „Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“ den Internetkonsumenten Schutz gegen ein zu umfangreiches Herumstöbern im Kernbereich bieten kann.27 Das wäre der Fall, „wenn die Eingriffsermächtigung Systeme erfasst, die allein oder in ihren technischen Voraussetzungen personenbezogene Daten des Betroffenen in einem Umfang oder in einer Vielfalt enthalten können, dass ein Eingriff auf das System es ermöglicht, einen Einblick in wesentliche Teile der Lebensentfaltung einer Person zu gewinnen oder gar ein aussagekräftiges Bild der Persönlichkeit zu erhalten.“28 Seit der konzeptuellen Trennung vom IV. und V. Zusatzartikel, gibt es keine Privatbereiche mehr, in die nicht aufgrund eines Richtervorbehalts und bei begründetem Verdacht eingegriffen oder sich eingehackt werden darf. Aber sobald die Ermittler mit verschlüsselten Dateien konfrontiert sind und auch mit Anwendung von Gewalt nicht an den Klartext kommen, verliert die Durchsuchungsanalogie an Relevanz. In diesem Fall benötigen sie die Mitwirkung des Verdächtigen und eine solche Mitwirkung kann nicht bei einer Durchsuchung erzwungen werden. 3. Die Analogie zur Telefonüberwachung Natürlich sind heimlich überwachte Gespräche immer „freiwillig“ und der nemo tenetur-Grundsatz spielt keine Rolle, egal ob die Überwachung telefonisch oder akustisch durchgeführt wird. Die Gespräche sind verwertbar, solange es einen begründeten Verdacht und eine richterliche Anordnung gegeben hat. Die Katz-Entscheidung, gemeinsam mit der am selben Tag veröffentlichten Berger v. New York,29 führten zur Verabschiedung des BundesTKÜ-Gesetz (genannt Title III) im Jahre 1968, das auch die Minimalstandards für einzelstaatliche Überwachungsgesetze festsetzte. In der Zeit vor den 1960er Jahren war die heimliche Überwachung von Telefongesprächen („wiretapping“) grundsätzlich gesetzwidrig gewesen. Der Staat hat aber trotzdem heimlich die Überwachung als präventive Ermittlungsmaßnahme durchgeführt. Sie konnten auch vor der Katz-Entscheidung die gesetzwidrig erlangten Gespräche sowie die indirekt dadurch gewonnenen Beweismittel in einem Strafverfahren verwerten, weil das Abhören trotz Illegalität nicht gegen den IV. Zusatzartikel verstieß, solange die Ermittler nicht einen Hausfriedenbruch begingen, um die Maßnahme durchzuführen.30
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Dass § 100b StPO nicht notwendig ist, siehe Sieber (Fn. 3), S. C 109. Zur Einstufung als verfassungswidrig und als „totalitär“ wegen der unmöglichen Minimierung von Kernbereichsdateien, siehe Roggan (Fn. 5), 821 (827 – 28). 28 BVerfG, 1 BvR 170/07, 570/07 (27. Feb. 2008), NJW 2008, 822, 824 – 25. 29 388 U.S. 41 (1967). 30 Olmstead v. Washington, 277 U.S. 438 (1928).
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Der Widerstand gegen den akustischen „großen Lauschangriff“ in Deutschland dauerte länger an als in den USA, wo er im Title III schon erlaubt worden war. Allmählich aber galt das akustische Abhören nicht als solches als Verstoß gegen den Kernbereich, solange sein Einsatz effektiv minimiert wurde. Natürlich mussten die Ermittler typischerweise in die Wohnung eindringen und die Abhörgeräte installieren, um akustische Gespräche in einer Wohnung zu überwachen. Obwohl Title III das nicht ausdrücklich erlaubte, hat der USSC aber diese Gesetzeslücke gefüllt.31 Gerichte in den USA haben daher auch das Eindringen in Privaträume genehmigt, um einen Key Logger zu installieren.32 Eine Überwachungsanordnung darf aber nicht genutzt werden, um die Kommunikation zwischen einem Verdächtigen und einem Cloud Server abzufangen, auf dem er seinen Text speichert, weil das keine echte Kommunikation zwischen Personen ist, und der Text, der in der Cloud gespeichert ist, kann nicht von Mitarbeitern des ServerDienstleisters gelesen werden, wenn er durchweg verschlüsselt wird.33 4. Die Analogie zur Zwangsvorladung (Subpoena) Der Staat darf auch Dokumente, Akten und andere Gegenstände durch eine Zwangsvorladung (subpoena) anfordern. Eine subpoena ist nicht so eingriffsintensiv wie eine Durchsuchung, die ein Herumstöbern in Dokumenten erleichtert. Aber bei einer subpoena muss die betroffene Person handeln, etwas tun, was bei einer Durchsuchung nicht der Fall ist. Die Person, die eine Zwangsvorladung bekommt, muss nach dem gewünschten Dokument suchen, bestätigen, dass es das betreffende Dokument ist und es dann dem Gericht übergeben. In der Boyd Entscheidung hat der USSC ein weites Verständnis des nemo teneturGrundsatzes vertreten, der auch die Herausgabe persönlicher Schriften umfasste. Im Jahre 1964 erstellte der USSC auch eine Liste der Grundrechtsgüter, die vom nemo tenetur-Prinzip des V. Zusatzartikels geschützt werden sollten. Für die Thematik der Zwangsentschlüsselung sind zwei dieser Grundrechtsgüter hervorzuheben: (1) „dass der Staat den Bürger in Ruhe lässt, bis ein guter Grund erscheint, um ihn zu stören, und dies erfordert, dass der Staat in seinem Wettstreit mit dem Bürger die ganze Bürde auf sich nimmt“; (2) der „Respekt für die menschliche Persönlichkeit und das Recht aller Bürger, … zu einer privaten Enklave, in der er sein Privatleben führen kann.“34
31
United States v. Dalia, 441 U.S. 238 (1979). United States v. Scarfo, 180 F. Supp. 2d 572, 574 (D.N.J. 2001). In Deutschland darf aber nicht eingebrochen werden, um einen Key Logger zu installieren, Roggan (Fn. 5), 821 (822). 33 Sieber (Fn. 3), S. C 107. 34 Murphy v. Waterfront Commission, 378 U.S. 52,55 (1964). Man merkt hier die Nähe zur deutschen Kernbereichsdogmatik. 32
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Aber zwei Jahre später in Schmerber v. California, hat der USSC den Schutz des V. Zusatzartikels eingeengt und erklärt, dass ein wegen betrunkenen Fahrens Verdächtigter keinen Schutz aufgrund von nemo tenetur bei der zwangsmäßigen Blutentnahme genießt. Das Gericht bestimmte, dass der V. Zusatzartikel nur auf „erzwungene Aussagen (testimony)“ anzuwenden ist, und dass Blut, Fingerabdrücke, oder andere physische Tätigkeiten, wie die Teilnahme an einer Gegenüberstellung, nicht „testimonial“ sind und außerhalb der Reichweite des nemo tenetur-Prinzips liegen.35 In Deutschland gibt es auch eine breite und eine enge Auslegung des nemo tenetur- Begriffs. Die breitere sieht nemo tenetur als einen Freiheitsschutz, der mit dem Schutz der menschlichen Würde oder mit dem damit verbundenen Recht auf freie Persönlichkeitsentwicklung zusammenhängt, die engere als einen Aspekt des rechtsstaatlichen „due process“. Je mehr das Schweigerecht als bloße Verfahrensregel eingestuft wird, desto mehr ist ihr Schutz vermutlich gegenüber anderen Interessen von verfassungsmäßigem Rang abwägbar.36 Das BVerfG hat festgestellt, dass das nemo tenetur Prinzip zwar mit dem Schutz der menschlichen Würde und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung verbunden ist, aber dass nemo tenetur nicht dem „unantastbaren Kernbereich“ der Persönlichkeitsentwicklung zuzuordnen ist.37 In einer Serie von Entscheidungen, die mit der Zwangsvorladung bei Steuer- und Geschäftsunterlagen zu tun hatten, hat der USSC klargestellt, dass der Empfänger einer Subpoena keinen Schutz nach dem V. Zusatzartikel hinsichtlich der Inhalte persönlicher oder geschäftlicher Unterlagen hat, weil der Staat ihre Herstellung nicht erzwungen hatte. Das Gericht erkannte aber an, dass einige Aspekte der Tätigkeiten eines Subpoena-Empfängers, die notwendig sind, um die Erfordernisse der Vorladung zu erfüllen, aussagebezogen (testimonial) sind, und daher unter den Schutz des nemo tenetur-Grundsatzes fallen können. Dies ist z. B. der Fall, wenn eine Person einer Vorladung nachkommt, sie durch ihre Tätigkeit klarmacht, dass sie die geforderten Dokumente besitzt, bestätigt, dass sie authentisch sind, und dass sie den gewünschten Dokumenten entsprechen. Das Gericht erkannte aber einen Ausnahmefall an, in der diese nichtverbale Aussagen nicht durch nemo tenetur geschützt sind: nämlich wenn es von vornherein feststeht („is a foregone conclusion“), dass die betroffene Person die Dokumente besitzt. Dies ist z. B. der Fall, wenn Verwaltungsvorschriften die Erstellung und Aufbewahrung solcher Unterlagen verpflichtend vorsehen, oder wenn die betroffene Person (oder andere Zeugen) den Besitz der Dokumente schon bestätigt haben.
35
384 U.S. 757, 761 – 65 (1966) Bunzel (Fn. 3), S. 150 – 59, 228. In den USA erachten einige den V. Zusatzartikel als ein großes Hindernis für eine Entschlüsselungspflicht, andere dagegen nicht; s. Kerr, Orin S., Compelling Decryption and the Privilege Against Self-Incrimination, 97 Texas L. Rev. (2019), 767 (769). 37 Bunzel (Fn. 3), S. 185. 36
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In der aktuellsten Entscheidung dieser Reihe hat der USSC die Lage so formuliert, dass je breiter oder allgemeiner die Kategorien der durch die Subpoena vorzulegenden Dokumente ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass der Staat auf einem „Angelausflug“ unterwegs war, ohne genau feststellen zu können, welche Dokumente die betroffene Person in Wirklichkeit besitzt. Das käme ziemlich nah an das Genauigkeitserfordernis des IV. Zusatzartikels, ohne das die Ausnahme der „foregone conclusion“ nicht festzustellen sei.38 Wichtig bei der höchstrichterlichen Auseinandersetzung mit der Zwangsentschlüsselung ist die Frage, ob die angeordnete Offenbarung eines Passworts mehr der Übergabe eines Schlüssels zu einem Safe ähnelt, oder der Preisgabe der Zahlen, die zur Öffnung eines Kombinationsschlosses notwendig sind. Letzteres würde den Schutz von nemo tenetur implizieren, weil die betroffene Person die „Inhalte ihres Geistes“ nutzen müsste, um die Pflicht zu erfüllen.39 Die herrschende Meinung in den Zwangsentschlüsselungsfällen ist, dass ein Gerichtsbeschluss, das Passwort eines Computers bzw. eines iPhones zu offenbaren, die betroffene Person zwingt, „die Inhalte ihres Geistes“ zu gebrauchen, um das Passwort heraufzubeschwören und dies würde auch zeigen, dass sie den Computer besitzt und die Kontrolle über die darin enthaltenen Dateien ausübt. Die Offenbarung des Passworts wäre der Preisgabe der Zahlen zu einem Kombinationsschloss gleichzustellen.40 Eine leichte Abwandlung dieser Konstellation findet man bei den Gerichtsbeschlüssen, die den Verdächtigen verpflichten, nicht das Passwort zu offenbaren, sondern entweder den Klartext der gesuchten Dateien vorzulegen oder das Passwort einzutippen, ohne es den Ermittlern zu offenbaren. In solchen Fällen führt die Staatsanwaltschaft an, dass die betroffene Person einfach eine Handlung durchführe, ohne „die Inhalte seines Geistes“ zu nutzen. Die Mehrheit der Entscheidungen sehen darin aber keinen Unterschied zu den Fällen, in denen das Passwort selbst herausverlangt wird.41 Um dieses Problem zu umgehen, verspricht die Staatsanwaltschaft manchmal Immunität für den Akt der Entschlüsselung, so dass der Tatrichter nicht erfährt, wie die Dateien entschlüsselt wurden (oder ob diese je verschlüsselt waren).42 Die meisten Gerichte sind jedoch trotzdem der Ansicht, dass die Inhalte
38
United States v. Hubbell, 530 U.S. 27, 34 – 38 (2000). Hier zitiert man eine Sondermeinung von Justice Stevens im Fall von Doe v. United States, 487 U.S. 201, 219 (1988). 40 United States v. Kirschner, 823 F.Supp.2d 665, 669 (E.D. Mich. 2010); People v. Spicer, 125 N.E.3d 1286, 1291 – 92 (Ill. App. 2019). 41 In re Grand Jury Subpoena Duces Tecum Dated March 25, 2011, 670 F.3d 1335, 1346 – 47 (11th Cir. 2012); United States v. Fricosu, 841 F.Supp.2d 1235, 1237 (D. Colo. 2012). 42 Kerr (Fn. 35), 767 (776) spricht sich für diese Lösung aus. 39
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der Dateien nur wegen der erzwungenen Entschlüsselung ans Licht gekommen sind und verbieten ihre Verwertung als „Früchte des verbotenen Baumes“.43 Die Gerichte sind uneins hinsichtlich der Frage, ob ein Gerichtsbeschluss, der eine Person verpflichtet, mit einem Finger-Swipe biometrisch sein digitales Gerät zu entsperren und zu entschlüsseln, gegen den V. Zusatzartikel verstößt. Ungefähr die Hälfte der Gerichte ist der Ansicht, dass dies keinen Verstoß gegen den nemo teneturGrundsatz begründet, weil die Handlung rein physisch ist und keine geistige Arbeit verlangt.44 Die andere Hälfte sieht aber das An„klicken“ doch als „aussagebezogen“ (testimonial) an, weil es zeigt, dass mit dem „Klick“ der Computer und schließlich auch die darin enthaltenen Dateien kontrolliert werden.45 Eine geringe Anzahl an Gerichtsentscheidungen stellt sich auf den Standpunkt, dass es immer ein „foregone conclusion“ ist, dass eine Person, die offensichtlich einen Computer besitzt oder benutzt, auch das Passwort kennt und die Dateien entschlüsseln kann. Weil die Entschlüsselungshandlung daher für den Staat nichts Neues darstelle, läge kein Verstoß gegen nemo tenetur vor.46 Ich folge aber der herrschenden Meinung, dass die Doktrin der „foregone conclusion“ sich nur auf die gesuchten Dateien und nicht auf das Passwort bezieht, das nur eine Art im Geiste vorhandener Schlüssel ist, um Zugang zu den Dateien zu erhalten.47 Es gibt aber auch Programme, die einen abgeschirmten Bereich mit einem besonderen Passwort erstellen, sodass, wenn einer gezwungen wird, seinen Computer zu entschlüsseln, das „Nötigungspasswort“ benutzt werden kann, um Zugang zu einen anderen Bereich zu erhalten, der aber nur harmlose oder leere Dateien enthält.48 Eine solche „deniable encryption“ (bestreitbare Verschlüsselung) macht die „genaue Beschreibung“ der gesuchten Dateien und die Anwendung der Doktrin des „foregone conclusion“ schwieriger.
43 Mit Hinweisen auf: United States v. Hubbell, 530 U.S. 27, 42 – 43 (2000); United States v. Ponds, 454 F.3d 313, 321 (D.C. Cir. 2006). 44 State v. Diamond, 905 N.W.2d 870, 875 – 76 (Minn. 2018); In the Matter of Search of [Redacted] Washington, District of Columbia, 317 F.Supp.3d 523, 536 (D.D.C. 2018); In re White Google Pixel 3 XL Cellphone in a Black Incipio Case 398 F.Supp.3d 785, 793 – 94 (D. Idaho 2019); In the Matter of the Search Warrant Application for [Redacted Text]. 279 F.Supp. 3d 800, 803 – 04 (N.D. Ill. 2019); dazu allgemein Cohen/Park (Fn. 5), 169 (194). 45 In re Application for a Search Warrant, 236 F. Supp. 3d 1066, 1073 (N.D. Ill. 2017); In the Matter of a Search of a Residence in Oakland, California, 354 F.Supp. 3d 1010, 1015 – 16 (N.D. Cal. 2019). 46 Commonwealth v. Gelfgat, 11 N.E. 3d 605, 615 – 17 (Mass. 2014); State v. Stahl, 206 So.3d 124, 136 (Fla. App. 2016); Commonwealth v. Davis, 176 A.3d 869, 876) (Pa. Super. Ct. 2017); United States v. Apple MacPro Computer., 851 F.3d 238, 248 (3d Cir. 2017). Zur Unterstützung dieser Minderheitsposition, siehe Kerr (Fn. 35), 767 (769 – 70, 783). 47 Sacharoff (Fn. 6), 203 (209) unterstützt auch diese Position. 48 Die deniable encryption wurde in Gelfgat und In re Grand Jury Subpoena Duces Tecum Dated March 25, 2011 erwähnt (siehe bereits Fn. 44, 49). Siehe Cohen/Park (Fn. 5), 169 (204 – 05).
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In Kanada weicht man den Schwierigkeiten einer analogen Anwendung der USamerikanischen Grundsätze aus, indem man den nemo tenetur-Grundsatz einfach auf Situationen anwendet, in denen eine Person verpflichtet wird („conscripted“) dem Staat selbstbelastende Beweismittel zu übergeben. Infolgedessen entschied der Quebec Court of Appeal, dass eine Durchsuchungsanordnung, die die betroffene Person zwang, seine Passwörter zu offenbaren, die dann zum Auffinden inkriminierender Beweise führte, gegen den nemo tenetur-Grundsatz verstößt und dass die aufgefundenen Dateien nicht verwerten werden können.49 In der deutschen Literatur wird auch überwiegend angenommen, dass die in § 95 StPO enthaltene und der Subpoena-ähnliche Herausgabepflicht sich nur auf „Gegenstände“ und nicht auf nichtgegenständliche Information wie ein Passwort bezieht und daher nicht als Rechtsbasis für einen Entschlüsselungsbeschluss dienen kann.50 In Deutschland wie in Kanada gelten potentiell selbstinkriminierende Herausgabepflichten als Verstöße gegen den nemo tenetur-Grundsatz, ohne dass man auf Doktrinen wie „testimonial-nontestimonial“ oder „foregone conclusion“ zurückgreifen muss.51
III. Gesetze, die verdächtige Personen zur Entschlüsselung verpflichten Artikel 19 der Cybercrime Convention52 fordert die Vertragsparteien auf, Gesetze zu verabschieden, die den Staat ermächtigen, eine Herausgabepflicht für Service Providers sowie unter Verdacht Stehende einzuführen. Etliche Länder haben tatsächlich Gesetze erlassen, die auch die Verpflichtung von Einzelpersonen zur Entschlüsselung umfassen. Ein Beispiel ist der Regulation of Investigatory Powers Act of 2000 (RIPA) des Vereinigten Königreichs,53 das Service Provider sowie Individuen verpflichtet, Dateien zu entschlüsseln oder die Passwörter zu diesem Zweck freizugeben, wenn in einem Fall Ermittler ermächtigt sind, ein digitales Gerät zu beschlagnahmen und dieses oder ein dadurch erreichbarer Cloudbereich zu durchsuchen. Die einzigen Begrenzungen der Anwendbarkeit dieser Vorschrift sind Notwendigkeit und Verhältnis49
R. v. Boudreau-Fontaine, 2010 Carswell Que 15139, 2010 Carswell Que 5672, 2010 QCCA 1108, 9 Juni 2010, Abs. 39 – 40. 50 Sieber (Fn. 3), S. C 115, C 121; Bunzel (Fn. 3), S. 115 – 19. 51 Bunzel (Fn. 3), S. 225 – 26. Zur Abschaffung der „begrifflich-inhaltlichen Trennung zwischen Selbstbelastungsfreiheit einerseits und Mitwirkungsfreiheit andererseits“ siehe Bunzel (Fn. 3), S. 239. 52 Council of Europe, Convention on Cybercrime, 23 November 2001, https://www.ref world.org/docid/47fdfb202.html. 53 UK Public General Acts. 2000. c. 23, Part III. http://www.legislation.gov.uk/ukpga/2000/ 23/part/III.
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mäßigkeit.54 Die Entschlüsselung muss auch „verhältnismäßig machbar“ (reasonably practicable) sein.55 In 2008 hat der England and Wales Court of Appeal in einem Fall, in dem mutmaßliche Terroristen wegen Verletzung präventiver Freiheitsbeschränkungen („control orders“) und Terrorismusunterstützung angeklagt worden waren, entschieden, dass das Gesetz nicht gegen den nemo tenetur-Grundsatz verstößt.56 Eine Weigerung, den Klartext bei Erlaß eines Entschlüsselungsbeschlusses herauszugeben, wird in Staatssicherheits- oder Kindesmissbrauchsfällen mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren, sonst Freiheitsstrafe bis zwei Jahren geahndet.57 Ein ähnliches Gesetz wurde in Australien Ende 2018 verabschiedet und kam schon in Fällen von Drogenhandel und Kindesmissbrauch zur Anwendung. Die Weigerung einer Entschlüsselungsanordnung nachzukommen, wird mit bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe geahndet.58 §§ 230-1 – 230-5 der französischen StPO erlauben dem Staat, „jegliche natürliche oder juristische Person“ zu verpflichten, dem Staat bei der Entschlüsselung von digitalen Dateien zu helfen. In Irland darf eine Durchsuchungsanordnung die Entschlüsselung oder die Herausgabe von verschlüsselten Texten erzwingen.59 In einigen autoritären Ländern wird Service Providern schlicht verboten, eine End-to-End-Verschlüsselung in ihren Produkten anzubieten. Zu diesen Ländern gehören Russland, Iran, und China.60
54
Laut § 49(2)(b) RIPA muß die Maßnahme der Prävention, der Entdeckung von Kriminalität oder dem Schutz der nationalen Sicherheit bzw. des ökonomischen Wohlstands dienen und sie muss „verhältnismäßig hinsichtlich des Ziels“ sein. Die Information darf nicht durch weniger eingriffsintensive Methoden erlangbar sein. 55 Bei der End-to-End-Verschlüsselung können Service Provider die Dateien selber nicht entschlüsseln. Eine Entschlüsselungs-Aufforderung an Service Provider („technical capacity notice“), die sich auf zukünftige Kommunikationen bezieht, könnte aber zum Einbau einer Hintertür für künftige Entschlüsselungsfälle führen. Vgl. Gonzalez, Olivia, Cracks in the Armor: Legal Approaches to Encryption, University of Illinois Journal of Law, Technology and Policy (2019), 1 (35 – 37). 56 R. v. S(F) and A(S), [2008] EWCA Crim 2177, [2009] 1 Cr. App. R. 18, 250. Das Gericht entschied, dass das Paßwort sowie die Inhalte der betroffenen Computer „unabhängig vom Willen der Beschuldigten zur Zeit des Beschlusses existierten“, und betrachtete das Paßwort wie „den Schlüssel zu einer verschlossen Schublade.“ Ebenda, 258. 57 § 53(5) RIPA. 58 Bienkin, Max, Australia using new decryption powers even before planned review, 8 Feb. 2019, https://phys.org/news/2019–02-australia-decryption-powers.html. 59 § 7(4)(b) Criminal Justice (Offences Relating to Information Systems) Act (2017), http:// www.irishstatutebook.ie/eli/2017/act/11/section/7/enacted/en/html#sec7. 60 Wei, Chen Lin, Where Are Your Papers?: the Fourth Amendment, the Stored Communications Act, the Third-Party Doctrine, the Cloud and Encryption, 65 DePaul Law Review (2016), 1093 (1129 – 30).
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IV. Prävention gegen Repression? Die meisten US-amerikanischen Entscheidungen betreffen Fälle traditioneller repressiver Strafrechtsanwendung: viele davon sind Anklagen wegen Besitzes von Kinderpornographie oder Drogendelikte.61 In solchen Fällen gibt es nie eine Gefahr für Leib oder Leben, wie sie bei Eilkompetenzen oder sonstigen präventive Maßnahmen bestehen können. Es wäre aber denkbar, die Zwangsentschlüsselung und einige von den eingriffsintensivsten Workarounds nur in den Fällen zu erlauben, in denen eine echte Gefahr für die öffentliche Sicherheit zu befürchten ist, beispielsweise bei Terrorismusverdacht. Stimmen in der US-amerikanischen Literatur haben auch angedeutet, dass bei bedeutenden Gefahren für die öffentliche Sicherheit Zwang ausgeübt werden könnte, um Dateien zu entschlüsseln, dass aber die dadurch erlangte Information in einem Strafverfahren nicht verwertbar wäre.62 Wenn aber weniger strenge Standards bei Präventivmaßnahmen als bei gewöhnlichen Strafermittlungen akzeptiert werden, wenn der Schutz der Privatsphäre bzw. der menschlichen Würde im Einzelfall weniger zählt als eine mutmaßliche Sicherheitsgefährdung oder der Anspruch auf eine „effektive Strafjustiz“, dann gerät das System auf Glatteis. Maßnahmen die früher nur präventiv auf Informationsgewinn gerichtet wurden, wurden früher streng von Strafermittlungsmaßnahmen getrennt. Die gewonnen Information durften nicht in Strafverfahren verwertet werden. Wir haben aber in den USA gesehen, wie Überwachungen nach dem 11. September 2001 unter dem Foreign Intelligence Surveillance Act oft ohne Richtervorbehalt auch kriminalrepressive Ziele folgen können und die dadurch erlangten Beweise dann auch verwertet werden dürfen.63
V. Zusammenfassung Ich stimme völlig mit Ulrich Sieber überein, dass der Paradigmenwechsel von repressiv zu präventiv langsam unsere Grundrechte unterminieren wird. Trotz der politischen Schwankungen von links nach rechts, und der aktuellen Popularität in vielen Ländern von populistischen Parteien und Führern, glaube ich nicht, dass die Zukunft unserer Demokratien gefährdet ist. Die zwei gefährlichsten Gefahrenquellen heutzutage, rassistische, einwandererfeindliche neofaschistische oder identitäre Gruppen und islamistische Terroristen gefährden die grundlegende demokratische Ordnung 61 Die meisten verschlüsselten Geräte werden bei der Ermittlung von Fällen von Drogenhandel, Kinderpornographie und Cyberkriminalität beschlagnahmt, unter denen 1,283 allein in Manhattan in 2017. Sacharoff (Fn. 6), 203 (210). 62 Sacharoff (Fn. 6), 203 (240 – 41). Ähnlich Bunzel (Fn. 3), S. 230, 364, 410 – 11. 63 Thaman, Stephen C., The Use of Information and Communications Technology in Criminal Procedure in the USA, in Viano, Emilio C. (Hrsg.), Cybercrime, Organized Crime and Societal Responses, Cham 2017, S. 103 (123 – 24).
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weder in Europa noch in den USA. Natürlich müssen sie mit hocheffektiven präventiven und repressiven Ermittlungsmaßnahmen bekämpft werden. Aber der Schaden, den diese Akteure verursachen, ist nicht unbedingt schlimmer, als der der allzu häufigen willkürlichen Schulschützen in den USA, die oft kein politisches Programm haben. Es ist aber Zeit, eine Grenze zu ziehen und das Recht auf IT-Sicherheit abzusichern. Unsere Kommunikation mit anderen und unsere Selbstkommunikation,64 die wir in Tagebüchern oder in der Cloud65 speichern, sollte so lange unantastbar sein, wie wir willens sind, sie geheimzuhalten. Laurent Sacharoff hat Recht, wenn er meint, die Debatte, die durch die Verschlüsselung entzündet wurde, führt uns wieder zu den gemeinsamen in Boyd erkannten Wurzeln der IV. und V. Zusatzartikels, bei denen „Privacy“schutz und der Schutz der menschlichen Würde und Persönlichkeit sowie des nemo tenetur-Grundsatzes „zusammenfließen“.66 Eine Zwangsentschlüsselung sollte daher als verfassungswidrig eingestuft werden.67 Der Staat hat einen unheimlichen Durst nach Informationen über seine Bürger. Das geheime Programm der National Security Agency, das durch Edward Snowden und anderen in seinem ganzen Ausmaß entblößt wurde, zeigt, dass wir Bürger in der globalen Informationsgesellschaft alle potentielle Verdächtige oder Personen von Interesse sind. Darin liegt eine tiefgreifende Erosion der Unschuldsvermutung. Leider geht die deutsche Kernbereichstheorie meines Erachtens nicht weit genug, um die Privatsphäre und die Persönlichkeit effektiv zu schützen. Tagebuchauszüge, die sonst zum Kernbereich gehören, werden zulässige Beweismittel, wenn eine besonders schwere Straftat angeklagt wird.68 Äußerungen, etwa in Tagebüchern, oder zu Ehegatten in der Wohnung fallen aus dem Kernbereichsschutz, wie ich ihn verstehe, heraus, sobald sie mit der Planung oder Verdeckung einer erheblichen Straftat zu tun haben, und dadurch in die Sozialsphäre gelangen.69 Kurz gesagt, wenn die Äußerungen in einem Strafverfahren entscheidungserheblich und daher für die Ermittler überhaupt interessant sind, dürfen sie zur Kenntnis genommen und als Beweismittel benutzt werden. Man kann auch verallgemeinernd sagen, dass sich gute gegenständ64 Sogar Selbstgespräche in einem Auto können zum Kernbereich des Persönlichkeitsschutzes gehören, s. BGH v. 22. Dez. 2011 – 2 StR 509/10, BGHSt 57, 71. 65 Für Sieber ist ein persönlicher Cloudspeicher als „virtueller Raum“ eine „Bedingung für die freie digitale Entfaltung der Person“ genauso viel wie die Wohnung, s. Sieber (Fn. 3), S. C 107. 66 Sacharoff (Fn. 6), 203 (205 – 06). Wenn ein Paßwort dem Staat zwangsmäßig in die Hände kommt, öffnet es „die Gesamtheit des Online-Lebens“ der betroffenen Person. Sacharoff (Fn. 6), 203 (216). 67 Gegen eine Paßwortherausgabepflicht für Beschuldigte oder aussageverweigerungsberechtigte Personen, Sieber (Fn. 3), S. C 122. 68 BGHSt 19, 325, 331 – 34; BGHSt 34, 397. Zur Abwägbarkeit der zum „unantastbaren Kernbereich“ gehörenden Äußerungen s. Bunzel (Fn. 3), S. 235. 69 Siehe BVerfGE 109, 279 (2004), § 138, und Diskussion bei Bunzel (Fn. 3), S. 319, 358 – 59.
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liche Beweismittel (das corpus delicti, die Drogen, die Waffe) in den meisten europäischen Ländern immer verwerten lassen, solange sie nicht durch Folter ans Licht gekommen waren.70 Ein effektiver Kernbereichsschutz muss aber dichter und mit einem effektiven Beweisverwertungsverbot verbunden sein.
70
Thaman (Fn. 12), S. 409 (439).
VII. Strafrecht und Sicherheitsrecht
Verfassungsschutz in der föderalen Ordnung Von Jan-Hendrik Dietrich
I. Föderaler Verfassungsschutz und sicherheitsrechtliche Perspektive Die Konkretisierung der staatlichen Sicherheitsgewährleistungspflicht stellt die Gesetzgeber in Bund und Ländern vor große Herausforderungen. Um Gefährdungen von Bürgerinnen und Bürger wirksam zu begegnen, ist es erforderlich, den Sicherheitsbehörden effektive gesetzliche Befugnisse an die Hand zu geben, ohne individuelle Freiheitsverbürgungen zum Opfer zu bringen. Namentlich das Sicherheitsrecht ist die Regelungsressource für Konfliktschlichtungsformeln solchen Anspruchs. Das Sicherheitsrecht bezweckt, Freiheit und Sicherheit zu einem vertretbaren Ausgleich zu bringen. Gleichzeitig bildet es das Fundament der deutschen Sicherheitsarchitektur, indem es etwa Zuständigkeiten der Akteure festschreibt und die Art und Weise ihrer Kooperation festlegt. Das Sicherheitsrecht begegnet dynamischen, grenzüberschreitenden, digitalen oder hybriden Bedrohungen integrativ: Regelungsoptionen verschiedener Rechtsgebiete (z. B. Polizeirecht und Strafprozessrecht) können aufeinander abgestimmt, mögliche Grundrechtseingriffe genau dosiert werden. Dass die „Perspektive des Sicherheitsrechts“1 inzwischen mancherorts überzeugt, ist nicht unwesentlich Ulrich Sieber zu verdanken. In der Strafrechtswissenschaft geht maßgeblich auf ihn die Beobachtung zurück, dass es einer weiter reichenden Perspektive bedürfe, die nicht nur das Strafrecht, sondern auch die Gesamtentwicklung aller einschlägigen Rechtsregime im Bereich der Kriminalitätskontrolle in den Blick nehmen müsse.2 Das Strafrecht vollzieht in diesem Sinne einen Paradigmenwechsel, indem es sich im Falle komplexer Kriminalität von seiner klassischen repressiven Ausrichtung hin zu einem präventiv angelegten Instrument wandelt, das mit verwaltungsrechtlichen und zivilrechtlichen Regelungsregimen verwächst und
1
Gärditz, GSZ 2017, 1 (1 ff.); kritisch Gusy, in: Dietrich/Gärditz (Hrsg.), Graulich-FS, 2019, S. 9 (11 ff.). 2 Vgl. Sieber, in: Tiedemann/Sieber/Satzger/Burchard/Brodowski (Hrsg.), Die Verfassung moderner Strafrechtspflege, Erinnerung an Joachim Vogel, 2016, S. 351 (352).
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eine neue moderne Sicherheitsarchitektur bildet.3 In der Verwaltungsrechtswissenschaft werden die Überlegungen Siebers durch verwandte Ansätze bestätigt.4 Auch dort wird die weitgehende Abstinenz der Rechtswissenschaft beklagt, soweit es darum geht, die Vielschichtigkeit der Regelungsmaterien, die Vielschichtigkeit der Regulierungsinstanzen und die Vielfalt der Akteure zu berücksichtigen.5 Es nimmt nach alledem nicht Wunder, dass die sicherheitsrechtliche Perspektive im Allgemeinen Zuspruch erhält und mit Ulrich Sieber im Besonderen verbunden ist. Das von Ulrich Sieber über sechszehn Jahre hinweg geleitete Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg verfügt konsequenterweise seit 2019 über eine neue Abteilung zum „Recht der öffentlichen Sicherheit“; seit 2017 erscheint im C.H. Beck Verlag die vom Jubilar gemeinsam mit anderen Mitstreitern herausgegebene „Zeitschrift für das Gesamte Sicherheitsrecht“ (GSZ). Die nachfolgenden Ausführungen nehmen ein Problem des Sicherheitsrechts in den Blick, das seit einigen Jahren beständig Gegenstand parlamentarischer und fachlicher Auseinandersetzungen gewesen ist.6 Angesprochen ist die Sicherheitsgewährleistung in der föderalen Ordnung der Bundesrepublik. Die z. T. erheblich unterschiedliche Ausgestaltung gesetzlicher Aufgaben und Befugnisse der Sicherheitsbehörden durch siebzehn Gesetzgeber gilt manchem inzwischen als „Sicherheitsrisiko“.7 In der Politik sind zunehmend Rufe nach einer umfassenden Neuausrichtung der deutschen Sicherheitsarchitektur zu vernehmen.8 Während in Bezug auf das Polizeirecht im Schrifttum kontrovers über Wege einer Vereinheitlichung behördlicher Rechtsgrundlagen – etwa mit Hilfe eines Musterpolizeigesetzes – diskutiert wird9, bleibt eine entsprechende wissenschaftliche Befassung mit dem Verfassungsschutz-
3
Vgl. Sieber, in: Tiedemann u. a., Vogel-GS (Fn. 2), S. 351 (354 ff.); noch differenzierter Puschke, in: Goeckenjan/ders./Singelnstein (Hrsg.), Eisenberg-FS, 2019, S. 695 (710 ff.); warnend Hassemer, StV 2006, 321 (321 ff.). 4 Statt vieler siehe Graulich, DVBl. 2013, 1210 (1210 ff.); Bäcker, Kriminalpräventionsrecht, 2015, S. 7 ff.; Kugelmann, Verw 47 (2014), 25 (26). 5 In diesem Sinne ausdrücklich Gusy, JBÖS 2016/17, 338 (339). 6 Siehe dazu etwa BT-Drs. 17/14600 v. 22. 08. 2013, S. 862 ff.; BT-Drs. 18/12950 v. 23. 06. 2017, S. 1176 ff.; Bund-Länder-Kommission Rechtsterrorismus, Abschlussbericht, 2013, https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2013/05/kommission-rechtsterro rismus.html (Stand: 14. 01. 2020), S. 353 ff.; Jost, Abschlussbericht des Sonderbeauftragten des Senats für die Aufklärung des Handelns der Berliner Behörden im Fall AMRI, 2017, https://www.berlin.de/sen/inneres/presse/weitere-informationen/artikel.638875.php (Stand 14. 01. 2020), S. 65 ff. 7 So z. B. Schulz, DRiZ 2017, 53 (53); Walter, Kriminalistik 2019, 243 (245 ff.); Ebert, LKV 2018, 399 (401 ff.). 8 Siehe z. B. de Maizière, Leitlinien für einen starken Staat in schwierigen Zeiten, FAZ vom 03. 01. 2017, https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/thomas-de-maiziere-leitlinien-fuer-ei nen-starken-staat-in-schwierigen-zeiten-14601852.html (Stand: 14. 01. 2020). 9 Siehe etwa Kaiser/Struzina, ZG 2018, 111 (111 ff.); Hofmann, ZG 2019, 193 (213 ff.); Graulich, GSZ 2019, 9 (9 ff.).
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recht des Bundes und der Länder bislang weitgehend aus10. An dieser Stelle setzt dieser Beitrag an. Im Folgenden soll zunächst der verfassungs- und verwaltungsrechtliche Rahmen für die föderale Wahrnehmung des Verfassungsschutzauftrags herausgearbeitet werden (dazu unter II. und III.). Dies bereitet den Boden, um sodann Fehlentwicklungen (unter IV.) und Lösungsoptionen (unter V.) zu erörtern.
II. Verfassungsschutz als Staatsaufgabe Den Staat trifft als verfasste Friedens- und Ordnungsmacht die verfassungsrechtliche Pflicht, die Bevölkerung vor Gefahren für Leib, Leben und Freiheit zu schützen.11 Nichts anderes folgt aus grundrechtlichen Schutzpflichten. Untrennbar hiermit verbunden – im Sinne einer conditio sine qua non – ist die Gewährleistung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sowie des Bestandes und der Sicherheit des Bundes oder eines Landes.12 Letztere Aufgabe wird durch das Grundgesetz in Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 lit. b GG als „Verfassungsschutz“ definiert und als Gesetzgebungsaufgabe zugewiesen.13 Art. 87 Abs. 1 S. 2 GG konkretisiert in diesem Zusammenhang die Vollzugsebene. Danach kann durch Bundesgesetz eine Zentralstelle zur Sammlung von Unterlagen für Zwecke des Verfassungsschutzes und des Schutzes gegen Bestrebungen im Bundesgebiet, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden, eingerichtet werden. Das BVerfG entnimmt dem Zusammenspiel der Kompetenzvorschriften eine materielle Direktive für die durch das Gesetz festzulegenden Aufgaben und Befugnisse der einzurichtenden Zentralstelle: „Für die Aufgabe des Verfassungsschutzes sieht das Grundgesetz ausdrücklich eine eigene Institution vor, das Verfassungsschutzamt (…). Es kann nicht der Sinn der Verfassung sein, zwar den verfassungsmäßigen obersten Organen im Staat eine Aufgabe zu stellen und für diesen Zweck ein besonderes Amt vorzusehen, aber den verfassungsmäßigen Organen und dem Amt die Mittel vorzuenthalten, die zur Erfüllung ihres Verfassungsauftrags nötig sind“14.
Der nachrichtendienstliche Verfassungsschutz wird demgemäß durch das Grundgesetz als Staatsaufgabe vorgegeben15 und institutionell garantiert.16 Forderungen 10 Zur Zentralisierung von Verfassungsschutzaufgaben allerdings Gärditz, AöR 144 (2019), 81 (81 ff.). 11 Vgl. BVerfGE 120, 274 (319). 12 Siehe BVerfGE 115, 320 (346 f.); 125, 260 (330); 141, 220 (267 f.). 13 Näher Gusy, in: Dietrich/Eiffler (Hrsg.), Handbuch des Rechts der Nachrichtendienste, 2017, IV § 2 Rn. 14. 14 BVerfGE 30, 1 (20). 15 Hinsichtlich dieses Befunds herrscht wohl inzwischen Einigkeit. Siehe nur Badura, in: BfV (Hrsg.) Verfassungsschutz in der Demokratie, 1990, S. 27 (27 f.); Gusy, in: Dietrich/ Eiffler, HdbRdN (Fn. 13), IV § 2 Rn. 14.
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nach einer Abschaffung des Verfassungsschutzes17 lassen sich mit dieser Verfassungsentscheidung für eine wehrhafte Demokratie nicht vereinbaren.18
III. Der föderale Verfassungsschutz 1. Verfassungsschutz im Kompetenzgefüge des GG Die Wahrnehmung der Staatsaufgabe Verfassungsschutz wird durch das Grundgesetz dem Bund und den Ländern gemeinsam übertragen. Aus Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 lit. b GG ist abzulesen, dass dem Bund eine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz in Bezug auf die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder auf dem Gebiet des Verfassungsschutzes zukommt.19 Den Ländern verbleibt dadurch in Verfassungsschutzangelegenheiten Raum zu einer eigenen gesetzlichen Ausgestaltung auf der Grundlage von Art. 70 Abs. 1 GG. Allerdings ist die Bundeszuständigkeit durchaus weit zu verstehen. „Zusammenarbeit“ i.S.v. Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 lit. b GG meint mehr als Amtshilfe.20 Das BVerfG versteht „Zusammenarbeit“ als „auf Dauer angelegte Form der Kooperation, die die laufende gegenseitige Unterrichtung und Auskunftserteilung, die wechselseitige Beratung sowie gegenseitige Unterstützung und Hilfeleistung in den Grenzen der je eigenen Befugnisse umfasst und funktionelle und organisatorische Verbindungen, gemeinschaftliche Einrichtungen und gemeinsame Informationssysteme erlaubt“21. Ein kooperativer Verfassungsschutz in diesem Sinne gestattet dem Bund, die Länder zur Einrichtung von Verfassungsschutzbehörden zu verpflichten (so § 2 Abs. 2 BVerfSchG).22 Außerdem setzt eine reibungslose und wirksame Zusammenarbeit voraus, dass die Verfassungsschutzbehörden über einen Mindestbestand an gemeinsamen Aufgaben und Befugnissen verfügen.23 §§ 3, 4 BVerfSchG adressieren demgemäß „Aufgaben der Verfassungsschutzbehörden“ an Einrichtungen aus Bund und Ländern. Die Regelungskompetenz des Bundes reicht aber nicht so weit, den Ländern die Ergänzung des Aufgabenkatalogs durch Landesrecht zu versagen. Anders als im Bereich der Strafverfolgung werden nur ein16 Vgl. Heintzen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Begr.), GG, 7. Aufl. 2018, Art. 73 Rn. 115; Lindner/Unterreitmeier, DÖV 2019, 165 (167); Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2. Aufl. 1984, S. 223; a.A. Gärditz, AöR 144 (2019), 81 (114). 17 Siehe dazu etwa Wehner, FAZ v. 17. 02. 2019, https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/ afd-chef-alexander-gauland-will-verfassungsschutz-abschaffen-16046113.html (Stand: 14. 01. 2020). 18 So schon Gröpl, Die Nachrichtendienste im Regelwerk der deutschen Sicherheitsverwaltung, 1993, S. 65. 19 Zur historischen Entwicklung siehe ausführlich Gärditz, AöR 144 (2019), 81 (92 ff.). 20 Vgl. Heintzen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG (Fn. 16), Art. 73 Rn. 110. 21 BVerfGE 133, 277 (317 f.). 22 Vgl. SächsVerfGH NVwZ 2005, 1310 (1311); Droste, Handbuch des Verfassungsschutzrechts, 2007, S. 46; Wittmoser, Die Landesämter für Verfassungsschutz, 2011, S. 42 f. 23 Vgl. Stern, Staatsrecht (Fn. 16), S. 223.
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geschränkt Befugnisse der Verfassungsschutzbehörden der Länder durch Bundesgesetz festgelegt. Lediglich §§ 1 Abs. 1, 3 und 9 Abs. 2 Nr. 2 G10 und § 8b BVerfSchG enthalten unmittelbare Rechtsgrundlagen für die Landesbehörden. Ergänzend hierzu erlaubt die Verwaltungskompetenz des Bundes nach Art. 87 Abs. 1 S. 2 GG die Einrichtung von sog. „Zentralstellen“. Auch sie sind Teil der „elastischen Kooperationsstrukturen“24 zwischen Bundes- und Landesbehörden, die einfachgesetzlich konkretisiert werden. Hierzu zählen Regelungen über Koordinationsrechte und -pflichten sowie gesetzliche Verpflichtungen zum wechselseitigen Informationsaustausch, wie sie insbesondere in §§ 5, 6 BVerfSchG niedergelegt sind. Herzstück dieser – verfassungsrechtlich ausdrücklich vorgeschriebenen – atypischen Mischverwaltung ist das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), dem nach den genannten Vorschriften Zentralstellenfunktion zukommt. Der Blick auf §§ 8 ff. BVerfSchG zeigt allerdings, dass der Gesetzgeber das BfV mit umfangreichen (eigenen) Befugnissen ausgestattet hat, die über die koordinierende Funktion weit hinausgehen. Überwiegend wird hierzu vertreten, dass die Verwaltungskompetenz nach Art. 87 Abs. 1 S. 2 GG im Zusammenspiel mit Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 lit. b GG auch eigene operative Befugnisse einschließe. Begründet wird dies damit, dass die Koordinierungsfunktion einer Zentralstelle nur insoweit Sinn mache, wie auf Seiten des Bundes selbst eine Verwaltungskompetenz für ein operatives Tätigwerden bestünde.25 Dagegen werden teilweise Bedenken erhoben.26 Tatsächlich überdehnt die wohl herrschende Ansicht den Wortlaut des Art. 87 Abs. 1 S. 2 GG. Der Begriff der Zentralstelle stellt erkennbar die Koordinationsaufgabe in den Mittelpunkt. In Abgrenzung dazu werden Verwaltungseinrichtungen mit eigenen operativen Befugnissen in der Systematik von Art. 87 GG als „Behörden“ bezeichnet („Bundesgrenzschutzbehörden“, „Bundesoberbehörden“).27 Auch eine historische Auslegung nährt Zweifel daran, eigene operative Befugnisse der Zentralstelle aus Art. 87 Abs. 1 S. 2 i.V.m. Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 lit. b GG abzuleiten.28 Das alles vermag jedoch den Blick nicht darauf zu verstellen, dass eigenständige Befugnisse des BfVauch auf Art. 87 Abs. 3 S. 1 GG gestützt werden können.29 Danach ist dem Bund erlaubt, für Angelegenheiten, für die ihm die Gesetzgebung zusteht, selbständige Bundesoberbehörden zu errichten. In diesem Zusammenhang kann nun Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 lit. b GG in Stellung gebracht werden, denn die dort verortete Koordinationsaufgabe impliziert, dass es um die Zusammenarbeit 24
Gärditz, AöR 144 (2019), 81 (88). Vgl. Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG (Fn. 16), Art. 87 Rn. 46; Hecker, in: Dietrich/Eiffler, HdbRdN (Fn. 13), III § 2 Rn. 16; Gärditz, AöR 144 (2019), 81 (102 ff.); Unterreitmeier, GSZ 2018, 1 (2). Die Auffassung hat wohl auch die frühe Rspr. des BVerfG auf ihrer Seite, siehe BVerfGE 30, 1 (20). 26 Im Wesentlichen von Bäcker, GSZ 2018, 213 (215 f.). 27 Siehe ausführlich Abbühl, Der Aufgabenwandel des Bundeskriminalamtes, 2010, S. 97 f. 28 Näher Gusy, DVBl. 1993, 1117 (1122 f.). 29 So bereits Gröpl, Nachrichtendienste (Fn. 18), S. 133 ff.; ähnlich auch Gärditz, AöR 144 (2019), 81 (107 ff.); Gusy, in: Dietrich/Eiffler, HdbRdN (Fn. 13), IV § 1 Rn. 47. 25
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gleichberechtigter Partner geht. Demgemäß ist die Bezeichnung des BfV gem. § 2 Abs. 1 BVerfSchG als Bundesoberbehörde auch kein Fall einer falsa demonstratio30. Soweit der Behörde gesetzlich Koordinationsrechte und -pflichten zugewiesen werden, findet sich in Art. 87 Abs. 1 S. 2 GG eine Kompetenzgrundlage; soweit eigenständige Befugnisse gem. §§ 8 ff. BVerfSchG und § 3 G10 übertragen werden, gründet dies auf Art. 87 Abs. 3 S. 1 GG.31 2. Verfassungsschutzrecht des Bundes und der Länder Im beschriebenen verfassungsrechtlichen Rahmen sind Rechtsgrundlagen für die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder entstanden. Auf Bundesebene besteht seit 1950 das „Gesetz über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes und über das Bundesamt für Verfassungsschutz“ (BVerfSchG)32. Kam dem Gesetz bis zur umfassenden Neuregelung im Jahr 1990 weitestgehend organisationsrechtlicher Charakter zu, hat es sich – v. a. der Rechtsprechung des BVerfG zum Recht der informationellen Selbstbestimmung geschuldet33 – inzwischen zu einem modernen Eingriffsgesetz entwickelt. Deutliche Aufgaben- und Befugniserweiterungen erfährt das BVerfSchG noch einmal durch das Terrorismusbekämpfungsgesetz (TBG) vom Januar 200234 und das Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz (TBEG) vom Januar 200735. Dabei führt Art. 22 TBG erstmals Elemente „lernenden Sicherheitsrechts“36 in das Gesetz ein: zum einen werden neue behördliche Ermächtigungen zeitlich befristet, zum anderen wird eine Evaluation derselben vor Ablauf der Befristung festgelegt. Die nächste Evaluation der Befugnisse muss vor dem 10. 01. 2021 erfolgen. Große Bedeutung für die Zusammenarbeit aller Verfassungsschutzbehörden hatte zuletzt die Gesetzesnovelle vom 17. 11. 201537. Sie ist als Reaktion auf die Aufarbeitung des „NSU-Komplexes“ zu sehen, in deren Rahmen gravierende Defizite beim Informationsaustausch
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So aber noch Dittmann, Die Bundesverwaltung, 1983, S. 234. So im Ergebnis Gröpl, Nachrichtendienste (Fn. 18), S. 149. 32 Gesetz über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Verfassungsschutzangelegenheiten und über das Bundesamt für Verfassungsschutz vom 20. 12. 1990, BGBl. I S. 2954, 2970, zuletzt geändert durch G. v. 30. 06. 2017, BGBl. I S. 2097. 33 Ausgangspunkt des modernen Verfassungsschutzrechts ist die Volkszählungsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts, BVerfGE 65, 1 ff. 34 Gesetz zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus (TBG) vom 09. 01. 2002, BGBl. I 2002, S. 361. 35 Gesetz zur Ergänzung des Terrorismusbekämpfungsgesetzes vom 05. 01. 2007, BGBl. I 2007, S. 2, zuletzt geändert durch G. vom 03. 12. 2015, BGBl. I 2015, S. 2161. 36 Siehe dazu die Beiträge in Gusy (Hrsg.), Evaluation von Sicherheitsgesetzen, 2014. 37 Gesetz zur Verbesserung der Zusammenarbeit im Bereich des Verfassungsschutzes vom 17. 11. 2015, BGBl. I 2015, S. 2161. 31
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innerhalb des Verfassungsschutzverbundes zutage traten.38 Mit der Novelle wurde insbesondere die Zentralstellenfunktion des BfV gestärkt. Auch die Bundesländer haben von ihrer Gesetzgebungskompetenz gem. Art. 70 Abs. 1 GG Gebrauch gemacht und eigene Landesverfassungsschutzgesetze (LVerfSchG) erlassen. Frühe Landesregelungen (z. B. 1950 in Bayern39) waren materiell weitgehend identisch mit dem Bundesrecht.40 Nachrichtendienstliche Befugnisse wurden aus dem gesetzlich niedergelegten Auftrag abgeleitet, ohne ausdrücklich geregelt zu werden.41 Die Volkszählungsentscheidung des BVerfG sorgte dafür, dass es dabei nicht blieb; Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung mussten nun auf eine normenbestimmte und normenklare gesetzliche Grundlage gestellt werden.42 Die Landesgesetzgeber waren gefragt. Die heute bestehenden, oft monierten Unterschiede zwischen den einzelnen LVerfSchG und im Verhältnis zum Bundesrecht finden hier ihren Ausgangspunkt. Denn mit der Verpflichtung zur Schaffung spezifischer Landesregelungen entdeckte mancher Landesgesetzgeber erst seine Regelungsautonomie. Tatsächlich versperrt Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 lit. b GG den Ländern nicht, ihren Verfassungsschutzbehörden gesetzlich weitergehende Aufgaben und Befugnisse zuzuweisen, solange dies nicht die bundesgesetzlich geregelten Aufgaben der Zusammenarbeit betrifft und die landesgesetzlich geregelten Aufgaben im sachlichen Zusammenhang mit den Verfassungsschutzbehörden stehen.43 In der Konsequenz kann das BVerfSchG heute kaum mehr als Musterentwurf oder Stammgesetz44 für landesrechtliche Regelungen gelten. Vor allem im Bereich der Befugnisse haben sich LVerfSchG vom Bundesgesetz immer weiter entfernt (siehe dazu unten IV. 3.).45 Resultat ist ein inkohärentes gesetzliches Flickwerk, das weder eine einheitliche Erfüllung der verfassungsrechtlichen Sicherheitsgewähr-
38 Siehe dazu nur Bund-Länder-Kommission Rechtsterrorismus, Abschlussbericht, 2013, https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2013/05/kommission-rechtsterro rismus.html (Stand: 14. 01. 2020), S. 194. 39 Gesetz über die Errichtung des Landesamtes für Verfassungsschutz vom 22. 11. 1950, BayGVOBl., S. 224. 40 Vgl. Droste, HdbVerfSchR (Fn. 22), S. 49. Zur Geschichte der LVerfSchG siehe näher Wittmoser, Landesämter (Fn. 22), S. 28 ff.; Murck, in: Jäger/Daun (Hrsg.), Geheimdienste in Europa, 2009, S. 182 (184 ff.). 41 Siehe ausführlich Dietrich, in: ders./Eiffler, HdbRdN (Fn. 13), III § 3 Rn. 61. 42 BVerfGE 65, 1 (44). 43 Vgl. Gazeas, Übermittlung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse an Strafverfolgungsbehörden, 2014, S. 119; Droste, HdbVerfSchR (Fn. 22), S. 52. Siehe zudem SächsVerfGH NVwZ 2005, 1310 (1311). 44 Anders dagegen auf Bundesebene, siehe Gusy, in: Dietrich/Eiffler, HdbRdN (Fn. 13), IV § 1 Rn. 42. Dort ist das BVerfSchG über eine komplizierte Verweisungstechnik mit dem MADG und dem BNDG verwoben. 45 Siehe zu Beispielen Dietrich, JBÖS 2018/2019, 107 (113); Droste, HdbVerfSchR (Fn. 22), S. 57 f.
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leistungsaufgabe erwarten lässt, noch ein einheitliches grundrechtliches Schutzniveau bei behördlichen Eingriffen vermittelt.46 3. Verfassungsschutzbehörden und Verfassungsschutzverbund a) Die Verfassungsschutzbehörden der Länder Über § 2 Abs. 2 BVerfSchG werden die Bundesländer verpflichtet, für die Zusammenarbeit im Verfassungsschutzverbund eine eigene Behörde zu unterhalten. Infolgedessen haben inzwischen alle Länder entweder ein Landesamt für Verfassungsschutz als Landesoberbehörde eingerichtet (z. B. in Bayern, Hamburg u. Thüringen) oder eine spezifische Abteilung einer obersten Landesbehörde mit der Aufgabe betraut (z. B. in Berlin u. Schleswig-Holstein).47 Die Beschäftigtenzahlen und das Budget der Behörden variieren z. T. erheblich. Im Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz waren im Jahr 2018 Stellen für insgesamt 552 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vorgesehen; das Haushaltsvolumen 2018 betrug rund 39 Mio. Euro.48 In Nordrhein-Westfalen ist das Ministerium des Innern zugleich Verfassungsschutzbehörde. Die entsprechende Ministerialabteilung verfügte im Jahr 2018 über 515 Stellen.49 Zu berücksichtigen ist bei dieser Organisationsform, dass Personal- und Haushaltsangelegenheiten durch Zentralabteilungen der Ministerien übernommen werden können. Andere Landesverfassungsschutzbehörden sind deutlich kleiner und mit weit weniger Budget ausgestattet. Das Landesamt für Verfassungsschutz in Hamburg beschäftigte etwa im Jahr 2018 ca. 178 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei einem Budget von rund 14.792.000 Euro.50 Im Saarland sind 71 Personen in der Verfassungsschutzbehörde tätig, der finanzielle Mittel von ca. 4,5 Mio. Euro zur Verfügung stehen.51 Die unterschiedliche personelle und finanzielle Ausstattung ruft seit Jahren Zweifel an der Funktionsfähigkeit kleinerer Landesbehörden hervor (dazu unten unter IV. 2.).52
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Vgl. Dietrich, in: ders./Eiffler, HdbRdN (Fn. 13), III § 3 Rn. 53, 71. Zu Vor- und Nachteilen der Organisationsformen siehe Wittmoser, Landesämter (Fn. 22), S. 34. 48 Vgl. Bayerisches Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2018, S. 20. 49 Vgl. Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen, Verfassungsschutzbericht 2018, S. 352. 50 Vgl. Behörde für Inneres und Sport, Verfassungsschutzbericht 2018, S. 23. 51 Vgl. Grumke/van Hüllen, Der Verfassungsschutz, 2. Aufl. 2019, S. 245. 52 Siehe etwa die Kritik von Droste, HdbVerfSchR (Fn. 22), S. 47; ähnlich Gusy, in: Dietrich/Eiffler, HdbRdN (Fn. 13), IV § 1 Rn. 78. 47
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b) Das Bundesamt für Verfassungsschutz Das BfV ist über die Jahre stetig angewachsen. Hatte es im Jahr 2000 „lediglich“ 2.097 Beschäftigte (bei einem Budget von ca. 115 Mio. Euro)53, zählte es 2018 insgesamt 3.505 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, während der Zuschuss aus dem Bundeshaushalt 345.879.829 Euro betrug54. Der massive Stellenaufwuchs erklärt sich zunächst v. a. mit dem Aufkommen des islamistischen Terrorismus, später auch aus der Aufarbeitung des NSU-Komplexes.55 Allein zwischen den Jahren 2000 und 2006 werden in der Folge der Anschläge vom 11. September fast 500 zusätzliche Stellen eingerichtet. Schließlich sorgt die Dynamik der technologischen Entwicklung für die Bewilligung neuer Stellen. Zur Gewinnung, Verarbeitung und Auswertung von großen Datenmengen aus dem Internet („Big Data“) werden zum Beispiel 2015/2016 sechs neue Referate im BfV mit 75 Stellen eingerichtet.56 Im Vergleich der Beschäftigtenzahlen von Verfassungsschutzbehörden in Bund und Ländern ergibt sich inzwischen ein Verhältnis von ca. 1:1 (im Verhältnis des Bundes zu allen Bundesländern).57 Es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass mit den Stellenaufwüchsen die Bedeutung des BfVals Behörde mit eigenen operativen Befugnissen im Verhältnis zu den Landesbehörden zugenommen hat. Das wird insbesondere deutlich, wenn man vergleichsweise den Blick auf das Verhältnis von Bundes- zu Landespolizisten lenkt. Hier ergibt sich bei den Beschäftigtenzahlen ein Verhältnis von ca. 1:4 (Bund zu Ländern).58 Der Bedeutungszuwachs des BfV lässt sich überdies an der Stärkung seiner Zentralstellenfunktion59 ablesen. In ihrem Abschlussbericht aus dem Jahr 2013 hatte die Bund-Länder-Kommission Rechtsterrorismus gerade in diesem Zusammenhang gravierende Steuerungsdefizite ausgemacht: „Die Analyse der gesetzlichen Regelungen zum Informationsaustausch innerhalb des Verfassungsschutzverbundes hat jedoch ergeben, dass die entsprechenden gesetzlichen Voraussetzungen für eine sachgerechte Arbeit des BfV als Zentralstelle nach derzeit geltendem Recht nicht gegeben sind. So sind die Verfassungsschutzbehörden der Länder bislang nicht verpflichtet, sämtliche von ihnen erhobenen Informationen an das BfV zu übermitteln. Das BfV ist seinerseits nicht zu einer umfassenden Informationssteuerung verpflichtet.“
Inzwischen legt § 5 Abs. 2 BVerfSchG nun ausdrücklich eine zentrale Informationsauswertung durch das BfVals Zentralstellenaufgabe fest. Damit korrespondieren nach § 6 Abs. 1 BVerfSchG verschärfte Übermittlungspflichten der Länder im Ver53
Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2018, S. 11. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2018, S. 15. 55 Zur Personalentwicklung im BfV anschaulich Grumke/van Hüllen, Verfassungsschutz (Fn. 51), S. 107 ff. 56 Siehe dazu ausführlich Dietrich, RW 2015, 566 (567 ff.). 57 Vgl. Gusy, in: Dietrich/Eiffler, HdbRdN (Fn. 13), IV § 1 Rn. 47. 58 Vgl. Gusy, in: Dietrich/Eiffler, HdbRdN (Fn. 13), IV § 1 Rn. 47. 59 Näher Marscholleck, NJW 2015, 3611 (3611 ff.); Krings, DRiZ 2015, 124 (124 f.). 54
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fassungsschutzverbund. Die Stärkung der Zentralstellenfunktion bedeutete gleichzeitig eine Stärkung des Verfassungsschutzverbundes und damit eine Absage gegenüber einer Zentralisierung des Verfassungsschutzes auf Bundesebene.60 Denn die Reform lässt das im Verfassungsschutz geltende Territorialitätsprinzip unberührt: ist eine verfassungsfeindliche Bestrebung auf dem Gebiet eines Bundeslandes verortet, ist das Bundesland selbst für die Aufklärung zuständig.61 Verfassungsschutzbehörden anderer Länder sind grundsätzlich unzuständig bzw. dürfen nur mit Zustimmung des zuständigen Bundeslandes tätig werden.62 Das BfV darf eine eigene Aufklärung nach § 5 Abs. 1 S. 1 BVerfSchG nur „im Benehmen“ mit dem jeweiligen Bundesland betreiben.63 Dahinter verbirgt sich tatsächlich keine große Hürde. Das BfV muss lediglich die zuständige Landesbehörde über bevorstehende nachrichtendienstliche Maßnahmen auf Landesgebiet informieren und Gelegenheit zur Stellungnahme einräumen. Eine Zustimmung des Landes ist nicht erforderlich.64 In der Praxis kann sich diese Vorgabe in detaillierten Abstimmungen niederschlagen: so können etwa Doppelanwerbungen von Quellen vermieden werden.65 Kann die zuständige Landesbehörde im Einzelfall nicht rechtzeitig von einer Maßnahme des BfV in Kenntnis gesetzt werden, ist die Information umgehend nachzuholen. c) Der Verfassungsschutzverbund Die Verflechtungen zwischen den Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder werden in der Praxis als „Verfassungsschutzverbund“ bezeichnet. Das Gesetz kennt den Begriff nicht. In der Verwaltungsrechtswissenschaft kommt eine Einordnung des Verfassungsschutzverbundes als „Verwaltungsverbund“ in Betracht, wenn man darunter jede enge Verbindung mehrerer Rechtsträger verstehen will, die als Gesamtheit mit Aufgaben der öffentlichen Verwaltung betraut ist, ohne selbst Rechtspersönlichkeit zu besitzen und als Zuordnungsobjekt für Befugnisse in Frage zu kommen.66
60 Zum Rechtsrahmen siehe Gärditz, AöR 144 (2019), 81 (81 ff.); politisch-praktische Argumente gegen eine Zentralisierung von Verfassungsschutzaufgaben nachzulesen bei BW LT-Drs. 15/4539 vom 20. 12. 2013, S. 9 f. 61 Siehe dazu Gusy, in: Dietrich/Eiffler, HdbRdN (Fn. 13), IV § 1 Rn. 51; Droste, HdbVerfSchR (Fn. 22), S. 71 ff. 62 So zutreffend Gazeas, Übermittlung (Fn. 43), S. 121 f.; Gröpl, Nachrichtendienste (Fn. 18), S. 192 f.; a.A. wohl Droste, HdbVerfSchR (Fn. 22), S. 68. 63 Zur Praxis siehe Droste, HdbVerfSchR (Fn. 22), S. 71 f. 64 Vgl. Gröpl, Nachrichtendienste (Fn. 18), S. 180 f.; Die Gesetzesbegründung zu § 5 Abs. 1 BVerfSchG spricht von einer „Reservezuständigkeit“ des BfV. Vgl. BT-Drs. 18/4654 v. 20. 04. 2015, S. 20. 65 Kritisch Grumke/van Hüllen, Verfassungsschutz (Fn. 51), S. 114. 66 Vgl. Winkler, Verwaltungsträger im Kompetenzverbund, 2009, S. 32; in diese Richtung auch Berger, Die Ordnung der Aufgaben im Staat, 2016, S. 71 ff.
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Ausgangspunkt für einen Verfassungsschutzverbund in diesem Sinne ist die Übertragung der gemeinsamen Verfassungsschutzaufgabe an die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder über §§ 3, 4 BVerfSchG. Dadurch werden die Mitglieder des Verbundes abschließend bestimmt. Aus den Art. 70 Abs. 1, 73 Abs. 1 Nr. 10 lit. b GG i.V.m. §§ 1 Abs. 2, 2 BVerfSchG folgt, dass zwischen den Behörden im Verbund kein Hierarchieverhältnis besteht. Insbesondere stehen dem BfV gegenüber den Landesbehörden keine Weisungsrechte zu.67 Die Aufgabenidentität schafft die Notwendigkeit arbeitsteiligen Vorgehens.68 Lediglich der Rahmen der planvollen Zusammenarbeit im Verbund ist gesetzlich geregelt. Ein wesentliches Charakteristikum des Verfassungsschutzverbundes ist gerade die informelle Kooperation. §§ 5, 6 BVerfSchG adressieren Koordinationsrechte und Kooperationspflichten im Verbund. Über § 5 Abs. 2 BVerfSchG wird dem BfV die zentrale Informationsauswertung als Zentralstellenaufgabe zugeschrieben. Die Landesbehörden werden nach § 6 Abs. 1 BVerfSchG zur Übermittlung von Informationen („unverzüglich“) verpflichtet. Die Informationsübermittlung ist aber nicht als Einbahnstraße angelegt. Nach derselben Vorschrift muss auch das BfV der Landesebene Informationen zur Verfügung stellen. Wie der Informationsaustausch im Einzelnen erfolgt, wird nur ansatzweise gesetzlich vorgegeben. Nach § 6 Abs. 2 BVerfSchG werden alle Verfassungsschutzbehörden verpflichtet, sog. „gemeinsame Dateien“ zu führen, für deren Bereitstellung wiederum das BfVals Zentralstelle nach § 5 Abs. 4 Nr. 1 BVerfSchG zuständig ist. Angesprochen ist hiermit im Wesentlichen das Nachrichtendienstliche Informationssystem Wissensnetz (NADIS WN), das in strukturierter Form Einzelangaben zu Personen und Objekten enthält.69 § 5 Abs. 3 BVerfSchG konkretisiert die Koordinationsaufgabe des BfV als Zentralstelle. Die Vorschrift bildet z. T. Regelungen ab, die zuvor allein in der als Verschlusssache eingestuften „Richlinie für die Zusammenarbeit des BfV und der Landesbehörden für Verfassungsschutz“ (VS-NfD ZAR) enthalten waren.70 Die in Satz 2 Nr. 1 bis 3 hervorgehobenen Koordinierungsaufgaben sind lediglich Regelbeispiele. So ist das BfV „insbesondere“ nach § 5 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 BVerfSchG dafür zuständig, im Verbund verbindliche Verwaltungsvereinbarungen zur „arbeitsteiligen Durchführung von Aufgaben“ zu schließen.71 Als jüngstes Beispiel hierfür lässt sich eine Vereinbarung des BfV mit der Berliner Verfassungsschutzbehörde über die Zusammenarbeit bei der Abwehr von Cyberspionage anführen, nach deren Maßgabe das BfV die Befugnis erhält, bei Cyberangriffen im Landesgebiet selbständig tätig zu wer-
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Vgl. Gazeas, Übermittlung (Fn. 43), S. 126. Siehe dazu ausführlich Gusy, in: Dietrich/Eiffler, HdbRdN (Fn. 13), IV § 2 Rn. 30 ff. 69 Dazu Kutzschbach, in: Dietrich/Eiffler, HdbRdN (Fn. 13), VI § 6 Rn. 89. 70 Vgl. BT-Drs. 18/4654 v. 20. 04. 2015, S. 21. Zum Vorläufer der ZAR siehe Droste, HdbVerfSchR (Fn. 22), S. 62 ff. 71 Vgl. Gärditz, AöR 144 (2019), 81 (89). 68
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den.72 Mit anderen Worten ausgedrückt überträgt das Land Berlin dem BfV auf diese Weise die Cyberabwehr, da es mit eigenen Mitteln zur Aufgabenwahrnehmung nicht in der Lage wäre. Auf § 5 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 BVerfSchG gründet z. B. § 11a ZAR, der dem BfV die Koordinierung der Zusammenarbeit beim Einsatz von V-Personen zuweist. Der Vorschrift zufolge übermitteln die Landesverfassungsschutzbehörden dem BfV Grund- und Strukturdaten, Informationen zur Zugangslage und zur Qualität von Informationen. Klarnamen oder andere Informationen, die zur Enttarnung der V-Person führen könnten, werden nicht übermittelt. Auf der Basis eigener und übermittelter Daten wird beim BfV die sog. V-Leute-Datei geführt, die eine Übersicht über den Einsatz von V-Personen des Verbundes in bestimmten Beobachtungsobjekten gibt. Aufklärungslücken und Aufklärungsschwerpunkte sollen auf diese Weise sichtbar gemacht werden.73 § 5 Abs. 4 BVerfSchG konkretisiert § 1 Abs. 3 BVerfSchG. Die Vorschrift beschreibt Infrastrukturelemente des Verfassungsschutzverbundes und überträgt dem BfV die Verantwortung. So ist das BfV nach Abs. 4 S. 2 Nr. 1 als „zentraler ITDienstleister“74 insbesondere für die Bereitstellung von NADIS WN zuständig. Auch „durch Fortbildung in speziellen Arbeitsbereichen“ unterstützt das BfV nach Abs. 4 S. 2 Nr. 4 die Landesbehörden. Damit ist v. a. das Veranstaltungsangebot der Akademie für Verfassungsschutz in Heimerzheim angesprochen. Sie ist als gemeinsame Einrichtung von Bund und Ländern organisiert.75 Innerhalb des durch die Zentralstelle vorgegebenen Rahmens bestehen diverse informelle Formate der Zusammenarbeit im Verfassungsschutzverbund. Wichtigstes Abstimmungsinstrument stellen die sog. Amtsleitertagungen (ALT) dar.76 Sie betreffen grundsätzliche Fragen der behördlichen Zusammenarbeit, die sich oft im Arbeitsalltag erst ergeben haben. In der Regel sind die Behördenleiter persönlich vertreten. Unterhalb der Amtsleitertagungen existieren weitere Kommunikationsforen und Abstimmungsinstrumente auf Arbeitsebene (z. B. „Beschaffertage“, „Auswertertagungen“, „jährliche Quellenoptimierung“77) sowie in regionalem Kontext (z. B. „norddeutsche Amtsleitertagung“ – NALT, „süddeutsche Amtsleitertagung“ – SALT78). Eine nicht zu unterschätzende Rolle für Kooperation (und Koordination) im Verfassungsschutzverbund spielt schließlich der „Arbeitskreis IV“ (AK IV „Verfas72
Siehe hierzu Senatsverwaltung für Inneres und Sport, Pressemitteilung vom 05. 06. 2019, https://www.berlin.de/sen/inneres/presse/pressemitteilungen/2019/pressemitteilung.817393.php (Stand: 14. 02. 2020). 73 Ausführlich Dietrich, in: ders./Eiffler, HdbRdN (Fn. 13), VI § 2 Rn. 91. 74 BT-Drs. 18/4654 v. 20. 04. 2015, S. 21. 75 Die Einrichtung gründet auf dem Abkommen über die Einrichtung einer Schule des Verfassungsschutzes vom 19. 05. 1999, SGV.GV.NRW 1999, S. 636. Siehe dazu Gusy, in: Dietrich/Eiffler, HdbRdN (Fn. 13), IV § 2 Rn. 38. 76 Siehe Droste, HdbVerfSchR (Fn. 22), S. 71. 77 Siehe Dietrich, in: ders./Eiffler, HdbRdN (Fn. 13), VI § 2 Rn. 89; Lange, Innere Sicherheit im Politischen System der Bundesrepublik Deutschland, 1999, S. 124. 78 Siehe Grumke/van Hüllen, Verfassungsschutz (Fn. 51), S. 114.
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sungsschutz“) der „Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder“ (IMK).79 Im AK IV treffen sich regelmäßig die Abteilungsleiterinnen und Abteilungsleiter, die in den Landesinnenministerien für den Verfassungsschutz zuständig sind. Als Gäste sind der Leiter der Abteilung „Öffentliche Sicherheit“ im Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI) und der Präsident des BfV anwesend. Anlassbezogen werden innerhalb des AK IV gelegentlich Arbeitsgruppen mit spezifischen Aufgabenstellungen betraut. So beschloss bspw. der AK IV auf seiner Sitzung im April 2017 die Einrichtung einer länderoffenen Arbeitsgruppe zur „Harmonisierung wirksamer Verfassungsschutzbefugnisse in Bund und Ländern“.80 Den Bericht der Arbeitsgruppe, in welcher neben dem BfV und dem einladenden BMI acht von sechszehn Bundesländer vertreten waren, nahm die IMK anlässlich ihrer 207. Sitzung im Dezember 2017 entgegen. Der 52 Seiten umfassende Bericht wartet mit „gesetzgeberischen Optionen“ auf, welche „vor einer Umsetzung weiterer politischer Würdigung bedürfen“.81 Tatsächlich handelt es sich um Textbausteine für die Novellierung von Landesverfassungsschutzgesetzen, weitgehend orientiert am BVerfSchG in der seinerzeit geltenden Fassung. Über solche Arbeitsergebnisse vollzieht sich eine mittelbare Steuerung des Verfassungsschutzverbundes, da die Verfassungsschutzbehörden über die Umsetzung der Beschlüsse der IMK adressiert werden.82
IV. Föderaler Verfassungsschutz als Sicherheitsrisiko? 1. Öffentliche Kritik vs. Forschungsdefizit Kritik an der föderalen Arbeitsteilung im Verfassungsschutzverbund kommt seit Jahren beständig auf und aus allen politischen Lagern. Erste Vorschläge zur Zentralisierung von Verfassungsschutzaufgaben sind im Nachgang der Anschläge vom 11. September 2001 zu vernehmen. Nach Auffassung des damaligen Bundesinnenministers Otto Schily hatte die föderale Sicherheitsstruktur zu Reibungsverlusten und Verzögerungen geführt; die Landesbehörden für Verfassungsschutz sollten dem
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Dazu Lange, Innere Sicherheit (Fn. 77), S. 123 f. Ständige Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder, Bericht der länderoffenen Arbeitsgruppe des AK IV, Zusammenarbeit der Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder – Schaffung eines harmonisierten Rechtsrahmens mit wirksamen Befugnissen, Beschlüsse der 207. Sitzung vom 07./08. 12. 2017, Anlage zu TOP 29. 81 Ständige Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder, Bericht der länderoffenen Arbeitsgruppe des AK IV (Fn. 80), S. 2 f. 82 Beispiel: Der Bericht der gemeinsamen Arbeitsgruppe der AK II und AK IV zur Umsetzung der Empfehlungen der Bund-Länder-Kommission Rechtsterrorismus adressiert direkt die ALT: „Der AK IV wird gebeten, einen entsprechenden Auftrag an die ALT zu erteilen“. Vgl. Gemeinsame Arbeitsgruppe AK II und AK IV, Bericht zur Umsetzung der Handlungsempfehlungen der BLKR, 05. 11. 2013, S. 32. 80
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Bundesamt unterstellt werden.83 In eine ähnliche Kerbe schlägt im Zusammenhang der Aufarbeitung des NSU-Komplexes die ehemalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheuesser-Schnarrenberger, die sich dafür ausspricht, die „Zahl der Behörden (…) deutlich zu reduzieren“.84 Fast 5 Jahre später wartet der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière unter dem Eindruck des Anschlags auf den Berliner Weihnachtsmarkt in einem Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit Überlegungen zur Abschaffung der Landesbehörden auf. Wörtlich heißt es: „Beim Verfassungsschutz sollten wir diskutieren, die gesamte Aufgabe in die Bundesverwaltung zu übernehmen. Die Arbeit beim Verfassungsschutz ist letztlich allein auf gesamtstaatliche Schutzgüter bezogen. Kein Gegner unserer Verfassung strebt die Beseitigung der Verfassung in nur einem Bundesland an.“85
Bei allen Vorstößen solcher Art ließen empörte Repliken von Länderseite nicht lange auf sich warten.86 Der Blick auf die politischen Debatten vergangener Jahre offenbart damit ein immer gleiches Wechselspiel. Im Zusammenhang terroristischer Anschläge und in Zeiten des Wahlkampfes werden auf Bundesebene – weitgehend unabhängig von parteipolitischer Zugehörigkeit – Kooperations- und Steuerungsdefizite gerügt und auf Landesebene zurückgewiesen. Die solchermaßen ritualisierte politische Auseinandersetzung hat kürzlich Jasmin Riedl auf eine Formel gebracht: „Innere Sicherheit in Wahlkampfzeiten: ein Garant für Zentralisierungsforderungen der Bundesparteien“.87 Die Deutlichkeit der politischen Forderungen auf Bundesebene erstaunt. Denn eine wissenschaftliche Befassung mit dem Verfassungsschutzverbund ist bislang ausgeblieben. Während in anderen nicht weniger bundesstaatlich geprägten Aufgabenbereichen der öffentlichen Verwaltung grundlegende wissenschaftliche Untersuchungen angestrengt wurden88, sucht man Vergleichbares hinsichtlich des Verfas83 Otto Schily im Interview, SPIEGEL-Gespräch: „Notfalls das Grundgesetz ändern“, DER SPIEGEL, Heft 40/2004, S. 38; ders., Die neue Polizei 2005, 4 (4 f.). 84 Leutheusser-Schnarrenberger zitiert nach Tretbar, „Verfassungsschutzämter bis in jeden Blickwinkel ausleuchten“, Der Tagesspiegel vom 13. 07. 2012, https://www.tagesspiegel.de/po litik/justizministerin-fordert-reform-der-geheimdienste-verfassungsschutzaemter-bis-in-jedenblickwinkel-ausleuchten/6878356.html (Stand: 14. 01. 2020). 85 de Maizière, Leitlinien für einen starken Staat in schwierigen Zeiten, FAZ vom 03. 01. 2017, https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/thomas-de-maiziere-leitlinien-fuer-einen-star ken-staat-in-schwierigen-zeiten-14601852.html (Stand: 14. 01. 2020). 86 Siehe dazu z. B. Flade, Länder-Rebellion gegen Maaßens Machtspiele, DIE WELT vom 07. 03. 2018, https://www.welt.de/politik/deutschland/article174252529/Geheimdienste-Verfas sungsschuetzer-wehren-sich-gegen-Zentralisierung.html (Stand: 14. 01. 2020); dpa-Meldung, Seehofer will bayerischen Verfassungsschutz „niemals“ auflösen, FAZ vom 04. 01. 2017, https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/horst-seehofer-lehnt-sicherheitsplaene-von-thomasde-maiziere-ab-14604367.html (Stand 14. 01. 2020). 87 Siehe Riedl, Jahrbuch des Föderalismus 2017, S. 221 (221 ff.). 88 Siehe etwa das bekannte Sondergutachten des SRU, Umweltverwaltungen unter Reformdruck – Herausforderungen, Strategien, Perspektiven, 2007 oder auch die Untersuchung von Lange, Innere Sicherheit (Fn. 77), zur polizeilichen Sicherheitsarchitektur.
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sungsschutzes vergeblich. Die parlamentarischen Aufarbeitungen von „Intelligence Failures“89 und die verwandten Berichte von Expertenkommissionen und Sonderbeauftragten90 zeigen eindrücklich die Notwendigkeit einer eingehenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Zu beklagen ist nach alledem ein erhebliches Forschungsdefizit. Ob die oben herausgearbeitete Rechtslage in einem Sicherheitsrisiko resultiert, kann auch dieser Beitrag nicht beantworten. Lediglich einzelne Problemfelder und Untersuchungsansätze lassen sich identifizieren. 2. Begrenzte Leistungsfähigkeit auf Landesebene? § 2 Abs. 2 BVerfSchG konkretisiert die verfassungsrechtliche Verpflichtung der Länder, funktionsfähige Verfassungsschutzeinrichtungen zu unterhalten.91 Anders wäre eine „Zusammenarbeit“ i.S.v. Art. Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 lit. b GG nicht möglich. In der Politik geäußerte Zweifel an der Funktionsfähigkeit einzelner Landesbehörden im Verfassungsschutzverbund machen regelmäßig an deren personeller und finanzieller Ausstattung fest. Tatsächlich kommen Fragen auf, wenn man Budget und Personal von kleineren Landesbehörden in ein Verhältnis zu gesetzlicher Aufgabe und Bedrohungslage setzt. Ein Beispiel: Die Verfassungsschutzbehörde im Saarland verfügt gegenwärtig über eine Personalstärke von 71 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern; knapp 4.5 Mio. Euro stehen als Personal- und Sachmittel zur Verfügung (s. o.). § 3 Abs. 1 Nr. 4 SVerfSchG92 weist der Behörde die Beobachtung von Bestrebungen und Tätigkeiten der Organisierten Kriminalität zu. Ganz unabhängig davon, ob man die Beobachtung der Organisierten Kriminalität durch den Verfassungsschutz als zulässig erachtet93, nährt bereits der Blick auf das Organigramm der Behörde und in den saarländischen Verfassungsschutzbericht94 Zweifel daran, ob dieser gesetzliche Auftrag in der Praxis relevant ist. Auch die operative Arbeit bei der Beobachtung extremistischer Bestrebungen dürfte mit einer dünnen Personaldecke schwierig zu bestreiten sein.95 Wenn eine Observation eines einzigen Gefährders „im rollenden Einsatz“ über 24 Stunden am Tag und an sieben Tagen in der Woche den Einsatz von 89
Vgl. z. B. BT-Drs. 17/14600 v. 22. 08. 2013; BT-Drs. 18/12950 v. 23. 06. 2017. Schäfer/Wache/Meiborg, Gutachten zum Verhalten der Thüringer Behörden und Staatsanwaltschaften bei der Verfolgung des „Zwickauer Trios“, Erfurt 2012, http://www.thueringen. de/imperia/md/content/tim/veranstaltungen/120515_schaefer_gutachten.pdf (Stand: 01. 02. 2020); Jost, Abschlussbericht im Fall AMRI (Fn. 6). 91 Siehe Gröpl, Nachrichtendienste (Fn. 18), S. 88 f. m.w.N.; a.A. wohl Gärditz, AöR 144 (2019), 81 (116). 92 Saarländisches Verfassungsschutzgesetz (SVerfSchG) vom 24. März 1993, zuletzt geändert durch G. v. 18. 04. 2018 (Amtsbl. I S. 332). 93 Ausführlich dazu Singer, Die rechtlichen Vorgaben für die Beobachtung der organisierten Kriminalität (XE „organisierten Kriminalität“) durch die Nachrichtendienste in der BRD, 2002. 94 Ministerium für Inneres, Bauen und Sport, Lagebild Verfassungsschutz 2018, S. 12. Eine ausdrückliche Erwähnung der Organisierten Kriminalität fehlt. 95 In diesem Sinne wohl auch Gusy, in: Dietrich/Eiffler, HdbRdN (Fn. 13), IV § 1 Rn. 78. 90
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ca. 40 Behördenangehörigen erfordern soll96, werden personelle Kapazitäten bei kleineren Behörden schnell erschöpft sein. Gleiches gilt für den Einsatz eines sog. IMSI-Catchers. Über § 8 Abs. 7 SVerfSchG steht der saarländischen Behörde dieses nachrichtendienstliche Mittel zu. Der Rückgriff auf den IMSI-Catcher bedingt eine zeitgleich ablaufende Observation. Er ist demgemäß sehr personalintensiv.97 Selbst in den Bundesbehörden kommt deshalb der IMSI-Catcher nur sehr selten zum Einsatz.98 Es fragt sich, wie oft die Landesbehörde bisher auf ihre gesetzliche Befugnis zurückgreifen konnte. Darüber hinaus dürfte die Dynamik der technologischen Entwicklung in zunehmendem Maße ein Problem für schwächer ausgestattete Landesbehörden werden. Infolge der Verbreitung von Verschlüsselungsvorrichtungen bei der Telekommunikation stoßen die Sicherheitsbehörden mit klassischen Überwachungsinstrumenten inzwischen regelmäßig an Grenzen. Die sog. „Quellen-Telekommunikationsüberwachung“ soll diesem „Going Dark-Prozess“ ein Stück weit entgegenwirken und Daten vor der Verschlüsselung „direkt an der Quelle“ abgreifen. Die Entwicklung geeigneter Software, die das IT-System des Überwachten entsprechend manipuliert, ist außerordentlich zeit- und kostenintensiv.99 Für die Sicherheitsbehörden des Bundes hat der Bund u. a. deshalb eine „Zentrale Stelle für Informationstechnik im Sicherheitsbereich“ (ZITiS) als nicht rechtsfähige Bundesanstalt im Geschäftsbereich des BMI eingerichtet. Ihre Aufgabe ist es, Sicherheitsbehörden des Bundes im Hinblick auf informationstechnische Fähigkeiten zu unterstützen und zu beraten. Dazu entwickelt ZITiS entsprechende Methoden und Werkzeuge. Eine Beteiligung der Länder ist im Errichtungserlass der Behörde nicht vorgesehen.100 Die hier am Beispiel der saarländischen Verfassungsschutzbehörde angestrengten Überlegungen würden eine deutliche Vertiefung erfordern, wollte man einer begrenzten Leistungsfähigkeit einzelner Landesverfassungsschutzbehörden auf den Grund gehen. Denn aller Skepsis zum Trotz darf nicht der Blick darauf verstellt werden, dass das Prinzip der Ortsnähe und der überlegenen Sachkenntnis vor Ort oft bessere Beobachtungsergebnisse zutage fördert. So wurde etwa die Gefährlichkeit der sog. „Identitären Bewegung“ und der „Reichsbürger“ zuerst auf Landesebene erkannt.101 Auch im Bereich der Extremismusprävention können viele Landesbehör-
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So zu lesen bei Wittmoser, Landesämter (Fn. 22), S. 59 m.w.N. Dazu Löffelmann, in: Dietrich/Eiffler, HdbRdN (Fn. 13), IV § 5 Rn. 67 ff. 98 Alle Nachrichtendienste des Bundes haben im Jahr 2016 nur 16 Mal einen IMSI-Catcher verwendet. Vgl. BT-Drs. 19/1280 vom 20. 03. 2018, S. 8. 99 Ausführlich Unterreitmeier, in: Deutscher Verwaltungsgerichtstag (Hrsg.), Dokumentation 19. Verwaltungsgerichtstag 2019, 2020, S. 199 (199 ff.). 100 GMBl. 2017, S. 274. 101 Siehe Flade, Länder-Rebellion (Fn. 86). 97
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den infolge der etablierten Zusammenarbeit mit Schul- und Jugendämtern sowie Ausländer- und Sozialbehörden vor Ort auf gute Ergebnisse verweisen.102 3. Inkohärenter Rechtsrahmen, fehlende Ordnungsidee Ebenfalls eine eingehende wissenschaftliche Befassung verdienen die z. T. erheblich unterschiedlichen Aufgaben und Befugnisse der Behörden im Verfassungsschutzverbund. Die oben beschriebene „Emanzipation“ der Landesgesetzgeber hat dazu geführt, dass eine gemeinsame Ordnungsidee im Verfassungsschutzrecht kaum erkennbar ist. Einige Beispiele: Während beispielsweise § 8 Abs. 2 VSG Bln103 nachrichtendienstliche Mittel ausdrücklich und abschließend aufzählt, werden nachrichtendienstliche Mittel des bayerischen Verfassungsschutzes gem. Art. 8 Abs. 2 BayVSG104 lediglich in einer als Verschlusssache eingestuften Dienstvorschrift benannt. Auch im Hinblick auf den Einsatz sog. IMSI-Catcher unterscheiden sich die LVerfSchG: In Niedersachsen, Bayern, Nordrhein-Westfalen und dem Saarland besteht eine gesetzliche Grundlage, in mehreren anderen Bundesländern dagegen nicht. Ein heterogenes Bild ergibt sich in Bezug auf die Anwendung technischer Mittel im Schutzbereich von Art. 13 GG (Vgl. etwa Art. 9 BayVSG; §§ 10 Abs. 1 Nr. 6, 11 Abs. 2 und 3 ThürVerfSchG105), hinsichtlich der verdeckten Online-Durchsuchung (Vgl. hierzu z. B. § 5 Abs. 2 Nr. 11 VSG NRW und Art. 10 BayVSG) sowie in Bezug auf den Einsatz von V-Personen (Vgl. z. B. § 8 Abs. 3 VSG Bln; Art 19, 20 BayVSG). Es erscheint dabei ebenso fragwürdig, gar keine gesetzlichen Grundlagen vorzusehen, wie unterschiedliche tatbestandliche Anforderungen an die Grundrechtseingriffe zu stellen. Auch beim Informationsaustausch mit Behörden außerhalb des Verfassungsschutzverbundes gehen die Landesgesetze z. T. eigene Wege. § 19 LVerfSchG S-H106 kombiniert weithin unbestimmte Tatbestandsvoraussetzungen mit einem Ermessen der Landesbehörde auf der Rechtsfolgenseite. Welche Konsequenzen sich aus dieser Normstruktur ergeben können, hat die Aufarbeitung der NSU-Verbrechen in Thüringen gezeigt. In ihrem Abschlussbericht führte die Schäfer-Kommission vor Augen, dass eine effektive Zusammenarbeit von LfV und LKA v. a. deshalb nicht vorhanden war, weil die Übermittlungsvorschriften im ThürVerfSchG dem Landesamt ermöglichten, den Strafverfolgungsbehörden Informationen 102
Siehe hierzu etwa die anspruchsvolle Präventionsarbeit des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz mit seinen Präventionsinitiativen „Bayerische Informationsstelle gegen Extremismus“ (BIGE) und „Präventionsstelle Salafismus“. 103 Gesetz über den Verfassungsschutz in Berlin vom 25. 06. 2001 (GVBl. 2001, S. 235, mehrfach geändert, § 32a eingefügt, §§ 38 und 39 neu gefasst durch Art. 2 d. G. v. 13. 06. 2018 (GVBl. S. 418). 104 Bayerisches Verfassungsschutzgesetz vom 12. 07. 2016 (GVBl. 2016, S. 145). 105 Thüringer Gesetz zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und zur Vorbeugung von Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung vom 08. 08. 2014 (GVBl. 2014, S. 529). 106 Gesetz über den Verfassungsschutz im Lande Schleswig-Holstein vom 23. 03. 1991 (GVOBl. I 1993, S. 203, zuletzt geändert durch Art. 18 LVO v. 16. 01. 2019, GVOBl. S. 30).
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aus falsch verstandenem Quellenschutz heraus vorzuenthalten.107 Im novellierten ThürVerfSchG ist nun – in Angleichung an § 20 BVerfSchG – eine Übermittlungspflicht des LfV vorgesehen, soweit Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Übermittlung zur Verhinderung oder Verfolgung näher bestimmten Kapitalstraftaten erforderlich ist (Vgl. § 21 Abs. 2 ThürVerfSchG). Bereits die Stichproben zeigen: von einem einheitlichen – über identische Eingriffsschwellen vermittelten – grundrechtlichen Schutzniveau kann ebenso wenig die Rede sein, wie von einer funktionsgerechten Gewährleistung eines flächendeckenden Sicherheitsstandards. Die Vermutung liegt nahe, dass die Qualität von Freiheitsverbürgungen und Sicherheitsgewährleistungen jedenfalls in diesem Zusammenhang vom Wohnort abhängen.
V. Wege, Perspektiven, Aufgaben Wem angesichts dieses Befundes reflexartig eine „Hochzonung“ des Verfassungsschutzes auf Bundesebene in den Sinn kommt, der sei zunächst an die verfassungsrechtliche Ausgangslage erinnert. Die Eigenstaatlichkeit von Bund und Ländern ist – wie Art. 79 Abs. 3 GG ausdrückt – eine tragende Säule der grundgesetzlichen Ordnung. Die Erfüllung des Sicherheitsgewährleistungsauftrags erfolgt auf zwei Ebenen der Staatlichkeit.108 Bund und Ländern wird dabei die Staatsaufgabe Verfassungsschutz zur gemeinsamen Wahrnehmung übertragen. Der im GG angelegte kooperative Föderalismus109 resultiert in einem kooperativen Verfassungsschutz. Nur innerhalb dieses verfassungsrechtlichen Rahmens sind Lösungen denkbar. Soweit ersichtlich ist, können drei Ansätze verfolgt werden, um für eine Verbesserung zu sorgen. Klaus Ferdinand Gärditz hat kürzlich die Bedingungen und Grenzen einer Zentralisierung von Verfassungsschutzaufgaben umfassend ausgelotet.110 Nach seiner Auffassung besteht keine verfassungsunmittelbare Bestandsgarantie für Verfassungsschutzbehörden der Länder. Eine Streichung der – lediglich einfachgesetzlichen – Errichtungspflicht aus § 2 Abs. 2 BVerfSchG könne einzelne Länder daher in die Lage versetzen, sich verfassungskonform aus dem Verfassungsschutz zurückzuziehen. Der Bund könne in diesem Fall in das Aufklärungsvakuum stoßen und die Aufgabe an sich ziehen. Unabhängig davon, ob man Gärditz bei der Annahme einer fehlenden verfassungsrechtlichen Verpflichtung zur Einrichtung funktionsfähiger 107 Siehe Schäfer/Wache/Meiborg, Gutachten „Zwickauer Trio“ (Fn. 90), S. 264 f. (Rn. 485 ff.). 108 Siehe Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, 2002, 447 ff. 109 Dazu Härtel, in: dies. (Hrsg.), Handbuch Föderalismus – Föderalismus als demokratische Rechtsordnung und Rechtskultur in Deutschland, Europa und der Welt, Bd. 1, 2012, Rn. 9 ff. 110 Siehe Gärditz, AöR 144 (2019), 81 (81 ff.).
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Verfassungsschutzbehörden folgt111, bleibt in diesem „Ausstiegs-Szenario“ die freiwillige Abwicklung der jeweiligen Verfassungsschutzbehörde durch das Bundeland eine notwendige Voraussetzung. Mit Blick auf die aktuellen politischen Gegebenheiten erscheint es jedoch recht unwahrscheinlich, dass die Länder einen Kernbereich ihrer staatlichen Gewalt aus der Hand geben. Eher noch ist vorstellbar, dass einige Länder auf der Basis von § 2 Abs. 2 S. 2 BVerfSchG ihre Behörden zusammenlegen.112 Gärditz selbst weist deshalb darauf hin, dass im Übrigen schon das geltende Bundesrecht elastische Kooperationsstrukturen ermögliche. Das BVerfSchG erlaube – ggf. flankiert durch eine entsprechende Landesgesetzgebung – Neuzuschnitte des Aufgabenprofils des BfV durch die Verwaltungspraxis, die maßgeblich auf die Leistungsfähigkeit der nachrichtendienstlichen Aufklärung in den Ländern und eine sachgerechte Aufteilung von Aufklärungsschwerpunkten Rücksicht nehme.113 Dem ist nicht zu widersprechen. Tatsächlich temperiert § 5 BVerfSchG die BundLänder-Zusammenarbeit, indem flexible Lösungen bei der Arbeitsteilung ermöglicht werden. Ob davon noch umfasst ist, dass ein Bundesland die Erfüllung seiner Verfassungsschutzaufgaben auf Rumpfstrukturen zurückfährt und die operative Aufklärung durch das BfV übernommen wird114, wird Bedenken begegnen. Nicht von der Hand zu weisen, ist allerdings, dass der Rahmen von § 5 BVerfSchG im besonderen Maße die Instrumente der Verwaltungsvereinbarungen und der Staatsverträge aktiviert. Während im Bereich der Polizei bereits zahlreiche Regelwerke existieren115, liegt im Bereich des Verfassungsschutzes noch viel Potential. Die oben erwähnte Verwaltungsvereinbarung zwischen dem BfV und der Berliner Verfassungsschutzbehörde (s. o. unter III. 3. c)) ist deshalb ein Schritt in die richtige Richtung. Schließlich verdient noch ein Ansatz Beachtung, der – soweit ersichtlich – bisher kaum vorgetragen wurde. Anlässlich ihrer 206. Sitzung im Juni 2017 hat die IMK den AK II mit der Einrichtung einer länderoffenen Arbeitsgruppe für ein Musterpolizeigesetz beauftragt.116 Die Ausgangslage der Rechtszersplitterung im Polizeirecht der 111
A.A. zumindest Gusy, in: Dietrich/Eiffler, HdbRdN (Fn. 13), IV § 1 Rn. 78; Gröpl, Nachrichtendienste (Fn. 18), S. 88 f.; Droste, HdbVerfSchR (Fn. 22), S. 47; Wittmoser, Landesämter (Fn. 22), S. 42 f. 112 Der Nutzen einer solchen Behördenstruktur ist kaum erforscht und wird teilweise kritisch gesehen. Vgl. Grumke/van Hüllen, Verfassungsschutz (Fn. 51), S. 113 f. Dagegen positiv: Wittmoser, Landesämter (Fn. 22), S. 93 ff. 113 Vgl. Gärditz, AöR 144 (2019), 81 (131). 114 So Gärditz, AöR 144 (2019), 81 (129 ff.). 115 Siehe z. B. Staatsvertrag über die Einrichtung und den Betrieb des Rechen- und Dienstleistungszentrums Telekommunikationsüberwachung der Polizeien im Verbund der norddeutschen Küstenländer v. 20. 07. 2016, (HmbGVBl. S. 320); Staatsvertrag über die Errichtung eines Gemeinsamen Kompetenz- und Dienstleistungszentrums der Polizeien der Länder Berlin, Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen auf dem Gebiet der polizeilichen Telekommunikationsüberwachung als rechtsfähige Anstalt öffentlichen Rechts v. 08. 09. 2017 (SächsGVBl. S. 641). 116 Dazu Hofmann, ZG 2019, 194 (213 f.); Graulich, GSZ 2019, 9 (12 f.).
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Länder ähnelt dabei der beschriebenen Situation im Verfassungsschutzrecht. Wenngleich die politischen Erfolgsaussichten eines Musterverfassungsschutzgesetzes unterschiedlich bewertet werden mögen117, ist jedenfalls eines sicher: die Erarbeitung eines Musterentwurfs wäre Anlass für eine erstmalige gründliche wissenschaftliche Befassung mit der einschlägigen Landesgesetzgebung. Durch die Untersuchung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden würde v. a. eine Vergleichbarkeit landesrechtlicher Vorschriften ermöglicht und eine gesteigerte (fach-)öffentliche Aufmerksamkeit hergestellt.118 Das Musterverfassungsschutzgesetz und sein Erarbeitungsprozess können auf diese Weise für einen Transparenzgewinn sorgen.
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Siehe Graulich, GSZ 2019, 9 (9 ff.); Walter, Kriminalistik 2019, 243 (243 ff.). Zum Nutzen eines Musterentwurfs siehe Kaiser/Struzina, ZG 2018, 111 (111 ff.).
Terrorismus und präventives Strafrecht Zu den Möglichkeiten und Problemen eines sogenannten präventiven Strafrechts gegen terroristische Straftaten Von Wolfgang Frisch Terroristische Straftaten haben das Deutschland der Nachkriegszeit wiederholt und besonders massiv in den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts erschüttert. Die Opfer der damaligen Straftaten der RAF1 und ihrer Mitglieder waren ausgewählte Repräsentanten des damaligen Systems: gezielt ausgesuchte Politiker,2 der Generalbundesanwalt,3 der Präsident des Arbeitgeberverbandes4 oder der Vorstand der größten Bank der Republik5. Die Entführung oder Tötung dieser Personen war – für terroristische Straftaten charakteristisch6 – nicht Selbstzweck, sondern verfolgte weitere Ziele:7 die Freipressung von Gefangenen, die Erreichung oder Vereitelung sonstigen staatlichen Handelns oder die Demonstration eigener Macht und der Ohnmacht des herkömmlichen Systems.
1 Zu deren Entstehung und ihren Taten Zöller, Terrorismusstrafrecht. Ein Handbuch, 2009, S. 36 ff.; zu früheren terroristischen Anschlägen in der Bundesrepublik Deutschland, etwa im Rahmen der Olympischen Spiele in München 1972, s. z. B. Zöller, aaO., S. 33 f. und ders., GA 2010, 607 (613 f.); allg. zur Geschichte des Terrorismus Laquer, Die globale Bedrohung, 1998, S. 15 ff. und Zöller, Terrorismusstrafrecht, S. 12 ff. 2 So im Fall der Entführung des CDU-Politikers Lorenz 1974. 3 Ermordung des Generalbundesanwalts Buback 1977. 4 Entführung und spätere Ermordung von Hans-Martin Schleyer 1977. 5 Ermordung des Vorstandssprechers der Deutschen Bank Alfred Herrhausen 1989. 6 Zum Begriff und zu den Charakteristika des Terrorismus und terroristischer Taten z. B. Cancio Meliá, GA 2012, 1 ff.; Pawlik, Der Terrorist und sein Recht, 2008, S. 10 ff.; Vest, Terrorismus als Herausforderung des Rechts, 2005, S. 34 ff.; Zöller, Terrorismusstrafrecht (Fn. 1), S. 99 ff.; ders., GA 2010, 607 (610 ff.), je m.w.N.; allgemeiner (und auch zum Wandel des Begriffs) T. Herzog, Terrorismus – Versuch einer Definition und Analyse internationaler Übereinkommen zu seiner Bekämpfung, 1991, S. 17 ff.; Hoffmann, Terrorismus – der unerklärte Krieg, 1998, S. 13 ff.; P. Waldmann, Terrorismus und Bürgerkrieg, 2003, S. 14 ff. 7 Zu diesem Aspekt z. B. Cancio Meliá, GA 2012, 1 (12 f.); Herzog, Terrorismus (Fn. 6), S. 93 ff.; Pawlik, Terrorist (Fn. 6), S. 12 f.; Zöller, GA 2010, 607 (611 f.); ders., Terrorismusstrafrecht (Fn. 1), S. 146, je m.w.N. auch zu abw. Auffassungen.
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I. Wandlungen im Bereich terroristischer Straftaten und die Idee eines präventiven (Terrorismus-)Strafrechts Die terroristischen Taten, die seit etwa zwei Jahrzehnten die Welt in Atem halten8 und über die Staaten des Nahen Ostens und der arabischen Welt mittlerweile auch Europa und Deutschland erreicht haben, folgen zwar dieser Grundcharakteristik terroristischer Taten: Auch hier ist die Tötung oder sonstige massive Beeinträchtigung der von den Anschlägen betroffenen Personen nicht Selbstzweck, sondern dient der Verfolgung weiterer Ziele – angefangen bei der Demütigung oder der Demonstration der Ohnmacht des politischen Gegners über die Schädigung ganzer Staaten und ihrer Wirtschaft9 bis hin zur fanatischen Erfüllung vermeintlicher religiöser oder göttlicher Aufträge. Gleichwohl weisen die terroristischen Taten, die gegenwärtig auch die Staaten Europas treffen, eine neue Dimension auf.10 Nicht nur die jeweils verfolgten Ziele sind vielfach diffuser und unberechenbarer geworden. Die Taten verbreiten auch weit mehr Angst und Schrecken11 als frühere terroristische Anschläge. Denn die diffusen und wirren Ziele, die die Täter vieler heutiger Terroranschläge verfolgen, lassen sich durch die Tötung oder sonstige Beeinträchtigung beliebiger Opfer demonstrieren.12 Dementsprechend kann im Prinzip jedermann Opfer solcher Terrortaten werden.13 Die Taten schaffen damit über das schwere Leid, das sie den Opfern und ihnen nahestehenden Personen zufügen, auch ein allgemeines Gefühl der Verunsicherung. Dabei bleibt es freilich nicht. Die Beeinträchtigung des allgemeinen Sicherheitsgefühls schlägt auch auf das Verhalten von Teilen der Bevölkerung, auf die Art und Weise des Umgangs mit bestimmten Freiheiten durch. Der Verzicht auf Reisen in bestimmte arabische Staaten oder in die Türkei nach dem Bekanntwerden terroristischer Anschläge belegen das mit aller Deutlichkeit. In dieselbe Richtung weist 8
Das markanteste Datum bildet wohl der 11. September 2001 mit den Angriffen des Terrornetzwerks Al Qaida auf das World-Trade-Center; zu Vorläufern Vest, Terrorismus (Fn. 6), S. 8. 9 Beispielhaft dafür etwa die Terroranschläge in der Türkei, von der auch deutsche Urlauber betroffen waren, mit dem Ziel, auf diese Weise der Tourismusbranche des Landes zu schaden und so letztlich den Staat zu schwächen. 10 S. dazu etwa die Beiträge von Neidhardt, Waldmann, Eisvogel und Scheerer, in: Graulich/Simon (Hrsg.), Terrorismus und Rechtsstaatlichkeit, 2007, S. 41 ff., 47 ff., 57 ff. und 69 ff.; Zöller, Terrorismusstrafrecht (Fn. 1), S. 45 ff., 73 ff., 84 ff. 11 Zu diesem Aspekt als zentralem Charakteristikum des Terrorismus und terroristischer Straftaten vgl. etwa Cancio Meliá, GA 2012, 1 (10 f).; Vest, Terrorismus (Fn. 6), S. 35 f.; Zöller, GA 2010, 607 (612); s. auch für die europäische Ebene Art. 1 I des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. 6. 2002 zur Terrorismusbekämpfung (ABl. L 164, 3 v. 22. 6. 2002); zu der dahinterstehenden Kommunikationsstrategie Cancio Meliá, GA 2012, 1 (10 f.); Hoffmann, Terrorismus – der unerklärte Krieg, 2006, S. 268 ff.; Pawlik, Terrorist (Fn. 6), S. 12; Vest, Terrorismus (Fn. 6), aaO.; Waldmann, Terrorismus (Fn. 6), S. 16 f.; ders., in: Graulich/Simon (Hrsg.), Terrorismus (Fn. 10), S. 47 ff.; Zöller, GA 2010, 607 (612 f.), je m.w.N. 12 Die i.d.S. willkürlich getroffen werden; vgl. Vest, Terrorismus (Fn. 6), S. 35 m.w.N. 13 Siehe dazu auch Zöller, GA 2010, 607 (613); ob darin ein „qualitativer“ oder nur ein „quantitativer“ Sprung liegt (für Letzteres Cancio Meliá, GA 2012, 1 [11]), ist eine zweitrangige und auch terminologische Frage.
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es, wenn z. B. nach den Anschlägen in Paris ausgesprochen frankophile, rational denkende Freunde für längere Zeit Paris mieden oder potentielle Besucher von Weihnachtsmärkten sich fragten, ob sie angesichts des Berliner Anschlags nicht sicherheitshalber zu Hause bleiben sollten. Die Erwartungen, die sich in dieser Situation seitens der Bevölkerung an den Staat richten, sind hoch. Die Bevölkerung erwartet, dass der Staat und seine Organe, im Rahmen des rechtlich Zulässigen, alles ihnen Mögliche tun, um die als Bedrohung empfundenen Straftaten abzuwenden, zum Schutz potentieller Opfer wie, angesichts der Zufälligkeit der Opfereigenschaft, zur Gewährleistung allgemeiner und damit auch der eigenen Sicherheit14 als Basis und unverzichtbare psychologische Bedingung unverzerrter Freiheitsausübung. Die Maßnahmen, die insoweit konkret erwartet werden, betreffen zwar in erster Linie den Bereich der polizeilichen Tätigkeit. Hier wird – zu Recht – eine bessere Koordination, die rechtzeitige Reaktion auf Warnungen, eine intensivere Überwachung identifizierter Gefährder und vieles andere gefordert.15 Nicht weniger – und ebenfalls im Grundsatz zu Recht – erwartet die Bevölkerung, dass die im Zuge des Wegfalls der inneren Grenzen Europas entstandenen Sicherheitsdefizite in effizienter Weise kompensiert werden. Erwartungen richten sich freilich auch an die Ausgestaltung und Anwendung des Strafrechts.16 Auch dieses soll – im Rahmen des rechtlich Zulässigen – die ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ausschöpfen, um terroristische Straftaten nicht nur zu ahnden, sondern sie auch wirksam zu verhüten. Zusammengefasst findet sich all das in dem Schlagwort eines gegenüber der Gefahr terroristischer Straftaten bereits präventiv
14 Zu diesem gestiegenen Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung z. B. allgemein Kury/ Brandenstein/Yoshida, ZStW 121 (2009), 192 (214 ff.); Schöch, in: Lösch/Bender/Jehle (Hrsg.), Kriminologie und wissensbasierte Kriminalpolitik, 2007, S. 45 ff.; Sieber, NStZ 2009, 353 f. – Zur Gewährleistung von Sicherheit als zentraler Aufgabe des Staates Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, 1999, S. 351 ff.; Brugger, Freiheit und Sicherheit, 2004, S. 12 ff., 39 ff., 53 ff.; H. Hofmann, Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, 4. Aufl. 2008, S. 135 ff., 153 ff.; Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 16. Aufl. 2010, S. 103 ff.; zu einem Grundrecht auf Sicherheit Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987; wegen einer Konkretisierung für das Strafrecht vgl. Frisch, in: Gander/Perron u. a. (Hrsg.), Resilienz in der offenen Gesellschaft, 2012, S. 55 ff. – Zur Reichweite des Sicherheitsversprechens des Staates vgl. die Beiträge von Uhrlau, Bull, Lommer und Klingst, in: Graulich/Simon (Hrsg.), Terrorismus und Rechtsstaatlichkeit (Fn. 10), S. 297 ff., 303 ff., 325 ff. 15 Vgl. dazu als Beispiel nur die Kritik an den zahlreichen Pannen im Zusammenhang mit der Überwachung von Anis Amri oder des Freiburger Hussein K. – Zu Erwartungen an das Völkerrecht und zu den insoweit aufgeworfenen Problemen s. z. B. Vest, Terrorismus (Fn. 6), S. 9 ff., 28 ff.; dort S. 45 ff. auch zu (insoweit) neuen internationalen Strategien gegen Terrorismus (etwa im Rahmen der Resolution 1373 des Sicherheitsrates v. 28. 9. 2001) und deren nationaler Umsetzung (S. 55 ff. zur Schweiz). 16 S. dazu etwa Griesbaum, Justizgewährung, in: Graulich/Simon (Hrsg.), Terrorismus und Rechtsstaatlichkeit (Fn. 10), S. 203, 211 f., 213 ff.
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agierenden und wirksamen Strafrechts – kurz eines Präventiv- oder Präventionsstrafrechts.17 Gegenüber solchen Forderungen an das Strafrecht liegen nun freilich auch Fragen und Einwände nahe. Verkennen diese Forderungen nicht schon das Wesen des Strafrechts, das nicht präventiv, sondern retrospektiv orientiert ist?18 Aber auch abgesehen davon: Stößt die Forderung nach einer effizienten präventiven Wirkung des Strafrechts gegenüber terroristischen Straftätern nicht möglicherweise sehr rasch schon an natürliche Grenzen, weil man es mit einer für die präventive Wirkung des Strafrechts – jedenfalls des normalen Strafrechts – besonders ungeeigneten Täterklientel zu tun hat? – Die folgende Skizze wird zeigen, dass das in der Tat so ist und eine größere präventive Wirksamkeit des Strafrechts gegenüber terroristischen Straftaten allenfalls über Vorverlagerungen der Strafbarkeit möglich ist, die freilich ihrerseits in ein Dilemma führen: Sollen diese Vorverlagerungen die erwünschte präventive Wirkung entfalten, so geraten sie leicht in Widerspruch zu tragenden Prinzipien des Straf- und Verfassungsrechts; versucht man sie aber mit diesen in Einklang zu bringen, so wird ihre präventive Wirkung fraglich.
II. Erste Antworten – Grenzen der präventiven Wirkung des Normalstrafrechts (Einsatz der Strafe) gegenüber terroristischen Straftaten Von den eben skizzierten Fragen und Einwänden gegen die Idee eines wirksamen präventiven Strafrechts gegenüber terroristischen Straftaten lässt sich wohl am leichtesten jenes Bedenken zurückweisen, das lange Zeit von den Vertretern der sogenannten klassischen Straftheorie gegen ein präventionsorientiertes Strafrecht vorgebracht wurde: dass ein so ausgerichtetes Strafrecht das Wesen der Strafe verkenne, die überhaupt nicht im Dienste der Prävention stehe, sondern der Vergeltung begangenen Unrechts oder dem Ausgleich der Schuld diene, die der Täter durch seine Tat auf sich geladen hat.19 Man darf schon bezweifeln, ob die einer solchen Sicht zugrun17 Zum „neuen Präventionsstrafrecht“ Sieber, NStZ 2009, 353 (355); Radtke/Steinsiek, ZIS 2008, 383 (387); allgemein aus jüngster Zeit z. B. Brunhöber (Hrsg.), Strafrecht im Präventionsstaat, 2014; Gierhake, Der Zusammenhang von Freiheit, Sicherheit und Strafe im Recht, 2013 (krit.); Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht, 2014 und zuletzt Puschke, Legitimation, Grenzen und Dogmatik von Vorbereitungstatbeständen, 2017; schon um die Jahrtausendwende Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts, 2000. 18 I.d.S. etwa die Frage von Sieber, NStZ 2009, 353 (355); Ogorek, in: Graulich/Simon (Hrsg.), Terrorismus und Rechtsstaatlichkeit (Fn. 10), S. 203 (211 f., 213 ff.) und vielen anderen. 19 Vgl. etwa (als Vertreter der „klassischen“ Schule) Binding, Grundriß des gemeinen deutschen Strafrechts I, 5. Aufl. 1897, S. 145 ff.; Birkmeyer, GA 1901, 7 ff.; R. Schmitt, Die Aufgaben der Strafrechtspflege, 1895, S. 123 ff.; i.S. einer Frage wiederholt von Sieber, NStZ 2009, 353 (355); krit. auch Hassemer, StV 2006, 321 (326, 331 f.).
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de liegenden Theorien der Strafverhängung im heutigen verfassungsrechtlichen Rahmen noch haltbar sind (so die Theorie der Vergeltung) und ob sie eine vollständig formulierte und hinsichtlich des Zwecks zutreffend akzentuierende Straftheorie (so die Theorie des Schuldausgleichs) darstellen.20 Jedenfalls ist eine solche Sicht des staatlichen Strafrechts unvollständig und zu einseitig. Natürlich bezweckt das Strafrecht – und zwar schon mit der Strafe (zu den vorbeugenden Maßnahmen siehe noch unten III.) – auch Prävention. Das zeigt sich vor allem an den Strafdrohungen: Diese wollen ja nicht nur den Richter nach begangener Tat zur Verhängung von Strafe ermächtigen. Sie sollen vor allem auch potentielle Täter von ihren Taten abhalten.21 Das ist eindeutig präventionsorientiertes Strafrecht. Aber auch die Bestrafung des Täters nach begangener Tat dient nicht nur dem Schuldausgleich, sondern vor allem der Bestätigung der Geltung und Unverbrüchlichkeit des Rechts und damit der Erhaltung der generellen Präventionskraft der Strafrechtsordnung22 – das Maß der Schuld kennzeichnet nur das Maß der zu diesem Zweck zulässigen Strafe. Mit der Einforderung eines präventiv effizienteren Strafrechts gegenüber terroristischen Straftaten wird daher keineswegs eine Forderung erhoben, der schon prinzipiell das Wesen des Strafrechts und der Strafe entgegenstehen. Das zeigt sich auch bei einem Blick auf die spezialpräventive Seite der Strafe. Ihr dient vor allem die Freiheitsstrafe, die – neben der generalpräventiven Geltungsbestätigung – zugleich bezweckt, die Gemeinschaft während der Dauer der Strafzeit durch den Freiheitsentzug und für die Zeit danach durch dem Täter zuteil werdende sozialisierende Maßnahmen zu schützen.23 Zwar ist das in einem Strafrecht, das – wie das deutsche Strafrecht aus verfassungsrechtlichen Gründen – dem Schuldprinzip verpflichtet ist, nur in den Grenzen der Schuldstrafe möglich; über das Maß der Schuld des Täters (an seiner Tat) hinausgehende Strafen sind auch gegenüber besonders gefährlichen oder lange Zeit gefährlichen Tätern nicht möglich.24 Aber an dieser Stelle werfen terroristische Straftaten schon jetzt keine unlösbaren Probleme auf: 20 S. dazu näher Frisch, in: Koslowski (Hrsg.), Endangst und Erlösung 2, 2012, S. 53, insb. 68 ff.; ders., GA 2015, 65 (69 ff.); Puschke, Vorbereitungstatbestände (Fn. 17), S. 81 f., m.w.N. 21 Frisch, in: Hefendehl et al. (Hrsg.), Schünemann-FS, 2014, S. 55 (59 m.w.N.); dort S. 62 ff. auch zu weiteren, mehr auf der Linie der positiven Generalprävention liegenden Zwecken; in der Rspr. des EGMR und des EuGH wird solches Abhalten potentieller Täter von ihren Taten sogar als Zweck der Strafe schlechthin betont; s. dazu z. B. EuGH E 1984, 1909 – Rs 14/83 „von Colson und Kammann“ (Rn. 28); EuGH E 1991, I – 4371 – Rs C 7/90 „Vande Venne“ (Rn. 11); weit. Nachw. bei Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, 2001, S. 337 f. und Frisch, GA 2009, 385 (402 f.). 22 Vgl. etwa BGHSt 24, 40 (42): Schuldausgleich nicht um seiner selbst willen, sondern zur Erfüllung der präventiven Schutzaufgabe des Strafrechts; s. erg. Frisch, GA 2015, 65 (70 ff.); ders., GA 2019, 185 (193); ders., GA 2019, 535 (539 ff.); ders., in: Roxin/Widmaier (Hrsg.), BGH FG aus der Wissenschaft IV, 2000, S. 269 (275 ff.). 23 I.d.S. auch § 2 S. 2 StVollzG. 24 Aus der Rspr. des BGH ausdrücklich i.d.S. BGHSt 20, 264 (266 f.); BGH NJW 1987, 3015; aus der Rspr. des BVerfG BVerfGE 50, 5 (14); 54, 100 (108); 128, 326 (376); erg. Frisch, in: Heger et al. (Hrsg.), Kühl-FS, 2014, S. 187 ff.
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Denn diese Straftaten richten sich in aller Regel gegen die höchsten Rechtsgüter, insbesondere das menschliche Leben, so dass auch die auf diese Taten stehenden Schuldstrafen meist eine langjährige, ja sogar lebenslange Sicherung vor dem Täter und damit Prävention ermöglichen. Damit ist zugleich gesagt, dass für die hier interessierenden Taten auch unter generalpräventivem Aspekt rechtlich bereits alles zur Verfügung steht, was zur Erzielung generalpräventiver Wirkungen vom Strafrecht an Strafen überhaupt zur Verfügung gestellt werden kann. Das Problem, das terroristische Straftaten für das präventive Normalprogramm des Strafrechts, also den Einsatz der Strafe, aufwerfen, hat nichts mit Defiziten des strafrechtlichen Rechtsrahmens zu tun. Es liegt darin, dass dieses präventive Normalprogramm des Strafrechts gegenüber terroristischen Straftätern aus (kaum änderbaren) tatsächlichen Gründen nicht greift, sondern gleichsam „verpufft“. Das gilt sowohl für die erwähnte Generalprävention als auch für die Spezialprävention durch Strafe: Wer bereit ist, sich bei einem Terroranschlag selbst in die Luft zu sprengen, lässt sich davon auch durch staatliche Strafdrohungen nicht abhalten.25 Aber auch Terroristen, die sich nicht selbst opfern wollen, lassen sich aufgrund ihres Fanatismus und der Hoffnung, nicht gefasst zu werden, vom Strafrecht kaum abschrecken.26 Die Sicherung vor den weiteren Taten von Personen, die bereits Terroranschläge begangen haben, aber läuft deshalb weitgehend leer, weil die Täter – sofern sie bei ihrer Tat selbst nicht schon um das Leben gekommen sind – nicht selten unerkannt bleiben, nicht fassbar sind oder sich in für unsere Strafverfolgungsorgane unerreichbare Regionen abgesetzt haben. Daran vermögen auch Änderungen der durch die terroristischen Straftaten erfüllten Tatbestände und der dafür angedrohten Strafen nichts zu ändern (sondern allenfalls kann dies eine Intensivierung der polizeilichen Ermittlungstätigkeit).
III. Zu den Potentialen und Grenzen der sogenannten zweiten Spur des Strafrechts Nun steht dem Strafrecht zur Verhütung drohender Straftaten freilich seit langem nicht nur das auf die Strafe gestützte „strafrechtliche Normalprogramm“ der Pönalisierung begangener Taten zur Verfügung. Der Streit um die richtige – repressive oder präventive – Ausrichtung der Strafe, der zwischen der sogenannten klassischen
25 Denn wenn schon die Strafe nicht wirken kann, bei der das mit der Strafe angedrohte Übel hinter dem bei der Nichtbegehung der Tat drohenden Übel zurückbleibt (Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, Anhang zur Einleitung in die Rechtslehre, II. Das Notrecht [Bd. IV, S. 343 in der von Weischedel herausgegebenen Gesamtausgabe, 1956/1983]), so erst recht nicht die Strafe, die den Täter nach seiner Vorstellung überhaupt nicht mehr treffen kann. 26 Zutr. Sieber, NStZ 2009, 353; Kubiciel, Die Wissenschaft vom Besonderen Teil des Strafrechts, 2013, S. 229 m.w.N.
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und der modernen Schule über Jahrzehnte hinweg erbittert geführt wurde,27 hat in Deutschland und einer Reihe anderer Staaten schließlich als Kompromiss die ergänzende Einführung einer zweiten, neben der Strafe bestehenden „Spur“ (oder Sanktion) des Strafrechts gebracht: der sogenannten Maßregeln der Sicherung und Besserung (heute „Maßregeln der Besserung und Sicherung“), also verbrechensvorbeugender Maßnahmen.28 Diese ermöglichen die Unterbringung von Personen, von denen erhebliche (weitere) Straftaten drohen, auch ohne Schuld oder über das Maß der Schuld hinaus. Dabei geht es nicht nur um die Unterbringung psychisch kranker oder süchtiger Täter, sondern – in Gestalt der Sicherungsverwahrung – auch von solchen, die durchaus schuldfähig sind. Im konzeptionellen Grundansatz tragen diese verbrechensvorbeugenden Maßnahmen exakt – und wohl am direktesten – dem Bemühen Rechnung, mit Hilfe des Strafrechts schwere Straftaten, also gerade auch terroristische Straftaten, zu verhindern. Rein theoretisch wäre es auch möglich, mit Hilfe solcher vorbeugender Maßregeln auf eine (fassbare) Person zuzugreifen und diese zur Straftatenverhütung unterzubringen, noch bevor es zur eigentlich zu verhindernden terroristischen Tat gekommen ist – sofern nur die Anordnungsvoraussetzungen dieser Maßregeln erfüllt sind. Doch an eben dieser Stelle liegt das Problem. In ihrem gegenwärtigen Zuschnitt lassen sich die Maßregeln der Besserung und Sicherung zur Verhinderung terroristischer Straftaten kaum fruchtbar machen. Die gegenüber psychisch kranken und süchtigen Tätern vorgesehenen Unterbringungen dürften regelmäßig schon nach ihrem personellem Zuschnitt ausscheiden. Die Sicherungsverwahrung fällt zwar nicht schon deshalb aus. Sie scheitert aber daran, dass in den meisten Fällen die hohen formalen und materiellen Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 1 StGB nicht erfüllt sind.29 Nicht selten sind die in terroristische Anschläge verstrickten Personen zuvor strafrechtlich überhaupt nicht oder doch nur mit Straftaten in Erscheinung getreten, die weit unter den formellen Anordnungsvoraussetzungen der Sicherungsverwahrung liegen. Und die materiellen Verdachtsmomente, die wegen gewisser Auffälligkeiten gegen sie bestehen, mögen zwar für Überwachungen genügen, für eine belastbare Prognose, dass von der verdächtigen Person mit hoher Wahrscheinlichkeit eine terroristische Straftat droht, taugen sie jedoch in aller Regel nicht.30 Eine nennenswerte Bedeutung bei der Verhinderung terroristischer Straftaten könnten die verbrechensvorbeugenden Maßnahmen, insbesondere die Sicherungsverwahrung, damit nur erlangen, wenn man bereit wäre, die formellen und materi27 S. dazu den Überblick bei Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl. 1965, S. 386 ff. 28 Dazu näher Eb. Schmidt, Einführung (Fn. 27), S. 387 f.; Exner, Die Theorie der Sicherungsmittel, 1914, passim; Frisch, ZStW 94 (1982), 565 (568 ff.); 102 (1990), 343 ff., m.w.N. 29 Zutr. Sieber, NStZ 2009, 353 (356). 30 Zu den hohen Anforderungen, die auch das BVerfG an die in § 66 StGB geforderten Prognosen stellt, vgl. z. B. BVerfGE 109, 190 ff. und 133 ff.; 128, 326 (373 f.); s. erg. Frisch, in: Heckmann et al. (Hrsg.), Würtenberger-FS, 2013, S. 959 (974 m.w.N.).
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ellen Anordnungsvoraussetzungen drastisch abzusenken – etwa auf Sachverhalte, die den starken Verdacht begründen, dass eine Person eine terroristische Straftat begehen könnte. Überlegungen oder Vorschläge in dieser Richtung dürften gegenwärtig kaum Aussicht auf Realisierung haben – schon in der jetzigen Gestalt bläst der Sicherungsverwahrung ja der Wind scharf ins Gesicht.31 Diesen Weg zu empfehlen, erscheint auch nicht vertretbar. Ein solches Konzept liefe praktisch auf die Einführung freiheitsentziehender Maßnahmen ante delictum hinaus, zu der sich wirkliche Rechtsstaaten bisher – mit Recht – nicht verstehen konnten. Sachverhalte des Verdachts, die es legitimieren, gegen eine Person zu ermitteln, reichen nicht schon dazu, sie vorsorglich für viele Jahre zu internieren. Man nähme damit sehenden Auges in Kauf, Personen zu Unrecht die Freiheit zu entziehen; die hohen formellen und materiellen Anforderungen der Sicherungsverwahrung bestehen nicht ohne Grund. Im Übrigen wäre eine solche Freiheitsentziehung auch mit der Europäischen Menschenrechtskonvention, nämlich dem begrenzten Kanon zulässiger Freiheitsentziehungen nach Art 5 EMRK, unvereinbar.32 Aber was bleibt dann noch für ein präventives Strafrecht gegen terroristische Straftäter, wenn das präventive „Normalprogramm“ weitgehend verpufft und das gezielte spezialpräventive Verhütungsprogramm der vorbeugenden Maßregeln mit seinen hohen Anforderungen im Bereich terroristischer Straftaten wegen deren Besonderheiten praktisch nicht greift und sich auch schwerlich wirksamer gestalten lässt? Praktisch bleibt damit nur noch eines: die Erweiterung des Kreises der Straftaten, an die sich – auch sichernde – Freiheitsstrafen knüpfen, durch die Definition neuer Straftaten schon im Vorfeld der schweren Taten. Sie eröffnet die Möglichkeit, den Tätern solcher „Vorfeld“-Taten über die für diese Taten verhängten Strafen die Basis zur Ausführung der eigentlichen schweren Straftaten zu nehmen („sie aus dem Verkehr zu ziehen“33), und gibt den Ermittlungsbehörden durch die Definition solcher „Vorfeld“-Tatbestände zugleich die Möglichkeit zu Ermittlungen, über die sich die eigentlichen Anschläge u. U. verhindern lassen.34 Genau diesen Weg hat der deutsche Gesetzgeber denn auch im Jahre 2009 – wie mancher ausländische Gesetzgeber – beschritten,35 nicht zuletzt unter dem Einfluss europäischer Impulse.36 31
S. dazu Frisch, in: Würtenberger-FS (Fn. 30), S. 959 (967 ff. m.w.N.). Sieber, NStZ 2009, 353 (356) unter Anführung von Entscheidungen des EGMR; zur (sehr begrenzten) Möglichkeit einer Derogation nach Art. 15 EMRK vgl. Müller, Präventive Freiheitsentziehungen als Instrument der Terrorismusbekämpfung, 2011, S. 65 ff. und Pawlik, Terrorist (Fn. 6), S. 43 m.w.N. 33 Vgl. Fischer StGB, 66. Aufl. 2019, § 89a Rn. 8 (m. Kritik an dieser Strategie). 34 S. dazu Backes, StV 2008, 654 (660); Fischer, § 89a Rn. 8; Sieber, ZStW 119 (2007), 22 ff. (37 ff., 45 ff.); ders., NStZ 2009, 353. 35 Vgl. das „Gesetz zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Straftaten“ vom 30. 7. 2009 (BGBl. I 2429, 2437); zu diesem und seiner Begründung (BTDrucks. 16/12428, insbes. S. 1 f., 13) – überwiegend kritisch – Backes, StV 2008, 654 ff.; Bader, NJW 2009, 2853 ff.; Beck, in: Paulus FG, 2009, S. 15 ff.; Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling, NStZ 2009, 593 ff.; Gierhake, ZIS 2008, 397 ff.; Radtke/Steinsiek, ZIS 2008, 383 ff.; 32
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IV. Die Schaffung vorverlagerter Straftatbestände zur Verhinderung der eigentlichen terroristischen Straftaten In § 89a des StGB ist seit 2009 die Vorbereitung einer „schweren staatsgefährdenden Gewalttat“ mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bedroht. Die Vorschrift wird durch weitere Tatbestände ergänzt, welche – mit z.T. gleich hoher, z. T. abgesenkter – Strafdrohung die Aufnahme von Beziehungen zu bestimmten Vereinigungen (§ 89b), das Sammeln und Zurverfügungstellen von Vermögenswerten zur Begehung bestimmter Gewaltdelikte (§ 89c; bis 2015 § 89a Abs. 2 Nr. 4) oder die Verbreitung von Schriften unter Strafe stellen, die als Anleitung zur Begehung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten dienen könnten (§ 91). Als „schwere staatsgefährdende Gewalttaten“ werden dabei in § 89a Abs. 1 S. 2 Straftaten definiert, die sich als Mord oder Totschlag gegen das Leben oder als Erpresserischer Menschenraub oder Geiselnahme gegen die Freiheit richten und „nach den Umständen bestimmt und geeignet sind, den Bestand oder die Sicherheit eines Staates oder einer internationalen Organisation zu beeinträchtigen oder Verfassungsgrundsätze der Bundesrepublik Deutschland zu beseitigen, außer Geltung zu setzen oder zu untergraben“. Die strafbare Vorbereitung solcher Taten nach § 89a Abs. 1 wird in dessen Absatz 2 auf bestimmte Sachverhalte eingegrenzt – nämlich die Unterweisung oder das Sich-Unterweisen-Lassen in der Herstellung oder dem Umgang mit Schusswaffen, Sprengstoffen, von Spreng- und Brandvorrichtungen oder diversen gesundheitsschädlichen Stoffen oder sonstigen zur Tatausführung erforderlichen Vorrichtungen oder für die Begehung staatsgefährdender Straftaten dienlichen Fertigkeiten (Nr. 1), die Verschaffung und Verwahrung oder Überlassung entsprechender Waffen, Stoffe und Vorrichtungen (Nr. 2) sowie die Verschaffung von Gegenständen, die für die Herstellung der genannten Waffen, Stoffe und Vorrichtungen wesentlich sind (Nr. 3). Seit 2015 wird mit sechs Monaten bis zu zehn Jahren Strafe auch bedroht, wer es unternimmt, in einen ausländischen Staat zu reisen, wenn diese Reise dazu dient, eine staatsgefährdende Straftat zu begehen oder vorzubereiten oder bestimmte Unterweisungen zu erhalten (§ 89a Abs. 2a StGB); desgleichen in § 89c StGB die Sammlung, Entgegennahme oder das Zur-Verfügung-Stellen von Vermögenswerten, die zur Begehung bestimmter Straftaten verwendet werden sollen – wobei der Kreis dies., JR 2010, 107 ff.; Sieber, NStZ 2009, 353 ff.; Walter, KJ 2008, 443 ff.; Wasser/Piaszek, DRiZ 2008, 315 ff.; Weißer, ZStW 121 (2009), 131 ff.; Zabel, JR 2009, 453 ff.; Zöller, GA 2010, 607 f. 36 Es sollte damit auch das am 1. 6. 2007 in Kraft getretene Übereinkommen des Europarates zur Verhütung des Terrorismus (SEV Nr. 196) umgesetzt werden, das in Art. 7 die Verpflichtung enthält, die Ausbildung zu terroristischen Zwecken unter Strafe zu stellen; daneben Art. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/919/JS; dazu Zimmermann, ZIS 2009, 1 ff.; s. auch BTDrucks. 16/12458, S. 12 und 13 und Puschke, Vorbereitungstatbestände (Fn. 17), S. 32 ff., 37 ff.
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der insoweit in Betracht kommenden Taten erheblich über die staatsgefährdenden Gewalttaten des § 89a Abs. 1 StGB hinaus erweitert worden ist.37
V. Auffälligkeiten der Vorverlagerungen und offene Fragen 1. Praktisch wird mit den genannten Vorschriften über die Definition bestimmter Vorbereitungshandlungen als Straftaten mit dem Automatismus der Rechtsfolge Strafe die Anordnung einer Freiheitsentziehung ermöglicht, die in ihrem Rahmen durchaus der Sicherungsverwahrung entspricht.38 Die Barrieren, die im Programm gezielter Spezialprävention, nämlich den vorbeugenden Maßregeln, insbesondere der Sicherungsverwahrung, in Gestalt der Erfordernisse hoher Vorverurteilungen und einer belastbaren Schlechtprognose der Anordnung der Freiheitsentziehung entgegenstehen (s. oben III.), sind damit bedeutungslos geworden. Sie interessieren nicht mehr, weil der Gesetzgeber auf einen anderen Sanktionstyp umgeschaltet hat, in dem für die Zulässigkeit der Freiheitsentziehung hohe Vorverurteilungen keine Rolle spielen und belastbare Schlechtprognosen nicht zu stellen sind. Das eben Gesagte ist zunächst nur eine Feststellung, noch keine Kritik. Zwar mutet es etwas merkwürdig an, dass das, was nach den Legitimationsvoraussetzungen direkter Verbrechensvorbeugung nicht zu erhalten ist, nämlich die langjährige Unterbringung in der Sicherungsverwahrung, durch das Umschalten auf den Sanktionstyp der Strafe zur Verfügung gestellt werden kann – zumal die materialen Anknüpfungssachverhalte (ein bestimmtes Verhalten des Vorbereitenden) identisch erscheinen. Aber das muss nicht unbedingt gegen die Lösung des Gesetzes sprechen. Die Sanktionierung von Verhaltensweisen durch Strafe und der Zugriff auf Personen zum Zweck der bloßen Verbrechensvorbeugung folgen verschiedenen Legitimationsmustern.39 Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass Zugriffe, die nach dem Legitimationsmuster der vorbeugenden Maßnahmen nicht legitimiert werden können, als Strafen, die auf bestimmte Verhaltensweisen folgen, legitimierbar sind. Freilich, ob das so ist – das bedarf der Untersuchung. Es muss also überprüft werden und gesichert sein, dass das, was als Strafe für bestimmte Verhaltensweisen 37
Krit. zu dieser Erweiterung Puschke, StV 2015, 457 ff. Auf die Parallele zur Sicherungsverwahrung, die im Normalfall auf 10 Jahre befristet ist, haben die kritischen Würdigungen des § 89a StGB wiederholt hingewiesen; vgl. z. B. Sieber, NStZ 2009, 353 (355): „verdeckte vorbeugende Sicherungsverwahrung“; Pawlik, Terrorist (Fn. 6), S. 35 f.; s. auch Kubiciel, Wissenschaft (Fn. 26), S. 228 ff.: Ausdruck spezialpräventiver Straftheorien; für § 129a StGB auch schon Schroeder, Die Straftaten gegen das Strafrecht, 1985, S. 29. 39 Vgl. BVerfGE 128, 326 (376 f.) = NJW 2011, 1931 (1937 f., Tz. 104 – 106 und passim); dazu Frisch, in: Würtenberger-FS (Fn. 30), S. 959 (972 ff. m.w.N.); ders., in: Hecker et al. (Hrsg.), Rengier-FS, 2018, S. 605 ff.; s. auch Gierhake, Freiheit (Fn. 17), S. 32 ff., 247 ff. und 396 ff. 38
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vorgesehen ist, den Legitimationsbedingungen staatlichen Strafens genügt. Es darf sich – anders gewendet – nicht um einen „Etikettenschwindel“ handeln, bei dem unter dem Etikett der Strafe ohne Beachtung der Legitimationsbedingungen der Strafe jene Spezialprävention ermöglicht wird (oder gar ermöglicht werden soll), die nach den Legitimationsbedingungen direkter Prävention nicht zu haben ist.40 Die entscheidende Frage ist damit, ob das, was der Gesetzgeber in § 89a als Straftat definiert und mit relativ hoher Strafe belegt hat, den Legitimationsgrundsätzen staatlichen Strafens entspricht – und zwar dem Grunde wie der Höhe nach. 2. Die Erstreckung der Strafbarkeit in das Stadium der Vorbereitung allein steht der Möglichkeit einer Legitimation der Vorschrift insoweit nicht schon entgegen. Das deutsche Strafrecht kannte auch vor der Einführung des § 89a und der ihn ergänzenden Vorschriften schon Pönalisierungen im Vorfeld der eigentlichen Straftaten – etwa die Verbrechensverabredung (§ 30 Abs. 2), die versuchte Anstiftung zu einem Verbrechen (§ 30 Abs. 1) und die Mitgliedschaft in einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung (§ 129 bzw. § 129a). Viele dieser Vorverlagerungen lassen sich, zumindest im Kern und dem Grunde nach, legitimieren.41 Wenn der Gesetzgeber bei dieser Sachlage angesichts des weitgehenden Versagens des normalen strafrechtlichen Schutzprogramms gegenüber schweren terroristischen Straftaten zusätzlichen Schutz vor solchen Taten durch die Pönalisierung etwa strafwürdigen und strafbedürftigen Verhaltens im Vorfeld der befürchteten schweren Taten zu gewährleisten versucht, so ist dies wohl grundsätzlich nicht zu beanstanden.42 Freilich genügt diese formale Parallele allein noch nicht für eine Rechtfertigung. Das pönalisierte Verhalten muss selbst auch strafwürdig und strafbedürftig sein.43 3. Ob das der Fall ist – das ist die Frage. In der bisherigen Diskussion um die Vorschriften der §§ 89a bis c und § 91 StGB ist nicht nur auf wichtige Unterschiede 40 Gegen einen solchen „Etikettenschwindel“ z. B. Sieber, NStZ 2009, 353 (355); der Sache nach auch Fischer, § 89a Rn. 8. 41 Allgemein zur Beurteilung der Vorverlagerung der Strafbarkeit und deren Legitimierbarkeit (mit Unterschieden) Jakobs, ZStW 97 (1985), 751 ff.; Chou, Zur Legitimität von Vorbereitungsdelikten, 2011, insb. S. 27 ff., 115 ff., 147 ff., 184 ff., 216 ff.; Gierhake, Freiheit (Fn. 17), S. 180 ff.; Hellfeld, Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat, 2011, S. 117 ff.; Kubiciel, Wissenschaft (Fn. 26), S. 227 ff.; Paeffgen, in: Böse et al. (Hrsg.), Amelung-FS, 2009, S. 81 (103 ff.); Rackow, in: Bloy et al. (Hrsg.), Maiwald-FS, 2010, S. 615 ff.; Steinsiek, Terrorabwehr durch Strafrecht?, 2012, insb. S. 113 ff., 151 ff., 311 ff., 425 ff.; umfassend zuletzt Puschke, Vorbereitungstatbestände (Fn. 17), S. 10 ff., 19 ff., 49 ff. und passim. 42 Zutr. Puschke, Vorbereitungstatbestände (Fn. 17), S. 154 m. differenzierenden Ergebnissen S. 416 ff.; Hellfeld, Gewalttat (Fn. 41), S. 121 ff.; z. T. übereinstimmend Chou, Vorbereitungsdelikte (Fn. 41), S. 181 f., 216 ff.; a.A. Gierhake, Freiheit (Fn. 17), S. 197 ff., 456. 43 Zu Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit als Grundvoraussetzungen legitimen staatlichen Strafens Frisch, GA 2017, 364 ff. m.w.N.; Kaspar, Verhältnismäßigkeit (Fn. 17), S. 254 ff.
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zwischen diesen Vorschriften und den meisten traditionellen Vorverlagerungen hingewiesen worden.44 Man hat die Haltbarkeit der entsprechenden Pönalisierungen auch unter Hinweis auf die objektive Normalität vieler in den Tatbeständen aufgeführter Verhaltensweisen bezweifelt45 und die relative Unbestimmtheit der tatbestandlichen Umschreibungen gerügt.46 Andere halten die Vorschriften deshalb für problematisch, weil sie in Spannung zum Menschenbild der Verfassung stehen – es bleibe völlig unberücksichtigt, dass die hier pönalisierten Personen als zu freier Selbstbestimmung fähige Wesen ihre Meinung noch ändern können und die vorbereiteten schweren Gewalttaten möglicherweise gar nicht begehen.47 In Frage gestellt wird dann aber vor allem auch die Vereinbarkeit der Strafdrohungen mit dem Tatschuldprinzip:48 Worin liegt das gravierende Unrecht, das der schwere sozialethische Vorwurf der Strafe gedanklich – auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – voraussetzt, wenn der Täter objektiv fast sozialadäquate Handlungen vornimmt? Und handelt es sich wirklich um so gravierendes begangenes Unrecht, dass Strafen bis zu zehn Jahren gerechtfertigt werden können?49 Sind diese Strafen nicht vielleicht doch zu sehr an den noch gar nicht begangenen zukünftigen Taten und deren Unterbindung und damit letztlich am Konzept einer Sicherungsverwahrung ausgerichtet? Und endlich: Spricht gegen die Vorschrift nicht auch, dass Verurteilungen nach ihr bei Beachtung verfassungsrechtlich gebotener Restriktionen50 praktisch kaum möglich sind51 und 44 S. etwa Gierhake, ZIS 2008, 397 (405); Zöller, GA 2010, 607 (618); relativierend Kubiciel, Wissenschaft (Fn. 26), S. 241 f.; eingeh. zum Ganzen Puschke, Vorbereitungstatbestände (Fn. 17), S. 323 ff., 333 ff., 343 ff., 419 ff. 45 Vgl. z. B. Fischer, § 89a Rn. 35: „an sich neutrale Handlungen“; Petzsche, ZStW 131 (2019), 576 (586 ff.); Sieber, NStZ 2009, 353 (355): „Alltagshandlungen“; ebenso Radtke/ Steinsiek, ZIS 2008, 383 (388, 392 f.); Pawlik, Terrorist (Fn. 6), S. 35; übernommen auch von BGHSt 59, 218 (238 f.); relativierend aber Kubiciel, Wissenschaft (Fn. 26), S. 246 f. 46 S. insoweit z. B. Backes, StV 2008, 654 (657 f.); Beck, in: Paulus FG (Fn. 35), S. 15 (23 ff.); Radtke/Steinsiek, ZIS 2008, 383 (388 f.); dies., JR 2010, 107 (108); Zöller, GA 2010, 607 (615 m.w.N.); a.A. Bader, NJW 2009, 2853 (2855): weder Verstoß gegen Bestimmtheitsgrundsatz noch gegen Verhältnismäßigkeitsprinzip; differenzierende Betrachtung bei Fischer, § 89a Rn. 35 f. 47 Vgl. etwa Gierhake, ZIS 2008, 397 (402); Pawlik, Terrorist (Fn. 6), S. 35 f.; Walter, KJ 2008, 443 (446); in Bezug auf Verhaltensweisen ohne objektiven Deliktsbezug auch Sieber, NStZ 2009, 353 (360); krit. gegenüber diesen Argumenten im Blick auf Besonderheiten der Willensfestigkeit bei terroristischen Straftätern Kubiciel, Wissenschaft (Fn. 26), S. 240 f.; eingeh. zur Problematik Puschke, Vorbereitungstatbestände (Fn. 17), S. 331 f., 335 f., 346, 363 ff., 419 ff., 439 f. 48 Vgl. statt vieler Fischer, § 89a Rn. 8; Gierhake, ZIS 2008, 397 (400 ff.); Pawlik, Terrorist (Fn. 6), S. 35 f.; Petzsche, ZStW 131 (2019), 576 (585 ff.); Radtke/Steinsiek, ZIS 2008, 383 (392 f.); Sieber, NStZ 2009, 353 (356 f., 360 f.). 49 Krit. bzw. abl. insoweit z. B. Backes, StV 2008, 654 (656); Fischer, § 89a Rn. 45; NK/ Paeffgen, § 89a Rn. 53a; Pawlik, Terrorist (Fn. 6), S. 35 f.; Radtke/Steinsiek, ZIS 2008, 383 (391 f.); Sieber, NStZ 2009, 353 (361 f.). 50 I.S. einer verfassungsrechtlich gebotenen Beschränkung der Strafbarkeit bei Vorbereitungshandlungen für etwaige eigene „staatsgefährdende Gewalttaten“ auf Verhaltensweisen,
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die Vorschrift in der Rechtspraxis wohl fast nur als Ermittlungsgrundlage bedeutsam ist?52 4. Es ist im Rahmen dieses räumlich begrenzten Beitrags nicht möglich, all diese Fragen umfassend zu beantworten. Der Beitrag muss sich auf die Untersuchung der grundsätzlichen Frage beschränken, ob eine Vorverlagerung der Strafbarkeit, wie sie § 89a StGB (und die folgenden Vorschriften) enthält, zu legitimieren ist – wobei insbesondere auch mitbedacht werden muss, dass eine ganze Reihe der in der Vorschrift genannten Verhaltensweisen rein äußerlich unverfänglich ist. Zur grundsätzlichen Problematik gehört für den Fall einer möglichen Legitimation dem Grunde nach auch noch die Frage, ob die in der Vorschrift vorgesehene gravierende Strafe, die den Freiheitseingriff der Sicherungsverwahrung erreicht, legitimiert werden kann. Dagegen kann auf die spezifische Problematik einzelner in den §§ 89a ff. vorgesehener Verhaltensbeschreibungen in dem zur Verfügung stehenden Rahmen begreiflicherweise nicht mehr eingegangen werden – eine Ausnahme wird § 89a Abs. 2a bilden.53 Und auch manche der weiter oben unter 3. aufgeworfenen Fragen können nicht mehr im Einzelnen behandelt werden, vielmehr muss es insoweit bei einigen wenigen Bemerkungen sein Bewenden haben.
VI. Zur Frage einer möglichen grundsätzlichen Legitimierbarkeit des § 89a StGB 1. Ausgangspunkt für die Beantwortung der Frage nach der Legitimierbarkeit des § 89a und der ihn ergänzenden Tatbestände haben die Prinzipien des Tatschuldstrafrechts zu sein. Strafe ist danach als Übel und Tadel eine Antwort auf vom Täter schuldhaft verwirklichtes Unrecht. Sie ist daher – auch aus verfassungsrechtlichen Gründen54 und nach der Rechtsprechung des BVerfG – nur gerecht, wenn das, was der Täter begangen hat und was ihm mit der Strafe vorgeworfen bei denen der Handelnde zur späteren Gewalttat fest entschlossen ist, BGHSt 59, 218 (239 f.); 61, 36 (38 f.); zu weiteren im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit den Anforderungen eines Tatschuldstrafrechts notwendigen Einschränkungen s. Frisch, in: Barton et al. (Hrsg.), Fischer-FS, 2018, S. 315 (331 ff.). 51 Vgl. dazu z. B. Mitsch, NJW 2015, 209 (211 f.); Zöller, NStZ 2015, 373 (378); auch Radtke/Steinsiek, ZIS 2008, 383 (389). 52 I.S. einer Vermutung, dass die Eröffnung einer solchen Ermittlungsmöglichkeit wohl sogar der eigentliche Zweck der Neuschaffung von Tatbeständen wie § 89a StGB gewesen sein mag, vgl. Backes, StV 2008, 654 (660); Beck, in: Paulus FG (Fn. 35), S. 15 (31); Fischer, § 89a Rn. 8; Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling, NStZ 2009, 593 (597 f.), deren Vermutung durch Formulierungen der Gesetzesbegründung selbst durchaus gestützt werden (vgl. BT-Drucks. 16/12428, S. 3 und 13). 53 Dazu unten VII. 1. 54 Zur Verankerung des Schuldprinzips im Rechtsstaatsprinzips vgl. BVerfGE 20, 323 (331); 80, 109 (120); wegen der Querverbindung zur Menschenwürde vgl. BVerfGE 25, 269 (285); i.S. einer Zurückführung auf beides BVerfGE 130, 1 (28).
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wird, schweres schuldhaft begangenes Unrecht ist.55 Kein ausreichender Grund für die Bestrafung einer Person liegt dagegen in deren Gefährlichkeit, also darin, dass von dieser – u. U. erhebliche – Straftaten drohen; ein derartiger Sachverhalt mag allenfalls bei Erfüllung bestimmter weiterer Voraussetzungen eine vorbeugende Maßregel rechtfertigen.56 Die Ahndung eines in der Vergangenheit liegenden Geschehens setzt aber nicht nur voraus, dass das, was Strafe zur Folge haben soll, verschuldetes Unrecht, und zwar qualifiziertes Unrecht ist, das wegen seines Gewichts strafwürdig und strafbedürftig erscheint. Auch das Maß der gesetzlich vorgesehenen bzw. verhängten Strafe hat sich am Ausmaß des verschuldeten Unrechts zu orientieren.57 Ist das, was eine Person bisher begangen hat, nach allgemeinen Wertungsgrundsätzen lediglich minder schweres oder mittleres Unrecht, so darf hierauf also nicht deshalb mit einer dem Maß nach nur für schwere Straftaten vorgesehenen Strafe reagiert werden, weil von der Person nach ihrem bisherigen Verhalten noch schwere Straftaten zu erwarten sind (oder waren). Auch das wäre ein Verstoß gegen das verfassungsrechtlich abgesicherte Schuldprinzip. 2. Misst man § 89a (und die ihn ergänzenden weiteren Tatbestände) an diesen Prinzipien, so erscheint es (schon auf den ersten Blick) durchaus zweifelhaft, ob die Vorschrift diesen Anforderungen voll gerecht wird. Ganz besonders gilt dies, soweit das Gesetz bestimmte Verhaltensweisen – wie den Erwerb bestimmten Wissens oder gewisser Fähigkeiten, aber auch den Erwerb oder die Überlassung von Gegenständen –, die an sich unverfänglich sind,58 mit hoher Strafe belegt, wenn sie der Vorbereitung einer sogenannten „schweren staatsgefährdenden Gewalttat“ dienen. Rechtfertigt dieser im Kopf des Täters vorhandene planerische Hintergrund eines an sich unverfänglichen Verhaltens es, angesichts der das Gesetz sonst kennzeichnenden weitgehenden Straflosigkeit von Vorbereitungshandlungen des Einzeltäters wirklich, in einem derartigen Verhalten bereits eine schon begangene schwere Straftat zu sehen? Wird hier nicht möglicherweise die Wertung durch den Blick auf noch gar nicht Begangenes, allein Drohendes, verfälscht? Die Bedenken haben umso mehr Gewicht, als bei Verhalten, das ohne den planerischen Hintergrund unverfänglich wäre, ja keineswegs erst die Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit und deren Maß nach den Prinzipien der Tatschuld, sondern überhaupt erst einmal der Unrechtscharakter des bereits verwirklichten Verhaltens der Begründung bedarf. 55
Vgl. dazu BVerfGE 20, 323 (331); 25, 269 (286); 27, 18 (29); 34, 261 (267); 41, 121 (125); 45, 187 (259 f.); 50, 205 (214 f.); 120, 224 (24) 1; 133, 168 (199); näher dazu auch Frisch, NStZ 2013, 249 ff.; ders., NStZ 2016, 16 (21 f.); Kubiciel, Wissenschaft (Fn. 17), S. 247 ff. 56 S. dazu oben III.; erg. BVerfGE 128, 326 (364 f., 366 – 372); Frisch, in: Rengier-FS (Fn. 39), S. 605 (611 ff.); gegen ein Abgleiten in ein Täterstrafrecht zutr. auch Petzsche, ZStW 131 (2019), 576 (579 ff., 585 ff.). 57 S. dazu BVerfGE 20, 323 (331); 25, 269 (286); 27, 18 (29); 50, 205 (214 f.); 120, 224 (241); 133, 168 (198); dazu Frisch, NStZ 2016, 16 (21); auch schon NStZ 2013, 249 ff. 58 S. dazu schon die Nachw. oben Fn. 45.
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Aber auch soweit das bisher begangene Verhalten schon als solches verboten und mit Strafe belegt ist (wie z. B. der Erwerb von Schusswaffen oder von explosivem Material), bleiben Fragen. Die Strafen, die § 89a vorsieht, liegen hier meist deutlich über den Strafen, die für die entsprechenden Handlungen an sich vorgesehen sind.59 Lässt sich dies und die in § 89a (und einigen nachfolgenden Tatbeständen) vorgesehene Strafhöhe wirklich noch nach den Prinzipien des Tatschuldstrafrechts begründen? Wird nicht auch hier die eigentlich zu fordernde tatstrafrechtliche Beurteilung durch eine täterstrafrechtliche Perspektive ersetzt, in der zum alles dominierenden Wertungskriterium die noch gar nicht begangenen, nur geplanten Taten werden? 3. Der Blick in die Gesetzesmaterialien ist nicht geeignet, die skizzierten Bedenken zu zerstreuen und die sich stellenden Fragen auch nur halbwegs befriedigend zu beantworten. Denn hier ist zwar wiederholt von „sehr gefährlichen Tätern“ die Rede,60 also von dem, was in einem v. Lisztschen Täterstrafrecht interessiert hätte. Vertiefte und überzeugende Überlegungen dazu, warum schon die Verwirklichung der in der Vorschrift aufgeführten Verhaltensweisen schweres strafwürdiges Unrecht darstellen soll, das Strafe von bis zu zehn Jahren verdient, sucht man indessen vergeblich. Die insoweit zu konstatierenden Defizite werden auch durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht kompensiert, dessen 3. Senat sich immerhin um eine Legitimation der Vorschrift und der in ihr vorgesehenen Strafen bemüht.61 Nach der Auffassung des BGH folgt der Unrechtscharakter der hier interessierenden, „objektiv u. U. ganz neutralen Verhaltensweisen“ aus dem „subjektiven Kontext“, den „Plänen und Absichten“, die der Täter mit seinem Verhalten verfolgt. Ähnlich sei es ja auch beim Versuch, soweit hier objektiv als solches noch nicht verbotenes Verhalten zum Unrecht werde, weil es sich nach dem Plan des Täters als unmittelbares Ansetzen zur tatbestandlich erfassten Tat darstellt. Auch bei Delikten mit „überschießender Innentendenz“ wie etwa dem Diebstahl oder dem Betrug werde das tatbestandliche Unrecht entscheidend durch „eine bestimmte Absicht des Täters“ geprägt, „die sich im objektiven Tatbestand nicht widerspiegeln muss“. Richtig daran ist, dass eine Begründung des Unrechts (oder u. U. höheren Unrechts) in den hier interessierenden Sachverhalten ohne den Rekurs auf das Subjektive, also auf die „Pläne und Absichten des Täters“ (i.S.d. §§ 89a, c usw.) nicht möglich ist.62 Aber diese analytische Einsicht enthält selbst noch keine tragfähige Begründung dafür, dass und warum die Vornahme einer „an sich neutralen“ Handlung, wenn sie in bestimmter Absicht geschieht, sich in gravierendes Un59
Vgl. z. B. § 52 Abs. 2 Waffengesetz (Höchststrafe fünf Jahre). Vgl. etwa BT-Drucks. 16/12428, 1. und 2. 61 Vgl. (auch zum Folgenden) insbes. BGHSt 59, 218 (232 f.), 238 f.; 62, 102 (114); ansatzweise auch Sieber, NStZ 2009, 353 (360); Hellfeld, Vorbereitung (Fn. 41), S. 127; krit. dazu Mitsch, NJW 2015, 209 ff. 62 S. dazu auch noch unten 4. 60
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recht verwandelt. Der Hinweis, dass das Recht ähnliche Fälle kenne, ersetzt keine materiale Begründung, und schon gar nicht eine solche für den konkret interessierenden Tatbestand.63 Das gilt umso mehr, als die vom BGH gewählten Beispiele noch nicht einmal im Sinne des zu Begründenden aussagekräftig sind.64 Im Falle des „unmittelbaren Ansetzens“ geht es darum, dass ein dem eindeutig verbotenen und tatbestandlich erfassten Verhalten unmittelbar vorausgehendes Handeln, das mit diesem eine Tat bildet, an dessen Beurteilung als Unrecht teilhat. Es wäre überhaupt erst noch zu begründen, dass dies und warum dies auch Bedeutung für die Bewertung von Vorbereitungshandeln haben soll, welches in der Regel erhebliche Zeit vor dem eigentlich geplanten Delikt liegt und im Verhältnis zu diesem regelmäßig eine eigene Tat darstellt. Noch weniger trägt der Hinweis auf die Delikte mit „überschießender Innentendenz“ wie Diebstahl und Betrug. In beiden Fällen ist das Handeln des „Täters“ auch schon ohne die Absicht (bei vorsätzlicher Wegnahme oder Vorsatz in Bezug auf eine Schädigung des Getäuschten) Unrecht – die entsprechende Absicht ist in Wahrheit erst für die Strafwürdigkeit bedeutsam. Selbst die Begründung dafür bleibt indessen offen (und würde möglicherweise auch gar nicht für das hier zu Beweisende „passen“). Es mag naheliegen, die Lücke in der Argumentation des BGH durch den Hinweis zu schließen, dass das Handeln einer Person, die bestimmte in § 89a aufgeführte (an sich neutrale) Handlungen mit dem Ziel der (späteren) Begehung einer „schweren staatsgefährdenden Gewalttat“ vornehme, von ganz anderer Gefährlichkeit sei als ein äußerlich vergleichbares Handeln ohne solche Absicht. Derartige Hinweise auf die besondere Gefährlichkeit des von solcher Absicht getragenen Handelns finden sich denn auch.65 Aber diese Argumentation überzeugt nicht wirklich. Tatsächlich gehen von den in § 89a aufgeführten Handlungen als solchen in der Regel überhaupt keine Gefahren aus.66 Der Erwerb bestimmter Kenntnisse oder Fähigkeiten ist genauso wenig eine gefährliche Handlung wie der Erwerb von auch nichtdeliktisch nutzbaren Stoffen oder Gegenständen; und auch von der Ausreise der Person in ein fremdes Land, in dem Ausbildungseinheiten für den Umgang mit Schusswaffen oder Sprengstoffen unterhalten werden, geht für sich gesehen keine Gefahr aus. Gefährlich sind nicht die Handlungen, sondern es ist die Person, die die Handlungen vornimmt.67 Und diese Person wird in der 63
Zutr. die scharfe Kritik von Mitsch, NJW 2015, 209 (211). S. dazu erg. Frisch, in: Fischer-FS (Fn. 50), S. 315 (326 f.). 65 Schon in der Gesetzesbegründung, vgl. z. B. BT-Drucks. 16/12428, S. 12 ff. mehrfach; pauschal z. B. auch Kauder, ZRP 2009, 20; differenzierend Rackow, in: Maiwald-FS (Fn. 41), S. 615 (621 ff., 631 ff., 634 ff., 640). 66 Es handelt sich auch nicht um abstrakt gefährliche Verhaltensweisen; zum Unterschied der hier interessierenden Verhaltensweisen und abstrakt gefährlicher Verhaltensweisen Puschke, Vorbereitungstatbestände (Fn. 17), S. 319 ff., 323, 331 ff., 336; auch Gierhake, Freiheit (Fn. 17), S. 294 f., 296 und Kindhäuser, Lehr- und Praxiskommentar, 6. Aufl. 2015, § 89a Rn. 2. 67 Ebenso Fischer, § 89a Rn. 36; ähnlich Radtke/Steinsiek, ZIS 2008, 383 (392 f.); Steinsiek, Terrorabwehr (Fn. 32), S. 242 ff.; s. auch Sieber, NStZ 2009, 353 (363 f.); Weißer, ZStW 64
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Regel erheblich gefährlicher, nachdem sie diese Handlungen vorgenommen hat. Sie wird gefährlicher, weil sie der Umsetzbarkeit ihres Planes durch den Erwerb der dafür notwendigen Kenntnisse, Fähigkeiten, Gegenstände oder Stoffe ein Stück näher gekommen ist. Auf den ersten Blick scheinen die vorstehenden Überlegungen nicht sonderlich weiterzuführen. Auch sie enden ja offenbar bei einer – wenn auch erhöhten – Tätergefährlichkeit, also einem Befund, an den ein am Schuldprinzip orientiertes Tatstrafrecht nicht anknüpfen kann. Indessen sollte man an dieser Stelle den Gedankengang nicht voreilig abbrechen. Denn die zuletzt angestellten Überlegungen decken, wenn man sie etwas weiterführt, durchaus Sachverhalte auf, die auch für ein am Schuldprinzip orientiertes Tatstrafrecht bedeutsam sind. 4. Tatsächlich hat die Gefährlichkeit des Täters, der die Verwirklichung einer „schweren staatsgefährdenden Gewalttat“, also insbesondere einer vorsätzlichen Straftat gegen das Leben, plant, ja eine Entsprechung auf der Seite der potentiellen Opfer. Ihr korrespondiert eine Situation der Gefährdetheit (oder Gefährdung) der potentiellen Opfer68 – mögen die Opfer auch noch gar nicht bestimmt und bestimmbar sein und es vom Zufall abhängen, wer von der geplanten Tat als Opfer getroffen wird. Bei geplanten Delikten gegen das Leben ist die Sicherheit des Lebens der potentiellen Opfer in Gefahr69 – sind die Opfer noch gar nicht bestimmbar, so bedeutet dies nicht einen Fortfall der Gefahr, vielmehr wird die vom Täter ausgehende Gefahr zu einer allgemeinen Gefahr für die Sicherheit des Lebens. Die eben beschriebene Gefährdetheit potentieller Opfer ist im Kern im Grunde schon vorhanden, wenn der Täter zu seiner Tat fest entschlossen ist – es sei denn, eine Realisierung des Vorhabens wäre objektiv ausgeschlossen. Die Gefahr entfällt, wenn der „Täter“ sein Vorhaben aufgibt. Und sie steigt, wenn die Hindernisse, die der Durchführung der Tat bisher entgegenstanden, entfallen sind bzw. der planende Täter über alles verfügt bzw. alles erlangt hat, was er zur Durchführung der Tat benötigt. Die meisten dieser Veränderungen, genauer: Steigerungen der Bedrohungslage potentieller Opfer, treten nicht durch naturhafte Prozesse, sondern durch menschliche Handlungen ein – Handlungen des planenden Täters und/oder Handlungen Dritter. Typische Beispiele solcher die Gefahr für potentielle Opfer erhöhender Handlungen sind die Überlassung von zur Tatdurchführung notwendiger Mittel an den Täter, aber auch die Handlungen, mit denen sich dieser die benötigten Mittel verschafft; die Vermittlung jener Kennt121 (2009), 131 (149) und allgemein Heinrich, ZStW 121 (2009), 94 (123 ff.). – Auch die Begründung des Gesetzes selbst spricht nicht von gefährlichen Taten, sondern von „sehr gefährlichen Tätern“ (BT-Drucks. 16/12428, S. 2) und davon, dass diesen gegenüber „unter Sicherheitsaspekten eine Vorverlagerung des Strafrechtsschutzes geboten“ sei (aaO. S. 1). 68 Zu dieser Kehrseite der Gefährlichkeit (allerdings schon bezogen auf Handlungen) Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, 1989, S. 189 ff., 280 ff.; auch Puschke, Vorbereitungstatbestände (Fn. 17), S. 6 f., 217 f. 69 Also die Daseinsgewissheit insoweit erschüttert, vgl. schon Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 1, 3. Aufl. 2016, S. 372 f.; s. auch Kindhäuser, Gefährdung (Fn. 68), S. 208 ff.
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nisse und Fähigkeiten an den Täter, die dieser zur Tatdurchführung benötigt, aber wiederum auch das Sichverschaffen solcher Kenntnisse und Fähigkeiten durch den präsumtiven Täter selbst. An dieser Stelle werden Ansatzpunkte für ein Strafrecht sichtbar, das sich auch sonst (mit Verboten und Strafe) gegen Handlungen wendet, die Gefahren für wichtige Rechtsgüter schaffen oder erhöhen. Handlungen der eben genannten Art kommen auch für ein auf Rechtsgüterschutz zielendes Tatstrafrecht als Gegenstand von Verboten, deren Verletzung zu Strafe führt, in Betracht. Es ist keineswegs sonderbar oder gar als Gesinnungsstrafrecht anzusehen, dass sich der Staat mit Verbot und Strafe gegen solches fassbares gefahrschaffendes Verhalten wendet – es liegt vielmehr ganz und gar auf der Linie eines Strafrechts, das auch sonst darum bemüht ist, wertvolle Rechtsgüter gegen Gefahren zu schützen, denen potentielle Opfer nicht ausgesetzt sein wollen.70 Mehr noch: Man wird sogar davon ausgehen müssen, dass potentielle Opfer ein Recht darauf haben, durch das Verbot entsprechender gefahrschaffender Handlungen (und deren Strafbewehrung) vor einer Gefährdung und Beeinträchtigung ihrer elementaren Rechtsgüter (wie des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit und Freiheit) geschützt zu werden.71 Und: Dass ein Staat, zu dessen Legitimationsbedingungen und elementaren Aufgaben gerade auch der Schutz seiner Bürger gehört, diesen berechtigten Erwartungen Rechnung zu tragen hat.72 5. Natürlich müssen ein solches Verbot der Vornahme gefahrschaffender Handlungen und dessen strafweise Durchsetzung dem gefahrerhöhend Handelnden gegenüber legitimierbar sein. Dem könnte insbesondere entgegenstehen, dass der, dem bestimmtes Handeln – bei Strafe – verboten werden soll, ein Recht zu diesem Verhalten haben könnte. Diskussionsbedürftig ist das vor allem bei Handlungen, die an sich als unverfänglich gelten, weil sie mehr oder weniger häufig auch nicht zu beanstandenden Zwecken dienen – wie die Vermittlung oder der Erwerb von Kenntnissen und Fähigkeiten, die auch außerhalb deliktischer Kontexte benötigt werden, oder die Überlassung oder der Erwerb von Gegenständen, die für diverse nicht zu beanstandende Zwecke verwendet, aber auch deliktisch missbraucht werden können. An dieser Stelle liegt wohl auch ein Grund für das nicht selten artikulierte Unbehagen gegenüber der Erfassung „an sich unverfänglicher“, „neutraler“ Handlungen 70 Zu diesem Hintergrund von Gefährdungsverboten vgl. schon Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, S. 127 ff.; ders., Zur Rolle des Opfers in der Straftatdogmatik, Madrider Vortrag 2019, insbes. IV. und V. (vorgesehen für Veröffentlichung in GA 2021). 71 Zu einem Grundrecht auf Sicherheit vgl. Isensee, Grundrecht (Fn. 14), insbes. S. 34 ff., 48 ff.; Robbers, Sicherheit (Fn. 14), insbes. S. 121 ff.; zu Konkretisierungen für das Strafrecht Frisch, in: Gander u. a. (Hrsg.) (Fn. 14), S. 55 ff.; ders., GA 2009, 385 (393 f.); ders., in: Paeffgen et al. (Hrsg.), Puppe-FS, 2011, S. 425 (435); ders., in: Rengier-FS (Fn. 39), S. 605 f. 72 Zur Gewährleistung von Sicherheit als zentraler Aufgabe des Staates vgl. Brugger, Freiheit und Sicherheit (Fn. 14); H. Hofmann, Rechts- und Staatsphilosophie (Fn. 14); Reinhard, Staatsgewalt (Fn. 14); Zippelius, Staatslehre (Fn. 14).
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durch § 89a.73 Doch das Bedenken entspringt, wenn es als Sperre gegen ein Verbot der entsprechenden Handlungen gedacht sein sollte,74 einer Fehlintuition. Berechtigt wäre es nur, wenn auf die Vornahme von Handlungen, die weithin oder meist zur Verfolgung legitimer Zwecke vorgenommen werden, stets (unter allen Umständen) ein Recht bestünde – also auch dann, wenn mit ihnen (allein) deliktische Zwecke verfolgt werden. Davon kann keine Rede sein. Das Recht zur Vornahme einer bestimmten phänomenologisch definierten Handlung (wie im Fall der obigen Beispiele) besteht in einer Gemeinschaft von Vernünftigen, die sich bestimmte Rechte wechselseitig zuerkennen, nicht absolut und ohne jede Begrenzung. Es soll wechselseitig Entfaltung ermöglichen – freilich nur eine Entfaltung, die ihre Grenze an den unverbrüchlichen Rechten anderer findet. Diese – vom Staat abzusichernde – Grenze wird überschritten, wenn ein bestimmtes phänomenologisch definiertes Verhalten nicht mehr der zuerkannten Entfaltung, sondern dazu dient, Sachverhalte herbeizuführen, die die Rechte anderer verletzen. Verhalten mit solchem deliktischen Sinnbezug bewegt sich – auch nach der Verfassung – außerhalb des zuerkannten Rechts der Entfaltungsfreiheit – womit dieses Recht einem Verbot solchen Verhaltens nicht entgegensteht, wenn dieses (das Verhalten) zugleich das Grunderfordernis des Verbots und der Bestrafung von Verhaltensweisen, nämlich die anderen nicht zumutbare Gefahrenschaffung für Rechtsgüter, erfüllt.75 Die (an sich gegebene) Unverfänglichkeit des Verhaltens in vielen Fällen steht aber auch der Pönalisierung nicht entgegen, wenn das Verhalten im Einzelfall der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat dient. Für die Legitimation des Einsatzes von Strafe ist maßgebend, dass das pönalisierte Verhalten eine ernstzunehmende Gefahrschaffung (Gefahrerhöhung) in Richtung auf höchste Rechtsgüter darstellt, deren Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit 73
Nachw. oben Fn. 45. Freilich ist auch anderes denkbar. Die Bedenken können sich (statt gegen das Verbot) auch nur gegen die Pönalisierung der Verbotsverletzung richten (s. dazu noch den nächsten Absatz); da bei äußerlicher Unverfänglichkeit des Verhaltens die Straftat allein vom Subjektiven abhängt, mag man zudem die mit fehlerhaften Zuschreibungen verbundenen Gefahren falscher Verurteilungen fürchten. 75 Zur Missbilligung und Verbietbarkeit von Verhaltensweisen mit eindeutigem deliktischen Sinnbezug vgl. Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten (Fn. 70), S. 280 ff.; ders., in: Lüderssen FS, 2002, S. 539, 544 ff.; Jakobs, ZStW 89 (1977), 1 (23 ff.); ders., GA 1996, 253 (263 ff.); Freund, Strafrecht AT, 2. Aufl. 2008, § 10 Rn. 138 ff.; Hellfeld, Gewalttat (Fn. 16), S. 154 f., 160 ff.; Kubiciel, Wissenschaft (Fn. 26), S. 254 f.; Lesch, JR 2001, 387 f.; Sieber, NStZ 2009, 353 (358 f., 361); Wohlers, Präventionsstrafrecht (Fn. 17), S. 355 ff.; krit. dazu Kudlich, Die Unterstützung fremder Straftaten durch berufsbedingtes Verhalten, 2004, S. 104 ff., der aber bei Handeln mit dem hier vor allem interessierenden direkten Vorsatz zum selben Ergebnis gelangt (aaO. S. 458). – Der Gedanke liegt auch dem geltenden Recht zugrunde und wird in der Unrechtskonstitution und Strafbarkeit der Teilnahme vorausgesetzt und trägt diese; im Rahmen der Beurteilung an sich neutraler Handlungen als strafbare Beihilfe wird er der Sache nach auch von der Rspr. (vgl. z. B. BGHSt 46, 107 [113 ff.]; BGH NStZ 2000, 34) und der Lit. (vgl. LK11/Roxin, § 27 Rn. 17 ff.) herangezogen (näher Frisch, in: Prittwitz et al. [Hrsg.], Lüderssen-FS, S. 539 [544 ff.]). 74
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außer Frage steht. Solcher Gefahrenschaffung bereits in einem frühen Stadium durch die Androhung und Verhängung von Strafe entgegenzutreten, besteht insbesondere dann Anlass und Bedürfnis, wenn der Gefahrschaffende im Anschluss an die gefahrschaffende Handlung die Kontrolle über die weitere Entwicklung des Geschehens verliert76 – wie in den Fällen, in denen Tätern, die auf die Verwirklichung schwerer staatsgefährdender Gewalttaten zielen, die für die Verwirklichung dieser Taten notwendigen Kenntnisse oder Fähigkeiten vermittelt oder die dafür notwendigen Gegenstände überlassen werden. Dass das Verhalten des Vermittelnden oder Überlassenden hier aus der Perspektive der schweren staatsgefährdenden Gewalttat nur eine versuchte Beihilfe darstellt, ist zwar richtig, steht einer selbstständigen Pönalisierung der Gefahrschaffung aber nicht entgegen.77 Denn für diese ist allein entscheidend, dass es sich bei dem Verhalten um eine ernstzunehmende Gefahrerhöhung für höchste Rechtsgüter handelt, die potentiellen Opfern nicht zugemutet werden kann und zu deren Verhinderung eine Bedrohung des gefahrerhöhenden Verhaltens mit Strafe erforderlich und verhältnismäßig erscheint. Eher Bedenken gegen eine Bestrafung schon von Vorbereitungshandlungen einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat könnten in den Fällen bestehen, in denen eine Person trotz der von ihr bereits getroffenen gefahrerhöhenden Vorbereitungsmaßnahmen die weitere Entwicklung, weil diese von ihr selbst abhängt, noch beherrscht und damit nicht auszuschließen ist, dass sie ihr Vorhaben noch aufgibt.78 Wird hier mit der Bestrafung der Person wegen ihres vorbereitenden Verhaltens nicht unzulässigerweise diese Möglichkeit ignoriert, der Person vielleicht sogar die Fähigkeit zur Abkehr von Geplantem abgesprochen?79 – Tatsächlich ist dies nicht der Fall. Mit der Bestrafung der Person wegen der bisherigen Vorbereitungsmaßnahmen wird deren Fähigkeit zur Umkehr durchaus nicht geleugnet und schon gar nicht ist stillschweigende Basis der Bestrafung hier die Annahme, dass die Person die geplante Tat auch wirklich begangen haben würde. Man 76 Der Gedanke des Kontrollverlusts spielt an verschiedenen Stellen der Konstitution einer Straftat eine Rolle, etwa im Zusammenhang mit der Überschreitung der Grenze zum strafbaren Versuch in den Fällen des sogenannten beendeten Versuchs oder des Versuchs des mittelbaren Täters (vgl. etwa Roxin, in: F.C. Schroeder (Hrsg.), Maurach-FS, S. 213 (217 f.); ders., AT II, 2003, § 29 Rn. 195 ff., 230, 244 f.; ders., JZ 1998, 211 ff.; SK-StGB/Jäger, 9. Aufl. 2017, § 22 Rn. 40), im Zusammenhang der Begründung der Strafwürdigkeit bestimmter in § 30 erfasster Verhaltensweisen (vgl. etwa Kühl, AT, 8. Aufl. 2017, § 20 Rn. 243 ff.; Roxin, AT II, § 28 Rn. 5 ff.) oder bei der Eingrenzung der Strafwürdigkeit abstrakt gefährlicher Verhaltensweisen (vgl. z. B. Jakobs, ZStW 97 [1985], 751 [767, 769 ff.]; Köhler, Strafrecht. AT, 1998, S. 32 f.; s. erg. Frisch, in: Fischer-FS [Fn. 50], S. 315 [332 f.]). 77 Zutr. Rackow, in: Maiwald-FS (Fn. 41), S. 615 (616): „formale Aussage“, die es nicht ausschließt, „Gründe dafür (zu) finden, sie als für sich strafwürdig zu bewerten“. S. auch Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht. AT, 6. Aufl. 2011, § 11 Rn. 7 f. 78 In der schon (oben Fn. 76) erwähnten Diskussion über die Überschreitung der Versuchsgrenze wird der Gesichtspunkt verbreitet gegen die Annahme schon eines strafbaren Versuchs angeführt. 79 Nachw. zu diesen Bedenken dazu oben Fn. 47.
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muss, um das zu erkennen, nur auf den Grund der Strafandrohung und den Zusammenhang von Strafandrohung und Strafverhängung im konkreten Fall zurückgehen. Die (androhende) Pönalisierung von Verhalten, das in gefahrerhöhender Weise der Vorbereitung schwerer staatsgefährdender Gewalttaten dient, bringt zum Ausdruck, dass solches Verhalten nicht geduldet werden kann und bei Strafe verboten ist, weil es potentielle Opfer einem unzumutbaren Schwebezustand80 aussetzen und insoweit die Sicherheit der staatlichen Gemeinschaft und das Sicherheitsgefühl in unerträglicher Weise erschüttern würde.81 Gegen diese Einschätzung wird man aus der Perspektive der Empirie schwerlich etwas einwenden können. Hierauf aufbauend bringt die Bestrafung des Täters im konkreten Fall dann nichts weiter zum Ausdruck, als dass man an diesem Verbot und seiner Durchsetzung mit Strafe festhält.
VII. Auswucherungen und Überzogenheiten des § 89a StGB Fasst man die bisherigen Überlegungen zusammen, so kann man sagen, dass § 89a in seinem tatbestandlichen Kern keineswegs als Niederschlag eines Gesinnungsstrafrechts oder reinen Täterstrafrechts verstanden werden muss. Die Vorschrift lässt sich, jedenfalls in ihrem tatbestandlichen Kern, auch tatstrafrechtlich verstehen und begrenzt legimitieren. Freilich sollte diese Feststellung nicht überinterpretiert werden. Eine Rundum-Anerkennung des § 89a StGB ist auch nach der Ansicht des Verfassers dieses Beitrags nicht möglich. Die Vorschrift geht in Teilen der tatbestandlichen Umschreibung deutlich zu weit und gleitet insoweit offensichtlich in ein Gesinnungsstrafrecht bzw. ein nur mühsam und schlecht kaschiertes Täterstrafrecht ab. Und sie entfernt sich auch in der Strafdrohung von den Grundprinzipien eines Tatstrafrechts. 1. Es ist im Rahmen dieses begrenzten Beitrags nicht mehr möglich, der Frage nach der Haltbarkeit der in § 89a enthaltenen Pönalisierungen im Einzelnen nachzugehen.82 Hier muss vielmehr der mit einer Exemplifizierung versehene Hinweis ge80 Insoweit durchaus treffend Bindings Hinweis auf die mit bestimmten Verhaltensweisen verbundene „Daseinsungewissheit“ für bestimmte Rechtsgüter (Normen, Bd. 1 [Fn. 69], S. 372 f.) bzw. Rechtsgutsträger. 81 Im Ansatz ist dies auch von der Gesetzesbegründung erkannt (vgl. BT-Drucks. 16/ 12428, S. 14: Beeinträchtigung der inneren Sicherheit des Staates durch die „Erschütterung des Vertrauens der Bevölkerung, vor gewaltsamen Einwirkungen in ihrem Staat geschützt zu sein“; ebenso BGHSt 61, 36 (38 f.); BGH NJW 2017, 2928 [2930] m. Anm. Puschke). – In der Sache übereinstimmend Kubiciel, Wissenschaft (Fn. 26), S. 237, 254 f.; i.S. einer allgemeinen Fundierung auch Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, 1989, S. 279 ff., 282 ff.; Jakobs, ZStW 97 (1985), 751 (775 ff.); s. ferner Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, § 89a Rn. 1 c (e.E.). 82 Eine umfassendere Untersuchung findet sich bei Puschke, Vorbereitungstatbestände (Fn. 17), S. 367 ff., 421 ff.
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nügen, dass die Vorschrift neben einem haltbaren Kern auch Pönalisierungen enthält, die mit einem Tatstrafrecht nicht mehr vereinbar sind. Ein typisches Beispiel dafür bildet § 89a Abs. 2a,83 der bereits den Versuch einer Ausreise in einen Staat, in dem z. B. Unterweisungen in den Umgang mit Schusswaffen oder in für die Begehung von Straftaten förderliche Fertigkeiten erteilt werden, mit (hoher) Strafe belegt, sofern der Ausreiseversuch der Vorbereitung einer sogenannten „schweren staatsgefährdenden Gewalttat“ im Sinne des § 89a Abs. 1 dient. Mit dieser Vorschrift wird nicht nur ein äußerlich ganz unverfängliches Verhalten (Ausreiseversuch) mit hoher Strafe belegt, sondern auch die Strafbarkeit nochmals weit vor die eigentlich erst gefahrschaffenden Handlungen (wie z. B. die Inanspruchnahme von Unterweisungen i.S. der § 89a Abs. 2 Nr. 1) nach vorne verlagert. Da zwischen dem Ausreiseversuch und den eigentlich erst gefahrschaffenden Handlungen objektiv wie subjektiv erheblicher zeitlicher Abstand besteht und noch viele weitere Handlungen vorgenommen werden müssen, bevor es zu einer wirklich gefahrschaffenden Handlung kommt, handelt es sich nicht einmal um den Versuch der Vorbereitung, sondern um die Vorbereitung der (als Gefahrschaffung überhaupt erst einigermaßen fassbaren) Vorbereitung.84 Mit einer so weiten Vorverlagerung der Strafbarkeit ist das tatstrafrechtliche Erfordernis einer fassbaren Gefahrenschaffung nicht nur objektiv, sondern auch aus der Sicht des die Sachlage ja nicht falsch einschätzenden Täters bis zur Unkenntlichkeit verdünnt. Die Vorschrift ist damit, ungeschminkt betrachtet, reines gesinnungsorientiertes Täterstrafrecht.85 Die Gefahr steckt im Zeitpunkt der als angebliche Tat ausreichenden Handlung allein im Täter, nicht in seiner Handlung;86 die angebliche Tat erweist sich bei korrekter Anwendung der Grundsätze des Tatstrafrechts als Farce. 83 Übereinstimmend Puschke, Vorbereitungstatbestände (Fn. 17), S. 403 f., 421; ders., NJW 2017, 2932; durchaus auf dieser Linie auch die Bedenken des Jubilars gegen die Strafbarkeit schon der Aufnahme von Beziehungen zu einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung mit dem Ziel, sich in dem zur Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat erforderlichen Fertigkeiten (usw.) unterweisen zu lassen durch § 89b StGB (Sieber, NStZ 2009, 353 [362]: „extrem weite“ Vorverlagerung; anders aber BGHSt 62, 102, 113: zwar Vorschrift „im Grenzbereich des verfassungsrechtlich Zulässigen“, aber Senat „vermag die Überzeugung“ der Verfassungswidrigkeit „nicht zu gewinnen“. Krit. bzw. abl. dazu Ambos, JR 2017, 655 ff.; Puschke, NJW 2017, 2932 und Gazeas/Grosse-Wilde, StV 2018, 84 ff. 84 BGHSt 62, 102 (112 f.) spricht sogar vom „Versuch der Vorbereitung zur Vorbereitung“, sieht sich aber gleichwohl – trotz der hohen Strafdrohung – nicht in der Lage, „die Überzeugung von der Unverhältnismäßigkeit der Vorschrift“ zu gewinnen. 85 Übereinstimmend (freilich auch auf andere Tathandlungen bezogen) Fischer, StGB § 89a Rn. 36; Gazeas, Schriftliche Stellungnahme für den Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestages vom 19. März 2015, S. 11 f.; Petzsche, ZStW 131 (2019), 576 (590); Puschke, NJW 2017, 2932. 86 Zutr. Fischer, StGB, § 89a Rn. 36; selbst die Begründung des Gesetzes spricht nicht von gefährlichen Taten, sondern von „sehr gefährlichen Tätern“ (BT-Drucks. 16/12428, S. 2) und davon, dass diesen gegenüber „unter Sicherheitsaspekten eine Vorverlagerung des Strafrechtsschutzes geboten“ sei (aaO. S. 1).
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All das lässt sich auch nicht durch das – begreifliche – Bemühen legitimieren, der Polizei bei Vorliegen der genannten Sachverhalte (Ausreiseversuch) eine Ermittlungsgrundlage zu verschaffen.87 Wenn die Ermittlungsbehörden gesetzliche Ermächtigungsgrundlagen zur Ermittlung (und Überwachung) benötigen, so sind diese, soweit sie legitimiert werden können, im Polizeirecht zu schaffen. Die Konstruktion von Straftaten (nur) zur Ermöglichung polizeilicher Ermittlungen ist ein Missbrauch des Strafrechts. 2. Kritisch zu sehen sind freilich nicht nur gewisse Auswucherungen des § 89a. Auch die Strafdrohung des § 89a wird den Prinzipien eines Tatschuldstrafrechts nicht gerecht.88 Die hohe Strafdrohung des § 89a (sechs Monate bis zehn Jahre Freiheitsstrafe) ist ganz offensichtlich am Gewicht der Taten orientiert, die bislang weder begangen oder auch nur in das Versuchsstadium gelangt, sondern allein in den Planungen des Täters des § 89a vorhanden sind.89 Dieses Verfahren ist freilich nicht singulär. Es hat Tradition. Sein Modell bildet § 30 Abs. 2 StGB, der mit seiner heutigen hohen Strafdrohung allerdings auf das Wirken des NS-Gesetzgebers zurückgeht, das nachweislich dem Konzept eines Täterstrafrechts anhing. Spätere Regelungen haben dieses Muster offensichtlich ohne viel Nachdenken übernommen, statt es an Prinzipien des Tatschuldstrafrechts zu messen und – wie danach geboten – zu korrigieren. § 89a StGB folgt dieser unrühmlichen Tradition eines für Grundsatzfragen und Kurswechsel offenbar wenig sensiblen Gesetzgebers. Dass die Vorschrift mit ihrer Strafdrohung von bis zu zehn Jahren viel zu hoch ausgefallen ist, zeigt nicht nur der Blick auf Staaten, deren Strafniveau eigentlich höher liegt als das deutsche, bei denen die Höchststrafe für das in § 89a StGB erfasste Geschehen aber fünf Jahre sind – wie z. B. in Spanien.90 Der Gesetzgeber hätte die Überzogenheit der in § 89a vorgesehenen Strafdrohung in einem Tatstrafrecht auch erfassen können, wenn er sich die Mühe gemacht hätte, zu eruieren, wie das, was an Gefahrschaffung oder Beeinträchtigung der Sicherheit oder des Sicherheitsgefühls potentieller Opfer in den Fällen des § 89a vorliegt, in anderen Kontexten – also außerhalb des Staatsschutzstrafrechts und der Vorfeldkriminalität – bewertet wird. Er hätte dann sehen können und zur Kenntnis nehmen müssen, dass außerhalb der beiden genannten Materien selbst die vorsätzliche Schaffung einer konkreten Gefahr für das Leben (etwa in den Verkehrsdelikten der §§ 315b, c, und d) nicht mit einer höheren Strafe als Freiheitsstrafe von fünf Jahren belegt ist. Hinter einer solchen vorsätzlichen konkreten Gefahrschaffung für menschliches Leben bleibt die Gefahrerhöhung durch Vorbereitungs87
Vgl. BT-Drucks. 16/12428, S. 11 und die Nachw. oben Rn. 52. Übereinstimmend Fischer, § 89a Rn. 45; NK/Paeffgen, § 89a Rn. 56, 60, 63; auch Hellfeld, Gewalttat (Fn. 16), S. 214 f., 218 f.; Radtke, ZIS 2008, 391 f. und Sieber, NStZ 2009, 353 (361). 89 Vgl. dafür schon die Gesetzesbegründung BT-Drucks. 16/12428, S. 1 f., 14; aus der Rspr. z. B. BGHSt 59, 218 (228 ff.); ähnlich BGHSt 62, 102 (113). 90 Vgl. Art. 575 des spanischen Código penal, der als Höchststrafe fünf Jahre vorsieht. 88
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maßnahmen nach § 89a StGB bei Weitem zurück. Auch die Strafen, die auf Verhaltensweisen stehen, welche die Sicherheit oder das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung oder bestimmter Teile der Bevölkerung zu beeinträchtigen geeignet sind,91 liegen im Allgemeinen deutlich niedriger als bei § 89a StGB – man sehe nur auf die §§ 126, 241 StGB und andere Vorschriften.92 Der Gesetzgeber wäre gut beraten, in das ganze prinzipienlose Durcheinander der Strafdrohungen unseres StGB einmal Ordnung zu bringen, statt prinzipienlos und offensichtlich unter dem Eindruck der jeweiligen Tagespolitik einfach „weiter zu wursteln“.93 Zu § 89a StGB wäre gewiss noch viel zu sagen. Aber der Beitrag ist ohnehin schon zu lang geworden. Ich widme die vorstehenden Zeilen Ulrich Sieber, meinem langjährigen Freiburger Kollegen, der sich – auch – um Fragen des Präventionsstrafrechts besonders verdient gemacht hat, in freundschaftlicher Verbundenheit mit den besten Wünschen zu seinem 70. Geburtstag.
91 Dieser Aspekt ist in der Gesetzesbegründung besonders hervorgehoben, vgl. BT-Drucks. 16/12428, S. 14, ohne dass daraus freilich für die vorgesehene Strafdrohung die gebotenen Konsequenzen gezogen werden; nicht anders – leider – auch BGHSt 59, 218 (235); 61, 36 (38 f., 42); 62, 102 (109). 92 Weitere Begründung und Vertiefung bei Jakobs, ZStW 97 (1985), 751 (775 ff.). 93 In diese Richtung auch Verrel, JZ 2018, 811, 813 f. und eine Reihe von Stellungnahmen auf dem 72. Deutschen Juristentag 2018, vgl. z. B. Kaspar, Verhandlungen des DJT, 2018, Bd. I, Gutachten C 1 (46); Mosbacher, Bd. II 2 (Diskussion) M 120 f.; Schlothauer M 107 f.; Kilian M 182.
Zum Trennungsgebot im Sicherheitsrecht Von Kurt Graulich Im demokratischen Rechtsstaat in Deutschland geht alle Staatsgewalt vom Volke aus (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG). Die Verfassung beschreibt die in ihm verbundene Machtfülle aber nicht als monistisch, sondern von vornherein als differenziert:1 Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG), was gemeinhin als Gewaltenteilung bezeichnet wird. Und darüber hinaus wird sie – ableitbar aus dem Rechtsstaatsprinzip in der Verfassung – durch mäßigende Grundsätze begrenzt, wozu die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (I.), der Vorbehalt des Gesetzes (II.) und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (III.) sowie das Transparenzgebot in Ansehung heimlicher Behördentätigkeit (IV.) gehören. Es bedarf der vorherigen Betrachtung der unstreitigen Pfeiler des Rechtsstaatsprinzips, um sich einem traditionell umstrittenen weiteren Grundsatz zu nähern, dessen Herleitung und rechtliche Qualität weit weniger konsentiert ist, nämlich dem Trennungsgebot von Polizei und Nachrichtendiensten in der Bundesrepublik (V.). Die vorausgehend aufgeführten Grundsätze leisten einen Beitrag zur Dekonstruktion des nachrichtendienstlichen Trennungsgebotes. Danach handelt es sich um eine Rechtsfigur, die – ausweislich der Erfahrungen in zwei deutschen Diktaturen – im Unrechtsstaat ohnehin nichts abwendet, weil sie dort als systemfremd verstanden und daher abgelehnt wird. Hingegen erscheint sie im Rechtsstaat gegenüber seinen unangefochtenen übrigen Prinzipien nicht als eigenes Rechtsinstitut.
I. Gesetzmäßigkeit der Verwaltung Der erste Grundsatz des Rechtsstaates bzw. der „rule of law“ ist der von der Gesetzmäßigkeit der öffentlichen Verwaltung.2 Durch die Erwähnung in Art. 20 Abs. 3 GG3 hat der Grundsatz Verfassungsrang, und durch seine Bezugnahme in Art. 79
1 Gusy spricht für die Sicherheitsverwaltung davon, dass Differenzierung in der Verwaltungsorganisation ein Normal – und kein Ausnahmefall sei, Gusy in: Dietrich/Eiffler (Hrsg.), Handbuch des Rechts der Nachrichtendienste, 2017, S. 314. 2 Jellinek, Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 1948, S. 88. 3 „Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden“.
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Abs. 3 GG4 nimmt er an der sog. Ewigkeitsgarantie der Verfassung teil.5 Dabei geht es um die Frage, ob und inwieweit das Handeln der Verwaltung einer gesetzlichen Grundlage bedarf.6 Der Grundsatz bedeutet, dass jegliches Verwaltungshandeln nicht nur dem „Gesetz“ i.S. des durch das Parlament formal gesetzten Rechts, sondern mit jeder höherrangigen Rechtsquelle übereinstimmen muss; andernfalls geht diese vor („Vorrang des Gesetzes“).7 Er bedeutet zunächst die Beachtung des Gesetzesvorrangs, d. h. dass sich die Verwaltung im Rahmen des Rechts und der Gesetze bewegen muss und dass konkrete Staatsakte fehlerhaft sind, sofern sie einem gültigen Rechtssatz widersprechen. Diese materielle Gesetzmäßigkeit gilt für jede Art öffentlicher Verwaltung.8 Sie folgt schon aus der Einheit der Staatsgewalt und der Rechtsordnung.9 Handeln der öffentlichen Verwaltung ohne die zugrunde liegende gesetzliche Bestimmung einer Aufgabe ist nicht zulässig. Dem Sicherheitsrecht liegt das Verständnis zugrunde, dass die Aufgabenbeschreibung den behördlichen Handlungsraum eröffnet; das Gesetz begrenzt somit nicht einfach den Kompetenzrahmen der Verwaltung, sondern gibt ihm überhaupt erst Raum.10 Die ideologische Gegenprobe auf dieses Verständnis liegt im Nationalsozialismus, wo die Verbindlichkeit des Gesetzes durch den Vorrang der Weltanschauung relativiert und im Konfliktfall aufgehoben wurde.11 Sendler hat im Vergleich der beiden deutschen Diktaturen diese Beobachtung auch auf die Rechtsverhältnisse in der DDR erstreckt: „Beide Staatswesen hatten sich nämlich nicht dem Recht verschrieben, sondern je länger je mehr der Aufrechterhaltung der Herrschaft um jeden Preis; hier wie dort galt das Recht nicht unverbrüchlich, sondern stand unter dem Vorbehalt des Politischen in Gestalt des Parteiwillens und wurde nach Willkür ausgelegt oder suspendiert“.12
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„Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig“. 5 Denninger, Staatsrecht 1, 1973, S. 91. 6 Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht Bd. 1, 11. Aufl. 1999, § 30 Rn. 15. 7 Pitschas in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. II, 2. Aufl. 2012, § 42 Rn. 78. 8 Zur Bedeutung für Polizei und Nachrichtendienste s. Gusy, Polizei und Nachrichtendienste. Trennungsgebot, Kooperationsauftrag und Menschenrechte als Herausforderungen in er Terrorismusabwehr, in: Kugelmann (Hrsg.), Polizei und Menschenrechte, 2019, S. 430 – 441 (431). 9 Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht Bd. 1, 11. Aufl. 1999, § 30 Rn. 1 ff. 10 Die Gefahrenabwehraufgabe eröffnet der Polizei erst den „polizeilichen Raum“, vgl. Götz/Geis, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 16. Aufl. 2017, § 7 Rn. 3. 11 Rüthers, Entartetes Recht, 1994, S. 26; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Dritter Band 1914 – 1945, S. 362. 12 Sendler, Neue Justiz 9/1991, S. 379 – 382 (380).
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II. Vorbehalt des Gesetzes Als Gesetzmäßigkeit der Verwaltung im positiven Sinn wird der Gesetzesvorbehalt angesehen. Danach darf kein belastender Akt der Verwaltung ohne gesetzliche Grundlage ergehen. Zu einem Eingriff in die Rechtssphäre des einzelnen bedarf es einer Ermächtigung in Gesetzesform.13 Auf den Einzelnen bezogen handelt es sich um ein gegenüber dem Verwaltungshandeln vorwirkendes Schutzprinzip zur Abwehr von staatlichen Grundrechtseingriffen. Sein Wirkungsbereich hat durch die Entwicklung des informationellen Selbstbestimmungsrechts als grundrechtlicher Schutzbereich erheblich zugenommen, weil sich damit potentiell der Eingriffsumfang bei staatlichem Handeln stark vergrößert hat. Unter den Bedingungen der modernen Datenverarbeitung wird der Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten von dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG umfasst. Das Grundrecht gewährleistet insoweit die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen.14 Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung wird nicht ohne Vorbehalt gewährleistet. Der Gesetzgeber hat organisatorische und verfahrensrechtliche Vorkehrungen zu treffen, welche der Gefahr einer Verletzung des Persönlichkeitsrechts entgegenwirken.15 Durch diesen Anstoß ist im Wechselspiel von Rechtsprechung und Gesetzgebung eine ganze Landschaft beachtlicher datenschutzrechtlicher Regelungen bei der Erhebung, Verarbeitung und Übermittlung personenbezogener Daten entstanden.16 Qualifizierungen hat der Gesetzesvorbehalt durch – verstärkend wirkende – vorbeugende gerichtliche Genehmigungsvorbehalte (1.) und nachträgliche aufsichtliche sowie gerichtliche Kontrollen (2.) erfahren. Die Entscheidungsvorbehalte sind insbesondere im Sicherheitsrecht nicht einfach Ausdruck der Gewaltenteilung. Vielmehr dienen sie darüber hinaus der Verhältnismäßigkeit von Eingriffen in Grundrechte und werden insoweit nicht nur als Aufteilung hoheitlicher Befugnisse unter den drei Staatsgewalten konstruiert, sondern auch als Verminderung der Eingriffsmacht jeder einzelnen dieser Gewalten durch die Einführung interner Instanzenzüge und Kontrollordnungen.17
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Jellinek, Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 1948, S. 122. BVerfGE 65, 1 – 71. 15 BVerfGE 65, 1 – 71. 16 Vgl. m.w.N. Kühling/Buchner-DS-GVO-Kühling/Raab, 2. Aufl. 2018, Einführung Rn. 39. 17 Graulich, in: Durner/Reimer/Spiecker gen. Döhmann/Wallrabenstein (Hrsg.), SchmehlGS, 2019, S. 151. 14
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1. Vorbeugende gerichtliche Genehmigungsvorbehalte Genehmigungsvorbehalte sind nicht einfach rechtsstaatliche Strukturverwandte des Gesetzesvorbehaltes, sondern werden – im Sinne eines vorwirkenden Schutzes von individuellen Rechten – als besondere verfahrensrechtliche Anforderungen aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz abgeleitet.18 Verfassungsgerichtlich sind diese Anforderungen im Falle des richterlichen Genehmigungsvorbehalts bei der Anordnung heimlicher Überwachungsmaßnahmen bestimmt worden: Der Gesetzgeber hat das Gebot vorbeugender unabhängiger Kontrolle in spezifischer und normenklarer Form mit strengen Anforderungen an den Inhalt und die Begründung der gerichtlichen Anordnung zu verbinden. Hieraus folgt zugleich das Erfordernis einer hinreichend substantiierten Begründung und Begrenzung des Antrags auf Anordnung, die es dem Gericht oder der unabhängigen Stelle erst erlaubt, eine effektive Kontrolle auszuüben. Insbesondere bedarf es der vollständigen Information seitens der antragstellenden Behörde über den zu beurteilenden Sachstand.19 In Anknüpfung hieran ist es Aufgabe und Pflicht des Gerichts oder der sonst entscheidenden Personen, sich eigenverantwortlich ein Urteil darüber zu bilden, ob die beantragte heimliche Überwachungsmaßnahme den gesetzlichen Voraussetzungen entspricht.20 2. Nachträgliche aufsichtliche und gerichtliche Kontrolle Dem Gesetzes- und Genehmigungsvorbehalt funktionell nachgeordnet sind – ebenfalls aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ableitbare – Erfordernisse des individuellen Rechtsschutzes und der aufsichtlichen Kontrolle.21 Dies ist vor allem anhand verdeckter staatlicher Maßnahmen im Sicherheitsrecht judiziert worden.22 In Anbetracht heimlich durchgeführter Überwachungsmaßnahmen bedarf die Möglichkeit zur Ergreifung von individuellem Rechtsschutz der Unterrichtung. Eine verhältnismäßige Ausgestaltung der Überwachungsmaßnahmen verlangt im Lichte des Art. 19 Abs. 4 GG daher, dass die Betroffenen nach Benachrichtigung in zumutbarer Weise eine gerichtliche Rechtmäßigkeitskontrolle erwirken können.23 Überdies setzt 18 Groß, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 13 Rn. 102. 19 Vgl. BVerfGE 103, 142 (152 f.). 20 BVerfGE 141, 220 – 378, Rn. 117 – 118 unter Hinweis auf BVerfGE 125, 260 (338). 21 BVerfGE 141, 220 – 378, Rn. 134. 22 Vgl. Graulich, Polizeiliche Gefahrenabwehr mit heimlichen Überwachungsmaßnahmen, KriPoZ 2016, 75 – 81. 23 BVerfGE 141, 220 – 378, Rn. 138 – 139 unter Hinweis auf Art. 51, Art. 52 des Vorschlags für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Untersuchung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr, vom 25. Januar 2012, KOM[2012] 10 endgültig – Stand nach Abschluss des Trilogs, 16. Dezember 2015: 15174/15; Stand 28. Januar 2016: 5463/16, Anlage.
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eine verhältnismäßige Ausgestaltung wirksame Sanktionen bei Rechtsverletzungen voraus.24 Weil die Ermöglichung individuellen Rechtsschutzes für heimliche Überwachungsmaßnahmen nur sehr eingeschränkt sichergestellt werden kann, kommt der Gewährleistung einer effektiven aufsichtlichen Kontrolle umso größere Bedeutung zu.25 Eine wirksame aufsichtliche Kontrolle setzt eine mit wirksamen Befugnissen ausgestattete Stelle – wie nach geltendem Recht die Bundesdatenschutzbeauftragte – voraus.26 Angesichts der Kompensationsfunktion der aufsichtlichen Kontrolle für den schwach ausgestalteten Individualrechtsschutz ist deren regelmäßige Durchführung umso wichtiger.27 Die Gewährleistung der verfassungsrechtlichen Anforderungen einer wirksamen aufsichtlichen Kontrolle obliegt dem Gesetzgeber und den Behörden gemeinsam.28
III. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist eine der zentralen rechtsstaatlichen Maximen. Sein Grundgedanke, dass der Staat den einzelnen Bürger in seiner Freiheitssphäre nur so weit beschränken darf, wie das in gemeinem Interesse erforderlich ist, ist vor allem im Polizeirecht standardisiert worden.29 Verfassungsrechtlich ist er an verschiedenen Stellen des Grundgesetzes zu verorten. Meist wird er aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet,30 z. T. aber aus dem Wesen der Grundrechte selbst,31 die als Ausdruck des allgemeinen Freiheitsanspruchs des Bürgers gegenüber dem Staat von der öffentlichen Gewalt jeweils nur soweit beschränkt werden dürfen, als es zum Schutz öffentlicher Interessen unerlässlich ist.32 Als besondere verfassungsrechtliche Schwerpunkte für die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips im Sicherheitsrecht haben sich dabei Anforderungen an heimliche sowie an additive Grundrechtseingriffe erwiesen. Der vergleichsweise geringe Anteil der Nachrichten24 BVerfGE 141, 220 – 378, Rn. 138 – 139 unter Hinweis auf BVerfGE 125, 260 (339 f.) m.w.N. 25 BVerfGE 133, 277 (369, Rn. 214). 26 grundlegend BVerfGE 65, 1 (46). 27 BVerfGE 133, 277 (370 f., Rn. 217). 28 BVerfGE 141, 220 – 378, Rn. 140 – 141 unter Hinweis auf BVerfGE 133, 277 (371, Rn. 220). 29 Vgl. zur Entwicklung des polizeirechtlichen Übermaßverbotes Jellinek, Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 1931, S. 439 ff. 30 Dreier-GG-Schulze-Fielitz, 3. Aufl. 2015, Bd. II Art. 20 Rn. 179. 31 Die zu treffenden Regelungen müssen den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbots entsprechen, die sich als übergreifende Leitregeln allen staatlichen Handelns zwingend aus dem Rechtsstaatsprinzip und im Grunde schon aus dem Wesen der Grundrechte selbst ergeben (BVerfGE 76, 1 – 83, Rn. 104 unter Hinw. auf BVerfGE 19, 342 (348 f.); 23, 127 (133 m. w. N.). 32 BVerfGE 65, 1 – 71, Rn. 151 unter Hinweis auf BVerfGE 19, 342 (348); st. Rspr.
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dienste an der deutschen Sicherheitsarchitektur33 hat – wider Erwarten – dazu geführt, dass diese Fragen zuerst im Polizeirecht aufgetaucht und judiziert worden sind. Die dort gefundenen Antworten wirken sich aber deutlich vermindernd auf das rechtliche Gewicht des – im Nachrichtendienstrecht angesiedelten – Trennungsgebots aus. Das Trennungsgebot erscheint danach als Anwendungsfall des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Fall der behördlichen Kooperation in grundrechtlich besonders sensiblen Bereichen wie der Anwendung heimlicher Aufklärungs- und Überwachungsmaßnahmen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stellt für tief in die Privatsphäre reichende Überwachungsmaßnahmen an eine wirksame Ausgestaltung der Verwaltungskontrolle sowohl auf der Ebene des Gesetzes als auch der Verwaltungspraxis gesteigerte Anforderungen.34 Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 20. 04. 2016 zum Bundeskriminalamtsgesetz hat die Notwendigkeit und die Anforderungen an diese Regelungen neu geordnet und grundsätzlich am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ausgerichtet. Heimliche Überwachungsmaßnahmen müssen danach auf den Schutz oder die Bewehrung hinreichend gewichtiger Rechtsgüter begrenzt sein.35 Die Erhebung von Daten durch heimliche Überwachungsmaßnahmen mit hoher Eingriffsintensität im Bereich der Gefahrenabwehr zum Schutz der genannten Rechtsgüter ist grundsätzlich nur verhältnismäßig, wenn eine Gefährdung dieser Rechtsgüter im Einzelfall hinreichend konkret absehbar ist und der Adressat der Maßnahmen aus Sicht eines verständigen Dritten den objektiven Umständen nach in sie verfangen ist.36 Diese Anforderungen werden allerdings differenziert, wenn es um den – großen – Kreis von Betroffenen geht, die nicht als Handlungs- oder Zustandsverantwortliche beziehungsweise Tatverdächtige in besonderer Verantwortung stehen. Gegenüber diesen Personen werden gestufte Anforderungen hinsichtlich der Frage verlangt, wieweit Überwachungsmaßnahmen zur Umfeldüberwachung durchgeführt werden dürfen.37 Eigene verfassungsrechtliche Grenzen ergeben sich hinsichtlich des Zusammenwirkens der verschiedenen Überwachungsmaßnahmen. Mit der Menschenwürde unvereinbar ist es, wenn eine Überwachung sich über einen längeren Zeitraum erstreckt und derart umfassend ist, dass nahezu lückenlos alle Bewegungen und Lebensäußerungen des Betroffenen registriert werden und zur Grundlage für ein Persönlichkeitsprofil werden können.38 Beim Einsatz moderner, insbesondere dem Betroffenen verborgener Ermittlungsmethoden müssen die Sicherheitsbehörden mit Rücksicht auf das dem „additiven“ Grundrechtseingriff innewohnende Gefährdungspotenzial koordinierend darauf Bedacht nehmen, dass das Ausmaß der Überwachung insgesamt 33
Graulich, in: Plöse/Fritsche/Kuhn/Lüders (Hrsg.), Will-FG, 2016, S. 771 – 808. BVerfGE 133, 277 (369, Rn. 214). 35 BVerfGE 141, 220 – 378, Rn. 106. 36 BVerfGE 141, 220 – 378, Rn. 109 unter Hinweis auf BVerfGE 120, 274 (328 f.); 125, 260 (330 f.). 37 BVerfGE 141, 220 – 378, Rn. 114. 38 Vgl. BVerfGE 109, 279 (323); 112, 304 (319); 130, 1 (24); st. Rspr. 34
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beschränkt bleibt.39 Die aus dem Gebot der Zweckbindung folgenden Grenzen für einen Austausch von Daten zwischen den Behörden bleiben hierdurch unberührt.40 Mehrere für sich betrachtet möglicherweise angemessene oder zumutbare Eingriffe in grundrechtlich geschützte Bereiche können in ihrer Gesamtwirkung zu einer schwerwiegenden Beeinträchtigung führen, die das Maß der rechtsstaatlich hinnehmbaren Eingriffsintensität überschreitet. Kumulativen oder „additiven“ Grundrechtseingriffen41 wohnt ein spezifisches Gefährdungspotential für grundrechtlich geschützte Freiheiten inne.42 Ob eine Kumulation von Grundrechtseingriffen das Maß der rechtsstaatlich hinnehmbaren Eingriffsintensität noch wahrt, hängt von einer Abwägung aller Umstände ab, in die auch gegenläufige Verfassungsbelange einzubeziehen sind.43
IV. Transparenzgebot in Ansehung heimlicher Behördentätigkeit Der demokratische Rechtsstaat hängt nicht nur von normativen Bedingungen ab, sondern auch von der Funktionsfähigkeit einer politischen Öffentlichkeit, in der sich Meinungen zu relevanten Sachverhalten bilden können. Dies betrifft gegenständlich besonders die Organisation von Sicherheit, die in einem unvermeidbaren Spannungsverhältnis zur individuellen Freiheit steht. Das Verhältnis von Staatsgewalt und Öffentlichkeit bietet kein einheitliches Bild (1.). Das Sicherheitsrecht weist viele Beispiele für Befugnisse zur heimlichen Ausübung von Staatsgewalt auf (2.). Davon gesondert zu betrachten sind die einfachgesetzlichen und verfassungsrechtlichen Regelungen zur Heimlichkeit staatlicher Informationen (3.). Als Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips wird die Forderung nach Transparenz und Vorhersehbarkeit des Verhaltens der Exekutive im Verwaltungsverfahren angesehen. Transparenz wird dabei verstanden als Gebot der Einsehbarkeit und Vorhersehbarkeit des Verwaltungshandelns für die Beteiligten. Transparenz geht einher mit Vertraulichkeitsschutz. Materiellrechtlich sanktioniert wird die Forderung nach Transparenz und Vorhersehbarkeit durch die Gewährung von Vertrauensschutz.44 Der Grundsatz hat aber auch eine starke verfassungspolitische Komponente, indem er insbesondere Sicherheitsbehörden mit Kompetenzen für heimliche Maßnahmen – unter Beachtung subjektiver Diskretionsbedürfnisse – zur Offenlegung für öffentliche Diskussionen zwingt45 (4.).
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Vgl. BVerfGE 112, 304 (319 f.). BVerfGE 141, 220 – 378, Rn. 130. 41 Vgl. BVerfGE 112, 304 (319 f.); 114, 196 (247); 123, 186 (266). 42 Vgl. BVerfGE 112, 304 (319 f.). 43 BVerfGE 130, 372 – 403, Rn. 59. 44 Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht Bd. 1, 11. Aufl. 1999, § 59 Rn. 5. 45 BVerfGE 141, 220 – 378, Rn. 135. 40
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1. Ausübung der Staatsgewalt und Öffentlichkeit Die drei Staatsgewalten arbeiten nicht durchgängig öffentlich. Dies gilt allerdings für die Sitzungen des Bundestages, der nach Art. 42 Abs. 1 Satz 1 GG öffentlich verhandelt. Und dies gilt für Gerichtsverhandlungen, wenngleich das Grundgesetz selbst dazu keine Aussage enthält. Und schließlich regelt Art. 6 Abs. 1 EMRK ausführlich den Grundsatz der Öffentlichkeit von Verhandlung und Urteilsverkündigung in Gerichtsverfahren. Die entsprechende unionale Vorschrift findet sich in Art. 47 Abs. 2 Satz 1 GRCh.46 Im deutschen Recht bestimmt § 169 Abs. 1 Satz 1 GVG, dass die Verhandlung vor dem erkennenden Gericht einschließlich der Verkündung der Urteile und Beschlüsse öffentlich ist. Der Öffentlichkeitsgrundsatz gilt aber nicht für das Gerichtsverfahren insgesamt. Der Grundsatz der Öffentlichkeit des Verfahrens gilt gemäß § 169 GVG in Verbindung mit § 55 VwGO nämlich nur für die mündliche Verhandlung vor dem erkennenden Gericht.47 Ein Erörterungstermin gemäß § 87 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 VwGO sowie eine Beweisaufnahme in einer vorbereitenden Verhandlung sind lediglich parteiöffentlich.48 Im Übrigen ist die Anklageschrift bis zur Erörterung in öffentlicher Verhandlung von der Öffentlichkeit abgeschirmt, und der Verstoß dagegen ist strafbewehrt (§ 353d Nr. 3 StGB). Der Richter hat nach § 43 DRiG über den Hergang bei der Beratung und Abstimmung auch nach Beendigung seines Dienstverhältnisses zu schweigen. Nach § 100 Abs. 4 VwGO wird Akteneinsicht nach den Absätzen 1 bis 3 in die Entwürfe zu Urteilen, Beschlüssen und Verfügungen, in Arbeiten zu ihrer Vorbereitung und in die Dokumente, die Abstimmungen betreffen, nicht gewährt; damit soll das Beratungsgeheimnis geschützt werden.49 Das Verwaltungsverfahren ist für sich genommen nicht öffentlich. Das hängt zunächst einmal damit zusammen, dass die an ihm Beteiligten nicht per se Teil der Öffentlichkeit sind (§ 9 VwVfG). Dies ist nur anders bei der Planung von Vorhaben, die nicht nur unwesentliche Auswirkungen auf die Belange einer größeren Zahl von Dritten haben können; in diesen Fällen ist die betroffene Öffentlichkeit frühzeitig über die Ziele des Vorhabens, die Mittel, es zu verwirklichen, und die voraussichtlichen Auswirkungen des Vorhabens zu unterrichten (frühe Öffentlichkeitsbeteiligung, § 25 Abs. 3 Satz 1 VwVfG). Mehr noch gilt für die Kommunikation: Wenn durch Rechtsvorschrift eine öffentliche oder ortsübliche Bekanntmachung angeordnet ist, soll die Behörde deren Inhalt zusätzlich im Internet veröffentlichen, § 27a Abs. 1 Satz 1 VwVfG. Ein Verwaltungsakt darf – ausnahmsweise – öffentlich bekannt gegeben werden, wenn dies durch Rechtsvorschrift zugelassen ist, § 41 Abs. 4 VwVfG. Und schließlich gelten stärkere Momente von Öffentlichkeit in den durch Rechtsvorschrift besonders anzuordnenden Fällen des sog. förmlichen Verwaltungsverfahrens, 46
Vgl. im Einzelnen Stern/Sachs-GRCh-Alber, Art. 47 Rn. 136 ff. Beschluss vom 8. September 1988 – BVerwG 9 CB 38.88 – Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 82 S. 21. 48 BVerwG, Urteil vom 21. September 2000 – 2 C 5/99 – unter Hinweis auf Beschluss vom 27. Juli 1993 – BVerwG 6 B 33.93 – Buchholz 310 § 87 VwGO Nr. 8 S. 1. 49 Schenke, VwGO § 100 Rn. 11. 47
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§§ 63 ff. VwVfG, deren Komplexität regelmäßig auf eine größere Anzahl von Beteiligten, z. B. § 66 VwVfG, gerichtet ist. Als Mischform von Diskretion und Öffentlichkeit kann – zum Schutz individueller Rechte – die verfassungsrechtliche Regelung über die Anordnung der Freiheitsentziehung verstanden werden. Nach Art. 104 Abs. 4 GG ist von jeder richterlichen Entscheidung über die Anordnung oder Fortdauer einer Freiheitsentziehung unverzüglich ein Angehöriger des Festgehaltenen oder eine Person seines Vertrauens zu benachrichtigen. Nicht unähnlich bestimmt § 105 Abs. 2 Satz 1 StPO: Wenn eine Durchsuchung der Wohnung, der Geschäftsräume oder des befriedeten Besitztums ohne Beisein des Richters oder des Staatsanwalts stattfindet, so sind, wenn möglich, ein Gemeindebeamter oder zwei Mitglieder der Gemeinde, in deren Bezirk die Durchsuchung erfolgt, zuzuziehen. 2. Heimliche Ausübung von Staatsgewalt Eine verbreitete Vorstellung bringt bevorzugt Nachrichtendienste mit der Anwendung heimlicher staatlicher Überwachungsmaßnahmen in Verbindung.50 Die grundlegende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu entsprechenden Eingriffsbefugnissen betrifft allerdings das Bundeskriminalamtsgesetz. Mit Verfassungsbeschwerden angegriffen worden war eine Reihe von Normen zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus aus dem Bundeskriminalamtsgesetz vom 25. Dezember 2008.51 Das Bundesverfassungsgericht hat die ihm vorgelegten Regelungen nicht ausnahmslos verworfen. Es hat sogar die Grundkonzeption der gesetzlichen Maßnahmen für gerechtfertigt gehalten. Es hat aber – abgeleitet aus dem verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz – eine rechtsstaatliche Grenze bei der Verwendung der Befugnisse gezogen. Heimliche Überwachungsmaßnahmen, sofern sie tief in die Privatsphäre eingreifen, sind mit der Verfassung demnach nur vereinbar, wenn sie dem Schutz oder der Bewehrung von hinreichend gewichtigen Rechtsgütern dienen, für deren Gefährdung oder Verletzung im Einzelfall belastbare tatsächliche Anhaltspunkte bestehen. Sie setzen grundsätzlich voraus, dass der Adressat der Maßnahme in die mögliche Rechtsgutverletzung aus Sicht eines verständigen Dritten den objektiven Umständen nach verfangen ist. Eine vorwiegend auf den Intuitionen der Sicherheitsbehörden beruhende bloße Möglichkeit weiterführender Erkenntnisse genügt zur Durchführung solcher Maßnahmen nicht.52 Die Verfassung setzt so der Absenkung der Eingriffsschwellen für Maßnahmen der Straftatenverhütung, die heimlich durchgeführt werden und tief in die Privatsphäre hineinreichen können, deutliche Grenzen; für weniger tief in die Privatsphäre eingreifende 50
Vgl. beispielsweise zur nachrichtendienstlichen Kontrolle durch die G 10-Kommission Lindner/Unterreitmeier, DÖV 2019, 165, 170. 51 BGBl. I 2008 S. 3083. 52 BVerfGE 107, 299 (321 ff.); 110, 33 (56); 113, 348 (377 f., 380 f.); 120, 274 (328); 125, 260 (330).
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Maßnahmen reichen die verfassungsrechtlich zulässigen Gestaltungsmöglichkeiten zur Straftatenverhütung demgegenüber weiter.53 3. Zur Heimlichkeit staatlicher Informationen Der Grundsatz der Nichtöffentlichkeit staatlicher Informationen wird zu Recht in Zweifel gezogen.54 Ein solcher Grundsatz könnte auch nicht profitieren von der grundsätzlichen Nicht-Öffentlichkeit von Verwaltungsverfahren; denn deren Diskretion ist an die Betroffenheit subjektiver Rechte, insbesondere personenbezogener Daten gebunden. Die behauptete Diskretion öffentlicher Informationen bedarf demgegenüber der gesetzlichen Begründung wie z. B. als Dienst- oder Staatsgeheimnis sowie beispielsweise als Geschäftsgeheimnis. Das Bundesverfassungsgericht hat in der CICERO-Entscheidung den Rang der Pressefreiheit gegenüber der Strafbewehrung bei der Verletzung von Dienstgeheimnissen angehoben. Die bloße Veröffentlichung eines Dienstgeheimnisses im Sinne des § 353b StGB durch einen Journalisten reicht nach dieser Rechtsprechung im Hinblick auf Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG nicht aus, um einen den strafprozessualen Ermächtigungen zur Durchsuchung und Beschlagnahme genügenden Verdacht der Beihilfe des Journalisten zum Geheimnisverrat zu begründen.55 Dies bedeutet allerdings nicht, dass Dienstgeheimnisse dem öffentlichen Zugriff, beispielsweise durch Parlamentsausschüsse, grenzenlos preisgegeben wären. Der Bundestag hat in seiner Geheimschutzordnung, die Bestandteil der Geschäftsordnung ist, in detaillierter Weise die Voraussetzungen für die Wahrung von Dienstgeheimnissen bei seiner Aufgabenerfüllung festgelegt.56 Die Verschwiegenheitspflicht aufgrund parlamentsrechtlicher Regelungen wird durch die strafrechtliche Sanktion des § 353b Abs. 2 Nr. 1 StGB bekräftigt.57 Gleichwohl bleibt die eigene, aus der ihr anvertrauten Regierungsgewalt herrührende Verantwortung der Bundesregierung für die Wahrung der Dienstgeheimnisse unberührt.58 Die Bundesregierung ist insbesondere nicht verpflichtet, Verschlusssachen, die Dienstgeheimnisse enthalten, dem Bundestag vorzulegen, wenn dieser nicht den von der Bundesregierung für notwendig gehaltenen Geheimschutz gewährleistet.59
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BVerfGE 141, 220 – 378, Rn. 104. Gusy, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. II, 2. Aufl. 2012, § 23 Rn. 9 m.w.N. 55 BVerfGE 117, 244 – 272. 56 BVerfGE 67, 100 (135); 137, 185 (240, Rn. 149). 57 BVerfGE 143, 101 – 160, Rn. 139. 58 BVerfGE 67, 100 (137); 70, 324 (359); 137, 185 (241, Rn. 150). 59 BVerfGE 143, 101 – 160, Rn. 140 unter Bezugnahme auf BVerfGE 67, 100 (137); 137, 185 (241, Rn. 150). 54
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4. Transparenz des staatlichen Überwachungsaufwandes Aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wird eine nicht zwingend im individuellen Grundrecht angelegte, aber verfassungspolitisch übergreifende Forderung nach Transparenz abgeleitet. Transparenz der Datenerhebung und -verarbeitung soll – ungeachtet ihrer Bedeutung für die Ausübung des Grundrechts im Einzelfall – dazu beitragen, dass Vertrauen und Rechtssicherheit entstehen können und der Umgang mit Daten in einen demokratischen Diskurs eingebunden bleibt.60 Durch sie soll, soweit möglich, den Betroffenen subjektiver Rechtsschutz ermöglicht und zugleich einer diffusen Bedrohlichkeit geheimer staatlicher Beobachtung entgegengewirkt werden.61 Je weniger die Gewährleistung subjektiven Rechtsschutzes möglich ist, desto größere Bedeutung erhalten dabei Anforderungen an eine wirksame aufsichtliche Kontrolle und an die Transparenz des Behördenhandelns gegenüber der Öffentlichkeit.62 Zur Gewährleistung von Transparenz und Kontrolle bedarf es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts deshalb über die Mittel von Aufsicht und Rechtsschutz hinaus einer gesetzlichen Regelung von Berichtspflichten. Sie sind erforderlich und müssen hinreichend gehaltvoll sein, um eine öffentliche Diskussion über Art und Ausmaß der auf diese Befugnisse gestützten Datenerhebung, einschließlich der Handhabung der Benachrichtigungspflichten und Löschungspflichten, zu ermöglichen und diese einer demokratischen Kontrolle und Überprüfung zu unterwerfen.63
V. Trennungsgebot in der behördlichen Kooperation Das Gebot einer Trennung von Polizei und Nachrichtendiensten besagt, dass Geheimdienste keine polizeilichen Zwangsbefugnisse besitzen dürfen, also etwa keine Vernehmungen, Durchsuchungen, Beschlagnahmen durchführen oder anderen Zwang ausüben dürfen. Christoph Gusys vielzitierte Formel lautet: „Wer (fast) alles weiß, soll nicht alles dürfen, und wer (fast) alles darf, soll nicht alles wissen“.64 Nach diesem Verständnis dürfen sie mithin nicht zur gezielten Erlangung von Zufallsfunden für nicht-nachrichtendienstliche Zwecke eingesetzt werden.65 Das be60
BVerfGE 133, 277 (366, Rn. 206). BVerfGE 125, 260 (335); ähnlich EuGH, Urteil vom 8. April 2014 – C-293/12, C-594/12 –, Digital Rights Ireland Ldt/Minister for Communications, Marine and Natural Resources u. a., NJW 2014, S. 2169 (2170), Rn. 37. 62 BVerfGE 141, 220 – 378, Rn. 135 unter Hinweis auf BVerfGE 133, 277 (366 f., Rn. 207). 63 BVerfGE 141, 220 – 378, Rn. 142 – 143 unter Hinweis auf BVerfGE 133, 277 (372, Rn. 221 f.). 64 Gusy, in: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.), Nachrichtendienste, Polizei und Verbrechensbekämpfung im demokratischen Rechtsstaat, 1994, S. 91 ff. (93). 65 BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 09. November 2010 – 2 BvR 2101/09 –, Rn. 59 unter Hinw. auf Roggan/Bergemann, NJW 2007, S. 876; die Klärung der rechtlichen Anforderungen blieb im streitigen Fall offen, weil jedenfalls die festgestellten tatsächlichen Umstände einen Verstoß gegen das so verstandene Trennungsprinzip nicht hergaben. 61
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hördliche Trennungsgebot benennt eine Ausnahme zu dem sachlogisch vorausgesetzten Normalfall der Zusammenarbeit.66 Die vorausgesetzte Zusammenarbeit bezieht sich auf diejenige von Nachrichtendiensten und Polizeibehörden.67 Und die besagte Trennung geht auf den sog. Polizeibrief der Militärgouverneure in Deutschland zur Genehmigung des Grundgesetzes zurück. Seiner Bedeutung ist daher nachzugehen (1.). Das Trennungsgebot weist eine organisationsverfassungsrechtliche Ebene auf, die maßgeblich für die einfachgesetzlichen Regelungen und daher zuerst zu betrachten ist (2.). Die grundrechtlichen Fragen aus der Bundesverfassung sind zwar im Rahmen der rechtsstaatlichen Kapitel schon ausführlich angesprochen worden, bedürfen aber noch einer Erwägung (3.). Das einfache Recht vollzieht die verfassungsrechtlich nicht vollkommen ausgeleuchteten Vorgaben nach, nicht ohne unbeantwortete Restfragen zu hinterlassen (4.). 1. Eine notwendige historische Reminiszenz zum Trennungsgebot Ein Trennungsgebot im Sicherheitsrecht wird hierzulande üblicherweise im Verhältnis von Polizei und Nachrichtendiensten erörtert, vermutlich weil es dort die typischste „deutsche“ Ausprägung erfahren hat. Es existiert – anders als bei der Trennung in Inlands- und Auslandsnachrichtendienste – in keinem anderen Land.68 Eigentlich müsste man von einer „westdeutschen“ Ausprägung sprechen, weil der Grundsatz in der – „ostdeutschen“ – ehemaligen DDR nie gegolten hat. Allerdings waren im Gründungsjahr der beiden deutschen Teilrepubliken 1949 die Bruchstücke des vormaligen Deutschen Reiches den Rechtsvorstellungen ihrer jeweiligen Besatzungsmächte unterworfen, und die wichen gerade an dieser Stelle aus unterschiedlichen ideologischen Traditionsmustern signifikant voneinander ab.69 Der Ausgangspunkt für eine Begrenzung von polizeilicher und nachrichtendienstlicher Zusammenarbeit in der Bundesrepublik lag im nationalsozialistischen Reichssicherheitshauptamt, in dem am 27. September 1939 die Geheime Staatspolizei, Kriminalpolizei und der Sicherheitsdienst der SS zum konzeptionellen wie exekutiven Kern einer weltanschaulich orientierten Polizei verbunden wurden. Diese verstand ihre Aufgaben politisch, ausgerichtet auf rassische „Reinhaltung“ des „Volkskörpers“ sowie auf die Abwehr oder Vernichtung der völkisch definierten Gegner, 66
Vgl. Gusy, in: Dietrich/Eiffler (Hrsg.), Handbuch des Rechts der Nachrichtendienste, 2017, S. 368. 67 Dietrich, in: Dietrich/Eiffler (Hrsg.), Handbuch des Rechts der Nachrichtendienste, 2017, S. 273 sieht darüber hinaus auch Anhaltspunkte für eine Geltung im Verhältnis zu anderen Sicherheitsbehörden. 68 Hüß, in: Dietrich/Eiffler (Hrsg.), Handbuch des Rechts der Nachrichtendienste, 2017, S. 491 und Klaushofer, ebd., S. 1781. 69 Unterreitmeier hält es auch für möglich, dass anstelle nationalsozialistischer Gräueltaten ein „massives Eigeninteresse“ der Besatzungsmächte an einer möglichst schwachen „Zentralgewalt des Bundes“ bestanden habe, vgl. Unterreitmeier, Das informationelle Trennungsprinzip – eine historisch-kritische Relecture, AÖR 2019, 234 (236).
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losgelöst von normenstaatlichen Beschränkungen, in ihren Maßnahmen allein der im „Führerwillen“ zum Ausdruck kommenden Weltanschauung verpflichtet.70 Das nachrichtendienstliche Trennungsgebot in der Bundesrepublik wird historisch zurückgeführt auf den sog. Polizei-Brief der west-alliierten Militärgouverneure zum Grundgesetz vom 14. April 1949.71 Sein Gegenstand sind Ausmaß und Beschaffenheit der dem Bund zugestandenen Polizeikapazitäten. Die dabei vorgestellten Regelungen beschränkten sich nicht auf Vorgaben für das vor der Verabschiedung durch den Parlamentarischen Rat stehende Grundgesetz, sondern bezogen sich auch auf die darüber hinaus erwartete weitere Gesetzgebung auf diesem Feld. Die Verknüpfung von Polizeiorganisation und dem, was heutzutage als Nachrichtendienstrecht bezeichnet wird, kommt erst durch Nr. 2 des Briefes zustande. Dort heißt es „2. Der Bundesregierung wird es ebenfalls gestattet, eine Stelle zur Sammlung und Verbreitung von Auskünften über umstürzlerische, gegen die Bundesregierung gerichtete Tätigkeiten einzurichten. Diese Stelle soll keine Polizeibefugnis haben.“ Der Begriff „Nachrichtendienst“ o. ä. wird in dem berühmten Satz gar nicht erwähnt; es ist lediglich die Rede von einer zu schaffenden „Stelle zur Sammlung und Verbreitung von Auskünften“. Die Bedeutung dieser Maßgabe muss eng im historischen Kontext gefunden werden, und dieser weist auf ein Problem des Bundes und nicht auf ein Problem der Sicherheitsbehörden hin. Das lässt sich zunächst und einfach daran ablesen, dass es den seit 1946 gegründeten Bundesländern und ihren Verfassungen keineswegs untersagt worden war, nachrichtendienstliche Einrichtungen zu schaffen, und diese wurden nicht mit Restriktionen bei der Zusammenarbeit, Ausgestaltung oder der Zusammenarbeit mit anderen Sicherheitsbehörden unterworfen.72 Auf Länderebene ist eine solche Trennung auch später nicht eingeführt worden. Der Ausschluss der Polizeibefugnis für die zu schaffende nachrichtendienstliche „Stelle“ konnte sich im Übrigen von vornherein nur auf das Bundesamt für Verfassungsschutz beziehen, denn nur dessen Einrichtung war von Anfang an und bis heute im Grundgesetz vorgesehen.73 Es ging also nur um den sog. Inlandsnachrichtendienst.74 Einen Auslandsnachrichtendienst hatte die Bundesrepublik bis 1956 nicht, denn die später zum Bundesnachrichtendienst gewordene „Organisation Gehlen“ war am 23. Mai 1949 noch eine Einrichtung im amerikanischen Sold.75 Und sie 70 Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, 2002, S. 12 ff. 71 E.R. Huber, Quellen zum Staatsrecht der Neuzeit, 1951. 72 Ebenso Unterreitmeier, AÖR 2019, 234 (251). 73 Dietrich weist in: Dietrich/Sule (Hrsg.), Intelligence Law and Policies in Europe, S. 471 – 515 (484) darauf hin, dass in kaum einem anderen Staat außer Deutschland überhaupt Regelungen über Nachrichtendienste in die Verfassungen aufgenommen worden sind. 74 Diese Verknüpfung hat das BVerfG auch in seinem Beschluss BVerfGE 97, 198 – 228, Rn. 89 ausdrücklich hergestellt. 75 Henke, Geheime Dienste. Die politische Inlandsspionage der Organisation Gehlen 1946 – 1953 (Band 10 der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienste 1945 – 1968), 1. Aufl. 2018, S. 46 ff.
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war keinesfalls Gegenstand des Polizeibriefs. Eine Aussage über ein Trennungsgebot für den deutschen Auslandsnachrichtendienst kam vor 1956 somit schon mangels vorhandener Behördeneinrichtung nicht in Betracht. Die Bedeutung des gleichwohl von Nr. 2 Satz 2 eingeführten Gebotes – „Diese Stelle soll keine Polizeibefugnis haben.“ – für den Bund muss in seiner Reichweite somit verstanden werden aus dem, was dem Bund überhaupt sicherheitsbehördlich in der Verfassung zugestanden werden sollte. Das waren nach Nr. 1 des Polizeibriefes „Bundesorgane zur Verfolgung von Gesetzesübertretungen und Bundespolizeibehörde“ auf drei eingegrenzten Feldern.76 Aus der Behördengeschichte und nach der heutigen Sicherheitsarchitektur in Deutschland mutet die Maßgabe im Polizeibrief paradox an. Da wird eine Befugniseinschränkung für einen behördlichen Sicherheitsbereich ausgesprochen, der aus damaliger Sicht ganz überwiegend noch für viele Jahre gar nicht in deutscher, sondern in US-amerikanischer Regie lag. Cui bono? Und da wird mit dieser Befugniseinschränkung anscheinend etwas beschworen, was aus tieferliegenden Gründen schief gegangen war, nämlich der Rechtsstaat mit einer gesetzesgebundenen und am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz orientierten Verwaltung.77 Wie zum Beweis trat im selben Jahr 1949 in der DDR die Verfassung der zweiten deutschen Diktatur in Kraft – ohne einen vergleichbaren Polizeibrief der sowjetischen Militärverwaltung – und organsierte bis 1989 mit 91.000 Mitarbeitern den größten Geheimdienst der deutschen Geschichte, die Stasi, der aufgrund seiner – aus der UdSSR übernommenen – tschekistischen Tradition78 keinerlei rechtsstaatlichen Bindungen unterlag und zum Kennzeichen dieser Periode wurde. 2. Trennungsgebot und Organisationsrecht der Bundesverfassung Über das Rechtsstaatsprinzip (s. I.), den Gesetzesvorbehalt (s. II.) und das Verhältnismäßigkeitsprinzip (s. III.) weist das Trennungsgebot einen weiteren verfassungsrechtlichen Bezug, nämlich im Organisationsrecht des Grundgesetzes auf.79 Dabei geht es um die Amtshilfe und Zusammenarbeit, aber auch das Verhältnis der Polizeien von Bund und Ländern. 76 „a) Überwachung des Personen- und Güterverkehrs bei der Überschreitung der Bundesgrenzen; b) Sammlung und Verbreitung von polizeilichen Auskünften und Statistiken; c) Koordinierung bei der Untersuchung von Verletzungen der Bundesgesetze und die Erfüllung internationaler Verpflichtungen hinsichtlich der Rauschgiftkontrolle, des internationalen Reiseverkehrs und von Staatsverträgen über Verbrechensverfolgung“. 77 Zum Wegfall der Gesetzesbindung und der Lösung vom Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Nationalsozialismus s. Fraenkel, Der Doppelstaat, 4. Aufl. 2019, S.77. 78 Die Unbedingtheit des „revolutionären“ Machtanspruchs und Gestaltungswillens als stählerner Kern des Tschekismus, vgl. Gieseke, Die Stasi 1945 – 1990, 3. Aufl. 2011, S. 275. 79 Graulich, in: Schenke/Graulich/Ruthig (Hrsg.), Sicherheitsrecht des Bundes, § 2 BKAG Rn. 6.
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Als Teil der Verwaltung sind auch die Sicherheitsbehörden durch Zusammenarbeit verbunden. Sie wird als örtlich, sachlich und instanziell in vielfacher Weise in horizontal und vertikal vernetzte Verbundsysteme mit dynamischen Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen eingefasst beschrieben.80 Die verfassungsrechtlich ableitbare Grundform dieser Zusammenarbeit ist die Amtshilfe in Art. 35 Abs. 1 GG, die allerdings zahlreichen Begrenzungen und Modifikationen unterliegt.81 Durch die schlichte Feststellung, dass die Behörden des Bundes und der Länder sich gegenseitig Rechs- und Amtshilfe leisten, stellt das Grundgesetz klar, dass die gewaltenteiligen Begrenzungen der Hoheitsreche von Bund und Ländern zu keiner unüberwindlichen Separierung der Staatsgewalt im Bundesstaat führen sollen.82 Die Frage eines Trennungsgebotes hat sich für die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 1998 hinsichtlich der in Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG vorgesehenen sonderpolizeilichen Behörden des Bundes gestellt.83 Dabei ging es um die Aufgaben des Bundesgrenzschutzes im Verhältnis zu den polizeilichen Aufgaben der Länder. Diese Rechtsprechung geht dabei nicht von einem institutionell zu beachtenden Trennungsprinzip aus, sondern ordnet das damit verbundene Anliegen vorrangigen Verfassungsprinzipien unter: Das Rechtsstaatsprinzip, das Bundesstaatsprinzip und der Schutz der Grundrechte können es danach verbieten, bestimmte Behörden miteinander zu verschmelzen oder sie mit Aufgaben zu befassen, die mit ihrer verfassungsrechtlichen Aufgabenstellung nicht vereinbar sind. So werden die Zentralstellen für Zwecke des Verfassungsschutzes oder des Nachrichtendienstes – angesichts deren andersartiger Aufgaben und Befugnisse – nicht mit einer Vollzugspolizeibehörde zusammengelegt werden dürfen (vgl. schon „Polizei-Brief“ der westalliierten Militärgouverneure vom 14. April 1949). Diese Frage bedurfte in dem seinerzeitigen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts jedoch ausdrücklich keiner abschließenden Entscheidung,84 und deshalb unterblieb auch eine Festlegung zum organisationsverfassungsrechtlichen Rang des nachrichtendienstlichen Trennungsgebotes. Genauso hat das Bundesverfassungsgericht sich in der G-10-Entscheidung aus dem Jahr 1999 verhalten und ausgeführt, dass es daher auf die Frage, ob sich aus den Gesetzgebungskompetenzen ein Trennungsgebot zwischen Polizei und Nachrichtendiensten entnehmen lasse, hier nicht ankomme.85 Die Frage nach einem etwai-
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Wißmann, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 15 Rn. 44. 81 Die Inanspruchnahme des Trennungsgebotes, um die administrative Durchsetzbarkeit von Verfügungen im Außenverhältnis generell auszuschließen, ist zu undifferenziert und überzeugt nicht, vgl. Gärditz, in: Dietrich/Eiffler (Hrsg.), Handbuch des Rechts der Nachrichtendienste, 2017, S. 980. 82 v. Mangoldt/Klein/Starck-GG-v. Danwitz, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 35 Abs. 1 Rn. 1. 83 Graulich, in: Schenke/Graulich/Ruthig (Hrsg.), Sicherheitsrecht des Bundes, BPolG § 1 Rn. 5. 84 BVerfGE 97, 198 – 228, Rn. 87. 85 BVerfGE 100, 313 – 403, Rn. 201 unter Hinweis auf BVerfGE 97, 198 (217).
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gen institutionell-organisatorischen Trennungsgebot ist also verfassungsgerichtlich nicht beantwortet.86 3. Trennungsgebot und Grundrechtsschutz Eine berühmte Normierung hat das Trennungsgebot im Volkzählungsgesetz 1987 erfahren, dessen verfassungsrechtliche Aufarbeitung zur Begründung des informationellen Selbstbestimmungsrechts geführt hat. Das dort in § 15 Abs. 1 VZG 198787 geregelte Trennungsgebot wurde nicht in den Rang eines eigenen Rechtsinstituts erhoben, sondern seine Anwendung auf die Verwaltung von Erhebungsmerkmale diente dem Schutz des informationellen Selbstbestimmungsrechts durch eine möglichst frühzeitige (faktischen) Anonymisierung der erhobenen Daten;88 es wurde also aus dem Grundrecht heraus interpretiert und für gut befunden.89 Dies sprach damals schon dafür, dass das Bundesverfassungsgericht einen grundrechtlich-befugnisorientierten Blickwinkel auf die Trennung bei der behördlichen Kooperation bevorzugt.90 Markanter ging das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Anti-Terrordatei-Gesetz vor.91 Auch in dieser Entscheidung ging es aber nicht von einem institutionellen – schon gar nicht organisatorischen – Verständnis eines Trennungsgebotes aus, sondern orientierte sich eng am Grundrechtsschutz.92 Regelungen, die den Austausch von Daten der Polizeibehörden und Nachrichtendiensten ermöglichen, unterliegen demnach angesichts dieser Unterschiede gesteigerten verfassungsrechtlichen Anforderungen. Aus dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung folgt insoweit ein informationelles Trennungsprinzip. Danach dürfen Daten zwischen den Nachrichtendiensten und Polizeibehörden grundsätzlich nicht ausgetauscht werden. Einschränkungen der Datentrennung sind nur ausnahmsweise zulässig. Soweit sie zur operativen Aufgabenwahrnehmung erfolgen, begründen sie einen 86
Hecker, in: Dietrich/Eiffler (Hrsg.), Handbuch des Rechts der Nachrichtendienste, 2017, S. 228. 87 „Volkszählungsgesetz 1987 in der Fassung vom 8. 11. 1985: § 15 Trennung und Löschung (1) Die Hilfsmerkmale nach § 8 sind mit Ausnahme der Hilfsmerkmale Straße und Hausnummer sowie Name der Arbeits- oder Ausbildungsstätte nach § 8 Abs. 1 Nr. 1 und Name, Bezeichnung von Unternehmen und Arbeitsstätten nach § 8 Abs. 1 Nr. 3 unverzüglich nach Durchführung der Eingangskontrollen bei den statistischen Ämtern der Länder von den Erhebungsmerkmalen zu trennen und gesondert aufzubewahren“. 88 BVerfG, Kammerbeschluss vom 24. September 1987 – 1 BvR 970/87 –, Rn. 9. 89 BVerfG, Kammerbeschluss vom 28. September 1987 – 1 BvR 1063/87 –, Rn. 11. 90 Hecker, in: Dietrich/Eiffler (Hrsg.), Handbuch des Rechts der Nachrichtendienste, 2017, S. 228. 91 Kutzschenbach, in: Dietrich/Eiffler (Hrsg.), Handbuch des Rechts der Nachrichtendienste, 2017, S. 1386 und 1393. 92 Gusy, in: Dietrich/Eiffler (Hrsg.), Handbuch des Rechts der Nachrichtendienste, 2017, S. 328.
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besonders schweren Eingriff. Der Austausch von Daten zwischen den Nachrichtendiensten und Polizeibehörden für ein mögliches operatives Tätigwerden muss deshalb grundsätzlich einem herausragenden öffentlichen Interesse dienen, das den Zugriff auf Informationen unter den erleichterten Bedingungen, wie sie den Nachrichtendiensten zu Gebot stehen, rechtfertigt. Dies muss durch hinreichend konkrete und qualifizierte Eingriffsschwellen auf der Grundlage normenklarer gesetzlicher Regelungen gesichert sein; auch die Eingriffsschwellen für die Erlangung der Daten dürfen hierbei nicht unterlaufen werden.93 4. Trennungsgebot und Verwaltungsrecht Einfachgesetzlich findet sich das Trennungsgebot im Verhältnis polizeilicher und nachrichtendienstlicher Befugnisse.94 Dabei fällt auf, dass es nahezu ausschließlich in den gesetzlichen Regeln für einen Teil davon positiviert wird; nämlich im Nachrichtendienstrecht, kaum aber im Polizeirecht.95 Der Grund dafür wird in dem auf die politische Vorfeldaufklärung beschränkten Auftrag der Nachrichtendienste gesehen, der sich in einer Beschränkung ihrer Befugnisse spiegelt: Polizeiliche Befugnisse haben sie nicht, und sie dürfen auch im Wege der Amtshilfe nicht die Polizei um Maßnahmen ersuchen, zu denen sie selbst nicht befugt sind.96 Dabei geht das Bundesverfassungsgericht von einem eher praktischen Verständnis dessen aus, was mit dem Trennungsgebot administrativ verbunden sein könnte und hat dieses im Fall der durch den Bundesnachrichtendienst im Ausland beschafften sog. Steuer-CD noch als beachtet angesehen. Denn das Amtsgericht und Landgericht seien im vorausgegangenen Strafverfahren davon ausgegangen, dass der Bundesnachrichtendienst die Daten im Wege der Amtshilfe lediglich entgegengenommen und weitergeleitet habe. Weder der Bundesnachrichtendienst noch die Strafverfolgungsbehörden hätten veranlasst, dass die Daten hergestellt, beschafft oder auf sonstige Weise erfasst worden seien. Der Informant habe sich vielmehr von sich aus an den Bundesnachrichtendienst gewandt.97 Die angegriffenen Entscheidungen hätten diesen Sachverhalt dahingehend gewürdigt, dass eine Verletzung des Trennungsgebots von vornherein ausscheidet. Dieses Gebot besage, dass Geheimdienste keine polizeilichen Zwangsbefugnisse besitzen dürfen, also etwa keine Vernehmungen, Durchsuchungen, Beschlagnahmen durchführen oder anderen 93
BVerfGE 133, 277 – 377, Rn. 123. Vgl. § 8 Abs. 3 BVerfSchG, § 2 Abs. 3 BNDG, § 4 Abs. 2 MADG, § 3 Abs. 4 des Hessischen Gesetzes über das Landesamt für Verfassungsschutz [VerfSchutzG HE]. 95 Eine Ausnahme stellt § 10 Abs. 2 Satz 1 BPolG über die Verwendung der BPol zur Unterstützung des BfV auf dem Gebiet der Funktechnik dar; zur Ausformung des Trennungsgebotes dort vgl. Graulich, in: Schenke/Graulich/Ruthig (Hrsg.), Sicherheitsrecht des Bundes, BPolG § 10 Rn. 12. 96 BVerfGE 133, 277 – 377, Rn. 119. 97 Löffelmann, in: Dietrich/Eiffler (Hrsg.), Handbuch des Rechts der Nachrichtendienste, 2017, S. 1242 spricht hier anstelle von „Zusammenarbeit“ von „Zuarbeit“. 94
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Zwang ausüben dürfen. Sie dürfen mithin nicht zur gezielten Erlangung von Zufallsfunden für nicht-nachrichtendienstliche Zwecke eingesetzt werden.98 Die Behauptung der Beschwerdeführer, der Bundesnachrichtendienst sei nur eingeschaltet worden, um dessen besondere Möglichkeiten auszunutzen, sei durch nichts belegt.99 Eine wichtige Regelung über die Datenkooperation von Bundespolizei und Nachrichtendiensten findet sich in § 29 Abs. 1 Satz 2 BVerfSchG. Danach kann die Bundespolizei personenbezogene Daten speichern, verändern und nutzen, soweit dies zur Erledigung besonderer Ersuchen nach § 17 Abs. 2 BVerfSchG erforderlich ist. Hierin liegt faktisch eine Regelung über die nachrichtendienstliche Amtshilfe der Bundespolizei. Ob darin ein Verstoß gegen „das Trennungsgebot“ liegt, mag ob des fehlenden institutionellen Charakters dieser Rechtsfigur bezweifelt werden.100 Vielmehr handelt es sich um eine – dem Grundsatz der Gesetzesbindung folgende – besondere gesetzliche Befugnis zur Datenverarbeitung im Kooperationsverhältnis. Spezialgesetzlich begrenzt ist die informationelle Zusammenarbeit des BND mit ausländischen Partnern. In der Regelung über die Ausland-Ausland-Aufklärung in § 13 Abs. 1 BNDG wird der Kooperationsrahmen erstreckt auf „ausländische öffentliche Stellen, die nachrichtendienstliche Aufgaben wahrnehmen (ausländische öffentliche Stellen)“. Dies schließt rein private ausländische Stellen als Kooperationspartner aus; dabei bleibt offen, wie mit „Verwaltungshelfern“ ausländischen Rechts umzugehen ist, wie sie beispielsweise dem deutschen Polizeirecht bekannt sind. Nicht zwingend erscheint allerdings der Ausschluss ausländischer polizeilicher Dienststellen von der Kooperation.101 Denn wegen der exklusiv deutschen Idee eines Trennungsgebotes kann bei ausländischen sicherheitsbehördlichen Stellen ohnehin nicht erwartet werden, dass diese sich auf die Befassung entweder mit nachrichtendienstlichen oder mit polizeilichen Aufgaben beschränken. Vielmehr ist dort eine ungetrennte Aufgabenwahrnehmung ohne weiteres möglich.
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Roggan/Bergemann, NJW 2007, S. 876. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 09. November 2010 – 2 BvR 2101/09 –, Rn. 59. 100 So aber Arzt, in: Schenke/Graulich/Ruthig (Hrsg.), Sicherheitsrecht des Bundes, BPolG § 29 Rn. 19. 101 So aber offenbar Dietrich, in: Schenke/Graulich/Ruthig (Hrsg.), Sicherheitsrecht des Bundes, BNDG § 13 Rn. 6 und § 6 Rn. 5. 99
Haben wir die Büchse der Pandora geöffnet? Von Momyana Guneva
I. Einleitung Kunst scheint in der Lage zu sein, unsere dunkelsten Ängste auszudrücken und zu visualisieren, wobei sie versucht, uns in der ihr eigenen Weise zu warnen und zu beschützen. Ich kann es nicht glauben, dass die Experten im Bereich des Strafrechts die Geschichte von Philip K. Dick „The Minority Report“, nach der Steven Spielberg in 2002 seinen gleichnamigen Film gedreht hat, nicht weiter zur Kenntnis genommen haben. Die Handlung entwickelt sich im Jahr 2054, wenn ein spezialisiertes Polizeikommando, das sogenannte PreCrime, mit ziemlich drastischen Mitteln „Verbrecher“ verfolgt, welche noch nichts begangen haben, aber eine Möglichkeit dafür existiert, basierend auf vorläufigen Daten von spezialisierten Psychiatern – Precogs. Die Geschichte und der Film betrachten das Problem der Willensfreiheit und des Determinismus, aber noch ein wesentliches Thema behandelt die Grenzen, innerhalb derer die präventiv handelnde Regierung die Bürger schützen kann.
II. Analyse des heutigen Strafrechts Die Entwicklung der Wirtschaft, der Technologien und der Kommunikation in den letzten 60 Jahren und besonders am Ende des Kalten Kriegs und der Untergang des Eisernen Vorhangs legten die Grundsteine der Prozesse, die zu einer Änderung hinsichtlich der Verbindungen und der Beziehungen zwischen den einzelnen Staaten, Organisationen und Menschen geführt haben; Prozesse, verbunden mit gegenseitigem Übergang und Verbreitung von Ideen, Kapital, Technologien und Kulturbesonderheiten in der ganzen Welt. Dieser universelle Prozess, genannt „Globalisierung“, ist das Hauptmerkmal unserer Zeit. Zwei Arten der Globalisierung – nämlich die Computerglobalisierung und die Wirtschaftsglobalisierung – sind die, die den größten Einfluss auf die Gesellschaft ausüben. Die Computersoftware adaptiert sich auf solcher Weise, dass sie in verschiedenen Ländern der Welt verwendbar wird, wobei das durch Vereinheitlichung der linguistischen, Marketing- und Softwarebemühungen zu erreichen ist. Das Ergebnis ist, dass eine Informationsgesellschaft entsteht, die schwache Verwaltungsstrukturen in gewohnter Form hat, jedoch in letzter Zeit ihre Verhaltensregeln erfolg-
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reich durchsetzt. Ein kleines Beispiel dafür sind einige der schwerwiegendsten Proteste in Bulgarien, die viele Menschen angezogen haben und die ausschließlich über das Internet organisiert wurden. Was die Wirtschaftsglobalisierung anbelangt, so haben die globalen Prozesse des Wandels der Finanzmärkte, die Änderungen in den Handels- und Herstellungsformen zu einer Situation geführt, in der die geographischen Grenzen fast keine Bedeutung haben, und die Regierungen tatsächlich nicht in der Lage sind, die Herstellung und den Verbrauch zu kontrollieren. Der freie Handel und der freie Kapitalverkehr führten zum zunehmenden Einfluss des Finanzkapitals, die Entstehung internationaler Finanzorganisationen, die Abschwächung der einzelnen Staaten und die Entstehung neuer politischer Interessen, die aber von nichtstaatlichen Institutionen determiniert sind. Die neuen Herausforderungen, verbunden mit dem Umweltschutz, mit dem Erkenntnis der Tatsache, dass die Ressourcen nicht unendlich sind und die Möglichkeiten für wirtschaftliche Entwicklung begrenzt sind, führten zu der Entstehung des Begriffs Risikogesellschaft (risk-society). Seine Grundmerkmale bestehen darin, dass die Gesellschaft einerseits ständig an die Gefahren und die Unsicherheit der Modernisierung1 stößt und anderseits sich für die Probleme der Zukunft und die Sicherheit engagiert.2 Diese prinzipielle Wende in der Gesellschaft erfordert vielleicht eine neue Sicht auf den Standort und die Bedeutung des Strafrechts. Es wird immer mehr davon gesprochen, dass die Kriminalität wächst, neue Formen annimmt und der freie Personen- und Kapitalverkehr zu diesen Prozessen beiträgt. Diese These ist nicht neu, schon nach dem Ersten Weltkrieg sind Meinungen aufgetaucht, dass die Kriminalität die andere, die schlechte Seite der modernen Zivilisation ist.3 Es ist nicht schwer zu erkennen, dass die Moderne die Art und die Charakteristik der Verbrechen geändert hat; am Anfang des 20. Jahrhunderts handelte es bei der internationalen organisierten Kriminalität um Diebstahl und Geldfälschung,4 aber heutzutage sprechen wir über Menschenhandel, Drogenhandel, über Waren und Technologien mit doppeltem Verwendungszweck und wir können behaupten, dass im Moment nur geringfügige alltägliche Straftaten nicht organisiert sind.
1 Beck, U., Risk Society, Towards a New Modernity. Sage Publications, London, 1992, S. 21. 2 Giddens, A., The Consequences of Modernity, Cambridge, Polity Press, 1990, S. 50. 3 Siehe Saranov, N., Der Kampf gegen die Verbrecher, in: Juridicheska Missal, Heft 5, 1927, S. 48. 4 Siehe z. B. Das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung und Verfolgung der Herstellung von gefälschten Geldzeichen, ratifiziert vom Bulgarischen Reich im Jahr 1930, Amtsblatt 5/1930. Man muss auch das Internationale Übereinkommen zur Verfolgung der Verbreitung und des Handels mit unmoralischen Waren, ratifiziert vom Bulgarischen Reich in 1924, Amtsblatt 292/1924 nennen.
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Die neuen Formen der Kriminalität, die komplizierten Sozialbedingungen und das Leben in ewiger Paranoia und Panik lassen tagtäglich die Frage stellen, ob das Strafrecht als Wissenschaft und als Gesetzgebung in der Lage ist, diese Probleme zu lösen. Traditionell begleitet der Gesetzgeber in Bulgarien den Eintritt von neuen oder die Änderung der sozialen Phänomene mit Änderungen im Strafgesetzbuch, die aber dem Verlauf der Ereignisse nur nachfolgen. In den letzten 50 Jahren, seitdem das Strafgesetzbuch in Kraft getreten ist, wurde es mehr als 100 Mal geändert und ergänzt. Leider können wir nicht behaupten, dass diese Änderungen einer allgemeinen Idee untergeordnet sind oder einer bestimmten Strafpolitik folgen. Die Erweiterung des Netzes von Institutionen und von Vereinbarungen, die die internationale Zusammenarbeit zur Bekämpfung schwerer Kriminalität erleichtern sollen,5 erfordert entschlossene und wesentliche Änderungen in der inneren Gesetzgebung. Bulgarien hat ungefähr 20 Konventionen der Vereinten Nationen und des Europarates im Bereich der Bekämpfung der Kriminalität ratifiziert. Wir können sagen, dass die Bulgarische Gesetzgebung seit 1975, als im Strafgesetzbuch Tatbestände zur Luftpiraterie6 eingeführt wurden, bis zum heutigen Tag ausnahmslos mit der Schaffung konkreter Vorschriften in die bestehende Gesetzstruktur reagiert. Das Problem besteht darin, dass die entsprechenden Vorschriften im Strafgesetzbuch schwer und mühsam anwendbar sind, und die Tendenz ist nicht ermutigend. Die Ursache dafür liegt meist in Übertreibungen, oder in Übersetzungsproblemen aufgrund der Nichtübereinstimmung zwischen den Grundsätzen und den Instituten des bulgarischen und des angelsächsischen Strafrechtsystems, oder in unklaren Definitionen in den internationalen Dokumenten.7 So wurde z. B. im Kapitel „Verbrechen gegen Personen“ ein neuer Abschnitt üFQ – „Menschenhandel“ eingefu¨hrt.8 Die Vorschriften bereiten große Probleme in der Praxis, wobei zu beru¨cksichtigen ist, dass Bulgarien ein Staat ist, der oft von Menschenhandel Betroffene aufnimmt, aber auch dass bulgarische Staatsbu¨rger oftmals Opfer von Menschenhandel sind. Im Jahr 2009 erließ das Obere Gerichtshof eine auslegende Entscheidung9, die selbst eine Auslegung notwendig macht, die dazu fu¨hrte, dass viele Strafverfahren gegen Personen, die Prostituierte ausbeuten, gefu¨hrt werden, diese Personen aber am mo¨glichen Menschenhandel u¨berhaupt nicht beteiligt sind.10
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Dieses Problem hat vorwiegend einen prozessualen Charakter, deswegen lassen wir ihn außer Acht. 6 In Verbindung mit der Ratifizierung des Übereinkommens zur Bekämpfung der widerrechtlichen Inbesitznahme von Luftfahrzeugen, Amtsblatt 12/1972. 7 Ein gutes Beispiel in dieser Richtung ist Art. 1 des Übereinkommens, das die Begriffe der Geldwäsche, der Fahndung, der Entnahme und der Konfiszierung von Erträgen aus Straftaten regelt, Amtsblatt 43/1994. 8 Amtsblatt 92/2002. Die letzten Änderungen sind von 2009, Amtsblatt 27/2009. 9 Auslegende Entscheidung Nr. 2 vom 16. Juli 2009. 10 Dabei ist die Strafe überhaupt nicht zu unterschätzen, denn sie beträgt Freiheitsentzug von 3 bis 10 Jahren, Art. 159v des bulgarischen Strafgesetzbuches.
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Der Kreis der Verbrechenstatbestände im Strafgesetzbuch wurde bedeutend erweitert und es wurden Handlungen kriminalisiert, die kein Jurist mit gesundem Menschenverstand als kriminell einstufen würde. Das Ergebnis ist, als erster Punkt, schlecht konzipierte neue Verbrechenstatbestände, die oft nicht gut übersetzt sind und die nicht die gesetzlichen Modelle, Traditionen und die Sprache des bulgarischen Strafrechts berücksichtigen. Als zweiter Punkt ist zu kritisieren, dass die neuen Vorschriften an unpassende Stellen im Normensystem des Besonderen Teil des Strafgesetzbuches integriert wurden und nicht der gesetzlich festgelegten Logik folgen. Als dritten Punkt kann man eine Beschleunigungstendenz der Gesetzgebung bemerken, als ob das Ziel darin läge, mehr Vorschriften in kürzerer Zeit zu verfassen. Es kommt alle drei Monate zu Gesetzänderungen und zur Erhöhung der Vorschriftenanzahl, weil keiner sich die Mühe macht, diese zu analysieren und einem bestimmten Konzept oder einer Grundidee unterzuordnen. Das Ergebnis ist, dass die Strafgesetzgebung überfrachtet ist und zwar mit ähnlichen Verbrechenstatbeständen und unnötigen Wiederholungen und Variationen. Waren es ungefähr 300 Vorschriften im Besonderen Teil des Strafgesetzbuches von 1968, so sind es im Moment über 420. Das Wichtigste ist jedoch, dass die psychologische Barriere vor Gesetzänderungen im Strafgesetzbuch offensichtlich gefallen ist. Und nicht zuletzt ist dieses das schlechteste Modell zur Entwicklung der Gesetzgebung, im Gegensatz zu allen gegenwärtigen Tendenzen in der strafrechtlichen Wissenschaft: Auf negative Erscheinungen reagiert die bulgarische Gesetzgebung durch Nutzung der Abschreckungsfunktion des Gesetzes, d. h. durch die Etablierung von schweren und unangemessenen Strafen. Die Strafen werden immer heftiger und heftiger, wobei man vergisst, dass die strafrechtliche Sanktion selbst nicht die abschreckende Wirkung auf den Verbrecher und die Gesellschaft hat, wie im 18. und 19. Jahrhundert. Selbstverständlich entsteht die Frage, welche Sanktionen akzeptabel sind. Die allgemeine Entwicklung der Gesellschaft, die in der Wissenschaft als „Brutalisierung der modernen Welt“ bezeichnet wird, erscheint in zwei Grundformen – es werden immer schwerere Straftaten begangen und in einigen Fällen ungemessen schwere Sanktionen verhängt. Die Idee zur Liberalisierung des Strafrechts wurde offensichtlich besseren Zeiten überlassen. Die Frage ist, wann diese besseren Zeiten kommen werden und ob es dann überhaupt eine Rückkehr zur Liberalisierung geben kann, da das Maß für die Schwere der Strafen längst verloren ist und die Bestrafung vernünftigerweise als „prosoziale Aggression“ bezeichnet werden kann. Zusätzlicher Druck wird von den Medien ausgeübt, die die Erforderlichkeit härterer Strafen und strengerer Maßnahmen herbeireden. Es gibt tatsächlich keine seriösen Untersuchungen, die wissenschaftlich belegen, worin die Ursachen für die Misserfolge in der Verbrechensbekämpfung liegen – in der Abwesenheit von strengen Gesetzen oder in der großen Anzahl von bestechlichen und arbeitsunfähigen Magistraten. Im Großen und Ganzen sind die Gesetzänderungen der Realität nicht angemessen und es gibt keine wissenschaftliche Grundlage, die sie begründen kann. Die soziale und historische Untersuchung der strafrechtlichen Vorschriften zeigt, dass die neuen und geänderten Vorschriften in vielen Fällen ein Ergebnis politischer Spiele sind oder
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darauf abzielen, politische Aufgaben mit den Mitteln des Strafrechts zu lösen. Es wird häufig als ausreichend angesehen, dass die eine oder andere Maßnahme als notwendig erachtet wird, damit Fragen über ihre Rechtmäßigkeit und Begründung nicht gestellt werden. Die Hauptgefahr von politisch und nicht rechtlich motivierten Rechtsakten besteht in der eingeschränkten Bedeutung der Rechtsmäßigkeit, und diese Rechtszerstreuung führt entweder zur Anarchie oder zur Diktatur. Das verlorene Maß in der Bestrafung und das Vordringen der reinen Repression machen die Idee der Umerziehung sinnlos, obwohl Art. 36 des bulgarischen Strafgesetzbuches immer noch behauptet, dass darin der Hauptzweck der Bestrafung liegt. Die Grundstrafen wurden auf nur zwei reduziert: Freiheitsstrafen in einem Maße, das in der Strafvollzugswissenschaft schon längst umstritten ist, und Geldstrafen, die eigentlich keine Strafen mehr sind, sondern ein Mittel, das zum zivilen Tod führt. Zu bemerken ist noch, dass die Abwesenheit einer gemeinsamen zusammenhängenden Idee und Politik dazu führt, dass jede Änderung separat für sich selbst vorgenommen wird, ohne sogar an den vorherigen Text gebunden zu sein, und dass diese Änderung bei späteren Änderungen auch nicht berücksichtigt wird. Das Ergebnis ist der abstoßende Eindruck, dass der Gesetzgeber nicht weiß, was er tut.
III. Übergang zum Sicherheitsrecht Die schwerwiegenden sozialen Veränderungen in der Welt am Anfang des 21. Jahrhunderts haben sowohl das traditionelle Strafrecht als auch seine Fähigkeit zur Bewältigung der neuen sozialen Realitäten einer Prüfung unterzogen. Immer klarer zeichnet sich die Tendenz ab, dass sich das Strafrecht von zurückhaltend zu perspektivisch wandelt. „Zeiten, da man die Aufgabe des Strafrechts im normativen Ausgleich von Verbrechen und Schuld sehen konnte, sind vorbei. Heute herrscht das präventive Paradigma.“11 In seinen Werken von 2007 und 200912 kommt Ulrich Sieber nach einer Untersuchung der Situation zu der Schlussfolgerung, dass eine neue Sicherheitsarchitektur erforderlich ist, und betont, dass ein möglicher Ausweg aus dieser Situation darin besteht, die Bestrafung mit anderen Kontroll-, Abschreckungs- und Auswirkungsmaßnahmen zu kombinieren, d. h. eine Art dualistisches Modell zu bauen. Die mögliche Sanktionsfolgen – die Strafe und die anderen Maßnahmen – unter Beibehaltung ihrer relativen Autonomie und ihrer wesentlichen Charakteristiken würden sich gegenseitig ergänzen, was eine flexible Reaktion ermögliche und in hohem Maße dazu beitrage, aufgrund der tatsächlich anwendbaren Strafen die Gesamtzahl der auferleg11
Hassemer, W., Sicherheit durch Strafrecht., in: Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung im Strafrecht (HRRS) 2006, S. 143. 12 Sieber, U., Grenzen des Strafrechts, ZStW 119 (2007), S. 1 – 68; ders., Die Zukunft des europäischen Strafrechts, ZStW 121 (2009), S. 1 – 67.
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ten Beschränkungen zu mindern. Er warnt jedoch offen vor möglichen Gefahren und appelliert an die strenge Einhaltung der verfassungsmäßig festgestellten Garantien der Bürgerrechte. Zehn Jahre später hat Sieber festgestellt, dass einige seiner Befürchtungen bereits eingetreten sind; die Ausweitung von Vorbeugungsmaßnahmen, die nicht durch besondere Garantien gesichert sind, ist in vollem Gange.13 In so wesentlichen Bereichen wie die Terrorismusbekämpfung ist die Situation noch schwieriger.14 Der Paradigmenwechsel in der europäischen Szene wurde vom bulgarischen Gesetzgeber mit Freude aufgegriffen. Die endlosen Änderungen des Strafgesetzbuchs, parallel mit den Bestechungsprozessen im Gerichtssystem, haben zu bemerkenswerten Ergebnissen geführt. Mit ihrer Passivität bei mehreren Strafsachen und hinsichtlich Menschen, die mit ihrer kriminellen Tätigkeit gut bekannt sind, sowie mit der nicht angemessenen Medienpolitik hat die Justiz dazu beigetragen, eine Vorstellung der Bevölkerung, dass „es kein Gesetz gibt“ zu verankern. Es wurden gezielt Anstrengungen unternommen, um diese Vorstellung in eine tiefe Überzeugung zu verwandeln und schon endgültig behauptet man, dass das Strafgesetzbuch den zeitgenössischen Bedingungen nicht entspricht und nicht in der Lage ist, mit der aktuellen Kriminalität zurechtzukommen. Diese Meinung, begleitet von einer allgemein niedrigen Rechtskultur, hat es der Justiz ermöglicht, noch überzeugender untätig zu bleiben, da es „kein Gesetz“15 gibt, und dem Parlament ermöglicht, chaotische Änderungen vorzunehmen, unter dem Vorwand, den „öffentlichen Erwartungen“ zu entsprechen, was auch immer dieser Ausdruck bedeutet. Die gesetzgeberische Tätigkeit, die auch durch die EU gefördert wurde, ignorierte nicht nur das Strafgesetzbuch und die Strafprozessordnung, sondern auch das Grundgesetz der Republik Bulgarien. Diese Frage ist sehr wichtig, aber hier können wir nur einige Aspekte betrachten, die hauptsächlich die Bekämpfung des Terrorismus betreffen. Wir lassen hier die Tatsache außer Betracht, dass die verschiedenen Rechtsakten, inkl. der internationalen, unterschiedliche Inhalte mit gleichen Begriffen bezeichnet und wir konzentrieren uns auf einzelne Probleme, die den neuen gesetzgeberischen Ansatz deutlich kennzeichnen, nämlich die Suche nach Lösungen wie in einem Rechtsvakuum, unter völliger Missachtung jeglicher vorläufigen oder sogar widersprüchlichen Regelungen.
13 Sieber, U., The New Architecture of Security Law – Crime Control in the Global Risk Society, in: Sieber/Mitsiliegas (Hrsg.) Alternative Systems of Crime Control, Duncker & Humblot, Berlin 2018, S. 5 – 34. 14 Bachmaier, L., Countering Terrorism: Suspects without Suspicion and (Pre-) Suspects under Surveillance, in: Sieber/Mitsiliegas (Fn. 13), S. 172 – 190. 15 Im Juli 2017 gab es in Bulgarien ein Problem durch mit dem Insektizid FIPRONIL vergifteten Eiern. Sofort begannen im Internet Diskussionen, warum es im Strafgesetzbuch keine Norm gibt, die für diesen Fall anwendbar ist. Eigentlich existiert aber seit 1968 eine anwendbare Norm in Art. 350, die die Verantwortlichkeit abhängig von den verursachten Schäden differenziert. In diesem Fall, wie auch in mehreren ähnlich gelagerten Fällen, wurde keine strafrechtliche Untersuchung von den zuständigen Behörden vorgenommen.
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Man muss besonders aufmerksam die Befugnisse, die dem Militär gemäß dem Gesetz zur Terrorismusbekämpfung16 (GTB) zugebilligt wurden, analysieren. Obwohl dieses Gesetz vorsieht, dass das Militär bei der Durchführung von Anti-Terror-Aktionen nur „teilnimmt“ und „unterstützt“, können dessen Handlungen sehr stark gegen die persönlichen Rechte der Bürger verstoßen. Gemäß Art. 9 Punkt 2 ff. GTB dürfen die Streitkräfte Überprüfungen zur Identitätsfeststellung durchführen und Personen in Haft nehmen, Personaldurchsuchungen durchführen, Gegenstände und Fahrzeuge untersuchen, Untersuchungen in Räumen auch ohne die Zustimmung des Besitzers oder des Bewohners oder in dessen Abwesenheit durchführen, Personen, auch mit körperlicher Gewalt, Hilfsmitteln und Waffen, festhalten. Dabei ist zu beachten, dass diese Befugnisse spezifische Polizeibefugnisse sind, die in mehreren Gesetzen detailliert geregelt sind, da sie Verfassungsrechte einschränken: Strafprozessordnung, Gesetz über das Innenministerium, Gesetz über die staatliche Agentur für Nationale Sicherheit, Gesetz über das Nationale Schutzamt. In diesem Fall erlaubt ein „Akt des Verteidigungsministers auf Vorschlag des Verteidigungschefs“ die Durchführung der oben genannten Tätigkeiten (Art. 9 Abs. 4 GTB). Alle diese Gesetze, insbesondere die Strafprozessordnung, sehen gerichtliche Kontrolle für alle Handlungen der staatlichen Behörden vor, die die Freiheit und den Willen des Individuums beschränken. Für die Tätigkeit der Streitkräfte gibt es überhaupt keine Kontrolle. Offensichtlich kann diese Tätigkeit auch bei bestem Willen nicht als „Unterstützung“ oder „Teilnahme“ definiert werden. Die Regulierung dieser Tätigkeiten durch einen ungenannten Akt wie der Anordnung des Verteidigungsministers zur Änderung und Ergänzung der Satzung der Streitkräfte führt dazu, dass nicht nur die genannten Tätigkeiten, sondern auch der Akt selbst rechtswidrig sind. Im Prozess der Gewährung von Spezial- und Sonderbefugnissen im Kampf gegen den Terrorismus ging der Gesetzgeber sogar noch weiter: mit § 4 Abs. 3 der Übergangs- und Schlussbestimmungen des GTB wurde im Gesetz über die staatliche Agentur für Nationale Sicherheit ein neuer Art. 124b geschaffen, der die Möglichkeit für die Behörden der Agentur vorsieht, Personen festzunehmen, über die eine „Information existiert“, dass sie eine terroristische Straftat begangen haben. Gleichzeitig aber existiert keine Verpflichtung, das Gericht oder die Voruntersuchungsorgane darüber unverzüglich zu benachrichtigen. Die Überprüfung dieser Maßnahme erfolgt auf Wunsch des Inhaftierten (siehe P. 12), übrigens nur wegen deren Rechtmäßigkeit, aber nicht wegen ihrer Grundlage, ein klarer Widerspruch gegen Art. 5 Abs. 3 EMRK. Die obengenannten Befugnisse widersprechen auch der Verfassung. Laut des bulgarischen Hauptgesetzes sollen alle staatlichen Behörden, einschließlich der Streitkräfte, unverzüglich die Justizorgane informieren, die innerhalb von 24 Stunden über die Rechtmäßigkeit der ergriffenen Maßnahmen (Inhaftierung, Suche, Durchsu16
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chung usw.) zu entscheiden haben, wie es im Art. 30 Abs. 3 der Verfassung und in Art. 161 Abs. 1 und 2 der Strafprozessordnung vorgesehen ist. Die Befugnisse der Streitkräfte zur Inhaftierung verstoßen ebenfalls gegen Art. 5 EMRK, da keiner der in den Punkten „a“ bis „f“ vorgesehenen Haftgründe vorliegt, insbesondere in den gesetzlich vorgesehenen Fällen, „wenn er sein Leben in offensichtliche Gefahr bringt“ (Art. 11 Abs. 1 Punkt 3 GTB). Dabei müssen wir auch beachten, dass es in Art. 3 Abs. 1 des Übereinkommens des Europarates zur Verhütung des Terrorismus ausdrücklich steht, dass jede Vertragspartei „die Verpflichtungen einhält, verbunden mit den Menschenrechten und festgelegt in der Europäischen Menschenrechtskonvention, dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und die anderen Verpflichtungen nach dem internationalen Rechts einhält.“ In Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/475 zur Terrorismusbekämpfung wurde ebenfalls ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Regelung die Verpflichtung zur Einhaltung der in Art. 6 des Vertrags über die Europäische Union genannten Rechtsgrundsätze nicht aufhebt. Die weitere Analyse des GTB zeigt noch eine Reihe von Handlungen, oft mit unumkehrbaren Konsequenzen, die den Grundprinzipien und konkreten Rechtsnormen des inneren und internationalen Rechtes widersprechen. Als Beispiel können wir die Vorschrift von Art. 38 Abs. 1 P. 4 GTB nennen. Diese sieht vor, dass in der Zone einer möglichen antiterroristischen Operation, jede Person nicht nur in ihren Eigentumsrechten beschränkt werden kann, sondern auch eine Zerstörung ihres Eigentums hinnehmen muss. Das berücksichtigt nicht Art. 17 Abs. 3 der Verfassung, der das Privateigentum als untastbares Recht deklariert. Natürlich kann man sagen, dass diese Handlungen für die Verteidigung des öffentlichen Interesses unternommen werden und mit dem Prinzip des Notstandes gemäß Art. 13 Abs. 2 des Strafgesetzbuches korrespondieren. Dann stellt sich aber die Frage über des Schadenersatzes. Die anerkannten Prinzipien des Zivilrechts geben der betroffenen Person die Möglichkeit die Entschädigung vor Gericht zu rügen und sie stellen mehrere Mittel zum Schadensnachweis zur Verfügung. Das Gericht entscheidet über die Art und Höhe der Schäden und gegen seine Entscheidung kann wiederum vor Gericht Berufung eingelegt werden. Ganz im Gegensatz dazu, gemäß Art. 43 Abs. 3 GTB, erfolgt der Schadenersatz in Fällen von antiterroristischen Operationen aufgrund einer Verordnung der Regierung. Offensichtlich haben die Betroffenen keine effektiven Rechtsmittel zur Verteidigung. In Art. 24 Abs. 1 GTB ist zudem vorgesehen, dass gegenüber „Personen, über die Daten vorhanden sind, die einen hinreichenden Verdacht begründen, dass sie Handlungen unternehmen, die die Gefahr des Terrorismus darstellen“, Vorbeugemaßnahmen ergriffen werden können (siehe auch Art. 25 Abs. 1 GTB). Nach Art. 23 Abs. 1 und Art. 207 Abs. 1 der Strafprozessordnung müssen, wenn ein hinreichender Verdacht vorliegt, die Strafverfolgungsbehörden sofort eine Voruntersuchung einleiten und nach Art. 219 der Strafprozessordnung gegen die entsprechende Person eine öffentliche Klage erheben (soweit es nur um Gefahr des Terrorismus geht, sprechen wir über Anstiftung oder Vorbereitung). In solchen Fällen können wir nicht von Präven-
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tion sprechen, weil schon der Beginn einer Straftat vorliegt. Nicht nur Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/919 definiert als strafbar die Anstiftung, die Beihilfe und den Versuch. Dieselbe Idee liegt der bulgarischen Gesetzgebung im Bereich des Strafrechtes seit mehr als 120 Jahren zu Grunde. Es gibt noch ein weiteres Beispiel, in dem Verfasser des GTB Rechtsakte höheren Rangs nicht beachtet haben. Die vielleicht wichtigste Staatsbehörde in der Kriminalitätsbekämpfung (und beim Kampf gegen Terrorismus insbesondere), die Staatsanwaltschaft, ist im GTB absolut abwesend. Die Staatsanwaltschaft steht nicht im System der für Terrorismusbekämpfung zuständigen Behörden, verfügt über keine Befugnisse und hat keine Rechtsmöglichkeit, bestimmte Handlungen vor Gericht zu überprüfen. Das widerspricht an erster Stelle dem Hauptgesetz in Art. 127 Abs. 3, aber wir können sagen, dass diese Tatsache das Strafgesetzbuch und die Strafprozessordnung völlig ignoriert. Laut GTB ist die Bekämpfung des Terrorismus völlig der Exekutive zugewiesen, eine Lösung, die weder vernünftig, noch akzeptabel ist. Art. 2 P. 1 GTB lautet, dass „die Verfassung, die Gesetze und die internationale Übereinkommen“ beachtet werden müssen, aber sogar anhand unserer kurzen Analyse kann man erkennen, dass das nur eine Deklaration ist. Wir können zusammenfasen, dass trotz aller internationaler Akte (die laut Art. 5 Abs. 4 des Hauptgesetzes Priorität vor der nationalen Gesetzgebung haben) steht im GTB das Prinzip der Sicherheit des Staates über den Grundrechten der Bürger, die auf mehreren Ebenen garantiert sind. Man muss noch auf einen weiteren Schwerpunkt in der Terrorismusbekämpfung hinweisen und zwar im Gesetz für die Maßnahmen gegen die Finanzierung des Terrorismus (GMFT).17 Obwohl das bulgarische positive Recht klar und deutlich den Begriff „Eigentum“ und alle möglichen Beschränkungen des Eigentums definiert hat, benutzt das GMFT unklare und fragliche Begriffe, die unrechtmäßige Interpretationen zulassen. Sogar wichtiger ist aber, dass das GMFT die Blockierung der Wirtschaftstätigkeit von Rechtssubjekten wegen direkter oder indirekter Finanzierung des Terrorismus erlaubt, dies aber auch bei Rechtssubjekten, die daran nicht beteiligt sind. Und das basiert nur auf „Vermutungen“ und „Verdacht“. Offensichtlich sind dies nur unbestimmte Geisteszustände, persönlich bezogene Wahrnehmungen und Interpretationen von ein und derselben Information. Deswegen ist es praktisch unmöglich, deren Rechtfertigungsgrundlage festzustellen. Natürlich kommt in dieser Situation auch die Frage über die Verantwortung der Personen auf, die ihre Vermutungen den Behörden mitgeteilt haben und so die entsprechenden gesetzlichen Maßnahmen initiiert haben. Es ist auch wichtig, darauf hinzuweisen, dass das Problem der Verantwortung der staatlichen Behörden wegen rechtswidrigen oder unangemessenen Handlungen in den internationalen Rechtsakten überhaupt nicht geregelt ist, weder in den verschiedenen Übereinkommen, noch in Richtlinien oder Rahmenbeschlüssen. Vielleicht liegt das an der Ansicht, dass der Staat durch die zuständigen Behörden nicht rechts17
Amtsblatt 16/2003, zuletzt geändert am 29. 11. 2019.
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widrig handeln kann, eine sehr umstrittene Sicht angesichts der Existenz der Europäischen Menschenrechtskonvention. Wie steht es eigentlich mit Schadenersatz für die verschiedenen Rechtssubjekte, falls sich Verdacht und Vermutung als grundlos herausstellen? Leider ist das Gesetz über die Haftung des Staates und der Gemeinden für Schäden18 in solchen Fällen unanwendbar, weil die Voraussetzung laut dieses Gesetzes (Art. 1 Abs. 1) rechtswidriges Verwaltungshandeln ist. Die Blockierung der Wirtschaftstätigkeit und Vermögenswerte passiert aufgrund des GMFT, ist deswegen obligatorisch und kann nicht generell als rechtswidrig charakterisiert werden. Ein Verfahren nach dem Gesetz über Schuldverhältnisse und Verträge für die verursachten Schäden ist auch sehr schwierig und oft aussichtslos. Ein Element des Tatbestandes laut diesem Gesetz ist die Schuld des Täters (Art. 45), die in solchen Fällen sehr schwer zu beweisen ist. Aus der Perspektive der Bürger, die die Information den staatlichen Behörden übermittelt haben, ist die Situation völlig verschieden. Art. 9 Abs. 11, 12 und 13 GMFT bietet ihnen vielfältige Rechtsschutzmöglichkeiten, nicht nur um Schutz zu erlangen, sondern auch für Schadenersatz, falls ihre Vermutungen eilig und grundlos sind. Das ist der aktuelle Stand der Dinge, wenn die Mitteilung an die staatlichen Behörden nur grundlos ist. Leider ist es absolut nicht ausgeschlossen, dass die Mitteilung verleumderisch ist, als Resultat von Neid und Rache, oder sie auf die Vernichtung eines Handelskonkurrenten abzielt. Wenn das Gesetz die vorsätzliche und bewusste Angabe falscher Information von jeglicher Haftung freistellt, kann das zu katastrophalen Konsequenzen für die betroffene Person führen. Man kann natürlich in solchen Fällen eine Strafverfolgung wegen Verleumdung (Art. 147 des Strafgesetzbuches) oder falscher Anschuldigung (Art. 286) anregen, aber ein erfolgreicher Ausgang ist mehr als zweifelhaft, da der Vorsatz des Täters praktisch unbeweisbar ist. Im Prozess der Gesetzgebung darf man nicht davon ausgehen, dass die Gesetze nur von vernünftigen und gewissenhaften Personen angewendet werden, „Frömmigkeit ist dünne Patina“19. Eine Pflicht des Staates beim Verfassen eines jeden Gesetzes ist, auch die Wahrscheinlichkeit von Befugnisüberschreitungen und Missbrauch vorauszusehen und zu vermeiden. Das wichtigste und bewährteste Mittel dafür ist natürlich die gerichtliche Kontrolle. Wie wir aber schon oben erwähnt haben, sind die Gerichte von dieser Prozedur völlig ausgeschlossen. Ein großes Diskussionsfeld eröffnet auch die Vorschrift des Art. 10 Abs. 2 GMFT. Dort ist geregelt, dass die von den staatlichen Behörden gesammelten Information nicht nur zur Terrorismusbekämpfung benutzt werden dürfen, sondern auch zur Bekämpfung der Kriminalität im Allgemeinen. Dieser Ansatz zeigt ein zweites, heimliches Ziel dieses Gesetzes. Die unnötige und unbegrenzte Erweiterung von dessen 18 19
Amtsblatt 60/1998, zuletzt geändert am 29. 11. 2019. Machiavelli, N., Der Fürst, Helikon, Sofia, 2016, S. 83.
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Geltungsbereich, dass die Verwendung der Information nicht nur für die Zwecke des Gesetzes, aufgeführt in Art. 1, 5 und 8, erlaubt, widerspricht der Grundidee des Gesetzgebers.
IV. Schlussfolgerung Dieser, wenn auch kurze, Beitrag führt zu einigen Schlussfolgerungen, die überhaupt nicht positiv klingen. Offensichtlich befindet sich das traditionelle Strafrecht in einem Krisenzustand. Das Hauptproblem ist, dass die ganze Welt sich weiterentwickelt, die Straftaten und deren Begehungsweise verändern sich, und so verändert sich die allgemeine Idee, was kriminell und was nicht kriminell ist. Allerdings ist die staatliche Reaktion, die Strafe seit Beginn des 20. Jahrhunderts fast unverändert – Freiheitsstrafen, Bewährung, Geldstrafen, Konfiszierung, verschiedene rechtliche Verbote. Worin liegt die Ursache dafür, dass sämtliche Grenzen erreicht sind und man sich nichts Neues ausdenken kann, oder sind wir nur in der Betrachtung beschränkt? Man kann sagen, dass das Strafrecht veraltet ist und dessen Bezug zur Realität immer schwächer wird. Die Hauptvorschläge zur Verbesserung sind die alternativen Maßnahmen – Verwaltungsmaßnahmen, spezielle Rechtsregime, Compliance-Programme zur Prävention. Die Idee klingt gut, aber auch die Nachteile sind leicht zu erkennen. Vor allem das Grundprinzip, dass ein Verstoß gegen Rechtsvorschriften zur Sanktion führt, ist nach wie vor gültig. Die Ansicht, dass eine positive Rechtsregelung jemanden vom Verbrechen oder Vergehen abhalten kann, ist mehr als naiv. Offensichtlich muss es wieder zu Repressionsmaßnahmen kommen. Diese Maßnahmen haben natürlich keinen strafrechtlichen Charakter, aber die Sanktionen bleiben. Der Ersatz gewisser Sanktionen durch andere Formen der Repression darf nicht als ein neuer Ansatz der Problemlösung bezeichnet werden. Dazu – die Ausstattung der Exekutive mit Befugnissen zu strafen, mit der Befugnis, Rechte zu beschränken ohne die klassisch vorgesehenen Garantien des Strafprozesses zu beachten – kann sehr gefährlich sein. Immer wieder appelliert man an uns, im Namen der Verteidigung der öffentlichen Sicherheit auf einige Grundrechte zu verzichten. Dabei wird vergessen, dass diese Rechte sehr viele Bemühungen und die Menschen viel Zeit gekostet haben und Verluste sind nie mehr zu ersetzen. Meine feste Überzeugung ist, dass die Lösung nicht im Straf- und Sicherheitsrecht zu suchen ist, und auch nicht in den alternativen Systemen des Strafens, sondern in dem positiven Recht und den sozialen Merkmalen. Das verlangt eine Wende in der Denkweise und eine Rückkehr zum menschlichen und rechtlichen Sinn. Und es gibt eine grundlegende Bedingung: wir müssen darauf verzichten, uns wie verängstigte Tiere behandeln zu lassen.
Terrorismusstrafrecht und humanitäre Hilfe* Von Florian Jeßberger Weltweit sind mehr als 100 Mio. Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Dabei ist die Hilfe in Not ein riskantes Geschäft. 2018 wurden 155 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen während ihres Einsatzes getötet; davon alleine 81 in Syrien, 15 im Südsudan und 14 in Afghanistan.1 Gefahren drohen den Nothelferinnen und Nothelfern aber nicht nur für Leib und Leben. Risiken birgt auch das Strafrecht. Tatsächlich wird nämlich in vielen der dringend auf humanitäre Hilfe angewiesenen Regionen der Welt – beispielsweise im Gazastreifen (Hamas) oder in Teilen Afghanistans (Taliban) und Somalias (Al Shabaab) – die Regierungsgewalt de facto durch (nichtstaatliche) Organisationen bzw. bewaffnete Gruppen ausgeübt, die von den Vereinten Nationen, der Europäischen Union oder einzelnen Staaten als „terroristisch“ eingestuft werden und entsprechend „gelistet“ sind. Wenn aber auch eine terroristische Organisation – was oft unvermeidlich ist – direkt oder indirekt durch die Verteilung von Nahrungsmitteln, Zelten, Medikamenten oder sonstigen Hilfsmaßnahmen profitiert, dann ist der Schritt zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Hilfsorganisationen unter dem Rubrum des Anti-Terrorkampfes nicht mehr weit.2 Nothelfer als Terrorhelfer also? Dabei bildet die Strafbarkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Hilfsorganisationen nur einen Aspekt der Problematik. Die Erfassung humanitärer Hilfstätigkeit durch die Normen des Terrorismusstrafrechts kann auch weitreichende mittelbare Folgen haben („chilling effects“).3 Berichtet wird von der (vorauseilenden) Selbstbeschränkung bei der Erbringung humanitärer Hilfe („over-compliance“)4, * Der Beitrag basiert auf einer gutachterlichen Stellungnahme, die Verf. im Auftrag des Deutschen Roten Kreuzes erstattet hat. Swantje Maecker, LL.M. (King’s College) und Felix Behnke sei für die Unterstützung bei der Anfertigung der Stellungnahme an dieser Stelle herzlich gedankt. 1 Vgl. UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs, ReliefWeb, Aid Workers Killed 2018, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/Aid-Workers-Killed-2018-1. pdf (zuletzt besucht: 15. 2. 2020). 2 Vgl. auch Sieber/Vogel, Terrorismusfinanzierung, 2015, S. 176. 3 Vgl. hierzu IKRK, Report (31IC/11/5.1.2), International Humanitarian Law and the Challenges of Contemporary Armed Conflicts, 2011, S. 52, sowie Report (32IC/15/11), International Humanitarian Law and the Challenges of Contemporary Armed Conflict, 2015, S. 21. 4 Vgl. Modirzadeh/Lewis/Bruderlein, International Review of the Red Cross 93 (2011), 623, 642.
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etwa in Form des Rückzugs der Hilfsorganisationen aus bestimmten Hochrisikoregionen.5 Ferner haben humanitäre Organisationen zunehmend Schwierigkeiten bei der Mittelbeschaffung und Mittelbewirtschaftung, weil Geldgeber entsprechende Garantien verlangen oder weil Banken zu bestimmten Transaktionen (in Hochrisikoregionen) nicht bereit sind.6 Pikant ist dabei, dass die Rolle der Staaten – als Strafgesetzgeber und Strafrechtsanwender einerseits, als wichtigster Geldgeber für humanitäre Hilfe andererseits – ambivalent ist. Durch ihre Zuwendungen tragen die Staaten maßgeblich zur Tätigkeit privater (und internationaler!) Hilfsorganisationen bei und sind selbst Träger humanitärer Hilfe. Beachtung gefunden hat das Spannungsfeld von Terrorismusstrafrecht und dem Recht der humanitären Hilfe erstmals durch eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten von Amerika aus dem Jahre 2010.7 Unter vereinsrechtlichem Vorzeichen hatte sich 2018 auch das BVerfG mit der Frage zu befassen.8 Auch der vorliegende Beitrag behandelt die Kollateralschäden eines immer weiter ausgreifenden Terrorismusstrafrechts – und die Bemühungen um deren Eindämmung. Der Beitrag fügt sich damit ein in die Debatte um das oftmals kollisionsbegründende Nebeneinander globaler Normenkomplexe – hier des globalen Anti-Terror-Regimes einerseits und des völker- und unionsrechtlich abgesicherten humanitären Völkerrechts andererseits. Im Folgenden wird die Problematik mit grobem Pinsel skizziert (I.). Anschließend werden – insbesondere im Licht der Richtlinie (EU) 2017/542 – Lösungsansätze aufgezeigt (II. bis IV.).
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Vgl. UN Special Rapporteur on the Promotion and Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms While Countering Terrorism, 18. 9. 2015, A/70/371. 6 Vgl. den Bericht des Under-Secretary-General for Humanitarian Affairs and Emergency Relief Coordinator der Vereinten Nationen, 30. 9. 2016, S/2016/827, para 19. 7 Vgl. Holder v. Humanitarian Law Project (561 U.S. 1 (2010)) zur Ausbildung von Angehörigen der PKK im internationalen Recht („to use international law to resolve disputes, to show how to petition the UN bodies, to engage in political advocacy“) als (strafbare) Unterstützung („material support“) einer terroristischen Organisation. 8 Vgl. BVerfGE 149, 160. Anlass war eine Verfassungsbeschwerde gegen das vom Bundesministerium des Innern im Jahre 2010 verfügte und durch das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG, 6 A 2.10, 18. 4. 2012) bestätigte Verbot des Internationale Humanitäre Hilfsorganisation e.V. Das BVerwG hatte maßgeblich auf die „Akzeptanz- und Entlastungsvorteile für die völkerrechtswidrige Betätigung der Hamas“ abgestellt (dazu auch BVerwG, NVwZ 2005, 1435): Das soziale Engagement werde von der Bevölkerung der Hamas zugerechnet, damit steige die Akzeptanz der Hamas; die Möglichkeiten der Rekrutierung für den militärischen Kampf würden verbessert; schließlich komme es auch zu einer (mittelbaren) finanziellen Entlastung. Das BVerfG betont, ein Vereinigungsverbot nach Art. 9 Abs. 2 GG dürfe nicht dazu dienen, auch völkerrechtlich zulässiges humanitäres Handeln zu unterbinden (BVerfGE 149, 160, Rn. 133 ff.). Allein generelle „Akzeptanz- und Entlastungsvorteile“, die ausgelöst werden können, wenn karitative Einrichtungen und Vereine mit sozialer Zwecksetzung in tatsächlich terroristisch kontrollierten Gebieten unterstützt werden, genügten nicht als Anknüpfungspunkt, um einen Verein zu verbieten, der Spenden in solche Krisengebiete weiterleitet. Vgl. aus der neueren Rspr. auch OLG Celle, Urteil v. 7. 12. 2015 – 2 StE 6/15 – 3, 4 – 1/ 15; hierzu Globke, ZIS 2017, 670 ff.
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I. Rechtliche Grundlagen und strafrechtliche Risiken humanitärer Hilfe Humanitäre Hilfe („humanitarian aid“ oder „humanitarian assistance“) ist Hilfe in Not, die, so eine gängige Begriffsbestimmung, bedarfsorientiert und prinzipienbasiert während oder nach einer menschengemachten oder Natur-Katastrophe geleistet wird.9 Humanitäre Hilfe ist zu unterscheiden von (prinzipiell längerfristig angelegter) Entwicklungshilfe. Die normativen Grundlagen humanitärer Hilfe – und damit auch der besondere Schutz derjenigen, die humanitäre Hilfe leisten – sind im Völkerrecht durch eine Reihe verbindlicher Regelungen festgelegt, die durch unverbindliche (Selbst-)Verpflichtungen flankiert werden.10 In bewaffneten Konflikten gelten die – je nach Charakter des Konflikts unterschiedlichen – Regeln des humanitären Völkerrechts.11 Daraus ergibt sich zunächst das Recht der notleidenden Zivilbevölkerung, humanitäre Hilfe zu erhalten, sowie das korrespondierende Recht der Träger humanitärer Hilfe, humanitäre Hilfe zu leisten. Ergänzt werden diese Rechte durch die Pflicht der Staaten, die Erbringung humanitärer Hilfe zu ermöglichen. Akteure der humanitären Hilfe sind Staaten, internationale Organisationen (insbesondere die Vereinten Nationen und die Europäische Union), das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) und seine Nationalen Gesellschaften, in Deutschland ist dies das Deutsche Rote Kreuz e.V. Daneben leistet eine Reihe von Nicht-Regierungsorganisationen humanitäre Hilfe. Humanitäre Hilfe orientiert sich ausschließlich am „Maß der Not“. Sie darf keine Konfliktpartei im Krisengebiet direkt oder indirekt bevorzugen (Unparteilichkeit) und nicht zwischen betroffenen Bevölkerungsgruppen oder Opfern unterscheiden (Nichtdiskriminierung).12 Der Europäische Konsens fügt als weitere Maximen die Menschlichkeit und die Unabhängigkeit hinzu.13 9 Vgl. Lieser, in: Lieser/Dijkzeul (Hrsg.), Handbuch Humanitäre Hilfe, 2013, S. 9, 10 f. Lattanzi, in: Clapham, Gaeta & Sassoli (Hrsg.), The 1949 Geneva Conventions, 2015, S. 231. 10 Näher Spieker, in: Lieser/Dijkzeul (Hrsg.), Handbuch Humanitäre Hilfe, 2013, S. 55 ff.; ferner Lattanzi, in: Clapham, Gaeta & Sassoli (Hrsg.), The 1949 Geneva Conventions, 2015, S. 231 ff., und Dinstein, Naval War College Review 53 (2000), 77. Siehe ferner Art. 214 AEUV und die „Strategie zur humanitären Hilfe im Ausland”, die das Auswärtige Amt 2012 vorgelegt hat. 11 Näher Henckaerts/Doswald-Beck, Customary International Humanitarian Law, Volume I, 2005, passim. Für den internationalen bewaffneten Konflikt finden sich Regelungen vor allem im Ersten Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen, Art. 9, 17, 70 und 81. Für den nichtinternationalen bewaffneten Konflikt bildet sich der Rechtsrahmen aus dem Gemeinsamen Art. 3 der Genfer Abkommen sowie aus Art. 18 des Zweiten Zusatzprotokolls. Dieser Rechtsrahmen ist auch gewohnheitsrechtlich verfestigt, vgl. insbesondere Rules 31, 32, 55 und 56, in: Henckaerts/Doswald-Beck, Customary International Humanitarian Law, Volume I, 2005. 12 Vgl. auch die entsprechenden Ausführungen der Bundesregierung, etwa in den Zwölf Grundregeln der humanitären Hilfe (2013) und der Strategie zur humanitären Hilfe im Ausland (2012). 13 Europäischer Konsens über die humanitäre Hilfe, Gemeinsame Erklärung des Rates und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission (2008/C 25/01).
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Letztere verlangt, dass Hilfe frei von politischen, wirtschaftlichen oder militärischen Überlegungen zu erbringen ist. Ebenso wie die humanitäre Hilfe stehen auch der (internationale) Terrorismus und seine „Bekämpfung“ mit den Mitteln des Strafrechts schon lange auf der Agenda der Staatengemeinschaft. Als Resultat ist das deutsche Terrorismusstrafrecht in erheblichem Umfang unions- und völkerrechtlich überformt – und der Gestaltungs- und Handlungsspielraum des deutschen Gesetzgebers entsprechend begrenzt.14 Zu den wesentlichen Bausteinen dieses globalen Anti-Terror-Regimes gehören völkerrechtliche Verträge – wie das Internationale Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus15 (1999) und das Übereinkommen des Europarates zur Verhütung des Terrorismus16 (2005) mit Zusatzprotokoll17 (2015) – sowie Resolutionen des VN-Sicherheitsrates, insbesondere 1373 (2001) und 2178 (2014), das VN-Sanktionsregime und die sich daraus ergebenden Bereitstellungs- und Dienstleistungsverbote sowie schließlich die „Empfehlungen“ der Financial Action Task Force. Neben diesen völkerrechtlichen Instrumenten sind unionsrechtliche Regelungen von zentraler Bedeutung. Hierzu gehör(t)en der Rahmenbeschluss zur Terrorismusbekämpfung 2002/47618, der diesen ändernde Rahmenbeschluss 2008/919/JI19 sowie das separate EU-Sanktionsregime und die sich daraus ergebenden Bereitstellungs- und Dienstleistungsverbote.20 Neuerdings hat die Richtlinie 2017/541 den Rahmenbeschluss 2002/475 ersetzt, der bis dahin den „Eckpfeiler des strafrechtlichen Vorgehens der Mitgliedstaaten gegen den Terrorismus“ bildete.21 Die Richtlinie bezweckt die Schaffung eines einheitlichen Rechtsrahmens, der aktuelle Entwicklungen berücksichtigt und zudem neuere internationale Verpflichtungen und Empfehlungen in Unionsrecht umsetzt. Im Einzelnen definiert die Richtlinie eine Reihe terroristischer Straftaten sowie Straftaten im Zusammenhang mit terroristischen Aktivitäten (öffentliche Aufforderung, Anwerbung, Finanzierung etc.). Insbesondere trägt sie im Blick auf „foreign terrorist fighters“ der Resolution 2178 (2014) des VN-Sicherheitsrats und dem Zusatzprotokoll zum Übereinkommen des Europarates zur Verhütung des Terrorismus Rechnung. Entsprechend neu im Unionsrecht (aber nicht 14
Vgl. nur Kreß/Gazeas, in: Sieber et al. (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, 2. Aufl. 2014, § 19, und Sieber/Vogel, Terrorismusfinanzierung, 2015, passim. 15 BGBl. 2003 II, 1923, 1924. 16 BGBl. 2011 II, 300, 301. 17 Zusatzprotokoll zum Übereinkommen des Europarates zur Verhütung des Terrorismus vom 22. 10. 2015, in Kraft getreten am 1. 7. 2017 (SEV Nr. 217); Deutschland hat das Protokoll am 30. 8. 2019 ratifiziert. 18 ABl. L 164/3 vom 21. 6. 2002. 19 ABl. L 330/21 vom 8. 12. 2008. 20 Vgl. insbesondere die Verordnungen (EG) Nr. 881/2002, Nr. 2580/2001 und (EU) Nr. 753/2011. Über die Blankettstrafnorm des § 18 AWG sind Verstöße gegen die Verordnungen strafbewehrt. 21 Vgl. Erwägungsgrund 3 der RL 2017/541.
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neu im Völkervertrags- bzw. VN-basierten Völkerrecht) vorgesehen ist die Strafbarkeit von Auslandsreisen und des Absolvierens einer Ausbildung für terroristische Zwecke. In der Gesamtschau fügt sich die Richtlinie 2017/541 in die allgemein punitive Tendenz der europäischen Strafgesetzgebung. Die Konturen des deutschen Terrorismusstrafrechts, das den grob umrissenen internationalrechtlichen Rahmen ausfüllt, sind vielfach beschrieben und hier nicht zu rekapitulieren. Unter den seit 2001 neu geschaffenen oder modifizierten Regelungen ragen §§ 129b, 89a ff. StGB sowie § 18 AWG heraus, der im Jahr 2013 im Zuge der grundlegenden Überarbeitung des Außenwirtschaftsgesetzes neu konzipiert wurde. In der Literatur gut beschrieben sind auch die zentralen Kennzeichen der neueren Strafgesetzgebung, nämlich, neben dem expansiven Charakter, die großflächige Kriminalisierung von Handlungen im Vorfeld der eigentlichen Rechtsgutsverletzung sowie die zunehmende Funktionalisierung der materiellen Unrechtstypisierungen. Für die Erbringung humanitärer Hilfe – die Verteilung von Nahrungsmitteln, Zelten, Medikamenten oder ähnlichen Hilfsgütern an die Zivilbevölkerung, die Beschaffung solcher Hilfsgüter vor Ort, um die lokalen Strukturen zu stärken, die Zahlung von „Steuern“ oder „Gebühren“ an die terroristische Vereinigung, um überhaupt Zugang zur Zivilbevölkerung in dem von dieser beherrschten Gebiet zu erhalten, usw. – bedeutet dies: Zonen mit erhöhtem Risiko der Strafbarkeit lassen sich – schlagwortartig, aber für unsere Zwecke hinreichend – entlang der folgenden Straftatbestände markieren:22 § 89a StGB („Vorbereitung“), § 89c StGB („Finanzierung“), §§ 129a, insbes. Abs. 5 i.V.m. 129b StGB („Unterstützung“), § 18 AWG, insbes. i.V.m. VO (EG) Nr. 881/2002 und VO (EG) Nr. 2580/2001 („Bereitstellung“ und „Dienstleistung“) und § 27 StGB i.V.m. den einschlägigen Tatbeständen des allgemeinen Strafrechts („Beihilfe“). Häufig wird vor allem an eine Strafbarkeit wegen Unterstützung einer (ausländischen) terroristischen Vereinigung gemäß §§ 129a i.V.m. § 129b zu denken sein.23 Das Risiko einer Strafbarkeit nach §§ 89a und 89c StGB ist angesichts der erhöhten Anforderungen an die subjektive Tatseite (dolus directus 2. Grades) geringer.
22 Vgl. hierzu auch UN Special Rapporteur on the Promotion and Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms While Countering Terrorism, 18. 9. 2015, A/70/371. 23 Beihilfe zur mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung (§§ 129a, 27 StGB) ist der Sache nach (täterschaftliches) Unterstützen der Vereinigung i.S.d. § 129a Abs. 5 StGB. Ob dann, wenn ein täterschaftliches Unterstützen nicht gegeben ist, auf die Beihilfe zur mitgliedschaftlichen Beteiligung an der Vereinigung „zurückgegriffen“ werden kann, ist streitig, richtigerweise aber zu verneinen; vgl. Fischer, § 129 StGB, Rn. 38 m.w.N.
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II. Richtlinie (EU) 2017/541, insbes. Erwägungsgrund 38 Anlass, sich mit der Frage der Strafbarkeit humanitärer Hilfe näher zu befassen, gibt die schon erwähnte Richtlinie (EU) 2017/54124. In deren Erwägungsgrund 38 wird der besondere völkerrechtliche Schutzstatus humanitärer Aktivitäten nämlich ausdrücklich und, soweit ersichtlich, erstmals in einem internationalen Rechtsakt anerkannt: „Die Erbringung humanitärer Tätigkeiten durch unparteiische humanitäre Organisationen, die nach dem Völkerrecht, einschließlich des humanitären Völkerrechts, anerkannt sind, fällt nicht in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie“. Mit dieser Präambelbestimmung hat der europäische Gesetzgeber Neuland betreten. Im Kommissionsvorschlag25 aus dem Jahre 2015 war die Bestimmung noch nicht vorgesehen. Eingefügt wurde Erwägungsgrund 38 im Zusammenhang mit der Bestätigung des endgültigen Kompromisstextes im Hinblick auf eine Einigung vom 24. 11. 2016 (14728/16). Eine Begründung für die Aufnahme des Erwägungsgrundes oder Erläuterungen zu einzelnen Merkmalen finden sich in den amtlichen Dokumenten nicht. Auch ein Vorbild in einem völkerrechtlichen Übereinkommen oder in einem europäischen Rechtsakt besitzt Erwägungsgrund 38 nicht. Für die Auslegung der Merkmale des Erwägungsgrundes kommt dem (humanitären) Völkerrecht eine wichtige Orientierungsfunktion zu. Das Merkmal der „humanitären Tätigkeit“ („humanitarian activity“) ist in Anlehnung an die einschlägigen völkerrechtlichen Instrumente zu bestimmen. Maßgeblich sind hier insbesondere die Statuten der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung (vgl. dort Art. 4 und 5) sowie die Bestimmungen des humanitären Völkerrechts. Im Primärrecht findet sich nur der Begriff der „humanitären Hilfe“ (Art. 214 AEUV). Notlagen, zu deren Beseitigung oder Abschwächung humanitäre Tätigkeiten durchgeführt werden, liegen insbesondere vor, wenn es der Zivilbevölkerung an Nahrung, medizinischer Versorgung oder Unterkunft fehlt. Auch finanzielle Transaktionen, die eingesetzt werden, um humanitäre Hilfe i. e.S. zu ermöglichen, sind von dem richtigerweise weit verstandenen Begriff der „humanitären Tätigkeit“ erfasst. Das Attribut „humanitär“ verweist auf die Zweckbindung der Handlung. Tätigkeiten, die nicht im genannten Sinne „humanitär“, also auf die Beseitigung oder Abmilderung einer Notlage gerichtet sind, werden von dem Ausnahmetatbestand nicht erfasst. „Unparteiische humanitäre Organisationen“ sind insbesondere die in den Genfer Abkommen in Bezug genommenen Hilfsgesellschaften, also das Internationale Komitee vom Roten Kreuz sowie die Nationalen Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften, wie der DRK e.V. Nicht erforderlich ist, dass es sich um eine internationale Organisation handelt. Für die Bestimmung des Merkmals „unparteiisch“ („impartial“) sind die Statuten der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung maß24 Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2017 zur Terrorismusbekämpfung und zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2002/475/JI des Rates und zur Änderung des Beschlusses 2005/671/JI des Rates (im Folgenden: RL 2017/541), Abl. L 88/6 vom 31. 3. 2017. 25 COM (2015) 625 final, 2. 12. 2015; 2015/0281 (COD).
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geblich. Danach darf, wie erwähnt, keine Konfliktpartei bevorzugt oder benachteiligt werden. Eine unzulässige Bevorzugung liegt allerdings nicht schon im Fall der Kontaktaufnahme mit einer Konfliktpartei vor, wie sie häufig unausweichlich ist, um überhaupt humanitäre Hilfe leisten zu können. Die Richtlinie war bis September 2018 in deutsches Recht umzusetzen. Soweit ersichtlich, hat der Gesetzgeber Maßnahmen zur Umsetzung nicht für erforderlich gehalten. Das ist – ohne dass dies hier im Einzelnen ausgeführt werden könnte – insoweit überzeugend, als dass gesetzgeberischer Handlungsbedarf im Sinne der Schaffung neuer oder der Erweiterung bestehender Straftatbestände des deutschen Rechts im Blick auf die Harmonisierungsvorgaben der Richtlinie, soweit diese Maßnahmen der humanitären Hilfe erfassen können, nicht besteht. Insoweit entspricht das (bereits im Blick auf die Rahmenbeschlüsse (EG) 2002/475 und (EU) 2008/ 919 sowie VN-Sicherheitsratsresolution 2178 (2014) und das Internationale Übereinkommen der VN zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus großflächig „internationalisierte“) deutsche Strafrecht den Anforderungen der Richtlinie. Anders liegt die Sache freilich, wie wir sehen werden, im Blick auf Erwägungsgrund 38.26
III. Nichtermächtigung, Nichtverfolgung, Tatbestandsausschluss? Die Antwort auf die Frage, ob der Grundgedanke, der in Erwägungsgrund 38 zum Ausdruck kommt, im deutschen Recht zur Geltung gebracht werden muss, ist unionsrechtlich vorgezeichnet und steht nicht zur Disposition des deutschen Gesetzgebers. Zwar können aus Erwägungsgründen keine unmittelbaren Rechtsfolgen abgeleitet werden;27 unmittelbar „umzusetzen“, das heißt direkt in staatliches Recht zu übertra26
In den Erwägungsgründen der Richtlinie finden sich zwei weitere bereichsspezifische Ausnahmetatbestände, welche in Konstellationen humanitärer Tätigkeit einschlägig sein können, ohne dass hier näher darauf eingegangen werden könnte: Bei der Nichtberührungsklausel (Erwägungsgrund 37, Satz 1) – die Richtlinie führt nicht zu einer Änderung der Rechte, Pflichten und Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten nach dem Völkerrecht, einschließlich des humanitären Völkerrechts – handelt es sich um eine „klassische“ Vereinbarkeitsklausel, wie sie sich auch in anderen internationalen Rechtsakten findet. Es geht um die reine Klarstellung, die in deutschem Verfassungsrecht über Art. 59 GG bzw., soweit gewohnheitsrechtlich anerkannt, über Art. 25 GG abgesichert ist. Die Ausnahmeklausel in Erwägungsgrund 37 Satz 2 – u. a. gilt die Richtlinie danach nicht für die Tätigkeiten der bewaffneten Kra¨ fte bei bewaffneten Konflikten im Sinne des humanitären Völkerrechts, die diesem Recht unterliegen – verweist grds. auf die Abgrenzung des Völkerrechts der bewaffneten Konflikte vom Strafrecht betr. transnational organisierte Taten. Nach der Klausel unterliegen die Aktivitäten von Mitgliedern „bewaffneter“ (nota bene: nicht notwendigerweise staatlicher Streit-) „Kräfte“ nicht dem Regelungsanspruch der Richtlinie. Für sie gilt – exklusiv – das humanitäre Völkerrecht. 27 Der EuGH vertritt in ständiger Rechtsprechung die Ansicht, dass „[…] die Begründungserwägungen eines Gemeinschaftsrechtsakts rechtlich nicht verbindlich sind und weder herangezogen werden können, um von den Bestimmungen des betreffenden Rechtsakts ab-
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gen, sind sie also nicht. Erwägungsgründe haben aber eine wichtige Funktion für die Auslegung der bestimmenden Vorschriften des Rechtsaktes. Im Rahmen der Auslegung werden die Erwägungsgründe herangezogen, um den Sinn und Zweck einer Norm festzustellen. Bei der (teleologischen) Interpretation der bestimmenden Vorschriften der RL 2017/541, die Voraussetzung ihrer Implementierung in das deutsche Recht ist, kommt Erwägungsgrund 38 insoweit eine maßgebliche Bedeutung zu. Diese unionsrechtlich vorgegebene Antwort ist auch sachgerecht. Nur so lässt sich sicherstellen, dass in Gebieten, die unter der Kontrolle „terroristischer“ Organisationen stehen, weiter humanitäre Hilfe geleistet werden kann. Die gegen eine Ausnahmeregelung (das „Ob“) angeführten Überlegungen greifen auch rechtspolitisch nicht durch. Vorgetragen werden vor allem zwei Einwände: Erstens, dass jede, auch die rein humanitär motivierte Hilfe zumindest mittelbar „den Terroristen“ nütze (Entlastungs- und Akzeptanzargument).28 Und zweitens, dass eine Unterscheidung von altruistisch motivierter Hilfe und verdeckter Unterstützung der terroristischen Aktivitäten nicht möglich sei (Missbrauchsargument). Beide Einwände überzeugen nicht. Es entspricht dem Grundgedanken humanitärer Hilfe, dass die Not leidender Menschen ganz unabhängig von politischen, staatlichen und militärischen Interessen zu lindern ist. Zu Recht betont auch die Strategie des Auswärtigen Amtes zur humanitären Hilfe im Ausland, dass die Erbringung humanitärer Tätigkeiten „Ausdruck ethischer Verantwortung und internationaler Solidarität mit Menschen in Not“ sei.29 Hervorgehoben wird ferner, dass die Bundesregierung „den humanitären Grundsätzen der Menschlichkeit, Neutralität, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit verpflichtet“ sei.30 Damit wäre es nur schwer zu vereinbaren, die Leistung humanitärer Hilfe durch direkte oder indirekte (strafgesetzliche) Intervention zu unterbinden, weil die Befürchtung besteht, diese wäre von (auch nur mittelbarem) Nutzen für eine „gegnerische“, etwa terroristische Organisation. Auch nach humanitärem Völkerrecht dürfen Einwendungen gegen die Erbringung humanitärer Hilfe von einer Konfliktpartei nicht deshalb erhoben werden, weil sie der gegnerischen Konfliktpartei nützt.31 Der Hinweis auf den möglichen Missbrauch der Gewährung eines besonderen Schutzes humanitärer Tätigkeit streitet aber jedenfalls dafür, eine Ausschlussregelung tatbestandlich eng zu fassen und die „Privilegierung“ auf solche Hilfeleistungen zu beschränken, bei denen unzweifelhaft sichergestellt ist, dass die Prinzipien humanitärer Hilfe beachtet werden. zuweichen, noch, um diese Bestimmungen in einem Sinne auszulegen, der ihrem Wortlaut offensichtlich widerspricht“, vgl. EuGH, Urteil vom 19. 6. 2014, Rs. C-345/13, Rn. 31. 28 In diese Richtung weist etwa die oben angeführte Argumentation des BVerwG (Akzeptanz- und Entlastungsvorteile für die völkerrechtswidrige Betätigung der Hamas) ebenso wie die vom Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten in Holder (Fn. 7) aufgegriffene Position der US-Regierung, wonach „all contributions to foreign terrorist organizations – even those for seemingly benign purposes – further those groups‘ terrorist activities.“ 29 Strategie zur humanitären Hilfe im Ausland vom 12. 11. 2012, S. 3. 30 Strategie zur humanitären Hilfe im Ausland vom 12. 11. 2012, S. 8. 31 Vgl. etwa Art. 70 Abs. 2 ZP I.
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Die Antwort auf die Frage, wie der Grundgedanke, der in Erwägungsgrund 38 zum Ausdruck kommt, im deutschen Recht zur Geltung gebracht werden kann, ist – anders als diejenige auf die Frage nach dem „Ob“ – nicht vorbestimmt. In Betracht kommen verschiedene Möglichkeiten, die wir uns im Folgenden näher ansehen werden. 1. Prozessuale Korrektur Die Straftatbestände des deutschen Terrorismusstrafrechts stehen, jedenfalls soweit sie Sachverhalte außerhalb der Europäischen Union betreffen und auch kein anderweitiger Inlandsbezug besteht, typischerweise – vgl. §§ 89a Abs. 4, 89c Abs. 4 und 129b Abs. 1 StGB – unter dem Vorbehalt der Verfolgungsermächtigung durch das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz.32 Die Ermächtigung ist Prozessvoraussetzung. Sie kann als (vereinigungsbezogene) Generalermächtigung oder als Ermächtigung im Einzelfall erteilt werden und ergeht ohne Begründung. Als Ermessensentscheidung der Exekutive ist sie gerichtlich – jenseits ihres formalen Zustandekommens und zutreffender Ansicht nach jenseits bloßer Willkürkontrolle – nicht überprüfbar. Zweck des Ermächtigungsvorbehalts soll es sein zu ermöglichen, dass sich die Strafverfolgung auf „schwerwiegende Sachverhalte“ konzentriert und „nicht strafwürdige Fälle“ ausgeschieden werden können.33 Die mitunter schwierige und ihrer Natur nach politische Beurteilung dieser Frage ist der Exekutive übertragen. Über das Instrument der Erteilung (oder richtiger: der Versagung) der Verfolgungsermächtigung lässt sich der Bereich der tatsächlich verfolgten Fälle danach prinzipiell auch im Sinne des Erwägungsgrundes 38 „steuern“. Dieses Steuerungspotenzial ergibt sich de lege lata jedenfalls, soweit eine einschlägige Straftat in Rede steht, also eine solche, die dem Ermächtigungsvorbehalt unterliegt, und der Sachverhalt keinen Bezug zu Deutschland oder einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union aufweist. Eine weitere Möglichkeit, den Grundgedanken von Erwägungsgrund 38 prozessual zur Geltung zu bringen, besteht darin, dass die Strafverfolgungsbehörden bei Taten, bei denen die Voraussetzungen der Ausschlussklausel vorliegen, von der Verfolgung absehen. Dies kommt jedenfalls dort in Betracht, wo die strafrechtliche Verfolgung humanitärer Hilfstätigkeit im (pflichtgemäßen) Ermessen der zuständigen Staatsanwaltschaft steht, also etwa in den Fällen des § 153c Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 und 3 StPO oder des § 153d Abs. 1 StPO.34 De lege ferenda flankiert und zusätzlich abgesichert werden könnte ein solcher strafprozessualer Ansatz durch die Schaffung einer gesonderten Verwaltungsvorschrift (etwa in den RiStBV) dahingehend, dass 32
Instruktiv zum Ermächtigungsvorbehalt in § 129b StGB Ambos, ZIS 2016, 505 ff. Vgl. BT-Drs. 14/8893, S. 15. 34 Grundsätzlich denkbar wäre es auch, eine neue, spezifische Opportunitätsregel für die Erbringung humanitärer Tätigkeiten im Ausland zu schaffen. Dies wäre freilich aus den im Text im Blick auf die Opportunitätsregeln der lex lata genannten Gründen keine befriedigende Lösung. 33
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Taten im Zusammenhang mit der Erbringung humanitärer Tätigkeiten grundsätzlich nicht verfolgt werden. Vorbild für eine solche (nur) verwaltungsbindende Ermessensausübungsregel könnte die entsprechende Bestimmung über die Verfolgung von Taten nach §§ 95, 96 AufenthG i.V.m. § 27 StGB bei humanitär motivierter Hilfe für unerlaubt in Deutschland aufhältliche Geflüchtete und Migrantinnen und Migranten sein.35 2. Materiellrechtliche Reduktion Neben der prozessualen Korrektur denkbar erscheint es schließlich, die Begründungserwägung schon materiellrechtlich zur Geltung zu bringen. Eine solche am materiellen Recht ansetzende „Korrektur“ kann wiederum auf unterschiedliche Weise bewirkt werden: im Wege der Auslegung (richtlinienkonforme Reduktion) oder durch Schaffung eines gesetzlichen Ausnahmetatbestandes. Im Einzelnen: Unionsrechtlich geboten ist die richtlinienkonforme Reduktion der einschlägigen Straftatbestände. Diese setzt ein Tätigwerden des deutschen Gesetzgebers nicht voraus. Methodischer Ansatzpunkt der Reduktion ist, dass bei der Anwendung und Auslegung der entsprechenden Transformationstatbestände die Richtlinie, insbesondere ihr Ziel und Zweck, wie sie nicht zuletzt in den Erwägungsgründen zum Ausdruck kommen, stets zu berücksichtigen sind. 36 Dass der Gesetzgeber (zu Recht) keinen Anlass sah, im Lichte der Richtlinie neue Straftatbestände zu schaffen oder bestehende Straftatbestände zu ergänzen, ist unerheblich. Es kann nämlich keinen Unterschied machen, ob die Harmonisierungsvorgaben des Unionsrechts durch eigens geschaffene Tatbestände im staatlichen Recht, die dann eben richtlinienkonform auszulegen sind, oder, wie hier, durch bereits bestehende (bzw. bereits zuvor im Lichte älterer europarechtlicher Vorgaben geschaffene) Straftatbestände verwirklicht werden. Soweit ein Tatbestand des deutschen Strafrechts die Pönalisierungsvorgabe des Unionsrechts „ausfüllt“, wird auch die im Unionsrecht vorgesehene Restriktion wirksam. Insofern schlägt die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung (hier: Re35 Eingehend hierzu Kretschmer, ZAR 2013, 278 ff. Zur Begründung vgl. BT-Drs. 16/5065, S. 199 f. Vor 95.1.4 AVwV bestimmt: „Handlungen von Personen, die im Rahmen ihres Berufes oder ihres sozial anerkannten Ehrenamtes tätig werden (insbesondere Apotheker, Ärzte, Hebammen, Angehörige von Pflegeberufen, Psychiater, Seelsorger, Lehrer, Sozialarbeiter, Richter oder Rechtsanwälte), werden regelmäßig keine Beteiligung leisten, soweit die Handlungen sich objektiv auf die Erfüllung ihrer rechtlich festgelegten bzw. anerkannten berufs-/ ehrenamtsspezifischen Pflichten beschränken. Zum Rahmen dieser Aufgaben kann auch die soziale Betreuung und Beratung aus humanitären Gründen gehören, mit dem Ziel, Hilfen zu einem menschenwürdigen Leben und somit zur Milderung von Not und Hilflosigkeit der betroffenen Ausländer zu leisten.“ Siehe auch 96.1.0.3 AVwV. 36 Vgl. auch Zöller, Terrorismusstrafrecht, 2009, S. 179, im Zusammenhang mit Demonstrationen, Arbeitskampfmaßnahmen usw. Ferner Vennemann, in: Walter u. a. (Hrsg.), Terrorism as a Challenge for National and International Law, 2004, S. 217, 236 f., sowie Globke, ZIS 2017, 670 (673 ff.) zur teleologischen Reduktion sub specie Sozialadäquanz der Handlung.
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duktion) im Regelungsbereich der sekundärrechtlichen Vorgabe auf den gesamten Normenbestand der staatlichen Rechtsordnung durch. Dies muss insbesondere dort gelten, wo ein europäischer Rechtsakt, wie hier, einen früheren europäischen Rechtsakt „ersetzt“. Konkret bedeutet das, dass die richtlinienkonforme Reduktion auch Straftatbestände erfasst, die, wie die §§ 89a ff., 129a und 129b StGB, schon vor Erlass der Richtlinie in Kraft waren. Schließlich wäre es denkbar, eine ausdrückliche Ausschlussklausel in den betreffenden Straftatbestand (bzw. die entsprechenden Straftatbestände) des deutschen Rechts einzufügen. Solche Ausschlussklauseln sind dem deutschen Strafrecht nicht fremd. Sachlich am nächsten steht die Regelung in § 89b StGB, der die „Aufnahme von Beziehungen zur Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat“ mit Strafe bedroht. Nach dessen Absatz 2 soll das Aufnehmen oder Unterhalten von Beziehungen zu einer terroristischen Vereinigung nicht strafbar sein, wenn „die Handlung ausschließlich der Erfüllung rechtmäßiger beruflicher oder dienstlicher Pflichten dient“.37 Der Umstand, dass es in diesen Fällen häufig bereits an der tatbestandlich vorausgesetzten „Unterweisungsabsicht“ fehlen und das Verhalten schon aus diesem Grund nicht tatbestandsmäßig sein wird, hat den Gesetzgeber – mit guten Gründen – nicht davon abgehalten, die Ausschlussklausel in § 89b StGB aufzunehmen. Auf diese Weise wird (anders als in anderen Fällen, etwa bei § 129 StGB) Rechtssicherheit und -klarheit geschaffen.38 Vergleichbare Ausschlussklauseln finden sich in § 86 Abs. 3, § 184b Abs. 5 und § 202d StGB.
IV. Stellungnahme und Regelungsvorschlag Wie (nicht: ob!) der deutsche Gesetzgeber die in Erwägungsgrund 38 zum Ausdruck kommende teleologische Reduktion des Anwendungsbereichs der Richtlinie und deren Pönalisierungsvorgaben umsetzt, unterliegt grundsätzlich seiner Gestaltungshoheit. Sachgerecht, rechtspolitisch überzeugend und damit empfehlenswert erscheint es, die einschlägigen Straftatbestände des deutschen Strafrechts um eine ausdrückliche Ausschlussklausel, die sich an die Formulierung in Erwägungsgrund 38 anlehnt, zu ergänzen und humanitäre Aktivitäten damit dogmatisch präzise und systematisch zutreffend bereits als nicht strafwürdiges Unrecht zu markieren. Unbefriedigend ist die oben erwogene „Lösung“ über das Erfordernis der Verfolgungsermächtigung:39 Zum Tragen kommt dieser Lösungsansatz nämlich nur in einem schmalen Randbereich praktisch relevanter Fälle. Die Entscheidung ist gerichtlich nicht überprüfbar. Vor allem aber handelt es sich bei der Gewährung 37
Vgl. BT-Drs. 16/12428, S. 17, sowie MüKo/StGB-Schäfer, § 89b Rn. 19 f.; kritisch Fischer, § 89b, Rn 10. 38 So zu Recht MüKo/StGB-Schäfer, § 89b Rn. 20. 39 So in ähnlichem Zusammenhang auch Kreß/Gazeas, in: Sieber et al. (Hrsg.), § 19 Rn. 30.
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eines besonderen Schutzes für humanitäre Tätigkeiten nicht um eine Frage im Grenzbereich politisch-rechtlicher Bewertung. Die politische Bewertung humanitärer Tätigkeit steht außer Frage. Ähnliches gilt für die Berücksichtigung bei der Ermessensausübung: Die Nichtverfolgung der Tat mag als prozessuales „Ventil“ für ein zu weit ausgreifendes materielles Recht im Einzelfall sachgerechte Korrekturen ermöglichen, mehr als ein Notbehelf ist sie nicht. Dies gilt umso mehr angesichts des „chilling effects“, der beim Abstellen (und Vertrauen!) auf die Nichtverfolgung der (strafbaren) Tat besteht. Vorzugswürdig erscheint es deshalb, den besonderen Status humanitärer Tätigkeit auf materiellrechtlicher Ebene zur Geltung zu bringen. Hierfür lassen sich nicht nur unionsrechtliche und strafrechtsdogmatische Gründe anführen – humanitäre Tätigkeiten bilden eben auch dann kein strafwürdiges Unrecht, wenn sie die Voraussetzungen der Art. 3 ff. RL 2017/541 erfüllen. Auch strafrechtssystematisch spricht – wie der Hinweis auf § 89b Abs. 2 StGB und vergleichbare Ausschlusstatbestände zeigt – jedenfalls nichts gegen die Aufnahme entsprechender Ausschlussklauseln in die Tatbestände des StGB. Im Gegenteil sprechen gute Gründe dafür, gesetzliche Ausschlusstatbestände zu normieren und nicht allein auf die teleologische Reduktion durch die Strafjustiz zu bauen. Die Schaffung einer gesetzlichen Ausnahmeregelung nach dem Vorbild von § 89b Abs. 2 StGB würde die notwendige Rechtsklarheit und damit Rechtssicherheit schaffen und zudem dem Umstand gerecht werden, dass Deutschland seine Außenpolitik bewusst und aus guten Gründen an humanitären Prinzipen ausrichtet. Zugleich würde ein sichtbares Signal für diese Positionierung, die im Übrigen vollumfänglich mit der Haltung der Europäischen Union übereinstimmt, gesetzt. Gerade weil die Straftatbestände des Terrorismusstrafrechts so weit und unbestimmt gefasst sind, ist es erforderlich, die Fokussierung auf den eigentlich strafwürdigen Bereich durch die Ergänzung von Ausschlusstatbeständen zu bewirken. Genau diesen Weg – über den sich unter gesetzestechnischen und -methodischen Aspekten streiten lässt (prinzipiell vorzugswürdig wäre es, die Merkmale des Straftatbestandes selbst bereits so präzise zu fassen, dass eine Korrektur durch Ausnahmeklauseln nicht erforderlich ist) – ist der deutsche Gesetzgeber bei § 89b StGB gegangen – und genau diesen Weg hat auch der europäische Gesetzgeber mit Erwägungsgrund 38 vorgezeichnet. Dem entspricht es, wenn auch der zuständige VN-Sonderberichterstatter fordert, dass die staatlichen (Terrorismus-)Gesetzgebungen ausdrücklich Ausschlusstatbestände vorsehen sollten.40 Ein an Erwägungsgrund 38 orientierte Ausschlusstatbestand wäre schließlich auch mit den sonstigen völker- und verfassungsrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands vereinbar. Zweifelhaft könnte das deshalb sein, weil Kollisionen mit anderen (älteren) europa- oder völkerrechtlichen Bindungen zu besorgen sind. Dann drohte die Gefahr, dass durch die gesetzliche Bestimmung eines Ausschlusstatbestandes die Pönalisierungspflichten, die Deutschland durch die Ratifizierung völkerrechtlicher 40 UN Special Rapporteur on the Promotion and Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms While Countering Terrorism, 18. 9. 2015, A/70/371, Recommendation e).
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Übereinkommen übernommen hat, unterlaufen würden. Immerhin finden sich Bestimmungen, die derjenigen in Erwägungsgrund 38 entsprächen, in bisherigen völkerrechtlichen Übereinkommen, auch in solchen, die von Deutschland ratifiziert sind, nicht, jedenfalls nicht explizit.41 Es sprechen aber, erstens, gute Gründe dafür, die völkerrechtlichen Verpflichtungen – vertragliche, wie sie sich etwa aus dem Internationalen Übereinkommen zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus ergeben, aber auch sonstige, wie sie sich etwa über Art. 103 SVN aus den Resolutionen des Sicherheitsrates ergeben (z. B. Res. 1373) – schon im Lichte des (gewohnheitsrechtlich verfestigten) besonderen Schutzstatus humanitärer Tätigkeiten zu interpretieren,42 diese also so zu „lesen“, dass eine Revision des am Leitbild der Humanität ausgerichteten und völkergewohnheitsrechtlich abgesicherten besonderen Rechtsregimes humanitärer Tätigkeit durch die Neuregelung nicht intendiert war. Zweitens ist zu bedenken, dass die völkergewohnheitsrechtliche Pflichtenlage, aus der sich der besondere Schutz humanitärer Tätigkeit ergibt, über Art. 25 GG unmittelbar in die deutsche Rechtsordnung durchschlägt und dort ihrem Rang nach auch vor den (etwa das genannte Finanzierungsübereinkommen betreffenden) Ratifikationsgesetzen rangiert. Schließlich ist, drittens, zu berücksichtigen, dass der in Erwägungsgrund 38 zum Ausdruck kommende Gedanke einem internationalen Trend entspricht, der sich in völkerrechtlichen Regelungen43, Unionsrechtsakten, die teilweise in deutsches Recht umgesetzt sind, sowie im Strafrecht einiger ausländischer Rechtsordnungen44 widerspiegelt. 41 Im sechsten Erwägungsgrund zum Finanzierungsübereinkommen wird – mit eher gegenläufiger Tendenz – ausdrücklich „auf Ziffer 3 Buchstabe f der Resolution 51/210 der Generalversammlung vom 17. Dezember 1996“ verwiesen, „in der die Versammlung alle Staaten aufgefordert hat, Maßnahmen zu ergreifen, um durch geeignete innerstaatliche Maßnahmen die Finanzierung von Terroristen und terroristischen Organisationen zu verhindern und zu bekämpfen, gleichviel ob diese unmittelbar oder mittelbar durch Organisationen erfolgt, die auch wohltätigen, sozialen oder kulturellen Zielen dienen oder vorgeben, dies zu tun.“ 42 So auch Nishat, in: Clapham/Gaeta/Sassoli (Hrsg.), The 1949 Geneva Conventions, 2015, S. 495, 504 f. 43 Verbindliches Völkerrecht findet sich bislang lediglich in den Bestimmungen einiger konfliktspezifischer Resolutionen des VN-Sicherheitsrates und des Unionsrechts (vgl. etwa: Verordnung 2016/2137 vom 6. 12. 2016, Art. 1 und 2). Exemplarisch Resolution 2385 (2017) des VN-Sicherheitsrates vom 14. 11. 2017, wonach die Maßnahmen, die durch Resolution 1844 (2008) eingeführt worden sind, nicht angewendet werden auf „the payment of funds, other financial assets or economic resources necessary to ensure the timely delivery of urgently needed humanitarian assistance in Somalia.“ 44 Exemplarisch 18 USC 2339 A („the term ,material support or resources‘ means any property, tangible or intangible, or service, […] except medicine or religious materials“); dazu Galli, Journal of International Humanitarian Legal Studies 5 (2014), 130 ff. Für Australien bestimmt Section 102.8. Criminal Code Act 1995 („Associating with terrorist organisations“): „(4) This section does not apply if: […] (c) the association is only for the purpose of providing aid of a humanitarian nature; or […].“ Siehe auch Art. 260quinquies Abs. 4 des Schweizerischen Strafgesetzbuches: „Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn mit der Finanzierung Handlungen unterstützt werden sollen, die nicht im Widerspruch mit den in bewaffneten
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Auch jenseits der (wenigen) „harten“ völkerrechtlichen Regelungen hat der Grundgedanke privilegierender Ausnahmeregelungen für humanitäre Tätigkeiten auch im Terrorismus(straf)recht Kontur erhalten. Beispielsweise drängt die VN-Generalversammlung die Staaten im Rahmen der Terrorismusbekämpfung dazu, „to respect their international obligations regarding humanitarian actors and to recognize the key role played by humanitarian organizations in areas where terrorist groups are active“,45 und mahnt dazu, sicherzustellen, „that counter-terrorism legislation and measures do not impede humanitarian and medical activities or engagement with all relevant actors as forseen by international humanitarian law.“46 Der besondere Schutz humanitärer Tätigkeit hat im Übrigen auch jenseits des Bereichs der Terrorismusbekämpfung im Unionsrecht Anerkennung gefunden – und seinen Weg in die deutsche Umsetzungsgesetzgebung. Beispiele, in denen der deutsche Gesetzgeber entsprechende Ausschlusstatbestände eines Unionsrechtsaktes bei der Umsetzung in deutsches Recht aufgegriffen hat, finden sich im Datenschutz- und Kartellrecht.47 Es zeigt sich: Der Innovationsschub, den die Aufnahme von Erwägungsgrund 38 in die Richtlinie zweifelsfrei darstellt, bildet also (insofern: nur) die dynamische Entwicklung des internationalen Rechts ab und schreibt diese fort. In der Gesamtschau erscheint es danach sachgerecht, die einschlägigen Straftatbestände des deutschen Terrorismusstrafrechts um Ausschlussklauseln zu ergänzen, die den besonderen Schutz auf humanitäre Tätigkeiten solcher Organisationen begrenzen, die unzweifelhaft die Grundprinzipien der humanitären Hilfe beachten. Gegen die Übernahme der Merkmale aus Erwägungsgrund 38 bestehen insoweit keine Bedenken. Zu erstrecken wäre der Ausschlusstatbestand auf alle Bestimmungen des deutschen Strafrechts, durch welche die Harmonisierungsvorgaben von Richtlinie (EU) 2017/541 erfüllt werden, also insbesondere auch solche, die bereits zuvor geltendes Recht waren, wie die §§ 89a, 89c, 129a StGB.48 Konflikten anwendbaren Regeln des Völkerrechts stehen.“ Näher dazu Stratenwerth/Wohlers, Art. 260quinquies, Rn. 1), und Forster, ZStR 2003, 341 ff. 45 Res. 70/148 vom 17. 12. 2015. 46 Res. 70/291 vom 1. 7. 2016 („The United Nations Global Counter-Terrorism Strategy Review“). Derselbe Gedanke findet sich im General Report der NATO Parliamentary Assembly 2016 („Enhancing Euro-Atlantic Counter Terrorism Capabilities and Cooperation“), para 73. 47 In den Erwägungsgründen (46, 73, 112) der Datenschutzgrundverordnung vom 27. 4. 2016, EU 2016/679, findet sich eine Privilegierung humanitärer Tätigkeit. Die Umsetzung ist durch das Datenschutz-Anpassungs- und -Umsetzungsgesetz EU vom 30. 6. 2017 (dazu auch BT-Drs. 18/11325) erfolgt. 48 Eine ausdrückliche Erstreckung des Ausnahmetatbestandes auf weitere Straftatbestände erscheint dagegen nicht zwingend. In Betracht kämen weitere Straftatbestände des Strafgesetzbuches, die die Harmonisierungsvorgaben der RL 2017/541 verwirklichen (etwa §§ 305a, 308, 315, 316b, 316c; auch in Verbindung mit § 27 StGB). Insoweit ließe sich aber wohl auf die Ausstrahlungswirkung der vorgeschlagenen Ausnahmeklauseln verweisen. Gegebenenfalls könnte in der Gesetzesbegründung klargestellt werden, dass aus der Ergänzung von Ausnahmeklauseln bei bestimmten Straftatbeständen nicht geschlossen werden könne, dass humanitäre Tätigkeit nach anderen Strafbestimmungen stets strafbar sein soll.
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Danach ergäbe sich für die Änderung des Strafgesetzbuches das Folgende: 1. § 89a StGB wird wie folgt geändert: a. Nach Absatz 4 wird der folgende neue Absatz 5 eingefügt: Absatz 1 gilt nicht für Handlungen, die ausschließlich der Erbringung humanitärer Tätigkeiten durch unparteiische humanitäre Organisationen dienen, welche nach dem Völkerrecht anerkannt sind. b. Die bisherigen Absätze 5 bis 7 werden Absätze 6 bis 8. 2. § 89c StGB wird wie folgt geändert: a. Nach Absatz 3 wird der folgende neue Absatz 4 eingefügt: Für Taten nach Absätzen 1 und 2 gilt § 89a Abs. 5 entsprechend. b. Die bisherigen Absätze 4 bis 7 werden Absätze 5 bis 8. 3. § 129a StGB wird wie folgt geändert: a. Nach Absatz 5 Satz 1 wird der folgende neue Satz 2 eingefügt: § 89a Abs. 5 gilt entsprechend. b. Der bisherige Satz 2 wird Satz 3. 4. § 18 AWG wird wie folgt geändert: a. Nach Absatz 10 wird der folgende neue Absatz 11 eingefügt: Absatz 1 gilt nicht für Handlungen, die ausschließlich der Erbringung humanitärer Tätigkeiten durch unparteiische humanitäre Organisationen dienen, welche nach dem Völkerrecht anerkannt sind. b. Die bisherigen Absätze 11 und 12 werden Absätze 12 und 13.
‘Security Law’ and Preventive Justice in the Legal Order of the European Union The Case of Counter-terrorism By Valsamis Mitsilegas
I. Introduction Of the many ground-breaking contributions that Professor Ulrich Sieber has made to the development of domestic, European, comparative, transnational and international criminal law, this contribution seeks to engage with his visionary approach elucidating the transformation of criminal law into ‘security law.’1 Sieber has framed this paradigmatic change towards the evolution of ‘security law’ as inextricably linked with preventive objectives: targeting the prevention of future harms and focusing on everyday activities;2 and turning thus criminal law from a punitive instrument of punishment ex-post also into a preventive criminal law instrument for averting danger ex ante.3 This analysis of want Sieber has deemed eloquently as the ‘triumph of the prevention dogma’4 resonates clearly with the comprehensive theorisation and analysis of the move towards a multi-faceted ‘state of prevention’ in common law by Ashworth and Zedner under the banner of ‘preventive justice’.5 From a substantive criminal law perspective, these analyses point out clearly the key shift from criminal law ex post to criminal law ex ante, and from criminal sanctions to (perceived) administrative sanctions – with criminalisation moving away from the commission of 1 Sieber, Ulrich: Der Paradigmenwechsel vom Strafrecht zum Sicherheitsrecht, in: Tiedemann/Sieber/Satzger/Burchard/Brodowski (eds.), Die Verfassung moderner Strafrechtpflege Erinnerung an Joachim Vogel, Baden-Baden 2016, pp. 351 et seq. 2 Sieber, Ulrich: Risk prevention by means of criminal law: On the legitimacy of anticipatory offenses in Germany’s recently enacted counter-terrorism law, in: Galli/Weyembergh, Anne (eds.), EU counter-terrorism offences. What impact on national legislation and caselaw?, Editions de l’Université de Bruxelles, 2012, pp. 251 et seq. at p.255. 3 Sieber, Ulrich, The New Architecture of Security Law-Crime Control in the Global Risk Society, in: Sieber/Mitsilegas/Mylonopoulos/Billis/Knust (eds.), Alternative Systems of Crime Control. National, Transnational and International Dimensions, Research Series of the Max Planck Institute for Foreign and International Criminal Law, Duncker and Humblot 2018, pp. 3 et seq., p. 23. 4 Ibid. 5 Ashworth Andrew/Zedner, Lucia, Preventive Justice, Oxford University Press 2014.
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actual acts and leading to what Sieber has deemed ‘attitude-based criminal law.’6 The preventive, ‘security law’ paradigm also extends to the expansion of surveillance, with Sieber already highlighting the extension of the concept of danger that prevention through mechanisms such as data retention entails.7 Engaging with these theorisations of ‘security law’ and preventive justice, I have begun to examine how this model of state intervention has emerged in the supranational context of EU law. This is a large-scale, on-going project. As a first step, I have attempted to set the parameters of the preventive justice model in EU law,8 and to highlight the links between this securitised paradigm of preventive justice with dangerousness, and with the construction of dangerous individuals.9 The present contribution builds upon this work, in order to present a taxonomy of preventive ‘security’ law as emerging in the EU’s efforts to tackle terrorism. The chapter will focus on three developments marking the shift to securitised, preventive law: recent steps towards extending the criminalisation of terrorism; the move from criminal to (perceived) administrative law in imposing terrorist sanctions; and the move towards privatised, generalised surveillance of everyday activity.
II. Over Criminalising Terrorism? Targeting ‘Foreign Fighters’ In his analysis on the development of the criminalisation of terrorism in Germany, Professor Sieber has already a few years ago highlighted the danger of a lack of limits in criminalisation and the need to establish a concrete nexus with an act for criminal liability to arise.10 These concerns remain relevant today, following recent steps by the EU to extend the criminalisation of terrorism in order to address the phenomenon of the so-called ‘foreign fighters.’ The intervention of the EU did not come in a vacuum, with Union law mirroring earlier UN Security Council and Council of Europe developments.11 The outcome has been a new EU Directive aiming to align EU law
6 Sieber, Risk prevention by means of criminal law: On the legitimacy of anticipatory offenses in Germany’s recently enacted counter-terrorism law (note 2), p. 267. 7 Sieber, The New Architecture of Security Law – Crime Control in the Global Risk Society (note 3), pp. 28 – 29. 8 Mitsilegas, Valsamis: ‘Security Law’ and Preventive Justice in the Legal Architecture of the European Union, in: Sieber/Mitsilegas et al., Alternative Systems of Crime Control. National, Transnational and International Dimensions (note 3), pp. 203 et seq. 9 Mitsilegas, Valsamis, European Criminal Law and the Dangerous Citizen, in: Maastricht Journal of European and Comparative Law, vol. 25, 2018, pp. 733 et seq. whereupon this chapter is based. 10 Sieber, Risk prevention by means of criminal law: On the legitimacy of anticipatory offenses in Germany’s recently enacted counter-terrorism law (note 2), p. 259. 11 Mitsilegas, European Criminal Law and the Dangerous Citizen (note 9).
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with UNSC and Council of Europe standards.12 The Preamble to the Directive outlines in very broad terms perceived threats by ‘foreign terrorist fighters’, both travelling abroad and returnees, who are deemed to pose a ‘heightened security threat’ to all Member States In addition, the Union and its Member States – with the Preamble noting additionally the increased threats from individuals who are inspired or instructed by terrorist groups abroad but who remain within Europe.13 The text of the Directive introduces a number of offences leading to extensive criminalisation. These include providing and receiving training for terrorism14 and, importantly, travelling for the purpose of terrorism and organising or otherwise facilitating travelling for the purpose of terrorism.15 Terrorist travel is criminalised regardless of whether the destination country is located inside or outside the EU or the Schengen area. Member States are called to criminalise one of the following conducts when committed intentionally: travelling to a Member State for the purpose of committing, or contributing to the commission of, a terrorist offence, for the purpose of the participation in the activities of a terrorist group with knowledge of the fact that such participation will contribute to the criminal activities of such a group, or for the purpose of the providing or receiving of training for terrorism, or preparatory acts undertaken by a person entering that Member State with the intention to commit, or contribute to the commission of, a terrorist offence as defined in the Directive.16 Attempt at terrorist travel is also criminalised.17 Importantly, for the offences prescribed in the Directive to occur, it is not necessary that a terrorist offence is actually committed, nor is it be necessary, for the majority of these offences (including the training, travel and organization of travel offences, but also for the offences of directing or participating in a terrorist organisation), to establish a link to another specific offence laid down in the Directive.18 The criminalization of terrorist travel in these terms is problematic. Following the UNSC and the Council of Europe approaches, the Directive introduces extremely broad and hard to define criminal offences, including attempt, and not requiring a link to the commission of concrete terrorist offences – leading thus to overcriminalisation; it is a challenge for such criminalization to meet the threshold of what is required to uphold the principle of legality in criminal offences, as the offences are defined in a very broad manner; criminalisation is not in compliance with a number of fundamental rights, including the right to leave; and it undermines the relationship of trust between the citizen and the state by effectively creating different classes and 12 Directive (EU) 2017/541 of the European Parliament and of the Council of 15 March 2017 on combating terrorism and replacing Council Framework Decision 2002/475/JHA and amending Council Decision 2005/671/JHA, 31. 3. 2017 L 88/6. See Preamble, recitals 5 and 6. 13 Preamble, recital 4. 14 Articles 7 and 8. 15 Articles 9 and 10 respectively. 16 Article 9(2). 17 Article 14(3). 18 Article 13.
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categories of citizens – with citizens here becoming foreigners, or rather ‘foreign fighters.’ These challenges become more acute at the level of the European Union constitutional order, which is based upon the fundamental principle of free movement.19 Criminalisation in such broad terms – without the requirement for a terrorist offence to actually be committed and thus treating terrorist travel offences essentially as self-standing offences – pushes further the boundaries of the preventive justice paradigm. Here the logic of prevention extends beyond criminalizing conduct which may lead to the commission of a further specific criminal offence – as it is not clear whether criminalization will actually lead to a specific harm or will increase the risk of harm.20 Rather, criminalization takes place here on the basis of dangerousness: the further punishment is removed from a concrete terrorist act, the closer we get to a criminal law system aimed at punishing the dangerous individual.
III. The Move from Criminal to Administrative Law: the Case of Terrorist Sanctions An emblematic example of the shift of focus from the commission of a specific criminal act to the control of dangerousness is the imposition of terrorist sanctions on the basis of listing processes. As it has been eloquently noted, listing is a performative technology that helps constitute the objects and categories it targets or complies.21 Listing linked to individuals has appeared prominently in this context in order to address the perceived terrorist threat: instead of (or in addition to) investigating and prosecuting specific terrorist offences, the focus has also been on imposing sanctions (in particular freezing orders and travel bans) on individuals suspected of being associated with terrorism. This process of listing as ‘guilt by association’ is underpinned by a clear preventive logic.22 What renders the fundamental rights and rule of law challenges of listing based on dangerousness is not only the severe consequences of such listing but also the process of listing, marked by secrecy and the predominance of the executive. Terrorist listing was introduced by the UN Security Council by a series of Resolutions specifically targeting the Taliban, Osama bin Laden, AlQaida and those associated with them.23 What is striking in this context is that a number of measures having direct impact on fundamental rights have been adopted not by 19
Mitsilegas, Valsamis: EU Criminal Law After Lisbon, Hart 2016, chapter 9. Asp, Petter: Preventionism and Criminalization of Nonconsummate Offences, in: Ashworth/Zedner/Tomlin (eds.), Prevention and the Limits of Criminal Law, Oxford University Press 2014, p. 33. 21 de Goede, Marieke/Leander, Anna/Sullivan, Gavin, Introduction: The Politics of the List, in: Environment and Planning D: Society and Space, vol. 34 (2016), p. 6. 22 See de Goede Marieke/Sullivan, Gavin, The Politics of Security Lists, in: Environment and Planning D: Society and Space, vol. 34 (2016), pp. 71 and 76. 23 For the background see Mitsilegas, Valsamis: The European Union and the Globalisation of Criminal Law, in: Cambridge Yearbook of European Legal Studies, vol. 12 (2009 – 2010), pp. 337 et seq. 20
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the traditional form of a multilateral treaty, but by executive action by the UNSC – with scholars noting that in this manner the UNSC has essentially assumed a ‘legislative’ role.24 The imposition of sanctions via a listing process by the UNSC can thus be seen as a prime example of the operation of ‘global administrative law’.25 The European Union has adopted the approach and standards put forward in the form of global administrative law by the UNSC by adopting two sets of regularly revised sets of Regulations, one implementing the listing outcomes following Resolution 1267, and another imposing so-called ‘autonomous’ terrorist sanctions.26 Compliance of this system with EU law has been tested by the CJEU in the well-documented and extensively commented upon Kadi litigation, where the CJEU found that terrorist listings under EU law must comply with the principle of effective judicial protection. Much of the commentary to the final outcome of the Kadi litigation (in particular on the first stage of case-law, or Kadi I27), has focused on the implications of the CJEU approach for the autonomy of EU law vis-à-vis the authority of the UNSC.28 The CJEU approach in Kadi I vis-à-vis the protection of fundamental rights has been primarily procedural, with the Court finding that the rights of the defence, in particular the right to be heard, and the right to effective judicial review of those rights, were patently not respected.29 However, the CJEU did not go as far as questioning the scheme or the logic of the UNSC listing system: while it accepted that the measures in question entailed an unjustified restriction of Mr Kadi’s right to property30 it also ruled that the freezing of funds could not per se be regarded as inappropriate or disproportionate ‘with reference to an objective of general interest as fundamental to the international community as the fight by all means against the threats to international peace posed by acts of terrorism’.31 The CJEU was called to revisit its Kadi case law after the entry into force of the Lisbon Treaty following the lodging of a request by Mr Kadi of annulment of a revised EU asset freezing Regulation which continued to list him therein notwithstanding the Court’s ruling in Kadi I. In the Kadi II litigation, the Court had to take into 24
See inter alia particular, Talmon, Stefan: The Security Council as World Legislature, in: American Journal of International Law, vol. 99 (2005), pp. 175 et seq. 25 Kingsbury, Benedict/Krisch, Nico/Stewart, RB, The Emergence of Global Administrative Law, in: Law and Contemporary Problems, vol. 68 (2004 – 2005), p. 15. 26 For details, see Eckes, Christina: EU Counter-terrorist Policies and Fundamental Rights, Oxford University Press, 2009. 27 Case T-315/01 Yassin Abdullah Kadi v Council and Commission [2005] ECR II-3649; Case T-306/01 Ahmed Ali Yussuf and Al Barakaat International Foundation v Council and Commission [2005] ECR II-3533; Joined Cases C-402/05P and C-415/05P Yassin Abdullah Kadi and Al Barakaat International Foundation v Council and Commission [2008] ECR I6351. 28 See inter alia Tridimas, Takis: Terrorism and the ECJ: Empowerment and Democracy in the EC Legal Order’ in: European Law Review, vol. 34 (2009), pp. 103 et seq. 29 Para 334. 30 Para 370. 31 Para 363.
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account a number of key developments which took place following the Court’s ruling in Kadi I including, most notably, a series of revisions to the UN Security Council system of listing individuals whose assets should be frozen under Resolution 1267. UN Security Council Resolution 1822 (2008) introduced a number of procedural safeguards in the listing procedure.32 A further Security Council Resolution, 1904/2009, established an ‘Office of the Ombudsperson’, whose task is to assist the Sanctions Committee in the consideration of delisting requests. The person appointed to be the Ombudsperson must be an individual of high moral character, impartiality and integrity with high qualifications and experience in relevant fields, including law, human rights, counter-terrorism and sanctions.33 A subsequent Resolution, 1989 (2011), arguably passed in response to the critical ruling of the General Court at first instance in the Kadi II litigation,34 extended the mandate and support of the Ombudsperson and included detailed provisions on listing and de-listing procedures.35 The Security Council continues to have the ultimate decision-making power on delisting and is not obliged to follow a de-listing recommendation by the Ombudsperson.36 In deciding on the Kadi II appeal, the CJEU was faced with the markedly different approaches adopted by the General Court and the Advocate General in their examination of the case.37 The General Court applied, albeit reluctantly, the reasoning of the Court of Justice in Kadi I and advocated the full review not only of the apparent merits of the contested measure but also the evidence and information on which the findings made in that measure are based.38 The Court of Justice adopted a more extensive model of judicial review than the one proposed by the Advocate General.39 It concurred with the General Court and the Advocate General in refusing to afford the contested Regulation immunity from jurisdiction.40 The Court then made express reference to the need for the European judiciary to ensure the in principle full review of the lawfulness of all Union acts in the light of fundamental rights41 and mentioned in particular the respect for the rights of the defence and the right to effective judicial protection as enshrined in Articles 41(2) and 47 of the Charter respectively.42 Respect for these rights entails a number of obligations related to the provision of reasons for 32
Paras 12 – 13. Para 20. 34 See Cameron, Iain: EU Anti-terrorist Sanctions, in: Mitsilegas/Bergström/Konstadinides (eds.), Research Handbook on EU Criminal Law, Edward Elgar 2016, pp. 545 et seq. 35 Paras 12 – 35. 36 Para 23. 37 Mitsilegas, EU Criminal Law After Lisbon (note 9), chapter 9. 38 Case T-85/09 Kadi v Commission [2010] ECR II-5177. 39 Joined Cases C-584/10 P, C-593/10 P and C-595/10 P, European Commission v Kadi (CJEU, 18 July 2013). 40 Paras 65 – 68. 41 Para 97. 42 Paras 98 – 100. 33
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the EU listing authority.43 As regards the extent of judicial review, the Court found that the EU judiciary must determine whether the competent EU authority has complied with the procedural safeguards the obligation to state reasons mentioned above.44 Moreover, effective judicial review requires that, as part of the review of the lawfulness of the grounds which are the basis of the decision to list or to maintain the listing of a given person, the Courts of the EU are to ensure that that decision is taken on a sufficiently solid factual basis. Judicial review cannot be restricted to an assessment of the cogency in the abstract of the reasons relied on, but must concern whether those reasons, or, at the very least, one of those reasons, deemed sufficient in itself to support that decision, is substantiated.45 To that end, it is for the Courts of the EU, in order to carry out that examination, to request the competent EU authority, when necessary, to produce information or evidence, confidential or not, relevant to such an examination.46 The Court thus advocated a standard of evidence-based, detailed, substantive judicial review in concreto and not in abstracto.47 In Kadi II, the CJEU privileged again a procedural over a substantive approach to the protection of fundamental rights: it emphasised the requirement for terrorist listings to comply with the right to effective judicial protection, yet it did not question the very nature and logic of terrorist listings or their consequences for listed individuals. The CJEU declined to follow in this context the thread provided by the General Court, which noted the draconian nature of freezing orders for the applicant which had been in place for a long period of time48 and put forward the view that the measures in question are not temporary or precautionary, but actually of a criminal nature. The General Court noted that: ‘It might even be asked whether – given that now nearly 10 years have passed since the applicant’s funds were originally frozen – it is not now time to call into question the finding of this Court … according to which the freezing of funds is a temporary precautionary measure which, unlike confiscation, does not affect the very substance of the right of the persons concerned to property in their financial assets but only the use thereof. The same is true of the statement of the Security Council, repeated on a number of occasions, in particular in Resolution 1822 (2008), that the measures in question “are preventative in nature and are not reliant upon criminal standards set out under national law”. In the scale of a human life, 10 years in fact represent a substantial period of time and the question of the classification of the measures in question as preventative or punitive, protective or confiscatory, civil or criminal seems now to be an open one.’49
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Paras 111 – 16. Para 118. 45 Para 119. 46 Para 120. 47 For further details, see paras 121 – 24. 48 Para 149. 49 Para 150. 44
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In declining to engage directly with the question of whether terrorist sanctions constitute in essence criminal sanctions, the CJEU appears to accept the preventive nature of sanctions – with the logic and essence of restrictive measures imposed on individuals deemed to be dangerous by the executive remaining largely unquestioned. In this light, Kadi II should be viewed as another (albeit qualified) victory for procedural justice, perhaps at the expense of the protection of substantive fundamental rights including the right to property.
IV. Privatised and Generalised Surveillance of ‘the Everyday’ The preventive shift from act to dangerousness in the field of substantive criminal and sanctions law is inextricably linked with the move in recent years towards a system of mass and pre-emptive surveillance. As Ramsay has noted, to ‘find out if a person’s externally innocuous activity conceals criminal intentions requires surveillance and investigation of that person’s communications, intentions, and opinions in advance of any externally dangerous or harmful activity … insofar as the authorities are under a duty to prevent externally innocuous preparations and possessions … then surveillance of all activity will be required in order to identify the dangerous intentions that may be lurking there.’50 The focus of security governance has thus been on the assessment of risk51 which is forward-looking aiming to identify and predict risk and dangerousness.52 The pre-emptive turn in surveillance has been based largely upon the collection, processing and exchange of personal data, which has in turn been marked by two key features. The first feature involves the purpose of data collection and processing. This is no longer focused solely on data related to address the commission of specific, identified criminal offences, but focuses rather on the use of personal data to predict risk and pre-empt future activity. The second feature involves the nature of the data in question. On the one hand, pre-emptive surveillance focuses increasingly on the collection of personal data generated by ordinary, everyday life activities.53 A key instance of the development of a paradigm of pre-emptive surveillance leading to risk-assessment on the basis of the collection of everyday personal data on both sides of the Atlantic has been the imposition of re-
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Ramsay, Peter, Democratic Limits to Preventive Criminal Law, in: Ashworth/Zedner/ Tomlin (note 20), p. 218. 51 See contributions in Amoore, Louise/de Goede Marieke (eds.), Risk and the War on Terror, Routledge 2008. 52 Bigo, Didier, Security, Exception, Ban and Surveillance, in: Lyon, David (ed.), Theorizing Surveillance: The Panopticon and Beyond, Willan 2006, pp. 46 et seq. 53 Mitsilegas, Valsamis, The Value of Privacy in an Era of Security: Embedding Constitutional Limits on Pre-emptive Surveillance, in: International Political Sociology, vol. 8 (2014), pp. 104 et seq.
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quirements on telecommunication companies to retain customer data in order for such data ultimately to be accessible to state authorities.54 In EU law, such a step was made via the adoption of the so-called data retention Directive in 2006.55 The Directive, which placed telecommunications providers under duties to collect and retain personal data of their customers, was struck down by the CJEU in its ruling in Digital Rights Ireland. 56 One of the points emphasised by the CJEU in its ruling was the generalised and unlimited collection of personal data envisaged by the Directive, which applied to all means of electronic communication, the use of which is very widespread and of growing importance in people’s everyday lives. Furthermore, the Directive covered all subscribers and registered users. It therefore entails an interference with the fundamental rights of practically the entire European population.57 The Directive covered, in a generalised manner, all persons and all means of electronic communication as well as all traffic data without any differentiation, limitation or exception being made in the light of the objective of fighting against serious crime.58 The Court further noted that the Directive affected, in a comprehensive manner, all persons using electronic communications services, but without the persons whose data are retained being, even indirectly, in a situation which is liable to give rise to criminal prosecutions. It therefore applied even to persons for whom there is no evidence capable of suggesting that their conduct might have a link, even an indirect or remote one, with serious crime.59 Neither did the Directive require any relationship between the data whose retention is provided for and a threat to public security and, in particular, it was not restricted to a retention in relation to data pertaining to a particular time period and/or a particular geographical zone and/or to a circle of particular persons likely to be involved, in one way or another, in a serious crime, or to persons who could, for other reasons, contribute, by the retention of their data, to the prevention, detection or prosecution of serious offences.60 The observations of the CJEU in Digital Rights Ireland highlight the challenges that a system of pre-emptive generalised surveillance based on the collection of every day data poses not only to the protection of fundamental rights but also to citizenship. This system of surveillance renders every individual as a potential suspect – a potentially dangerous individual being monitored on the basis of on-going risk-assess54 See Mitsilegas, Valsamis, Surveillance and Digital Privacy in the Transatlantic ‘War on Terror’: The Case for a Global Privacy Regime, in: Columbia Human Rights Law Review, vol. 47 (3) (2016), pp. 1 et seq. 55 Directive 2006/24/EC of the European Parliament and of the Council of 15 March 2006, OJ L 105, 13 April 2006, p. 54. 56 Joined Cases C-293/12, Digital Rights Ireland, and C-594/14, Seitlinger, ECLI:EU:C:2014:238. 57 Paragraph 56. 58 Paragraph 57. 59 Paragraph 58. 60 Paragraph 59.
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ment. Such a system can lead to what has been called ‘the ‘disappearance of disappearance’ – a process whereby it is increasingly difficult for individuals to maintain their anonymity, or to escape the monitoring of social institutions’.61 State authorities have thus access to a wealth of personal data enabling practices such as profiling and data mining. In its follow-up ruling on data retention (on the compatibility of national data retention schemes with EU law), Watson and Tele2, the CJEU has flagged up the profiling challenges regarding the retention of metadata, ‘That data, taken as a whole, is liable to allow very precise conclusions to be drawn concerning the private lives of the persons whose data has been retained, such as everyday habits, permanent or temporary places of residence, daily or other movements, the activities carried out, the social relationships of those persons and the social environments frequented by them … In particular, that data provides the means … of establishing a profile of the individuals concerned, information that is no less sensitive, having regard to the right to privacy, than the actual content of communications.’62
Judicial interventions are important in this context in highlighting the close link between protecting the right to privacy and upholding citizenship ties by safeguarding trust in the relationship between the individual and the state. These concerns have been reflected in the case-law of the CJEU, where the adverse impact of generalised preventive surveillance without an explicit link to a specific suspicion has been highlighted. In Tele2 and Watson, the CJEU noted that the interference of systematic and continuous data retention with the rights to privacy and data protection is very farreaching and must be considered to be particularly serious, as the fact that the data is retained without the subscriber or registered user being informed is likely to cause the persons concerned to feel that their private lives are the subject of constant surveillance.63 The Court noted that the legislation in question, which was found to be contrary to EU law, affects all persons using electronic communication services, even though those persons are not, even indirectly, in a situation that is liable to give rise to criminal proceedings, therefore it applies even to persons for whom there is no evidence capable of suggesting that their conduct might have a link, even an indirect or remote one, with serious criminal offences.64 Protecting the right to privacy is essential to uphold citizenship ties more broadly in this context. The challenges to fundamental rights and citizenship posed by pre-emptive mass surveillance are compounded by the proliferation of systems of surveillance in EU 61 Haggerty, K.D./Ericson, R.V., The Surveillant Assemblage, in: British Journal of Sociology, vol. 51(4) (2000), pp. 605 et seq. 62 Joined Cases C-203/15, Tele2 Sverige and C-698/15, Watson, para. 99. 63 Tele2 Sverige and Watson, para. 100. 64 Tele2 Sverige and Watson, para. 105. See also Opinion 1/15 on the EU-Canada PNR Agreement where the Court noted that ‘as regards air passengers in respect of whom no such risk has been identified on their arrival in Canada and up to their departure from that nonmember country, there would not appear to be, once they have left, a connection - even a merely indirect connection - between their PNR data and the objective pursued by the envisaged agreement which would justify that data being retained (para. 205).
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law, most notably regarding the surveillance of mobility not only of third country nationals, but also of EU citizens.65 A key example in this context is legislation requiring airlines to collect, retain and transfer to state authorities passenger name record (PNR) data, which consist of extensive categories of passenger data of air travellers ranging from forms of payment to dietary requirements. The imposition of such obligations to air carriers has been a key plank of the US post-9/11 counter-terrorism strategy66 as a means to prevent future terrorist attacks. Pressure to comply with US requirements have led to the conclusion of a number of EU-US PNR agreements authorising the transfer of passenger data to US authorities by EU airlines.67 The conclusion of a series of EU-US international agreements enabling the transfer of PNR data to US authorities has been the outcome of the need for the EU to comply with unilateral US legal requirements and has been controversial in challenging fundamental rights in the EU legal order.68 These concerns were partly reflected by the CJEU, which in its Opinion on the compatibility of the EU-Canada PNR Agreement with EU law, found that aspects of the Agreement were incompatible with the rights to privacy and data protection but questionably refrained from finding that the PNR scheme constituted bulk collection of personal data. Opinion 1/15 was a missed opportunity for the CJEU to highlight again the impact of mass surveillance not only on fundamental rights but also on citizenship. The link between mass surveillance and pre-emption has been highlighted by a number of Governments intervening in the CJEU EU-Canada litigation, according to whom the use of PNR data ‘is intended to identify persons hitherto unknown to the competent services who present a potential risk to security, while persons already known to present such a risk can be identified on the basis of advance passenger information data.’69 Notwithstanding fundamental rights and citizenship concerns, recent terrorist incidents in Europe have provided political justification for the internalisation of this model of preventive surveillance in the EU, via the adoption of an ‘internal’ PNR Directive.70 The adoption of this Directive poses a significant challenge to EU free movement law, by extending the targets of surveillance from third-country nationals to EU citizens to what I have termed some years ago ‘the Borders Paradox’71 , whereby borders law is used for the 65 Mitsilegas, Valsamis, Immigration Control in an Era of Globalisation: Deflecting Foreigners, Weakening Citizens, Strengthening the State, in: Indiana Journal of Global Legal Studies, vol. 19 (1) (2012), pp. 3 et seq. 66 Ibid. 67 See Mitsilegas, Valsamis, Contrôle des étrangers, des passagers, des citoyens: Surveillance et anti-terrorisme, in: Cultures et Conflits 2005, pp. 155 et seq. 68 Mitsilegas Valsamis: Transatlantic Counter-terrorism Cooperation and European Values: The Elusive Quest for Coherence, in: Curtin, Deirdre/Fahey, Elaine (eds.), A Transatlantic Community of Law, Cambridge University Press 2014, pp. 289 et seq. 69 Opinion 1/15, para. 58. 70 Directive 2016/881 on the use of PNR data for the prevention, detection, investigation and prosecution of terrorist offences and serious crime, OJ L119/132, 4. 5. 2016. 71 Mitsilegas, Valsamis, The Borders Paradox: The Surveillance of Movement in a Union without Internal Frontiers, in: Lindahl, Hans (ed.), A Right to Inclusion and Exclusion?
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surveillance and monitoring of the movement of EU nationals. This paradox is accentuated bearing in mind that the EU PNR Directive will apply, as far as certain Member States are concerned, not only to flights into the EU but also to intra-EU flights. In this manner, pre-emptive surveillance of mobility challenges not only the relationship between the individual and the state at national level, but also EU citizenship based on free movement as such. As with the debate on data retention, imposing obligations to the private sector to co-operate with the state creates a number of complex questions in terms of accountability, judicial protection and the rule of law: to what extent is the private sector bound by human rights obligations when being co-opted by the state in this manner and to what extent is it willing and able to provide remedies and avenues of redress to affected individuals which are equivalent to those provided by the state? These rule of law challenges become more acute in view of the on-gong widening of the net concerning public-private partnerships on terrorism, with recent Commission proposals envisaging providers as regularly providing state authorities with digital evidence (moving from a traditional state to state MLA model to a model whereby state authorities can request data directly from the legal representative of a private provider)72 and requiring providers to reactively and proactively remove terrorist content online,73 placing thus the private sector in a position of making essential freedom of expression and fundamental rights upholding choices. The discussion becomes even more complex in view of the blurred boundaries of territoriality and jurisdiction that dealing with digital data entails and the absence of a global level-playing field on human rights protection.
V. Conclusion: the Emergence of EU and Global Preventive ‘Security Law’: Developing a Framework of Critical Analysis The above analysis has attempted to demonstrate the relevance of Ulrich Sieber’s theorisation of ‘security law’ in providing a critical framework for dissecting the legal, constitutional and human rights challenges arising from the emergence of a paradigm of securitised, preventive justice in the law of the European Union. This contribution has demonstrated that these challenges are multi-faceted and that they include – but are not limited to – concerns regarding over-criminalisation Normative Faultlines of the EU’s Area of Freedom, Security and Justice, Hart 2009, pp. 33 et seq. 72 Mitsilegas Valsamis: The Privatisation of Mutual Trust in Europe’s Area of Criminal Justice, in: Maastricht Journal of European and Comparative Law, vol. 25 (2018), pp. 263 et seq. 73 For an early assessment of the Commission proposals, see Klompmaker, Naomi, Censor them at any cost? A social and legal assessment of enhanced action against terrorist content online, in: Amsterdam Law Forum, vol. 11 (2019), pp. 3 et seq.
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and a shift from censuring a concrete act to targeting perceived dangerousness more broadly. The constant proliferation of surveillance technologies and growing demands from the private sector to co-operate with the state in the fight against terrorism – in a speedy and often uncritical manner – has the potential to fundamentally change the very structure of a rule-of-law criminal justice system as we know it. These challenges become more acute in view of the growing demands for the Union and its Member States to operate in a global environment – in all three levels of counter-terrorism action analysed in this contribution, Union law has developed in conjunction with or in response to global or transatlantic developments – which means that effective legal responses to uncritical ‘security’ and preventive law must be analysed also from a global perspective. In view of the constant policy and legislative developments pushing forward a broad paradigm of ‘security law’ and preventive justice, vigilance and in depth critical analysis are urgently required. Professor Sieber’s contribution in this context is invaluable in paving the way and in calling for interdisciplinary integrated research and a complementary architecture of civil liberties as the way forward.74
74 Sieber, The New Architecture of Security Law – Crime Control in the Global Risk Society (note 3), pp. 31 – 32.
Virtuelle Versammlungen und Versammlungsfreiheit Von Ralf Poscher Der Jubilar hat sich so früh und so nachhaltig wie kaum ein anderer Strafrechtler den Herausforderungen gestellt, die sich für das Strafrecht und das Recht allgemein mit der Revolution der Informations- und Medientechnologie verbinden, die wir alle das welthistorische Privileg und Schicksal haben zu durchleben. In diesem Interesse für neuartige technikinduzierte Rechtsfragen überschneiden sich die Forschungsperspektiven des Jubilars mit dem Thema des folgenden Beitrags, der allerdings eine öffentlich-rechtliche Perspektive wählt, obschon die zu behandelnde Frage auch bereits in strafrechtlichen Konstellationen eine Rolle gespielt hat.
I. Die Informationstechnologie hat nicht nur fast alle Lebensbereiche durchdrungen, sondern auch eine neue virtuelle Realität erschaffen, die gleichsam neben die analoge getreten ist. In dieser virtuellen Welt bewegen wir uns zum Teil sehr ähnlich wie in der realen, auch wenn in der digitalen Welt zum Teil ganz andere Gesetzmäßigkeiten gelten. Es liegt daher nicht fern, danach zu fragen, welche Grundrechte auch auf die virtuellen Welten des Informationszeitalters anwendbar sind und wie gegebenenfalls ihre Anwendung auszugestalten ist. Für einige Grundrechte scheint die Antwort auf die Frage auf der Hand zu liegen: Die Meinungsäußerungsfreiheit etwa findet auf elektronische Kommunikationen und auch solche in virtuellen Welten ebenso Anwendung wie auf traditionelle.1 Auch wenn die Väter und Mütter des Grundgesetzes nicht einmal einen Computer kannten – geschweige denn, dass sie sich Meinungsäußerungen in virtuellen Welten, Internetforen oder Chat-Räumen vorstellen konnten –, scheint klar, dass Meinungsäußerungen auch in neuen und anderen Medienformaten, als sie bereits im Jahre 1949 bekannt waren, dem Schutz von Art. 5 GG unterliegen sollten. Ein klarer negativer Fall ist die körperliche Unversehrtheit. Auch wenn sich Personen in virtuellen Welten durch Avatare darstellen lassen, liegt in deren Beschädigung keine Verletzung des Rechts aus Art. 2 Abs. 2 GG. Bei den Avataren handelt es 1 BVerfG, Beschluss vom 15. 12. 2011, 1 BvR 1248/11, Rn. 31; BVerfG, Beschluss vom 27. 8. 2019, 1 BvR 811/17, Rn. 16; BGHZ 181 (328 ff.); Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, 2013, Art. 5 Rn. 67; Schemmer, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, 2013, Art. 5 Rn. 14; Hoffmann u. a., Digitale Dimension der Grundrechte, 2015, S. 130.
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sich um grafische Repräsentationen der Kommunikationsteilnehmer in den virtuellen Welten. So wie traditionelle Repräsentationen von Grundrechtsträgern in Fotos oder Zeichnungen nicht Teil ihres Körpers sind und schon gar selbst keinen eigenen Körper im Sinn von Art. 2 Abs. 2 GG besitzen, so fehlt es auch den elektronischen Repräsentationen an der für Art. 2 Abs. 2 GG maßgeblichen Körperlichkeit. Wer das Bild einer Person beschädigt, begeht u. U. eine Sachbeschädigung, aber keine Körperverletzung. Für andere Grundrechte liegen die Dinge aber nicht so klar auf der Hand. Eines der Grundrechte, für die die Anwendung in virtuellen Realitäten zweifelhaft erscheint, ist die Versammlungsfreiheit. Der Ertrag der Diskussion der Frage, ob auch Versammlungen im virtuellen Raum durch Artikel 8 GG geschützt werden, kann dabei nicht nur der primäre sein, dass die Frage eine Antwort findet, sondern auch der sekundäre, dass durch die Auseinandersetzung mit der digitalen Welt ein besseres Verständnis der Versammlungsfreiheit in der analogen erreicht wird, dass also Aspekte der Versammlungsfreiheit und ihres Schutzes durch die Gegenüberstellung von realer und virtueller Welt deutlicher werden. In diesem Punkt ist das Verhältnis von analoger und digitaler Welt dem Verhältnis zwischen der eigenen und einer fremden Rechtsordnung nicht unähnlich, das Gegenstand der Rechtsvergleichung ist, einer Disziplin, die das Werk des Jubilars als eine zweite – auch bei seinen anderen Gegenständen immer mitlaufende – Perspektive kennzeichnet. So wie die fremde Rechtsordnung der eigenen einen Spiegel vorhalten kann, so kann auch die virtuelle Realität als Spiegel dienen, indem durch sie Dinge klarer sichtbar werden, die sich im Blick allein auf die analoge Welt nicht so stark profilieren. Das Netz bietet seinen Nutzern vielfältige Möglichkeiten, kommunikativ zusammen zu wirken. Am ehesten mit einem Versammlungsgeschehen in der analogen Welt vergleichbar ist die Versammlung von Avataren in virtuellen Spielwelten oder Chat-Räumen. Hier begegnen sich grafisch animierte Stellvertreter der Internetnutzer in Form von Symbolen, Homunculi oder sonstigen Fantasiewesen. In den virtuellen Welten des Internets können sich diese grafischen Repräsentationen auch versammeln, d. h. in einem virtuellen Raum gemeinsam auftreten. Dabei können solche virtuellen Räume von einfachen grafischen dreidimensionalen Repräsentationen bis hin zu fotorealistischen Kunst- und Phantasiewelten reichen, wie sie besonders in der Videospielindustrie entwickelt werden. In diesen Räumen lassen sich von den Kommunikationsteilnehmern auch gemeinsame Zwecke verfolgen. Gerade in Online-Videospielen ist es sogar regelmäßig so, dass Teams gegeneinander antreten. Dabei kann der gemeinsame Zweck der Beteiligten auch in der Kommunikation öffentlich relevanter Meinungen bestehen, wie es die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als ein Merkmal des Versammlungsbegriffs in Art. 8 GG verlangt.2 Die gra2 BVerfGE 104, 92 (104); zust. Classen, Staatsrecht II, 2018, § 10, Rn. 61; Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), GG, 2018, Art. 8 Rn. 3; Hoffmann-Riem, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR IV, 2011, Art. 8 Rn. 39 ff.; Hoffmann-Riem, NVwZ 2002, 259; krit. Kingreen/Poscher, Grundrechte, 2019, Rn. 811; Kniesel/Poscher, in: Lisken/Denninger (Hrsg.), Hdb. Polizei-
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fische Darstellung kann dabei durchaus Videobildern von kleineren Versammlungen in der analogen Welt ähneln. Ohne grafische Darstellungen kommen etwa Chat-Räume aus, in denen die Nutzer ähnlich wie bei einem realen Zusammentreffen in Echtzeit miteinander kommunizieren können. Auch in diesen Chat-Räumen können die Nutzer einen gemeinsamen kommunikativen Zweck in einer öffentlichen Angelegenheit verfolgen, wie es der Versammlungsbegriff des Grundgesetzes nach der Rechtsprechung voraussetzt. Koordinierte Aktionen im Internet können aber auch andere Formen annehmen. Nutzer können sich etwa zu sogenannten Denial-of-Service-Attacken verabreden. Bei Denial-of-Service-Attacken werden durch eine Vielzahl von Nutzeranfragen Internetseiten und die dahinterstehenden Rechnertechnologien so überlastet, dass es entweder zu stark verzögerter Responsivität oder auch zum Zusammenbruch des Systems kommt. Dienen entsprechende Attacken dem Protest, so können sie Versammlungen in der realen Welt nicht unähnlich erscheinen, die vergleichbare Effekte haben. So kann etwa die Versammlung von Arbeitnehmern vor dem Werkstor auch dazu führen, dass der Verkehr mit dem Werk beeinträchtigt oder sogar zeitweise unterbunden wird. Das Amtsgericht3 sowie das Oberlandesgericht4 Frankfurt a. M. hatten über die Strafbarkeit einer Denial-of-Service-Attacke zu verhandeln, bei denen sich der Angeklagte auf seine Versammlungsfreiheit berief.5 Der Angeklagte hatte zu einer Internet-Demonstration gegen die Lufthansa aufgerufen, um gegen deren Beteiligung an der Abschiebepraxis der Bundesregierung zu protestieren. Dafür wurde vom Angeklagten eine spezielle Software bereitgestellt, wodurch in hoher Geschwindigkeit wiederholt auf die Website der Lufthansa zugegriffen werden konnte. Die Aktion wurde beim Ordnungsamt der Stadt angemeldet, das jedoch erklärte, dass es sich nicht um ein anmeldungspflichtiges Versammlungsgeschehen handele. Während der Aktion kam es für 2 Stunden zu einem erheblich verzögerten Aufbau der Lufthansa-Seiten; in einigen Teilen des Internets war ein Zugriff auf sie sogar überhaupt nicht mehr möglich. Es erfolgten über 1 Million Zugriffe von mehr als 13.000 IPAdressen. Der Lufthansa entstand ein Schaden in Höhe von 40.000 E. Gegenüber der Verurteilung wegen des Aufrufs zu einer strafbaren Nötigung mit Gewalt berief sich der Angeklagte nicht nur auf den Bestimmtheitsgrundsatz, der die Qualifizierung des elektronischen Angriffs als Gewalt ausschließe, sondern auch auf die Versammlungsfreiheit. Während das Amtsgericht hinsichtlich der Bestimmtheit des Gewaltbegriffs im Hinblick auf die elektronische Attacke keine Schwierigkeiten sah,6 war es im Hinrecht, 2018, Kap. K Rn. 52 ff.; Sachs, in: Stern u. a. (Hrsg.), Staatsrecht IV/1, 2006, § 107, S. 1206 ff.; Michael/Morlok, Grundrechte, 2020, Rn. 272. 3 AG Frankfurt a. M. MMR 2005, 863. 4 OLG Frankfurt a. M. MMR 2006, 547. 5 Einen ersten Hinweis auf die Entscheidungen verdanke ich dem Jubilar. 6 AG Frankfurt a. M. MMR 2005, 863, 864.
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blick auf den verfassungsrechtlichen Versammlungsbegriff skrupulöser. Art. 8 GG biete keinen Anlass „für eine sich vom Wortlaut entfernende Auslegung, die die Grenzen zu Art. 5 GG verwischt“7, indem sie das vorliegende Geschehen in den Versammlungsbegriff einbezöge. Das Oberlandesgericht sah hingegen die Wortlautgrenze des Gewaltbegriffs mangels körperlicher Einwirkung für überschritten an.8 Es hob bereits aus diesem Grund die Verurteilung auf, da es an der Aufforderung zu einer Straftat fehlte. Mit der Frage der Versammlungseigenschaft musste es sich nicht auseinandersetzen.
II. International finden sich eine Reihe von Deklarationen für den gleichwertigen Schutz der Grundrechte im Internet. In diesem Kontext haben sich internationale Organisationen gerade auch für die Erstreckung der Versammlungsfreiheit auf das Internet ausgesprochen. In seinen Resolutionen 21/16 und 24/5 betont der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen die Bedeutung der neuen Kommunikationstechnologien für die Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit.9 Ebenso befürwortet der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für die Versammlungsund Vereinigungsfreiheit die Anerkennung der Versammlungsfreiheit im Internet.10 Gleichgerichtete Stellungnahmen finden sich sowohl von der OECD11 als auch von der UNESCO12. In seiner Erklärung zu den Menschenrechten und dem Rechtsstaat in der Informationsgesellschaft mahnt auch der Ministerrat des Europarats die Erstreckung der Versammlungsfreiheit auf das Internet an: „This freedom should be respected in a digital environment, such as the Internet, as well as in a non-digital one and should not be subject to restrictions other than those provided for in Article 11 of the ECHR, simply because assembly takes place in digital form. Member states should adapt their legal frame works to guarantee freedom of ICT-assisted assembly and take the steps necessary to ensure that monitoring and surveillance of assembly and association in a digital environment does not take place, and that any exceptions to this must comply with those provided for in Article 11, paragraph 2, of the ECHR.“13
7
AG Frankfurt a. M. MMR 2005, 863, 866. OLG Frankfurt a. M. MMR 2006, 547, 548. 9 UN-Menschenrechtsrat, A/HRC/RES/21/16, Ziff. 1; UN-Menschenrechtsrat, A/HRC/ RES/24/5, Ziff. 2. 10 UN-Menschenrechtsrat, A/HRC/20/27, Report of the Special Rapporteur on the rights to freedom of peaceful assembly and of association, Maina Kiai, Rn. 84k. 11 OECD, Communiqué on Principles for Internet Policy Making (28.–29. 06. 2011), S. 4. 12 UNESCO, 36 C/49, Code of Ethics for the Information Society proposed by the Intergovernmental Council of the Information for all Programme (IFAP), Annex Ziff. 7. 13 Europarat, Declaration of the Committee of Ministers on human rights and the rule of law in the Information Society, CM(2005)56, Kap. I, Ziff. 8 (Freedom of Assembly). 8
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Der Ministerrat mahnt damit nicht nur irgendeinen Schutz an, sondern dass virtuelle Versammlungen gerade auch der Versammlungsfreiheit der EMRK unterstellt werden. Grundrechtsdogmatisch ist die Frage nach der Bedeutung der Versammlungsfreiheit für die virtuelle Welt eine Frage ihres objektiven Schutzbereichs. In der grundrechtsdogmatischen Literatur finden sich bislang bereits einige Stellungnahmen zu dem Thema. Auffallend ist dabei, dass gelegentliche Äußerungen in Kommentaren oder Handbüchern häufig ablehnend sind,14 während eingehendere Bearbeitungen der Frage in Aufsätzen und Monografien eher zur Befürwortung tendieren.15 Insgesamt steht die Lehre der Anerkennung von elektronischen Protestformen als Versammlungen aber überwiegend ablehnend gegenüber.16 Für die Anwendbarkeit der Versammlungsfreiheit auf elektronische Kommunikationsformen ist entscheidend, welche Bedeutung einem Aspekt des traditionellen Versammlungsgeschehens zukommt, der in bisherigen Bestimmungen des Schutzbereichs der Versammlungsfreiheit kaum Berücksichtigung gefunden hat, weil er als selbstverständlich vorausgesetzt wurde. Entscheidend ist, ob die körperliche Präsenz der Teilnehmenden notwendige Voraussetzung für die Annahme einer Versammlung im Sinne von Art. 8 GG ist.17
III. Um die ursprüngliche Intention der Väter und Mütter des Grundgesetzes bezüglich der Erstreckung des objektiven Schutzbereichs der Versammlungsfreiheit auf virtuelle Versammlungen zu ermitteln, ist ein Blick in die Materialien des Grundgesetzes wenig hilfreich. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes kannten nicht einmal 14 Sachs, in: Stern u. a. (Hrsg.), Staatsrecht IV/1, 2006, § 107, S. 1198; Kloepfer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, 2009, § 164 Rn. 10; Hoffmann-Riem, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR IV, 2011, § 106 Rn. 13; Kunig, in: Münch/Kunig (Hrsg.), GG I, 2012, Art. 8 Rn. 13; Hong, Hdb. Versammlungsrecht Teil B, 2015, Rn. 17; Dürig-Friedl, Versammlungsrecht, 2016, Einl. Rn. 38; Blanke, in: Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, 2016, Art. 8 Rn. 19; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, 2013, Art. 8 Rn. 32; Jarass, in: Jarass/ Pieroth (Hrsg.), GG, 2018, Art. 8 Rn. 4; Kniesel/Poscher, in: Lisken/Denninger (Hrsg.), Hdb. Polizeirecht, 2018, Kap. K Rn. 58; Kniesel, in: Dietel u. a. (Hrsg.), VersG Teil I, 2019, Rn. 75 ff.; Coelln, in: Gröpl u. a. (Hrsg.), GG, 2020, Art. 8 Rn. 12. 15 Möhlen, MMR 2013, 221; Pötters/Werkmeister, JURA 2013, 9; Hoffmann u. a., Digitale Dimension der Grundrechte, S. 164 ff.; Krisor-Wietfeld, Rahmenbedingungen der Grundrechtsausübung, 2016, S. 185 ff., 194; Vogelsang, Kommunikationsformen des Internetzeitalters, 2017, S. 108 ff. 16 Vogelsang, Kommunikationsformen des Internetzeitalters, 2017, S. 110 f. 17 Dazu bereits Kingreen/Poscher, Grundrechte, 2019, Rn. 813; zum Zusammenhang von Körperlichkeit und Versammlungen auch Butler, Performative Theory of Assembly, 2015, S. 8 f., 18, 25, die allerdings die Körperlichkeit auch in virtuellen Räumen für gegeben erachtet, Butler, Performative Theory of Assembly, 2015, S. 11.
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Computer, geschweige denn elektronische virtuelle Realitäten. In ihrer auf das Analoge beschränkten Lebenswelt konnten sich Menschen nur versammeln, wenn sie auch körperlich anwesend waren. Wie das Beispiel der elektronischen Meinungsäußerung zeigt, schließt die Tatsache, dass die Verfassungsgeber ein Phänomen nicht kennen konnten, aber keineswegs aus, dass es von ihren Regelungsintentionen mit erfasst wird. So wie Meinungsäußerungen in elektronischen Netzwerken unter den Schutz von Art. 5 Abs. 1 GG fallen, könnten auch Kommunikationszusammenhänge in virtuellen Welten und Chaträumen als Versammlung im Sinn von Art. 8 Abs. 1 GG verstanden werden. Die Verfassungsbestimmungen waren, von denen, die sie verabschiedeten, auf die Gestaltung der Zukunft angelegt. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes beschränkten ihre Regelungsintention nicht auf solche Phänomene, die bereits zum Zeitpunkt des Entstehens des Grundgesetzes vorlagen oder erkennbar waren. Für die Versammlungsfreiheit kommt es nun vielmehr darauf an, ob das Merkmal der Körperlichkeit, dem zwar alle den Verfassungsgebern bekannten Versammlungsformen genügten, auch zu den Merkmalen gehört, von denen die Verfassungsgeber nicht abstrahieren wollten, sondern die sie für wesentlich erachteten.18 Der Wortlaut von Art. 8 GG ist in dieser Hinsicht nicht eindeutig. Zwar ist dort die Rede davon, dass das Recht, sich zu versammeln, nur besteht, soweit es friedlich und ohne Waffen wahrgenommen wird. Die Einschränkung trifft jedenfalls in Bezug auf Waffen nur auf Versammlungen körperlich präsenter Teilnehmer zu, da damit reale Waffen und nicht Waffenrepräsentationen gemeint sind, wie sie in virtuellen Spielewelten etwa häufig vorkommen. Jemand, der auf einer Versammlung ein Bild einer Waffe bei sich trägt, fällt nicht aus dem Schutzbereich von Art. 8 GG. Doch könnte dieser implizite Bezug auf die körperliche Präsenz im Wortlaut auch schlicht der Tatsache geschuldet sein, dass andere Versammlungsformen nicht bekannt waren und die Einschränkung eben nur für die damals bekannten, aber nicht für Formen von Versammlungen gelten sollte, in denen eine reale Bewaffnung ohnehin nicht möglich ist. Auch Art. 8 Abs. 2 GG liegt natürlich die Vorstellung zugrunde, dass Versammlungen unter freiem Himmel solche sind, bei denen die Teilnehmenden körperlich präsent sind. Versammlungen auf der virtuellen Wiese in einem Computerspiel sind keine Versammlung im Sinn von Art. 8 Abs. 2 GG. Doch auch Art. 8 Abs. 2 GG ließe sich als eine Ausnahme lediglich für Versammlungen lesen, bei denen die Teilnehmenden körperlich präsent sind. Auf andere fände er eben keine Anwendung. So ist zu Recht hervorgehoben worden, dass der Wortlaut von Art. 8 GG die Einbeziehung virtueller Versammlungen jedenfalls nicht zwingend ausschließt,19 auch wenn er mit seinen Einschränkungen selbstverständlich nur auf Versammlungen Bezug nimmt, bei denen die körperliche Präsenz gegeben ist. 18
Zur Bedeutung der Abstraktionsebenen bei der Ermittlung des Willens des Normgebers Dworkin, Taking Rights Seriously, 2013, S. 165 ff. 19 So i.E. zum Wortlaut auch Möhlen, MMR 2013, 227; Pötters/Werkmeister, JURA 2013, 9; Hoffmann u. a., Digitale Dimension der Grundrechte, S. 172; Krisor-Wietfeld, Rahmenbedingungen der Grundrechtsausübung, 2016, S. 185 ff.; Vogelsang, Kommunikationsformen des Internetzeitalters, 2017, S. 116 ff.
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Hinweise auf die Intentionen, die der Verfassungsgeber mit dem objektiven Schutzbereich der Versammlungsfreiheit verband, lassen sich aber aus dem historischen Hintergrund ermitteln, vor dem die Versammlungsfreiheit in das Grundgesetz aufgenommen wurde. Dies nicht in dem Sinn, dass virtuelle Versammlungen in dem damaligen Kontext keine Rolle gespielt haben, weil sie noch nicht einmal vorstellbar waren, sondern im Hinblick auf die spezifische Gefährdungslage, auf die mit der Versammlungsfreiheit und ihrer Aufnahme ins Grundgesetz reagiert wurde. Die Verbürgung von Grundrechten orientierte sich regelmäßig an bestimmten Unrechtserfahrungen, denen die Grundrechte entgegensteuern sollten.20 Im Fall von Versammlungen waren es im Wesentlichen zwei Faktoren, die einen besonderen Schutz der Versammlungsfreiheit erforderlich erscheinen ließen. Versammlungen können von der bloßen Meinungskundgabe schnell in andere Formen des Protestes und sogar in revolutionäre Aktionen umschlagen. Die deutsche Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts hielt für die Väter und Mütter des Grundgesetzes eine ganze Reihe historisch bedeutender Versammlungen als Anschauungsmaterial bereit. Die Demonstrationen in der Berliner Innenstadt am 9. November 1918 ermutigten Karl Liebknecht, die freie sozialistische Republik Deutschland auszurufen, und zwangen Philipp Scheidemann, ihm mit der Ausrufung der deutschen Republik zuvorzukommen. Aus den Demonstrationen gegen die Absetzung des sozialistischen Polizeipräsidenten Emil Eichhorn am 4. Januar 1919 wurde der Spartakusaufstand, der von Gustav Noske niedergeschlagen wurde und mehr als 1.000 Menschen das Leben kostete. Es sind historische Ereignisse wie diese, die den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates noch lebhaft vor Augen gestanden haben müssen. Gerade das aktionistische und sogar revolutionäre Potenzial von Versammlungen macht sie für die jeweils Herrschenden in anderer Weise gefährlich als bloße Meinungsäußerungen. Deshalb wurden und werden Versammlungen häufig einer Genehmigungspflicht unterworfen, deshalb werden sie häufig für rechtswidrig erklärt, verboten und aufgelöst. Unserer Tage legen die jüngsten Vorgänge in und Bilder aus Hongkong davon beredtes Zeugnis ab. Eben weil Versammlungen wegen ihres aktionistischen Protestpotenzials ein naheliegender Gegenstand staatlicher Repression sind, wurden sie unter besonderen verfassungsrechtlichen Schutz gestellt. Dieses realweltliche Potenzial haben sie aber nur, weil Menschen in der Versammlung mit ihren Körpern präsent sind und realweltliche Handlungspotenziale im Kollektiv haben, die ihnen durch die bloße Äußerung von Meinungen so nicht unmittelbar zur Verfügung stehen. Gleichzeitig sind die Teilnehmer einer Versammlung durch ihre körperliche Präsenz besonders vulnerabel. Sie sind dem Zugriff staatlicher Organe unmittelbar ausgesetzt. Sie riskieren nicht nur Identifikation und Registrierung, sondern auch, Opfer von unmittelbarem Zwang durch den Einsatz von Schlagstöcken, Wasserwerfern, 20 Vgl. Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 191; Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, 2009, S. 175 ff. m.w.N.; exemplarisch für die Informationsfreiheit auch Sieber/Nolde, Sperrverfügungen im Internet, 2008, S. 78.
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Tränengas, Gummigeschossen und auch scharfer Munition oder von Verhaftungen zu werden. Versammlungsteilnehmer treten gerade mit ihrem Körper für eine Sache ein und sind durch ihre körperliche Anwesenheit unmittelbar in ihrer Körperlichkeit dem staatlichen Zugriff ausgesetzt. Zwar kann der Staat auch Kritiker verfolgen, die sich in der Presse oder anderenorts geäußert haben, doch ist der Zugriff in solcherlei Fällen nicht so unmittelbar wie während einer Versammlung. Auch die spezifische Vulnerabilität, die den Staat zum besonderen Schutz der Versammlungsfreiheit spiegelbildlich zu ihrer besonderen Gefährlichkeit motiviert, hängt aber an der körperlichen Präsenz der Versammlungsteilnehmer. Historisch und genetisch spricht daher alles dafür, dass der besondere Schutz der Versammlungsfreiheit gerade auch durch die „Körperlichkeit“ der Versammlung motiviert war. Systematisch unterstrichen wird dieser Befund auch dadurch, dass die bloß kollektive Meinungsäußerung, wie sie sich gerade auch in der Presse und anderen Medien findet, unter dem Grundgesetz nicht durch Art. 8 GG, sondern durch besondere Teilrechte aus Art. 5 GG geschützt wird. Auch systematisch spricht alles für die genetische These, dass der Versammlungsbegriff in Art. 8 GG die körperliche Anwesenheit der Teilnehmer der Versammlung voraussetzt. Es könnte freilich mehr oder weniger gute Gründe dafür geben, sich über die Regelungsintentionen der Verfassungsgeber hinwegzusetzen.21 Doch solche Gründe kommen nur in Betracht, wenn es auch ein sachliches Bedürfnis gibt. Dass ein solches Bedürfnis existiert, ist jedenfalls behauptet worden. So wird die Auffassung vertreten, dass virtuelle Versammlungen dieselben Schutzbedürfnisse aufweisen wie realweltliche. Das kann man natürlich behaupten, doch die dafür angeführten Argumente und Beispiele überzeugen kaum. So sollen Aktionen im Netz etwa deshalb für genauso gefährlich und mit einem ähnlichen Eskalationsrisiko wie realweltliche Versammlungen versehen sein, weil sie in einem „Shitstorm münden können, der die Rechte Dritter verletzt“.22 An dem Beispiel ist bereits fraglich, ob es sich bei einem Shitstorm überhaupt um ein Phänomen handelt, das einem digitalen Versammlungsbegriff unterfallen würde. Es fehlt hier bereits der einheitliche digitale Raum, in dem die negativen bis als Schmähkritik einzustufenden Äußerungen platziert werden. Für einen Shitstorm ist vielmehr typisch, dass er sich auf unterschiedlichen Kanälen und in unterschiedlichen Foren im Internet verbreitet. Wesentlicher ist aber, dass die Verletzung der Rechte Dritter gerade nicht das besondere Gefährdungspotenzial von Versammlungen kennzeichnet. Rechte Dritter können selbstverständlich auch durch einzelne – etwa ehrverletzende – Meinungsäußerungen oder falsche Tatsachenbehauptungen beeinträchtigt werden. Entscheidend für den besonderen Schutz der Versammlungsfreiheit ist vielmehr, dass nicht beliebige Rechte Einzelner gefährdet werden können, sondern dass Versammlungen ein aktionistisches Potenzial haben, das sehr leicht über die bloße Kundgabe von Meinungen hinausgehen 21 Ein guter Grund wäre etwa die Rechtssicherheit bei einem klar von den Intentionen abweichenden Wortlaut, dazu Poscher, Droit & Philosophie 2018, 127, 132. 22 Kersten, JuS 2017, 198.
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und zu großflächigen sozialen Unruhen führen kann. Dieses spezifische Gefährdungspotenzial macht sie zu einem so naheliegenden Objekt staatlicher Repression, nicht die Tatsache, dass durch sie beliebige Rechte Einzelner gefährdet sein können. Ein solches Potenzial, das auch eine realweltliche Handlungsdimension erfordert, kommt virtuellen kollektiven Kommunikationen gerade nicht zu. Ebenso ist zwar richtig, dass Bürger im realen und virtuellen Raum politisch verwundbar sind.23 Doch kennzeichnet dies gerade nicht die Spezifität der Verwundbarkeit durch die Exposition des eigenen Körpers in der realweltlichen Versammlung. Nur dort hat der Staat unmittelbaren direkten Zugriff auf die Grundrechtsträger. Natürlich kann er IP-Adressen ermitteln und dann Verbote, Ordnungsverfügungen und auch Strafverfahren gegen Betroffene einleiten. Doch der virtuelle Raum gibt dem Staat gerade keinen unmittelbaren Zugriff auf den Grundrechtsträger, wie er den Sicherheitskräften gegenüber körperlich anwesenden Versammlungsteilnehmern bei Demonstrationen in der realen Welt zur Verfügung steht. Dies zeigt sich im Übrigen auch an der Art der Maßnahmen, die gegenüber virtuellen im Unterschied zu realen Versammlungen ergriffen werden. Art. 8 GG soll davor schützen, dass Versammlungen einer Genehmigungs- oder Anmeldepflicht unterstellt werden, dass sie im Vorfeld verboten oder vor Ort aufgelöst werden, dass es zu Eingriffen der Sicherheitskräfte in das Versammlungsgeschehen kommt. Von keiner dieser Maßnahmen ist bekannt, dass sie für virtuelle Versammlungen von Bedeutung sind. Weder sind – soweit bekannt – Genehmigungs- oder Anmeldepflichten für gemeinsame Kommunikationen in elektronischen Netzwerken vorgesehen, noch werden entsprechende Versammlungen verboten oder aufgelöst, noch beschränken Sicherheitskräfte das Versammlungsgeschehen virtuell „vor Ort“ durch eigene Avatare. Gegen virtuelle Versammlungen wird vielmehr in ganz anderer Weise vorgegangen. Im Wesentlichen wird dadurch gegen sie vorgegangen, dass die Internetzugänge zu entsprechenden Foren gesperrt werden. Zugangssperren zu öffentlich zugänglichen Kommunikationsforen im Internet betreffen aber, wie nicht zuletzt auch der Jubilar herausgearbeitet hat, die in Art. 5 Abs. 1 GG geschützte Informationsfreiheit,24 nicht aber Art. 8 GG. Jedenfalls nach der Systematik des Grundgesetzes ist auch diese spezifische Form der Freiheitsgefährdung nicht in Art. 8 GG verortet. Auch der Vorschlag, dass man den Begriff des ,Körpers‘ der Versammlungsteilnehmer durch den Begriff der ,Persönlichkeit‘ ersetzen solle,25 geht fehl. Für die Teilnahme an Versammlungen kommt es auf die Persönlichkeit gerade nicht an. Anders als in einem Zeitungsartikel, Kommentar, einem offenen Brief oder einer Unterschriftenaktion stehen Grundrechtsträger nicht mit ihrer durch den Namen repräsentierten Persönlichkeit, sondern mit ihrem Körper für eine Meinung ein. Auf die Persönlichkeit kommt es bei der Versammlungsteilnahme, anders als bei anderen Protestformen, gerade nicht an. Es zählen vielmehr die Körper der Anwesenden, nicht 23
Kersten, JuS 2017, 198. Sieber/Nolde, Sperrverfügungen im Internet, 2008, S. 77 f. 25 Kersten, JuS 2017, 198.
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ihre Persönlichkeiten. Das Aktionspotenzial der Versammlung richtet sich nicht nach den Persönlichkeiten der Erschienenen, sondern nach ihrer Anzahl. Der Einzelne bleibt in der Versammlung weitgehend anonym und tritt mit seiner Persönlichkeit nicht in Erscheinung. Wo die Anonymität – etwa durch moderne Gesichtserkennungsmethoden – nicht mehr gewährleistet ist, versuchen die Versammlungsteilnehmer, diese Anonymität durch das Tragen von Gesichtsmasken, durch Vermummungen oder auch Angriffe auf Kameras wiederherzustellen.26 Auch hier liefern die jüngsten Bilder aus Hong Kong reiches Anschauungsmaterial. Bei einem Blick auf die Rezeptionskultur zeigt sich dies daran, dass im Fall von Versammlungen in erster Linie über Zahlen, nicht über Persönlichkeiten berichtet wird. Keines der angeführten Argumente für eine Gleichstellung von kollektiven Kommunikationen in elektronischen Netzwerken und Versammlungen im Sinn von Art. 8 GG ist überzeugend. Die Position greift zwar oberflächlich das zeitgeistige Motiv der Verflüssigung der Grenzen zwischen digitalen und analogen Realitäten auf, übergeht damit aber die Spezifität des grundrechtlichen Schutzes. Es verwischt damit nicht nur den Unterschied zwischen den Phänomenen, sondern führt auch zu einer Verarmung unseres Verständnisses der Versammlungsfreiheit. All dies bietet keinen Anlass, sich über den Willen der Verfassungsgeber hinwegzusetzen. In Betracht käme allenfalls noch eine völkerrechtsfreundliche Auslegung von Art. 8 GG. Allerdings handelt es sich bei den genannten internationalen Anregungen zum Schutz virtueller Versammlungen lediglich um Resolutionen, die den Inhalt der zugrundeliegenden menschenrechtlichen Verträge nicht abändern.27 Es liegt auch keine entsprechende Rechtsprechung etwa des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vor, dessen Urteile verfassungsrechtlich zu berücksichtigen wären.28 Selbst wenn es entsprechende Urteile gäbe, hätte dies nur zur Folge, dass Deutschland einen ausreichenden Schutz von virtuellen Versammlungen zur Verfügung zu stellen hätte.29 Der Schutz müsste dann aber keineswegs durch eine Überdehnung von Art. 8 GG erfolgen. Ein solcher könnte – und nach der Systematik des Grundgesetzes auch treffender – durch die Meinungs- und Informationsfreiheit sowie bei entsprechender Fortentwicklung u. U. auch durch die Presse- oder Rundfunkfreiheit zur Verfügung gestellt werden. Beide Grundrechte schützen Kommunikationen und ihre technischen Voraussetzungen als solche, ohne dass es auf das versammlungskonstitutive Merkmal der Körperlichkeit ankäme. So stellen auch die Resolutionen den Mitgliedstaaten der entsprechenden Organisationen frei, wie das Anliegen des Schutzes virtueller Kommunikationen in ihrer
26 Dass dieser Aspekt in einem Artikel zu „Anonymität in der liberalen Demokratie“ übersehen wurde, ist nicht ohne Ironie. 27 Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, 2019, Art. 25 Rn. 34. 28 BVerfGE 111, 307 (329); 128, 326 (368). 29 BVerfGE 128, 326 (370).
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Rechtsordnung sinnvoll umgesetzt wird.30 Dies muss nicht durch eine oberflächliche Assimilation von realweltlichen und virtuellen Versammlungen geschehen, sondern kann durch Regelungen erfolgen, die auch der Spezifität der virtuellen Welten, der Chaträume und Massenaktionen im Internet gerecht werden. Dies könnten auch einfach-rechtliche Regelungen sein. Grundrechtlich sind Kommunikationen in digitalen Netzwerken ohnehin nicht schutzlos gestellt, sondern unterfallen alle dem Schutz der Rechte aus Art. 5 Abs. 1 GG. Bislang hat niemand zeigen können, dass das mehrdimensionale Schutzkonzept des Art. 5 GG für kollektive Kommunikationsformen in elektronischen Netzwerken nicht ausreichend ist.
30 UN-Menschenrechtsrat, A/HRC/RES/21/16, Ziff. 1; UN-Menschenrechtsrat, A/HRC/ RES/24/5, Ziff. 2.
Unterstützung von Terrororganisationen Von Bettina Weißer Ulrich Sieber hat die Entwicklung des Terrorismusstrafrechts mit Beiträgen aus einer breiten Perspektive begleitet: Weitsichtig werden künftige Entwicklungen vorweggenommen,1 zugleich wird das deutsche Recht nicht mit begrenzt nationalem Blick analysiert, sondern in seiner Einbettung durch internationalrechtliche Anforderungen.2 Dabei geht es ihm nicht um ausschließlich theoretische Erwägungen einer „reinen Lehre“. Den Anspruch, den Anforderungen der Praxis gerecht zu werden, löst er ein durch die Suche nach einem ausgewogenen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen einer verunsicherten Gesellschaft nach mehr (gefühlter) Sicherheit und den rechtsstaatlichen Grenzen des Terrorismusstrafrechts in einer liberalen Gesellschaft.3 Dieses Anliegen trägt auch die folgende Auseinandersetzung mit einer Problematik, die die deutsche Justiz in jüngerer Zeit zunehmend in Atem hält: Nach der Zurückdrängung des so genannten Islamischen Staats (im Folgenden „IS“) oder verwandter Gruppierungen aus seinen vormaligen territorialen Herrschaftsgebieten in Syrien und dem Irak kehren viele seiner Anhänger nach Deutschland zurück. Für sie stellt sich zunächst die Frage nach terroristischen Straftaten während des Auslandsaufenthalts. Schwierigkeiten hinsichtlich der präzisen Ermittlung des zu würdigenden Sachverhalts führen hier naturgemäß zu erheblichen Unsicherheiten über die zutreffende rechtliche Einordnung des Auslandsverhaltens dieser zurückgekehrten Personen. Außerdem hat sich der IS angesichts des Verlusts territorialer Gebietsherrschaft verstärkt auf eine asymmetrische Kampfführung in dem Sinne verlegt, dass seine in Europa aufhältigen Anhänger zur Unterstützung der Gesamtorganisation von ihren Aufenthaltsstaaten aus motiviert werden. Insoweit stellt sich die Frage, welche Verhaltensweisen bereits als terroristische Straftaten nach §§ 129a, 129b StGB im Kontext des IS als ausländische terroristische Vereinigung qualifiziert werden können. Für beide Problemfelder hat eine Bestimmung unverhoffte Praxisrelevanz erlangt, die bislang nicht im Zentrum der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Terrorismusstrafrecht stand: Es stellt sich die Frage, welche Verhaltensweisen als 1 Sieber, Rechtstheorie, 2010, 141 ff.; ders., in: Sieber/Tiedemann/Satzger/Burchard/Brodowski (Hrsg.), Die Verfassung moderner Strafrechtspflege, 2016, S. 351 (366 ff). 2 Sieber/Vogel, Terrorismusfinanzierung – Prävention im Spannungsfeld von internationalen Vorgaben und nationalem Tatstrafrecht, 2015, passim; Sieber, in: Wade/Maljevic´ (Hrsg.), A War on Terror?, 2010, S. 171 ff. 3 Sieber, in: Sieber/Tiedemann/Satzger/Burchard/Brodowski (Hrsg.), Die Verfassung moderner Strafrechtspflege, 2016, S. 351 (368 ff.); ders., NStZ 2009, 353 ff.
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strafbare Unterstützung einer (ausländischen) terroristischen Vereinigung i.S.d. §§ 129a Abs. 5, 129b StGB eingeordnet werden können. Die folgende Durchsicht der in den letzten Jahren sehr zahlreich ergangenen Entscheidungen in diesem Feld soll eine klarere tatbestandliche Konturierung der strafbaren Unterstützung von Terrororganisationen4 ermöglichen. Die Ausführungen unterstellen dabei die prinzipielle Einordnung „des IS“ oder anderer Zusammenschlüsse als ausländische terroristische Vereinigung(en),5 wie auch die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts auf die Auslandssachverhalte, was jeweils im Einzelnen festzustellen wäre.
I. Die Unterstützung von Terrororganisationen in der Justizpraxis In mittlerweile gefestigter Rechtsprechung definiert die Justizpraxis die strafbare Unterstützung terroristischer Organisationen gem. § 129a Abs. 5 S. 1 StGB als „… jedes Tätigwerden eines Nichtmitglieds, das die innere Organisation der Vereinigung und ihren Zusammenhalt unmittelbar fördert, die Realisierung der von ihr geplanten Straftaten erleichtert oder sich sonst auf deren Aktionsmöglichkeiten und Zwecksetzung in irgendeiner Weise positiv auswirkt und damit die ihr eigene Gefährlichkeit festigt.“6
Der tatbestandlichen Beschränkung strafbarer Unterstützung auf Nichtmitglieder von Terrororganisationen halten Stein/Greco entgegen, § 129a Abs. 5 StGB müsse auch für Mitglieder von Terrororganisationen zur Anwendung kommen, da anderenfalls Straflücken drohten, wenn Aktivitäten von Vereinigungsmitgliedern nicht die Anforderungen einer mitgliedschaftlichen Betätigung erfüllten.7 Da aber Unterstützungshandlungen gerade durch ihre Förderungswirkung für die Organisation charakterisiert sind, ist ein solcher Fall faktisch kaum vorstellbar: Wenn ein Vereinigungsmitglied eine organisationsfördernde Leistung erbringt, liegt darin zugleich die Betätigung seiner Mitgliedschaft nach § 129a Abs. 1 – 3 StGB. „Strafbarkeitslücken“ sind insoweit nicht zu befürchten. § 129a Abs. 5 StGB bezieht sich daher richtigerweise ausschließlich auf Unterstützungshandlungen von Nichtmitgliedern.8
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Pessimistisch insoweit Paul, GSZ 2018, 201 (202), der eine „definitorische Erfassung … angesichts der Vielschichtigkeit der Lebensverhältnisse (für) kaum möglich“ hält. 5 BGH NJW 2019, 2252 (2253), Rn. 9 ff. 6 BGHSt 63, 127 (131); BGHSt 54, 69 (117); BGH NStZ 2018, 598; BGH Beschl. v. 26. 6. 2019 – AK 32/19, LS 1 und Rn. 19; Beschl. v. 9. 5. 2019 – AK 21/19, Rn. 23; Beschl. v. 13. 12. 2018 – AK 45/18; Beschl. v. 28. 6. 2018 – AK 26, 27/18, Rn. 32; BGH NStZ-RR 2018, 72 (73); BGH Beschl. v. 12. 10. 2017 – AK 53/17; BGH NStZ-RR 2017, 347 (348); BGH NStZ 2016, 528; so auch SSW-StGB-Lohse, 4. Aufl. 2019, § 129 Rn. 44. 7 SK-StGB-Stein/Greco, Bd. III/9, 2019, § 129 Rn. 46. 8 BGHSt 51, 345 (348); BGHSt 32, 243 (244); BGH Beschl. v. 28. 6. 2018, StB 11/18 Rn. 18; BGH NStZ-RR 2018, 206 (207); so auch die h. A. in der Literatur Lackner/KühlHeger, 29. Aufl. 2018, § 129 Rn. 6; LK-Krauß, Bd. V/12, 2009, § 129 Rn. 132; Paul, GSZ
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II. Tatbezogene vs. organisationsbezogene Unterstützung Inhaltlich unterscheidet die aktuelle Judikatur zwei Erscheinungsformen der strafbaren Unterstützung nach § 129a Abs. 5 S. 1 StGB. Sie kann entweder einer konkreten (terrorismusbezogenen) Straftatverwirklichung durch ein Vereinigungsmitglied gelten. Alternativ kann Adressat der Unterstützungsleistung auch die Organisation als solche sein.9 Eine diesen Grundsätzen folgende Kategorisierung unterscheidet tatbezogene (hierzu III.1.) und organisationsbezogene (hierzu III.2.) Unterstützung. Tatbezogene Unterstützungsbeiträge entsprechen dem klassischen Bild der Beihilfe: Werden vereinigungsbezogene Ausführungshandlungen von Organisationsmitgliedern durch Nichtmitglieder gefördert, so liegt darin konstruktiv eine Beihilfe zur mitgliedschaftlichen Betätigungshandlung durch den außenstehenden Unterstützer. Verschafft also ein Nichtmitglied einem Vereinigungsmitglied eine Waffe zur Verwirklichung einer Gewalttat, so handelt es sich um eine tatbezogene Unterstützungshandlung zugunsten des Intraneus. § 129a Abs. 5 S. 1 StGB ist insoweit im Einklang mit der Judikatur als eigenständig täterschaftlich vertypte Beihilfe zur mitgliedschaftlichen Betätigung des Intraneus zu interpretieren.10 Abgesehen davon können organisationsbezogene Unterstützungshandlungen zugunsten der Vereinigung als solcher geleistet werden, „ohne dass im konkreten Fall die Aktivität des Nichtmitglieds zu einer einzelnen organisationsbezogenen Tätigkeit eines Organisationsmitglieds hilfreich beitragen muss“.11 Der konstruktive Unterschied der organisationsbezogenen zur tatbezogenen Unterstützung liegt also darin, dass die Förderungswirkung auf die Organisation insgesamt bezogen wird. Der (Haupt-)Tatbezug der klassischen Beihilfe wird ersetzt durch den Organisationsbezug der Unterstützung. Eine solche strafbare Unterstützung kann etwa dann vorliegen, wenn ein Nichtmitglied der Vereinigung Informationen oder sonstiges Knowhow zukommen lässt, das generell zur Planung von Anschlägen oder Durchführung von Reisen genutzt werden kann, an sich aber noch keinen konkreten Tatbezug zu vereinigungsbezogenen Ausführungshandlungen i.S.d. §§ 129a Abs. 1 – 3 StGB aufweist. Weil § 129a Abs. 5 S. 1 StGB ausdrücklich die Unterstüt2018, 201, 202; MüKo-StGB-Schäfer, Bd. III/3, 2017, § 129 Rn. 107; Weißer, RW 2019, 453, 459 ff. 9 Vgl. zu diesen beiden Erscheinungsformen BGHSt 58, 318, Rn. 19; BGHSt 54, 69 (117 f.); BGHSt 51, 345 (348 f.); BGH Beschl. v. 19. 10. 2017 – AK 56/17 Rn. 18 ff.; BGH StV 2018, 107 (108) Rn. 6. 10 BGH Beschl. v. 9. 5. 2019 – AK 21/19, Rn. 23; BGH NStZ-RR 2018, 72 (73); BGH StV 2018, 107 (108) Rn. 6; BGH Beschl. 19. 10. 2017 – AK 56/17; BGH NStZ-RR 2017, 347 (348); BGHSt 20, 89; 29, 99 (101); BGH StV 2018, 107 (108) Rn. 6. Ebenso Fischer StGB, 67. Aufl. 2020, § 129 Rn. 39; LK-Krauß, § 129 Rn. 132; NK-Ostendorf, 5. Aufl. 2017, § 129 Rn. 20; SSW-StGB-Lohse, § 129 Rn. 44; Weißer, ZStW 121 (2009) 131 (140); Zöller, Terrorismusstrafrecht, 2009, S. 532. 11 BGHSt 58, 318, Rn. 19; BGHSt 54, 69 (117 f.); BGHSt 51, 345 (348 f.); BGH StV 2018, 107; BGH Beschl. v. 19. 10. 2017 – AK 56/17.
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zung „der Vereinigung“ kriminalisiert, könnte man sogar bezweifeln, dass § 129a Abs. 5 StGB die tatbezogene Unterstützung daneben erfasst und stattdessen vermuten, die Vorschrift sei allein der organisationsbezogenen Unterstützung vorbehalten.12 Tatbezogene Unterstützungshandlungen wären dann nach §§ 129a Abs. 1 – 3, 27 StGB zu bestrafen. Man könnte das damit begründen, dass die organisationsbezogene Unterstützung ohne ihre selbstständige Vertatbestandlichung in § 129a Abs. 5 S. 1 StGB mangels konkreten Haupttatbezugs nicht strafbar wäre. Folge der damit verbundenen Rückführung der tatbezogenen Unterstützung in den Anwendungsbereich der allgemeinen Beihilfestrafbarkeit nach § 27 StGB wäre, dass insoweit die Strafmilderung nach § 27 Abs. 2 S. 2 StGB zur Anwendung käme. Allerdings stehen einer solchen Interpretation gewichtige Argumente entgegen: Das prinzipielle Ziel der Organisationsstraftat des § 129a StGB besteht darin, die Aktivitäten terroristischer Organisationen als solche zu kriminalisieren, um die Verwirklichung terroristischer Katalogtaten bereits in deren Vorfeld zu vereiteln.13 Diesem Ziel dient auch die selbstständige Vertatbestandlichung der Unterstützung in § 129a Abs. 5 StGB: Unterstützungshandlungen zugunsten terroristischer (oder sonstiger krimineller, § 129 StGB) Organisationen werden auch dann kriminalisiert, wenn sie (noch) nicht in Zusammenhang mit einer konkreten (Katalog-)Tat stehen. Mit dieser selbstständigen Vertatbestandlichung der Unterstützung ist einerseits die Strafbarkeitsausdehnung in das Vorfeld von Terroranschlägen verbunden, andererseits eine Strafschärfung im Vergleich zur klassischen Beihilfe, denn durch die täterschaftliche Fassung der Unterstützung entfällt die anderenfalls zu beachtende Strafmilderung nach § 27 Abs. 2 S. 2 StGB. Der Zweck einer Vorfeldkriminalisierung zur Verhinderung von Schlimmerem betrifft aber nicht nur organisationsbezogene, sondern erst recht auch einzeltatbezogene Unterstützungshandlungen, sodass es nicht überzeugen würde, gerade die – schon weiter in Richtung Katalogtatverwirklichung gediehene und daher gefährlichere – einzeltatbezogene Unterstützung aus dem Anwendungsbereich des § 129a Abs. 5 StGB auszuklammern. Abgesehen davon werden sich tatbezogene und organisationsbezogene Unterstützung nicht immer klar auseinanderhalten lassen. Verlangt man für eine organisationsbezogene Unterstützung eine Erhöhung oder „Festigung“ des der Organisation eigenen Gefährdungspotenzials, so wird man das auch für tatbezogene Unterstützungsbeiträge regelmäßig annehmen müssen: Durch eine Beihilfe zur mitgliedschaftlichen Betätigungshandlung wird gleichzeitig die Schlagkraft der Vereinigung insgesamt gesteigert. Man kann deshalb grundsätzlich annehmen, dass die Steigerung der Effizienz einer mitgliedschaftlichen Betätigung durch Außenstehende geradezu notwendigerweise zugleich das Gefährdungspotenzial der Vereinigung insgesamt erhöht. Die tatbezogene Unterstützung „festigt“ also regelmäßig auch die Gefährlich12 In diesem Sinne Werndl/Lickleder, ZIS 2014, 644 (648 ff.); einschränkend wohl auch AnwK-StGB-Gazeas, 3. Aufl. 2020, § 129 Rn. 36; Schönke/Schröder-Sternberg-Lieben/ Schittenhelm, 30. Aufl. 2019, § 129 Rn. 15. 13 Heinrich, ZStW 121 (2009), 94 (96, 116); MüKo-StGB-Schäfer, § 129a Rn. 1; Weißer, ZStW 121 (2009) 131 (132); Zöller, Terrorismusstrafrecht, S. 503.
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keit der Organisation. Anders ist das nur dann, wenn die tatbezogene Unterstützung keinerlei positiven Effekt für das Ausführungsverhalten des Intraneus entfaltet. Dann fehlt es aber auch an der organisationsbezogenen Unterstützungswirkung, und das Verhalten bleibt deshalb straflos. Versuchte Unterstützung ist mangels Verbrechensqualität des § 129a Abs. 5 StGB (jedenfalls bislang14) ebenso straflos wie generell die versuchte Beihilfe. Wenn demnach eine objektive Trennung zwischen organisationsbezogener und tatbezogener Unterstützung nicht möglich ist, kommt allenfalls eine Unterscheidung nach der subjektiven Tatseite des Unterstützers in Betracht: Kommt es ihm/ihr auf die Förderung einer individuellen Tatverwirklichung an, oder geht es um eine auf die Organisation insgesamt abzielende Unterstützung? Doch auch insoweit wird man sagen müssen, dass die subjektive Zielsetzung einer Unterstützungsleistung an ihrer objektiven Qualität nichts ändert – auch wenn es dem Unterstützer „nur“ um eine Förderung einer spezifischen Haupttat geht, trägt er dadurch zugleich zur Effizienzsteigerung der Vereinigung insgesamt bei. Für eine vorsätzliche Unterstützung ist dabei nach den allgemeinen Regeln ausreichend, dass der Täter die Förderungswirkung auch zugunsten der Organisation erkennt und dennoch handelt. Die subjektive Zielsetzung des Unterstützenden entweder auf eine bestimmte mitgliedschaftliche Betätigung (dann §§ 129a Abs. 1 – 3, 27 StGB) oder auf die Vereinigung insgesamt (dann § 129a Abs. 5 S. 1 StGB) bietet damit auch kein taugliches Unterscheidungskriterium. Insgesamt ist damit die konzeptionelle Unterscheidung zwischen tatbezogener und vereinigungsbezogener Unterstützung ebenso zutreffend wie die Annahme, dass beide Konstellationen unter § 129a Abs. 5 S. 1 StGB fallen. In der Konsequenz ist davon auszugehen, dass eine Strafbarkeit nach § 129a Abs. 5 StGB die klassische Beihilfestrafbarkeit nach §§ 129a Abs. 1, 27 StGB als speziellere Norm verdrängt. Besteht die mitgliedschaftliche Betätigung, auf die sich die tatbezogene Unterstützung bezieht, in der Verwirklichung einer der vereinigungsspezifischen Katalogtaten (oder der Mitwirkung des Vereinigungsmitglieds hieran), so kommt hinsichtlich der Teilnahme an der Katalogtat eine tateinheitliche Beihilfestrafbarkeit nach allgemeinen Regeln durchaus in Betracht. Das ist deshalb logisch, weil die Unterstützung des Organisationsdelikts eine andere Angriffsrichtung hat als die Verwirklichung der Katalogtat. Infolgedessen muss die vorsätzliche Beihilfe zu Letzterer auch klarstellend im Schuldspruch mit abgebildet werden.
14 Verschiedentlich wird die Einführung einer Versuchsstrafbarkeit gefordert, vgl. Biehl, JR 2018, 317; Pressemitteilung des Richterbunds vom 6. Januar 2020, abrufbar unter www.sued deutsche.de/panorama/terrorismus-richterbund-fuer-haertere-strafen-bei-terrorunterstuetzungdpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-200106-99-361352 (letzter Abruf 14. 9. 2020); im Hinblick auf Kriminalisierungsanforderungen der Financial Action Task Force auch Sieber/Vogel, Terrorismusfinanzierung, S. 116.
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III. Tatbestandliche Voraussetzungen tauglicher Unterstützungsleistungen 1. Tatbezogene Unterstützung Die Auslegung der tatbestandlichen Voraussetzungen einer tatbezogenen Unterstützung kann der allgemeinen Beihilfedogmatik entnommen werden, denn es handelt sich hier um eine eigenständig vertypte Beihilfe.15 Sie umschreibt die vorsätzliche tatsächliche Förderung einer fremden Haupttat, die zugleich einen eigenen mittelbaren Rechtsgutsangriff des Gehilfen verkörpert.16 Wie bei jeder strafrechtlichen Haftungsbegründung für den Eintritt rechtlich missbilligter Verletzungserfolge sind auch für eine Verantwortlichkeit des Gehilfen Kausalität und Zurechenbarkeit des Verletzungserfolges Voraussetzung. Da der Gehilfe aber lediglich an fremder Haupttatverwirklichung teilnimmt und sein eigener Rechtsgutsangriff deshalb auch ein mittelbarer ist, kann Kausalität des Gehilfenbeitrags nicht im Sinne einer conditio sine qua non-Verbindung zur eingetretenen Rechtsgutsverletzung verstanden werden.17 Stattdessen muss es ausreichen, wenn der Gehilfenbeitrag die Verwirklichung der Haupttat erleichtert oder abgesichert hat – er also im „Erfolg“ der Haupttat mit wirksam geworden ist.18 Die Zurechenbarkeit des Verletzungserfolgs kann ferner nicht voraussetzen, dass das verwirklichte Risiko durch den Gehilfenbeitrag gesetzt wurde. Zu fordern ist aber, dass das durch den Haupttäter gesetzte, rechtlich missbilligte Risiko durch den Gehilfenbeitrag gesteigert wurde, indem die Erfolgsaussichten der Haupttatverwirklichung verbessert wurden.19 An diesen Grundlinien der Beihilfestrafbarkeit muss sich prinzipiell die tatbestandliche Einordnung der tatbezogenen Unterstützung i.S.d. § 129a Abs. 5 S. 1 StGB orientieren. In diesem Bereich erweist sich insbesondere die Würdigung des Auslandsverhaltens nach Deutschland zurückgekehrter weiblicher IS-Sympathisantinnen als besonders schwierig. Weil die Einzelheiten ihres Auslandsverhaltens regelmäßig schwer nachzuvollziehen sind, stellt sich die Frage, ob bereits die Haushaltsführung und Kinderbetreuung im Zusammenleben mit einem IS-Kämpfer im „Kalifat“ eine straf15
Vgl. die Nachweise in Fußnote 10. Hierzu LK-Schünemann, Vor §§ 26, 27 Rn. 7, 17; Roxin, AT II, § 26 Rn. 8, 11; SKStGB-Hoyer, Vor §§ 26 – 31 Rn. 21; sowie Schönke/Schröder-Heine/Weißer, § 27 Rn. 6, 8 m.w.N. 17 Jescheck/Weigend, § 64 III 2c; LK-Schünemann, § 27 Rn. 3; Roxin, FS Miyazawa, 1995, S. 501; ders., AT II, § 26 Rn. 184; SK-StGB-Hoyer, § 27 Rn. 23; Weigend, FS Nishihara, 1998, S. 197 (206). 18 Jescheck/Weigend, § 64 III 2c; LK-Schünemann, § 27 Rn. 5; Roxin, Miyazawa-FS, 1995, S. 501 (502); SK-StGB-Hoyer, § 27 Rn. 8 ff.; Weigend, Nishihara-FS, 1998, S. 197 (207); a. A. Puppe, GA 2013, 514 (533), nach der keine Kausalität, sondern die „Nützlichkeit“ der Beihilfe für die Haupttat zu fordern sei; kritisch auch Heghmanns, GA 2000, 473 (476 f.). 19 Ambos, JA 2000, 721; Amelung, Grünwald-FS, 1999, S. 9 (21); Jescheck/Weigend, § 64 III 2c; Lackner/Kühl-Kühl, § 27 Rn. 2a; LK-Schünemann, § 27 Rn. 5 f.; Maurach/Gössel/ Zipf-Renzikowski, AT 2, § 52 Rn. 18; Roxin, Miyazawa-FS, 1995, S. 501 (510); ders., Stree/ Wessels-FS, 1993, S. 365 (378); SK-StGB-Hoyer, § 27 Rn. 23. 16
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bare Unterstützung (oder gar mitgliedschaftliche Betätigung) begründet.20 Die „Versorgung“ des kämpfenden Partners21 müsste dann als dauernde Förderung seiner mitgliedschaftlichen Betätigungsakte i.S.d. § 129a Abs. 5 S. 1 StGB interpretiert werden. Das bedeutet allerdings, dass man etwa das Streichen des morgendlichen Butterbrots, das Putzen der Wohnung, Besorgen der Lebensmitteleinkäufe etc. als Beitrag einordnen müsste, der im Ausführungsverhalten des Haupttäters fördernde Wirkung entfaltet. Insoweit gelten die im Zusammenhang mit Konstellationen „neutraler“ Beihilfe weitgehend konsentierten Grundsätze, dass strafbare Beihilfe jedenfalls eine rechtlich missbilligte Risikosteigerung im Hinblick auf die Haupttatverwirklichung bewirken muss.22 Die tatbezogene Unterstützungshandlung müsste aus einer ex ante-Perspektive betrachtet die Erfolgsaussichten der Haupttatverwirklichung durch das Vereinigungsmitglied verbessern. Das setzt zumindest eine gewisse qualitative Abstimmung des fördernden Beitrags auf die Haupttat voraus.23 Bei „klassischen Haushaltstätigkeiten“ liegt das fern – ihnen fehlt es an einer inhaltlichen Abstimmung auf vereinigungsspezifische Haupttaten. Deshalb sind sie grundsätzlich auch nicht geeignet, durch sie begründete Risiken für geschützte Rechtsgüter zu erhöhen. Verschiedentlich findet sich aber in der allgemeinen beteiligungsdogmatischen Literatur die Überlegung, Leistungen der Daseinsvorsorge könnten taugliche Beihilfehandlungen darstellen, wenn sie den Täter von eigenen Vorsorgemaßnahmen entlasteten und damit gewissermaßen seine deliktsbezogene Einsatzfähigkeit absicherten oder herstellten.24 Eine ähnliche Erwägung findet sich auch in einer neueren BGH-Entscheidung, die für ein weibliches Vereinigungsmitglied des IS mitgliedschaftliche Betätigungsakte in der Verrichtung von Haushaltstätigkeiten sah, weil hierdurch die „Kampfbereitschaft“ des versorgten Ehemanns aufrechterhalten werde.25 Überträgt man diesen Ansatz auf Ehefrauen, die nicht Mitglieder des IS sind, wäre im Umsorgen des Kämpfers eine Unterstützung i.S.d. § 129a Abs. 5 S. 1 StGB zu sehen. Für eine tatbezogene Unterstützung fehlt es aber ersichtlich an einem hinreichenden Bezug zu Ausführungshandlungen des Ehemannes. Die Daseinsvorsorge kann deshalb allenfalls als personenbezogene – allgemeine – Unterstützung des Mannes angesehen werden. Das aber ist jedenfalls in dieser Konstellation nicht tatbestandsbegründend, weil Beihilfe tatbezogen und nicht täterbezogen geleistet wird. Eine täterbezogene Interpretation der Beihilfe liefe auf ein Gebot 20
BGH NJW 2019, 2552 (2555), Rn. 27; BGH NStZ-RR 2018, 206. Teilweise finden „Eheschließungen“ auch aus der Ferne, etwa über Skype statt (hierzu BGH NJW 2019, 2552, Rn. 13; Gundelach, HRRS 2019, 399 [400]). Insoweit ist die im Folgenden verwendete Bezeichnung als „Ehemann“ in einem untechnischen Sinne zu verstehen. 22 Lackner/Kühl-Kühl, § 27 Rn. 2a; LK-Schünemann, § 27 Rn. 6; Weigend, Nishihara-FS, 1998, S. 197 (207). 23 Schönke/Schröder-Heine/Weißer, § 27 Rn. 13; ähnlich Maurach/Gössel/Zipf-Renzikowski, AT 2, § 52 Rn. 43. 24 Vgl. Amelung, Grünwald-FS, 1999, S. 9 (21); Maurach/Gössel/Zipf-Renzikowski, AT 2, § 52 Rn. 43. 25 BGH NJW 2019, 2552 (2555), Rn. 27. 21
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des § 27 StGB hinaus, den Ausführungstäter persönlich zu isolieren, indem ihm jegliche Leistung versagt wird – ganz gleich, ob sie einen Zusammenhang zur fraglichen Haupttat aufweist oder nicht. Das Verbot der Beihilfe dient aber nicht der Isolation des Täters als Person,26 sondern verbietet allein die Unterstützung seiner deliktsbezogenen Ausführungshandlung. Übertragen auf die tatbezogene Unterstützung nach § 129a Abs. 5 S. 1 StGB bedeutet das, dass die Daseinsvorsorge für sich betrachtet jedenfalls nicht als Unterstützung terroristischer Betätigungsakte angesehen werden kann.27 Schwierig wird die Abgrenzung zur tauglichen tatbezogenen Unterstützung allerdings dann, wenn die Haushaltstätigkeit einen funktionalen Konnex zur vereinigungsbezogenen Tätigkeit des Mitglieds aufweist – etwa, wenn die Gefährtin die „Arbeitskleidung“ oder die Waffen des Kämpfers sauber hält.28 Auch insoweit wird man aber sagen müssen, dass eine tatbezogene Unterstützung erst dann gegeben sein kann, wenn die Unterstützungshandlung qualitativ die Gefährdungswirkung des mitgliedschaftlichen Ausführungsverhaltens gesteigert bzw. zumindest ex ante das Potenzial hierzu aufgewiesen hat. Das wird man beim Putzen der Stiefel kaum annehmen können.29 Wenn aber etwa das Reinigen von Schusswaffen deren Einsatzfähigkeit und damit die Schlagkraft des Ausführungstäters sicherstellt, dreht sich das Blatt. Insoweit wird man – in den Worten von Frisch30 und Roxin31 – durchaus einen deliktischen Sinnbezug bzw. eine Abstimmung des Verhaltens auf die Haupttatverwirklichung annehmen können. Dann wird sich zusätzlich die Frage nach der subjektiven Tatseite stellen. Der Gehilfenvorsatz setzt die Kenntnis der Haupttat in ihren wesentlichen Umrissen32 sowie den Willen zur Förderung der Haupttatverwirk-
26 In diese Richtung tendieren Ansichten, die das Unrecht der Beihilfe in der Solidarisierung mit dem Täter sehen, vgl. Fahl, NStZ 2020, 28 (29); sowie Heghmanns, GA 2000, 473 (478), der auf die „Durchbrechung der Isolierung des Täters“ als Unwert der Beihilfe abstellt. Dass dies nicht ausreicht, haben Roxin, Miyazawa-FS, 1995, S. 501 (506), und Weigend, Nishihara-FS, 1998, S. 201 (209), dargelegt. 27 In diesem Sinne auch BGH NStZ-RR 2018, 206; zustimmend insoweit Paul, GSZ 2018, 201 (202); Weißer, ZJS 2019, 148 (153 f.); dies., RW 2019, 453 (459); allgemein AnwKStGB-Gazeas, § 129 Rn. 38; Matt/Renzikowski-StGB-Kuhli, 2. Aufl. 2020, § 129 Rn. 25, § 129a Rn. 32; MüKo-StGB-Schäfer, § 129 Rn. 21; NK-Ostendorf, § 129 Rn. 22; Schönke/ Schröder-Sternberg-Lieben/Schittenhelm, § 129 Rn. 15; SK-StGB-Stein/Greco, § 129 Rn. 48. 28 Hierzu Paul, GSZ 2018, 201 (202). 29 Dasselbe gilt für die Überlassung von Gebrauchsgegenständen des täglichen Lebens, vgl. hierzu BGH NStZ-RR 2018, 72 (74); sowie Weißer, RW 2019, 453 (460). 30 Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, 280 ff. (284); ders., Fischer-FS, 2018, S. 315 (328, 331) bzgl. § 89a StGB. 31 Roxin, Miyazawa-FS, 1995, S. 501 (513 ff.); ders., AT II, § 26 Rn. 221; ders., Stree/ Wessels-FS, 1993, S. 365 (378 f.). 32 BGHSt 42, 136; BGHSt 11, 66 (67); Fischer StGB § 27 Rn. 22; MK-Schäfer, § 27 Rn. 96.
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lichung voraus.33 Beides müsste für die tatbezogene Unterstützung mit konkretem Bezug zur jeweiligen Ausführungshandlung nachgewiesen werden. Schließlich könnte man noch in Erwägung ziehen, die „Versorgung“ des kämpfenden Ehemannes als psychische Beihilfe zu allen in Verfolgung des Vereinigungszwecks verwirklichten Einzeltaten zu interpretieren. Man müsste dann in der Ausfüllung des Rollenbildes des IS von der sorgenden Ehefrau eine stetige Bestärkung des jeweils tatbezogenen Tatentschlusses des Kämpfers sehen, seinem „terroristischen Tagwerk“ nachzugehen. Das einer solchen Konzeption implizite, antiquierte Rollenverständnis der Frau mag zwar durchaus dem des IS entsprechen – es kann aber für sich allein nicht zur Begründung strafrechtlicher Verantwortlichkeit herangezogen werden. Für eine psychische Beihilfe reicht eine bloße Solidarisierung mit dem Ausführungstäter ohne spezifischen Effekt für dessen Haupttatverwirklichung nicht aus. Stattdessen muss nachgewiesen werden, dass das Bestärken des Tatentschlusses vom Adressaten auch tatsächlich als solches empfunden wurde und seine Tatentschlossenheit – positiv – beeinflusst hat.34 Diesen Zusammenhang im jeweiligen Einzelfall zu belegen, dürfte sich regelmäßig als nahezu ausgeschlossen erweisen. Dann aber bleibt es bei dem Grundsatz, dass physische Handlungen, deren Tauglichkeit als Beihilfebeiträge nicht nachweisbar ist, nicht kurzerhand in psychische Unterstützungsbeiträge umgedeutet werden dürfen, um ihre Tatbestandsmäßigkeit zu begründen.35 Noch nicht beantwortet ist damit die Frage, inwieweit das fragliche Verhalten als organisationsbezogene Unterstützung eingeordnet werden kann (hierzu III.2.a)). 2. Organisationsbezogene Unterstützung Die organisationsbezogene Unterstützung weist keinen Konnex zu einer bestimmten Straftat auf, sondern ihr tatbestandlicher Unwert liegt in einer Steigerung des Gefährdungspotenzials der Vereinigung insgesamt. Weil dieses Gefährdungspotenzial aber nicht zwingend im Zusammenhang mit der Verwirklichungswahrscheinlichkeit konkreter Straftaten steht, ist die notwendige Qualität organisationsbezogener Unterstützungsbeiträge nicht leicht zu bestimmen. Der BGH konstatiert, die Unterstützungsleistung müsse „nicht zu einem … Erfolg führen“, sondern es reiche aus, wenn das Verhalten des Unterstützers „für die Organisation objektiv nützlich ist, ohne dass der Nutzen messbar sein muss“.36 Erforderlich sei aber, „dass das Nicht33
BGHSt 3, 65; LK-Schünemann, § 27 Rn. 55; Maurach/Gössel/Zipf-Renzikowski, AT 2, § 52 Rn. 25. 34 BGH NStZ-RR 2018, 40; BGH NStZ 2012, 316 f.; Maurach/Gössel/Zipf-Renzikowski, AT 2, § 52 Rn. 10; MüKo-Joecks, § 27 Rn. 9 ff., 42 f.; Roxin, Miyazawa-FS, 501 (506); Schönke/Schröder-Heine/Weißer, § 27 Rn. 15; SK-StGB-Hoyer, § 27 Rn. 14; Weigend, Nishihara-FS, 1998, S. 201 (209). 35 Roxin, Miyazawa-FS, 501 (506). 36 BGHSt 32, 243 (244); BGH NStZ-RR 2017, 347 (349); BGH Beschl. v. 19. 10. 2017 – AK 56/17.
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mitglied eine konkret wirksame Unterstützungsleistung für die Vereinigung erbringt, die einen objektiven Nutzen entfaltet“.37 Die Dialektik dieser Definition erschließt sich nur schwer: Ein objektiver Nutzen für die Vereinigung muss zwar begründet werden, messbar muss er aber nicht sein. Sieht man die Definition allerdings vor dem Hintergrund der Deliktsstruktur von § 129a StGB, so verwundert die schillernde Beschreibung wenig: § 129a StGB ist eben kein konkretes, sondern ein abstraktes Gefährdungsdelikt.38 Deshalb ist es folgerichtig, dass eine aktuelle Gefahrsteigerung nicht nachgewiesen werden muss, sondern bereits ein gesteigertes Gefährdungspotenzial der terroristischen Organisation ausreicht. Das ist gemeint, wenn der BGH die „Festigung der ihr eigenen Gefährlichkeit“ (der Organisation) als Effekt einer tatbestandsmäßigen Unterstützungshandlung beschreibt. Ein solchermaßen erhöhtes Gefährdungspotenzial kann bereits dann vorliegen, wenn eine Leistung in den Zugriffsbereich der Vereinigung gelangt, ohne dass unmittelbar Gebrauch von ihr gemacht wird. Recht unproblematisch lässt sich ein durch Nichtmitglieder bewirkter objektiver Nutzen zugunsten der Vereinigung dann identifizieren, wenn eine tatspezifische Unterstützung bezüglich mitgliedschaftlicher Betätigungsakte geleistet wird. Notwendigerweise tritt hierdurch auch eine Steigerung des Gefährdungspotenzials der Vereinigung insgesamt ein: Liegen die allgemeinen Beihilfevoraussetzungen bezüglich der Einzeltatförderung vereinigungsbezogener Ausführungstätigkeiten vor, so steigert das die Potenz der Organisation insgesamt (vgl. oben II.). Der BGH stellt insoweit fest, „bei Förderung mitgliedschaftlicher Betätigung eines Mitglieds bedarf es in der Regel nicht der Feststellung eines darüber hinaus reichenden positiven Effekts für die Organisation“.39 Für Unterstützungsleistungen ohne konkreten Einzeltatbezug muss deren objektiver Nutzen für die Vereinigung insgesamt dagegen eigenständig begründet werden. Ausgangspunkt dieser Analyse kann nur der Zweck der Vereinigung sein. Er bildet das entscheidende Kriterium für die Einordnung einer Organisation als terroristisch, weil er ihre abstrakte Gefährdungswirkung begründet und deshalb Anknüpfungspunkt des Organisationsdelikts ist. Als organisationsbezogene Unterstützungshandlungen kommen damit Leistungen in Betracht, die prinzipiell tauglich sind, mitgliedschaftliche Betätigungshandlungen im Einklang mit dem Vereinigungszweck zu fördern, auch wenn sie (noch) nicht unmittelbar abgerufen werden. Als Beispiel lässt sich etwa die Lieferung von Munition oder Materialien zur Herstellung von Kampfstoffen nennen, oder auch die Verschaffung von Informationen über Infrastruktureinrichtungen, die als Anschlagsziele in Betracht kommen. Der objektive Nutzen dieser
37
BGH StV 2018, 107 (108) Rn. 6. Matt/Renzikowski-StGB-Kuhli, § 129a Rn. 1, § 129 Rn. 2; MüKo-StGB-Schäfer, § 129a Rn. 4; SK-StGB-Stein/Greco, § 129a Rn. 6. 39 BGHSt 58, 318, Rn. 24; BGHSt 54, 69 (117 f.); BGHSt 32, 243 (244); BGH Beschl. v. 21. 3. 2019 – StB 4/19; BGH NStZ-RR 2018, 72 (73). 38
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operativen Unterstützungsbeiträge bezieht sich auf die „Außenwirkung“ (den „Output“) der Vereinigung. Denkbar sind andererseits Unterstützungshandlungen, die sich auf die Existenzsicherung der Organisation als solcher beziehen, ihre Infrastruktur etablieren oder absichern. Beispiele hierfür wären das Zurverfügungstellen von Wohnraum, die Erteilung von Sprachunterricht oder die Warnung vor heimlichen strafprozessualen Ermittlungsmaßnahmen. Diese strukturellen Unterstützungsbeiträge erzielen eine Innenwirkung („Input“), indem sie den Bestand und die Funktionsfähigkeit der Organisation absichern oder stärken. Die Sachdienlichkeit dieser Maßstäbe lässt sich durch ihre Anwendung auf einige aktuelle Fallgestaltungen prüfen. a) Nochmals: Die Ausfüllung des „Rollenbilds der Frau“ als Unterstützung Interpretiert man die Verrichtung von Haushaltstätigkeiten durch Ehefrauen von IS-Kämpfern als Beitrag zur „Aufrechterhaltung der Kampfbereitschaft“ des jeweiligen Gefährten, so kann man darin jedenfalls keine operative Unterstützung sehen, weil die Leistungen mangels Abstimmung auf vereinigungsbezogene Betätigungsakte auch keine generelle operative Unterstützungseignung aufweisen. In Betracht kommt aber eine strukturelle Unterstützung der Vereinigung insgesamt, indem die personelle Schlagkraft der Vereinigung durch die Versorgung des Mitglieds gewährleistet wird. Die vorauszusetzende Festigung des Gefährdungspotenzials der Vereinigung müsste man dann in der Sicherung der Einsatzbereitschaft ihres kämpfenden „Personals“ sehen. Ergänzend könnte man auf die Begründung eines organisationsbezogenen deliktischen Sinnbezugs durch eine entsprechende Widmung der Leistungen durch die potentielle Unterstützerin verweisen:40 Ziele sie mit ihren Tätigkeiten darauf ab, der Vereinigung insgesamt den Kämpfer in bestmöglichem Zustand zu erhalten, so gehe es ihr um eine strukturelle Unterstützung der Organisation. Denkbar scheint insoweit eine Parallele zur Begründung organisationsbezogener Beihilfe zum Massenmord für Angehörige des Lagerpersonals im Konzentrationslager Auschwitz.41 Die Beihilfequalität verschiedenster Verhaltensweisen im Konzentrationslager lässt sich aus deren Gesamtkontext ableiten: In einem in sich abgeschlossenen Vernichtungslager, das eine unüberschaubare Vielzahl von Opfern in geradezu „industriell“ organisierten Prozessen umbringt, kann jedes systemdienliche Verhalten im Rahmen der zugedachten Rolle in der Tötungsmaschinerie als fördernder Beitrag zum Massenverbrechen und damit Beihilfe qualifiziert werden.42 40 Alltagshandlungen verlieren ihre „Neutralität“, wenn sie gerade mit Blick auf die Förderung fremden deliktischen Tuns erfolgen, vgl. Roxin, Miyazawa-FS, 1995, S. 501 (515); Weigend, Nishihara-FS, 1998, S. 197 (205). 41 BGHSt 61, 252; hierzu Weißer, GA 2019, 244 ff. m. w. N. 42 Näher hierzu Weißer, GA 2019, 244 (253 ff.); vgl. auch Burghardt, ZIS 2019, 21 (24 ff.); Murmann, Grundkurs Strafrecht, 5. Aufl. 2019, § 27 Rn. 127; a. A. Leite, in: Stam/Werk-
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Doch lässt sich diese Parallele für die organisationsbezogene Unterstützung nach § 129a Abs. 5 S. 1 StGB nicht ohne Weiteres fruchtbar machen: Die organisationsbezogene Beihilfe im Vernichtungslager bezieht sich gerade nicht auf eine (terroristische oder sonst kriminelle) Organisation. Anknüpfungspunkt des Organisationsbezugs dieser Beihilfe ist vielmehr der Umstand, dass die Haupttaten im Wege mittelbarer Täterschaft kraft Organisationsherrschaft verwirklicht wurden.43 Das Massenvernichtungslager wurde von der NS-Führungsebene im Wege der Organisationsherrschaft als Instrument zur Verwirklichung der Mordverbrechen eingesetzt. Systemdienliche Tätigkeiten des Lagerpersonals innerhalb des mörderischen Gesamtsystems bilden deshalb tatbezogene Beihilfeleistungen nach den allgemeinen Regeln der §§ 211, 27 StGB. Für eine terroristische Organisation wird sich in aller Regel weder eine solche perfekt funktionierende Tötungsmaschinerie, noch die Einbindung gerade von Hausfrauenleistungen als ihr systemdienlicher Bestandteil nachweisen lassen, und es ist für die bislang vom BGH entschiedenen Sachverhalte auch nicht versucht worden. Deshalb muss für eine tatbestandliche organisationsbezogene Unterstützung nach § 129a Abs. 5 S. 1 StGB ihre strukturelle Förderungswirkung zugunsten der Organisation konkret nachgewiesen werden. Insoweit kann aber allein die subjektive Zwecksetzung an sich neutraler Handlungen durch die Unterstützerin nicht genügen. Es bedarf daneben eines objektiven Substrats, das die Unterstützung zu einem validen Beitrag bei der Verfolgung der Vereinigungszwecke macht. Das schlichte „Bekochen“ und sonstige Versorgen eines Kämpfers muss dafür in einen qualitativen Konnex mit dem Vereinigungszweck gebracht werden können.44 Denkbar wäre das allenfalls dann, wenn die Daseinsvorsorge ohne die entsprechenden Leistungen der Ehefrauen die Kämpfer in einem solchen Umfang in Anspruch nehmen würde, dass sie nicht mehr in der Lage wären, mitgliedschaftliche Betätigungshandlungen zugunsten der Vereinigung auszuführen oder ihnen dies zumindest erheblich erschwert würde. Erst dann ließe sich eine auf den Vereinigungszweck bezogene strukturelle Unterstützungswirkung zugunsten der Vereinigung insgesamt begründen. Das im Einzelfall nachzuweisen, dürfte sehr schwierig werden, insbesondere wenn ISKämpfer vielfach auch ohne sorgende Ehefrau effizient an der Verwirklichung von Vereinigungszwecken beteiligt sind. Ohne den Nachweis ihrer konkreten Bedeutung für die Gesamtorganisation können deshalb schlichte Haushaltstätigkeiten jedenfalls nicht pauschal als strukturelle Unterstützung einer Terrororganisation eingeordnet werden. Wollte man dies tun, so führte dies letztlich dazu, dass das bloße Zusammenleben mit einem Vereinigungsmitglied mit einer wie auch immer meister (Hrsg.), Der Allgemeine Teil des Strafrechts in der aktuellen Rechtsprechung, 2019, S. 53 (55); Otto, Kindhäuser-FS, 2019, S. 709 (719 f.). 43 Organisationsbezogene Unterstützung nach § 129a Abs. 5 StGB und organisationsbezogene Beihilfe nach §§ 211, 27 StGB sind genau auseinanderzuhalten. 44 Deutlich großzügiger Fahl, JR 2018, 652 (653), der „jede Tätigkeit für die Zwecke der Vereinigung“ als ausreichend erachtet, „weshalb das Kochen und Kinderkriegen dafür genügen kann“.
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gearteten internen „Arbeitsteilung“ zwischen Haushalt und vereinigungsbezogener „Erwerbstätigkeit“ des Ehemanns eine Unterstützungsstrafbarkeit nach § 129a Abs. 5 S. 1 StGB nach sich zieht. Es mag zwar im Ergebnis durchaus ein gewisses Unbehagen bereiten, die „infrastrukturelle“ Versorgung eines IS-Mitglieds damit im Regelfall als strafrechtlich irrelevant einzuordnen, weil es bei wertender Betrachtung durchaus einen Unterschied macht, ob man mit einem Kellner in Castrop-Rauxel zusammenlebt und den gemeinsamen Haushalt führt, oder ob man aus Überzeugung nach Syrien reist, dort einen ISKämpfer heiratet und dasselbe Verhalten verwirklicht, weil man an die Sache des IS glaubt. Die Lösung kann aber insoweit nicht sein, dass man das Zusammenleben mit einem aktiven Vereinigungsmitglied im „Kalifat“ ausreichen lässt, um eine Unterstützungsstrafbarkeit zu begründen. Ein strafbewehrtes Verbot, mit Terroristen zusammenzuleben, existiert (bislang) nicht. Man kann es auch nicht über die Kriminalisierung des Alltagslebens im „Kalifat“ indirekt einführen.45 Eine weitere, ganz anders zu beurteilende Frage hat der BGH in einer jüngeren Entscheidung aufgeworfen, die sich ebenfalls auf eine etwaige mitgliedschaftliche Betätigung der Ehefrau eines IS-Kämpfers bezog. Für sie wurde das Bewohnen einer durch den IS im Kampfgebiet widerrechtlich in Besitz genommenen Wohnung als mitgliedschaftlicher Betätigungsakt i.S.d. §129a Abs. 1 StGB angesehen.46 Die widerrechtliche Besetzung des Privateigentums durch den IS wurde als Kriegsverbrechen i.S.d. § 9 Abs. 1, 3. Fall VStGB eingeordnet. Der BGH sah in dem wissentlichen Bewohnen der erbeuteten Wohnung eine Perpetuierung und Festigung der widerrechtlichen Besitzlage und zugleich einen Beitrag zur Verhinderung der Rückkehr der Berechtigten. Für Nichtmitglieder läge in diesem Verhalten eine strukturelle Unterstützungsleistung zugunsten der Vereinigung.47 Besonderes Augenmerk ist insoweit allerdings auf die subjektive Tatseite zu richten: Voraussetzung einer tatbestandlichen Unterstützung wäre nicht nur die Kenntnis von der Verwirklichung von Kriegsverbrechen, sondern auch die vorsätzliche Unterstützung der Gesamtorganisation bei der Aufrechterhaltung und Festigung der rechtswidrigen Besitzlage. b) Verwirklichung eines Terroranschlags durch ein Nichtmitglied Der BGH hatte weiterhin zu entscheiden, inwieweit die Verwirklichung eines Mordanschlags im Einklang mit den Zielen des IS durch ein Nichtmitglied in 45 Das gilt auch für das Austragen und Aufziehen von Kindern. Eine strukturelle Unterstützung durch die Erziehung von Kindern in der Ideologie des IS lässt sich nicht überzeugend konstruieren, zum einen weil dies eine aktuelle Stärkung des Gefährdungspotenzials der Vereinigung voraussetzt, zum anderen weil man das Austragen und Betreuen eines Kindes nicht kriminalisieren kann; näher hierzu Weißer, ZJS 2019, 148 (154). 46 BGH NJW 2019, 2552 (2555), Rn. 27. 47 A. A. Gundelach, HRRS 2019, 399 (404), der in dem reinen „Wohnen“ ein vollständig neutrales Verhalten sieht. Wenn aber hierdurch gezielt eine widerrechtliche Besetzung aufrechterhalten wird, kann von Neutralität des Verhaltens keine Rede sein.
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Deutschland eine strafbare Unterstützung der Terrororganisation darstellen kann.48 Als Voraussetzung der „Zurechenbarkeit“ des Anschlags für die Organisation IS definierte der Senat, dass ein Vereinigungsmitglied an der Tat als Teilnehmer beteiligt gewesen sein müsse.49 Folgt man der obigen Kategorisierung, so könnte man in dem Anschlag einen operativen Unterstützungsbeitrag sehen, der die Außenwirkung der Terrororganisation verstärkt. Berücksichtigt werden muss insoweit die besondere Qualität terroristischer Anschläge: Entscheidendes Ziel des Anschlags ist nicht in erster Linie die Verletzung des individuellen Rechtsgutsträgers, sondern die Botschaft, die mit dieser Verletzung an die Gesellschaft insgesamt gesendet werden soll. Gegner der Ziele und Ideologie der Vereinigung sollen sich durch die Tat mittelbar bedroht fühlen, weil sie als potentiell nächste Opfer in Zukunft nicht mehr sicher sind.50 Diese Botschaft – und damit das Hauptziel der vereinigungsbezogenen Katalogtatverwirklichung – wird aber bereits dann gesendet, wenn der Anschlag in der Außenwahrnehmung der Terrororganisation zugeordnet wird. Sobald also ein Terroranschlag in Verwirklichung des Vereinigungszwecks erfolgt, als solcher identifizierbar und für die Vereinigung objektiv nützlich ist, handelt es sich um eine operative organisationsbezogene Unterstützung, die das Gefährdungspotenzial der Vereinigung erhöht. Dabei kommt es auch nicht darauf an, ob die Vereinigung den Anschlag nachträglich für sich reklamiert. Ein Unterstützungsbeitrag erlangt seine Qualität nicht erst nachträglich durch eine Reaktion der Organisation. Das Koinzidenzprinzip gebietet vielmehr, dass die Förderungseignung der Unterstützungshandlung bereits im Zeitpunkt ihrer Verwirklichung vorlag. Diese Förderungswirkung wird vom Unterstützer selbst begründet, indem er sein Verhalten als operativen Beitrag im Rahmen des generellen Vereinigungszwecks einfügt. Hierfür bedarf es keiner konkreten Kenntnisnahme oder gar Mitwirkung von Vereinigungsmitgliedern. Genauso wenig wie eine taugliche Beihilfehandlung von Kenntnis und Wollen des Haupttäters abhängt,51 ist die Unterstützung von der Kenntnis der Organisation, repräsentiert durch Vereinigungsmitglieder, abhängig. c) Zusage von Unterstützungsleistungen Bereits mehrfach stand die Frage zur Entscheidung an, inwieweit schon die Zusage künftiger Leistungen als aktuell wirksame Unterstützung i.S.d. § 129a Abs. 5 48
BGHSt 63, 127. BGHSt 63, 127 (135); so auch SK-StGB-Stein/Greco, § 129 Rn. 47; kritisch Kuhli, JZ 2019, 158 (160); Weißer, RW 2019, 453 (461 f.). 50 Zum Terrorismus als Kommunikationsstrategie Cancio Melia, GA 2012, 1 (10 ff.); ders., Jakobs-FS, 2007, S. 27 (49 f.); Zöller, GA 2010, 607 (612 f.). 51 § 27 StGB erfasst auch die „heimliche Beihilfe“; vgl. Maurach/Gössel/Zipf-Renzikowski, AT 2, § 52 Rn. 5; Roxin, Miyazawa-FS, 1995, S. 501 (511); ders., Stree/Wessels-FS, 1993, S. 365 (379); ders., AT II, § 26 Rn. 216; Schönke/Schröder-Heine/Weißer, § 27 Rn. 18; a. A. Heghmanns, GA 2000, 473 (479). 49
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S. 1 StGB eingeordnet werden kann.52 Weil die bloße Zusage von Unterstützung ihrer Leistung logisch vorgelagert ist, muss zur Beantwortung dieser Frage differenziert werden: Die Zusage von Material- oder (Finanz-)Mittelbeschaffung als solche ist (noch) nicht tauglich, das Gefährdungspotenzial der Vereinigung, ihre tatsächliche Schlagkraft, aktuell zu erhöhen. Notwendig wäre zumindest, dass die Gegenstände so in den Zugriffsbereich der Vereinigung gelangen, dass sie jederzeit für Vereinigungszwecke genutzt werden könnten.53 Erst dann könnte man eine strukturelle Unterstützung annehmen. Die Zusage der Verwirklichung vereinigungsbezogener Straftaten als solche vermag das Gefährdungspotenzial der Vereinigung nur und erst dann zu erhöhen, wenn sie bereits hinreichend konkret ist, sodass die zugesagte Leistung nur noch abgerufen werden muss.54 Kann das Startkommando aus der Vereinigung heraus unmittelbar in die Verwirklichung einer konkreten Tat hineinführen, so kann eine Unterstützung bereits in deren Zusage gesehen werden. Es handelt sich dann um einen strukturellen Unterstützungsbeitrag, der die Organisation insgesamt in ihrer Gefährlichkeit stärkt, indem er eine Leistung definiert, die aus der Vereinigung heraus jederzeit aktiviert werden kann. Ersichtlich nicht gegeben ist diese Form der Unterstützung aber andererseits, wenn die Zusage lediglich in der Äußerung besteht, der Organisation als „Schläfer“ zur Verfügung zu stehen.55 Hier fehlt es an der hinreichenden Konkretisierung mit Blick auf bestimmte Verwirklichungsakte, sodass eine aktuelle strukturelle Unterstützung mangels unmittelbarer Abrufbarkeit der Leistung ausscheidet. Die Zusage, einen IS-Kämpfer zu beherbergen und zu heiraten, um ihm den Aufenthalt in Deutschland zwecks Verwirklichung vereinigungsbezogener Straftaten zu ermöglichen,56 kann demgegenüber ebenfalls in die Kategorie struktureller Unterstützung eingeordnet werden. Hier wird die Schlagkraft und territoriale Einwirkungsmöglichkeit der Vereinigung bereits dadurch gestärkt, dass ein „Außenstützpunkt“ jederzeit durch die einseitige Inanspruchnahme der Leistung errichtet werden kann. Der Unterschied zwischen der erstgenannten und den beiden letztgenannten Fallkonstellationen liegt darin, dass es sich einerseits um die Zuwendung von Sachleistungen handelt, andererseits um „Dienstleistungen“. Letztere stehen dem Zusagenden stets und unmittelbar zur Verfügung. Wenn die Vereinigung sie nur noch abrufen muss, kann bereits die Zusage selbst als aktuelle Steigerung des vereinigungsspezifischen Gefährdungspotenzials angesehen werden. Bei Sachleistungen ist das anders. Sie müssen körperlich zur Verfügung stehen, um das Gefährdungspotenzial 52
BGHSt 63, 127; BGH StV 2018, 103; BGH NStZ 2016, 528. Im Ergebnis ähnlich BGH NStZ 2016, 528 (529). 54 So im Ergebnis auch BGHSt 63, 127, Rn. 22, 26. 55 Richtig BGH Beschl. v. 19. 10. 2017 – AK 56/17, Rn. 25. 56 BGH Beschl. v. 26. 6. 2019 – AK 32/19, LS 3, Rn. 9. 53
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der Vereinigung tatsächlich zu erhöhen. Solange sie aber nicht im Macht- und Zugriffsbereich der Vereinigung sind, ist das noch nicht der Fall und eine Unterstützung scheidet aus. Das bloße Inaussichtstellen von Sachleistungen ist nicht mehr als ein Sichbereiterklären zur künftigen Unterstützung. Das ist aber nicht unter Strafe gestellt – § 30 Abs. 2 StGB ist schon mangels Verbrechensqualität nicht auf § 129a Abs. 5 S. 1 StGB anwendbar.
IV. Schluss Bei der rechtlichen Würdigung mutmaßlicher Unterstützungsleistungen zugunsten von Terrororganisationen sollte man der Versuchung widerstehen, verschiedenste Verhaltensweisen unterschiedslos über einen Kamm zu scheren. Notwendig ist der Nachweis einer vorsätzlich bewirkten aktuellen, objektiven Förderungswirkung der Leistung. Die Kategorisierung in einerseits tatbezogene, andererseits organisationsbezogene Unterstützungsleistungen mag hierfür Maßstäbe aufzeigen. Während die tatbezogene Unterstützung an den Voraussetzungen der allgemeinen Beihilfedogmatik gemessen werden kann, ist für die organisationsbezogene Unterstützung zwischen operativer und struktureller Förderung zu unterscheiden, wobei vor allem letztere einer stichhaltigen Begründung bedarf.
China’s Criminal Law Against Cyberterrorism By Zunyou Zhou
I. Introduction 1. Terrorism and Counterterrorism For historical and international reasons, China has been plagued by terrorism. In this country, terrorism, separatism, and extremism are collectively called ‘three evil forces’ or, more simply, ‘three forces.’ In the wake of the 9/11 attacks, the Chinese government reacted immediately and declared itself a victim of terrorism before participating in the global war on terror led by the United States. As a consequence of the ‘July 5 incident’ of 2009 in Xinjiang, killing more than 200 people and injuring over 1700 others, the then Chinese Communist Party (CCP) boss of Xinjiang, Wang Lequan, who had a reputation of ironfisted policies, was replaced by Zhang Chunxian in 2010. Zhang’s soft-handed approach won him acclaim within and outside Xinjiang, but unfortunately failed to preclude the outburst of terrorist attacks between 2012 and 2015. The political violence during that period caused several hundred casualties in Xinjiang and, even worse, spilled over to Beijing, Kunming, other Chinese cities, and also abroad.1 On May 28 and 29, 2014, the CCP under the leadership of Xi Jinping held the ‘Second Central Symposium on Xinjiang Work,’ which mapped out a series of new policies for governing Xinjiang. In 2016, Chen Quanguo, successor to Zhang, reversed Zhang’s basically soft-handed approach to a repressive one, although Zhang’s de-radicalization legacy was inherited. During Chen’s reign, Xinjiang’s counter-terrorism efforts culminated in the alleged mass internment in the form of ‘education and training centers,’ thus provoking a wave of harsh international criticism. Given the good results of public peace and social stability achieved by the heavy-handed policies of the authorities, the CCP declared at its ‘Third Central Symposium on Xinjiang Work’ in September 2020 that the present policies in Xinjiang are ‘totally correct and must carry on for a long time.’2
1
See Zhou, Zunyou, China’s Desperate Battle against Separatist Terrorism, in: Wall Street Journal, October 1, 2015 (https://www.wsj.com/articles/BL-CJB-27807). 2 Liu, Zhen, Xi Jinping Defends ‘Totally Correct’ Xinjiang Policies Despite Growing Human Rights Concerns, in: South China Morning Post, September 26, 2020.
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2. Problem of Cyberterrorism The surge and expansion of the terrorist violence in Xinjiang also manifested itself outside of China’s borders. Since 2012, a large number of Uyghurs from Xinjiang have attempted to migrate illegally via Southeast Asia. Many of them travelled further to settle in Turkey, a country with a large Uyghur diaspora, whereas some others sought to join the Islamic Movement of Uzbekistan in Central Asia and join ISIS in the Middle East.3 Terrorist activities in China occurred not only in connection with the movement of people, namely the emigration of Uyghurs, but also with the flow of data, by spreading information on terrorist propaganda, incitement, training, and recruitment via the Internet and multimedia cards. China’s media report that the illegal spreading of terrorist audiovisual clips used to be the biggest destabilizing source in Xinjiang.4 The then party boss Zhang Chunxian claimed as early as March 2014 that about 90% of Xinjiang’s suspected terrorists had used virtual private networks (VPNs) to bypass China’s internet controls and access jihadist information and exchange views.5 On June 24, 2014, the State Internet Information Office, also known as Cyberspace Administration of China (CAC), released a TV feature film entitled ‘Online Promoter of Terrorism: The ETIM’s Terrorist Audiovisual Clips.’ The film reported that almost all of those engaged in terrorism had heard or seen audiovisual clips associated with ETIM (East Turkestan Islamic Movement).6 It was particularly reported that, in 2013 alone, ETIM had produced and released 107 clips, more than the total number in previous years put together.7 Concurrently with the explosive increase in such clips in 2013, China also experienced a sharp rise in terrorist attacks.8 Thus, the past cases exposed a strong correlation between terrorist clips and terrorist activities.
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Julienne, Marc/Rudolf, Moritz/Buckow, Johannes, Beyond Doubt: The Changing Face of Terrorism in China, in: The Diplomat, May 28, 2015 (http://thediplomat.com/2015/05/beyonddoubt-the-changing-face-of-terrorism-in-china). 4 Pan, Congwu, Baokong yinshipin cheng yingxiang xinjiang wending zuida duyuan [Audiovisual Clips Are the Biggest Poisonous Source Affecting the Stability of Xinjiang], Fazhi Riboa [Legal Daily], July 16, 2014. 5 Ng, Teddy, Xinjiang to Work with National Security Commission to Curb Violence, Zhang Chunxian Says, in: South China Morning Post, March 7, 2014. 6 Luo, Yufan, Guoxinban fabu ‘kongbu zhuyi de wangshang tuishou’ zhuantipian jie ‘dongyiyun’ [The State Internet Information Office Releases a TV Feature Film Called ‘Online Promoter of Terrorism’ to Uncover ETIM Forces], in: Xinhua Wang [Xinhua Net], June 24, 2014 (http://politics.people.com.cn/n/2014/0624/c1001-25194450.html). 7 Pan, Congwu, Xinjiang yanda ezhi baokong yinshipin manyan [Xinjiang Strikes Hard and Deters the Spread of Violently Terrorist Audiovisual Clips], Fazhi Ribao [Legal Daily], May 9, 2014 (http://news.sina.com.cn/c/2014-05-09/211030097267.shtml). 8 See Luo (Footnote 6 above).
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3. Aim and Structure of the Paper The primary objective of the present paper is to analyze China’s criminal law against cyberterrorism. The analysis is not only a continuation of my research on terrorism but also a gift to Professor Ulrich Sieber in honor of his 70th birthday. My research on this topic started with my doctoral dissertation9 under his supervision at the then Max Planck Institute for Foreign and International Criminal Law (now renamed ‘Max Planck Institute for the Study of Crime, Security and Law’). Without his unwavering support, my past research in Germany and my current career in China would not have been possible. In the following, the paper will first describe how cyberterrorism is defined in China (Part II), then discuss how cyberterrorism, or more specifically the spread of terrorist information, is addressed by criminal law on the books (Part III) and criminal law in action (Part IV). The conclusion (Part V) will present a brief summary of the paper and call for restraint in the use of criminal law for countering cyberterrorism.
II. Definition of Cyberterrorism 1. International Definition Historically, the term ‘cyberterrorism’ was coined by Barry Collin to refer to the ‘convergence of cyberspace and terrorism.’10 Although this definition enjoys quite a bit of resonance among international academics, it remains highly contentious for lack of a universally recognized definition of terrorism.11 The interpretations of ‘cyberterrorism’ range from very narrow to very broad. Some people prefer a very narrow view (target-oriented cyberterrorism), defining cyberterrorism only as politically motivated attacks against computer systems, whether conducted through computers or physically. Others use a very broad definition, labelling all terrorist activities by means of computer systems as cyberterrorism (tool-oriented cyberterrorism).12 Professor Ulrich Sieber addresses the definitional issue by distinguishing between ‘cyberterrorism’ and ‘other uses of the Internet for terrorist purposes.’ In his opinion, ‘cyberterrorism’ refers, on the one hand, to ‘destructive attacks against computer sys9
The dissertation was published under the title of ‘Balancing Security and Liberty: Counter-Terrorism Legislation in Germany and China,’ Duncker & Humblot, Berlin 2014. 10 Collin, Barry, The Future of Cyberterrorism, in: Crime and Justice International, March 1997, pp. 15 – 18. 11 Brickey, Jonalan, Defining Cyberterrorism: Capturing a Broad Range of Activities in Cyberspace, in: CTC Sentinel, August 2012, Volume 5, Issue 8 (https://ctc.usma.edu/definingcyberterrorism-capturing-a-broad-range-of-activities-in-cyberspace). 12 Jarvis, Lee/Macdonald, Stuart, What Is Cyberterrorism? Findings From a Survey of Researchers, in: Terrorism and Political Violence, Volume 27, Issue 4, 2015, pp. 658 – 659.
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tems carried out by means of the Internet’ that lead not only to ‘the destruction, corruption, and rendering inaccessible of intangible computer data, thus blocking production processes, banking systems, or public administration’ but also to the damage of ‘physical property and human life if, for example, the attacked computer systems are responsible for the administration of nuclear power stations, dams, flight control systems, hospital computers, or military weapon systems.’ On the other hand, ‘other uses of the Internet for terrorist purposes’ include both ‘the mass dissemination of illegal content via the Internet’ and ‘the use of the Internet for individual communication and for the commission of traditional forms of crime.’13 His approach to the definitional issue provides valuable inspiration for the writing of this paper. 2. Chinese Definition In China, it is believed that cyberterrorism represents a new stage of terrorism in the era of big data.14 Before attempting to ascertain how China defines cyberterrorism, we first need to know how China defines terrorism.15 Despite the lack of a global definition for terrorism, China already has an official one. According to Article 3 of China’s Counter-Terrorism Law (CTL), which was passed on December 27, 2015 and took effect on January 1, 2016, ‘terrorism’ refers to ‘any advocacy or activity that, by means of violence, sabotage, or threat, aims to create social panic, undermine public safety, infringe on personal and property rights, or coerce a state organ or an international organization, for the purpose of achieving political, ideological, or other objectives.’16 Generally speaking, the earlier-noted dichotomy between target-oriented and tool-oriented cyberterrorism is also recognized in China’s legal community. As the text below will show, in China, cyberterrorism tends to be defined as almost any act of terrorism by means of Information and Communication Technologies (ICTs).17 In this sense, it may be argued that China takes a very broad approach that allows for wide interpretation. 13
Sieber, Ulrich, Instruments of International Law: Against Terrorist Use of the Internet, in: M. Wade/A. Maljevic (eds.), A War on Terror?: The European Stance on a New Threat, Changing Laws and Human Rights Implications, Springer, Berlin 2010, pp. 171 – 172. 14 Kang, Junxin/Yu, Wenliang, Dashuju shidai wangluo kongbuzhuyi de falü yingdui [Legal Response to Cyberterrorism in the Era of Big Data], in: Academic Journal of Zhongzhou, Issue No. 10 of 2015. 15 For an overview of the Chinese definition of terrorism, see Zhou, Zunyou, How China Defines Terrorism, in: The Diplomat, February 13, 2015 (http://thediplomat.com/2015/02/ how-china-defines-terrorism). 16 Zhou, Zunyou, China’s Comprehensive Counter-Terrorism Law, in: The Diplomat, January 23, 2016 (https://thediplomat.com/2016/01/chinas-comprehensive-counter-terrorismlaw). 17 ‘Information and Communication Technologies,’ as a broader term for Information Technology (IT), may refer to all communication technologies, including the Internet, wireless networks, cell phones, computers, software, middleware, video-conferencing, social net-
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Moreover, cyberterrorism is frequently observed in connection with cybercrime. In terms of legal theory, cybercrime may be divided into three basic categories: (a) crime using the Internet as a ‘target’; (b) crime using the Internet as a ‘tool’; and (c) crime using the Internet as a ‘space.’18 In terms of legal practice, the understanding of cybercrime does not rest only on ‘the cyberspace’ or ‘the Internet’ but on ‘computer information systems.’ According to a legally binding policy document, for example, there are four categories of cybercrime activities: (a) those committed to endanger the security of computer information systems; (b) those committed by endangering the security of computer information systems; (c) those committed in cyberspace; (d) those largely committed in cyberspace.19 Such lines of categorization, whether theoretical or practical, may also be applied to cyberterrorism that is intertwined with cybercrime and sometimes manifests itself as cybercrime. In recent years, China has adopted several laws, such as the State Security Law, the Counter-Terrorism Law, and the Cybersecurity Law, which invariably contain provisions highlighting the serious harm of illegal and criminal cyber activities for public security and state security. As long as such harmful activities are identified as having a ‘political,’ ‘ideological,’ or any ‘other’ purpose indispensable for constituting terrorism, they may certainly be labelled cyberterrorism. 3. Focus of this Paper In China, just as elsewhere in the world, the target-oriented category of cyberterrorism is not of great concern.20 Instead, the real concern is the typical, tool-oriented category of cyberterrorism. Hence, the focus of this article will focus on the latter category.
working, and other media applications and services enabling users to access, retrieve, store, transmit, and manipulate information in a digital form (see the website of the Food and Agricultural Organization of the United Nations: http://aims.fao.org/information-and-commu nication-technologies-ict). 18 Yu, Zhigang, Internet Criminal Law in China: Cybercrime Transformations Legislative Examples and Theoretical Contributions, in: ZStW, Volume 130, Issue 2, 2018, pp. 558 – 559. 19 See ‘Guanyu banli wangluo fanzui anjian shiyong xingshi susong chengxu ruogan wenti de yijian’ [Opinions on the Application of Criminal Procedure in Handling Cybercrime Cases] as jointly issued by the Supreme People’s Court, the Supreme People’s Procuratorate, and the Ministry of Public Security on May 4, 2014. 20 See Yu, Zhigang/Guo, Zhilong, Wangluo kongbu huodong fanzui yu zhongguo falü yingdui [Cyberterrorist Crime and China’s Legal Response], in: Henan Daxue Xubao (shehui kexue ban) [Journal of Henan University (Social Sciences Edition)], Issue No. 1 of 2015.
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III. Law on the Books 1. Overview Following the 9/11 attacks in 2001 and especially after the CCP’s launch of a political strategy of ‘ruling the country according to law’ in 2014, China passed several national laws that may be used for combating terrorism. National legislation as discussed here includes not only the Counter-Terrorism Law (CTL) but also specific anti-terror provisions in other laws such as the Criminal Law and the Cybersecurity Law.21 Together with other legal areas, criminal law is, as the last resort for a legal response, an indispensable tool of the CCP for governing Xinjiang. As China does not adopt subsidiary criminal law (Nebenstrafrecht), all Chinese norms in substantive criminal law are contained in a single criminal code (i. e., the Criminal Law). Strictly speaking, China’s criminal law against cyberterrorism was not a big topic until the adoption of the ‘Ninth Amendment to Criminal Law’ (hereinafter referred to as ‘Ninth Amendment’) on August 29, 2015.22 Prior to 2015, Articles 285 and 286 of the then Criminal Law could be applied, in theory, to punish various cyberterrorismbased activities, including: (a) illegal access to a computer system in the areas of state affairs, national defense, and high-level science and technology (Art. 285 para. 1); (b) illegal acquisition of data stored, processed, or transmitted in the computer system or illegal manipulation of the system (Art. 285 para. 2); (c) provision of specialized programs or tools for the purpose of illegal access to or illegal manipulation of a computer system (Art. 285 para. 3); (d) damaging a computer information system (Art. 286). 2. Ninth Amendment Cyberterrorism-based provisions in the Ninth Amendment of 2015 were created to cope with an emergency like the surge in terrorist activities during 2012 – 2015 in China in connection with or under the influence of international terrorist groups, including ISIS. Such emergency legislation is thought to be both a product of China’s domestic security policy and, as the paper below will show, a fulfillment of its international obligations.23 21
Zhou, Zunyou, ‘Fighting Terrorism According to Law’: China’s Legal Efforts against Terrorism, in: Michael Clarke (ed.), Terrorism and Counter-Terrorism in China: Domestic and Foreign Policy Dimensions, Oxford University Press, Oxford 2018, p. 77. 22 See also Pi, Yong, Quanqiuhua xinxihua beijing xia woguo wangluo kongbu huodong jiqi fanzui lifa yanjiu [China’s Legislation on Cyberterrorist Activities and Crimes Against the Backdrop of Globalization and Informationization], in: Zhengfa Luncong [Review of Political Sciences and Law], Issue No. 1 of 2015, p. 71. 23 Mei, Chuanqiang, Woguo fankong xingshi lifa de jiantao yu wanshan [Reflections on and Improvements to China’s Anti-Terror Criminal Law], in: Xiandai Faxue [Modern Legal Scholarship], Issue No. 1 of 2016, p. 41.
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Due to this Amendment, provisions based on both cyberterrorism and cybercrime were introduced into the Criminal Law. Cyberterrorism-based provisions include Articles 120c (‘advocating terrorism or extremism’; ‘instigating terrorist activities’) and 120f (‘illegal possession of terrorist or extremist objects’), whereas cybercrime-based provisions, likely to be also used against cyberterrorism, include Articles 286a (‘refusal to fulfill the obligation of information network security management’), 287a (‘illegal use of information network’), and 287b (‘assistance in criminal activities associated with information network’). Among these provisions, Articles 120c and 120f deserve special attention. Under Article 120c, any person who propagates or instigates terrorism by producing, distributing, or spreading terrorism-based information through books, audio-visual materials, or other objects, shall be sentenced to a fixed-term imprisonment of up to five years, in addition to a fine; in case of serious circumstances, the person shall be sentenced to a fixed-term imprisonment of more than five years, in addition to a fine or confiscation of property. According to Article 120f, in case of serious circumstances, any person who knowingly possesses the aforesaid objects shall be punished with a fine, or, in addition to a fine, sentenced to a fixed-term imprisonment of up to three years. A remarkable accomplishment of the Ninth Amendment is its criminalization of some abstract endangerment acts. The above-mentioned Article 120f is a telling example, because the possession of terrorism-propagating objects poses an abstract rather than a specific threat to public security.24 3. Judicial Interpretations In fact, already prior to the adoption of the Ninth Amendment, China had counted on other criminal provisions in the Criminal Law than the above-mentioned Articles 120c and 120f to combat terrorist propaganda and incitement. This was made possible through a ‘judicial interpretation’ instrument entitled ‘Opinions on Several Issues concerning the Application of Law in Handling Criminal Cases involving Violent Terrorism and Religious Extremism’ (hereinafter referred to as ‘the Judicial Opinions of 2014’), jointly issued by the Supreme People’s Court (SPC), the Supreme People’s Procuratorate (SPP), and the Ministry of Public Security (MPS) on September 9, 2014. According to the regulation, applicable criminal provisions to punish ‘the advocating of terrorist thoughts or the instigating of violently terrorist activities’ included Article 120 para. 1 (‘organizing, leading, or participating in a terrorist organization’), Article 103 para. 2 (‘inciting to split the state’), and Article 249 (‘inciting ethnic hatred or discrimination’). 24 Zhang, Mingkai, Lun xingfa xiuzheng’an (jiu) guanyu kongbu fanzui de guiding [On Terrorist-Crime-Based Provisions in the Ninth Criminal Code Amendment], in: Xiandai Faxue [Modern Legal Scholarship], Issue No. 1 of 2016, pp. 23 – 24.
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Given the adoption and implementation of the Ninth Amendment, the original three organs, together with the Ministry of Justice (MOJ), updated ‘the Judicial Opinions of 2014’ on March 16, 2018, slightly changing the title to ‘Opinions on Several Issues concerning the Application of Law in Handling Cases of Terrorist Activity and Extremist Crime’ (hereinafter referred to as ‘the Judicial Opinions of 2018’). Accordingly, as the text above has shown, ‘the advocating of terrorist thoughts or the instigating of violently terrorist activities’ is punishable under Articles 120c and 120f as provided by the Ninth Amendment. 4. Borders of Criminal Law Propagating or inciting terrorism is not only punishable under criminal law but also under administrative law. As far as administrative law is concerned, Article 80 CTC provides that anybody engaging in one of the following activities, if the circumstances are not serious enough to constitute a crime, shall be detained by the police for not less than 10 days but not more than 15 days and may also be fined not more than 10,000 yuan: (1) Propagating terrorism, extremism, or inciting the implementation of terrorist or extremist activities; (2) Producing, disseminating, or illegally possessing articles advocating terrorism and extremism; (3) … (4) Providing support or assistance in the form of information, funding, material, labor, or technology for promoting terrorism or extremism or for carrying out terrorist or extremist activities. In principle, administrative law should apply in cases where, overall, the circumstances are not serious. Criminal law, by comparison, serves as the last resort and applies only where the overall circumstances are sufficiently serious. However, there is no law specifying the circumstances when administrative or criminal penalties should be considered. When the borderlines between administrative and criminal law are ambiguous or vague, it is entirely at the discretion of the competent police officers, prosecutors, or judges to determine which activities constitute a crime and which do not. 5. International Dimension Cyberterrorism is also a major security concern of the United Nations (UN). The Ninth Amendment is reportedly China’s direct response to the UN Security Council Resolution 2129 (2013).25 In 2013, the UN Security Council urged the international 25 Zhao, Bingzhi/Du, Miao, Zhongguo fankong xingfa de xin jinzhan jiqi sikao [New Developments of China’s Criminal Law Against Terrorism and Reflections on the
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community, through this resolution, to address ‘the evolving nexus between terrorism and information and communications technologies, in particular the Internet, and the use of such technologies to commit terrorist acts, and to facilitate such acts through their use to incite, recruit, fund, or plan terrorist acts.’26 The use of ‘information and communications technologies’ (ICTs) to ‘commit terrorist acts’ or ‘facilitate such acts’ is exactly what China would call cyberterrorism. Moreover, in 2018, the UN General Assembly expressed ‘concern at the increasing use, in a globalized society, by terrorists and their supporters, of information and communications technologies, in particular the Internet and other media, and the use of such technologies to commit, incite, recruit for, fund or plan terrorist acts.’27
IV. Law in Action 1. Criminal Policies The above law on the books is just one side of the coin. It is equally important to take a look at the other side to learn about the law in action. Before doing so, however, we also need to gain a basic understanding of China’s criminal policies in general. Between 1983 and 2003, China implemented a criminal policy called ‘strike hard’ (in Chinese yanda), which is an abbreviation of ‘strike hard serious criminal activities severely and swiftly in accordance with the law.’ This policy allowed frequent use of tough anti-crime campaigns within a specific period. Such campaigns usually entailed coordinated actions of police officers, prosecutors, and judges, as well as ‘severe’ punishments and ‘swift’ arrests, prosecutions, trials, and executions.28 When the tide of crime fell and the legal system progressed, the strike-hard policy was replaced in 2004 with a new policy called ‘balancing leniency and severity’ (in Chinese kuanyan xiangji) aimed at emphasizing leniency and reducing the heavy reliance on severity in crime control.29 However, the more lenient regime cannot be considered a Development], in: Shandong Shehui Kexue [Social Sciences in Shandong], Issue No. 3 of 2016, p. 102. 26 UN Security Council, S/RES/2129 (2013) (https://undocs.org/S/RES/2129(2013)), p. 7. See also Li, Yang, Lianheguo anlihui tongguo jueyi, jiang jiaqiang daji wangluo kongbuzhuyi [UN Security Council Passes a Resolution to Strengthen Efforts to Combat Cyberterrorism], Zhongxinshe [China News], December18, 2013 (http://www.chinanews.com/gj/2013/12-18/ 5631564.shtml). 27 UN General Assembly, Sixth review of the UN Global Counter-Terrorism Strategy, June 26, 2018 (A/RES/72/284, at: https://undocs.org/A/RES/72/284), p. 9. 28 Trevaskes, Susan, Severe and Swift Justice in China, in: British Journal of Criminology, Volume 47, 2007, pp. 23 – 24. 29 See Chen, Xingliang, Xingfa de xingshi zhengce hua jiqi xiandu [The Transformation of Criminal Law into Criminal Policy and Its Limits], in: Huadong Zhengfa Xueyuan Xuebao [Journal of East China University of Political Sociences and Law], Issue No. 4 of 2013, pp. 7 – 8; also Jia, Yu, Cong ‘yanda’ dao ‘kuanyan xiangji’ [From ‘Strike Hard’ to ‘Balance
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long-term approach as originally expected in view of the fact that it was discontinued by the two ‘special operations’ (zhuanxiang xingdong) launched in Xinjiang in 2014. 2. Special Operations The first special operation was targeted at terrorist audiovisual clips. First launched by the Xinjiang authorities, it subsequently gained momentum by means of national authorities such as the Cyberspace Administration of China (CAC). On March 31, 2014, Xinjiang’s provincial organs, including the court, the procuratorate, and the police, jointly issued a ‘Circular on Prohibiting the Dissemination of Violently Terrorist Audiovisual Clips.’ Specifically, the Circular was designed to ban: (1) the use of electronic products such as mobile phones, computers, mobile storage media, and media players to make, send, play, copy, disseminate, or store violently terrorist audiovisual clips; (2) the use of internet services such as internet websites, file storage services, and social media platforms like Weibo, QQ, and WeChat to browse, download, store, copy, forward, release, or upload such clips or relevant website links; (3) the use of business places such as those for mobile phones, computers, or audiovisual products to produce, store, or sell objects containing such clips; and (4) the use of logistics channels such as postal service, express delivery, and passenger (or cargo) transportation to transport or send objects containing such clips. According to the Circular, the ‘violently terrorist audiovisual clips’ (in Chinese ‘baoli kongbu yinshipin’) refer to clips containing information promoting violent terrorism, religious extremism, or ethnic separatism, specifically including: (1) those that incite religiously extremist thoughts like Jihad, advocate violence to endanger the safety of other people’s lives or public or private property, or undermine the enforcement of the law; (2) those that provide methods or techniques on the manufacture or use of explosives, explosive devices, guns, controlled knives, or dangerous objects for committing violently terrorist crimes; (3) those that undermine ethnic unity, incite national separatism, or undermine national unification; (4) others involving violent terrorism, religious extremism, or ethnic separatism.
Leniency and Severity’], in: Guojia Jianchaguan Xueyuan Xuebao [Journal of National Prosecutors College], Issue No. 2 of 2008, p. 157.
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Accordingly, violations of the Circular are punishable under administrative law (i. e., Public Security Administration Punishment Law) and, if the circumstances are serious, under criminal law. At the national level, the CAC, China’s internet regulator, started its own initiative on June 20, 2014, also called ‘special operation,’ pledging to stop the circulation of terrorism-based, overseas-originating materials, removing such information from the Internet, punishing those who break the rules, and urging Internet companies to fulfill their responsibilities. On that day, more than 30 major Internet companies signed ‘a letter of commitment’ to clear out terrorism-related information.30 The second special operation, approved by CCP top leadership and carrying the keyword ‘strike hard’ in its title, aimed at combatting all kinds of terrorist activities. The one-year operation was both regional and national, with Xinjiang as the main battlefield and other regions as cooperation partners. The regional campaign was started by Xinjiang’s CCP Committee on May 23, 2014, avowing to take ‘extremely tough measures’ and ‘unconventionally extraordinary means’ by mobilizing the entire population to crack down on terrorist activities.31 The national campaign was kicked off on May 26, 2014 by the MPS, also known as the ‘Office of National Counter-Terrorism Leading Group.’ The MPS ordered police forces to ‘actively cooperate with and support Xinjiang’s efforts, form a strong offensive against violently terrorist activities throughout the country, and resolutely fight down the arrogance of violent terrorists.’32 In the main battlefield of Xinjiang, its three provincial-level authorities, the People’s Court, the People’s Procuratorate, and the Department of Public Security, jointly issued a ‘Circular on Striking Hard Violently Terrorist Activities According to Law’ on May 24. The Circular was designed to combat four categories of activities, one of which was the producing, trafficking in, disseminating, copying, or possessing mobile storage media, electronic products, logos or any other objects containing information of violent terrorism or religious extremism. Additionally, the Circular urged those engaged in terrorism to surrender immediately in exchange for leniency and encouraged people of all ethnic groups to inform on the named activities. The special operations, together with their respective circulars, earned both judicial and legislative endorsements from the central authorities. The endorsements 30 Liu, Yuying, Zhongguo qidong chanchu wangshang baokong yinshipin zhuanxiang xingdong [China Launches a Special Campaign to Cleanse the Internet of Violent Terrorist Audio and Video Clips], China News Agency, June 20, 2014 (http://www.chinanews.com/gn/ 2014/06-20/6303246.shtml). 31 Dai, Lan/Han, Liqun, Xinjiang qidong yanda baokong zhuanxiang xingdong [Xinjiang launches a special campaign to strike hard violent terrorism], Renmin Wang [People Online], May 24, 2014 (http://politics.people.com.cn/n/2014/0524/c1001-25058771.html). 32 Xinhua Agency, Gong’anbu kaizhan yanli daji baoli kongbu huodong zhuanxiang xingdong [Ministry of Public Security Launches a Special Operation of Striking Hard Violently Terrorist activities], May 25, 2014 (http://www.gov.cn/xinwen/2014-05/25/content_ 2686705.htm).
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were in form of the Judicial Opinions of 2014, the Ninth Amendment of 2015, and the Judicial Opinions of 2018 successively, as the paper above has shown. 3. Operation Results Judging from open reports by China’s state-run media, both special operations produced desired results. With regard to the first operation, it was reported on May 9, 2014 that, since the adoption of the March 31 Circular, Xinjiang police had cleared up a number of cases involving the use of the Internet and mobile storage media to disseminate terrorist clips and other illegal propaganda materials. The police had deleted 2,229 pieces of harmful information such as terrorist clips and links, investigated 226 cases of various types, and punished 232 individuals, including 71 criminal offenders.33 On May 21, 2014, Xinjiang’s provincial court held a press conference to inform the public about recent trials of criminal cases involving the dissemination of terrorist clips in the region of Xinjiang and announced a number of typical cases. The court reported that, one day before, six lower, prefecture-level courts in Xinjiang had delivered, in a concerted manner, public judgments on 39 defendants in 16 criminal cases. All of the accused had been sentenced to fixed-term imprisonment, with a maximum term of 15 years, owing to charges of organizing, leading, and participating in terrorist organizations and charges of inciting ethnic hatred or discrimination.34 On July 10, 2014, Xinjiang authorities organized another round of concerted public trials. This time, seven courts announced verdicts on 11 cases involving terrorist clips.35 As for the second operation, Xinjiang reportedly investigated and handled 294 cases of online dissemination of violently terrorist audiovisual clips in the first six months.36 During the whole one-year period, the government had reportedly eliminated 181 violent terrorist cells, with 96.2% of them uncovered during the stage of preparation. Moreover, a total of 112 fugitives had reportedly voluntarily surrendered to the authorities owing to the heavy pressure of the campaign.37 33 Pan, Congwu, Xinjiang yanda ezhi baokong yinshipin manyan [Xinjiang Strikes Hard and Deters the Spread of Violently Terrorist Audiovisual Clips], Fazhi Ribao [Legal Daily], May 9, 2014 (http://news.sina.com.cn/c/2014-05-9/211030097267.shtml). 34 Pan, Congwu, Xinjiang yancheng chuanbo baokong yinshipin fanzui [Xinjiang Severely Punishes Crimes Related to Violently Terrorist Audiovisual Clips], Fazhi Ribao [Legal Daily], May 21, 2014 (https://china.huanqiu.com/article/9CaKrnJEZ18). 35 Sui, Yunyan, Si jie baokong yinshipin, chanchu yingxiang shehui wending de duyuan [The Fourth Article Is to Expose Violently Terrorist Audiovisual Clips so as to Eliminate the Poison Source against Social Stability], Tianshan Wang [Tianshan Net], July 10, 2014. 36 Sui, Yunyan, Xinjiang yanda baokong huodong jishi [Media Reportage of the StrikeHard Action against Violent Terrorism in Xinjiang], Tianshan Wang [Tianshan Net], November 24, 2014 (http://xj.people.com.cn/n/2014/1124/c188514-22997597.html). 37 Li, Yanan, Xinjiang 1 nian dadiao baokong tuanhuo 181 ge [Xinjiang Wipes Out 181 Violently Terrorist Cells within One Year], Renmin Ribao Haiwaiban [People’s Daily Over-
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4. Research Investigation In order to find out how the earlier noted cyberterrorism-based criminal provisions are applied in terrorism cases, the author of this paper conducted a small research investigation into the online database ‘China Judgements Online’.38 The investigation was targeted at all criminal verdicts, which were delivered according to the cyberterrorism provisions and which took effect between January 1, 2015 and October 13, 2020, the date of the investigation. Launched by the Supreme People’s Court (SPC) in July 2013, the database is the world’s largest open-access website for judicial judgments. Since June 2015, this national, unified platform has started to publish all effective verdicts of all Chinese courts at all levels, excepting several special circumstances.39 Terrorism verdicts meted out by Xinjiang courts may fall under the category of ‘special circumstances,’ because such verdicts were not accessible in the database. Nevertheless, the data on verdicts outside of Xinjiang courts remain relevant and illuminating for the point in question. The investigation produced two findings. First, all criminal verdicts in which cybercrime-based provisions (namely Articles 285, 286, 286a, 287, 287a, and 287b) were applied had nothing to do with ‘terrorism.’ In other words, these cybercrime cases revealed no evidence of terrorism. Second, in all 88 of the criminal verdicts based on terrorism charges (namely Articles 120, 120a, 120b, 120c, 120d, 120e, and 120f), 51 were based on Article 120c and 41 were based on Article120f. As six verdicts involved both Articles 120c and 120f, the verdicts involving either Article 120c or Article 120f should be numbered 86. Audiovisual clips were involved in all 86 verdicts, without exception. Both findings indicate that, in legal practice, terrorism cases are concentrated in two categories: Articles 120c and 120f. Moreover, it was found that a very high proportion of terrorism cases, namely 86 of 88, involve the use of audiovisual clips. Based on China’s definition of cyberterrorism as discussed above, we may come to the following conclusion: criminal cases that apply either Article 120c or Article 120f and that involve the use of audiovisual clips can be called cyberterrorism cases. Thus, China’s terrorism cases outside of Xinjiang are mostly associated with cyberterrorism.
seas Edition], May 25, 2015 (http://www.xinhuanet.com/politics/2015-05/25/c_127836721. htm). 38 The website’s address is: https://wenshu.court.gov.cn. 39 See SPC, ‘Guanyu renmin fayuan zai hulianwang gongbu caipan wenshu de guiding’ [Regulation on the Online Publication of Judgments by People’s Courts], first adopted on November 13, 2013 and later updated on July 25, 2016; also Bo, Chendi, Zhongguo caipan wenshu wang wenshu zongliang tupo yi yi pian [The total number of documents in China Judgements Online exceeds 100 million], Renmin Wang [People Online], September 2, 2020 (http://legal.people.com.cn/n1/2020/0902/c42510-31845589.html).
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V. Conclusion In the years following the 9/11 incident, China was rocked by terrorist attacks time and again. When the soft-handed approach in 2010 – 2012 failed to address the problem of terrorism, the Chinese government resumed its standard high-pressure policy. While terrorist individuals or groups took advantage of ICTs to spread terrorist ideas or incite terrorist activities, the authorities reacted resolutely and cracked down on such cyberterrorism with special, hardline operations, first against terrorist audiovisual materials and then against all terrorist activities. Based on a traditional understanding, criminal law should only be applied to acts seriously violating or threatening legal interests and may only serve as the last resort. But owing to ubiquitous dangers or risks in modern society, a concept of preventive criminal law has emerged. From a global perspective, this concept is challenging the traditionally punitive criminal law.40 There is no doubt that the development of China’s criminal law is not isolated from the global trend. In China, for example, the acts stipulated in Articles 120c and 120f pose the potential danger of triggering terrorist crimes. In most cases, however, such danger remains abstract rather than concrete or imminent. Academics in China opposing the increasing expansion of criminal law consider police law a better choice than criminal law for dealing with acts involving only an abstract danger.41 Advocating or inciting terrorism may violate Article 120c of the Criminal Law and Article 80 of the CTL. However, there are no written standards stipulating which law applies under what circumstances. Given the vagueness of the law and a deficiency in strong human rights protection, a person who spreads, just offhandedly, via social media, an audiovisual clip showing ISIS beheadings may even end up in prison. Criminal law is absolutely necessary for countering terrorism, but there is no need for over-criminalization or any other forms of overreaction. In the fight against terrorism, a country that really cares about the basic rights of its people ought to exercise great restraint in using criminal law.42
40
Sieber, Ulrich, The New Architecture of Security Law: Crime Control in the Global Risk Society, in: Ulrich Sieber et al. (eds.), Alternative Systems of Crime Control: National, Transnational, and International Dimensions, Duncker & Humblot, Berlin 2018, p. 4. 41 See, for example, He, Ronggong, ‘Yufang xing’ fankong xingshi lifa sikao [Thoughts on ‘Preventive’ Criminal Law against Terrorism], in: Zhongguo Faxue [China Legal Science], Issue No. 3 of 2016, p. 154. 42 Ouyang, Benqi/Zhang, Lin, Xingfa shiye xia de kongbuzhuyi wangluo xuanyang xingwei [Terrorist Online Propaganda From the Perspective of Criminal Law], in: Henan Caijing Zhengfa Daxue Xuebao [Journal of Henan University of Finance, Economics and Law], Issue No. 6 of 2018, p. 96.
VIII. Internationales und ausländisches Strafrecht sowie Strafrechtsvergleichung
The Prevention and Repression of the Crime of Genocide: A New Generation out of the Kamite1 Continent2 By Koffi Kumelio A. Afand¯e Note: The thoughts and opinions expressed in the present article are not to be exclusively ascribed to me. Having signed the article with my name, is just to conform to the ritual of authorship. Each word in this article is charged with the spiritual energy of countless people; victims or not of the facts described in this paper, who are either alive, but with no opportunity to express themselves, or my Ancestors who have fought and are fighting for similar ideas, those who are yet to be born and will stand for similar ideas, as well as some of the perpetrators, whether alive or not, who are remorseful for their acts.
Introduction3 At first glance, an article on the crime of genocide written in honour of Professor Ulrich Sieber may well come as a surprise considering that the honouree’s primary research interest focus is comparative (criminal) law, European criminal law, and complex crimes, including and cybercrime, which is often committed by using computer networks. But a closer look at the immense plurality of his research projects reveals that he employed the knowledge gained in one field of expertise also to address and examine other areas of the law, such as international criminal law. In the context of this contribution, one of Professor Sieber’s research projects needs to be particularly highlighted: ‘General Legal Principles of International Criminal Law on the Criminal Liability of Leaders of Criminal Groups and Networks’. The project starts out with the observation that crimes such as genocide are almost never perpetrated by just one individual but rather by several individuals collectively as a network. Numerous examples follow showing these individuals using information tech1 For reasons of cultural identity, as explained below in the introduction, the adjective “Kamite” is used to replace the word “African”. 2 The views, thoughts and opinions expressed in this text, belong solely to the author as part of his academic research work and do not prejudge his views in his professional capacity as a Judge. Furthermore, they do not represent the views of the author’s employer, organization, committee or other groups or individuals. 3 Gratitude is extended to the staff of “Stichting Centre for African Justice, Peace and Human Rights” in The Hague, namely Ms. Sophia Ugwu and Ms. Nasra Omar, for their assistance with editing this Article. Gratitude is also extended to Mr. Tetevi Davi, Future Pupil Barrister and Member of the Executive Committee Human Rights Lawyers’ Association in London, United Kingdom for his assistance with editing this article.
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nology in order to disseminate their genocidal project. This illustrates the distinctive feature in Professor Sieber’s life’s work and its impact on legal scholarship: his innovative interdisciplinary approach of transferring ideas, impulses, and research results from one area of the law to (examine) another area of the law. From this vantage point cybercrime appears to be more closely connected with the topic of genocide than may have been obvious at first glance, as the modus operandi in both cases involves both a human and a computer network. 2. Subject to further precision discussed below, the crime of genocide can be loosely defined in general as the perpetration of specific acts with the intent to destroy in whole or in part a protected group. The crime of genocide is multifaceted and has resulted in a devastating number of victims across the world. Hence, it would be unjust to reduce the analysis of such a crime to the borders of a single state. In the light of this, the analysis will depart from the crime of genocide in the law of the Central African Republic (“CAR”), and will incorporate as and when necessary the situation in other countries, even beyond the Kamite Continent, where appropriate. Basically, the crime of genocide aims at protecting a group against its entire or partly annihilation. In the same vein, in order to protect its history and genesis against their entire or partly annihilation, the Continent is referred to with its original names which are either “Kemet” (Kmt) or “Kama” (Km) and the adjective “Kamite” deriving from these names. These names “Kemet” or “Kama” and “Kamite” simply mean “black”, in reference to the skin colour of the initial inhabitants of the Continent.4 In the process of the attempted erasure of the Kamite culture and the identity, these original names of Kemet and Kama have mostly disappeared and been replaced by the names “Africa” for the Continent and “Africans” for the people who inhabit it. Regardless of their nuances on the exact real name of the Continent, all theories converge on the point that the name “Africa” was given by foreign invaders either from Europe or Asia.5 Indeed, until the imposition of the words “Africa” and “Africans” in the late history of the Continent through these foreign invaders, the original inhabitants of the Continent had and would have never called their Continent “Africa” nor themselves “Africans”. It is important to underscore from the outset that the reflections in the current document do not aim, in any way whatsoever, to prejudge the situation in the CAR and should not be viewed as coming to any conclusion as to whether or not the crime of genocide has been committed in that country. It is within the exclusive remit of the prosecutor, the investigative judges, the indictment judges and the trial 4
Other interpretations and theories, but proven to be incorrect, assert that the word means “Black Land”, name by the colour of the soil of the Nile River. 5 What Was The Original Name Of Africa?, https://www.worldatlas.com/articles/what-wasthe-original-name-of-africa.html; How did Africa Really Get Its Name, https://face2faceafrica. com/article/how-did-africa-really-get-its-name; Jessica McDonald, How the Continent of Africa Got Its Name, https://www.tripsavvy.com/how-africa-got-its-name-3975025.
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judges to make the relevant legal and factual findings in that regard, as the result of a fair trial procedure, based on the evidence before them. Hence, these reflections merely represent some thoughts on a few issues relating to the interpretation of the law and the assessments of facts, which may confront the practitioners in the CAR, but also in other countries in similar situations on the Kamite Continent and beyond. For the purposes of the analysis, it is worth reproducing the most popular and wellknown definition of the crime of genocide as provided for in international law. It is to be found particularly in Article 2 of the United Nations Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide of 9 December 19486 (“1948 Genocide Convention”) which defines the crime of genocide as: “… any of the following acts committed with intent to destroy, in whole or in part, a national, ethnical, racial or religious group, as such (a) Killing members of the group;(b) Causing serious bodily or mental harm to members of the group;(c) Deliberately inflicting on the group conditions of life calculated to bring about its physical destruction in whole or in part;(d) Imposing measures intended to prevent births within the group; and (e) Forcibly transferring children of the group to another group”.
Following the adoption of the 1948 Genocide Convention, the definition of the crime of genocide ossified and it seemed as if there was no possibility of it being broadened or revisited in any way. In addition, the jurisprudence of the international(ised) and national criminal jurisdictions appears to have sealed the scope and contours of the acts to be qualified as genocide as well as the related reprehensible acts. Landmark progress was made only late in 1998, meaning 50 years after, when a Trial Chamber of the International Criminal Tribunal for Rwanda (“ICTR”) in the emblematic Akayesu case, expended the notion of genocide to include rape.7 History shows that a series of genocides or conducts that can be said to amount to such a crime, have targeted the Kamite populations and their culture, and continue to impact them in whole or in part. Most of these grave historical misadventures or happenings are either untold, insufficiently told, forcibly forgotten or under censorship, which could be said to represent a form of cultural cleansing. These incidents or “criminal acts” occurred from at least the early 7th Century AD as a result of the Arab conquests of the Kamite Continent, imposing islam as a religion and practising a slave trade of the Kamite populations to the East, during which a large percentage was killed.8 This was followed in the 16th Century by various European assaults,9 6 Adopted by Resolution 260 (III) A of the United Nations General Assembly on 9 December 1948. 7 The Prosecutor v. Jean-Paul Akayesu, Trial Chamber Judgement, 02 Sept. 1998, paras. 507 – 508, 731 – 734. 8 Tidiane N’Diaye, La traite des noirs d’ Afrique par le monde arabo-musulman, https:// www.youtube.com/watch?v=UILbon45n6c; Tidiane N’Diaye, “Le Génocide Voilé” – Traite Négrière Arabo-Musulmane – Enquête Historique, https://www.youtube.com/watch?v=
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starting with the transatlantic slave trade of the Kamite populations to America. During these trades, the upstanding individuals and leaders who can potentially ensure the biological, psychological and cultural survival of the Kamite Continent have been deported to Asia, Europe and the USA. Analogous treatments continued under the guise of the European “civilisation missions”; a euphemism to minimise the fierce colonisation of the Kamite populations by Europeans. A few examples, among many are the massacres of the communities in the Congo and in the Rwanda to the benefit of the colonial ambitions of King Leopold II of Belgium,10 as well as the genocide of the Hereros and Namaqua in the German-occupied South West Africa (presently “Namibia”) under the command of the German General Von Throta.11 Not to be forgotten is also the genocide against the Bamileke ethnic group in Cameroun,12 and the Mau Mau in Kenya.13 Similar acts were inflicted in the Americas to other populations such as the Indian people together with the Kamite people.14 These acts continued through the fuelling of armed conflicts and the provoking of political instability and upheavals, in many countries and regions of the Kamite Continent.15 The destruction of the Kamite populations and cultures is further carried out by dumping and exporting hazardous waste or product to the Continent,16 and by inflictWbn2bAqMIZQ; Tidiane N’Diaye, La traitenégrièrearabo-musulmane, https://www.youtube. com/watch?v=qd7ny8i2R_A; 14 Siècles d’Esclavage et de Traite Négrière Arabo-Musulmane, https://www.youtube.com/watch?v=4DaXgrPgsNY. 9 Shaka Zulu African King – South Africa Movie (1986), https://www.youtube.com/ watch?v=wD5Ps0jI8uY. 10 https://www.youtube.com/watch?v=_5tyLJFLbJs. 11 Jan-Bart Gewald, The Great General of the Kaiser, in: Botswana Notes and Records, Volume 26, Issued 1, January 1994, pp. 67 – 76. 12 Génocide en pays bamileke organisé par la France: le focus de France 24, https://www. youtube.com/watch?v=6Fal8E46J9k. 13 Caroline Elkins, Britain’s Gulag: The Brutal End of Empire in Kenya, Bodley Head, (Publisher) 2014; https://www.youtube.com/watch?v=Z74i_H6klrg; https://www.youtube. com/watch?v=4qrQItB8m_w; https://www.youtube.com/watch?v=oYRwGZiNznM. 14 Indian Slavery: An Unspoken History, https://www.youtube.com/watch?v=VZ8A52A C2LI. 15 Franc¸ ois-Xavier Verschave, France-Afrique, le crime continue, e´ditions tahin party, 2000; François-Xavier Verschave, Retranscription de conférences-débat, https://survie.org/pu blications/livres/article/le-crime-continue; Un Film de Patrick Benquet, Françafrique – Plus de 50 ans sous le sceau du secret, https://vimeo.com/135618093; Génocide en pays bamileke organisé par la France: le focus de France 24, https://www.youtube.com/watch?v=6Fa l8E46J9k. 16 Kone, Lassana, The Illicit Trade of Toxic Waste in Africa: The Human Rights Implications of the New Toxic Colonialism (31 July 2014). Available at SSRN: https://ssrn.com/ab stract=2474629 or http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.2474629; S/2012/783, Report of the Secretary-General pursuant to Security Council resolution 2020 (2011), 22 October 2012, paras. 64 – 65; S/2011/30, Report of the Special Adviser to the Secretary-General on Legal Issues Related to Piracy off the Coast of Somalia, Annex to the letter dated 24 January 2011 from the Secretary-General to the President of the Security Council, paras. 12 and 90; S/RES/ 2077 (2012), United Nations Security Council Resolution, 21 November 2012, Preliminary
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ing poisoning vaccinations to the populations.17 Ostensibly, this inventory shows that those who are commonly labelled as being the perpetrators and the others as being the saviours is a half-truth and that in fact, these “saviours” are also perpetrators. Obviously, the main weaknesses of the prevention and punishment of the crime of genocide is its excessive politicisation. Whether, rightly or wrongly, the politicisation is inherent to the nature of the crime itself, to the extent that the real perpetrators mostly enjoy impunity or become accusers. An urgent need to expand the scope of the fight against impunity requires an update of what should be understood as the crime of genocide. It is worth saying that many of the latest definitional evolutions of the crime of genocide encompass acts, which were already practised at the time of the 1948 Genocide Convention and consequently, should have been included into the Convention. The reasons for which these conducts were excluded from the 1948 Genocide Convention are easy to imagine. Much of these conducts was perpetrated on the colonised populations on various continents, mainly by the colonial states, which were the drafters of the convention and were ready to perpetuate them. Hence, they were squarely not prepared to incriminate their own conduct in the said convention, which should constitute the main pillar in the prevention and punishment of the crime of genocide. The law and provisions on the crime of genocide to be applied in the CAR, is composed of national and international law, including customary international law. The Organic Law n8 15.003 of 03 June 2015 relating to the creation, organization and functioning of the Special Criminal Court of the Central African Republic (“Organic Law n8 15.003”), constitutes a lex specialis of the SCC and should have precedence over all other national legal provisions, not to forget that it imposes the application of international law. Part of that national legal arsenal is, first the criminal code of 1961 (“crim. code 1961”), which seems, too quickly, to have been discarded for not having provided for the crime of genocide sui generis. The second national legal instrument is the criminal code of 2010 (“crim. code 2010”), article 152 of which expressly defines the crime of genocide (“article 152 crim. code 2010”). Concerning the international law, whether treaty or customary international law, one would have by reflex or logically thought of the 1948 Genocide Convention, as the premier applicable provision, as it is specific to the subject matter. However, the CAR has curiously not ratified this convention and as such, it could not apply in cases for genocide, if any. So far, the CAR does not constitute a rarity, since there are about 45 countries, which have not ratified the 1948 Genocide Convention. Roughly 18 of paragraph 6 and Operational paragraph 28; Is the EU Dumping Nuclear Waste in Somalia, https://somaliagenda.com/eu-dumping-nuclear-waste-in-somalia/; UN: Nuclear Waste Being Released on Somalia’s Shores After Tsunami, https://www.voanews.com/archive/un-nuclearwaste-being-released-somalias-shores-after-tsunami. 17 Un plan de génocide des Africains est déjà en cours …, https://www.youtube.com/ watch?v=BCpdgybg4-s.
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these countries, including the CAR, are from the Kamite Continent. In spite of that, the 1948 Genocide Convention is applicable indirectly to the CAR for the following reasons. Firstly, the CAR has ratified the Rome Statute of the ICC (“Rome Statute of the ICC”), which provides for the crime of genocide following the logic and spirit of the 1948 Genocide Convention.18 Secondly, article 152 crim. code 2010, defines the crime of genocide by expressly referring to the Rome Statute of the ICC, and specifically article 6, which replicates verbatim the wording of article 2 of the 1948 Genocide Convention. Another international legal instrument, which is yet to enter into force, but would be pertinent for a comprehensive and constructive analysis of the topic is the Protocol on Amendments to the Protocol on the Statute of the African Court of Justice and Human Rights of 27 June 2014 (“Protocol on Amendments 2014”). Reference is made to some of its provisions, such as article 28 on the international criminal jurisdiction of the African Court of Justice as well as article 46Abis on immunity and article 46C on corporate criminal liability. They are relevant for the purposes of the analysis to the extent that they may impact the prosecution of the crime of genocide, when they will enter into force, certainly and hopefully in the near or distant future. The law on the crime of genocide, but also on other crimes on the Kamite Continent, displays and raises a question of conflicts of norms generated by cultural and political controversies. This legal controversy is not new, but is specific to almost all countries on the Kamite Continent due to several factors, a few of which are disclosed below. Firstly, the law applied in the countries of the Kamite Continent do not genuinely originate from their native cultures, but are imposed through the dynamic of the colonisation by foreign cultures. Secondly, the legal reforms in the originating colonising countries are merely copied and reproduced without any process to harmonise the law as imposed during the colonial period. This is a challenge, knowing that ongoing situations which began under the previous legal regime may continue under the new regime and would have to be dealt with. The solution is even harder when a crime, such as genocide in the present context, may have been occurring under the previous law but which did not criminalise it as such. Whereas it becomes a crime under the new law. Thirdly, international organisations and NGOs are applying more and more pressure on states to criminalise acts that were not previously in the national law, obliging them to relying on international legal standards assumed to be universal. This leads to situations whereby there are many legal provisions without any legislative correlation among them and solutions are left for the judges to fashion. 18 Which entered into force on 02 July 2002, was signed by the CAR on 07 December 1999 and ratified on 03 October 2001 (https://asp.icc-cpi.int/en_menus/asp/states%20parties/afri can%20states/Pages/central%20african%20republic.aspx).
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Assuredly, the law on the crime of genocide, not only on the Kamite Continent, would decisively benefit from the concept of the crime of genocide as found in the legislation of the CAR since 2010. This new legislation consecrates a ground-breaking generation in the fight against genocide, heralding thus an historical turn in the repression of the said crime. It is axiomatic that this turn is a well-deserved remedy to the unfairness as conceived in the 1948 Genocide Convention against the Kamite populations in the fight against the crime of genocide. The novelties have reached a magnitude far stronger than that generated at its time by the Akayesu case before the ICTR. Another novelty is that whereas the tendency is generally to formulate reservations to restrict the scope of international legal instruments, the CAR legislative set an opposite trend in the field of international crimes. It is admittedly too early and not easy to say whether this path is positive or negative. Concretely, the CAR legislator seems to have a propensity to adopt national laws, and sometimes to extend international legal instruments beyond their agreed scope, or even to interpret them contrary to their terms and spirit. An example is article 14 Law n8 18.01019 which grants the primacy of the International Criminal Court (“ICC”) over national jurisdictions, even though the Rome Statute of the ICC does exactly the opposite, leaving the primacy to national jurisdictions and granting only complementary jurisdiction to the ICC.20 Furthermore, article 152 crim. code 2010 which embodies the very first level of relevant applicable law on genocide in the CAR, subverts the traditional inward-looking reflex usually observed in national legislations, and expressly refers to the Rome Statute of the ICC. As such, article 152 crim. code 2010 contains specificities, which depending on the circumstances, could circumvent, reverse or even improve upon the already settled international law on genocide and the jurisprudence of international(ised) or hybrid criminal jurisdictions. Undoubtedly, the spirit of article 152 crim. code 2010 raises numerous legal and factual questions, which may render its implementation delicate to the national jurisdictions, with regard to international procedural rules and substantive norms. However, the inception of the hybrid internationalised SCC has paved a way towards possible solutions. Indeed Article 3 of the Organic Law n8 15.003 provides for a method to resolve the potentially problematic situations between the national law and international law on genocide. Time will tell whether the new and specific deviations in the national law will be applied despite the established international law and jurisprudence on genocide. In any case, the new law of the CAR on the crime of genocide will certainly require substantial adjustments in its implementation through international law. As far as international law itself is concerned, its capacity to constitute a sustainable legal solution in the context will be mitigated. The spirit of the Genocide Con19
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Law n8 18.010 of 02 July 2018 relating to the Rules of Procedure and Evidence of the Preambular paragraph 11 and article 1 of the Rome Statute of the ICC.
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vention of 1948 may not necessarily be motivated by a conspiracy of the drafters to continue committing genocide against the populations in the then occupied and colonised territories. However, it is indisputably derogatory against the human dignity of those populations. This is so true because not only the wording and spirit of the 1948 Genocide Convention limit the protected groups to only four, but also its implementation excluded groups that are currently undergoing exactly the same conducts which are prohibited and punished in the very Convention. It is possible to assert, without being contested, that due to its blatant uncertainties, complexities and specificities, the implementation of the applicable law (both national and international) on the crime of genocide, is made immensely complex by the factual reality of the crime on the ground. The specificities of each, the national and the international law, are so decisive that there is a need to clarify the field in order to facilitate their meaningful application. Certainly, the power struggle and imbalance among the drafters of the 1948 Genocide Convention, spoiled not only the philosophical conceptualisation of the crime, but subsequently also its legal formulation to the extent that the purpose is defeated. An effective prevention and punishment of the crime of genocide requires either a clean stale, when necessary, but a substantial adjustment of policy. Hence, the present analysis will consist of identifying and underlining the similarities between international and national law in order to better highlight their differences and complementarity (I.) in the definition of the crime of genocide as expanded in the law of the CAR (II.) and in the subsequent precaution for the repression of that crime.
I. The Unpredictable Widening of the Definition of the Crime of Genocide In absolute terms, the law on genocide in the CAR is pioneering a trend to widen the definition of the crime of genocide, as established so far. The direction may be right, but the eagerness to move ahead may embed a high risk of going too fast from the present extreme of excessive restriction to another extreme of leniency. In order to avert that risk, it would be wise to err on the side of caution by exploring the various nuances possible between both extremes. Hence the necessity to first clarify the scope of the legal framework of the crime of genocide and to second, circumscribe its constitutive elements. 1. The Necessity to Clarify the Scope of the Legal Framework of the Crime of Genocide The definition of the crime of genocide in the legislations of countries on the Kamite Continent has mostly borrowed the wording of the 1948 Genocide Convention.
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But, in spite or rather because of some novelties, such as in the CAR, the national legal framework of the crime of genocide may face serious challenges within the context of the international norms. a) The Challenges in the Application of the National Law on Genocide A conflict of norms confronts every legislator, particularly when a law reform is meant to deal with past, on-going and future reprehensible acts. In the CAR, not less than three core national legal provisions are set in an attempt to resolve the conflict. Nevertheless, the solutions may be more complex to be found as thought! The fact that the national Courts may have jurisdiction over crimes, including genocide, committed before 2010, creates a turbulent conflict of legal norms. No less than three different national legal regimes in the CAR deal with international crimes such as genocide. They are to be found in the criminal code of 1961, the criminal code of 2010 and the Organic Law n8 15.003 of 2015 with regard to the SCC. Whereas the criminal code of 1961 does not mention at all the crime of genocide, the criminal code of 2010 and the Organic Law n8 15.003 of 2015 do criminalise genocide. However, the last two do not provide the same definition of the crime, thus further crystallising a deep conflict as to which one of both definitions is applicable. A better understanding of the legal intricacies, recommends not to proceed chronologically, but to start with the Organic Law n8 15.003. Precedence is given to the Organic Law not because it is the most recent legal norm, but due to the fact that it is intended to resolve the conflict of norms. According to its article 3.1, the SCC: “… has the mandate to investigate, at the prosecutorial and judicial levels, and try the grave violations of human rights and grave violations of international humanitarian law perpetrated on the territory of the Central African Republic since the 1st January 2003, as defined in the CAR criminal code pursuant to the international obligations contracted by the CAR in the field of international law, namely the crime of genocide, the crimes against humanity and war crimes, under current and future investigations”.
Pursuant to this article, the SCC shall apply the definition of the crime of genocide as in the “… criminal code pursuant to the international obligations by the CAR …”. At this juncture, the emphasis will be put on the “criminal code”, whilst the international obligations will be examined further below. It is worth clarifying that the criminal code to which article 3.1 Organic Law n8 15.003 refers is not the code of 1961, since it does not criminalise genocide, but it is rather the one of 2010 providing in its article 152 that: “Are qualified as crime of genocide, the violation of the provisions of [article 6] the Rome Statute of the International Criminal Court and namely the fact to commit or to cause to commit any of the following acts in the execution of a concerted plan, with the intent to destroy, in whole or in part, a national, ethnical, racial or religious group, or a group determined based on any arbitrary criterion. (a) Killing members of the group;
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(b) Causing serious bodily or mental harm to members of the group; (c) Deliberately inflicting on the group conditions of life calculated to bring about its physical destruction in whole or in part; (d) Imposing measures intended to prevent births within the group; (e) Forcibly transferring children of the group to another group.”
As defined above, the crime of genocide requires two-layer elements, composed of namely the underlying crimes and the contextual elements including a special intent to destroy, in whole or in part, a protected group. Of course, the criminal code of 1961 does not criminalise genocide as such. Nonetheless, it does not exclude that acts were committed, under its regime, that could amount, not only to underlying crimes, but also fulfil the contextual elements, under which those criminal acts could constitute the crime of genocide. Whilst some of the underlying crimes were already provided for in the 1961 criminal code, many were not, including the contextual elements and also the specific intent that would have made them constitute a crime of genocide. However, it is crucial to note that article 2 of the 1948 Genocide Convention is part of customary international law and jus cogens. Therefore, even if the criminal code of 1961 does not criminalise genocide explicitly, this does not preclude the prosecuting of such acts perpetrated, before the ratification of the Rome Statute of the ICC in 2001 or even the provision of the crime of genocide in the criminal code of 2010. The shortness of this paragraph relating to the national legal provisions compared to the length of the paragraph dealing with the international law is striking. Indeed, it is an evidence of the lacuna in terms of the legal vacuum and uncertainties in the national law of the CAR, but also it shows the importance of international law in defining the crime of genocide. The reference to international law in the CAR’s national law, such as article 3.1 of the Organic Law n8 15.003 and article 152 crim. code 2010, leads to two intertwined conclusions: the CAR legislator is aware of the difficulties in the national law concerning the definition of the crime of genocide, but also believes that the reliance on international law, however complex it may be, can inspire a solution. b) The Intricacies of the Applicable International Law and Jurisprudence on Genocide Prosecuting international crimes such as genocide, regardless of the country, cannot happen without invoking the core legal provisions of the international law of treaties, customary international law and the jurisprudence of international (non-)criminal jurisdictions. Despite this, the CAR legislator has chosen own way to impose international law, either through a specific provision or a general legal authorisation. The special national legal provision allowing the implementation of international law is article 152 crim. code 2010, in the sense that it expressly refers to article 6 of the Rome Statute of the ICC. Consequently, article 152 crim. code 2010 cannot be interpreted without regards to article 6 of the Rome Statute of the ICC. Another in-
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ternational substantive legal instrument that must be applied, even though the CAR has not ratified it, is the 1948 Genocide Convention. The simple reason for this is that this Convention is part of customary international law and jus cogens and is therefore binding on the CAR. Thus it is part of the international legal obligation the SCC should apply pursuant to article 3.1 and 4 Organic Law n8 15.003. Another reason, seemingly marginal for applying the 1948 Genocide Convention is that, even though it is not referred to specifically in the wording of article 152 crim. code 2010, it is essential that the latter refers to article 6 Rome Statute of the ICC, the wording of which is a copy and paste of article 2 of the 1948 Genocide Convention. It is clear however, that article 152 crim. code 2010 has some differences, as underlined below, to article 6 of the Rome Statute of the ICC and article 2 of the 1948 Genocide Convention. According to these latter provisions, the crime of genocide “… means any of the following acts committed with intent to destroy, in whole or in part, a national, ethnical, racial or religious group, as such: (a) Killing members of the group; (b) Causing serious bodily or mental harm to members of the group; (c) Deliberately inflicting on the group conditions of life calculated to bring about its physical destruction in whole or in part; (d) Imposing measures intended to prevent births within the group; (e) Forcibly transferring children of the group to another group.”
The situation would have been different should article 152 crim. code 2010 have limited itself to the reference to article 6 of the Rome Statute of the ICC. However, it went on further and expressly provides its own definition of the crime of genocide, which entertains substantive differences from article 6 of the Rome Statute of the ICC and article 2 of the 1948 Genocide Convention. Without changing the constitutive acts listed in these two provisions, article 152 crim. code 2010 defines the crime of genocide as: “…, the violation of the provisions of [article 6] the Rome Statute of the International Criminal Court and namely the fact to commit o r t o c a u s e t o c o m m i t any of the following acts i n t h e e x e c u t i o n o f a c o n c e r t e d p l a n , with the intent to destroy, in whole or in part, a national, ethnical, racial or religious group, o r a g r o u p d e t e r m i n e d b a s e d o n a n y a r b i t r a r y c r i t e r i o n .21
As will be detailed further below, it suffices to mention here that the definition of the crime of genocide in article 152 crim. code 2010 includes two types of originalities in comparison to article 2 of the 1948 Genocide Convention or article 6 of the Rome Statute of the ICC. Firstly, article 152 crim. code 2010 seems to treat as constitutive of the crime of genocide some acts similar to those listed in article 3 of the 1948 Genocide Convention, but rather as separately punishable acts outside of genocide per se. These elements are the fact “to cause to commit”, genocide “in the execution of a concerted plan”. Secondly, article 152 crim. code 2010 is innovative as it includes a new category of protected groups. Hence, in addition to the four protected 21
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groups under article 6 of the Rome Statute of the ICC or article 2 of the 1948 Genocide Convention, article 152 crim. code 2010 adds “a group determined based on any arbitrary criterion”. By doing so, the definition of genocide in article 152 crim. code 2010 includes key distinctions from the article 2 of the 1948 Genocide Convention. As a result, the interpretation of article 152 crim. code 2010 may raise some concerns of uncertainties and questions of compatibility with regard to international law as enshrined in articles 2 and 3 of the 1948 Genocide Convention and article 6 of the Rome Statute of the ICC, as well as in the international (criminal) jurisprudence as elaborated on below. It is in this situation of uncertainty and incompatibility to international norms that two general provisions, namely article 3.1 and article 3.4 Organic Law no 15.003 are set to be of assistance to address the conflict of norms at least before the SCC. On its part, article 3.1 Organic Law n8 15.003 provides that the SCC has the mandate to investigate and try grave violations of human rights and international humanitarian law perpetrated on the territory since the 1st January 2003, namely the crime of genocide, “… as defined in the CAR criminal code pursuant to the international obligations contracted by the CAR in the field of international law, …”.
Moreover, article 3.4 of the same Organic Law no 15.003 adds that the SCC shall not only rely on international law to define the crimes, such as genocide, but it also “… could refer to substantive norms and rules of procedure established at the international level, when the legislation in force does not dealt with the particular question, when there are uncertainties in the interpretation or the implementation of a Central African legal provision or also the provision raises the question of its compatibility with international norms”.
The combined wording of paragraphs 1 and 4 of article 3 Organic Law no 15.003 shares similarities with a decision of the Appeals Chamber of the Special Tribunal for Lebanon (“STL”) of 16 February 2011 on the applicable law.22 The Appeal Chamber argued that: “Unlike other international criminal Tribunals, which apply international law (or, in some limited instances, both international law and national law) to the crimes within their jurisdiction, under The Tribunal’s Statute the Judges are called upon primarily to apply Lebanese law to the fact coming within the purview of the Tribunal’s jurisdiction. Thus, the Tribunal is mandated to apply domestic law in the exercise of its primary jurisdiction, and not, as is common for most international tribunals, only when exercising its incidental jurisdiction. In consonance with international case law, generally speaking, the Tribunal will apply 22
The decision of the Appeal Chamber was rendered upon request of the pre-trial judge on the ground of article 68(G) added to the STL RPP on 10 November 2010, according to which “The Pre-Trial Judge may submit to the Appeals Chamber any preliminary question, on the interpretation of the Agreement, Statute and Rules regarding the applicable law, that he deems necessary in order to examine and rule on the indictment”.
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Lebanese law as interpreted and applied by Lebanese courts, unless such interpretation or application appears to be unreasonable, might result in a manifest injustice, or appears not to be consonant with international principles and rules binding upon Lebanon. Also, when Lebanese courts take different or conflicting views of the relevant legislation, the Tribunal may place on that legislation the interpretation which it deems to be more appropriate.”23 “As an international court, we may depart from the application and interpretation of national law by national courts under certain conditions: when such interpretation or application appears to be unreasonable, or may result in a manifest injustice, or is not consonant with international principles and rules binding upon Lebanon”.24
The STL abundantly relied on its nature as an “international court” to justify its approach of resorting to international law. There may be a temptation to infer from this that even though the SCC is an international(ised) court, it remains a national court and may not adopt the same approach toward international law. However, that argument fails in the face of paragraphs 1 and 4 of article 3 Organic Law no 15.003 imposing the implementation of international law, due to the hybrid nature of the SCC. Indeed, the plain wording of paragraphs 1 and 4 of article 3 of the Organic Law no 15.003 set out the three decisive criteria similar to those according to which the STL applies international procedural rules and substantive norms. These decisive criteria are: firstly, the lack of consonance of the national law with international principles and rules binding upon a State, secondly, the apparent unreasonableness of the interpretation of the national law and thirdly, the risk of a manifest injustice that the national law may present. As national legal provisions, but apparently of international origin, article 3.1 and 4 of the Organic Law no 15.003 open, if not a door, at least a window from the national to international law, with regard to all international crimes, including the genocide. Logically international law, as maybe rightly inferred from the international obligations binding upon a country with regard to the crime of genocide, encompasses customary international law and international treaty-based law, including also the jurisprudence of international (non-)criminal jurisdictions as well as that of the treaty organs. Concerning the international treaty law and, because the CAR has ratified the Rome Statute of the ICC in 2001, article 6 of which replicates article 2 of the 1948 Genocide Convention, it is correct to state that the criminalisation of genocide exists per se as from 2001. It would be rather legally incorrect to assume that this criminalisation exists only as from 2010, at the time article 152 crim. code 2010, criminalised genocide, by expressly referring to article 6 of the Rome Statute of the ICC. Moreover, it should be recalled that whether or not genocide was a crime, or is differently defined in the national law of the CAR, it was already en23
STL-11-01/I, Interlocutory Decision on the Applicable Law: Terrorism, Conspiracy, Homicide, Perpetration, Cumulative charging with Corrected Front Page, 16 February 2011, Headnote, p. 2. 24 STL-11-01/I, Interlocutory Decision on the Applicable Law, 16 February 2011, para. 39.
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shrined and prohibited in the 1948 Genocide Convention, which was already part of customary international law25 even before the interpretation in the jurisprudence of the ad hoc jurisdictions as from the early 90’s. Customary international law on genocide is binding on the CAR and should be applied by national courts, for crimes committed before 2010 and 2001. It remains that even though article 152 crim. code 2010 refers to article 6 of the Rome Statute of the ICC to define the crime of genocide, the provision is drafted in such a manner which obviously diverts from the definition in customary international law. Therefore, it would be incumbent upon the judges to determine which definition of the crime of genocide should be applied and as from what time, taking into consideration the principle of nullum crimen sine lege and the non-retroactivity of criminal law. Indeed, the general principle of legality of crimes and specifically the principle of non-retroactivity of the law prohibits the enforcement of a newly adopted law to acts that occurred before the said new law comes into existence. It is not to be excluded that the principle of non-retroactivity could be invoked to oppose the application of a specific definition of the crime of genocide for acts perpetrated at the time that definition did not exist. However, although the non-retroactivity principle could apply, it should be recalled that the principle of retrospectivity could also be considered. According to this principle, even failing a criminalisation of the acts of genocide in the national law, the prohibition of that crime was already binding on the CAR authorities and citizens under (customary) international law. It is for the judges to decide whether they will be guided by the principle of “retrospectivity” of the law, according to which the non-retroactivity of the criminalisation does not require that the crime or the mode of liability be provided for in an identical manner or definition.26 Furthermore, the word “genocide” was only defined in 1948 after the trials in Nuremberg and Tokyo of 1946. The criminalisation of genocide has not been dealt with per se during those trials, because the charges were limited to crimes against the law and violations of customs of the war.27 However, the Nuremberg principles as adopted by the United Nations General Assembly (UNGA),28 and enriched by international(ised) and hybrid jurisdictions, may also be applied as part of customary international law for the crime of genocide.
25
Gerhard Werle/Florian Jessberger, Principles of International Criminal Law, 3rd edition, 2014, para. 780. 26 Prosecutor v. Hadzˇihasanovic´, Case No. IT-01-47-AR72, Decision on Interlocutory Appeal Challenging Jurisdiction in Relation to Command Responsibility, 16 July 2003, para. 12; Karemera v. Prosecutor, Case Nos. ICTR-98-44-AR72.5, ICTR-98-44-AR72.6, Decision on Jurisdictional Appeals: Joint Criminal Enterprise, 12 April 2006, para. 15; Ministe`re Public c. Hissein Habre´, Jugement, CAE Chambre d’Assises, 30 mai 2016, para. 41. 27 Gerhard Werle/Florian Jessberger, Principles of International Criminal Law, para. 779. 28 Resolution A/RES/95/1 (1946) of 11 December 1945.
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It would be tempting to assume that all problems relating to the crime of genocide would be resolved, once the legal framework is clarified and the challenges to enforce the national as well as international law and jurisprudence are overcome. However, the complexity of the legal provisions justifies a necessary exercise to frame the constitutive elements of the crime of genocide. 2. The Need to Circumscribe the Constitutive Elements of the Crime of Genocide Based on the plain text of article 152 crim. code 2010, at least two interpretations can be envisioned, each of which is compatible with the pertinent international substantive norms. Whichever of both interpretations applies, each of them has specific bearing on the genocidal acts to be punished. Obviously, there is a risk firstly, that the characteristic elements of the crime of genocide become instable (a)) and secondly that the categories of protected groups get out of control (b)). a) The Fluctuation of the Characteristic Elements of the Crime of Genocide The independence taken by the lawmaker of the CAR toward international law to define the crime of genocide has preserved, to some extent, some internationally established characteristics of that crime. These are the special genocidal intent, the status of the perpetrator and the context of the perpetration of that crime. Whereas the provision in the CAR entertains a similarity with the other countries and international law on all those points, it also shows some nuances that are worth highlighting. The mental element of the crime of genocide found under article 152 crim. code 2010 requires that the perpetrator carries out the material acts not only with “intent and knowledge”, but also with a specific genocidal intent, which is exactly the same as in international law. Concerning the specific intent, genocide occurs when the material acts committed with intent and knowledge are also perpetrated with the requisite intent to destroy in whole or in part a specified group, as is explained further below. This requirement of double mental element, should not have any bearing whatsoever on whatever option, as elaborated on further below, that would be made to interpret article 152 crim. code 2010 to define the crime of genocide. The targeted group does not need to be destroyed completely, but a partly destruction amounts to the crime of genocide. Even though the high number of victims could be an indication of genocide, it is not necessary and it suffices that there is a single victim, as long as the intent to destroy is established. The reason for this is that, even if it is a group that is protected, the crime of genocide is directed against its individual members. Targeting a particular category of the group warrants the crime of genocide if the said category is essential for the preservation of the group. For example, is constitutive of the crime of genocide, sexual violence against women with the intent to prevent them from procreating or giving birth to children, which may result from the
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trauma inflicted to the victim.29 In principle, the decimation or incapacitation, by any means (assassination, deportation, slavery, colonisation, etc.) of the individuals who given their role of any nature are essential to initiate and sustain policies to ensure the preservation of a group, should also amount to the crime of genocide. An important proof of the genocidal intent can be drawn from the existence of an agreement or a plan among various individuals to commit genocide. However, while the international law and jurisprudence state otherwise,30 the wording of article 152 crim. code 2010 seems to consider the existence of an agreement or concerted plan as a constitutive element of the crime of genocide. Regarding the contextual elements, the crime of genocide in international law does not require a situation of armed conflict, whether international or not, in the sense of the Geneva Conventions of 1949 and its additional protocols of 1977. Hence, the crime of genocide can be perpetrated also in time of peace. However, it could be argued that the reference in article 152 crim. code 2010 to the Rome Statute of the ICC implies also that the provisions of the Elements of Crimes of the ICC can be applied. Were this interpretation to flourish, it would mean that in addition to the special intent, the crime of genocide would require an objective contextual element. Hence, as debatable and controversial as it may be,31 genocide would suppose that the reprehensible conduct “… took place in the context of a manifest pattern of similar conduct directed against that group or was conduct that could itself effect such destruction”.32 In the situation of some countries, it is frequently the case that the modus operandi may not display any manifest pattern of similar conduct directed against groups. In these circumstances and based on the evidence before them, the judges will make their findings whether the crime of genocide is established also in those cases, when the manifest pattern of similar conduct is not obvious but crimes are committed with the intent to destroy the entire or part of a protected group. Furthermore, the challenge of the participation of multiple individuals remains vivid as to which one should apply between the “ad hoc Tribunals approach” and the “ICC approach”. The first approach considers that for some modes of participation, such as aiding and abetting or the joint criminal enterprise (JCE) in its extended form (JCE III), an individual could be convicted of genocide, on the basis of the mens rea of those modes, even in the absence of a genocidal intent. The second one, by contrast considers that an individual can be convicted of genocide, only in the existence of all required mental elements, including the genocidal intent.33 29 The Prosecutor v. Jean-Paul Akayesu, Trial Chamber Judgement, 02 September 1998, para. 508. 30 Gerhard Werle/Florian Jessberger, Principles of International Criminal Law, para. 826. 31 Gerhard Werle/Florian Jessberger, Principles of International Criminal Law, paras. 827 – 833. 32 ICC Elements of Crimes, article 6(a).4; article 6(b).4; article 6(c).5; article 6(d).5 and article 6(e).7. 33 ICC Elements of Crimes, article 6(c); see Gerhard Werle/Florian Jessberger, Principles of International Criminal Law, para. 848 following.
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As far as the perpetrator is concerned, the crime of genocide may not necessarily be a group project involving a plurality of actors. A single physical person can individually and alone perpetrate the crime of genocide. Nevertheless, article 152 crim. code 2010 seems to curiously insinuate that genocide supposes a plurality of perpetrators, as it requires the existence of a “concerted plan” as constitutive element of the crime. That requirement in article 152 crim. code 2010, may give the impression that the crime could not be committed by a single individual but a plurality of persons. In international law, a plurality of persons is rather required to establish the existence of a JCE and denotes, rather as a mode of perpetration of a crime; it is not a constitutive element of a crime. The “concerted plan” is resorted to by international jurisdictions as evidence to reinforce or establish the specific intent to destroy in part or as a whole a targeted group, but not as an element of the crime of genocide per se. The “concerted plan” required in article 152 crim. code 2010 may overlap with some others acts, which are provided for as punishable stand-alone conducts separately from the crime of genocide per se. These conducts are provided for in article 3 of the 1948 Genocide Convention, such as “conspiracy to commit genocide” and “complicity in genocide” requiring also a plurality of persons. It is incumbent upon the judges in their development of the jurisprudence to determine, if so, then to what extent the “concerted plan” required in article 152 crim. code 2010 is to be distinguished from those two acts in article 3 of the 1948 Genocide Convention. Admitting that genocide can be committed by JCE, then regardless of the meaning to be given to the “concerted plan” in article 152 crim. code 2010, legal persons or entities, natural persons, corporations can be held responsible for that crime for any act on their part to annihilate in part or in whole a protected group. Even though it is provided for in articles 10 and 160 crim. code 2010, it is true that corporate liability of the liability of legal persons is unusual in international law. The corporate criminal liability is rightly provided for in article 46C Protocol on Amendments 2014, but could apply only when the Protocol enters into force. However, corporate criminal liability is no longer completely excluded in international justice. The most recent cases were before the STL, whereby media corporations have been tried for divulgating classified information.34 It could be said that the conduct of “divulgating classified information” founding the corporation liability is not comparable, in terms of its gravity, to the crime of genocide. However, the mere fact that corporations have been held liable means that the principle is no longer excluded in international law. This development is a milestone in international criminal justice, because it touches upon one of the main surprising weaknesses in the fight against impunity for international crimes. Clearly, circumstances may justify a corporation being held liable for an international crime, such as genocide. The reality and dynamic of the perpetration of international crimes teaches that the quasi non-liability of corporations in international criminal justice is a frustrating and regrettable lacuna. Indeed, it is widely 34 STL-14-06/PT/AP/AR126.1, In the Case against Akhbar Beirut S.A.L. and Ibrahim Mohamed Al Amin, Decision on Interlocutory Appeal Concerning Personal Jurisdiction in Contempt Proceedings, STL Casebook 2015, pp. 13 – 42.
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known that, corporations of the (inter)national private sector (in)directly fuel conflicts (armed or not), political unrest and instabilities, ethnic diversities, especially on the Kamite Continent, leading thus to the perpetration of the international crimes. It would be for the judges to scrutinise the activities of such corporations and establish to what extent their actions may amount to a participation in the perpetration of international crimes, such as genocide. As long as, that lacuna for international criminal accountability exists, all efforts to curve the commission of those crimes on the Kamite Continent would be futile. It is certainly, cognisant of that reality that the drafters of the Protocol on Amendments 2014 have provided for the criminal liability of corporations. I recall from my experience as a legal adviser in the United Nations Security Council (UNSC) that a draft resolution relating to the extraction of natural resources has been withdrawn and never put to a vote. The move was made to avert the intransigence of some non-permanent UNSC members insisting to include in the resolution the liability of corporations from the international private sector, beside that of the warlords and politicians who should not be the only ones to be held liable. The strong opposition from some UNSC members reflects their intent to shield corporations (often domiciled or with their Headquarters in their countries) from accountability for international crimes. Genocide is not only a matter of the conduct of politicians, but also involves individual actors and entities from the (inter)national private sector, which have historically fuelled and continue to fuel these conflicts in the present days, whilst shifting the responsibility to national authorities of the conflict-affected countries.35 Genocide may also not necessarily be a state act, but the act of some individuals, as transpired in the Report on the Darfur crisis, when the Commission asserted that even though it does not appear to be the policy of the state, genocidal intent is identified by some official individuals.36 This reasoning was followed by the Preliminary Chamber,37 but was reversed by the Appeal Chamber. It is worth mentioning that by doing so, the Appeals Chamber was not questioning the idea that individuals could have genocidal intent when the state does not. It was rather of the view that in the case of Darfur not only individual had the requisite genocidal plan or intent, but it was
35 S/RES/1856(2008), 22 December 2008, S/RES/1857(2008), 22 December 2008; Robert Miller, How British Corporations are Fuelling War in the Congo, https://libcom.org/library/ how-british-corporations-are-fuelling-war-congo-robert-miller; Denis Mukwege, Nobel Peace Prize lecture 2018 (English subtitles), https://www.youtube.com/watch?v=IYOiqbjrZYQ; Abiodun Alao, Natural Resources and Conflict in Africa: The Tragedy of Endowment, Boydell & Brewer, University of Rochester Press, 2007; Daniel Fiott, Natural Resources and Conflict in Africa, 15 October, 2009. 36 S/2005/60, Report of the International Commission of Inquiry on Darfur to the Secretary-General, 1st February 2005, p. 4. 37 The Prosecutor v. Omar Hassan Ahmad Bashir (“Omar Al Bashir”), Decision on the Prosecution’s Application for a Warrant of Arrest against Omar Hassan Ahmad Al Bashir, No.: ICC-02/05-01/09, 4 March 2009.
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in fact a policy of the state.38 The genocidal act could also be planned, not by a state, but by one community against another, provided that the targeted community is a protected group. The definition of the crime of genocide without the existence of a “concerted plan” would have been enough to capture the genocidal conduct of groups. However, the requirement of a “concerted plan” in article 152 crim. code 2010, may be more explicit to characterise the acts of the (armed) groups and communities. But the risk would be a tendency to believe that the crime of genocide is not established, absent this “concerted plan”. Whether it is monitored or not, the potential fluctuation of the characteristic elements of the crime of genocide may be seriously compounded by an expansion of the types of protected groups, as envisioned in the CAR. Exactly as the excessive limitation of the protected groups has done it so far, the purpose of the prevention and punishment of the crime of genocide may still be weakened, should there be no clear definition of the protected groups in the future. b) The Safeguards Against the Risks of Inflation of the Categories of Protected Groups Article 152 crim. code 2010 initiates an expansion of the scope of the protected group category, which stands in contrast to the narrowness of this class in the 1948 Genocide Convention. In order to prevent a potential risk of an open-ended concept of these groups, the interpretation of the provision requires some safeguards. Otherwise, the extension of the protected groups may get out of control. To some extent, article 152 crim. code 2010 is aligned with international law in that it consecrates the four groups protected in article 2 of the 1948 Genocide Convention as replicated in article 6 of the Rome Statute of the ICC and also the basic laws of international criminal jurisdictions, such as the ICTR and ICTY. The protection is granted to a “national group”, an “ethnic group”, a “racial group” and a “religious group”. But, the similarities stop there, in the sense that article 152 crim. code 2010 provides for a protection of groups beyond the scope of these four groups. The provision extends the protection against genocide to “… groups determined based on any arbitrary criterion”. By providing that genocide can be committed against groups targeted based on “any arbitrary criterion” the lawmaker, has rightly estimated that the protection of groups in the 1948 Genocide Convention needed to be expanded. As such the extension rightly conforms to the Akayesu jurisprudence which held that the protection should apply to any stable group, even if it is not listed in article 2 of the 1948 Genocide Convention.39 If at the first sight, that extension 38 The Prosecutor v. Omar Hassan Ahmad Bashir, Judgment on the appeal of the Prosecutor against the “Decision on the Prosecution’s Application for a Warrant of Arrest against Omar Hassan Ahmad Al Bashir”, No. ICC-02/05-01/09-OA, 3 February 2010. 39 At paragraph 516 the Trial Chamber reasoned as follows: “Moreover, the Chamber considered whether the groups protected by the Genocide Convention, echoed in Article 2 of
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could be expected to emulate other countries even beyond the Kamite Continent, it may lead to an inflation of protected groups, which had been feared in 1948. It is irrelevant to assess what was the intent which triggered this revolutionary move, in contrast with the narrow approach that could be seen as a self-protection mechanism on the part of the drafters of the 1948 Genocide Convention against self-incrimination. Obviously, in spite of their warfare against the crime of destruction of groups on the European continent in 1939 – 1945, many countries among the allies were destroying the welfare of the people in the territories occupied or colonised by them on other continents. Just to name one example, a colonising state had even recruited from the colonised countries numerous contingents of soldiers and made them fight on the front line during that war until the victory was secured, but has massacred and decimated the survivors soon after.40 The coloniser countries and their proxies, also private sector actors, were committing similar or worse atrocities in their colonies, also on the Kamite Continent, up until the independence of these countries and even after. Despite the independence, these coloniser countries simply resorted to other strategies to carry on atrocities. Hence, it would have been a self-incrimination on the part of the colonisers to adopt a convention to protecting groups that they were massacring, with the risk that these groups may invoke the convention against them. Therefore, despite the introduction of the 1948 Genocide Convention, the people of colonised States have no other choice than to continue enduring in full impunity the crimes identical, or even worse, compared to those which international community prohibited through the convention in a move to render justice. The inventory of the series of genocides that afflicted humanity,41 even as back as the war of 1914 – 1918, rarely mentioned those crimes akin to genocide committed on the Kamite populations and culture. Even before 1914 – 1918 genocide was perpetrated against the Hereros and Namaqua between 1904 and 1908 in the German-occupied South West Africa (currently Namibia). This genocide, rightly referred to as the “precursor of the Holocaust” and the “forgotten genocide”, is mostly and with no surprise
the Statute, should be limited to only the four groups expressly mentioned and whether they should not also include any group which is stable and permanent like the said four groups. In other words, the question that arises is whether it would be impossible to punish the physical destruction of a group as such under the Genocide Convention, if the said group, although stable and membership is by birth, does not meet the definition of any one of the four groups expressly protected by the Genocide Convention. In the opinion of the Chamber, it is particularly important to respect the intention of the drafters of the Genocide Convention, which according to the travaux pre´paratoires, was patently to ensure the protection of any stable and permanent group”. 40 Thiaroye: a dark chapter in France and Senegal’s common history, https://www.youtube. com/watch?v=DVwommsCFw0; Massacre de Thiaroye en 1944: “C’est un crime de masse prémédité”, https://www.youtube.com/watch?v=CSejHs3QY5c; Rapport d’information no 104, Sénat-France, 29 octobre 2013, p 400. 41 Gerhard Werle/Florian Jessberger, Principles of International Criminal Law, paras. 774 – 777.
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omitted from the lists dealing with genocides of the 20th Century, whereas the relics of the martyrs are said to have been sold by Germany to museums.42 The step taken by the CAR legislative, rightly corrects some of the inconsistencies and contingencies that prevailed at the time of the Genocide Convention in 1948 to justify the narrowness of the protected groups. So far, the widening of the categories of protected groups is in line with UNGA Resolution A/RES/1/96 (1946), which did not limit the categories of protected groups.43 Genocide according to the resolution is “the denial of the right of existence of entire human group, as homicide is the denial of the right to live for individual human beings; Such denial of the right to existence shocks the conscience of mankind results in great losses to humanity in the form of cultural and other contributions represented by these human groups, and is contrary to moral law and to the spirit and aims of the United Nations. Many instances of such crimes of genocide have occurred when racial, religious, political and other groups have been destroyed entirely or in part”. In contrast to the statement that genocide is basically meant to protect the physical or psychological integrity of members of the group or its existence and the biological continuity,44 the definition in the Resolution A/RES/1/96 (1946) proves that it is more than that. Pursuant to the plain wording of this resolution, genocide should include also the cultural, political and other elements of the survival of groups. Logically, while admitting genocide against “religious” and “racial” groups, the resolution continues that the crime of genocide is punishable if it is committed on the basis of “political or any other grounds”. Therefore, it is unrealistic to have believed in 1948 that the four protected groups in the Genocide Convention encompass all other criteria to protect groups that exist culturally and politically across the mankind. The segment of the sentence “or a group determined based on any arbitrary criterion“ inserted in article 152 crim. code 2010 is nothing but realistic because it conforms to the wording as well as the spirit of Resolution A/RES/1/ 96 (1946). That segment enables include the cultural identity and the political or other criteria as worth protecting. First of all, the four groups are not necessarily exclusive among themselves and there are obvious overlapping issues. For example, if a nation can be composed of several ethnic groups, the notion of “ethnic group” did not seem to have been applied to communities on the Kamite Continent. These communities were rather referred to as “tribes”, but not “ethnic groups”, and thus were excluded from the protection of the 1948 Genocide Convention. Hence, they continued being decimated after the adoption of the Genocide Convention in 1948, until some of the colonised territories they inhabited won their independence in the 1960s. Likewise, the criterion of “religious group” was not applied to the Kamite spiritual tra42 Jan-Bart Gewald, The Great General of the Kaiser, pp. 67 – 76; Germany moves to atone for “forgotten genocide” in Namibia, https://www.theguardian.com/world/2016/dec/25/ge rmany-moves-to-atone-for-forgotten-genocide-in-namibia; Namibia’s Herero take Germany to US court over ‘forgotten genocide’, https://www.france24.com/en/20191022-namibia-s-hererotake-germany-to-us-court-over-forgotten-genocide. 43 United Nations General Assembly Resolution A/RES/1/96 (1946) of 11 December 1946. 44 Gerhard Werle/Florian Jessberger, Principles of International Criminal Law, para. 782.
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ditions, and some of them were completely annihilated through violent evangelism and through the persecution of the adepts of many traditions of the Kamite ancestral spirituality. It must be said that the destruction of the Kamite culture, which started with slavery in 1454 following the slavery by arabo-muslams in 7th Century denying “humanity” to people of that Continent, has been systematically entertained despite the adoption of the Genocide Convention in 1948. It is, nevertheless easy to notice that all four groups protected by the 1948 Genocide Convention are undoubtedly culture-based. It is a small wonder that the concept of cultural genocide was excluded in 1948, if it is not to turn blind eye to or to further these reprehensible acts committed on other peoples or groups, also on cultural basis. Curiously, even though the category of “cultural genocide” had been rejected as such by the drafters of the 1948 Genocide Convention, the forcible transfer of children from one group to another, which was meant to be one of the culturally based forms of genocide has been admitted.45 It is simple because the colonial states were still set to pursue their “civilising mission” against the Kamite populations and were not willing to adopt a convention, which could be turned against them for their “genocidal politics” aimed at eradicating the Kamite cultures. Whether they are “ethnic” or “religious” groups within the scope of article 2 of the 1948 Genocide Convention or purportedly “tribes” and “sorcery” respectively, these criteria are strikingly and blatantly arbitrary under article 152 crim. code 2010. Any attempts to create groups on the basis of these “values” with the intent to destroy them in part or in whole must amount to the crime of genocide. Also, must constitute genocide the intent to destroy in part or in whole a substantial cultural element, which is material to the survival of a “human group” or community. The drafters of the 1948 Genocide Convention were well aware of the material value of the spirituality in the survival of a group, and that is the reason why they included “religion” as protected value. Hence, their obvious “intent to destroy in part or in whole” the Kamite cultures under the guise of “mission of civilisation” is evidenced by their meticulous policy to replace the Kamite spirituality with the values and the religion of the colonisers. It is not provocative to assert that the continuation of some religions of the colonisers on the Kamite Continent should amount to either the crime of genocide per se or any of the stand-alone reprehensible acts (articles 2 and 3 1948 Genocide Convention). In short, slavery and colonisation, regardless of whether they are based on race or skin colour must amount to genocide. This is, as much true that the practices always use abduction of children, moving them away from their ancestral culture and inducting them into another one with the intent that they do not perpetuate their own culture.46 If it is true from the travaux préparatoires of the 1948 Genocide Convention that the prohibition of genocide aims at protecting attribute given by birth,47 then culture, is also something bestowed 45
Gerhard Werle/Florian Jessberger, Principles of International Criminal Law, para. 819. 14 Siècles d’Esclavage et de Traite Négrière Arabo-Musulmane, https://www.youtube. com/watch?v=4DaXgrPgsNY (7th minute). 47 The Prosecutor v. Jean-Paul Akayesu, Trial Chamber Judgement, 02 Sept. 1998, para. 511. 46
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upon an infant at birth. As a result, culture should be strongly protected in its entirety, and not in a partial fashion, focusing only on some of its elements such as “nationality”, “ethnicity”, “religion” or “race”. Henceforth, due to the expansion of the scope of protected groups, through article 152 crim. code 2010, these acts should no longer be inflicted unpunished to the people of former or still colonised or occupied territories. These populations should no longer be undergoing such crimes, whilst watching justice being rendered to other people for similar crimes. However, taking that legal and socio-political stance of widening the scope of protected groups, the legislator does not intend at all to create a catch all or open-ended category of protected groups. Safeguards are to be set to circumscribe the scope of protected groups commensurate with the opprobrium that the humankind associates with the crime of genocide. By reflex, and even after reflection, “arbitrary criterion” should be understood to be any attribute explicitly admitted as “discriminatory” in the sense of article 1 UNICCPR of 1966.48 Besides “race”, “national origin” and the “religion”, which are already criteria for protection under the 1948 Genocide Convention, additional criteria should be admitted to trigger a qualification of genocide, such as “skin colour”, “sex”, “language”, “political or other opinion”, “social origin”, “property”, “birth” or “other status”. “Other status” in the meaning of the ICCPR, as could be relevant for the protection of groups in the context of genocide, could be “profession”, “age”, “health”, “cultural values”, “geographic situation”, “historical memories”, “(level of) education”, etc. It must be underscored, with double lines, that any extension of the protected groups through “any discriminatory criteria” must conform to the underlying objective of the prevention and punishment of the crime of genocide. The objective is to protect from destruction any values which are intrinsically aimed at directly preserving procreation and life for the bio-psychological and cultural survival of a group. As a result, crimes committed against groups based on criteria not serving that purpose of preserving procreation and life for the bio-psychological and cultural survival of a group, should not amount to the crime of genocide. Crimes perpetrated on basis of these non-survival-oriented criteria should be dealt with by electing other criminal provisions and not those on the crime of genocide. In other words, the notion of “any arbitrary criterion” should not be stretched too widely, to include groups based on values which per se may compromise the procreation within the group and, by consequence provoke an imbalance in maintaining the survival of that group. Proceeding otherwise and electing the provisions on the crime of genocide in such circumstances would equate to an overuse of the concept of the crime, and would dilute its fundamental essence, which is to protect and preserve the biological, psychological and cultural survival of a group. The focus on the “group” should not detract from the fact that the dignity of individual members of groups is also primarily protected through human rights legal instruments. As elaborated on in the Akayesu case before the ICTR, the belonging to a protected group is not to be assessed solely on basis of objective elements such as language and culture but 48 United Nations International Covenant on Civil and Political Rights of 16 December 1966, and entered into force 23 March 1976.
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should also be based on a subjective attribute which allowed to ascribe the ethnicity to the Tutsi.49 This decision is wrongly criticized to be based on objective elements to determine a “group”,50 although it contains also a subjectivity, when it confers the ethnicity to the Tutsi group even though the “objective” criteria are not met. The subjective element of a protected group was taken further in the Kayishema and Ruzindana case, where the Trial Chamber ruled that “an ethnic group is one whose members share a common language and culture, or a group which distinguishes itself, as such; or a group identified as such by others, including perpetrators of crimes.51 This combination of the objective and subjective elements was approved of by the ICTY, which ruled that in order to classify a protected group, the most important characteristics are the perceptions by the perpetrators however, a targeted group cannot be defined exclusively on a subjective basis.52 It goes without saying that regardless of the scope of the protected groups, the new legal framework for the definition of the crime of genocide in the CAR gives rise to noticeable shifts in the concept of the crime and in its underlying acts. Hence, exceptional precautions would be necessary to redesign the dynamic of the punishment of the crime of genocide.
II. The Required Precautions in the Punishment of the Crime of Genocide It may not be necessary to completely change the existing paradigm of the prevention and the punishment of the crime of genocide, as established by the 1948 Genocide Convention and the jurisprudence of international(ised)criminal and non-criminal courts. Nonetheless, there is an urgent necessity to adjust the policy
49
513. 50
The Prosecutor v. Jean-Paul Akayesu, Trial Chamber Judgement, 02 Sept. 1998, para.
Gerhard Werle/Florian Jessberger, Principles of International Criminal Law, paras. 793 – 794; William Schabas, “The Crime of Genocide in the Jurisprudence of the International Criminal Tribunals for the Former Yugoslavia and Rwanda”, in: Horst Fischer/ Claus Kress/Sascha Rolf Lu¨ der (eds.), International and National Prosecution of Crimes Under International Law, Berliner Verlag, 2001, pp. 451 – 452. 51 The Prosecutor v. Kayishema and Ruzindana, Trial Chamber Judgement, 21 May 1999, para. 98. 52 The Prosecutor v. Al-Bashir, ICC-02/05-01/09, Decision on the Prosecution’s Application for a Warrant of Arrest against Omar Al-Bashir, 4 March 2009, paras. 136 – 137, See also Separate and Partly Dissenting opinion of Judge Anita Usˇacka, paras. 24 – 26; Gerhard Werle/ Florian Jessberger, Principles of International Criminal Law, para. 796, Prosecutor v. Jelisic´, ICTY Trial Chamber Judgement, 14 December 1998, para. 70; Prosecutor v. Krstic´, Trial Chamber Judgement, 02 August 2001, para. 557; Prosecutor v. Stakic´, ICTY Trial Chamber Judgement, 22 March 2006, para. 25; Prosecutor v. Tolomir, ICTY Trial Chamber Judgement, 12 December 2012, para. 735.
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not only in balancing the elements of the genocidal acts (1.), but also in accurately updating the threshold of the criminal gravity of the crime of genocide (2.). 1. The Needful Balancing of the Elements of the Genocidal Acts From being excessively restrictive, whether willingly or not, the substance of the crime of genocide may undoubtedly become nebulous, if the trend set by the law of the CAR through article 152 crim. code 2010 diffuses. The only remedy to that risk would be to clear a path toward a genuine concept of the crime of genocide (a)) in order to avert any ambiguity concerning the underlying acts thereof (b)). a) The Possible Legal Options for Defining the Crime of Genocide Sometimes, a word in a legal provision may impact the interpretation of that provision to an unpredictable extent. As exemplified above the adverbial locution “and namely” in the definition of the crime of genocide in article 152 crim. code 2010 generates two interpretations. Both are equally legal, but each of them is subject to whether the emphasis lies on the conjunction of coordination “and” or on the adverb “namely”. For ease of reference, the wording of article 152 crim. code 2010 is reproduced with highlight in “italic” on the adverbial locution “and namely” as follows: “Are qualified as crime of genocide, the violation of the provisions of [article 6] the Rome Statute of the International Criminal Court and namely the fact to commit or to cause to commit any of the following acts in the execution of a concerted plan, with the intent to destroy, in whole or in part, a national, ethnical, racial or religious group, or a group determined based on any arbitrary criterion.”
One option would be to put the emphasis on the adverb “namely” in the wording of article 152 crim. code 2010. With that hypothesis, the definition of genocide would exactly mirror that of article 6 of the Rome Statute of the ICC expressly referred to in article 152 crim. code 2010, before the adverb “namely”. Hence, it would mean that the acts listed after the adverb “namely” are but a few examples just to illustrate the classic definition of the crime of genocide as to be found in article 2 of the 1948 Genocide Convention, reproduced in article 6 of the Rome Statute of the ICC. Needless to clarify that article 2 of the 1948 Genocide Convention and article 6 of the Rome Statute of the ICC, define only the crime of “genocide” stricto sensu. The crime of genocide as defined in these provisions is separated from other acts listed in article 3 of the 1948 Genocide Convention, aimed at the perpetration of the crime defined in article 2, itself. These acts are the “conspiracy to commit genocide”, “direct and public incitement to commit genocide”, “attempt to commit genocide”, “complicity in genocide”. Curiously, in this interpretation, article 152 crim. code 2010 does not seem to make such a clear distinction between the crime of genocide per se and the other acts. It rather includes in the definition of the crime of geno-
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cide some of the acts enumerated in article 3 of the 1948 Genocide Convention. Therefore, these acts may seem to henceforth become constitutive elements of the definition of the genocide stricto sensu. For instance, the international jurisprudence accepts that the existence of a “concerted plan” is a stand-alone crime and not a constitutive element of the crime of genocide.53 However, pursuant to article 152 crim. code 2010 “conspiracy to commit genocide”, “direct and public incitement to commit genocide”, “attempt to commit genocide”, “complicity in genocide” should no longer be regarded as distinct acts to be punished separately from the crime of genocide stricto sensu. For instance, the elements of “to cause to commit” and the “concerted plan” included in article 152 crim. code 2010 may equate mutatis mutandis to “complicity” in genocide, “conspiracy” to commit genocide and even “direct and public incitement” to commit genocide” provided for in article 3 of the 1948 Genocide Convention. Assuredly, defining the crime of genocide in relation to the existence of a “concerted plan” is not specific to the CAR, but the same approach is observed in other countries, such as Burkina Faso and France.54 It should be clearly underscored here that any interpretation and definition of genocide in those countries remains within the purview of their national law and does not equate to the international law that could be binding on the SCC under article 3, paragraphs 1 and 4 Organic Law no 15.003. Having said this, it could be inferred from the wording of article 152 crim. code 2010 that these stand-alone acts provided for in article 3 of the 1948 Genocide Convention may no longer be prosecuted as such, since they are already included into the definition of the crime of genocide itself. Proceeding otherwise would be legally questionable, as it would give rise to double jeopardy against the convicted persons. It should be recalled that the current option results in including into the definition of the crime of genocide, elements of the separate criminal acts listed in article 3 of the 1948 Genocide Convention. Thus, it could be seen to be against the internationally accepted definition of the crime of genocide. However, it displays a strict interpretation of article 152 crim. code 2010, in full accordance with the principle of legality (nullum crimen sine lege) also consecrated in international criminal law and justice. Therefore, and even though it may deviate from the international definition and paradigms of the punishment of the crime of genocide, it may be incorrect to conclude that it presents uncertainties or uncompatinility with 53 Édouard Karemera and Matthieu Ngirumpatse v. The Prosecutor, Case No. ICTR-98-44A, Judgement Appeal Chamber, 29 September 2014, Separate, Partially Dissenting and Dissenting Opinions of Judge Koffi Kumelio A. Afand¯e, para. 13; Prosecutor v. Edouard Karemera et al., Case No. ICTR-98-44-AR73(C), Decision on Motions for Reconsideration, 1 December 2006, para. 21; Prosecutor v. Radislav Krstic´, Case No. IT-98-33-A, Judgment, 19 April 2004, para. 225; Prosecutor v. Goran Jelisic´, Case No. IT-95-10-A, Judgment, 5 July 2001, para. 48; See also Siméon Nchamihigo v. The Prosecutor, Case No. ICTR-2001-63-A, Judgement, 18 March 2010, para. 363; Semanza Appeal Judgement, para. 260; Clément Kayishema and Obed Ruzindana v. The Prosecutor, Case No. ICTR-95-1-A, Judgement, 1 June 2001, para. 138. 54 Édouard Karemera and Matthieu Ngirumpatse v. The Prosecutor, Case No. ICTR-98-44A, Judgement Appeal Chamber, 29 September 2014, Separate, Partially Dissenting and Dissenting Opinions of Judge Koffi Kumelio A. Afand¯e, paras. 12 – 17.
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regard the substantive norms at international level. As a result, and contrary to what could have been thought, this option cannot be disqualified on the ground of Article 3 Organic Law no 15.003. Despite the fact that this option to define the crime of genocide is legal, the question remains as to whether a national prosecution of genocide on that basis would yield a successful admissibility challenge pursuant to the “same case” test, under article 19 of the Rome Statue of the ICC. According to that test as established in the ICC jurisprudence, the same case test supposes that not only the same person, but also the “substantially same conduct” is (being) investigated and or prosecuted.55 Another option would be to shift the emphasis from the adverb “namely” to the conjunction of coordination “and”. Concretely, it would mean that the definition of the crime of genocide is limited to the first part of article 152 crim. code 2010 preceding the conjunction of coordination “and”. As a result, the acts listed after that conjunction come in addition to the definition of the crime of genocide, preceding the said conjunction. Should this interpretation be admitted, the definition of the crime of genocide in article 152 crim. code 2010 would be exactly the one to be found in article 6 of the Rome Statute of the ICC, replicating article 2 of the 1948 Genocide Convention. The same definition is reflected in the Statute of other international jurisdictions, such as in article 2 of the Statute of the ICTR and article 4 of the Statute of the ICTY. The current interpretation would reinstate the classic paradigms of the definition and the punishment of the crime of genocide as set out in the 1948 Genocide Convention. Namely, it allows one to strictly separate the crime of genocide per se in article 2 of the 1948 Genocide Convention and article 6 of the Rome Statute of the ICC from the acts equally reprehensible according to article 3 of the 1948 Genocide Convention, but as autonomous from the crime of genocide itself. As such, the present option is also fully compatible with the definition and repression of the crime of genocide according to international substantive norms and should not suffer any criticism of uncertain or incompatible interpretation with regard to article 3 Organic Law no 15-003. Certainly, it would be a daunting task to decide which of both optional interpretations of the crime of genocide should prevail over the other. Notwithstanding that, another burden would undoubtedly compound the previous one, namely the challenges to establishing and organising the underlying crimes of the crime of genocide. b) The Possible Overlapping of the Classic and the New Underlying Crimes Evidently, an attempt should be made to enlarge the scope of the crime of genocide. However, this task must be undertaken with caution so as to not watering down the definition of the crime as it currently stands. In addition to the classic genocidal 55 Rod Rastan, What is ‘Substantially the Same Conduct’? Unpacking the ICC’s ‘First Limb’ Complementarity Jurisprudence, in Journal of International Criminal Justice, March 2017, pp. 1 – 29.
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acts, other acts should also be included that are currently not mentioned, but which are truly disguised “genocidal” behaviours. Article 152 crim. code 2010, article 6 of the Rome Statute of the ICC, article 2 (a) to (e) of the 1948 Genocide Convention, and the relevant provisions and jurisprudence of the international jurisdictions are in unison concerning the acts that may constitute the underlying crimes of the crime of genocide. They consist of (a) “killing members of the group”, (b) “causing serious bodily or mental harm to members of the group”, (c) “deliberately inflicting on the group conditions of life calculated to bring about its physical destruction in whole or in part”, (d) “imposing measures intended to prevent births within the group” and (e) “forcibly transferring children of the group to another group”. Obviously, these provisions do not specify the crimes, but rather create six categories of acts, leaving it to the judges to decide which specific acts could fall within any of these categories, provided that they are perpetrated with the intent to destroy, in whole or in part, a group. Therefore, only the “killing of members of the group” as a category is specific in the sense that it focuses on a factual result of any act. Concerning the other five categories of acts, any reprehensible behaviours (which is not necessarily “killing”), defined in a criminal code of a country, may fall into any of them if their consequences match with the objective of the category. As already illustrated, the jurisprudence taken from the Akayesu case has determined that rape constitutes a crime of genocide, in the meaning of article 2(d) of the ICTR Statute as it led to prevent births within the group.56 Needless to recall, that the wording of article 2(d) of the ICTR Statute referred to, is identical to article 6(d) of the Rome Statute of the ICC as well as to article 2(d) of the 1948 Genocide Convention and also to article 28.B.d Protocol on Amendments 2014. Furthermore, acts of rape or any other form of sexual violence may amount to the crime of genocide within the meaning of article 28B.f. Protocol on Amendments 2014, provided that they are perpetrated with the requisite genocidal intent. It is clear that these acts of rape and sexual violence are constitutive of genocide when they lead to “prevent births within the protected group” as was judged in the Akayesu case, but also if they are not intended to prevent births, but rather to lead to births with the aim of changing the identity of a particular group.57 The crime of torture, may also constitute a crime of genocide as it may cause or amount to serious bodily and mental harm to members of a protected group as provided for in article 28B.b Protocol on Amendments 2014. In the context of the Kamite Continent, and based on established historical and actual facts, two other types of conduct may well fall into those six categories, if they are perpetrated with a genocidal intent. The first type refers to conduct, provided for in the Protocol on Amendments 2014, which may constitute underlying crimes either of the “crimes against humanity” in articles 28A.2 and article 28C or of 56
The Prosecutor v. Jean-Paul Akayesu, Trial Chamber Judgement, 02 Sept. 1998, paras. 507 – 508, 731 – 734. 57 The Prosecutor v. Jean-Paul Akayesu, Trial Chamber Judgement, 02 Sept. 1998, para. 508.
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“war crimes” under articles 28A.3 and article 28D. The second type of conduct contains acts criminalised by the alphanumerical series of article 28 of the Protocol on Amendments 2014, such as the unconstitutional change of government (article 28E), piracy (article 28F), terrorism (article 28G), mercenarism (article 28H), corruption (article 28I), money laundering (article 28I bis), trafficking in persons (article 28J), trafficking in drugs (article 28K), trafficking in hazardous wastes (article 28L), illicit exploitation of natural resources (article 28L bis), aggression (article 28M). There are many acts which may belong to the above two types of conduct and fall into any of the six categories. For example, the category of acts” causing serious bodily or mental harm to members of the group” (article 2 b of the 1948 Genocide Convention) could include the dangerous extraction of natural resources (endangering the surrounding population and even displacing them or depriving them of their land through the excavation of the ground), technological assaults (proliferation of technologies that represent a threat to life, living conditions, etc.). Other acts that could constitute underlying crime of the crime of genocide are the environmental crimes (pollution of air and the water, the dumping of nuclear waste as happened off the coast of Somalia and mentioned in a report of the United Nations Secretary-General and a resolution of the United Nations Security Council,58 etc.). Regarding the conducts aimed at “deliberately inflicting on the group conditions of life calculated to bring about its physical destruction in whole or in part”, one can mention economic crimes (import/export of products improper for consumption most of which are directed to specific parts of the world),59 colonisation (occupation of territories negatively affecting the living conditions of populations, invasion for the purpose to substitute a foreign culture for the local one), slavery (also of the individuals or the leadership able to sustain the survival of their population, working conditions improper for procreation, etc.), apartheid (confinement of part of the population to specific areas making their survival difficult and life-threatening). Acts aimed at “imposing measures intended to prevent births within the group” (article 2 d of the 1948 Genocide Convention) could be seen in medical and pharmaceutical aggressions (vaccination campaign consisting in injecting vaccination containing elements 58 Kone, Lassana, The Illicit Trade of Toxic Waste in Africa: The Human Rights Implications of the New Toxic Colonialism, 31 July 2014, available at SSRN: https://ssrn.com/ab stract=2474629 or http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.2474629; S/2012/783, Report of the Secretary-General pursuant to Security Council resolution 2020 (2011), 22 October2012, paras. 64 – 65; S/2011/30, Report of the Special Adviser to the Secretary-General on Legal Issues Related to Piracy off the Coast of Somalia, Annex to the letter dated 24 January 2011 from the Secretary-General to the President of the Security Council, paras. 12 and 90; S/RES/ 2077 (2012), United Nations Security Council Resolution, 21 November 2012, Preliminary paragraph 6 and Operational paragraph 28; is the EU Dumping Nuclear Waste in Somalia, https://somaliagenda.com/eu-dumping-nuclear-waste-in-somalia/; UN: Nuclear Waste Being Released on Somalia’s Shores After Tsunami, https://www.voanews.com/archive/un-nuclearwaste-being-released-somalias-shores-after-tsunami. 59 Stéphane Mandard, #SurLeFront: la fabrique des pesticides en France: https://www. facebook.com/francetvnature/videos/surlefront-la-fabrique-des-pesticides-en-france/78052456 2473324/.
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to control or reduce the birth rate, as going on the Kamite Continent and other parts of the world)60 and political destabilisation or destruction of peace (Financing war, armed conflicts, terrorism and political upheaval/turmoil, arms trafficking). This list is not exhaustive and many other types of conduct could be added. The legal framework for the repression of genocide, as currently exists, was markedly out of date already at the time of the adoption of the Genocide Convention in 1948. This situation calls for a need to balance the elements of the crime of genocide by clarifying not only the options for the concept itself, but also underlying crimes. The deficiency of the legal framework equally affects the assessment of the true reality and gravity of the crime of genocide, and calls for an update. 2. Updating the Accuracy of the Gravity Threshold of the Crime of Genocide It was fully right that the 1948 Genocide Convention emphasised the preventative approach to combat the crime of genocide, although it can be improved (a)). Conversely, the laudable propensity and focus on the prevention of genocide is insufficiently transposed into the design of the modes of criminal liabilities, keeping them below the average that could have been appropriate to capture the real criminal gravity and weight of the genocidal acts (b)). a) The Emphasis on the Preventative Approach in the Concept of the Crime of Genocide The reference in article 152 crim. code 2010 to article 6 of the Rome Statute of the ICC, enables the indirect application of article 2 of the 1948 Genocide Convention, of which the latter is a copy, to punish the actual genocide. Yet, it is established that beside that, the 1948 Genocide Convention and the Rome Statute of the ICC are essentially aimed at also preventing the crime from being committed. The new direction to punish genocide by virtue of article 152 crim. code 2010 does not deviate from that preventative direction. Nonetheless, it has at least changed it, but only to a certain extent that seems to have left some stones unturned. Because genocide is accepted to be an inchoate crime, it is punished not only when it has already been or is being committed. The 1948 Genocide Convention and the Rome Statute of the ICC punish also some stand-alone acts that would facilitate or lead to the perpetration of the crime of genocide. Two types of conduct are targeted and punished as stand-alone acts, as they may prepare the perpetration of the crime, and once they occur their consequences are irreversible, even if the crime of genocide per se is not committed. Hence, article 3 of the 1948 Genocide Convention punishes namely the “public incitement to commit genocide” and the “attempt to commit 60 Un plan de génocide des Africains est déjà en cours …, https://www.youtube.com/ watch?v=BCpdgybg4-s.
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genocide”. These acts are also punished to some extent in article 25(3)(e) and article 25(3)(f) of the Rome Statute of the ICC, respectively. Attempt to commit genocide allows for the punishment of preparatory acts of the crime of genocide, without stumbling on the difficulties inherent to the general legal principle of “punishable attempt” and its requirement of the “commencement of the execution”. The general principle seems to have inspired article 25(3)(f) of the Rome Statute of the ICC, pursuant to which the attempt of genocide would be reprehensible only if the intent to commit genocide is established through observable acts that constitute “the commencement of the execution” of the crime. In its version in the Rome Statute of the ICC, the attempt to commit genocide challenges the preventative purpose because it presupposes that the crime starts being committed before allowing the repression. In contrast, the specific and stand-alone incrimination of the “attempt to commit genocide” in article 3 of the 1948 Genocide Convention does not require to establish that the execution of the crime has commenced. The question remains to be answered, as to whether the specific “attempt to commit genocide” in article 3 of the 1948 Genocide Convention should not prevail over the general principle of the “punishable attempt”, as formulated article 25(3)(f) of the Rome Statute of the ICC, from which it is even materially distinct. Furthermore, article 3 of the 1948 Genocide Convention punishes two modes of participation in the crime of genocide, namely the “conspiracy to commit genocide” and “complicity in genocide”. These acts, however, are not provided for as such in the Rome Statute of the ICC, or the subsequent legal provisions in the Elements of crimes of the ICC. In such a situation, and in a case of genocide charges, if these arise, the judges may be called upon to rule on the issue of the applicable modes of participation. The question would be, which one should apply between the article 3 of the 1948 Genocide Convention, as part of customary international law, punishing the “conspiracy to commit genocide” and “complicity in genocide”, and the Rome Statute of the ICC, which does not foresee these modes of participation in genocide. The judges will also not escape the classic discussion on cumulative convictions, or in other words, the legality of simultaneously entering convictions for “genocide” and also “conspiracy to commit genocide” or “complicity in genocide”. It is worth recalling that cumulative convictions are possible only when the concerned crimes are materially distinct from one another. The solution would be more complex before the courts in countries in a situation similar to that in the CAR for two reasons: One reason relates to the choice to be made among the two optional definitions of the crime of genocide, as explained above. The other reason, regardless of the options of the definition of the crime, derives from the specific dynamics of the modus operandi of the perpetrators to participate to the crime of genocide. Concerning the options of the definition of genocide, the solution will depend on whether genocide in article 152 crim. code 2010 is materially distinct or not from that of article 6 of the Rome Statute of the ICC, replicating verbatim article 2 of the 1948 Genocide Convention. A first hypothesis could assert that within the meaning of article 152 crim. code 2010, the “concerted plan” and the element of “to cause to
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commit” are constitutive elements of the crime of genocide. This would make the definition materially distinct from that of the crime in article 6 of the Rome Statute of the ICC, which does not contain these elements. In such a delicate situation, entering a conviction for the crime of genocide based on article 152 crim. code 2010 may preclude from cumulating it with a conviction for the stand-alone crime of “conspiracy to commit genocide”, which presupposes the existence of an “agreement” and a “concerted plan” among the perpetrators.61 Also it may be debatable to convict a person of genocide in article 152 crim. code 2010, comprising the element of “to cause to commit”, together with a conviction for “public incitement to commit genocide”, which also implies the same element. A second hypothesis could be that article 152 crim. code 2010 be interpreted to coincide it with article 6 of the Rome Statute of the ICC, which does not require the existence of a “common plan” as constitutive element of the crime of genocide. In this case, a conviction for the crime of genocide can be cumulated with any of the others stand-alone reprehensible acts which may imply an “agreement” or a “concerted plan” among the perpetrators, such as “complicity” and “conspiracy”. With regard to the operational dynamics of the perpetration of the crime of genocide, all will depend on the variations of the alliances among the perpetrators. History has shown that alliances can be forged and broken between the perpetrators in a very complex configuration, with regard to the modes of participation. Indeed, the situation can arise in which individuals or members of groups pursuing the same concerted plan to commit the crime of genocide split in various new groups or single individual. These new single individuals or groups may be pursuing the same or a different common plan,62 while at the same time some of these new individuals or groups, claiming their autonomy, may seal agreement and continue cooperating on some crossing interests. As a result, members of a group with a “concerted plan” to commit genocide may split and independently continue pursuing the same previous “concerted plan, while at the same time acting autonomously as accomplices to each other to execute the previous “concerted plan”, but for separate interests. A challenge for the judges would be to determine, whether and, if yes, under which temporal, factual and legal circumstances a same individual or group could be cumulatively, sequentially or consecutively convicted of “complicity in genocide” or “conspiracy to commit genocide”. In a criminological point of view, the prevention of the crime of genocide could not be effective of itself and alone. Its effectiveness requires that it be promoted together with the certitude for any perpetrator, whether physical or legal person, of facing justice and consequences for their criminal acts to the extent commensurate with the gravity and real weight of the crimes committed. 61 Édouard Karemera and Matthieu Ngirumpatse v. The Prosecutor, Case No. ICTR-98-44A, Judgement Appeal Chamber, 29 September 2014, Separate, Partially Dissenting and Dissenting Opinions of Judge Koffi Kumelio A. Afand¯e, paras. 12 – 17. 62 Central African Republic, International Peace Information Service (IPIS), A Conflict Mapping, August 2018, pp. 15 – 40.
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b) The Criminal Liability and the Weight of the Genocidal Act In order to capture and render the real weight of the act, also for the crime of genocide, (inter)national criminal justice relies on a series of modalities and criteria to ascribe the criminal responsibility. They range from the modes of participation in the crime through to the criminal liabilities and the elements to determine the sentence. However, various instances of act relating to the crime of genocide, whether in conflict situations or not, may be difficult to categorise with these classic modalities. Some acts exist, as explained below, for which it is uneasy to assert, whether they are constitutive elements of the crime, aggravating or mitigating circumstances or even modes of participation and responsibility. For instance, a commander of an armed group or of army may refuse to sign an agreement aimed at pacifying the community, causing thus the perpetuation of a conflict situation and the resulting crimes. It is not clear whether such a refusal to further peace should amount to, either an aggravating circumstance to his “superior” or “command responsibility”, yet to be established via evidence, or a specific mode of liability, different from the “superior” or “command” responsibility. Another example is when a commander of an armed group or army signs a peace agreement and is personally abiding by it, but despite so, crimes are still being committed by elements or part of his group from which he has not clearly separated himself, and moreover he also does not contest his control over these perpetrators. It remains to be determined whether the fact of him having signed a peace agreement may be a mitigating factor, due to his intent to reach peace. The fact is that he has not succeeded to secure the respect of his obligation by all members of his group. It may also be that the signature of a peace agreement is just a tactical diversion to hide his intention to actively continue compromising peace and furthering the perpetration of crimes. Moreover, there is the example of a commander of an armed group or army who has signed a peace agreement but has still not secured the respect thereof by all members of his group. The nuance with the previous case is that the commander in this example argues that the persons of his group committing crimes are “uncontrolled elements”, although he has never severed himself from them. That the perpetrators are said to be “uncontrolled elements” renders it difficult or impossible to elect “superior” or “command” responsibility, since the requisite of “effective control” for this type of responsibility may not be indubitably satisfied. Logically, a commander could not be held liable, based on the “superior” or “command” responsibility, for acts committed by elements of his group over whom he may not have “effective control”. However, could it be that signing an agreement entails a responsibility or obligation for the signatory to secure the respect thereof by those under his leadership? Should the answer be in the affirmative, it would imply that a liability be admitted with this as its basis and not “effective control”, which may not be established in this particular example. A mode of criminal liability may be imputed to a signatory of a peace accord rather on the basis of his failure to secure the adherence of other members of his group to his commitment, which he may be
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compelled to do by virtue of the accord. This criminal responsibility could be potentially waived if the signatory has proved that he has cut any ties with the perpetrators, before they commit the concerned crimes. It is of note that this mode of liability exists in the ancestral Kamite civilisations, whereby a leader has a duty to secure peace within the community and is held liable in case of failure to do so and to prevent a section of the community to commit crimes against another section. This mode of liability, as element of the customary law in many Kamite ancestral civilisations has already been applied to found the criminal liability of a former Head of State of Mali.63 Admittedly a new mode of liability, such as this, may constitute a sound alternative to the approach taken so far in the international criminal jurisprudence. This approach consists of hyper-extending already existing mode of criminal liability to cover some types of acts which were not part thereof. Hence, from JCE in its basic form (JCE I), the jurisprudence created its systemic form (JCE II) and then the extended form (JCE III), which has not always met the acceptance among jurisdictions.64 Not only does this approach not satisfy all forms, but it also waters down the mode of responsibilities. However, if that propensity to over-expanding the already existing modes of criminal liability has the merit to capture new modes of participation in crimes, it has a criminological consubstantial deficiency. It mostly does not reflect the socio-political and cultural context as well as the realities of the society in which the reprehensible act occurs. Subsequently, it fails to render the cultural contextual and psychological subtleties required for the criminal liability to serve the interest of justice in terms of general and special prevention policies. The concept of the responsibility to protect is abundantly discussed in the sense that its third pillar allows the response of a military intervention, when the first two pillars have failed. Indeed, while the first pillar imposes the primary responsibility upon a state, through its officials, to protect its population from crimes, such as genocide, the second pillar offers the possibility to a state to seek assistance from other states to that effect. As such the responsibility to protect conforms to the ancestral duty in the Kamite ancestral traditions, as explained above, according to which it is upon the leaders to secure peace within the community under their leadership. Based on both pillars, it could be possible to hold state officials liable for crimes that would have occurred due to, either their incapacity to directly and on their own protect the population or because of their failure to have sought assistance from other states to curve the occurrence of crimes, such as genocide. The responsibility to protect may also imply criminal liability in other situations. For example, 63
Koffi Kumelio A. Afand¯e, Strafrecht in: Reaktion auf Systemunrecht in Mali, Iuscrim, Freiburg, Germany, October 2002, pp. 94 – 101; Boubacar Diakite, Les procès “crimes de sang” reprochés aux anciens dignitaires: le problème de compétence juridictionnelle, Mémoire pour l’obtention d’un diplôme en Sciences Juridiques de l’Ecole Nationale d’Administration du Mali, octobre 1993, p. 20. 64 The UK Supreme Court, for example, rejected a form of JCE III in the case of R v. Jogee (summary and judgment: https://www.supremecourt.uk/cases/uksc-2015-0015.html); STL-1101/I, Interlocutory Decision on the Applicable Law, 16 February 2011, Headnote, p. 5., and pp. 123 – 134, paras. 236 – 264.
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when instead of adopting policies that would have protected its population from genocide, a state or its officials have actively applied a system of rule that triggers the outbreak of the crimes against the entirety of the population or part of it. Another example, could be when official authorities have failed to exercise due diligence to protect the population from a policy to destroy in part or in whole the people on the territory under their power. This could be the case as against state officials who, due to their failure to control the import of goods (food, medicine, etc.), may have failed to prevent the exposure of the population to products issued for the purpose to annihilate them in whole or in part. The same sort of liability may be levelled against state officials for the occurrence of genocide due to the perpetration of any of the crimes under article 28 Protocol on Amendments 2014, subject to its entry into force. Profiting of indoctrination or brainwashing is barely discussed as a pernicious mode of participation in crimes, such as genocide. Indoctrination or brainwash in this context consists of a process of teaching or forcing a person or a group to accept uncritically a set of beliefs and values. Still, indoctrination or brainwash is frequently resorted to in committing crimes such as genocide, and should be established as mode of criminal liability. The mode of participation in the crime consists for a person or a group (the “profiteer”) taking advantage of the indoctrination or brainwash of another person or group (the “indoctrinated” or “brainwashed”) with the power for the former to exercise reprisals and retaliation against the latter, who would dare not to obey. The modus operandi of such mode of participation in a crime is based on a high possibility that the indoctrinated, as a result of fearing reprisals and retaliation, would not dare resist the wishes of the profiteer who is using the indoctrinated to pursue his interests, even by means of committing crimes, such as genocide. The indoctrinated would even act counter his own interests, either as a result of insidious pressure from the part of the profiteer or a feeling of dependency and servitude of some kind (political, economic, cultural, etc.) toward the profiteer. In this case, the indoctrinated has a complex of inferiority in the sense of owing something to the profiteer and his group. With such state of mind, the indoctrinated or brainwashed could not dare to resist the wishes of the profiteer and will be ready to preserve them by all means, even by way of crimes, such as genocide. The indoctrinated and the profiteer may be either a physical person, regardless of their position or occupation, or also a group, a corporation or a state. It is not required that the policy of indoctrination or brainwashing be contemporaneous to the act of the profiteer and the indoctrinated. The indoctrination can result from a philosophical, socio-political, religious, cultural and economic domination or supremacy doctrine, throughout or during a period in the history from the side of the profiteer towards the indoctrinated.65 As such the mode of participation by indoctrination and brainwashing may seem to resemble the mode of participation by “instigating and ordering”. This means that both the instigator and the person, who orders, prompt, provoke or induce, either by act or by omission, the perpetration of a crime, by another. The participation 65
Rapport d’information no 104, Sénat-France, 29 octobre 2013, pp. 399 – 400.
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by “instigating and ordering” resembles that by indoctrination and brainwashing in the sense that, like the instigator and the person who orders, the profiteer prompts another person, here the indoctrinated, to commit the crime. But, the participation by the profiteer in the crime committed by the indoctrinated is distinct from the instigation and ordering, in one crucial way. Indeed, the profiteer does not necessarily need to give any order, or do anything at all, to cause the indoctrinated or the brainwashed to act with a desired effect. The fear by the indoctrinated that the profiteer will use reprisal or retaliation against him, in case of failure, frames the state of mind of the former to commit the crime. Clearly, this mindset of the indoctrinated is the trigger of his criminal conduct and moves him to commit crimes, in order to shield himself against reprisals and retaliation by the profiteer. The indoctrination could result from slavery, colonisation and the destruction of the cultural and spiritual fabric of the group of the indoctrinated. The indoctrination and brainwashed mindset may result either from an active colonisation ideology or the perpetuation and the consequences of such a domination in the past on the indoctrinated (also as a group), by the profiteer (also as a group). It is also not required that the profiteer be the actual actor of the indoctrination or the domination. It should suffice that the profiteer has the knowledge of a relation of “superior-inferior” or “dominator-dominated” between him and the indoctrinated or their respective groups and takes or try to take advantage thereof.66 There is also no need for the indoctrinated to be the direct target of the domination relationship, but it should be enough that the group he belongs to has suffered this domination from the part of the profiteer or his group. It is not necessary that the profiteer or his group be the brainwasher, but it should suffice that he is aware of the indoctrination of that person or group by another person or group and exploits it to his benefit. It is not required that the profiteer directly and personally exercises influence over the indoctrinated, but the mode of liability should also be applicable if the former acts through another indoctrinated person or group as proxy to move the latter or his group to commit crimes. The mode of liability of the profiteer does not, in whatever way, exempt the indoctrinated from the criminal liability of the reprehensible acts which he would have perpetrated, as a result of the indoctrination or due to the fear of retaliation and reprisal. Two reasons justify that. Firstly, not all indoctrinated persons, whether in a leading position or not, succumbs to the fear for reprisal and retaliation to the extent to commit crimes. Many of them have resisted and some continue resisting to perpetrating crimes such as genocide, despite the fear for reprisal and retaliation. Secondly, it must be underscored that occupying a leading position entails also taking or running risks for one’s security or even own life. Obviously, the life of the leader is not more worth than that of the population under his leadership to justify protecting own life by sacrificing that of the others. Moreover, leading a population entails also the responsibility to protect them, failing which consequences, including criminal accountability must be drawn. 66 Rapport d’information no 104, Sénat-France, 29 octobre 2013, (The full report aims at conceptualising strategies to perpetuate the domination, the colonisation and the influence over the Continent, and specific countries and populations).
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The proof of reprisal or retaliation as well as the eventuality thereof could reside in the history or the occurrence of previous such measures from the part of the profiteer or his group against the indoctrinated or his group.67 Hence, the fact for the profiteer to force an indoctrinated to maintain himself in power, without the latter being able to refuse,68 is an indication that the former has been using the latter as proxy to protect his interests or intents to keep him in power and to use or continue using him to that effect. Another proof of retaliation can be drawn from the record of the profiteer, showing that he already committed assassination, coup d’état or resorted to any other means to retaliate against an indoctrinated or his group, who dared or tried to oppose the interests of the profiteer or his group. The attitude of the “former” colonial states reveals their resolution to perpetuate the policy of indoctrination and brainwashing in countries of the Kamite Continent. History provides evidence that many coup d’état and assassinations of leaders and even international crimes committed on the Kamite Continent were carried out with the participation of profiteers behind the scenes.69 The mode of participation in crimes by way of indoctrination and brainwashing may shed a new light on the dynamic of the article 46A bis Protocol on Amendments 2014, which is abundantly criticised to have granted immunities to officials of the Kamite Continent. The provision is said to be at odds with the principles of international law and justice70 according to which the position or rank of any 67
Rapport d’information no 104, Sénat-France, 29 octobre 2013, pp. 399 – 400. The sitting President of the Republic of Chad Idriss Deby Itno has declared to journalists during an interview that he wanted to resign from power but was forced by France to remain in power. See http://quotidienmutations.cm/laj/idriss-deby/, Le président tchadien Idriss Déby accuse subtilement la France d’avoir armé les anti-balaka en Centrafrique. 69 Éphéméride/24 novembre 1965: Coup d’état du Général Mobutu au Congo Belge, https://www.youtube.com/watch?v=stbGPNN-IsM; L’armée à la tête du Burkina Faso: un pouvoir sans limites? (partie 2); https://www.youtube.com/watch?v=PzJPlW1fI3I; Toute la vérité sur Laurent Gbagbo, Ouattara et la Communauté Internationale [compilation], https:// www.youtube.com/watch?v=qivFot6U0oU;https://www.youtube.com/watch?v=GaIfbXBX N5I&feature=youtu.be; [Série] Quand la France espérait affaiblir le Nigeria en armant le Biafra libre, https://www.youtube.com/watch?v=vT_Mc6DPYII&feature=emb_rel_end; http://www.rfi.fr/fr/afrique/20170523-quand-france-esperait-affaiblir-nigeria-armant-biafralibre; La Grande-Bretagne et la guerre du Biafra, https://www.monde-diplomatique.fr/1968/10/ A/28608; 10 chefs d’états africains assassinés au pouvoir [HD vidéos], https://www.youtube. com/watch?v=ixfZoa4tujY; Capitaine Thomas Sankara – la fin d’un grand panafricaniste, https://www.youtube.com/watch?v=c_HW9DCzBxU. 70 Article 7 of the Charter of the International Military Tribunal at Nuremberg with respect to Karl Dönitz; Article 7(2) of the Statute of the International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia with regard to Slobodan Milosˇevic´ ; Article 6(2) of the Statute of the International Criminal Tribunal for Rwanda (ICTR,) for the Prime Minister Jean Kambanda; Article 27 of the Rome Statute of the International Criminal Court, ruling that the UNSC resolution waived the immunity of President Omar Al-Bashir of Sudan; Article 6(2) of the Statute of the Special Court for Sierra Leone relating to Charles Taylor (Prosecutor v. Charles Ghankay Taylor, Case No. SCSL-2003-01-I, Appeals Chamber, Decision on Immunity from Jurisdiction, 31 May 2004, para. 52; Article 29(2) of the Law establishing the Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia, 27 October 2004 (NS/RKM/1004/006); Article 15(2) of 68
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suspect shall not relieve such individual of criminal responsibility or mitigate punishment. Although much is said, a lot remains to be discovered, as article 46A bis Protocol on Amendments 2014 shall be interpreted taking into consideration the realities of the political context within which international crimes, including genocide, are committed. Article 46A bis Protocol on Amendments 2014 provides that “no charges shall be commenced or continued before the Court against any serving African Union Head of State or Government, or anybody acting or entitled to act in such capacity, or other senior state officials based on their functions, during their tenure of office.” Nothing should be interpreted in this analysis of article 46A bis Protocol on Amendments 2014, to lend any support or approval to any immunity (to be) granted to whomever on the basis of power or official position. The analysis aims merely at interpreting the provision to promote judicial equity to some extent to all participants in the perpetration of international crimes, even beyond the Kamite Continent. Pursuant to the plain text of the provision, it is obvious that the immunity, if any, would apply only for “Africans” in the mentioned official positions. Firstly, and a contrario, the immunity, if any, should not apply to “nonAfricans” in the same official positions and even during their tenure if they are suspected of being involved in the perpetration of such crimes on the Kamite Continent. Secondly, the immunity, if at all, would clearly only be valid during the tenure of the officials and not after they left these positions. The waiver of that immunity, if any, at least after the tenure of the officials could be said to be in the interest of justice. It appears, not only on the Kamite Continent, that it is rather after the officials in those positions have left their office that their tongues are untied and they can reveal power struggles issues, which are pertinent and relevant to justice, but which they could not have uncovered while they were still office-holders. This silence, which is mostly dictated by the obligation of reserve due to the power position, takes another dimension for leaders on the Kamite Continent. Due to a fear of reprisal and retaliation, including assassination, leaders on the Kamite Continent cannot reveal some issues, while they are still in their official positions. Justice would cease to be a parody if it starts holding criminally liable not only persons who committed crimes to some extent under threat, but also those who were pulling strings behind the curtains, thus preventing them from enjoying impunity or even becoming accusers.
Conclusion The fact that article 152 crim. code 2010 and article 3.1 and 4 Organic Law no 15-003 are expressly nurturing the application of international treaties-based law and customary international as well as the jurisprudence of the international juthe UNTAET Regulation n 2000/15 of 6 June 2000 establishing the Special Panel with exclusive jurisdiction over Serious Criminal Offences in Timor-Leste (UNTAET/REG/2000/15 of 6 June 2000); Article 10(3) of the Statute creating the African Chambers within the Senegalese Court to prosecute Hissène Habré, former President of Chad.
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risdictions is to be commended. This promotion of international law has resolved some of the problems that would have arisen due to the failure to ratify certain international legal instruments, such as the 1948 Genocide Convention. However, the freedom and innovation of the CAR law-maker does certainly not completely ease the application of the international law as it leads to an ambiguous formulation of the constitutive elements of the crime of genocide and a widening of the protected groups. The situation would have been easier for countries that have already ratified the 1948 Genocide Convention before or at the time of the genocidal acts that are to be investigated and prosecuted. Hence, for countries which have not yet done so, the ratification of the 1948 Genocide Convention would be advisable. However, whether the 1948 Genocide Convention is ratified or not would not change much for countries, where that convention is applicable through the Rome Statute of the ICC or another (inter)national legal norm. The ratification of the 1948 Genocide Convention would be significant only for countries in which no other (inter)national legal instrument or principles of customary international law renders it indirectly applicable. The entry into force of the Protocol on Amendments 2014 could be one of the triggers of the indirect application of the 1948 Genocide Convention on the Kamite Continent. Whatever the case may be, the drafters of article 152 crim. code 2010 have set a milestone in the prevention and punishment of the crime of genocide, which the drafters of the 1948 Genocide Convention should envy. Their initiative should also emulate in other countries on the Kamite Continent and beyond. This analysis may not be useful, if it skimps in the area of the popular question relating to the applicability of the highly controversial mechanism of “universal jurisdiction” to investigate, prosecute and try the perpetrators of the crime of genocide. Without, addressing the question in full details, it is worth underscoring that articles 6 and 7 of the 1948 Genocide Convention do not support the universal jurisdiction. Article 6 of the 1948 Genocide Convention excludes universal jurisdiction by providing that persons charged with genocide or any of the other acts enumerated in Article 3, shall be tried by a “competent tribunal of the State in the territory of which the act was committed”, or by an “international penal tribunal as may have jurisdiction with respect to those Contracting Parties which shall have accepted its jurisdiction”. Clearly, expect for international criminal jurisdictions agree upon by the contracting parties, only the courts of states having the territoriality nexus, as places of perpetration of the crime, can have jurisdiction. This expressly excludes the concept of universal jurisdiction, which would allow for a court of a state not having any nexus at all with the crime to exercise jurisdiction over the crime of genocide. The sole alternative in article 7 of the 1948 Genocide Convention, is that of aut dedere aut judicare, according to which a contracting party that cannot exercise its jurisdiction over the crime of genocide, must extradite the perpetrator to another country which can.
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Even though the drafters of new law of the CAR have not succeeded to resolve all problems, and no honest person will hold it against them, they have initiated a move that sets in motion a reflection that is decisive for the future of the mankind. One of the questions that would need to be tackled would be how to deal morally and legally with the acts of genocide that were perpetrated against populations, on the Kamite Continent and beyond, also before the adoption of the Genocide Convention in 1948. Obviously, many of these acts would have undoubtedly amounted to the crime of genocide, in the meaning of the spirit which leads to the adoption of 1948 Genocide Convention. The other question intrinsically linked with the previous one is how to respond to the crimes which were being committed against various populations on various continents even during the drafting process and curiously after the adoption of the Genocide Convention adopted in 1948. These two types of untold or censored crimes of genocide committed throughout the history show that human rights violations have been committed to an unacceptable extent that should not be left without remedy. States in post-conflict situations are mostly called upon to implement a four pillars-based transitional justice process, in order to remedy to the consequences of the grave violations of human rights. According to all pillars of the transitional justice, the states are expected to operate and enact reforms to prevent such violations occurring again, to guarantee the rights of victims to justice, to provide reparations to the victims and to ensure the search for the truth. In the same vein, the spirit and logic of the transitional justice may be resorted to at the global level among states, in order to address the consequences for the victims of the known crimes of genocide perpetrated throughout the history of the mankind.
Der Grundsatz der Einmaligkeit der Strafverfolgung: Verbot der Parallelverfolgung vor erstmaliger rechtskräftiger Sanktionierung Von Gerhard Dannecker Das Strafrecht hat infolge gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Veränderungen stets neue Herausforderungen zu bewältigen. Dies gilt auch und insbesondere für das Wirtschaftsstrafrecht, das infolge der Globalisierung neue Möglichkeiten grenzüberschreitender Deliktsbegehung eröffnet und in Verbindung mit den technischen Entwicklungen zu neuen Risiken und zunehmender Komplexität der Wirtschaftsdelinquenz führt.1 Damit sieht sich das Strafrecht vor der Schwierigkeit, bei der Umschreibung des strafwürdigen Unrechts und bei der Aufklärung von Straftaten immer komplexer werdende Vorgänge erfassen zu müssen.2 Einen ersten Lösungsansatz zur Überwindung der funktionalen Grenzen des Strafrechts bietet der verstärkte Einsatz alternativer Kontrollinstrumente3, die vom Einsatz sog. Compliance-Programme bis zur Verstärkung des zivilrechtlichen Schadensersatzes (Private Enforcement) reichen. Hinzu kommt, dass die klassischen strafrechtlichen Sanktionen zunehmend durch neue Sanktionen ergänzt werden4, die vom Ausschluss von öffentlichen Aufträgen über „shame and blame“-Sanktionen und Berufsverbote bis zur Erhebung von Strafzöllen und Steuerzuschlägen, Subventionskürzungen und Subventionssperren oder zum Einfrieren, zur Beschlagnahme und Einziehung von Tatwerkzeugen und Ertra¨ gen aus Straftaten reichen.5 In dieser stark von internationalen und insbesondere unionsrechtlichen Vorgaben beeinflussten Entwicklung6 spiegelt sich eine Schwerpunktverlagerung von repres1 Sieber, Ulrich, ZStW 119 (2007), 1 (17 ff.); Sieber, Ulrich, in: Albrecht/Sieber (Hrsg.), Perspektiven der strafrechtlichen Forschung, 2006, S. 35 (43); Zabel, ZStW 120 (2008), 68 (69). 2 Sieber, Johann, Sanktionen gegen Wirtschaftskriminalität, 2018, S. 2. 3 Sieber, Ulrich, ZStW 119 (2007), 1 (41 f.); siehe auch Schünemann, in: Dornseifer/Horn/ Schilling u. a. (Hrsg.), Armin Kaufmann-GS, 1989, S. 629 ff. 4 Zu den primärrechtlichen Maßnahmen mit Sanktionscharakter unterhalb der Geldbußen, die von der Kommission oder den Behörden der Mitgliedstaaten verhängt werden, Engelhart, in: Müller-Gugenberger (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht, 6. Aufl. 2015, § 6 Rn. 69. 5 Insgesamt zu den Sanktionen gegen Wirtschaftskriminalität: Sieber, Johann, Sanktionen gegen Wirtschaftskriminalität, 2018, passim. 6 Dannecker, Gerhard/Bülte, in: Wabnitz/Janovsky/Schmitt (Hrsg.), Handbuch Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 5. Aufl. 2020, Kap. 2 Rn. 131 ff.; Dannecker, Gerhard/Schröder,
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siven Strafsanktionen hin zu präventiven Verwaltungssanktionen wider – eine Entwicklung, die Ulrich Sieber7 als Hinwendung zur Prävention im Strafrecht wie auch außerhalb des Strafrechts, dort in der Form alternativer gesetzlicher Präventionsregime, umschreibt. Diese neue Architektur eines Sicherheitsrechts, in der das Strafrecht mit anderen präventiven Rechtssystemen, so mit den unionsrechtlichen Kartellgeldbußen, den EU-Bankenrechtssanktionen, den UN-Sanktionen und den internationalen Maßnahmen zur Bekämpfung der Geldwäsche, zusammentrifft, hat er im Jahr 2018 im Rahmen des Kolloquiums „Prevention, Investigation, and Sanctioning of Economic Crime“8, das unter seiner Leitung vom Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg veranstaltet wurde, auf den Prüfstand gestellt, weil die flexiblen, informellen und risikoorientierten Alternativmodelle eine effektivere Verbrechensprävention ermöglichten, zugleich aber häufig den traditionellen Menschenrechtsschutz missachteten, der das Strafrecht seit der Aufklärung prägt.9 Untersucht wurden die Garantien für straf- und verwaltungsstrafrechtliche Sanktionen10, insbesondere der Grundsatz „ne bis in idem“11, sowie die Garantien für nicht-strafrechtliche Sanktionen.12 Hier soll zu Ehren des verehrten Jubilars, mit dem mich eine langjährige Freundschaft verbindet und der das sich entwickelnde Sicherheitsrecht in der Risikogesellschaft zum Gegenstand rechtsvergleichender Analysen gemacht hat,13 der Frage nachgegangen werden, ob angesichts paralleler Zuständigkeiten nationaler, europäischer, ausländischer und internationaler Strafverfolgungs- und Verwaltungsorgane bereits vor einer erstmaligen rechtskräftigen Sanktionierung das Verbot einer parallelen Verfolgung eines Rechtsverstoßes durch mehrere Verfolgungs- und Ermittlungsbehörden besteht, damit eine gegen „ne bis in idem“ verstoßende DoppelsankThomas, in: Böse (Hrsg.), Europäisches Strafrecht (Band 11 der Enzyklopädie Europarecht), 2. Aufl. 2020, § 8 Rn. 1 ff. 7 Sieber, Ulrich, in: Sieber (Hrsg.), Prevention, Investigation, and Sanctioning of Economic Crime. National Perspectives, RIDP Bd. 90 Heft 1, 2019, S. 7 f. 8 Näher dazu Sieber, Ulrich, in: Sieber (Hrsg.), Prevention, Investigation, and Sanctioning of Economic Crime. Alternative Control Regimes and Human Rights Limitations, RIDP Bd. 90 Heft 2, 2019, S. 20 ff. 9 Sieber, Ulrich, in: Sieber (Hrsg.), Prevention, Investigation, and Sanctioning of Economic Crime. National Perspectives, RIDP Bd. 90 Heft 1, 2019, S. 7 (8). 10 Arslan, in: Sieber (Hrsg.), Prevention, Investigation, and Sanctioning of Economic Crime. Alternative Control Regimes and Human Rights Limitations, RIDP Bd. 90 Heft 2, 2019, S. 281 ff. 11 Luchtman, in: Sieber (Hrsg.), Prevention, Investigation, and Sanctioning of Economic Crime. Alternative Control Regimes and Human Rights Limitations, RIDP Bd. 90 Heft 2, 2019, S. 335 ff. 12 Bachmaier-Winter, in: Sieber (Hrsg.), Prevention, Investigation, and Sanctioning of Economic Crime. Alternative Control Regimes and Human Rights Limitations, RIDP Bd. 90 Heft 2, 2019, S. 299 ff. 13 Sieber, Ulrich, in: Sieber/Mitsileags/Mylonopoulos/Billis/Knust (Hrsg.), Alternative systems of crime control: national, transnational and international dimensions, MPIS Bd. 161, 2018, S. 1 ff.
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tionierung vermieden wird. Neben diesem Justizgrundrecht kommen das Recht auf ein faires Verfahren, das zu den wesentlichen Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens gehört14 und als allgemeines Prozessgrundrecht qualifiziert wird15, sowie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in Betracht, nach dem jede in Grundrechte eingreifende Maßnahme einen legitimen Zweck verfolgen und überdies geeignet, erforderlich und angemessen sein muss. Es geht um die Einmaligkeit der Strafverfolgung im Sinne eines „Mehrfach-“ oder „Parallelverfolgungsverbots“.
I. Zur Problemstellung der Parallelverfolgung vor erstmaliger rechtskräftiger Sanktionierung Die parallele Zuständigkeit von Strafverfolgungsorganen und sanktionierenden Verwaltungsbehörden kann sich in unterschiedlichen Konstellationen stellen. 1. Zuständigkeit mehrerer Strafverfolgungsorgane zur Verfolgung von Rechtsverstößen Die Problematik der Parallelverfolgung durch Strafverfolgungsorgane stellt sich zunächst innerhalb der Europäischen Union, wenn mehrere nationale Sanktionsinstanzen für die Verfolgung und Bestrafung ein und derselben Tat zuständig sind. Der „Rahmenbeschluss 2009/948/JI des Rates vom 30. November 2009 zur Vermeidung und Beilegung von Kompetenzkonflikten in Strafverfahren“16 greift diese Problematik unter dem Gesichtspunkt der Vermeidung von Parallelverfolgungen durch Strafverfolgungsorgane unter Erwägungsgrund 1 und 12 auf: „Es soll (…) vermieden werden, dass gegen dieselbe Person wegen derselben Tat parallele Strafverfahren in verschiedenen Mitgliedstaaten geführt werden, was zu rechtskräftigen Entscheidungen in zwei oder mehr Mitgliedstaaten führen könnte und dadurch einen Verstoß gegen den ,ne bis in idem‘-Grundsatz darstellt, (…).“ „Da das zentrale Ziel dieses Rahmenbeschlusses darin besteht, unnötige parallele Strafverfahren zu vermeiden, die zu einem Verstoß gegen den ,ne bis in idem’-Grundsatz führen könnten, sollte seine Anwendung nicht zu Kompetenzkonflikten führen, die anderenfalls nicht entstehen würden. Im gemeinsamen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sollte der Grundsatz der obligatorischen Strafverfolgung, der dem Verfahrensrecht in mehreren Mitgliedstaaten zugrunde liegt, so verstanden und angewandt werden, dass er als eingehalten gilt, sobald ein Mitgliedstaat die strafrechtliche Verfolgung wegen einer bestimmten Straftat übernimmt.“
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BVerfGE 130, 1 (Rn. 111). BVerfGE 109, 13 (Rn. 67 ff.). 16 ABl. vom 15. 9. 2009, L 348/42.
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2. Zuständigkeit zweier zur Verhängung einer Verwaltungsstrafe/ Geldbuße zuständiger Organe Ein weiterer Problembereich betrifft Verwaltungsstrafen bzw. Geldbußen, die als Strafen im weiteren Sinne qualifiziert werden und ebenso wie Kriminalstrafen den verfassungs- und menschenrechtlichen Strafgarantien unterliegen. Zu nennen sind z. B. Strafzuschläge, die Strafcharakter aufweisen können und von den nationalen Finanzbehörden verhängt werden17, so dass sich dort die Frage stellt, ob zwei Verfahren parallel geführt werden dürfen. Vergleichbare Fragen stellen sich im Kartellrecht, das im Falle des Verstoßes gegen wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen nach Art. 101 AEUV oder des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung nach Art. 102 AEUV Geldbußen vorsieht, die sowohl von der Kommission als auch von den Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten verhängt werden können. Hier wird die Problematik der mehrfachen Zuständigkeit durch das European Competition Network (ECN18) gelöst – ein Forum, dem alle Kartellbehörden der EU-Mitgliedstaaten sowie die Kartellabteilung der Europäischen Kommission angehören. Zweck des ECN ist es, effektiver gegen Kartelle vorgehen zu können und die Kartellrechtsfälle den entsprechenden Kartellbehörden zuzuteilen und Informationen auszutauschen. Die Ratsverordnung will jedoch nicht eine Doppelverfolgung verhindern, sondern eine effiziente Arbeitsteilung erreichen: „Wird eine Umverteilung fu¨ r einen wirksamen Schutz des Wettbewerbs und des Gemeinschaftsinteresses fu¨ r notwendig erachtet, so bemu¨ hen sich die Netzmitglieder darum, den Fall mo¨ glichst einer einzigen Wettbewerbsbeho¨ rde zuzuordnen, die gut geeignet ist, sich des Falls anzunehmen.“19 Parallele Verfahren werden also nicht für grundsätzlich unzulässig erklärt, sie sollen aus Gründen der Effektivität vermieden werden. 3. Parallele Ermittlungen eines Strafverfolgungsorgans und einer Verwaltungsbehörde Parallele Verfahren werden schließlich durchgeführt, wenn Strafen und verwaltungsrechtliche Sanktionen in Frage stehen. So ist im Bereich des unionsrechtlich geprägten Lebensmittelrechts in § 40 LFGB für den Fall eines Rechtsverstoßes vorgesehen, dass die Lebensmittelbehörde die Öffentlichkeit hierüber unter Nennung des Herstellers oder Inverkehrbringers informiert, wenn der hinreichend begründete Verdacht besteht, dass ein lebensmittelrechtlicher Verstoß vorliegt und die Verhängung eines Bußgeldes (sic) von mindestens dreihundertfünfzig Euro zu erwarten ist (§ 40 Abs. 1a Nr. 3 LFGB). Für die Ermittlung und Verhängung dieser Sanktion ist 17
Dazu EuGH 26. 02. 2013, C-617/10 (Åkerberg Fransson), Rn. 38 ff.; Dannecker, Gerhard, JZ 2013, 613 (620). 18 Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit innerhalb des Netzes der Wettbewerbsbehörden (2004/C 101/03), ABl. v. 27. 4. 2004, C 101/43. 19 Grundsätze der Fallverteilung Nr. 7.
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die Lebensmittelbehörde zuständig. Parallel dazu ermitteln die Strafverfolgungsorgane wegen der begangenen Straftat, bzw. die Lebensmittelbehörden, wenn es sich um einen bußgeldbewehrten Verstoß handelt. Wenn man die Veröffentlichung des Rechtsverstoßes als strafrechtliche Sanktion qualifiziert20, greift „ne bis in idem“ ein. Sieht man hierin eine verwaltungsrechtliche Sanktion21, so können die Sanktionen in Parallelverfahren ermittelt und verhängt werden. Vergleichbare Probleme stellen sich in Bezug auf die BaFin, welche die Wertpapier-, Versicherungs- und Bankenaufsicht ausübt. Sie kann verwaltungsrechtliche Sanktionen und Geldbußen verhängen und diese Maßnahmen und Sanktionen bekannt machen.22 4. Notwendigkeit der rechtsstaatlichen Einbindung paralleler Sanktionsverfahren Die breit gefächerten straf-, verwaltungsstraf- und verwaltungsrechtlichen Sanktionen, die angesichts weitreichender Eingriffsmöglichkeiten der staatlichen Organe im Rahmen der Verfahren tief in die Rechtssphäre der betroffenen Bürger und Unternehmen eingreifen, führen zu erheblichen Belastungen der Sanktionsadressaten. Hier stellt sich die Frage, ob der Grundsatz „ne bis in idem“ auszuweiten ist oder ob es neuer rechtsstaatlicher Standards in Konkretisierung des Fair-trial-Grundsatzes bedarf, um für die Betroffenen ein rechtsstaatliches Verfahren zur Verfügung zu stellen, das sich den komplexen Problemlagen stellt und die Interessen der Betroffenen rechtlich einbindet. Außerdem ist den Anforderungen des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Rechnung zu tragen. Im Hinblick darauf, dass gerade im Bereich der verwaltungs- und strafrechtlichen Sanktionen das EU-Recht eigenständige Regelungen sowie von den Mitgliedstaaten in nationales Recht umzusetzende Vorgaben enthält, ist neben dem nationalen Verfassungsrecht und der EMRK auch das Verfassungsrecht der EU zu berücksichtigen. Die jeweiligen Voraussetzungen und Rechtswirkungen des Verfassungsgrundsatzes „ne bis in idem“23 weichen aber nicht unerheblich voneinander ab, zumal dieser Grundsatz von der Ausgestaltung des jeweiligen Strafprozessrechts abhängig und deshalb in besonderer Weise zeitbedingt ist; gleiches gilt für den Fair-trial-Grundsatz.24
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So insbesondere Gundel, ZLR 2013, 662 f.; Wallau, LMuR 2018, 186 (187). Ausführlich dazu Dannecker, Christoph, JZ 2013, 924 (925); siehe auch Dannecker, Gerhard/Dannecker, Christoph, ZLR 2019, 175 ff. 22 Näher dazu Gehrmann, in: Wabnitz/Janovsky/Schmitt (Hrsg.), Handbuch Wirtschaftsund Steuerstrafrecht, 2020, Kap. 11 Rn. 204 ff. 23 Näher dazu die Beiträge in: Hochmayr (Hrsg.), „Ne bis in idem“ in Europa, 2015. 24 Eingehend dazu Gaede, Fairness als Teilhabe – Das Recht auf konkrete und wirksame Teilhabe durch Verteidigung gemäß Art. 6 EMRK, 2007. 21
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II. Garantie der Einmaligkeit der Strafverfolgung im nationalen Recht Nach Art. 103 Abs. 3 GG darf niemand „wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden“. Wichtigster Grund für die Aufnahme dieser Garantie beim Herrenchiemsee-Verfassungskonvent waren die Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus sowie die Existenz entsprechender Regelungen für „ne bis in idem“ in einigen Landesverfassungen.25 Der Anwendungsbereich der Norm sollte sich auf Kriminalstrafen – Bestrafung „auf Grund der allgemeinen Strafgesetze“ – beschränken. Mit der Formulierung „mehrmals bestrafen“ war die Mehrfachverfolgung gemeint.26 Heute besteht allerdings im Wesentlichen Einigkeit, dass eine Begrenzung dieses Grundrechts auf Kriminalstrafen nicht mehr angemessen ist. Vielmehr wird seine Geltung auf strafrechtliche Sanktionen im weiteren Sinne, unter Zugrundelegung der „Engel-Kriterien“ des EGMR, erstreckt.27 1. Verbot der Parallelverfolgung als Ausprägung des Justizgrundrechts „ne bis in idem“ und/oder des Fair-trial-Grundsatzes Das Justizgrundrecht „ne bis in idem“ verbietet spätestens nach rechtskräftig gewordener Aburteilung eine erneute Verfolgung und Bestrafung derselben Tat. Fraglich ist allerdings, ob „ne bis in idem“ schon vor Verhängung einer ersten strafrechtlichen Sanktion das Führen eines Parallelverfahrens in derselben Sache verbietet, ob also bereits die Einleitung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens der Einleitung eines zweiten Ermittlungsverfahrens wegen derselben prozessualen Tat entgegensteht. a) Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts Deutschland kennt eine langjährige Rechtsprechungstradition, die ein Verbot paralleler Verfahrensführung anerkennt. So konnte sich der BGH in seiner Grundsatzentscheidung vom 14. 08. 1991 sowohl auf höchstrichterliche Rechtsprechung als auch auf eine Stellungnahme im Großkommentar zur StPO berufen und feststellen, dass wegen einer prozessualen Tat nicht zwei Strafverfahren nebeneinander geführt werden dürfen: „Art. 103 Abs. 3 GG verbürgt den Grundsatz der Einmaligkeit der Strafverfolgung (vgl. BGHSt 29, 288, 292; K. Schäfer, in: Löwe-Rosenberg, StPO 24. Aufl. Einleitung Kap. 12 Rdn. 14). Diese Garantie erstreckt sich nicht nur auf den Schutz vor mehrmaliger Aburteilung, sondern soll ihrem Sinngehalt nach 25
Maunz/Dürig-GG-Remmert, 88. EL 2019, Art. 103 Abs. 3 Rn. 25. Maunz/Dürig-GG-Remmert, 88. EL 2019, Art. 103 Abs. 3 Rn. 61. 27 Jarass/Pieroth-GG-Pieroth, 15. Aufl. 2015, Art 103 Rn. 101 m.w.N.; für das Unionsrecht siehe EuGH, 20. 03. 2018 – C-524/15 Rn. 26 (Menci); 20. 03. 2018 – C-537/16 Rn. 28 ff. (Garlsson Real Estate u. a.); siehe zuvor Generalanwalt Sánchez-Bordona, Schlussantra¨ ge v. 12. 09. 2017 – C-524/15 Rn. 44 ff., 109 ff. (Menci). 26
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auch die Belastung des einzelnen durch mehrere Strafverfahren wegen derselben Tat verhindern […]. Es ist daher aus verfahrensrechtlicher Sicht geboten, wegen derselben Tat nicht zwei oder mehrere Strafverfahren nebeneinander zu führen (vgl. schon für den Fall materiell-rechtlicher Verzahnung ohne Tatidentität im Sinne des § 264 StPO: BGHSt 29, 288, 297; BVerfGE 56, 22, 36/37).“28 Damit interpretiert der BGH Art. 103 Abs. 3 GG extensiv. „Ne bis in idem“ dient hiernach nicht nur dem Schutz der Rechtskraft, sondern er sieht von diesem Grundsatz auch ein Verbot paralleler Führung mehrerer Ermittlungsverfahren als umfasst an. Bereits vor einer rechtskräftigen Entscheidung dürfe es keine Mehrfachverfolgung in Form paralleler Verfahren geben. Hierbei gelte der Prioritätsgrundsatz: Das später eingeleitete Verfahren verstoße gegen „ne bis in idem“. Die Einleitung des Ermittlungsverfahrens ist damit eine Erstentscheidung im Sinne des Art. 103 Abs. 3 GG, die einem zweiten Ermittlungsverfahren entgegensteht. Einen Sonderfall betrifft eine weitere Entscheidung des BGH vom 11. 07. 198029, die das im Zusammenhang mit einem Organisationsdelikt begangene Kapitalverbrechen trotz vorangegangener rechtskräftiger Aburteilung eines Organisationsdelikts nach § 129 StGB als gesondert verfolgbar beurteilt und die Strafklage wegen des Kapitalverbrechens nicht als verbraucht ansieht. Die prozessuale Tat wird hierbei unabhängig von der materiell-rechtlichen Idealkonkurrenz bestimmt.30 Damit stellte sich die Frage, ob auch jenseits des Anwendungsbereichs von „ne bis in idem“ zwei parallele Strafverfahren ausgeschlossen sind. Der BGH kam diesbezüglich zu dem Ergebnis: „Die Revision des Angeklagten B. ist der Auffassung, von Tatidentität im Sinne des Art. 103 Abs. 3 GG müsse in Fällen der vorliegenden Art schon deshalb ausgegangen werden, weil sonst nebeneinander zwei Verfahren, die dieselbe Handlung beträfen, durchgeführt werden könnten. Die Entscheidung des Senats führt indes nicht dazu, dass neben einem wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung geführten – noch nicht abgeschlossenen – Strafverfahren ein zweites Strafverfahren anhängig gemacht werden darf, das eine mit einem Beteiligungsakt idealkonkurrierende strafbare Handlung betrifft. Die materiellrechtliche Verzahnung (…) schließt vielmehr zwei nebeneinander geführte Strafverfahren aus (…). Dem entspricht in verfahrensrechtlicher Hinsicht, dass der Gedanke des fair trial auf der anderen Seite eine Verhandlung in zwei gleichzeitig geführten Verfahren mit den damit für den Angeklagten verbundenen Erschwerung der Verteidigungsposition verbietet.”31 Der BGH erklärt damit nebeneinander geführte Strafverfahren wegen mehrerer Taten als unvereinbar mit dem Grundsatz der fairen Verfahrensfüh-
28 BGHSt 38, 54 (57 f. Rn. 7); siehe auch OLG Koblenz NStZ-RR 2000, 156; Lucke, HRRS 2014, 407 (409). 29 BGH NJW 1980, 2718 ff. 30 Dazu Schlüchter, JZ 1991, 1057 ff. 31 BGH NJW 1980, 2718 (2720).
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rung, wenn mehrere prozessuale Taten materiell-rechtlich (in Form von Tateinheit) verzahnt sind.32 Auch das Bundesverfassungsgericht bejaht die Sperrwirkung eines eingeleiteten Strafverfahrens, das einem parallelen Strafverfahren entgegenstehe33, und verweist zur Begründung auf die Herleitung des BGH aus dem „Fair-trial-Grundsatz“: „Die Befürchtung, die Rechtsprechung des BGH führe dahin, daß das Mitglied einer kriminellen Vereinigung mit einer Vielzahl gleichzeitig durchgeführter Verfahren überzogen werden könne, in denen ihm jeweils Delikte zum Vorwurf gemacht werden, die er in Verfolgung der Ziele der Vereinigung begangen habe, ist unbegründet. Der BGH hat in der angegriffenen Entscheidung ausgesprochen, der Gedanke des „fair trial“ verbiete es schon bei materiell-rechtlicher Verzahnung der Taten, mehrere Strafverfahren gegen den Beschuldigten nebeneinander zu führen.“ b) Stellungnahmen in der Literatur Die Grundsatzentscheidung des BGH vom 14. 08. 1991, die das Doppelverwertungsverbot auf Art. 103 Abs. 3 GG stützt, hat teilweise Zustimmung gefunden. So führt Nolte34 aus, das Strafverfahren stelle die Person bloß, indem es sie der öffentlichen Prüfung unterwirft, ob ein persönliches Unwerturteil und der schärfstmögliche Eingriff des Staates gegen sie in Betracht kommt. Um zu gewährleisten, daß diese Behandlung auf das Notwendige und Zumutbare beschränkt bleibt, sie gleichzeitig aber auch mit der erforderlichen Gründlichkeit durchgeführt wird, beschränke Art. 103 Abs. 3 GG die Zulässigkeit der Strafverfolgung wegen derselben Tat auf einen Versuch. Das Grundrecht gewährleiste insofern Vertrauensschutz. Ganz überwiegend wird im Schrifttum Art. 103 Abs. 3 GG allerdings restriktiv ausgelegt und kein Verbot paralleler Ermittlungen vor der ersten rechtskräftigen Sanktionierung anerkannt35, so dass ein Doppelverfolgungsverbot vor einer ersten rechtskräftigen Bestrafung nur aus dem Grundsatz des fair trial hergeleitet werden kann.36
32
Lucke, HRRS 2014, 407 (412). BVerfGE 56, 22 (36 f.); dazu Lucke, HRRS 2014, 407 (412). 34 Nolte, in: Mangold/Klein/Starck, GG, Bd. III, 6. Aufl. 2010, Art. 103 Rn. 179; siehe auch Lucke, HRRS 2014, 407 (413). 35 Sachs-GG/Degenhart, 8. Aufl. 2018, Art. 103 Rn. 83; Jarass/Pieroth, GG, 15. Aufl. 2018, Art. 103 Rn. 107; Kunig, in: von Münch/Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 103 Rn. 36; Dreier-GG-Schulze-Fielitz, 3. Aufl. 2018, Art. 103 Abs. 3 Rn. 25 m.w.N.; Wolff, GG, 12. Aufl. 2018, Art. 103 Rn. 20. 36 Näher dazu unten IV. 33
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2. Fazit Somit ist festzuhalten, dass der Bundesgerichtshof und vereinzelte Stimmen aus der Kommentarliteratur ein verfassungsrechtlich abgesichertes Verbot paralleler Ermittlungsverfahren als Ausfluss des Verbots der Mehrfachverfolgung anerkennen. Die damit einhergehende Sperrwirkung ist allerdings eine zeitlich begrenzte, die nur solange zu einem Verfahrenshindernis führt, wie das (erste) Verfahren noch andauert bzw. eine verfahrensabschließende Entscheidung getroffen ist.37
III. Garantie der Einmaligkeit der Strafverfolgung durch Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK und Art. 50 GRCh 1. Rechtsprechung des EGMR zu Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK Auch der EGMR hat sich in Sachen Lucky Dev gg. Schweden38 mit dem Grundsatz der Einmaligkeit der Strafverfolgung befasst. Er führt aus, dass Art. 4 Protokoll Nr. 7 zur EMRK mehrere Verfahren erst ausschließe, wenn eine rechtskräftige Entscheidung vorliegt. Vor einer solchen Entscheidung könne man nicht sagen, dass der Betroffene mehrfach „wegen einer Straftat [verfolgt werde], deretwegen er bereits rechtskräftig freigesprochen oder verurteilt wurde (s. EGMR, Slg. 2003-IX = NJW 2004, 3691 [3694] – Garaudy ./. Frankreich). Es verstößt nicht gegen die Konvention, wenn bei zwei parallel geführten Verfahren das eine eingestellt wird, sobald das andere rechtskräftig abgeschlossen wurde (s. EGMR Slg. 2002-IX – Zigarella ./. Italien). Kommt es dann aber nicht zu einer Einstellung, ist Art. 4 Protokoll Nr. 7 zur EMRK verletzt (s. EGMR, Urt. v. 18. 10. 2011 – 53785/09 Rn. 30 ff. – Tomasovic ./. Kroatien; EGMR, Urt. v. 14. 1. 2014 – 32042/11 Rn. 37 – Muslija ./. Bosnien-Herzegowina).“ Daher schütze Art. 4 Protokoll Nr. 7 zur EMRK nicht im Fall eines anhängigen Verfahrens (lis pendens). „Eine solche Garantie gegen mehrfache Verfahren lässt sich nicht aus Art. 4 Protokoll Nr. 7 zur EMRK ableiten.“39 2. Rechtsprechung des EuGH zu Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK und zu Art. 50 GRCh Auch der EuGH40 geht davon aus, dass Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK sowie Art. 50 GRCh speziell die Wiederholung eines durch eine endgültige Entscheidung abgeschlossenen Verfahrens in Bezug auf dieselbe Behandlung betreffen. Was den Sinn und Zweck des Grundsatzes „ne bis in idem“ angeht, sieht er diesen als 37
Lucke, HRRS 2014, 407 (414). EGMR, 27. 11. 2014, 7356/10 (Lucky Dev/Schweden). 39 EGMR, 27. 11. 2014, 7356/10 Rn. 59 f. (Lucky Dev/Schweden). 40 EuGH, 3. 4. 2019, C-617/17, NZKart 2019, 264 (Rn. 13). 38
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Folge des Grundsatzes „res iudicata“ darin, Rechtssicherheit und Gleichheit zu gewährleisten; er stelle sicher, dass ein Zuwiderhandelnder, der einmal verfolgt und gegebenenfalls mit einer Sanktion belegt worden ist, die Sicherheit hat, dass er für denselben Verstoß nicht noch einmal verfolgt wird. Das Verbot der doppelten Strafverfolgung begründe darüber hinaus „spätestens nach Aburteilung“ ein Verfahrenshindernis für die erneute Verfolgung derselben Tat. Ob bereits früher ein solches Verfahrenshindernis eingreifen kann, lässt der EuGH letztlich offen. 3. Anerkennung eines Verfahrenshindernisses in der Literatur Mit der Einmaligkeit der Strafverfolgung innerhalb des Rechtsraums der EU und der Unzulässigkeit paralleler Strafverfolgung befassen sich Schomburg und Souminen-Picht eingehend und kommen zu dem Ergebnis, dass eine mehrfache Strafverfolgung in derselben Sache im Interesse des Verfolgten sowie der bestmöglichen Nutzung der Kapazitäten der nationalen Justizsysteme frühestmöglich verhindert, jedenfalls nach Kenntnis beendet werden müsse.41 Sie verweisen auf Art. 50 GRCh, der – anders als Art. 54 SDÜ – das Recht statuiert, wegen derselben Tat in der EU nicht zweimal strafrechtlich verfolgt zu werden, so dass der Wortlaut der Charta weniger restriktiv sei und – im Gegensatz zu Art. 54 SDÜ – gerade nicht auf Vollstreckungsbedingungen abstelle.42 Der Chartageber habe sich grundsätzlich gegen ein Vollstreckungselement, wie es in Art. 54 SDÜ enthalten ist, entschieden.43 Diese Entscheidung beruhe darauf, dass sich der Chartageber auf den Ursprung der Verankerung des Verbots der Mehrfachverfolgung als Menschenrecht besonnen habe.44 Das gem. Art. 53 GRCh verbindliche gemeinsame Schutzniveau sei für alle Mitgliedstaaten in Art. 14 VII IPBPR zu finden, der ebenfalls keine Vollstreckungselemente vorsehe und damit der Zielsetzung des Vertrags von Lissabon und ausdrücklich auch derjenigen der GRCh entspreche, da diese „die Unionsbürgerschaft und einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts begründet“. Insofern sei es zwingend, das EUGrundrecht auf Einmaligkeit der Strafverfolgung ohne sachfremde Rücksicht auf den (oft zufälligen) Stand der Strafverfolgung und der nicht zu Art. 50 GRCh erklärten Vorbehalte zu interpretieren. Somit verbiete Art. 50 GRCh bereits jede parallele Strafverfolgung und begründe nicht erst ein Verfahrenshindernis nach erfolgter Aburteilung wegen derselben Sache.45
41
Schomburg/Souminen-Picht, NJW 2012, 1190. Schomburg/Souminen-Picht, NJW 2012, 1190 (1191). 43 A.A. Hackner, NStZ 2011, 425 (429). 44 Dazu Schomburg, NJW 2000, 1833 (1834 m.w.N.). 45 Schomburg/Souminen-Picht, NJW 2012, 1190 (1191). 42
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IV. Parallele Ermittlungsverfahren als Verstoß gegen die Verfahrensfairness und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Das Verbot der Mehrfachbestrafung ist, so der BGH46, zunächst ein Gebot der materiellen Gerechtigkeit bzw. der Verhältnismäßigkeit. Denn, so schon das Reichsgericht, durch Strafe werde Schuld getilgt.47 Der „staatliche Strafanspruch“ gehe unter48, werde verbraucht.49 Diese Auffassung teilt auch das BVerfG.50 1. Die Bedeutung des Grundsatzes „ne bis in idem“ im rechtsstaatlichen Strafverfahren: Sperrwirkung der Entscheidung in derselben Sache Erst wenn die erste Strafe den Unrechts- und Schuldgehalt der Tat nicht ausgeschöpft hat, so dass nur eine zusätzliche Strafe dem Schuldgehalt der Tat gerecht wird, kommt „ne bis in idem“ zum Tragen und verbietet eine erneute Bestrafung, obwohl diese dem Gerechtigkeits- bzw. Verhältnismäßigkeitsprinzip Rechnung tragen würde. „Ne bis in idem“ räumt der Rechtssicherheit Vorrang vor der materiellen Gerechtigkeit bzw. Verhältnismäßigkeit ein. Indessen haben Rechtsprechung und Rechtslehre den Satz „ne bis in idem“ zu einem noch weitergehenden Grundsatz entwickelt, dass nämlich wegen derselben Tat bereits kein neues, zweites Strafverfahren zulässig ist, wenn eine rechtskräftige Verurteilung oder ein rechtskräftiger Freispruch vorliegt. „Ne bis in idem“ begründet ein Verfahrenshindernis, das schon jedes erneute Strafverfahren ausschließt. Die Durchführung eines Strafverfahrens, das nicht zu einer zweiten Verurteilung führen darf, wäre ein unverhältnismäßiger, da sinnloser Eingriff in die Rechtsstellung des Beschuldigten, da keine Verurteilung mehr erfolgen darf. Ein solcher Eingriff wäre per se unverhältnismäßig. Dieses Verfahrenshindernis gilt unabhängig davon, ob das erste Verfahren mit einer Verurteilung oder mit einem Freispruch geendet hat. Diese Auslegung geht deutlich über den Wortlaut des Art. 103 Abs. 3 GG hinaus, der von einer einmaligen Bestrafung spricht. Es geht um die Sperrwirkung der Entscheidung in derselben Sache, also um deren materielle Rechtskraft.
46
BGHSt 21, 186 (187). RGSt 35, 367 (369 f.). 48 RGSt 41, 152 (153). 49 RGSt 43, 60 (62). 50 BVerfGE 3, 248 (251).
47
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2. Historische Entwicklung des Verbots der Mehrfachverfolgung a) Unvereinbarkeit des Verbots der Mehrfachverfolgung mit dem Ziel der Wahrheitsfindung im Inquisitionsprozess Greift man auf die Ideengeschichte von „ne bis in idem“ zurück, so wird ein enger Zusammenhang mit der Rechtskraft strafrechtlicher Entscheidungen deutlich. Zwar wird das Verbot der Mehrfachverfolgung in der rechtsgeschichtlichen Literatur bis in das römische Recht51 und dessen Rezeption durch die Kanonistik52 zurückverfolgt; auch in Rechtsbüchern des deutschen Mittelalters53 lässt sich dieses Verbot noch nachweisen. Allerdings war ein Mehrfachbestrafungsverbot mit dem Inquisitionsverfahren, das sich ab dem 13. Jahrhundert im kanonisch-italienischen Recht findet, nicht mehr unproblematisch zu vereinbaren; denn das Inquisitionsverfahren sah die Strafverfolgung als Aufgabe des Staates, der die Wahrheit zu erkennen und durchzusetzen hatte.54 Gerade die Wahrheit als Verfahrensziel erforderte aber die Möglichkeit, auch nach Abschluss eines Verfahrens ein und dieselbe Tat erneut zu untersuchen und ggf. (erneut) zu bestrafen, wenn neue Verdachtsgründe oder Beweismittel zu Tage traten. Dies wurde durch die „absolutia ab instantia“55 ermöglicht, nach der bei Zweifeln über Schuld oder Unschuld des Betroffenen kein Freispruch erfolgte, sondern das Verfahren nur bis zum Vorliegen neuer Verdachtsmomente eingestellt wurde.56 Ein echter Freispruch konnte nur erfolgen, wenn die Unschuld des Betrof-
51 Eingehend dazu Berner, Archiv für preußisches Strafrecht Bd. 3, 1855, S. 472 (478 ff.); Liebs, ZRG Röm. Abt. 84 (1967), 104 ff.; Schwarplies, Die rechtsgeschichtliche Entwicklung des Grundsatzes „ne bis in idem“ im Strafprozeß, 1970, S. 14 ff.; Liebau, „Ne bis in idem“ in Europa, 2005, S. 67 f.; Mansdörfer, Das Prinzip des ne bis in idem im europäischen Strafrecht, 2004, S. 54 f.; Specht, Die zwischenstaatliche Geltung des Grundsatzes ne bis in idem, 1999, S. 7 f. 52 Grundlegend Landau, ZRG Kan. Abt. 56 (1970), 124 ff.; siehe auch Berner, Archiv für preußisches Strafrecht Bd. 3, 1855, S. 472 (482); Schwarplies, Die rechtsgeschichtliche Entwicklung des Grundsatzes „ne bis in idem“ im Strafprozeß, 1970, S. 20; Specht, Die zwischenstaatliche Geltung des Grundsatzes ne bis in idem, 1999, S. 8. 53 Schwarplies, Die rechtsgeschichtliche Entwicklung des Grundsatzes „ne bis in idem“ im Strafprozeß, 1970, S. 21; Dreier-GG-Schulze-Fielitz, 3. Aufl. 2018, Art. 103 Abs. 3 Rn. 1; Schroeder, Friedrich, JuS 1997, 227 (228) unter Verweisung auf den Sachsenspiegel. 54 So Rheingans, Die Ausbildung der strafprozessualen Rechtskraftlehre von der Aufklärung bis zur Reichsstrafprozessordnung von 1877, Strafrechtliche Abhandlungen Bd. 379 (1937), S. 1 (7 ff., 15 ff.); Specht, Die zwischenstaatliche Geltung des Grundsatzes ne bis in idem, 1999, S. 9; Grünewald, ZStW 120 (2008), 545 (549); BK-GG-Rüping, 201. EL 2019, Art. 103 Abs. 3 Rn. 3. 55 Dazu Grünewald, ZStW 120 (2008), 545 (549 f.); Schwarplies, Die rechtsgeschichtliche Entwicklung des Grundsatzes „ne bis in idem“ im Strafprozeß, 1970, S. 27 ff. 56 Specht, Die zwischenstaatliche Geltung des Grundsatzes ne bis in idem, 1999, S. 9; BKGG-Rüping, 201. EL 2019, Art. 103 Abs. 3 Rn. 3; Liebau, „Ne bis in idem“ in Europa, 2005, S. 69; siehe auch Kniebühler, Transnationales „ne bis in idem“, 2005, S. 3 f.
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fenen tatsächlich bewiesen war.57 Damit war das Verbot der Mehrfachverfolgung nicht vereinbar.58 Erst die Abkehr von der „absolutia ab instantia“ in der Aufklärung59 – hier kam der Gedanke des Staatsvertrages zum Tragen, dass der Einzelne sich nur des für das Gemeinwesen unbedingt erforderlichen Teils seiner Freiheit begeben hat und Rechtssicherheit als Bestandteil von Freiheit verstanden wurde – hat das Ziel der Wahrheitsfindung nicht mehr über die Rechtssicherheit gestellt und den Inquisitionsprozess einschließlich der „absolutio ab instantia“ aufgegeben.60 Gefordert wurde ein öffentlicher, mündlicher und unmittelbarer Anklageprozess,61 zudem wurden die Wurzeln für die Lehre von der Rechtskraft entwickelt62, und hierin sah man die Grundlage für das Verbot der Mehrfachverfolgung. b) Ziel der Wahrheitsfindung und der endgültigen Entscheidung der Strafsache Diese Überlegungen, die zunächst in die französische Verfassung von 179163 übernommen und dann auch in der wissenschaftlichen Diskussion aufgegriffen wurden64, fanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Eingang in die Gerichtspraxis. Das Strafverfahren diente jetzt nicht mehr allein der Wahrheitsfindung, sondern auch der endgültigen Entscheidung der Strafsache.65 Damit setzte sich nach und nach das Mehrfachverfolgungsverbot zur Absicherung der endgültigen Entscheidung der Strafsache durch.66 57
Grünewald, ZStW 120 (2008), 545 (549). Dreier-GG-Schulze-Fielitz, 3. Aufl. 2018, Art. 103 Abs. 3 Rn. 1 m.w.N. 59 Rheingans, Strafrechtliche Abhandlungen Bd. 379 (1937), S. 1, 24 ff.; Schwarplies, Die rechtsgeschichtliche Entwicklung des Grundsatzes „ne bis in idem“ im Strafprozeß, 1970, S. 64 ff.; Kniebühler, Transnationales „ne bis in idem“, 2005, S. 4; Hußung, Der Tatbegriff im Artikel 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens, 2011, S. 26 f.; Löhr, Prozeßgrundrechte in Deutschland, Frankreich und England, 2012, S. 67. 60 Rheingans, Strafrechtliche Abhandlungen Bd. 379 (1937), S. 1 (23 f., 28 ff.). 61 Rheingans, Strafrechtliche Abhandlungen Bd. 379 (1937), S. 1 (24); Schwarplies, Die rechtsgeschichtliche Entwicklung des Grundsatzes „ne bis in idem“ im Strafprozeß, 1970, S. 65. 62 Dazu BK-GG-Rüping, 201. EL 2019, Art. 103 Abs. 3 Rn. 4. 63 „Tout homme acquitté par un juré légal, ne peut plus être repris ni accusé à raison du même fait.“ 64 Dazu Rheingans, Strafrechtliche Abhandlungen Bd. 379 (1937), S. 1 (53 ff.); Schwarplies, Die rechtsgeschichtliche Entwicklung des Grundsatzes „ne bis in idem“ im Strafprozeß, 1970, S. 86 ff. 65 Rheingans, Strafrechtliche Abhandlungen Bd. 379 (1937), S. 1 (84 ff.); Schwarplies, Die rechtsgeschichtliche Entwicklung des Grundsatzes „ne bis in idem“ im Strafprozeß, 1970, S. 98 ff. m.w.N. 66 Näher dazu Rheingans, Strafrechtliche Abhandlungen Bd. 379 (1937), S. 1 (94 ff.); vgl. auch Cording, Der Strafklageverbrauch bei Dauer- und Organisationsdelikten, 1993, S. 19 f. 58
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Nachdem im Nationalsozialismus „ne bis in idem“ abgelehnt worden war,67 weil das Ergebnis seiner Anwendung, so der Volksgerichtshof, „jedem gesunden Rechtsempfinden und dem Interesse des Staates, schwere Verbrechen gegen seine und des Volkes Sicherheit entsprechend zu bestrafen, ins Gesicht“ schlage68, waren diese Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus der wichtigste Grund für die Aufnahme des Art. 103 Abs. 3 GG in die Verfassung.69 Der Anwendungsbereich dieses Grundrechts sollte allerdings auf Kriminalstrafen beschränkt und erst nach rechtskräftiger Verurteilung eröffnet sein. Diese Verbindung von „ne bis in idem“ zur Notwendigkeit der Streitbeendigung, die institutionell im Begriff der Rechtskraft verfestigt ist70, wird deshalb zu Recht ganz überwiegend für Art. 103 Abs. 3 GG gefordert. 3. Unzulässigkeit paralleler Verfahrensführung als Ausprägung des fair trial-Grundsatzes: Recht auf Waffengleichheit Die Unzulässigkeit der parallelen Verfahrensführung ergibt sich aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens, der in Art. 47 Abs. 2 GRCh sowie in Art. 6 EMRK verbürgt und zugleich eine Ausprägung der Rechtstaatlichkeit ist. Dieser Grundsatz kann, so der BGH71, als Konsequenz des Rechtsstaatsprinzips begriffen werden, oder man kann zu seiner Begründung auf eine Gesamtschau der Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2 S. 2, 20 Abs. 3, 101 Abs. 1 S. 2, 103 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK verweisen.72 Eine Ausprägung des fairen Verfahrens ist dabei das Recht auf Waffengleichheit als Ausdruck eines effektiven Rechtsschutzes, das gewährleistet, dass das Gleichgewicht zwischen den Prozessparteien sichergestellt sein muss. Es darf nicht eine Partei in eine gegenüber ihrem Gegner deutlich nachteilige Position versetzt werden.73 Dies ist aber der Fall, wenn der Betroffene sich in ein und derselben Sache zwei ermittelnden Behörden gegenübersieht und sich damit an zwei Fronten verteidigen muss. Das Prinzip der Waffengleichheit beansprucht in der Hauptverhandlung und im Rechtsmittelverfahren unstreitig und ausnahmslos Geltung. Es findet aber auch schon im Ermittlungsverfahren Anwendung, da hier die Basis für eine effektive Verteidigung gelegt wird, zumal die Ermittlungen gerade nicht einseitig auf belastende 67
Vgl. BK-GG-Rüping, 201. EL 2019, Art. 103 Abs. 3 Rn. 3 Rn. 6; siehe auch Cording, Der Strafklageverbrauch bei Dauer- und Organisationsdelikten, 1993, S. 28 f. 68 Volksgerichtshof, DJ 1938, 1193. 69 BK-GG-Rüping, 201. EL 2019, Art. 103 Abs. 3 Rn. 7; Thomas, Das Recht auf Einmaligkeit der Strafverfolgung. Vom nationalen zum internationalen ne bis in idem, 2002, S. 34; Specht, Die zwischenstaatliche Geltung des Grundsatzes ne bis in idem, 1999, S. 14; Mansdörfer, Das Prinzip des ne bis in idem im europäischen Strafrecht, 2004, S. 58. 70 Tiedemann, Entwicklungstendenzen der Rechtskraftlehre, 1969, S. 5. 71 BGHSt 32, 345 (350); 37, 10 (13). 72 BVerfG NJW 2001, 2002 (2245); Brunhöber, ZIS 2010, 761; Mosbacher, GA 2018, 195; Jahn, ZStW 127 (2015), 549. 73 Frenz, WRP 2014, 655 (659 f.).
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Umstände beschränkt werden dürfen.74 Entsprechend hat der EGMR die Waffengleichheit (punktuell) auch im Ermittlungsverfahren zur Anwendung gebracht, etwa in Bezug auf das Akteneinsichtsrecht zur Vorbereitung der Hauptverhandlung oder eines Haftprüfungsverfahrens. Der Gerichtshof betonte dabei, dass auch in diesem Stadium die Garantien eines juristischen Verfahrens (Art. 6 EMRK) eingehalten werden müssen.75 Bei der Beteiligung zweier Ermittlungsbehörden in einer Sache ist aber wegen der Übermacht der Ermittlungsbehörden zulasten des Beschuldigten die Waffengleichheit nicht mehr gewährleistet, weil das Verfahren dann nicht mehr kontradiktorisch, sondern „multilateral“ ausgestaltet ist. Daher ist dem BGH zuzustimmen, „dass der Gedanke des fair trial (…) eine Verhandlung in zwei gleichzeitig geführten Verfahren mit den damit für den Angeklagten verbundenen Erschwerung der Verteidigungsposition verbietet“.76 4. Strafverfahren als Grundrechtseingriff und Verbot paralleler Verfahrensführung als Konsequenz des Verbots eines zwecklosen Strafverfahrens Schließlich ergibt sich das Verbot paralleler Führung mehrerer Ermittlungsverfahren aus einem weiteren dogmatischen Begründungsstrang: Bereits die Durchführung des Strafverfahrens und nicht erst die Sanktionsverhängung stellt einen wesentlichen Grundrechtseingriff dar, der nur durch den Zweck der Vorbereitung einer rechtsstaatlichen Sachentscheidung gerechtfertigt werden kann. Wenn zwei Sachentscheidungen wegen derselben Tat nicht ergehen dürfen, ist notwendigerweise eines der Verfahren seines legitimen Zweckes beraubt und der damit verbundene Grundrechtseingriff schon allein deshalb unverhältnismäßig. a) Die Führung eines Strafverfahrens als rechtfertigungsbedürftiger Grundrechtseingriff Der Staat greift nicht erst mit der Strafe, die am Ende des Strafverfahrens verhängt wird, in die Rechte des Beschuldigten ein, vielmehr bedeutet bereits der Strafprozess als solcher wegen der damit verbundenen verfahrensbedingten Übel einen Eingriff in die Rechte des Betroffenen77, insbesondere in sein Allgemeines Persönlichkeitsrecht.78 Die Belastungen für den Beschuldigten79 zeigen sich bereits in den Ermitt74
Gaede, in: MüKoStPO, 2018, Art. 6 EMRK Rn. 304 m.w.N. Safferling, NStZ 2004, 181 (183). 76 BGH NJW 1980, 2718 (2720). 77 Krack, Rehabilitierung des Beschuldigten im Strafverfahren, 2002, S. 1 f.; LR-StPOErb, Bd. V/2, 2018, § 160 Rn. 67a; Jahn, in: Beulke/Müller (Hrsg.), Festschrift zu Ehren des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer, 2006, S. 335 (338); Gaede, ZStW 129 (2017), 911 (913 ff.); Meier, Strafrechtliche Sanktionen, 2019, S. 8 f. 78 Lagodny, in: Donatsch/Forster/Schwarzenegger (Hrsg.), Trechsel-FS, 2002, S. 253 (256 f.). 75
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lungseingriffen, die den Verdacht der Straftat belegen sollen. Auch die Tatsache, dass eine staatliche Verdachtshypothese besteht, die zu einer Verurteilung und damit zu einem Unwerturteil führen kann, das den Wert- und Achtungsanspruch des Bürgers tangiert80, bedeutet eine legitimationsbedürftige Belastung des Beschuldigten.81 Hinzu kommen als weitere typische, mit der Durchführung eines Strafverfahrens verbundene Beinträchtigungen, die psychischen Belastungen sowie die Reaktionen der Mitmenschen, die sich von dem Beschuldigten und dessen Familie abwenden, sodann Belastungen der Ehe oder Partnerschaft, Beeinträchtigungen der beruflichen und wirtschaftlichen Entwicklung sowie wirtschaftliche Schäden.82 Diese Beeinträchtigungen der Persönlichkeitsentfaltung83 erfordern, dass der Strafprozess so geführt wird, dass die Belastungen möglichst gering gehalten werden; dies ist ein Gebot der Verhältnismäßigkeit.84 Während es dem traditionellen Prozessrechtsverständnis des 19. Jahrhunderts entsprach, das Verfahren als subjektivrechtliches Nullum zu betrachten und (neben spezifischen Zwangsmaßnahmen) nur die verfahrensabschließende Entscheidung einer Rechtskontrolle bezüglich ihres Inhalts zu unterwerfen, und während in Deutschland eine Rechtskontrolle trotz lauter und wohlbegründeter Forderungen85 von der Rechtsprechung nicht entwickelt wurde86, besteht immerhin ein subjektives Recht gegen eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung.87 Wird hiergegen ver-
79 Dazu BGHSt 52, 124 (124, 130); Krack, Rehabilitierung des Beschuldigten im Strafverfahren, 2002, S. 1 f.; LR-Erb, Bd. V/2, 2018, § 160 Rn. 67a; Jahn, in: Beulke/Müller (Hrsg.), Festschrift zu Ehren des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer, 2006, S. 335 (338); Gaede, ZStW 129 (2017), 911 (913 ff.). 80 BVerfGE 109, 133 (171 ff.); 140, 317 (343 f., 345 f.). 81 Jahn, in: Beulke/Müller, Festschrift zu Ehren des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer, 2006, S. 335 (347). 82 Siehe nur Gaede, ZStW 129 (2017), 911 (913 ff.) m.w.N. 83 Gaede, ZStW 129 (2017), 911 (916) m.w.N. 84 Zur Verhältnismäßigkeit im Strafverfahren BGHSt 52, 124 (132); BVerfGE 19, 342 (348 ff.); Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 2017, § 29 Rn. 5, 13. 85 Hierzu Jahn, in: Beulke/Müller (Hrsg.), Festschrift zu Ehren des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer, 2006, S. 338 (345) m.w.N. 86 Das BVerfG hat eine verfassungsunmittelbare Anfechtungsklage gegen die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens nicht zugelassen: BVerfG NStZ 1984, 228 f.; BVerfG, Beschl. v. 15. 10. 2004 – 2 BvR 1802/04. 87 Die Anerkennung des Grundrechtseingriffs durch bloße Verfahrensführung kommt in § 108 der StPO Österreichs zum Ausdruck, wonach der Beschuldigte einen Antrag auf Einstellung des Ermittlungsverfahrens stellen kann, über den das Gericht zu befinden hat. Diese Rechtsschutzmöglichkeit impliziert ein zu Grunde liegendes subjektives (Abwehr-)Recht gegenüber der Führung ungerechtfertigter Ermittlungsverfahren. Besonders greifbar wird die Anerkennung dieser „Grundrechtseingriffsqualität der Verfahrensführung als solcher“ – also nicht lediglich konkreter Zwangsmaßnahmen –, wenn mit § 108a öStPO ein subjektives Abwehrrecht gegenüber einer unnötig langsamen, durch das Gesetz sogar in der zulässigen Dauer typisierten Verfahrensdurchführung eingeräumt wird.
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stoßen, so muss ein angemessener Teil der gerichtlich verhängten Strafe vom Gericht als bereits verbüßt erklärt werden. Gaede beschreibt die gravierenden (bis hin zu existenzgefährdenden) Folgen, die eine Verfahrensführung für den Betroffenen haben kann: „Zu den Belastungen gehört aber auch schon der schiere Zustand, unter dem Damoklesschwert der staatlichen Verdachtshypothese zu liegen, die den ehrmindernden Schuldspruch und spürbare Strafen befürchten lässt.“88 Wenn aber schon das Ermittlungsverfahren einen Eingriff in die Grundrechte des Beschuldigten darstellt, bedarf es zu seiner verfassungsrechtlichen Rechtfertigung eines legitimierenden Grundes89; zu dessen Erreichung muss die Durchführung des Ermittlungsverfahrens geeignet, erforderlich und angemessen sein.90 b) Rechtfertigung der Durchführung eines Strafverfahrens Da das Strafrecht nicht anders als mittels Durchführung eines Strafverfahrens verwirklicht werden kann und darf, damit die Justizgrundrechte eingehalten werden, darf der Rechtsstaat den Rechtsunterworfenen zwar grundsätzlich eben diesem Verfahren unterwerfen und verpflichten, „sich vor Gericht zu stellen“.91 Die Durchführung eines Strafverfahrens ist jedoch nur dann legitim, wenn mit diesem Verfahren das Strafrecht auch durchgesetzt wird, nämlich das Vorliegen einer Straftat aufgeklärt und festgestellt wird, um auf dieser Grundlage eine Strafe oder sonstige Sanktion zu verhängen. Wenn eine Bestrafung von vornherein ausgeschlossen ist, sei es, dass Verjährung eingetreten ist, sei es, dass bereits eine rechtskräftige Verurteilung oder ein rechtskräftiger Freispruch vorliegt92, darf ein Strafverfahren nicht mehr eingeleitet bzw. nicht mehr fortgesetzt werden. Das Verfahren kann dann seine Funktion nicht mehr erfüllen, die Begehung einer Straftat festzustellen, damit eine Sanktion verhängt wird. Sofern eine Sanktionierung wegen bereits erfolgter Bestrafung nicht mehr zulässig ist, darf das Verfahren nicht eingeleitet werden, bzw. muss es, wenn es bereits eingeleitet ist, eingestellt werden.93
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Gaede, ZStW 2017 (129), 911 (912 f.). Möstl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VIII, 2010, S. 587 Rn. 18, 30 f. 90 Zur Verdeutlichung des Gewichts des mit einer Verfahrensführung verbundenen Grundrechtseingriffs verweist Gaede, ZStW 2017 (129), 911 (917, 921), auf Freeley, The Process is the Punishment, 1979, der die Bestrafung im Verfahren sieht, ohne sich diese Auffassung allerdings zu eigen zu machen. 91 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Original 1821, zitiert nach der Ausgabe Moldenhauer/Michel, Band 7 der Suhrkamp-Ausgabe Werke, 2000, § 221; ebenso BVerfGE 51, 324 (344); siehe auch Gaede, ZStW 129 (2017), 911; Köhler, ZStW 107 (1995), 10 (19 f.); Jakobs, HRRS 2004, 88 (93). 92 Gaede, ZStW 129 (2017), 911 (941). 93 Gaede, ZStW 129 (2017), 911 (929). 89
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c) Die Honecker-Entscheidung des Berliner Verfassungsgerichtshofs: Rechtfertigung der Verfahrensdurchführung durch den Zweck einer Sachentscheidung Der rechtfertigende Zweck, ohne den ein Verfahren schlechthin illegitim ist, liegt in der verfahrensabschließenden Sachentscheidung und in den mit der (etwaigen) Strafe verfolgten Zwecken. Diesen Legitimationszusammenhang hat der Berliner Verfassungsgerichtshof in seiner Honecker-Entscheidung herausgearbeitet und das Absehen von der Durchführung eines Strafverfahrens (und der entsprechenden Untersuchungshaft) damit begründet, dass das gegen den Beschwerdeführer anhängige Strafverfahren seinen gesetzlichen Zweck nicht mehr erreichen könne, der darin bestehe, den legitimen Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Taten und gegebenenfalls auf Verurteilung und Bestrafung zu erfüllen. Das Strafverfahren werde damit zum Selbstzweck; für die weitere Durchführung eines solchen Strafverfahrens gebe es keinen rechtfertigenden Grund. Nach der Rechtsprechung des BVerfG94, welcher der BerlVerfGH folgte, widerspreche es der Würde des Menschen, ihn zum bloßen Objekt von Strafverfahren und Untersuchungshaft zu machen.95 Damit macht der Berliner Verfassungsgerichtshof deutlich, dass ein Strafverfahren nicht geführt werden darf, wenn absehbar ist, dass die Verurteilung nicht erfolgen oder nicht vollstreckt werden kann. Das Verfahren darf nicht aus reinem Selbstzweck geführt werden, sondern muss der Erforschung der Wahrheit zum Zweck der Sanktionierung dienen. Das gilt bereits für das Ermittlungsverfahren, das nicht der Sachverhaltserforschung und der Sicherstellung der Hauptverhandlung um ihrer selbst willen dient, sondern dem Beschuldigten auch eine Rolle als Subjekt zuweist. Nur wenn das Ermittlungsverfahren zu einer Sanktionierung führen kann, darf ein solches Verfahren geführt werden. Allein die in Aussicht stehende Sanktionierung, die die Wiederherstellung des Rechtsfriedens gewährleisten soll96, legitimiert, dass durch das Ermittlungsverfahren erheblich in grundrechtliche Positionen des Betroffenen eingegriffen werden darf. Wird das Ermittlungsverfahren jedoch geführt, obschon bereits aus Rechtsgründen feststeht, dass es zu einer Verurteilung bzw. Sanktionierung wegen des Grundsatzes „ne bis in idem“ nicht kommen darf, so erfolgt die Durchführung des Ermittlungsverfahrens aus reinem Selbstzweck. Der entsprechende Grundrechtseingriff ist nicht legitim; ein solches Ermittlungsverfahren darf mangels Legitimation schon nicht eingeleitet und auch nicht geführt werden.97
94
BVerfGE 72, 105 (118). BerlVerfGH NJW 1993, 515 (517). 96 Yomere, Die Problematik der Mehrfachsanktionierung von Unternehmen im EG-Kartellrecht, 2010, S. 30. 97 Vgl. auch Schomburg/Souminen-Picht, NJW 2012, 1190 (1191 ff.). 95
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5. Fehlen sonstiger legitimer Gründe für die Durchführung paralleler Verfahren Schließlich stellt sich die Frage, ob es andere legitime Gründe gibt, die es rechtfertigen, parallele Sanktionsverfahren zu führen. a) Keine „Vorratsfunktion“ der Verfahren Illegitim wäre zunächst der Gedanke, dass eine Verfahrenseinstellung paralleler Verfahren deshalb warten müsse, weil es möglich wäre, dass das zuerst abgeschlossene Verfahren mit einem Freispruch enden könnte und in diesem Fall das zweite Verfahren erforderlich wäre, um noch zu einer Sanktionierung zu kommen. Die Unzulässigkeit einer solchen Überlegung zeigt sich schon darin, dass eine verfahrensabschließende Entscheidung auch im Falle eines Freispruchs zum Strafklageverbrauch führen würde: Eine Sachentscheidung wäre auch im Fall eines Freispruchs infolge des Grundsatzes „ne bis in idem“ unzulässig. Selbst ein „offener Vorbehalt“ wäre mit „ne bis in idem“ unvereinbar und deshalb unzulässig, weil eine einheitliche prozessuale Tat nur in einer einheitlichen Entscheidung sanktioniert bzw. von einem solchen Tatvorwurf freigesprochen werden darf. b) Unzulässigkeit einer willkürlichen Entscheidung über die Sanktion durch willkürliche Reihenfolge der unterschiedlichen Verfahren Ebenso wenig legitim wäre die Begründung, beide Verfahren offen zu halten, um sich die Entscheidung, welches der unterschiedlichen Sanktionsverfahren zum Abschluss gebracht werden soll, bis zu einem späteren Zeitpunkt offen zu halten. Vielmehr erscheint es mit Blick auf den Bestimmtheitsgrundsatz und das Willkürverbot höchst problematisch, wenn eine Rechtsordnung unterschiedliche Rechtsfolgen an die Begehung nur einer (!) Tat anknüpft, von denen aber aus verfassungsrechtlichen Gründen lediglich eine einzige Sanktion verhängt werden darf. In diesem Fall kann es nicht der Willkür der Verfahrensführung überlassen werden, welches der Verfahren einzustellen ist. Die Entscheidung, welches Verfahren fortzuführen ist, ist zeitnah zu treffen, da ansonsten ein nicht gerechtfertigter Grundrechtseingriff durch ein zweckloses Verfahren erfolgen würde. c) Keine Gefahr einer ungerechtfertigten „doppelten Sanktionslosigkeit“ Schließlich besteht auch im Falle der Einstellung eines der Ermittlungsverfahren keine Gefahr, dass es zu einer ungerechtfertigten „doppelten Sanktionslosigkeit“ kommen wird. Sollte sich nämlich in dem weitergeführten Verfahren zeigen, dass der dort untersuchte Rechtsverstoß nicht vorliegt, so verhindert der Grundsatz „ne bis in idem“ in diesem Stadium nicht, das eingestellte Verfahren wieder aufzunehmen.
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6. Zwischenergebnis Es lässt sich somit festhalten, dass wegen ein und derselben Tat von Anfang an keine zwei Ermittlungsverfahren parallel eingeleitet und durchgeführt werden dürfen, sofern eine doppelte Sanktionierung wegen des Doppelbestrafungsverbots unzulässig ist. Andernfalls würde das zweite Ermittlungsverfahren, das nicht zu einer Sanktionierung führen darf, zum reinen Selbstzweck und der Betroffene zum bloßen Objekt staatlicher Gewalt. Diese Wertung, die im Honecker-Beschluss des Berliner Verfassungsgerichtshofs besonders deutlich zum Ausdruck kommt, liegt auch der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Einmaligkeit der Strafverfolgung zugrunde, die sich insbesondere auf die Verfahrensfairness stützt. An einer parallelen Verfahrensführung, die hinsichtlich eines der Verfahren nicht zu einer Sachentscheidung führen kann, besteht kein legitimes Interesse, so dass zur Vermeidung eines Grundrechtseingriffs frühestmöglich eine normativ fundierte Entscheidung zu treffen ist, welches der beiden Ermittlungsverfahren einzustellen ist.
V. Relativierung des Doppelverfolgungsverbots durch Anerkennung eines „integrativen Verfahrens“? Damit rückt erneut der Grundsatz „ne bis in idem“ in den Mittelpunkt des Interesses, denn von der Unzulässigkeit einer doppelten Sanktionierung hängt ab, ob der Grundsatz der Einmaligkeit der Strafverfolgung eingreift. „Ne bis in idem“ wurde aber vom EGMR in seinem Urteil vom 15. 11. 2016 in Sachen „A u. B gg. Norwegen“98 durch die Zulassung einer zweiten Sanktionierung im Rahmen eines „integrierten Verfahrens“ erheblich relativiert99 – eine Relativierung, die der EuGH in den Entscheidungen „Garlsson Real Estate u. a.“, „Di Puma“ und „Zecca“ sowie in der Rechtssache „Menci“, die alle am 20. 03. 2018 ergangen sind,100 von deutlich höheren Voraussetzungen als der EGMR abhängig macht.101 Diesen erhöhten Anforderungen ist uneingeschränkt zuzustimmen. Unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten ist ein integriertes Verfahren nur zuzulassen, wenn bereits bei der Verhängung der Hauptstrafe klar ist, dass eine weitere verwaltungsrechtliche Sanktion gleichsam zwingend zu erwarten ist und deren Höhe für das Strafgericht vorhersehbar ist, so dass diese Sanktion bei der Strafzumessung der Hauptstrafe berücksichtigt werden kann.102 Wenn aber diese Anforderungen 98
EGMR, 15. 11. 2016, 24.130/11 u. 29.758/11, NLMR 2016, 556 ff. (A. u. B./Norwegen). EGMR, 15. 11. 2016, 24.130/11 u. 29.758/11, NLMR 2016, 556 ff. (A. u. B./Norwegen). 100 EuGH, 20. 03. 2018 – C-537/16 (Garlsson Real Estate u. a.); 20. 3. 2018 – C-596/16 u. C-597/16M. (Di Puma und Zecca); 20. 03. 2018 – C-524/15 (Menci). 101 Näher dazu Dannecker, Gerhard, in: Bragyova (Hrsg.), Farkas-FS, 2019, S. 206 (218 ff.). (abrufbar unter: https://www.mjsz.uni-miskolc.hu/files/6553/23_danneckergerhard_ tördelt.pdf). 102 Dannecker, Gerhard, in: Bragyova (Hrsg.), Farkas-FS, 2019, S. 206 (221 f.). 99
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eingehalten werden, wäre es unverhältnismäßig, zwei Verfahren nebeneinander durchzuführen. Vielmehr ist dann das Verfahren wegen der Hauptsanktion durchzuführen und das Verfahren wegen der verwaltungs(straf)rechtlichen Sanktion auszusetzen, bis die Hauptstrafe verhängt ist. Denn auf dieser Grundlage kann dann die verwaltungsrechtlich gleichsam zwingende Sanktion in dem nachgeschalteten Verfahren verhängt werden.
VI. Fazit Die neue Architektur eines Sicherheitsrechts, in der das Strafrecht zunehmend mit präventiven Verwaltungssanktionen konkurriert, erfordert unter dem Gesichtspunkt der verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeit eine Abstimmung der mit den verschiedenen Sanktionen verbundenen Verfahren. Die Verfahren müssen zudem den Anforderungen eines fairen Verfahrens genügen. Soweit strafrechtliche Sanktionen in Frage stehen, ergeben sich spezielle Anforderungen aus dem Grundsatz „ne bis in idem“ und des fairen Verfahrens. Wenn daher EGMR und EuGH „ne bis in idem“ eng auslegen und relativieren, sind die Bürger gleichwohl den mit den Sanktionsverfahren verbundenen Grundrechtseingriffen nicht schutzlos ausgesetzt. In den von „ne bis in idem“ nicht erfassten Bereichen entfaltet weiterhin das Recht auf ein faires Verfahren seinen Schutz. Zudem kommt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, nach dem jede in Grundrechte eingreifende Maßnahme einen legitimen Zweck verfolgen und überdies geeignet, erforderlich und angemessen sein muss, zum Tragen. Für die Frage, ob das Verbot der Parallelverfolgung vor erstmaliger strafrechtlicher Sanktionierung eingreift, hat dies zur Folge, dass die Positionen von EGMR, EuGH, BVerfG und BGH zur Einmaligkeit der Strafverfolgung einander weniger unversöhnt gegenüberstehen, als es auf den ersten Blick erscheinen mag: Das Verbot der Mehrfachverfolgung ergibt sich für strafrechtliche Sanktionen, soweit der Grundsatz „ne bis in idem“ der Verhängung zweier strafrechtlicher Sanktionen entgegensteht, aus dem Fair-trial-Grundsatz. Wenn ausnahmsweise der „integrierte Ansatz“ des EGMR und des EuGH bei einer Hauptstrafe und einer anschließenden verwaltungsstrafrechtlichen Sanktion zum Tragen kommt und die Verhängung zweier Sanktionen ermöglicht, verstößt die Durchführung zweier Verfahren gegen den verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Dieser erfordert in solchen Fällen, zunächst das Verfahren wegen der Hauptstrafe und erst anschließend das Verfahren wegen der Verwaltungsstrafsanktion durchzuführen. Damit greift das Verbot der Parallelverfolgung vor rechtskräftiger strafrechtlicher Verurteilung generell, wenn auch auf zwei unterschiedlichen Rechtsgrundlagen, ein. Im Verhältnis strafrechtlicher zu verwaltungsrechtlichen Verfahren gilt der Grundsatz der Einmaligkeit der Strafverfolgung nicht, aber auch hier entfalten das Recht auf ein faires Verfahren und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ihre grundrechtsschützende Wirkung.
Varianten der Strafrechtsvergleichung Von Albin Eser*
I. Hinführung – Vielfalt und Interdependenz von Zielen und Methoden Strafrechtsvergleichung ist nicht gleich Strafrechtsvergleichung. Wer demgegenüber meint, dass unter diesem Begriff jeweils dasselbe verstanden würde oder jedenfalls zu verstehen sei, muss sich schon von der Vielzahl und Varianz von Bezeichnungen, unter denen Strafrechtsvergleichung – und gleiches dürfte für jede Art von Rechtsvergleichung gelten – aufzutreten pflegt, eines anderen belehren lassen. So waren beispielsweise in einem Überblick über die strafrechtsvergleichende Begriffsund Modellvielfalt schon allein im deutschsprachigen Schrifttum ohne Anspruch auf Vollständigkeit 34 unterschiedlich benannte Arten von Strafrechtsvergleichung zu registrieren.1 Auch Ulrich Sieber, dem als meinem Nachfolger in der Leitung des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht dieser Beitrag zu seinem 70. Geburtstag gewidmet ist, hat zu dieser Begriffsvielfalt beigetragen, indem er die Strafrechtsvergleichung in eine siebenteilige Auflistung aufgefächert hat,2 wobei insbesondere seine Hervorhebung von „universaler“, „fallbasierter“
* Professor Dr. Dr. h.c. mult., M.C.J., Direktor em. am Max-Planck-Institut für Kriminalität, Sicherheit und Recht (vormals MPI für ausländisches und internationales Strafrecht) in Freiburg. 1 So in meinem einen allgemeinen strafrechtlichen Strukturvergleich abschließenden Teil 4 „Strafrechtsvergleichung: Entwicklung – Ziele – Methoden“, in: Eser/Perron (Hrsg.), Strukturvergleich strafrechtlicher Verantwortlichkeit und Sanktionierung in Europa. Zugleich ein Beitrag zur Theorie der Strafrechtsvergleichung, 2015, S. 939 ff. (954 ff.), abrufbar unter: https://freidok.uni-freiburg.de/data/151201. Zu englischsprachigen Parallelen vgl. Eser, Comparative Criminal Law, 2017, Rn. 32 ff. 2 So Sieber – soweit ersichtlich – erstmals in: Grenzen des Strafrechts. Strafrechtliche, kriminologische und kriminalpolitische Grundlagenfragen im Programm der Strafrechtlichen Forschungsgruppe am Freiburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, in: Albrecht/Sieber (Hrsg.), Perspektiven der strafrechtlichen Forschung, 2006, S. 35 ff. (70 ff.) [nachfolgend: Grenzen], ferner in: Strafrechtsvergleichung im Wandel – Aufgaben, Methoden und Theorieansätze der vergleichenden Strafrechtswissenschaft, in: Sieber/Albrecht (Hrsg.), Strafrecht und Kriminologie unter einem Dach, 2006, S. 78 ff. (111 ff., 127 ff.) [nachfolgend: Wandel], sowie in: Grenzen des Strafrechts – Grundlagen und Herausforderungen des neuen strafrechtlichen Forschungsprogramms am Max-Planck-Institut für ausländisches und interessantes Strafrecht, ZStW 119 (2007), 1 ff. (50 ff., 57).
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und „computergestützter“ Strafrechtsvergleichung eine gewisse Novität für sich in Anspruch nehmen darf. So wenig man daher angesichts ihrer vielfältigen Erscheinungsformen nicht wird davon sprechen können, dass es „die“ Strafrechtsvergleichung im Sinne einer einzigartigen und nur in diesem Sinne zu verstehenden Institution gebe, so wenig darf dieses Eingeständnis dazu verleiten, das Verständnis von Strafrechtsvergleichung samt ihrer Kennzeichnung völliger Beliebigkeit auszusetzen. Wessen es vielmehr bedarf, ist der zwischen dem Idol einer gleichsam kanonisierten Strafrechtsvergleichung und einer kriterienlosen Zuschreibung rechtsvergleichenden Charakters liegende Versuch, einerseits den Kernbereich zu ermitteln, der sich im strengen Sinne als Strafrechtsvergleichung verstehen lässt, und andererseits den Rahmen abzustecken, innerhalb dessen sinnvollerweise überhaupt noch von Rechtsvergleichung gesprochen werden kann. Dazu sei vorab folgendes bemerkt: Wenn immer wieder zu beobachten ist, dass Vertreter verschiedener Vergleichstheorien wechselseitig deren jeweilige Leistungsfähigkeit bestreiten, einander Antiquiertheit vorwerfen, Unzulänglichkeit monieren oder etwas grundlegend Neues und Besseres meinen anbieten zu können, so entpuppen sich solche Auseinandersetzungen nicht selten als Scheingefechte: so vor allem dann, wenn man, weil verschiedenartige Zielsetzungen verfolgend oder den Unterschied zwischen Ziel- und Methodenorientierung verkennend, schlicht aneinander vorbeiredet. Wenn beispielsweise Verfechter des „cultural turn“ der traditionellen Rechtsvergleichung vordergründiges Verharren im Rechtssystem vorhalten, statt bis zur zugrundeliegenden Rechtskultur vorzudringen, so ist dieser Vorwurf sicherlich dann berechtigt, wenn es bei einem Vergleichsprojekt nicht nur um die Existenz bestimmter rechtlicher Normen oder Institutionen geht, sondern auch, wenn nicht sogar primär um die Aufdeckung und den Vergleich rechtskultureller Grundlagen und Besonderheiten. Letzteres nicht zu einem allgemeingültigen Vergleichsprinzip zu machen, sondern auf kulturelle Hintergrundermittlungen möglicherweise gänzlich zu verzichten, kann jedoch durchaus legitim sein: so etwa, wenn es in einem judikativen Gesetzesvergleich lediglich darum geht, das Vorhandensein bestimmter Straftatbestände einschließlich etwaiger Unterschiede aufzuzeigen.3 Ähnliches gilt für die angebliche Überlegenheit des moderneren Funktionsvergleichs über den traditionellen Normenvergleich: Auch wenn sich letzterer, vor allem wenn auf bloßen Begriffsvergleich beschränkt, im Regelfall als unzulänglich erweist, ist er damit nicht völlig obsolet geworden; denn so wenig man sich einerseits etwa beim Vergleich von Strafausschließungsgründen mit dem bloßen Nachweis oder der Fehlanzeige bestimmter Regeln begnügen darf, sondern auch deren jeweilige Funktion und Einbettung in das Gesamtsystem zu erforschen hat, so sehr kann es für einen beabsichtigten Begriffs- oder Institutionenvergleich bereits genügen, das Vorhandensein oder Fehlen vergleichbarer Regeln nachzuweisen.4 Was zu zeigen war, dürfte schon 3 4
Vgl. dazu auch unten II. zu Fn. 8 sowie VII. zu Fn. 68 f. Vgl. dazu auch unten VII. zu Fn. 62.
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mit diesen wenigen Beispielen klar geworden sein: Es gibt nicht die eine, für jedes vergleichende Vorhaben allgemeingültige Strafrechtsvergleichung; vielmehr hängt die für den Einzelfall sachgerechte Art der Rechtsvergleichung von der jeweiligen Zielsetzung und von dieser wiederum die dafür einzusetzende Methode ab.5 Will man demgemäß das bunte Angebot von strafrechtsvergleichenden Theorien, Begriffen, Modellen oder wie auch immer zu bezeichnenden Vergleichsansätzen nicht einfach neben- oder gegeneinander stehen lassen, sondern in eine gewisse Ordnung bringen, ist es erforderlich, zwischen ziel-orientierten und methoden-orientierten Ansätzen zu unterscheiden, nach der unterschiedlichen Reichweite zu fragen und verschiedenartige Gegenstandsbereiche abzustecken.
II. Kernelemente der (Straf-)Rechtsvergleichung Bevor man diese Sichtung in Angriff nimmt, erscheint es angebracht, sich zunächst einmal darüber zu vergewissern, welche Minimalanforderungen erfüllt sein müssen, um sinnvollerweise von Rechtsvergleichung sprechen zu können. Selbst wenn es schwierig sein mag, angesichts der Vielfalt denkbarer Ziele, Gegenstände, Reichweiten und Methoden „Rechtsvergleichung“ unter einen gleichermaßen umfassenden wie aussagekräftigen Begriff zu bringen6, ist jedenfalls schon aus den beiden Wortkomponenten der Rechtsvergleichung abzuleiten, dass dabei Mehreres miteinander verglichen wird und dieses Vergleichen Rechtliches zum Gegenstand hat,7 wobei es speziell bei Strafrechtsvergleichung um strafrechtlich relevante Regeln, Theorien, Konzeptionen, Dogmen, Grundlagen und damit im weitesten Sinne zusammenhängende Aspekte geht. Indes bleibt zu einem derart weiten Verständnis bereits einschränkend zu bemerken, dass nicht bei jedem strafrechtsvergleichenden Vorhaben bis in letzte Hintergründe vorzudringen ist, sondern es, wie schon zuvor gesagt, von der jeweiligen Zielsetzung abhängt, inwieweit beispielsweise beim Vergleich von Rechtsregeln auch weltanschaulich-gesellschaftliche Spezifika der betroffenen Länder mit zu berücksichtigen sind oder möglicherweise umgekehrt die aus den rechtlichen Normen zu ermittelnde Rechtskultur sogar der eigentliche Vergleichsgegenstand sein 5 Eingehend zu dieser Abhängigkeit der Methode von der Zielsetzung und deshalb erforderlicher Methodenoffenheit Eser (Fn. 1), Strafrechtsvergleichung, S. 939 ff. (1038 ff.), Comparative Criminal Law, Rn. 219 ff.; im gleichen Sinne Ambos, Stand und Zukunft der Strafrechtsvergleichung, Rechtswissenschaft 2017, 247 (248 f.). 6 Weswegen manche von jeglichen Definitionsversuchen der Rechtsvergleichung meinen Abstand nehmen zu sollen, wie etwa auch deshalb, weil niemand das Recht habe, den Begriff der Rechtsvergleichung durch Ausschließung anderer zu monopolisieren: vgl. Husa, The Tip of the Iceberg or What Lies Beneath the Surface of Comparative Law, Maastricht Journal of European and Comparative Law (MJ) 16 (2005), 73 (76). 7 Vgl. Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiet des Privatrechts, Bd. I: Grundlagen, 3. Aufl. 1996, S. 1 (6 ff.).
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soll.8 Auch was das Vergleichungserfordernis betrifft, kann diesem unterschiedlich intensiv Rechnung getragen werden: angefangen von bloßem Nebeneinander- oder Gegenüberstellenstellen verschiedener Rechtsordnungen bis hin zu detaillierter Auseinandersetzung mit umfassender Hintergrundausleuchtung; darauf wird noch zurückzukommen sein. Was aber, wenn Vergleichbarkeit zu gewährleisten ist und Verzerrungen zu vermeiden sind, jedenfalls in methodischer Hinsicht noch hinzukommen muss, ist die Durchführung des Vergleichs nach allgemein anerkannten wissenschaftlichen Standards.9 Diese drei Elemente des Vergleichens (1) von Recht (2) in methodisch sachgerechter Weise (3) zusammenfassend lässt sich Rechtsvergleichung, wenn auch nicht abschließend definieren, zumindest beschreiben als ein wissenschaftlich-systematisch auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtetes und dementsprechend methodisch angepasstes Vergleichen verschiedener Rechte oder rechtlicher Aspekte: sei es, dass landesintern sektoral unterschiedliche Rechtsbereiche oder temporal mehrere Entwicklungsstufen miteinander verglichen werden, sei es, dass transnational auf horizontaler Ebene die Rechtsordnungen verschiedener Länder oder in vertikaler Stufung einem Vergleich unterzogen werden, oder sei es, dass supranational ein Vergleich zwischen über- und untergeordneten Rechtsordnungen angestellt wird.10
III. Zielorientierte Varianten Wollte man den Überblick über Varianten der Strafrechtsvergleichung mit den gegenwärtig meistdiskutierten beginnen, wäre wohl die „funktionale“ mit ihren verschiedenen Abarten erste Wahl. Damit würde jedoch die bereits angesprochene Abhängigkeit der für Rechtsvergleichung einzusetzenden Methode von dem zu erreichenden Ziel verkannt. Denn so wenig sinnvoll sich für den Regelfall Strafrechtsvergleichung wird betreiben lassen, ohne nach der Funktion vergleichender Normen oder sonstiger Rechtselemente zu fragen, betrifft das lediglich die Methode, deren Adäquatheit sich an dem angestrebten Vergleichsziel auszurichten hat. Deshalb sind es in erster Linie die Ziele, die Gegenstand des Vergleichens sein können und diesem ihr jeweiliges Gepräge geben. Danach lassen sich, wenngleich mit fließenden 8 Näher dazu Eser (Fn. 1), Strafrechtsvergleichung, S. 1049, 1054 ff., Comparative Criminal Law, Rn. 241, 250 ff. 9 Prononciert in diesem Sinne bereits Franz v. Liszt, in: Birkmeyer u. a. (Hrsg.), Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts. Besonderer Teil V, 1905, S. 4: „Rechtsvergleichung als Wissenschaft ist nur möglich aufgrund einer feststehenden Methode, durch welche die innere Gesetzmäßigkeit in der Ordnung der einzelnen empirisch gewonnenen Erkenntnisse gewährleistet wird“. 10 Vgl. auch Eser (Fn. 1), Strafrechtsvergleichung, S. 941, 961 f., Comparative Criminal Law, Rn. 6, 44 f. sowie insbesondere zu vielfältigen Facetten der Rechtsvergleichung für die transnationale Strafgerichtsbarkeit Eser, The Role of Comparative Law in Transnational Criminal Justice, in: Böse u. a. (Hrsg.), Justice Without Borders. Essays in Honour of Wolfgang Schomburg, 2018, S. 137 ff., abrufbar unter: https://freidok.uni-freiburg.de/data/149552.
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Übergängen, zwei Grundarten von Strafrechtsvergleichung unterscheiden: gebietsspezifische und funktionsspezifische. Für die gebietsspezifischen Varianten der Strafrechtsvergleichung ist charakteristisch, dass sich ihre Ziele aus vergleichungserforderlichen Aufgaben praktischer Rechtsbereiche oder theoretischer Erforschungsebenen ergeben. Dazu gehören – wie nachfolgend noch näher darzustellen – verschiedenartige Vergleichsziele im Bereich der Gesetzgebung, der Rechtsprechung und der Strafrechtswissenschaft. Dieser – inzwischen auch von anderen übernommenen – Trias von „legislativer“, „judikativer“ und „wissenschaftlich-theoretischer Rechtsvergleichung“11 lassen sich als gebietsspezifisch auch noch einige andere Varianten zuordnen: so die sog. „akademische“ Rechtsvergleichung,12 die in ihrer Zielsetzung wohl als wissenschaftlich-theoretisch zu verstehen ist, jedoch fälschlich als nur universitär betreibbar verstanden werden könnte,13 ferner die sog. „museale“ Rechtsvergleichung,14 die nicht mehr erstreben mag als die Präsentation rechtkultureller Diversitäten,15 sowie die „freiwilligbeliebige bzw. zwingende“ Rechtsvergleichung,16 bei der es darum geht, ob und inwieweit eine bestimmte Aufgabenstellung die die Berücksichtigung fremden Rechts erforderlich macht.17 Als funktionsspezifisch sind Varianten der Rechtsvergleichung zu verstehen, wenn mit deren Kennzeichnung ein bestimmter Zweck des betreffenden Vergleichens zum Ausdruck gebracht werden soll.18 Das gilt vor allem für die „legitimieren11 Wie bereits grundgelegt in Eser, Funktionen, Methoden und Grenzen der Strafrechtsvergleichung, in: Kaiser-FS,1998, S. 1499 ff. (1520 ff.), abrufbar unter: https://freidok.uni-frei burg.de/data/3735 und – mit weiteren Nachweisen – ausgebaut in Eser (Fn. 1), Strafrechtsvergleichung S. 954 f., 967 ff., Comparative Criminal Law SRn. 32 f., 52 ff. Auch wenn die Terminologie dieser Trias nicht aufgreifend, finden sich die damit zu erfassenden Aufgabenbereiche doch auch bei Sieber der Sache nach als Ziele der Rechtsvergleichung zum Ausdruck gebracht, in: Grenzen (Fn. 2), S. 69 f., Wandel [Fn. 2], S. 109 ff.). 12 Wie im Unterschied zu „instrumenteller Rechtsvergleichung“ bezeichnet von Vogel, in: Beck/Burchard/Fateh-Moghadam (Hrsg.), Strafrechtsvergleichung als Problem und Lösung, 2011, S. 205 ff. (205). 13 Vgl. auch Eser (Fn. 1), Strafrechtsvergleichung, S. 967 f., Comparative Criminal Law, Rn. 52. 14 So wenn etwa von „essayartigen Reiseberichten“ gesprochen wird: Mona, Strafrechtsvergleichung und comparative justice, in: Beck/Burchard/Fateh-Moghadam, Strafrechtsvergleichung (Fn. 12), S. 103 ff. (108). 15 Vgl. auch Eser (Fn. 1), Strafrechtsvergleichung, S. 942, 964, 1005, Comparative Criminal Law, Rn. 8, 47, 133. 16 Schramm, Die Verwendung strafrechtsvergleichender Erkenntnisse in der Rechtsprechung des BVerfG und des BGH, in: Beck/Burchard/Fateh-Moghadam, Strafrechtsvergleichung (Fn. 12), S. 155 ff. (159). 17 Vgl. auch Eser (Fn. 1), Strafrechtsvergleichung, S. 986, 999, Comparative Criminal Law, Rn. 101, 120. 18 Wobei die damit gemeinte zielorientierte Funktion nicht kurzerhand mit der methodenorientierten „funktionalen“ Strafrechtsvergleichung zu verwechseln ist: darauf wird noch zurückzukommen sein; vgl. u. VII. zu Fn. 63.
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de“ Rechtsvergleichung19 wie auch für ihre „Schutzfunktion“20 und „Kontrollfunktion“.21 Doch auch soweit ihr eine „Vorbereitungs- und Initiativfunktion“22 zugesprochen wird und von „kritischer“ ,23 „subversiver“ ,24 „akzeptanzsteigernder“,25 „harmonisierender“,26 „konfliktvermeidender“27 oder „diskursiv-vermittelnder“28 Rechtsvergleichung die Rede ist, geht es dabei um deren mögliche Zielsetzungen. Gleiches lässt sich auch von der „Import-Export-orientierten“ Rechtsvergleichung sagen, bei der es vornehmlich um wechselseitige Befruchtung geht.29
19 Schramm (Fn. 16), S. 176 f. Vgl. auch Eser (Fn. 1), Strafrechtsvergleichung, S. 1032, Comparative Criminal Law, Rn. 204 f. 20 Burchard, Die Europäische Ermittlungsanordnung („European Investigation Order“): Exekutorische Strafrechtsvergleichung und das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, in: Beck/Burchard/Fateh-Moghadam, Strafrechtsvergleichung (Fn. 12), S. 275 ff. (287, 290, 301); vgl. dazu auch Eser (Fn. 1), Strafrechtsvergleichung, S. 1003 f., Comparative Criminal Law, Rn. 131. 21 Burchard (Fn. 20), S. 275, 290, 298; vgl. auch Eser (Fn. 1), Strafrechtsvergleichung, S. 984, 1004, 1031, Comparative Criminal Law, Rn. 95, 131, 200 ff. 22 Burchard (Fn. 20), S. 275, 290, 298; vgl. auch Eser (Fn. 1), Strafrechtsvergleichung, S. 965, 1004, 1006, 1034, Comparative Criminal Law, Rn. 48, 95, 131, 135, 208 f. 23 Michaels, The Functional Method of Comparative Law, in: Reimann/Zimmermann (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, 2006, S. 33 ff. (378 ff.); vgl. auch Eser (Fn. 1), Strafrechtsvergleichung, S. 975,984, 1006 ff., 1034, Comparative Criminal Law, Rn. 68, 95, 136 ff., 208 f., 222. 24 Fletcher, Comparative Law as a Subversive Discipline, American Journal of Comparative Law 1998, S. 683 ff.; vgl. auch Eser (Fn. 1), Strafrechtsvergleichung, S. 958 Fn. 98, 1034, Comparative Criminal Law, Rn. 33 Fn. 104, 209. 25 Hauck, Funktionen und Grenzen des Einflusses der Strafrechtsvergleichung auf die Strafrechtsharmonisierung in der EU, in: Beck/Burchard/Fateh-Moghadam, Strafrechtsvergleichung (Fn. 12), S. 255 ff. (257 f.); vgl. auch Eser (Fn. 1), Strafrechtsvergleichung, S. 968, 982 f., 1032, 1085, Comparative Criminal Law, Rn. 56, 206. 26 Sieber (Fn. 2), Wandel, S. 87 ff., ZStW 119 (2007), 1 (13 ff.); vgl. auch Eser (Fn. 1), Strafrechtsvergleichung, S. 983, 1011, 1036, Comparative Criminal Law, Rn. 91 f., 146 ff., 213. 27 Hauck (Fn. 25), S. 255 f.; vgl. auch Eser (Fn. 1), Strafrechtsvergleichung, S. 982, 991 ff., Comparative Criminal Law, Rn. 91 f., 111. 28 Burghardt, Die Rechtsvergleichung in der völkerstrafrechtlichen Rechtsprechung. Von der Rechtsvergleichung als Mittel der Rechtsfindung zur diskursiv-vermittelnden Rechtsvergleichung, in: Beck /Burchard/Fateh-Moghadam, Strafrechtsvergleichung (Fn. 12), S. 235 ff.; vgl. auch Eser (Fn. 1), Strafrechtsvergleichung, S. 982 f., 1033, Comparative Criminal Law Rn. 91 f., 206. 29 Kudlich, Exportgüter und Exportbeschränkungen. Der Strafrechtsexport aus rechtstheoretischer Perspektive, in: Streng/Kett-Straub (Hrsg.), Strafrechtsvergleichung als Kulturvergleich. Beiträge zur Evaluation deutschen „Strafrechtsexports“ als „Strafrechtsimport“, 2012, S. 169 ff.; vgl. auch Eser (Fn. 1), Strafrechtsvergleichung, S. 986 f., 996 ff., 1006 ff., 1012 ff., Comparative Criminal Law Rn. 102 ff., 115 ff., 121 ff., 135 ff., 150 ff., 311 ff., sowie Eser (Fn. 70), Kulturvergleich, S. 292 ff.
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IV. Methodenorientierte Varianten Mit dieser Kategorie sind Varianten der Rechtsvergleichung gemeint, bei denen sich schon ihrer Kennzeichnung entnehmen lässt, dass sie primär methodenorientiert eine bestimmte Art des vergleichenden Verfahrens anzeigen sollen. Das gilt jedenfalls für die sog. „funktionale“ Strafrechtsvergleichung30 einschließlich ihrer „operativ-funktionalistischen“ 31 und „funktional-strukturierten“32 Abarten wie auch für die der sog. „funktionalen Äquivalenz“.33 Ebenso wie diesen Varianten kommt auch den „systematischen“34 und „strukturvergleichenden“35 Methoden eine fundamentale Rol l e ( worauf noch zurückzukommen sein wird), während die sog. „deskriptive“, 36 „induktive“,37„instrumentelle“38 und „dialektische“39 wie auch die „fallbasierte“ 40 und „computergestützte“41 Rechtsvergleichung lediglich eine vorbereitende oder arbeitstechnische Nebenrolle spielen.
V. Ambivalente Varianten Damit verbleiben aus dem eingangs genannten Arsenal von 34 unterschiedlich bezeichneten Arten von Strafrechtsvergleichung42 noch einige Varianten, die sich kaum ausschließlich der zielorientierten oder der methodenorientierten Kategorie zuordnen lassen. So kann die „universale“43 Rechtsvergleichung einerseits auf ein globales Forschungsziel ausgerichtet sein oder andererseits für ein bestimmtes theo30
Sieber (Fn. 2), Grenzen, S. 71 f.; ders., Wandel, S. 112 ff.; näher dazu u. VII. zu Fn. 63 ff. 31 Fateh-Moghadam, Operativer Funktionalismus in der Strafrechtsvergleichung, in: Beck/ Burchard/Fateh-Moghadam, Strafrechtsvergleichung (o. Fn. 12), S. 43 ff. 32 Perron, Sind die nationalen Grenzen des Strafrechts überwindbar? Überlegungen zu den strukturellen Voraussetzungen der Angleichung und Vereinheitlichung unterschiedlicher Rechtssysteme, ZStW 109 (1997), S. 281 (289 ff.). 33 Pieth, „Funktionale Äquivalenz“, ZSchwR 119 (2000), S. 477 ff.; vgl. auch Eser (Fn. 1), Strafrechtsvergleichung, S. 1056 f., Comparative Criminal Law, Rn. 253 ff. 34 Sieber (Fn. 2), Grenzen, S. 72 f.; ders., Wandel, S. 114 ff. 35 Sieber (Fn. 2), Grenzen, S. 73; ders., Wandel, S. 116 f. Näher dazu u. VII. zu Fn. 65 ff. 36 Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung (Fn. 7), S. 6; vgl. dazu u. VI. zu Fn. 54. 37 Vgl. Perron, Vorüberlegungen zu einer rechtsvergleichenden Untersuchung der Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit, in: Nishihara-FS, 1998, S. 145 ff. 38 Vogel (Fn. 12), S. 207 ff.; vgl. aber dazu auch Eser (Fn. 1), Strafrechtsvergleichung, S. 1037, Comparative Criminal Law, Rn. 217. 39 Tschentscher, Dialektische Rechtsvergleichung, JZ 2007, 807 ff. 40 Sieber (Fn. 2), Grenzen, S. 73 f.; ders., Wandel, S. 118; vgl. dazu auch Eser (Fn. 1), Strafrechtsvergleichung, S. 1065, 1079 f.; Comparative Criminal Law, Rn. 307 f. 41 Sieber (Fn. 2), Grenzen, S. 75 f.; ders., Wandel, S. 124 f. 42 Oben I. zu Fn. 1. 43 Sieber (Fn. 2), Grenzen, S. 70 f.; ders., Wandel, S. 111 f.; ders., ZStW 119 (2007), 1 (51 f.). Näher dazu unten VII. zu Fn. 71 ff.
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retisches oder legislatives Ziel als Methode dienen. Ähnlich kann es bei der „kulturbezogenen“ Rechtsvergleichung44 ihrer Zielsetzung nach um die Gegenüberstellung verschiedener Prozesskulturen gehen, während es bei einem legislativ ausgerichteten Vergleich methodisch darauf ankommen kann, kulturbedingte Unterschiede sichtbar zu machen. Auch die „exekutorische“ Rechtsvergleichung45 hat insofern zwei Seiten, als sie zwar vorwiegend die Umsetzung justizieller Entscheidungen zum Ziel hat und dadurch der judikativen Rechtsvergleichung nahekommt, aber dazu methodisch einer Bewertung bedarf. Letzteres gilt umso mehr für die die „wertend-wertungsvergleichende“ Rechtsvergleichung,46 die sowohl das Ermitteln der bestmöglichen Lösung für ein bestimmtes Rechtsproblem zum Ziel haben kann als auch lediglich den methodischen Abschluss einer rechtsvergleichenden Untersuchung darstellen soll.47 Hält man derartige Erwägungen für maßgeblich, lässt sich auch die „evaluativ-kompetitive Strafrechtsvergleichung“,48 durch die sich die traditionelle Trias der theoretischen, judikativen und legislativen Strafrechtsvergleichung zu einer Tetrade erweitert findet,49 den hier vorgestellten ambivalenten Varianten zuordnen.
VI. Unterschiedliche Reichweiten Wenn bei Diskussionen über die Vorzugswürdigkeit der einen gegenüber einer anderen Strafrechtstheorie nicht selten aneinander vorbeigeredet wird, kann das nicht nur, wie zuvor bemerkt, einen Grund in der Vermischung von Zielen und Methoden haben, vielmehr können derartige Scheingefechte auch daraus zu erklären sein, dass der eine ein Großprojekt im Auge hat, während es dem anderen lediglich um eine kleinere Vergleichsprobe geht. Denn während für den bloßen Aufweis von einschlägigen Straftatbeständen schon ein einfacher Normenvergleich genügen mag, kann für einen umfassenderen Systemvergleich eine funktionale, auch den rechtskulturellen Hintergrund mit ausleuchtende Vergleichsmethode erforderlich sein.50 Deshalb ist für die Methodenwahl nicht nur das zu erreichende Vergleichsziel, sondern auch die dementsprechende Reichweite des Vorhabens von Bedeutung. Diese Unter44 Beck, Strafrecht im interkulturellen Dialog, in: Beck/Burchard/Fateh-Moghadam, Strafrechtsvergleichung (Fn. 12), S. 65 ff.; Streng/Kett-Straub (Hrsg.), Strafrechtsvergleichung als Kulturvergleich, 2012; näher dazu u. VI. zu Fn. 68 ff. 45 Burchard (Fn. 20), S. 275, 277, 286 ff., näher dazu Eser (Fn. 1), Strafrechtsvergleichung, S. 1003 ff., 1025 f., Comparative Criminal Law, Rn. 52, 185. 46 Sieber (Fn. 2), Grenzen, S. 74 f.; ders., Wandel, S. 119 f. 47 Näher dazu unten VII. zu Fn. 76 f. sowie Eser (Fn. 1), Strafrechtsvergleichung, S. 1084 ff., 1107 ff., Comparative Criminal Law, Rn. 322 ff., 396 ff. 48 Grundlegend dazu Eser, Evaluativ-kompetitive Strafrechtsvergleichung. Zu „wertenden“ Funktionen und Methoden der Rechtsvergleichung, in: Frisch-FS, 2013, S. 1441 ff., abrufbar unter: https://freidok.uni-freiburg.de/data/9715. 49 Eser (Fn. 1), Strafrechtsvergleichung, S. 956, 1020 ff., Comparative Criminal Law, Rn. 33, 173 ff. 50 Vgl. unten VII. zu Fn. 65 ff.
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schiedlichkeit des Vergleichsrahmens sei hier wenigstens exemplarisch anhand der Trias der praktisch wichtigsten Vergleichsfelder demonstriert: der theoretischen, der judikativen und der legislativen Strafrechtsvergleichung. Was die theoretische Strafrechtsvergleichung betrifft, so ist deren Schwerpunkt, sieht man einerseits von bloßem Interesse an Horizonterweiterung durch fremdes Recht und dessen Rückspiegelung auf das eigene Recht und andererseits von konsensförderlicher Verständniserleichterung und kritischer Kontrollfunktion einmal ab,51 vornehmlich in der Grundlagenforschung zu finden.52 Obgleich diese erwarten ließe, dass sie grundsätzlich in Form von Makrovergleichen zu betreiben wäre, braucht dies nicht notwendigerweise der Fall zu sein. Wenn es in gegenständlicher Hinsicht lediglich um Einzelphänomene der Straftat, wie etwa das Verhältnismäßigkeitserfordernis bei Notwehr oder mordqualifizierende Motive bei einer Tötung geht, oder ländermäßig nur nach EU-Staaten gefragt ist, kann schon ein Mikrovergleich ausreichen. Doch selbst ein solcher kann eine unterschiedlich weitgehende Breite und Tiefe erfordern; denn wenn es hinsichtlich des Notwehrbeispiels nicht nur um die Feststellung bzw. Fehlanzeige einer begriffsgleichen Norm geht, sondern auch die jeweils dahinter stehende Notwehrkonzeption ermittelt werden soll, kann nicht ein bloßer Blick in das Strafgesetzbuch genügen, vielmehr wird dann über Begriffsvergleichung hinaus auch das politische Vorverständnis des Verhältnisses von staatlichem Gewaltvorbehalt und individuell-zivilem Selbsthilferecht zu eruieren sein, was zudem nicht ohne Ausleuchtung des weltanschaulich-kulturellen Hintergrund möglich sein wird. Ein solcher Kulturvergleich ist umso mehr geboten, je breiter in Form eines Meso- oder Makrovergleichs gegenständlich umfassendere Gesamtoder Teilsysteme, wie etwa der Aufbau der Straftat, das Sanktionssystem oder die wesentlichen Verfahrensphasen, oder gar ganze „Rechtsfamilien“ miteinander verglichen werden sollen oder gebietsmäßig eine größere Zahl von Ländern in den Vergleich einbezogen werden soll. Wie weit umspannend dabei die Präsentierung von Themen oder Ländern auch gehen mag, kann von echter Strafrechtsvergleichung allerdings erst dann die Rede sein, wenn es nicht bei einer bloßen Ansammlung und Nebeneinanderstellung von einschlägigen Daten bleibt, sondern diese miteinander verglichen werden und diese Aufgabe schon innerhalb des Projekts erledigt und nicht einfach dem Leser überlassen wird.53 Streng genommen wäre daher Darstellungen und Sammlungen, 51
Vgl. Eser (Fn. 1), Strafrechtsvergleichung, S. 968 f. bzw. 982 ff., Comparative Criminal Law, Rn. 54 ff. bzw. 91 ff. 52 Zur Vielfalt und unterschiedlichen Reichweite von Vergleichszielen im Sinne von Grundlagenforschung eingehend Eser (Fn. 1), Strafrechtsvergleichung, S. 973 ff., Comparative Criminal Law, Rn. 60 ff. 53 An solchen abschließenden Vergleichen und Querschnitten fehlt es bedauerlicherweise nicht nur in vielen Lehrmaterialien und mit der Darstellung von Rechtsfamilien befassten Kompendien, sondern auch in den ansonsten höchst verdienstvollen mehrbändigen strukturierten Materialsammlungen des Max-Planck-Instituts, herausgegeben von Ulrich Sieber und Mitarbeiterinnen; vgl. mit Einzelnachweisen Eser (Fn. 1), Strafrechtsvergleichung, S. 970 f.,
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in denen fremdes Recht lediglich dokumentiert, beschrieben oder beziehungslos nebeneinandergestellt wird, ohne dieses in irgendeiner Weise vergleichend zu analysieren oder wenigstens zu resümieren, der Charakter von Rechtsvergleichung abzusprechen und darin lediglich „Auslandsrechtskunde“ zu sehen. Da diese jedoch insofern einen nicht zu unterschätzenden Eigenwert hat, als sie als Fundgrube für Einblicke in die beschriebenen Rechtsordnungen dienen und ihr als Materialerfassung eine wichtige Vorbereitungsfunktion für den dann anzustellenden Vergleich zukommen kann, wird man sie immerhin als „deskriptive Rechtsvergleichung“54 oder als „Strafrechtsvergleichung in einem weiten Sinne“55 verstehen können. Was die judikative Strafrechtsvergleichung betrifft, wird es in der Regel nur um Mikro- und kaum um Meso- und noch weniger um Makrovergleiche gehen. Zwar ist ihr Anwendungsfeld thematisch vielfältig, reicht es doch von verschiedenartigen Formen der Berücksichtigung von fremdem Recht bei der Rechtsanwendung bis hin zu richterlicher Rechtsfindung und Rechtsfortbildung durch Strafrechtsvergleichung.56 Indes geht es dabei meist nur um Einzelprobleme, wie etwa die Prüfung beiderseitiger Strafbarkeit bei Auslandstaten im Falle von Auslieferung oder um den Vergleich mit ausländischen Parallelen als Auslegungshilfe. Sofern jedoch richterliche Rechtsfortbildung oder die Erforschung allgemeiner Rechtsgrundsätze gefragt ist, kann auch ein Mesovergleich einer größeren Zahl von Ländern oder gar ein systemerfassender Makrovergleich erforderlich werden. Doch wie auch immer speziell beschränkt oder mehr generell angelegt, spielt auch für die Reichweite judikativer Strafrechtsvergleichung nicht nur die Breite, sondern auch die Tiefendimension des Vergleichs eine Rolle: indem es einerseits für einen Makrovergleich, wie etwa das Ausmaß der Anerkennung eines bestimmten Rechtsprinzips, schon genügen kann, die einschlägigen Normen zu ermitteln, oder es andererseits bei einem Mikrovergleich, wie etwa für den Nachweis der Strafbarkeit an einem ausländischen Tatort, erforderlich sein kann, einen scheinbar gleichen Tatbestand hinsichtlich seines Schutzguts und Anwendungsbereichs einschließlich möglicher Straffreistellungsgründe vertieft zu hinterfragen oder umgekehrt bei scheinbarem Fehlen einer identischen Strafnorm nach gleichermaßen anwendbaren Alternativen oder Auffangtatbeständen zu suchen. Bei der legislativen Strafrechtsvergleichung bietet sich hinsichtlich ihrer Reichweite insofern ein anderes Bild, als sie in der Regel weniger in Mikro- als vielmehr in Comparative Criminal Law, Rn. 57 ff., 432 ff. sowie Eser, Zum Stand der Strafrechtsvergleichung: eine literarische Nachlese, in: Streng-FS, 2017, S. 669 (678 ff.), abrufbar unter: https:// freidok.uni-freiburg.de/data/149759. 54 So Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung (Fn. 7), S. 6. 55 So Sieber (Fn. 2), Wandel, S. 79 Fn. 7. 56 Zu Einzelheiten mit weiteren Nachweisen vgl. Eser (Fn. 1), Strafrechtsvergleichung, S. 984 ff., Comparative Criminal Law, Rn. 97 ff.; vgl. auch die im Wesentlichen ähnliche – wenngleich ohne Kennzeichnung als „judikative Strafrechtsvergleichung“ – Auflistung derartiger Aufgaben in der „Rechtsanwendung“ und „Rechtsfindung“ von Sieber, Wandel, S. 99 ff. bzw. ders., Grenzen, S. 69.
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Meso- oder gar Makrovergleichen betrieben werden kann.57 Zwar kann auch legislative Strafrechtsvergleichung auf Einzelphänomene beschränkt sein, wie etwa bei der Modernisierung eines Straftatbestandes, indem die traditionelle außereheliche Notzucht auch auf Vergewaltigung in der Ehe ausgeweitet und dafür nach Vorreitern im ausländischen Strafrecht gesucht wird; doch schon bei solchen punktuellen Rechtsänderungen wird nicht leicht mit ländermäßig beschränkten Recherchen auszukommen sein. Das gilt umso mehr, wenn transnationale Harmonisierungen erstrebt oder supranationale Rechtsgrundsätze und Konventionen entwickelt werden sollen, ganz zu schweigen von grundsätzlichen Systemveränderungen oder der Erarbeitung von Modellstrafgesetzbüchern. Nicht nur dass dafür schon thematisch ein breites Feld zu beackern sein kann und dabei möglicherweise prinzipiell unterschiedliche Strukturen zu berücksichtigen sind, auch können legislative Vergleichsprojekte umso mehr an Überzeugungskraft gewinnen, je größer und vielfältiger der Kreis der einbezogenen Rechtsordnungen ist.
VII. Methodische Ansätze Angesichts der verschiedenartigen Ziele und unterschiedlichen Reichweiten der Strafrechtsvergleichung kann nicht überraschen, dass diese nicht mit einer immergleichen einzigen Methode zu erreichen sind, sondern die anzuwendende Methode vom jeweiligen Vergleichsziel abhängt und daran auszurichten ist. Wenn es deshalb, wie bereits eingangs bemerkt, die eine alles andere ausschließende Vergleichsmethode nicht gibt, ist Methodenoffenheit geboten.58 Von der Vielzahl von Methoden, wie sie verständlicherweise (sofern nicht als exklusiv verstanden) auf dem Meinungsmarkt angeboten werden,59 können allerdings nur wenige – über spezifische Anwendungsfelder wie etwa die sich als instrumentell, dialektisch, fallbasiert oder computergestützte bezeichneten Vorgehensweisen hinausgehende – Methoden größere Bedeutung für sich in Anspruch nehmen. Dies lässt sich zunächst immer noch von dem traditionell vorherrschenden „legalistischen“ Ansatz sagen, der sich im Wesentlichen auf den Vergleich von Rechtsbegriffen und Institutionen beschränkt und dementsprechend auch als „begriffsdogmatisch“, „normativ-institutionell“ oder „typologisch“ bezeichnet findet.60 Auch wenn der Stellenwert dieses Ansatzes inzwischen derart weit zurückgegangen ist, dass er in 57
Auch zur Vielfalt derartiger – von Sieber a.a.O S. 95 ff. bzw. S. 69 f. unter „Rechtspolitik“ zusammengefasster – legislativer Vergleichsziele und deren unterschiedliche Reichweiten wie auch nationaler, regionaler und supranationaler Ebenen vgl. Eser (Fn. 1), Strafrechtsvergleichung, S. 1005 ff., Comparative Criminal Law, Rn. 133 ff. 58 Vgl. oben I. 59 Vgl. den Überblick oben IV. sowie Eser (Fn. 1), Strafrechtsvergleichung, S. 1045 ff., Comparative Criminal Law, Rn. 237 ff. 60 Vgl. Kokkini-Iatridou, Some Methodological Aspects of Comparative Law, Netherlands International Law Review 33 (1986), 143 ff. (165 ff.).
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manchen Methodenkatalogen nicht einmal mehr eigenständiger Erwähnung wert erscheint,61 ist ihm nicht jeder Eigenwert abzusprechen, kann es doch beispielsweise durchaus sinnvoll sein herauszufinden, ob ein bestimmter Rechtsbegriff, wie etwa Tatbestandsmäßigkeit, einzigartig ist oder in anderen Verbrechenssystemen gewisse Parallelen hat oder ob anstelle weiterer Aufbaustufen wie Rechtswidrigkeit und Schuld lediglich zwischen objektiven und subjektiven Verbrechenselementen unterschieden wird.62 Gleichwohl ist bei Beschränkung des Blickfelds auf Rechtsbegriffe oder isoliert betrachtete Institutionen nicht zu verkennen, dass der Erkenntniswert recht punktuell sein kann und oft auch vordergründig bleibt, ganz abgesehen davon, dass der Sinngehalt von Rechtsbegriffen und Rechtssätzen oft nicht schon aus sich selbst heraus zu erkennen, sondern aus dem jeweils zu regelnden gesellschaftlichen Problem zu ermitteln ist. Solchen begriffsverhafteten Defiziten versucht man mit „funktionalen“ Ansätzen abzuhelfen. Auch wenn mittlerweile in verschiedenen Spielarten vorzufinden,63 ist diesen im Kern gemeinsam, dass beim Vergleich von Recht weniger auf dessen Begrifflichkeit abzuheben als vielmehr von der Funktion der betreffenden Normen und Institutionen zur Regelung eines bestimmten sozialen Problems auszugehen ist. Demzufolge ist der Rechtsvergleich möglichst frei von begrifflichen, institutionellen oder dogmatischen Voreinstellungen an dem einer rechtlichen Regelung zugrunde liegenden Sachproblem – und dabei gleichsam an dessen „Sitz im Leben“ – auszurichten.64 Auch funktionale Ansätze vermögen jedoch nicht allen Vergleichserwartungen zu genügen; denn auch wenn nach dieser Methode – über rein legalistischen Normenvergleich hinaus – die Funktion von Rechtsbegriffen und Institutionen im Hinblick auf das infrage stehende Sachproblem der Lebenswirklichkeit als für die zu vergleichenden Länder gleich- oder verschiedenartig zu identifizieren ist, ist auf diesem Weg nicht schon ohne weiteres ausgemacht, welche Regelungen dabei einzubeziehen und welche Befunde dadurch schließlich zu erlangen sind, wie tief dazu in verschiedene Regelungsschichten einzudringen ist und welches Hintergrundmaterial es dabei zu erfassen gilt.65 Solche Fragen werden vielmehr erst dann zweckgerecht zu beantworten sein, wenn bei entsprechender Zielsetzung des Projekts der Funktionsvergleich durch einen „Strukturvergleich“ erweitert und vertieft wird. Ungeachtet 61
Wie beispielsweise in der Auflistung von Sieber (Fn. 2), Wandel, S. 111 ff. Vgl. dazu auch oben I. zu Fn. 4 sowie Eser (Fn. 1), Strafrechtsvergleichung, S. 1050 f., Comparative Criminal Law, Rn. 244 ff. 63 Vgl. etwa die von Michaels (Fn. 23), S. 343 ff. aufgelisteten acht funktionalen Varianten, bei denen es sich allerdings – genau besehen – zum Teil weniger um Methoden als um Zielsetzungen handelt. 64 Zu weiteren Einzelheiten vgl. Eser (Fn. 1), Strafrechtsvergleichung, S. 1051 ff., 1056 ff., Comparative Criminal Law, Rn. 247 ff., 253 f.; mit teils anderen Nuancierungen vgl. auch Sieber (Fn. 2), Grenzen, S. 71 f., Wandel, S. 112 ff. 65 Vgl. De Coninck, The Functional Method of Comparative Law: Quo vadis?, RabelsZ 74 (2010), 318 ff. (336 f.). 62
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des vor allem im englischsprachigen Schrifttum ausgetragenen Theorienstreits, inwieweit es sich bei strukturalistischen und ähnlich ausgerichteten systematischen Ansätzen lediglich um Unterarten des Funktionalismus und weniger um eine eigenständige Methodik handelt,66 liegt ihr Eigenwert in ihrer Zweidimensionalität: indem für einen Strukturvergleich hinsichtlich seiner Breite in der Regel nicht schon die Gegenüberstellung von einzelnen Normen einschließlich ihrer Funktionen genügen wird, sondern das betroffene Gesamtgefüge systematisch zu erfassen ist, und indem für den Strukturvergleich hinsichtlich seiner Tiefe nicht schon die Beschreibung der gesetzlichen Oberfläche ausreichen kann, sondern auch die Wirkungsebene das betroffenen sozialen Ordnungsproblems – einschließlich einschlägiger Gerichtspraxis oder ungeschriebener Regeln – zu berücksichtigen ist.67 Für diese Tiefendimension kann zur Ausleuchtung weltanschaulich-historischer Hintergründe nicht zuletzt auch ein „Kulturvergleich“ erforderlich sein. Dabei ist allerdings angesichts der gleichermaßen „kulturgeprägten und kulturprägenden Rolle des Rechts“68 im Hinblick auf das Vergleichsziel zweierlei auseinanderzuhalten: Soweit es darum geht, kulturelle Phänomene (auch) von rechtlichen Institutionen her zu erklären, handelt es sich weniger um den Vergleich von Recht als um den Vergleich von Kultur. Ein solcher „rechtsbezogener Kulturvergleich“ hat zweifellos seinen geisteswissenschaftlichen Eigenwert, bewegt sich jedoch disziplinär (noch oder bereits) außerhalb eigentlicher Rechtsvergleichung.69 Demgegenüber kommt es im Sinne „kulturbezogener Rechtsvergleichung“, soweit von dem auf Recht hin orientierten Vergleichsziel geboten, allein darauf an, bei der Erfassung und Deutung der einschlägigen Normen und Institutionen auch deren weltanschaulich-politischen Hintergründe und historisch-kulturellen Entwicklungen zu erforschen.70 Mehr auf Breitendimension ausgerichtet ist der Anspruch „universaler“ Strafrechtsvergleichung. Obgleich von Sieber in seinem Methodenkatalog an erster Stelle
66
Vgl. Kokkini-Iatridou, Aspects (o. Fn. 60), S. 165 ff. Zu weiteren Einzelheiten, wie insbesondere dem eingangs erwähnten „Strukturvergleich strafrechtlicher Verantwortlichkeit und Sanktionierung in Europa“ (Fn. 1), vgl. Eser (Fn. 1), Strafrechtsvergleichung, S. 1057 ff., Comparative Criminal Law, Rn. 256 ff.; mit teils anderen Nuancen vgl. auch Sieber (Fn. 2), Grenzen, S. 72 f.; ders., Wandel, S. 115 ff. 68 Wie treffend differenziert von Jung, Recht und kulturelle Identität, ZStW 121 (2009), S. 467 ff. (470). 69 Es sei denn, dass man mit dem französischen Komparatisten Legrand, Le Droit Comparé, 4. Aufl. Paris 2011, S. 125, die radikal einseitige Auffassung vertritt: „la comparaison des droits sera CULTURELLE ou ne sera pas“. 70 Zu weiteren Einzelheiten dieses differenzierungsbedürftigen kulturellen Vergleichsansatzes vgl. oben I. zu Fn. 3, II. zu Fn. 8, V. zu Fn. 44 sowie Eser, Strafrechtsvergleichung durch Kulturvergleich, Jahrbuch für japanisches Recht 2014, S. 288 ff., abrufbar unter https:// freidok.uni-freiburg.de/data/9725; Eser (Fn. 1), Strafrechtsvergleichung, S. 959 (31), 975, 1014 f., 1049, 1054 f., 1078 f., Comparative Criminal Law Rn. 35 (31), 67, 156, 241, 250 f., 304 ff., ferner neuerdings Jung, Should We Compare Laws or Cultures?, in: Bergen Journal of Comparative Law and Criminal Justice, 5 (2017), 1 ff. 67
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genannt71 und damit den Anschein besonderer Präferenz nahelegend, wird doch schon von ihm selbst eingeräumt, dass es damit weder um eine Universalität dieser Methode noch um eine universale Verbindlichkeitserklärung rechtsvergleichender Befunde gehe, sondern lediglich um die „Einbeziehung prinzipiell aller Rechtsordnungen der Welt“.72 Dem ist tendenziell sicherlich insoweit zuzustimmen, als mit wachsender Globalisierung und Supranationalisierung (auch) des (Straf)Rechts naturgemäß mehr Länder als bei der traditionellen Fokussierung auf bestimmte Rechtsfamilien (vornehmlich kontinental-europäischer und angloamerikanischer Provenienz) üblich in den Rechtsvergleich einzubeziehen sind. Gleichwohl bleibt vor allzu hohen und weiten universalistischen Erwartungen zu warnen; denn nicht nur, dass selbst mit modernsten Erforschungs- und Dokumentationsmethoden kaum eine mehr oder weniger globale Rechtserfassung zu realisieren sein wird, werden sich auch schon thematisch immer nur bestimmte strafrechtliche Segmente bearbeiten lassen.73 Deshalb ist gerade auch in dieser Hinsicht an die Abhängigkeit der Methode von der jeweiligen Zielsetzung zu erinnern.74 Neuartig ist der von mir als „evaluativ-kompetitiv“ zusammengefasste Vergleichsansatz.75 Entgegen früheren, Rechtsvergleichung als „zweckfrei“ verstehenden Ansichten, wonach Wertungen als wesensfremd in den Bereich wissenschaftsüberschreitender Rechtspolitik zu verweisen seien,76 ist Rechtsvergleichung keineswegs als wertungsfrei zu sehen, ist doch im Grunde schon die Zielsetzung durch bestimmte Zwecke motiviert, die neben möglicherweise vorgegebenen nicht zuletzt auch von subjektiven Abwägungen – und somit Wertungen – abhängen, ganz zu schweigen von den am Ende eines Vergleichs in der Regel zu erwartenden Einschätzungen. Führen diese zu präferierenden Empfehlungen, ist zudem der Schritt von nur evaluativer zu kompetitiver Rechtsvergleichung getan.77
71
Sieber (Fn. 2), Grenzen, S. 70 f.; ders., Wandel, S. 111 f. Sieber (Fn. 2), Grenzen, S. 70 Fn. 119; ders., Wandel, S. 111 Fn. 136. 73 Näher zur Ambivalenz eines rechtsvergleichenden Universalitätsanspruchs Eser (Fn. 1), Strafrechtsvergleichung, S. 976 ff., 1047 ff., Comparative Criminal Law, Rn. 72 ff., 238 ff. 74 Vgl. oben I. 75 Vgl. die Nachweise oben V. in und zu Fn. 48. 76 Vgl. etwa Jescheck, Entwicklung, Aufgaben und Methoden der Strafrechtsvergleichung, 1955, S. 29 (43) sowie mit weiteren Nachweisen Eser (Fn. 1), Strafrechtsvergleichung, S. 963 ff., Comparative Criminal Law, Rn. 45 ff. 77 Näher zu dieser Entwicklung Eser (Fn. 48), Evaluativ-kompetitiv S. 1454 ff.; ders., (Fn. 1), Strafrechtsvergleichung, S. 1030 ff., 1084 ff., Comparative Criminal Law, Rn. 195 ff., 322 ff. 72
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VIII. Grundmodell (straf-)rechtsvergleichenden Forschens – Leitfaden So verschieden die Ziele und Methoden strafrechtsvergleichender Vorhaben auch sein mögen, erscheinen doch bestimmte Prüfungsschritte in der Regel als empfehlenswert. Dafür ist für den Bereich der Strafrechtsvergleichung wohl erstmals von Hans-Heinrich Jescheck ein Vier-Stufen-Modell entwickelt worden, wonach zunächst als grundlegende Arbeitshypothese der eigene dogmatische und kriminalpolitische Standpunkt zu bestimmen sei (1), dem sich die exegetische Arbeit am Auslandsrecht anzuschließen habe (2), gefolgt von der systematischen Ordnung und Darstellung des Materials (3) und abgeschlossen mit der rechtspolitischen Bewertung der gefundenen Lösungen (4)78 – wobei die letzte Stufe allerdings bereits über den Rahmen der eigentlichen Rechtsvergleichung hinausführe.79. Auch wenn sich in dieser von ihm selbst so bezeichneten „geistigen Methodik“ der strafrechtsvergleichenden Forschung bereits alle wesentlichen Punkte angesprochen finden, erscheint sie mir weiter differenzierungsbedürftig und am besten praktizierbar in fünf Arbeitsschritten:80 Im 1. Schritt ist das zu erforschende Sachproblem zu umschreiben und mit Entwicklung eines Fragenkatalogs das Vergleichsziel zu definieren. Im 2. Schritt hat die Auswahl der in den Vergleich einzubeziehenden Länder zu erfolgen, wobei deren Art und Zahl vom Vergleichsziel abhängt. Im 3. Schritt sind die Landesberichte zu erstellen, wobei diese wiederum abhängig vom Vergleichsziel unterschiedlich breit oder tiefgehend anzulegen sind. Im 4. Schritt ist der eigentliche Rechtsvergleich vorzunehmen, wobei anhand eines Kriterienkatalogs schon ein binationaler Abgleich genügen oder ein multinationaler Querschnitt erforderlich sein kann. Der abschließende 5. Arbeitsschritt ist einer Evaluierung des rechtsvergleichenden Befunds und etwaigen Empfehlungen vorbehalten, wobei nicht zuletzt auch die maßgeblichen Wertungskriterien offen zu legen sind.81 78 Jescheck (Fn. 76), S. 40 ff., mit gewissen Modifizierungen ders., Rechtsvergleichung als Grundlage der Strafprozessreform, ZStW 86 (1974), 761 (771 ff.). 79 Vgl. oben VII. zu Fn. 76. 80 Grundgelegt in Eser, (Fn. 11), Funktionen 8, S. 1520 ff., weiter ausgebaut und in einem Leitfaden für die praktische Vergleichsarbeit zusammengefasst in Eser (Fn. 1), Strafrechtsvergleichung, S. 1044 ff., 1097 ff., Comparative Criminal Law, Rn. 229 ff., 359 ff. 81 Sofern es – im Hinblick darauf, dass Sieber seine Beiträge zur Strafrechtsvergleichung als Weiterführung von Jeschecks Überlegungen verstanden wissen wollte (Fn. 2, Wandel, S. 79, 111) – naheliegend erschiene, in seiner siebenteiligen Auflistung strafrechtsvergleichender Methoden (vgl. oben I. zu Fn. 2) eine Erweiterung von Jeschecks Vier-Stufen-Modell zu sehen, wäre zu bedenken, dass es Sieber offenbar weniger um praktische Prüfungsschritte ging – woraus sich vielleicht auch erklären könnte, warum von meiner zwischenzeitlichen Fortentwicklung zu einem fünfstufigen Vergleichungsprogramm (in: Funktionen [Fn. 11], S. 1521 ff.) keine Notiz genommen wurde; stattdessen sollten wohl lediglich sieben unterschiedliche, einander nicht widersprechende sondern ergänzende Ansätze strafrechtsvergleichender Methodik vorgestellt werden – wie gedeutet von Hilgendorf, in: Beck/Burchard/ Fateh-Moghadam (Fn. 12), S. 5 (21). Vgl. auch Eser (Fn. 1), Strafrechtsvergleichung, S. 956, 959, 1043, Comparative Criminal Law Rn. 34, 36, 227.
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Sollte dieses Arbeitsprogramm als Überforderung erscheinen, mag es beruhigend sein zu wissen, dass natürlich nicht für jede Art von Vergleichsprojekt alle Einzelschritte in gleicher Weise zu absolvieren sind, sondern auch in dieser Hinsicht das Vorgehen vom jeweiligen Vergleichsziel abhängt: Geht es um einen Makrovergleich, wird sich kaum einer der fünf Arbeitsschritte verkürzen lassen. Ist nur ein Mikrovergleich anzustellen, kann es für manche Einzelschritte eines weniger großen Aufwands bedürfen. Doch wie auch immer umfangreich ein strafrechtsvergleichendes Forschungsprojekt sein mag, ist man gut beraten, sich jeweils an diesem fünfstufigen Arbeitsprogramm – und sei es auch nur in kleinen Schritten – zu orientieren.
Die Europäische Ermittlungsanordnung (EEA) Ein Auslaufmodell vor dem Beginn seiner praktischen Erprobung? Von Robert Esser*
I. Grenzüberschreitender Beweistransfer als Herausforderung für das Europäische Strafrecht Ulrich Sieber gehört ohne Zweifel zu den Pionieren des heute unter dem Label „Europäisches Strafrecht“ bekannten und im strafrechtlichen Orbit weiter rasant kreisenden wissenschaftlichen Betätigungsfeldes. Der Jubilar hat dabei nicht nur die zaghaften Anfänge der Materie – etwa die Diskussion um die „Punitivität“ von Sanktionen und die Arbeiten an einem europäischen Strafsanktionensystem („Corpus Juris“) in den 1990er Jahren – kritisch begleitet,1 sondern mit dem EU-Sondergipfel von Tampere (1999) und dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon (2009) auch die wichtigsten Meilensteine des sich vermutlich immer noch in der Entwicklungsphase befindlichen „neuen“ Rechtsgebietes hautnah erlebt. Als der Jubilar vor nun schon etwas mehr als zehn Jahren mit visionärem Blick die „Zukunft“ und „Ziele“ eines „Europäischen Strafrechts“ einerseits sowie die unterschiedlichen Strukturmodelle und konkreten strafrechtlichen Kooperationsformen der Nationalstaaten Europas andererseits vorstellte,2 konnte er noch nicht ahnen, zu welch revolutionären Thesen der Beweistransfer in Europa ziemlich genau zehn Jahre nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon im Jahre 2019 Anlass geben würde. Heute steht in der Europäischen Union insbesondere der grenzüberschreitende Transfer elektronischer Beweismittel in Strafsachen („E-Evidence“) vor ebenso grundlegenden wie tiefgreifenden, aber auch rechtsstaatlich bedenklichen Veränderungen.3 * Der Autor ist Inhaber des Lehrstuhls für Deutsches, Europäisches und Internationales Strafrecht und Strafprozessrecht sowie Wirtschaftsstrafrecht an der Universität Passau. Er leitet dort die 2010 gegründete Forschungsstelle Human Rights in Criminal Proceedings (HRCP). 1 Sieber, in: Schünemann/Suárez Gonzáles (Hrsg.), Bausteine des Europäischen Wirtschaftsstrafrechts, Madrid-Symposium für Klaus Tiedemann, 1994, S. 349 ff.; ders., ZStW 103 (1991), 957 ff. 2 Sieber, ZStW 121 (2009), 1 (16 ff.). 3 Hierzu eingehend: Warken, NZWiSt 2017, 449 ff.; Burchard, ZIS 2018, 249 ff.; Esser, StraFo 2019, 404 ff.; Basar, jurisPR-StrafR 5/2019 Anm. 1.
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Der derzeitige EU-Rechtsrahmen zum Beweistransfer ist im Wesentlichen gekennzeichnet durch die Richtlinie 2014/41/EU über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen (EEA)4, ergänzt (soweit nicht ersetzt) durch das Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union aus dem Jahr 2000 (EURhÜbk)5. Hinzu kommen weitere Abkommen zur Rechtshilfe in Strafsachen zwischen der Union und Drittstaaten; das wohl bekannteste ist das Abkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika (USA).6 Diese überwiegend erst in jüngerer Zeit in Kraft getretenen Rechtsinstrumente werden allerdings im Zuge der aktuell auf Unionsebene diskutierten Vorschläge zu eben jenen E-Evidence-Instrumenten schon wieder einer „Effektivitäts“-Kontrolle unterzogen; ihre Praxistauglichkeit wird dabei sogar von der Europäischen Kommission offen in Frage gestellt, obwohl eine zahlenmäßig relevante praktische Erprobung der EEA, geschweige denn eine Evaluierung, gerade erst begonnen haben.7 Parallel dazu steht auch der Vertrag von Prüm vor einer signifikanten Überarbeitung und Erweiterung seines Anwendungsbereichs.8 Die Überlegungen stehen im Zusammenhang mit der EU-Strategie zur Inneren Sicherheit9 für die Jahre 2015 bis 2020. Konkret angedacht sind eine Standardisierung von Datenformaten (unter Einschluss der biometrischen Gesichtserkennung) sowie eine Vereinfachung des Abfrageverfahrens, des Informationsaustauschs und des Folgeschriftverkehrs.10 Der vor einigen Jahren auf Unionsebene proklamierte Grundsatz der (wechselseitigen) Verfügbarkeit von Informationen11 wird damit beim grenzüberschreitenden Beweistransfer in Zukunft eine immer wichtigere Rolle spielen. 4 Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 3. 4. 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen, ABl. EU Nr. L 130 v. 1. 5. 2014, S. 1 (im Folgenden: RL). 5 Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, ABl. EU Nr. C 197 v. 12. 7. 2000, S. 3. 6 Abkommen zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika über Rechtshilfe, ABl. EU Nr. L 181 v. 19. 7. 2003, S. 34; Beschluss 2009/820/GASP des Rates v. 23. 10. 2009, ABl. EU Nr. L 291 v. 7. 11. 2009, S. 40. 7 Siehe hierzu neben den jährlichen „Expert Meetings“ der Kommission zur Umsetzung der EEA die Erkenntnisse einer Evaluation bei: Eurojust (Hrsg.), Eurojust meeting on the European investigation order (The Hague, 19 – 20 September 2018) – Outcome Report; an der Konferenz nahmen Staatsanwälte der EU-Mitgliedstaaten sowie Vertreter von EU-Institutionen teil; hierzu: Guerra/Janssens, eucrim 2019, 46 ff. 8 Ratsdok. 11868/18; vgl. dazu die Antwort der BReg, BT-Drs. 19/8730, 19/9407, 1; Anregungen zu einer Weiterentwicklung („Prüm 2.0“) bereits bei Niemeier/Hösch, in: Kugelmann (Hrsg.), Migration, Datenübermittlung und Cybersicherheit, 2016, S. 98 ff. 9 Europäische Sicherheitsagenda, KOM (2015) 185 v. 28. 4. 2015. 10 Vgl. dazu Ratsdok. 13426/18; Antwort der BReg, BT-Drs. 19/14952. 11 Nach dem Grundsatz der Verfügbarkeit sollen in einem Mitgliedstaat vorrätige Daten weitgehend ungehindert auch den Strafverfolgungsbehörden anderer Mitgliedstaaten zur Verfügung stehen, vgl. dazu vertiefend Böse, Der Grundsatz der Verfügbarkeit von Informationen in der strafrechtlichen Zusammenarbeit der Europäischen Union, 2007, S. 46 ff.; Meyer, NStZ 2008, 188 ff.; Brodowski, ZIS 2012, 474 f.; Pörschke, Der Grundsatz der Ver-
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II. Grundkonzept der Europäischen Ermittlungsanordnung (EEA) und seine Umsetzung im IRG In der strafprozessualen Praxis kaum „gelebt“ wird bislang die Richtlinie 2014/ 41/EU zur Europäischen Ermittlungsanordnung (EEA).12 Gemäß Art. 1 Abs. 1 S. 1 RL handelt es sich bei der EEA um eine gerichtliche Entscheidung, die von einer Justizbehörde des Anordnungsstaates zur Durchführung einer oder mehrerer spezifischer Ermittlungsmaßnahmen im Vollstreckungsstaat zur Erlangung von Beweisen gemäß der RL erlassen oder validiert wird. Die EEA ist für jedes Beweismaterial geeignet, unabhängig vom zeitlichen Ermittlungsstadium – also auch für jene elektronischen Beweismittel, die nach dem Willen der Kommission einen speziellen Regelungsrahmen (EPO) erhalten sollen. Sie gilt in „sämtlichen Phasen des Strafverfahrens, einschließlich der Gerichtsphase“ (ErwG 25). Die RL-EEA hat zum 22. 5. 2017 den RB-EBA13 sowie wesentliche Teile des EURhÜbk und des zugehörigen Protokolls v. 16. 10. 2001, des EuRhÜbk v. 20. 4. 1959 nebst beider Zusatzprotokolle sowie des SDÜ ersetzt (Art. 34 RL) – soweit ihr sachlicher Anwendungsbereich betroffen ist. Für Regelungsbereiche, die von der RL nicht erfasst sind, haben die genannten Übereinkommen und Protokolle nach wie vor Relevanz, ebenso im Verkehr mit Drittstaaten.14 Dem Regelungsbereich der RL-EEA unterfallen im Wesentlichen alle Ermittlungsmaßnahmen (Art. 3 Hs. 1 RL), u. a. die Vernehmung von Beschuldigten, Zeugen oder Sachverständigen sowie die Beschlagnahme und Durchsuchung. Keine Anwendung findet die EEA auf die Bildung und die Erhebung von Beweismitteln innerhalb einer Gemeinsamen Ermittlungsgruppe (GEG/JIT); bezüglich Sicherstellungsanordnungen von Beweismitteln einerseits und Gegenständen zum Zweck der späteren Einziehung andererseits, verfährt die Praxis uneinheitlich (vgl. Art. 34 Abs. 2 RL).15 Bei einigen Arten von Ermittlungsmaßnahmen (ErwG 24 nennt beispielhaft die zeitweilige Überstellung inhaftierter Personen, die Vernehmung per Video- oder Telefonkonferenz, die Erlangung von Auskünften zu Bankkonten/-geschäften sowie die kontrollierte Lieferung oder verdeckte Ermittlung; vgl. § 91c Abs. 2 IRG), sind zusätzliche Vorschriften notwendig, die in der EEA anfügbarkeit von Informationen am Beispiel des Prümer Modells, 2014; Schmidt, Der Grundsatz der Verfügbarkeit, 2018. 12 Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 3. 4. 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen, ABl. EU Nr. L 130 v. 1. 5. 2014, S. 1 (im Folgenden: RL); eingehend hierzu: Ahlbrecht, StV 2018, 601. 13 Rahmenbeschluss 2008/978/JI des Rates vom 18. 12. 2008 über die Europäische Beweisanordnung zur Erlangung von Sachen, Schriftstücken und Daten zur Verwendung in Strafsachen, ABl. EU Nr. L 350 v. 30. 12. 2008, S. 72. 66; hierzu: Ditscher, Europäische Beweise, 2012; Esser, in: Heinrich et al. (Hrsg.), Roxin-FS, 2011, S. 1497 ff.; Mavany, Die europäische Beweisanordnung und das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, 2012. 14 Siehe dazu auch Oehmichen/Weißenberger, StraFo 2017, 316 f. 15 Hierzu: Eurojust (Fn. 7), S. 5.
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gegeben werden sollten.16 Für die Anordnung und Vollstreckung besonderer Ermittlungsmaßnahmen finden sich in den Art. 22 – 32 RL spezielle Voraussetzungen. Wirft man einen Blick auf die zur Umsetzung der RL erlassenen §§ 91a ff. IRG, so folgen diese dem klassischen durch die RL vorgegebenen Konzept der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen (vgl. Art. 82 Abs. 1 AEUV). Die Leistung der Rechtshilfe durch die Vollstreckung einer eingehenden EEA ist demnach nur zulässig, wenn der ersuchende Mitgliedstaat das in Anhang A/C der RL bereitgestellte Formblatt verwendet (§ 91d IRG), sie muss dann aber „ohne jede weitere Formalität“ (Art. 9 Abs. 1 RL) ergehen, mit einem – gegenüber dem RB-EuHb zwar erweiterten, aber gleichwohl weiterhin abschließenden17 Katalog von Versagungsgründen (vgl. Art. 11 RL). Besagtes Formular muss von einer nach § 91d Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2 IRG zuständigen Stelle ausgestellt worden sein. Dabei muss es sich um eine Justizbehörde handeln, soweit eine andere Ermittlungsbehörde tätig wird, ist die Einschaltung eines Richters oder eines Staatsanwaltes erforderlich (sog. Validierung). Die hiermit verbundenen statusrechtlichen Anforderungen an eben jene Justizbehörde sind in jüngerer Zeit zunehmend in den Mittelpunkt des Interesses gerückt (dazu unter III.). Die weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen für die Vollstreckung einer eingehenden EEA folgen aus § 91b IRG. Ein praktisch relevanter Versagungsgrund (§ 91b Abs. 1 Nr. 2. lit. a IRG) ist dabei das „Entgegenstehen“ von Zeugnis- oder Auskunftsverweigerungsrechten (u. a. §§ 52, 53, 55 StPO) oder Immunitätsregelungen (§§ 77 Abs. 2 IRG; 18 bis 20 GVG). Überraschend „tolerant“ mutet angesichts des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auch der Versagungsgrund („Die Rechtshilfe ist nicht zulässig …“) an, dass das nationale Recht (Gesetz) „besonders bezeichnete Straftaten oder Straftaten von einer bestimmten Erheblichkeit voraussetzt und die dem Ersuchen zugrunde liegende Tat diese Voraussetzung auch bei gegebenenfalls sinngemäßer Umstellung des Sachverhalts nicht erfüllt“ (§ 91b Abs. 1 Nr. 2. lit. b IRG); angesprochen sind damit Kataloge wie der des § 100a StPO, was in Anbetracht einer etwa im Bereich der TKÜ noch am Anfang stehenden Rechtsharmonisierung die rechtsstaatliche Notwendigkeit der Regelung deutlich machen dürfte. Die Eingriffsvoraussetzungen der StPO für grundrechtssensible Ermittlungsmaßnahmen im Zuge grenzüberschreitender Beweiserhebungen sollen demzufolge entsprechend gelten: § 91c IRG sieht ergänzende Zulässigkeitsvoraussetzungen für „besondere Formen der Rechtshilfe“ vor, u. a. für die audiovisuelle Vernehmung von
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Vgl. hierzu auch den Ausschluss der §§ 91a bis 91j IRG für die Bildung von gemeinsamen Ermittlungsgruppen sowie die Erhebung von Beweismitteln innerhalb einer solchen, die grenzüberschreitende Observation und für die Vernehmung von Beschuldigten im Wege einer Telefonkonferenz (§ 91a Abs. 2 IRG). 17 Hinzu kommen allerdings weitere spezielle Versagungsgründe bei „Bestimmten Ermittlungsmaßnahmen“ (Art. 22 ff. RL).
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Zeugen und Sachverständigen (Abs. 1; nur mit Zustimmung) sowie die in ErwG 24 genannten speziellen Maßnahmen (s. o.). Zur effektiven und praxistauglichen Handhabung der EEA verlangt § 91g IRG in Umsetzung von Art. 12 RL die Vollstreckung eines Ersuchens aus dem Ausland durch den Vollstreckungsstaat innerhalb einer bestimmten Frist. Dieses „Fristenerfordernis“ stellt die gegenüber der klassischen Rechtshilfe vermutlich nachhaltigste Verbesserung dar.18 Die erbetene Ermittlungsmaßnahme soll binnen 30 Tagen bewilligt und spätestens 90 Tage nach der Bewilligung durchgeführt werden (Abs. 2). Besondere Wünsche in Bezug auf kürzere Fristen oder die Vornahme der Ermittlungsmaßnahme zu einem bestimmten Zeitpunkt sollen grundsätzlich Beachtung finden (Abs. 3). Liegen die Voraussetzungen für die Leistung von Rechtshilfe vor, so orientiert sich das weitere Verfahren an § 91h Abs. 1 IRG. Das den aufgezeigten Formvorgaben entsprechende Ersuchen aus dem Ausland ist nach denselben Vorschriften auszuführen, die gelten würden, wenn das Ersuchen von einer deutschen Stelle gestellt worden wäre. Hierbei sind dem Modell des Art. 4 Abs. 1 EURhÜbk folgend – zur Gewährleistung einer späteren gerichtlichen Beweisverwertung im Anordnungsstaat (forum) – besondere Form- und Verfahrensvorschriften einzuhalten, die in dem förmlichen Ersuchen (Formblatt) explizit angegeben wurden, soweit die RL nichts Abweichendes bestimmt und wesentliche Grundsätze der deutschen Rechtsordnung (nur solche sind beachtlich) nicht entgegenstehen (§ 91h Abs. 2 Nr. 1 IRG; Art. 9 Abs. 2 RL). Die bislang vorgestellten Regelungen betreffen die Behandlung eingehender Ersuchen. Ausgehende Ersuchen finden lediglich in § 91j Abs. 1 IRG Erwähnung. Hier ist ebenfalls die Verwendung des Formblatts in Anhang A/C der RL vorgesehen; das diesbezüglich einzuhaltende Verfahren ist bedauerlicherweise nur bruchstückhaft ausgestaltet. Zuständige Anordnungsbehörde ist im Regelfall die Staatsanwaltschaft, es kommt aber auch eine Anregung durch die Polizei in Betracht; in diesem Fall bedarf es einer „Bestätigung“ durch die Staatsanwaltschaft. Im Übrigen gelten für ausgehende Ersuchen gemäß § 77 IRG die Vorschriften der StPO. Art. 1 Abs. 3 RL sieht vor, dass der Erlass einer EEA auch von einem Verdächtigen oder Beschuldigten oder dessen Rechtsbeistand „im Rahmen der geltenden Verteidigungsrechte im Einklang mit dem nationalen Strafverfahrensrecht beantragt werden“ kann. Damit ist allerdings, wie der Wortlaut es bei sorgfältiger Lektüre schon vermuten lässt, lediglich ein Antragsrecht des Beschuldigten verbrieft, was nicht mit der Möglichkeit, den Erlass einer solchen EEA zu erzwingen, verwechselt werden darf. In Anbetracht der Tatsache, dass das Antragsrecht des Beschuldigten (Art. 1 Abs. 3 RL) keine originäre Beachtung im Rahmen der gesetzlichen Umsetzung gefunden hat, ist stets an eine richtlinienkonforme Auslegung der §§ 166, 219, 244 StPO zu denken. Dies führt zwar nicht dazu, dass einem Antrag des Be18
Ähnlich: Mosna, ZStW 131 (2019), 808 (812).
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schuldigten respektive seines Verteidigers auf Anordnung einer EEA automatisch nachzukommen ist. Allerdings ist es vor dem Hintergrund der Vorgaben der RL durchaus denkbar, dass der Beschuldigte eine EEA „anregt“. Da die RL eine solche Anregungsmöglichkeit explizit vorsieht, ist eine solche Initiative auch bei der unionsrechtlichen Auslegung etwaiger Ablehnungsgründe (§ 244 Abs. 3 – 5 StPO) zu berücksichtigen.19 Zwar nehmen die Erwägungsgründe einer Richtlinie nicht unmittelbar an der Pflicht zu ihrer Umsetzung teil, allerdings berücksichtigt der EuGH sie in ständiger Rechtsprechung regelmäßig bei der Auslegung der Kernvorschriften des jeweiligen Rechtsinstrumentes.20 Insofern ist sowohl dem nationalen Gesetzgeber bei der Umsetzung als auch später dem jeweiligen Rechtsanwender nachdrücklich zu empfehlen, einen Blick in die dem Richtlinientext vorangestellten Erwägungsgründe zu werfen. So ordnet beispielsweise ErwG 11 an, dass von einer EEA immer nur unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit Gebrauch gemacht werden sollte. Folgerichtig kann (und letztlich muss) auch die Vollstreckungsbehörde daher gemäß Art. 10 Abs. 3 RL auf eine andere als die in der EEA angegebene Ermittlungsmaßnahme zurückgreifen, wenn eine der Vollstreckungsbehörde zur Verfügung stehende Ermittlungsmaßnahme mit weniger einschneidenden Folgen das gleiche Ergebnis wie die in der EEA konkret angegebene Ermittlungsmaßnahme erreichen würde.21 Die pointierte und keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebende Zusammenschau zentraler Punkte aus dem Regelungskonzept der EEA und seiner Umsetzung im IRG machen deutlich, dass der Unionsgesetzgeber – jedenfalls am Ende der Beratungen durch EP, Rat und Kommission – den nationalen Strafverfolgungsbehörden ein praxistaugliches Instrument der gegenseitigen Anerkennung an die Hand geben wollte, das an zahlreichen Stellen aber durchaus Einflugschneisen für rechtsstaatliche und einzelfallbezogene Erwägungen und Kontrollmöglichkeiten eröffnet. Die Konzentration weiterer Überlegungen zur EEA soll im Folgenden auf vier besonders neuralgischen Regelungskomponenten liegen, die von der Praxis kritisch gesehen werden – den statusrechtlichen Anforderungen an die anordnende Justizbehörde (III.), dem gerichtlichen Rechtsschutz (IV.) sowie der sensiblen Phase der Beweisübermittlung (V.) und Beweisverwertung (VI.) – alles möglicherweise Gründe für die bislang eher spärlichen Zahlen bei der EEA.
19 Vgl. hierzu: Schuster, StV 2015, 393 (394); zur Rechtslage in Österreich: Huber, JSt 2019, 347 (348). 20 So z. B. in EuGH, Urt. v. 7. 8. 2018, C-485/17, EuZW 2018, 742 (743 f.); EuGH, Urt. v. 25. 7. 2018, C-528/16, NJW 2018, 2943 (2944 f.); EuGH, Urt. v. 15. 10. 2015, C-216/14, NJW 2016, 303 (304). 21 Vgl. dazu Oehmichen/Weißenberger, StraFo 2017, 316 (319) [„Schon hieraus folgt, dass sowohl die Anordnungs- als auch die Vollstreckungsbehörde die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme (zumindest summarisch) zu prüfen haben“.]
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III. Anforderungen an die Anordnungsbehörde – „Was“ ist eine Justizbehörde? oder „Wie viel“ Unabhängigkeit braucht eine Staatsanwaltschaft? Eine derzeit äußerst lebhaft, mitunter justiz-welt-anschaulich diskutierte Frage ist, welche Anforderungen an die Anordnungsbehörde einer EEA zu stellen sind. Art. 1 Abs. 1 S. 1 RL verlangt, dass die EEA von einer Justizbehörde des Anordnungsstaates stammt. Der Streit darüber, welche konkreten statusrechtlichen Anforderungen an eine solche zu stellen sind, hat sich jüngst anhand paralleler Überlegungen zum RB-EuHb entzündet. Mehrere vom EuGH im Jahr 2019 entschiedene Verfahren betrafen im Kern die Frage, ob es sich bei der jeweiligen nationalen Staatsanwaltschaft um eine unabhängige Justizbehörde iSd RB-EuHb handelt.22 Generalanwalt Campos Sánchez-Bordona hatte in seinen Schlussanträgen in der Rs. C-508/18, C-82/19 PPU die Unabhängigkeit der deutschen Staatsanwaltschaft im Wesentlichen aufgrund des politischen Weisungsrechts durch den zuständigen Justizminister verneint,23 dabei allerdings zugleich durchblicken lassen, dass die von ihm für den EuHb favorisierten strengen Vorgaben für die Justizbehörde seiner Ansicht nach nicht eins zu eins auf den Beweistransfer zu übertragen seien. Dabei hatte er an seine Ausführungen in der 2016 entschiedenen Rs. Özcelik24 angeknüpft: „Gewiss darf die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft in dem einen Bereich (hier dem der Freiheit der Person, die durch eine Festnahme beeinträchtigt wird) nicht ohne Weiteres mit derjenigen in einem anderen Bereich (dem der Erlangung von Beweisen) gleichgesetzt werden. Damit will ich sagen, dass ihre Anerkennung als Justizbehörde in der Richtlinie 2014/41/EU für Europäische Ermittlungsanordnungen nicht zwingend zu dem Schluss führt, dass dies auch auf den Rahmenbeschluss, d. h. auf EHB, zu erstrecken ist.“25 In den verbundenen Rechtssachen C-508/18 und C-82/19 PPU (OG und PI) hatte der Generalanwalt dieses Diktum26 wiederholt und hinzugefügt, dass „der justizielle Charakter der Staatsanwaltschaft […] im Bereich der Erlangung von Beweisen (oder in anderen Bereichen der Zusammenarbeit im Bereich des Strafrechts) unbestreitbar 22 EuGH, Urt. v. 27. 5. 2019, C 509/18 (Litauen); Urt. v. 9. 10. 2019, C-489/19 PPU (Österreich); Urt. v. 12. 12. 2019, C 566/19 PPU und C 626/19 PPU (Frankreich); Urt. v. 12. 12. 2019, C 625/19 PPU (Schweden); Urt. v. 12. 12. 2019, C 627/19 PPU (Belgien). 23 Zum späteren Urteil des EuGH (GK), Urt. v. 27. 5. 2019, C-508/18, C-82/19 PPU, NJW 2019, 2145; hierzu Böhm, NZWiSt 2019, 325 ff.; Kluth, NVwZ 2019, 1175 ff.; Oehmichen/ Schmid, StraFo 2019, 397 ff.; Trüg/Ulrich, NJW 2019, 2811 ff. 24 EuGH, Urt. v. 10. 11. 2016, C-453/16 (Özcelik) – Bestätigung des von einer Polizeibehörde zur Strafverfolgung erlassenen nationalen Haftbefehls durch die Staatsanwaltschaft als „justizielle Entscheidung“ i.S.v. Art. 8 Abs. 1 lit. c RB-EuHb; ferner: Urt. v. 10. 11. 2016, C-452/16 PPU (Poltorak) – Polizeibehörde keine „ausstellende Justizbehörde“, ausgestellter EuHb keine „justizielle Entscheidung“; Urt. v. 10. 11. 2016, C-477/16 (Kovalkovas). Exekutivorgane (z. B. Justizministerium) keine „ausstellende Justizbehörde“. 25 GA, Schlussanträge v. 16. 10. 2016, Rn. 51. 26 GA, Schlussanträge v. 30. 4. 2019, Rn. 39.
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ist“; im Zusammenhang mit der Ausstellung eines EuHB sei dies hingegen zu verneinen.27 Diese zwischen EuHb und EEA differenzierende Betrachtung in Bezug auf die an die „Justizbehörde“ zu stellenden Anforderungen, hat allerdings der EuGH in seinem späteren Urteil – erwartungsgemäß, da nicht entscheidungserheblich – nicht näher thematisiert. Angesichts der prozessualen Unterschiede und Besonderheiten, die im weiten Feld der Beweiserhebung in den Mitgliedstaaten der Union weiterhin bestehen, und des dadurch auch in diesem Bereich durchaus bestehenden Bedarfs der Kontrolle ausgehender Ersuchen durch eine mit dem nationalen Recht vertraute und die Gewähr von Unabhängigkeit bietende Kontrollinstanz überrascht die allein auf den EuHb konzentrierte Forderung nach einer Unabhängigkeit der ausstellenden Stelle schon ein wenig; allein die mit dem EuHb verbundene „Tiefe“ des Grundrechtseingriffs (Freiheitsentziehung) und die nach Ansicht des Generalanwalts deshalb gebotene (zweite) Verhältnismäßigkeitsprüfung28, dürfte allenfalls ein vordergründiges, nicht jedoch entscheidendes Kriterium für die an eine Justizbehörde iSd RL-EEA zu stellenden Anforderungen sein, da es auch beim Beweistransfer zahlreiche ähnlich grundrechtssensible Maßnahmen gibt (vgl. für die TKÜ u. a. Art. 30 Abs. 5 RL).29 In zwei derzeit zur EEA anhängigen Verfahren dürfte der EuGH jedoch vermutlich in die vom Generalanwalt vorgeschlagene Richtung tendieren – letztlich auch aus Gründen der Praktikabilität, da die Zahlen im Beweistransfer mittelfristig jene vom EuHb übersteigen werden und die Zahl unabhängiger Anordnungsstellen hier noch schwerer zu gewährleisten sein dürfte: Ein seit dem 2. 8. 2019 beim EuGH anhängiges Verfahren (C-584/19) betrifft dabei exakt die Frage, ob die Begriffe „Justizbehörde“ i.S.v. Art. 1 Abs. 1 der RL und „Staatsanwalt“ i.S.v. Art. 2 lit. c (i) RL dahin auszulegen sind, dass darunter auch die Staatsanwaltschaften eines Mitgliedstaats fallen, die der Gefahr ausgesetzt sind, im Rahmen des Erlasses einer Entscheidung über die Ausstellung einer EEA unmittelbar oder mittelbar Anordnungen oder Einzelweisungen seitens der Exekutive (etwa des Justizsenators in Hamburg), unterworfen zu werden.30 Das dem EuGH am 1. 10. 2019 vorgelegte Verfahren (C-724/19) thematisiert, ob es mit Art. 2 lit. c (i) RL sowie mit dem Äquivalenzprinzip vereinbar ist, wenn eine nationale Rechtsvorschrift vorsieht, dass der Staatsanwalt im Ermittlungsverfahren die für den Erlass einer EEA bzgl. der Übermittlung von Verkehrs- und Standortdaten im Zusammenhang mit dem Telekommunikationsverkehr zuständige Behörde ist,
27
GA, Schlussanträge v. 30. 4. 2019, Rn. 43. EuGH, Urt. v. 27. 5. 2019, C-508/18, C-82/19 PPU, Rn. 71 f.; Urt. v. 1. 6. 2016, BobDogi, C-241/15, Rn. 56 („zweistufiger Schutz der Verfahrens- und Grundrechte“). 29 Vgl. hierzu auch: Mosna, ZStW 131 (2019), 808 (815). 30 ABl. EU Nr. C 383 v. 11. 11. 2019, S. 40 f. 28
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während in gleich gelagerten innerstaatlichen Fällen der Richter die hierfür zuständige Behörde ist.31
IV. Effektiver Rechtsschutz gegen die EEA? 1. Trennungsmodell als ein von Anfang an zentraler Kritikpunkt Der RL liegt beim Thema (gerichtlicher) Rechtsschutz ein sog. „Trennungsmodell“ zugrunde (aufgeteilt zwischen Anordnungs- und Vollstreckungsstaat), das letztlich auch dem unionsrechtlichen Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung geschuldet ist und daher unter Beachtung des europarechtlichen Effektivitätsgrundsatzes von den Mitgliedstaaten nicht relativiert oder gar ausgehebelt werden darf:32 Anders als bei den Form- und Inhaltsvorgaben für die Vollstreckung der EEA (vgl. Art. 9 Abs. 2 RL, Art. 10 Abs. 1 RL) und im Rahmen möglicher Ablehnungsgründe (vgl. Art. 11 Abs. 1 lit. b RL: „wesentliche nationale Sicherheitsinteressen“; Art. 24 Abs. 2 lit. b RL) sieht die RL hier gerade keinen nationalen „Staats-“ oder ordre public- bzw. „Wesentlichkeits“-Vorbehalt vor. Art. 14 Abs. 1 RL (ergänzt durch ErwG 22) trägt zunächst der Erwartung Rechnung, dass die Mitgliedsstaaten gewährleiten müssen, dass gegen die in der EEA genannten Ermittlungsmaßnahmen Rechtsbehelfe eingelegt werden können, die denjenigen gleichwertig („äquivalent“) sind, die in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall gegen die betreffende Ermittlungsmaßnahme zur Verfügung stehen (Abs. 1). Kritische Stimmen in der Literatur sprechen jedoch insoweit zu Recht von einem „Flickenteppich“33. Die eigentliche „Aufspaltung“ des Rechtsschutzes vollzieht sich dann wie folgt: Während ein Betroffener Rechtsschutz gegen den Erlass einer EEA (sachliche Gründe) ausschließlich im Anordnungsstaat suchen können soll (Art. 14 Abs. 2 RL), besteht für ihn im Vollstreckungsstaat (lediglich) die Möglichkeit, die Anerkennung und Vollstreckung einer EEA zu verhindern (Art. 14 Abs. 7 RL).34 Bei einer Analyse des Systems der auf nationaler Ebene gegen eine EEA statthaften Rechtsbehelfe – bei eingehenden und ausgehenden Ersuchen35 – stellt sich heraus, dass gerade der Erlass einer EEA nur unzureichend mit einer zugänglichen und spezifischen Rechtskontrolle versehen ist. 31
ABl. EU Nr. C 413 v. 9. 12. 2019, S. 30. Zu weiteren Erklärungsmustern: Böse, ZIS 2014, 152 (159: Staatenimmunität, Sachnähe/Kompetenz des Gerichts). 33 Vgl. Böhm, NJW 2017, 1512 (1514); BT-Drs. 18/9757, S. 30. 34 Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas/Böse, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen (36. Lfg. 2014), RL EEA, Rn. 27; Leonhardt, Die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen, 2017, S. 97; vgl. auch Böse, ZIS 2014, 152 (157, 159). 35 Hierzu: Oehmichen/Weißenberger, StraFo 2017, 316 (323). 32
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2. Rechtsschutz gegen die Anordnung einer EEA (nur) im Anordnungsstaat – eine rechtsstaatliche Krux? Ein ausgehendes Ersuchen, d. h. der Erlass einer EEA, darf zwar nach dem Konzept der RL nur dann ergehen, wenn es neben dem Gebot der Verhältnismäßigkeit auch innerstaatlich zulässig wäre (Art. 6 Abs. 1 lit. a und lit. b RL: „in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall unter denselben Bedingungen“; § 91j Abs. 3 Nr. 2 IRG). Eine für die Praxis höchst relevante und demzufolge auch kontrovers diskutierte Frage bleibt jedoch die Konzeption des Rechtsschutzes, weil sich der von einer EEA im Vollstreckungsstaat Betroffene (insbesondere als Dritter, gegen den sich das Strafverfahren nicht richtet) nicht darauf verlassen kann, geschweige denn einen Anspruch darauf hat, dass die Behörden des Vollstreckungsstaates bei etwaigen Zweifeln an Tatverdacht und/oder Verhältnismäßigkeit den Anordnungsstaat „konsultieren“ (Art. 6 Abs. 3 RL; § 91b Abs. 5 IRG) bzw. einen der abschließenden, nach dem Wortlaut von Art. 11 RL zudem nur fakultativ ausgestalteten, Gründe36 für die Ablehnung der Vollstreckung bemühen. Zentrale Kritik entzündet sich an der Regelung des Art. 14 Abs. 2 Hs. 1 RL, die letztlich dem Grundkonzept der gegenseitigen Anerkennung geschuldet ist. Hiernach können die sachlichen Gründe für den Erlass der EEA nur durch eine Klage im Anordnungsstaat angefochten werden. Ebenso kryptisch wie salvatorisch formuliert Art. 14 Abs. 2 Hs. 2 RL ergänzend, dass dies die Garantien der Grundrechte im Vollstreckungsstaat „unberührt“ lasse, ohne allerdings explizit auszuführen, welche Art eines (zusätzlichen) Rechtsschutzes hiermit konkret gemeint sein könnte bzw. welche Anforderungen an einen solchen Rechtsschutz konkret zu stellen sind bzw. europarechtlich überhaupt gestellt werden dürfen, ohne den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zu torpedieren.37 Für den von der Vollstreckung einer EEA im Vollstreckungsstaat Betroffenen erweist sich dieses Regelungskonzept und die mit ihm einhergehende Aufspaltung des Rechtsschutzes als rechtsstaatlich bedenklich, da ihm aufgrund fehlender Sprachkenntnisse und/oder örtlicher Entfernung trotz aller Vorzüge der Digitalisierung die effektive Wahrnehmung seiner Rechte im Anordnungsstaat schon in tatsächlicher Hinsicht häufig erheblich erschwert sein dürfte.38 ErwG 22 „verlangt“ immerhin, dass die Mitgliedstaaten (gemäß ihrem nationalen Recht) die Anwendbarkeit dieser Rechtsbehelfe sicherstellen, indem sie alle Betroffenen rechtzeitig über die Möglichkeiten und Modalitäten zur Einlegung des betreffenden Rechtsbehelfs belehren. Wie das in der Praxis geschehen soll, bleibt gerade 36
Kritisch auch: Böse, ZIS 2014, 152 (154). Dagegen immerhin: § 91e IRG: kann „nur“. Vgl. bezüglich einer Tatverdachts- bzw. Verhältnismäßigkeitsprüfung: Schuster, StV 2015, 393 (396: „Plausibilität“); Böse, ZIS 2014, 152 (159). 38 Siehe Ronsfeld, Rechtshilfe, Anerkennung und Vertrauen – Die Europäische Ermittlungsanordnung, 2015, S. 190; Zimmermann, ZStW 127 (2015), 143 (170); Böse, ZIS 2014, 152 (160). 37
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auch in Anbetracht von Art. 14 Abs. 3 RL allerdings offen, der die Mitteilung über etwaige bestehende Rechtsbehelfe davon abhängig macht, dass die „Vertraulichkeit einer Ermittlung“ nicht „untergraben“ wird (bei verdeckten Maßnahmen sicherlich eher der Regelfall als die Ausnahme), immerhin aber auch anmahnt, dass die Information so rechtzeitig zu erfolgen habe, dass die Rechtsbehelfe effektiv wahrgenommen werden können. Letzteres bildet eine unmittelbar auch Art. 47 GrCh und Art. 13 EMRK abzuleitende Forderung ab, der auch Art. 14 Abs. 4 RL Rechnung tragen will, wonach bei der Handhabung der Fristen für die Einlegung eines Rechtsbehelfs ebenfalls gewährleistet sein muss, dass die von einer EEA betroffenen Personen diese Rechtsbehelfe wirksam ausüben können. Legt ein Betroffener gegen die Anordnung/Vollstreckung einer EEA oder aber („systemwidrig“) gegen die Sachgründe einer EEA einen Rechtsbehelf vor den Gerichten des Vollstreckungsstaats ein, ist es rechtsstaatlich geboten, dass Informationen über die jeweiligen Einwände an die Anordnungsbehörde übermittelt werden (Art. 14 Abs. 5 RL: „einander“; § 91i Abs. 3 IRG). Zwar hat das von Deutschland angestrebte „Brückenkopf-Modell“ keinen Eingang in das „offizielle“ rechtliche Rahmenwerk der RL gefunden.39 Zumindest thematisiert ErwG 22 S. 3 die Problematik der „Sprachbarriere“ indirekt und hält es immerhin für „angebracht“, dass im Vollstreckungsstaat geltend gemachte Einwände gegen die EEA in Bezug auf die Sachgründe an die Anordnungsbehörde übermittelt werden und der Beteiligte entsprechend unterrichtet wird.40 3. Enttäuschte Erwartungen: EuGH, Rs. Gavanozov (C-324/17) Das erste Urteil zur RL-EEA im Allgemeinen und zum Rechtsschutz im Besonderen traf der EuGH am 24. 10. 2019 in der Rs. Gavanozov (C-324/17) – aus Anlass eines Vorabentscheidungsersuchens des Spetsializiran nakazeatelen sad (Sonderstrafgericht in Bulgarien), das in einem bulgarischen Ermittlungsverfahren eine EEA zur Durchsuchung der Räumlichkeiten eines Zeugen in Tschechien, zur Beschlagnahme von Gegenständen und zur Vernehmung dieses Zeugen erlassen wollte. Mangels einschlägiger gesetzlich geregelter Rechtsbehelfe gegen derartige Anordnungen im bulgarischen Recht konnte das bulgarische Gericht den die Rechtsbehelfe betreffenden Abschnitt J „Rechtsbehelfe“ des Formblatts (Anhang A)41 der RL nicht ausfüllen; es war jedoch der Ansicht, dass Art. 14 RL von den Mitgliedstaaten verlange, als (potentieller) Anordnungsstaat einer EEA solche Rechtsbehelfe im natio39 Dazu umfassend: BT-Drs, 18/9757 v. 26. 9. 2016, S. 31. Danach hätte die Vollstreckungsbehörde als sprachlich leicht zugänglicher „Briefkasten“ auch für sachliche Einwände gegen den Erlass der EEA fungiert und diese an die ihr bekannte Anordnungsbehörde weitergeleitet. 40 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Lösungsvorschläge von Böse, ZIS 2014, 152 (160). 41 Dort heißt es bei Nr. 1: „Geben Sie bitte an, ob bereits Rechtsbehelfe gegen den Erlass der EEA eingelegt wurden […].“
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nalen Recht vorzusehen. Das bulgarische Gericht hatte dem EuGH demzufolge vier Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: 1. Sind das nationale Recht und die nationale Rechtsprechung mit Art. 14 (Anm: Rechtsbehelfe) der RL 2014/41/EU vereinbar, wenn danach die sachlichen Gründe für den Erlass einer EEA, die die Durchführung einer Durchsuchung in einer Wohnung und in Geschäftsräumen sowie die Beschlagnahme bestimmter Gegenstände bzw. die Zulassung der Vernehmung eines Zeugen zum Gegenstand hat, weder unmittelbar mit einem Rechtsbehelf gegen die gerichtliche Entscheidung noch im Wege einer gesonderten Klage auf Schadensersatz angefochten werden können? 2. Verleiht Art. 14 Abs. 2 RL der betroffenen Partei unmittelbar das Recht, die gerichtliche Entscheidung über die EEA-RL anzufechten, obwohl das nationale Recht keine solche prozessuale Möglichkeit vorsieht? 3. Ist die Person, gegen die die Anklage erhoben wurde, unter Berücksichtigung von Art. 14 Abs. 2 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 lit. a und Art. 1 Abs. 4 RL eine betroffene Partei i.S.v. Art. 14 Abs. 4 RL, wenn sich die Beweiserhebungsmaßnahme gegen einen Dritten richtet? 4. Ist die Person, die die Räumlichkeiten bewohnt oder nutzt, in denen die Durchsuchung und die Beschlagnahme durchzuführen sind, bzw. die Person, die als Zeuge zu vernehmen ist, eine betroffene Partei i.S.v. Art. 14 Abs. 442 i.V.m. mit Abs. 2 RL? In seinen Schlussanträgen vom 11. 4. 2019 hatte Generalanwalt Bot angenommen, dass nationales Recht im Anordnungsstaat, das keine Rechtsbehelfe gegen die sachlichen Gründe vorsieht, aus denen eine EEA erlassen wird, mit Art. 14 RL unvereinbar ist.43 Nach Ansicht des Generalanwalts setzt Art. 14 Abs. 1 RL (Gleichwertigkeit nationaler Rechtsbehelfe gegen die EEA) die Existenz entsprechender Rechtsbehelfe voraus.44 Ein Argument war, dass die Möglichkeit in Art. 13 Abs. 2 RL, eine Beweisaufnahme bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf auszusetzen, nur vor diesem Hintergrund Sinn mache.45 Der Generalanwalt war daher zu dem Schluss gekommen, dass der invasive Charakter einer EEA sowie die Vorgaben des Art. 14 Abs. 1 RL dazu führen, dass nationale Behörden sowie die Gesetzgebung ohne die Regelung von Rechtsbehelfen keine EEA zulassen dürfen.46 Folgt man diesem Petitum, 42
Art. 14 Abs. 4 RL sieht vor: „Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass die Fristen für die Einlegung eines Rechtsbehelfs mit denen identisch sind, die in vergleichbaren innerstaatlichen Fällen zur Verfügung stehen, und so angewendet werden, dass gewährleistet ist, dass die betroffenen Parteien diese Rechtsbehelfe wirksam ausüben können.“ 43 GA, Schlussanträge v. 11. 4. 2019, §§ 55 ff., 65 ff., abrufbar unter www.curia.eu. 44 GA (Fn. 43), § 54. 45 GA (Fn. 43), § 53; vgl. zu diesem Argument auch Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas/Böse (Fn. 34), RL EEA, Rn. 25. 46 Siehe GA (Fn. 43), §§ 68 f., 90 sowie § 54 („Damit ist meines Erachtens eindeutig, dass er [der Unionsgesetzgeber] vorausgesetzt hat, dass in innerstaatlichen Fällen Rechtsbehelfe
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dann schriebe die Richtlinie für die einzelnen Mitgliedsstaaten damit zumindest indirekt vor, dem Betroffenen entsprechende Rechtsbehelfe gegen die Anordnung einer EEA und damit auch gegen sonstige innerstaatliche Ermittlungsmaßnahmen zur Verfügung zu stellen. Die Ableitung eines Rechtsbehelfs unmittelbar aus Art. 14 RL hatte der GA allerdings – zu Recht – abgelehnt.47 Zur Frage, ob der Beschuldigte als betroffene Partei i.S.v. Art. 14 Abs. 4 RL anzusehen ist, wenn sich die mit der EEA intendierte Beweiserhebungsmaßnahme gegen einen Dritten richtet, hatte der GA eine autonome und damit „weite“ Auslegung des Begriffs „concerned parties“ favorisiert; erfasst sein sollten seiner Vorstellung nach sowohl unmittelbar durch die Maßnahme betroffene Dritte (unabhängig vom strafprozessualen Status, z. B. Eigentümer/Mieter bei der Durchsuchung einer Räumlichkeit) als auch der u. U. nur mittelbar durch die Maßnahme gegen einen Dritten betroffene Beschuldigte.48 Mit Spannung wurde demzufolge in Fachkreisen das Urteil des EuGH in der Rs. Gavanozov erwartet – umso größer war dann die Enttäuschung über das Judikat vom 24. 10. 2019: Bedauerlicherweise lässt der EuGH alle vom Vorlagegericht aufgeworfenen rechtlich brisanten Fragen zur Auslegung von Art. 14 RL ausdrücklich offen: Im konkreten Fall bedürfe es keiner Auslegung des Art. 14 RL, um festzustellen, „ob diese Bestimmung einer nationalen Regelung entgegensteht, die keinen Rechtsbehelf vorsieht, mit dem die sachlichen Gründe, die zum Erlass einer Europäischen Ermittlungsanordnung geführt haben, die die Durchführung einer Durchsuchung sowie die Beschlagnahme bestimmter Gegenstände und die Vernehmung eines Zeugen zum Gegenstand hat, beanstandet werden können“, weil die Rechtsbehelfe, die ggf. im Anordnungsstaat gegen den Erlass einer EEA gegeben sind, schon gar nicht im EEA-Formblatt beschrieben werden müssten.49 Zu diesem Ergebnis gelangt der EuGH im Wege einer – alles andere als unbedenklichen – Umformulierung der Vorlagefrage. Ohne die Gründe hierfür näher zu erläutern, nimmt der EuGH recht selbstbewusst an, dass das vorlegende Gericht eigentlich wissen wolle, „wie es Abschnitt J des Formblatts in Anhang A der Richtlinie 2014/41 auszufüllen hat“50. Im Wesentlichen wolle das Gericht in Erfahrung bringen, „ob Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 in Verbindung mit Abschnitt J des Formblatts in Anhang A dieser Richtlinie dahin auszulegen ist, dass die Justizbehörde eines Mitgliedstaats beim Erlass einer Europäischen Ermittlungsanordnung in diesem Abschnitt die Rechtsbehelfe beschreiben muss, die gegebenenfalls in ihrem Mitglied-
gegen Ermittlungsmaßnahmen gegeben sind, und den Mitgliedstaaten aufgegeben hat, im Bereich der Europäischen Ermittlungsanordnungen gleichwertige Rechtsbehelfe vorzusehen.“). 47 Siehe GA (Fn. 43), §§ 98, 100. 48 Siehe GA (Fn. 43), §§ 106-107. 49 EuGH, Urt. v. 24. 10. 2019 – C-324/17, Rn. 25, 37. 50 EuGH (Fn. 49), Rn. 24.
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staat gegen den Erlass einer solchen Anordnung vorgesehen sind“51. Die Umdeutung der Vorlagefragen dürfte allerdings in der Sache nicht den Kern des eigentlichen Vorlagebegehrens treffen, geschweige denn dem bulgarischen Gericht bei der anschließenden Anwendung der Grundsätze – dem Erlass der EBA – wirklich weitergeholfen haben. Auf die – uminterpretierten – Vorlagefragen antwortet der EuGH insbesondere unter Verweis auf den Wortlaut des Art. 5 Abs. 1 RL, dass die Rechtsbehelfe in Abschnitt J des Formblatts nicht angegeben werden müssen.52 Dieses Ergebnis werde auch durch Art. 14 Abs. 5 RL untermauert, wonach Anordnungsbehörde und Vollstreckungsbehörde einander über die Rechtsbehelfe, die gegen den Erlass bzw. die Anerkennung oder Vollstreckung einer Europäischen Ermittlungsanordnung eingelegt werden, unterrichten.53 Zudem verweist der EuGH auf das Ziel der RL, das darin bestehe, „auf der Grundlage der Grundsätze des Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung die justizielle Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten zu erleichtern und zu beschleunigen“54. Soll eine nationale Justizbehörde also allen Ernstes eine EEA erlassen, wohlwissend, dass im nationalen Recht keine von Art. 14 RL geforderten Rechtsbehelfe gegen den Erlass der EEA bestehen – nur weil es diese Rechtsbehelfe nicht im Formblatt angeben muss, selbst wenn es sie gäbe? Die Erwartung, dass das Urteil in der Rs. Gavanozov Aufschluss darüber liefern würde, ob es sich bei dem durch die RL vorgegebenen Konzept des Rechtsschutzes um ein mit den relevanten Vorschriften der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EUC), namentlich Art. 47 GrCH zu vereinbarendes System handelt, hat der EuGH damit nicht erfüllt, um nicht zu sagen enttäuscht. 4. Rechtsschutz gegen die Vollstreckung einer EEA im Vollstreckungsstaat (aus der Perspektive des IRG) Einen eigenständigen Rechtsbehelf gegen die Anerkennung oder Vollstreckung einer EEA aus dem Ausland in Deutschland (vgl. Art. 14 Abs. 7 RL) sieht das IRG nur bei einem sog. Herausgabeverlangen (§ 61 Abs.1 S. 2 Alt. 2 IRG) vor.55 In diesem Zusammenhang ordnet § 91i Abs. 1 S. 1 IRG56 in Orientierung an § 79 Abs. 2 S. 3 IRG57 an, dass im Falle einer Vorlage nach § 61 Abs. 1 S. 1 IRG oder 51
EuGH (Fn. 49), Rn. 25. EuGH (Fn. 49), Rn. 26 ff. 53 EuGH (Fn. 49), Rn. 34. 54 EuGH (Fn. 49), Rn. 35. 55 Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas/Johnson (Fn. 34), Stand März 2018, § 61 IRG Rn. 11; Ambos/König/Rackow/Güntge, Rechtshilferecht in Strafsachen, 2014, § 61 IRG Rn. 54; Oehmichen/Weißenberger, StraFo 2017, 316 (323). 56 Zur diesbezüglichen Umsetzung des Art. 14 RL: Oehmichen/Weißenberger, StraFo 2017, 316 (322). 57 BT-Drs. 18/9757 v. 26. 9. 2016, S. 78. 52
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eines Antrags nach § 61 Abs. 1 S. 2 IRG das Oberlandesgericht auf Antrag auch Entscheidungen nach § 91e Abs. 3 IRG und nach § 91f Abs. 1 und 2 IRG überprüft.58 Sind Entscheidungen gem. § 91e Abs. 3 IRG ermessensfehlerhaft, so stellt das Gericht dies gem. § 91i Abs. 1 S. 2 Hs. 1 IRG fest, hebt diese insoweit auf und reicht die Akten zur erneuten Entscheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zurück. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung führte primär „Gründe der Verfahrensökonomie“ an, um dem ohnehin mit der Sache befassten Oberlandesgericht weitere Kompetenzen zur Überprüfung von Entscheidungen zu übertragen, „welche bei eingehenden Ersuchen die Geltendmachung oder Nicht-Geltendmachung von Bewilligungshindernissen, den Aufschub der Bewilligung oder den Rückgriff auf eine andere Maßnahme betreffen“59. Im Übrigen ist wegen des Verweises auf die Vorschriften der StPO (§ 77 IRG)60 nur ein nachträglicher Rechtsschutz nach § 98 Abs. 2 S. 2 StPO (analog) sowie nach den Vorschriften über die Beschwerde, §§ 304 ff. StPO, statthaft.61 Im Falle der Beschwerde prüft das Vornahmegericht beispielsweise, ob eine wirksame Vornahmehandlung in Deutschland vorliegt und ob alle notwendigen Voraussetzungen einer Rechtshilfeleistung an den ersuchenden Staat gegeben sind.62 Speziell bei einer verdeckten Ermittlung kommt § 101 StPO in Betracht.63 Liegt dem Sachverhalt eine Verkehrsdatenerhebung zugrunde (§ 100g StPO), wäre § 101a StPO zu berücksichtigen.64 Kommt es zu einer Überprüfung von Bewilligungsentscheidungen, wird teils auch auf den Verwaltungsrechtsweg verwiesen, §§ 40, 123 VwGO.65 Soweit zur Vollstreckung der EEA keine Vornahmehandlung erforderlich ist (z. B. bei einer Auskunft), ist zwar eine Zuständigkeit des OLG nach den §§ 22, 23 EGGVG i.V.m. § 77 Abs. 1 IRG in Betracht zu ziehen.66 Die Bewilligungsentscheidung als solche soll jedoch nicht selbstständig anfechtbar sein: Insofern bleibt es also beim Rechtsbehelf gegen die Vornahmehandlung entsprechend § 98 Abs. 2 S. 2 StPO analog.
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Vgl. auch Möhrenschlager, wistra 2016, IX (X). BT-Drs. 18/9757 v. 26. 9. 2016, S. 78. 60 BT-Drs. 18/9757 v. 26. 9. 2016, S. 30. 61 BT-Drs. 18/9757 v. 26. 9. 2016, S. 30; Oehmichen/Weißenberger, StraFo 2017, 316 (323); Leonhardt (Fn. 34), S. 292. 62 Leonhardt (Fn. 34), S. 292. 63 Vgl. Oehmichen/Weißenberger, StraFo 2017, 316 (323); vgl. auch Schuster, StV 2015, 393 (398) (§ 101 Abs. 7 S. 2 StPO). 64 Oehmichen/Weißenberger, StraFo 2017, 316 (323). 65 BT-Drs, 18/9757 v. 26. 9. 2016, S. 30; Oehmichen/Weißenberger, StraFo 2017, 316 (323). 66 BT-Drs. 18/9757 v. 26. 9. 2016, S. 30; vgl. auch Oehmichen/Weißenberger, StraFo 2017, 316 (322). 59
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Bis auf Einzelfälle bei der Beschwerde, § 307 Abs. 2 StPO (Vollzugshemmung), kommt den genannten Rechtsbehelfen keine aufschiebende Wirkung zu (vgl. Art. 14 Abs. 6 RL).67 Erwähnenswert ist in diesem Kontext zudem ein Beschluss des OLG Frankfurt v. 2. 10. 2018 – 2 WS 75/18.68 Das Verfahren nach § 91d Abs. 3 S. 2 IRG wird dort als gegenüber einer Vorlage zur gerichtlichen Entscheidung nach § 61 IRG vorrangig eingestuft. Letzteres sieht das OLG lediglich als ein präventives Feststellungsverfahren an, welches zum Ergebnis einzig die Feststellung habe, dass die rechtlichen Voraussetzungen der Rechtsbehelfe vorliegen oder eben nicht. Als unvollständig eingestufte Sachverhaltsangaben des ersuchenden Staates sind vorrangig über § 91d Abs. 3 S. 2 IRG zu ergänzen. Der deutsche Gesetzgeber hat damit im Ergebnis sehr weitgehend auf die Einführung spezieller Rechtsbehelfe gegen Ermittlungsmaßnahmen zur Befolgung einer EEA aus dem Ausland verzichtet und vertraut auf das Regelungskonzept der StPO. Dieses kann jedoch nur dann die menschen-, unions- und verfassungsrechtlich gebotene Effektivität der Kontrolle entfachen, wenn jedenfalls in plausibel begründeten Einzelfällen auch Aspekte wie der Tatverdacht oder die Verhältnismäßigkeit „hinterfragt“ werden können. Dies ermöglicht die RL-EEA in der hier favorisierten Auslegung – ob der EuGH sie trägt, bleibt abzuwarten. Ohne diese Zugeständnisse dürfte der durch Art. 14 RL „gespaltete“ Rechtsschutz die Hürde der Wirksamkeit kaum überspringen können.
V. Aufschiebung der Übermittlung von Beweismitteln als Korrektiv? Gemäß Art. 14 Abs. 6 RL bewirkt die rechtliche Anfechtung einer EEA gerade nicht, dass die Durchführung der Ermittlungsmaßnahme aufgeschoben wird, es sei denn, dies ist in vergleichbaren innerstaatlichen Fällen vorgesehen. Die der Vornahme einer Ermittlungshandlung an- bzw. nachgelagerte Phase der Beweismittelübermittlung an den Anordnungsstaat gewinnt vor diesem Hintergrund erhebliche Relevanz: Art. 13 Abs. 2 RL sieht zwar vor, dass die Übermittlung des Beweismittels so lange ausgesetzt werden kann, bis über einen Rechtsbehelf entschieden wurde (vgl. § 91i Abs. 2 IRG). Ausgeschlossen ist eine solche Aussetzung schon durch die RL selbst für den Fall, dass in der EEA ausreichende Gründe dafür benannt werden, dass eine sofortige Übermittlung für die ordnungsgemäße Durchführung der Ermittlungen oder die Wahrung von individuellen Rechten unerlässlich ist. Umgekehrt, zwingend muss die Übermittlung des Beweismittels nur dann ausgesetzt werden, wenn sie der betroffenen Person einen schweren und irreparablen Schaden zufügen würde. Es dürfte keine wagemutige Vorstellung sein, dass selbst in den allermeisten Fällen der 67 68
Oehmichen/Weißenberger, StraFo 2017, 316 (323). OLG Frankfurt, NStZ-RR 2019, 62.
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„offenen“ Vollstreckung einer EEA die gewonnenen Beweismittel an den Anordnungsstaat übermittelt werden, bevor über gegen die EEA eingelegte Rechtsbehelfe (rechtskräftig) entschieden worden ist – bei verdeckten Maßnahmen dürfte es regelmäßig gar keinen Rechtsbehelf „geben“.69 Einer kritischen Betrachtung bedarf in diesem Kontext insbesondere Art. 11 Abs. 1 lit. d RL, wonach die Anerkennung oder Vollstreckung einer EEA im Vollstreckungsstaat versagt werden kann, wenn die Vollstreckung der EEA dem Grundsatz „ne bis in idem“ zuwiderliefe. Gerade diese Vorschrift macht bei näherem Hinsehen deutlich, dass die Frage der Beweismittelübermittlung denklogisch nicht von der eigentlichen Vollstreckung der EEA getrennt werden kann: Ist schon der rein fakultative Charakter des Art. 11 Abs. 1 lit. d RL überraschend („kann“ versagt werden), so machen vor allem die näheren Erläuterungen in ErwG 17 stutzig: Zwar soll die Vollstreckungsbehörde nach Satz 2 des ErwG 17 befugt sein, die Vollstreckung einer EEA zu versagen, wenn die Vollstreckung dem Grundsatz „ne bis in idem“ zuwiderläuft; jedoch sollte gemäß Satz 3 des ErwG 17 in Anbetracht der Vorläufigkeit des der EEA zugrundeliegenden Verfahrens die Vollstreckung dann nicht versagt werden, wenn festgestellt werden soll, ob sie möglicherweise mit dem Grundsatz „ne bis in idem“ kollidiert, oder wenn die Anordnungsbehörde zugesichert hat, dass die aufgrund der Vollstreckung der EEA übermittelten Beweismittel nicht dazu verwendet würden, eine Person, deren Verfahren in einem anderen Mitgliedstaat wegen desselben Sachverhalts rechtskräftig abgeschlossen wurde, zu verfolgen oder zu bestrafen.70 § 91e Abs. 1 Nr. 2 IRG setzt den rechtsstaatlich bedenklichen Webfehler des Art. 11 Abs. 1 lit. d RL fort, gibt aber durch den vom Text der RL abweichenden Zusatz [kann] „nur“ [abgelehnt werden] immerhin eine Möglichkeit, bei einem drohenden Verstoß gegen das Doppelverfolgungsverbot (ne bis in idem) von einem zwingenden Versagungsgrund auszugehen; nur diese Vorgehensweise dürfte auch dem unionsrechtlichen Grundrechtsrahmen (Art. 50 GrCh) entsprechen (vgl. Art. 11 Abs. 1 lit. f RL), das „letzte Wort“ hat auch hier der EuGH. Angesichts der Dehnbarkeit des von ErwG 17 verwendeten Begriffs „mögliche Kollision“ mit dem „ne bis in idem“-Grundsatz müssen sich die beteiligten Behörden vor Vollstreckung einer EEA umso intensiver am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (ErwG 11) orientieren und bei klaren Indizien für einen sich abzeichnenden Verstoß gegen das Doppelverfolgungsverbot von vornherein von einer Anordnung, jedenfalls aber Vollstreckung einer EEA absehen – einschließlich der Übermittlung von Beweismitteln.
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Hierzu auch: Böse, ZIS 2014, 152 (161). Siehe auch Oehmichen/Weißenberger, StraFo 2017, 316 (319).
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VI. Ungelöste Fragen der Beweisverwertung als „offene Flanke“ des europäischen Beweistransfers Ein weiteres dogmatisches Problem liefert schließlich die letzte Phase im Regelungskonzept der EEA: die spätere Verwertung eines im europäischen Ausland (Vollstreckungsstaat) mit Hilfe einer EEA gewonnenen Beweises im Strafprozess des Anordnungsstaates. Angesichts des aufgezeigten „gespaltenen“ Rechtsschutzes gegen den Erlass bzw. die Vollstreckung einer EEA, einschließlich der im Regelfall nicht bestehenden aufschiebenden Wirkung eigelegter Rechtsbehelfe gegen die Übermittlung der Beweismittel, kommt der abschließenden Verfahrensebene der Beweisverwertung eine rechtsstaatlich entscheidende Bedeutung zu – auch und insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich zahlreiche Ermittlungshandlungen auf der Basis einer EEA „verdeckt“ gestalten dürften, was die Zugänglichkeit eines effektiven Rechtsschutzes ohnehin erheblich einschränkt.71 Zum einen stellt sich die Frage, ob inländische Beweiserhebungsverbote bei einem ausgehenden Ersuchen und einer anschließenden Beweiserhebung im Ausland gelten. Idealerweise ist schon beim Ersuchen im jeweiligen Formblatt klarzustellen, dass Maßnahmen unterbleiben sollen, die im Widerspruch zur Beweisgewinnung im Strafprozess des Anordnungsstaates stehen.72 Richtigerweise darf aber in einer solchen Fallkonstellation – aus der Perspektive des Anordnungsstaates – schon keine EEA erlassen werden: Art. 6 Abs. 1 lit. b RL stellt für den Erlass einer EEA die Bedingung auf, dass die dort angeführten Ermittlungsmaßnahmen auch in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall unter denselben Bedingungen angeordnet werden können.73 Aber wie, wenn nicht durch ein „hartes“ Beweisverwertungsverbot, stellt man die Umgehung dieses Prinzips durch ein sog. Befugnis-Shopping (Ersuchen um eine schon innerstaatlich unzulässige Maßnahme) in der Praxis sicher? Aber was passiert, wenn zentrale prozessuale Vorschriften der Beweisgewinnung nach dem Recht des Vollstreckungsstaates durch dessen Behörden außer Acht gelassen werden? Art. 14 Abs. 7 S. 1 RL schreibt hierzu vor, dass der Anordnungsstaat eine erfolgreiche Anfechtung der Anerkennung oder Vollstreckung einer EEA „berücksichtigt“ – allerdings nur „im Einklang mit seinem nationalen Recht“. Zudem sollen die Mitgliedstaaten unbeschadet ihrer nationalen Verfahrensvorschriften sicherstellen, dass in einem Strafverfahren im Anordnungsstaat bei der Bewertung der mittels einer EEA erlangten Beweismittel die Verteidigungsrechte gewahrt und ein faires Verfahren gewährleistet werden (Art. 14 Abs. 7 S. 2 RL). In diesem Punkt lässt die europäische Gesetzgebung selbst bei Rückgriff auf die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 EMRK weiterhin einheitliche und vor allem ver-
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Vgl. Mosna, ZStW 131 (2019), 808 (829). So Oehmichen/Weißenberger, StraFo 2017, 316 (323). 73 So auch Zimmermann, ZStW 127 (2015), 143 (150). 72
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lässliche Standards im Sinne klar formulierter Teilhaberechte der Verteidigung bei der Beweisgewinnung vermissen.74 Zwar ist es richtig, dass für die inländische Beweisverwertung künftig auch ausländisches Verfahrensrecht eine Rolle spielen wird75 – nur vermutlich eher die eines Statisten als die eines Serienhelden. Für die spätere Verwertung von grenzüberschreitend erhobenen Beweisen soll es nach der Vorstellung der seinerzeitigen Bundesregierung aus deutscher Perspektive lediglich darauf ankommen, „ob unter der Geltung der inländischen Rechtsordnung eine zuverlässige Beweisführung in einem fairen Verfahren möglich ist“.76 Angemessene Ergebnisse für den Einzelfall sollen hierbei vor allem der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 261 StPO) sowie der „in dubio“-Grundsatz liefern77 – bekanntermaßen zwei äußerst „flexible“ und einzelfallabhängige justizielle Reaktionsmechanismen. Geboten scheint dagegen, die Berücksichtigung von Souveränitätsrechten der übrigen Mitgliedstaaten im Regelungskonzept der EEA wenigstens auf der Verwertungsebene der gewonnenen Beweise konsequent sicherzustellen. Hier bleibt die RL eklatant schwach: Ein Gericht im Vollstreckungsstaat kann derzeit etwa die Rechtswidrigkeit der Vollstreckung einer EEA ausdrücklich feststellen (zeitlich auch nach der Vollstreckung, etwa bei verdeckten Maßnahmen), ohne dass damit zugleich eine Anerkennung dieser Erkenntnis im Anordnungsstaat zwingend vorgeschrieben wäre: Dessen Gerichte entscheiden über die Frage lediglich „im Einklang mit dem nationalen Recht“ und wie gesehen nach „Fairness-Gesichtspunkten“. Was dies etwa in einem Strafprozesssystem wie dem deutschen mit überwiegend (von wenigen Ausnahmen abgesehen) „weichen“ Verwertungsstandards und -verboten bedeutet, lässt sich unschwer prognostizieren: Die Mängel eines derartigen Beweisverwertungs-„Systems“, wenn man es denn darin erkennen will, werden letztlich von der nationalen auf die europäische Ebene „hochgezont“. Die Regelung in Art. 14 Abs. 7 RL in Bezug auf die Beweisverwertung im späteren Inland (Anordnungsstaat) liefert für das brisante Stadium der Beweisverwertung – hier kommt es letztlich zum rechtsstaatlichen Schwur – also nicht mehr als eine unzureichende Leitlinie. Es bedarf daher mittelfristig auch und gerade auf Unionsebene – die EMRK kann hier mit dem Fairnessgebot des Art. 6 Abs. 1 EMRK kaum helfen – der Herausbildung originärer, harter Verwertungsstandards – abgerundet durch Regeln der verpflichtenden gegenseitigen Anerkennung (etwa im Falle des nachträglichen Rechtsschutzes).78 Mit großem Interesse gilt es daher zu verfolgen, dass die Europäische Kommission die Harmonisierung einheitlicher Beweisverwertungsregelungen zumindest bei Verstößen gegen Vorgaben der in den sechs 74 Zimmermann, ZStW 127 (2015), 143 (170); Grundlegend zur Thematik: Schuster, Verwertbarkeit im Ausland gewonnener Beweise im deutschen Strafprozess, 2006. 75 Oehmichen/Weißenberger, StraFo 2017, 316 (323) m.w.N. 76 BT-Drs. 18/9757 v. 26. 9. 2016, S. 32 m.w.N. 77 BT-Drs. 18/9757 v. 26. 9. 2016, S. 32. 78 Zu diesem Gedanken bereits: Mosna, ZStW 131 (2019), 808 (829).
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„Richtlinien zum Beschuldigtenschutz“79 vorgesehenen Verfahrensgarantien in ihr künftiges Arbeitsprogramm aufgenommen hat.
VII. Fazit Die voranstehenden Überlegungen haben gezeigt, dass zentrale rechtliche Fragestellungen im Regelungskonzept der EEA weiterhin für die Praxis alles andere als hinreichend geklärt angesehen werden können. Dies mag ein Grund dafür sein, dass die Zahlen der EEA bislang deutlich hinter denen des EuHb zurückbleiben. Gerade deshalb ist der EuGH aufgerufen, sich im Sinne eines europäischen Motors der Rechtssicherheit auch im Beweistransfer stärker um die Konturierung der rechtsstaatlichen Standards, namentlich den Rechtsschutz, bei der EEA zu bemühen. Das Urteil in der Rs. Gavanozov war insoweit ein denkbar schlechter Start. In künftigen Fällen sind insbesondere Art. 47 GrCh (Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht) sowie parallel (Art. 52 Abs. 3 GrCh) die Judikatur des EGMR zu Art. 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde) stärker in den Blick zu nehmen, um die dort geforderte „Effektivität“ des Rechtsschutzes konsequent im Konzept der EEA umzusetzen. Dazu bedarf es freilich zunächst einmal einer signifikanten Steigerung von Vorlageverfahren zur EEA (Art. 267 AEUV). Abhängig von der Prüfungsdichte entsprechender Urteile des EuGH könnten sich der EGMR bzw. das BVerfG, die sich bei der menschen- und grundrechtlichen Kontrolle der Umsetzung unionsrechtlicher Vorgaben durch die Mitgliedsstaaten bislang bekanntlich sehr zurückhalten (müssen)80, durchaus genötigt sehen, diese Form der Zurückhaltung aufzugeben, wenn sich tatsächlich erweist, dass das Rechtsschutzsystem der Union beim grenzüberschreitenden Beweistransfer in Strafsachen im Kern nicht den Vorgaben entspricht, die Art. 1 GG bzw. Art. 8 und Art. 13 EMRK an ein solches System stellen81 – dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass auch der 79 RL 2010/64/EU v. 20. 10. 2010, ABl. EU Nr. L 280 v. 26. 10. 2010, S. 1; RL 2012/13/EU v. 22. 5. 2012, ABl. EU Nr. L 142 v. 1. 6. 2012, S. 1; RL 2013/48/EU v. 22. 10. 2013, ABl. EU Nr. L 294 v. 6. 11. 2013, S. 1; RL 2016/343/EU v. 9. 3. 2016, ABl. EU Nr. L 65 v. 11. 3. 2016, S. 1; RL 2016/800/EU v. 11. 5. 2016, ABl. EU Nr. L 132 v. 21. 5. 2016, S. 1; RL 2016/1919/ EU v. 26. 10. 2016, ABl. EU Nr. L 297 v. 4. 11. 2016, S. 1. 80 EGMR (GK), Bosphorus/Irland, Urt. v. 30. 6. 2005, §§ 152 ff. = NJW 2006, 197 ff.; BverfG, Urt. v. 30. 6. 2009 – BvE 2/08, NJW 2009, 2267 (2272: unantastbarer Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grundgesetzes). 81 Kritisch bereits: EGMR (GK), Avotin¸sˇ/Lettland, Urt. v. 23. 5. 2016, Nr. 17502/07 (Vollstreckung eines ausländischen Zahlungstitels), §§ 114, 116 („[W]here the courts of a State which is both a Contracting Party to the Convention and a member State of the European Union are called upon to apply a mutual-recognition mechanism established by EU law, they must give full effect to that mechanism where the protection of Convention rights cannot be considered manifestly deficient. However, if a serious and substantiated complaint is raised before them to the effect that the protection of a Convention right has been manifestly deficient and that this situation cannot be remedied by European Union law, they cannot refrain from examining that complaint on the sole ground that they are applying EU law.“).
Die Europäische Ermittlungsanordnung (EEA)
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EuGH über die Charta der Grundrechte keinen angemessenen Schutz bereitstellt; doch so weit wird es dann vermutlich nicht kommen.82 Gelingt diese Konturierung der EEA in absehbarer Zukunft, wird sich die Kommission die Frage stellen müssen, warum sie ihre jedenfalls in Teilen höchst bedenklichen Pläne für eine European Production Order im Bereich „E-Evidence“ weiterhin mit Nachdruck verfolgt, wenngleich zu konstatieren ist, dass das Kernelement – der regelmäßige Direktkontakt der Anordnungsbehörde zum privaten Anbieter ohne Einschaltung einer Vollstreckungsbehörde – zuletzt abgemildert wurde. Mit der EEA hat der europäische Gesetzgeber den nationalen Strafverfolgungsbehörden ein Instrument an die Hand gegeben, das gegenüber dem EuHb in einzelnen Punkten (Prüfung der Verhältnismäßigkeit, Art. 10 Abs. 3 RL; erweiterter Katalog von Ablehnungsgründen, darunter Beschuldigten-/Verteidigungsrechte als „europäische“ Grundrechte i.S.v. Art. 6 Abs. 3 EUV i.V.m. Art. 11 Abs. 1 lit. f RL)83, wenn auch nur in engen Grenzen, eine gewisse „nationale“ Flexibilität und die Möglichkeit einer „Nachkontrolle“ bietet,84 die das Instrument in der Praxis als gleichermaßen unionsrechtlich effektiv wie rechtsstaatlich eingehegt (GRCh) erscheinen lassen kann. Eine wichtige durch den EuGH (Art. 267 AEUV) zu gewinnende Erkenntnis wäre dabei, wie weit ein von Art. 14 Abs. 2 Hs. 2 RL eröffneter „sachgrundbezogener“ Rechtsschutz gegen eine EEA im Vollstreckungsstaat tatsächlich reicht. Die EEA hat eine umfängliche Phase der Erprobung verdient und sollte nicht das Schicksal ihrer Vorgängerin, der EBA, teilen. Die mit der EEA verbundene weitere Entwicklung des von ihm schon 2009 geforderten „transnational wirksamen Strafrechts“85 auf dem Gebiet des Beweistransfers wird der Jubilar sicherlich auch in Zukunft kritisch beobachten und, so steht zu hoffen, mit eigenen wissenschaftlichen Impulsen nachhaltig bereichern; hierzu seien ihm von Herzen Gesundheit und Schaffenskraft gewünscht.
82
Hierzu vertiefend: Tamme, Die Durchsetzung von EU-Recht durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – Stellvertretende Verfassungsgerichtsbarkeit zur Effektivierung des Individualrechtsschutzes (2018), S. 68 ff., 77. 83 Ähnlich: Mosna, ZStW 131 (2019), 808 (827: „eher Grundsatzerklärung“). 84 Hierzu auch: Mosna, ZStW 131 (2019), 808 (815: „Gegengewichten“). 85 Sieber, ZStW 121 (2009), 1 (4).
Völkerstrafrecht in Deutschland Eine Bestandsaufnahme der letzten Jahre* Von Peter Frank
I. Hinführung Der langjährigen Zurückhaltung Deutschlands gegenüber dem Völkerstrafrecht folgte nach der Wiedervereinigung ab Anfang/Mitte der 90er Jahre eine stetig wachsende Völkerstrafrechtsfreundlichkeit. So führte der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof (GBA) bereits im Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien eine Reihe von Ermittlungsverfahren auf der Grundlage der 1954 ins StGB eingefügten Vorschrift des Völkermordes nach § 220a a.F. Das bekannteste Verfahren gegen den bosnisch-serbischen Milizenführer Dusˇko T. fand dann seinen Abschluss aber in Den Haag. Es wurde 1997 das erste Urteil des IStGHJ, der das Verfahren an sich gezogen hatte. Nach dem Inkrafttreten des VStGB am 30. 6. 2002 dauerte es zunächst eine Weile, bis geeignete Fälle aufkamen, die eine nationale deutsche Strafverfolgung sinnvoll erscheinen ließen – geht doch der Gesetzgeber mit dem ebenfalls neu geschaffenen § 153f StPO1 davon aus, dass trotz des Weltrechtsprinzips in § 1 VStGB die Einleitung von nur symbolhaften Ermittlungen nicht angezeigt ist, wenn es keine innerdeutschen Ermittlungsansätze gibt. In der Zwischenzeit wurden vom GBA in einer Reihe von weltweiten Konfliktgeschehen Ermittlungen aufgenommen und auch Verurteilungen erreicht, die internationale Beachtung gefunden und von anderen Jurisdiktionen aufgegriffen wurden. Dies gilt es im Folgenden in der Reihenfolge der Straftatbestände des VStGB kurz (aber nicht abschließend) zusammenzufassen.
* Der Beitrag gibt den Stand zum 31. 12. 2019 wieder. Im Einzelnen Frank/Schneider-Glockzin, NStZ 2017, 1 (3).
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II. Einzelne Straftatbestände 1. Völkermord, § 6 VStGB Nachdem die in den 2000er Jahren aufgenommenen Ermittlungen zum Genozid in Ruanda im Jahr 1994 noch auf der Grundlage des § 220a StGB a.F. fußten,2 kommen verschiedene Tathandlungen des § 6 VStGB im Zusammenhang mit dem Wüten des sogenannten „Islamischen Staates“ (IS) insbesondere gegen die Jesiden im Nordirak zum Tragen. So hatte der IS im August 2014 eine Militäroffensive im Distrikt Sindjar begonnen. Dort lebten zu jener Zeit etwa 300.000 Kurden jesidischen Glaubens und eine Minderheit von sunnitischen Arabern. Mit der Offensive verfolgte der IS das Ziel, die durch Abstammung erworbene jesidische Religion, das Jesidentum als solches und die Angehörigen dieses Glaubens in den besetzten Gebieten vollständig zu vernichten. Dies erfolgte im Wesentlichen durch Zwangskonversion und religiöse Umerziehung, durch die Hinrichtung mehrerer tausend dem sich widersetzender Männer sowie durch die Verschleppung, Vergewaltigung und Zwangsverheiratung mehrerer tausend Frauen und junger Mädchen. Um sicherzustellen, dass männliche Kinder ihre Bindung zur jesidischen Religion und zu den überlieferten Traditionen verlieren würden, wurden sie gegebenenfalls gewaltsam von ihren Familien getrennt und in Koranschulen verbracht. Männliche Jugendliche wurden in militärische Ausbildungslager gebracht, wo sie im Umgang mit Waffen und Sprengmitteln geschult wurden, um diese später im Kampf gegen Feinde des IS einsetzen zu können. Frauen und Mädchen sollten unter Anwendung insbesondere sexueller Gewalt versklavt werden. Soweit sich Jesidinnen und Jesiden in Gefangenschaft befanden, wurden sie häufig in Sammelunterkünften auf engstem Raum unter katastrophalen hygienischen und tatsächlichen Bedingungen festgehalten, häufig wurden sie geschlagen, gedemütigt und bedroht, zuweilen wurden ihnen Drogen verabreicht oder ihre Widerstandskraft durch Mangelernährung gebrochen. Die in die Berge geflüchteten Jesiden sollten nach Vorstellung des IS dort verdursten und ums Leben kommen. Zudem ließ der IS jesidische Heiligtümer und Wallfahrtsorte zerstören. Dabei verwirklicht nicht nur derjenige den Tatbestand des Völkermordes, der als IS-Kämpfer an der militärischen Offensive mitwirkte, sondern auch, wer später im Irak oder in Syrien jesidische Mädchen oder Frauen im Sinne des IS versklavt und dabei tötet oder schwer verletzt.3 2. Verbrechen gegen die Menschlichkeit, § 7 VStGB Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind (kollektive) Massenverbrechen4 und erfordern einen ausgedehnten oder systematischen Angriff gegen eine Zivilbevölke2
Dazu OLG Frankfurt, Urteil vom 29. 12. 2015, Az. 4 – 3 StE 4/10 – 4 – 1/15 (juris). Zu einem Fall des § 6 Abs. 1 Nrn. 1 bis 3 VStGB vgl. Presseerklärung des GBA Nr. 48/ 2019. 4 Etwa MüKo-StGB-Werle, 3. Aufl. 2018, VStGB § 7 Rn. 2. 3
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rung. Tatobjekt muss stets eine Personenmehrheit sein, die über gemeinsame Merkmale verfügt, etwa das gemeinsame Bewohnen eines Gebietes oder eine gemeinsame politische Willensrichtung. Entscheidend ist, dass die einzelnen Tatopfer nicht als individuelle Persönlichkeiten, sondern als Angehörige einer bestimmten Bevölkerungsgruppe angegriffen werden.5 Der Angriff muss ausgedehnter oder6 systematischer Natur sein, wobei der ausgedehnte Angriff quantitativ charakterisiert ist und sich nach der hohen Anzahl der Opfer oder nach der Größe des betroffenen Gebiets richtet, während der systematische Angriff qualitativ definiert ist und davon abhängt, ob die erheblichen und wiederholten Gewaltanwendungen als Ausdruck einer bestimmten Politik oder eines vorgegebenen Plans mit einem gewissen Maß an Organisation ausgeführt werden.7 Nachgewiesen wurde ein ausgedehnter und systematischer Angriff gegen eine Zivilbevölkerung für verschiedene Operationen der Forces Démocratiques de Libération du Rwanda (FDLR) gegen in den Provinzen Nord- und Süd-Kivu im Osten der Demokratischen Republik Kongo gelegene Dörfer, die im Zeitraum vom Februar bis Juli 2009 stattfanden. Die Angriffe, bei denen zahlreiche Häuser abgebrannt und eine Vielzahl von Bewohnern getötet, Frauen vergewaltigt, andere vertrieben, Hab und Gut geraubt wurden, wurden regelmäßig, koordiniert und planmäßig im Sinne eines konsequenten Handelns ausgeführt. Sie waren Ausdruck der Strategie der FDLR, die ansässige Zivilbevölkerung durch Bestrafung gefügig zu machen.8 Zweifelsfrei erfüllten deren Milizionäre eine Reihe von Tatbeständen des § 7 Abs. 1 VStGB. Sie waren und sind in Deutschland aber nicht greifbar. Ob sich auch der im Tatzeitraum in Deutschland lebende Präsident der FDLR wegen Beihilfe zu Taten strafbar gemacht hat, konnte endgültig nicht geklärt werden; er ist vor Abschluss des Verfahrens verstorben. In Syrien liegt spätestens seit dem 29. 4. 20119 ein ausgedehnter und systematischer Angriff des syrischen Regimes gegen die eigene Zivilbevölkerung mit dem Ziel vor, sämtliche regierungskritischen Aktivitäten der Opposition mit brutaler Gewalt zu unterdrücken, Protestbewegungen bereits zu einem möglichst frühen Zeitpunkt zu unterbinden und die Bevölkerung einzuschüchtern. Dazu wurden überall im Land aufgrund zentraler Anordnung tatsächliche oder vermeintliche Oppositionelle ohne Rechtsgrundlage verhaftet, misshandelt, gefoltert und/oder getötet. Den Geheimdiensten kam dabei eine entscheidende Rolle zu, zumal es auch galt, Informationen über die Revolutionsbewegung sowie Regimegegner zu erhalten. 5
Siehe MüKo-StGB-Werle, VStGB § 7 Rn. 15, 21. Es genügt, wenn eines der beiden Tatbestandsmerkmale erfüllt ist, so BGHSt 64, 1 (44); Zimmermann, NJW 2002, 3068 (3069). 7 Siehe Barthe, NStZ 2012, 247 (250); zum Begriff des systematischen Angriffs BGHSt 64, 1 (44 ff.). 8 Vgl. BGHSt 64, 1 (44). 9 An diesem Tag wurden bei einer großen Demonstration in den umliegenden Orten von Dara’a bis zu 200 Personen getötet, so dass das Vorgehen gegen oppositionelle Bestrebungen eine neue Dimension erreichte. 6
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Durch den GBA als Mittäter eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit angeklagt wurde inzwischen ein Offizier eines syrischen Geheimdienstes, der eine Ermittlungseinheit mit angeschlossenem Gefängnis leitete, in dem die Insassen mit Fäusten, Schläuchen, Rohren, Gürteln, Peitschen, Kabeln und Stöcken geschlagen, mit Elektroschocks, gewaltsamem Schlafentzug und sexueller Gewalt gequält sowie ihnen medizinische Hilfe verweigert wurde, sie ungenießbares Essen erhielten und in stark überfüllten Zellen ohne Sitz- oder Liegemöglichkeit ausharren mussten sowie andere unmenschliche und erniedrigende Haftbedingungen herrschten.10 Dabei sollen über 50 Menschen getötet und über 4.000 Menschen gefoltert worden sein (§ 7 Abs. 1 Nrn. 1, 5 und 9 VStGB).11 Der konkrete und aktive Tatbeitrag des Beschuldigten ergab sich aus seiner hierarchisch herausgehobenen Stellung als Abteilungsleiter, der um die Bedeutung des Handelns seiner Mitarbeiter zur Unterdrückung der Opposition wusste. Wegen Beihilfe hierzu angeklagt wurde ein Mitarbeiter der Abteilung dieses Geheimdienstes, der Demonstranten festnahm und in das Gefängnis verbrachte.12 Mittelbarer Täter (§ 25 Abs. 2 StGB) eines solchen Verbrechens gegen die Menschlichkeit kann aber auch der Leiter eines syrischen Geheimdienstes sein, soweit die Unterdrückung der Protestbewegung in Syrien, der Beschuss von Demonstranten, deren Inhaftierung sowie Misshandlung auch von ihm zentral angeordnet, befehligt, organisiert und überwacht wurde.13 Die Merkmale des ausgedehnten und systematischen Vorgehens ergeben sich aufgrund zahlreicher Zeugenaussagen von Opfern wie auch aus der sachverständigen Auswertung der sogenannten CAESAR-Dateien, über 28.000 Fotoaufnahmen eines ehemaligen syrischen Militärfotografen, die dieser außer Landes geschmuggelt hatte und die über 6.500 tote Personen zeigen, die in Gefangenschaft oder einem Militärkrankenhaus starben. Neben den bereits benannten Foltermethoden wurden bekannt „Falaqa“, bei dem mit einem Stock oder Kabel auf die Fußsohlen geschlagen wurde, „Dulab“, bei dem Kopf, Nacken, Beine und manchmal auch die Arme durch das Innere eines Autoreifen gesteckt und anschließend auf den Körper geschlagen wurde, „Shabe“, bei dem der Körper an den Armen an die Decke gehängt wurde, so dass die Zehenspitzen den Boden wenig oder gar nicht berührten und anschließend auf den Körper geschlagen wurde, das Verbrennen mit Zigaretten oder heißen Flüssigkeiten sowie das Ziehen der Finger- oder Zehennägel. Soweit Oppositionelle inhaftiert wurden, erfüllt allein dies den Tatbestand des § 7 Abs. 1 Nr. 9 VStGB. Das Berauben der körperlichen Freiheit setzt voraus, dass der Täter einen Menschen daran hindert, seinen Aufenthaltsort frei zu verlas10
Vgl. auch BGH NStZ 2019, 539 (540); Beschluss vom 5. 9. 2019, Az. AK 47/19 (juris), Rn. 38 – 40. 11 Siehe Presseerklärung des GBA Nr. 50/2019 vom 29. 10. 2019. 12 Wie Fn. 11. 13 Zusätzlich dürfte auch § 4 VStGB zum Tragen kommen, soweit der (militärische) Befehlshaber seine Untergebenen daran hindert, Straftaten nach dem VStGB zu begehen.
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sen.14 Außerdem darf die Freiheitsentziehung nicht von einer völkerrechtskonformen Rechtsgrundlage erfasst und in einem rechtsstaatlichen Verfahren ausgesprochen sein. Sie ist schwerwiegend, wenn sie entweder nicht nur kurzfristig dauert oder eine besonders unmenschliche Maßnahme darstellt,15 was insbesondere dann anzunehmen ist, wenn der Gefangene Gewalt ausgesetzt ist, unmenschliche Haftbedingungen erleidet, erniedrigend behandelt oder von der Außenwelt abgeschnitten und seine Inhaftierung geheim gehalten wird.16 Aber auch der Angriff des IS gegen die Jesiden im Nordirak17 erfüllt das Merkmal eines ausgedehnten und systematischen Angriffs gegen eine Zivilbevölkerung, weil er einem von der IS-Führung vorgegebenen Plan folgend18 zur Vernichtung der Religionsgemeinschaft der Jesiden führen sollte. Dabei oder später im Zusammenhang mit der Versklavung jesidischer Mädchen und Frauen begangene Tötungen, Folterhandlungen (etwa Schläge mit Stöcken, aber auch mit der Faust sowie das erzwungene Ausharren auf dem Dach bei Luftangriffen) und Freiheitsentzug erfüllen die Tatbestände des § 7 Abs. 1 Nrn. 1, 319, 5 und 9 VStGB.20 3. Kriegsverbrechen gegen Personen, § 8 VStGB Kriegsverbrechen können nur im Zusammenhang mit einem internationalen oder nichtinternationalen bewaffneten Konflikt begangen werden. Unter einem bewaffneten Konflikt wird die Anwendung von Waffengewalt zwischen Staaten (internationaler bewaffneter Konflikt) oder eine ausgedehnte bewaffnete Auseinandersetzung zwischen der Regierung und organisierten bewaffneten Gruppen oder zwischen solchen Gruppen innerhalb eines Staates (nichtinternationaler bewaffneter Konflikt) verstanden.21 In Abgrenzung zu bloßen inneren Unruhen, Spannungen, Tumulten 14
So die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 14/8524, S. 22. Vgl. Safferling, Internationales Strafrecht, 2011, § 6, Die Völkerstraftaten: Der besondere Teil, Rn. 78. 16 Dazu Triffterer/Ambos, The Statute of the International Criminal Court, 3. Aufl. 2016, Art. 7 Rn. 50. 17 Hierzu bereits unter II. 1. 18 Etwa Barthe, NStZ 2012, 247 ff. 19 Nr. 3 ist allein schon durch die Versklavung, also den Erwerb und/oder Weiterverkauf von Menschen erfüllt, siehe BGH, Ermittlungsrichter, Beschlüsse vom 18. 7. 2019, Az. 2 BGs 489/19, und vom 19. 7. 2019, Az. 2 BGs 492/19. 20 Vgl. Presseerklärungen des GBA Nr. 68/2018 und Nr. 48/2019; auch BGH, Ermittlungsrichter, Beschlüsse vom 18. 7. 2019, Az. 2 BGs 489/19, und vom 19. 7. 2019, Az. 2 BGs 492/19. 21 Siehe BGHSt 62, 272 (274 f.); MüKo-StGB-Geiß/Zimmermann, VStGB § 8 Rn. 96; vgl. auch Art. 1 Abs. 1 Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll II) vom 8. Juni 1977: Der IStGHJ führt zur Definition eines (internationalen und nichtinternationalen) bewaffneten Konflikts aus: „… we find that an armed conflict exists whenever there is a resort to armed force between States or protracted armed violence between governmental authorities and 15
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sowie vereinzelt auftretenden Gewalttaten und ähnlichen Handlungen müssen die Auseinandersetzungen ein bestimmtes Maß an Intensität überschreiten und die beteiligten nichtstaatlichen Gruppen ein Mindestmaß an Organisationsstruktur aufweisen.22 Zudem darf die Tat nicht bloß „bei Gelegenheit“ des bewaffneten Konflikts begangen werden; das insoweit prägende Unrechtsmerkmal des Zusammenhangs der Tat mit dem Konflikt muss für die Fähigkeit des Täters, das Kriegsverbrechen zu begehen, für seine Entscheidung zur Tatbegehung, für die Art und Weise sowie für den Zweck der Tat von wesentlicher Bedeutung sein23, etwa wenn es darum geht, den Machtanspruch der eigenen Konfliktpartei und ihre Vorstellungen und Regeln durchzusetzen. Eine Tatausführung während laufender Kampfhandlungen oder eine besondere räumliche Nähe ist aber nicht erforderlich.24 In der Verfolgungspraxis des GBA angenommen wurden nichtinternationale bewaffnete Konflikte erstmals für die Kivu-Provinzen im Osten der Demokratischen Republik Kongo für Januar bis Juli 2009, als kongolesische und ruandische Streitkräfte gegen die FDLR25 eine militärische Offensive starteten.26 Einen Schwerpunkt bildet nach wie vor die Bürgerkriegssituation in Syrien seit Anfang 2012, als sich das Regime mit offizieller Armee, Polizei, Sicherheitskräften und zivilen Milizen auf der einen sowie Vertreter kämpfender Gruppierungen auf der anderen Seite, zu Beginn etwa der sogenannten Freien Syrischen Armee, später im Wesentlichen der NusraFront, der IS und andere Gruppierungen gegenüber standen,27 oder im Irak seit Anfang 201428, als nahezu landesweit flächendeckende Kämpfe zwischen der Zentralund der kurdischen Regionalregierung einerseits und dem IS sowie diesen unterstützenden Gruppen andererseits mit einer Vielzahl an Toten und einer hierdurch ausgeorganized armed groups or between such groups within a State. International humanitarian law applies from the initiation of such armed conflicts and extends beyond the cessation of hostilities until a general conclusion of peace is reached; or, in the case of internal conflicts, a peaceful settlement is achieved. Until that moment, international humanitarian law continues to apply in the whole territory of the warring States or, in the case of internal conflicts, the whole territory under the control of a party, whether or not actual combat takes place there.“, in: Prosecutor v. Dusˇko Tadic´, Appeals Chamber Decision vom 2. Oktober 1995, Rn. 70. 22 So BGHSt 62, 272 (275); Beschluss vom 17. 11. 2016, Az. AK 54/16 (juris), Rn. 23; MüKo-StGB-Geiß/Zimmermann, VStGB § 8 Rn. 110 f. 23 Vgl. BT-Drs. 14/8524, S. 25; BGHSt 62, 272 (287); Beschluss vom 6. 4. 2017, Az. AK 14/17 (juris), Rn. 27; MüKo-StGB-Geiß/Zimmermann, VStGB § 8 Rn. 120 m.w.N. 24 Siehe BGH, Beschlüsse vom 17. 11. 2016, Az. AK 54/16 (juris), Rn. 29, und vom 25. 9. 2018, Az. StB 40/18 (juris), Rn. 23. 25 Bereits oben unter II.2. 26 Dazu BGHSt 64, 1 (16 – 19, 23 f.); zum Sachverhalt im Einzelnen die Vorinstanz OLG Stuttgart, Urteil vom 28. 9. 2015, Az. 5 – 3 StE 6/10 (juris), Rn. 212 ff. 27 Etwa BGHSt 62, 272 (275); BGH, Beschlüsse vom 11. 1. 2018, AK 75 – 77/17 (juris) Rn. 32, und vom 25. 9. 2018, Az. StB 40/18 (juris), Rn. 6/7; OLG Düsseldorf, Urteil vom 24. 9. 2018, Az. III-5 StS 3/16, dort S. 10. 28 Der der Presseerklärung des GBA Nr. 49/2018 zugrunde liegende Sachverhalt ereignete sich im Oktober 2014 in Mossul, der der Presseerklärung des GBA Nr. 12/2019 zugrundeliegende Sachverhalt in 2014 bis 2015 in Al-Rutba.
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lösten Flüchtlingswelle stattfanden.29 Soweit Streitkräfte anderer (dritter) Staaten im Rahmen der sogenannten Anti-IS-Koalition auf Seiten und in Abstimmung sowie im Einverständnis mit der irakischen Regierung lokal begrenzte militärische Einsätze durchführten, führte dies nicht zu einer Internationalisierung des Konflikts. 30 Entsprechendes gilt für Afghanistan in den Jahren 2013 und 2014 für die täglich mit schweren Waffen sowie vom Boden und aus der Luft geführten Auseinandersetzungen zwischen den Regierungsstreitkräften, unterstützt durch Truppen der International Security Assistance Force (ISAF), sowie den Taliban.31Auch in Sri Lanka herrschte zumindest in den Jahren 2008 und 2009 ein nichtinternationaler bewaffneter Konflikt zwischen der Organisation „Liberation Tigers of Tamil Eelam“ (LTTE) und der Regierung sowie den Streitkräften Sri Lankas.32 a) Durch Tötung von zu schützenden Personen, § 8 Abs. 1 Nr. 1 VStGB Tatvorwurf in einer Vielzahl von Fällen ist die Mitwirkung (täterschaftlich oder durch Teilnahme) an zum Teil brutalen Tötungen von gefangenen Gegnern, etwa von Soldaten oder Angehörigen des syrischen, irakischen oder afghanischen Staates, aber auch von Mitgliedern anderer meist verfeindeter Gruppierungen oder von Zivilisten unter anderem wegen „religiöser“ Verfehlungen (beispielweise Blasphemie, Homosexualität, Unterstützung anderer Glaubensrichtungen, Ehebruch) durch Kämpfer des IS, der Nusra-Front oder anderer Vereinigungen, sei es durch Erschießen, Erschlagen, Erhängen, Steinigen, Köpfen oder auf andere Weise.33 Motive der Tötungen waren regelmäßig Rache, die Demonstration der eigenen (Vereinigungs-)Macht, zuweilen erfolgten sie im Zusammenhang mit der Anfertigung von Propagandavideos oder zur Vollstreckung von Sharia-Urteilen. Letztere unterfallen zugleich dem Tatbestand des § 8 Abs. 1 Nr. 7 VStGB, der nicht nur auf Todesurteile staatlicher Gerichte, sondern auch auf vergleichbare Entscheidungen nichtstaatlicher Konfliktakteure wie der Nusra-Front oder dem IS anwendbar ist. Will der Gesetzgeber doch jede Anordnung der Todesstrafe, die unter Nichtgewährung wesentlicher rechtsstaatlicher Verfahrensgarantien festgesetzt worden ist, pönalisieren. Diese fehlen etwa, wenn den Gefangenen weder das Recht auf ein unabhängiges und unparteiisches Ge29 Vgl. auch KG, Urteil vom 1. 3. 2017, Az. (2 A) 172 OJs 26/16 (3/16) (juris), Rn. 65 – 67; OLG Stuttgart, Urteil vom 11. 1. 2018, Az. 6 – 32 OJs 9/17 (juris), Rn. 82/83; zur „Internationalisierung“ nichtinternationaler bewaffneter Konflikte MüKo-StGB-Geiß/Zimmermann, VStGB § 8 Rn. 101 ff. 30 Vgl. auch BGHSt 62, 272 (275). 31 Etwa BGH, Beschluss vom 11. 1. 2018, Az. AK 74/17 (juris), Rn. 6; OLG München, Urteil vom 26. 7. 2019, Az. 8 St 5/19, S. 14 ff. 32 Vgl. Presseerklärung des GBA Nr. 16/2019. 33 Etwa OLG Düsseldorf, Urteil vom 24. 9. 2018, Az. III-5 StS 3/16, dort S. 35/36; OLG Stuttgart, Beschluss vom 17. 9. 2019, Az. 5 – 3 StE 6/19; BGH, Ermittlungsrichter, Beschlüsse vom 12. 4. 2017, Az. 2 BGs 474/17, und vom 18. 4. 2019, Az. 2 BGs 232/19; Einzelfälle genannt in den Presseerklärungen des GBA Nr. 50/2017, Nr. 1/2018, Nr. 39/2018, Nr. 49/2018, Nr. 12/2019, Nr. 16/2019, Nr. 28/2019, 48/2019.
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richt noch auf einen Beistand durch einen geeigneten oder gewählten Verteidiger noch das Recht auf Rechtsmittel gewährt wurden und/oder das Sharia-Urteil gegen das Verbot von Kollektivstrafen verstieß. Bei den Getöteten handelte es sich um geschützte Personen im Sinne von § 8 Abs. 6 Nrn. 2 (gefangen genommene Zivilisten) oder 3 (gefangen genommene Gegner) VStGB, weil sie sich „als Gegner“ betrachtet in der Gewalt der anderen Konfliktpartei befanden und ersichtlich nicht unmittelbar an Feindseligkeiten teilnahmen.34 Soweit die Milizionäre der FDLR im Rahmen des bewaffneten Konflikts im Osten der Demokratischen Republik Kongo Dorfbewohner getötet und Siedlungen in Brand gesetzt hatten, konnte eine Verurteilung des jeweils aus Deutschland heraus agierenden Präsidenten und Vizepräsidenten der FDLR wegen Völkerstraftaten nicht erreicht werden. Der Vizepräsident wurde rechtskräftig „nur“ wegen Rädelsführerschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Ob sich der Präsident – neben der Rädelsführerschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung – ebenfalls wegen Beihilfe zu den festgestellten Kriegsverbrechen der Milizionäre strafbar gemacht hat, konnte endgültig nicht geklärt werden; er ist vor Abschluss des Verfahrens verstorben. b) durch grausame oder unmenschliche Behandlung, § 8 Abs. 1 Nr. 3 VStGB Da bewaffnete Konflikte in der Regel mit großer Brutalität und Rücksichtslosigkeit geführt werden, treten solche Tathandlungen in großer Häufigkeit auf. Unter die Nr. 3 fallen im Wesentlichen die Folter sowie anderweitige Handlungen, die erhebliche körperliche oder seelische Schäden oder Leiden zufügen. Auch wenn das Ausmaß der Beeinträchtigung über dasjenige einer körperlichen Misshandlung im Sinne des § 223 StGB deutlich hinausgehen muss, setzt es keine besonders schwere oder auch nur bleibende Folge im Sinne des § 226 StGB voraus; ist die Verstümmelung doch nur beispielhaft aufgeführt.35 Der Begriff der unmenschlichen Behandlung ist vielmehr weit auszulegen, so dass das vereinzelte Schlagen eines Gefangenen mit einem Wasserschlauch durch mehrere Bewacher, soweit es zusammentrifft mit einer Fesselung und dem Verharren in unbequemer Sitzposition mit verbundenen Augen über mehrere Minuten, dem Androhen des Einsatzes eines Elektroschockgerätes und der bewussten Dokumentation des Geschehenes mittels Videoaufzeichnung zum Zwecke der Verbreitung, bereits eine Tathandlung nach Nr. 3 erfüllt.36 In der Verfolgungspraxis des GBA aufgetreten sind regelmäßig Schläge ins Gesicht, 34 Vgl. BGH, Beschluss vom 17. 11. 2016, AK 54/16 (juris), Rn. 26; OLG Düsseldorf, Urteil vom 24. 9. 2018, Az. III-5 StS 3/16, dort S. 100. 35 Etwa BGH, Beschluss vom 5. 9. 2019, AK 47/19 (juris), Rn. 38; MüKo-StGB-Geiß/ Zimmermann, VStGB § 8 Rn. 138. 36 Hierzu Presserklärung des GBA Nr. 15/2019; anders OLG München, Urteil vom 26. 7. 2019, Az. 8 St 5/19, das an den Begriff der Folter strengere Anforderungen stellen und auch auf die zeitliche Dauer der Misshandlungen sowie die zu erwartenden Verletzungsfolgen abstellen möchte.
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gegen den Kopf, den Oberkörper, die Schenkel oder auf die Fußsohlen, teilweise mittels Gegenständen wie Gewehrkolben, Stöcken, Kabeln, geflochtenen Seilen, Schläuchen, weiter Tritte, Verletzungen mit Messern, der Einsatz oder die Androhung von Stromfolter, Scheinhinrichtungen oder das Vortäuschen des Ertränkens.37 Auch von Angehörigen islamistischer Terrorgruppen wurden die gleichen Foltermethoden wie durch das Regime38 angewendet, bekannt sind etwa das „Balango“, bei dem den Gefangenen die Hände auf dem Rücken gebunden wurden, um sie an den Armen mittels an der Decke befestigter Haken oder Stangen aufzuhängen und sodann mit Gegenständen stundenlang auf alle Bereiche des Körpers zu schlagen.39 Opfer waren nach dem humanitären Völkerrecht zu schützende Personen40 jeden Alters, auch Kinder41, Jugendliche und Greise, zuweilen sollten mit der Tat Geständnisse oder Aussagen zu anderen gegnerischen Personen erzwungen werden oder sie diente der Bestrafung, der Abschreckung und Einschüchterung. c) Durch das Eingliedern von Kindern in bewaffnete Gruppen, § 8 Abs. 1 Nr. 5 VStGB In einem Fall wird gegen eine aus Deutschland stammende und nach Syrien ausgereiste Beschuldigte ermittelt wegen des bewussten Verbringens des eigenen, im Tatzeitraum sechs oder sieben Jahre alten Kindes42 in ein militärisches Ausbildungslager des IS. Es soll dort im Umgang mit Waffen unterwiesen worden sein sowie ein körperliches Training erhalten und Wachdienste geleistet haben.43 Dies erfüllt ein Eingliedern im Sinne der Variante 2, worunter der natürlichen Wortbedeutung folgend jede Aufnahme in eine bewaffnete Einheit zu verstehen ist. Dies ergibt sich auch aus Art. 8 Abs. 2 lit. e sublit. vii IStGH-Statut, dessen Begriff „enlisting“ ebenfalls nichts weiter als die faktische Aufnahme verlangt.44 Anders als bei der Zwangsverpflichtung setzt das Eingliedern einen entgegenstehenden Willen des Kindes nicht voraus.45 Für die Verwirklichung der Variante 2 bedarf es auch keiner aktiven
37 Vgl. Presserklärungen des GBA Nr. 64/2018 und Nr. 28/2019; OLG Düsseldorf, Urteil vom 24. 9. 2018, Az. III-5 StS 3/16, dort S. 26, 29/30, 33/34, 38; OLG Stuttgart, Urteil vom 4. 4. 2019, Az. 3 – 3 StE 5/18 (juris); siehe auch MüKo-StGB-Werle, VStGB § 7 Rn. 75. 38 Hierzu oben unter II.2. 39 Siehe Presseerklärung des GBA Nr. 39/2018. 40 Vgl. oben unter II.3.a). 41 Hierzu Presserklärung des GBA Nr. 48/2019. 42 Nach dem eindeutigen Wortsinn und im Hinblick auf den umfassenden Schutz von Kindern vor einer Rekrutierung ist Nr. 5 nicht auf nach dem humanitären Völkerrecht zu schützende Personen im Sinne von § 8 Abs. 6 VStGB beschränkt. 43 Hierzu Presserklärung des GBA Nr. 49/2019; BGH, Ermittlungsrichter, Beschluss vom 28. 5. 2019, Az. 2 BGs 236/19 (juris), Rn. 33 – 39. 44 Ebenso P. Suarez, Kindersoldaten und Völkerstrafrecht, 2009, S. 137. 45 Siehe P. Suarez, Kindersoldaten und Völkerstrafrecht, 2009, S. 136.
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Teilnahme an Feindseligkeiten.46 Für die Tatbestandsverwirklichung durch die beschuldigte Mutter kommt es zudem nicht darauf an, ob und in welcher Position sie zur Tatzeit dem IS angehörte. Denn die Vorschrift setzt keine Verbindung des Täters zu einer Konfliktpartei voraus, der Täter kann also auch eine Zivilperson sein, weil der Schutzzweck der Norm stets berührt ist, wenn die spezifische Gefährdungssituation des bewaffneten Konflikts die Tat ermöglicht oder erleichtert.47 d) Durch entwürdigende oder erniedrigende Behandlung, § 8 Abs. 1 Nr. 9 VStGB Im syrischen Bürgerkrieg wurde dieser mit der geringsten Strafandrohung des Abs. 1 versehene Tatbestand erstmals in den Blick genommen durch das „Posen“ und sich mit abgetrennten und auf Stangen aufgespießten Köpfen fotografieren lassen. Da auch feindliche Kämpfer, die „hors de combat“, d. h. außer Gefecht gesetzt sind, unter § 8 Abs. 6 Nrn. 2 und 3 VStGB fallen, stellte sich die Frage, ob der Schutz noch für getötete Personen nach ihrer Tötung gelte, auch wenn sich die Identität der Toten im Strafverfahren nicht ermitteln lässt. Die Rechtsprechung hat dies bejaht, die Vorschrift diene auch der Totenehre bzw. der über den Tod hinaus fortwirkenden Würde des Menschen.48 Für ein Behandeln im Sinne der Nr. 9 ist es nicht erforderlich, dass der Täter auf den Betroffenen psychisch einwirkt, ausreichend ist, wenn der Betroffene der Lächerlichkeit und Verachtung preisgegeben und der soziale Wertund Achtungsanspruch missachtet wird. Dies ist schwerwiegend, wenn das Verhalten des Täters aus der Perspektive eines objektiven Beobachters unter Berücksichtigung des kulturellen Hintergrundes des Opfers grauenhaft oder grauenerregend erscheint, etwa weil der Täter mit dem „In Szene setzen“ zum Ausdruck bringen will, sich mit den als bloße Trophäen dienenden Köpfen zu schmücken. Weitere Anwendungsfälle (auch außerhalb Syriens) sind etwa das Verhöhnen und Beleidigen eines Gefangenen kurz vor der Hinrichtung („du Hund“, du „Hundesohn“ zugleich mit einem Bespucken)49 oder das Verstümmeln der Leiche durch das Abtrennen von Gliedmaßen und anderen Körperteilen wie Nase oder Ohren. Gleiches gilt aber auch, wenn der Leichnam eines getöteten Gegners auf dem Heck eines Fahr46 Für die parallel gefasste Vorschrift des Art. 8 Abs. 2 lit. e sublit. vii IStGH-Statuts Ambos, ZIS 2012, 313 (325 f.); insgesamt auch P. Suarez, Kindersoldaten und Völkerstrafrecht, 2009, S. 138. Sollte das Kind zu Wachdiensten im Zusammenhang mit aktiven Feindseligkeiten herangezogen worden sein, wäre zusätzlich das Kriegsverbrechen des Einsatzes von Kindersoldaten nach § 8 Abs. 1 Nr. 5 Var. 3 VStGB erfüllt. 47 Vgl. auch P. Suarez, Kindersoldaten und Völkerstrafrecht, 2009, S. 169. 48 So BGH, NJW 2016, 3604, 3606; 2017, 3667, 3668/3669, unter ausdrücklichem Verweis auf Art. 8 Abs. 2 lit. b (xxi) und lit. c (ii) IStGH-Statut sowie den Willen des Gesetzgebers in BT-Drs. 14/8524, S. 28.; ebenso bereits die Vorinstanz OLG Frankfurt, Urteil vom 12. 7. 2016, Az. 5 – 3 StE 2/16 – 4 – 1/16, dort S. 46 ff., sowie KG, Urteil vom 1. 3. 2017, Az. (2 A) 172 OJs 26/16 (3/16) (juris), Rn. 69 ff.; OLG Stuttgart, Urteil vom 11. 1. 2018, Az. 6 – 32 OJs 9/17 (juris), Rn. 85 – 87. 49 Zum Sachverhalt Presserklärung des GBA Nr. 49/2018.
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zeuges abgelegt und mehrere Minuten lang im Schritttempo „trophäenartig“ vor den Augen der am Straßenrand stehenden Zivilbevölkerung durch ein Dorf gefahren, dabei gleichzeitig beschimpft und verhöhnt („Esel“) sowie schlussendlich wie ein „erlegtes Tier“ an einem Zaun mit einem Seil um den Hals öffentlich aufgehängt wird, zumal wenn das Geschehen zum Zwecke der Verbreitung gefilmt wird.50 Täter waren sowohl Kämpfer von terroristischen Gruppierungen als auch Regierungssoldaten. e) Durch Versklavung Anders als bei den Verbrechen gegen die Menschlichkeit in § 7 Abs. 1 Nr. 3 VStGB ist bei den Kriegsverbrechen gegen die Person in § 8 VStGB die bloße Versklavung eines Menschen, also das Anmaßen eines Eigentumsrechts und dessen wirtschaftliche Ausnutzung51, nicht aufgeführt. Entsprechende Ermittlungen werden vom GBA daher unter anderem (auch) wegen Menschenhandels und Freiheitsberaubung geführt.52 In der Regel handelt es sich bei den Beschuldigten um IS-Kämpfer und ihre Ehefrauen, bei den Opfern um jesidische Mädchen und Frauen, die als Hausarbeits- und/oder als Sexsklavinnen53 behandelt wurden. Es ist bekannt, dass der IS in größeren Städten im Irak und in Syrien „Sklavenmärkte“ betrieben und die Versklavung der Jesiden mit religiösen Rechtsgutachten zu rechtfertigen suchte. 4. Kriegsverbrechen gegen Eigentum, § 9 VStGB Bedeutung erlangten Kriegsverbrechen gegen Eigentum in der Verfolgungspraxis des GBA vor allem in einer Vielzahl von Ermittlungen vor allem gegen sogenannte Frauen im IS, also gegen aus Deutschland in das damalige Herrschaftsgebiet des IS ausgereiste Frauen und weibliche Jugendliche. Weil sich die mitgliedschaftliche Eingliederung und Betätigung in der ausländischen terroristischen Vereinigung IS, etwa als Mitglied der Religions- oder Sittenpolizei oder durch das Besitzen und Tragen von (Kriegs-)Waffen, nicht immer nachweisen ließ, wurde das Beziehen von Wohnungen und Häusern, die IS-Kämpfern und ihren Frauen vom IS zugewiesen wurden, damit sie in dessen Herrschaftsgebiet lebten, nutzbar gemacht; stellt dies doch ein völkerrechtswidriges Aneignen von Sachen der gegnerischen Partei im Sinne des § 9 Abs. 1 VStGB dar.54 Die Wohnungen und Häuser waren von den rechtmäßigen 50 Hierzu Presseerklärung des GBA Nr. 15/2019; ebenso OLG München, Urteil vom 26. 7. 2019, Az. 8 St 5/19, S. 53. 51 Etwa MüKo-StGB-Werle, VStGB § 7 Rn. 58. 52 Siehe Presserklärungen des GBA Nr. 20/2019 und Nr. 48/2019. 53 Dann ist aber zugleich auch § 8 Abs. 1 Nr. 4 VStGB erfüllt. 54 Zu entsprechenden Sachverhalten Presserklärungen des GBA Nr. 18/2019 und Nr. 20/ 2019; wie hier BGH, Beschlüsse vom 4. 4. 2019, Az. AK 12/19 (juris), Rn. 32 ff., sowie vom 15. 5. 2019, Az. AK 22/19 (juris), Rn. 28/29; BGH, Ermittlungsrichter, Beschlüsse vom 8. 8. 2018, Az. 4 BGs 165/18, vom 4. 10. 2018, Az. 4 BGs 195/18 und Az. 4 BGs 196/18, vom 5. 10.
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Eigentümern oder Berechtigten zurückgelassen worden, als sie vor den heranrückenden Truppen des IS flohen oder von diesen vertrieben wurden. Der IS stellte diese Häuser und Wohnungen unter seine Verwaltung und teilte sie sowie weitere Einrichtungsgegenstände wie Waschmaschinen, Herde, Teppiche seinen Anhängern als Kriegsbeute zu. Zwar enthält das Rom-Statut des IStGH keine Definition des Begriffs „Aneignen“, da sich die Staaten, die an den Verhandlungen des Statuts beteiligt waren, nicht auf eine einheitliche Definition einigen konnten. Grund waren die unterschiedlichen Aneignungskonzepte in den verschiedenen nationalen Strafrechtsordnungen. Nach Sinn und Zweck der Vorschrift liegt eine Aneignung aber in der – unter Umständen auch erneuten – Inbesitznahme und dem Entzug einer Sache gegen oder ohne den Willen des Berechtigten für einen nicht unerheblichen Zeitraum vor.55 Dabei ist es nicht erforderlich, dass der Täter die Sache dauerhaft in sein Vermögen überführen will. Dies gilt auch für unbewegliche Sachen.56 Es wird auch keine Anwesenheit des Berechtigten oder dessen unmittelbare Verfügungsgewalt vorausgesetzt. Gerade aus seiner Abwesenheit kann auf das fehlende Einverständnis des Berechtigten geschlossen werden. Eine Aneignung ist auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil sich vorher bereits ein anderer, etwa der IS, die Objekte angeeignet hatte. Es würde dem Schutzzweck zuwiderlaufen, wenn eine Aneignung ausgeschlossen wäre, nur weil das Objekt bereits vorher durch eine andere Person angeeignet wurde. Der GBA konnte sich mit dieser nun auch in der aktuellen Rechtsprechung anerkannten Auslegung auf internationale Rechtsprechung aus der Vergangenheit, etwa in den Nürnberger Prozessen57 oder durch den Jugoslawienstrafgerichtshof58 stützen. Häuser und Wohnungen sind auch Sachen in erheblichem Umfang, weil sie zu den existenziellen Lebensgrundlagen gehören und einen vergleichsweise hohen Wert haben, so dass nicht mehr von Bagatellfällen ausgegangen werden kann. 5. Kriegsverbrechen gegen humanitäre Missionen, § 10 VStGB Zur Anwendung kam § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VStGB unter anderem bei der Beteiligung an der Entführung und Gefangennahme sowie Bewachung eines zivilen (aus2018, Az. 4 BGs 199/18, vom 30. 11. 2018, Az. 4 BGs 259/18 und Az. 4 BGs 260/18, vom 13. 4. 2019, Az. 2 BGs 164/19, sowie vom 19. 7. 2019, Az. 2 BGs 492/19. 55 Vgl. MüKo-StGB-Ambos, VStGB § 9 Rn. 9. 56 So IStGH, TC III, 21. 3. 2016, Az. ICC-01/05 – 01/08 (Bemba gombo), para. 115/116. 57 Urteil des amerikanischen Militärgerichtshofs vom 22. 12. 1947 gegen Friedrich Flick, da er am 15.12. 1942 eine Vereinbarung mit einem von der Wehrmacht bestellten öffentlichen Verwalter geschlossen hatte, mit der er eine in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten gelegene und zuvor unter öffentliche Verwaltung gestellte Fabrik übernahm. Ebenso Urteil des amerikanischen Militärgerichts vom 31. 7. 1948 gegen Alfried Krupp von Bohlen und Halbach zu einem ähnlichen Sachverhalt. 58 Urteil vom 29. 5. 2013, Az. IT-04 – 74-T (Prilc u. a.), Volume 3 of 6, para. 1632 ff., soweit Wohnungen vertriebener bosnischer Muslime kroatischen Soldaten zur Verfügung gestellt worden waren.
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ländischen) Mitarbeiters der Vereinten Nationen in Syrien, welcher der auf den Golanhöhen stationierten United Nations Disengagement Observer Force angehörte, durch einen Angehörigen einer Rebellengruppe. Der Tatbestand war auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil die Fahrt, während der der VN-Mitarbeiter gefangen genommen wurde, weitgehend privaten Zwecken, nämlich einem Arztbesuch, diente; denn er und der PKW waren mit Schildern mit dem Aufdruck UN gekennzeichnet. Der Beschuldigte handelte, obwohl nur einfaches Mitglied der Gruppierung, täterschaftlich und nicht nur als Gehilfe. Die Gruppierung hatte Lösegeldforderungen an die Vereinten Nationen, die Regierung des Staates, dessen Nationalität der Gefangene war, sowie an dessen Familie gerichtet.59 Der BGH hat mittlerweile entschieden, dass der Begriff des Angriffs im Sinne des § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VStGB weit auszulegen ist und jede Art der Gewaltanwendung unabhängig von der Art der verwendeten Waffen erfasst; zu den typischen Angriffsformen gehören Nötigungen, Einschüchterungen, bewaffneter Raub, Entführungen, Geiselnahmen, Drangsalierungen, widerrechtliche Festnahmen und Inhaftierungen sowie Akte der Zerstörung und Plünderung des Eigentums humanitärer Missionen.60
III. Austausch und Zusammenarbeit Seit dem Inkrafttreten des VStGB hat der GBA rund 200 entsprechende Ermittlungsverfahren eingeleitet und darüber hinaus mehrere hunderte Sachverhalte auf eine völkerstrafrechtliche Relevanz hin überprüft. Im Jahr 2009 war ein eigenes Ermittlungsreferat nur für VStGB-Verstöße eingerichtet worden, dem damals drei Staatsanwälte angehörten; inzwischen bestehen zwei Ermittlungsreferate mit insgesamt 12 Staatsanwältinnen und Staatsanwälten, Tendenz steigend. Zudem werden entsprechende Ermittlungen auch in einzelnen Ermittlungsreferaten der Terrorismusabteilung geführt, wenn der Schwerpunkt aller strafrechtlichen Vorwürfe die mitgliedschaftliche Betätigung in einer ausländischen terroristischen Vereinigung betrifft.61 Die internationale Zusammenarbeit ist eng und intensiv, sei es zum allgemeinen Informationsaustausch in Netzwerken (etwa dem Genocide Network bei EUROJUST), auch mit Nichtregierungsorganisationen, und mit den internationalen Gerichten, sei es im Rahmen von konkreten Ermittlungen über die bilaterale Rechtshilfe in Strafsachen und/oder Joint Investigation Teams (etwa mit der französischen Antiterrorismus-Staatsanwaltschaft in Paris zu syrischen Regimeverbrechen62) oder sei es 59 Zum Sachverhalt Presserklärung des GBA Nr. 37/2016 sowie BGH, Urteil vom 23. 8. 2018, Az. 3 StR 149/18 (juris), Rn. 2 ff. und OLG Stuttgart, Urteil vom 23. 1. 2019, Az. 6 – 3 StE 5/16 (juris). 60 Vgl. BGH, Urteil vom 23. 8. 2018, Az. 3 StR 149/18 (juris), Rn. 23. 61 Zum Zusammenhang von Terrorismus und Völkerstrafrecht Frank/Schneider-Glockzin, NStZ 2017, 1, 2 ff. 62 Vgl. Presseerklärung des GBA Nr. 8/2019.
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mit UN-Institutionen wie IIIM und UNITAD. Dies ist auch zwingend notwendig, um dem Anspruch, Deutschland und die EU nicht zu einem „sicheren Hafen“ für Täter völkerstrafrechtlicher Verbrechen werden zu lassen, dauerhaft gerecht zu werden. Stellt die Beweisgewinnung zu Sachverhalten in (Bürger-)Kriegsgebieten die Ermittler, GBA und auf polizeilicher Seite im Wesentlichen die Zentralstelle für die Bekämpfung von Kriegsverbrechen im Bundeskriminalamt, doch immer aufs Neue vor große Herausforderungen. Gerade hier können Nichtregierungsorganisationen wichtige Ansprechpartner sein, um Zugang zu potentiellen Zeugen zu gewinnen. Obgleich das deutsche Völkerstrafrecht ein immer noch recht junges Rechtsgebiet ist, wurde bereits Vieles erreicht. Zu verdanken ist dies auch einer kraftvollen akademischen Begleitung der Strafverfolgung, zumal in der Zusammenschau mit internationalem und ausländischem Recht sowie mit den rechtsstaatlichen Anforderungen wirksamer Terrorismusbekämpfung. Hierin hat sich der Jubilar bleibende Verdienste erworben.
Zur Vorgeschichte des Europäischen Strafrechts Von Martin Heger
I. Zum Thema Der hier zu ehrende Jubilar hat sich nicht nur seit Anfang der 1990er Jahre vehement für die Entwicklung eines Europäischen Strafrechts nicht nur in der Theorie und mit Blick auf die Praxis und – besonders wichtig – die legislatorische Umsetzung eingesetzt, sondern dieses Gebiet auch im Arbeitsprogramm für sein Direktorat am Freiburger Max-Planck-Institut ausgebreitet.1 Seine Ära war – das darf man sicher schon heute rückblickend so sagen – in ganz besonderem Maße mit dem Europäischen Strafrecht bzw. der Europäisierung des Strafrechts verbunden.2 Weder vor noch nach ihm hat das Europäische Strafrecht eine auch nur annähernd vergleichbare Rolle gespielt. Dies hat nicht nur Niederschlag in längeren Aufsätzen gefunden, sondern auch im ersten großen Buch zu diesem Thema, dem von ihm mitherausgegebenen und mitverfassten und 2011 in erster Auflage erschienenen „Europäischen Strafrecht“.3 Im Unterschied zu den vorausgegangenen und nachfolgend erschienenen Lehrbüchern zum Europäischen und Internationalen Strafrecht, aber auch zu dem wenig später im gleichen Verlag herausgekommenen 9. Band der Enzyklopädie des Europarechts, der sich ebenfalls dem Strafrecht widmet (demnächst in 2. Aufl. als Band 11), nutzt Ulrich Sieber die Gunst der mehr als 1.000 Seiten dazu, in seinem einleitenden Beitrag auch etwas länger die geschichtliche „Entwicklung der europäischen Strafrechtsintegration“ bis zu der heute allgemein konstatierten Europäisierung des Strafrechts nachzuzeichnen.4 Daran anknüpfend soll im folgenden Beitrag auf diese Vorgeschichte des Europäischen Strafrechts im heutigen Sinne – und das heißt eben nicht allein auf eine vergleichende Darstellung der Strafrechtsordnungen in Europa, soweit diese nicht (wie besonders nachdrücklich eben auch von Ulrich Sieber) in horizontaler wie vertikaler 1
Vgl. nur Sieber, ZStW 119 (2007), 1 ff. Dafür exemplarisch sein Vortrag auf der Bochumer Strafrechtslehrertagung (vgl. Sieber, ZStW 103 [1991], 957 ff.) und ausf. ders. (Hrsg.), Europäische Einigung und Europäisches Strafrecht, 1993, sowie für seine Amtszeit als MPI-Direktor ders., ZStW 121 (2009), 1 ff. 3 Inzwischen Sieber/Satzger/v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, 2. Aufl. 2014. 4 Sieber, in: ders./Satzger/v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht (Fn. 3), Einführung Rn. 13 ff. 2
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Ebene als Grundlage einer Europäisierung des Strafrechts (bzw. vielleicht auch als eine Markierung der Grenzen noch denkbarer Harmonisierung) genommen werden soll – zurückgekommen werden. Anknüpfen kann dies an den Beginn seines Vortrags auf der Bochumer Strafrechtslehrertagung 1991 – kurz nach dem Beschluss zur Etablierung eines echten Europäischen Binnenmarktes mit der Einheitlichen Europäischen Akte (1987) und unmittelbar vor dem Ausbau der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu einer politischen Union mit dem Vertrag von Maastricht (1992), in welchem er selbst – den Berliner Kriminalwissenschaftler Albert Berner5 zitierend – auf die gemeinrechtliche Herkunft des deutschen Strafrechts rekurriert.6 Dahinter steht die Überlegung, dass die Rechtswissenschaft, wie sie sich seit dem Hochmittelalter in Europa (wieder) entwickelt hat, in ihrem Ansatz zunächst nicht national, sondern vielmehr – gerade auch wegen des Römischen Rechts als ihr juristischer Kernbestand – transnational gedacht war. Innerhalb des Corpus iuris des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit spielte das Strafrecht eher eine untergeordnete Rolle; ganz dominierend war demgegenüber das Zivilrecht. Heute besteht Einigkeit, dass die damals stattfindende Rezeption des Römischen Rechts weniger eine schlichte Übernahme römischrechtlicher Rechtssätze des (dann vor allem Privat-)Rechts als vielmehr die Etablierung einer wissenschaftlichen Methode darstellte. In diesem Sinne erfasste die Rezeption auch Rechtsgebiete, die sich – wie etwa das Lehnsrecht – überhaupt erst im Laufe des Mittelalters ausgebildet haben und die deshalb in der Kompilation Justinians aus dem 6. Jahrhundert noch keinerlei Raum eingenommen hatten.7 Unter dem Eindruck der an der Rezeption geschulten Juristen wurde dann auch das frühneuzeitliche Strafrecht ausgehend von italienischen Vorbildern nach dem mos italicus europaweit nachgebildet. So war in Deutschland die Peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser Karl V. („Constitutio Criminalis Carolina“) von 1532 nicht bloß die erste reichsweite Kodifikation des Strafrechts, sondern zugleich inhaltlich weitgehend eine Übernahme italienischer Vorarbeiten mitsamt einer Übernahme der Methoden (straf)rechtswissenschaftlicher Bearbeitung.8 In diesem Sinne ist heute umgekehrt von einer Rezeption des deutschen Strafrechts etwa in Japan die Rede; es geht nicht primär um die Übernahme konkreter einzelner Rechtssätze, sondern vielmehr um eine Übernahme der wissenschaftlichen Methoden beim Umgang mit dem jeweiligen Strafrecht. Die auf gemeinsamer Grundlage erfolgte Verwissenschaftlichung ermöglichte es den frühneuzeitlichen Kriminalisten, sich in Latein über die Fragen des Strafrechts ihrer Zeit auszutauschen, ebenso wie es – wie es Makoto Ida vor drei Jahren treffend ausgedrückt hat – heute Strafrechtlern etwa aus Japan, Polen und Taiwan möglich macht, sich in Deutsch und in Anlehnung an die deutsche Strafrechtsdoktrin über grundlegende Fragen des Straf5 Zu diesem Jeßberger, in: Grundmann u. a. (Hrsg.), FS 200 Jahre Jur. Fak. der HU, 2010, S. 261 ff. 6 Sieber, ZStW 103 (1991), 957. 7 Vgl. nur Heger, ZJS 2010, 29 f. 8 Dazu näher D. Bock, ZIS 2006, 7 ff.
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rechtssystems ihrer Länder auszutauschen.9 Dabei geht es freilich um das jeweils nationale, nicht auch um ein in irgendeiner Weise transnationales Strafrecht.
II. Das Strafrecht in (Mittel-)Europa zwischen Territorialisierung, Nationalisierung und Europäisierung Das Europäische Strafrecht, wie wir es heute kennen und nicht nur an deutschen Juristenfakultäten lehren, ist – bedenkt man, dass Rechtswissenschaften in Europa seit dem 12. Jahrhundert an Universitäten (zuerst in Bologna) gelehrt worden sind10 – noch ein ziemlich junges Fach, an dessen Anfängen gerade auch der Jubilar aktiv beteiligt war.11 Als akademische Disziplin ist es erst Ende des 20. Jahrhunderts in der Forschung nachweisbar12 und im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts dann auch in der Lehre zusehends sichtbar geworden.13 Während das Öffentliche Recht schon seit Jahrhunderten auch einen internationalen Seitenstrang – das ius publicum bzw. Völkerrecht14 – sein eigen nennt15 und in diesem Fachgebiet auch zuerst eine Öffnung zum Europarecht eingesetzt hat, umfasste das Zivilrecht schon seit jeher auch Regelungen für den grenzüberschreitenden Wirtschafts- und Rechtsverkehr sowie zum Internationalen Privatrecht; von einem eigenständigen Europäischen Privatrecht ist dann ab den 1980er Jahren die Rede.16 Dagegen war (und ist) das Strafrecht in der öffentlichen wie fachinternen Wahrnehmung nicht nur hierzulande das 9
Ida, GA 2017, 419 ff. Vgl. nur Schlosser, Europäische Rechtsgeschichte, 3. Aufl. 2017, 3. Kap. III. 11 Sieber, ZStW 103 (1991), 957 ff. 12 Neben den Beiträgen von Sieber zu nennen sind etwa Oehler, Internationales Strafrecht, 2. Aufl. 1983, sowie Dannecker, Strafrecht der Europäischen Gemeinschaft, 1995, und Zuleeg, JZ 1992, 761 ff. Größere Monographien zu Einzel- bzw. Grundfragen des Europäischen Strafrechts erschienen dann erst Anfang des 21. Jahrhunderts, namentlich in Form der Habilitationsschriften von Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, 2001; Hecker, Strafbare Produktwerbung im Lichte des Gemeinschaftsrechts, 2001; Schröder, Europäische Richtlinien und nationales Strafrecht, 2002 und Braum, Europäische Strafgesetzlichkeit, 2003. 13 Neben dem gesteigerten Forschungsinteresse an dieser Materie ist der Zuwachs an Bedeutung in der Lehre vor allem auf die Einführung des universitären Schwerpunktstudiums zurückzuführen; parallel dazu erschienen auch die ersten Lehrbücher von Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 2005; Hecker, Europäisches Strafrecht, 2005 und Ambos, Internationales Strafrecht, 2006. Dass es heute – 15 Jahre später – von allen diesen Werken neue Auflagen gibt und eine Anzahl weiterer Lehrwerke dazugekommen ist (z. B. Safferling, Internationales Strafrecht, 2011; Esser, Internationales und Europäisches Strafrecht, 3. Aufl. 2018; Jähnke/Schramm, Europäisches Strafrecht, 2017) zeugt vom Bedeutungszuwachs dieses Fachgebiets im Jurastudium. 14 Dazu Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, 2007; Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 2. Aufl. 1988. 15 Wenngleich noch vor einem Jahrhundert der Strafrechtler Franz von Liszt das damals wirkmächtigste deutschsprachige Lehrbuch zum Völkerstrafrecht verfasst hat. 16 Exemplarisch hierfür mag die Gründung der Zeitschriften für Europäisches Wirtschaftsrecht (EuZW) 1990 und Europäisches Privatrecht (ZEuP) 1993 genommen werden. 10
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bis heute wohl am stärksten mit „seinem“ jeweiligen Land verbundene Rechtsgebiet, was sich auch darin immer wieder zeigt, dass innerhalb der Strafrechtswissenschaft die Befassung vor allem mit der Europäisierung des Strafrechts bis heute vor dem Hintergrund der in den einzelnen Ländern jeweils bewährten traditionellen (Straf-)Rechtskultur wohl weit kritischer gesehen wird, als etwa innerhalb des Zivil- und Wirtschaftsrechts eine Orientierung hin zu einem Europäischen Privatrecht. Vorliegend geht es daher um einen Überblick über Entnationalisierungs- bzw. Entstaatlichungstendenzen im Strafrecht in Europa in der Neuzeit in Abgrenzung zu den für das staatliche Strafrecht bis heute prägenden Nationalisierungstendenzen. Die öffentliche Sichtbarkeit eines „Europäischen Strafrechts“ als Lehr- und Forschungsgegenstand ist dabei ihrerseits – wie bereits die akademische Befassung mit den wieder entdeckten Digesten des oströmischen Kaisers Justinian17 seit dem Hochmittelalter18 – im 21. Jahrhundert ein gemeineuropäisches Phänomen geworden, das parallel in einigen Ländern Mitteleuropas seinen Ausgang genommen und weitere Verbreitung gefunden hat.19 Das EU-weit wohl erste Lehrwerk zu diesem Gebiet, verfasst von dem Franzosen Pradel und dem Niederländer Corstens, erschien zuerst auf Französisch20 und dann in englischer Übersetzung. Ein erstes umfassendes Werk zum europäischen Strafprozessrecht wurde von dem Italiener Kostoris zunächst auf Italienisch21 und später auf Englisch publiziert. Räumlich soll vorliegend der Fokus auf Mitteleuropa gelegt werden; dafür spricht nicht nur der genius loci des Jubilars und seines Freiburger MPI, sondern auch der Umstand, dass schon das Hl. Römische Reich deutscher Nation das Zentrum Europas besetzte, wobei von dort aus territoriale wie politische Bezüge zu Westeuropa (vor allem Frankreich und dem heutigen Benelux-Raum), zu Südeuropa und dem Mittelmeerraum (Italien, Balkan) und nach Osteuropa (Preußen, Polen, Ungarn, Böhmen und Mähren) und damit auch eine Grenzregion zum Osmanischen Reich bestanden hat22 Auch die Diskussionen um eine Strafrechtsangleichung im Ersten Weltkrieg beschränkte sich erneut auf die Mittelmächte; innerhalb der diese umschließenden Entente-Mächte gab es solche Überlegungen dagegen nicht. Der Fokus auf das heutige Mitteleuropa spiegelt obendrein wider, dass gerade hier – in Frankreich, Italien, (West-)Deutschland und den Benelux-Staaten – mit den Europäischen Gemeinschaften ab der Montan-Union von 1952 auch der Nukleus für die heutige Europäische 17
Dazu vgl. nur Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, 4. Aufl. 2004, Rn. 350 ff. Vgl. dazu nur Stein, Das Römische Recht und Europa, 1996. 19 Neben (und zeitlich teilweise vor) Deutschland zu nennen sind Frankreich und die Benelux-Staaten (Pradel/Corstens, Klip) sowie auch Großbritannien (Fletcher/Lööf/Gilmore). 20 Pradel/Corstens, Droit pénal européan, 3. Aufl. 2009. 21 Kostoris, Manuale di procedura penale europea, 2014. 22 Sieber, Einführung (Fn. 4), Rn. 20 ff. beginnt zwar auch mit Hl. Römischen Reich und der Habsburgermonarchie, unterscheidet dann aber West-, Süd- und Südwest-, Nord- und Südosteuropa. 18
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Union gelegt worden ist, welche seit der Etablierung der dritten Säule der gemeinsamen Innen- und Rechtspolitik im Vertrag von Maastricht auch der Hauptakteur einer Europäisierung des Strafrechts geworden ist. Dem Vertrag von Maastricht kommt damit auch eine zeitliche Zäsur zu, denn bis dahin erfolgte eine Beeinflussung der nationalen Kriminaljustizsysteme der Mitgliedstaaten der EWG allenfalls indirekt, indem etwa aus den Grundfreiheiten des (damaligen) EWGV Grenzen für eine Durchsetzung der mitgliedstaatlichen Strafnormen abgeleitet werden konnten. Beginnen soll der kurze Durchmarsch durch das Strafrecht Mitteleuropas mit der Wende zur Neuzeit; das am Ausgang des Mittelalters fixierte Gewaltmonopol der sich bildenden Territorialstaaten sowie deren bald folgender Anspruch auf Souveränität innerhalb des Territoriums, das Nebeneinander subsidiär geltender gemeineuropäischer Rechtsquellen und regionaler Statuten, aber auch erste Ansätze einer Nationalstaatsbildung (nicht im Reich, wohl aber etwa in Frankreich) hatten für die Entstehung eines „öffentlichen Strafrechts“ grundlegende Folgen.23 Die Wirkmächtigkeit einer Rechts- als Friedensordnung ist vor einigen Jahren in wissenschaftlichen Debatten zur Europäisierung des Strafrechts wieder aufgegriffen worden. Jürgen Meyer24, als Bundestagsabgeordneter einer der deutschen Vertreter in den Konventen zur Schaffung der Grundrechte-Charta und einer EU-Verfassung, äußerte auf der Strafrechtslehrertagung 2005 in Frankfurt (Oder), dass hinter der seit dem Vertrag von Maastricht immer wieder bemühten Beschreibung des EU-Binnenraums als eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – im Lichte bereits der Ideen von Justinian – vor allem die Klassifizierung als ein Raum des Friedens stehe;25 Recht soll an die Stelle von Gewalt treten und damit die Europäische Union auch im Inneren – und nicht nur an den Außengrenzen – zu einem Raum des Friedens machen. Für das neuzeitliche Strafrecht war diese Idee von überragender Bedeutung, fiel doch nun den Territorialherren das Recht wie die Pflicht zu, für ihr jeweiliges Territorium Regelungen zum Strafrecht und zum Strafverfahrensrechts zu treffen bzw. subsidiär geltende gemeinrechtliche Regelungen (wie die Carolina) anzuwenden; zur Durchsetzung ihres Strafanspruchs hatten sie Strafgerichte einzurichten. Dass gerade auf dem Gebiet des Strafrechts und Strafprozessrechts selbst bei einem Rückgriff auf die subsidiär geltende Carolina eine weitgehende Abschottung gegenüber einer überterritorialen Beeinflussung erfolgte, zeigt schon der Umstand, dass für das Gebiet des Strafrechts die ansonsten grundsätzlich zulässige Appellation zum in der Folge des Wormser Reichstag von 1495 etablierten Reichskammergericht generell ausgeschlossen war. Eine vergleichbare Situation ergibt sich im Übrigen bis 23
hier.
Auch Sieber, Einführung (Fn. 4), Rn. 13 ff., beginnt seinen historischen Rückblick daher
24 Seinerseits langjähriger Mitarbeiter am Freiburger MPI und geehrt durch eine Festschrift zum 70. Geburtstag. 25 Vgl. den Diskussionsbericht von Heger, ZStW 117 (2005), 865 (866 f.).
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heute in Großbritannien, denn in Schottland gilt auch seit der Union mit England (und Wales) 1707 zwar grundsätzlich eigenständiges schottisches Recht; allerdings konnte schon wenige Jahre später in Zivilsachen gegen Urteile des schottischen Court of Sessions ein Rechtsmittel zum House of Lords in London eingelegt werden,26 während auf dem Gebiet des Strafrechts der 1672 in Edinburgh eingerichtete High Court of Justiciary bis heute die letzte Instanz in Schottland darstellt.27
III. Zum Gegenstand eines Europäischen Strafrechts Unter Europäischem Strafrecht versteht man dabei zumindest heutzutage nicht mehr so sehr die verschiedenen nationalen Strafrechtssysteme der europäischen Staaten, die man rechtsvergleichend auf gemeinsame Inhalte – und damit sozusagen ein gemeineuropäisches Strafrecht – durchsuchen könnte. Im Mittelpunkt steht vielmehr eine Annäherung bzw. Angleichung der mitgliedstaatlichen Kriminaljustizsysteme28 durch Maßnahmen auf supranationaler, intergouvernementaler oder internationaler Ebene, die gegenseitige Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen innerhalb der Europäischen Union, aber auch im Schengen-Raum (Art. 54 ff. SDÜ), die Schaffung gemeinsamer Strafverfolgungsorgane (wie derzeit schon das Europäische Juristische Netz, Europol und Eurojust sowie ab Ende 2020 darauf aufbauend eine Europäische Staatsanwaltschaft (EStA), schließlich – nach einer Änderung des EU-Primärrechts – möglicherweise auch europäische Strafgerichte29), die Assimilierung des strafrechtlichen Schutzes der Rechtsgüter von Mitgliedstaaten und Europäischer Union sowie eine einheitliche, unionsrechtskonforme Auslegung europäisier26
So bereits die Entscheidung Greenshields v Magistrates of Edinburgh (1710/11). Allerdings ist der 2009 für das Vereinigte Königreich eingerichtete UK Supreme Court u. a. zuständig für die Überprüfung der Einhaltung der Menschenrechte auch in Strafverfahren vor schottischen Gerichten und deshalb auch mit zwei (von zwölf) schottischen Richtern besetzt. Dabei agiert der UK Supreme Court allerdings nicht als oberstes Strafgericht für Schottland, sondern überprüft nur, ob das in Schottland abgeschlossene Strafverfahren den Maßstäben vor allem der EMRK genügt; so wurde eine Verurteilung in Schottland kassiert, weil dem Angeklagten kein faires Verfahren i.S. von Art. 6 Abs. 1 EMRK gewährt worden war (vgl. zu dem – insoweit – [Präzedenz-]Fall Nat Fraser www.bbc.co.uk/news/uk-scotland13554385 v. 17. 6. 2011). 28 Zu diesem Terminus Vogel, JZ 2004, 487 ff. 29 Immer wieder ist für die Einrichtung von Strafkammern an EuGH oder EuG plädiert worden (z. B. von Schomburg, NJW 2000, 1833 ff.); für eine in Anlehnung an den IStGH auf den Grundsatz der Komplementarität aufgebaute EU-Strafgerichtsbarkeit setzte sich ein Vogel, in: Heß (Hrsg.), Wandel der Rechtsordnung, 2003, S. 45, 61 ff. Wenigstens für einen Europäischen Ermittlungsrichter zur Überprüfung von Ermittlungsanordnungen tritt ein Böse, RW 2012,172 ff. – Aus meiner Sicht fehlt für solche Projekte derzeit freilich ein Kompetenztitel im EU-Primärrecht, der allerdings natürlich jederzeit durch die EU-Mitgliedstaaten „nachgeliefert“ werden könnte. Als Annex zur EStA erscheint es gewagt, zumal diese ausdrücklich auf nationale Strafgerichtsbarkeiten gestützt sein soll; aus der Natur der Sache ergäbe sich eine Kompetenz wohl nur, wenn es anderenfalls für Rechtsakte der EStA gar keinen Rechtsschutz geben könnte, doch bleiben ja insoweit immer die nationalen Instanzen. 27
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ter Straftatbestände in allen EU-Mitgliedstaaten in letzter Instanz garantiert durch die supranationale Gerichtsbarkeit des EuGH und abgesichert durch die in der Rechtsprechung des EGMR ausgeformten Verfahrensgarantien aus EMRK und GRCh.30 Damit verbunden sind auch die Wirkungen einer Europäisierung des, einer Strafnorm zugrundeliegenden, Primärrechts vor allem in grundsätzlich akzessorisch ausgestalteten Strafrechtsgebieten wie dem Wirtschafts- und Umweltstrafrecht. Hier geht es einerseits darum, ob europäische Weichenstellungen etwa im Verbraucherleitbild Einfluss auf ein nationales Tatbestandsmerkmal und damit die Frage der Weite (oder Enge) eines Straftatbestandes haben können – wie etwa die Täuschung beim Betrug zum Nachteil eines Verbrauchers31 – oder ob – wie im Bereich der Verwaltungsakzessorietät etwa im Umweltstrafrecht – auch Verwaltungsentscheidungen (Verbote, Erlaubnisse) anderer EU-Mitgliedstaaten Einfluss auf die Strafbarkeit nach nationalem (Umwelt-)Strafrecht in einem Staat haben können (dazu heute § 330d Abs. 2 StGB).
IV. Europäisierte Kriminaljustizsysteme als Antwort auf transnationale Kriminalität Dass es ein Bedürfnis für solche gemeinsamen Organe oder Instrumente (auch) auf dem Gebiet der Strafverfolgung in Europa gibt, resultiert vor allem daraus, dass Kriminalität in Europa heute in einigen Spielarten regelmäßig oder zumindest gelegentlich die Grenzen der bisherigen Nationalstaaten mit ihren durchweg ausgebauten nationalen Strafjustizsystemen übersteigt. Alle Spielarten eines Europäischen Strafrechts sind damit zuvörderst eine europaweite Antwort auf die Herausforderungen transnationaler Kriminalität, wie sie sich im Schengen-Raum und im Binnenmarkt in Ermangelung nationaler Grenzkontrollen besonders leicht ausbreiten kann. Dass diese für das traditionelle und das heißt eben auch nationale Strafrecht eine Herausforderung darstellt, ergibt sich vor allem aus den expliziten und immanenten Begrenzungen nationaler Strafgewalt – von der Strafrechtssetzung bis hin zu dessen Durchsetzung. 1. Grenzen des nationalen Strafrechts Die Strafrechtsordnungen der EU-Mitgliedstaaten haben sich vor allem seit der Ausbildung von Nationalstaaten im 19. Jahrhundert und der damit einhergehenden Verabschiedung von gemeineuropäischen Regelungssystemen ihrerseits nationalisiert. Zugunsten einer nationalen und landesweit einheitlich geltenden Strafrechtssetzung sind – wie noch zu zeigen sein wird – sowohl übernationale Kodizes (wie 30 31
Vgl. dazu auch Sieber, Einführung (Fn. 4), Rn. 2 ff. Vgl. BGH NJW 2014, 2595.
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die Carolina) als auch bloß partikulare oder gar lokale Strafrechtsstatuten zusehends in den Hintergrund getreten.32 Die Schaffung nationaler Strafrechtsordnungen war dabei sowohl im 19. als auch im 20. Jahrhundert ein typischer Ausdruck (wieder)gewonnener nationaler Staatlichkeit und Souveränität. So „gönnen“ sich die „zu spät gekommenen“ Nationalstaaten Deutschland und Italien unmittelbar oder nur wenige Jahre später nationale Strafgesetze. Das direkt nach der Gründung des Deutschen Reiches erlassene Strafgesetzbuch vom 15. 5. 1871 gilt formal, wenngleich inhaltlich weitgehend überarbeitet, bis heute fort und ist damit im rechtlichen Sinne gleichsam der „dienstälteste Begleiter“ des deutschen Nationalstaates. 2. Transnationale Kriminalität Dass die Europäisierung des Strafrechts vor allem innerhalb der Europäischen Union nicht so sehr auf eine Angleichung oder zumindest Annäherung von Strafnormen des klassisch nationalen Kernbestandes an Straftatbeständen zielten sollte, war wohl auch schon zwischen allen Beteiligten auf EU-Ebene wie in den Mitgliedstaaten konsentiert, als der Vertrag von Maastricht jedenfalls in Ansätzen eine Strafrechtsharmonisierung (mittels Beschlüssen der EU gemäß Art. K.3 Abs. 2 lit. b EUV) möglich machte und dann insbesondere mit dem Vertrag von Amsterdam zum 1. 5. 1999 eine Harmonisierung auf der Tagesordnung gestanden hat, ohne dass es allerdings zunächst eine explizite Beschränkung auf transnationale Sachverhalte nach dem Wortlaut der damaligen Art. 31, 34 EUV gegeben hat; eine solche ist allerdings mit Art. 83 Abs. 1 AEUV nachgeholt worden.33 Während mithin die nationalen Strafrechtskodifikationen als Ausdruck nationaler Gemeinsamkeit gerade auf eine nationale Vereinheitlichung des Kernbestandes an Straftatbeständen und Strafen sowie den für diese geltenden allgemeinen Regelungen gerichtet waren und sind, geht es dem Europäischen Strafrecht seit jeher nur um eine Füllung der bei der Schaffung nationaler „core crimes“ verbliebenen Lücken, die sich im strafrechtlichen Grenzverkehr als problematisch erweisen können; solche ergeben sich typischerweise beim Schutz supranationaler Rechtsgüter und den Institutionen sowie bei der Bekämpfung transnationaler Kriminalität. Mit einzelnen Formen transnationaler Kriminalität war freilich das Strafrecht lange vor der Etablierung von Harmonisierungsregeln im EU-Recht konfrontiert, sei es, dass eine Straftat im Zuge ihrer Begehung oder zumindest in ihren Auswir32
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind in den meisten deutschen Territorialstaaten sog. Partikularrechte erlassen worden (dazu Sieber, Einführung [Fn. 4], Rn. 26 f.), die mit der Reichsgründung 1871 gänzlich verschwinden sollten. Damit hat die Gründung eines deutschen Bundesstaates – wie es das Bismarckreich ja einer war – im Gegensatz etwa zu den USA, bei denen die hauptsächliche Strafrechtssetzungskompetenz den Bundesstaaten verblieben ist, gleichsam automatisch das Strafrecht – anders als das Zivilrecht, dessen reichsweite Kodifikation ja bekanntlich einer Verfassungsänderung bedurft hatte – zu einer Materie des Bundes gemacht. 33 Vgl. nur Heger, ZIS 2009, 406 (412).
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kungen (den tatbestandlichen Erfolgen) selbst die nationalen Grenzen überschreitet oder eben ein flüchtiger Straftäter – sei es als reisender Krimineller oder als krimineller Reisender;34 letzteres war in der Hochzeit der Nationalstaaten durch Grenzkontrollen tendenziell schwieriger als heute im Schengen-Raum, prägte aber zunächst die Kooperation der frühmodernen Territorialstaaten in Europa.
V. Grenzüberschreitende Kooperation bei der Strafverfolgung Grenzüberschreitende Rechtshilfe hat es daher im Strafrecht schon seit Jahrhunderten gegeben; so lehrte der „Vater des Völkerrechts“35 und Begründer des säkularen Naturrechts Hugo Grotius (1583 – 1645)36 bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts, Staaten, in die ein Verbrecher nach Tatbegehung geflüchtet war, seien verpflichtet entweder diesen auszuliefern oder selbst das Verbrechen strafrechtlich zu verfolgen („aut dedere aut iudicare“). Freilich galt die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen souveränen Staaten – wie eben die Auslieferung eines Tatverdächtigen an einen anderen Staat – nicht als Teil der Strafrechtspflege, sondern als Teil der Pflege der auswärtigen Angelegenheiten eines Staates.37 Die Letztentscheidung über die politische Bewilligung einer zuvor durch ein Gericht für zulässig erklärten außervertraglichen Auslieferung an einen Nicht-EU-Staat ist daher bis heute in Deutschland ein nicht justiziabler Akt der Außenpolitik, in den im Einzelfall auch genuin politische Erwägungen und Erwartungen einfließen können wie etwa die Hoffnung, der andere Staat werde in einer vergleichbaren Situation ebenfalls ausliefern. Die enge Verbindung von Rechtshilfe in Strafsachen mit der Außenpolitik hat sich erst in den letzten beiden Jahrzehnten und vor allem für den Bereich der Europäischen Union geändert: Die Auslieferung einer Person an einen anderen EU-Staat aufgrund eines Europäischen Haftbefehls ist eben nicht mehr ein primär (außen-)politischer Akt, sondern im Grundsatz heute eine (straf-)justizielle Entscheidung;38 dem folgt auf EU-Ebene die Terminologie, so dass im EU-Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl nicht mehr die Rede ist von „Auslieferung“ (engl. „extradition“), sondern von „Überstellung“ (engl. „surrender“).39
34
Dazu Heger, ZIS 2007, 547 (549). Hilgendorf, JuS 2008, 761 (764). 36 Zu diesem Kleinheyer/Schröder (Hrsg.), Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, 6. Aufl. 2017, S. 187 ff.; E. Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Aufl. 1963, S. 253 ff. 37 Vgl. BVerfGE 96, 100. 38 Vgl. Art. 2 des Rahmenbeschluss 2002/584/JI über den Europäischen Haftbefehl und dazu u. a. Heger/Wolter, in: Ambos/König/Rackow (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 2. Aufl. 2020, Rn. 617 ff. 39 Im deutschen IRG (Art. 73 ff.) wird diese terminologische Unterscheidung freilich nicht mitgetragen (dazu Heger, ZIS 2007, 221 (223 f.)). 35
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VI. Das neuzeitliche Strafrecht zwischen gemeineuropäischen Einflüssen und nationalstaatlicher Ausprägung 1. Frühneuzeitliche territorialstaatliche Kriminaljustizsysteme Regionale Strafrechtsgesetze haben sich zwar bereits mit der Ausbildung von Territorialstaaten zu Beginn der Neuzeit40 vielerorts in Europa etabliert, doch blieb dabei sowohl deren Inhalt als auch die Strafrechtswissenschaft im Grundsatz gemeineuropäisch, so dass sich die einzelnen Rechtsordnungen wie auch der wissenschaftliche Umgang mit ihnen nicht nennenswert danach unterscheiden ließ, in welchem Territorium das Gesetz in Geltung war.41 Dazu kam, dass das Strafrecht noch bis weit in die Neuzeit hinein zumindest von der Mehrheit der Juristen als Stammesrecht angesehen wurde,42 so dass ein nicht aus dem Territorium stammender Delinquent vielfach nicht nach dem Territorialrecht, sondern nach seinem Heimatrecht gerichtet werden sollte. Freilich liefen Strafprozesse in verschiedenen Territorien doch häufig nach den gleichen Regeln;43 auch kam vergleichbares materielles Strafrecht zur Anwendung, wie sich anschaulich daran zeigt, dass trotz der Reformation das crimen magiae der Hexerei auch in Territorien unterschiedlicher Konfession im Prinzip unverändert verfolgt wurde. Auch der Abschied von solchen „Verbrechen“ ab dem ausgehenden 17. Jahrhundert wie die Abschaffung der Folter und die Einschränkung und Humanisierung, ja vereinzelt sogar die Abschaffung der Todesstrafe im Zeitalter der Aufklärung44 bis Ende des 18. Jahrhunderts waren noch gemeineuropäische Phänomene, bei denen ein Vorreiter – wie bei der Abschaffung der Folter Preußen – vorpreschte und andere entweder folgten45 oder der Vorreiter – wie bei der zeitweiligen Abschaffung der Todesstrafe das Herzogtum Toskana – alsbald wieder ins Lager der anderen Staaten zurückkehrte.
40 Zur Geschichte des „europäischen Strafrechts bis zum Reformationszeitalter“, d. h. bis zum Ende des 30jährigen Krieges, vgl. Steinberg, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius (Hrsg.), Handbuch des Strafrechts, Bd. 1, 2019, § 5. 41 Mit Blick auf den Umgang mit dem gemeineuropäischen Strafrecht auf römischrechtlicher Grundlage spricht D. Bock, ZIS 2006, 7 ff. daher von einer „ersten Europäisierung der Strafrechtswissenschaft“; zum Stand der Entwicklung einer gemeineuropäischen Strafrechtswissenschaft am Ausgang des 20. Jahrhunderts vgl. Kühl, ZStW 109 (1997), 777 ff. 42 Jeßberger, Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts, S. 43. 43 Vgl. Ignor, Geschichte des Strafprozesses in Deutschland 1532 – 1846, 2002. 44 Zu den geistesgeschichtlichen Grundlagen des heutigen Strafrechts in der Aufklärung Hilgendorf, Handbuch des Strafrechts, Bd. 1 (Fn. 38), § 6. 45 Vgl. Zopfs (Hrsg.), Quellen zur Abschaffung der Folter, 2010; Peters, Geschichte der peinlichen Befragung, 2003.
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2. Die Nationalisierung der Strafrechtsordnungen in Europa im 19. und 20. Jahrhundert Mit dem Übergang von Territorialstaaten zu den modernen Nationalstaaten im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich das Strafrecht und die Strafrechtswissenschaft grundlegend verändert. In enger Tuchfühlung mit der Landessprache und jeweiligen kulturellen wie philosophischen Überzeugungen entwickelten sich zusehends nationale Strafrechtsordnungen,46 die ihrerseits zum vorrangigen Gegenstand der nationalen Strafrechtswissenschaften avancierten. Vorreiter war insoweit das nachrevolutionäre47 Frankreich, das unter Napoleon das Rechtssystem grundlegend reformierte und damit zugleich zum Vorbild für zahlreiche andere Länder wurde.48 Vielfach folgten die nationalen Gesetzgeber im 19. Jahrhundert dem französischen Vorbild und übernahmen Institutionen des französischen Rechts in ihre Landesgesetze. In Deutschland fußt etwa die Trennung von Staatsanwaltschaft und Richter auf französischem Vorbild; aber auch das materielle Strafrecht und die Strafrechtswissenschaft waren von französischen Vorbildern geprägt, wie es das Werk des großen Kriminalisten Carl Joseph Anton Mittermaier (1787 – 1867)49 belegt. Einzelne Übernahmen aus französischen Gesetzen änderten aber nichts daran, dass diese letztlich nicht mehr Teil eines gemeineuropäisch gedachten Strafrechts waren, sondern zu einem Teil nationaler Strafrechtskodifikationen wurden. Das 19. Jahrhundert ist daher vor allem eine Epoche der Nationalisierung auch des Strafrechts. Die endgültig vom Feudalsystem gelösten modernen (zumeist National-)Staaten Europas schufen unverzüglich nationale Strafgesetze und Strafverfahrensordnungen. So dehnte das Strafrecht des Königreichs Sardinien-Piemont im Zuge der italienischen Einigung 1860 seinen Geltungsbereich auf Gesamtitalien (mit Ausnahme der Toskana) aus; mit dem Codice Zanardelli entstand 1889 ein gesamtitalienisches Strafgesetzbuch,50 dem 1930 dann der bis heute fortgeltende Codice Rocco folgte.51 Ähnlich war die Entwicklung auf dem Gebiet des Deutschen Bundes; das Preußische Strafgesetzbuch von 1851 wurde leicht verändert zu demjenigen des Norddeutschen Bundes (1867) und schließlich zum bis heute als normative Grundlage des deutschen Strafrechts dienenden Reichsstrafgesetzbuch von 1871.
46 Basile, Multikulturelle Gesellschaft und Strafrecht, 2015, S. 90 ff., spricht insoweit vom „Lokalismus“ der nationalen Strafrechtsordnungen. 47 Zum Strafrecht der Französischen Revolution vgl. Acerbi, „Terreur“ und „Grande Terreur“, 2011. 48 Vgl. Sieber, Einführung (Fn. 4), Rn. 24 und 38 ff. 49 Zu diesem Kleinheyer/Schröder (Fn. 34), S. 296 ff. 50 Dazu Vinciguerra/Th. Vormbaum (Hrsg.), Strafgesetzbuch für das Königreich Italien („Codice Zanardelli“) vom 30. Juni 1889, 2014. 51 Dazu Th. Vormbaum (Hrsg.), Arturo Rocco und der Rechtstechnizismus im italienischen Strafrecht, 2013.
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1879 trat dann auch die Reichsstrafprozeßordnung in Kraft.52 Es ist durchaus bemerkenswert, dass die reichsweite Vereinheitlichung des Strafrechts bereits in der ursprünglichen Fassung der Reichsverfassung verankert war53 und unmittelbar nach Reichsgründung erfolgte, während die mit dem BGB zum 1. 1. 1900 erfolgte Vereinheitlichung des Zivilrechts erst einer Änderung der Reichsverfassung bedurft hatte.54 Im Habsburger Reich erfolgte eine erste noch recht altmodische Vereinheitlichung des Strafrechts und Strafverfahrensrecht der österreichischen Länder in der sog. Constitutio Criminalis Theresiana (1768), die dann im Jahre 1787 von dem bis heute als relativ modern geltenden Josephinischen Strafgesetzbuch, der sog. „Josephina“, abgelöst worden ist. 1803 erging dann ein bis zum 31. 12. 1974 in freilich veränderter Form in Österreich fortgeltendes Strafgesetz.55 Nachdem auch im ungarischen Reichsteil 1852 das österreichische Strafrecht eingeführt und 1861 wieder zugunsten des zuvor bestehenden vorkodifikatorischen Strafrechts abgeschafft worden war, trat nach dem Ausgleich mit Österreich (1867) im Jahr 1880 mit dem Csemegi-Kodex von 1878 ein eigenes modernes Strafrecht in Kraft, welches 70 Jahre lang in Geltung bleiben sollte.56 2012 ist dann das heutige ungarische StGB ergangen.57 Für die beiden Teile des k. u. k. Reiches standen damit im ausgehenden 19. Jahrhundert eigene Gesetzeswerke zur Verfügung, die zwar in ihrer formalen Konzeption national (österreichisch bzw. ungarisch) strukturiert waren, allerdings im jeweiligen Reichsteil der Habsburgermonarchie immer noch jeweils für einen Vielvölkermix Geltung beanspruchten.58 Die Gebietsverluste von Deutschland und (Deutsch-)Österreich nach dem Ersten Weltkrieg führten zu einer Ausdehnung einer jeweils anderen, ihrerseits nationalrechtlich gedachten Strafrechtsordnung auf das neu gewonnene Territorium, so dass etwa für das zuvor deutsche Elsaß nunmehr französisches, für Eupen belgisches und für das zuvor österreichische Südtirol italienisches Strafrecht gelten sollte. Das 52
Zu den Reformen vgl. Rieß, ZIS 2009, 466 ff. Art. 4 Nr. 13 RV gab dem Deutschen Reich zunächst nur die Kompetenz für „die gemeinsame Gesetzgebung über das Obligationenrecht, Strafrecht, Handels- und Wechselrecht und das gerichtliche Verfahren“. 54 Vgl. zu dieser Verfassungsänderung nur Schulte-Nölke, Das Reichsjustizamt und die Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuchs, 1995, S. 77 ff. 55 Vgl. Sieber, Einführung (Fn. 4), Rn. 31 f. 56 Tóth, Einführung in das ungarische Strafrecht, 2006, S. 20 ff. und 24 ff.; Nagy, Die deutsch-ungarischen strafrechtlichen Beziehungen in der Vergangenheit und Gegenwart, in: Karsai (Hrsg.), Strafrechtlicher Lebensschutz in Ungarn und in Deutschland, 2008, S. 21, 23 f.; Bató, in: Sinn/Gropp/Nagy (Hrsg.), Grenzen der Vorverlagerung in einem Tatstrafrecht, 2011, S. 41, 48 ff.; Balogh, Die ungarische Strafrechtskodifikation im 19. Jahrhundert, 2010; Sieber, Einführung (Fn. 4), Rn. 75 ff. 57 Zu dessen Entstehung Csúri, ZStW 126 (2014), 509 ff. 58 So gehörte zum österreichischen Reichsteil neben dem heutigen Österreich auch Tschechien, Slowenien und Teile Polens wie Italiens; zum damaligen Groß-Ungarn zählten auch Kroatien, die Slowakei und Teile Rumäniens und Weißrusslands. 1908 hatte ÖsterreichUngarn als Doppelmonarchie obendrein Bosnien-Herzegowina annektiert. 53
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ließ sich formal sicher so rechtfertigen, dass man diese Territorien jeweils in einem anderen Nationalstaat überführte, in dem eben „sein“ nationales Strafrecht Bestand hatte, ignorierte aber konsequent, dass vielerorts eine durchaus homogene deutsche bzw. österreichische Gesellschaft existierte, sodass ein zuvor dort geltendes nationales Strafrecht, das mit der nationalen Prägung des Territoriums in Einklang stand, durch ein nationales Recht eines fremden Staates abgelöst worden war. Mit dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns entstand 1918/19 obendrein eine Vielzahl neuer (zumindest ihrem Selbstverständnis nach) Nationalstaaten, deren Strafrechtsordnungen teilweise zunächst überaus heterogen waren. So hat die Tschechoslowakei zunächst nicht nur in ihrem tschechischen Landesteil österreichisches und in ihrem slowakischen Landesteil ungarisches Strafrecht vorgefunden, sondern auch in dem „Hultschiner Ländchen“ reichsdeutsches Strafrecht.59 Noch „bunter“ war die (Straf-)Rechtslage in Polen, in dem mit der Zusammenfügung von Gebietsteilen, welche zuvor zu Deutschland, Russland, Österreich und Ungarn gehört haben, zugleich vier verschiedene Strafrechtsordnungen parallel in Geltung kamen.60 Erst 1932 trat – geschaffen von dem Liszt-Schüler Juliusz Makarewicz – ein einheitlicher Polnischer Kriminalkodex in Kraft.61 Noch heterogener war die Rechtslage zunächst im südslawischen „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“, dem späteren Jugoslawien, das neben den zuvor Königreichen Serbien und Montenegro vormals österreichische und ungarische Gebiete sowie von Bulgarien abgetretene Gebietsteile vereinte;62 angesichts von nicht weniger als sechs verschiedenen Rechtsgebieten wurde zum 1. 1. 1930 ein jugoslawisches Strafgesetzbuch für den Gesamtstaat erlassen.63 Das Auseinanderbrechen Jugoslawiens, der Tschechoslowakei und auch der Sowjetunion führte dann in den 1990er Jahren zur Schaffung jeweils neuer, dem Anspruch nach ihrerseits nationaler Strafgesetze in den meisten Nachfolgestaaten. 3. Partielle Re-Internationalisierung der Strafrechtswissenschaft seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert In der Hochzeit der Nationalstaaten setzte zugleich auf der Ebene der Kriminalwissenschaften wieder ein reger internationaler Austausch ein. Die 1889 in Wien von dem in Deutschland lehrenden österreichischen Strafrechtler Franz von Liszt (1851 –
59 Zum Strafrecht der Tschechoslowakischen Republik Doerner, ZStW 52 (1932), 291 ff.; Eppinger, Zeitschrift für Osteuropäisches Recht 2 (1926), S. 333 ff. und 448 ff. 60 Vgl. Spotowski, ZStW 87 (1975), 742 f. 61 Kalisz, ZJS 2010, 167; Sieber, Einführung (Fn. 4), Rn. 71. 62 Zur Strafrechtsentwicklung vgl. Zlataric, in: Franz von Liszt zum Gedächtnis: Zur Wiederkehr seines 50. Todestages am 21. Juni 1919, 1969, S. 220 ff. 63 Vgl. Vojislav Damnjanovic, Die Beteiligungsformen im deutschen und serbischen Strafrecht sowie in der ICTY-Rechtsprechung, 2013, S. 85.
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1919)64, dem belgischen Kriminologen Adolphe Prins (1845 – 1919)65 und dem niederländischen Strafrechtler Gerardus Antonius van Hamel (1842 – 1917)66 gegründete „Internationale Kriminalistische Vereinigung“67 (IKV)68 stand im Mittelpunkt eines wieder intensiver gewordenen rechtsvergleichenden Austauschs in Europa.69 Eine Folge dieser internationalen Vernetzung der Strafrechtswissenschaft war, dass zur Vorbereitung einer Reform des StGB in Deutschland ausgerechnet in der absoluten Hochphase des Nationalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts umfassende rechtsvergleichende Studien angefertigt wurden; von Liszt selbst hatte eine rechtsvergleichende Untersuchung zum Strafrecht in Europa bereits wenige Jahre zuvor vorgelegt.70 Der Erste Weltkrieg erschütterte den multilateralen wissenschaftlichen Austausch im Rahmen der IKV massiv, weshalb die IKV schließlich 1937 förmlich aufgelöst wurde. Ab den 1930er Jahren konzentrierte sich die Strafrechtswissenschaft in Europa für viele Jahrzehnte vor allem auf die jeweilige nationale Rechtsordnung. Institution für Strafrechtsvergleichung – wie die 1924 gegründete AIDP und das zuletzt vom Jubilar geleitete Freiburger MPI – waren insoweit lange eher Oasen in einer Wüste. Als Grundlagenfach ist die Strafrechtsvergleichung erst in den letzten zwei Jahrzehnten wieder eingehender behandelt worden.71 Unabhängig von Institutionen, die den Rechtsvergleich gefördert haben, hat sich der wissenschaftliche Austausch innerhalb der Strafrechtsrechtswissenschaft in Europa und darüber hinaus auch in Form von ausländischen Promotionen etwa in Deutschland ergeben. Namhafte Strafrechtler, die später in ihrer Heimat das Strafrechtsdenken wesentlich prägen sollten, haben bereits vor dem Ersten Weltkrieg 64
Zu diesem Frommel, NDB, Bd. 14 (1985), S. 704 f. Zu diesem vgl. van der Vorst (Hrsg.), Cent ans de criminologie à l’ULB. Adolphe Prins, l’Union Internationale de Droit Pénal, le Cercle Universitaire pour les Études Criminologiques, 1990. 66 Vgl. zu diesem den Nachruf von v. Liszt, ZStW 38 (1917), 553 ff. 67 Zur IKV Bellmann, Die Internationale Kriminalistische Vereinigung (1889 – 1933), 1994; Jescheck, ZStW 92 (1980), 997 ff.; Kesper-Biermann, in: Freitag/Schauz (Hrsg.), Verbrecher im Visier der Experten. Kriminalpolitik zwischen Wissenschaft und Praxis im 19. und frühen 20. Jahrhundert, 2007, S. 79 ff.; Radzinowicz, The Roots of the International Association of Criminal Law and their Significance. A Tribute and a Re-assessment on the Centenary of the IKV, 1991; Vogler, A World View of Criminal Justice, 2005, S. 61 ff. 68 Die englische und französische Bezeichnung lautete International Union of Penal Law (I.U.P.L.) bzw. Union Internationale de Droit Pénal (U.I.D.P). 69 Vgl. etwa v. Liszt (Hrsg.), Das Strafrecht der Staaten Europas, 1894. 70 Als ersten Band der Reihe „Die Strafgesetzgebung der Gegenwart in vergleichenden Darstellung“ v. Liszt (Hrsg.), Das Strafrecht der Staaten Europas, 1894; auch der zweite Band von 1899, der schwerpunktmäßig das Strafrecht der außereuropäischen Staaten behandelt hat, enthielt einen Nachtrag zur europäischen Entwicklung in den Jahren 1893 bis 1898 (vgl. Kesper-Biermann, in: dies./Overath [Hrsg.], Die Internationalisierung der Strafrechtswissenschaft und Kriminalpolitik [1870 – 1930], 2007, S. 89). 71 Vgl. vor allem Pradel, Droit pénal comparé, 4. Aufl. 2016; Dubber/Hörnle, Criminal Law, A comparative approach, 2014. 65
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nicht nur an der Berliner Universität geforscht und promoviert (etwa im berühmten Kriminalwissenschaftlichen Institut von Franz von Liszt); zu nennen ist beispielsweise der bekannte polnische Strafrechtsprofessor Julius Makarewicz (1872 – 1955),72 der einen Forschungsaufenthalt bei von Liszt zugebracht hatte,73 bevor er später das polnische Strafrechtsdenken grundlegend prägen sollte.74 Gleichwohl kam es dadurch nicht zu einer Entnationalisierung des Strafrechts, wurde doch jeweils durch einen Wissenstransfer oder einen legal transplant das Strafrecht(-sdenken) eines Staates in andere Staaten überführt. Solche Entwicklungen lassen sich bis heute verfolgen; ein Beispiel aus jüngerer Zeit ist Merab Turava, der nach einer Promotion an der Berliner Humboldt-Universität75 seit Ende der 1990er Jahre das Strafrechtsdenken in Georgien nachhaltig und in Anlehnung an die deutsche Strafrechtsdoktrin geprägt hat. Generell gab und gibt es auf dem Gebiet des Strafrechts und Strafverfahrensrechts grenzüberschreitende Anleihen bis hin zu sog. legal transplants.76 So verbreitete sich das common law77 in der ganzen zumindest zeitweilig zum englischen Rechtsraum zählenden alten wie neuen Welt. Mit Blick auf die heutige Europäische Union wirkte und wirkt es mithin nicht nur im Vereinigten Königreich, sondern auch in Irland, Malta und Zypern; der Vollzug des Brexit78 wird also nicht zu einem Ende dieser Rechtskultur innerhalb der EU führen. Auch in einzelnen osteuropäischen Ländern hat es nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ insbesondere im Strafverfahrensrecht Anleihen am anglo-amerikanischen Rechtsdenken gegeben; so ist etwa in Georgien zwar das materielle Strafrecht eng am deutschen Vorbild ausgerichtet, das Strafverfahrensrecht hingegen hat sich seit einigen Jahren das US-amerikanische Prozessrecht zum Vorbild genommen.79 Diese Mischung von kontinentaleuropäischen Einflüssen auf das materielle Strafrecht mit einem adversatorisch strukturierten Strafverfahrensrecht findet sich innerhalb der EU heute etwa auch in Polen und Estland80; allenthalben werden kaum lösbare justizsysteminterne Spannungen zwischen den beiden großen europäischen Strafrechtskreisen konstatiert, welche als Beleg heran72 Dieser veröffentlichte u. a. 1906 auf Deutsch eine „Einführung in die Philosophie des Strafrechts“ (darin findet sich S. 35 ff. auch eine Vergleichung der damaligen Kodifikationen sowie des Kolonialstrafrechts). 73 Kalisz, ZJS 2010, 167. 74 Kalisz, ZJS 2010, 167 f. 75 Turava, Straftatsysteme in rechtsvergleichender Sicht unter besonderer Berücksichtigung des Schuldbegriffs, 1998. 76 Dazu grundlegend Watson, Legal Transplants: An Approach to Comparative Law, 1974. 77 Vgl. nur Mansdörfer (Hrsg.), Die allgemeine Straftatlehre des Common Law, 2005. 78 Zu dessen strafrechtlichen Auswirkungen vgl. nur Ambos, JZ 2017, 713 ff. und ders./ S. Bock, Criminal Law Forum 28 (2017), 191 ff.; vgl. auch Penkuhn, ZIS 2017, 240 ff. 79 Zum Einfluss des Europäischen Strafrechts auf das georgische Recht vgl. Jishkariani, Die Bedeutung des Europäischen Strafrechts und sein Einfluss in Georgien, 2013. 80 Zu den adversatorischen und inquisitorischen Elementen in den Strafprozessordnungen der EU-Mitgliedstaaten als Herausforderung für eine Europäisierung des Strafprozessrechts Heger, DGStZ 2/2016, 1 ff.
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gezogen werden können, dass das materielle und das formelle Strafrecht innerhalb eines Kriminaljustizsystems als eine Einheit anzusehen sind. 4. Diskussion um ein staatenübergreifendes Strafrecht im Ersten Weltkrieg und danach Die hier angesprochenen Gebiete lagen im Ersten Weltkrieg zumindest punktuell im Einflussbereich der Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn sowie des mit diesen verbündeten Bulgariens. Nachdem bereits für andere Rechtsgebiete aus der deutschen Rechtswissenschaft Aufrufe zu einer Vereinheitlichung bzw. Harmonisierung insbesondere der Rechtsordnungen von Deutschland, Österreich und Ungarn ergangen waren, startete auch Franz von Liszt eine entsprechende Diskussion in der Strafrechtswissenschaft der drei Länder.81 Die Resonanz vor allem in Hinsicht auf eine vollständige Angleichung der drei Strafrechtsordnungen war freilich relativ gering; allenfalls eine partielle Harmonisierung der drei Strafgesetze erschien einigen sinnvoll. Die Diskussion hierzu nimmt bereits einige Argumente aus der heutigen EU vorweg, ob und inwieweit das Strafrecht unionsweit vereinheitlicht oder wenigstens einer partiellen Harmonisierung unterzogen werden soll; auch heutzutage erscheint eine Angleichung des Strafrechts gegenüber einer Mindestharmonisierung einzelner Strafrechtsgebiete im Hintertreffen zu sein. Nicht uninteressant ist mit Blick die Diskussion im Ersten Weltkrieg auch, wen man einzubeziehen beabsichtigte, denn eine Harmonisierung auch des Strafrechts von Bulgarien wird von James Goldschmidt etwa lediglich in einer Fußnote erwähnt, regelmäßig aber nicht in Betracht gezogen, während das ebenfalls mit den Mittelmächten verbündete Osmanische Reich in dieser Diskussion gänzlich außen vor geblieben ist (insoweit mag der Betrachter ein Jahrhundert später an die noch fortdauernde Diskussion erinnert werden, ob die Türkei letztlich Teil der EU sein kann und soll). Schon vor der militärischen Niederlage der Mittelmächte kamen die Diskussionen um eine Strafrechtsharmonisierung zum Erliegen. Dass gerade ein einheitliches Strafrecht auch über Landesgrenzen hinweg politisch gewollte Bande knüpfen können sollte, blieb freilich ein Topos in der Diskussion der deutschen und österreichischen Strafrechtswissenschaftler nach dem Anschlussverbot Österreichs an Deutschland durch die Siegermächte in Art. 80 des Versailler Vertrags. Die 1920er Jahren waren davon geprägt, dass deutsche und österreichische Strafrechtler nach Reformlösungen im Strafrecht und Strafverfahrensrecht suchten, welche für beide Länder rechtlich möglich und politisch akzeptabel sein könnten. Gerade die politisch fixierte Trennung beider Teile eines damals gewollten „Großdeutschland“ bewirkte bei einzelnen Strafrechtlern eine Abkehr von ihrer zuvor im Weltkrieg einer Harmonisierung des Mittelmächte-Strafrechts kritischen 81 Dazu vgl. Kubiciel, JZ 2015, 64 ff. und in: Koch/Löhnig (Hrsg.), Die v. Liszt-Schule und die Entstehung des modernen Strafrechts, 2015, S. 229 ff.; Heger, in: FS 200 Jahre (Fn. 5), S. 477, 488.
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Haltung; so war für James Goldschmidt eine Angleichung des Strafrechts der Mittelmächte vor dem Weltkrieg (noch) nicht vorzugswürdig, während er wenige Jahre nach Kriegsende in einem Vortrag in Wien gerade wegen der Versagung einer staatlichen Union beider deutschsprachiger Staaten sogar für einen weitestmöglichen Gleichlauf der Strafjustizsysteme beider Länder frei nach dem Motto „ein Volk, ein Recht, ein Reich“ plädierte. Freilich sollte damit nicht ein im eigentlichen Sinne übernationales Strafrecht ermöglicht, sondern vielmehr eine geteilte Nation durch ein einheitliches gesamt-nationales Recht verbunden werden;82 der gleiche Gedanke hatte über hundert Jahre zuvor, 1814 nach dem (ersten) Sieg über Napoleon bekanntlich den Heidelberger Zivilrechtler Thibaut für ein allgemeines bürgerliches Gesetzbuch als Vorstufe eines deutschen Nationalstaates eintreten lassen.83 Interessanterweise brachte der „Anschluss“ Österreichs 1938 zwar eine Modifizierung des österreichischen Rechts durch (groß)deutsche Verordnungen, führte aber trotz der staatlichen Einheit (noch) nicht zu einem einheitlichen Strafrecht.84
VII. Europäisches Strafrecht vor der politischen Union Nachdem 1954 das Projekt einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft mitsamt eines gemeinsamen Militärstrafrechts85 gescheitert war86 und die drei Europäischen Gemeinschaften zunächst auf Regelungen zum Strafrecht verzichteten, ließ sich bis zum Maastrichter Vertrag ein Europäisches Strafrecht nur mittelbar aus einzelnen Regelungen ableiten. So ist seit der Einrichtung des EuGH ein Meineid vor diesem EU-Gericht nach Art. 30 der EuGH-Satzung und damit nach EU-Primärrecht EU-weit für alle Mitgliedstaaten als eines strafbare Eidesverletzung nach ihren nationalen Strafgesetzen vorgeschrieben; ähnliches gilt für Geheimschutzverletzungen im Bereich des Euratom-Vertrags, woraufhin der BGH insoweit die Figur bereits in den 1960er Jahren aus der Bestimmung des Art. 194 EAGV einen „supranationalen Gesamttatbestand“ abgeleitet hat.87 Der nächste Schritt war in den 1970er Jahren die Erkenntnis, dass die Grundfreiheiten des EWGV angesichts des generellen Vorrangs des Europarechts auch nationalem Strafrecht Grenzen setzen konnten. Als leading case diente der Fall „Cassis de Dijon“.88
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Goldschmidt, ZStW 43 (1922), 409, 444; dazu Heger, FS 200 Jahre (Fn. 5), S. 477 (491). Thibaut, Ueber die Nothwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts, 1814. 84 Vgl. Sieber (Fn. 4), Einführung Rn. 32 f. 85 Dazu Jescheck, ZStW 65 (1953), 113, 114 f. 86 Vgl. Sieber (Fn. 4), Einführung Rn. 113 ff. 87 BGHSt 17, 121. 88 EuGH, Slg. 1979, 649. 83
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Ende der 1980er Jahre leitete der EuGH dann in seinem berühmten „Griechischer Mais“-Urteil,89 in welchem er aus der Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten gegenüber der EG auch eine Pflicht zur gleichen Strafbewehrung von Verstößen gegen die Interessen des Staates und der EG abgeleitet hat. Dagegen zeigte die Ermächtigung der EWG zur Verhängung von Bußgeldern wegen Verstößen gegen das EG-Wettbewerbsrecht im Umkehrschluss an, dass hier die EG zwar eine – erstmals in der VO 17/62 in Anspruch genommene – Kompetenz zur Bußgeldbewehrung hatte, gerade nicht aber auch eine zur Strafbewehrung des zugrundeliegenden Verstoßes gegen EG-Recht.
VIII. Schluss Der Blick auf die geschichtliche Entwicklung des Strafrechts in Europa seit Beginn der Neuzeit bis zur Schaffung der Europäischen Union zeigt, dass die in der Strafrechtswissenschaft nicht nur in Deutschland vorherrschende Fixierung auf das jeweils nationale Strafrecht und dessen Deutung durch eine nationale Strafrechtswissenschaft zwar wohl immer noch den Kern der Kriminaljustizsysteme auch der EU-Mitgliedstaaten zutreffend zu erfassen vermag, dass daneben über die Jahrhunderte immer wieder Tendenzen zur einer Entstaatlichung bzw. Entnationalisierung des Strafrechts und/oder der Strafrechtswissenschaft feststellbar sind. Auch forderte transnationale Kriminalität schon seit Jahrhunderten aus der Souveränität der Staaten herzuleitende territoriale Beschränkungen heraus; zunächst ging es nur um die Rechtshilfe. Die Schaffung übernationaler Rechtsgemeinschaften wie den Europäischen Gemeinschaften seit den 1950er Jahren forderte überdies für grenzüberschreitende Sachverhalte einerseits eine Begrenzung der Durchsetzung nationalstaatlicher Strafansprüche und andererseits einen strafrechtlichen Schutz auch für andere EUStaaten sowie vor allem für die gemeinschaftlichen Institutionen.
89
EuGH, Slg. 1989, 2965.
Medical Safety and the Role of Criminal Law from the Viewpoint of Comparative Law By Katsunori Kai
I. Introduction Medical Safety is one of the important desires many people have in their daily life. However medical accidents often occur in the world. Therefore the issue of medical accidents has been one of the most important subjects not only in medical law, but also in criminal law in the world. And yet, it is very difficult to balance between punishing physicians who had caused medical accidents and securing medical safety, because excessive punishment causes unrest among physicians and nurses, and as a result will increase medical unsafety. Therefore, we must think about good compliance for medical safety. Our respected Ulrich Sieber has many achievements not only in the field of comparative criminal law but also in constructing the legal safety system of corporations including compliance programs.1 And we have collaborated with Sieber in studying criminal compliance for a long time.2 Also, hospitals are one form of corporations. Therefore in this paper I focus on the current situation of malpractice in Japan from the viewpoint of criminal and comparative law, and furthermore of corporate compliance. Of course there are other legal sanctions for medical malpractice and for the establishment of medical safety; civil sanctions due to tort liability and administrative sanctions such as suspending the medical activity. Therefore we must rethink the role of criminal law not only in the context of medical malpractice, but we also have to put medical safety in the context of civil and administrative law, and furthermore include bioethics or medical ethics.
1 I have already translated many manuscripts of Ulrich Sieber on these topics for a book collection, see Katsunori Kai/Morikazu Taguchi (eds.), 21 Seiki Keihougaku eno Chosen: Gurobaruka-Johoshakai to Risuku-Shakai no nakade (in Japanese), 2012, Seibudo, Tokyo (in German: Ulrich Sieber, Die Herausforderungen der Strafrechtswissenschaft im 21. Jahrhundert: Globalisierung, Informationsgesellschaft und Risikogesellschaft). 2 See Katsunori Kai/Morikazu Taguchi (eds.), Kigyo-Katsudo to Keiji Kisei no Kokusai Doko (in Japanese) [International Trends of Corporate Activities and Criminal Regulations], 2006, Shinzansha, Tokyo; Katsunori Kai/Morikazu Taguchi (eds.), Keiji Konpuraiansu no Kokusai Doko (in Japanese) [International Trends of Criminal Compliance], 2015, Shinzansha, Tokyo.
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II. An Overview of the Criminal Treating System of Medical Accidents in Japan On the 13th and 14th April 2017 the International Symposium “French Law from a Comparative Law Perspective: For an Overhaul of Medical Criminal Law?” was held in Lyon 3 University in France. Specialists from 13 countries attended this symposium, and seriously discussed medical accidents and criminal liability.3 I reported on “Medical Accidents and Criminal Responsibility in Japan” in this symposium.4 However, I couldn’t give the full picture of the present discussion on these issues in Japan there. Therefore in this paper I amplify that presentation by including a comparative law perspective on the basis of the information which I could gain in this symposium. In Japan, a considerable number of criminal cases on medical accidents have been accumulated since the beginning of the 20th Century and their contents or theories have changed with the era and the system of medicine. I have categorized the trends into four periods based on the character of the criminal precedents of the medical malpractice5. The first is the period from 1917 to the first half of the1960s, when the duty of care was widely and comprehensively acknowledged by physicians. The second is the period from the latter half of the1960s to the first half of the1970s, when the consideration of individual circumstances began to be recognised in the criminal precedents. The third is the period from the first half of the1970s to 1998, when the division of medical conducts began to be considered, “the distribution of risks” and “the principle of confidence” began to be recognized. The fourth is the period from 1999 to 2015, when many people began to be interested in medical accidents because of some remarkable criminal cases. Furthermore we have had a new notification system of the medical accidents since October 2015, therefore we can now name the present time the fifth period. The criminal treating system of medical accidents in Japan is the following: When a fatal accident or personal injury to a patient occurs due to medical practice, the provision of professional negligence resulting in injury or death (Penal Code § 211) can be applied. The offense mainly requires that “causation” and “foreseeability” or “violation of duty of care” are established. And also, subject to punishment is not only the last acting medical practitioner, but also the superintendent or the supervisor. Furthermore there are many cases on the concurrence of negligence, when several med3 The results have already been published as a book, see Patric Mistretta (Ed.), French Law from a Comparative Law Perspective: for an Overhaul of Medical Criminal Law? Institut Universitaire, Varenna, 2017. 4 Katsunori Kai, Medical Accidents and Criminal Responsibility in Japan, in: Mistretta (note 3), pp. 133 – 138. After that I have published the amplified article “Medical Accidents and Criminal Responsibility in Japan from the Viewpoint of Comparative Law”, in Waseda Bulletin of Comparative Law, Vol. 37, 2019, pp. 1 – 10. 5 See Katsunori Kai, Iryojiko to Keiho (in Japanese) (Medical Accidents and Criminal Law), 2012, Seibundo, Tokyo, pp. 21 ff.
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ical practitioners can be punished. This is one of the most important theoretical issues. And also the notification of an “wrong” death is a very important issue. The Medical Practitioners’ Law provides in § 21 that the physician must notify a “wrong” (unusual) death to the district police within 24 hours after he or she discovered it. And if he or she breaches the duty, the violation of this duty in itself is punishable (§ 33).6 However the definition of “the wrong death” is vague. In spite of some guidelines by medical associations (Japanese Society for Legal Medicine, Japan Surgical Society etc.), the vagueness still remains. In addition, the provision creates the problem whether it infringes the privilege of self-incrimination (Constitution § 38, I). But then in 2004 (so called “Tokyo Metropolitan Hiroo Hospital Case”) the Supreme Court judged that § 21 Medical Practitioners’ Law was not unconstitutional because of the public interest in a medical license.7 However we are now discussing whether or not this provision should be maintained. A reason for an abolition of the duty to notify the wrong death to the district police is that it can bring an atrophy of various medical practices due to being afraid of the question about the cause of the accident. Nevertheless this provision still remains. In 2018, 152 cases of a wrong death were notified to the district police (in 2014: 137 cases; 2015: 65 cases; 2016: 68 cases; 2017: 46 cases). Recently we in Japan have introduced a new notification and investigation of medical accidents system with the 6th Medical Care Act Revision. According to this new system, when a medical accident occurs, the hospital or physician must notify it to the 3rd party Centre. And then the investigation in the hospital begins with help from Investigation Support Organizations. The cases to be notified or reported are adverse events by medical treatment, and also “unpredictable cases”. And then they must notify or report the result to the Centre. The Centre just analyses it. Exceptionally, if the patient’s side is not satisfied, it is possible for him or her to bring the case to the Centre. However the conception of “unpredictable cases” is not so clear. Therefore the number of the notification is less than the initial expectation. Initially, in 2018 the notification number of medical accidents were 4,565 cases (in 2014: 3,194 cases; 2015: 3,654 cases; 2016: 3,882 cases; 2017: 4,095 cases), what was the largest number ever. And this system also creates the problem whether we can use the materials, which were used in the investigation, in a criminal investigation. This is a very disputable issue.
6 See in detail Kai (note 5), pp. 271 ff. There are 4 cases on § 21 Medical Practitioners’ Law. 7 Decision of the Supreme Court, 13 April 2004, Keishu Vol. 58, Nr. 4, p. 247.
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III. Important Criminal Precedents on Medical Accidents in Japan In the following, I will pick up some important criminal precedents on medical accidents in Japan. 1. Yokohama City University Hospital Case The first and the most notable case was the Yokohama City University Hospital Case in1999.8 In this case the medical staff mistook the patient X (74 years old), who was to have an operation on his heart, for the patient Y (84 years old), who was to have an operation on his lung. The mistake was due to the insufficiency of handing over the two patients from the nurse A on night duty to the nurse B then in charge of the next shift. A handed over to B two patients from the 7th floor of the ward and brought them to the 4rd floor of the exchange hall of the operation room by using a stretcher and an elevator. A didn’t accurately check the names of the two patients. Also B didn’t accurately remember the two patients in spite of having visited them before the operation. She greeted X with “Good morning, Mr. Y”, and greeted Y with “Good morning, Mr. X”. Both X and Y didn’t correct it. Therefore also two other nurses believed B’s words. Thus X was carried into the operation room for lung operation, and Y was carried into the operation room for heart operation. Consequently X and Y were unnecessarily operated on the respective organ. All medical staff didn’t notice their mistakes until they were done with the operations. However in the operation room of Y, where originally the heart operation was to be performed, the operation surgeons C and D, and the anaesthetist E couldn’t check the identification of the patient, but the youngest anaesthetist F raised a question in the middle of the operation, whether the patient was really X or not. So they tried to check the identification of the patient, but could not solve the problem. Ironically, after the operation, the mistake was discovered. In this case A, B, C, D, E, and F were prosecuted for the professional negligence resulting in injury (Penal Code § 211). In the first trial (Yokohama District Court, 20th September 2001), only F was found not guilty, whereas the other five persons were found guilty. In the second instance decision (Tokyo High Court, 25th March 2003), however, all members were found guilty on the basis of the concurrence of negligence. Only F appealed this decision and took it to the Supreme Court, but the Supreme Court (26th March 2007) dismissed the defendant’s appeal.9 According to the Supreme Court, other members didn’t take the defendant F’s question seriously, and therefore a certain measure for the identification of the patient was not taken, but F herself made an effort anyway to avoid preventing to mistake two patients. However the Supreme Court said, “since she had the well-founded question on the most fun8 9
See in detail Kai (note 5), pp. 97 ff., 112 ff. The Supreme Court, 26th March 2007, Keishu Vol. 61, Nr. 2, p. 131.
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damental matter of the identification of the patient, we have to say that the defendant didn’t enough perform her own duty of care even under the conditions mentioned above”. In my opinion, this decision is too strict, because the youngest anaesthetist F raised a question in the middle of the operation, whether the patient was really X or not, and then all members in the operation room tried to check the identification of the patient, and finally the two operation surgeons C and D decided to go on with the operation. Of course we can’t say that F herself perfectly performed her own duty of care. However I think that we could found her “not guilty” on the legal ground that she did not act as a principal in the criminal negligence. In my opinion, the theory of the concurrence of negligence often has too severe consequences for the persons involved. So I have insisted on the theory of “the withdrawal from criminal negligence” for a long time, which can result in an exemption from punishment for those who made a certain effort in order to avoid consequences in cases of the concurrence of plural criminal negligence,10 because Japanese Criminal Law punishes only a principal in the criminal negligence, but doesn’t punish an accessory, and therefore we should demote his/ her legal position from a principal to an accessory in the criminal negligence, otherwise medical staff in the team can’t be released from the cycle of the punishment. 2. Saitama Medical University Hospital Case The second case, the Saitama Medical University Hospital Case of 2000,11 is also very important. In this case, the attending otolaryngologist A, who had never handled a medical treatment for a synovial sarcoma, performed it on a young girl (16 years old) with a synovial sarcoma in the face by learning the treatment method (so called “VAC Treatment” including vincristine etc.) by himself from the literature in the hospital’s library. However he mistook the quantity of anticancer drug and administered eight times of the regular amount of the drug because of misreading “once a week” as “once a day”. Consequently the patient died from the side effect of the drug. In this case, not only the attending otolaryngologist A, but also his senior physician B and their professor of otolaryngology were prosecuted for professional negligence resulting in death (Penal Code § 211) and all members were found “guilty” by the first trial court (Saitama District Court, 25th March 2003), on second instance (Tokyo High Court, 24th December 2003), and by the Supreme Court (15th November 2005).12 The theory applied to determine their guilt was the concurrence of negligence, but the logic was different for each of the persons involved. We were very interested especially in the guilt of Professor C. The basis of his guilt was that his role was not only being a kind of attending physician, but also a kind of supervisor to A. 10
See in detail Kai (note 5), pp. 117 ff. and pp. 212 ff. See in detail Kai (note 5), pp. 46 ff. and pp. 207 ff. 12 The Supreme Court, 15th November 2005, Keishu Vol. 59, Nr. 9, p. 1558.
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In my opinion the judgment of the Supreme Court was correct, but we must more carefully consider the logic of the concurrence of negligence, especially the relationship between the negligence of the supervisor and the normal concurrence of negligence. 3. Fukushima Prefectural Ohno Hospital Case In the third case, the Fukushima Prefectural Ohno Hospital Case of 2004,13 an obstetrician was arrested, who performed a Caesarean section to a woman with the adhesion of placenta and therefore a separation of the placenta. Consequently she died from loss of blood. Although there are many cases in which physicians are indicted, it is unusual for them to be arrested. The Japan Society of Obstetrics and Gynaecology strongly objected to this arrest because the doctor performed only the usual medical treatment with the usual method, therefore the arrest was considered to be unlawful. This objection was widely supported. On the 20th August 2008, the Fukushima District Court declared the accused to be “not guilty”. The district court affirmed foreseeability of the consequences, but it did not affirm a the duty of care to exfoliate the placenta. This was due to the fact that the court couldn’t acknowledge that at the time of the operation it was lege artis for the doctor to stop the separation of the placenta and to change over to the hysterectomy operation; insofar the court could not acknowledge that the separation of the placenta was against a duty of care. In my opinion, the conclusion was correct, but the theoretical structure was not enough developed by the court. Anyway, the most important problem of this case was rather in the arrest of the doctor. We must be more careful as to when to intervene in medical accidents from the viewpoint of criminal law.
IV. Considerations from the Viewpoint of Comparative Law How should we think about our current Japanese situation regarding criminal justice as a response to medical accidents in Japan from the viewpoint of comparative law? Here I try to pick up some countries’ situations on medical accidents and compare them with the current Japanese situation. The UK is very unique in the respect of applying medical manslaughter to medical accidents.14 According to Oliver Quick, “The use of criminal law as a response to 13
See in detail Kai (note 5), pp. 122 ff. Oliver Quick, The Criminalisation of Medical Harm in the United Kingdom, in: Mistretta (note 3), pp. 47 – 54. See also Emi Hiyama, Iryojiko to Keijisekinin Igirisu niokeru Keijiiryokago no Doko wo Sanko nisite (Medical Accidents and Criminal Responsibility: Referring to Trends of Criminal Malpractice in the UK), in Katsunori Kai (Ed.), A Series of 14
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medical harm has been controversial in the UK. Historically, this has been limited to occasional manslaughter prosecutions of practitioners for their ‘gross negligence’. Whilst the term negligence is a familiar civil law concept, the gloss of ‘gross’ suggests a higher degree of carefulness worthy of criminal punishment. However, precisely what is meant by gross remains somewhat unclear”15. Quick cites the leading case R v Adomako [1994] 3 All ER 79 and explains the development of this doctrine in this field.16 In this case a locum anaesthetist lost his appeal against a conviction after failing to spot a disconnected oxygen tube during a routine eye operation which caused the patient’s death. According to the test used in the above judgement (Lord Mackay of Clashfern), the liability for manslaughter by gross negligence should be decided by considering “whether that breach of duty should be characterised as gross negligence and therefore as a crime. This will depend on the seriousness of the breach of duty committed by the defendant in all the circumstances in which the defendant was placed when it occurred. The jury will have to consider whether the extent to which the defendant’s conduct departed from the proper standard of care incumbent upon him, involving as it must have done a risk of death to the patient, was such that it should be judged criminal.” Thus four elements have to be established for manslaughter by gross negligence: (1) duty of care, (2) breach of that duty, (3) causation, and (4) gross negligence.17 This standard has been a precedent for further decisions since then (e. g. R v Misra and Srivastava [2004] EWCA Crim 2375 et al.).18 It is true that it seems the correct approach, although some vagueness remains.19 Furthermore it is remarkable that manslaughter prosecutions against organisations have been possible since 6 April 2008, under the Corporate Manslaughter and Corporate Homicide Act 2007.20 As Quick points out, “[i]n the case of healthcare organisations, there is little doubt that they will be under a duty of care towards patients.”21 In the first case “Maidstone and Tunbridge Well NHS”, the NHS was prosecuted for the offence of Corporate Manslaughter,22 but I’m not sure if a punishment Medical Law, Vol. 3, Medical Accidents and Medical Law, 2012, Shinzansha, Tokyo, pp. 237 – 263. 15 Quick (note 14), p. 47. See also Oliver Quick, Prosecuting ‘Gross’ Medical Negligence: Manslaughter, Discretion and the Crown Prosecution Service’, 33(3) Journal of Law and Society, pp. 421 – 450. 16 Quick (note 14), pp. 47 f. 17 Quick (note 14), p. 48. 18 In detail see Hiyama (note 14), pp. 243 – 252. 19 Quick (note 14), p. 48. 20 Quick (note 14), p. 49. On corporate crimes in the world including the UK, see Katsunori Kai, Kigyo-Hanzai to Keiji-Konpuraiansu (Corporate Crimes and Criminal Compliance), 2018, Seibundo, Tokyo. 21 Quick (note 14), pp. 49 – 50. 22 Quick (note 14), p. 50.
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is the proper approach. Incidentally, as Quick points out the relationship between criminal law and patient safety is very important.23 Generally speaking, there are more countries where there is a trend to restrain the use of criminal law for medical accidents than to intervene in medical accidents by the way of punishments. For example, the Netherlands24 and the USA25 are typical in this regard. And Italy has continued making an effort to limit the punishment for medical accidents to gross negligence, and in 2012 the Balduzzi Act was enacted, which was the first time that the Italian legislator had expressly stated that a higher degree of negligence should be applied in cases evaluating criminal liability.26 However the interpretation of the provision (article 3) was so unambiguous that some problems had to be pointed out by the people involved, so that in 2017 the Gelli-Bianco Act has been enacted.27 According to Stefano Canestrari, article 6 of the “Gelli-Bianco Act” has been introduced into the Italian Penal Code as Article 590-sixes, under the title “Death or personal injury in a medical context”, and all references to gross negligence have been left out.28 On the other hand, Spain is one of the strictest countries where omission, such as overlooking a diagnosis, is punishable in medical accidents.29 However such a position was harshly criticised in our congress. I think that the punishment of an omission such as overseeing a diagnosis is an excessive response. Thus in my opinion, the current Japanese situation of the inquiry into criminal responsibility in medical accidents is halfway around the world from the point of view of comparative law.
V. Conclusion: Towards the Establishment of Medical Safety by Corporate Compliance Lastly I hope that the criminal intervention in medical accidents will be connected to medical safety. In order to realize it, we need a clarification of the cause of the medical accident, a clarification of the responsibility, the prevention of a recurrence of medical accidents, and the rapid relief of the victim. And we should also limit the 23
Quick (note 14), pp. 51 – 53. See J.K.M. Gevers, The Role of Criminal Law in Regulating Medical Practice: The Dutch Experience, in: Mistretta (note 3), pp. 55 – 61, especially pp. 57 – 59. 25 Stephen J. Ziegler, The Regulation of Medicine in the United States: A Mixture of Civil, Administrative and Criminal Laws and Penalties, in: Mistretta (note 3), pp. 65 – 72. 26 Stefano Canestrari, Criminal Liability in a Medical Context: The Italian Law’s Approach, in: Mistretta (note 3), pp. 125 – 132, especially p. 127. 27 Canestrari (note 26), pp. 130 – 131. 28 Canestrari (note 26), p. 130. 29 Joaquin Cayon De Las Cuevas, La responsabilité médicale et les crimes d’omission selon le droit et la jurispurudence espagnols, in: Mistretta (note 3), pp. 141 – 148. 24
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punishment of criminal negligence to gross negligence such as reckless medical treatments, a substantial negligence of the proper collection of information etc. Here we should rethink medical safety by using proper corporate compliance. “To Err is Human”30 is a well-known phrase. This phrase most appropriately fits medical practice, because physicians or medical practitioners are daily facing many risks when intervening in a human body. Therefore we must control risks and reduce them to a minimum. Based on such situations we must construct a legal framework that can be useful for medical safety. First of all, every medical staff must be regarded as a member of the team in the hospital system. The team should treat patients using all their information, which includes benefits and risks of the patient in question, furthermore taking into account the scope of informed consent. Therefore sharing such information is very important to avoid medical accidents and to establish medical safety. Generally speaking, the lack of sharing such information tends to lead to human errors in medical practice. Thus sharing information should be regarded as an important compliance issue in each hospital as long as the patient’s privacy is not violated. Secondly, medical staff should check their own medical safety each other, if possible there should be a double check. As the Yokohama City University Hospital Case shows, special attention should be paid to risks for the patient after the night shift. It is most important in this case to identify the patient. This is the most fundamental compliance aspect in medical practice. Thirdly, it is very difficult for us to judge which treatment measures physicians should select for each patient, and yet, it is true, that it is within their discretion, but they should avoid reckless medical treatments as a part of fundamental compliance. Therefore the supervisor must check such situations in advance. Fourthly, risk managers should daily collect information on risks in their hospitals, analyse the risk level, and furthermore periodically provide risk information including middle and high risk levels to medical staff involved. This will create a good awareness of medical safety. It is an important part of risk management. Lastly, if medical accidents occur, the director of the hospital or risk managers should immediately investigate the cause and then report the result to the outside official institution and victims. Accountability is an important compliance aspect. At the same time, if possible, victims should be compensated quickly, and necessary steps should be taken to prevent recurrences of similar accidents. And as mentioned above, we should limit the punishment of criminal negligence to gross negligence such as reckless medical treatments. Thus it is true, that the role of criminal law should be limited, but it is important for medical safety that criminal law exercises authority over the medical practice behind it. 30 Linda T. Kohn/Janet M. Corrigan/Molla S. Donaldson (eds.), Committee on Quality of Healthcare in America Institute of Medicine. To Err is Human: building a safer health system. Washington D.C., National Academy Press, 1999.
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In brief: it is very important for medical safety and medical compliance that criminal law stays in close contact with other areas of law and medical ethics or bioethics by taking actual situations of medical practice (except bad practice) into consideration.
Der europarechtliche Rechtsschutz gegen eine „red notice“ von INTERPOL Von Hans-Heiner Kühne
I. Widmung Diesen Beitrag widme ich meinem Freund und Kollegen Ulrich Sieber, der insbesondere auch durch seine Tätigkeit als Direktor des Freiburger Max-Planck-Instituts die traditionell national gerichtete Aufmerksamkeit der Strafrechtswissenschaft auf die europäische und internationale Ebene auszuweiten geholfen hat. Dank seiner Tätigkeit hat sich das Institut, der Gründungsidee von Jescheck folgend, weiter erfolgreich als Mekka für alle am deutschen und internationalen Strafrecht interessiert Wissenschaftler und Praktiker etabliert und entwickelt. Mit Freuden denke ich an so manche internationale Veranstaltung in Asien wie auch in Europa, die wir gemeinsam bestritten haben und zugleich die Gelegenheit wahrnahmen, Kultur und Charme des ausländischen Umfelds zu genießen.
II. Einführung Bereits in meinem Beitrag in GA von 20181 habe ich die Schwierigkeiten aufgezeigt die sich ergeben, wenn eine Person versucht, sich gegen eine „red notice“ von INTERPOL bei Aufenthalt in oder Einreise nach Deutschland zu wehren. Zum besseren Verständnis der folgenden europarechtlich ausgerichteten Überlegungen, seien die grundlegenden Probleme hier noch einmal kurz zusammengefasst. Bekanntlich hat INTERPOL keinerlei Exekutivgewalt, wirkt aber mittelbar stark in nationale Rechte hinein. Wird von einem der 190 Mitgliedsländer bei INTERPOL ein Haftbefehl eingegeben, und akzeptiert INTERPOL einen solchen, wird dieser als „red notice“ auf die INTERPOL Datenplattform gestellt. Dann kann diese Person in allen Mitgliedsstaaten, die sich im konkreten Fall entschieden haben, die „red notice“ in ihr polizeiliches Datensystem zu übernehmen, in Auslieferungshaft genommen werden. In Deutschland geschieht dies nach § 19 IRG. Drei Voraussetzungen müssen dabei allerdings erfüllt sein:
1
GA 2018, 121.
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Zum einen geht der Einstellung einer „red notice“ in der Regel eine Prüfung durch das Datenschutz Komitee von INTERPOL voraus, in der – grob gesprochen – untersucht wird, ob der Haftbefehl nicht als politischer Missbrauch anzusehen oder unter Verletzung von Menschenrechten zustande gekommen ist. Das Komitee kann auch vom Betroffenen angerufen werden. Allerdings ist es nicht notwendig mit Mitgliedern besetzt, die die Befähigung zum Richteramt haben und gegenüber INTERPOL unabhängig sind. Damit kann eine mögliche quasi-gerichtliche Autorität gar nicht erst entstehen. Das ist besonders bedauerlich, weil es keinen rechtlichen Rekurs gegen Entscheidungen des Komitees gibt. Auch ist die personelle Besetzung des Komitees angesichts der Überfülle entsprechender Anträge zu klein, um zeitnah entscheiden zu können. Zum anderen muss ein Mitgliedsstaat aus nationaler Sicht entscheiden, ob er die „red notice“ in sein polizeiliches Datensystem aufnimmt und damit die Möglichkeit schafft, die betroffene Person in Auslieferungshaft zu nehmen. Aus deutscher Sicht ist dafür das Amt für Justiz (AfJ), welches aus überwiegend politischen Gründen entscheidet, zuständig. Schließlich müssen jeweils nach nationalem Recht, also im Rahmen der Vorschriften, die die internationale Rechtshilfe regeln, die dort formulierten Bedingungen erfüllt sein. In Deutschland ist hierfür erforderlich, dass nach § 19 IRG die Voraussetzungen eines vorläufigen Auslieferungshaftbefehls gegeben sind. Damit ist eine Schlüssigkeitsprüfung von Form, Inhalt und Umfang des internationalen Haftbefehls gemeint, die von der örtlich zuständigen Generalstaatsanwaltschaft durchgeführt und per Antrag auf vorläufige Festnahme an das OLG zur abschließenden Prüfung überstellt wird, §§ 15, 16 IRG. In der Regel erfolgt zunächst eine vorläufige Festnahme, die bis zur Klärung dieser Schlüssigkeitsprüfung durch die Generalstaatsanwaltschaft oder aber das OLG andauert. Ein wirksamer präventiver Rechtsschutz hiergegen besteht nicht.2 Aber selbst dann, wenn etwa in Deutschland Generalstaatsanwaltschaft und/oder OLG zu dem Ergebnis gekommen sind, dass dem Ersuchen nicht stattgegeben werden kann, ist der Betroffene nicht nur innerhalb der Unionsstaaten, sondern in jedem der 190 INTERPOL Mitgliedsstaaten, die die „red notice“ in ihr polizeiliches Datensystem aufgenommen haben, durch erneute Festnahme und Überprüfung bedroht.
III. Der Umgang mit der „red notice“ aus EU-rechtlicher Sicht Hier nun soll diese Problemlage aus EU-rechtlicher Sicht überprüft werden. Ausgangspunkt ist ein Sachverhalt, in welchem die Unionsstaaten die „red notice“ akzeptiert haben und ein Mitgliedsstaat das Ersuchen, etwa durch Übernahme des Verfahrens und Einstellungen nach §§ 153 ff. StPO oder Urteilsspruch erledigt hat 2
Vgl. Kühne, GA 2018, 121 (sub II (2)).
Der europarechtliche Rechtsschutz gegen eine „red notice“ von INTERPOL
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(Strafklageverbrauch), ohne dass in Folge die „red notice“ von INTERPOL gelöscht worden ist. Der Vorlagebeschluss des VG Wiesbaden v. 27. 06. 2019 an den EuGH zeigt, dass dies kein bloßes akademisches Problem ist3. 1. In einem solchen Falle ist der Betroffene zwar im Lande der aufgrund des internationalen Haftbefehls erlassenen Folgeentscheidung sicher vor weiterer Verfolgung. In den anderen Unionsstaaten – wie natürlich auch in den übrigen Mitgliedsstaaten von INTERPOL – könnte die weiterhin bestehende „red notice“ aber Anlass für erneute strafprozessuale Maßnahmen sein. Unionsrechtlich könnte dadurch eine Verletzung der Freizügigkeit, Art. 21 I AEUV, 45 GRC wie auch des Verbots der Doppelbestrafung, Art. 50 GRC verursacht werden. Da INTERPOL, wie bereits erwähnt, als Internationale Organisation des Völkerrechts keiner Jurisdiktion untersteht, stellt sich die Frage, ob sich aus EU-Recht Konsequenzen ergeben, die einem weiteren Nachgehen der „red notice“ entgegenstehen und somit deren Wirkung innerhalb der EU aufheben. Wie oben bei II. dargelegt, kann ein Fortbestehen einer „red notice“ trotz Strafklageverbrauchs in einem EU Mitgliedsstaat zu vorläufigen Festnahmen in anderen Mitgliedsstaaten führen. Da diese Festnahmen zum Zwecke der Strafverfolgung vorgenommen werden, verletzen sie Art.50 EGC, soweit im Sinne dieser Vorschrift bereits eine endgültige Erledigung der Sache erfolgt ist. Das ist nicht nur der Fall, wenn eine rechtskräftige Entscheidung ergangen ist; auch andere, in ihrer Wirkung abschließende Entscheidungen wie etwa die Einstellungen nach §§ 153 ff. StPO haben nach der Rechtsprechung des EuGH diese Wirkung4. In einer solchen Situation würde allein schon die Verfolgung durch einen anderen EU-Staat eine Verletzung von Art. 50 EGC darstellen. Auch die Garantie der Freizügigkeit wäre verletzt. Die Gefahr, aufgrund der weiter bestehenden „red notice“ in allen weiteren EU-Staaten (vorübergehend) inhaftiert zu werden, reduziert die Freizügigkeit faktisch auf null. Da eine derartige Entscheidung wegen Verstoßes gegen Art. 50 EGC rechtswidrig wäre, fehlte es an einer Legitimation; auch Art. 21I AEUV wäre verletzt. Dieses Ergebnis bedeutet zunächst einmal, dass die weitere Berufung auf die „red notice“ gegen Unionsrecht verstieße und jede gleichwohl erfolgende Festnahme rechtswidrig wäre, was vor den nationalen Gerichten der Unionsstaaten wie auch vor der Europäischen Gerichtsbarkeit geltend gemacht werden könnte. Letztlich ist das aber nicht wirklich befriedigend, weil kein präventiver Schutz vor der Inhaftierung in einem anderen EU-Staat, sondern nur ein Anfechtungsgrund gegen eine erfolgte Inhaftierung gewährleistet ist. Da INTERPOL als internationale Organisation keiner Jurisdiktion untersteht, hätte diese Rechtslage auch keinerlei verpflichtende Wirkung für INTERPOL, die „red notice“ zu löschen oder aber mit einem Vermerk zu versehen, dass sie für Mitgliedsstaaten der EU nicht mehr gül3 4
Vgl. https://www.rv.hessenrecht.hessen.de/bshe/document/LARE190035552. Vgl. Kühne, Strafprozessrecht, 9. Aufl. 2015, Rn. 661.1 m.w. Nachw.
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tig ist. Also fällt eine solche Lösung zur präventiven Vermeidung weiterer strafrechtlicher Verfolgungen de lege lata aus. De lege ferenda könnte hier ein Abkommen zwischen der EU und INTERPOL hilfreich sein. Das entspräche auch den Empfehlungen der Nr 25, 2. S. 2. HS der Präambel und Art. 40 der Richtlinie EU 2016/680, scheint aber von Seiten der EU noch nicht in die nähere Planung aufgenommen worden zu sein. Hierzu sogleich unten bei (2) mehr. Als zweitbeste Möglichkeit käme eine EU-interne Kommunikationspflicht für alle Justizorgane, deren Entscheidungen Sperrwirkung für die anderen Mitgliedsstaaten haben, in Frage. Nach dem Blick der Verfolgungsorgane in den Datenbestand von INTERPOL würden dann auf den zweiten Blick in den Datenbestand der EU erneute Strafverfolgungsmaßnahmen von vornherein blockiert werden können. Zwar ist die Möglichkeit, solche Entscheidungen an das Schengener Informationssystem (SIS) zu übermitteln offensichtlich und unproblematisch. Eine entsprechende Pflicht hingegen ist in diesem Zusammenhang wohl noch nicht diskutiert worden. Gleichwohl muss eine solche Pflicht dem Unionsrecht, insbesondere der EGC und dem AEUV im Sinne der obigen Ausführungen entnommen werden, weil nur so eine Verletzung der Art. 50 GRC, 21 AEUV durch Rückgriff auf Daten von INTERPOL vermieden werden kann. 2. Des Weiteren ist es naheliegend, auf die Datenschutz-Richtlinie EU 2016/680 als rechtlichem Ansatzpunkt für eine Lösung des Problems zu rekurrieren. Richtig stellt das VG Wiesbaden im oben genannten Vorlagebeschluss fest, dass die Richtlinie in den Art. 36, 37 hohe rechtsstaatliche Ansprüche an den innereuropäischen Datenaustausch stellt, Ansprüche, deren Erfüllung bei der Datenerhebung und -bearbeitung durch INTERPOL zweifelhaft sein könnten. Eine Prüfung des Datenschutzniveaus bei INTERPOL ist aber nur sinnvoll, wenn die Richtlinie auch auf den Datentransfer von einer Internationalen Organisation in die EU bzw. ihre Mitgliedsstaaten anzuwenden ist. Der Schutzzweck der Richtlinie 2016/680 wird in Nr. 7 der Präambel der Richtlinie gut beschrieben: „Für den Zweck der wirksamen justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen und der polizeilichen Zusammenarbeit ist es entscheidend, ein einheitliches und hohes Schutzniveau für die personenbezogenen Daten natürlicher Personen zu gewährleisten und den Austausch personenbezogener Daten zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten zu erleichtern.“
Diese Formulierung scheint den Schutz auf den Datenverkehr innerhalb der EU zu beschränken. Allein die vorangehende Nr. 4 der Präambel zeigt, dass es auch um den Datenverkehr mit internationalen Organisationen und Drittländern geht: „Der freie Verkehr personenbezogener Daten zwischen den zuständigen Behörden … innerhalb der Union und die Übermittlung solcher personenbezogener Daten an Drittländer und internationale Organisationen, sollte erleichtert und dabei gleichzeitig ein hohes Schutzniveau für personenbezogene Daten gewährleistet werden.“
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Es geht also auch um die Datenkommunikation mit Organisationseinheiten außerhalb der EU. Allerdings ergibt sich aus Art. 35 I der Richtlinie, dass diese nur für den ausgehenden Datenverkehr aus der EU und ihren Mitgliedstaaten gilt. „Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass jedwede von einer zuständigen Behörde vorgenommene Übermittlung von personenbezogenen Daten, die bereits verarbeitet werden oder nach ihrer Übermittlung an ein Drittland oder eine internationale Organisation verarbeitet werden sollen, einschließlich der Weiterübermittlung an ein anderes Drittland oder eine andere internationale Organisation, nur unter Einhaltung der nach Maßgabe anderer Bestimmungen dieser Richtlinie erlassenen nationalen Bestimmungen, zulässig ist, wenn die in diesem Kapitel festgelegten Bedingungen eingehalten werden …“.
Auch die folgenden Artikel 36 – 39 handeln nur von ausgehenden Daten. Hieraus folgt, dass nach dem bloßen Wortlaut der Regelung die von Drittstaaten oder Internationalen Organisationen eingehenden Daten nicht betroffen sind. Obwohl dieser Schluss sprachlich überzeugend erscheint, fragt es sich doch, ob nicht so sehr eine grundlegende Einschränkung des Anwendungsgebiets der Richtlinie gemeint ist, sondern eine speziell für den Datenausgang gedachte Vorschrift, welche Fragen des Dateneingangs nicht behandelt. Da jedoch weder in der Präambel noch im Text der Richtlinie von eingehenden Daten und deren entsprechendem Schutz gesprochen wird, muss davon ausgegangen werden, dass die Richtlinie explizit nur den Datenausgang regelt. Man könnte jedoch überlegen, ob die Richtlinie nicht doch Hinweise enthält, die eine Anwendung auch auf eingehende Daten im Rahmen einer weiten Interpretation ermöglicht. Ansatzpunkt wäre hier der Schutzzweck der Richtlinie, mit der ein EUweiter Individualschutz im Datenverkehr angestrebt wird. Dieser ist nicht gewährleistet, wenn innerhalb der EU und ihren Mitgliedsstaaten Daten benutzt und verarbeitet werden können, die unter Missachtung der intendierten Schutzmechanismen außerhalb der EU entstanden sind. Aus Nr. 25 der Präambel ergibt sich jedoch, dass diese Problematik vom europäischen Gesetzgeber offenbar nicht erkannt wurde. „Alle Mitgliedstaaten sind Mitglied der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (Interpol). Interpol erhält, speichert und übermittelt für die Erfüllung ihres Auftrags personenbezogene Daten, um die zuständigen Behörden dabei zu unterstützen, internationale Kriminalität zu verhüten und zu bekämpfen. Daher sollte die Zusammenarbeit zwischen der Union und Interpol gestärkt werden, indem ein effizienter Austausch personenbezogener Daten gefördert und zugleich die Achtung der Grundrechte und Grundfreiheiten hinsichtlich der automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten gewährleistet wird. Wenn personenbezogene Daten aus der Union an Interpol und die Staaten, die Mitglieder zu Interpol abgestellt haben, übermittelt werden, sollte diese Richtlinie, insbesondere die Bestimmungen über grenzüberschreitende Datenübermittlungen, zur Anwendung kommen. Diese Richtlinie sollte die spezifischen Vorschriften unberührt lassen.“
In Satz 2 wird ausdrücklich erwähnt, dass INTERPOL auch Daten an die EU Mitgliedsstaaten, die alle auch Mitglieder von INTERPOL sind, übermittelt. Satz 3 betont die Notwendigkeit diesen Datenaustausch zu optimieren, wobei die Grundrechte
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und Grundfreiheiten der betroffenen Personen gewährleistet werden sollen. Im folgenden Satz 4 ist dann aber nur wieder von der Anwendbarkeit der Richtlinie bei von der Union an INTERPOL ausgehenden Daten die Rede. Es wird dadurch der Eindruck erweckt, dass die Teile der Formulierung der Nr. 25, die auch den Datenverkehr von INTERPOL in die Union erfassen könnten, eher zufällig gewählt worden sind. Andernfalls hätte in Satz 4 auch ausdrücklich der von INTERPOL an die Union gehende Datenverkehr in den Schutzbereich der Richtlinie mit aufgenommen werden müssen. Immerhin kann man dem Satz 3 bei wohlwollender Interpretation entnehmen, dass der Gesetzgeber zumindest nichts dagegen hat, wenn von INTERPOL eingehende Daten die Grundrechte und Grundfreiheiten betroffener Personen respektieren. Es fällt jedoch schwer, allein hieraus eine rechtliche Pflicht zu entnehmen, die Richtlinie in ihrer Gesamtheit auch auf die von INTERPOL an die Union übermittelten Daten anzuwenden. Für eine derartige Schlussfolgerung ist die Richtlinie denn doch zu explizit auf den von der EU und ihren Mitgliedsstaaten ausgehenden Datenverkehr ausgerichtet. Es liegt demnach eine Regelungslücke vor. Fragt man sich, wie so etwas geschehen konnte, so liegt folgende Vermutung nahe: Da die Richtlinie alle EU-Mitgliedsstaaten bindet, sind alle von einem Mitgliedsstaat in einen anderen ausgehende Daten notwendig richtlinien-konform. Folglich besteht für diese Daten als eingehende Daten kein gesonderter Regelungsbedarf, es reicht deshalb von ausgehenden Daten zu sprechen. Übersehen wird dabei, dass bei der Einbeziehung des Datenverkehrs zwischen EU-Mitgliedsstaaten und Internationalen Organisation oder Drittstaaten diese Situation nicht gegeben ist, weil die Richtlinie diese nicht verpflichtet, weshalb die von dort eingehenden Daten durchaus nicht den Standards der Richtlinie entsprechen müssen. Eine derartige „Einbruchstelle“ des Datenschutzes ist sicherlich nicht von der Richtlinie intendiert, ergibt sich aber aus ihrer insofern restriktiven Formulierung. Diese Lücke könnte geschlossen werden durch eine Argumentation, die den Unionsrechtlichen Schutz der Freizügigkeit, Art. 21 I AEUV und des Verbots der Doppelbestrafung, Art. 50 EGC mit berücksichtigt. Demzufolge bliebe die Möglichkeit, die Richtlinie 2016/680 ergänzend, also analog auszulegen und sie auch auf eingehende Daten zu beziehen, soweit diese nicht von Staaten oder Organisationen kommen, die direkt durch die Richtlinie verpflichtet sind. Wie oben bereits ausgeführt, läge ein solches Verständnis durchaus im Sinne des Schutzzweckes der Richtlinie, obwohl dies in der Formulierung der einschlägigen Regelungen keineswegs deutlich zum Ausdruck kommt. Immerhin erwähnt Art. 40 der Richtlinie die Notwendigkeit, mit Drittstaaten und Internationalen Organisationen Mechanismen zur Verbesserung der Kooperation unter Beachtung der datenschutz-rechtlichen Grenzen zu entwickeln Hier wird ganz generell auf den Datenaustausch Bezug genommen, ohne zwischen ein- und ausgehenden Daten zu unterscheiden. Dieser offenkundige Schutzzweck zusammen mit der Gefahr der Verletzung von Art. 50 EGC und Art 21 I AEUV lassen den Schluss zu, dass der Gesetzgeber die Problematik des Schutzes durch eingehende Daten nicht ausschließen wollte, sondern schlicht übersehen
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hat. Deshalb ist es zulässig, in analoger Auslegung diese Lücke zu schließen und die Richtlinie auch auf Daten zu beziehen, die von Drittstaaten oder Internationalen Organisationen in die Rechtssysteme der EU und ihrer Mitgliedsstaaten eingehen. 3. Folglich ist in jedem Fall einer „red notice“5 zu prüfen, ob die von INTERPOL generierten Daten den Schutzstandards der Richtlinie entsprechen. Eine solche Prüfung ist allerdings kaum möglich, weil INTERPOL nicht verpflichtet ist bekanntzugeben, auf welche Weise die in die „red notice“ einfließenden Daten zustande gekommen und bearbeitet worden sind. Hinzu kommt, dass wie oben bei (II.) schon moniert, das Komitee bei INTERPOL, welches vor der Eingabe in die Plattform prüft, ob die eingehenden Daten unter Beachtung rechtsstaatlicher und menschenrechtlicher Garantien entstanden sind, nicht mit Personen besetzt sein muss, die die Befähigung zum Richteramt sowie die erforderliche Unabhängigkeit besitzen. Das, zusammen mit der Unanfechtbarkeit der Entscheidungen vor einem anderen richterlichen Gremium, lässt Zweifel an EU-rechtlicher Konformität wie auch an Bestandskraft aufkommen. In Ermangelung konkreter Regelungen zwischen der EU und INTERPOL muss daher in Anwendung der Richtlinie die Entscheidung des Komitees einer EU-rechtlichen Überprüfung offenstehen, weil es um den Schutz von Individual- und Freiheitsrechten in der EU geht – und die von INTERPOL an die EU übermittelten Daten betreffen und beeinträchtigen diese Rechte ganz massiv, wie oben dargelegt. Deshalb müssten die Entscheidungen des INTERPOL-Komitees innerhalb der Mitgliedsstaaten der EU wie auch vor dem EuG bzw. EuGH zur Überprüfung gestellt werden. Hierbei kann INTERPOL natürlich nicht Beklagte sein, vielmehr sind es die nationalen Innen- und Justizbehörden, denen die Nutzung dieser Daten gerichtlich verboten werden soll. Die dann gefundenen Entscheidungen haben zwar keine unmittelbare Verpflichtungskraft für INTERPOL, sie verpflichten jedoch die EU-Mitgliedsstaaten in Anwendung des EU Rechts, eine den Standards der Richtlinie nicht entsprechende „red notice“ zu ignorieren und aus ihren Datensystemen zu entfernen. In der Praxis kann dies allerdings bedeuten, dass bis zur Entscheidung des EuGH die mitgliedsstaatliche Bewertung der Datenerhebung und Datenverarbeitung durch INTERPOL unterschiedlich ausfallen kann. Das hat für den von einer „red notice“ Betroffenen die Konsequenz, dass er bis dahin mit der Gefahr weiterer Strafverfolgung und entsprechenden Einschränkungen seiner Freizügigkeit rechnen muss. Wollte man diesem durch mangelnde Information von INTERPOL und Rechtsweg-bedingtem Verletzungsrisiko entgehen, so bliebe nur, in Ansehung der strukturell mangelhaften, eine „red notice“ auslösenden Datenbehandlung bei INTERPOL sowie dem Fehlen eines bindenden Bekenntnisses zur Richtlinie, jedwede Nutzung dieser INTERPOL Daten als Verletzung der Richtlinie und damit einen Verstoß gegen EU Recht zu halten. Aus Sicht des individualrechtlichen Datenschutzes 5 Dies gilt auch für andersfarbige „notices“, soweit diese mögliche Zwangsfolgen für die Betroffenen haben.
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sowie der Intention der Richtlinie wäre das eine rechtlich vertretbare, ja zwingende und im Ergebnis zufriedenstellende Lösung. Aus der Perspektive der internationalen Kriminalitätsbekämpfung käme man jedoch zu einem weniger positiven Ergebnis. Die insgesamt durchaus erfolgreiche Kooperation auch der EU-Staaten mit INTERPOL wäre dadurch grundsätzlich beeinträchtigt. Zwar garantiert EUROPOL institutionell eine effiziente und kooperative Bekämpfung von Schwerkriminalität innerhalb der EU und ersetzt damit Funktionen von INTERPOL. Bei der Bekämpfung von Schwerkriminalität in Drittstaaten wären aber die EU-Staaten von einer durch INERPOL vermittelten Mitwirkung ausgeschlossen, was faktisch wie politisch nicht wünschenswert erscheint. 4. Um zu einer datenschutzrechtsfreundlichen und kriminalpolitisch erträglichen Lösung zu gelangen, müsste die EU so bald als möglich in Umsetzung der Pflichten aus Art. 40 der Richtlinie ein Übereinkommen mit INTERPOL abschließen, welches Schutzpflichten sowie Kooperations- und Kontrollmechanismen schon bei der Erhebung und Verarbeitung der eine „red notice“ begründenden Daten – und nicht nur dort – vorsieht. Insbesondere müsste ein solches Abkommen enthalten: – Die Garantie eines unabhängigen Komitees mit zum Richteramt befähigten Personen bei INTERPOL. – Die Offenlegung des Umgangs mit Daten bei INTEROL zwecks Schaffung einer justiziellen Überprüfungsmöglichkeit. – Eine Pflicht von INTERPOL, bei Erledigung durch die Justizbehörde eines EUMitgliedsstaates nach entsprechendem offiziellem Hinweis, die „red notice“ zu löschen oder mit einem Vermerk zu versehen, der die Unanwendbarkeit für EU-Mitgliedsstaaten erkennbar macht. – Die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung der Entscheidung von INTERPOL über die Einstellung oder die Weigerung der Löschung einer „red notice“ auf der offiziellen Datenplattform. Diese Überprüfung sollte innerhalb der Gerichtsbarkeit des EU-Mitgliedsstaates möglich sein, in welchem die Erledigung oder aber die Nichtverfolgung der Sache entschieden wurde. Eine derartige Regelung würde zwar bei bestimmten Fallkonstellationen auch dazu führen, dass bis zur Ausschöpfung des Rechtswegs für den von der „red notice“ Betroffenen Einschränkungen der Freizügigkeit sowie die Gefahr der Verletzung des Verbots der Doppelbestrafung bestehen blieben. Die Verpflichtung von INTERPOL auf die Datenschutzrichtlinie zusammen mit der Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung von INTERPOL’s Umgang mit Daten dürften aber im Vorfeld einen hinreichenden Schutz bieten, der der augenblicklichen Situation deutlich überlegen wäre.
Entwicklungstrends der finnischen Strafrechtswissenschaft von den 1970-er bis zu den 2010-er Jahren Von Raimo Lahti
I. Zum Geleit Ich möchte hier die Entwicklungstrends analysieren, die in der finnischen Strafrechtswissenschaft und allgemein in der rechtswissenschaftlichen Forschung im Zeitraum ab den 1970-er Jahren bis zur Mitte der 2010-er Jahre gewirkt haben. Dieser Aufsatz kann auch als eine autobiographische Behandlung der finnischen Strafrechtsdoktrin sowie eine Fortsetzung meiner früheren Beiträge1 angesehen werden. Einen guten nationalen Ausgangspunkt bildet das einschlägige Werk von Dan Frände, der beinahe 40 Jahre lang ein einflussreicher Strafrechtler in Finnland gewesen ist.2 Für die Entwicklung der Doktrin sind besonders seine Doktorarbeit und sein Lehrbuch wichtig gewesen.3 In seinem viel genutzten rechtswissenschaftlichen Lehrbuch bezieht Dan Frände neben den allgemeinen Lehren die Rechtsprinzipien, die Theorien, den Begriffsapparat, die Rechtsquellenlehre und die juristische Methodenlehre mit ein.4 Ich selbst würde noch die Wert- und Zielgrundlagen des Rechtsbereichs hinzufügen. Nach Frände bilden die Auslegung und Systematisierung der Strafrechtsvorschriften einen wichtigen Teil der strafrechtsdogmatischen Forschung und dabei kommen
1
Siehe Raimo Lahti, Neues in der finnischen Strafrechtswissenschaft und in den allgemeinen Lehren des finnischen Strafrechts. Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (ZStW) 1991, S. 521 – 540. Publiziert auch in meiner Aufsatzsammlung Lahti, Zur Kriminalund Strafrechtspolitik des 21. Jahrhunderts. Der Blickwinkel eines nordischen Wohlfahrtsstaates und dessen Strafgesetzreformen: Finnland, Berlin, de Gruyter 2019 (Open access: https://doi.org/10.1515/9783110647990), S. 121 – 139. 2 Die frühere Version dieses Aufsatzes ist auf schwedisch in der Festschrift für Dan Frände erschienen: Raimo Lahti, Utvecklingslinjer i den finländska straffrättsvetenskapen från 1970talet till 2010-talet, Tidskrift utgiven av Juridiska Föreningen i Finland (JFT) 2017, S. 529 – 546. 3 Siehe Dan Frände, Den straffrättsliga legalitetsprincipen [Das strafrechtliche Legalitätsprinzip]. Dissertation, Ekenäs, Juridiska Föreningen i Finland 1989; Dan Frände, Yleinen rikosoikeus [Allgemeines Strafrecht. Lehrbuch], 2. überarb. Auflage, Helsinki, Edita 2012. 4 Frände 2012 (Fn. 3), S. 4 – 5.
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die aus den allgemeinen Lehren des Strafrechts abgeleiteten „Instrumente“ zum Einsatz. In seinem Lehrbuch gilt das Hauptaugenmerk dem Straftatbegriff.5 Nach landläufiger Auffassung kommt den allgemeinen Lehren des Strafrechts die ausdrückliche Aufgabe zu, die Systematisierung und Anwendung des geltenden Rechts zu fördern. Ebenso wichtig ist meiner Meinung nach die Herausbildung der Strafrechtstheorie, oder, weiter gefasst, eines solchen theoretischen Denkens, das den Gesetzgebungsprozess mitberücksichtigt und das strafrechtliche Kontrollsystem (das Straf- und Strafprozessrecht sowie den diese in die Praxis umsetzenden Kontrollapparat) als Ganzes mit umfasst.6 Eine gegenwärtige Herausforderung ist die Globalisierung, die den Bedarf der Harmonisierung der Strafgesetze und dadurch den Bedarf der Rechtsvergleichung vermehrt.7 Das Gesamtprojekt „Max-Planck-Informationssystem zur Strafrechtsvergleichung“ wurde unter Leitung von Ulrich Sieber zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit dem Ziel begründet, dass das Projekt zu einer Weiterentwicklung der Strafrechtsvergleichung und Entwicklung einer internationalen Strafrechtsdogmatik beitragen würde.8 Es ist meine Hoffnung, dass auch dieser Artikel diesem Ziel dienen könnte.
II. Zu den Tendenzen der Strafrechtswissenschaft und Strafrechtslehre in den siebziger Jahren – der Vormarsch der multidisziplinären Kriminalwissenschaft In der Rechtswissenschaft war die Jahrzehntwende von den sechziger zu den siebziger Jahren die Zeit einer heftigen Methodendebatte. Laut der methodischen Programmerklärung, die Antti Kivivuori in seiner Dissertation9 vorbrachte, habe die Rechtswissenschaft neben der mit logisch-linguistischen Verfahren operierenden Analyse des sprachlichen Inhalts der Normen auch die Interaktion zwischen Rechtsnorm und Gesellschaft zu untersuchen, und zwar mit den Methoden der Soziologie, Psychologie und Geschichtswissenschaft. Ein anderer junger Rechtswissenschaftler, Antero Jyränki, postulierte eine solche Rechtswissenschaft als Ziel, die in den Be5
Frände 2012 (Fn. 3), besonders S. 5. In die gleiche Richtung geht etwa Linda Gröning, Towards a Theory of the Criminal Justice System, Nordisk Tidsskrift for Kriminalvidenskab (NTfK) 2012, S. 27 – 45. Laut Frände 2012 (Fn. 3), S. 3 umfasst die Lehre von der Straftat und der Strafe vier Wissenschaftszweige: die Strafrechtsdogmatik, die Kriminalpolitik, die Kriminologie und die Kriminalistik. 7 Siehe besonders Ulrich Sieber, The Forces behind the Harmonization of Criminal Law, in: M. Delmars-Marty et al., Les chemins de l’harmonisation pénale, Paris 2008, S. 385 – 417. 8 Siehe die ersten fünf Teilbände von Ulrich Sieber/Karin Cornils (Hrsg.), Nationales Strafrecht in rechsvergeichener Darstellung. Allgemeiner Teil, Berlin, Duncker & Humblot 2008 – 2010. 9 Antti Kivivuori, Suomen vahingonkorvauslainsäädännön kehitys I. Rikoslainsäädäntö 1809 – 1875 [Die Entwicklung der finnischen Rechtsvorschriften zum Schadenersatz. Strafgesetzgebung 1809 – 1875], Joensuu 1969. 6
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reich der Politik gehöre.10 Sowohl die betont traditionell ausgerichtete Jurisprudenz als auch die analytische Rechtswissenschaft wurden somit einer massiven Kritik unterzogen. Der international berühmte Rechtstheoretiker Aulis Aarnio hat auf den ersten landesweiten „Rechtswissenschaftlichen Tagen“ (1984) die neuen Entwicklungstrends in der Forschung wie folgt zusammengefasst: Auf der einen Seite werde verlangt, dass sich Jurisprudenz und Rechtswissenschaft sowie ihre Verfahren entweder der Politologie oder der empirischen Sozialwissenschaft annähern sollten. Auf der anderen Seite werde – je nach der Schwerpunktsetzung des jeweiligen Kritikers – gefordert, die Jurisprudenz und Rechtswissenschaft zu einer offen argumentierenden Forschung zu machen, zu einer problemzentrierten und unterschiedliche Elemente integrierenden Forschung, zu einer die Weiterentwicklung der Rechtsordnung betonenden Forschung und/oder zu einer Forschung, die die strukturellen Beziehungen zwischen dem Recht und der Gesellschaft zu klären habe.11 Auf denselben Rechtswissenschaftlichen Tagen hat der Strafrechtler Eero Backman, der in seiner Dissertation „Rikoslaki ja yhteiskunta I“ (1976) als theoretischen Bezugsrahmen eine den letztgenannten Trend vertretende, vom Marxismus beeinflusste Rechtsideologie angewandt hatte, als Herausforderung die Herausbildung einer solchen Konzeption hingestellt, mit der die strafrechtliche Regulierung und die rechtliche, empirische und theoretische Erforschung der Kriminalität eine gemeinsame wissenschaftliche Grundlage erhielte. In seinem späteren Werk „Oikeustiede yhteiskuntatieteenä“ (1992) hat Backman es unternommen, sich dieser Herausforderung für die Forschung zu stellen.12 In meiner eigenen Forschungstätigkeit habe ich nach meiner strafrechtsdogmatischen Lizentiatenarbeit13 über die Gesetzeskonkurrenz einen rechtspolitischen Arti10
Antero Jyränki, Teesejä juridiikasta ja juristeista [Thesen über Juridik und Juristen], Lakimies (LM) 1969, S. 880 – 892. 11 Aulis Aarnio, Mitä 1960- ja 1970-lukujen keskustelu on opettanut oikeustieteen luonteesta? [Was hat die Diskussion der sechziger und siebziger Jahre uns über die Natur der Rechtswissenschaft gelehrt?], in: Raimo Lahti/Maria Rehbinder (Hrsg.), Oikeustieteen tila ja tulevaisuus [Lage und Zukunft der Rechtswissenschaft], Vaasa, Lakimiesliiton Kustannus 1985, S. 17 – 32. 12 Siehe genauer Eero Backman, Rikoslaki ja yhteiskunta I. Teoreettinen erittely rikosoikeuden tieteenkäsityksistä 1800-luvulla ja sen konkretisointi moraalin, uskonnon ja rikosoikeuden suhteisiin Suomessa vuosina 1894 – 1917 [Strafgesetz und Gesellschaft I. Theoretische Analyse der Wissenschaftsauffassungen des Strafrechts im 19. Jahrhundert und seine Konkretisierung in den Beziehungen zwischen Moral, Religion und Strafrecht in Finnland in den Jahren 1894 – 1917], Vammala, Suomalainen Lakimiesyhdistys (SLY) 1976; ders., Oikeustiede yhteiskuntatieteenä [Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft], Helsinki, Lakimiesliiton Kustannus 1992. 13 Siehe meinen auf der Grundlage der Arbeit verfassten begriffsanalytischen Artikel Raimo Lahti, Lainkonkurenssista [Über die Gesetzeskonkurrenz], LM 1968, S. 709 – 737. Meine Arbeit war stark von Ulrich Klug, Zum Begriff der Gesetzeskonkurrenz, ZStW 68 (1956) S. 399 – 416 beeinflusst.
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kel14 verfasst, der mit den sog. Anstiftungsverfahren Aktualität gewann. Nach der Niederschrift eines umfangreichen Artikels über die Ziele und Mittel der Kriminalpolitik15 habe ich mich dazu entschlossen, meine Dissertation über die Rechtsvorschriften zum Absehen von Strafverfolgung und Verurteilung zu schreiben, und dabei habe ich versucht, die Regulierung der in diesen Vorschriften stipulierten Sanktionen ganzheitlich und multidisziplinär zu beschreiben. Für meine Dissertation waren also Problemzentriertheit und das Ziel kennzeichnend, unterschiedliche kriminalwissenschaftliche Forschungsweisen zu integrieren und vor allem auch empirische Sozialforschung in die Rechtsdogmatik einzubeziehen. Der zentrale Gedanke war der, dass die in meiner Abhandlung vorgebrachten rechtssoziologischen (oder rechtsgeschichtlichen oder rechtsvergleichenden) Forschungsergebnisse nicht nur als „Früchte der Nebenzweige“ der Rechtswissenschaft von Bedeutung seien, sondern dass sie ein wichtiges Basismaterial für die Auslegungs- und Erlassungsempfehlungen und die diese betreffende rechtliche rechtspolitische Argumentation bereitstellen. Auf diese Weise lassen sich die Rationalität der Auslegung der strafrechtlichen Vorschriften und der Kriminalpolitik erheblich erhöhen. Man müsse das Bewusstsein für Meinungsverschiedenheiten erzeugende Ziele und auch Werte vermehren und deren Begründbarkeit analysieren, und Modelle für deren gegenseitige Abwägung entwickeln. In meiner Dissertation nahm die Analyse der kriminalpolitischen Funktionen der untersuchten Vorschriften eine wichtige Stellung ein und ich habe im Methodenteil meiner Abhandlung ein Auslegungsverfahren entwickelt, bei dem der Zweck des Gesetzes (Ziele, Ratio, Funktionen) betont wird.16 Eine multidisziplinäre Kriminalwissenschaft (bzw. multidisziplinäre Kriminalwissenschaften) – mit der Strafrechtswissenschaft, Kriminologie und Kriminalpolitik als wichtigste Teilgebiete – ist an sich nichts Neues gewesen. Schon die sog. soziologische Strafrechtsschule, die sich gleichzeitig mit der Entstehung der Kriminologie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte, hat mehrere Jahrzehnte lang einen starken Einfluss auf das kriminalpolitische Denken ausgeübt. Neu war in der Diskussion, die Ende der 1960-er Jahre begann, das Bestreben, die Forschungsobjekte der Kriminalwissenschaften und allgemein der Rechtswissenschaft, die Wissensinteressen und Methoden
14 Siehe Raimo Lahti, Rikoslain 16 luvun 8 ja 9 §:stä, erityisesti niiden uudistamisesta [Über die §§ 8 und 9 des Kapitels 16 des Strafgesetzbuches, insbesondere über deren Reformierung], JFT 1969, S. 487 – 505. 15 Siehe Raimo Lahti, Rikollisuudesta johtuvien kustannusten vähentämisestä ja jakamisesta [Über die Reduzierung und Teilung der Kosten der Kriminalität]. Oikeustiede–Jurisprudentia II, Helsinki 1972:1, S. 221 – 313. 16 Siehe Raimo Lahti, Toimenpiteistä luopumisesta rikosten seuraamusjärjestelmässä erityisesti silmällä pitäen tuomitsematta jättämistä [Über das Absehen von Maßnahmen im System der Sanktionierung von Straftaten unter besonderer Berücksichtigung des Absehens von Verurteilung], Vammala, SLY 1974 (Zusammenfassung: S. 577 – 590). Siehe auch meine Artikel im Teil I in: Lahti, Zur Kriminal- und Strafrechtspolitik des 21. Jahrhunderts (Fn. 1), S. 3 – 118.
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zu erweitern und vielseitiger zu gestalten und die Wechselwirkung zwischen diesen unterschiedlichen Forschungsgebieten zu stärken.17
III. Auf der Suche nach einer neuartigen Strafrechtstheorie – kriminalpolitische Ausrichtung Als im Jahre 1980 die Arbeit des Strafrechtsprojekts – der Organisation für die Gesamtreform des finnischen Strafgesetzbuches18 – begann, lag der Schwerpunkt auf dem Besonderen Teil des zu reformierenden Strafgesetzbuches, aber nach der Fertigstellung der ersten Entwürfe hierzu kam Ende der achtziger Jahre auch die Arbeit der Arbeitsgruppe für die allgemeinen Lehren voran. Dem internationalen Forschungskolloquium „Strafgesetz 100“ stand der vorläufige Entwurf zum Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuches zur Verfügung. Mitte und Ende der achtziger Jahre haben die deutschen Strafrechtsgelehrten, führende Wissenschaftler auf diesem Gebiet wie Hans-Heinrich Jescheck, Claus Roxin, Albin Eser, Winfried Hassemer und Klaus Tiedemann, in Finnland Vorlesungen gehalten. Auch an besagtem Kolloquium, auf dem der Umbruch der Strafrechtstheorie und der Entwurf des Strafrechtsprojektes behandelt wurden, haben 32 Referenten aus 12 Ländern teilgenommen.19 Für die Jahre 1987 – 1989 habe ich von der Universität Helsinki ein Forschungsstipendium erhalten, und zwar für ein Projekt namens „Theoretische Grundlagen und Anwendungen der Strafrechtsforschung (insbesondere die Gesamtrevision des Strafgesetzbuches)“. Aus den Geldmitteln des Projekts habe ich den Doktoranden Dan Frände, Jaakko Jonkka, Kimmo Nuotio und Jussi Matikkala Beihilfen zugewiesen. In den Jahren 1987 – 1994 habe ich zudem einen Zirkel von Strafrechtsforschern geleitet, an dem sich neben den Mitgliedern des Forschungsprojekts auch weitere Doktoranden beteiligt haben. Als Frucht der Arbeit des Forschungsprojekts und des Forscherzirkels aus den Anfangsjahren erschien das Sammelwerk „Rikosoikeudellisia kirjoitelmia VI“20, und diese Arbeit hat auch das Kolloquium „Strafgesetz 100“ vorbereitet. Die theoretisch orientierten Dissertationen der genannten Doktoranden wur17 Vgl. zur späteren Klassifizierung der Forschungsweisen der Rechtswissenschaft: umfassend bei Raimo Siltala, Oikeustieteen tieteenteoria [Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft], Helsinki, SLY 2003, passim. 18 Siehe genauer über diese Gesamtreform meine Artikel im Teil II in: Lahti, Zur Kriminalund Strafrechtspolitik des 21. Jahrhunderts (Fn. 1), S. 121 – 248. 19 Siehe die wichtigsten Vorträge des Kolloquiums in: Raimo Lahti/Kimmo Nuotio (Hrsg.), Criminal Law Theory in Transition. Finnish and Comparative Perspective/Strafrechtstheorie im Umbruch. Finnische und vergleichende Perspektiven, Helsinki, Finnish Lawyers’ Publishing Company 1992. 20 Raimo Lahti (Hrsg.), Rikosoikeudellisia kirjoitelmia VI. Rikosoikeuden juhlavuonna 1989, [Strafrechtliche Schriften VI. im Jubiläumsjahr des Strafrechts 1989], Rikoslaki 1889 – 19/12 – 1989, Jaakko Forsman (1839 – 1899). Brynolf Honkasalo (1889 – 1973), Helsinki, SLY 1989.
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den in den Jahren 1989 (Frände), 1991 (Jonkka), 1998 (Nuotio) und 2005 (Matikkala) fertiggestellt.21 Eine neuartige Strafrechtstheorie hatte schon die aus den 1970-er Jahren herstammende kriminalpolitische Orientierung vertreten. Der deutsche Strafrechtler Claus Roxin gilt als Begründer der sog. funktionalen bzw. zielrationalen Denkrichtung, die den Zusammenhang zwischen dem strafrechtlichen System und der Kriminalpolitik betont. Einer der Grundgedanken von Roxin war der, dass die Begriffs- und Systembildung auf kriminalpolitischer Erwägung zu gründen habe: die rechtlichen Begriffe des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuchs seien von ihren rechtlichen Folgen aus zu definieren und ihr systematischer Zusammenhang habe auf kriminalpolitischen Leitprinzipien zu basieren.22 Im Kern des strafrechtlichen Unrechts steht bei Roxin die Verursachung eines unerlaubten Risikos gegen ein strafrechtlich geschütztes Rechtsgut und von daher sei der Disput zwischen der kausalen und der finalen Handlungslehre nicht relevant.23 Die Ergebnisse meines oben erwähnten Forschungsprojektes und meinen eigenen Forschungsansatz habe ich in einem im Jahre 1991 erschienenen Artikel dargelegt, den man im Nachhinein als eine Art Programmerklärung auffassen kann.24 Ich war darin der Ansicht, dass es begründet sei, von einer kriminalpolitischen Orientierung in der Strafrechtswissenschaft zu sprechen und habe meine eigenen, dieser Ausrichtung gemäßen Forschungsansätze erläutert. Dabei habe ich unter anderem konstatiert, dass man bei der Bestimmung des Inhalts der allgemeinen Lehren des Strafrechts die rechtlichen Folgen ihrer Anwendung ebenso berücksichtigen müsse wie die Ziele (und Interessen) und Werte (und Prinzipien), von denen eine rationale Kriminalpolitik geleitet wird. Ich habe gesagt, dass ich zum Bereich der Zielrationalität zählende Argumente ebenso im Auge behalte wie zum Bereich der Wertrationalität gehörende Argumente. Mit der Differenzierung der Ziele und Werte der Kriminalpolitik habe ich die Spannung hervorgehoben, die in der Geschichte des Strafrechts 21 Frände, Den straffrättsliga legalitetsprincipen 1989 (Fn. 3); Jaakko Jonkka, Syytekynnys [Die Anklageschwelle], Vammala, SLY 1991; Kimmo Nuotio, Teko, vaara, seuraus [Tat, Gefahr, Erfolg], Vammala, SLY 1998; Jussi Matikkala, Tahallisuudesta rikosoikeudessa [Über den Vorsatz im Strafrecht], Helsinki, SLY 2005. 22 Siehe besonders die Schrift Claus Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, Berlin, Walter de Gruyter 1970 (2. Aufl. 1973). Siehe auch Bernd Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, Berlin, Walter de Gruyter 1984. 23 Roxin, Mein Leben und Streben, in: Eric Hilgendorf (Hrsg.), Die deutschsprachige Strafrechtswissenschaft in Selbstdarstellungen, Berlin, de Gruyter Verlag 2010, S. 447 – 477 (460). 24 Lahti, ZStW 1991 (Fn. 1). Zu meinen späteren einschlägigen Stellungnahmen siehe ders., Hur utföll den finska totalrevideringen av strafflagen 1972 – 2003? [Wie ist die Gesamtrevision des finnsichen Strafgesetzes 1972 – 2003 ausgefallen?], in: Jurist uden omsvøb. Festskrift til Gorm Toftegaard Nielsen, København, Christian Ejlers’ Forlag 2007, S. 153 – 169; ders., Åklagaren som kriminalpolitisk och etisk aktör [Der Ankläger als kriminalpolitischer und ethischer Akteur], in: Festskrift till Suzanne Wennberg, Stockholm, Norstedts juridik 2009, S. 179 – 184. Siehe auch Lahti, Om den straffrättsliga rättskälle- och tolkningsläran [Über die strafrechtliche Rechtsquellen- und Auslegungslehre], in: Festskrift till Madeleine Leijonhufvud, Stockholm, Norstedts juridik 2007, S. 153 – 169.
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zwischen (utilitaristischen) Zweckmäßigkeitsaspekten einerseits und den Aspekten der Gerechtigkeit und Humanität andererseits fortwährend bestanden hat. Des Weiteren habe ich argumentiert, dass man bei der strafrechtlichen Begriffs- und Systembildung der Rechtssicherheit und vergleichbaren Werten den Prima-facie-Vorrang zuerkenne, dass aber bei der Definierung von einzelnen Verantwortungskategorien in gewissen Grenzfällen (wie bei der Beurteilung des Verhaltens im Zustand der Trunkenheit) Aspekte der Prävention den Vorrang erhalten. In der Dissertation25, die Tapio Lappi-Seppälä im Jahre 1987 verteidigt hat, wurde ein Argumentationsmodell für die Theoriebildung der Strafzumessung aufgestellt, das die von mir skizzierte kriminalpolitische Orientierung widerspiegelte, da hier der Versuch unternommen wurde, die allgemeinen und tattypspezifischen Voraussetzungen der Strafbarkeit auf präventive, ergo die Kontrollierbarkeit des Verhaltens betreffende Forderungen zurückzuführen. Später hat Lappi-Seppälä seine Methodologie der Strafrechtsforschung und die Stellung der kriminalpolitischen Orientierung darin eingehend erläutert.26 Die kriminalpolitische Orientierung hat in der finnischen Strafrechtswissenschaft breite Unterstützung gefunden – sogar in dem Maße, dass man mit gutem Grund behaupten könnte, dass sie zum Mainstream geworden ist. Andererseits lassen sich auch unter den Forschern, die dieser Strömung folgen, unterschiedliche Akzentuierungen ausmachen, und das im nächsten Abschnitt zu behandelnde Grund- und Menschenrechtsdenken hat allgemein auf die Auffassungen der Forschergemeinschaft eingewirkt. So hat zum Beispiel Matti Tolvanen in einer Dissertationskritik von 2012 angeführt, dass die kriminalpolitische Orientierung und der Grundrechtsaspekt der vielleicht typischste Zug in der Strafrechtsforschung gewesen sei, die in den letzten Jahrzehnten an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Turku betrieben wurde. Tolvanen hat dort die Wurzeln dieser Orientierung in meiner Amtszeit als Professor (1974 – 1979) gesehen und als ihre Repräsentanten zumindest die folgenden Forscher angeführt, die in der Strafrechtswissenshaft promoviert haben: AriMatti Nuutila, er selbst, Vilja Hahto, Elina Pirjatanniemi, Jussi Tapani und Mikko Vuorenpää.27 Ich möchte hier auf die Auffassungen dieser Forscher nicht weiter eingehen, sondern nur kurz aus der Lectio praecursoria28 von Ari-Matti Nuutila zitieren und auf die 25
Tapio Lappi-Seppälä, Rangaistuksen määräämisestä I [Über die Verhängung der Strafe I], Vammala, SLY 1987. 26 Lappi-Seppälä, Rikosoikeustutkimus, kriminaalipoliittinen orientaatio – ja metodi [Strafrechtsforschung, kriminalpolitische Orientierung – und Methode], in: Juha Häyhä (Hrsg.), Minun metodini [Meine Methode], Helsinki, WSLT 1997, S. 189 – 218. 27 Tolvanen, Gutachten des Opponenten über die Dissertation „Administrative Sanktionierung“ von Kimmo Ilmari Kiiski (Universität Turku 2011), LM 2012, S. 200 – 206 (202). Siehe auch ders., Kriminaalipolitiikka, kriminologia ja rikosoikeuden tutkimus [Kriminalpolitik, Kriminologie und strafrechtliche Forschung], LM 2006, S. 809 – 812. 28 Nuutila, Viisi teesiä rikosoikeuden yleisten oppien muutoksista [Fünf Thesen über die Veränderungen der allgemeinen Lehren des Strafrechts]. LM 1997, S. 64 – 70 (69); siehe
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das Thema tangierende Methodenschrift29 von Jussi Tapani verweisen. Laut Nuutila nutzte „die kriminalpolitisch orientierte Strafrechtslehre als ihr Verfahren immer umfangreicher eine objektive Teleologie und einen problemzentrierten Forschungsansatz. Das Strafgesetz wird nicht nur angewandt, sondern seine Anwendung ist zugleich zielorientiertes Handeln“. Im Kreise der Strafrechtsforscher sind hierzu aber auch kritische Wortmeldungen vorgebracht worden, und keine Denkrichtung hat – weder damals noch später – eine alleinherrschende Stellung erhalten. Vor allem Dan Frände hat gegenüber der Nutzbarkeit der Kriminalpolitik in der Strafrechtsdogmatik eine skeptische Haltung eingenommen.30 Allerdings hat er sich in seinem Lehrbuch von 2012 auch wohlwollender über die gegenseitige Abhängigkeit von Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik ausgesprochen und gemeint, dass man in ihr die Forderung nach einer stärkeren Steuerungsfunktion der Rechtsprinzipien im Verhältnis zu den Auslegungen und Begriffskonstruktionen der Strafrechtslehre sehen könne.31 Auch Kimmo Nuotio hat zu diesem Thema kritische Anmerkungen gemacht. So hat er zum Beispiel angemerkt, dass ein rein auf funktionalistischen Aspekten aufgebautes strafrechtliches Systemmodell leicht in ein „Disziplinarmodell“ mutieren könne, bei dem nur verschiedene Risiken gemanagt werden und allein die Optimierung des Schutzes der Rechtsgüter die Anwendung von Strafen begründen würde.32 In seiner Dissertation hat Nuotio33 die Justifikation des sog. pragmatisch-rationalen Strafrechtsdenkens eingehend analysiert und für eine derart kriminalpolitisch (utilitaristisch) orientierte Denkweise die Grenzen des von Kaarlo Tuori34 entwickelten kritischen Rechtspositivismus aufzuzeigen versucht. In der teleologischen Gesetzauslegung gemäß dem Modell, für das Nuotio plädiert, werden sowohl die präventiven als auch die dem Rechtsschutz dienenden Aspekte berücksichtigt. Zu den schärfsten Kritikern der pragmatisch-rationalen Tendenz im Strafrecht haben Panu
umfassender ders., Rikosoikeudellinen huolimattomuus [Strafrechtliche Fahrlässigkeit], Dissertation, Helsinki, Lakimiesliiton Kustannus 1996, passim. 29 Tapani, Rikosoikeusjärjestelmän jännitteisyys ja kriminaalipoliittisesti latautunut rikoslainoppi [Angespanntheit des Strafrechtssystems und kriminalpolitisch aufgeladene Strafrechtslehre], in: Veli-Pekka Viljanen (Hrsg.), Oikeudenalojen rajat ja rajattomuus [Die Grenzen und Grenzenlosigkeit der Rechtsgebiete], Turun yliopisto 2002, S. 145 – 175. Siehe auch ders., Petos liikesuhteessa [Betrug in der Geschäftsbeziehung], Dissertation, Helsinki, SLY 2004. 30 Siehe besonders Frände, Straffrättsdogmatik och kriminalpolitik [Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik]. Oikeustiede–Jurisprudentia XVIII, Helsinki 1985, S. 5 – 54. 31 Frände 2012 (Fn. 3), S. 7. 32 Nuotio, Rikosoikeudesta riskien hallinnan välineenä [Über das Strafrecht als Mittel des Risikomanagements], LM 1991, S. 995 – 1022 (1006). 33 Nuotio 1998 (Fn. 21), Kap. IV, insbes. S. 547. 34 Siehe allgemein Kaarlo Tuori, Critical Legal Positivism. Oxford, Routledge 2002; ders., Ratio and Voluntas, Oxford, Routledge 2010.
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Minkkinen und Ari Hirvonen gehört, die sich für eine kritische Strafrechtslehre (den Abolitionismus) ausgesprochen haben.35 Auch diejenigen Forscher, die der von Claus Roxin vertretenen zweckrationalen Denkrichtung nicht haben folgen wollen, haben sich die von ihm entwickelte zentrale Lehre von der objektiven Schuldzurechnung zu eigen machen oder von ihr Impulse aufnehmen können. In der schwedisch-finnischen Variante dieser Lehre wird die Forderung nach Verursachung eines unerlaubten Risikos als ein die Kausalitätslehre ergänzendes Einschränkungsprinzip gesehen.36 In Finnland haben Ari-Matti Nuutila und Dan Frände diese Lehrkonstruktion in ihren Lehrbüchern in einer etwas voneinander abweichenden Weise weiterentwickelt und den Begriff der Sorgfaltslosigkeit der Tat (gärningsculpa) in Gebrauch genommen.37 Die Wirkung einer solchen normativen Zurechnungslehre kann man unter anderem in den Begründungen der Regierungsvorlage zu den allgemeinen Lehren des Strafrechts sehen: In vielen Situationen ist ungeachtet dessen, dass der Täter ein unerlaubtes Risiko eingegangen ist und einen Schadenserfolg verursacht hat, der Erfolg ein anderer als der, zu dessen Verhinderung das Eingehen des Risikos verboten worden war, und der Täter ist somit für ihn nicht strafrechtlich verantwortlich.38 In der jüngsten Rechtsprechung ist die Wirkung der fraglichen Lehre zum Beispiel in den Präjudizien des Obersten Gerichtshofes OGH 2014:41 (bewusstes Risiko des Opfers schloss die fahrlässige Tötung aus) und OGH 2016:36 (Vertrauensprinzip im Straßenverkehr schloss die fahrlässige Tötung aus) zu sehen.
35 Siehe insbesondere Panu Minkkinen, ,If Taken in Earnest‘: Criminal Law Doctrine and the Last Resort, Howard Journal of Criminal Justice, 45 (5), 2006, S. 521 – 536, und ders., The ,Last Resort‘: A Moral and/or Legal Principle? Oñati Socio-Legal Series, 3 (1), 2013, S. 21 – 30); Ari Hirvonen, Miksi ei rikosoikeus? [Warum nicht Strafrecht?], in: Ari Hirvonen (Hrsg.), Kohti 2000-luvun rikosoikeutta (Hin zum Strafrecht des 21. Jahrhunderts), Universität Helsinki 1994, S. 83 – 114. Vgl. meine Gegenkommentare Lahti, Das moderne Strafrecht und das ultima-ratio-Prinzip, in: Festschrift für Winfried Hassemer, Heidelberg, C. F. Müller 2010, S. 439 – 448 (auch in: Lahti, Zur Kriminal- und Strafrechtspolitik des 21. Jahrhunderts, Fn. 1, S. 107 – 118); und ders., Towards a principled European criminal policy: some lessons from the Nordic countries, in: Joanna Beata Banach-Gutierrez/Christopher Harding (Eds.), EU Criminal Law and Policy, London/New York, Routledge 2017, S. 56 – 69. 36 Zu dieser Lehre und ihren Variationen zusammenfassend Nuotio 1998 (Fn. 21), Kap. II.4. Siehe auch insbesondere Dan Frände, Gärningsculpa och „objektive Zurechnung“ – några jämförelser [Begehungssorgfaltslosigkeit und objektive Zurechnung – einige Vergleiche], Festskrift till Nils Jareborg, Uppsala, Iustus Förlag 2002, S. 237 – 250. 37 Siehe Nuutila 1996 (Fn. 28), Kap. IV.1 – 4; ders., Rikoslain yleinen osa [Allgemeiner Teil des Strafgesetzes], Helsinki, Lakimiesliiton Kustannus 1997, Kap. III.6; sowie Frände 2012 (Fn. 3), Kap. 5.1.5. 38 Regierungsvorlage 44/2002, Spezielle Begründungen der Vorschrift über die fahrlässige Straftat.
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IV. Von der Rechtsprinzipiendiskussion bis zum Grundund Menschenrechtsdenken im Strafrecht In Finnland wurde Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre in den rechtstheoretisch orientierten Dissertationen eine Rechtsprinzipiendiskussion geführt und die Forscher auf den Gebieten des Strafrechts und Strafprozessrechts haben in dieser Regel-Prinzip-Diskussion und bei der Nutzung der Resultate dieser Debatte eine bedeutende Stellung eingenommen. Einer Bemerkung von Kaarlo Tuori zufolge ist für die postanalytische Phase in der Rechtstheorie neben dem Interesse an den gesellschaftlichen Verknüpfungen der allgemeinen Lehren des Strafrechts die Betonung der Rechtsprinzipien innerhalb der Gesamtheit der allgemeinen Lehren kennzeichnend gewesen.39 Diese Diskussion haben in ihren Dissertationen Tapio Lappi-Seppälä, Dan Frände und Jaakko Jonkka geführt. Laut Lappi-Seppälä komme den Strafbemessungsgrundlagen letztlich Prinzipiencharakter zu; und als Grundaufgabe seiner Dissertation hat er die Begrenzung der Zahl der sich auf die Rechtsquellen stützenden Auslegungsalternativen in einer solchen Weise angegeben, dass die Verhängung der Strafe in optimaler Weise die materiellen und formellen Anforderungen des Rechtsschutzes erfüllt.40 Ein zentrales Ziel von Frändes Dissertation war es aufzuzeigen, dass man für die vier Unterregeln des strafrechtlichen Legalitätsprinzips – das Rückwirkungsverbot, das Praeter legem-Verbot, das Analogieverbot und das Präzisionsgebot – Unterstützung aus den Rechtsprinzipien (den „Daumenregeln“) erhalte und dass diese alle somit zum Strafrechtssystem gehörende bindende Normen seien.41 Zentrales Ziel der Dissertation von Jonkka war es, auf der Basis der Rechtsprinzipiendiskussion ein Abwägungsmodell zur Überschreitung der Anklageschwelle in Situationen der Ungewissheit zu entwickeln. Bei diesem Modell wäge man zum einen das Interesse an der Klärung der strafrechtlichen Verantwortung und zum anderen die Argumente, die für den Rechtsschutz des Verdächtigen sprechen, gegeneinander ab, was bei der Modellierung des Ermessens des Anklägers bezüglich der Frage hilft, ob die Anklageschwelle in concreto überschritten worden ist oder nicht. Das Ziel ist, die Ermessensentscheidung des Anklägers in Einzelfällen so anzuleiten, dass in ihr die allgemeinen Wert- und Zweckziele des Strafprozesses in optimaler Weise verwirklicht werden.42 Das Bewusstsein dafür, dass sich die Rechtsnormen in Rechtsvorschriften und Rechtsprinzipien aufteilen lassen und dass die Anwendung der Rechtsprinzipien die fallspezifische gegenseitige Abwägung der hinter ihnen stehenden Werte und 39 Tuori, Oikeusjärjestys ja oikeudelliset käytännöt Die Rechtsordnung und rechtliche Praktiken, Helsinki, Forum Iuris 2003, S. 87, 148 – 149. 40 Lappi-Seppälä 1987 (Fn. 25), besonders S. 5, 29 und 114. 41 Frände 1989 (Fn. 3), besonders Kap. II.4. 42 Jonkka 1991 (Fn. 21), Kap. IV und V sowie S. 346.
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Ziele und die Ausbalancierung der Rechtsprinzipien voraussetzt,43 hat die wissenschaftstheoretische Basis für den Vormarsch des Grund- und Menschenrechtsdenkens in Finnland seit den neunziger Jahren geschaffen. Die gesetzgeberische Grundlage für dieses Denken basiert auf dem Beitritt Finnlands zum Europarat und damit zur Europäischen Menschenrechtskonvention im Jahre 1990 sowie auf der der Grundrechtsreform des Jahres 1995. Im letztgenannten Jahr ist Finnland auch der Europäischen Union beigetreten. Der Vormarsch des Grund- und Menschenrechtsdenkens in der Strafrechtwissenschaft hat sich in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre in den Dissertationen von Ari-Matti Nuutila und Kimmo Nuotio manifestiert. In ihren Abhandlungen werden die das besagte Denken nutzenden theoretischen Grundlagen des modernen, wohlfahrtstaatlichen Strafrechts weiterentwickelt. Das Hauptthema der Dissertation von Nuutila ist die strafrechtliche Sorgfaltswidrigkeit und die Themen von Nuotio sind die Strukturen der Zurechnung bei der strafrechtlichen Verantwortung sowie die Stellung der Kausalität und der Gefahr (des Risikos) in ihnen.44 Eine der Kernfragen, die in der Strafrechtstheorie zu erörtern sei, ist die Begründbarkeit des besagten modernen Strafrechts in Konflikt- oder Spannungssituationen des liberalistischen und wohlfahrtstaatlichen Rechtsdenkens und der Rechtsentwicklung.45 Im modernen Strafrecht, und somit auch in der Gesamtrevision des finnischen Strafgesetzbuches, haben die Zahl und die Bedeutung der Fahrlässigkeits- und Gefährdungsdelikte zugenommen. Unter anderem hat diese Entwicklungsschritt die Strafrechtswissenschaft vor neue Herausforderungen gestellt. Dan Frände hat insbesondere die allgemeinen Lehren der Gefährdungsdelikte weiterentwickelt.46 Dies war insbesondere bedingt durch die Zunahme solcher Straftatbestände, bei denen die Verursachung einer abstrakten Gefahr im Verhältnis zu einem bestimmten Raum und eines bestimmten Erfolgs bzw. der Gefahr des Erfolgs (Delikte, die „dazu angetan sind …“) ausreichend ist. Unterstützt von diesen Lehren hat sich die Rechtspraxis insbesondere bei der Anwendung der Rechtsvorschrift über die gemeingefährlichen Verbrechen und Vergehen (StrG 34:1) präzisieren können (vgl. OGH 2003:53, 2004:95 und 2012:4). Neben den Dissertationen von Ari-Matti Nuutila und Kimmo Nuotio verdient auch die zur selben Zeit fertiggestellte Doktorarbeit „Syyttäjä tuomarina“ von Petri Jääskeläinen Beachtung. Der theoretische Ansatz dieser Arbeit ist die norma43 Zur Charakterisierung einer solchen Abwägungsentscheidung und zu ihrer Unterscheidung von den Auslegungsentscheidungen siehe zuletzt Ari Hirvonen, Oikeuden ja lainkäytön teoria [Theorie des Rechts und der Rechtsprechung], Helsinki, Forum Iuris 2012, S. 145 – 146. 44 Siehe Nuutila, Rikosoikeudellinen huolimattomuus (Fn. 28); Nuotio, Teko, vaara, seuraus (Fn. 21). 45 Siehe allgemein Raimo Lahti/Kimmo Nuotio (Hrsg.), Criminal Law Theory in Transition – Strafrechtstheorie im Umbruch, 1992, sowie die Themenausgabe LM 7/1991. 46 Siehe Dan Frände, Faredeliktens allmänna läror [Allgemeine Lehren des Gefährdungsdeliktes]. Oikeustiede – Jurisprudentia XXVII, Helsinki 1994, S. 9 – 103; ders. 2012 (Fn. 3), Kap. 5.1.4.
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tiv-prozessuale Präventionstheorie sowie die auf den Grund- und Menschenrechten aufbauende Lehre von der Festlegung der Grenzen und Bedingungen der Zuständigkeit des Anklägers.47 Aspekte des Strafrechts und des Strafprozessrechts haben in ähnlicher Weise wie Jääskeläinen auch Pekka Koponen und Päivi Hirvelä in ihren Dissertationen miteinander verbunden, und in den theoretisch-methodologischen Teilen ihrer Abhandlungen ist die zentrale Vorgangsweise, die Grund- und Menschenrechte zu einem Teil der rechtswissenschaftlichen und rechtspolitischen Analyse zu machen; Koponen tut dies bei Wirtschaftsdelikten und Hirvelä bei Delikten gegen Kinder.48 Markus Terenius wiederum hat sich in seiner Dissertation über die Anwendung von Gewalt durch die Polizei an einer Strafrechtslehre ausgerichtet, bei der die Grundrechte berücksichtigt werden. Insbesondere in der Rechtswissenschaft, der es obliegt, den Systemzusammenhang sicherzustellen, müsse man sich außer auf formell bindende Rechtsquellen auch auf materiellere Argumentationsbegründungen stützen, vor allem auf die Prinzipien, die sich aus den Grund- und Menschenrechten ableiten lassen.49 Über die vom wirtschaftsstrafrechtlichen Themenkreis sowie den von ihnen entwickelten Rechtsquellen- und Ansätzen der Gesetzesauslegung ausgehend haben in den letzten Jahren Mårten Knuts, Kaarlo Hakamies und Heli Korkka ihre Dissertationen verfasst.50 Knuts und Hakamies haben in diese Lehren als bedeutsamen Zusatz in ihre Überlegungen über die Bedeutung von wirtschaftswissenschaftlichen Argumenten eingebracht. Korkka wiederum hat zur Bemessung des durch wirtschaftskriminelle Handlungen erzielten Nutzens ein theoretisches Modell zur Erleichterung der sachgemäßen Anwendung der Rechtsvorschrift über die Einziehung des Deliktsgewinns (StrG 10:2) entwickelt. Für dieses Modell und seine Konkretisierung hat er Auslegungsprinzipen zur Beherrschung der Auslegungsspannung (Bereicherungsund Bestrafungsverbote) aufgestellt. Die kriminalpolitische Orientierung hat das Grund- und Menschenrechtsdenken ergänzt, und diese Ansätze sind meines Erachtens auch miteinander vereinbar. So hat beispielsweise Pekka Koponen in seiner Dissertation die Bedeutung der Grundrechte als einschränkende Umstände für die Wirkung von kriminalpolitischen, realen Zielen 47
Petri Jääskeläinen, Syyttäjä tuomarina [Der Ankläger als Richter], Vammala, SLY 1997. Pekka Koponen, Talousrikokset rikos- ja rikosprosessioikeuden yhtymäkohdassa [Wirtschaftsdelikte im Berührungspunkt von Straf- und Strafprozessrecht], Helsinki, SLY 2004; Päivi Hirvelä, Rikosprosessi lapsiin kohdistuvissa seksuaalirikoksissa [Der Strafprozess bei Delikten des sexuellen Missbrauchs von Kindern], Helsinki, WSOY 2006. 49 Markus Terenius, Poliisin voimankäyttö [Anwendung von Gewalt durch die Polizei], Helsinki, SLY 2013, I Einleitung, besonders S. 79. 50 Mårten Knuts, Kursmanipulation på värdepappersmarknaden [Kursmanipulation auf dem Wertpapiermarkt], Helsinki, SLY 2010; Kaarlo Hakamies, Maksukyvyttömyys ja taloudellinen hyöty rikosoikeudessa [Zahlungsunfähigkeit und wirtschaftlicher Nutzen im Strafrecht], Helsinki, Forum Iuris 2012; Heli Korkka, Liiketoimintarikoksen tuottaman hyödyn mittaaminen [Die Bemessung des Nutzens eines Geschäftsdeliktes], Helsinki, SLY 2015. 48
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erörtert. Entsprechend hat Kaarlo Hakamies die Bedeutung von kriminalpolitischen Auslegungsargumenten ausbalanciert, indem er von der gewählten Auslegungsweise verlangt, dass sie dem Zweck der Norm entspricht und für den Beklagten in einer billigen Weise vorhersehbar ist, und zwar so, wie es der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gefordert hat.51 Die von Hakamies beschriebene Begründung findet sich in mehreren Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes zur Wirtschaftskriminalität wieder: Eine Auslegung der Begriffe sei bei der Anwendung einzelner Straftatbestände unerlässlich und berechtigt, unter der Voraussetzung, dass das Resultat mit dem aus dem Tatbestand hervorgehenden, mit der Strafandrohung bezweckten Schutzweck in Übereinstimmung steht und vom Täter mit Billigkeit vorhersehbar ist. Siehe OGH 2002:11 (Delikt des Schuldners), 2004:46 (Steuervergehen), 2005:27 (illegale Lotterie), 2007:67 (schwere Geldwäscherei) und 2014:7 (illegale Spendensammlung). In diesen Entscheidungen ist die Auslegung eine erweiternde gewesen, wohingegen die auf dem Schutzzweck basierende Auslegung u. a. in den Präjudizien OGH 2013:12 (Rauschmitteldelikt) und 2016:42 (Fahren unter Cannabiseinfluss) eine einschränkende gewesen ist. Über die Stellung der teleologisch akzentuierten Auslegung und der in den genannten Präjudizien verwendeten Begründungsweise ist unter den Strafrechtswissenschaftlern eine in verschiedene Richtungen gehende Diskussion aufgekommen. So ist vor allem die Frage aufgeworfen worden, ob das Schutzzweck-Kriterium nur auf die einschränkende (enge) oder auch auf die dynamische (weite bzw. erweiternde) Auslegung angewandt werden sollte. Für die erstgenannte Alternative haben sich Dan Frände52 und Heli Korkka53 ausgesprochen, während neben Hakamies auch Jussi Tapani und Matti Tolvanen den letztgenannten Standpunkt vertreten haben.54 Ich selbst habe gleichfalls die letztgenannte Auffassung vertreten und mich für eine differenzierte Rechtsquellen- und Gesetzesanwendungslehre ausgesprochen sowie dafür, dass die Überzeugungskraft der verschiedenen Auslegungsweisen und Begründungen u. a. je nach dem vorliegenden Vorschriften- und Tätigkeitsumfeld evaluiert werden sollte.55 Elina Pirjatanniemi hat bezüglich der weiten Alternative die Frage gestellt, ob die Menschenrechte eine Herausforderung für die finnische Kriminalpolitik bilden, und ist zu der folgenden Antwort gekommen: Die mit den Aspekten der Grund- und Men51
Koponen 2004 (Fn. 48), Teil I, S. 20 – 22; Hakamies 2012 (Fn. 50), Einleitung, S 33. Frände 2012 (Fn. 3), S. 51 – 56; ders., Om tolkningsläran i två straffrättsliga doktorsavhandlingar [Über die Auslegungslehre in zwei strafrechtlichen Dissertationen], JFT 2013, S. 136 – 142. 53 Heli Korkka 2015 (Fn. 50), Kap. 3, besonders S. 65. 54 Jussi Tapani/Matti Tolvanen, Rikosoikeuden yleinen osa. Vastuuoppi [Allgemeiner Teil des Strafrechts. Verantwortungslehre]. 2. Aufl., Helsinki, Talentum 2013, Kap. 4.3.3, besonders S. 120. 55 Lahti, im oben (Fn. 24) genannten Werk Festskrift till Madeleine Leijonhufvud, besonders Abschn. 4. 52
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schenrechte verbundenen Forderungen nach einer Verbesserung der Stellung des Opfers und nach einem Verständnis für die Stellung der Frau bedeuten keine Brüche in den Hauptlinien der rationalen und humanen Kriminalpolitik der nordischen Länder.56
V. Zur Europäisierung und Internationalisierung des Strafrechts Die Verstärkung des Menschenrechtsdenkens hat für Finnland zugleich eine Internationalisierung und Europäisierung des (Straf-)Rechts mit sich gebracht, da der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte der Vereinten Nationen und die Europäische Menschenrechtskonvention die zentralen MenschenrechtsNormenwerke sind und ihre Inkraftsetzung in Finnland (1976, 1990) eine verbindliche Rechtsgrundlage für ihre Berücksichtigung geschaffen hat. Finnlands Mitgliedschaft in der EU ab 1995 und die Verstärkung des Einflusses des EU-Strafrechts im Zuge der Erweiterung der strafrechtlichen Zuständigkeit der EU, vor allem mit dem Vertrag von Lissabon (2009), haben ebenfalls Herausforderungen für die hiesige „Strafrechtswissenschaft“ bedeutet.57 Zu den ersten Dissertationen, in der das EU-Strafrecht in bedeutsamer Weise behandelt wurde, gehören in ihrem jeweiligen Spezialgebiet die folgenden Abhandlungen: Tero Kurenmaas „Sisäpiirintiedon väärinkäyttö“, Sakari Melanders „Kriminalisointiteoria“ und Ritva Sahavirtas „Rahanpesu rangaistavana tekona“.58 Melanders Dissertation ist eine theoretisch-methodologisch besonders ehrgeizige Arbeit, da in ihr ein Modell für die Festsetzung der rechtlichen (sowohl verfassungs- als auch europarechtlichen) wie auch der kriminalpolitischen Beschränkungen bzw. Bedingungen aufgestellt wird. Melanders Lehrbuch des EU-Strafrechts stellt wiederum eine bedeutende Erweiterung der Auswahl an einheimischen Lehrbüchern zum Strafrecht dar.59 Auf dieses Werk folgten die Dissertationen von Samuli Miettinen und Merita Kettunen, die auf das EU-Strafrecht fokussierten.60
56 Elina Pirjatanniemi, Haastavatko ihmisoikeudet Suomen kriminaalipolitiikan? [Stellen die Menschenrechte für die finnische Kriminalpolitik eine Herausforderung dar?] Oikeus 1/ 2011, S. 154 – 174 (170). 57 Siehe näher Lahti, Multilayered criminal policy: The Finnish experience regarding the development of Europeanized criminal justice, New Journal of European Criminal Law (NJECL) 2020: 1, S. 7 – 19 (DOI: 10.1177/2032284419898527). 58 Tero Kurenmaa, Sisäpiirintiedon väärinkäyttö [Missbrauch von Insiderinformationen], Helsinki, SLY 2003; Sakari Melander, Kriminalisointiteoria [Kriminalisierungstheorie], Helsinki, SLY 2008; Ritva Sahavirta, Rahanpesu rangaistavana tekona [Geldwäscherei als strafbare Tat], Helsinki, SLY 2008. 59 Sakari Melander, EU-rikosoikeus [EU-Strafrecht]. 2. Aufl., Helsinki, Talentum 2015. Siehe auch Samuli Miettinen, Criminal Law and Policy in the European Union, London/New York, Routledge 2013.
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Was die Internationalisierung des Strafrechts anbelangt, ist zum einen die Zunahme der auf internationalen Abkommen basierenden Kriminalisierungen (der sog. Weltdelikte) und zum anderen die Gründung von internationalen Strafgerichtshöfen für die Kernverbrechen des internationalen Strafrechts von Bedeutung. In letztgenannter Hinsicht sind die in der ersten Hälfte der neunziger Jahre vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gegründeten Ad-hoc-Tribunale zur Verhandlung der auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawiens und der in Ruanda geschehenen schweren Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie das im Jahre 2002 erfolgte Inkrafttreten des 1998 beschlossenen Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes von Bedeutung. Von diesen Entwicklungen ist die letztgenannte Rechtsentwicklung – das internationale „Strafrechtsprojekt“ – recht bald einer kritischen Betrachtung unterzogen worden, und zwar in der Dissertation von Immi Tallgren.61 Minna Kimpimäki hat in ihrer Dissertation die Universalzuständigkeit als Kriterium der Zuständigkeitsbestimmung behandelt, und ihr vor kurzem veröffentlichtes Lehrbuch bietet einen allgemeinen Abriss des internationalen Strafrechts62. Die strafrechtliche Zuständigkeit ist zudem das Thema der kürzlich von Dan Helenius vorgelegten Dissertation.63 In den letzten Jahren haben von den Weltdelikten die organisierte Kriminalität und terroristische Taten die Themen der Dissertationen bestimmt, und mit beiden Verbrechenstypen sind hinsichtlich der Zielsetzung der Kriminalpolitik, des Schutzes der Grund- und Menschenrechte und der Tatstruktur abweichende Züge zur bisherigen Linie zu erkennen.64
VI. Hin zu einem rationaleren Strafrechtssystem und zu rationalerer Begriffsbildung. Zur Spannung zwischen dem Systemdenken und der kontextuellen Auslegungsweise Im theoretischen Teil seiner wirtschaftskriminalrechtlichen Dissertation hat Jussi Tapani der Strafrechtslehre das Ziel vorgegeben, eine solche Auswahl an Kriterien 60 Samuli Markus Miettinen, The Europeanization of Criminal Law. Competence and Its Control in the Lisbon Era, University of Helsinki 2015; Merita Kettunen, Legitimizing the Use of Transnational Criminal Law. The European Framework, University of Helsinki 2015. 61 Immi Tallgren, A Study of the ,International Criminal Justice System‘. What Everybody Knows?, University of Helsinki 2001. 62 Minna Kimpimäki, Universaaliperiaate kansainvälisessä rikosoikeudessa [Das Universalprinzip im internationalen Strafrecht], Helsinki, SLY 2005; dies., Kansainvälinen rikosoikeus [Internationales Strafrecht], Helsinki, Kauppakamari 2015. 63 Dan Helenius, Straffrättslig jurisdiktion [Strafrechtliche Jurisdiktion], Helsinki, SLY 2014. 64 Siehe Sanna Palo, Järjestäytyneet rikollisryhmät ja rikosvastuu [Gruppen der organisierten Kriminalität und Strafverantwortung], Helsinki, Forum Iuris 2010; Mikael Lohse, Terrorismirikoksen valmistelu ja edistäminen [Vorbereitung und Unterstützung eines Terrorismusverbrechens], Helsinki, SLY 2012.
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der Verantwortung zu entwickeln, die in hinreichender Weise innere Rationalität (Kohärenz und Konsequenz) in das Strafrechtssystem einbringe, zugleich aber auch Raum für die Kontextualität (Situationsbezogenheit) des rechtlichen Ermessens lasse.65 Die Kontextualität des Strafrechts (das Offensein für Impulse von außerhalb und die Berücksichtigung des Tätigkeitumfeldes) ist – neben der Internationalisierung und Europäisierung der Regulierung – ein Phänomen, das Elina Pirjatanniemi in ihrer Dissertation über die Kriminalisierung von Umweltdelikten behandelt.66 Die Kontextualität der Rechtslehre – d. h. die Berücksichtigung des Tätigkeitumfeldes – hat besonders nachdrücklich Mårten Knuts in seiner gleichfalls wirtschaftskriminalrechtlichen Dissertation als einen Ausgangspunkt betont, weil „gute Strafrechtsdogmatik in der Wirklichkeit verankert“ ist. Spannungen entstehen dann, wenn man Eingriffe in die Funktion der Wertpapiermärkte nur in dem Maße für berechtigt hält, wie sie die Effizienz der Märkte verbessern.67 Im Wirtschaftsstrafrecht kommt die Bedeutung wirtschaftswissenschaftlicher Gesichtspunkte stärker zum Tragen. Auf eine rationale Forschung will sich auch Jussi Matikkala in dem theoriebetonten Kapitel seiner Dissertation stützen, in dem er verschiedene Argumentationsweisen zur Fundierung des Vorsatzbegriffs und zur Differenzierung der Arten der Schuldzurechenbarkeit (Vorsatz und Fahrlässigkeit) analysiert. Das von Matikkala angestrebte begründete Vorsatzmodell hat drei von ihm analysierte Forderungen zu erfüllen: Rationalität, Wahrheitsgemäßheit und Akzeptierbarkeit. Laut Matikkala ist ein Einverständnis über ein solches Modell womöglich nicht erreichbar. Er selbst hebt indes mit Nachdruck als Kriterium der Grenzziehung für die Schuldzurechnung den Umstand hervor, dass der Täter annimmt bzw. darauf vertraut, dass sich der Tatbestand nicht verwirklicht.68 Helena Vihriälä hat in ihrer Dissertation das Auf-die-Probe-Stellen des rationalen (realitätsbasierten) Vorsatzmodells fortgeführt, u. a. indem sie menschliches Handeln betreffende Literatur über die Philosophie des Geistes, Psychologie und Hirnforschung studiert hat. Dabei ist sie zu der Ansicht gelangt, dass die Forschungserkenntnisse hinsichtlich der besagten Grenzziehung eher für die Vorstellungs- als für die Willenstheorie sprechen.69 Die Forschung über den Vorsatz hat ihren Teil dazu beigetragen, dass sich die Anwendungspraxis der im Jahre 2003 reformierten Strafvorschriften (StrG 3:6, 4:1) in zweierlei Weise etabliert hat: Zum einen bezüglich dessen, wie die in StrG 3:6 als 65
Tapani 2004 (Fn. 29), besonders S. 86 und S. 101. Pirjatanniemi, Vihertyvä rikosoikeus [Ökologisierung des Strafrechts], Helsinki, Edita 2005, besonders Kap. I.3. 67 Knuts 2010 (Fn. 50), besonders Kap. II. 68 Matikkala 2005 (Fn. 21), Kap. V.5, besonders S. 515 und 523 – 524; ders., Nordic Intent, in: Kimmo Nuotio (Ed.), Festschrift in Honour of Raimo Lahti. Helsinki. Forum Iuris 2007, S. 221 – 234. 69 Vihriälä, Tahallisuuden näyttäminen [Nachweis des Vorsatzes], Helsinki, Forum Iuris 2012, Zusammenfassung im Schlusskapitel XVIII. 66
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untere Grenze des Erfolgsvorsatzes festgesetzte Forderung, wonach der Erfolg „ziemlich wahrscheinlich“ eintritt, auszulegen ist, und zum zweiten bezüglich der Frage, ob die entsprechende Auslegung auf den in der Rechtsvorschrift offen gelassenen Umstandsvorsatz zutrifft. In den Präjudizien des Obersten Gerichtshofes hat sich die Auslegung durchgesetzt, nach der der Täter den Eintritt des Erfolgs für wahrscheinlicher zu erachten habe als sein Ausbleiben. Siehe besonders OGH 2013:82 (Fall von russischem Roulette) und 2015:84 (ungeschützter Geschlechtsverkehr eines HIV-Infizierten). Dieselbe Untergrenze hat sich bei der Beurteilung des Umstandsvorsatzes etabliert. Siehe besonders OGH 2006:64 (Rauschmitteldelikt), 2012:66 (Kuppelei), 2013:17 (Verletzung eines Unternehmensgeheimnisses), 2013:55 (Verbreitung von Pornographie) und 2014:54 (sexueller Missbrauch von Minderjährigen). In Tatu Hyttinens theoretisch ausgerichteter Dissertation „Syytön tai syyllinen“ (Unschuldig oder schuldig) werden ein Modell zur Lösung der Schuld (Verantwortlichkeit) und ein Modell für das Ermessen des Richters konstruiert, und sich auf diese stützend könne man, dem Autor zufolge, versuchen, die Schuld- und Verantwortlichkeitsfrage in optimaler Weise zu lösen. Wie können bei einer Entscheidung über die Schuld und Verantwortlichkeit der Rechtsschutz und die Vorhersehbarkeit der Anwendung des Strafrechts gewährleistet werden? Um auf diese Forschungsfragen antworten zu können, hat sich der Autor in die Probleme der im Hintergrund der Schuld und Verantwortlichkeit wirkenden Rechtsquellen- und Gesetzesanwendungslehren, in die Wechselwirkung zwischen Strafrecht und Menschenrechte sowie in Probleme der Epistemologie vertieft.70
VII. Zum Schluss Ich habe oben einen Überblick über die Tendenzen in der Strafrechtswissenschaft und der Strafrechtslehre von den 1960er Jahren bis zu den 2010er Jahren zu geben versucht. Der Überblick zeigt die Veränderungen auf, die sich im Inhalt und in der Bedeutung der allgemeinen Lehren des Strafrechts vollzogen haben, unter anderem den Vormarsch der kriminalpolitisch orientierten Strafrechtslehre und die starke Stellung, die diese erhalten hat. Eine noch wichtigere Entwicklungstendenz ist der Wandel hin zu einer rationaleren und humaneren Kriminalpolitik mitsamt ihren Auswirkungen auf das Sanktionensystem gewesen, auch wenn diese Dimension hier nicht näher analysiert worden ist.71 70 Hyttinen, Syytön tai syyllinen. Tutkimus syyllisyyskysymyksen ratkaisemisesta. [Unschuldig oder schuldig. Untersuchung über die Entscheidung der Schuldfrage], Helsinki, SLY 2015. 71 Siehe genauer Inkeri Anttila, Ad jus criminale humanius, Helsinki, Finnish Lawyers’ Association 2001; Patrik Törnudd, Facts, Values and Visions, Helsinki, National Research Institute of Legal Policy 1996; Lahti, Zur Kriminal- und Strafrechtspolitik des 21. Jahrhunderts (Fn. 1), Teil I (S. 3 – 118).
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Der Einfluss des Grund- und Menschenrechtsdenkens auf das Strafrecht hat sich seit den neunziger Jahren verstärkt und zugleich hat sich das Strafrecht europäisiert und internationalisiert. Der Bereich der Rechtsquellen hat sich also erheblich erweitert, und die Auslegungs- und Abwägungsmethoden, die die Anwendung des Rechts betreffen, sind vielseitiger geworden. Zugleich ist die Einheitlichkeit der allgemeinen Lehren des Strafrechts und des von diesen gebildeten Systems auf die Probe gestellt worden und eine solche Folgerichtigkeit (Kohärenz), wie sie dem früheren Strafrechtssystem eigen war, kann nicht mehr erreicht werden. Es ist eine Differenzierung und Fragmentierung des Rechts und der Lehrkonstruktionen eingetreten und das Tätigkeitsumfeld (die Kontextualität) des Rechts muss mehr als zuvor berücksichtigt werden. Um die beschriebenen, aus EU-Verpflichtungen herrührenden Konflikte und Spannungen abbauen zu können, wäre es wichtig, von den Ausgangspunkten der Kriminalpolitik der nordischen Länder aus auf die Kriminalpolitik der EU einzuwirken. Zu diesen Ausgangspunkten gehören – neben den Werten der Demokratie, der Menschenrechte und des Rechtsstaates – u. a. die Forderung nach Legitimität, einem relativ niedrigen Repressionsniveau und Humanität.72 Dan Frände hat sich für diese Werte eingesetzt, unter anderem durch seine Mitgliedschaft in der aus akademischen Forschern bestehenden European Criminal Policy Initiative, die zur europäischen Kriminalpolitik und zum europäischen Strafprozessrecht ein Manifest73 verabschiedet hat. Die Menge der strafrechtswissenschaftlichen Forschung hat im untersuchten Zeitraum erheblich zugenommen, und zwar vor allem in der Endphase der Gesamtrevision des Strafgesetzbuches und danach. In den letzten Jahrzehnten ist diese Forschung sowohl theoretisch-methodologisch als auch inhaltlich vielfältig gewesen. Eine ständige Herausforderung für die Strafrechtswissenschaft und Strafrechtslehre besteht jedoch darin, die theoretische Grundlage so zu verstärken, dass man bei der Strafgesetzgebung und Strafrechtsprechung in der Lage sein wird, in sachgemäßer Weise eine humane Kriminalpolitik walten zu lassen und das Menschen- und Grundrechtsdenken sowie die Europäisierung und Internationalisierung des Rechtsbereichs zu berücksichtigen. Die Zunahme an Planmäßigkeit der Kriminalpolitik der EU74 hat den Bedarf an Forschung verstärkt und damit ist auch der Bedarf gewachsen, mittels rechtsvergleichender Forschung die Annäherung des Allgemeinen Teils in den Strafrechten der
72 Lahti, im oben (Fn. 35) genannten Werk EU Criminal Law and Policy, besonders S. 66 – 69; ders., NJECL 2020 (Fn. 57), passim. 73 Siehe A Manifesto on European Criminal Policy (http://www.zis-online.com/dat/artikel/ 2009_12_383.pdf); A Manifesto on European Criminal Procedure Law (http://www.zis-online. com/dat/artikel/2013_11_777.pdf). 74 Siehe besonders den Vorschlag der Europäischen Kommission KOM(2011)573 zu den Richtlinien der Kriminalpolitik der EU.
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EU-Mitgliedstaaten voranzutreiben.75 In Anbetracht des Pluralismus und der Fragmentierung des Rechts bildet das internationale Strafrecht ein sehr bedeutsames Teilgebiet, da es darum geht, in ihm verschiedene Rechtsbereiche (internationales Recht, humanitäres Recht, Menschenrechte, nationales Straf- und Strafprozessrecht) sowie verschiedene Vollstreckungsmodelle (in den übernationalen und nationalen Strafrechtssystemen) in Übereinstimmung miteinander zu bringen.76
75
Siehe besonders André Klip (Hrsg.), Substantive Criminal Law of the European Union, Antwerpen, Maklu Publishers 2011. 76 Siehe allgemein Larissa van den Herik/Carsten Stahn (Eds.), The Diversification and Fragmentation of International Criminal Law, Leiden, Martinus Nijhoff Publishers 2012; Elies van Sliedregt/Sergey Vasiliev (Hrsg.), Pluralism in International Criminal Law, Oxford, Oxford University Press 2014.
Financial Intelligence Units – Epitome and Test Case of Transnational Security Law By Frank Meyer
I. Introduction Special regimes for the covert procurement of information are essential parts of the new architecture of security law.1 Their purpose is to supplement crime control systems. They gather and supply information that is vitally important to both criminal prosecutions and preventive interventions. Ulrich Sieber, in his seminal article mapping out the new architecture of security law, names Financial Intelligence Units (FIU) as central tributaries to the torrent of security intelligence. Within these new structures, the FIUs’ focus is on financial data which they receive, gather, analyse, share, and transmit as fixtures of the global anti–money laundering (AML) network and key players in the prevention of terrorist financing (TF).2 However, their central (and still growing) role must not divert attention from the fact that FIUs tear at traditional legal boundaries between public, private, and criminal law as well as between national and international law. In fact, they are an illustrative embodiment of the problems and challenges the emergence of an overarching security law paradigm is causing. Conceived of as letterboxes and funnels for all sorts of transaction or activity reports, FIUs have turned into intelligence gathering agencies and (international) data hubs that accumulate, analyse, and distribute financial information for operational and strategic purposes.3 In their new role, FIUs are testing the limits and boundaries of established basic principles, safeguards and practices of more traditional law enforcement structures. In his article, Sieber points to various characteristics: Financial investigations and information exchange require no judicial authorisation; they represent a type of public-private partnership where, in contrast to ordinary law enforce1 Sieber, in: Sieber et al. (eds.), Alternative Systems of Crime Control: National, Transnational, and International Dimensions, 2018, pp. 1, 15: part of a comprehensive body of security law; also The European Agenda on Security, COM (2015) 185 final. 2 Sieber, in: Sieber et al. (eds.) (fn. 1), p. 16. 3 The deceptive use of the word intelligence itself implies a security dimension. However, FIUs must not be conflated with secret services. What sets them apart are the purposes for which information is used, namely, preventing and fighting ML and TF vs. gathering of information for foreign- and security-policy reasons.
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ment practice, data analysis is outsourced to specialists without requiring any degree of suspicion of individual wrongdoing. He rightly emphasizes a lack of specific procedural safeguards and a considerable degree of legal uncertainty with respect to applicable human rights standards. Sieber further argues that a new framework is needed to better assess and police the actions of such security actors. Yet, as he rightly observes, a comprehensive analysis of the emergence and interrelations of the specific regimes, which in their entirety form the new body of security law, is still a long way off. This contribution in honour of Ulrich Sieber obviously cannot conduct an all-encompassing analysis, but merely aspire to add another piece to the puzzle. It will take a closer look at how information procurement systems such as FIUs challenge traditional law enforcement mechanisms and expose shortcomings in the present legal framework. To this end, the article follows an inductive approach. Three critical instances for the crossing of once clear-cut legal boundaries are discussed and used to highlight the need for a new comprehensive framework and some of its essential elements.
II. Functions, Powers, and Organisational Designs in a Nutshell FIUs are the product of the international fight against money laundering and terrorist financing. Originating in recommendations of the Financial Action Task Force (FATF),4 they have become key components of any comprehensive AML and TF prevention system. Most FIUs are also members of the international network of the Egmont Group, which is dedicated to the effective cross-border collection and exchange of information between FIUs.5 FIUs bundle three pivotal functions. They are central national agencies that receive information from reporting entities which are required under international or national law to report suspicious transactions and activities they become aware of in the course of their business or professional activities. Apart from financial institutions at large, this includes an expanding and chequered group of so-called gatekeepers, namely, traders, casinos, real estate agents, lawyers, galleries etc. National legislation may still go beyond this minimum and require threshold-based reporting of cash or cross-border transactions. With regard to these reports and further information relevant to ML, associated predicate offences and TF they have received from 4
Interpretative Note to FATF Recommendation 29. The Egmont Group, named after the Egmont-Arenberg Palace in Brussels where its inception took place, was founded in 1995, as a loose, legally informal network of central national agencies. Only in 2013 it adopted a charter and a set of common standards and guiding principles. The Egmont Group is not an international organisation though. Its signatories are the national FIUs themselves and they can legally commit themselves only as far as national laws allows. 5
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other sources, FIUs are charged with case-specific (tactical and operative)6 and strategic analyses and the dissemination of their results. In particular, they are to conduct financial investigations into ML suspicions and TF risks in order to identify sources, objects, and recipients of transactions or activities, to follow the trail of particular transactions or activities, and to verify possible links between assets involved and predicate ML offences or TF. Conclusive insights are then to be passed on to Prosecution Services for further assessment of probable causes and the appropriateness of criminal investigations. Underscoring their preventive function in the TF context, FIUs share pertinent information with secret services and other security agencies.7 Aiming beyond case-specific operational analysis they may (proactively) conduct strategic analyses to identify ML- and TF-related enablers, patterns, and trends. This information may become instructive for future assessment of ML- and TF-related threats and vulnerabilities, allow law enforcement to identify and remove enablers, or prompt new legislation geared to encounter emerging trends and eliminate risk factors. Finally, FIUs are expected to engage in effective cross-border cooperation within the Egmont Group. The FATF has encouraged FIUs to share information with foreign counterparts spontaneously (that is, proactively)8 or upon request as early as 1990. The Egmont Group imposes stronger commitments, according to which FIUs are to carry out each other’s investigation requests and share all information to which they have access in their domestic legal system. The transnational character of many transactions under scrutiny necessitates the involvement of a plurality of FIUs in order to conduct a thorough analysis.9 To enhance effectiveness and add value to the information received from reporting entities national legislation is expected to bestow specific investigation powers on national agencies enabling them to carry out meaningful financial investigations; for instance, to obtain additional information from reporting entities or access to national financial, administrative and law enforcement data (bases) on a timely basis.10 Often such authorisations are found in national AML statutes implementing international obligations. Whereas the (for6 Incoming SARs trigger a tactical analysis, which draws on all sources readily available and aims at delivering a first assessment. It proceeds to an operational analysis if the risk of ML or TF cannot be excluded, see IMF, FIU – An Overview, 2004, p. 57. 7 For the role of the FIU in countering TF see: Gilmour/Hicks/Dilloway, Journal of Financial Crime 2017, 260; Bures, in: King/Walker/Gurulé (eds.), The Palgrave Handbook of Criminal and Terrorism Financing Law, 2018, pp. 859 et seq. 8 In 2018, the Swiss FIU MROS received spontaneous reports in 434 cases from 47 countries. It sought support from foreign FIUs in 131 cases per month for operational analyses, MROS, Jahresbericht 2018, p. 12. 9 If SARs involve legal persons or individuals from abroad, FIUs may request information on their identity, beneficial owners, business activities or any known criminal involvement, MROS, Jahresbericht 2018, p. 12. In 2018 MROS answered 795 inquiries concerning 4671 persons from 104 countries. 10 Interpretative Note to FATF Recommendation 29; see also Penna, in: Ligeti/Simonato (eds.), Chasing Criminal Money – Challenges and Perspectives on Asset Recovery in the EU, 2017, pp. 269, 271.
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mally non-binding)11 FATF recommendations refer to investigative instruments in rather unspecific terms, the EU increasingly obliges its member states to implement particular competences (as minimum standards) vis-à-vis competent authorities, obliged entities12 and foreign FIUs,13 as well as to create new central registers and databases which could be directly accessed by national FIUs in order to facilitate the identification of bank account holders (or controlling persons), real estate owners14 and ultimate beneficial owners15. A new 2019 directive seeks to further cooperation between FIUs and their national law enforcement agencies16 by introducing an obligation to reply to requests from other member states’ FIUs.17 It defines relevant types of financial information and establishes a duty to answer information requests directed at FIUs via Europol, Art. 12 para. 1.18 Yet, from a comparative perspective, the legal situation remains quite diverse, as are the institutional set-ups. FIUs occupy different formal positions within their national AML systems. They enjoy greater or lesser investigative powers and rely on
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Though not binding in nature, the FATF Recommendation are broadly interpreted as mandatory minimum conditions to be complied with by each FATF Member State, Quedenfeld, in: idem (ed.), Handbuch – Bekämpfung der Geldwäsche und Wirtschaftskriminalität, mn. 15. 12 Art. 32 para. 1 Directive (EU) 2015/849 (4th Anti-Money-Laundering Directive): obligation to establish FIU. Also, member states shall ensure that their FIUs have access, directly or indirectly, in a timely manner, to the financial, administrative and law enforcement information that they require to fulfil their tasks properly, Art. 32 para. 4 cl. 1. 13 Art. 53 para. 1 Directive (EU) 2015/849 states that member states shall ensure that FIUs exchange, spontaneously or upon request, any information that may be relevant for the processing or analysis of information related to ML and TF and the natural or legal person involved. 14 Art. 32a and Art. 32b Directive (EU) 2018/843 (Fifth Anti-Money-Laundering Directive). 15 Art. 30, 31 Directive (EU) 2015/849: beneficial ownership information. Directive (EU) 2018/843 has amended Articles 30 und 31. A new subparagraph in Art. 30 para. 1 obliges member states to require that the beneficial owners of corporate or other legal entities, including through shares, voting rights, ownership interest, bearer shareholdings or control via other means, provide those entities with all the information necessary for the corporate or other legal entity to comply with their obligations. Obliged entities and competent authorities are now also required to report any discrepancies, Art. 30 para. 4; Krais, NZWiSt 2018, 321 (323 et seq.). 16 Art. 7 para. 1 Directive (EU) 2019/1153, OJ L 186/122. Vice versa, Art. 8 stipulates that each member state shall ensure that its designated national competent authorities are required to reply to requests by the national FIU, on a case-by-case basis, where the information is necessary for the prevention and combating of money laundering, associate predicate offences and terrorist financing. 17 Art. 9 para. 1 Directive (EU) 2019/1153, OJ L 186/122. 18 Each member state shall ensure that its FIU is entitled to reply to duly justified requests made by Europol through the Europol national unit or, if allowed by that member state, by direct contacts between the FIU and Europol.
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different methods and standards.19 Member states have not always chosen the most appropriate architecture for handling FIUs tasks. Since the FATF recommendations do not propose a specific organisational design, very different models have emerged as states have made use of their discretion to fit FIUs into their domestic institutional frameworks. Experts distinguish between administrative, law enforcement, judicial or prosecutorial, and mixed types.20 In several countries FIUs are independent administrative agencies, while other countries have opted for FIUs that are embedded in other authorities (Behörde in der Behörde)21; most often it is federal police forces that shelter FIUs like the Swiss Federal Police (fedpol) with respect to the Money Laundering Reporting Office Switzerland (MROS) or until quite recently the Bundeskriminalamt (BKA) and the former German central unit. More rarely, FIUs have been integrated into (federal) prosecutors’ offices.22 The legal situation is even more vexing when member states use their FIUs for additional functions or have authorized them, despite their distinct and specific task in the AML framework, to use general powers of their host agency that have been assigned for law enforcement or prosecution purposes. This state of affairs is unsatisfying for many reasons: Differences may hamper the FIUs’ interaction with financial institutions and among each other.23 They also complicate the availability of financial information held in other databases when access hinges on having a particular legal status. Overall, these problems appear to reflect and be compounded by deeper shifts and obscurities which in turn result from a creeping expansion, diversification and securitisation of FIU tasks and, overall, a broadening of the notion of information and the purposes for which it may be used.24 In fact, its very name, intelligence(!) unit, connotes a deeper and broader security dimension.
19 IMF, FIU – An Overview, 2004, p. 9; Schott, Reference Guide to Anti Money Laundering and Combating the Financing of Terrorism, 2006, p. VII-9; Bundeskriminalamt, FIUJahresbericht 2016, pp. 34 et seq. 20 Schott (fn. 19), p. VII-9; Commission, Impact Assessment, 2018, pp. 16, 17, fn. 37. 21 Hütwohl, ZIS 2017, 680 (682). 22 As is the case in Luxembourg due to extensive bank secrecy laws, Ministère des Finances, National Risk Assessment Luxemburg, 2018, p. 15; FATF, MER-Luxemburg, 2014, p. 19. 23 Commission, Impact Assessment, 2018, p. 17. 24 When policy documents and recommendations speak of other relevant information or intelligence they refer to “any kind of information (of ongoing criminal investigations, on suspicions of predicate offences or ongoing laundering schemes) transmitted by law enforcement authorities, intelligence agencies, judicial and tax authorities or data deliberately retrieved in the context of financial investigations”, Penna, in: Ligeti/Simonato (eds.) (fn. 10), p. 277.
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III. Evolution and Expansion Originally, the main rationale of an FIU was to function as a “buffer” between the financial sector, DNFBPs (non-financial entities and professionals subject to reporting obligations) and law enforcement.25 It was operating the gateway to the criminal justice system. Yet, the mission of FIUs is no longer confined to issuing preliminary assessments and conducting financial investigations. FIUs are increasingly endowed (and ought to be so under European legislation) with broader investigative powers and analytic capacities. They have turned into information and intelligence hubs able to obtain and use additional information from reporting entities and, in order to perform their duties, have access to a wide variety of databases (in different legal areas). Today, these duties include services ranging from strategic analysis, gathering and sharing intelligence proactively or on behalf of foreign FIUs to supporting the work of other national agencies. They enhance the overall analytic capacities of the AML architecture resp. TF tracking and facilitate the flow of intelligence across borders in both territorial and legal terms. The stream of cooperation and communication, hence, involves a complex web of multiple relationships with financial institutions, DNFBPs, regulators, self-regulatory organisations, law enforcement agencies, intelligence agencies, prosecutors, and other FIUs. This widening effect is also policy-driven. Since ML, logically, cannot exist independently of predicate offences, fighting ML necessarily has an implicit cross-policy nature partly co-determined by those predicate offences. Policy-makers and authorities in these areas have come to see FIUs as vital actors to bring down such crimes.26
IV. Three Pivotal Challenges FIUs have mutated into highly versatile agencies of crossbreed nature. Their level of development poses considerable challenges for any attempt at determining and applying the legal framework for FIU activities and, more generally, for any attempt at devising a coherent, comprehensive legal framework for the agencies’ work and international cooperation.
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Penna, in: Ligeti/Simonato (eds.) (fn. 10), p. 274. For instance, UN, EU, World Bank, IMF and the OECD, in particular with respect to fighting corruption and tax evasion, see, e. g., OECD, Improving Co-Operation between Tax and Anti Money Laundering Authorities, 2015, p. 24, which promotes more innovative uses of SARs data, namely, modelling and analytics to identify risk profiles of different types or specific groups of taxpayers by industry, region, or type of allegation or offence. 26
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1. Hybridity a) Findings Hybridity denotes structural and functional properties of FIUs. Components of divergent legal areas and actors coalesce in their creation. This creates particular problems, both in the national context and in transnational perspective. As administrative agencies, FIUs secure the functioning of the reporting mechanism and bolster the preventive effectiveness of the AML architecture. But, like law enforcement agencies, they also investigate in order to assess suspicions of ML and TF. Moreover, FIUs set the course for criminal investigations in that they operate as gatekeepers to the criminal justice system. And, for preventive ends, even intelligence services might benefit from FIU data or use the central unit to block supposedly terrorismrelated transactions. In these contexts, FIUs blur boundaries between public and private sectors. They co-opt the private sector (under the guise of a broader responsibilisation strategy) for public purposes. Yet, they also blur traditional boundaries between administrative, law enforcement, and intelligence tasks27 as a consequence of their expanding array of tasks and powers that includes measures typically reserved for police officers, prosecutors, or the secret service. In the transnational dimension, FIUs have acquired a legal status akin to central MLA authorities and operate like miniature versions of Federal Bureaus of Justice (Bundesämter für Justiz) for financial intelligence. What is portrayed as administrative legal assistance (since financial investigations and information exchanges primarily serve to explore whether a risk of ML or TF really exists) might also serve typical law enforcement (e. g. establish probable cause) and intelligence purposes.28 FIUs and the intelligence products they provide are, in fact, important elements of a broader transition towards intelligence-led policing29 which pervades the entire security sector and marks a shift from a reactive to a proactive law enforcement approach.30 In the same vein and with regard to EU law, information gathering and exchanges via FIUs blur boundaries between internal (JHA) and external affairs (CFSP, cooperation between EU-FIUs and third-country FIUs) as soon as information is being shared habitually under an overarching security paradigm.
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In some countries the blurring starts with the organisational structures; in particular units embedded in police forces. 28 The Commission, Impact Assessment, 2019, pp. 17, 20, argues that it is fiendishly difficult to draw clear lines as to the legitimate limits of requests as long as underlying concepts have not been sufficiently harmonized. 29 Ryder, in: Dietrich/Sule (eds.), Intelligence Law and Policies in Europe, 2019, p. 268; Sieber, in: Sieber et al. (eds.) (fn. 1), pp. 15, 26. 30 FIUs encapsulate both approaches, but it appears that they still struggle with the more proactive one in practice.
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b) Consequences Notwithstanding the fact that all of these transitions appear reasonable to better address the persistent threat of ML and TF, they have far-reaching legal consequences. FIUs cut across legal boundaries and standards accepted for each sub-discipline and each branch of law enforcement. Their hybridity makes it increasingly difficult to clarify to what standards and principles FIUs are to be held accountable. As a result, they may escape court review (due to jurisdictional uncertainties) and effective fundamental rights protection. Absent a coherent framework, hybridity also breeds inconsistencies between different areas of law. Their national founding statutes may dilute typical limitations for certain investigative measures. For instance, national FIU regulations sometimes reduce requirements for accessing certain kinds of information that a police force is not entitled to request at that stage.31 Also, FIUs might provide foreign FIUs with information that could not be gathered lawfully by the requesting agency in its home country. FIUs may also end up with unusual powers, in particular as regards searches, seizures,32 and even confiscation. On a more practical level, hybridity imperils operational autonomy and independence. In particular, where FIUs have been established as central units within law enforcement or judicial bodies, administrative or similar outfits may not be permitted to interact with them or vice versa (diagonal cooperation).33 After all, it seems that a systematic approximation of FIUs’ institutional architecture and legal status beyond Art. 32 para. 3 Directive EU/849/2015 is a basic prerequisite in overcoming cooperation impediments.34 In light of the many remaining differences between national laws in the field of criminal procedure and security law, it will be much more difficult to avoid internal frictions. Harmonization and expansion of FIU competences may even increase the risk of such frictions. Similar tensions could arise with respect to fundamental legal principles. The new security law follows a preventive justice paradigm35 that sits uneasy, and is hardly reconcilable, with traditional law enforcement principles of threat prevention and investigation of criminal suspicions. In our security-dominated era, the main question rather appears to be what basic principles of police law and criminal law must be firmly up31 A concern raised by the German Government during Council deliberations, Council doc. 9313 ADD 1 REV 1/19, p. 2. 32 See Art. 32 para. 7 cl. 1 Directive (EU) 2015/849. 33 Commission, Impact Assessment, 2019, p. 17, 20 et seq: Law enforcement FIUs are capable of sharing and accessing data more directly and freely than administrative FIUs. An administrative FIU might be barred from forwarding data to judicial- or police-style FIUs when it assumes that their analytical work is tantamount to a criminal investigation. On the other hand, administrative agencies might be denied access to police databases; for instance, the German Zentralstelle. 34 National definitions of criminal and administrative investigations vary and complicate efforts to demarcate their respective scope in an effective and practical manner. Even within integrated national systems the transition between the two might be rather fluid and opaque. 35 Mitsilegas, in: Sieber et al. (eds.) (fn. 1), pp. 203, 207.
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held, even under the aegis of a preventive justice paradigm, in order to thwart their creeping degeneration and ultimately the degradation of their legitimacy. The new security architecture first and foremost compels us to revisit the first principles of legitimation of public authority in a democratic society.36 Chief among them is a guarantee of political and judicial accountability which ought to span the entire range of FIU activities and interactions. The same goes for the protection, on both national and transnational levels, of substantive fundamental liberties such as personal autonomy, privacy, data protection, and property. Each authorisation of FIU activities and cooperation must ensure ample protection against arbitrariness, abuse and excessiveness, again both nationally and transnationally. This is a tall order, especially bearing in mind that there is no robust universal legal order or international consensus on first principles from which such safeguards could be derived.37 To make matters worse, where robust principles, especially with respect to integrated types of cross-border cooperation, appear to exist, the evolution of FIU cooperation may have detrimental side-effects. 2. Obfuscating MLA Regimes a) Findings Mutual legal assistance in criminal matters has witnessed an astonishing growth of instruments and reached unprecedented levels of multilateral interaction. These mature, integrated MLA regimes rest on widely accepted standards and principles which, of late, have been enriched by a developing body of human rights law. International regulation for international administrative cooperation, by contrast, remains rudimentary. It is much less developed than are its criminal or civil cousins. Alas, taking into account the hybrid nature of many FIUs as well as varying national interpretations of the concept of “criminal matters”, determining the applicable MLA standards is an equally momentous and complicated affair. Given their legal status and the primary purposes of their requests, FIUs will often end up being barred from resorting to international cooperation in criminal matters. Admittedly, the multi-coloured legal landscape complicates any attempt at integrated regulation. EU directives, FATF recommendations or Egmont Group principles that seek to coax national parliaments into adopting legislation to offset the gaps and deficiencies of administrative cooperation (especially in dedicated chapters in AML statutes) rather run the risk of brushing over them.
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Already Sieber, Rechtstheorie 2010, 151 (190, 198). Indeed, the EU could rush ahead and act as a first mover. Yet, there is an obvious risk of fragmentation that, in the end, could render cooperation between EU- and non-EU-FIUs more difficult. 37
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In practice, the Egmont Principles provide an international fallback position.38 Art. 3.1 of the Egmont Group’s charter postulates that all members foster the widest possible co-operation and exchange of information with other FIUs on the basis of reciprocity or mutual agreement and following the basic rules established in the Principles, their legal status notwithstanding [emphasis added]. Article 3.2 then refers to the commitment to the Egmont Principles, which provide both basis and framework for international co-operation among FIUs. b) Consequences The ensuing legal situation is less benign than one is tempted to think at first sight. National ML statutes now comprise Micro-MLA codes for cooperation between FIUs and competent law enforcement authorities,39 irrespective of the legal nature of the FIUs involved. These miniature codes obfuscate the legal implications and the choice of the correct legal regime.40 They may lead to an evasion of established MLA regimes and their protective functions. Furthermore, as was explained above, information gathered, polished and passed on by FIUs may help kick off criminal investigations and build criminal cases. FIUs are in a position to retrieve information from abroad on behalf of criminal justice actors that would otherwise only be available to them through the often onerous MLA process. Even assuming that FIU analyses and intelligence gathering steer clear of criminal proceedings for the underlying offences, the fundamental-rights-situation remains precarious. Applicable standards for FIU cooperation are as unclear as the question of judicial recourse is unresolved. The development of adequate procedural safeguards and individual rights lags behind since the new provisions tend to be geared towards smoother cooperation (thus contributing to an already existing powers/safeguards-differential). More fundamental still, cooperation regulations gloss over basic preconditions for legitimate and effective cooperation that have taken centre stage in MLA matters in recent years, most notably mutual trust and shared values. According to Egmont Principle No. 7, international co-operation between FIUs should be encouraged and based upon a foundation of mutual trust. No. 9 adds, in spite of reservations expressed above, that FIUs should exchange information with foreign FIUs, regardless of their status. The Egmont principles continue to state that, to this end, FIUs should have an adequate legal basis for providing co-operation on money laundering (No. 10). Yet, unlike EU law, neither Egmont charter nor principles establish a common legal framework that binds and pulls cooperating agencies together and lays the foundation for trust-building and effective cooperation. They establish a sort of Er38 Egmont Group of Financial Intelligence Units, Principles for Information Exchange between Financial Intelligence Units, 2013. 39 The German and the Swiss Geldwäsche(rei)gesetz (GWG) regulate information exchange and spontaneous cooperation. 40 They add to the already problematic asymmetry between defence and privacy rights and law enforcement interests.
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satz-law (filling the void left by states and international law), which group members commit themselves to, but no substitute for binding tailor-made transnational (and transboundary) regulations and principles. In fact, the Egmont Group is not governed by a legal framework such as an international treaty. It rests on its members’ free commitment towards its primary purpose, the relevance of its mission, and the respect for the institutional obligations enshrined in its charter (which terminologically alludes to founding treaties of international organisations without sharing their legal quality as international law). In the Egmont sphere, mutual trust is, hence, purely factual trust between state agents. Despite these lacunae, the Egmont Group nevertheless strongly promotes cooperation.41 In fact, a strong gravitational pull is felt by the states to fall in line. Capability and willingness to cooperation according to Egmont rules are general requirements for Egmont Membership in the first place. In the modern security era, it appears unsustainable not to join this cooperation machinery. Membership is also of vital importance since it ensures access to secure communication infrastructure (Egmont Secure Web, FIU.Net42). Cooperation is, therefore, crucial to sustain the viability of national AML systems and compliance with FATF recommendations. These systematic structures exert sufficient soft pressure to nudge national lawmakers into creating the aforementioned special MLA regimes within their anti-money-laundering statutes (which, however, would still lack overarching principles and control). The latest EU directives try to alleviate the situation through tailor-made provisions grounded in recent EU data protection law. They express a strong commitment to the Charter of Fundamental Rights. Nonetheless, the 4th and 5th AML directives introduce confidentiality clauses alongside restrictions of the right to be informed and the right to access, thereby considerably limiting their protective scope. Furthermore, the protection they offer is a regional one at best, not one that spans the Egmont world. They might thus deepen cleavages between member-state and third-country FIUs rather than curing deficits. Overall, a comprehensive and consistent cooperation system remains as much a desideratum as adequate fundamental-rights safeguards. 3. Circumvention of Reasonable-suspicion Requirement Reporting mechanisms, it is argued, sidestep suspicion requirements43 indispensable in the criminal justice sector. These requirements are traditionally perceived as basic tenets of any liberal legal order not to snoop on their citizens without good
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Principle No. 15: use most efficient means to co-operate; also No. 24: no unreasonable or unduly restrictive conditions and cases for refusal to international co-operation. 42 On FIU.net within Europol for EU Member States, De Kerchove/Höhn, in: Dietrich/Sule (eds.) (fn. 11), 2019, pp. 82, 99. 43 Sieber, in: Sieber et al. (eds.) (fn. 1), p. 27.
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cause.44 However, by co-opting the private sectors AML statutes press obliged entities to identify and indicate formerly unsuspicious legal persons and individuals to their national FIU. In doing so, states seem to vitiate implicit protective core functions of criminal law (and general police law). This criticism of circumvention is widespread. However, FIUs do not proactively search for probable cause; neither do obliged entities. Only if and when people, who potentially engage in money laundering, take the first step to channel illicit proceeds into legitimate economic activities, can they be detected at all. ML legislation merely tells gatekeepers to watch out for particularly dubious transactions once they are approached by business partners, clients etc., and sets standards how to act diligently.45 In light of the difficulties to penetrate ML networks and absent any other means, imposing duties on gatekeepers to keep their eyes open and report suspicious activities might be an acceptable, reasonable infringement, considering the immense crime risks and the abuse of the financial system and other businesses for illicit goals. It deserves mention that the European Courts have not taken issue with AML reporting systems as long as they satisfy certain structural and qualitative standards.46 Things are trickier when FIUs use their vested power to request, obtain and use information from any obliged entity, even if no prior report is filed.47 At first sight, this could be a prime example for intelligence-based fishing expeditions against unsuspicious citizens. Such requests could be prompted by information received from foreign FIUs and by FIU data analysis. What is portrayed as closing a loophole in the reporting structure might easily be turned into a stepping-stone for more far-reaching, proactive investigation activities. International actors such as the OECD already promote the use of artificial intelligence for new types of data analysis and crime prevention. Under the 5th AML directive it is clear that requests must rest on a sufficiently substantiated basis.48 Yet, this notion sounds quite flexible and open to development. There is an undeniable risk that intelligence and access to further information held by the private sector could be abused for precautionary measures and usher into an era of permanent mission creep in lockstep with technological capacities. This potential raises specific concerns about procedural safeguards and human rights, namely privacy, privilege against self-incrimination, 44 This understanding pervades various articles in Fischer/Hoven (eds.), Der Verdacht, 2016. 45 Screening and reporting requirements relate to objective risk indicators. Ensuing investigations serve to verify threats and reasonable suspicion. This is not unusual in today’s criminal procedure (so-called Vorermittlung). The practically more relevant question would be what instruments FIUs could legitimately have at their disposal for verification purposes. 46 ECtHR, Judgment of 6 December 2012, App. No. 12323/11, Michaud; CJEU, Case C543/14, Ordre des Barreaux Francophones et Germanophone and Others, EU:C:2016:605; EuZW 2013, 635; crit. Sciurba, The Incompatibility of Global Anti-Money Laundering Regimes with Human and Civil Rights – Reform Needed?, 2019, pp. 80 – 91. 47 Art. 32 para. 9 Directive EU/849/2015. 48 Recital 17 Directive (EU) 2018/843: access is necessary since obliged entities, unlike public authorities, enjoy unimpeded access to indispensable information.
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legal privileges, rights not to testify) and more fundamental worries (in view of the vast amount of data processed in the private sector) over what kinds of data should be legitimately retrievable and for which purposes. This is, however, one of the big legal, philosophical, economic and societal questions of our time, which cannot be addressed here. Suffice it to say that the potential circumvention of reasonable-suspicion requirement is but a sideshow in this quest for legal foundations and limits for the new architecture of security law.
V. Outlook This contribution underscores the magnitude of the transitions identified by Ulrich Sieber. The outlined distortions have profound ramifications, which require urgent scholarly attention. In this respect, the examples presented in this article illustrate the absence of a complementary architecture of civil liberties49 and first principles. It is hoped that the tentative propositions expressed here will stimulate a muchneeded debate in the footsteps of Ulrich Sieber.
49 Sieber, in: Sieber et al. (eds.) (fn. 1), p. 32; Mitsilegas, in: Sieber et al. (eds.) (fn. 1), p. 215.
Gedanken zur Europäischen Ermittlungsanordnung Von Walter Perron Das Europäische Strafrecht und seine Perspektiven haben im Werk von Ulrich Sieber immer eine wichtige Rolle gespielt. Die folgenden Überlegungen beruhen in vielfältiger Weise auf seinen stets anregenden Beiträgen.
I. Einleitung Im Gegensatz zum Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl1 hat die Richtlinie über die Europäische Ermittlungsanordnung (RL EEA)2 eher wenig Aufmerksamkeit erregt. Dies hat viele Gründe. So sind die davon erfassten Maßnahmen nicht so einschneidend wie die Verhaftung und zwangsweise Überstellung eines – auch eigenen – Bürgers an das EU-Ausland, die Richtlinie wurde nicht über Nacht am Kaminfeuer einer Ratssitzung beschlossen, sondern in einem längeren Prozess zwischen den Mitgliedstaaten und dem Europäischen Parlament ausgehandelt, und man hat insbesondere versucht, Lehren aus den Diskussionen um den Europäischen Haftbefehl (EHB) zu ziehen und sowohl rechtsstaatlichen Bedenken entgegenzuwirken als auch allzu starke Eingriffe in die Souveränität der Mitgliedstaaten zu vermeiden.3 Auf der anderen Seite ist der potentielle Anwendungsbereich der Europäischen Ermittlungsanordnung (EEA) wesentlich weiter als derjenige des EHB, weil er fast alle strafprozessualen Ermittlungsmaßnahmen erfasst und dadurch den Kern des Strafverfahrens, die Gewinnung und Verwertung von Beweisen, betrifft.4 Es ist daher damit zu rechnen, dass die EEA in der alltäglichen Strafjustiz der Mitgliedstaaten eine nicht unerhebliche Rolle spielen wird. Für eine erste Bewertung der praktischen Auswirkungen ist es freilich noch zu früh.5 Die Richtlinie wurde zwar 1
Rahmenbeschluss des Rats vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (2002/584/JI), ABl. L 190/1. 2 Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen, ABl. L 130/1. 3 Vgl. Mosna, ZStW 131 (2019), 808 (814). 4 Vgl. Mosna, ZStW 131 (2019), 808 (815). 5 Laut dem im April 2019 veröffentlichen Jahresbericht von Eurojust wurden 2018 immerhin fast 1000 EEAen von dieser zentralen Koordinationsstelle unterstützt (vgl. Eurojust Annual Report 2018, S. 28). Das Europäische Justizielle Netzwerk (EJN) registrierte für 2017 – 2018 insgesamt 1850 Anfragen an seinen Kontaktpunkten zur EEA (European Judicial
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2014 beschlossen und musste bis zum 22. Mai 2017 umgesetzt werden, doch ließen sich eine Reihe von Mitgliedstaaten dafür bis weit in 2018 hinein Zeit.6 Erste Berichte der mit der Richtlinie befassten europäischen Institutionen betreffen daher nur die frühe Anfangsphase 2017 – 2018, während aussagekräftige Evaluationen erst in den kommenden Jahren zu erwarten sind.7 Die deutsche Umsetzung der EEA erfolgte sehr vorsichtig und geradezu kleingeistig:8 „Maßgeblich … war das Bestreben, den Einarbeitungsaufwand für die Rechtspraxis durch eine möglichst schonende Rechtsanpassung gering zu halten. Dies erklärt auch den weiteren Grundsatz bei der Umsetzung der RL EEA, die neuen europäischen Vorschriften in das bestehende System der sonstigen Rechtshilfe einzubetten. Der bewährte Rechtsrahmen, die eingeübten Verfahren der sonstigen Rechtshilfe und die Zuständigkeiten der mit der Rechtshilfe befassten deutschen Behörden und Gerichte sollen soweit wie möglich beibehalten werden.“9 Der Deutsche Richterbund hat diese Vorgehensweise heftig kritisiert und seine Stellungnahme zum Referentenentwurf des BMJV mit dem Tenor überschrieben: „Der Deutsche Richterbund bedauert, dass der Gesetzgeber die Umsetzung der Richtlinie über die Europäische Ermittlungsanordnung nicht nutzt, um ein Regelwerk über die gegenseitige Anerkennung zu schaffen.“10 Die gegenseitige Anerkennung justizieller Entscheidungen in der EU betreffe keine exotischen Maßnahmen, sondern sei Alltag der Staatsanwaltschaften, Gerichte und Strafverteidiger geworden. Statt der Beibehaltung der bisherigen Regeln der klassischen Rechtshilfe hätte ein eigenes Regelwerk beschlos-
Network, Report on Activities and Management 2017 – 2018, S. 10 ff.). Da es sich bei den betreffenden Zeiträumen um die Anfangsphase dieses Instruments handelt, ist für die kommenden Jahre mit einem erheblichen Anstieg seiner praktischen Nutzung zu rechnen. 6 Vgl. die Übersicht des EJN https://www.ejn-crimjust.europa.eu/ejn/EJN_Library_Status OfImpByCat.aspx?l=EN&CategoryId=120 [02. 02. 2020]. 7 Eurojust veranstaltete im September 2018 eine Tagung mit Praktikern zum Erfahrungsaustausch mit der EEA (Eurojust meeting on the European investigation order The Hague, 19 – 20 September 2018, Outcome Report) und veröffentlichte gemeinsam mit dem EJN im Juni 2019 eine Handreichung für Praktiker zur EEA (Joint Note of Eurojust and the European Judicial Network on the practical application of the European Investigation Order, June 2019). Vgl. auch das Dokument des Rats der Europäischen Union 9317/19 vom 27. Mai 2019. Der EuGH fällte am 24. 10. 2019 im Fall Gavanozov ein erstes Urteil zur EEA, das sich allerdings entgegen dem Votum des Generalanwalts Bot auf die formalen Anforderungen beschränkt (Az. C 324/17). Auch eine erste Entscheidung des OLG Frankfurt, NStZ-RR 2019, 62, lehnt eine Stellungnahme zur vorgelegten Sachfrage ab und verweist das vorlegende Amtsgericht darauf, zunächst die lettische Anordnungsbehörde zu konsultieren. 8 Die Intentionen des Gesetzgebers werden neben der Gesetzesbegründung (vgl. BTDrs. 18/9757, S. 17 ff.) auch gut erkennbar aus dem Beitrag von Brahms/Gut, NStZ 2017, 388, die als fachliche Bearbeiter im BMJV den Prozess der Umsetzung der Richtlinie maßgeblich begleiteten. Kritisch auch Ahlbrecht, StV 2018, 601 (609). 9 Brahms/Gut, NStZ 2017, 388 (389). 10 Deutscher Richterbund, Stellungnahme Nr. 07/2016, April 2016.
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sen werden sollen, um die neuen Rechtsinstrumente für die Rechtspraxis zugänglicher zu gestalten.11 In der Tat bildet die internationale Rechtshilfe in Strafsachen eine Materie, die von vielen Staatsanwälten und Richtern auch heute noch nur mit spitzen Fingern angefasst wird. Dem Ziel der Schaffung eines einheitlichen europäischen Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts wird die Einbettung der EEA in diesen „exotischen“ Rechtsbereich sicher nicht gerecht. Frankreich hat beispielsweise einen anderen Weg gewählt und die Europäische Ermittlungsanordnung unmittelbar in die Strafprozessordnung (Code de procédure pénale) integriert.12 Auf der anderen Seite muss jedoch anerkannt werden, dass die Neuerungen der EEA gegenüber dem traditionellen Rechtshilfeverfahren nicht sehr weit gehen. Im deutschen Schrifttum herrscht daher offensichtlich Konsens darüber, dass die wesentlichen Veränderungen in einer Straffung des Verfahrens durch ein einheitliches Formblatt mit standardisierten Angaben sowie engen Fristen und Konsultationspflichten bestehen, während sich substantiell wenig gegenüber der bisherigen Gewährung von Rechtshilfe geändert habe.13 Die zentrale Frage der Bewertung der EEA besteht somit darin, ob dem europäischen – und im Hinblick auf die Umsetzung ins deutsche Recht auch dem deutschen – Gesetzgeber tatsächlich die Quadratur des Kreises gelungen ist und ein Instrument geschaffen wurde, das den Anforderungen eines international arbeitsteiligen Strafverfahrens in einer EU ohne Binnengrenzen gerecht wird und zugleich die Souveränität der Mitgliedstaaten bei der Gestaltung ihres Strafverfolgungssystem auf eine Weise respektiert, welche die rechtsstaatlichen Probleme, die durch das Zusammenwirken unterschiedlicher und weitgehend inkompatibler Strafprozesskulturen entstehen können, vermeidet. Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden.
II. Effizienzsteigerungen? Die traditionelle „sonstige“ Rechtshilfe in Strafsachen hat sich vor allem aus zwei Gründen als wenig effizient erwiesen: Zum einen wegen der umständlichen und zeitaufwendigen Verfahrensweisen, die auch darunter leiden, dass ausländische Stellen 11
A.a.O. S. 3. Trautmann, in: Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 6. Aufl. 2020. IRG vor § 91a Rn. 4, spricht von einem „unterschwelligen Unwillen“ des deutschen Gesetzgebers. 12 Vgl. Knytel, La décision d’enquête européenne et sa mise en oeuvre en droits français et allemand – Die Europäische Ermittlungsanordnung und ihre Umsetzung in die deutsche und französische Rechtsordnung, Berlin 2020, S. 66 ff. 13 Vgl. Ahlbrecht, StV 2018, 601 (609); Böhm, NJW 2017, 1512 (1515); Böse, ZIS 2014, 152 (163); Schuster, StV 2015, 393 (399). Auf die zusätzliche Facette, dass gem. Art. 1 Abs. 3 RL EEA der Erlass eine EEA auch von dem Beschuldigten beantragt werden kann (vgl. dazu Schuster, StV 2015, 393 [394]), wird hier nicht weiter eingegangen.
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nicht gezwungen werden können, Rechtshilfe zu leisten. Zum anderen wegen der sehr erheblichen Unterschiede zwischen den verschiedenen Rechtsordnungen, die sowohl das Ob und Wie der Durchführung der ersuchten Maßnahmen als auch die Verwertbarkeit der erlangten Beweise beeinträchtigen. Es ist daher unbestritten, dass dieses traditionelle Rechtshilfesystem den Anforderungen einer effizienten Strafverfolgung in der Europäischen Union schon lange nicht mehr gerecht wird.14 1. Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens Die Richtlinie über die EEA versucht in erster Linie, die bürokratischen Hürden einer effizienten Zusammenarbeit zu beseitigen. Ein einheitliches Formblatt, das in allen Amtssprachen der EU zur Verfügung steht und alle wichtigen Informationen erfasst, soll die Praxis standardisieren und unnötige Rückfragen und Verzögerungen vermeiden.15 Hinzu kommen enge Bearbeitungsfristen und Konsultationspflichten16 sowie die Möglichkeit, über die Kontaktpunkte des EJN und – wenn mehr als zwei Mitgliedstaaten betroffen sind – Eurojust Zweifelsfragen schneller klären zu lassen.17 Ich habe keinen Zweifel, dass diese Maßnahmen Wirkung zeigen werden. Auch wenn keine Sanktionen für den Fall vorgesehen sind, dass eine ausländische Stelle nicht oder unzureichend auf eine übermittelte EEA reagiert, dürfte die Einschaltung des EJN sowie von Eurojust einen zumindest informellen Druck auf unwillige ausländische Richter und Staatsanwälte entfalten. Auch kann der EuGH auf die eine oder andere Art angerufen werden, um die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus der EEA-Richtlinie zu konkretisieren und als äußerstes Mittel auch im Wege des Vertragsverletzungsverfahrens durchzusetzen. Insgesamt ist daher durchaus ein Umdenken der Praxis in den Mitgliedstaaten zu erwarten, welches die Zusammenarbeit wesentlich verbessern wird. Freilich wurde eine große Chance verpasst: Die generelle Zulassung der englischen Sprache als einheitliches Kommunikationsmittel wird zwar im Erwägungsgrund 14 der Richtlinie als Wunsch formuliert, aber den Mitgliedstaaten nicht verbindlich auferlegt.18 Dementsprechend akzeptieren von insgesamt 25 Mitgliedstaa-
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Drastisch formulierte es schon 1994 Fätkinhäuer, Der Kriminalist 1994, 257 (258): „Die Verbrecher reisen mit Überschallgeschwindigkeit in der Concorde, die Polizei folgt ihnen im Porsche und die Justiz besteigt die Postkutsche“. 15 Vgl. Art. 5 RL EEA mit Anhang A. 16 Vgl. Art. 12, 16 RL EEA. 17 Vgl. die „Joint Note of Eurojust and the European Judicial Network on the practical application of the European Investigation Order“ vom Juni 2019 (Fn. 7). 18 Erwägungsgrund 14 spricht zwar lediglich von einer „in der Union häufig verwendeten Sprache“, doch kann damit in Anbetracht der tatsächlichen Verhältnisse nur englisch gemeint sein.
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ten, für die die Richtlinie Gültigkeit erlangt hat,19 nur zwölf die englische Sprache für eingehende EEAen, drei weitere akzeptieren sie in Notfällen oder nach Einzelfallentscheidung und zehn akzeptieren sie nicht.20 Insbesondere die bevölkerungsstarken und deshalb in der Praxis wohl besonders häufig betroffenen Staaten Frankreich, Italien und Deutschland verlangen Ausfertigungen in der eigenen Landessprache, während die meisten kleineren Staaten sich auf Englisch einlassen. Die deutsche Gesetzesbegründung führt dazu aus: „Für die Bundesrepublik Deutschland wird im Benehmen mit den Ländern zu entscheiden sein, ob neben Deutsch auch eine andere Sprache, insbesondere Englisch, akzeptiert werden kann. Erste Einschätzungen der Länder haben ergeben, dass der Verzicht auf eine deutsche Übersetzung bei eingehenden Ersuchen zu einem erhöhten Übersetzungsaufwand durch deutsche Behörden führen könnte, was vor allem angesichts der kurzen Fristen, die die RL EEA für die Anerkennung und Vollstreckung vorsieht, zu erheblichen praktischen Problemen führen könnte.“21 Die Bundesrepublik Deutschland hat der Europäischen Kommission daraufhin mitgeteilt, dass für eingehende Ersuchen ausschließlich die deutsche Sprache zugelassen ist.22 Aus der Sicht eines international orientierten Strafrechtlehrers, der jedes Jahr ein studentisches Team zu einem englischsprachigen ICC-Moot-Court nach Den Haag schickt und keinerlei Probleme hat, genügend Bewerberinnen und Bewerber mit exzellenten Englischkenntnissen zu finden, ist diese deutsche Kleingeisterei unverständlich. Wer auch nur einmal an einem internationalen Kongress teilgenommen hat, bei dem er mit Teilnehmern aus der ganzen Welt unmittelbar diskutieren konnte, ohne auf Simultanübersetzungen angewiesen zu sein, kennt die unendlichen Vorteile, die eine gemeinsame Sprache bedeutet. Der Ansatz des bundesdeutschen Gesetzgebers – bzw. des BMJV –, möglichst alles beim Alten zu lassen, um die Praxis nicht zu verschrecken, ist hier in hohem Maße kontraproduktiv. Es wäre ein Leichtes, Sonderzuständigkeiten für die Vollstreckung eingehender EEAen (und auch anderer europäischer Rechtsinstrumente) zu schaffen und die betreffenden Staatsanwaltschaften und Gerichte mit Personen zu besetzen, die freiwillig bereit sind, sich auf die englische Sprache einzulassen. Hinzu kommt, dass moderne, online verfügbare Übersetzungsprogramme und -hilfen inzwischen so leistungsfähig geworden sind, dass sich Zweifelsfragen damit in aller Regel sehr schnell klären lassen. Schließlich würde ein solches Einlenken Deutschlands auch andere Länder unter Zugzwang setzen, sich ebenfalls in diese Richtung zu bewegen. Sollte sich die englische Sprache auf breiter Front durchsetzen, dann würden alle deutschen Staatsanwälte und Richter davon pro-
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zählt. 20
Das Vereinigte Königreich wird nach dem Wirksamwerden des „Brexit“ nicht mitge-
Vgl. die Übersicht bei https://www.ejn-crimjust.europa.eu/ejn/EJN_RegistryDoc/EN/ 3115/0/0 [02. 02. 2020], ergänzt um Luxemburg https://www.ejn-crimjust.europa.eu/ejn/lib documentproperties.aspx?Id=2128 [02. 02. 2020]. 21 BT-Drs. 18/9757, S. 22. 22 Vgl. Brahms/Gut, NStZ 2017, 388 (392) mit Fn. 41.
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fitieren, weil ausgehende EEAen nur noch in Englisch verfasst (oder dahin übersetzt) werden müssten und nicht etwa in tschechischer oder griechischer Sprache.23 2. Effizienzhindernisse durch Unterschiede der nationalen Verfahrensordnungen a) Die RL EEA sieht kein vereinheitlichtes besonderes Verfahren für die Vollstreckung von EEAen vor, sondern übernimmt grundsätzlich das traditionelle Rechtshilfesystem, nach dem der Vollstreckungsstaat zunächst seine eigenen Regeln anwendet (locus regit actum). Zwar bestimmt Art. 9 Abs. 2 RL EEA, dass die Vollstreckungsbehörde die von der Anordnungsbehörde ausdrücklich angegebenen Formvorschriften und Verfahren einzuhalten hat (forum regit actum), doch stehen diese Vorgaben erstens unter dem Vorbehalt, dass sie nicht im Widerspruch zu den wesentlichen Rechtsgrundsätzen des Vollstreckungsstaates stehen, und zweitens darf der Vollstreckungsstaat gem. Art. 10 Abs. 1 RL EEA die angeordnete Maßnahme nur durchführen, wenn sie in seiner Rechtsordnung existiert und in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall zur Verfügung stünde; auch müssen nationale Richtervorbehalte beachtet werden.24 Der Vollstreckungsstaat muss notfalls auf andere Maßnahmen zurückgreifen, die in seiner Rechtsordnung zur Verfügung stehen, und kann im Übrigen auch sonst die verlangten Maßnahmen durch weniger einschneidende ersetzen, wenn dadurch das gleiche Ergebnis zu erzielen ist.25 Diese Regelungen bedeuten, dass die Vollstreckungsbehörde eine eingehende EEA nicht einfach vollstrecken kann, „als wäre die betreffende Ermittlungsmaßnahme von einer Behörde des Vollstreckungsstaats angeordnet worden“,26 sondern zuvor diese in ihre eigene Rechtsordnung übersetzen muss und sowohl im Hinblick auf das „ob“ als auch auf das „wie“ zu prüfen hat, ob Anpassungen vorzunehmen sind, die angeordnete Maßnahme durch eine andere substituiert oder ihre Durchführung mangels zulässiger Alternativen ganz verweigert werden muss. Wie schwierig diese Übersetzungsarbeit konkret sein kann, hat Dagna Knytel im Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich eingehend anhand der Vernehmung des Verdächtigen, der Vernehmung von Zeugen sowie Durchsuchungen und Beschlagnahmen untersucht.27 Dabei zeigt sich, dass selbst bei so ähnlich strukturierten Rechtsordnungen – der französische Code de Procedure Pénal hat die deutsche RStPO maßgeblich beeinflusst – die Unterschiede im Detail erheblich sind und die grenzüberschreitende Gewinnung und Verwertung von Beweisen auch im Rahmen der EEA nachhaltig erschweren.
23
Kritisch auch Trautmann, in: Schomburg/Lagodny, IRG vor § 91a Rdn.13. Vgl. Art. 2 lit. d RL EEA sowie Mosna, ZStW 131 (2019), 808 (816 f.). 25 Vgl. Art. 10 Abs. 1 u. 3 RL EEA. 26 So der Wortlaut von Art. 9 Abs. 1 RL EEA. 27 Vgl. Knytel, La décision (Fn. 12), S. 115 – 274. 24
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b) Soweit eine deutsche EEA, die auf die Vernehmung einer verdächtigen Person als Beschuldigter gerichtet ist, in Frankreich vollstreckt werden soll, erlaubt das französische Recht in weitem Umfang eine Durchführung nach den Vorgaben der Anordnungsbehörde.28 Solche Vorgaben sind von deutscher Seite aus auch unbedingt notwendig, weil das französische Recht drei verschiedene Arten von Beschuldigtenvernehmungen kennt, die sich sowohl hinsichtlich der zuständigen Organe als auch bei hinsichtlich der Belehrungspflichten und des Anwesenheitsrechts des Verteidigers deutlich voneinander unterscheiden.29 Nicht alle diese Formen entsprechen den Anforderungen des § 136 StPO, und auch die Verwertbarkeit von Protokollen oder Tonund Bildaufzeichnungen gem. § 254 StPO ist nicht in allen Fällen gewährleistet.30 Zu empfehlen ist daher, dass die deutsche Anordnungsbehörde die Vernehmung der verdächtigen Person durch einen Richter verlangt, der die Vernehmung auch nicht an einen Beamten der Gerichtspolizei delegieren darf. Weiterhin sollte verlangt werden, dass sowohl dem – deutschen oder französischen – Verteidiger als auch einem deutschen Staatsanwalt die Anwesenheit gestattet ist, und der Inhalt der erforderlichen Belehrungen sollte genau beschrieben werden, damit die Verwertbarkeit des Protokolls oder der Bild- und Tonaufzeichnung in einer deutschen Hauptverhandlung gesichert ist. Werden diese Aspekte von deutscher Seite aus beachtet, kann eine entsprechende EEA effektiv eingesetzt werden. Im umgekehrten Fall einer französischen EEA auf Beschuldigtenvernehmung, die in Deutschland zu vollstrecken ist, ergeben sich dagegen größere Probleme. Das französische Recht lässt die Verwertung von Protokollen früherer Vernehmungen in der Hauptverhandlung in deutlich größerem Maße zu als das deutsche Recht, stellt dafür aber höhere formelle Anforderungen an die betreffenden Vernehmungen.31 So ist der Beschuldigte im Rahmen einer gerichtlichen Voruntersuchung („information“) darüber zu informieren, ob gegen ihn eine „mise en examen“ eingeleitet wurde oder ob er als nur als „témoin assisté“ vernommen wird. Dementsprechend muss die Belehrung über seine Rechte unterschiedlich ausfallen. Im Falle einer „mise en examen“ ist in Frankreich eine audiovisuelle Aufzeichnung der Vernehmung zwingend vorgeschrieben, und der Verteidiger muss anwesend sein. Nicht geklärt ist, ob eine Vernehmung durch einen deutschen Staatsanwalt den französischen Anforderungen genügen würde oder ob ein deutscher Richter die Vernehmung durchführen muss. Die französische Anordnungsbehörde müsste daher wohl eine richterliche Vernehmung mit Bild- und Tonaufzeichnung verlangen, bei welcher der Verteidiger anwesend ist. Auch müsste der Inhalt der Belehrung des Beschuldigten genau angegeben werden. Im Falle einer gerichtlichen Vernehmung als „témoin assisté“ oder einer Vernehmung als Verdächtiger („suspect“) im Rahmen einer polizeilichen Ermittlung („enquête“) gehen die Pflichten der deutschen Stellen aus den §§ 136, 136a StPO jedoch 28
Vgl. Knytel, La décision (Fn. 12), S. 139. Vgl. Knytel, La décision (Fn. 12), S. 122 ff. 30 Vgl. Knytel, La décision (Fn. 12), S. 146 – 166. 31 Vgl. Knytel, La décision (Fn. 12), S. 169 ff. 29
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ausreichend weit bzw. sogar weiter als in Frankreich, so dass insoweit keine größeren Probleme zu erwarten sind. c) Bei Zeugenvernehmungen wirken sich die Unterschiede zwischen dem deutschen und dem französischen Recht noch stärker aus als bei der Beschuldigtenvernehmung und beeinträchtigen dadurch die Anordnung und Vollstreckung von EEAen. So ist das Opfer einer Straftat in Frankreich kein Zeuge, sondern Zivilpartei und hat eigene Rechte, die beachtet werden müssen.32 Die Schweigepflichten von Berufsgeheimnisträgern werden stärker akzentuiert als in Deutschland: Für Ärzte gilt beispielsweise ein generelles Aussageverbot, und zwar auch dann, wenn sie von ihrem Patienten von der Schweigepflicht entbunden wurden.33 Die Vernehmung von schweigepflichtigen Berufsgeheimnisträgern ist von vornherein unzulässig, und Aussagen, die unter Verstoß gegen dieses Verbot zustande gekommen sind, dürfen nicht als Beweis verwertet werden.34 Auf der anderen Seite haben Angehörige in Frankreich kein Zeugnisverweigerungsrecht – lediglich in der Hauptverhandlung dürfen sie nicht vereidigt werden (mit der Folge der Straflosigkeit von Falschaussagen), während ihre Eidespflicht (und damit auch das Strafbarkeitsrisiko) im Vorverfahren nicht aufgehoben ist.35 Vor dem Untersuchungsrichter werden Zeugen generell vereidigt und müssen den Eid bereits vor der Vernehmung leisten.36 Zeugen, die Gefahr laufen, sich durch ihre Aussage selbst zu belasten, haben in Frankreich kein Aussageverweigerungsrecht und werden ebenfalls vereidigt.37 Schließlich kennt Frankreich keine besonderen Rechte und Instrumente des Zeugenschutzes.38 Wollen deutsche Staatsanwaltschaften eine Zeugenvernehmung in Frankreich mittels einer EEA durchführen lassen, müssen sie deshalb die weitergehenden Aussageverbote von Berufsgeheimnisträgern im Auge behalten. Bei Angehörigen setzt die Verwertbarkeit der Aussage, insbesondere auch im Hinblick auf § 252, voraus, dass die französischen Stellen auf die Notwendigkeit einer Belehrung gem. § 52 StPO hingewiesen werden. Gebietet die Fürsorgepflicht Maßnahmen des Zeugenschutzes, müssen diese in der EEA detailliert beschrieben werden, wobei die französischen Behörden diesen nicht nachkommen können, sofern Rechte des Beschuldigten dadurch eingeschränkt werden müssten. Schließlich führt das Fehlen eines Aussageverweigerungsrechts entsprechend § 55 StPO aufgrund der von der Rechtsprechung praktizierten Rechtskreistheorie zwar nicht zu einer Unverwertbarkeit entsprechender Aussagen in Deutschland. Die deutschen Behörden würden sich ohne eine entsprechende Bitte um Beachtung dieser Vorschrift jedoch einer mittelbaren Verletzung des Grundsatzes „nemo tenetur seipsum accusare“ schuldig ma32
Vgl. Knytel, La décision (Fn. 12), S. 188. Vgl. Knytel, La décision (Fn. 12), S. 189 f. 34 Vgl. Knytel, La décision (Fn. 12), S. 190. 35 Vgl. Knytel, La décision (Fn. 12), S. 191, 196 ff. 36 Vgl. Knytel, La décision (Fn. 12), S. 213. 37 Vgl. Knytel, La décision (Fn. 12), S. 194 ff. 38 Vgl. Knytel, La décision (Fn. 12), S. 217.
33
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chen, weil sie durch ihre EEA den französischen Behörden die Möglichkeit eröffnen würden, selbstbelastende Aussagen eines Zeugen zum Anlass für die Einleitung eines französischen Strafverfahrens zu nehmen und die Aussagen als Beweis gegen den Zeugen zu verwenden.39 Auf der anderen Seite können die deutschen Behörden eine in Frankreich durchzuführende Vernehmung durch audiovisuelle Übertragung ohne größere Hindernisse durchsetzen, weil im Unterschied zum deutschen Recht die Zeugen auch in diesem Fall zum Erscheinen und Aussagen verpflichtet sind.40 Umgekehrt müssen die französischen Behörden beim Erlass einer in Deutschland zu vollstreckenden EEA ihre deutschen Kollegen auf die besonderen Verfahrensrechte von Opferzeugen hinweisen, sie müssen die deutschen Zeugnisverweigerungsrechte nach § 52 StPO sowie das Aussageverweigerungsrecht nach § 55 StPO im Auge behalten und sie müssen damit rechnen, dass angeordnete audiovisuelle Vernehmungen von Zeugen an den §§ 61c, 91c I IRG scheitern.41 Auch müssen die strengeren französischen Formvorschriften bei Vernehmungen im Rahmen einer gerichtlichen Voruntersuchung den deutschen Vollstreckungsbehörden detailliert mitgeteilt werden, damit die Verwertbarkeit der Vernehmungsprotokolle und Bild- und Tonaufzeichnungen in der französischen Hauptverhandlung nicht gefährdet ist. Auf der anderen Seite müssen die deutschen Stellen bei der Vollstreckung der französischen EEA im Hinblick auf § 55 StPO sehr vorsichtig sein und den Zeugen korrekt und vollständig belehren, weil etwaige Verstöße gegen die Belehrungspflicht in Frankreich nicht mehr gerügt werden können und den Zeugen in einem gegen ihn gerichteten Strafverfahren dort auch kein Beweisverwertungsverbot schützt. Überhaupt ist die Lage eines solchen Zeugen bei einer in Deutschland zu vollstreckenden EEA sehr prekär, weil die deutschen Behörden etwaige Strafbarkeitsrisiken, die für den Zeugen in Frankreich bestehen, mangels näherer Sachverhalts- und Rechtskenntnisse häufig gar nicht abschätzen können.42 d) Schließlich differieren auch die Modalitäten für Durchsuchungen und Beschlagnahmen zwischen den beiden Ländern erheblich.43 Während das deutsche Recht den Schutz vor allem a priori durch strengere Anordnungsvoraussetzungen und Beschlagnahmeverbote gewährleistet, stellt das französische Recht eher auf eine stärkere Kontrolle der Durchführung ab.44 So existiert in Frankreich keine spezielle gesetzliche Ermächtigungsgrundlage, die spezifische Anordnungsvoraussetzungen festlegt, sondern es genügt eine § 161 Abs. 1 der deutschen StPO entspre-
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Vgl. Knytel, La décision (Fn. 12), S. 212. Vgl. Knytel, La décision (Fn. 12), S. 209; Schuster, StV 2015, 393 (395). 41 Vgl. Knytel, La décision (Fn. 12), S. 225 f., die dies als unzureichende Umsetzung der RL EEA ansieht. Siehe auch Schuster, StV 2015, 393 (395). 42 Vgl. Knytel, La décision (Fn. 12), S. 222. 43 Zu Abweichungen in anderen Mitgliedstaaten vgl. Schuster, StV 2015, 393 (396 f.). 44 Vgl. Knytel, La décision (Fn. 12), S. 271. 40
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chende Generalermächtigung.45 Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Maßnahme müssen aber im Einzelfall gewährleistet sein. Im Rahmen einer gerichtlichen Voruntersuchung kann der Richter konkrete Durchsuchungsanordnungen erlassen oder aber der Polizei einen – auch pauschalen – Ermittlungsauftrag erteilen, der die Anordnung von Durchsuchungen und Beschlagnahmen umfasst. Durchgeführt wird die Durchsuchung vom Richter, sofern er nicht auch dafür die Polizei beauftragt. Bei der Durchsuchung der Wohnung des Beschuldigten muss dieser anwesend sein, es gelten strenge Protokollierungspflichten. Zeugen dürfen an Stelle des Beschuldigten nur hinzugezogen werden, wenn dieser unerreichbar ist, ansonsten sind die Beweise unverwertbar. Bei Berufsgeheimnisträgern kennt das französische Recht keine generellen Durchsuchungs- und Beschlagnahmeverbote, sondern die Gerichte entscheiden im Einzelfall, ob die Berufsfreiheit oder die Verteidigungsrechte unzulässig eingeschränkt würden. Jedenfalls ist die Korrespondenz zwischen dem Beschuldigten und seinem Verteidiger absolut geschützt. Auch muss in solchen Fällen zwingend der Präsident der Anwaltskammer, Ärztekammer etc. oder ein Stellvertreter bei der Durchsuchung anwesend sein, damit er dafür Sorge tragen kann, dass nicht unzulässig in die Berufsrechte des Betroffenen eingegriffen wird. Wird eine Anwaltskanzlei durchsucht, die im Auftrag eines Unternehmens interne Untersuchungen durchgeführt hat, so fallen nicht nur alle Unterlagen, die von den Anwälten zu diesem Zweck erstellt wurden, unter ein Beschlagnahme- und Verwertungsverbot, sondern im Unterschied zum deutschen Recht profitieren auch die Mitarbeiter des Unternehmens von diesen Verboten. Außerhalb einer gerichtlichen Voruntersuchung können Durchsuchungen von der Polizei oder Staatsanwaltschaft angeordnet werden; ohne Zustimmung des Betroffenen sind sie aber nur zulässig, wenn es um eine Straftat geht, die mit einer Höchststrafe von mindestens 5 Jahren bedroht ist und ein Richter die Durchsuchung angeordnet hat.46 Soll eine in Deutschland angeordnete, auf Durchsuchung und Beschlagnahme gerichtete EEA in Frankreich vollstreckt werden, dann ist eher nicht mit Schwierigkeiten zu rechnen, weil die strengeren deutschen Anordnungsvoraussetzungen und die strengeren französischen Vollstreckungsanforderungen kaum miteinander kollidieren. Im Allgemeinen wird in Frankreich der Untersuchungsrichter für die Vollstreckung zuständig sein.47 Probleme können sich freilich bei leichteren Delikten ergeben, weil in Frankreich etwa bei einem einfachen Diebstahl eine Durchsuchung als unverhältnismäßig angesehen wird.48 Sofern die deutsche Stelle nicht das Risiko eingehen will, dass das deutsche Gericht der Hauptverhandlung ein pauschales Beweisverwertungsverbot annimmt, sollten die französischen Stellen genau über den Umfang der Beschlagnahmeverbote des § 97 StPO informiert werden.
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Vgl. dazu und zum Folgenden Knytel, La décision (Fn. 12), S. 242 f. Vgl. Knytel, La décision (Fn. 12), S. 252 f. 47 Vgl. Knytel, La décision (Fn. 12), S. 257 f. 48 Vgl. Knytel, La décision (Fn. 12), S. 259.
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Im umgekehrten Fall der Vollstreckung einer französischen EEA in Deutschland können sich dagegen massive Probleme ergeben.49 So müssen die französischen Stellen nicht nur den erhöhten deutschen Begründungsanforderungen an Durchsuchungsbeschlüsse gerecht werden, sondern sie müssen die deutschen Stellen auch detailliert über die strengen französischen Formvorschriften informieren und bei Berufsgeheimnisträgern auf die Notwendigkeit der Anwesenheit des Präsidenten der entsprechenden Berufskammer hinweisen. Es ist zu erwarten, dass die französischen Gerichte die Verwertbarkeit von in Deutschland vollstreckten EEAen, die Durchsuchungen und Beschlagnahmen zum Gegenstand haben, sehr genau überprüfen werden. 3. Effizienzhindernisse durch Gegenkontrollen Die RL EEA erlaubt der Vollstreckungsbehörde ein hohes Maß an Gegenkontrolle um zu verhindern, dass durch die Aufspaltung von Anordnung und Vollstreckung belastender Ermittlungsmaßnahmen zwischen verschiedenen Rechtsordnungen die Beschuldigtenrechte verletzt werden und zu stark in die Souveränität des Vollstreckungsstaates eingegriffen wird. So begrüßenswert diese Maßnahmen, die unter dem Eindruck der nicht nur positiven Erfahrungen mit dem Europäischen Haftbefehl ergriffen wurden, auch sind, können sie doch zu erheblichen Verzögerungen führen. So darf die Vollstreckungsbehörde nicht nur die formalen Voraussetzungen einer wirksamen EEA überprüfen – insbesondere ob die EEA von einer autorisierten Behörde erlassen wurde50 und alle im Formblatt vorgesehenen Angaben in einer zugelassenen Sprache enthält –, sondern sie kann auch die Anordnung grundsätzlich in Frage stellen, weil sie für die Zwecke des im Anordnungsstaat geführten Verfahrens nicht erforderlich und verhältnismäßig sei oder die Europäische Menschenrechtskonvention oder die Grundrechtecharta der EU verletze.51 Sie muss weiterhin prüfen, ob die angeordnete Ermittlungsmaßnahme in einem vergleichbaren inländischen Strafverfahren zur Verfügung stünde, ob eigene nationale Interessen (Immunitäten, Pressefreiheit, nationale Sicherheit, ne bis in idem) einer Vollstreckung entgegenstehen und ob die nach den Vorgaben der EEA bei der Vollstreckung anzuwendenden Form- und Verfahrensregeln mit den Grundsätzen der eigenen Rechtsordnung vereinbar sind.52
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Vgl. Knytel, La décision (Fn. 12), S. 264 ff. Vgl. Art. 9 Abs. 3 RL EEA. 51 Vgl. Art. 1 Abs. 4 und 6 Abs. 1 lit. a RL EEA. Umstritten ist freilich, ob bei Vorliegen einer Verletzung des Verhältnismäßigkeitsprinzips durch die Anordnungsbehörde die Vollstreckung gem. Art. 11 Abs. 1 lit. f RL EEA verweigert werden darf oder nur Konsultationen gem. Art. 6 Abs. 3 RL EEA durchgeführt werden dürfen (vgl. Böse, ZIS 2014, 152 [154, 158 f.] sowie Schuster, StV 2015, 393 [396] einerseits und Zimmermann, ZStW 127 [2015], 143 [158] andererseits). Näher dazu unten III.1. 52 Vgl. Art. 6 Abs. 1 lit. b, 9 Abs. 2 und 11 Abs. 1 RL EEA. 50
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Betrachtet man die bereits im deutsch-französischen Verhältnis festgestellten Unterschiede zwischen den materiellen Anordnungsvoraussetzungen, den Anforderungen an die Begründung sowie den Formvorschriften für die Durchführung einer Ermittlungsmaßnahme, dann ist nicht davon auszugehen, dass eine ausländische EEA von vornherein alle Informationen enthält, die von der inländischen Vollstreckungsbehörde benötigt werden, um dieses Prüfprogramm anhand der Maßstäbe der eigenen Rechtsordnung vollständig abarbeiten zu können. Eine solche umfassend begründete EEA würde nämlich voraussetzen, dass die Anordnungsbehörde sich aller relevanten Unterschiede zwischen ihrer eigenen Rechtsordnung und derjenigen des Vollstreckungsstaates bewusst ist und dementsprechend schon bei der Abfassung der EEA und dem Ausfüllen des Formblatts berücksichtigt. Angesichts der Vielfalt der Rechtsordnungen und der betroffenen Ermittlungsmaßnahmen ist eine solche Erwartung aber unrealistisch.53 Die Effizienz der EEA dürfte daher vor allem davon abhängen, ob in den vielfältig vorgeschriebenen Konsultationen entsprechende Unklarheiten rechtzeitig beseitigt werden können oder ob die Vollstreckungsbehörde angesichts der Schwierigkeiten auf die möglichen Gegenkontrollen ganz oder teilweise verzichtet. Für Deutschland, in dem sowohl ein erhebliches Misstrauen gegenüber fremden Verfahrensordnungen vorherrscht als auch die Bereitschaft, sich auf die englische Sprache einzulassen, noch sehr unterentwickelt ist, muss jedenfalls mit erheblichen Verzögerungen bei der Vollstreckung ausländischer EEAen gerechnet werden.54 4. Zwischenfazit Bei nüchterner Betrachtung ist zu konstatieren, dass die EEA zwar einige Instrumente enthält, die wirksam zu einer Entbürokratisierung und Effizienzsteigerung des Rechtshilfeverkehrs beitragen können, auf der anderen Seite aber wesentliche Störpotentiale nicht beseitigt wurden.55 Sehr viel wird davon abhängen, ob die Praxis die Neuerungen positiv aufnimmt und insbesondere aktiv die Kommunikationsmöglichkeiten nutzt, die die RL EEA sowie unterstützend das EJN und Eurojust bieten. Die Webseite des Bundesamts für Justiz zum EJN ist insoweit allerdings nicht sehr einladend,56 und auch in den Bundesländern dürfte der Nachholbedarf nicht unerheblich 53
Vgl. dazu auch OLG Frankfurt NStZ-RR 2019, 62, 63. Symptomatisch ist der der Entscheidung OLG Frankfurt NStZ-RR 2019, 62 zugrunde liegende Fall: Anstatt sich, wie in der RL EEA sowie in § 91d Abs. 3 IRG vorgeschrieben, unmittelbar mit der lettischen Anordnungsbehörde in Verbindung zu setzen, um fehlende Angaben ergänzen zu lassen, wurde sofort eine Entscheidung des OLG gem. § 61 Abs. 1 IRG beantragt. Das OLG verwies daraufhin die Sache an das AG zurück mit der Begründung, dass zuerst die Konsultation durchzuführen sei. Über den Zeitverlust durch dieses unnötige Intermezzo kann man nur spekulieren. 55 Aufschlussreich dazu ist die Bewertung der deutschen Umsetzung der RL EEA durch Brahms/Gut, NStZ 2017, 388 (395). Siehe auch Zimmermann, ZStW 127 (2015), 143 (147). 56 Vgl. https://www.bundesjustizamt.de/DE/Themen/Gerichte_Behoerden/EJNS/EJN_node. html [12. 02. 2020]. 54
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sein. Vermutlich wird es in grenznahen Gebieten, in denen die Zusammenarbeit mit den Behörden des Nachbarlandes schon früher gut verlief, sehr viel eher zu einer effektiven Nutzung der neuen Möglichkeiten kommen als bei Staatsanwaltschaften, die geographisch von dem korrespondierenden Mitgliedstaat weiter entfernt liegen und auch keinen direkten sprachlichen Zugang zu den dortigen Kolleginnen und Kollegen haben. Will man hier wirklich vorankommen, wird noch viel Überzeugungsund Schulungsarbeit zu leisten sein, und die Justizministerien werden um die Einführung von Sonderzuständigkeiten und verstärkte Einrichtung von unterstützenden Stellen nicht herumkommen.
III. Rechtsschutz für die Betroffenen Ein wesentliches Anliegen der RL EEA ist, die Rechte der von den Ermittlungsmaßnahmen Betroffenen, insbesondere die Verteidigungsrechte des Beschuldigten, zu garantieren.57 Dies soll auf zweierlei Weise erreicht werden: erstens durch ein hohes Maß an Gegenkontrolle durch die Vollstreckungsbehörde und zweitens durch die Gewährleistung von Rechtsbehelfen. 1. Kontrollbefugnisse der Vollstreckungsbehörde Wie bereits erwähnt erlaubt die RL EEA der Vollstreckungsbehörde eine durchaus intensive Gegenkontrolle bzw. verpflichtet sie in bestimmten Fällen auch dazu, um die Rechte der Betroffenen zu gewährleisten. Von der Anordnungsbehörde verlangt Art. 6 Abs. 1 RL EEA, sicherzustellen, dass die Rechte des Beschuldigten gewahrt werden, die Anordnung der Maßnahme erforderlich und verhältnismäßig ist und – um ein „forum shopping“ zu verhindern – dass sie in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall ebenfalls zulässig wäre. Art. 6 Abs. 3 RL EEA räumt demgegenüber der Vollstreckungsbehörde ausdrücklich die Befugnis ein, die Einhaltung dieser Voraussetzungen zu kontrollieren und im Zweifelsfall die Anordnungsbehörde deswegen zu konsultieren. Weiterhin muss die Vollstreckungsbehörde prüfen, ob die angeordnete Maßnahme in der eigenen Rechtsordnung existiert und ob sie in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall auch zur Verfügung stünde, damit die Betroffenen nicht mit Grundrechtseingriffen belastet werden, die im Vollstreckungsstaat nicht vorgesehen sind.58 Liegen diese Vollstreckungsvoraussetzungen nicht vor, darf die Vollstreckungsbehörde gemäß Art. 10 Abs. 1 RL EEA die angeordnete Maßnahme zwar durch eine andere Maßnahme zu ersetzen, die in ihrer Rechtsordnung zulässig ist; würde diese alternative Maßnahme jedoch nicht zum gleichen Ergebnis führen, so darf 57
Vgl. Erwägungsgrund 12 sowie Art. 1 Abs. 4 RL EEA. Art. 10 Abs. 2 RL EEA macht insoweit eine Ausnahme, als bestimmte wenig invasive Maßnahmen stets zur Verfügung stehen müssen. 58
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die Vollstreckungsbehörde gemäß Art. 10 Abs. 5 RL EEA nicht tätig werden und hat der Anordnungsbehörde mitzuteilen, dass die erbetene Unterstützung nicht geleistet werden kann. Gemäß Art. 10 Abs. 3 RL EEA darf die Vollstreckungsbehörde außerdem die angeordnete Maßnahme auch sonst durch eine weniger einschneidende Maßnahme ersetzen, wenn dadurch das gleiche Ergebnis erreicht werden kann. Schließlich darf gemäß Art. 11 Abs. 1 lit. f und h RL EEA die Anerkennung und Vollstreckung einer EEA verweigert werden, wenn berechtigte Gründe bestehen, dass die Vollstreckung mit der Grundrechtecharta der EU oder der Europäischen Menschenrechtskonvention unvereinbar wäre sowie wenn die Anwendung der Maßnahme im Vollstreckungsstaat auf bestimmte Straftaten beschränkt ist und der EEA keine solche Straftat zugrunde liegt. Das Verhältnis dieser drei Vorschriften zueinander ist freilich unklar und wird den EuGH aller Voraussicht nach noch mehrfach beschäftigen. So unterscheiden sich einerseits die Rechtsfolgen erheblich: Art. 6 RL EEA erlaubt lediglich eine Konsultation, Art. 10 RL EEA erteilt die Befugnis zur Ersetzung der Maßnahmen durch eine andere und verpflichtet, falls eine Ersetzung nicht möglich ist, zur Mitteilung, dass die erbetene Unterstützung nicht geleistet werden kann.59 Art. 11 RL EEA erlaubt demgegenüber eine förmliche Versagung der Anerkennung oder Vollstreckung der EEA. Andererseits überschneiden sich die sachlichen Voraussetzungen der drei Vorschriften zu einem großen Teil. Insbesondere bildet die Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Maßnahme auf allen drei Ebenen ein wesentliches Kriterium, das sowohl von der Anordnungs- als auch von der Vollstreckungsbehörde beachtet werden muss. Die von der RL EEA vorgesehene Trennung zwischen den Kompetenzen der Anordnungs- und der Vollstreckungsbehörde lässt sich daher m. E. nicht durchhalten. Zwar wird vertreten, dass die Vollstreckungsbehörde nur spezifische Vollstreckungsaspekte zu überprüfen habe, weil Art. 14 Abs. 2 RL EEA die Anfechtung der „sachlichen Gründe für den Erlass der EEA“ auf Klagen im Anordnungsstaat beschränke.60 Dagegen spricht aber schon das Erfordernis, dass die erbetene Maßnahme auch in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall des Vollstreckungsstaates zur Verfügung stehen würde, was eine Überprüfung der Anordnungsvoraussetzungen umfasst.61 Die ganz überwiegende Meinung im deutschen Schrifttum tendiert daher dahin, die Überprüfungskompetenz der Vollstreckungsbehörde nur im Hinblick auf die den Tatverdacht begründende Beweislage auf eine Plausibilitätskontrolle zu reduzieren, hinsichtlich der darauf gestützten Bewertung der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Ermittlungsmaßnahme aber eine vollständige Überprüfung zuzulassen.62 59
Vgl. dazu näher Zimmermann, in: Schomburg/Lagodny, IRG § 91 f Rn. 16 ff. So Zimmermann, ZStW 127 (2015), 143 (158). Zu den Rechtsschutzmöglichkeiten siehe sogleich unter III.2. 61 Anders Zimmermann, in: Schomburg/Lagodny, IRG § 91 f Rn. 24 ff. 62 Vgl. Ahlbrecht, StV 2018, 601 (607); Böhm, NJW 2017, 1512 (1513); Böse, ZIS 2014, 152 (157 ff.); Brahms/Gut, NStZ 2017, 388 (390); Mosna, ZStW 131 (2019), 808 (815 ff.); 60
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Dies bedeutet etwa bei einer ausländischen EEA, die von Deutschland die Durchführung einer Telekommunikationsüberwachung verlangt, dass von den deutschen Behörden nicht nur geprüft werden muss, ob die vorgeworfene Tat vom Katalog des § 100a StPO erfasst ist, sondern darüber hinaus auch, ob die Tat „auch im Einzelfall schwer wiegt“.63 Sollte die letztgenannte Voraussetzung nicht erfüllt sein, könnte ein deutscher Amtsrichter daher sowohl bei der Staatsanwaltschaft Konsultationen nach Art. 6 Abs. 3 RL EEA anregen als auch das OLG gemäß § 61 Abs. 1 S. 1 IRG einschalten, um die Zulässigkeit der Gewährung von Rechtshilfe gemäß § 91b Abs. 1 Nr. 1 IRG überprüfen zu lassen. Im Fall einer negativen Entscheidung des OLG müsste die Staatsanwaltschaft sodann eine Mitteilung nach Art. 10 Abs. 5 RL EEA, § 91f Abs. 5 IRG oder eine Ablehnung nach Art. 11 Abs. 1 lit. f RL EEA, § 91b Abs. 5 IRG an die Anordnungsbehörde übermitteln. Offen ist, ob die deutschen Oberlandesgerichte bei solchen Vorlagen verlangen werden, dass zuerst die in Art. 6 Abs. 3 RL EEA vorgesehene Konsultation durchgeführt wird,64 oder ob sie unmittelbar die Unzulässigkeit der Vollstreckung feststellen. Im Ergebnis dürften der unklare Prüfungsumfang wie auch die sich überlappenden Verfahrensvarianten nicht nur zu erheblichen Verzögerungen und Anrufungen des EuGH führen, sondern auch die Effizienz der Gegenkontrolle erheblich beeinträchtigen. Da die Voraussetzungen der Anordnung der verschiedenen Ermittlungsmaßnahmen in den Mitgliedstaaten erheblich differieren, werden die in dem EEAFormular von der Anordnungsbehörde angegebenen sachlichen Begründungen für die Prüfung der Vollstreckungsbehörde, ob die angeordnete Maßnahme in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall zur Verfügung stünde, häufig nicht ausreichen. Die Vollstreckungsbehörde steht dann vor der Wahl, entweder ein längeres Hin und Her von Konsultationen und Nachbesserungen in Kauf zu nehmen, bevor sie die Maßnahme – vielleicht – durchführt, oder der Anordnungsbehörde zu vertrauen und sich auf eine summarische Prüfung zu beschränken. 2. Rechtsbehelfe des Betroffenen Art. 14 Abs. 1 RL EEA konkretisiert das durch Art. 47 Grundrechtecharta garantierte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und verlangt von den Mitgliedstaaten dafür zu sorgen, „dass gegen die in einer EEA angegebenen Ermittlungsmaßnahmen Rechtsbehelfe eingelegt werden können, die den Rechtsbehelfen gleichwertig sind, die in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall zur Verfügung stehen“. Danach können sowohl im Anordnungsstaat als auch im Vollstreckungsstaat die jeweils exisOehmichen, in: Knierim/Oehmichen/Beck/Geisler, Gesamtes Strafrecht aktuell, 2018, S. 509; Schuster, StV 2015, 393 (396). Siehe auch Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 10. Aufl., München 2017, Rn. 480; Trautmann/Zimmermann, in: Schomburg/Lagodny, IRG § 91b Rn. 7 f., 21 ff. 63 Vgl. § 100a Abs. 1 Nr. 2 StPO, § 91b Abs. 1 Nr. 1 IRG. 64 Nach der Entscheidung OLG Frankfurt NStZ-RR 2019, 62, erscheint dies zumindest möglich.
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tierenden65 Rechtsbehelfe ergriffen werden, was theoretisch die Position des Betroffenen gegenüber einem rein innerstaatlichen Fall verbessern sollte. Tatsächlich dürften aber die mit der transnationalen Beweisgewinnung verbundenen Probleme in der Praxis eher zu einer deutlichen Verschlechterung führen, die durch die RL EEA nicht wirksam kompensiert wird. So beschränkt sich auch in einem innerstaatlichen Verfahren die Funktion eines Rechtsbehelfs zumeist auf die nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit einer bereits vollzogenen Ermittlungsmaßnahme, weil, um deren Erfolg nicht zu gefährden, der Betroffene in aller Regel vorher nicht über die Maßnahme informiert wird, sondern erst während oder nach deren Vollstreckung davon Kenntnis erlangt.66 Das Interesse an der Ergreifung solcher Rechtsbehelfe ist daher im Allgemeinen nicht sonderlich hoch; stattdessen konzentriert sich die Verteidigung zumeist darauf, die Verwertung der aus der Maßnahme gewonnenen Erkenntnisse durch Geltendmachung eines Beweisverbots zu verhindern. Die RL EEA fordert ein solches Beweisverbot jedoch nicht, sondern verlangt in Art. 14 Abs. 7 lediglich, dass eine erfolgreiche Anfechtung der EEA im Vollstreckungsstaat vom Anordnungsstaat „berücksichtigt“ wird und bei der Bewertung der mittels der EEA erlangten Beweismittel die Verteidigungsrechte und ein faires Verfahren „gewährleistet“ werden. Was diese kryptischen Formulierungen tatsächlich bedeuten, ist noch unklar.67 Vermutlich wird der EuGH keinen Automatismus annehmen, sondern den nationalen Gerichten einen nicht unerheblichen Ermessensspielraum für die Beantwortung der Frage zubilligen, ob und in welchen Fällen Fehler bei der ausländischen Vollstreckung einer EEA zu einem Beweisverbot im Anordnungsstaat führen sollen. Problematisch ist auch das in Art. 14 Abs. 2 RL EEA geregelte „Trennungsprinzip“, nach dem die „sachlichen Gründe für den Erlass der EEA“ nur mit einem Rechtsbehelf im Anordnungsstaat angefochten werden können.68 Der Betroffene kann sich daher nur in begrenztem Maße im Vollstreckungsstaat gegen EEA wehren, während er im Anordnungsstaat zwar die Zulässigkeit der Maßnahme als solcher, nicht aber die Rechtmäßigkeit ihrer Durchführung überprüfen lassen kann. Für einen vollständigen Rechtsschutz muss der Betroffene in beiden Staaten Rechtsanwälte zu finden, die seine Interessen wahrnehmen, zusätzliche Kosten in Kauf neh65 Der EuGH hat es in der Gavanozov-Entscheidung (vgl. oben Fn. 7) abgelehnt, zu der Frage Stellung zu nehmen, ob aus Art. 14 RL EEA ein Recht auf Bereitstellung eines Rechtsbehelfs abgeleitet werden kann, falls das nationale Recht einen solchen nicht vorsieht. Zu den deutschen Rechtsbehelfen vgl. Ahlbrecht, StV 2018, 601 (607 f.); Böhm, NJW 2017, 1512 (1513 f.); Oehmichen, in: Knierim/Oehmichen/Beck/Geisler, Gesamtes Strafrecht aktuell, S. 509 f. 66 Vgl. Böse, ZIS 2014, 152 (160); Mosna, ZStW 131 (2019), 808 (829); Schuster, StV 2015, 393 (398). 67 Näher dazu Böhm, NJW 2017, 1512 (1514 f.); Böse, ZIS 2014, 152 (161 ff.); Eisenberg, Beweisrecht (Fn. 62) Rn. 487. Zur Rechtsprechung vor der EEA siehe auch Knytel, La décision (Fn. 12), S. 150 ff. 68 Vgl. Böse, ZIS 2014, 152 (160); Eisenberg, Beweisrecht (Fn. 62), Rn. 489; Mosna, ZStW 131 (2019), 808 (827 ff.).
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men und möglicherweise auch Sprachbarrieren überwinden. Hilfestellungen, etwa durch Gewährleistung von Ansprüchen auf Prozesskostenhilfe oder durch Organisation eines europäischen Anwaltsnetzwerks, das ein Gegengewicht zu Eurojust und dem EJN bilden könnte,69 sind in der RL EEA jedoch nicht vorgesehen. Der Betroffene kann zwar die Unzulässigkeit der Maßnahme mittelbar auch im Vollstreckungsstaat geltend machen, indem er ihre Unverhältnismäßigkeit rügt und vorträgt, dass sie deshalb auch in einem innerstaatlichen Verfahren im Vollstreckungsstaat nicht zur Verfügung stünde, oder er kann im Anordnungsstaat Fehler bei der Vollstreckung rügen, indem er ein darauf gestütztes Beweisverbot fordert. Mangels näherer Sachverhalts- und Rechtskenntnis wird aber regelmäßig weder die Vollstreckungsbehörde noch das erkennende Gericht im Anordnungsstaat in der Lage sein, eine eingehendere Prüfung des Verfahrens im jeweils anderen Staat durchzuführen, so dass der Betroffene mit diesen Begehren nur schwer durchdringen kann.70 Die Vorkehrungen der RL EEA sind somit zwar Ausdruck eines lobenswerten Bemühens um einen möglichst vollständigen Rechtsschutz der Betroffenen gegen EEAen. Angesichts der Rechtszersplitterung in der Europäischen Union auf dem Gebiet des Strafrechts und Strafprozessrechts können sie aber nur eine begrenzte Wirkung entfalten, so dass der Schutz der Rechte der Betroffenen deutlich hinter dem bei innerstaatlichen Verfahren gewährten zurückbleibt.
IV. Fazit Die RL EEA wird im Schrifttum zumeist positiv bewertet, auch wenn einzelne Aspekte als noch nicht ausreichend angesehen werden.71 In der Tat stellt sie unter den gegebenen Umständen einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung dar und ist in ihrer Konzeption auch durchdacht. Verbesserungen, die ohne grundsätzliche Eingriffe in das vorhandene Gefüge auskommen – z. B. allseitige Verständigung auf die englische Sprache, systematischer Ausbau der EJN-Kontaktstellen, Schaffung von Sonderzuständigkeiten, umfangreichere Schulungen der Richter und Staatsanwälte sowie organisatorische Maßnahmen in der Anwaltschaft zur Ermöglichung transnationaler Verteidigergemeinschaften – sind gleichwohl möglich, betreffen aber weniger die rechtliche Konstruktion der EEA als vielmehr die Modalitäten ihrer Implementation. Das eigentliche Problem, die Diversität der Strafverfahrensordnungen, ist mit derartigen Mitteln jedoch nicht zu bewältigen. Um die EU-weite Zusammenarbeit bei der Strafverfolgung wirklich effizient und rechtsstaatlich einwandfrei zu gestalten, 69
Vgl. dazu etwa Schünemann, StV 2016, 178 (184 f.). Siehe auch Eisenberg, Beweisrecht (Fn. 62), Rn. 478. 71 Vgl. Ahlbrecht, StV 2018, 601 (609); Böhm, NJW 2017, 1512 (1515); Böse, ZIS 2014, 152 (163 f.); Mosna, ZStW 131 (2019), 808 (830 f.); Zimmermann, ZStW 127 (2015), 143 (174 f.). Kritischer Schuster, StV 2015, 393 (398 f.). 70
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müsste man sich sehr viel stärker um eine Harmonisierung der Regeln zur Gewinnung und Verwertung von Beweisen bemühen. Bei Zeugenvernehmungen müsste man sich etwa auf einheitliche Formvorschriften verständigen einschließlich der Art der Dokumentation (vorzugsweise audiovisuelle Aufzeichnungen), auf einheitliche Zeugnis- und Aussageverweigerungsrechte mit korrespondierenden Belehrungspflichten, auf gemeinsame Regeln für die Vereidigung sowie auf etwaige Zeugenschutzmaßnahmen. Ähnliches gilt für alle anderen Ermittlungsmaßnahmen, wobei auch die unterschiedlichen Anforderungen der nationalen Verfassungsgerichte an Grundrechtseingriffe in Einklang gebracht werden müssten. Schließlich müsste man auch eine Verständigung darüber herbeiführen, welche Arten von Fehlern zu einem Beweisverwertungsverbot führen sollen. Eine solche Aufgabe kann freilich, wenn überhaupt, nur in zahlreichen kleinen Schritten bewältigt werden. Voraussetzung wäre zuerst ein entsprechender politischer Wille, der insbesondere in Deutschland derzeit nicht vorhanden ist. Angesichts der äußeren Herausforderungen und der immer noch wachsenden internen Mobilität und Vernetzung in der Europäischen Union wird die strafrechtliche und strafprozessuale Kleinstaaterei auf Dauer aber nicht aufrecht zu erhalten sein. Wichtig erscheint daher vor allem, dass alle maßgeblichen Akteure das Ziel eines integrierten Rechtsraums nicht aus den Augen verlieren. Die Mitgliedstaaten werden zwar erst dann zu tieferen Eingriffen in ihre Souveränität bereit sein, wenn äußere Ereignisse einen entsprechenden Leidensdruck erzeugen, so wie es beim Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl kurz nach den Anschlägen des 9. November 2001 in New York der Fall war. Auf kurz oder lang aber werden vergleichbare Ereignisse wieder auftreten, und bis dahin sollte in Wissenschaft und Praxis der Boden für weitergehende Harmonisierungen bereitet werden.
Ist die Krise des Internationalen Strafgerichtshofs auch eine Krise des Völkerstrafrechts? Von Christoph Safferling*
I. Abkehr vom IStGH? Am 17. Juli 1998 wurde in Rom das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGHSt) verabschiedet. Mit der Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), die kaum fünf Jahre später bereits stattfand, verbanden sich intensive Hoffnungen der Zivilgesellschaft, mit rechtlichen Mitteln die Welt sicherer und friedlicher zu machen. Die internationale Gemeinschaft besann sich durch diesen Schritt letztlich eines 1946 in Nürnberg abgegebenen Versprechens, dass schwere Verbrechen, die das Gewissen der gesamten Menschheit erschüttern, strafrechtlich geahndet werden. Die Arbeit des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht hat in der Vorbereitung und den Verhandlungen des IStGH entscheidenden Einfluss genommen.1 Politisch war die römische Konferenz im Jahr 1998 vor allem deshalb möglich,2 weil wenige Jahre zuvor, 1993 und 1994, durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen Internationale Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien3 und für Ruanda4 errichtet worden sind. Dieser als „juristische Intervention“ zu bezeichnende Schritt5 hat nach den Jahrzehnten des Kalten Krieges und der * Der Beitrag beruht teilweise auf einer Stellungnahme zur Anhörung vor dem Menschenrechtsausschuss des Bundestages zum Thema „Straflosigkeit“ am 25. September 2019. Der Autor dankt Herrn Wiss. Mit. Dr. Gurgen Petrossian, LL.M. (Heidelberg) für die Unterstützung bei der Fertigstellung des Manuskripts. 1 Siehe z. B. Draft Statute for an International Criminal Court: Alternative to the ILC draft (Siracusa-draft), 31. Juli 1995, vorbereitet vom Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht und der Association Internationale De Droit Pénal, näher in Ambos, Treatise on international criminal law, 1. Aufl, 2013, S. 19; Kok, in: M. Klamberg, Commentary on the Law of the International Criminal Court, 2017, S. 305. 2 Die Versuche der Gründung eines ständigen internationalen Strafgerichtshofes nach dem Prototyp des Internationalen Militärgerichtshofes scheiterten in dem Klima des Kalten Krieges, auch der vorgelegte UN ILC-Satzungsentwurf von 1954 fand politisch keine ausreichende Zustimmung, siehe Safferling, Internationales Strafrecht: Strafanwendungsrecht – Völkerstrafrecht – Europäisches Strafrecht, 2011, S. 57. 3 UNSC Resolution 827 (1993). 4 UNSC Resolution 955 (1994). 5 Begriff von Roggemann, Der Internationale Strafgerichtshof der Vereinten Nationen von 1993 und der Krieg auf dem Balkan, 1994, S. 8.
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in dieser Zeit zu verzeichnenden weitgehenden Untätigkeit des Sicherheitsrates die Chance unterstrichen, die mächtigsten Staaten der Welt zu vereinen. Die Einigkeit in der Ablehnung schwerster Menschheitsverbrechen, wie sie auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens und in Ruanda stattgefunden haben, lag in diesem Moment der Menschheitsgeschichte in ähnlicher Art und Weise vor wie 1945, als nach Ende des Zweiten Weltkrieges die Verurteilung der Naziverbrechen das politische Gebot der Stunde darstellte. Während die Arbeit des Jugoslawien-Strafgerichtshofs ebenso wie des Ruanda-Strafgerichtshofs nach anfänglichen Schwierigkeiten mittlerweile als eine erfolgreiche Aufarbeitung der Konflikte angesehen werden kann,6 gelingt es dem IStGH nicht, die großen Hoffnungen, die in ihn gesetzt wurden, und die Euphorie, mit der seine Einrichtungen begleitet wurde, einzulösen. 16 Jahre nach seiner Einrichtung vermag der IStGH kaum auf erfolgreich abgeschlossene Fälle zu verweisen. Einige große Verfahren scheiterten spektakulär.7 Von Anfang an stand die Akzeptanz des IStGH unter dem schlechten Vorzeichen, dass die mächtigsten Staaten der Welt, die USA, Russland,8 China sowie Indien, den Beitritt zum Statut ablehnten.9 Die Zustimmung unter den Mitgliedstaaten hat aber auch sehr unter der einseitig wirkenden Ermittlungstätigkeit gelitten, die sich geradezu ausschließlich auf afrikanische Staaten zu beschränken scheint.10 Im mitgliederstarken Kontinent Afrika hat auch deshalb die Unterstützung des IStGH rapide abgenommen. Das zeigt sich auf besonders dramatische Art vor allem im Umgang mit dem wegen Völkermordes am IStGH gesuchten ehemaligen Präsidenten Sudans AlBaschir11 und an dem erfolgten Austritt Burundis.12 Hinzu kommt eine weltweit ab6 Meernik/Nichols/King, International Studies Perspectives 11 (2010), 315; Megret, in: Carey/Pritchard/Dunlap (Hrsg.), International humanitarian law, 2003, S. 123. 7 Bislang wurden nur vier Fälle überhaupt abgeschlossen: Thomas Lubanga Dylio (14 Jahre Freiheitsstrafe), Germain Katanga (12 Jahre Freiheitsstrafe), Ahmad Al Faqi Al Mahdi (Verurteilt zu neun Jahren Freiheitsstrafe nach Geständnis), Jean-Pierre Bemba (Freispruch durch die Berufungskammer nach zehn Jahren U-Haft. Entschädigungszahlungen sind strittig), dazu der Fall gegen Bosco Ntaganda (30 Jahre Freiheitstrafe, noch nicht rechtskräftig, zurzeit vor der Berufungskammer). 8 Russland zog die Unterschrift des ICC Statuts am 16. November 2016 zurück, siehe Walker/Bowcott, Russia withdraws signature from international criminal court statute, The Guardian 16. November 2016 unter: https://www.theguardian.com/world/2016/nov/16/russiawithdraws-signature-from-international-criminal-court-statute. 9 Benedetti/Washburn, Global Governance 1999, 27; siehe auch McGoldrick, in: McGoldrick/Peter Rowe/Eric Donnelly (Hrsg.), The Permanent International Criminal Court: Legal and policy issues, 2004, S. 390 ff. 10 Von 12 Situationen sind 10 in Afrika, bisher wurden Ermittlungen in folgenden afrikanischen Ländern durchgeführt: Demokratische Republik Kongo, Sudan, Zentralafrikanische Republik, Elfenbeinküste, Uganda, Kenia, Libyen, Mali, Burundi. 11 Dieser Konflikt führte fast zum Austritt Südafrikas und zu weiteren Streitigkeiten mit anderen Mitgliedstaaten: vgl. ICC, Prosecutor v. Al Bashir, Appeals Chamber, Judgment in the Jordan Referral re Al-Bashir Appeal, 6. Mai 2019, „The Decision […] is unanimously confirmed to the extent that PTC II found that the Hashemite Kingdom of Jordan had failed to comply with its obligations under the Statute by not executing the Court’s request for the arrest
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nehmende Bereitschaft zum Multilateralismus und ein Wiedererstarken nationalstaatlicher Gedankenmuster. Die Idee einer Gerichtsbarkeit, die eine über die nationale Kompetenz hinausgehende, internationale Strafgewalt durchsetzt, findet vor diesem Hintergrund immer weniger Unterstützer. Die auch damit begründete Ablehnung des IStGH ist indes juristisch nicht so ganz nachvollziehbar, da die Institution des IStGH dem sogenannten Komplementaritätsprinzip verpflichtet ist, wonach die nationale Strafgewalt stets der Zuständigkeit des IStGH vorgeht.13 Die Ablehnung des IStGH ist in dieser Hinsicht demnach eher politisch zu verstehen. Mit dem Komplementaritätsprinzip verbunden ist allerdings auch die Verpflichtung, die im Römischen Statut genannten Verbrechen, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression, durch nationale Gerichte zu verfolgen. Einen entsprechenden Auftrag, aus dem Römischen Statut abgeleitet, nehmen einige Mitgliedstaaten, darunter auch die Bundesrepublik Deutschland, sehr ernst. Das Freiburger Max-Planck-Institut hat sich unter der Leitung von Albin Eser und des Jubilars durch konsequente Sammlung und Aufarbeitung gerade der nationalen Strafverfolgungspraktiken stets hervorgetan. Vielen Staaten hingegen fehlt es entweder an politischem Durchsetzungswillen oder an den tatsächlichen Möglichkeiten, strafverfolgend tätig zu werden. Das Misstrauen gegenüber dem Internationalen Strafgerichtshof ist aber nicht nur mit dem allgemeinen Trend der Abkehr vom Multilateralismus zu erklären. Verantwortung trägt auch der IStGH selbst.
II. Die Krise des IStGH Dass der IStGH sich in einer institutionellen Krise und auch in einer Glaubwürdigkeitskrise befindet, ist kaum zu leugnen. Die internen Probleme des IStGH lassen sich meines Erachtens in vier Problemkreise einteilen: 1. Die fehlende gemeinsame Rechtskultur, 2. die Ungewissheiten im Aufbau der Institution, 3. Mängel in der inneren Struktur des Gerichtshofs und 4. Probleme bei der Personalauswahl.
of Mr Omar Hassan Ahmad Al-Bashir and his surrender to the Court while he was on Jordanian territory on 29 March 2017“. 12 Am 27. Oktober 2016 reichte die Regierung von Burundi beim Generalsekretär der Vereinten Nationen eine Rücktrittserklärung ein. Gemäß Artikel 127 (2) IStGHSt trat Burundi am 27. Oktober 2017 aus dem Statut aus, siehe auch ICC, Situation in Burundi, Pre-Trial Chamber, Decision Pursuant to Article 15 of the Rome Statute on the Authorization of an Investigation into the Situation in the Republic of Burundi, 9. November 2017, §§ 22 – 26. 13 Vgl. Art. 17 IStGHSt.
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1. Die fehlende gemeinsame Rechtskultur Im Problemkreis Rechtskultur lassen sich des Weiteren zwei Bereiche unterscheiden, die sich in zwei vermeintlich antagonistischen Begriffspaaren zusammenfassen lassen. Der eine Bereich lässt sich als „Völkerrecht versus Strafrecht“, der andere als „Common Law versus Civil Law“ beschreiben. a) Völkerrecht versus Strafrecht Der Begriff Völkerstrafrecht vereint in sich die Begriffe Völkerrecht und Strafrecht.14 Er verweist dabei auf die Verbindung zweier Rechtsgebiete, die von ihrem klassischen Zuschnitt her kaum miteinander kompatibel sind. Während das Völkerrecht das zwischenstaatliche Recht umfasst, das von einer grundsätzlichen Gleichrangigkeit der Rechtssubjekte ausgeht und in dem das Prinzip der Zustimmung der jeweiligen Rechtssubjekte oberste Priorität hat,15 ist das Strafrecht von vornherein hierarchisch gedacht, ist vergleichsweise kompromissfeindlich und ist zu seiner Wirksamkeit auf eine verlässliche Durchsetzung im Geltungsbereich des Gewaltmonopols angewiesen.16 Strafrecht ist qua Schuldprinzip an Individuen adressiert und nicht an Staaten, wenn wir an dieser Stelle die Diskussion um die Verbandsstrafbarkeit einmal ausblenden.17 In diesem Sinne konnte auch Robert H. Jackson als USamerikanischer Chefankläger in seinem Eröffnungsplädoyer feststellen: „Of course, the idea that a state, any more than a corporation, commits crimes, is a fiction. Crimes always are committed only by persons. While it is quite proper to employ the fiction of responsibility of a state or corporation for the purpose of imposing a collective liability, it is quite intolerable to let such a legalism become the basis of personal immunity.“18
Allein diese Gegenüberstellung verdeutlicht, dass sich die mit den jeweiligen Rechtsgebieten verbundenen Denkweisen kaum miteinander vereinbaren lassen. Probleme beim Zusammentreffen dieser Rechtskreise zeigen sich nicht nur dort, wo staatliche Interessen der Verfolgung von Individuen im Wege stehen, wie etwa im Fall von Immunitäten oder Amnestien.19 Es zeigt sich auch bei sonstigen Problemen, etwa dem strafprozessualen Beschleunigungsgebot oder dem Abstimmungs14
Safferling, Internationales Strafrecht (Fn. 2), S. 17. Krajewski, Völkerrecht, 2017, S. 20. 16 Safferling, Internationales Strafrecht (Fn. 2), S. 7. 17 Oehm, in: Krajewski/Oehm/Saage-Maaß (Hrsg.), Zivil- und strafrechtliche Unternehmensverantwortung für Menschenrechtsverletzungen, 2018, S. 177 ff.; Böse, in: Pieth/Ivory (Hrsg.), Corporate Criminal Liability: Emergence, Convergence, and Risk, 2011, S. 227 ff. 18 Jackson Robert, Opening Address for the United States of America: International Military Tribunal, The Department of State Bulletin 25. November 1945, Band. I, S. 856. 19 Vgl. zum ICC, Prosecutor v. Al Bashir, Appeals Chamber, Judgment in the Jordan Referral re Al-Bashir Appeal, 6. Mai 2019; Kreß, Preliminary Observations on the ICC Appeals Chamber’s Judgment of 6 May 2019 in the Jordan Referral re Al-Bashir Appeal, Torkel Opsahl Academic EPublisher 2019, S. 4. 15
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verhalten von Richterinnen und Richtern. Das Strafrecht, das als binäres System neben den Kategorien schuldig oder unschuldig keine dritte Kategorie zulässt, verträgt sich mit einer völkerrechtlich diplomatischen Herangehensweise insgesamt nicht, in der der Kompromiss und das Erfordernis, dass keine Seite ihr Gesicht verlieren darf, im Vordergrund stehen. b) „Common Law versus Civil Law“ Oft beschworen wird die Unterschiedlichkeit zwischen den Rechtskulturen, namentlich dem angloamerikanischen Rechtskreis und dem kontinentaleuropäischen.20 Viel wurde darüber geschrieben, aber in der praktischen Umsetzung an einem Gerichtshof, der nicht nur mit Personal aus allen Rechtskreisen besetzt sein soll, sondern auch von seiner Prozessordnung her eine weitgehende Offenheit mit sich bringt, gibt es erhebliche Reibungsverluste aufgrund kategorial unterschiedlicher Vorstellungen von Strafrecht und insbesondere Strafprozessrecht.21 Die Vorstellung eines das Verfahren leitenden Richters, der der Wahrheitsermittlung verpflichtet ist, verträgt sich nicht mit der Beweispräsentation durch Parteien, in welcher der Richter nur das prozessuale Gebaren der Parteien überwacht. Dazu besteht am Internationalen Strafgerichtshof auch keine einhellige Meinung darüber, was der grundsätzliche Sinn und Zweck dieser Institution überhaupt darstellt. Dass eine klare gemeinsame Vorstellung über die der Institution zugrundeliegende Rechtskultur erforderlich ist, um sinnvoll Verfahren durchführen zu können, zeigt sich bereits an Vorgängerinstitutionen wie dem Jugoslawien-Strafgerichtshof, der nach dem Vorbild des Nürnberger Militärgerichtshofs einer angloamerikanischen Prozessstruktur verpflichtet war. Es zeigt sich aber auch an nationalen Verfahren, denn der Generalbundesanwalt, die zuständigen Staatsschutzsenate der Oberlandesgerichte und der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs sind selbstredend in der Lage, das Völkerstrafrecht trotz praktischer Schwierigkeiten bei der Beweisaufnahme, der Zeugeneinvernahme und der Prozessführung auf der Grundlage der StPO durchzuführen. Ebenso verhält es sich in anderen Staaten, die Völkerstraftaten verfolgen. Vor dem IStGH muss sich hingegen jede Kammer prozessual stets neu erfinden. Wenn das gelingt, sind die Aussichten, dass ein Verfahren abgeschlossen werden kann, positiv; da aber häufig die Frage nicht offen gestellt wird, scheitern die Verfahren.
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Dazu grundlegend in Safferling, International Criminal Procedure, 2012, S. 52 ff. Zuletzt dramatisch verdeutlicht von Richter Cuno Tarfusser in seiner Dissenting Opinion, ICC, Prosecutor v. Gbagbo, Ble Goude, Reasons for oral decision of 15 January 2019 on the Requête de la Défense de Laurent Gbagbo afin qu’un jugement d’acquittement portant sur toutes les charges soit prononcé en faveur de Laurent Gbagbo et que sa mise en liberté immédiate soit ordonnée, 16. Juli 2019, ICC-02/11 – 01/15 – 1263-AnxA, § 3, „The reasons for this opinion are rooted in the profound differences between my legal background and approach and the ones of my fellow judges, some of which go to the very heart of crucial questions about international criminal justice and its ultimate legitimacy and sustainability“. 21
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2. Ungewissheiten im Aufbau der Institution a) Der IStGH als Unikat unter den internationalen Gerichten Der Internationale Strafgerichtshof hat seinen Platz in der Weltgemeinschaft als internationale Institution bislang noch nicht gefunden. Es fehlt ihm selbstredend auch an Vorbildern. Seine Vorgängerinstitutionen, angefangen vom Nürnberger Militärgerichtshof über die UN-Tribunale bis hin zu den Sonderkammern in den Gerichten Kambodschas, sind allesamt ad hoc-Strafgerichte, die jeweils für eine spezifische Situation geschaffen worden sind. Der als permanente Institution gedachte IStGH kann sich daher nur bedingt an diesen als Vorläuferinstitutionen orientieren. Er ist als global agierende Einrichtung für viele verschiedene Situationen zuständig, die allesamt unterschiedliche politische wie soziale Rahmenbedingungen aufweisen und in Ansehung unterschiedlicher Konfliktstaaten divergierende Kooperationsprobleme offenbaren. Andere internationale Gerichte, wie etwa der Internationale Gerichtshof in Den Haag, der Internationale Seegerichtshof in Hamburg oder auch regionale Menschenrechtsgerichte sind institutionell anders aufgestellt und haben einen anderen Auftrag. Hier tritt auch wieder der Konflikt zwischen Strafrecht und Völkerrecht zu Tage; schließlich ist es etwas völlig anderes, einen Grenzstreit zwischen zwei Völkerrechtssubjekten, die sich jeweils freiwillig der Gerichtsbarkeit des IGH unterworfen haben, zu lösen oder den „Kommandanten“ einer paramilitärischen Einheit zu einer hohen Freiheitsstrafe zu verurteilen. b) Fehlender materiell-rechtlicher Bezugsrahmen Problematisch scheint mir in diesem Kontext auch der Umstand, dass das Römische Statut ausschließlich einen Gerichtshof begründet, ohne dass ein klarer materieller Gehalt der Institution zugrunde liegt.22 Das ist etwa bei den regionalen Menschenrechtsinstrumenten anders. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dient dem Schutz der Europäischen Menschenrechtskonvention, die getragen wird vom Europarat. Der IStGH hat keine vergleichsweise klare vertragliche Substanz. Zwar werden im Römischen Statut in den Art. 6 – 8bis IStGHSt die Kernverbrechen aufgezählt und definiert; am Ende sind diese aber vor allem Fragen der Zuständigkeit (Art. 5 IStGHSt). Zur Interpretation der Normen muss auf Völkergewohnheitsrecht sowie das humanitäre Völkerrecht verwiesen werden (Art. 21 IStGHSt). Bei Kriegsverbrechen (Art. 8 IStGHSt) steht zwar das vertraglich vergleichsweise kleinteilig geregelte humanitäre Völkerrecht im Hintergrund,23 aber „Kriegsverbrechen“ sind nicht deckungsgleich mit „Kriegsvölkerrecht“. Nur besonders schwere Verstöße sind strafbewehrt. Außerdem stellen sich spezifisch völkerrechtliche Probleme der 22
Krajewski, Völkerrecht (Fn. 15), S. 274. Etwa die Haager Landkriegsordnung (HLKO), die Genfer Konventionen I-IV (1949) nebst Zusatzprotokollen I und II (1977); siehe näher dazu: Ambos, Internationales Strafrecht: Strafanwendungsrecht, Völkerstrafrecht, Europäisches Strafrecht, Rechtshilfe, 2018, S. 288 ff. 23
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Bindungswirkung des humanitären Völkerrechts zumal in asymmetrischen Konflikten.24 Das hat auch Unsicherheiten bei der Anwendung der Kriegsverbrechen zur Folge. Der Völkermord ist insofern ein Sonderfall, als Art. 6 IStGHSt auf der Völkermordkonvention von 1948 beruht. Die bisherige Rechtsprechung zur Völkermordkonvention zeigt aber, dass der Tatbestand bei der Anwendung im Einzelfall hoch problematisch ist. Bei den Verbrechen gegen die Menschlichkeit hingegen fehlt es vollständig an einem konventionellen Bezug. Mag zwar in abstracto insofern Einigkeit herrschen, als dass Menschenrechtsverbrechen als allgemeine Straftaten anzusehen sind, die in einem systematischen oder ausgedehnten Kontext stattfinden, so existieren doch in Einzelfragen, etwa bei der Bedeutung sexualisierter Gewalt, erhebliche Unstimmigkeiten.25 Die Draft Articles on Crimes against Humanity könnten hier Abhilfe schaffen, wenn sie denn Bestätigung erfahren.26 Problematisch ist zuletzt auch das Verbrechen der Aggression (Art. 8bis IStGHSt), das zwar in der Ausgestaltung des sog. Kampala-Kompromisses27 auf die Resolution zur Definition der Aggression aus dem Jahre 1974 seitens der Generalversammlung der Vereinten Nationen Bezug nimmt, dessen Inhalt und Reichweite aber stets umstritten war.28 3. Mängel in der inneren Struktur des Gerichtshofs Der IStGH hat auch einige interne strukturelle Probleme. Drei scheinen an dieser Stelle hervorhebenswert: Das Prozessrecht (a)), das Verhältnis zwischen den Organen des Gerichtshofs (b)) sowie die Opferbeteiligung (c)). a) Prozessrecht Das Verfahrensrecht am IStGH ist bestimmt durch das Statut sowie durch die Verfahrens- und Beweisordnung (VBO). Hinzu kommen einige Geschäftsordnungen, die aber sekundärer Natur sind und die von den Mitgliedstaaten geschaffenen Primärquellen, Statut und VBO, nicht ändern dürfen. Obwohl hier eine ganze Reihe an Regelungen getroffen sind, finden sich auch erhebliche Lücken. Das war den Machern der beiden Rechtsgrundlagen durchaus bewusst. Im Sinne einer „Constructive Ambiguity“ wurden die einzelnen Verfahrensschritte letztlich
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Vgl. Safferling, in: Lüttig/Lehmann (Hrsg.), Der Kampf gegen den Terror in Gegenwart und Zukunft, 2019, S. 149 ff. 25 Vgl. Petrossian, Manitoba Law Journal 42 (2019), S. 141 ff. 26 Vgl. etwa zuletzt das Special Issue, Laying the Foundations for a Convention on Crimes Against Humanity, Journal of International Criminal Justice 16 (2018), S 679 – 961. 27 Barriga, ZIS 2010, 644 ff.; Kreß/von Holtzendorff, Vereinte Nationen 2010, S. 260 ff. 28 UN GA Res 3314 (XXIX), 14. Dezember 1974.
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der Ausfüllung durch die Richterschaft selbst überlassen.29 Diese Praxis hat gerade im Zusammenspiel mit den oben beschriebenen rechtskulturellen Problemen zu enormen Schwierigkeiten geführt. Die Frage etwa, welche Rolle die Vorverfahrenskammer bei der Bekräftigung der Anklagepunkte einnehmen soll,30 die Frage, wie das Verhältnis zwischen der Anklagebehörde und der Verteidigung, vor allem bei der Frage der Beweisoffenlegung, zu handhaben ist,31 oder auch die Frage der Durchführung der einzelnen Schritte der Hauptverhandlung.32 In all diesen Punkten bleibt das Statut und bleibt die Verfahrensordnung konkrete Antworten schuldig. Dementsprechend unterschiedlich gehen die Prozessbeteiligten in den jeweiligen Verfahren mit den Anforderungen um. b) Verhältnis zwischen den Organen Jenseits dieser individuellen Verfahrensschritte ist aber auch das Verhältnis der einzelnen Organe untereinander schwierig. Welche genauen Aufgaben hat die Anklagebehörde im Vergleich zu den Verfahrenskammern, welche politischen Freiheiten hat die Anklagebehörde bei der Auswahl der einzelnen Fälle,33 wieweit dürfen sich die Richterinnen und Richter im Verfahrensablauf in die Beweispräsentation der Anklagebehörde oder auch der Verteidigung einmischen? Auch das Verhältnis zwischen den Kammern und dem Opferfonds ist unklar. Während der Opferfonds selbst sich als vergleichsweise unabhängige Institution versteht, die neben individueller Entschädigung auch einen kollektiven Auftrag zur Verbesserung der Situation viktimisierter Gesellschaften hat, meinen die Kammern in den bislang ergangenen 29 Zur „Constructive Ambiguity“ vgl. Kreß, Journal of International Criminal Justice 1 (2003), S. 603, 605; Safferling, International Criminal Procedure (Fn. 20), S. 50 f. 30 Vgl. zu diesem Streitpunkt etwa: Safferling, International Criminal Procedure (Fn. 20), S. 337 ff. 31 Ein Streitpunkt im Verfahren gegen Lubanga etwa Art. 54 Abs. 3 lit. e) IStGHSt, ICC, Prosecutor v. Lubanga, Appeals Chamber, Judgment on the appeal of the Prosecutor against the decision of Trial Chamber I entitled „Decision on the consequences of non-disclosure of exculpatory materials covered by Article 54(3)(e) agreements and the application to stay the prosecution of the accused, together with certain other issues raised at the Status Conference on 10 June 2008“, 21. Oktober 2008, §§ 37 – 55. 32 Vgl. etwa zur Hauptverhandlung Regel 140 VBO, die es völlig offenlässt, wie die Beweispräsentation strukturiert werden soll und wer dafür die Verantwortung trägt. 33 Vgl. ICC, Situation in the Islamic Republic of Afghanistan, Decision Pursuant to Article 15 of the Rome Statute on the Authorisation of an Investigation into the Situation in the Islamic Republic of Afghanistan, Pre-Trial Chamber, 12. April 2019, §§ 89 – 96, indem die Vorverfahrenskammer weitere Ermittlungen nach Art. 15 IStGHSt untersagte, und ICC, Situation on Registered Vessels of the Union of the Comoros, the Hellenic Republic and the Kingdom of Cambodia, Appeals Chamber, Judgment on the appeal of the Prosecutor against Pre-Trial Chamber I’s‘ Decision on the „Application for Judicial Review by the Government of the Union of the Comoros“, 2. September 2019, die Entscheidung der Chefanklägerin 29. November 2017 – mit Entscheidung vom 2. September 2019 hat die Berufungskammer der Chefanklägerin erneut aufgetragen, ihre Entscheidung vom 29. November 2017 zu überdenken.
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Entscheidungen bis ins Einzelne gehende Vorgaben machen zu können und verstehen den Opferfonds wohl eher als Auszahlungsstelle des Gerichts denn als selbsttätige Einheit.34 c) Opferbeteiligung Die Opferbeteiligung (Art. 68 Abs. 3 IStGHSt) wurde als große Neuerung und mutige Errungenschaft am IStGH gefeiert. Auf der Grundlage der Konferenz in Rom im Jahr 1998 muss wohl die Legitimität des IStGH insgesamt im Verbund mit der Opferbeteiligung gesehen werden. Es war nicht zuletzt das starke Drängen zivilgesellschaftlicher Akteure, das überhaupt zur Einrichtung des IStGH geführt hat. In der praktischen Durchführung erweist sich die Opferbeteiligung indes als immens schwierig. Durch langwierige Prozesse der Entscheidung über die Frage der Beteiligung einzelner Opfer geht eine Menge richterlicher Kapazität für die eigentliche Rechtsprechungstätigkeit verloren. Durch strenge Vorschriften, was die Opfereigenschaft anbelangt, werden neue Ungerechtigkeiten unter den Opfern produziert, die nicht zu legitimieren sind.35 Die Abhängigkeit der Opferentschädigung vom Strafverfahren insgesamt erweist sich vor allem dann als besonders schwierig, wenn nach zehnjähriger Verfahrensdauer ein Freispruch erfolgt.36 Auch der vom Prinzip her gut gemeinte und durchaus innovative Trust Fund for Victims (Opferentschädigungsfonds) hat seine Rolle noch nicht gefunden. Es fehlt nicht nur an internen Regeln; auch der Auftrag des Fonds insgesamt ist unklar. Zwei Mandate sind ihm übertragen: (1) Die Umsetzung der gerichtlichen Entschädigung (Art. 75 Abs. 2 IStGHSt) und (2) Beihilfe für Opfer unabhängig vom Gerichtsverfahren (Art. 76 IStGHSt). Während sich individuelle Entschädigungszahlungen kaum praktisch durchsetzen lassen, geraten kollektive Entschädigungsmodelle leicht in Konflikt mit staatlichen Entwicklungshilfeinteressen. Die ursprüngliche Idee, den Opferfonds vor allem mit den Vermögen der Verurteilten auszustatten, erweist sich als undurchführbar. Jedenfalls die bisherigen Verurteilten verfügten auch nicht annähernd über derartige Vermögensmassen, dass Entschädigungen ausgezahlt hätten werden können.37 Aus den beschriebenen Problemen mit der staatlichen Entwicklungshilfe und Entwick-
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Bislang sind drei Entscheidungen zur Entschädigung getroffen worden: Katanga (24. März 2017); Al Mahdi (17. August 2017) und Lubanga (21. Dezember 2017). 35 Vgl. Bonacker/Safferling/Oettler, in: Bonacker/Safferling (Hrsg.), Victims of International Crimes: An Interdisciplinary Discourse, 2013, S. 279, 289 ff. 36 So geschehen im Fall v. Bemba, siehe ICC, Prosecutor v. Bemba, Judgment on the appeal of Mr Jean-Pierre Bemba Gombo against Trial Chamber III’s „Judgment pursuant to Article 74 of the Statute“, Appeals Chamber, 8. Juni 2018. 37 Im Verfahren Al Mahdi wurden bei 139 registrierten Opfern 2,7 Mio. Euro angesetzt, bei Katanga bei 297 Opfern, 1 Mio. USD und bei Lubanga bei 425 Opfern 10 Mio. USD.
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lungszusammenarbeit sind Staaten sehr zurückhaltend, den Opferfonds mit zusätzlichen Mitteln auszustatten.38 Private Spenden fallen kaum ins Gewicht.39 4. Probleme in der Personalauswahl An einer vergleichsweise kleinen Institution wie dem IStGH ist die Qualität des Personals und insbesondere des Führungspersonals von herausragender Bedeutung. Es muss deshalb sichergestellt sein, dass insbesondere die 18 Richterinnen und Richter ebenso wie die Kanzlerin bzw. der Kanzler und die Chefanklägerin bzw. der Chefankläger mit äußerst kompetenten und fähigen Personen besetzt sind. Momentan macht es den Eindruck, als seien diese Vorgaben am IStGH nicht optimal umgesetzt. Der Umstand etwa, dass eine Gruppe an Richterinnen und Richtern einschließlich des Präsidenten des IStGH die Mitgliedstaatenversammlung auf Erhöhung des Gehalts verklagt hat, spricht nicht dafür, dass diese Personen sich mit voller Kraft für den eigentlichen Auftrag des Gerichtshofes einsetzen. Der erste Chefankläger des IStGH hat zudem durch einige katastrophale Fehlentscheidungen die Entwicklung des IStGH massiv gefährdet. Im Kongo-Verfahren wurde überstürzt angeklagt, im Kenia-Fall saß die Anklagebehörde falschen Zeugen auf.40 Abgesehen davon ergaben sich auch Zweifel an der Unabhängigkeit der Anklagebehörde, deren oberstes Ziel sein muss, Verbrechen zu verfolgen ohne Ansehung der jeweiligen politischen Partei oder Regierung. Der in Nürnberg laut gewordene Vorwurf der „Siegerjustiz“, der vor allem daher rührte, dass Verbrechen der Alliierten, die im Rahmen der Kriegsführung stattgefunden hatten, nicht verfolgt wurden, muss verhindert werden. In der Situation in Uganda etwa lässt sich der Eindruck nicht leugnen, dass der IStGH sich zum verlängerten Arm der Regierung macht, die sich der „Rebellen“ im eigenen Land zu entledigen trachtet, ohne dass die Verbrechen der eigenen Regierungsarmee thematisiert werden.41 Das ist letztlich auch eine Konsequenz der im Statut ursprünglich nicht angelegten Selbstübertragung,42 d. h. wenn eine Regierung eine Situation im eigenen Land an den IStGH überträgt. 38
Bislang haben 20 Staaten freiwillige Leistungen dem Trust Fund zukommen lassen. Schweden, das Vereinigte Königreich, die Niederlande und Deutschland sind die mit Abstand stärksten Zahler; insgesamt wurden in 15 Jahren 29 Mio. Euro gesammelt. 39 Etwa 20.000 Euro im Jahr, siehe z. B. ICC-ASP, Report to the Assembly of States Parties on the projects and the activities of the Board of Directors of the Trust Fund for Victims for the period 1 July 2012 to 30 June 2013, 31. Juli 2013, ICC-ASP/12/14. 40 Die Vorwürfe wurden im Verfahren gegen Uhuru Muigai Kenyatta bei laufender Hauptverhandlung von der Anklagebehörde zurückgezogen, siehe ICC, Prosecutor v. Kenyatta, Notice of withdrawal of the charges against Uhuru Muigai Kenyatta, Trial Chamber, 5. Dezember 2014. 41 Allen, Trial Justice: The International Criminal Court and the Lord’s Resistance Army, 2013, S. 44 f.; Wasonga, The International Criminal Court and the Lord’s Resistance Army: Enduring dilemmas of transitional justice, 2019, S. 80 ff. 42 Siehe Art. 14 IStGHSt, van der Wilt, in: Stahn (Hrsg.), Law and Practice of the International Criminal Court, 2015, S. 210 ff.; Akhavan, Criminal Law Forum 21 (2010), S. 103 ff.
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Zum jetzigen Zeitpunkt ist seitens der Anklagebehörde auch keine klare Strategie erkennbar. Es ist schon längst an der Zeit, dass hier politische Vorgaben erkennbar werden, damit so die Verlässlichkeit des Handelns des internationalen Anklägers erhöht wird. Die Situationen in Afghanistan und in Bezug auf die Hilfslieferungen für Palästina auf Schiffen der Komoren, Griechenlands und Kambodschas zeugen eher von einem ungeordneten Vorgehen.43 Die Entwicklung von Anklagestrategien und inhaltlichen Schwerpunktsetzungen kann schließlich auch dazu benutzt werden, die Staaten, insbesondere die Mitgliedstaaten, um Unterstützung bei der Umsetzung zu bitten. Auch im Kontext des Jugoslawienstrafgerichtshofs war der Erfolg der Anklagebehörde bei Verhaftungen immer vom politischen Druck abhängig, der aber nur von Staaten erfolgen kann.44
III. Lösungsansätze für die identifizierten Problemkreise 1. Grundlegende Erhöhung der Fallzahlen Die wichtigste Forderung für die Entwicklung eines Gerichts ist die praktische Einübung an Fällen. Erst eine deutliche Erhöhung des Fallaufkommens am IStGH eröffnet die Möglichkeit der Etablierung von Routinen, die jenseits von rechtskulturellen Streitigkeiten und Divergenzen pragmatische Lösungen favorisieren und die Schaffung einer eigenen Rechtskultur greifbar machen. Der IStGH muss endlich das tun, wozu er gegründet wurde: Strafverfahren durchführen! Dazu bedarf es natürlich einer verstärkten Unterstützung durch die Vertragsstaaten, aber auch einer mutigeren und selbstbewussteren Anklagebehörde. Potentielle Fälle gäbe es genug. 2. Klarere Vorgaben im Prozessrecht Hinsichtlich der Problemkreise Rechtskultur und -struktur wäre eine mögliche Lösung eine Reform des Prozessrechts mit deutlicheren Vorgaben hinsichtlich der identifizierten Probleme. Dass die beteiligten Personen aus unterschiedlichen Rechtskulturen kommen, wird selbstverständlich immer so sein und kann die Arbeit des Gerichts auch bereichern. Diese rechtskulturellen Unterschiede dürfen die Arbeit des Gerichtes aber nicht behindern, sondern müssen durch klare Vorgaben hin zu einer genuin eigenen Rechtskultur am IStGH aufgefangen und umgeformt werden.45 Dafür wäre es insbesondere erforderlich, eindeutig festzulegen, wer im Rahmen der Hauptverhandlung am Ende für die Wahrheitsfindung verantwortlich ist. Nach der
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Nachweise oben Fn. 33. Z. B. die Auslieferung von R. Mladic´, oder R. Karadzˇ ic´, näher in Rajkovic, The politics of international law and compliance: Serbia, Croatia and the Hague Tribunal, 2012, S. 87 – 89. 45 Safferling, International Criminal Procedure (Fn. 20), S. 64 ff. 44
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momentanen Struktur des IStGH sind im Grunde alle Beteiligten zur Wahrheitsfindung aufgefordert,46 was am Ende bedeutet, dass niemand die Verantwortung trägt. Im Übrigen scheint mir an dieser Stelle auch die Rolle der Rechtsvergleichung wert, hervorgehoben zu werden.47 Sie kann einen entscheidenden Beitrag zum wechselseitigen Verstehen leisten, aber nur dann, wenn sie – in der besten Tradition des Freiburger Max-Planck-Instituts – mit geweitetem Blick für die gesamtsystematischen Zusammenhänge in funktionaler Art durchgeführt wird.48 Das kleinteilige Vergleichen von einzelnen Rechtsinstituten führt eher zu weiteren Missverständnissen.
3. Neuausrichtung der Opferbeteiligung Zu den oben beschriebenen Problemen hinsichtlich der Opferbeteiligung wird hier die Forderung vertreten, dass diese insgesamt überdacht werden sollte. Opferbeteiligung und Opferentschädigung, deren Notwendigkeit sich aus Völkerrecht ergibt,49 müssen nicht in einem strafjustiziellen Verfahren durchgeführt werden. Ein administratives Verfahren wäre völlig ausreichend. Mit dem vorgegebenen Rahmen durch das Römische Statut ist eine praktikablere Herangehensweise in der Aufgabenverteilung zwischen Kammern und Opferentschädigungsfonds durchaus denkbar. Auch hier wäre es an der Mitgliedstaatenversammlung, klare Vorgaben zu machen. Für die Opferbeteiligung selbst ist es elementar, dass überhaupt nach den Interessen der Opfer gefragt wird. Es dürfte sich verbieten, hier mit Pauschallösungen zu operieren. Dazu sollten nach den jeweiligen Interessen spezifische Beteiligungsmöglichkeiten geschaffen werden. Es kann wichtig sein, dass das Opfer „seine Geschichte erzählt“.50 Das Opfer sollte auch möglichst umfassend über das Verfahren informiert werden. Am Verfahren selbst mehrere Tausende Individuen zu beteiligen, mag aufgrund der besonderen Herangehensweise des Kambodscha-Tribunals möglich sein,51 wird aber am IStGH nicht durchgeführt werden können.52 Die forensische 46
Plevin, Criminal Law Forum 25 (2014), S. 596 ff.; Schmitt, ICC Judge Schmitt Counsels Resilience to Preserve International Justice, unter https://www.justsecurity.org/ 2019. 47 Burchard, in: P. Lobba/T. Mariniello (Hrsg.), Judicial Dialogue on Human Rights: The Practice of International Criminal Tribunals, 2017, S. 61 ff. 48 Kischel, Rechtsvergleichung, 2015, S. 243 ff., 389 ff.; Fateh-Moghadam, in: Beck/Burchard/Fateh-Moghadam (Hrsg.), Strafrechtsvergleichung als Problem und Lösung, 2011, S. 41 ff. 49 Vgl. hierzu Werle/Vormbaum, Transitional Justice: Vergangenheitsbewältigung durch Recht, 2018, S. 28, abgeleitet aus der menschenrechtlichen Strafverfolgungspflicht, dem Recht auf Wahrheit und dem Recht auf Wiedergutmachung; vgl. auch van Boven, in: Bonacker/Safferling (Hrsg.), Victims of International Crimes: An Interdisciplinary Discourse, 2013, S. 17. 50 Trüg, Die Position des Opfers im Völkerstrafverfahren vor dem IStGH, ZStW 125 (2013), S. 34; Bock, Das Opfer vor dem Internationalen Strafgerichtshof, 2010, S. 49 ff.; Safferling, Das Opfer völkerrechtlicher Verbrechen, ZStW 115 (2003), S. 352 ff. 51 Hoven, Opfer im Völkerstrafrecht, ZStW 122 (2010), S. 706 ff.
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Beteiligung von Repräsentanten der Opfer sollte auf Grundlage des Römischen Statuts allerdings beibehalten werden.53 4. Qualifikationen und Vorerfahrungen des Personals Die Mitgliedstaaten müssen sich selbst dazu verpflichten, nur erfahrenes Personal mit dieser großen Herausforderung der Tätigkeit am IStGH zu betrauen. Es scheint mir an der Zeit, strafprozessuale Expertise als zwingende Voraussetzung für eine Richterwahl festzulegen.54 Der IStGH ist ein Strafgericht und kein Staatengerichtshof. Eine solche klare Ausrichtung hätte auch Chancen, den Problemkreis „Institution“ stärker in den Griff zu bekommen.
IV. Internationale Strafverfolgung jenseits des IStGH Nach dem Ende der Aufarbeitung der Verbrechen des Zweiten Weltkriegs in Deutschland und Japan trat jahrzehntelanger Stillstand in der Völkerstrafrechtspflege ein. Seit den frühen 1990er Jahren hat diese wieder an Fahrt aufgenommen. Das muss als politischer Erfolg zunächst einmal zur Kenntnis genommen werden. Heute ist es nicht mehr möglich, über internationale Sicherheitspolitik zu sprechen, ohne völkerstrafrechtliche Dimensionen zu berücksichtigen. Heute kann sich auch kein Diktator, der Menschenrechte mit den Füßen tritt, kein Anführer oder auch kein Mitglied einer paramilitärischen Terrororganisation sicher sein, dass nicht doch früher oder später die von ihm zu verantwortenden Verbrechen auch tatsächlich verfolgt werden und er einer Bestrafung zugeführt wird. Anders als in den Zeiten des sogenannten Kalten Krieges ist jedenfalls in der internationalen Politik die Bestrafung von internationalen Verbrechen Realität. Umgekehrt muss Straflosigkeit stets besonders begründet werden. Immerhin lässt es sich politisch nicht mehr so tun, als gebe es das Völkerstrafrecht nicht. Nicht zuletzt auch aufgrund der oben beschriebenen Schwierigkeiten des IStGH lässt sich in letzter Zeit eine Tendenz zur Nationalisierung des Völkerstrafrechts beobachten. Auch wenn ein Engagement vieler Staaten dringend zu begrüßen ist, ist dieser Trend nicht unproblematisch.
52 Im Fall Bemba waren 5229 Opfer registriert, im noch laufenden Verfahren gegen Ongwen wurde 4107 Opfern die Verfahrensbeteiligung gestattet, die von zwei Anwaltsteams vertreten werden. Eine Opfergruppe wird von selbstgewählten Anwälten vertreten, eine andere von einer Vertreterin der Office of Public Counsel for Victims. Bei vier Opfern ist die Vertretung zur Zeit noch unklar. 53 Nach Art. 68 Abs. 3 S. 2 IStGHSt i.V.m. Regel 90 und 91 VBO. 54 Vgl. hierzu Art. 36 Abs. 3 IStGHSt wonach entweder strafrechtliche oder völkerrechtliche Expertise verlangt wird.
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Der Generalbundesanwalt hat hier mittlerweile weltweit sicher eine gewisse Vorreiterrolle eingenommen. Die Verfolgung internationaler Verbrechen, vor allem im Kontext mit Syrien, ist zurzeit an der Tagesordnung und hilft bei der Konsolidierung und Weiterentwicklung der Kriegsverbrechen und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit enorm.55 Durch die Führung sogenannter Strukturermittlungsverfahren schafft es der Generalbundesanwalt darüber hinaus auch Beweise zu konservieren und bei entsprechenden späteren Verfahren bereitzuhalten.56 Die Bundesrepublik Deutschland sollte national wie international darauf drängen, dass diese Arbeit des Generalbundesanwalts entsprechend positiv weitergeführt wird, aber dass auch andere Staaten sich diesem Vorbild anschließen. Im europäischen Kontext muss hier das sog. Genocide Network weiter unterstützt werden.57 Allerdings besteht bei dieser Nationalisierung des Völkerstrafrechts die Gefahr einer Partikularisierung der Auslegung einzelner Tatbestände. Die Leitfunktion, die eigentlich der IStGH einnehmen sollte, ist zurzeit unbesetzt. Wechselseitiges Lernen und gemeinsames Lösen von Rechtsfragen erweisen sich im transnationalen Kontext schon aus Gründen sprachlicher Vielfalt als schwierig. Informelle Kommunikation lässt sich zwischen Gerichten letztlich nicht leisten, da Verbindlichkeit immer nur durch forensisches Handeln, also durch Urteile, zu generieren ist.
V. Krise? Welche Krise? Befindet sich das Völkerstrafrecht also in einer Krise? Die Krise des IStGH ist nicht zu leugnen. Aber gilt das auch für das Völkerstrafrecht insgesamt? Die Antwort fällt ambivalent aus. Einige internationale Strafgerichtshöfe haben erhebliche Beiträge zur Entwicklung dieser Rechtsmaterie beigetragen. Einige Einzelstaaten sind dabei ihre nationalen Strafverfolgungsbehörden für das Völkerstrafrecht erheblich aufzustocken und – so die logische Konsequenz – die Fallzahlen nehmen erheblich zu. National ist eine nie zuvor dagewesene Häufung völkerstrafrechtlicher Fälle zu beobachten. Europa ist da auch nicht allein. Auch auf dem Afrikanischen Kontinent gibt es Belege, dass dort regionales Völkerstrafrecht möglich ist. Das Völkerstrafrecht wächst so zur Normalität und Routine der Strafverfolgung. Zugleich ist die Forderung nach dem Ende der Straflosigkeit in den Internationalen Beziehungen angekommen. Was fehlt, ist eine zuverlässige Institution, die in der Lage ist, diese Forderung forensisch umzusetzen. Der IStGH könnte diese Institution sein, ist aber momentan noch weit davon entfernt.
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Vgl. Safferling/Petrossian, JA 2019, 401. Vgl. Frank/Schneider-Glockzin, NStZ 2017, 1; Büngener, ZIS 2017, 755. 57 „European Network for Investigation and Prosecution of Genocide, Crimes against Humanity and War Crimes“ bei EuroJust; siehe: http://www.eurojust.europa.eu/Practitioners/ Genocide-Network/Pages/Genocide-Network.aspx, 2. September 2019. 56
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Zur Lösung dieser krisenhaften Situation muss die Erinnerung an Nürnberg unbedingt aufrechterhalten bzw. verstärkt werden. Nürnberg ist im globalen Weltgewissen eine Bekanntheit und wird weltweit als etwas Positives wahrgenommen. Mit der Erinnerung an Nürnberg ist aber nicht nur der Beginn des Völkerstrafrechts markiert, sondern es wird zugleich erinnert an die schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte und damit bereits durch die Erinnerungen ein gewisser Abschreckungseffekt erzielt. Zugleich hat der positive Trend in Deutschland und Europa durch die Demokratisierung und Friedenspolitik in Nürnberg seinen rechtsstaatlichen Anfang genommen. Zudem waren in Nürnberg und Tokio auch Staaten beteiligt, wie die USA und Russland, die heute dem IStGH kritisch gegenüberstehen. An den historischen Errungenschaften müssen sie sich aber festhalten lassen. In aller Nüchternheit müssten sich auch und gerade die Richter am IStGH den Aufruf Robert H. Jacksons adressiert an die Richter am 21. November 1945 in Nürnberg in Erinnerung rufen: „Civilization asks whether law is so laggard as to be utterly helpless to deal with crimes of this magnitude by criminals of this order of importance. It does not expect that you can make war impossible. It does expect that your juridical action will put the forces of international law, its precepts, its prohibitions and, most of all, its sanctions, on the side of peace, so that men and women of good will, in all countries, may have ,leave to live by no man’s leave, underneath the law.‘“
Zur Nichtanwendbarkeit von § 284 StGB auf von ausländischen Servern hochgeladene und in Deutschland abrufbare Internet-Glücksspiele Von Frank Saliger
I. Das Problem Die Frage, ob das deutsche Glücksspielstrafrecht (§§ 284 ff. StGB) auf von ausländischen Servern hochgeladene und in Deutschland abrufbare Glücksspiele anwendbar ist, wird seit ihrem Aufkommen kontrovers diskutiert.1 Ursächlich für die Kontroverse ist, dass gesetzliche Vorgaben in den einschlägigen Strafvorschriften (§§ 284 ff., 3, 9 Abs. 1 StGB) fehlen und der zuständige BGH in Strafsachen bis heute keine die Auslegungsfrage klärende Entscheidung zu § 284 StGB getroffen hat. Trotz des Schweigens von Gesetzeswortlaut und BGH-Strafsenaten bejahen der Gesetzgeber2 und die h. M. seit Jahrzehnten auf Basis eines weiten Veranstaltungsbegriffs die Anwendbarkeit der §§ 284 ff. StGB auf Veranstalter, die ihr Glücksspielangebot über ausländische Server in Deutschland anbieten.3 Diese von jeher kritisierte Ansicht4 bedarf aus zwei Gründen der Überprüfung. Zum einen ist der 3. Strafsenat des BGH in seiner neuen Rechtsprechung zu grenzüberschreitenden Sachverhalten 1 Vgl. nur Klengel/Heckler, CR 2001, 243; Berberich, Das Internet-Glücksspiel, 2004, S. 163 ff.; Mintas, Glücksspiele im Internet, 2008, S. 128 ff.; Kudlich/Berberich, ZfWG 2016, 7 (8 f.). 2 Vgl. BT-Drucks. 13/8587, S. 67 f.; BT-Drucks. 13/9064, S. 21; § 3 Abs. 4 GlüStV 2008 und 2012 und dazu Erläuterungen zum Entwurf eines Staatsvertrages zum Glücksspielwessen in Deutschland (Glücksspielstaatsvertrag – GlüStV) vom 14. 12. 2006, S. 12. 3 Siehe BGH (Z) NJW 2004, 2158 (2160) – Schöner Wetten; OLG Hamburg (Z) MMR 2000, 92 (94) – Golden Jackpot; OLG Hamburg (Z) MMR 2002, 471 (472 f.); OLG Köln (Z) GRUR 2000, 538 (539); OLG Köln (Z) ZUM 2006, 648 (650); VG Chemnitz ZfWG 2008, 64 (66); VG Potsdam BeckRS 2011, 47369; MüKo-StGB-Hohmann, 3. Aufl. 2019, § 284 Rn. 25, 36; LK-Krehl, StGB, 12. Aufl. 2008, § 284, Rn. 18 und 20a; Beck/OK-StGB-Hollering, Stand: 1. 8. 2019, § 284 Rn. 23 und 25; SSW-StGB-Rosenau, StGB, 4. Aufl. 2019, § 284 Rn. 12, 30; Schönke/Schröder-Heine/Hecker, StGB, 30. Aufl. 2019, § 284 Rn. 15; MR-Wietz, StGB, 2013, § 284 Rn. 8 und 15; Mintas (Fn. 1), S. 128 ff. (155); auch NK-Gaede, StGB, 5. Aufl. 2017, § 284 Rn. 17 und 18. 4 Klengel/Heckler, CR 2001, 243 (248 f.); Barton/Gercke/Janssen, wistra 2004, 321 (322 f.); Berberich (Fn. 1), S. 163 ff. (169); Kudlich/Berberich, ZfWG 2016, 7 (8 f.).
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bei den §§ 86a, 130 StGB5 von der bisherigen extensiven Leitentscheidung des 1. Strafsenats6 zur Anwendbarkeit deutschen Strafrechts abgerückt. Das wirft die Frage auf, welche Auswirkungen diese Rechtsprechungsänderung auf unser Problem hat. Zum anderen ist bislang nicht hinterfragt worden, ob die Integration des weiten Veranstaltungsbegriffs in das Strafanwendungsrecht der §§ 3, 9 Abs. 1 StGB im Lichte der Untreueentscheidung des BVerfG aus dem Jahr 20107 verfassungsrechtlich überhaupt haltbar ist. Der Verfasser sieht in dieser Integration einen Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Verbot der Verschleifung von Tatbestandsmerkmalen. Der Beitrag ist dem Jubilar Ulrich Sieber als Pionier des Computer- und Internetstrafrechts in tiefer Wertschätzung gewidmet.8
II. Der weite Veranstaltungsbegriff und seine Begründung Stellvertretend für den weiten Veranstaltungsbegriff der h. M. und seine Begründung können die Erläuterungen des Landesgesetzgebers zu § 3 Abs. 4 GlüStV 2008, den § 3 Abs. 4 GlüStV 2012 unverändert übernommen hat9, herangezogen werden. Dort heißt es: „Absatz 4 stellt entsprechend der bisherigen Rechtsprechung klar, dass Glücksspiele überall dort veranstaltet und vermittelt werden, wo die Möglichkeit zur Teilnahme eröffnet wird. Gilt die Übermittlung von Spielscheinen per Brief oder die Eröffnung der Teilnahme über das Internet als Veranstaltung von Glücksspiel, so wird dieses letztlich auch dort veranstaltet, wo das Angebot ankommt. Dass bei der Internetnutzung der Veranstalter sein Angebot nicht an bestimmte Personen richtet, ändert daran nichts, weil durch die Einstellung eines Internetangebotes der Veranstalter jedem Spielinteressierten die Teilnahme von dessen Aufenthaltsort aus ermöglichen möchte. Dies gilt auch für Angebote, die vom Ausland 5
BGH NStZ 2015, 81 (82); BGH NStZ 2017, 146 (147). BGH NStZ 2001, 305 (308 f.) – Fall Toeben. 7 BVerfG NJW 2010, 3209. 8 Siehe nur Sieber, Computerkriminalität und Strafrecht, 1980; ders., Informationstechnologie und Strafrechtsprechung, 1985; ders., The International Handbook on Computer Crime, 1986; ders., Verantwortlichkeit im Internet, 1999; ders., Straftaten und Strafverfolgung im Internet. Gutachten C zum 69. Deutschen Juristentag, 2012. 9 Der GlüStV 2008 und 2012 wird seine Geltung aufgrund des 3. Glücksspieländerungsstaatsvertrages (GlüÄndStV) zum 30. 06. 2021 verlieren. An seine Stelle soll nach derzeitigem Stand mit Wirkung zum 01. 07. 2021 der sog. Glücksspielneuregulierungsstaatsvertrag (GlüNeuRStV-E) treten, der am 12. 03. 2020 auf einer Ministerkonferenz als Entwurf beschlossen wurde. Grundlegende Änderungen betreffen insbesondere die geplante vollständige Legalisierung des Online-Glücksspiels, die an ein Lizensierungsverfahren geknüpft sein soll, unter Einräumung von Werbemöglichkeiten (vgl. Art. 1 § 4 IV GlüNeuRStV-E). Im Ausland sitzende Anbieter ohne deutsche Lizenz dürfen sich nicht (mehr) an deutsche Spieler richten (vgl. zum Überblick Berwanger, NVwZ 2020, 916). § 3 Abs. 4 GlüStV 2012 soll ebenso unverändert in § 3 Abs. 4 GlüNeuRStV-E übernommen werden. 6
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aus in das Internet eingestellt werden, da auch hier eine Teilnahme am Glücksspiel von Deutschland aus ermöglicht wird (es folgen zahlreiche Nachweise, F.S.).“10
Nach der Gesetzesbegründung hat § 3 Abs. 4 GlüStVerkennbar eine Doppelfunktion. Der Landesgesetzgeber bestimmt mit der Norm nicht nur den Begriff des Veranstaltens im weiten Sinne. Zugleich will er die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts auf Internet-Glücksspielangebote aus dem Ausland festlegen. Weitere Gründe dafür lassen sich den Gesetzesmaterialien zum 6. StrRG von 1998 und der Rechtsprechung entnehmen. So hat bereits der Bundesrat im Zuge der Reform der §§ 284 ff. StGB gesehen, dass kommerzielle Anbieter aus dem Ausland, deren Angebote nach deutschem Recht (vermeintlich) nicht genehmigungsfähig wären, in Deutschland mit zunehmender Intensität auch über das Internet Spielteilnehmer für alle Arten von Glücksspiel zu gewinnen suchen. Er erkannte, dass es bei den neuen technischen Möglichkeiten nicht mehr erforderlich sein wird, im Inland Einrichtungen zu schaffen, weshalb fraglich werden könnte, ob das Verhalten der ausländischen Anbieter noch vom Begriff des „Veranstaltens“ erfasst wird. Deshalb stellte der Bundesrat klar: „Wer diese Handlungen gegenüber einem Spielteilnehmer in Deutschland vornimmt, soll strafbar sein, weil er damit sein Vertriebsgebiet ohne behördliche Erlaubnis nach Deutschland ausweitet.“11
Der Rechtsausschuss ist der Position des Bundesrats beigetreten.12 Die Rechtsprechung hat diese Aussagen mit Recht als Entscheidung des Gesetzgebers für einen weiten Veranstaltungsbegriff interpretiert. Damit behalte sich der Gesetzgeber die Regelungsbefugnis für die Erteilung von Glücksspielgenehmigungen und für die Sanktionierung von Genehmigungsverstößen auf dem eigenen Territorium vor.13 Im Übrigen ergebe sich die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts schon daraus, dass „der Glücksspielbetreiber sein Produkt zumindest auch gezielt zur Nutzung auf dem Deutsch sprachigen Markt ausgerichtet (hat), indem von der Leitseite eine Verzweigung auf eine vollständig Deutsch sprachige Spielversion zur Verfügung steht.“14
Unklar geblieben ist bei der h. M., wie sich der weite Veranstaltungsbegriff in das Strafanwendungsrecht der §§ 3, 9 Abs. 1 StGB einfügt. Teilweise wird die Eröffnung der Beteiligungsmöglichkeit – und entsprechend § 3 Abs. 4 GlüStV15 – als ein zum
10 Erläuterungen zum Entwurf eines Staatsvertrages zum Glücksspielwesen in Deutschland (Glückspielstaatsvertrag – GlüStV) vom 14. 12. 2006, S. 12. 11 BT-Drucks. 13/8587, S. 67. 12 Vgl. BT-Drucks. 13/9064, S. 21 zur auch künftig relevanten Eröffnung der Beteiligungsmöglichkeit. 13 OLG Hamburg (Z) MMR 2002, 471 (472 f.). 14 OLG Hamburg (Z) MMR 2000, 92 (94) – Golden Jackpot. 15 LK-Krehl, § 284 Rn. 20a; vgl. auch Kudlich/Berberich, ZfWG 2016, 7 (8 f.).
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Tatbestand gehörender Erfolg im Sinne von § 9 Abs. 1 Var. 3 StGB verstanden.16 Ein anderer Teil sieht in der Eröffnung der Beteiligungsmöglichkeit die Begründung eines Handlungsortes gemäß § 9 Abs. 1 Var. 1 StGB.17
III. Kritik des weiten Veranstaltungsbegriffs bei § 9 Abs. 1 StGB 1. Veranstalten als Taterfolg gemäß § 9 Abs. 1 Var. 3 StGB? a) Die Rechtsprechung des 1. Strafsenats im Fall Toeben Die Teile der h. M., die im Veranstalten nach § 284 StGB einen Taterfolg im Sinne von § 9 Abs. 1 Var. 3 StGB verstehen18, konnten sich bislang auf das Urteil des 1. Strafsenats im Fall Toeben von 2000 berufen. In dem Fall hatte ein australischer Staatsbürger auf der auf einem australischen Server hochgeladenen und von Deutschland aus abrufbaren Homepage eines Instituts, dessen Direktor er war, in mehreren englischsprachigen Artikeln den Holocaust geleugnet. Der 1. Strafsenat bejaht eine Anwendbarkeit des § 130 StGB als abstrakt-konkretes Gefährdungsdelikt, weil der zum Tatbestand gehörende Erfolg gemäß § 9 Abs. 1 Var. 3 StGB in Deutschland eingetreten ist und daher eine Inlandstat gemäß § 3 StGB vorliegt. Bemerkenswert ist, dass der BGH das Merkmal „zum Tatbestand gehörender Erfolg“ in § 9 Abs. 1 Var. 3 StGB nicht im Sinne der allgemeinen Tatbestandslehre bestimmt, sondern nach der ratio legis des § 9 StGB. Diese erblickt das Gericht darin, dass die Vorschrift deutsches Strafrecht auch bei Vornahme der Tathandlung im Ausland immer dann zur Anwendung bringen soll, wenn es im Inland zu der Schädigung von Rechtsgütern oder zu Gefährdungen kommt, deren Vermeidung Zweck der jeweiligen Strafvorschrift ist.19 Auf dieser Basis sieht der 1. Strafsenat einen Erfolg i.S. von § 9 StGB bei abstraktkonkreten Gefährdungsdelikten dort eingetreten, „wo die konkrete Tat ihre Gefährlichkeit im Hinblick auf das im Tatbestand umschriebene Rechtsgut entfalten kann. Bei der Volksverhetzung nach § 130 I, III StGB ist das die konkrete Eignung zur Friedensstörung in der Bundesrepublik Deutschland“, welche das Gericht im Fall Toeben annimmt.20 Allerdings verlangt der 1. Strafsenat einschränkend einen völkerrechtlich legitimierenden Anknüpfungspunkt. Diesen erkennt das Gericht darin, dass die Tat
16
Schönke/Schröder-Heine/Hecker, § 284 Rn. 35; BeckOK-StGB-Hollering, § 284 Rn. 25; LK-Krehl, § 284 Rn. 20a. 17 So MüKo-StGB-Hohmann, § 284 Rn. 36; OLG Hamburg MMR 2002, 471 (472); VG Chemnitz ZfWG 2008, 64 (66). 18 Nw. in Fn. 16. 19 BGH NStZ 2001, 305 (308) unter Bezug u. a. auf BGH NJW 1995, 342. 20 BGH NStZ 2001, 305 (308).
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nach § 130 StGB ein gewichtiges inländisches Rechtsgut betrifft, das zudem objektiv einen besonderen Bezug auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aufweist.21 Obschon der BGH im Fall Toeben ausdrücklich keine Aussage zu abstrakten Gefährdungsdelikten trifft22, kann dessen Argumentation zur Bejahung eines Taterfolgs auch bei § 284 StGB eingesetzt werden. Denn soweit das auf dem ausländischen Server hochgeladene Internet-Glücksspiel in Deutschland abrufbar ist, treten (vermeintliche) Gefährdungen von Rechtsgütern auch in Deutschland ein. Das zusätzliche Erfordernis eines völkerrechtlichen Anknüpfungspunktes bereitet in der Regel keine Schwierigkeiten, weil sich ein solcher in Gestalt deutschsprachiger Webseiten oder der Zahlungsabwicklung über deutsche Banken bejahen lässt. b) Die restriktive Rechtsprechung des 3. Strafsenats Der 3. Strafsenat des BGH ist in seiner jüngsten Rechtsprechung dezidiert von dem Urteil des 1. Strafsenats abgerückt. In der ersten Entscheidung von 2014 hatte der Angeklagte von einem Computer in Tschechien aus auf dem Internet-Videoportal YouTube Hakenkreuze hochgeladen, die in Deutschland abrufbar waren. Der 3. Strafsenat verneint eine Anwendbarkeit des abstrakten Gefährdungsdelikts des Verwendens von Kennzeichen verfassungsfeindlicher Organisationen nach § 86a Abs. 1 Nr. 1 StGB, weil es an einer Inlandstat fehlt: „Das abstrakte Gefährdungsdelikt des § 86a (…) umschreibt keinen zum Tatbestand gehörenden Erfolg, so dass eine Inlandstat über § 9 I Var. 3 oder 4 StGB nicht begründet werden kann. Selbst wenn man der Ansicht zustimmen wollte, dass die Frage nach dem Erfolgsort im Sinne des § 9 I StGB normspezifisch am Schutzzweck der jeweiligen Strafvorschrift ausgerichtet werden muss (…), die Regelung mithin nicht nur auf Erfolgsdelikte im Sinne der allgemeinen Deliktslehre abstellt, ist jedenfalls an dem Ort, an dem die hervorgerufene abstrakte Gefahr in eine konkrete umgeschlagen ist oder gar nur umschlagen kann, kein zum Tatbestand gehörender Erfolg eingetreten (…). Dieser muss vielmehr in einer von der tatbestandsmäßigen Handlung räumlich und/oder zeitlich abtrennbaren Außenweltsveränderung bestehen (…).“23
Der 3. Strafsenat sieht in seiner These keinen Widerspruch zur angestrebten Effektuierung des Rechtsgüterschutzes durch abstrakte Gefährdungsdelikte. Denn die Vorverlagerung der Strafbarkeit durch abstrakte Gefährdungsdelikte könne Anlass sein, diese schon aufgrund völkerrechtlicher Fragen nicht ausnahmslos auf grenzüberschreitende Sachverhalte auszudehnen. Auch der (scheinbare) Wille des Gesetzgebers, mit der Neufassung von § 9 Abs. 1 StGB in 1969 keine Änderung der Behandlung von abstrakten Gefährdungsdelikten bezweckt zu haben, wird für den 3. Strafsenat durch den Gesetzeswortlaut überspielt, wonach der Erfolg zum Tatbestand 21
BGH NStZ 2001, 305 (309). BGH NStZ 2001, 305 (308). 23 BGH NStZ 2015, 81 (82) m. abl. Anm. Becker und abl. Bspr. Hecker, JA 2015, 274 (275 f.). 22
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der Strafnorm gehören muss.24 Soweit seine Auffassung zu Strafbarkeitslücken bei grenzüberschreitenden Sachverhalten führe, sei der Gesetzgeber gefordert.25 In der zweiten Entscheidung von 2016 widerspricht der 3. Strafsenat sogar offen dem Urteil des 1. Strafsenats.26 In dem Fall hatte der Angeklagte in der Schweiz im Rahmen eines öffentlichen Vortrags, bei dem auch zahlreiche deutsche Zuhörer zugegen waren, den Holocaust geleugnet. Auch wenn der 3. Strafsenat letztlich eine Strafbarkeit des Angeklagten aus §§ 130 Abs. 3, 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB bejaht27, verneint er eine Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts aus §§ 3, 9 Abs. 1 StGB mit nahezu identischer Begründung wie in der Entscheidung von 2014. Denn auch bei abstrakt-konkreten Gefährdungsdelikten wie § 130 StGB würde ein Taterfolg eine von der tatbestandsmäßigen Handlung räumlich und/oder zeitlich abtrennbare Außenweltsveränderung erfordern, zu der es in den Fällen einer bloß potentiellen Gefahr gerade nicht kommen muss.28 c) Konsequenzen aus der Judikatur des 3. Strafsenats für § 284 StGB Fraglich ist, was aus dieser Rechtsprechungsänderung für unsere Fragestellung folgt. Zu unterscheiden sind unmittelbare und mittelbare Konsequenzen. Zunächst ist die Rechtsprechungsänderung nur für die Äußerungs- und Verbreitungsdelikte der §§ 86a, 90a Abs. 1, 2, 91 und 130 StGB von unmittelbarer Bedeutung, weil der 3. Strafsenat nach dem Geschäftsverteilungsplan seit 2014 u. a. für Revisionen in diesen Fällen alleine zuständig ist.29 Mit den §§ 284 ff. StGB hingegen können sich alle Strafsenate des BGH befassen. Das wiederum hat zur Folge, dass andere Strafsenate für die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts bei den §§ 284 ff. StGB auf die Rechtsprechung des 3. Strafsenats zurückgreifen können, aber nicht müssen. Insoweit bleibt sogar die Rechtsprechung des 1. Strafsenats im Fall Toeben bedeutsam. Davon abgesehen kommt den Gründen des 3. Strafsenats eine mittelbare Bedeutung bei anderen abstrakten und abstrakt-konkreten Gefährdungsdelikten zu. Denn da die Revisionsgerichte zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beitragen sollen (vgl. § 132 Abs. 4 GVG), sind die Entscheidungen und Gründe eines Strafsenats auch für die Entscheidungen anderer Strafsenate relevant. In der Tat ist die mittelbare Bedeutung der Judikatur des 3. Strafsenats für die Strafrechtsanwendung bei den §§ 284 ff. StGB erheblich. So nimmt der 3. Strafsenat mit der Außenweltsveränderung eine Position innerhalb des Meinungsspektrums zu 24
BGH NStZ 2015, 81 (82). BGH NStZ 2015, 81 (83). 26 BGH NStZ 2017, 146 (147: „a.A.“) m. Bspr. z. B. von Handel, ZUM-RD 2017, 202. 27 BGH NStZ 2017, 146 (147). 28 BGH NStZ 2017, 146 (147). 29 Aus diesem Grund verneint der 3. Strafsenat mit Recht auch eine Anfrage- und Vorlagepflicht BGH BeckRS 2016, 16540, Rn. 15 (in NStZ 2017, 146 nicht abgedruckt). 25
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§ 284 StGB30 ein, die der restriktivsten Ansicht zum Erfolgsort nach § 9 Abs. 1 Var. 3 StGB bei abstrakten bzw. abstrakt-konkreten Gefährdungsdelikten entspricht.31 Damit geraten alle jene extensiven Meinungen in die Defensive, welche für abstrakte Gefährdungsdelikte wie § 284 StGB in der Herbeiführung der abstrakten Gefahr einen Taterfolg i.S.v. § 9 Abs. 1 Var. 3 StGB sehen. Das gilt insbesondere für die Auffassungen, wonach bei abstrakten Gefährdungsdelikten ein Erfolgsort an jedem Ort gegeben sei, an dem die abstrakte Gefahr sich realisieren könne32 bzw. eintrete33, oder – speziell bezogen auf Internetdelikte – ein Erfolgsort nach § 9 Abs. 1 Var. 3 StGB an jedem Ort liege, von dem die Internetseiten potentiell abrufbar seien.34 Denn damit würde dem deutschen Strafrecht Weltgeltung bereits über § 9 Abs. 1 StGB verschafft. Mit der Rechtsprechung des 3. Strafsenats nicht mehr vereinbar sind auch alle Positionen, die auf Basis der extensiven Ansicht eine Allzuständigkeit deutscher Gerichte durch zusätzliche Kriterien vermeiden wollen: Sei es, dass der Täter zielgerichtet über das Internet in Deutschland wirken muss (subjektiver Ansatz)35, sei es, dass sein Handeln objektive Bezüge zu Deutschland aufweist wie durch die Verwendung deutsch-sprachiger Webseiten36 oder deutscher Zahlungsmodalitäten37, sei es – und das ist eine Position des Jubilars –, dass der Erfolgsbegriff auch einen sog. Tathandlungserfolg umfasst, der bei der Verwendung von Push-Technologien durch den Täter zur Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts führt, nicht aber schon bei der Verwendung von Pull-Technologien.38 Denn alle zusätzlichen Kriterien ändern nichts daran, dass die bloße Abrufbarkeit von Internetseiten von Deutschland aus noch keinen Erfolgsort im Sinne einer von der Tathandlung trennbaren Außenweltsveränderung begründet. d) § 284 StGB als abstraktes Gefährdungsdelikt Das gilt vor allem deshalb, weil § 284 StGB nach herrschendem Verständnis in Rechtsprechung39 und Schrifttum40 ein abstraktes Gefährdungsdelikt ausprägt, das 30
Siehe z. B. die Überblicke bei Berberich (Fn. 1), S. 165 ff. und Mintas (Fn. 1), S. 136 ff. So bereits etwa Hilgendorf, NJW 1997, 1873 (1875 f.); Satzger, NStZ 1998, 112 (113 f., 115 f.) und ders., Internationales und Europäisches Strafrecht, 8. Aufl. 2018, § 5 Rn. 27 f., 45; Klengel/Heckler, CR 2001, 243 (248 f.); Barton/Gercke/Janssen, wistra 2004, 321 (322 f.). 32 Martin, ZRP 1992, 19 (20 f.); Heinrich, GA 1999, 72 (77). 33 Mintas (Fn. 1), S. 152 ff. (154 f.). 34 Conradi/Schlömer, NStZ 1996, 366 (368); Löhnig, JR 1997, 496. 35 So z. B. Collardin, CR 1995, 618 (621); auch Schönke/Schröder-Heine/Hecker, § 284 Rn. 35. 36 LK-Krehl, § 284 Rn. 20a; Lehle, Der Erfolgsbegriff und die deutsche Strafrechtszuständigkeit im Internet, 1999, S. 174 ff.; vgl. auch Hilgendorf, NJW 1997, 1873 (1976 f.). 37 SSW-StGB-Rosenau, § 284 Rn. 30. 38 So Sieber, NJW 1999, 2065 (2070 ff.); zust. Vec, NJW 2002, 1535 (1538). 39 OLG Hamburg (Z) MMR 2002, 471 (474); vgl. auch BGH (Z) NJW 2002, 2175 f. 31
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einen tatbestandsmäßigen Erfolg nicht voraussetzt. Der Gesetzgeber hat im Zuge der Verschärfung der §§ 284 ff. StGB durch das 6. StrRG vier Schutzzwecke des § 284 StGB als gleichsam materielle Rechtsgüter anerkannt. Danach dient § 284 StGB der Verhinderung einer Ausnutzung des natürlichen Spieltriebs zu Gewinnzwecken und einer übermäßigen Anregung der Nachfrage nach Glücksspielen, der Gewährleistung der staatlichen Kontrolle eines ordnungsgemäßen Spielablaufs und der Sicherung der Finanzierung gemeinnütziger oder öffentlicher Zwecke durch Heranziehung eines nicht unerheblichen Teils der Einnahmen aus Glücksspielen.41 Das tatbestandsmäßige Unrecht des § 284 Abs. 1 StGB erschöpft sich demgegenüber in dem vorsätzlichen unerlaubten Veranstalten oder Halten öffentlicher Glücksspiele oder dem Bereitstellen von Einrichtungen hierzu. Eine Verletzung oder konkrete Gefährdung der aufgezählten Rechtsgüter, die zum Tatbestand des § 284 StGB gehörende Erfolge bezeichnen könnten, wird nicht verlangt. Entsprechend findet sich auch kein Kommentar zu § 284 StGB, der unter einer Rubrik „Taterfolg“ eigenständige Ausführungen macht.42 Für die Strafbarkeit nach § 284 Abs. 1 StGB genügt die abstrakte Gefahr, die mit dem Vollzug der Tathandlungen des Veranstaltens, Haltens oder Bereitstellens von Einrichtungen verbunden ist. Das zeigt sich insbesondere hinsichtlich des Veranstaltungsbegriffs. Insoweit bezeichnet die Eröffnung der Beteiligungsmöglichkeit für den Spieler keinen von der Tathandlung räumlich oder zeitlich abtrennbaren tatbestandlichen Erfolg gemäß § 9 Abs. 1 Var. 3 StGB. Denn die Eröffnung der Beteiligungsmöglichkeit für Spieler bildet den Kern der Tathandlung des Veranstaltens öffentlicher Glücksspiele, wobei es nach einhelliger Ansicht nicht darauf ankommt, ob tatsächlich ein Spiel durchgeführt oder auch nur ein konkreter Spielvertrag abgeschlossen wird.43 Deshalb ist die Tat nach § 284 StGB bereits mit der Eröffnung der Beteiligungsmöglichkeit vollendet und zugleich beendet.44 § 284 StGB prägt damit ein abstraktes Gefährdungsdelikt
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SK-StGB-Hoyer, StGB, 9. Aufl. 2019, § 284 Rn. 9; Schönke/Schröder-Heine/Hecker, § 284 Rn. 5; SSW-StGB-Rosenau, § 284 Rn. 2; AnwK-StGB-Putzke/Putzke, StGB, 2. Aufl. 2015, § 284 Rn. 2; BeckOK-StGB-Hollering, § 284 Rn. 8. A.A. – Erfolgsdelikt – MüKoStGB-Hohmann, § 284 Rn. 2. 41 BT-Drucks. 13/8587, S. 67. 42 Vgl. Fischer, StGB, 66. Aufl. 2019, § 284 Rn. 13, 17 ff.; Schönke/Schröder-Heine/ Hecker, § 284 Rn. 14 ff.; BeckOK-StGB-Hollering, § 284 Rn. 23 ff.; NK-Gaede, § 284 Rn. 17 ff.; SSW-StGB-Rosenau, § 284 Rn. 11 ff. Selbst MüKo-StGB-Hohmann, § 284 Rn. 24 ff. erörtert auf Basis seiner Erfolgsthese nur Tathandlungen. 43 BT-Drucks. 13/9064, S. 21; BayObLGSt 1956, 75 (76); LK-Krehl, § 284 Rn. 18; BeckOK-StGB-Hollering, § 284 Rn. 23; MüKo-StGB-Hohmann, § 284 Rn. 34; NK-Gaede, § 284 Rn. 18. 44 MüKo- StGB-Hohmann, § 284 Rn. 34; NK-Gaede, § 284 Rn. 18; SSW-StGB-Rosenau, § 284 Rn. 26; AnwK-StGB-Putzke/Putzke, § 284 Rn. 20; Esser/Rübenstahl/Saliger/TsambikakisLeimenstoll, Wistra, § 284 Rn. 28.
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in Gestalt eines Tätigkeitsdelikts aus.45 Für die Annahme eines zum Tatbestand gehörenden Taterfolgs ist kein Raum.46 2. Veranstalten als Zwischenerfolg gemäß § 9 Abs. 1 Var. 3 StGB? Fraglich ist, ob die Eröffnung der Beteiligungsmöglichkeit als Zwischenerfolg bei § 284 StGB begriffen werden kann, der auch bei abstrakten Gefährdungsdelikten einen Erfolgsort gemäß § 9 Abs. 1 Var. 3 StGB begründen können soll.47 Als Beispiel wird das abstrakte Gefährdungsdelikt des § 306a Abs. 1 Nr. 1 StGB48 angeführt.49 Abstrakte Gefährdungsdelikte mit Zwischenerfolg kennzeichne, dass ihr Tatbestand sich im Einzelfall nicht im schlichten Vollzug der gefährlichen Handlung erschöpft, sondern darüber hinaus eine durch die Handlung verursachte (stabile) Veränderung in der Außenwelt erfordert, der als tatortbegründender Zwischenerfolg gedeutet werden kann. § 306a Abs. 1 Nr. 1 StGB besitze mit dem Ort des durch den Brand beschädigten oder zerstörten Objekts einen solchen Erfolgsort, weil sich dort die Tathandlung des Inbrandsetzens tatsächlich in einer stabilen Zustandsveränderung als Zwischenerfolg ausgewirkt habe.50 Ob diese Deutung der schweren Brandstiftung überzeugt, wofür Einiges spricht, mag dahinstehen. Hier ist allein wichtig zu sehen, dass § 284 StGB keine mit § 306a Abs. 1 Nr. 1 StGB vergleichbare Unrechtsstruktur aufweist. Insbesondere markiert die Eröffnung der Beteiligungsmöglichkeit für Spieler keine solche stabile Zustandsveränderung als Zwischenerfolg, weil sie sich nicht von der Tathandlung ablösen lässt, sondern vielmehr deren Kern ausmacht. Das Gleiche gilt im Verhältnis von § 284 StGB zum unerlaubten Umgang mit Abfällen gemäß § 326 Abs. 1 StGB, der ebenfalls einen Zwischenerfolg – wohl der Ort der Lagerung bzw. Beseitigung der umweltgefährlichen Abfälle – besitzen soll.51 Denn auch die Unrechtsstruktur des § 326 Abs. 1 Nr. 4 StGB52 hat keine Parallele zu § 284 StGB. Insgesamt lässt sich § 284 StGB daher nicht als abstraktes Gefährdungsdelikt mit Zwischenerfolg gem. § 9 Abs. 1 Var. 3 StGB interpretieren.
45
Ohlmann, WPR 2005, 48 (54); Kudlich/Berberich, ZfWG 2016, 7 (9); vgl. auch MüKoStGB-Hohmann, § 284 Rn. 2 und 34. 46 I. E. auch Barton/Gercke/Janssen, wistra 2004, 321 (322 f.); Kudlich/Berberich, ZfWG 2016, 7 (9). 47 Hilgendorf, NJW 1997, 1873 (1875, 1878); Satzger, Internationales Strafrecht, § 5 Rn. 28. 48 Dazu statt aller Fischer, § 306a Rn. 1. 49 Satzger, Internationales Strafrecht, § 5 Rn. 28. 50 Satzger, Internationales Strafrecht, § 5 Rn. 28. 51 Hilgendorf, NJW 1997, 1873 (1975), allerdings ohne Begründung. 52 Zum komplexen Deliktscharakter des § 326 StGB SSW-StGB-Saliger, § 326 Rn. 2.
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3. Veranstalten als Handlungsort gemäß § 9 Abs. 1 Var. 1 StGB? Damit bleibt zu prüfen, ob der weite Veranstaltungsbegriff und § 3 Abs. 4 GlüStV nicht wenigstens einen Handlungsort gemäß § 9 Abs. 1 Var. 1 StGB begründen, wie verbreitet vertreten wird.53 a) Veranstalten als Handlungsort? Dagegen könnte die Rechtsprechung des 1. und 3. Strafsenats des BGH sprechen. Zwar hat der 1. Strafsenat die Annahme eines inländischen Handlungsortes offengelassen, wenn auf ausländischen Servern hochgeladene Daten in Deutschland abgerufen werden. Er hat jedoch Bedenken erhoben, im Interneteinsatz eine bis ins Inland wirkende Handlung zu sehen, und eine Übertragung des zum Briefversand entwickelten Handlungsbegriffs auf das Internet als fernliegend bezeichnet.54 Noch deutlicher hat sich der 3. Strafsenat zum Handlungsort bei aktivem Tun geäußert. Dieser werde allein durch den Aufenthaltsort des Täters bestimmt. Dagegen sollen weder die Wirkung einer durch mediale Übertragung transportierten Handlung, noch der Radius ihrer Wahrnehmbarkeit, noch der Standort des angewählten Servers Handlungsorte i.S.v. § 9 Abs. 1 Var. 1 StGB begründen. Insbesondere fehle es bei Internetübertragungen an zurechenbaren menschlichen Transportvorgängen nach §§ 25 Abs. 1 Alt. 2 bzw. Abs. 2 StGB, die bei der Beförderung durch andere Personen bestünden.55 Indes ist diese Judikatur zu den §§ 130, 86a StGB ergangen und daher, wie dargelegt56, nur von mittelbarer Bedeutung für die Auslegung des § 9 Abs. 1 StGB bei den §§ 284 ff. StGB. Zudem erkennt auch der 3. Strafsenat an, dass die Frage der Anwendbarkeit eines deutschen Straftatbestandes auf ausländische Verhältnisse im Einzelfall zu bestimmen ist, sich also nach dem Rechtsgut der jeweiligen Strafvorschrift bemisst.57 Insoweit erhält die vom Gesetzgeber ausgesprochene und auch von der Rechtsprechung aufgegriffene Schutzrichtung der §§ 284 ff. StGB Relevanz, wonach der ausländische Veranstalter von Glücksspielen und Lotterien, der diese Spielteilnehmern in Deutschland anbietet, bestraft werden soll, weil er damit sein Vertriebsgebiet unerlaubt nach Deutschland ausweitet.58 Weitere Kritik am weiten Veranstaltungsbegriff und § 3 Abs. 4 GlüStV bei § 9 Abs. 1 Var. 1 StGB verfängt ebenfalls nicht. So wird eingewandt, dass bei auf ausländischen Servern hochgeladenen und in Deutschland abrufbaren Glücksspielinhal53
Siehe die Nw. oben in Fn. 17. BGH NStZ 2001, 305 (309). 55 BGH NStZ 2015, 81 (82). 56 Oben III. 1. c). 57 Explizit BGH NStZ 2017, 146 f. 58 BT-Drucks. 13/8587, S. 67; OLG Hamburg MMR 2002, 471 (472 f.); vgl. auch NKGaede, § 284 Rn. 18; dazu bereits oben II. 54
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ten ein Handlungsort im Inland gar nicht hergeleitet werden könne; denn streng genommen bestehe die Teilnahmemöglichkeit „gerade im Ausland“ und nicht etwa „im Inland“, sondern letztlich nur „auch vom Inland aus“.59 Dieses Argument widerspricht dem Selbstverständnis der Spieler. Wer zu Hause am PC Spiele spielt, wird nach dem subjektiven Sinn seines Handelns annehmen, dass er zu Hause spielt und nicht jeweils dort, wo das Spiel zufälligerweise auf einem Server hochgeladen wurde. Entsprechend sind der weite Veranstaltungsbegriff und § 3 Abs. 4 GlüStV bislang von der h. M. auch nie im Sinne der Kritik verstanden worden.60 Ferner wird kritisiert, dass die weitgehende Gleichstellung des Veranstaltens und Vermittelns von Glücksspielen in § 4 GlüStV „ohne Relevanz [sei], weil Landesrecht nicht die Auslegung des bundesgesetzlichen § 284 bestimmen kann.“61 Diese Kritik ließe sich mit dem Einwand ergänzen, dass die Normen des GlüStV bloßes Verwaltungsrecht bezeichneten, das für die Auslegung des § 9 Abs. 1 StGB nicht relevant werden könne. An dieser Kritik ist richtig, dass die Normen des GlüStV nur den Charakter von Landesverwaltungsrecht haben. Indes werden sie deshalb für die Auslegung der §§ 284 ff. StGB nicht bedeutungslos. § 284 StGB ist unstreitig verwaltungsakzessorisch.62 Auf nationaler Ebene wird diese Verwaltungsakzessorietät durch den GlüStV als Landesrecht ausgefüllt. Dabei ist es ein Gebot der Einheit der Rechtsordnung, Begriffe in verschiedenen Rechtsbereichen möglichst einheitlich zu verwenden. Entsprechend ist die begriffliche Akzessorietät eine anerkannte Erscheinungsform der Verwaltungsakzessorietät im Umweltstrafrecht.63 Von daher spricht grundsätzlich nichts dagegen, zur Ausfüllung strafrechtlicher Begriffe auf Normen des (Landes-)Verwaltungsrechts zurückzugreifen. Das gilt umso mehr, als § 3 Abs. 4 GlüStV hinsichtlich der Glücksspielveranstaltung in der Sache nichts Anderes formuliert als jenen weiten Veranstaltungsbegriff bei § 284 StGB, der bereits seit dem Reichsgericht64 im Strafrecht herrschend ist.65 Dieser weite Veranstaltungsbegriff ist auch für die Auslegung des § 9 Abs. 1 Var. 1 StGB grundsätzlich bedeutsam. Denn wenn danach eine Tat an jedem Ort begangen ist, an dem der Täter gehandelt hat, dann ist dieser Handlungsort an den Tathandlungen des jeweiligen Straftatbestandes auszurichten.66 59
Kudlich/Berberich, ZfWG 2016, 7 (9). Vgl. die Nw. in den Fn. 2 f. 61 SSW-StGB-Rosenau, § 284 Rn. 12; siehe auch Rn. 30. 62 Stellvertretend Fischer, § 284 Rn. 2; Saliger/Tsambikakis, Neutralisiertes Strafrecht, 2017, S. 16 ff. 63 Dazu näher Saliger, Umweltstrafrecht, 2012, Rn. 77 ff. 64 RGSt 42, 430, 433; 59, 347, 352. 65 Siehe nur BGH BeckRS 1957, 31191782; BGH NStZ 2003, 372 (373); ferner die Nw. in Fn. 3. 66 Vgl. Fischer, § 9 Rn. 3 f.; Schönke/Schröder-Eser, § 9 Rn. 4 f.; Satzger, Internationales Strafrecht, § 5 Rn. 12 ff. 60
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b) Verletzung des Verschleifungsverbots Nicht entschieden ist damit freilich die zentrale Frage, ob die h. M. auf den weiten Veranstaltungsbegriff des § 284 StGB auch für den Handlungsort gemäß § 9 Abs. 1 Var. 1 StGB zurückgreifen darf. Die Frage stellt sich, weil die Struktur des weiten Veranstaltungsbegriffs hierbei hochproblematische Konsequenzen zeitigt. Dazu muss man sehen, dass der Veranstaltungsbegriff in § 284 StGB keine rein täterzentrierte Dimension hat, sondern die zu schützenden „Opfer“ notwendig miteinbezieht. Wenn das Veranstalten öffentlicher Glücksspiele mit Recht danach ausgerichtet wird, ob der Veranstalter Beteiligungsmöglichkeiten für andere Spielteilnehmer eröffnet, dann ist die Tathandlung Täter-„Opfer“-dialogisch strukturiert. Diese dialogische Struktur des weiten Veranstaltungsbegriffs, die bei rein nationalen Sachverhalten unproblematisch ist, führt bei internationalen Sachverhalten und § 9 Abs. 1 Var. 1 StGB zu dem Problem, dass Handlungsort der Tat nach § 284 StGB überall dort ist, wo die Beteiligungsmöglichkeit am Glücksspiel eröffnet wird, bei einer Veranstaltung von Glücksspielen im Internet also überall dort, wo diese Glücksspielinhalte abrufbar sind. Das bedeutet bei in Deutschland abrufbaren InternetGlücksspielen nichts Geringeres als die Weltgeltung von § 284 StGB über § 9 Abs. 1 Var. 1 StGB. An dieser Stelle erheben sich unter den Aspekten der Systematik und der Verhältnismäßigkeit verfassungsrechtliche Bedenken. Sie lassen sich auf eine strukturelle Unvereinbarkeit des Veranstaltungsbegriffs in § 284 StGB mit § 9 Abs. 1 StGB zurückführen. Der Gesetzgeber ist bei der Regelung des § 9 Abs. 1 StGB von einer Trennbarkeit von Handlung und Erfolg ausgegangen.67 Entsprechend hat er in § 9 Abs. 1 StGB die Begehungsorte nach Handlungs- (Var. 1 und 2) und Erfolgsorten (Var. 3 und 4) unterschieden. Diese Unterscheidung wird durch den weiten dialogischen Veranstaltungsbegriff in seiner Anwendung auf ausländisches Internetglücksspiel vollständig aufgehoben. Denn soweit ein Handlungsort beim ausländischen Internet-Glücksspiel überall dort entsteht, wo als Eröffnung einer Beteiligungsmöglichkeit die Internetseiten abrufbar sind, vervielfachen sich die Handlungsorte ins Unendliche. Damit wird aber die gesetzlich vorgeschriebene Differenzierung zwischen Handlungsort und Erfolgsort nicht nur verunmöglicht68, sondern schlicht überflüssig. In seiner Wirkung gleicht der dialogische Veranstaltungsbegriff jenem verfehlten Handlungsverständnis, das schon den Radius der Wahrnehmbarkeit als Teil der Handlung selbst begreifen will und das sowohl vom 1. Strafsenat des BGH im
67
Vgl. zur Entstehungsgeschichte des § 9 Abs. 1 StGB Sieber, NJW 1999, 2065 (2069). Vgl. – teils mit Argumentation zum Erfolgsort – Heinrich, NStZ 2000, 533 (534); Berberich (Fn. 1), S. 165, 168 f.; Mintas (Fn. 1), S. 131 f., 135 f.; auch Klengel/Heckler, CR 2001, 243 (248). 68
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Fall Toeben als auch vom 3. Strafsenat des BGH in seiner neuen Judikatur zu §§ 86a, 130 StGB abgelehnt wird.69 Zugleich sprengt die Vervielfachung der Handlungsorte ins Unendliche mit der Folge einer deutschen Weltgeltung des § 284 StGB für ausländisches Internetglücksspiel die Systematik des Strafanwendungsrechts der §§ 3 ff. StGB. Für bestimmte Auslandstaten mit besonderem Inlandsbezug, für bestimmte Auslandstaten gegen international geschützte Rechtsgüter (in Umsetzung des Weltrechtsprinzips70) und für die Geltung von Auslandstaten in anderen Fällen enthalten die §§ 5 – 7 StGB Sonderregelungen. Diese Sonderregelungen werden unterlaufen, wenn für § 284 StGB in Anwendung auf ausländisches Internetglücksspiel eine Weltgeltung bereits über § 9 Abs. 1 Var. 1 StGB geschaffen wird. Wollte der Gesetzgeber eine derart weite Anwendung des § 284 StGB systemkonform umsetzen, so müsste er für § 284 StGB eine Regelung vor allem in den §§ 5, 6 StGB finden. Dass der Gesetzgeber diese Systematik ansonsten beachtet, hat er zuletzt 2017 durch die Aufnahme des Sportwettbetrugs und der Manipulation berufssportlicher Wettbewerbe (§§ 265c, d StGB) bei Taten mit Bezug auf den inländischen Wettbewerb in den Katalog des § 5 Nr. 10a StGB gezeigt.71 Diese Probleme bei § 9 Abs. 1 StGB und der Systematik der §§ 3 ff. StGB sind nicht nur von fachdogmatischer Relevanz. Insbesondere die vollständige Aufhebung der Unterscheidung von Handlungsort und Erfolgsort in § 9 Abs. 1 StGB durch die Anwendung der §§ 284 ff. StGB auf ausländisches und in Deutschland abrufbares Internetglücksspiel hat insofern verfassungsrechtliche Bedeutung, als sie das in Art. 103 Abs. 2 GG verankerte Verschleifungsverbot von Tatbestandsmerkmalen verletzt. In seinem berühmten Untreuebeschluss aus dem Jahre 2010 hat das BVerfG zum Bestimmtheitsgebot erklärt, dass „(…) die Auslegung der Begriffe, mit denen der Gesetzgeber das unter Strafe gestellte Verhalten bezeichnet hat, nicht dazu führen (darf), dass die dadurch bewirkte Eingrenzung der Strafbarkeit im Ergebnis wieder aufgehoben wird. Einzelne Tatbestandsmerkmale dürfen also auch innerhalb ihres möglichen Wortsinns nicht so weit ausgelegt werden, dass sie vollständig in anderen Tatbestandsmerkmalen aufgehen, also zwangsläufig mit diesen mitverwirklicht werden (Verschleifung oder Entgrenzung von Tatbestandsmerkmalen …).“72
Dieses verfassungsrechtliche Verschleifungsverbot gilt nicht nur für (strafbegründende oder strafschärfende) Tatbestandsmerkmale. Es erfasst nach dem BVerfG alle Begriffe, mit denen das strafbare Verhalten durch den Gesetzgeber bezeichnet worden ist. Darunter fallen neben Regelbeispielen auch Vorschriften des Allgemeinen Teils des Strafrechts wie die §§ 11, 13, 14, 22, 23, 25 ff. StGB sowie das Strafanwen69
Siehe dazu oben III. 3. a). Statt aller NK-Böse, § 6 Rn. 1. 71 Durch das 51. Strafrechtsänderungsgesetz vom 11. April 2017, BGBl. I, S. 815; dazu BT-Drucks. 18/8831, S. 14. 72 BVerfG NJW 2010, 3209 (3211 Rn. 79). 70
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dungsrecht der §§ 3 ff. StGB.73 Denn die §§ 3 ff. StGB sind nach h. M. als objektive Bedingungen der Strafbarkeit74 Teil des materiellen Strafrechts, für das ebenfalls die Garantien des Art. 103 Abs. 2 GG gelten.75 Diese Verletzung des verfassungsrechtlichen Verschleifungsverbots lässt sich nicht durch eine teleologische Restriktion des § 9 Abs. 1 Var. 1 StGB in Gestalt eines zusätzlich geforderten völkerrechtlich legitimen Anknüpfungspunktes heilen.76 Zwar könnte man bei aufrufbaren ausländischen Internetseiten die Annahme eines inländischen Handlungsortes von der gezielten Ausrichtung des Glücksspielangebots an deutsche Nutzer abhängig machen, die bei Verwendung der deutschen Sprache, der Zahlungsabwicklung über deutsche Banken und/oder beim Einsatz deutschsprachiger Werbung gegeben wäre.77 Abgesehen von der tendenziellen Beliebigkeit solcher Anknüpfungspunkte und ihren Umgehungsmöglichkeiten würde durch sie aber das Grundproblem nicht behoben, weil auch bei solchen Anknüpfungspunkten eine potentiell unüberblickbare Anzahl von inländischen Handlungsorten verbliebe. Dem Bundes- und Landesgesetzgeber ist es also verfassungsrechtlich verwehrt, den §§ 284 ff. StGB über den weiten Veranstaltungsbegriff in seiner Anwendung auf ausländisches und in Deutschland abrufbares Internetglücksspiel nach § 9 Abs. 1 Var. 1 StGB Weltgeltung zu verschaffen.78 Will er dies verfassungskonform erreichen, so muss er eine entsprechende Regelung in die §§ 5 f. StGB aufnehmen.79
73
Näher Saliger, in: Barton et al. (Hrsg.), Fischer-FS, 2018, 523 (533, 541). Schönke/Schröder-Eser, Vorbem. zu den §§ 3 – 9 Rn. 6; MüKo- StGB-Ambos, StGB, 3. Aufl. 2017, Vorbem. zu § 3 Rn. 3; SSW-StGB-Satzger, Vor §§ 3 – 7 Rn. 3; Beck/OK-StGBvon Heintschel-Heinegg, Stand: 1. 8. 2019, § 3 Rn. 9; Satzger, Internationales Strafrecht, § 5 Rn. 7. Für Tatbestandsmerkmale sogar NK-Böse, Vor §§ 3 ff. Rn. 51 und U. Neumann, in: Britz et al. (Hrsg.), Müller-Dietz-FS, 2001, 589 (603 f.). 75 BVerfG wistra 2003, 255 (257); BGHSt 20, 22 (25); SSW-StGB-Satzger, Vor §§ 3 – 7 Rn. 2; MüKo-Ambos, Vorbem. zu § 3 Rn. 2, 77 ff.; Schönke/Schröder-Eser, Vorbem. zu den §§ 3 – 9 Rn. 6. 76 Vgl. für § 130 StGB BGH NStZ 2001, 305 (309) – Fall Toeben; zum Problem LK-Werle/ Jeßberger, StGB, Bd. 1, 12. Aufl. 2007, Vor § 3 Rn. 24 ff. 77 Vgl. für den Handlungsort OLG Hamburg MMR 2002, 471 (473). Für den Erfolgsort LK-Krehl, § 284 Rn. 20a; SSW-StGB-Rosenau, § 284 Rn. 30; Schönke/Schröder-Heine/ Hecker, § 284 Rn. 35. 78 I. E. wie hier auch – ohne Bezug auf § 284 StGB – Sieber, NJW 1999, 2065 (2070); Heghmanns, JA 2001, 276 (277), Kudlich, StV 2001, 397 (398); Jeßberger, JR 2001, 432 (433). Ferner Kudlich/Berberich, ZfWG 2016, 7 (8 f.). 79 Vgl. dazu Hilgendorf, NJW 1997, 1873 (1877); BGH NStZ 2015, 81 (83); für einen Reformvorschlag zu § 284 StGB Berberich (Fn. 1), S. 169 ff. 74
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IV. Zusammenfassung § 284 StGB ist auf von ausländischen Servern hochgeladenes und in Deutschland abrufbares Internetglücksspiel nicht anwendbar. Die Veranstaltung von ausländischem und in Deutschland abrufbarem Internetglücksspiel begründet auch auf Basis eines weiten Veranstaltungsbegriffs gemäß § 3 Abs. 4 GlüStV weder einen tauglichen inländischen Taterfolg noch einen tauglichen inländischen Zwischenerfolg gemäß § 9 Abs. 1 Var. 3 StGB. Die Begründung eines inländischen Handlungsortes nach § 9 Abs. 1 Var. 1 StGB scheitert an der Verletzung des verfassungsrechtlichen Verschleifungsverbots von Tatbestandsmerkmalen gemäß Art. 103 Abs. 2 GG.
Umwelt- und Klimastrafrecht in Europa – die mögliche Rolle des Strafrechts angesichts des „Green Deal“ der Europäischen Union Von Helmut Satzger
I. Einführung Es ist mir eine besondere Freude, Ulrich Sieber zu seinem 70. Geburtstag einen Beitrag widmen zu dürfen. Denn er gehört zu den Personen, die meine akademische Laufbahn von Anfang an begleitet, gefördert und maßgeblich geprägt haben. Das liegt zunächst natürlich an den wissenschaftlichen Schnittpunkten, v. a. daran, dass ich mich in einem Bereich thematisch zu tummeln begann, in dem sich der Jubilar bereits früh einen Namen gemacht hatte: im Europäischen Strafrecht. Damit war klar, dass er in fachlicher Hinsicht bereits zu einem Zeitpunkt ein Vorbild für mich wurde, als er von meiner (wissenschaftlichen) Existenz noch nichts ahnen konnte. Dass ich in der Folge meine Habilitationsschrift „Europäisierung des Strafrechts“ in der von ihm herausgegebenen Schriftenreihe „IUS CRIMINALE“ veröffentlichen durfte, war dann wie ein akademischer „Ritterschlag“ für mich. Erfreulicherweise eröffnete sich mir in der Folge die Gelegenheit, den Jubilar noch viel näher kennen und persönlich schätzen zu lernen. Ich durfte nicht nur ein Semester lang seinen Lehrstuhl in Würzburg vertreten, sondern war auch sein Nachfolger an der LMU. Wir hatten intensive Diskussionen im Rahmen der gemeinsamen Tätigkeit in der strafrechtlichen Abteilung des 69. Deutschen Juristentags 2012. Und immer wieder führten uns Konferenzen im In- und Ausland zusammen, die viel Raum für gemeinsame Erlebnisse – sogar im kolumbianischen Dschungel – ließen. Fortan sah ich in ihm nicht nur ein fachliches, sondern vielmehr auch ein persönliches Vorbild. Bewundernswert ist neben seiner umfassenden Fachkenntnis sein Gespür für aktuelle und wichtige Themen. Ich habe mir daher ein zukunftsgewandtes Thema mit starkem Europabezug ausgesucht – ich werde mich der aktuellen und v. a. künftigen Rolle des Strafrechts im Bereich des Umwelt- und Klimaschutzes zuwenden.
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II. Umwelt- und Klimaschutz als zentrale Aufgabe der Europäischen Union: Der „Green Deal“ Im Dezember 2019 hat die Europäische Kommission ihr ehrgeiziges Projekt eines „Green Deal“ vorgestellt, wobei es sich um ein umfangreiches und langfristiges Maßnahmenpaket handelt. Damit wird eine Mehrzahl bedeutsamer und vielschichtiger Ziele angestrebt: Die Gesellschaft in der EU soll „fair und wohlhabend“ sein, darüber hinaus soll die Wirtschaft „modern, ressourceneffizient und wettbewerbsfähig“ agieren. Neben diese eher klassischen Zielsetzungen tritt – gleichsam als (rechts-)politischer Paukenschlag – der namensgebende „grüne Aspekt“: Der „Green Deal“ soll nämlich einen nachhaltigen ökologischen Wandel hervorbringen, so dass Europa als erster Kontinent bis zum Jahr 2050 klimaneutral wird. Gleichzeitig gehen die ambitionierten Umweltziele dahin, dass das „Naturkapital“ geschützt, bewahrt und verbessert werden soll und die Gesundheit und das Wohlergehen der Menschen vor umweltbedingten Risiken bewahrt wird. Von „wesentlichen Veränderungen“, ja von einer „Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft“ ist die Rede, ebenso von einem „Pakt, der die Bürgerinnen und Bürger in all ihrer Vielfalt eint“.1 Man muss erst einmal innehalten und durchatmen angesichts dieser hochgesteckten Ziele. Der „Green Deal“ erscheint selbst der Kommissionschefin Ursula von der Leyen so visionär, der dafür erforderliche Finanzbedarf von nicht weniger als einer Billion (= 1.000.000.000.000) Euro2 so spektakulär, dass sie die historische Bedeutung ihres Projekts mit der der US-amerikanischen „Mondlandung“ verglich , wobei – um die Dimensionen in finanzieller Hinsicht „gerade zu rücken“ – das Apollo-Programm der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts nach heutigen Maßstäben „nur“ 120 Mrd. Dollar gekostet hätte und somit geradezu als ein „Schnäppchen“ erscheinen muss.3 Da die Ursachen des Klimawandels globaler Natur sind, darf man insoweit auch in den Augen der Kommission „nicht an den Landesgrenzen“ Halt machen. Die EU will daher eine „Führungsrolle bei den internationalen Bemühungen“ übernehmen.4 Umwelt- und Klimaschutz haben es somit auf Platz 1 der Agenda der EU geschafft. Angesichts der Ernsthaftigkeit der Gefahren für die Erde, für ihre Tier- und Pflanzenwelt und nicht zuletzt für die Spezies Mensch mit ihren zivilisatorischen Leistungen, ist dies ein in jeder Hinsicht notwendiger und daher begrüßenswerter Schritt. Gerade auch als Gegengewicht zu denjenigen – leider einflussreichen – Politikern, namentlich dem US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump und seinen konservativen Anhängern, 1
S. 2. 2
EU-Kommission, Der Europäische Grüne Deal v. 11. 12. 2019, COM (2019) 640 final,
S. EU-Kommission, European Green Deal Investment Plan v. 14. 1. 2020, COM (2020) 21 final, S. 1 (engl. „EUR 1 trillion“). 3 Konietzny, Dagegen war die Mondlandung billig, ntv v. 11. 12. 2019 (https://www.n-tv.de/ politik/Dagegen-war-die-Mondlandung-billig-article21451984.html). 4 S. EU Kommission (Fn. 1), S. 3.
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die sich den eindeutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen, nicht nur für mich unverständlich, nachhaltig und geradezu dickköpfig verschließen. Es erscheint dabei nur konsequent, wenn ein derartig umfangreiches Schutzpaket so konzipiert wird, dass es keinen Rechtsbereich von vornherein ausklammert. Deshalb müssen auch (verstärkte) strafrechtliche Maßnahmen zum Schutz der Umwelt und des Weltklimas an- und mitgedacht werden. In der Beschreibung der Pläne zur Umsetzung des „Green Deal“ wird hervorgehoben, dass die EU auf „ihren Stärken als Vorkämpfer in den Bereichen Klima- und Umweltschutzmaßnahmen“ aufbauen könne.5 Im Folgenden will ich – aus dem Blickwinkel eines Strafrechtlers – auf die insoweit wichtigsten strafrechtlichen Maßnahmen der EU kurz eingehen und einige Inhalte kritisch beleuchten, um sodann zu sehen, inwieweit hierin tatsächlich eine brauchbare Basis für ein vernünftiges Umweltstrafrecht der EU liegt, aber auch – darüber hinaus und insoweit innovativ – für etwas wie ein „Klimastrafrecht“.
III. Stolpersteine auf dem Weg zum Erlass von EU-Rechtsakten zum strafrechtlichen Schutz der Umwelt Am Anfang der europäischen Gesetzgebung mit primär strafrechtlichem Bezug standen tatsächlich zwei Rechtsakte aus dem Bereich Umweltschutz, und zwar: – der Rahmenbeschluss 2003/80/JI des Rates vom 27. Januar 2003 über den Schutz der Umwelt durch das Strafrecht6 und – der Rahmenbeschluss 2005/667/JI des Rates vom 12. Juli 2005 zur Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens zur Bekämpfung der Verschmutzung durch Schiffe7. Rat und Kommission waren zwar einig über das Ziel, wonach die Mitgliedstaaten verpflichtet werden sollten, ein Minimum an strafrechtlichen Sanktionen für bestimmte Verstöße vorzusehen und diese „nach unten“ im Sinn einer Mindestharmonisierung anzugleichen. Heftig umstritten war damals jedoch die richtige Rechtsgrundlage für einen Rechtsakt dieses Inhalts. Hinter der prima facie wenig spannenden Kompetenzfrage verbargen sich durchaus grundlegende Fragen und Rechtsfolgen in der Sache selbst: Nach Ansicht des Rates waren Vorgaben im Hinblick auf das Strafrecht nur in der sog. Dritten Säule der EU möglich, das Strafrecht zählte demnach zur rein intergouvernementalen Zusammenarbeit8, so dass für eine Rechtsangleichung Einstimmigkeit im Rat erforderlich war und das Europäische Parlament 5
S. EU Kommission (Fn. 1), S. 2. ABl. L 29, S. 55; nichtig erklärt durch den EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 13. September 2005, Nichtigkeitsklage der Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Rat der Europäischen Union, Rs C-176/03. 7 ABl. L 255, S. 16; nichtig erklärt durch den EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 23. Oktober 2007 – Nichtigkeitsklage der Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Rat der Europäischen Union, Rs. C-440/05. 8 In concreto auf Basis der EUV Art. 29, 31 lit. e und Art. 34 Absatz 2 lit. b EUV a.F. 6
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nur geringe Beteiligungsrechte hatte; zudem kam allein ein „Rahmenbeschluss“ in Betracht, der – kraft expliziter Regelung im EUVa.F. und anders als eine Richtlinie – keine unmittelbare Wirkung erzeugen konnte.9 Dem hielt die Kommission entgegen, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber bereits auf Grundlage des damaligen Art. 175 EG befugt gewesen sei, die Mitgliedstaaten dazu zu verpflichten, strafrechtliche Sanktionen vorzusehen.10 Der Gerichtshof gab der Kommission recht und hob beide Rahmenbeschlüsse auf. Auch wenn – was die Luxemburger Richter ausdrücklich hervorhoben – „das Strafrecht ebenso wie das Strafprozessrecht … nicht in die Zuständigkeit der Gemeinschaft“ fiel, konnte dies den Gemeinschaftsgesetzgeber „nicht daran hindern, Maßnahmen in Bezug auf das Strafrecht der Mitgliedstaaten zu ergreifen, die seiner Meinung nach erforderlich (seien), um die volle Wirksamkeit der von ihm zum Schutz der Umwelt erlassenen Rechtsnormen zu gewährleisten, wenn die Anwendung wirksamer, verhältnismäßiger und abschreckender Sanktionen durch die zuständigen nationalen Behörden eine zur Bekämpfung schwerer Beeinträchtigungen der Umwelt unerlässliche Maßnahme“ darstellten.11 Auf Basis des damaligen Rechts waren diese Entscheidungen meiner Ansicht nach unzutreffend.12 Denn der EuGH nahm die Änderungen, die erst der Vertrag von Lissabon in Art. 83 AEUV brachte, vorweg und ignorierte hierbei völlig, dass über diese Kompetenzänderungen zum Zeitpunkt der Urteile heftiger Streit zwischen den Mitgliedstaaten herrschte. So fehlen in den beiden EuGH-Urteilen logischerweise auch alle Hinweise auf Beschränkungen und Absicherungen, die letztlich später in Art. 83 AEUV als kompromisshafte Kompensation für die von den Staaten als sehr bzw. zu weitgehend empfundene Rechtsgrundlage verankert wurden, so das Erfordernis der „Unerlässlichkeit“ (in Art. 83 Abs. 2 AEUV) und die „verfahrensrechtliche Notbremse“, wenn „grundlegende Aspekte“ der Strafrechtsordnung eines Mitgliedstaats betroffen sind (in Art. 83 Abs. 3 AEUV). Infolge dieser Urteile wurden die inhaltlich den für nichtig erklärten Rahmenbeschlüssen weitestgehend vergleichbaren Richtlinien 2008/99/EG13 und 2005/35/ EG14 erlassen. Die gerichtlichen Auseinandersetzungen blieben aber nicht ohne Fol9
Art. 34 Abs. 2 lit. b S. 3 EUV a.F. EuGH, Rechtssache C-176/03, Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Rat der Europäischen Union, Rn. 9. 11 EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 13. September 2005, Nichtigkeitsklage der Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Rat der Europäischen Union, Rs C-176/ 03, Rn. 47 f.; ebenso EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 23. Oktober 2007 – Nichtigkeitsklage der Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Rat der Europäischen Union, Rs. C-440/05, Rn. 47 f. 12 S. dazu nur Satzger, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 83 AEUV, 3. Aufl. 2018, Rn. 27 m.w.N. 13 Richtlinie 2008/99/EG über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt, ABl. 2008, L 328/ 28 ff. 14 Richtlinie 2005/35/EG über die Meeresverschmutzung durch Schiffe und die Einführung von Sanktionen für Verstöße ABl. 2005, L 255/11 ff. 10
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gen: Der damalige Vizepräsident der Kommission Franco Frattini erklärte, dass die Kommission nur maßvollen Gebrauch von ihrer Zuständigkeit zum Erlass strafrechtlicher Maßnahmen zu machen beabsichtige, die von Fall zu Fall und nur dann zu beschließen seien, wenn die Verfolgung der im EG-Vertrag festgelegten Ziele dies erfordere.15
IV. Kritik an den bestehenden strafrechtsharmonisierenden Rechtsakten der Europäischen Union Diese selbstauferlegte Zurückhaltung prägt in weiten Teilen auch den Inhalt dieser frühen Richtlinien strafrechtsharmonisierenden Inhalts. Die Wichtigkeit des Umweltschutzes – auch und gerade wenn man dies im Kontext des jetzigen „Green Deal“ betrachtet – steht in keinem Verhältnis zum rudimentären Entwicklungsstand beider Richtlinien. Werfen wir wenigstens kurz einen Blick auf wichtige Inhalte der RL 2008/99/EG über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt:16 (1) Sie erfasst von vornherein nur Sanktionen für „schwere Verstöße gegen das gemeinschaftliche Umweltschutzrecht“.17 Vor dem Hintergrund der Ultima-RatioFunktion des Strafrechts und des damit eng zusammenhängenden Verhältnismäßigkeitsprinzips, welches auch im EU-Recht anerkannt ist, ist diese Beschränkung rechtspolitisch jedenfalls zu begrüßen.18 Dabei handelt es sich nur um die Verpflichtung zu einer Mindestharmonisierung, so dass es den Mitgliedstaaten frei stand und steht, „strengere Maßnahmen für den wirksamen strafrechtlichen Schutz der Umwelt zu erlassen oder aufrechtzuerhalten“.19 Unterschiede, die sich für eine justizielle Zusammenarbeit negativ auswirken können, bleiben also möglich und – das ist die Krux der Mindestharmonisierung – ein Mehr an Pönalisierung bleibt erlaubt, nicht aber ein Weniger an Strafbarkeit. Der daraus folgende Trend zur Zunahme an Punitivität ist bereits vielfach kritisiert worden.20 Art. 3 der Richtlinie zählt sodann die vorsätzliche oder grob fahrlässige Begehung einer Reihe von Straftaten auf. Jedoch müssen alle im Katalog genannten Straftaten 15
MEMO/07/50 v. 9. 2. 2007. Die folgenden Ausführungen gelten der Sache nach identisch auch für die am 7. September 2005 erlassene Richtlinie 2005/35/EG über die Meeresverschmutzung durch Schiffe und die Einführung von Sanktionen für Verstöße. 17 So Erwägungsgrund Nr. 10; die von der RL erfassten Umweltdelikte entsprechen im Übrigen weitgehend denen, die auch unter den 2003 einstimmig angenommenen und später aufgehobenen Rahmenbeschluss fielen. 18 S. hierzu auch ECPI, Manifest zur Europäischen Kriminalpolitik, ZIS 2013, 697; s. dazu auch Satzger, ZIS 2013, 691. 19 Erwägungsgrund Nr. 12. 20 S. nur Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 9. Aufl. 2020, § 9 Rn. 47; Schünemann, ZIS 2007, 528 (529 f.). 16
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auch „rechtswidrig“ sein. Hier beinhaltet die Regelung der Richtlinie ein komplexes Regime: Gemeint ist eine besondere Regelung der Verwaltungsakzessorietät, und zwar sowohl zu europarechtlichen Vorschriften als auch zu nationalem Verwaltungsrecht. Denn die Rechtswidrigkeit des Verhaltens kann sich – entsprechend der Legaldefinition des Art. 2 lit. a – einerseits aus europäischen Umweltschutzvorschriften ableiten, jedoch – und insoweit bedingt – nur, wenn diese in den Anhängen A und B der Richtlinie aufgeführt sind (ich nenne dies „bedingte Europarechtsakzessorietät“). Andererseits wird auch auf nationale Verwaltungsvorschriften und Verwaltungsentscheidungen abgestellt, aber nur insoweit, als diese Vorschriften und Entscheidungen der Umsetzung oder Anwendung der in den genannten Anhängen A und B aufgeführten EG-Rechtsakte dienen (in meinen Worten eine „europarechtlich qualifizierte nationalstaatliche Akzessorietät“). In Deutschland hat in der Folge durch die Einführung des § 330d II StGB die Diskussion über die Gleichstellung inländischer und ausländischer Genehmigungen (jedenfalls größtenteils) an Bedeutung verloren, auch wenn nicht alle damit zusammenhängenden Fragen abschließend geklärt sind.21 Was jedenfalls geblieben ist, sind die zahlreichen und komplexen Verweisungen innerhalb des europäischen Rechts, aber auch die Verweisungen des mitgliedstaatlichen Rechts auf das in den Richtlinien-Anhängen genannte europäische Recht. Das damit auch nach europäischen Maßstäben (v. a. Art. 49 EU-Charta) erhebliche Bestimmtheitsprobleme einhergehen (können), lässt sich wohl nicht ernsthaft bestreiten.22 Zudem bedürfen die Anhänge der Richtlinien einer grundlegenden Aktualisierung.23 Abgesehen davon stellt sich die Frage, ob die Verwaltungsakzessorietät und damit die „dienende“ Funktion, die dem Strafrecht gegenüber dem Umweltverwaltungsrecht hier beigemessen wird, angesichts der überragenden Wichtigkeit der Umwelt als schützenswertes Rechtsgut so noch zu rechtfertigen ist. Auf diese Frage wird – wenn auch mit etwas anderen Vorzeichen – zurückzukommen sein, wenn es um ein künftiges „Klimastrafrecht“ geht (s. unten VI. 3.). (2) Was die Bestimmtheit der in Art. 3 genannten Tathandlungen anbelangt (z. B. Einleitung von Stoffen in den Boden, Sammlung von Abfällen, Betrieb einer Anlage, in der eine gefährliche Tätigkeit ausgeübt wird, die Lagerung von gefährlichen radioaktiven Stoffen), so soll hier wenigstens der Aspekt Erwähnung finden, dass diese Handlungen regelmäßig nicht per se unter Strafe zu stellen sind. Denn die Richtlinie verlangt zusätzlich eine aus der Handlung folgende besondere Konsequenz. Wenn diese z. B. in dem Tod, der schweren Körperverletzung einer Person oder in einem erheblichen Schaden hinsichtlich der Luft-, Boden- oder Wasserqualität bestehen kann, ist dies durch Erfolgsdelikte umsetzbar. Mangels näherer Umschreibung dessen, was „schwer“ oder „erheblich“ ist, ist aber vorgezeichnet, dass zur vollständigen Umsetzung auch im mitgliedstaatlichem Recht unbestimmte Be21
S. dazu nur Kloepfer/Heger, Umweltstrafrecht, 3. Aufl. 2014, Rn. 91 m.w.N. S. dazu auch Ratsdokument 12801/19 v. 4. 10. 2019, (Finnish) Presidency Report on European environmental criminal law, S. 9. 23 Vgl. Ratsdokument 12801/19 v. 4. 10. 2019, (Finnish) Presidency Report on European environmental criminal law, S. 12. 22
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griffe verwendet werden (müssen), was dem in den nationalen (Verfassungs-)Rechtsordnungen geltenden Gesetzlichkeitsprinzip, ebenso aber Art. 49 GRCh zuwider läuft.24 Die Verwendung zahlreicher normativer Tatbestandsmerkmale mag man als „auslegungsbedürftig“ und auch noch auslegungsfähig hinnehmen können. Problematisch wird das Ganze aber dadurch, dass Art. 3 die Pönalisierung auch solcher Tathandlungen vorgibt, die diese Folgen nur „verursachen können“. Damit ist die Verwendung abstrakter Gefährdungsdelikte im nationalen Umsetzungsrecht vorgezeichnet. Eine dadurch bedingte Vorverlagerung und Loslösung des strafbaren Verhaltens von einem objektiv feststellbaren Erfolgseintritt ist im Umweltstrafrecht sicherlich nicht ganz zu vermeiden. Allerdings werden dann die aufgezeigten Bestimmtheitsprobleme bedenklicher, da dann ja bereits die bloße Schaffung einer diesbezüglichen abstrakten Gefahr zu bestrafen ist. (3) Wenig Wunder nimmt im Übrigen, dass dieser recht frühe strafrechtsharmonisierende Rechtsakt – wie auch alle seitdem erlassenen – bei allen Fragen des Allgemeinen Teils – soweit sie überhaupt angesprochen werden – vage bleibt. Verwiesen wird somit auf die existierenden Konzepte und dogmatischen Figuren des nationalen Rechts, deren – teilweise erhebliche – Unterschiede somit geradezu zementiert werden.25 So wird den Mitgliedstaaten in den hier betrachteten Richtlinien nur aufgegeben, „die Anstiftung und Beihilfe“ unter Strafe zu stellen. Weder in dieser Richtlinie – noch in irgendeinem sonstigen Rechtsakt – findet sich aber eine Definition dessen, wie das EU-Recht diese Beteiligungsformen verstanden wissen möchte. Ähnliches gilt letztlich auch für die – gerade im Zusammenhang mit Umweltdelikten überaus bedeutenden – Sanktionen gegen juristische Personen; auch insoweit begnügt sich die Richtlinie mit einer Allgemeinformel, wonach irgendwelche Sanktionen – verwaltungsrechtliche oder kriminalstrafrechtliche – ergriffen werden müssen, so dass Mitgliedstaaten wie v. a. Deutschland nicht zur Einführung eines Unternehmens(kriminal)strafrechts gezwungen wurden. Sicher ist es verständlich, wenn man seitens der EU den Aufwand scheut, in diesen Kernbereich des Strafrechts vorzustoßen, nicht zuletzt, weil hier mit nationalen Widerständen zu rechnen ist, was – auf heutiger Rechtsgrundlage des Art. 83 AEUV – den Einsatz der verfahrensrechtlichen Notbremse (Art. 83 III AEUV) durch einen Mitgliedstaat befürchten lässt. Gleichwohl gilt: Wenn den Staaten eine derart große Definitionsmacht überlassen wird, handelt es sich in vielerlei Hinsicht um eine Scheinangleichung, Unterschiede werden nicht behoben, sondern festgeschrieben; die somit verbleibenden Unterschiede können dann natürlich auch einer effizienten und vereinfachten justiziellen Zusammenarbeit im Wege stehen.26 24 Vgl. Ratsdokument 12801/19 v. 4. 10. 2019, (Finnish) Presidency Report on European environmental criminal law, S. 11 f. 25 Ausf. Satzger, ZIS 2016, 771 ff. 26 Satzger, ZIS 2016, 771, 774. Zur Möglichkeit einer Richtlinie auf Basis des Art. 83 AEUV mit Definitionen von Konzepten des Allgemeinen Teils s. Satzger, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 83 AEUV, Rn. 42; s. auch F. Zimmermann, Strafgewaltkonflikte in der EU, 2015, S. 46; ausf. Brons, Binnendissonanzen im AT, 2014, S. 162 ff.
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(4) Bereits bei Erlass der Richtlinie hatte man sich – ausweislich der Erwägungsgründe – zum Ziel gesetzt, den strafrechtlichen Schutz der Umwelt zu stärken. Es sollte ein „hohes Schutzniveau“ erreicht werden27, die bestehenden Sanktionen seien hierzu „nicht ausreichend“.28 Deshalb zielt die Richtlinie – ihrer eigenen Intention zufolge – darauf ab, strafrechtliche Sanktionen, „in denen eine gesellschaftliche Missbilligung von einer qualitativ anderen Art als in verwaltungsrechtlichen Sanktionen oder zivilrechtlichen Schadenersatzleistungen zum Ausdruck kommt“, zur Anwendung zu bringen.29 Stellt man diese Zielsetzung aus heutiger Sicht in den Kontext des „Green Deal“, so würde man sicherlich erwarten, dass hier mit besonderer Sorgfalt ein „intelligentes“ Sanktionsregime zum Einsatz kommt. Doch die Lektüre der Richtlinie führt zu Enttäuschung auf ganzer Linie. Denn die Anforderungen gehen kaum über das hinaus, was der EuGH vor mittlerweile über 30 Jahren in seinem Urteil „Griechischer Maisskandal“ ganz generell aus der allgemeinen primärrechtlichen Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten abgeleitet hat.30 Vergleichbar drückt Art. 5 der Richtlinie die Verpflichtung der Mitgliedstaaten aus, „wirksame, angemessene und abschreckende strafrechtliche Sanktionen“ zu ergreifen. Mag diese rudimentäre Regelung in einem zeitlich relativ frühen strafrechtlichen Harmonisierungsakt, insbesondere angesichts des Streits um die richtige Rechtsgrundlage, noch nachvollziehbar sein – als Sanktionsstandard, auf dem ein den Zielsetzungen des „Green Deal“ gerecht werdendes künftiges Umweltstrafrecht aufbauen kann, eignet es sich nicht. Die Sanktionenseite bleibt vage, obwohl – gerade jetzt auch in Art. 83 AEUV – Mindestvorschriften „zur Festlegung von … Strafen“ explizit vorgesehen sind. Die Praxis hat in zahlreichen Rechtsakten zwischenzeitlich mit verschiedenen Stufen von „Mindesthöchststrafen“ gearbeitet. In einem DFG-Projekt, welches meine Kolleginnen und Kollegen der European Criminal Policy Initiative und ich während der vergangenen drei Jahren durchgeführt haben, konnten wir zeigen, dass diese Mindesthöchststrafenvorgabe für die Erreichung einer Rechtsangleichung weitestgehend ungeeignet ist.31 Das Abstellen auf die angedrohte Höchststrafe ist wenig effizient, da diese für die Bemessung der Schwere des Delikts in fast allen Mitgliedstaaten jedenfalls deutlich weniger Bedeutung als eine Mindeststrafe hat (soweit letztere überhaupt existieren). Gleichwohl konnte durch die Verpflichtung, bestimmte Höchststrafen als Minimum vorzusehen, das bisherige nationale Strafrechtssystem durchbrochen und empfindlich gestört werden. Wir haben daher ein alternatives Modell entworfen, das zweierlei erfüllt: Einerseits soll der EU die Möglichkeit gegeben werden, durch abstrakte Vorgaben die Schwere der zu harmonisierenden Tatbestände (auch im Verhältnis zueinander) festzulegen. Das kann erfolgen, indem die EU dem jeweiligen Tatbestand eine (Schwere-)Kategorie – idealerweise 27
Erwägungsgrund Nr. 1. Erwägungsgrund Nr. 3. 29 Erwägungsgrund Nr. 3. 30 EuGH, Urteil vom 21. 9. 1989 – C-68/88 „Griechischer Maisskandal“. 31 Satzger (Hrsg.), Harmonisierung strafrechtlicher Sanktionen in der Europäischen Union, Baden-Baden 2020. 28
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von I bis V – zuweist. Welche konkrete Sanktion dabei aber zur Anwendung kommt, bestimmt nicht die EU, sondern der jeweilige Mitgliedstaat, der diese Kategorien gleichsam mit den in seinem System zur Verfügung stehenden strafrechtlichen Sanktionen „befüllt“. Ein derartiges Kategorienmodell bringt somit die Interessen der EU, den Schweregrad bestimmten Fehlverhaltens vorzugeben, und die Interessen der Mitgliedstaaten, die Kohärenz ihres Sanktionensystems aufrechtzuerhalten, ideal zum Ausgleich.32 Es erscheint aus meiner Sicht ratsam, dieses Kategorienmodell umfassend bei der künftigen Strafrechtsharmonisierung – und somit auch im Bereich des Umweltstrafrechts – zum Einsatz zu bringen. Bereits hierin läge ein erheblicher Fortschritt.
V. Wo bleibt ein „Klimastrafrecht“? Ganz jenseits der Unzulänglichkeiten des Umgangs der EU mit dem Strafrecht im Bereich Umweltschutz ist ein Aspekt, der im Zusammenhang mit dem „Green Deal“ die zentrale Rolle spielt, bisher aber ganz außen vor geblieben: Der Klimaschutz. Bedeutet eine Klimaverschlechterung eine ernsthafte Gefahr für die gesamte Menschheit, die sie umgebende Pflanzen- und Tierwelt sowie für alle kulturellen Errungenschaften, dann erscheint es – egal welche Vorstellungen man im Allgemeinen von einem „Rechtsgut“, das durch Strafrecht geschützt werden kann und darf33, hat – legitim, ein Strafrecht zum Schutz des Klimas ernsthaft anzudenken. Ein solches – das ich als „Klimastrafrecht“ bezeichnen möchte – gibt es bislang allerdings nicht. Selbst eine ernsthafte Diskussion hierüber findet – soweit ersichtlich – weder hierzulande noch anderswo statt. Im Hinblick auf die Prioritäten und die hochgesteckten Erwartungen des „Green Deal“ wäre es nun aber geradezu verwunderlich, wenn klimaschädliches Verhalten, v. a. dann, wenn es ein gravierendes Ausmaß erreicht, allenfalls im Schadensersatzrecht, nicht aber (als Ultima Ratio) im Strafrecht relevant werden könnte. Es ist daher an der Zeit, sich ernsthaft die Frage nach Strafwürdigkeit und -bedürftigkeit klimaschädlicher Verhaltensweisen und damit der Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit eines Klimastrafrechts zu stellen. Daran anschließend müssten dann Fragen der dogmatisch anschlussfähigen und rechtspolitisch vernünftigen Ausgestaltung eines solchen Klimastrafrechts behandelt werden. Die EU, die sich ja selbst zum internationalen Vorreiter in Sachen Klimaschutz erklärt hat, sollte in dieser grundlegenden Frage des Einsatzes von Strafrecht ebenso eine Vorreiterrolle einnehmen. Das darf freilich nicht den Blick dafür verstellen, dass parallel (jedoch nicht gänzlich unabhängig davon) auch auf nationaler Ebene und – besonders wichtig – auf 32
S. dazu ausf. zum Kategorienmodell und seinen Vorzügen Satzger (Fn. 31), S. 667 ff. (deutsch), S. 707 ff. (englisch), sowie ders., eucrim 2/2019, 115 ff. 33 Für die parallele Frage zur Tauglichkeit der Umwelt als universelles Rechtsgut, auch auf Basis einer personalen Rechtsgutslehre, Schünemann, GA 1995, 201, 206; allgemein zur Rechtsgutsfrage s. nur Satzger/Schluckebier/Widmaier (SSW)-StGB/Kudlich, 4. Aufl. 2019, Vor § 13 ff. Rn. 5 m.w.N.
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Ebene des Völkerstrafrechts entsprechende (rechtspolitische) Überlegungen angestellt werden sollten.
VI. Einwände gegen ein „Klimastrafrecht“ – und warum diese in ihrer Pauschalität nicht zu überzeugen vermögen Dass eine wirkliche Diskussion im Hinblick auf ein Klimastrafrecht bislang ausgeblieben ist, ist aus meiner Sicht bedauerlich. Meist wird eine solche mit den folgenden – meines Erachtens wenig überzeugenden – Einwänden gleich im Ansatz abgewürgt: 1. „Es gibt keinen Klimawandel“: Diese, leider insbesondere in den USA auf höchster politischer Ebene massiv vertretene34, Position wäre – ihre Richtigkeit unterstellt – natürlich der faktische „Totengräber“ für jeglichen Gedanken an ein Klimastrafrecht. Ohne hier die wissenschaftlichen Details vertiefen zu können und zu wollen, darf diese Position jedoch als von der Wissenschaft widerlegt gelten.35 Auch der „Green Deal“ zeigt, dass jedenfalls in Europa als rechtspolitischer „common consent“ die Bedrohung des Weltklimas durch den Menschen als Ausgangspunkt legislativer Überlegungen unterstellt werden darf. 2. „Es lässt sich nicht nachweisen, dass ein ganz bestimmtes Verhalten klimaschädlich ist“. Zwar liegt hier ein Problem – allerdings kann ein Klimastrafrecht nicht als klassisches Erfolgsstrafrecht gedacht werden, welches ein Verhalten nur dann erfasst, wenn es kausal und zurechenbar zu einem messbaren Klimawandel oder einer daraus resultierenden Folgeerscheinung führt. Klimawandel ist ein notwendig abstrakter, in seinen zeitlichen und quantitativen Grenzen nicht klar definierbarer Begriff. Dies ändert aber nichts daran, dass sich diese Erscheinung wissenschaftlich (er-)fassen lässt.36 Klimaschädliche Verhaltensweisen führen regelmäßig erst in ihrer Summe, durch eine Vielzahl von Personen und über längere Zeit hinweg zu messbaren Veränderungen der klimatischen Bedingungen. Das macht die tatbestandliche Erfassung klimaschädlichen Verhaltens freilich schwierig – 34 So insbesondere US-Präsident Trump: „Was die Frage betrifft, ob er (der Klimawandel, Anm. d. Verf.) von Menschen gemacht ist oder nicht und ob die Effekte, von denen Sie sprechen, da sind oder nicht: Ich sehe das nicht.”, https://www.stern.de/politik/ausland/donald-trump-be zweifelt-klimawandel-wegen-hohen-masses-an-intelligenz-8468042.html (Stand: Sept. 2020). 35 S. beispielhaft dazu nur https://www.spektrum.de/pdf/sdw-07-10-s072-pdf/905110 mit dem Verweis auf den „Assessment Report“ des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) oder https://www.forschung-und-lehre.de/politik/leopoldina-fordert-sofortige-massnah men-zum-klimaschutz-1978/ (Stand: Sept. 2020) mit Verweis auf den Appell der Nationalakademie Leopoldina. 36 Als Vergleich werden etwa die wissenschaftlichen Termini „Pubertät“ oder „Sommer“ angeführt, vgl. https://www.swr.de/wissen/1000-antworten/umwelt-und-natur/1000-AntwortenWie-definiert-die-Wissenschaft-Klimawandel,1000-antworten-2662.html (Stand: Sept. 2020).
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schließt sie ein Klimastrafrecht aber von vorneherein aus? Ich meine nein, da insbesondere der Ausstoß von Treibhausgasen, welche naturwissenschaftlich als Grundlage des Klimawandels erkannt worden sind, jedenfalls eine – wenigstens abstrakte – Gefahr für das Klima erzeugen. Klimastrafrecht ist daher – wie das moderne Risikostrafrecht37 generell – durch seine kollektiven Handlungszusammenhänge gekennzeichnet, die an die Stelle rein individueller Zurechnung treten.38 Im Ergebnis kann dem dann etwa ein Gefährdungsstrafecht gerecht werden, welches bereits an der abstrakt gefährlichen Handlung als solcher ansetzt, also noch bevor es zu einer Klimaveränderung im Sinn einer Klimaschädigung (als effektive Rechtsgutsverletzung) kommt.39 Bei der Ausgestaltung als abstrakte Gefährdungsdelikte ist die Klimagefährdung dann nicht Erfolg, sondern lediglich gesetzgeberisches Motiv für die Bestrafung einer als gefährlich erachteten Handlung.40 Diese dadurch bewirkte Vorverlagerung der Strafbarkeit ist allerdings nichts, was das Klimastrafrecht in irgendeiner Weise „außergewöhnlich“ oder „illegitim“ erscheinen lässt. Wir kennen diese Gesetzgebungstechnik bereits hinlänglich aus anderen Bereichen, so eben aus dem Umweltstrafrecht oder auch der Terrorismusbekämpfung, in denen das Abwarten des Eintritts einer konkreten Gefahr oder gar eines Schadens nicht möglich bzw. rechtspolitisch nicht zu verantworten wäre. Aus meiner Sicht ist eine Kriminalisierung klimaschädlichen Verhaltens daher jedenfalls denkbar. Es geht dann vielmehr um die nachgelagerte Frage, ab wann die Schwelle zur Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit überschritten ist und ob und in welcher Form nach den allgemeinen – auch für EUStrafrecht relevanten41 – rechtsstaatlichen Grundsätzen (z. B. Ultima ratio, Verhältnismäßigkeit, Bestimmtheit) eine strafrechtliche Reaktion angemessen ist. Im Zuge des „Green Deal“ sind strafrechtliche Instrumente jedenfalls denkbar und stellen die logische Ergänzung der sonstigen Maßnahmen dar. Vorausgesetzt ist allerdings stets, dass durch Minimalschwellen und entsprechend konkret-bestimmte Tatbestandsausgestaltungen die rechtsstaatlichen Anforderungen an das Strafrecht beachtet werden. 3. „Die relevanten Verhaltensweisen sind durch verwaltungsrechtliche Befugnisse legal“: Der zentrale Einwand liegt in der Verwaltungsakzessorietät, auf deren grundlegende Bedeutung nach derzeitigem Recht ich bereits oben im Kontext des Umweltstrafrechts hingewiesen hatte. Eine strafrechtliche Sanktionierung sei schon deshalb nicht möglich, weil die Verhaltensweisen, um die es geht, sich regelmäßig im Rahmen einer einmal erteilten verwaltungsrechtlichen Genehmigung bewegen. Das Verhalten sei somit „rechtmäßig“ und dürfe angesichts 37
Grundlegend dazu Prittwitz, Strafrecht und Risiko, 1993. Vgl. Schünemann, GA 1995, 201 (213). 39 Nach Schünemann, GA 1995, 201 (212) ergibt sich dieser Wandel vom Erfolgsdelikt hin zum Gefährdungsdelikt „geradezu aus der Natur der Sache“. 40 Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT, 49. Aufl. 2019, Rn. 44. 41 Vgl. dazu insbesondere ECPI, Manifest zur europäischen Kriminalpolitik, ZIS 2009, 697 ff.; dazu Satzger, ZIS 2009, 691 ff. 38
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der Einheitlichkeit und Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung nicht bestraft werden. Dieses Argument erscheint prima facie als der potentiell zweite, normative „Totengräber“ eines Klimastrafrechts. Allerdings wurde schon früh und mit beachtlichen Argumenten – etwa für das Umweltstrafrecht – Kritik an der vorschnellen Übernahme der verwaltungsrechtlichen Bewertung im Strafrecht laut. Eine (jedenfalls partiell) eigenständige strafrechtliche Bestimmung dessen, was aus strafrechtlicher Sicht rechtswidrig ist, wurde gefordert.42 Der heutige § 330d Nr. 5 StGB durchbricht ansatzweise den Verwaltungsakzessorietäts-Automatismus, allerdings nur dann, wenn es um Rechtsmissbrauch geht.43 Unabhängig von dieser grundlegenden Streitfrage lässt sich m. E. jedenfalls im Kontext des Strafrechts zum Schutz des Weltklimas eine ganz eigenständige Argumentationslinie aufbauen: Denn das Schutzgut Weltklima ist schon begrifflich nicht zu vergleichen mit nationalen, dem staatlichen Verwaltungsrecht unterworfenen Regelungsgegenständen. Es handelt sich – sogar deutlich mehr noch als das Umweltstrafrecht, welches seine Verankerung letztlich doch immer noch in einem territorial begrenzten, wenngleich häufig grenzüberschreitenden Kontext findet – um ein denknotwendigerweise universales Rechtsgut, das von vornherein nicht einem einzelnen Staat zugeordnet werden kann. Wir befinden uns daher zumindest ansatzweise in einer ähnlichen Situation wie im Völkerstrafrecht, wo die geschützten Rechtsgüter (z. B. Interesse am Schutz bestimmter Gruppen, menschenrechtlicher Mindeststandard, Weltfrieden) regelmäßig nur der Staatengemeinschaft als solcher zustehen.44 Geht es also um derartige universale Rechtsgüter kann kraft Natur der Sache eine nationale oder auch regionale (z. B. EU-)Verwaltung Verhalten, welches dieses Rechtsgut schädigt oder gefährdet, nicht ohne Weiteres mit rechtfertigender Wirkung gegenüber allen Staaten genehmigen. Es fehlt insoweit an der Dispositionsbefugnis. Diese globale Betrachtung darf folglich auch dann nicht außer Betracht bleiben, wenn man ein klimaschädigendes oder -gefährdendes Verhalten auf nationaler Ebene auf seine Strafbarkeit bzw. Strafwürdigkeit hin untersucht. Eine Genehmigung auf nationaler (oder auch auf EU-)Ebene kann deshalb allenfalls insoweit eine rechtfertigende Wirkung entfalten, wie dies mit Blick auf die völkerrechtlichen Rahmenbedingungen als legitim erscheint. Wo hier genau die Grenzen liegen, bedarf erst noch einer näheren Untersuchung. Festgehalten werden kann jedenfalls, dass in Bezug auf ein Klimastrafrecht die traditionelle Verwaltungsakzessorietät an ihre Grenzen stößt und neu gedacht werden muss.
42 S. dazu Schünemann, GA 1995, 201 (209 f.); ders., in: Graul et al. (Hrsg.), MeurerGedächstnisschrift, 2002, S. 37, 61 f.; krit. z. B. auch Rudolphi, NStZ 1984, 249; s. demgegenüber zur hM z. B. SSW-StGB/Saliger, Vor §§ 324 ff. Rn. 16; Kloepfer/Heger, Umweltstrafrecht, Rn. 76 ff. 43 Näher SSW-StGB/Saliger, Vor §§ 324, Rn. 26 ff. 44 S. dazu nur Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 16 Rn. 7, 32, 57.
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VII. Fazit Als Fazit lässt sich festhalten: Die Harmonisierung des strafrechtlichen Schutzes der Umwelt steht bislang methodisch wie inhaltlich noch ziemlich am Anfang. Die Richtlinien sind vergleichsweise rudimentär ausgestaltet. V. a. die Vorgaben hinsichtlich des Allgemeinen Teils sowie der Sanktionen überzeugen nicht – und auch ansonsten lässt die Bestimmtheit zu wünschen übrig. Damit muss die EU hier – gerade im Hinblick auf die Ziele des „Green Deal“ – deutlich nachjustieren. So sollte jedenfalls bzgl. der Sanktionsharmonisierung das von der ECPI entwickelte „Kategorienmodell“ Anwendung finden. Geht man – was vonnöten ist – einen Schritt weiter und stellt die – m. E. drängende – Frage nach einem Klimastrafrecht, so fehlt hierfür bislang jeglicher Anknüpfungspunkt. Die hiergegen bislang vorgebrachten Einwände verfangen nicht, insbesondere spricht viel dafür, dass die Verwaltungsakzessorietät im Hinblick auf den Schutz des Weltklimas gänzlich anders und neu, nämlich „global“ gedacht werden muss.
Diversität der Prozesssysteme in der Praxis des Internationalen Strafgerichtshofs Am Beispiel der Beurteilung der Zulässigkeit und Erheblichkeit von Beweismitteln* Von Bertram Schmitt
I. Einführung Das Verfahren des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) stellt eine Mischung von Prozesselementen dar, die – vereinfacht gesprochen – dem angelsächsischen „common law“ und dem kontinentaleuropäischen „civil law“ entlehnt sind. Diese Verbindung unterschiedlicher Rechtstraditionen ist in den Verhandlungen zum Römischen Statut als bewusster Kompromiss entstanden.1 Mehr als zwei Jahrzehnte nach der Konferenz in Rom und nach einer Anzahl von Verfahren am IStGH stellt sich die Frage, ob die Umsetzung des gefundenen rechtlichen Rahmens zu praktikablen Lösungen geführt hat. Vor allem die Hauptverfahren am IStGH verdeutlichen, dass die konkrete Ausgestaltung des Verfahrensablaufs vielfach nach wie vor dem unterschiedlichen Erfahrungshintergrund von Richtern/-innen aus der „common law“- beziehungsweise „civil law“-Tradition2 geschuldet ist. Dieser Beitrag beschäftigt sich dazu exemplarisch mit der im Gerichtshof hoch umstrittenen Frage, zu welchem Zeitpunkt im Laufe eines Hauptverfahrens über die Erheblichkeit der von den Parteien jeweils vorgelegten Beweismittel entschieden werden soll. * Die hier vertretenen Ansichten sind ausschließlich die des Autors und nicht die des Internationalen Strafgerichtshofs. 1 S., z. B., Bassiouni/Schabas (Hrsg.), The Legislative History of the International Criminal Court. Second Revised and Expanded Edition, 2016, S. 74 ff.; Fernández de Gurmendi/Friman, in: José Doria et al. (Hrsg.), The Legal Regime of the International Criminal Court. Essays in Honour of Professor Igor Blishchenko, 2009, S. 807 f.; Kuczyn´ska, The Accusation Model Before the International Criminal Court. Study of Convergence of Criminal Justice Systems, 2015, S. 11 f. 2 Während sich der Autor der Verallgemeinerung bewusst ist, wird zur Vereinfachung im Zusammenhang dieses Beitrags „common law“ als bezeichnend für das „adversarial model“, und „civil law“ als bezeichnend für die kontinentaleuropäische Rechtstradition verwendet. Für eine differenziertere Betrachtung auch unter historischen Gesichtspunkten s. z. B. Kischel, Comparative Law, 2019, S. 227 ff.
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Bertram Schmitt
Während die Richter/-innen des IStGH derzeit grundsätzlich darum bemüht sind, das Procedere zu vereinheitlichen und zu beschleunigen,3 herrschen zu dieser Frage bislang noch unterschiedliche Auffassungen, die in verschiedenen Verfahren zu einer diametral entgegensetzten Praxis der zuständigen Strafkammern geführt haben. Für den aktuellen Beitrag konzentriert sich der Autor auf die Argumente, die gegen den im deutschen Strafverfahren selbstverständlichen Ansatz vorgebracht werden, Äußerungen des Gerichts zur Relevanz und potentiellen Bedeutung von Beweismitteln grundsätzlich erst an das Ende der Hauptverhandlung in den Kontext einer Gesamtbeurteilung aller Beweise zu setzen und erforderlichenfalls im schriftlichen Urteil zu beantworten.
II. Zulässigkeit und Erheblichkeit von Beweismitteln am IStGH Die Frage des Zeitpunkts, zu dem das Gericht die Zulässigkeit und Erheblichkeit von Beweismitteln zu beurteilen hat, bezieht sich auf die unterschiedlichsten sachlichen Beweismittel bzw. Arten der Informationsaufzeichnung wie zum Beispiel Dokumente, Fotos, Videoaufzeichnungen, Filme, Tonaufnahmen, Karten und digitale Aufzeichnungen. Die praktische Relevanz der Rechtsfrage kann dabei nicht hoch genug eingeschätzt werden, da in Verfahren am IStGH von den Parteien, vor allem der Staatsanwaltschaft, im Normalfall eine enorme Menge solcher Beweismittel vorgelegt wird.4 Während das Römische Statut (RS) ihre Beantwortung offen lässt (1.), halten manche Strafkammern eine Entscheidung über die potentielle Beweisbedeutung der Beweismittel zum Zeitpunkt ihrer Vorlage noch im Laufe der Hauptverhandlung für erforderlich (2.), während andere diese Beurteilung der abschließenden Beratung und dem schriftlichen Urteil überlassen (3.). Dabei ist klarzustellen, dass insoweit nur umstritten ist, ob das Gericht während des laufenden Hauptverfahrens Zulässigkeitsentscheidungen zur Relevanz der vorgelegten Beweismittel zu treffen hat, nicht, ob der Beweiserhebung und Beweisverwertung ggf. prozessuale Hindernisse entgegenstehen.5 3 Man bemerke hierzu zum Beispiel die im Oktober 2019 erzielte Einigung auf bestimmte Fristen zur Verkündung von Entscheidungen der unterschiedlichen Kammern (https://www. icc-cpi.int/Pages/item.aspx?name=PR1502 und https://www.icc-cpi.int/Pages/item.aspx?na me=pr1485), und die konkreten Fristen übernommen im Chambers Practice Manual, 4. Aufl. November 2019, abrufbar unter https://www.icc-cpi.int/iccdocs/other/191129-chamber-manu al-eng.pdf. 4 IStGH, TC I, Prosecutor v. Thomas Lubanga Dyilo, Urteil vom 14. 03. 2012, ICC-01/0401/06-2842, para. 11 (1373); IStGH, TC II, Prosecutor v. Germain Katanga, Urteil vom 07. 03. 2014, ICC-01/04-01/07-3436, para. 22 (643); IStGH, TC III, Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo, Urteil vom 21. 03. 2016, ICC-01/05-01/08-3343, para. 17 (733); IStGH, TC VI, Prosecutor v. Bosco Ntaganda, Urteil vom 08. 07. 2019, Annex A, ICC-01/04-02/06-2359AnxA, para. 1 (1791). 5 Siehe dazu bei Fn. 46 – 48.
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1. Zur Rechtslage [Art. 69 (4) RS] Weder die maßgebliche Vorschrift des Artikel 69(4) des IStGH-Statuts noch die Verfahrens- und Beweisordnung schreiben vor, wann die Richter/-innen die Erheblichkeit vorgelegter Beweise zu beurteilen haben. Vielmehr folgt das RS entsprechend dem bei den Verhandlungen gefundenen Kompromiss der Prozesssysteme auch hier einem offenen Ansatz, der Raum für verschiedene Lösungen lässt, die teils dem „common law“, teils dem „civil law“ entlehnt sind. Der Wortlaut von Artikel 69(4)6 lässt zwei Schlüsse zu: Zum einen erlaubt die Formulierung den Richtern/-innen, nach Ermessen zu entscheiden, da der Gerichtshof über die Erheblichkeit oder Zulässigkeit jedes Beweismittels entscheiden kann. Damit ist es der Kammer zwar erlaubt, Entscheidungen zur Relevanz und/oder Zulässigkeit eines sachlichen Beweismittels zum Zeitpunkt der Vorlage zu treffen wie dies angelsächsischen Rechtsvorstellungen entspricht.7 Sie ist dazu jedoch nicht verpflichtet und auch der Zeitpunkt einer solchen Entscheidung, sollte sie denn getroffen werden, wird vom RS grundsätzlich offen gelassen. Darüber hinaus wird durch die Erwähnung der „Erheblichkeit oder Zulässigkeit“ als Alternativen in Artikel 69(4) deutlich, dass das IStGH-Statut „Erheblichkeit“ und „Zulässigkeit“ nicht als synonyme Begriffe verwendet oder als wesentliche Bestandteile eines einheitlichen Konzepts ansieht – auch dies ist eine deutliche Abweichung vom „common law“-Ansatz zur Zulässigkeit.8 Die offene Formulierung des IStGH-Statuts erlaubt es den Richtern/-innen somit, zwei unterschiedliche Ansätze zu verfolgen,9 je nachdem, welcher den Umständen des jeweiligen Verfahrens am besten Rechnung trägt.10 6
Art. 69(4) IStGH-Statut: „Der Gerichtshof kann in Übereinstimmung mit der Verfahrensund Beweisordnung über die Erheblichkeit oder Zulässigkeit jedes Beweismittels entscheiden, wobei er unter anderem die Beweiskraft des Beweismittels und alle Nachteile in Betracht zieht, die sich für ein faires Verfahren oder für eine faire Bewertung des Zeugnisses eines Zeugen möglicherweise daraus ergeben.“ 7 S. auch IStGH, AC, Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo, Urteil vom 03. 05. 2011, ICC-01/05-01/08-1386, para. 37; IStGH, AC, Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo et al., Urteil vom 08. 03. 2018, ICC-01/05-01/13-2275-Red, paras 584 – 601, mit weiteren Nachweisen zur Entstehungsgeschichte von Artikel 69(4) IStGH-Statut. Vgl. auch im Zusammenhang von Artikel 64(9)(a): Bitti, in: Ambos/Triffterer (Hrsg.), Rome Statute of the International Criminal Court. A Commentary 2016, S. 1619, Rn. 50. S. auch Art. 64(9)(a) IStGHStatut: „Die Hauptverfahrenskammer ist unter anderem befugt, auf Antrag einer Partei oder aus eigener Initiative a) über die Zulässigkeit beziehungsweise Erheblichkeit von Beweismitteln zu entscheiden (…)“; und R. 63(2) („A Chamber shall have the authority, in accordance with the discretion described in article 64, paragraph 9, to assess freely all evidence submitted in order to determine its relevance or admissibility in accordance with article 69“). 8 Siehe dazu anschließend 2. 9 Vgl. auch Piragoff/Clarke, in: Ambos/Triffterer (Hrsg.), Rome Statute of the International Criminal Court. A Commentary, 2016, S. 1735, Rn. 37 („As with all of article 69, para. 4 is an amalgam of both common law and civil law concepts and does not strictly follow the procedures of either. While the article adopts presumptively the civil law procedure of
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Einerseits können die Kammern somit über die Relevanz und/oder Zulässigkeit eines jeden einzelnen sachlichen Beweismittels im Moment seiner Vorlage entscheiden, was der angelsächsischen Rechtstradition entspricht („Erster Ansatz“). Andererseits können die Richter/-innen alle von den Parteien vorgelegten Beweise, vorbehaltlich ihrer prozessualen Zulässigkeit,11 zunächst entgegennehmen und die Entscheidung über ihre Beweiserheblichkeit auf den Zeitpunkt am Ende des Verfahrens verschieben, an dem sie über Schuld oder Unschuld des/der Angeklagten entscheiden („Zweiter Ansatz“). Dies wurde von der Berufungskammer des IStGH bestätigt.12 Die für und gegen die beiden Lösungen vorgebrachten Argumente sollen im Folgenden diskutiert werden. 2. Beurteilung der Beweiserheblichkeit bei Vorlage des Beweismittels (Erster Ansatz) Im „common law“ spielt in Strafverfahren die Bewertung der Zulässigkeit von Beweismitteln – die eine Bewertung ihrer „Erheblichkeit“ einschließt13 – eine wichtige Rolle. Dies ist durch die Tatsache gerechtfertigt, dass in einem Jury-Verfahren Laien über die Begründetheit der Sache, und somit über Schuld oder Unschuld des/ der Angeklagten, entscheiden. Man geht davon aus, dass Laienrichter davor bewahrt werden müssen, unglaubhafte oder unzuverlässige Beweise bei ihrer Entscheidungsfindung zu berücksichtigen, da sie unerfahren in der Würdigung von Beweisen sind. Um die Geschworenen vor ungebührlicher Beeinflussung durch Beweismittel minderen Beweiswerts zu schützen und zudem die Beweisgrundlage des Falles für sie zu begrenzen, wird es für sinnvoll erachtet, eine Entscheidung zur (Un-)Zulässigkeit sachlicher Beweismittel im Moment der Vorlage durch eine der Parteien zu treffen.14 Aus historischer Sicht erklärt sich die Notwendigkeit, Beweismittel noch vor ihrer Beurteilung durch eine Laienjury zu filtern auch durch die Tatsache, dass es in den Anfängen derartiger Strafverfahren kaum Regeln dazu gab, in welcher Art und Weise Beweismittel zu sammeln waren und dies vor allem durch die Parteien mit Blick auf general admissibility and free evaluation of evidence, some common law concepts are incorporated, which results in a hybrid system.“). 10 Vgl. Schuon, 25 Leiden Journal of International Law 511, 2012, S. 519. Ähnlich: Jackson/M’Boge, 26 Leiden Journal of International Law, 2013, S. 969. Vgl. zu Diversität im Völkerstrafverfahrensrecht im Allgemeinen: Nerlich, 26 Leiden Journal of International Law 777, 2013, S. 780. 11 Siehe Fn. 46 – 48. 12 S. IStGH, AC, Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo et al., Urteil vom 08. 03. 2018, ICC-01/05-01/13-2275-Red, paras 583 – 601. 13 S. Gardner (Hrsg.), Black’s Law Dictionary, 2019, Einträge zu „admissible evidence“ und „relevant evidence“. Vgl. auch ICTY, AC, Prosecutor v. Prlic´ et al., Beschluss vom 12. 01. 2009, IT-04-74-AR73.13, para. 17. 14 Vgl. z. B. IStGH, TC I, Prosecutor v. Thomas Lubanga Dyilo, Verhandlungsprotokoll vom 18. 02. 2009, ICC-01/04-01/06-T-130-Red2-ENG, S. 30.
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ihre eigene Zielsetzung – und nicht unbedingt zum Zwecke der Wahrheitsfindung – geschah.15 In diesem Kontext stellte eine Vorabentscheidung über die Zulässigkeit und damit zusammenhängend auch die Relevanz von Beweismitteln eine wichtige Schutzfunktion dar.16 Dieser Ansatz, sachliche Beweismittel bereits im Verlauf der Hauptverhandlung hinsichtlich ihrer Erheblichkeit und potentiellen Beweisrelevanz zu bewerten, wurde an internationalen Tribunalen wie zum Beispiel am Jugoslawientribunal (ICTY) übernommen,17 was vor allem dem Umstand geschuldet war, dass deren Verfahren im Gegensatz zu denen am IStGH weitestgehend von common-law-Grundsätzen geprägt waren. Trotz des wie erwähnt hybriden Prozessystems des IStGH verfahren auch manche Hauptverfahrenskammern am IStGH entsprechend.18 Dies hat jedoch gewichtige Nachteile hinsichtlich der Effektivität des Verfahrens. Verfahren am IStGH sind in der Regel von einer Vielzahl an Anklagepunkten mit einer Fülle von Beweismitteln geprägt. Der am „common law“ und der Praxis der UN-Tribunale orientierte Ansatz führt deshalb regelmäßig dazu, dass die Parteien jedes vorgelegte sachliche Beweismittel bereits während laufender Hauptverhandlung ausführlich streitig diskutieren. Es wird sogar darüber gestritten, ob ein Beweismittel – z. B. die Rede eines Angeklagten – ggf. nur teilweise, und bejahendenfalls, inwieweit es zugelassen werden soll.19 Auf diese Weise wird eine Art „permanentes 15 Langbein, The Origins of Adversary Criminal Trial, 2003, S. 331 f., 338. Vgl. auch Damasˇka, 121 University of Pennsylvania Law Review 506 (1973), S. 511. 16 Vgl. Langbein, The Origins of Adversary Criminal Trial,, 2003, S. 5, 217; Klamberg, Evidence in International Criminal Trials. Confronting Legal Gaps and the Reconstruction of Disputed Events, 2013, S. 335; Damasˇka, 121 University of Pennsylvania Law Review 506 (1973), S. 510, 514. Anders jedoch: Hostettler, Fighting for Justice. The History and Origins of Adversary Trial, 2006, S. 130; Murphy/Baddour, in: Sliedregt/Vasiliev (Hrsg.), Pluralism in International Criminal Law, 2014, S. 381 f. 17 R. 89 der ICTY Verfahrensordnung. S., z. B., ICTY, TC II, Prosecutor v. Radoslav Brd¯anin & Momir Talic´, Beschluss vom 15. 02. 2002, IT-99-36-T; ICTY, TC I, Prosecutor v. Rasim Delic´, Beschluss vom 24. 07. 2007, IT-04-83-T, Annex, paras 25 – 36; ICTY, TC II, Prosecutor v. Popovic´ et al., Beschluss vom 14. 03. 2008, IT-05-88-T, para. 15; ICTY, TC, Prosecutor v. Radovan Karadzˇic´, Beschluss vom 13. 04. 2010, IT-95-5/18-T, para. 5; ICTY, TC, Prosecutor v. Goran Hadzˇic´, Beschluss vom 28. 11. 2013, IT-04-75-T, para. 8. 18 S. z. B., IStGH, TC I, Prosecutor v. Thomas Lubanga Dyilo, Beschluss vom 20. 01. 2011, ICC-01/04-01/06-1399-Corr; IStGH, TC II, Prosecutor v. Germain Katanga & Mathieu Ngudjolo Chui, Beschluss vom 17. 12. 2010, ICC-01/04-01/07-2635; IStGH, TC III, Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo, Beschluss vom 09. 02. 2012, ICC-01/05-01/08-2012Red; IStGH, TC V(a), Prosecutor v. William Samoei Ruto & Joshua Arap Sang, Beschluss vom 10. 06. 2014, ICC-01/09-01/11-1353. 19 S. z. B. IStGH, TC I, Prosecutor v. Thomas Lubanga Dyilo, Verfahrensprotokoll vom 18. 02. 2009, ICC-01/04-01/06-T-130-Red2-ENG, S. 25 ff.; Verfahrensprotokoll vom 13. 05. 2009, ICC-01/04-01/06-T-173-ENG, S. 14 – 15, 58; Verfahrensprotokoll vom 07. 07. 2009, ICC-01/04-01/06-T-205-Red3-ENG, S. 15-17; IStGH, TC III, Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo, Verfahrensprotokoll vom 30. 08. 2011, ICC-01/05-01/08-T-150-Red2-ENG, S. 2 – 5, 52 – 54; IStGH, TC VI, Prosecutor v. Bosco Ntaganda, Verfahrensprotokoll vom 13. 06. 2016, ICC-01/04-01/06-T-100-Red-ENG, S. 85 – 89, 95 – 97; Verfahrensprotokoll vom
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Zwischenverfahren“ während des laufenden Hauptverfahrens geschaffen. Ausserdem müssen die Kammern als Resultat dieser Diskussionen – wie aus den oben zitierten Entscheidungen deutlich wird20 – fortlaufend eine erhebliche Anzahl schriftlicher oder mündlicher Entscheidungen zur prima facie Relevanz und/oder Zulässigkeit der Beweismittel treffen. Insbesondere in Fällen sogenannter „bar table motions“, die häufig eine große Anzahl sachlicher Beweismittel betreffen, erfordern solche Entscheidungen einen enormen Aufwand und fallen entsprechend umfangreich aus.21 Insgesamt handelt es sich dabei um eine Prozedur, die erhebliche Ressourcen des Gerichtshofs bindet, ohne dass dem aus Sicht des Verfassers nennenswerte Vorteile gegenüberstünden. Zudem schränken die Kammern diese Zwischen-Entscheidungen regelmäßig durch den Vorbehalt ein, dass sie nicht endgültig seien und zu einem späteren Zeitpunkt und bei veränderter Faktenlage erneut beschieden werden können.22 Dies wiederum beseitigt die Rechtssicherheit für die Parteien hinsichtlich der dem Gericht zum Zwecke der Urteilsfindung vorliegenden Beweismittel, welche gerade durch die Vorbescheidung herbeigeführt werden soll. 3. Beurteilung der Beweiserheblichkeit am Ende des Verfahrens (Zweiter Ansatz) Bei diesem Ansatz, welcher der Rechtslage im deutschen Strafprozess entspricht, werden die vorgelegten Beweismittel entgegennommen und, sollten ihrer Verwertung keine prozessualen Hindernisse entgegenstehen,23 erst am Ende des Verfahrens 14. 06. 2016, ICC-01/04-01/06-T-101-Red-ENG, S. 89 – 90; Verfahrensprotokoll vom 30. 06. 2016, ICC-01/04-01/06-T-113-Red-ENG, S. 50 – 52, 67 – 70. 20 S. Fn. 18. 21 Z. B. IStGH, TC I, Prosecutor v. Thomas Lubanga Dyilo, Beschluss vom 24. 06. 2009, ICC-01/04-01/06-1981, mit Anhang; IStGH, TC I, Prosecutor v. Thomas Lubanga Dyilo, Beschluss vom 25. 10. 2010, ICC-01/04-01/06-2589-Corr; IStGH, TC I, Prosecutor v. Thomas Lubanga Dyilo, Beschluss vom 08. 03. 2011, ICC-01/04-01/06-2595-Red-Corr; IStGH, TC II, Prosecutor v. Germain Katanga & Mathieu Ngudjolo Chui, Beschluss vom 17. 12. 2010, ICC01/04-01/07-2635; IStGH, TC III, Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo, Beschluss vom 09. 02. 2012, ICC-01/05-01/08-2012-Red; IStGH, TC III, Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo, Beschluss vom 08. 10. 2012, ICC-01/05-01/08-2299-Red; IStGH, TC V(a), Prosecutor v. William Samoei Ruto & Joshua Arap Sang, Beschluss vom 10. 06. 2014, ICC-01/09-01/ 11-1353; IStGH, TC VI, Prosecutor v. Bosco Ntaganda, Beschluss vom 28. 03. 2017, ICC-01/ 04-02/06-1838; IStGH, TC VI, Prosecutor v. Bosco Ntaganda, Beschluss vom 31. 01. 2018, ICC-01/04-02/06-2201-Red. 22 S., z. B., ICTY, TC II, Prosecutor v. Radoslav Brd¯anin & Momir Talic´, Beschluss vom 15. 02. 2002, IT-99-36-T, para. 17 („The second guideline is that the fact that this Trial Chamber may, at some point in the course of the proceedings, rule against the admissibility of some particular document or other piece of evidence will not prevent that ruling being reversed at a later stage as further evidence emerges that is relevant, has persuasive value and hence justifies the admission of the evidence in question“). 23 Siehe im Text bei Fn. 46 – 48.
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beweismäßig bewertet. Sachliche Beweismittel, welche die Richter/-innen als für ihre Entscheidung nicht erheblich ansehen, werden im Urteil nicht erwähnt;24 eine Bewertung der Beweiserheblichkeit findet nur für jene Beweismittel statt, auf welche sich das Urteil stützt. Dieser Ansatz hat den Vorteil, dass langwierige Kontroversen zur Relevanz und/ oder Zulässigkeit jedes einzelnen vorgelegten Beweismittels im Zuge der Hauptverhandlung sowie die dazu ergehenden umfangreichen schriftlichen Entscheidungen vermieden werden.25 Dadurch wird der Verfahrensablauf gestrafft und die Parteien und Richter/-innen können sich auf die wesentlichen Fragen der Durchführung der Beweisaufnahme konzentrieren. Bislang wurde der Zweite Ansatz in drei Verfahren am IStGH angewandt,26 und bei zwei Gelegenheiten durch die Berufungskammer bestätigt.27 Darüber hinaus wurde diese Verfahrensweise auch in der „Paris Declaration on the Effectiveness of International Criminal Justice“ vom 16. Oktober 2017 durch Vertreter internationaler Strafgerichte und -tribunale, einschließlich aller damaligen Präsidenten/-innen, als prozesstechnisches Mittel empfohlen, um die Effektivität der Verfahren zu erhöhen.28 Der Zweite Ansatz ist auch von einem systemischen Standpunkt aus gerechtfertigt, weil sich das IStGH-System substantiell vom klassischen „common law“-System unterscheidet, das die Rechtfertigung für den ersten Ansatz bildet. Zum einen besteht die Hauptverfahrenskammer aus Berufsrichtern/-innen welche über die Schuld des/der Angeklagten entscheiden. Aufgrund ihrer Ausbildung und Erfahrung ist es nicht nötig, diese Richter/-innen vor einer Beeinflussung durch unzuverlässige oder unerhebliche Beweise zu schützen, weil sie diese ohnehin nicht in Betracht zie24
Dies geschieht übrigens auch beim ersten Ansatz, der sich mehr am „common law“ orientiert. 25 Z. B. IStGH, TC VII, Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo et al., Beschluss vom 24. 09. 2015, ICC-01/05-01/13-1285, paras 16 – 17; IStGH, TC VII, Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo et al., Beschluss vom 12. 11. 2015, ICC-01/05-01/13-1480; IStGH, TC I, Prosecutor v. Laurent Gbagbo & Charles Blé Goudé, Beschluss vom 09. 12. 2016, ICC-02/1101/15-773, paras 33 – 35; IStGH, TC I, Prosecutor v. Laurent Gbagbo & Charles Blé Goudé, Beschluss vom 01. 06. 2018, ICC-02/11-01/15-1172, paras 58 – 63; IStGH, TC IX, Prosecutor v. Dominic Ongwen, Beschluss vom 01. 12. 2016, ICC-02/04-01/15-615; IStGH, TC IX, Prosecutor v. Dominic Ongwen, Beschluss vom 28. 03. 2017, ICC-02/04-01/15-795; IStGH, TC IX, Prosecutor v. Dominic Ongwen, Beschluss vom 14. 11. 2019, ICC-02/04-01/15-1670. 26 S., z. B., IStGH, TC VII, Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo et al., Beschluss vom 24. 09. 2015, ICC-01/05-01/13-1285; IStGH, TC I, Prosecutor v. Laurent Gbagbo & Charles Blé Goudé, Beschluss vom 29. 01. 2016, ICC-02/11-01/15-405; IStGH, TC IX, Prosecutor v. Dominic Ongwen, Beschluss vom 13. 07. 2016, ICC-02/04-01/15-497; IStGH, TC IX, Prosecutor v. Dominic Ongwen, Beschluss vom 01. 12. 2016, ICC-02/04-01/15-615. 27 IStGH, AC, Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo, Urteil vom 03. 05. 2011, ICC-01/ 05-01/08-1386; IStGH, AC, Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo et al., Urteil vom 08. 03. 2018, ICC-01/05-01/13-2275-Red. 28 Paris Declaration on the Effectiveness of International Criminal Justice, 16. Oktober 2017, para. 21, abrufbar unter https://ihej.org/wp-content/uploads/2018/03/Paris-Declarationon-the-effifiency-of-the-international-criminal-justic….pdf.
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hen werden.29 Zum anderen muss eine Hauptverfahrenskammer am IStGH nach Artikel 74(5) des Statuts im schriftlichen Urteil eine vollständige und begründete Darstellung der Ergebnisse der Beweisaufnahme und ihrer Schlussfolgerungen abgeben.30 Die Begründungspflicht macht, anders als im Jurysystem, den Prozess der richterlichen Entscheidungsfindung transparent. Insbesondere werden die Beweismittel offengelegt, auf welche sich das Urteil stützt, was es den Verfahrensbeteiligten ermöglicht, eine ggf. fehlende Relevanz bzw. Beweisneutralität in der Berufung zu rügen. Sollte die Entscheidung der Hauptverfahrenskammer allgemein den Begründungsanforderungen an das schriftliche Urteil nicht entsprechen, wäre dies ein Berufungsgrund.31 Dies gilt ebenso, wenn sich die Kammer in ihrem Urteil auf unerhebliche und/oder unzulässige Beweismittel stützt oder erhebliche Beweismittel außer Betracht läßt. Vom Standpunkt eines Richters mit beruflicher Erfahrung im kontinentaleuropäischen Recht ist es im Übrigen nicht einfach nachzuvollziehen, warum die „Relevanz“ jedes einzelnen Beweismittels bereits zum Zeitpunkt seiner Vorlage im Prozess beurteilt werden sollte. Die Kammern am IStGH, die diesem Ansatz folgten, verstanden „Relevanz“ dahingehend, dass ein bestimmtes Beweisstück in Bezug stehen muss zu „matters that are properly to be considered by the Chamber in its investigation of the charges against the accused“.32 Ob ein Beweismittel in diesem Sinne bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen ist, steht jedoch oftmals zum Zeitpunkt seiner Vorlage noch nicht fest. Die Beweislage ist nicht statisch, vielmehr entwickelt sie sich mit Fortschritt der Beweisaufnahme. Dem entsprechend kann die Bewertung der Erheblichkeit eines Beweismittels im Laufe des Verfahrens differieren; sie wird daher immer eine vorläufige sein. Außerdem ist jede Würdigung von Beweisen, auch eine solche, welche „nur“ deren Relevanz betrifft, letztlich von einer Gesamtbetrachtung des gesamten Beweismaterials abhängig und kann daher nicht sinnvollerweise stückchenweise und isoliert von den übrigen Beweisen durchgeführt werden. Ein Beweisstück, das zu Beginn des Hauptverfahrens als relevant angesehen wurde, kann sich angesichts später vorgelegter Beweismittel als unerheblich herausstellen und umgekehrt.
29 Vgl. allgemein hierzu auch May/Wierda, International Criminal Evidence, 2002, S. 334, Rn. 10.30. 30 Art. 74(5), S. 1: „Das Urteil ergeht schriftlich und enthält eine vollständige und begründete Darstellung der Ergebnisse der Beweiswürdigung und der Schlussfolgerungen der Hauptverfahrenskammer.“ 31 S. IStGH, AC, Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo et al., Urteil vom 08. 03. 2018, ICC-01/05-01/13-2275-Red, para. 102; IStGH, AC, Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo, Urteil vom 08. 06. 2018, ICC-01/05-01/08-3636-Red, paras 50 – 55. S. auch May/Wierda, International Criminal Evidence, 2002, S. 338 f., Rn. 10.41 – 10.42. 32 IStGH, TC VII, Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo et al., Urteil vom 19. 10. 2016, ICC-01/05-01/13-1989-Red, para. 195 mit Verweis auf IStGH, TC I, Prosecutor v. Thomas Lubanga Dyilo, Beschluss vom 20. 01. 2011, ICC-01/04-01/06-1399-Corr, para. 27.
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Das Hauptargument, das von Juristen aus der „common law“-Tradition gegen den Zweiten Ansatz vorgebracht wird, besteht darin, dass über die Relevanz und/oder Zulässigkeit von Beweisen noch während der Hauptverhandlung entschieden werden muss, um den Prozessstoff zu begrenzen und die Parteien über die Beweismittel in Kenntnis zu setzen, welche der Kammer bei der Urteilsfindung zugänglich sind.33 Dies soll insbesondere für die Verteidigung gelten, welche sich häufig mit einer geradezu überwältigenden Fülle an Beweisen konfrontiert sieht. Dieses Argument scheint auf den ersten Blick zwar überzeugend, hält einer genaueren Überprüfung aber aus mehreren Gründen nicht stand. Zum einen wird das Argument, dass eine solche fortlaufende Beurteilung ein künstliches „Aufblasen“ der Akte verhindert,34 dadurch entkräftet, dass Hauptverfahrenskammern, die diesem Ansatz folgen, die ganz überwiegende Mehrheit der Beweise als möglicherweise erheblich einstufen.35 Aus psychologischer Sicht ist dies durchaus nachzuvollziehen. Richter/-innen möchten sich nicht in einer Situation wiederfinden, in der sie feststellen müssen, dass in der Vergangenheit ein sachliches Beweismittel nicht zugelassen wurde, auf welches sie sich dennoch in ihrer endgültigen Entscheidung stützen möchten. Anders ausgedrückt, möchten Richter/-innen nur ungern schon zu Beginn Beweise ausschließen, die sich im späteren Verlauf als erheblich heraus stellen könnten, was ja gerade eines der Hauptargumente für den zweiten, civil law orientierten Ansatz ist.36 Diese Praxis hat aber zur Folge, dass durch die Zulässigkeitsentscheidungen gerade keine nennenswerte Begrenzung des Verfahrensstoffs herbeigeführt wird. Zudem werden seitens des Gerichts erhebliche Ressourcen darauf verwandt, vorab einen lediglich kleinen Prozentsatz offen33 S. z. B., IStGH, Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo et al., Separate Opinion of Judge Geoffrey Henderson, ICC-01/05-01/13-2275-Anx, Anhang zu Urteil vom 08. 03. 2018, ICC-01/05-01/13-2275-Red, para. 42. 34 S., z. B., IStGH, Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo, Separate Opinion of Judge Christine van den Wyngaert and Judge Howard Morrison, ICC-01/05-01/08-3636-Anx2, Anhang zu Urteil vom 08. 06. 2018, ICC-01/05-01/08-3636-Red, para. 18. Vgl. auch Murphy/ Baddour, in: van Sliedregt/Vasiliev (Hrsg.), Pluralism in International Criminal Law, 2014, S. 369, 379. 35 S. z. B. IStGH, TC I, Prosecutor v. Thomas Lubanga Dyilo, Beschluss vom 24. 06. 2009, ICC-01/04-01/06-1981, para. 50 und Anhang ICC-01/04-01/06-1981-Anx; IStGH, TC I, Prosecutor v. Thomas Lubanga Dyilo, Beschluss vom 26. 10. 2010, ICC-01/04-01/06-2589Corr, para. 39; IStGH, TC I, Prosecutor v. Thomas Lubanga Dyilo, Beschluss vom 17. 11. 2010, ICC-01/04-01/06-2600-Red, paras 32 – 33; IStGH, TC III, Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo, Beschluss vom 09. 02. 2012, ICC-01/05-01/08-2012-Red, para. 163; IStGH, TC III, Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo, Beschluss vom 08. 10. 2012, ICC-01/05-01/ 08-2299-Red, paras 164 – 165; IStGH, TC VI, Prosecutor v. Bosco Ntaganda, Beschluss vom 28. 03. 2017, ICC-01/04-02/06-1838, S. 36 – 38; IStGH, TC VI, Prosecutor v. Bosco Ntaganda, Beschluss vom 31. 01. 2018, ICC-01/04-02/06-2201-Red, S. 35 – 39; IStGH, TC VI, Prosecutor v. Bosco Ntaganda, Beschluss vom 21. 02. 2018, ICC-01/04-02/06-2240, S. 9 – 11. 36 In diesem Sinne z. B. ICTY, TC II, Prosecutor v. Radoslav Brd¯anin & Momir Talic´, Beschluss vom 15. 02. 2002, IT-99-36-T, para. 26 („save where this Trial Chamber deems it fit to intervene ex officio, the practice will be in favour of admissibility due regard being had to the relevance and probative value of the document on the basis explained above“).
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sichtlich irrelevanter Beweismittel auszuscheiden, die bei vernünftiger Betrachtung für jeden Verfahrensbeteiligten erkennbar ohnehin keinen Einfluss auf die Entscheidungsfindung haben werden. Darüber hinaus verliert eine solche zwischengelagerte Entscheidung, die die Relevanz und Zulässigkeit der weitaus überwiegenden Mehrheit der sachlichen Beweise bestätigt, für die Verfahrensbeteiligten, insbesondere die Verteidigung, erheblich an Informationswert. Dies wird noch durch die Praxis mancher Hauptverfahrenskammern verstärkt, die ihre Entscheidungen durch den Zusatz eingeschränkt haben, dass jegliche Beurteilung während des Verfahrens eine spätere aufgrund einer Gesamtbetrachtung der Beweise am Ende des Verfahrens nicht vorweg nehmen könne.37 Hierdurch besteht zwar Gewissheit dahingehend, welche Beweise der Kammer zum Zwecke der Urteilsfindung prinzipiell vorliegen. Die Parteien können sich aber nicht berechtigterweise darauf verlassen, dass ein zugelassenes Beweismittel im Zusammenhang des Urteils in einer bestimmten Art und Weise beurteilt, bewertet oder ausgelegt wird. Dies widerspricht dem Argument, dass fortlaufende Entscheidungen zur Zulässigkeit den Parteien Anhaltspunkte darüber liefern, auf welche Beweise sie sich besonders konzentrieren müssen. Eine Kammer könnte sich nach einer Gesamtbeurteilung aller Beweise immer noch dazu entscheiden, sich überhaupt nicht auf ein zugelassenes Beweismittel zu stützen und es vollständig zu ignorieren. Das verständliche Bestreben, potentiell relevante Beweise nicht vorschnell zu „verlieren“ oder auszuschließen bewegte darüber hinaus eine Hauptverfahrenskammer, die dem Ersten Ansatz folgte, zu einem Kompromiss: Sofern die Bedingungen der Zulässigkeit nicht zum Zeitpunkt der Vorlage des Beweises erfüllt waren, die vorlegende Partei das Beweismittel jedoch trotzdem nutzen wollte, wurde der Beweis speziell gekennzeichnet.38 Dadurch war das Beweismittel zu diesem Zeitpunkt nicht zugelassen, die vorlegende Partei hatte aber die Möglichkeit, unter Umständen weitere Beweise vorzubringen, welche wiederum die Zulassung des zugrunde liegenden Beweismittels ermöglichen würden. Dies wurde als Kompromisslösung angesehen für Situationen, in welchen das fragliche Beweismittel unter anderen Umständen zum Zeitpunkt der Vorlage nicht zugelassen worden wäre.39 Eine solche Kategorie, welche die Entscheidung der Kammer über bestimmte Beweise in der Schwebe hält, schafft allerdings für die Parteien nicht die an sich intendierte Sicherheit darüber, ob ein Beweismittel letztendlich für die Urteilsfindung ver37
IStGH, TC I, Prosecutor v. Thomas Lubanga Dyilo, Beschluss vom 20. 01. 2011, ICC-01/ 04-01/06-1399-Corr, para. 33. S. auch IStGH, TC III, Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo, Beschluss vom 09. 02. 2012, ICC-01/05-01/08-2012-Red, para. 18. 38 Sog. „marked for identification“. 39 S., z. B., IStGH, TC V(a), Prosecutor v. William Samoei Ruto & Joshua Arap Sang, Verhandlungsprotokoll vom 03. 10. 2013, ICC-01/09-01/11-T-41-Red2-ENG, S. 91, Z. 3 – 7 (Vorsitzender Richter Eboe-Osuji: „The concern of the Prosecutor is the context in which you are introducing this material now and they are contesting that you should be able to introduce it now. You did indicate earlier that you may have to accept to mark it for identification and then later on, when you pull it together, you can revisit the question.“).
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wendet wird. Dadurch wird auch die Gesamtmenge der Beweismittel, mit welcher sich die Parteien auseinander setzen müssen, nicht beschränkt.40 Im Übrigen wurde bislang niemals empirisch nachgewiesen, dass eine fortschreitende Beurteilung der Relevanz die Menge sachlicher Beweismittel tatsächlich spürbar reduziert. Die weit gefassten Offenlegungspflichten im Rahmen des IStGH-Statuts verführen die Parteien eher dazu, im Laufe des Verfahrens eine (Über)Fülle an Beweismitteln vorzulegen. Auch die Verfahrensfairness gegenüber der Verteidigung gebietet es nicht, vorab über die potentielle Beweisbedeutung zu entscheiden. Denn die Verteidigung erhält in den verschiedenen Stadien des Verfahrens am IStGH eine Reihe von Dokumenten, welche im Detail die Beweismittel und ihre potentielle Bedeutung für die Anklagepunkte erläutern. Die darin enthaltenen Informationen gehen weit über das hinaus, was der Verteidigung in nationalen Jurisdiktionen zugänglich gemacht wird. Nach Artikel 61(3) des IStGH-Statuts muss die Anklage im Rahmen des Vorverfahrens den Angeschuldigten vor der mündlichen Verhandlung zur Bestätigung der Anklage von den wichtigsten Beweismitteln in Kenntnis setzen.41 Darüber hinaus haben Vorverfahrenskammern, insbesondere in früheren Verfahren am IStGH, die Anklage angewiesen, weitere Hilfsdokumente vorzulegen, um die Verteidigung bei der Auswertung der offengelegten Beweise zu unterstützen.42 Dabei darf nicht 40 Zum Zeitpunkt der letzten Entscheidung in Ruto & Sang umfasste das elektronische Beweismanagementsystem noch 200 Einträge zu Beweismitteln mit dem Zusatz „marked for identification“, welche noch durch die Kammer als zugelassen oder abgelehnt hätten beschieden werden müssen. Aufgrund der Art, wie dieses Hauptverfahren ein Ende nahm, wurde eine solche Entscheidung nie getroffen. 41 Art. 61(3) IStGH-Statut: „Innerhalb einer angemessenen Frist vor der mündlichen Verhandlung a) erhält der Angeschuldigte eine Abschrift des Schriftstücks, aus dem die Anklagepunkte hervorgehen, die der Ankläger zum Gegenstand des Hauptverfahrens zu machen beabsichtigt, und b) wird der Angeschuldigte von den Beweismitteln in Kenntnis gesetzt, auf die sich der Ankläger bei der mündlichen Verhandlung zu stützen beabsichtigt.“ 42 S., z. B., IStGH, PTC III, Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo, Beschluss vom 31. 07. 2008, ICC-01/05-01/08-55, paras 64 – 73; IStGH, PTC III, Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo, Beschluss vom 10. 11. 2008, ICC-01/05-01/08-232; IStGH, PTC I, Prosecutor v. Bahar Idriss Abu Garda, Beschluss vom 15. 07. 2009, ICC-02/05-02/09-35, paras 13 – 15; IStGH, PTC I, Prosecutor v. Abdallah Banda Abakaer Nourain & Saleh Mohammed Jerbo Jamus, Beschluss vom 29. 06. 2010, ICC-02/05-03/09-49, para. 5; IStGH, PTC I, Prosecutor v. Callixte Mbarushimana, Beschluss vom 30. 03. 2011, ICC-01/04-01/10-87, para. 11; IStGH, PTC II, Prosecutor v. William Samoei Ruto et al., Beschluss vom 06. 04. 2011, ICC-01/09-01/ 11-44, paras 21 – 23; IStGH, PTC II, Prosecutor v. Francis Kirimi Muthaura et al., Beschluss vom 06. 04. 2011, ICC-01/09-02/11-48, paras 22 – 24; IStGH, PTC II, Prosecutor v. Bosco Ntaganda, Beschluss vom 12. 04. 2013, ICC-01/04-02/06-47, paras 29 – 32; IStGH, PTC III, Prosecutor v. Laurent Gbagbo, Beschluss vom 24. 01. 2012, ICC-02/11-01/11-30, para. 40; IStGH, PTC I, Prosecutor v. Charles Blé Goudé, Beschluss vom 05. 05. 2014, ICC-02/11-02/ 11-67, para. 14. Ein ähnlicher Ansatz wurde im Hauptverfahren verfolgt: IStGH, TC II, Prosecutor v. Germain Katanga & Mathieu Ngudjolo Chui, Beschluss vom 13. 03. 2009, ICC-01/ 04-01/07-956, paras 11 – 16; IStGH, TC III, Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo, Beschluss vom 29. 01. 2010, ICC-01/05-01/08-682, paras 21 – 28; IStGH, TC I, Prosecutor v.
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vergessen werden, dass zu diesem Zeitpunkt des Verfahrens die Anklagebehörde die Ermittlungen weitestgehend abgeschlossen haben sollte und von ihr erwartet wird, dass sie zum Zeitpunkt der Verhandlung über die Bestätigung der Anklage die meisten und besten Beweismittel vorgelegt hat.43 Nach der mündlichen Verhandlung bestätigt die Vorverfahrenskammer nach Artikel 61(7)(a) die Anklagepunkte und erörtert in der entsprechenden schriftlichen Entscheidung ausführlich die Beweismittel, die sie angesichts der bestätigten Anklagepunkte für besonders wichtig erachtet. Zusätzlich zu dieser Entscheidung erhält die Verteidigung auch einen sogenannten „trial brief“. Dies ist ein weiteres Hilfsdokument, das die Anklagebehörde auf Anordnung der Hauptverfahrenskammern vor Beginn der Hauptverhandlung vorlegt und das die Verteidigung über die Beweismittel informiert, die die Anklagebehörde vorzubringen beabsichtigt.44 Somit ist davon auszugehen, dass die Beweise, auf welche sich die Anklage stützt, von Beginn des Verfahrens an ausführlich dargelegt werden. Dadurch haben alle Beteiligten, insbesondere die Verteidigung, aber auch die Richter/-innen die Möglichkeit, sich mit dem Beweismaterial zu beschäftigen und dementsprechend vorzubereiten. Man könnte sogar argumentieren, dass es kein anderes nationales oder internationales Strafgericht gibt, an dem so viele Dokumente erstellt werden, die der Verteidigung die notwendigen Informationen zum Beweismaterial gegen ihren Mandanten/ihre Mandantin liefern. Ein Bedürfnis dafür, zusätzlich während des lauLaurent Gbagbo & Charles Blé Goudé, Beschluss vom 09. 02. 2018, ICC-02/11-01/15-1124, paras 10 – 12. 43 S. IStGH, AC, Prosecutor v. Callixte Mbarushimana, Urteil vom 30. 05. 2012, ICC-01/ 04-01/10-514, para. 44; IStGH, AC, Prosecutor v. Thomas Lubanga Dyilo, Urteil vom 13. 10. 2006, ICC-01/04-01/06-568, para. 54; IStGH, PTC I, Prosecutor v. Laurent Gbagbo, Beschluss vom 03. 06. 2013, ICC-02/11-01/11-432, para. 25. S. auch IStGH, PTC II, Prosecutor v. Alfred Yekatom & Patrice-Edouard Ngaïssona, Beschluss vom 04. 04. 2019, ICC-01/14-01/ 18-163, para. 28. 44 IStGH, TC I, Prosecutor v. Thomas Lubanga Dyilo, Beschluss vom 09. 11. 2007, ICC-01/ 04-01/06-1019, para. 26; IStGH, TC III, Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo, Verhandlungsprotokoll vom 07. 10. 2009, ICC-01/05-01/08-T-14-ENG, S. 12 Z. 18 bis S. 13 Z. 3 (mit Bezug auf ein „summary of presentation of evidence“); IStGH, TC V, Prosecutor v. William Samoei Ruto & Joshua Arap Sang, Beschluss vom 09. 07. 2012, ICC-01/09-01/11-440, para. 15; IStGH, TC V, Prosecutor v. Francis Kirimi Muthaura & Uhuru Muigai Kenyatta, Beschluss vom 09. 07. 2012, ICC-01/09-02/11-451, para. 20; IStGH, TC VI, Prosecutor v. Bosco Ntaganda, Beschluss vom 06. 02. 2015, ICC-01/04-02/06-450, paras 88 – 89; IStGH, TC I, Prosecutor v. Laurent Gbagbo & Charles Blé Goudé, Beschluss vom 07. 05. 2015, ICC02/11-01/15-58, para. 26; IStGH, TC VII, Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo et al., Beschluss vom 10. 06. 2015, ICC-01/05-01/13-992, para. 21; IStGH, TC IX, Prosecutor v. Dominic Ongwen, Beschluss vom 30. 05. 2016, ICC-02/04-01/15-449, para. 8. S. auch das IStGH Chambers Practice Manual, 4. Aufl. November 2019, para. 75 („A ,Pre-trial brief‘, or its equivalent, has been filed in nearly all cases and is standard practice. Such briefs may be filed by any participant in advance of the commencement of trial, but it is particularly incumbent on the Prosecutor to provide such a brief – which should henceforth be termed a ,Trial Brief‘.“), abrufbar unter https://www.icc-cpi.int/iccdocs/other/191129-chamber-manualeng.pdf.
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fenden Verfahrens durch Zulässigkeitsentscheidungen offenkundig irrelevante Beweise aus dem Verfahren auszuscheiden, ist nicht zu sehen. Angesichts dessen darf im Übrigen von einem erfahrenen Verteidiger erwartet werden, die von der Anklage vorgelegten Beweise kundig zu sichten, und dabei die besonders wichtigen Beweismittel von weniger erheblichen oder geeigneten Beweisen zu unterscheiden. Insbesondere in Anbetracht der oben genannten Hilfsdokumente mit Erläuterungen zu den wesentlichen Beweismitteln erscheint es als nutzlos und unnötig, die Verteidigung, aber auch die Staatsanwaltschaft, kontinuierlich darüber aufzuklären, welche Beweise von den Kammern als offensichtlich unerheblich oder unzulässig eingestuft werden. Schließlich wird gegen den zweiten Ansatz vorgebracht, dass das Sammeln von Beweisen in internationalen Strafverfahren weniger detaillierten Regeln unterliegt als in manchen nationalen Systemen; außerdem hänge es im Normalfall von der Kooperation der jeweiligen Staaten ab, in denen die Ermittlungshandlung (z. B. die Befragung von Zeugen oder die Inspektion und unter Umständen Beschlagnahme von Dokumenten) stattfindet – und damit wohl auch vom jeweilig anzuwendenden nationalen Gesetzesrahmen.45 Dadurch könnte es für die Richter/-innen am IStGH von besonderer Bedeutung sein, sich eingehend gerade auch mit der Zulässigkeit der ihnen vorgelegten Beweismittel zu beschäftigen. Dieses Argument betrifft allerdings die Frage, ob der Einführung und Verwertung eines Beweises prozessuale Hindernisse entgegenstehen. Eine solche prozessuale Zulässigkeit der Beweise ist selbstverständlich auch nach dem Zweiten Ansatz zum Zeitpunkt der Vorlage zu prüfen, wenn dazu Anlass besteht oder die Parteien entsprechende Einwände erheben. Dies hat jedoch mit der Frage der potentiellen Relevanz des betreffenden Beweismittels nichts zu tun. Dementsprechend beschließen die Kammern auch im Rahmen des Zweiten Ansatzes über die Zulässigkeit von Beweismitteln während der Hauptverhandlung, wenn prozessuale Hindernisse der Einführung im Wege stehen würden. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn behauptet wird, dass ein Beweismittel im Sinne von Artikel 69(7) durch Verletzung des IStGH-Statuts oder international anerkannter Menschenrechte erlangt wurde.46 Dies gilt ebenso, wenn festgestellt werden muss, ob die Voraussetzungen von Regel 68 der Verfah45 Vgl. Jackson/Brunger, in: van Sliedregt/Vasiliev, Pluralism in International Criminal Law, 2014) S. 169 ff.; Fairlie, 47 Georgia Journal of International and Comparative Law 619 (2019), S. 623; Guariglia, 16 Journal of International Criminal Justice 315 (2018), S. 336 f. 46 Art. 69(7): „Beweismittel, die durch Verletzung dieses Statuts oder international anerkannter Menschenrechte erlangt wurden, sind nicht zulässig, wenn a) die Verletzung erhebliche Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit entstehen lässt oder b) ihre Zulassung im grundsätzlichen Widerspruch zur Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens stehen und dieser schweren Schaden zufügen würde.“ S. auch R. 63(3) („A Chamber shall rule on an application of a party or on its own motion, made under article 64, subparagraph 9 (a), concerning admissibility when it is based on the grounds set out in article 69, paragraph 7“. S. auch IStGH, AC, Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo et al., Urteil vom 08. 03. 2018, ICC-01/05-01/13-2275-Red, para. 581.
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rens- und Beweisordnung erfüllt sind. Diese Regel ermöglicht anstelle der persönlichen Vernehmung eines Zeugen/einer Zeugin den Urkundenbeweis mit einer Niederschrift über eine Vernehmung oder einer schriftlichen Erklärung.47 Auch ob Aussagen, die im Rahmen von Artikel 56 des IStGH-Statuts im Laufe des Vorverfahrens gesammelt wurden, im Hauptverfahren zulässig sind, wäre als prozedural vorab zu klären.48 Die Klärung möglicher prozessualer Hindernisse der Einführung bestimmter Beweise kann nicht auf den Zeitpunkt des Urteils (Artikel 74 IStGH-Statut) verschoben werden; über sie ist vielmehr auch im Rahmen des Zweiten Ansatzes bereits während des laufenden Hauptverfahrens zu entscheiden.
III. Ausblick Der vorliegende Beitrag hat am Beispiel der Beurteilung von Zulässigkeit und Relevanz sachlicher Beweismittel im Hauptverfahren vor dem IStGH aufgezeigt, dass es bei der praktischen Umsetzung des hybriden Prozesssystems des Römischen Statuts in wesentlichen Fragen nach wie vor unterschiedliche Lösungsansätze gibt. Tendenziell scheint die konkrete Ausgestaltung des Verfahrensablaufs vor allem darauf zu beruhen, aus welcher Rechtstradition – „common law“ oder „civil law“ – die beteiligten Richter und Richterinnen stammen.
47 R. 68(2)(b) ermöglicht die Vorlage der Niederschrift einer Vernehmung oder einer schriftlichen Erklärung einer Person, die nicht vor der Hauptverfahrenskammer erscheint, falls eine solche Urkunde nicht das Handeln und Verhalten des Angeklagten betreffen. Insbesondere muss eine solche Urkunde zusammen mit einer Erklärung der betreffenden Person vorgelegt werden, die bestätigt, dass der Inhalt der Urkunde wahr und richtig ist, sowie einer Erklärung einer Person, die die erste Erklärung bezeugen kann. R. 68(2)(c) ermöglicht die Vorlage der Niederschrift einer Vernehmung oder einer schriftlichen Erklärung einer Person, die später verstarb oder als verstorben gilt, oder die aufgrund von Umständen, welche nicht mit angemessener Sorgfalt überwunden werden können, nicht zur persönlichen Aussage bereit steht. Dies ist jedoch nur möglich, wenn die Kammer davon überzeugt ist, dass die Notwendigkeit, Maßnahmen im Sinne des Artikels 56 („einmalige Gelegenheit zu Ermittlungsmaßnahmen“) zu ergreifen, nicht vorausgesehen werden konnte. R. 68(2)(d) ermöglicht die Vorlage der Niederschrift einer Vernehmung oder einer schriftlichen Erklärung einer Person, die beeinflusst wurde. R. 68(3) ermöglicht die Vorlage der Niederschrift einer Vernehmung oder einer schriftlichen Erklärung einer Person, die vor der Hauptverfahrenskammer erscheint, wenn diese Person der Vorlage nicht widerspricht und die Anklage, die Verteidigung, die Opfervertreter und die Kammer die Gelegenheit haben, den Zeugen in der Verhandlung zu befragen. In diesem Fall ersetzt die Vorlage der Urkunde die Befragung durch die Partei, die den Zeugen aufruft, und ermöglicht die Fokussierung der Befragung des Zeugen auf Punkte, die die Beteiligten und Richter im Gericht hervorbringen möchten. 48 IStGH, TC IX, Prosecutor v. Dominic Ongwen, Beschluss vom 10. 08. 2016, ICC-02/0401/15-520. Weitere Regeln finden sich auch in R. 71, 72 Verfahrens- und Beweisordnung; s. in diesem Zusammenhang auch IStGH, AC, Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo et al., Urteil vom 08. 03. 2018, ICC-01/05-01/13-2275-Red, para. 581.
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Dabei kann das Römische Statut im Allgemeinen weder eindeutig dem „civil law“ noch dem „common law“ zugeordnet werden.49 Somit kann auch keines dieser beiden Systeme für sich beanspruchen, als Hauptbezugspunkt und Auslegungsmaßstab zu dienen. Stattdessen haben die Verfasser und Verfasserinnen des Römischen Statuts ein sui generis-Verfahren geschaffen, welches Aspekte beider Systeme vereint. Den Richter/-innen des IStGH obliegt es, den konkreten Verfahrensablauf an den rechtlichen Rahmen im Sinne der von den Verfassern bewusst geschaffenen Kompromissformel anzupassen. Dabei können und sollen die Herausforderungen in der praktischen Umsetzung des Statuts nicht hinweg diskutiert werden. Der Autor ist aber davon überzeugt, dass die Vorschriften des Statuts in einer Art und Weise interpretiert und praktiziert werden können, die der Effizienz der internationalen Strafjustiz dient und dabei zugleich die Grundsätze eines fairen Verfahrens beachtet. Dies wird jedoch nicht automatisch zu einer einheitlichen Rechtsprechung führen. Zwar ist eine gewisse Vereinheitlichung der Verfahrensgestaltung wünschenswert, da sie die Vorhersehbarkeit des Verfahrens fördert, was auch der Fairness gegenüber den Parteien sowie der Effizienz der Verfahren zugute käme.50 Zahlreiche prozessuale Entscheidungen liegen aber im Ermessen der Richter/-innen, und angesichts des ihnen vom Statut zuerkannten Spielraums wird sich deshalb der prozessuale Rahmen einzelner Verfahren stets in einem gewissen Maß unterscheiden; dies gilt namentlich, wenn es um die hier erörterte Frage der Zulässigkeit von Beweisen und ihrer Erheblichkeit geht. Das mag unbefriedigend erscheinen, ist aber angesichts des beschriebenen Beurteilungsspielraums zumindest für eine gewisse Übergangsphase unvermeidlich. Damit die Parteien und Verfahrensbeteiligten in der Lage sind, sich auf die konkrete Handhabung vorzubereiten, müssen sie allerdings von den Kammern sobald wie möglich, und lange vor Beginn der Hauptverhandlung darüber informiert werden, welche Regeln im betreffenden Verfahren gelten werden. Im Übrigen ist darauf zu vertrauen, dass sich mit fortschreitender Zahl durchgeführter Prozesse eine einheitliche Verfahrenspraxis etablieren wird, welche die Lehren aus den Erfahrungen mit verschiedenen Verfahrensweisen zieht und den rechtlichen Rahmen bestmöglich ausfüllt; dabei kann es 49 S. auch, speziell in Bezug auf den prozessualen Rahmen: Fernández de Gurmendi/Friman, in: José Doria et al. (Hrsg.), The Legal Regime of the International Criminal Court. Essays in Honour of Professor Igor Blishchenko, 2009, S. 806; Kress, 1 Journal of International Criminal Justice 603 (2003), S. 605. 50 Vgl. Kuczyn´ska, The Accusation Model Before the International Criminal Court. Study of Convergence of Criminal Justice Systems, 2015, S. 353, die in Betrachtung vor allen Dingen des Verhaltens von Richtern/-innen im Laufe von Hauptverhandlungen argumentiert, dass dieses recht unvorhersehbar scheint und eine allzu große Diversität in der Herangehensweise insofern wenig wünschenswert sei, als es der Rechtsicherheit und Vorhersehbarkeit nicht zudienlich sei. Ähnlich auch Caianiello, 9 Journal of International Criminal Justice 385 (2011), S. 386. Andernorts wird ebenfalls erwähnt, dass die gegebene Flexibilität auch gewisse Unsicherheit mit sich bringt: s. Fernández de Gurmendi/Friman, in: José Doria et al. (Hrsg.), The Legal Regime of the International Criminal Court. Essays in Honour of Professor Igor Blishchenko, 2009, S. 809; oder Nerlich, 26 Leiden Journal of International Law 777 (2013), S. 781.
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sich je nach Prozesslage und Verfahrensproblem um Lösungen handeln, die einmal mehr „common law“, ein anderes Mal mehr „civil law“-Rechtsvorstellungen entlehnt sind. Es ist zwar verständlich, dass Richter/-innen in der Ausgestaltung des ihnen eingeräumten Ermessensspielraums ihre berufliche Erfahrung nicht einfach ausblenden können. Wenn man jedoch darauf besteht, es müsse so prozediert werden, wie man das gewohnt ist, widerspricht dies den Intentionen der Verfasser und Verfasserinnen des Römischen Statuts und steht der effektiven Durchführung der Verfahren im Wege. Um als Richter/Richterin am IStGH mit Kollegen aus sehr unterschiedlichen Rechtssystemen und mit einem rechtlichen Rahmen, der verschiedene Rechtstraditionen kombiniert, zu arbeiten, benötigt es vielmehr Offenheit und die Bereitschaft, von einander zu lernen. Es bedarf der Einsicht, dass kein Rechtssystem dem anderen überlegen ist, sowie der Fähigkeit, Rechtsansichten und Lösungsansätze, die man vielleicht vor dem eigenen Erfahrungshintergrund als selbstverständlich annehmen würde, in Frage zu stellen. Während der Autor beruflich in der „civil law“-Tradition verwurzelt ist, hat er sich doch auch in vielerlei Hinsicht, wenn auch nicht zur hier erörterten Rechtsfrage, Konzepten des „common law“ angenähert, wenn deutlich wurde, dass diese besser mit den besonderen Umständen von Völkerstrafrechtsverfahren am IStGH und dessen rechtlichem Rahmen vereinbar sind.51 Dass es alles andere als einfach ist, rechtliche Diversität und unterschiedliche berufliche Erfahrungshorizonte in Einklang zu bringen, wurde schon in den ersten Tagen der internationalen Strafjustiz anerkannt. Robert H. Jackson, Chefankläger in Nürnberg, sprach die Schwierigkeit, Elemente des „civil law“ im Verfahren in Betracht zu ziehen, wie folgt an: „Members of the legal profession acquire a rather emotional attachment to forms and customs to which they are accustomed and frequently entertain a passionate conviction that no unfamiliar procedure can be morally right.“52
In gewisser Weise ist es beruhigend zu wissen, dass sich schon die Vorgänger des IStGH mit den gleichen Problemen konfrontiert sahen wie die Richter/-innen noch heute. Zwar mögen die Zeiten sich ändern, gewisse kulturelle Muster und menschliches Verhalten ändern sich jedoch nicht. Dennoch blickt der Autor der Zukunft positiv entgegen. Richter/-innen am IStGH, unabhängig von ihrer beruflichen Sozialisation und unabhängig vom Rechtssystem, in dem sie geschult sind, eint letztlich 51 Dazu gehören ohne Anspruch auf Vollständigkeit die prinzipielle Ausgestaltung des Verfahrens, insbesondere der Beweisaufnahme, als Parteienprozess, die daraus folgende, im Vergleich zum deutschen Strafverfahren deutlich zurückhaltendere Rolle des Vorsitzenden Richters, die sich während der Verhandlung vorwiegend auf die Entscheidung über prozessuale Einwände der Parteien konzentriert, sowie das Recht des Angeklagten, unter Eid als Zeuge in eigener Sache auszusagen. 52 Robert H. Jackson bei der internationalen Konferenz in London im Jahr 1945. S. Report of Robert H. Jackson United States Representative to the International Conference on Military Trials, veröffentlicht February 1949, S. x, abrufbar unter https://www.loc.gov/rr/frd/Military_ Law/pdf/jackson-rpt-military-trials.pdf.
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immer die gemeinsame, universelle Aufgabe als Juristen des Völkerstrafrechts zum Gelingen der internationalen Strafjustiz beizutragen. Der Autor ist aus diesem Grund davon überzeugt, dass eine bewusste und methodische Auseinandersetzung mit den Herausforderungen eines hybriden prozessualen Systems, sowie eine fortlaufende Betrachtung und Einordnung der Erfahrungen und gewonnenen Erkenntnisse dazu beitragen werden, weiterhin bestehende praktische Probleme zu überwinden. Der Autor ist zuversichtlich, dass dieser Prozess zu einem Verfahren führen wird, das Aspekte des „common law“ und des „civil law“ sinnvoll zusammen führt und damit die rechtliche Diversität zu einer Stärke des Internationalen Strafgerichtshofs macht.
Strafzwecke und Strafzumessung in der Praxis des Internationalen Strafgerichtshofs Von Gerhard Werle und Aziz Epik* Die Frage nach Rechtfertigung und Zweck der Strafe ist im Völkerstrafrecht ebenso bedeutend wie im Kontext staatlicher Strafrechtsordnungen. Ihre Beantwortung ist zur Legitimation des Völkerstrafrechts als angemessene rechtsförmige Reaktion der internationalen Gemeinschaft auf Völkerrechtsverbrechen unerlässlich.1 Auf einer weniger grundsätzlichen – aber für die Rechtsanwendung nicht minder wichtigen – Ebene geht es dabei um die Ziele, welche die Richterinnen und Richter des Internationalen Strafgerichtshofs mit ihrem Strafausspruch gegenüber einem konkreten Angeklagten verfolgen. Die Bestimmung der Strafzwecke ist dabei wesentliche Grundlage einer fairen, einheitlichen sowie tat- und schuldangemessenen Strafzumessungspraxis; sie bestimmen Methode, Kriterien und Ergebnis.2 Die Ermittlung der tragenden Strafzwecke hat daher jeder Strafzumessungsentscheidung voranzugehen, sie bildet das Fundament des gesamten Strafzumessungsvorgangs. Diese Ebene ist für den vorliegenden Beitrag von Interesse. Vor diesem Hintergrund wird im weiteren Verlauf kurz3 das dem IStGH-Statut insoweit zugrunde liegende Strafzweckkonzept rekapituliert, bevor auf dieser Grundlage ein praktikables Strafzumessungsmodell entworfen wird, das zu einer schlüssigen, fairen und proportionalen Strafzumessungspraxis beitragen und zugleich dem verschiedentlich erhobenen Vorwurf begegnen kann, die Strafzumessung im Völkerstrafrecht sei inkonsistent und unvorhersehbar.4 * Gerhard Werle ist Professor für deutsches und internationales Strafrecht, Strafprozessrecht und Juristische Zeitgeschichte. Aziz Epik ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Die Autoren danken Frau Lisa Marie von Mansberg für ihre Unterstützung bei der Recherche für diesen Beitrag. 1 Vgl. de Guzman, in: Stahn (Hrsg.), The Law and Practice of the International Criminal Court, 2015, 932 ff.; Werkmeister, Straftheorien im Völkerstrafrecht, 2015, S. 42 f. 2 Vgl. Epik, Strafzumessung bei Taten nach dem Völkerstrafgesetzbuch, Tübingen 2017, S. 19; Melloh, Einheitliche Strafzumessung in den Rechtsquellen des IStGH-Statuts, 2010, S. 39; ähnlich Book, Appeal and Sentence in International Criminal Law, 2011, S. 28 f. 3 Eingehend Epik, Strafzumessung (Fn. 2), S. 80 ff.; Werle/Epik, in: Jeßberger/Geneuss (Hrsg.), Why Punish Perpetrators of Mass Atrocities, 2020, Chapter 18, 323 ff. 4 Vgl. etwa Ambos, Internationales Strafrecht, 5. Aufl., München 2018, § 7 Rn. 287; Book, Appeal and Sentence (Fn. 2), S. 13 f.; Holá/Smeulers/Bijleveld, Leiden Journal of International Law 22 (2009), 79, 80; Meernik/King, Leiden Journal of International Law 16 (2003), 717 (718).
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I. Das Strafzweckkonzept des IStGH-Statuts Das IStGH-Statut enthält ebenso wie die Verfahrens- und Beweisordnung keine Bestimmung, welche die strafzumessungsrelevanten Strafzwecke benennt.5 Die Auslegung der Präambel6 und weiterer Bestimmungen verdeutlicht jedoch, dass sich die im Kontext staatlichen Strafrechts anerkannten Strafzwecke – mit all ihren Vor- und Nachteilen – im Wesentlichen auf das Völkerstrafrecht übertragen lassen, wobei den Besonderheiten des Völkerstrafrechts durch entsprechende Anpassung und Gewichtung Rechnung getragen werden kann.7 Wie in den meisten staatlichen Strafrechtsordnungen und insbesondere auch nach deutschem Recht ist es daher nicht ein einzelner Strafzweck, der die Strafe gegenüber dem Täter legitimiert und die Strafzumessung bestimmt, sondern – im Sinne einer Vereinigungstheorie – das Zusammenspiel retributiver und präventiver Straftheorien.8 Vorrang beansprucht dabei eine moderne Form der Vergeltungstheorie („retribution“),9 nach der die Kriminalstrafe einen „gerechten Schuldausgleich“10 durch die Verhängung einer proportional zum verursachten Unrecht und zur Verantwortlichkeit des Täters bemessenen Strafe bewirken soll.11 Das Prinzip des gerechten Schuld5
IStGH, Beschl. v. 23. Mai 2014 (TC), The Prosecutor v. Katanga, ICC-01/04-01/07-3484, para 37; IStGH, Urt. v. 27. September 2016 (TC), The Prosecutor v. Al Mahdi, ICC-01/12-01/ 15-171, para 66; IStGH, Beschl. v. 7. November 2019, The Prosecutor v. Ntaganda, ICC-01/ 04-02/06-2442, para 9. 6 Vgl. dazu IStGH, Beschl. v. 10. Juli 2012 (TC), The Prosecutor v. Lubanga Dyilo, ICC01/04-01/06-2901, para 16; IStGH, Urt. v. 27. September 2016 (Al Mahdi, TC), para 66; IStGH, Beschl. v. 7. November 2019 (Ntaganda, TC), para 9. 7 Vgl. Werle, ZStW 109 (1997), 808 (821 ff.); Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, 4. Aufl., Tübingen 2016, Rn. 115; s. auch D’Ascoli, Sentencing in International Criminal Law, 2011, S. 295; Epik, Strafzumessung (Fn. 2), S. 80 ff.; dazu grundlegend JStGH, Urt. v. 29. November 1996 (TC), Prosecutor v. Erdemovic´, IT-96-22-T, para 62; kritisch Sloane, The Expressive Capacity of International Punishment: The Limits of the National Law Analogy and the Potential of International Criminal Law, Stanford Journal of International Law 43 (2007), 39, 40 ff., 45 ff.; Tallgren, The Sensibility and Sense of International Criminal Law, European Journal of International Law 13 (2002), 561 ff. 8 Vgl. D’Ascoli, Sentencing (Fn. 7), S. 295; Epik, Strafzumessung (Fn. 2), S. 152; Lagodny, ZStW 113 (2001), 800 (806); May, in: May/Brown (Hrsg.), Philosophy of Law, 2010, 423 ff.; Neubacher, Kriminologische Grundlagen einer internationalen Strafgerichtsbarkeit, 2005, S. 422 ff.; Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht (Fn. 7), Rn. 115 ff. 9 IStGH, Beschl. v. 23. Mai 2014 (Katanga, TC), paras 37 f.; IStGH, Beschl. v. 21. Juni 2016 (TC), The Prosecutor v. Bemba Gombo, ICC-01/05-01/08-3399, paras 10 f.; IStGH, Urt. v. 27. September 2016 (Al Mahdi, TC), paras 66 f.; IStGH, Beschl. v. 7. November 2019 (Ntaganda, TC), para 9. 10 Dass Strafe dem „gerechten Schuldausgleich“ diene, vertritt auch der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung, vgl. nur BGHSt 24, 132, 134; 29, 319, 320; 34, 345, 349 sowie Epik, Strafzumessung (Fn. 2), S. 27 f. m.w.N. 11 JStGH, Urt. v. 17. Dezember 2004 (AC), Prosecutor v. Kordic´ and Cˇ erkez, IT-95-14/2-A, para 1075; JStGH, Urt. v. 17. März 2009 (AC), Prosecutor v. Krajisˇnik, IT-00-39-A, paras 775, 804; s. auch Drumbl, Atrocity, Punishment, and International Law, 2007, S. 150; Epik, Strafzumessung (Fn. 2), S. 85 ff. m.w.N. (S. 85 Fn. 37).
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ausgleichs bietet eine Richtschnur für den Strafzumessungsvorgang und begrenzt zugleich das zulässige Strafmaß durch das ihm inhärente Proportionalitätsprinzip,12 sodass die Gefahr disproportionaler Strafen in Folge tat- und schuldindifferenter Erwägungen eingehegt wird. Die Anerkennung retributiver Erwägungen folgt bereits aus dem vierten und fünften Absatz der Präambel des IStGH-Statuts, welche die Bestrafung von Völkerrechtsverbrechen – im Grundsatz losgelöst von anderen Zielsetzungen – für geboten erklärt.13 Der Gedanke des gerechten Schuldausgleichs als Ausprägung des Schuldprinzips14 ist aber auch den Strafzumessungsvorschriften des Statuts sowie der Verfahrens- und Beweisordnung zu entnehmen.15 Art. 78 Abs. 1 des IStGH-Statuts, der die Schwere des Verbrechens zum zentralen Strafzumessungskriterium erklärt, und Rule 145 Abs. 1 lit. a) der Verfahrens- und Beweisordnung, die zentral auf die individuelle Verantwortlichkeit des Täters abstellt, lassen sich als Ausprägungen dieses Grundsatzes identifizieren.16 Sie stehen einer disproportional zum verschuldeten Unrecht bemessenen Strafe entgegen. Ferner können wichtige Strafzumessungskriterien am ehesten von einem retributiven Standpunkt aus erklärt werden.17 Schließlich kommt der Grundsatz schuldproportionalen Strafens auch in dem von Art. 83 Abs. 3 IStGH-Statut definierten Maßstab für die Überprüfung des Strafausspruchs durch die Rechtsmittelkammer zum Ausdruck, da die Rechtsmittelkammer nach dieser Vorschrift das Strafmaß abändern kann, wenn dieses nicht im Verhältnis zur begangenen Tat steht. Ob das Strafmaß verhältnismäßig ist, soll sich nach Auffassung der Rechtsmittelkammer anhand des durch die Tat verursachten Schadens und der Verantwortlichkeit des Täters bestimmen.18 Die Norm
JStGH, Urt. v. 17. Dezember 2004 (Kordic´ and Cˇ erkez, AC), para 1075. IStGH, Beschl. v. 21. Juni 2016 (Bemba Gombo, TC), para 10; IStGH, Urt. v. 27. September 2016 (Al Mahdi, TC), paras 66 f.; IStGH, Beschl. v. 7. November 2019 (Ntaganda, TC), para 9; vgl. Heller, A Sentence-Based Theory of Complementarity, Harvard International Law Journal 53 (2012), 85, 127 Fn. 220; Schmitt, in: Fischer/Hoven (Hrsg.), Schuld, 2017, 251 (261); Triffterer/Bergsmo/Ambos, Preamble, in: Triffterer/ Ambos (Hrsg.), The Rome Statute of the International Criminal Court: A Commentary, 3. Aufl., 2016, Präambel Rn. 15. 14 Zur Geltung des Schuldprinzips im Völkerstrafrechts vgl. Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht (Fn. 7), Rn. 133 ff. 15 Vgl. Epik, Strafzumessung (Fn. 2), S. 82 m.w.N.; Die Rechtsmittelkammer des IStGH hat den Grundsatz der Schuldproportionalität als „overarching requirement“ qualifiziert, IStGH, Urt. v. 1. Dezember 2014 (AC), The Prosecutor vs. Lubanga Dyilo, ICC-01/04-01/063122, para 33; auch IStGH, Beschl. v. 23. Mai 2014 (Katanga, TC), paras 37 f. und IStGH, Urt. v. 27. September 2016 (Al Mahdi, TC), para 67, erkennen diesen an. 16 Vgl. D’Ascoli, Sentencing (Fn. 7), S. 29; Epik, Strafzumessung (Fn. 2), S. 82; Peglau, in: Fischer/Kreß/Lüder (Hrsg.), International and National Prosecution of Crimes Under International Law, 2001, 141, 147; Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht (Fn. 7), Rn. 134. 17 Vgl. Cryer et al., An Introduction to International Criminal Law and Procedure, 3. Aufl., 2014, S. 503 f.; Danner, Virginia Law Review 87 (2001), 415 (452 f.); Epik, Strafzumessung (Fn. 2), S. 82 f. 18 IStGH, Urt. v. 1. Dezember 2014 (Lubanga Dyilo, AC), para 40. 12
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wird dementsprechend zu Recht als Ausfluss eines retributiv ausgerichteten Proportionalitätsprinzips verstanden.19 Im Zusammenhang mit retributiven Erwägungen hat der Internationale Strafgerichtshof wiederholt auch auf die expressiv-kommunikative Funktion der Strafe Bezug genommen.20 Die Kammern grenzen dabei ihr Konzept von „Vergeltung“ klar von solchen Positionen ab, die den Bestrafungsakt gegenüber dem Täter mit dem Bedürfnis nach Rache oder ähnlich archaisch anmutenden Erwägungen begründen.21 Von erheblicher Bedeutung sind auch präventive Strafzwecke, die bereits bei der Strafmaßbestimmung zu berücksichtigen sind: In Rechtsprechung und Literatur wird dabei der abschreckenden Wirkung des Völkerstrafrechts erhebliche Bedeutung beigemessen, wobei unter dem Stichwort Abschreckung („deterrence“) die – in der deutschen Strafrechtstheorie stets separat erörterten – Theorien der negativen General- und Spezialprävention zusammengefasst werden.22 Im Kontext des IStGH-Statut lassen sie sich jeweils als einschlägige Strafzwecke qualifizieren.23 Dies ergibt sich bereits aus dem fünften Absatz der Präambel des Statuts,24 mittelbar aber auch aus Art. 78 Abs. 1 IStGH-Statut, der die „persönlichen Verhältnisse des Verurteilten“ zu einem zentralen Strafzumessungskriterium erklärt, auf das es bei der Bestimmung
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Vgl. Nemitz, Strafzumessung im Völkerstrafrecht, 2002, S. 15. Zum Verhältnis zwischen Proportionalität und Vergeltung vgl. auch D’Ascoli, Sentencing (Fn. 7), S. 25 ff., 64 ff.; Henham, Journal of International Criminal Justice 5 (2007), 757 (758); kritisch dagegen de Guzman, in: Stahn (Hrsg.), The Law and Practice of the International Criminal Court, 2015, 932 (936 ff.). 20 IStGH, Beschl. v. 23. Mai 2014 (Katanga, TC), para 38; IStGH, Beschl. v. 21. Juni 2016 (Bemba Gombo, TC), para 11; IStGH, Urt. v. 27. September 2016 (Al Mahdi, TC), para 67; IStGH, Beschl. v. 7. November 2019 (Ntaganda, TC), para 10; vgl. im Einzelnen zu expressiven Straftheorien Hörnle, Straftheorien, 2. Aufl., 2017, S. 31 ff. 21 IStGH, Beschl. v. 21. Juni 2016 (Bemba Gombo, TC), para 11; vgl. auch IStGH, Beschl. v. 23. Mai 2014 (Katanga, TC), para 38. 22 IStGH, Beschl. v. 21. Juni 2016 (Bemba Gombo, TC), para 11; IStGH, Urt. v. 27. September 2016 (Al Mahdi, TC), para 67; IStGH, Beschl. v. 7. November 2019 (Ntaganda, TC), paras 9 f.; vgl. auch Cryer et al., Introduction (Fn. 17), S. 32 f. Aus der Rechtsprechung der Ad-hoc-Strafgerichtshöfe siehe nur JStGH, Urt. v. 17. Dezember 2004 (Kordic´ and Cˇ erkez, AC), paras 1076 f.; JStGH, Urt. v. 24. März 2016 (TC), Prosecutor v. Karadzˇ ic´, IT-95-5/18-T, para 6026; für weitere Nachweise vgl. Epik, Strafzumessung (Fn. 2), S. 107 Fn. 126. 23 IStGH, Beschl. v. 23. Mai 2014 (Katanga, TC), para 38; IStGH, Beschl. v. 21. Juni 2016 (Bemba Gombo, TC), paras 10 f.; IStGH, Urt. v. 27. September 2016 (Al Mahdi, TC), paras 66 f.; IStGH, Beschl. v. 7. November 2019 (Ntaganda, TC), paras 9 f. 24 IStGH, Beschl. v. 23. Mai 2014 (Katanga, TC), paras 37 f.; IStGH, Beschl. v. 21. Juni 2016 (Bemba Gombo, TC), para 10; IStGH, Beschl. v. 7. November 2019 (Ntaganda, TC), para 9; vgl. D’Ascoli, Sentencing (Fn. 7), S. 272 f.; Epik, Strafzumessung (Fn. 2), S. 106; Nemitz, Strafzumessung (Fn. 19), S. 16 ff.; Schmitt, in: Fischer/Hoven (Hrsg.), Schuld, 2017, 251 (261); Triffterer/Bergsmo/Ambos, Preamble (Fn. 13), Rn. 15; Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht (Fn. 7), Rn. 119.
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des zur effektiven Abschreckung des Täters erforderlichen Strafmaßes entscheidend ankommen kann.25 Aus der Präambel – insbesondere aus den Absätzen 5 und 11 – wird ferner abgeleitet, dass die positive Generalprävention auch im Recht des Internationalen Strafgerichtshofs ein Strafzweck von Gewicht ist.26 Positive Generalprävention zielt im Kontext des Völkerstrafrechts darauf ab, ein entsprechendes Normbewusstsein zu schaffen und bereits vorhandenes Normvertrauen zu stärken sowie langfristig Frieden und Versöhnung zu erreichen.27 Eine wesentliche Funktion der Bestrafung von Völkerrechtsverbrechern wird daher darin gesehen, „der Menschheit zum Bewußtsein [zu] bringen, daß das Völkerrecht Recht ist und auch schließlich gegenüber dem Rechtsbrecher durchgesetzt wird“28, und damit unzweifelhaft klarzustellen, dass die internationale Gemeinschaft die Begehung von Völkerrechtsverbrechen nicht toleriert.29 Gegenüber den Opfern und ihren Angehörigen wird durch die strafrechtliche Aufarbeitung makrokriminellen Unrechts anerkannt, dass ihnen Unrecht geschehen ist, Täter werden identifiziert und ihre Schuld wird benannt – dies dient der nachhaltigen Friedenssicherung, indem einer Kollektivschuldthese ebenso wie der Geschichtsleugnung vorgebeugt wird.30 Die in zahlreichen staatlichen Rechtsordnungen zentrale Theorie der positiven Spezialprävention beansprucht auch im Völkerstrafrecht Geltung.31 Resozialisierung wird als Strafziel durch die internationalen Menschenrechte garantiert.32 Sie findet im IStGH-Statut zwar keine ausdrückliche Erwähnung.33 Die nach Art. 78 Abs. 1 IStGH-Statut und Rule 145 der Verfahrens- und Beweisordnung vorgesehene Be25
Vgl. Epik, Strafzumessung (Fn. 2), S. 106. Vgl. Ambos/Nemitz, in: Klip/Sluiter (Hrsg.), Annotated Leading Cases of International Criminal Tribunals, Vol. II: The International Criminal Tribunal for Rwanda 1994 – 1999, 2001, 835 f.; Epik, Strafzumessung (Fn. 2), S. 140; Melloh, Strafzumessung (Fn. 2), S. 305 ff.; Nemitz, Strafzumessung (Fn. 19), S. 14 ff. 27 IStGH, Beschl. v. 23. Mai 2014 (Katanga, TC), para 38; IStGH, Beschl. v. 21. Juni 2016 (Bemba Gombo, TC), para 11; IStGH, Urt. v. 27. September 2016 (Al Mahdi, TC), para 67; vgl. Ambos, Internationales Strafrecht (Fn. 4), § 5 Rn. 4; de Guzman, in: Stahn (Hrsg.), The Law and Practice of the International Criminal Court, 2015, 932 (957 f.); Reuss, Zivilcourage als Strafzweck des Völkerstrafrechts, Berlin 2012, S. 14; Werkmeister, Straftheorien (Fn. 1), S. 253 ff.; Werle, ZStW 109 (1997), 808, 821. 28 Jescheck, Die Verantwortlichkeit der Staatsorgane nach Völkerstrafrecht, 1952, S. 195. 29 Golash, in: May/Hoskins (Hrsg.), International Criminal Law and Philosophy, 2010, 201 (217 ff.); Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht (Fn. 7), Rn. 119. 30 Vgl. Epik, Strafzumessung (Fn. 2), S. 146 f.; Golash, in: May/Hoskins (Hrsg.), International Criminal Law and Philosophy, 2010, 201 (218); Werle, ZStW 109 (1997), 808, 821 f.; Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht (Fn. 7), Rn. 123, 125 f. Dazu kritisch Drumbl, Atrocity (Fn. 11), S. 150. 31 Dazu Burghardt/Epik, ZIS 2019, 286 (290 ff., 297); Epik, Strafzumessung (Fn. 2), S. 119 ff.; Werkmeister, Straftheorien (Fn. 1), S. 226 ff., 272. 32 Vgl. Art. 10 Abs. 3 IPbpR. 33 Für eine Herleitung aus der Präambel aber Nemitz, Strafzumessung (Fn. 19), S. 16 ff. 26
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rücksichtigung der persönlichen Verhältnisse des Verurteilten (Alter, Erziehung, soziale und wirtschaftliche Lage) lässt allerdings durchaus Raum für einen Rückgriff auf positiv-spezialpräventive Erwägungen.34 Zudem gewährt Art. 110 Abs. 4 lit. c) IStGH-Statut i.V.m. Rule 223 lit. b) der Verfahrens- und Beweisordnung dem Gedanken der Resozialisierung ausdrücklich Einfluss auf die Entscheidung über die Herabsetzung des Strafmaßes nach Verbüßung von zwei Dritteln der Haftstrafe. In einer Zusammenschau mit Abs. 5 der Präambel, der die Entschlossenheit der Vertragsstaaten zur Verhütung von Völkerrechtsverbrechen in der Zukunft zum Ausdruck bringt, lassen diese Vorschriften den Schluss zu, dass positiv-spezialpräventive Erwägungen bereits bei der Strafzumessung von Bedeutung sind.35 Der Resozialisierung des Täters wird jedoch im Verhältnis zu den übrigen Strafzwecken ein deutlich geringeres Gewicht beigemessen.36 Weitere Strafzwecke, insbesondere die Sicherungsspezialprävention,37 können nicht eindeutig aus dem Statut oder der Verfahrens- und Beweisordnung abgeleitet werden. Allerdings steht dies ihrer Berücksichtigung nicht grundsätzlich entgegen, da der Gerichtshof weitere Strafzwecke berücksichtigen kann, solange dies nicht im Widerspruch zum anwendbaren Recht steht.38 Im Ergebnis folgt das IStGH-Statut einem Vereinigungskonzept. Dabei haben jedoch nicht sämtliche Strafzwecke dasselbe Gewicht; der Gedanke des gerechten Schuldausgleichs dominiert und gibt den Rahmen für die Berücksichtigung weiterer Strafzwecke vor. Nur eine Strafe, die proportional zum verschuldeten Unrecht bemessen wird, ist mit dem Statut und der Verfahrens- und Beweisordnung vereinbar;39 die Berücksichtigung präventiver Erwägungen darf nicht dazu führen, dass eine nicht mehr tat- und schuldangemessene Strafe verhängt wird. Innerhalb dieses Rahmens dominieren die negative Spezial- und Generalprävention, da „deterrence“ von den Kammern neben der Vergeltung klar als vorrangiger Strafzweck qualifiziert worden ist.40 Welches
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Epik, Strafzumessung (Fn. 2), S. 119. Ähnlich D’Ascoli, Sentencing (Fn. 7), S. 273; Melloh, Strafzumessung (Fn. 2), S. 307; Nemitz, Strafzumessung (Fn. 19), S. 16 ff. 36 IStGH, Beschl. v. 23. Mai 2014 (Katanga, TC), para 38; IStGH, Beschl. v. 21. Juni 2016 (Bemba Gombo, TC), para 11; IStGH, Urt. v. 27. September 2016 (Al Mahdi, TC), para 67; IStGH, Beschl. v. 7. November 2019 (Ntaganda, TC), para 10. Dazu kritisch Burghardt/Epik, ZIS 2019, 286 ff. 37 Zur negativen Spezialprävention im Völkerstrafrecht Burghardt/Epik, ZIS 2019, 286 (295). 38 Vgl. Werle/Epik, in: Jeßberger/Geneuss (Hrsg.), Why Punish Perpetrators of Mass Atrocities, 2020, Chapter 18, 331. 39 IStGH, Urt. v. 1. Dezember 2014 (Lubanga Dyilo, AC), para 33. 40 IStGH, Beschl. v. 21. Juni 2016 (Bemba Gombo, TC), para 10; IStGH, Urt. v. 27. September 2016 (Al Mahdi, TC), para 66; IStGH, Beschl. v. 7. November 2019 (Ntaganda, TC), para 9. 35
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Gewicht den übrigen präventiven Strafzwecken zuzumessen ist, kann dagegen nicht exakt bestimmt werden und hängt von den Umständen des Einzelfalles ab.41
II. Strafzwecke und Strafzumessung Wie wirkt sich das zuvor skizzierte Strafzweckkonzept auf die Strafzumessungspraxis des Internationalen Strafgerichtshofs aus? Eines ist klar: Da der Internationale Strafgerichtshof bisher erst sieben Strafzumessungsentscheidungen getroffen hat,42 von denen bislang zwei durch die Rechtsmittelkammer überprüft worden sind,43 kann noch nicht von einer gefestigten Rechtsprechung ausgegangen werden. Zudem fällt auf, dass bisher zwar in sämtlichen Entscheidungen die tragenden Strafzwecke mehr oder weniger ausführlich dargelegt wurden,44 die Kammern es aber unterlassen haben, sich mit den Strafzwecken im Einzelnen und insbesondere mit ihren Auswirkungen auf die Strafzumessung näher auseinanderzusetzen. Stattdessen werden die Strafzwecke zu Beginn der Strafzumessungsentscheidung aufgeführt, ohne dass im weiteren Verlauf eine Bezugnahme oder gar eine Verknüpfung von Strafmaß und Strafzwecken stattfindet. Diese Vorgehensweise, die es nicht ermöglicht, nachzuvollziehen, ob und inwieweit sich einzelne Strafzwecke auf den Strafzumessungsvorgang und das Strafmaß ausgewirkt haben, findet sich bereits bei den Ad-hocStrafgerichtshöfen.45 Nun ist ein solches Vorgehen auch in den meisten staatlichen Strafrechtsordnungen gängige Praxis; so legen deutsche Gerichte das einem Urteil zugrunde liegende Strafzweckkonzept nur selten offen.46 Allerdings besteht auf internationaler Ebene auch ein erhöhter Legitimations- und Erklärungsbedarf.47
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Vgl. näher Epik, Strafzumessung (Fn. 2), S. 152 ff. IStGH, Beschl. v. 10. Juli 2012 (Lubanga Dyilo, TC); IStGH, Beschl. v. 23. Mai 2014 (Katanga, TC); IStGH, Beschl. v. 21. Juni 2016 (Bemba Gombo, TC); IStGH, Urt. v. 27. September 2016 (Al Mahdi, TC); IStGH, Beschl. v. 22. März 2017 (TC), The Prosecutor v. Bemba Gombo et al., ICC 01/05-01/13-2123-Corr.; IStGH, Beschl. v. 17. September 2018 (TC), The Prosecutor v. Bemba Gombo et al., ICC-01/05-01/13-2312; sowie jüngst IStGH, Beschl. v. 7. November 2019 (Ntaganda, TC). 43 IStGH, Urt. v. 1. Dezember 2014 (Lubanga Dyilo, AC); IStGH, Urt. v. 8. März 2018 (AC), The Prosecutor v. Bemba Gombo et al., ICC 01/05-01/13-2276-Red. 44 IStGH, Beschl. v. 10. Juli 2012 (Lubanga Dyilo, TC), para 16; IStGH, Beschl. v. 23. Mai 2014 (Katanga, TC), paras 36 ff.; IStGH, Beschl. v. 21. Juni 2016 (Bemba Gombo, TC), paras 10 f.; IStGH, Urt. v. 27. September 2016 (Al Mahdi, TC), paras 66 f.; IStGH, Beschl. v. 7. November 2019 (Ntaganda, TC), paras 9 f. 45 Holá, Amsterdam Law Forum 4 (2012), 3 (7). 46 Dies mag nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, dass das Verhältnis der verschiedenen Strafzwecke zueinander nach wie vor nicht abschließend geklärt ist, vgl. Meier, Strafrechtliche Sanktionen, 4. Aufl., 2015, S. 168; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, 3. Aufl., 2012, Rn. 547, 549. 47 Vgl. nur Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts auf der Grundlage der Kantischen Rechtslehre, 2005, S. 19 ff.; Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht (Fn. 7), Rn. 97 ff. 42
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Die Zurückhaltung des Internationalen Strafgerichtshofs ist auch aus einem anderen Grund bedauerlich: Der Gerichtshof hat bisher nicht versucht, das bestehende Strafzweckkonzept zur Entwicklung eines schlüssigen Strafzumessungsmodells zu nutzen. Mit fortschreitender Entwicklung der Strafzumessungspraxis steigt aber der Bedarf nach einem klar strukturierten und transparenten Strafzumessungsmodell, dessen Ausformulierung und Anwendung den Gerichtshof vor dem Vorwurf schützt, die Strafzumessungspraxis sei ungleichmäßig, widersprüchlich oder gar willkürlich48 – Kritik, mit der sich schon die Ad-hoc-Strafgerichtshöfe konfrontiert sahen.49 Vor diesem Hintergrund versuchen die folgenden Ausführungen zur Entwicklung eines kohärenten Strafzumessungsmodells beizutragen.
III. Zentrale Elemente eines schlüssigen Strafzumessungsmodells Ausgangspunkt jedes Strafzumessungsmodells, das Anspruch auf Anwendbarkeit in der Praxis erhebt, muss das geltende Recht sein, sodass namentlich die Vorschriften der Art. 77 und 78 IStGH-Statut und Rule 145 der Verfahrens- und Beweisordnung maßgeblich sind. Innerhalb dieses Rahmens kommt dem zuvor skizzierten Strafzweckkonzept entscheidende Bedeutung zu. 1. Proportionalität Die Vereinigungstheorie in der zuvor dargestellten Ausprägung verlangt eine tatund schuldangemessene Bestrafung des Täters, mit anderen Worten: eine proportional zum verschuldeten Unrecht bemessene Strafe.50 Dies ergibt sich auch aus den Strafzumessungsvorschriften des Statuts: Nach Art. 78 Abs. 1 IStGH-Statut ist die Schwere des Verbrechens das bestimmende Strafzumessungskriterium. Art. 81 Abs. 2 lit. a) und Art. 83 Abs. 3 IStGH-Statut stellen klar, dass der Strafausspruch nur dann erfolgreich mit Rechtsmitteln angegriffen werden kann, wenn er nicht im Verhältnis zum begangenen Verbrechen steht,51 und Rule 145 Abs. 1 lit. a) der Verfahrens- und Beweisordnung bestimmt, dass die Gesamtstrafe die Verantwortlichkeit des Verurteilten widerspiegeln muss. Eine Strafe, welche zur Schwere des Verbrechens und zur Verantwortlichkeit des Täters nicht im Verhältnis steht, wäre dementsprechend rechtsfehlerhaft und würde einer Überprüfung durch die Rechtsmittelkammer nicht standhalten. 48 S. de Guzman, in: Stahn (Hrsg.), The Law and Practice of the International Criminal Court, 2015, 932 (933). 49 Vgl. oben Fn. 4. 50 IStGH, Beschl. v. 21. Juni 2016 (Bemba Gombo, TC), para 11; IStGH, Beschl. v. 7. November 2019 (Ntaganda, TC), para 11; vgl. auch D’Ascoli, Sentencing (Fn. 7), S. 292. 51 IStGH, Urt. v. 1. Dezember 2014 (Lubanga Dyilo, AC), para 40; IStGH, Beschl. v. 21. Juni 2016 (Bemba Gombo, TC), para 11.
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Daraus ergibt sich für das zu entwerfende Strafzumessungsmodell bereits eine wesentliche Weichenstellung: Der entscheidende Schritt im Rahmen der Strafzumessung besteht – nach Ermittlung des anwendbaren Strafrahmens52 – in der Festlegung der Schwere des Verbrechens und der Verantwortlichkeit des Täters, welche die Richtgröße für das Strafmaß bestimmen.53 Dies erkennt auch die Rechtsmittelkammer des Internationalen Strafgerichtshofs an: „Proportionality is generally measured by the degree of harm caused by the crime and the culpability of the perpetrator and, in this regard, relates to the determination of the length of the sentence.“54 Weitere Strafzumessungskriterien können nur innerhalb der Grenzen, die durch das Proportionalitätsprinzip definiert werden, Berücksichtigung finden, sodass sie erst zum Tragen kommen, nachdem die Kammer eine Spanne von Strafen ermittelt hat, die sie jeweils für tat- und schuldangemessen hält und die es nunmehr zu einem finalen Strafmaß zu konkretisieren gilt.55 Wie aber lassen sich die Schwere des Verbrechens und die Verantwortlichkeit des Täters bestimmen? Weder das Statut noch die Verfahrens- und Beweisordnung enthalten eine Definition der Schwere des Verbrechens.56 Der Rechtsprechung der Adhoc-Strafgerichtshöfe57 folgend hat die Verfahrenskammer in Katanga folgende Definition gewählt: „In order to determine the gravity, the particular circumstances as well as the nature and degree of participation of the convicted person in the commission of the crime must be taken into account“58. Zwei Elemente59 sind damit prägend: Zum einen müssen die Umstände der Tat, insbesondere ihre Schwere und der durch sie verursachte Schaden, und zum anderen täterbezogene Umstände, insbesondere die individuelle Verantwortlichkeit für die Tat und ihre Auswirkungen, berücksichtigt werden.60 Dieses Verständnis führt dazu, dass Umstände, die der Verantwortlich52
Vgl. Art. 77 IStGH-Statut. Vgl. bzgl. der Schwere des Verbrechens IStGH, Beschl. v. 7. November 2019 (Ntaganda, TC), para 11; Khan, Article 78: Determination of the Sentence, in: Triffterer/Ambos (Hrsg.), The Rome Statute of the International Criminal Court, Art. 78 Rn. 15 f. 54 IStGH, Urt. v. 1. Dezember 2014 (Lubanga Dyilo, AC), para 40. 55 Dieses Konzept firmiert im deutschen Strafzumessungsrecht als „Spielraumtheorie“, vgl. dazu BGHSt 7, 28 (32); 20, 264 (266 f.); Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl., 2017, Rn. 828 ff.; kritisch dazu Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung, 1999, S. 27 ff. 56 Vgl. Ambos, Treatise on International Criminal Law, Vol. II: The Crimes and Sentencing, 2014, S. 291. 57 Statt vieler JStGH, Urt. v. 30. Juni 2016 (AC), Prosecutor v. Stanisˇic´ and Zˇ upljanin, IT08-91-A, para 1106; RStGH, Urt. v. 14. Dezember 2015 (AC), Prosecutor v. Nyiramasuhuko et al., ICTR-98-42-A, para 3431. 58 IStGH, Beschl. v. 23. Mai 2014 (Katanga, TC), para 43. Ähnlich IStGH, Urt. v. 27. September 2016 (Al Mahdi, TC), para 71. 59 Ambos, Treatise, Vol. II (Fn. 56), S. 293 spricht von einem „twofold concept“. 60 Ambos, Treatise, Vol. II (Fn. 56), S. 293 ff.; zur Frage der Abgrenzung zwischen der Schwere des Verbrechens und den individuellen Umständen des Angeklagten s. D’Ascoli, Sentencing (Fn. 7), S. 145 ff.; Epik, Strafzumessung (Fn. 2), S. 304 f. 53
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keit des Täters als zweitem wesentlichen Gesichtspunkt zuzuordnen wären, bereits unter dem Kriterium der Verbrechensschwere berücksichtigt werden, sodass eine klare Trennung zwischen der Schwere des Verbrechens und der Verantwortlichkeit des Täters nicht möglich ist. Überschneidungen sind damit unvermeidbar, sodass die Darstellung im Folgenden zusammenfassend unter dem Gesichtspunkt der Verbrechensschwere erfolgt und die Verantwortlichkeit des Täters nicht noch einmal gesondert erörtert wird. Hinzuweisen ist aber auf Folgendes: Gerade im Völkerstrafrecht muss bei der Bestimmung der Tatschuld berücksichtigt werden, dass erhebliche schuldmindernde Faktoren vorliegen können, wie etwa die Nähe zu einem Nötigungsnotstand oder die Indoktrination durch ein makrokriminelles System, gruppendynamische Prozesse sowie das Handeln auf Befehl.61 Dem ist im Einzelfall Rechnung zu tragen. a) Die abstrakte Verbrechensschwere Bisher hat der Internationale Strafgerichtshof nicht abschließend darüber entschieden, ob die in Art. 78 Abs. 1 IStGH-Statut bezeichnete Schwere des Verbrechens nur als Verweis auf die konkrete Schwere der Tat zu verstehen ist, die anhand der Umstände des Einzelfalles zu bestimmen ist, oder ob nach dieser Vorschrift auch die abstrakte Verbrechensschwere berücksichtigt werden muss.62 Nach der hier vertretenen Auffassung ist es möglich und erforderlich, gerade auch die abstrakte Verbrechensschwere einzubeziehen, wobei diese anhand der normativen Vorgaben des IStGH-Statuts bestimmt werden kann und damit zur Verrechtlichung des Strafzumessungsvorgangs beiträgt.63 Demgegenüber führt das ausschließliche Abstellen auf die Umstände des Einzelfalles dazu, dass die Strafzumessung übermäßig individualisiert wird,64 was zu Lasten der Vorhersehbarkeit, Einheitlichkeit, Vergleichbarkeit und Proportionalität der Strafe geht.65 61
Zu den Kriterien vgl. Epik, Strafzumessung (Fn. 2), S. 499 ff. Während einige Strafzumessungsentscheidungen Erwägungen zur abstrakten Schwere des Verbrechens enthalten (IStGH, Beschl. v. 10. Juli 2012 (Lubanga Dyilo, TC), paras 37 ff.; IStGH, Beschl. v. 23. Mai 2014 (Katanga, TC), para 43; jüngst IStGH, Beschl. v. 7. November 2019 (Ntaganda, TC), para 11), stellten andere Kammern explizit fest: „[T]he gravity of the acts committed by the convicted person has to be assessed in concreto (Herv. im Orig.).“ (IStGH, Urt. v. 27. September 2016 (Al Mahdi, TC), para 71). S. auch IStGH, Urt. v. 8. März 2018 (Bemba Gombo et al., AC), paras 59 ff.; Schabas, The International Criminal Court: A Commentary on the Rome Statute, 2. Aufl., 2016, S. 1169 f. 63 Vgl. ähnlich Ambos, Treatise, Vol. II (Fn. 56), S. 302 ff.; Vesper-Gräske, Zur Hierarchie der Völkerrechtsverbrechen nach dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, 2016, S. 39 ff., 49 ff.; zurückhaltender D’Ascoli, Sentencing (Fn. 7), S. 305. 64 Dies bedeutet freilich nicht, dass die Individualisierung des Strafmaßes im Völkerstrafrecht nicht relevant wäre. Im Gegenteil: Gerade, weil Völkerrechtsverbrechen oftmals durch Täterkollektive begangen werden, muss auf Ebene der Strafzumessung eine Individualisierung erfolgen und die Verantwortlichkeit des jeweiligen Täters herausgearbeitet werden, vgl. Holá/ Smeulers/Bijleveld, Leiden Journal of International Law 22 (2009), 79 (95 f.). Es bedarf jedoch klarer, abstrakt-genereller Vorgaben. 62
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Dementsprechend sollten die Kammern – noch bevor sie die Umstände des Einzelfalles betrachten – zunächst die abstrakte Verbrechensschwere ermitteln und dazu die Kontextelemente der Verbrechenstatbestände sowie die jeweils verwirklichten Einzeltatbestände heranziehen. Dies ermöglicht dem Gericht – in einem ersten Konkretisierungsschritt – innerhalb des universellen Strafrahmens des Art. 77 Abs. 1 IStGH-Statut eine Strafspanne zu ermitteln, die dem Unrecht der Tat gerecht wird. Dieser konkretisierte Strafrahmen kann sodann in einem zweiten Schritt durch Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles ausgefüllt werden. Im Ergebnis führte ein solches Vorgehen dazu, dass Fälle ähnlicher Schwere auch tatsächlich auf derselben Ebene innerhalb des Universalstrafrahmens eingeordnet würden und umgekehrt. Damit wäre dem Grundsatz, dass vergleichbare Fälle auch gleich behandelt werden sollten,66 Rechnung getragen, ohne dass das Strafzumessungsermessen der Richter unangemessen beschränkt würde. Dieser Ansatz stellt zum einen sicher, dass der Strafzumessungsvorgang klaren, abstrakt festgelegten Richtlinien folgt, die in allen Fällen gleichmäßig zur Anwendung gelangen,67 zum anderen bleibt er flexibel genug, um Abweichungen dort zuzulassen, wo sie sachgerecht sind. Um die abstrakte Verbrechensschwere zu bestimmen, sollte der Gerichtshof unter anderem die folgenden Gesichtspunkte berücksichtigen: Erstens sind Abstufungen nach dem abstrakten Unrechtsgehalt der einzelnen Gesamt- und Einzeltatbestände vorzunehmen; zweitens ist die Beteiligungsform, die dem Angeklagten zur Last gelegt wird, nach Art. 25 Abs. 3 lit. a) bis d) und Art. 28 IStGH-Statut zu berücksichtigen, wobei das Statut eine Abstufung nach dem Grad der individuellen Verantwortlichkeit vorgibt;68 drittens schließlich kann danach unterschieden werden, ob die Tat nur versucht oder auch vollendet wurde.69
65 Vgl. Ambos, Treatise, Vol. II (Fn. 56), S. 268 ff.; Book, Appeal (Fn. 2), S. 14; Holá/ Smeulers/Bijleveld, Leiden Journal of International Law 22 (2009), 79 (80); Meernik/King, Leiden Journal of International Law 16 (2003), 717 (718); s. auch JStGH, Urt. v. 20. Februar 2001 (AC), Prosecutor v. Delalic´ et al., IT-96-21-A, para 756. 66 JStGH, Urt. v. 20. Februar 2001 (Delalic´ et al., AC), para 756; Council of Europe, Consistency in Sentencing: Recommendation to Member States and Explanatory Memorandum, Criminal Law Forum 4 (1993), 355; D’Ascoli, Sentencing (Fn. 7), S. 199; Henham, Journal of International Criminal Justice 5 (2007), 757 (769); Holá, Amsterdam Law Forum 4 (2012), 3; Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung (Fn. 55), S. 70; Melloh, Strafzumessung (Fn. 2), S. 159 ff.; Tata/Hutton, International Journal of the Sociology of Law 26 (1998), 339. 67 Sog. „consistency in approach“, vgl. Holá, Amsterdam Law Forum 4 (2012), 3 f.; Krasnostein/Freiberg, Pursuing Consistency in an Individualistic Sentencing Framework: If You Know Where You’re Going, How Do You Know When You’ve Got There?, Law and Contemporary Problems 76 (2013), 265, 270 f.; Melloh, Strafzumessung (Fn. 2), S. 168. 68 Vgl. Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht (Fn. 7), Rn. 544 f. 69 In diesem Sinne auch IStGH, Beschl. v. 7. November 2019 (Ntaganda, TC), para 11.
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aa) Abstufung nach dem abstrakten Unrechtsgehalt Der Internationale Strafgerichtshof hat bisher nicht explizit dazu Stellung genommen, ob eine Abstufung der Verbrechenstatbestände nach ihrem abstrakten Unrechtsgehalt möglich ist. Allerdings haben die Hauptverfahrenskammern in Katanga, Al Mahdi und Ntaganda anerkannt, dass nicht alle Taten notwendigerweise von gleicher Schwere sind und die Kammern die Pflicht haben, jeweils abzuwägen und dabei zum Beispiel zwischen Taten gegen Personen und Taten gegen Eigentum zu differenzieren.70 Darin liegt zumindest die Anerkennung unterschiedlicher Schweregrade hinsichtlich der Einzelverbrechen innerhalb eines Verbrechenstatbestandes. Dieser Ansatz ist zutreffend. In konsequenter Weiterentwicklung kann auf diese Weise eine abstrakte Schwereskala ermittelt werden, auf der Einzeltatbestände, die schon tatbestandlich den Tod des Opfers voraussetzen, dem oberen Skalenbereich zuzuordnen wären, während Tatbestände, die das Eigentum schützen, am unteren Ende platziert werden müssten. Innerhalb dieser Spanne können sodann Taten gegen die körperliche und seelische Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung und die Fortbewegungsfreiheit auf der Skala eingeordnet werden. Darüber hinaus kann zwischen Erfolgsdelikten sowie konkreten und abstrakten Gefährdungsdelikten differenziert werden. Maßgeblich für die Einordnung sind die geschützten Rechtsgüter sowie das Handlungs- und Erfolgsunrecht, das dem Tatbestand immanent ist.71 Ein Beispiel für ein derart abgestuftes System findet sich in §§ 6 – 13 des Völkerstrafgesetzbuchs.72 Es bleibt abzuwarten, wie sich die Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofs insoweit entwickeln wird. Offen ist derzeit, ob der Gerichtshof eine Abstufung auch auf der Ebene der Gesamttatbestände anerkennen wird. Das IStGH-Statut stellt jedenfalls eine solide normative Grundlage für einen solchen Ansatz bereit. Denn obschon sämtliche Kernverbrechen als die schwersten Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren, eingeordnet werden,73 verdeutlicht eine Analyse74 der objektiven und subjektiven Elemente des jeweiligen Gesamttatbestandes, dass Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen75 hinsichtlich ihres ab70 IStGH, Urt. v. 27. September 2016 (Al Mahdi, TC), para 72; s. auch IStGH, Beschl. v. 23. Mai 2014 (Katanga, TC), paras 43, 145; IStGH, Beschl. v. 7. November 2019 (Ntaganda, TC), para 14. 71 Ähnlich Ambos, Treatise, Vol. II (Fn. 56), S. 294 ff.; D’Ascoli, Sentencing (Fn. 7), S. 307 f. 72 Zu den Strafrahmen des VStGB s. Epik, Strafzumessung (Fn. 2), S. 444 ff. 73 Abs. 5 der Präambel des IStGH-Statuts. 74 Diese Analyse würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Sie ist jedoch im Einzelnen nachzulesen bei Ambos, Treatise, Vol. II (Fn. 56), S. 251 ff.; Epik, Strafzumessung (Fn. 2), S. 461 ff.; Vesper-Gräske, Hierarchie (Fn. 63), S. 61 ff. 75 Das Verbrechen der Aggression bleibt bei dieser Analyse außen vor, da es (1) eine Struktur aufweist, die mit den anderen Kernverbrechen nicht verglichen werden kann, und es (2) nicht auf den Schutz von Individualrechtsgütern gerichtet ist, sodass ein Vergleich mit den übrigen Verbrechenstatbeständen nicht sinnvoll erscheint. Bei abstrakter Betrachtung dürfte
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strakten Unrechtsgehalts in ein Stufenverhältnis gebracht werden können,76 wobei der Völkermord das Verbrechen mit dem höchsten abstrakten Unrechtsgehalt darstellt, gefolgt von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen.77 Eine solche Abstufung ergibt sich ferner aus Art. 25 Abs. 3 lit. e), 31 Abs. 1 lit. c), 33 Abs. 2 sowie 124 IStGH-Statut: Art. 31 Abs. 1 lit. c) IStGH-Statut lässt eine Straffreistellung aufgrund von Notwehr zum Schutz von Eigentum nur bei Kriegsverbrechen zu, Art. 33 Abs. 2 IStGH-Statut beschränkt eine Straffreistellung aufgrund des Handelns auf Befehl letztlich auf Kriegsverbrechen und Art. 124 IStGH-Statut lässt eine Suspendierung der Gerichtsbarkeit des IStGH für sieben Jahre ausschließlich für Kriegsverbrechen zu. Art. 25 Abs. 3 lit. e) IStGH-Statut kriminalisiert die Aufstachelung zum Völkermord. Eine vergleichbare Vorschrift existiert für die übrigen Kernverbrechen nicht.78 Eine solche Abstufung darf freilich nicht dahingehend missverstanden werden, dass Kriegsverbrechen in jedem Einzelfall weniger schwer wiegen müssten als Menschlichkeitsverbrechen oder dass letztere stets ein geringeres Gewicht hätten als ein Völkermord.79 Es existieren Überschneidungsbereiche zwischen den verschiedenen Tatbeständen.80 Die besondere Struktur von Völkerrechtsverbrechen mit ihrer Unterteilung in Gesamttat und Einzeltatbestände führt zudem dazu, dass die aufgezeigte abstrakte Abstufung hinsichtlich der Gesamttat nur dann voll zum Tragen kommen kann, wenn derselbe Einzeltatbestand verwirklicht ist.81 So weist eine vorsätzliche Tötung als Menschlichkeitsverbrechen (Art. 7 Abs. 1 lit. a) IStGH-Statut) gegenüber einer vorsätzlichen Tötung als Kriegsverbrechen (Art. 8 Abs. 2 lit. a) UnterAbs. i) IStGH-Statut) abstrakt betrachtet einen höheren Unrechtsgehalt auf; andererseits wird das Kriegsverbrechen der vorsätzlichen Tötung regelmäßig schwerer wiegen als das Menschlichkeitsverbrechen des Freiheitsentzugs (Art. 7 Abs. 1 lit. e) IStGH-Statut).82 Zutreffend ist daher die Feststellung: „Thus, all else being equal (Herv. d. Verf.), a hierarchy in abstracto (Herv. im Orig.) between das Aggressionsverbrechen jedoch hohe Strafmaße bedingen, zumal es nur von wenigen Führungspersonen eines Staates begangen werden kann und den Weltfrieden insgesamt gefährdet. 76 Grundlegend Ambos, Treatise, Vol. II (Fn. 56), S. 251 ff.; Epik, Strafzumessung (Fn. 2), S. 461 ff. und vor allem Vesper-Gräske, Hierarchie (Fn. 63), S. 61 ff. 77 Vgl. näher Akhavan, Reducing Genocide to Law, 2014, S. 56 ff.; Danner, Virginia Law Review 87 (2001), 415 (472 ff.); D’Ascoli, Sentencing (Fn. 7), S. 303 ff.; Epik, Strafzumessung (Fn. 2), S. 461 ff. m.w.N.; Vesper-Gräske, Hierarchie (Fn. 63), S. 323 ff. 78 Zum Ganzen Ambos, Treatise, Vol. II (Fn. 56), S. 251 ff.; Epik, Strafzumessung (Fn. 2), S. 464. Eine detaillierte Darstellung findet sich bei Vesper-Gräske, Hierarchie (Fn. 63), S. 200 ff., 231 ff. 79 Vgl. Epik, Strafzumessung (Fn. 2), S. 464. 80 Vgl. Nemitz, in: Fischer/Kreß/Lüder (Hrsg.), International and National Prosecution of Crimes Under International Law, 605 (618). 81 Ambos, Treatise, Vol. II (Fn. 56), S. 250 ff.; D’Ascoli, Sentencing (Fn. 7), S. 307; Epik, Strafzumessung (Fn. 2), S. 464 f. 82 Vgl. Epik, Strafzumessung (Fn. 2), S. 465.
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international crimes can be established […]“83. Die Gegenauffassung, nach der eine Hierarchie der Völkerrechtsverbrechen nicht existiert und die unter anderem von den Ad-hoc-Strafgerichtshöfen vertreten wurde,84 überzeugt nicht, da sie sich vor allem auf das Fehlen von differenzierten Strafrahmen fokussiert, ohne die Verbrechenstatbestände im Einzelnen zu analysieren.85 Nach dem zuvor Gesagten ergibt sich, dass zur Ermittlung des abstrakten Unrechtsgehalts sowohl der verwirklichte Einzeltatbestand als auch der Gesamttatbestand von Bedeutung sind und eine Graduierung anhand einer Schwereskala möglich ist, die sich an den objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmalen zu orientieren hat. bb) Beteiligungsform Neben dem Unrechtsgehalt der Verbrechenstatbestände, kommt der verwirklichten Beteiligungsform erhebliche Bedeutung bei der Bestimmung der abstrakten Verbrechensschwere zu, da diese die Verantwortlichkeit des Täters in typisierter Form zum Ausdruck bringt.86 Auch dies ist allerdings nicht unumstritten.87 So hat die Verfahrenskammer in Katanga ausgeführt: „[…] article 25 merely identifies and lists various forms of illegal conduct and, in that respect, the proposed distinction between the liability as a perpetrator of a crime and that of an accessory to a crime does not in any way amount to a hierarchy of blameworthiness, let alone prescribe, even by implication, a scale of punishments. The convicted person’s degree of participation and intent must therefore be assessed in concreto (Herv. im Orig.), on the basis of the Chamber’s factual and legal findings in its judgment.“88 83
Ambos, Treatise, Vol. II (Fn. 56), S. 253; Epik, Strafzumessung (Fn. 2), S. 464. JStGH, Urt. v. 26. Januar 2000 (AC), Prosecutor v. Tadic´, IT-94-1-A and IT-94-1-Abis, para 69; JStGH, Urt. v. 12. Juni 2002 (AC), Prosecutor v. Kunarac et al., IT-96-23 and IT-9623/1-A, para 171; RStGH, Urt. v. 1. Juni 2001 (AC), Prosecutor v. Kayishema and Ruzindana, ICTR-95-1-A, para 367; s. auch die Nachweise bei Epik, Strafzumessung (Fn. 2), S. 340 Fn. 160, S. 383 Fn. 303. 85 Vgl. Ambos, Treatise, Vol. II (Fn. 56), S. 252. 86 Vgl. Ambos, Article 25: Individual Criminal Responsibility, in: Triffterer/Ambos (Hrsg.), The Rome Statute of the International Criminal Court, Art. 25 Rn. 2; Ambos, Treatise, Vol. I: Foundations and General Part, Oxford 2013, S. 145 ff.; Werle/Burghardt, in: Elies van Sliedregt/Sergey Vasiliev (Hrsg.), Pluralism in International Criminal Law, 2014, 301 (311 f., 315 ff.); Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht (Fn. 7), Rn. 542 ff.; s. auch Schabas, International Criminal Court (Fn. 62), S. 567 f. 87 Vgl. die Sondervoten der Richter Fulford und Van den Wyngaert, IStGH, Urt. v. 14. März 2012 (TC), The Prosecutor v. Lubanga Dyilo, ICC-01/04-01/06-2842, Sondervotum des Richters Adrian Fulford, paras 8 ff.; IStGH, Urt. v. 18. Dezember 2012 (TC), The Prosecutor v. Ngudjolo Chui, ICC-01/04-02/12-4, Sondervotum der Richterin Christine Van den Wyngaert, paras 22 ff. 88 IStGH, Beschl. v. 23. Mai 2014 (Katanga, TC), para 61. S. dazu auch den Schuldspruch, IStGH, Urt. v. 7. März 2014 (TC), The Prosecutor v. Katanga, ICC-01/04-01/07-3436, paras 1386 ff. 84
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Eine an Wortlaut, Systematik und Telos orientierte Auslegung von Art. 25 Abs. 3 lit. a) bis d) IStGH-Statut ergibt jedoch, dass das IStGH-Statut von einem differenzierten Beteiligungsmodell ausgeht und mehr als eine bloße Auflistung der Beteiligungsformen enthält.89 Wird in Übereinstimmung mit der bisherigen IStGH-Rechtsprechung90 die Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme anhand des Kriteriums der Tatherrschaft vorgenommen, ist es konsequent, denjenigen, die als Täter die Tatbegehung bestimmen und lenken, größere Verantwortlichkeit für das Verbrechen zuzuschreiben als denen, die als Teilnehmer nur einen Beitrag zur Tat eines anderen leisten, ohne Einfluss darauf zu haben, ob und wie diese begangen wird und ohne ihren Ablauf hemmen zu können.91 Dieser Argumentation folgt auch die Rechtsmittelkammer: „This indicates that the Statute differentiates between two principal forms of liability, namely liability as a perpetrator and liability as an accessory. In the view of the Appeals Chamber, this distinction is not merely terminological; making this distinction is important because, generally speaking and all other things being equal, a person who is found to commit a crime him- or herself bears more blameworthiness than a person who contributes to the crime of another person or persons. Accordingly, it contributes to a proper labelling of the accused person’s criminal responsibility.“92 In gleicher Weise lässt sich zwischen den unterschiedlichen Teilnahmeformen differenzieren. Je stärker eine Person die tatsächliche Tatbegehung beeinflussen kann, desto höher ist der Grad ihrer Verantwortlichkeit. Dementsprechend wiegt die Veranlassung der Tatbegehung (Art. 25 Abs. 3 lit. b) IStGHStatut) schwerer als die Unterstützung (Art. 25 Abs. 3 lit. c) IStGH-Statut) und diese ihrerseits schwerer als der Beitrag zu einem Gruppenverbrechen (Art. 25 Abs. 3 lit. d) IStGH-Statut).93 Ob die Praxis künftig der hier vertretenen Position folgen wird, ist offen. Die Rechtsmittelkammer hat mit ihrem Urteil im Verfahren gegen Lubanga jedenfalls die Basis dafür geschaffen. Demgegenüber zeigte sich die Rechtsmittelkammer im Verfahren gegen Bemba Gombo et al., das allerdings Straftaten gegen die Rechtspflege betraf, deutlich kritischer und betonte die Bedeutung der Umstände des konkreten Einzelfalles.94 Auch die Hauptverfahrenskammer in Ntaganda legte Wert auf
89 Vgl. Werle/Burghardt, in: Heger/Kelker/Schramm (Hrsg.), Kühl-FS, 2014, 851 (855 ff.); Werle/Burghardt, in: Bloy u. a. (Hrsg.), Gerechte Strafe und legitimes Strafrecht: Maiwald-FS, 2010, 849 (850 ff.); s. auch Ambos, Treatise, Vol. I (Fn. 86), S. 145 ff. 90 IStGH, Urt. v. 1. Dezember 2014 (Lubanga Dyilo, AC), paras 469 ff.; IStGH, Urt. v. 7. März 2014 (Katanga, TC), paras 1394 ff. 91 IStGH, Urt. v. 14. März 2012 (Lubanga Dyilo, TC), paras 998 ff. 92 IStGH, Urt. v. 1. Dezember 2014 (Lubanga Dyilo, AC), para 462. Vgl. aber auch IStGH, Urt. v. 8. März 2018 (Bemba Gombo et al., AC), para 59. 93 Vgl. Werle/Burghardt, in: Elies van Sliedregt/Sergey Vasiliev (Hrsg.), Pluralism in International Criminal Law, 2014, 301 (315 ff.); Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht (Fn. 7), Rn. 545. 94 IStGH, Urt. v. 8. März 2018 (Bemba Gombo et al., AC), paras 59 f.
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eine Betrachtung der jeweiligen Tatumstände.95 Damit hat die Rechtsmittelkammer einen Weg beschritten, der die Strafzumessung im Völkerstrafrecht seit langem kennzeichnet: Abstrakte Festlegungen werden vermieden, während die Umstände des Einzelfalles betont werden. Diese auf Einzelfallgerechtigkeit zielende Rechtsprechung birgt jedoch die zuvor aufgezeigte Gefahr einer uneinheitlichen und schlimmstenfalls sogar willkürlichen Strafzumessungspraxis. Der Gerichtshof wird daher künftig vorsichtig abwägen müssen, ob der in Lubanga aufgezeigte Weg auf lange Sicht nicht eher geeignet ist, die Vermittelbarkeit der eigenen Entscheidungen zu fördern. cc) Versuch und Vollendung Schließlich ist zu berücksichtigen, ob die Tat vollendet oder nur versucht wurde.96 Grundsätzlich wird der Versuch mangels Erfolgsunrechts einen geringeren abstrakten Unrechtsgehalt aufweisen als das vollendete Delikt.97 b) Die konkrete Verbrechensschwere Erst nachdem der Universalstrafrahmen des Art. 77 Abs. 1 IStGH-Statut unter Zugrundelegung der abstrakten Verbrechensschwere konkretisiert worden ist, kommen die Umstände des Einzelfalles zum Tragen. Hierbei sind diejenigen Strafzumessungsumstände, die sich auf das Handlungs- oder Erfolgsunrecht sowie die Verantwortlichkeit des Angeklagten beziehen, zu ermitteln, zu gewichten und abzuwägen. Der Internationale Strafgerichtshof hat in seiner bisherigen Rechtsprechung eine Vielzahl von Kriterien herangezogen, die teilweise in Rule 145 Abs. 1 lit. c) der Verfahrens- und Beweisordnung98 aufgeführt sind.99 c) Zwischenergebnis Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass zur Bestimmung eines proportionalen Strafmaßes die Bestimmung des vom Täter zu verantwortenden Unrechts unverzichtbar ist. Dabei sind die abstrakte und die konkrete Tatschwere ebenso wie die Verantwortlichkeit des Täters zu ermitteln und auf diese Weise der Universalstrafrahmen des Art. 77 Abs. 1 IStGH-Statut schrittweise zu konkretisieren. So wird vermie95
IStGH, Beschl. v. 7. November 2019 (Ntaganda, TC), para 15. Vgl. Art. 25 Abs. 3 lit. f) IStGH-Statut. 97 Im deutschen Strafrecht wird dem durch die Milderungsmöglichkeit des § 23 Abs. 2 StGB Rechnung getragen, der über § 2 VStGB auch für Völkerrechtsverbrechen gilt. 98 Zum Verhältnis von Rule 145 Abs. 1 lit. c) IStGH-Statut zu Art. 78 Abs. 1 IStGH-Statut vgl. Werle/Epik, in: Jeßberger/Geneuss (Hrsg.), Why Punish Perpetrators of Mass Atrocities, 2020, Chapter 18, 347 Fn. 130. 99 Zu den Kriterien Werle/Epik, in: Jeßberger/Geneuss (Hrsg.), Why Punish Perpetrators of Mass Atrocities, 2020, Chapter 18, 347; vgl. auch Epik, Strafzumessung (Fn. 2), S. 314 f. 96
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den, dass eine Strafe verhängt wird, die nicht im Verhältnis zur Schuld des Täters steht, da das verschuldete Unrecht stets maßgebliches Kriterium bleibt. 2. Individualisierung Spezialprävention – positive wie negative – setzt voraus, dass die individuellen Umstände des Angeklagten bei der Strafzumessung berücksichtigt werden. Art. 78 Abs. 1 IStGH-Statut führt diese als zweites Strafzumessungskriterium auf. Dies erlaubt es dem Gerichtshof die persönlichen Umstände des Angeklagten einzubeziehen, wie etwa sein Alter, seinen sozio-ökonomischen Hintergrund sowie sein generelles Verhalten, sofern dies nicht schon für die Schwere des Verbrechens von Bedeutung ist.100 Auch können die Resozialisierungsaussichten sowie die Gefahr der wiederholten Tatbegehung berücksichtigt werden.101 Die individuellen Umstände des Angeklagten im Sinne des Art. 78 Abs. 1 IStGH-Statut umfassen damit solche Strafzumessungskriterien, die keine Bedeutung für die Ermittlung des Unrechtsoder Schuldmaßes haben, jedoch eine zentrale Rolle bei der Individualisierung des Strafmaßes spielen.102 Aus dieser Zuordnung folgt, dass die beiden in Art. 78 Abs. 1 IStGH-Statut aufgeführten Strafzumessungskriterien nicht von gleichem Gewicht sind und die Schwere des Verbrechens Vorrang beansprucht. Denn sie ist es, die Auskunft über das verschuldete Unrecht gibt und damit das Bedürfnis nach retributiv ausgerichteter Strafe definiert, während die individuellen Umstände für die Verwirklichung von Präventionszwecken relevant sind, die jedoch nach dem zuvor skizzierten Strafzweckkonzept nur innerhalb des vom verschuldeten Unrecht gesteckten Rahmens Bedeutung erlangen dürfen. Die Rechtsprechung ist auch hier noch uneinheitlich. Die Hauptverfahrenskammer in Lubanga hat die individuellen Umstände bereits zur Bestimmung der Verbrechensschwere herangezogen.103 Die Strafzumessungsentscheidung in Katanga erörterte die individuellen Umstände im Rahmen der Strafmilderungsgründe, wobei diesen jedoch nur geringes Gewicht beigemessen wurde.104 In Bemba Gombo hat die Kammer zwischen der Schwere der Verbrechen, dem schuldhaften Verhalten des Angeklagten und seinen individuellen Umständen differenziert.105 Als individuelle Um100 IStGH, Beschl. v. 21. Juni 2016 (Bemba Gombo, TC), para 68; IStGH, Urt. v. 27. September 2016 (Al Mahdi, TC), paras 94 ff. 101 In diese Richtung IStGH, Beschl. v. 23. Mai 2014 (Katanga, TC), para 85; IStGH, Urt. v. 27. September 2016 (Al Mahdi, TC), para 97. 102 IStGH, Beschl. v. 21. Juni 2016 (Bemba Gombo, TC), para 68; IStGH, Urt. v. 27. September 2016 (Al Mahdi, TC), para 94. 103 „Mr Lubanga is clearly an intelligent and well-educated individual, who would have understood the seriousness of the crimes of which he has been found guilty. This marked level of awareness on his part is a relevant factor in determining the appropriate sentence.“ , IStGH, Beschl. v. 10. Juli 2012 (Lubanga Dyilo, TC), para 56. 104 IStGH, Beschl. v. 23. Mai 2014 (Katanga, TC), paras 78 ff., 88. 105 IStGH, Beschl. v. 21. Juni 2016 (Bemba Gombo, TC), para 20.
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stände hat die Kammer dabei nur solche Faktoren berücksichtigt, die keinen direkten Bezug zu den Taten oder dem schuldhaften Verhalten des Angeklagten aufweisen.106 Zutreffend ordnete die Kammer die in Rule 145 Abs. 1 lit. c) der Verfahrens- und Beweisordnung genannten Kriterien Alter, soziale und wirtschaftliche Lage als derartige Umstände ein. Die Verfahrenskammer in Al Mahdi folgte einem ähnlichen Ansatz.107 Diese Auslegung überzeugt. 3. Positive Generalprävention Positive Generalprävention spielt für die Rechtfertigung des Völkerstrafrechts insgesamt eine wesentliche Rolle.108 Dieser Strafzweck hat als solcher aber keine unmittelbaren Konsequenzen für die Strafzumessungsentscheidung. Denn weder die Schaffung und Erhaltung eines Normbewusstseins noch die Herstellung und Sicherung von Frieden und Aussöhnung verlangen etwas anderes als eine schuldproportionale Strafe, die das Unrecht, das den Opfern und ihren Angehörigen widerfahren ist, ebenso reflektiert wie die Auswirkungen, welche die Tat auf die betroffene Gemeinschaft hatte.109 Demgegenüber bergen übermäßig milde oder harte Strafen die Gefahr, dass die Anerkennung der Rechtsordnung insgesamt geschwächt wird.110 Dementsprechend hat die Verfahrenskammer in Bemba Gombo klargestellt: „The objectives underlying sentencing are fulfilled with ,the imposition of a just and appropriate sentence, and nothing more‘.“111
IV. Schluss Der Internationale Strafgerichtshof hat bisher erst eine Handvoll Strafzumessungsentscheidungen getroffen. Von Beginn an hat er sich jedoch mit der Frage nach den Strafzwecken befasst. Dabei lässt sich festhalten, dass dem IStGH-Statut ein Vereinigungsmodell zugrunde liegt. Bisher haben es die Kammern allerdings unterlassen, aus dem Strafzweckkonzept auch ein Strafzumessungsmodell mit klaren Richtlinien für die Rechtsanwendung zu entwickeln. Dieser Beitrag hat einige Elemente eines solchen skizziert. Ihre Implementierung kann zur Entwicklung einer schlüssigen, transparenten und nachvollziehbaren Strafzumessungspraxis beitragen, die sowohl die Strafzwecke berücksichtigt als auch die Strafzumessungsvorschriften des Statuts und der Verfahrens- und Beweisordnung ernst nimmt. Indem die Richter 106
IStGH, Beschl. v. 21. Juni 2016 (Bemba Gombo, TC), para 68. IStGH, Urt. v. 27. September 2016 (Al Mahdi, TC), paras 75, 94 ff. 108 Vgl. Werle, ZStW 109 (1997), 808, 821; Werle/Jeßberger, Sentencing (Fn. 7), Rn. 121 f. 109 Vgl. Epik, Strafzumessung (Fn. 2), S. 142, 153; Melloh, Strafzumessung (Fn. 2), S. 339. 110 JStGH, Urt. v. 11. März 2004 (TC), Prosecutor v. Cˇ esˇic´, IT-95-10/1-S, para 26. 111 IStGH, Beschl. v. 21. Juni 2016 (Bemba Gombo, TC), para 11. 107
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angehalten werden, zunächst eine abstrakte Betrachtung vorzunehmen und den Strafrahmen schrittweise zu konkretisieren, wird eine übermäßige Individualisierung der Strafzumessung vermieden und das Proportionalitätsprinzip gestärkt, ohne dass das Strafzumessungsermessen der Tatrichter unangemessen beschränkt würde. Die Gleichmäßigkeit der Strafzumessungspraxis wird gefördert, da abstrakte und objektive Kriterien vorrangig zu berücksichtigen sind. Es bleibt abzuwarten, ob der Gerichtshof derartige Modelle künftig in Betracht ziehen wird. Bisher haben die Kammern sich zögerlich gezeigt, wenn es darum ging, sich durch abstrakt definierte Kriterien selbst zu binden.
IX. Strafrechtliche Sanktionen, Strafvollzug und Kriminologie
Organisierte Kriminalität – Strukturen und Erklärung Von Hans-Jörg Albrecht
I. Einführung Ulrich Sieber hat sich bereits sehr früh mit der Untersuchung organisierter Kriminalität befasst.1 Er tat dies auf der Grundlage empirischer Untersuchungen, mit einem interdisziplinären Zugang und bei Verwendung eines ökonomischen Ansatzes. Damit verbunden waren der Anspruch aussagekräftiger und dichter Beschreibungen ebenso wie das Ziel der Erklärung sowie daran anknüpfend die Identifizierung von Präventionsansätzen. Damit zusammenhängende Fragen, nämlich Fragen der Struktur und Erklärung organisierter Kriminalität, sollen im Folgenden aufgegriffen werden. Den Ausgangspunkt bilden insoweit Definition und Begriff der organisierten Kriminalität. Denn ohne eine Definition organisierter Kriminalität werden sich Strukturen nicht bestimmen und darstellen lassen. Oder, etwas anders formuliert: Was wir beobachten ist davon abhängig, was wir beobachten wollen und können. Wenn ein empirisches Phänomen beschrieben und erklärt werden soll, dann bedarf es einer präzisen Definition solcher Merkmale, anhand derer das Phänomen identifiziert und beobachtet werden kann. Dabei ist auch klar, dass organisierte Kriminalität nicht unmittelbar beobachtet werden kann. Vielmehr handelt es sich um ein (kriminalistisches, rechtspolitisches, kriminologisches oder sozialwissenschaftliches) Konstrukt, das einer Operationaliserung bedarf, also in Beobachtungsbegriffe transformiert werden muss. Vergleichbar den Debatten um den Begriff der Wirtschaftskriminalität in den 1970er Jahren ist seit Mitte der 1980er Jahre eine Diskussion darüber entbrannt, wie organisierte Kriminalität angemessen zu definieren und in Beobachtungsmerkmale zu übersetzen sei. Entsprechende Debatten um Begriff und Definition sind für Terror und terroristische Gewalt festzustellen. Ihnen gemeinsam ist eine politische Aufladung, die die Herstellung von Konsens erschwert. Die Geschichte der Definition „Organisierter Kriminalität“ reicht in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück. Sie hat ihre Ursprünge in den USA und greift ab den 1970er Jahren auf Europa aus.2 In diesem Prozess kommt es zu Veränderungen in der Gewichtung verschiedener Elemente, die in der Begriffsbildung aufgegriffen 1 2
Sieber/Bögel, Logistik der Organisierten Kriminalität, 1993. Paoli/Fijnaut, Organized Crime, 2004, S. 28 ff.
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werden. Im Vordergund steht dabei vor allem die Frage, ob das Gewicht eher auf die Organisation (also die Frage „Wer“?) oder auf die illegalen Handlungen selbst (und damit das „Was“?) gelegt werden sollte.3 Stehen in den USA bis in die 1960er Jahre zunächst Vorstellungen über große, monopolbildende, hierarchisch aufgebaute und durch italienische Immigranten beherrschte, ferner an die sizilianische Mafia angelehnte Organisationen wie die Cosa Nostra im Mittelpunkt, so sind es dann Konzepte, die entweder stärker die jeweiligen durch Angebot und Nachfrage bestimmten Handlungsmuster in Schattenwirtschaften betonen oder eine Parallele zu konkurrierenden Unternehmen ziehen und den Unternehmenscharakter organisierter Kriminalität hervorheben.4 Früh wird allerdings bereits darauf hingewiesen, dass die Eigenheiten illegaler Märkte (die maßgeblich durch die strafrechtliche Prohibition bedingt sind) gerade verhindern, dass sich typische Merkmale und Handlungsmuster von legalen Unternehmen in illegalen Märkten ausbilden können.5 Vor allem wird aber der Aufund Ausbau einer physischen Infrastruktur behindert, die eine leichte Angriffsfläche für die Strafverfolgung bietet. In kriminologischer Hinsicht ergeben sich dann Fragen der Abgrenzung zu Banden und Gangs, zu verschiedenen Formen der Wirtschaftskriminalität und der terroristischen Gewalt. Ferner finden sich Bezüge zur professionellen Kriminalität (Berufsverbrecher). Aus einer strafrechtlichen Perspektive folgt die Frage, ob und inwieweit ein Begriff der organisierten Kriminalität im Strafrecht und in Strafgesetzen Verwendung finden und neben die aus dem 19. Jahrhundert stammenden Konzepte der kriminellen Vereinigung und der Bande treten sollten. Tatsächlich wird in der Strafgesetzgebung und im Übrigen auch als Konsequenz der fast überall ratifizierten Palermo Konvention der Vereinten Nationen (Transnationale Kriminalitätskonvention, 2000) international eher der Begriff der kriminellen Vereinigung verwendet (sieht man von Italien ab, wo 1982 der Begriff der kriminellen Organisation des Mafiatyps in das Strafrecht eingeführt wurde6). Der deutsche Strafgesetzgeber hat bekanntermaßen von einem Begriff der organisierten Kriminalität in Straftatbeständen nicht Gebrauch gemacht. Vielmehr wurden ab den 1990er Jahren (abgesehen von dem Tatbestand der kriminellen Vereinigung, §129 StGB) systematisch „Gewerbs- und Bandenmäßigkeit“ als strafschärfende oder qualifizierende Merkmale in typischerweise auf organisierte Kriminalität angewendete Straftatbestände eingesetzt. Schließlich sind die besonderen Ermittlungsmethoden der Strafprozessordnung (Telekommunikationsüberwachung, verdeckte Ermittler, Wohnraumüberwachung etc.) durch Straftatenkataloge (oder den Begriff der schweren Straftat) begrenzt, womit ebenfalls ein, wenn auch recht undeutlicher Bezug zu verschiedenen Formen organisierter Kriminalität hergestellt wird. 3
Paoli/Vander Beken, Organized Crime. A Contested Concept, 2014, S. 14. Paoli, Mafia Brotherhoods, 2003. 5 Reuter, Disorganized Crime, 1983. 6 Fulvetti, The Mafia and the „Problem of the Mafia“, 2004, S. 48
4
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II. Funktionen von Definitionen In Deutschland haben Polizei und Strafverfolgungsbehörden ab Anfang der 1990er Jahre eine Einigung auf eine Definition organisierter Kriminalität erzielt, die eher pragmatisch und zuständigkeitsbegründend wirkt.7 „Organisierte Kriminalität ist die von Gewinn- oder Machtstreben bestimmte planmäßige Begehung von Straftaten, die einzeln oder in ihrer Gesamtheit von erheblicher Bedeutung sind, wenn mehr als zwei Beteiligte auf längere oder unbestimmte Dauer arbeitsteilig unter Verwendung gewerblicher oder geschäftsähnlicher Strukturen, unter Anwendung von Gewalt oder anderer zur Einschüchterung geeigneter Mittel oder unter Einflussnahme auf Politik, Medien, öffentliche Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft zusammenwirken“8. Das Problem einer solchen Definition lässt sich sofort erkennen. Werden die Begriffe Kriminalität und Gewalt aus der Definition herausgenommen, so verbleibt lediglich die Struktur wirtschaftlicher und rationaler Handlungen. Hierzu gehören Arbeitsteilung und damit Zusammenarbeit, wirtschaftlicher Nutzen und Profit, Nutzenmaximierung, gewerbliche/geschäftliche Strukturen und Planung. Auch Einflussnahme auf Politik und Verwaltung, Globalisierung und internationale Verflechtung zählen selbstverständlich zu den Kernelementen organisierten wirtschaftlichen Handelns. In konzentrierter Form sind diese Elemente auch in der Begriffsbildung vorhanden, die europäische Untersuchungen zur organisierten Kriminalität in neuerer Zeit geleitet hat9 und die sich auf den Ebenen der Europäischen Union, des Europarats und der Vereinten Nationen durchgesetzt haben. Die Frage ist dann, welche Funktionen derartige Definitionen, die sich in anderen europäischen Ländern wiederfinden, annehmen können. Insgesamt können vier Funktionen differenziert werden. (1) Zunächst handelt es sich bei Begriffsbildungen zur organisierten Kriminalität um politische Begriffe, um Begriffe also, deren Funktion im Wesentlichen in politischer Mobilisierung und Sensibilisierung besteht. (2) Sodann geht es um eine kriminalistische und ermittlungspraktische Begriffsbildung, deren Funktion darin besteht, auf Probleme in Ermittlungen und im Strafverfahren durch besondere Zuständigkeiten (Dezernate für organisierte Kriminalität) oder besondere Ermittlungsmethoden zu reagieren.10
7
Hierzu Sieber, Die Logistik Organisierter Kriminalität, 1997, S. 234 ff. Gemeinsame Richtlinien der Justizminister/-senatoren und der Innenminister/-senatoren der Länder über die Zusammenarbeit von Staatsanwaltschaft und Polizei bei der Verfolgung der Organisierten Kriminalität vom 29. Januar 1991. 9 van de Bunt, De definitie van georganiseerde criminaliteit, 1996, S. 30. 10 Kunz, Gesetzliche Maßnahmen gegen die Organisierte Kriminalität in der Schweiz 1998, S. 300. 8
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(3) An diese schließt sich eine rechtspolitische Funktion an, mit der eine Umsetzung von Ermittlungsproblemen und Gefahrenabwehr in rechtliche Begriffe und in die Gesetzgebung erreicht werden soll. (4) Schließlich ist der wissenschaftliche Begriff zu nennen, dessen Funktion auf eine analytische und theoretische Aufbereitung von Entwicklungen der Kriminalität aus kriminologischer, sozialwissenschaftlicher und historischer Perspektive zielt. Diese Differenzierung lenkt die Aufmerksamkeit auch darauf, dass den Auseinandersetzungen um den Begriff der organisierten Kriminalität und angemessenen gesetzgeberischen Antworten hierauf nicht nur aus der kriminologischen und strafrechtlichen Perspektive, sondern mit ebenso großem Nachdruck aus der Perspektive der politischen Wissenschaften oder politischen Soziologie Bedeutung beigemessen werden sollte. Denn hier geht es offensichtlich auch um die Erklärung eines politischen Prozesses, in dessen Zentrum Strategien der Sensibilisierung und Problematisierung, somit die Entstehung sozialer Probleme enthalten sind.11 Zur Sensibilisierung haben wohl ganz wesentlich die fortschreitende Integration der Europäischen Union und in diesem Zusammenhang insbesondere der Abbau der Grenzkontrollen sowie der politische und wirtschaftliche Umbruch in Osteuropa, schließlich der gesamte Prozess der Globalisierung beigetragen. Grundsätzlich besteht das eigentliche Problem freilich nicht darin, mit welchen Zielen nach Anzeichen von organisierter Kriminalität gesucht wird. Denn alle mit den verschiedenen Begriffsbildungen verbundenen Ziele sind grundsätzlich legitim. Es geht vielmehr primär darum, mit welchen Vorstellungen und mit welchem Vorverständnis nach organisierter Kriminalität gefahndet wird. Denn von diesem Vorverständnis wird ganz zentral abhängen, was als empirisches Phänomen schließlich beobachtet wird und in Erscheinung tritt. Die bisherige Debatte über Definitionen organisierter Kriminalität war insoweit nicht sonderlich ergiebig. Dies mag zuallererst wohl mit dem unverkennbaren Ziel der Begriffsbildung erklärt werden, anhand einer konsensfähigen Definition nachzuweisen, dass organisierte Kriminalität tatsächlich existiere und, weitergehend, mit solchen empirischen Belegen den Grad von Gefahren zu demonstrieren, der von organisierter Kriminalität im Unterschied zu einer „anderen“ Kriminalität ausgehe, wobei diese „andere“ Kriminalität dann wohl bestimmt ist durch einen un- oder gar desorganisierten Charakter.12 Im Wesentlichen wird aber dem Begriff organisierter Kriminalität eine individuelle Tatbegehung gegenübergestellt werden. Insoweit wird der Begriff der Organisierten Kriminalität aber sehr weit gefasst. Unzufrieden-
11 Beare, Corruption and Organized Crime, 1997, S. 156 ff; Groenemeyer, Soziale Probleme und Diskurse, 2003. 12 Reuter, Disorganized Crime, 1983.
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heit mit einem solchen Begriff lässt sich seit längerem und international nachweisen.13 Freilich ist die „Existenz“ organisierter Kriminalität durchaus konsensfähig. Dass organisierte Kriminalität existiert, jedenfalls in dem Sinne, dass Straftaten in organisierter Weise begangen werden (also arbeitsteilig, mit dem Ziel des Profits und auf längere Zeit angelegt), steht überhaupt nicht in Frage und wird von niemandem ernsthaft bestritten. Was freilich nicht geklärt ist, betrifft die Frage, welche der so ausgewiesenen Phänomene unter „Organisierte Kriminalität“ subsumiert werden sollen. Jedenfalls sollte dies nicht (oder nicht allein) durch den im Begriff der organisierten Kriminalität mitschwingenden Mythos, der vor allem aus Vorstellungen über die Mafia als einer groß angelegten und hierarchisch aufgebauten kriminellen Unternehmung folgt, festgelegt werden. Der manchmal geradezu inflationär gebrauchte Begriff der „Mafia“14 sagt einerseits etwas über die Kraft von bestimmten Bildern und Narrativen; andererseits ist er offensichtlich nicht dazu geeignet, recht heterogene Phänomene zu erfassen, die von den Kokainkartellen Kolumbiens oder Mexikos, der sizilianischen Mafia, Maratruchas, Motorradgangs wie Hells Angels oder Bandidos, Clans bis zu den Bordellszenen der Städte oder den Enkeltrickbetrügerbanden reichen.
III. Eine tragfähige Definition organisierter Kriminalität Zu einer überzeugenden Erfassung von organisierter Kriminalität bedarf es zunächst eines theoretischen Instrumentariums, aus dem das Konstrukt der organisierten Kriminalität abgeleitet ist und in dessen Licht sich dann wiederum empirische Sachverhalte erst verstehen und interpretieren lassen. Die theoretischen Dimensionen, die im Zusammenhang mit organisierter Kriminalität Relevanz erlangen, beziehen sich auf 1. Schattenwirtschaften, 2. Subkulturen, 3. Netzwerke, 4. Unternehmensorganisation. Diese können in unterschiedlichen Ausprägungen vorhanden sein (und damit zu unterschiedlichen Phänomenen führen), verweisen auf Komplexität, enthalten aber angemessene Differenzierungsmöglichkeiten und insbesondere Erklärungskraft.
13
van Duyne, Organized Crime and Business crime-enterprises in the Netherlands, 1993; Kinzig, Die rechtliche Bewältigung von Erscheinungsformen organisierter Kriminalität, 2004, S. 74 ff. 14 Fijnaut, Georganiseerde Misdaad en de bestrijding Ervan, 1994, S. 347.
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1. Schattenwirtschaften Organisierte Kriminalität verweist in einer zentralen Dimension auf (illegale) Märkte und den mit illegalem Angebot verbundenen Profit.15 Schattenwirtschaften bilden die Grundlage für viele der Phänomene, die heute als organisierte Kriminalität bezeichnet werden. Insoweit ist verständlich, dass organisierte Kriminalität manchmal auch als Transaktionskriminalität bezeichnet wird. Denn bei Drogenkriminalität, Menschenhandel und Menschenschmuggel, Waffenhandel, Sexmärkten, Subventions- und Anlagebetrug, Mehrwertsteuerhinterziehung, Insidertrading, bei der illegalen Beseitigung von gefährlichen Abfällen, Elfenbeinschmuggel und Fischwilderei geht es um wirtschaftliche Transaktionen, die in der jeweiligen Form (weil ungenehmigt) oder prinzipiell (weil nicht genehmigungsfähig) pönalisiert sind. Erst Entscheidungen der politischen Ökonomie und als Konsequenz ein strafrechtliches Verbot führen zu Gelegenheiten und (bei entsprechender Nachfrage) zu Schattenwirtschaften, an denen sich heute im Wesentlichen nicht mehr Amateure, sondern rational kalkulierende und das heißt eben auch arbeitsteilig handelnde Akteure beteiligen, die an dem das Strafverfolgungsrisiko abgeltenden Aufschlag auf den Preis der in illegalen Märkten gehandelten Gütern oder Dienstleistungen interessiert und deshalb vor allem auch in der Lage sein müssen, das Strafverfolgungsrisiko zu reduzieren. Insoweit könnte die so charakterisierte Kriminalität ohne weiteres als Teilbereich der Wirtschaftskriminalität verstanden werden. 2. Subkulturen und kriminelle Milieus Organisierte Kriminalität ist allerdings nicht bloß als (illegale) wirtschaftliche Unternehmung charakterisiert. Denn mit dem Begriff der organisierten Kriminalität wird auf eine weitere, nämlich subkulturelle Dimension verwiesen, die über das von dem Kriminologen Heindl am Anfang des 20. Jahrhunderts untersuchte Milieu der Gewohnheitsverbrecher16 hinausgeht. Erinnert wird an diese subkulturelle Dimension auch mit Vorstellungen, dass organisierte Kriminalität eine von außen kommende und importierte Gefahr darstelle, demnach einer Invasion oder Verschwörung gleichkommt. In den ersten Berichten zur organisierten Kriminalität in den USA ist diese Vorstellung einer von außen kommenden Bedrohung ebenso zentral wie die Vorstellung, dass durch die von mafiosen Gruppen angebotenen Dienstleistungen und Güter (Glücksspiel, Drogen, etc.) die Gesellschaft korrumpiert zu werden droht.17 Diese Bedrohung geht nach solchen Erwägungen vor allem von Immigrantengruppen aus, die sich in Werten und Normen von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden und sich mitunter in Randlagen der Gesellschaft ohne Aufstiegschancen gefangen sehen. Immigration, Migration, ferner die in Globalisierungsprozessen angelegte Mobilität (von Menschen und Kapital) sind jedenfalls – nicht nur in Nordamerika – 15
Sieber/Bögel, Logistik der Organisierten Kriminalität, 1993. Heindl, Der Berufsverbrecher, 1928. 17 The President’s Commission on Law Enforcement and Administration of Justice 1967.
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sehr eng mit Vorstellungen über organisierte Kriminalität verknüpft. Die Entstehung von transnationalen Gemeinschaften und das darin gegebenenfalls auch enthaltene und auf ethnische Solidarität gegründete soziale Kapital begünstigen offensichtlich die Meinung, dass Immigrantengruppen in der Organisation von illegalen Märkten als „Brückenköpfe“ und Rekrutierungsgelegenheiten genutzt werden können. Organisierte Kriminalität wird schließlich gerne in einen Zusammenhang gebracht mit einem schwachen Staat und vor allem mit Bestrebungen sowie Motiven, den Staat zu schwächen. Dies verweist auf einerseits auf Probleme der Rechtsdurchsetzung, andererseits auf das Auftreten privater Gewalt, die eine effizientere Durchsetzung von Ansprüchen oder effektiven Schutz verspricht. Hier sind im Übrigen auch Debatten um Parallelgesellschaften und Paralleljustiz einzuordnen.18 Ferner ist in diesem Zusammenhang an historische Ursprünge und Vorläufer organisierter Kriminalität zu erinnern. Denn in vielen Regionen können unterschiedliche Phänomene organisierter Kriminalität auch als Resultat einer mehr oder weniger effektiven Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols verstanden werden, mit der unterlegene Gruppen und Bevölkerungsteile in die Illegalität, Unter- und Gegenwelten abgedrängt wurden. Die Analysen von Hess19, Tilly20, Arlacchi21, Paoli22 und Hobsbawm23 unterstreichen die Bedeutung, die politische Elemente und die gewalttätige Auseinandersetzung mit dem Staat um das Recht in der langfristigen Ausformung organisierter Kriminalitätsgruppen hatten. Bewaffneter Widerstand, Schutz gegen als illegitim empfundene Herrschaft und die Bereitstellung von Streitschlichtung außerhalb der nicht akzeptierten (und mitunter verhassten) staatlichen Strukturen sind mit der sizilianischen Mafia ebenso wie mit den chinesischen Triaden24 oder den japanischen Yakuza verbunden. Allianzen zwischen Staat und bewaffneten Gruppen haben die Geschichte des Balkan geprägt und dort zu besonderen Bedingungen für die Entwicklung von staatlichen Zentralgewalten beigetragen.25 Schon die kriminologische Literatur des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich mit organisierter Kriminalität beschäftigt, freilich teils unter Verwendung anderer Begriffe, teils mit anderen inhaltlichen Schwerpunkten und anderen theoretischen bzw. rechtspolitischen Perspektiven. Im 19. Jahrhundert galt die Aufmerksamkeit noch sehr stark (jedenfalls aus einer schon damals historischen Perspektive) den bereits verschwundenen Räuberbanden des 17. und 18. Jahrhunderts, 18 Wagner, Paralleljustiz, 2011; Rohe/Jaraba, Paralleljustiz in Berlin, 2015; Rohe, Paralleljustiz, 2019. 19 Hess, Mafia, 1970. 20 Tilly, War Making and State Making as Organized Crime, 1985. 21 Arlacchi, Mafia business, 1986. 22 Paoli, Mafia Brotherhoods, 2003. 23 Hobsbawm, Die Banditen, 2007. 24 McCarthy, An Economic History of Organized Crime, 2011, S. 232 f. 25 Boeckh, Von den Balkankriegen zum Ersten Weltkrieg, 1996, S. 21; Sundhausen, The Balkan Peninsula, 2014.
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die sich der Zentralgewalt in schwer zugänglichen Gebieten zu entziehen suchten und teils nur kriminelle räuberische Ziele verfolgten, teils aber auch sozialen Protest, Widerstand gegen als ungerecht empfundene Herrschaft und ebenso verstandene gewalttätige Enteignung zum Ausdruck brachten.26 Kennzeichnend für diese Form der „Organisierten Kriminalität“ war die offene gewalttätige Auseinandersetzung mit der Obrigkeit. Die Zerstörung der Rückzugs- und Versteckräume der Räuberbanden (die in fast ganz Europa im 19. Jahrhundert abgeschlossen war und in Nordamerika bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts andauerte27) und die dafür verantwortliche Zunahme der Effizienz der Polizei sowie ihre drastische Überlegenheit in der Anwendung von Gewalt, brachten – in Nordamerika zeitverzögert – das Aussterben der Räuberbanden und organisierten Banditen, freilich nicht das Verschwinden der sozialen Grundlagen für die Begehung von Eigentumsdelikten und Raub sowie für das Fortbestehen sozial deklassierter und marginalisierter Bevölkerungsgruppen. Im Zuge der Industrialisierung und der Verstädterung entstehen dann die Milieus der Großstädte und die dort angesiedelten Subkulturen und Unterwelten, die eng verknüpft sind mit den Schattenwirtschaften der Prostitution, des Glücksspiels und gestohlener Güter. Hier kommt nunmehr etwas zum Ausdruck, was vor allem in der kriminologischen Literatur und Forschung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch erhebliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Es handelt sich um Phänomene, die mit dem Konzept des Berufsverbrechers bzw. des Gewohnheitsverbrechers beschrieben werden. Berufsverbrecher und die Unterwelt sind wiederum Bestandteile der Vorstellungen über „gefährliche Klassen“28. Heindl hat Teile derartiger Zusammenhänge in dem 1928 in 6. Auflage erschienenen Buch „Der Berufsverbrecher“ anschaulich beschrieben. Die Berufsverbrecher, so führte Heindl aus, stellen eine organisierte Macht dar.29 Diese Macht formt sich in einer wenig zugänglichen und für die konventionelle Gesellschaft fast unsichtbaren Unterwelt. Die Bedeutung der Berufsverbrecher und ihre Bedrohlichkeit beruhen einerseits auf der Professionalität in der Begehung von Verbrechen. Freilich liegt das Bedrohliche auch in solchen Eigenheiten, die in den historischen Ursprüngen organisierter Kriminalität angelegt sind. Die Berufsverbrecher sind nämlich keine Einzeltäter, sondern haben enge Beziehungen untereinander, eine eigene Hierarchie, Arbeitsteilung, eigene Normen und Werte sowie ein eigenständiges Disziplinar- und Strafensystem, mit dem abweichende Handlungen der Mitglieder dieser Unterwelt bestraft werden. Es handelt sich also um eine Gegengesellschaft, die von Heindl mit dem Konzept des Berufsverbrechers beschrieben wurde. Gleichzeitig wird auch ein ganz entscheidender Unterschied dieser Gegengesellschaft im Vergleich zu den organisierten Räuberbanden des 17. und 18. Jahrhunderts angezeigt.30 Die Gewalt hat in den Unterwel26
Küther, Räuber und Gauner in Deutschland, 1987. v. Trotha, Recht und Kriminalität, 1982. 28 Tombs, Crime and the Security of the State, 1980, S. 215. 29 Heindl, Der Berufsverbrecher, 1928, S. 157. 30 Heindl, Der Berufsverbrecher, 1928, S. 157. 27
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ten moderner Gesellschaften andere Funktionen angenommen.31 Die Gewalt dient nicht mehr der Auseinandersetzung mit der staatlichen Zentralgewalt, sondern ist funktional begrenzt auf die Anwendung gegenüber normbrechenden Angehörigen der Unterwelt selbst oder verbunden mit den auf Schwarzmärkte bezogenen Aktivitäten bzw. auf die Einschüchterung von Opfern und Zeugen. Die letztere Funktion kann zusammengefasst werden in dem Ziel der systematischen Reduzierung von Strafverfolgungsrisiken und damit der Senkung von Transaktionskosten. Die klassischen kriminologischen Kriminalitätstheorien von Miller, Cohen oder Merton greifen im Übrigen ansatzweise in Subkulturtheorien, in der Produktion von Normen und Werten als Voraussetzung stabiler Gangs in großstädtischen Gettos sowie im Reaktionstypus der Rebellion angesichts von anomischem Stress die gerade beschriebenen Aspekte der organisierten Kriminalität auf. Die eskalierende Gewalt, die seit 2006 in Mexiko beobachtet werden kann, wird wohl einen Bruch mit typischen Schattenwirtschaften darstellen. Denn hier deuten Brutalität und Grausamkeit eher auf eine außer Kontrolle geratene Eskalation und den Verlust an strategischer Kontrolle von Gewalt im organisierten Drogenhandel hin.32 In der Vorstellung von organisierter Kriminalität als wirtschaftlichem Unternehmen verblassen allerdings die Beziehungen zwischen Straftätern und ihrer Umwelt, die Subkultur und die Unterwelt. Es bleiben die Transaktionskriminalität, das treibende Motiv des Profits und die Zuschreibung einer Rationalität, die über Arbeitsteilung, Korruption oder Gewalt die Reduzierung der Transaktionskosten in Form des Strafverfolgungsrisikos sucht.
3. Netzwerke Anstelle des Begriffs der organisierten Kriminalität wird heute zunehmend der Begriff der Netzwerk-Kriminalität verwendet.33 Der Begriff des Netzwerks erkennt an, dass sich das Wesentliche organisierter Kriminalität nicht in Form von Organisationen mit einer physischen Infrastruktur und deshalb erheblichen Investitionen abbilden lässt. Eine solche Form Organisation wird in der Regel durch die Illegalität verhindert.34 Dagegen erlaubt der Netzwerkansatz ein über illegale Märkte und subkulturelle Bezüge hinausgehendes Erklärungspotenzial. Netzwerke verweisen auf Flexibilität, geringe Sichtbarkeit, Nachhaltigkeit (durch erhebliche Redundanz), verlässliche Rekrutierung und die Wirksamkeit von Ersetzungseffekten, die vor allem in den Schattenwirtschaften der Drogen beobachtet werden können. Ein halbes Jahrhundert immer intensiver ausgestalteter strafrechtlicher Sozialkontrolle, Milliardeninvestitionen in die Drogenrepression und kaum noch zu zählende Schläge der Polizei und des Zolls gegen den Drogenhandel hatten sinkende Drogenpreise und zu31
v. Trotha, Recht und Kriminalität, 1982, S. 60 f. Felbab-Brown, The Violent Drug Market in Mexico, 2009, S. 5. 33 Albrecht, Police, Policing and Organised Crime, 2017. 34 Reuter, Disorganized Crime, 1986.
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nehmende Drogenproduktion zur Folge.35 Dies spricht für einen grundsätzlich intakten und effizienten Markt, in dem der Ausfall von Anbietern (und partiell Nachfragern/Konsumenten) leicht aufgefangen werden kann. Netzwerkkerne schützen sich dann durch starke Bindungen und Vertrauen, geteilte Erfahrungen und identitätsstiftende Narrative, ethnische, familiäre Loyalität und gemeinsame Werte (aus politischer Perspektive auch gerne als „Unwerte“ bezeichnet36), eben das, was in den klassischen Beschreibungen der kriminellen Subkulturen als deren eigentliche Stärke und Gefährlichkeit berichtet und was heute in Beschreibungen von Clan-Kriminalität ebenso als für die innere Sicherheit bedrohlich wahrgenommen wird.37 An der Peripherie herrschen aber weniger dichte Interaktionen und weniger starke Bindungen vor. Dies erleichtert die Kommunikation und die Aufnahme von Kontakten zu anderen Gruppen und in andere Regionen. Die „Stärke schwacher Bindungen“38 in der Peripherie, die aus erleichterter Kommunikation entsteht, erlaubt es Netzwerken über große Distanz – und bei Reduzierung von Risiken der Entdeckung – zu handeln (geographisch und sozial). Über die Peripherie werden Kontakte hergestellt, gemeinsame Interessen festgestellt und die Grundlagen für taktische und strategische Kooperation geschaffen.39 4. Organisation des (wirtschaftlichen) Unternehmens Da sich der Kernbereich organisierter Kriminalität auf wirtschaftliche Transaktionen bezieht, ist auch eine gewisse Organisation (oder Form) der „unternehmerischen“ Aktivitäten erforderlich. Diese kann sich äußern in der Verwendung von legalen Formen einer Organisation (Verein, GmbH etc.) oder der faktischen Organisation von Beziehungen, des Handels oder der Verwertung von Gewinnen. Die Organisation bezieht sich auf eine gerade in den Schattenwirtschaften bedeutsame Arbeitsteilung und auf spezifische Rollenzuweisungen; sie wird schließlich sichtbar in einer mehr oder weniger stark ausgeprägten und von den jeweiligen Transaktionen abhängigen besonderen Logistik, die vor allem abhängig ist von den jeweils gehandelten Gütern oder Dienstleistungen.40 Dies zeigt sich deutlich dann, wenn bspw. Märkte für gestohlene Antiquitäten41 mit Drogenmärkten42 kontrastiert werden.
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Reuter/Trautmann, A report on Global Illicit Drugs Markets 1998 – 2007, 2009. CDU/CSU Fraktion im Deutschen Bundestag, 12 Ansätze zur besseren Bekämpfung der Clankriminalität, 2019. 37 Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen, Clankriminalität, 2019. 38 Williams, Transnational Criminal Networks, 2001, S. 73. 39 Williams, Transnational Criminal Networks, 2001. 40 Sieber/Bögel, Die Logistik Organisierter Kriminalität, 1993. 41 Davis, Supply and demand, 2011. 42 Desroches, Research on Upper Level Drug Trafficking, 2007. 36
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IV. Konvergenz zwischen organisierter Kriminalität und terroristischen Gruppen Die Entwicklungen hin zu Netzwerken führen offensichtlich auch zu einer größeren Nähe zwischen terroristischen Bewegungen und organisierter Kriminalität.43 Die Nähe stellt sich her durch die kriminelle Finanzierung terroristischer Aktivitäten und von Organisationen, geteilte Methoden sowie durch Verschmelzungen zwischen terroristischen Bewegungen und organisierter Kriminalität, die einerseits dazu führen können, dass politische Programme nur mehr als Fassade für Schwarzmarktaktivitäten Verwendung finden44, andererseits dazu, dass Akteure der Schattenwirtschaften zu terroristischer Gewalt greifen und dies – wie bspw. Pablo Escobar‘s Gewaltkampagnen in Kolumbien – mit politischen Zielsetzungen verbinden. Die Herstellung von Allianzen zwischen sozialrevolutionären Bewegungen und krimineller Unterwelt findet sich bereits im 19. Jahrhundert; sie setzt sich fort im 20. Jahrhundert in den terroristischen Varianten der Bundesrepublik Deutschland sowie Nordamerikas.45 Die Beschreibungen der Finanzierung des Terrorismus bzw. terroristischer Gruppen verweisen jedenfalls auf die grundsätzliche Bedeutung illegaler Märkte, so insbesondere des Drogenmarktes46, für die Beschaffung von Geldmitteln, darüber hinaus auf die Bedeutung von Geldwäschemethoden, die sich in Form des informellen Systems der Hawala den Kontrollen des regulären Kapitaltransfers entziehen.47 Freilich stellt die Nutzung illegaler Märkte aus der Perspektive terroristischer Organisationen dann ein Problem dar, wenn dies auf die Unterstützung in Teilen der Bevölkerung Auswirkungen haben kann.48 Im Übrigen dürfte die Art und Weise der Beschaffung von finanziellen Mitteln von lokalen Bedingungen abhängig sein. Jedoch ist die Bandbreite der illegalen Geldbeschaffungsmethoden groß und dementsprechend groß sind die möglichen Berührungspunkte zwischen Terrorismus und organisiertem Verbrechen. Sie reichen von Schutzgelderpressung über Bankraub, Erpressung, Geiselnahme, Drogenhandel oder die Erpressung von Schutzgeld im Drogenhandel bis hin zu Kreditkartenbetrug. Insoweit treten ferner auch konventionelle Eigentums- und Vermögensdelikte auf. Das Vorhandensein von erheblichen finanziellen Mitteln kann schließlich eine wirksame Bedingung für die Fortexistenz terroristischer Organisationen auch über den Zeitpunkt der Beendigung der terroristischen Aktivitäten hinaus darstellen, dann nämlich, wenn sich Organisationen an einem bestimmten Punkt vollständig den illegalen Mittelbeschaffungsaktivitäten widmen. Schließlich mögen wirtschaftliche Gesichtspunkte auch Auslöser darstellen für einen Wandel terroristischer Gruppen 43 Dishman, Trends in Modern Terrorism, 1999, S. 362; Williams, Transnational Criminal Networks, 2001. 44 Silke, In Defense of the Realm, 1998; Silke, Drink, Drugs, and Rock’n’ Roll, 2000. 45 Laqueur, Terrorismus, 1987, S. 41 f. 46 Omelicheva/Markowitz, Does Drug Trafficking Impact Terrorism?, 2019. 47 International Monetary Fund, Regulatory Frameworks for Hawala, 2005. 48 Silke, Drink, Drugs, and Rock’n’ Roll, 2000, S. 111 f.
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hin zu nurmehr wirtschaftlich interessierten Organisationen49 und damit Übergänge schaffen zu dem Konzept der Gewaltmärkte50, in denen Gewalt und Gewaltbereitschaft in die wirtschaftlichen Transaktionen eingebaut sind und der erfolgreiche Unternehmer ein Unternehmer ist, der Gewalt effizient zu gebrauchen weiß.51 Beziehungen zwischen Terrorismus und organisierter Kriminalität ergeben sich demnach zuallererst aus räumlicher Nähe, den besonderen Bedingungen der strafrechtlichen Prohibition und geteilten Methoden. Dabei stehen die Schattenwirtschaften und die Finanzierung im Vordergrund. Nach dem Verschwinden des Ost-West Konflikts haben sich die (ehemaligen) Supermächte und mit ihnen alliierte Staaten aus der Finanzierung von Aufständen und der Guerilla zurückgezogen. Sind eine zahlungsfähige und zahlungswillige Diaspora oder zu Sponsoraktivitäten geneigte Staaten nicht (mehr) vorhanden, dann entsteht Bedarf an anderen Ressourcen, die für die Rekrutierung, Beschaffung von Waffen, Ausbildung und Organisation eingesetzt werden können.52 Die Teilnahme an ökonomischen Aktivitäten macht allerdings nur dort Sinn, wo aufständische oder terroristische Gruppen Wettbewerbsvorteile nutzen können. Der besondere Wettbewerbsvorteil solcher Gruppen liegt aber allein in der effektiven Nutzung von Gewalt, einer Reputation für effektive Gewalt und einem effektiven Schutz, der in den Schattenwirtschaften angeboten werden kann. So finden sich sowohl in terroristischen Bewegungen als auch in organisierter Kriminalität gewalttätige Unternehmer. Die Gewalt selbst kann zu einer Dienstleistung werden und, sei es als simples Instrument (der Durchsetzung von Ansprüchen in Schattenwirtschaften), sei es – wie es in seltener Klarheit Ramirez Sanchez, auch Carlos genannt, angeboten hat – als eine Dienstleistung extremer Gewalt, die Bandbreite der Schattenwirtschaften erweitern. Die Geldwäsche und Geldtransaktionen über informelle Finanzsysteme (Hawala) schaffen einen weiteren Markt, in dem sich signifikante Berührungspunkte ergeben. Im Übrigen lassen sich Trends in Gangs und kriminellen Netzwerken beobachten, die sich auf Politisierung, Internationalisierung und zunehmende Komplexität beziehen.53 Die konventionellen großstädtischen Gangs der Metropolen, am unteren Ende dieses Spektrums angesiedelt, suchten Herrschaft über die unmittelbare Nachbarschaft und wenige Straßenzüge. Am oberen Ende des Spektrums entwickeln sich aktive politische Agendas, die in zeitgenössischen Beschreibungen von organisierter Kriminalität, die deren Interesse an Einfluss auf Medien und Politik annehmen, durchaus ernst genommen werden.54 Dies wird auch sichtbar im Phänomen der Maratruchas, kriminelle Gangs, die ihren Ursprung in den Bürgerkriegen Zentralamerikas und in den Immigrantengettos US-amerikanischer Großstädte haben, durch 49
Schbley, Torn Between God, Family, and Money, 2000. Karstedt, Terrorismus und „Neue Kriege“, 2002. 51 Elwert, Markets of violence, 1999. 52 Sanderson, Transnational Terror and Organized Crime, 2004. 53 Sullivan, Gangs, Hooligans, and Anarchists, 2001. 54 Sullivan, Gangs, Hooligans, and Anarchists, 2001, S. 102 ff. 50
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eine rigorose Abschiebungspolitik in die Herkunftsländer Mittelamerikas (zurück) gedrängt wurden55 und heute dort wegen der Beteiligung an Drogen- und Waffenhandel, Erpressung, Raub und Gewalt als zentrales Sicherheitsproblem wahrgenommen werden.56 Dort äußern sich nicht nur Internationalisierung und eine Entwicklung hin zu transnationalen Netzwerken, so wie sie sich in den noch vor 60 Jahren eher lokalen Motorradgangs der Hells Angels und Bandidos entfaltet haben. Die zunehmende Komplexität wird sichtbar im Hinblick auf Organisation, Kommunikation und Bewaffnung; dies ist jedoch auch bedingt durch Anpassungen an allgemeine gesellschaftliche Entwicklungen. Zwischen organisierter Kriminalität und terroristischen Gruppierungen lässt sich teilweise eine zunächst bloß taktisch bedingte Kooperation in verschiedenen operativen Bereichen feststellen. Dies gilt für die Fälschung von Dokumenten, für die Geldwäsche, für den Schmuggel von Personen oder Waren und die Beschaffung von Waffen. Auch dies spricht für eine Nähe, die leicht in strategische Zusammenarbeit und strategische Allianzen übergehen kann.57 Die Rekrutierung von Nachwuchs der organisierten Kriminalität wie des Terrorismus erfolgt aus denselben Milieus marginalisierter Gruppen von Immigranten oder aus der Mehrheitsbevölkerung. Aus den „banlieues sensibles“ der europäischen Großstädte und aus ihren Gefängnissen kommt der Nachwuchs sowohl für die Schattenwirtschaften als auch für radikalisierte Gruppen.58 Die Rekrutierung ist im Grunde nicht schwer. Denn wer sonst kann jungen Männern in prekären Lebenslagen und aus benachteiligten Räumen Status, Aufstieg und Zugehörigkeit versprechen?
V. Strukturen organisierter Kriminalität in Deutschland Zu den Strukturen organisierter Kriminalität und ihrer Entwicklung sind in Deutschland nur ansatzweise systematisch erhobene Daten vorhanden. Sieht man von Auswertungen von Literatur ab, wie sie bspw. erstmals in den 1970er Jahren durchgeführt worden sind59, so bieten lediglich die Lageberichte der Landeskriminalämter, des Bundeskriminalamts, ferner der Verfassungsschutzbehörden einen systematischen und auf Dauer gestellten Einblick in Schwerpunkte und Handlungsmuster von kriminellen oder extremistischen Gruppen. Diese Datenerfassungen sind allerdings durch die jeweiligen Perspektiven, Ressourcenkonzentration und Zielsetzungen geprägt. Darüber hinaus liegt zwar eine Vielzahl von Untersuchungen zu einzelnen Bereichen (Drogen, Menschenschmuggel, Menschenhandel etc.) vor, 55
Jensen, Maras, 2013. Peetz, Zentralamerikas Jugendbanden, 2004. 57 Schori Liang, Schattennetzwerke, 2011, S. 3. 58 Jenkins, Building an Army of Believers 2007, S. 5; Basra/Neumann/Brunner, Criminal Pasts, Terrorist Futures, 2016. 59 Kerner, Professionelles und organisiertes Verbrechen, 1973. 56
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die aber nur punktuell über Entwicklungen und Erscheinungsformen Auskunft geben können. Die Lageberichte des Bundeskriminalamts zur Organisierten Kriminalität aus den letzten 25 Jahren lassen eine im Wesentlichen stabile Entwicklung der Verfahren erkennen.60 Danach fallen in den letzten 10 Jahren jährlich im Durchschnitt zwischen 500 und 600 Ermittlungsverfahren an, denen organisierte Kriminalität zugrundeliegt. Die Lageberichte geben darüber hinaus Einblick in Strukturen, die erwartungsgemäß durch den Drogenhandel geprägt sind und im Übrigen erkennen lassen, dass organisierte Formen der Tatbegehung bei konventioneller Eigentums- und Vermögenskriminalität, in den Rotlichtmilieus und Menschenhandel, bei Wirtschafts- und Umweltkriminalität, in der Schleusung von Immigranten und weiteren Deliktsbereichen vorhanden sind. Anders als in Italien, Japan, China oder den USA der 1960er und 1970er Jahre spielen in Deutschland, dies zeigte bereits die Untersuchung aus dem Jahre 1973 sehr deutlich61, historisch-kulturelle Besonderheiten in den Ausformungen von organisierter Kriminalität keine Rolle. Es geht um ganz unterschiedliche Formen einer gewinnorientierten Kriminalität, die Professionalisierung und rationales Vorgehen mit sich bringt. In der bislang wohl einzigenempirischen Untersuchung zur organisierten Kriminalität im Hellfeld wird im Übrigen festgestellt62, dass besondere Ausprägungen organisierter Kriminalität (im Hinblick auf eine große Mitgliederzahl von Gruppen, auf längere Dauer der kriminellen Aktivitäten, erheblichen Gewinn etc.) nicht beobachtet werden konnten. Es bot sich im Kern das Bild von herkömmlicher Bandenkriminalität. Dies deckt sich mit den Beobachtungen Reuters, der bereits in den 1980er Jahren darauf hingewiesen hat, dass die Besonderheiten illegaler Märkte nur wenig Raum für die Entstehung dauerhafter krimineller Gruppen bieten.63 Insoweit greifen allerdings wohl „Ersetzungseffekte“ ein64, die die Märkte insgesamt stabilisieren. Wenn so etwas wie eigenständige kriminelle Organisationen (im Hellfeld) identifiziert wurden, dann waren diese dem Drogenhandel zuzuordnen. Hinzu treten, und dies entspricht den Daten aus Lageberichten sowie dem Forschungsstand zu einzelnen Feldern (wie zu Drogen- oder Sexmärkten), ein hoher Ausländeranteil und internationale Beziehungen, ferner konspiratives Vorgehen, Arbeitsteilung, Planung und eine gewisse Professionalität. Gerade die Internationalisierung (und damit ein hoher Ausländeranteil) ist allerdings bereits in der Globalisierung auch von Schattenwirtschaften und vor allem dem internationalen (und grenzüberschreitenden) Charakter von Drogenhandel und Menschenschmuggel angelegt.
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Bundeskriminalamt, Bundeslagebild Organisierte Kriminalität 2018, 2019, S. 7. Kerner, Professionelles und organisiertes Verbrechen, 1973. 62 Kinzig, Die rechtliche Bewältigung von Erscheinungsformen organisierter Kriminalität, 2004, S. 771 ff. 63 Reuter, Disorganized Crime, 1983. 64 Nagin, Deterrence and Incapacitation, 1998, S. 365. 61
Juvenile Justice in Greece An Overview Following the Legislative Reform of 2019* By Nestor Courakis
I. Legal Sources of the Juvenile Justice System in Greece The main substantive law provisions concerning delinquent minors in Greece are contained not in an autonomous law on juvenile justice, but in the Penal Code (eighth and final chapter of the General Part, art. 121 – 133), under the title: “Special provisions for minors”. This Code was enacted in Greece in June 2019,1 together with a new Code of Penal Procedure.2 Both replaced the previously in force respective Codes, which, however, had already been reformed before in relation to minors, mainly in 2003, in 2010, and in 2015. Apart from these special provisions anchored in (substantive and/or procedural) criminal law and applied as “lex specialis” in relevant cases, relevant provisions are also included in special laws, such as those concerning TV broadcasts.3 Besides, Greece has ratified all major international or European conventions, such as the UN Convention on the Rights of the Child (1989), the UN Optional Protocol on the Sale of Children, Child Prostitution and Child Pornography (2000) and the European Convention on the Exercise of Children’s Rights (1996). Greece has furthermore signed up to many soft law instruments (in the sense of rules and recommendations) of the United Nations and the Council of Europe.
II. Aims and Objectives The principal objective of the Greek legislation on juvenile justice is to prevent repeat offending and, in particular, to ensure social integration, mainly through * Paper presented at an international conference organized in Nicosia, Cyprus, on 1. 11. 2019 by the University of Cyprus and Frederick University on the topic “Juvenile Justice, Issues, Concerns and Future Directives: A Comparative Perspective”. 1 Law-Nr. 4619/2019. 2 Law-Nr. 4620/2019. 3 See for example art. 8 sec. 1 of Presidential Decree 100/2000 and articles 12 and 13 of Presidential Decree 77/2003.
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the education of minors and other welfare measures. Human rights of minors, either accused or convicted, are equally a cornerstone of the juvenile system in Greece. Hence, the basic model of criminal policy which marks this system is a mixture of the welfare model with the justice model.
III. The Juvenile Courts The sole judicial authority for ordering sanctions to juveniles when they infringe criminal law is the Juvenile Court. In ordinary cases, it consists of one judge sitting in Provincial Courts. In cases of felonies, for which a juvenile detention can be imposed (cf. infra, VIII), the court is constituted by three judges (art. 113 Greek Code of Penal Procedure – CCP). Both courts are composed exclusively of professional judges and are competent to try all offenses committed by minors, that is by those who were aged 12 to 18 at the time of the offense. Furthermore, there are Juvenile Courts of Appeal, consisting of three judges (art. 114 GrCPP).
IV. Legal guarantees for Offenders and Victims As an accused, the juvenile is guaranteed the same basic procedural rights as those to which accused adults are entitled: Among others (cf. art. 92 and 96 Greek Penal Code – GrCPP), this comprises the right to be heard before the court (art. 20 Greek Constitution) and the principles of nulla poena sine lege (art. 7 sec. 1 Greek Constitution and art. 1 & 2 GrPC) and of ne bis in idem (double jeopardy, art. 57 GrCPP), the right to be present at the hearing (art. 92 GrCPP), the right to put forward questions (art. 94 GrCPP), the right to remain silent (art. 273 sec. 2 GrCPP) and the right to be defended by a public defense counsel (art. 89 and art. 99 sec. 3 GrCPP). Besides, he/she enjoys all rights which derive from the principle of fair trial (art. 6 of the European Convention on Human Rights and of art. 40 of the UN Convention on the Rights of the Child). Furthermore, the minor’s trial can be held in-camera (“closed doors”), including the promulgation of judgment (cf. art. 96 sec. 3 of the Greek Constitution). On the other hand, the victim in juvenile court procedures, if he/she brings a civil action, becomes a party in the proceedings (art. 70, 89 ff. GrCPP) and, as a consequence, has mainly the same rights as the accused, especially if the offense is related to sexual freedom and sexual exploitation (cf. art. 108 GrCPP). However, the victim bringing a civil action before the Juvenile Court may usually claim only a symbolic compensation with a maximum of 44 euros, whilst further compensation must be claimed before the Civil Courts.
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V. Main Categories of Minors and Their Treatment It is interesting, at this point, to examine the three main categories of minors and their legal treatment. Legally, there can be a distinction between minors of up to 12 years of age, those between the age of 12 and 15 and those between the ages 15 and 18; for the last two categories treatment takes the form of educational or therapeutic measures, while only for the last category (15 – 18) juvenile detention may be imposed for some serious offenses. More specifically, minors up to the age of 12 are not mentioned in the new Greek Penal Law (until June 2019 the minimum age was 8 years) and, therefore, the system of sanctions (measures and juvenile detention) is not applicable to these children. If such persons commit an act punishable by law, the courts may only impose to the parents or guardians either civil measures related to parental custody (art. 1532 ff. Greek Civil Code) and/or penal sanctions for neglecting the supervision of their minors (art. 360 GrPC). Minors between the ages of 12 and 15 are considered as not criminally responsible; the court can only impose educational or therapeutic measures (art. 126 sec. 1 GrPC).
VI. Educational and Therapeutic Measures Educational measures are mainly non-custodial. They are gradated by the law according to the intensity of intervention and include mainly the following measures (art. 122 sec. 1 GrPC): • reprimand; • placing the minor under the responsible custody of parents or guardians; • placing the minor under the responsible custody of a foster family; • placing the minor under the custody of Youth Protection Associations, Youth Centers, or Juvenile Court Aid (note that the Juvenile Court Aid is also tasked with preparing for the court a social inquiry report on the situation and personality of the minor; art. 239 sec. 2 GrCPP); • mediation between the young offender and the victim; • compensation of the victim; • performance of community service; • participation in social, psychological, and good driving programs. From the above measures, courts usually select reprimand, parental care, Juvenile Court Aid and, more recently, community service. In general, the court may always replace the educational or therapeutic measures by others or revoke them (art. 124 GrPC).
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The most severe educational measure is undoubtedly the custodial one, that is the placing of the minor in a public educational institution. However, this measure is imposed rarely (only 4 persons up to 13 years and no one aged 14 to 18 in 2010).4 Consequently, there is only one educational institution in whole Greece, namely in the city of Volos (Central Greece). On the other hand, as regards therapeutic measures, these are imposed when the minor’s physical, psychological or mental condition necessitates special treatment, particularly in cases of mental illness and drug or alcohol dependency. Among these measures, some are similar to the aforementioned educational ones (parental care, juvenile court aid), whilst, in more serious cases, the minor can be placed in a therapeutic or other appropriate institution (art. 123 GrPC). These measures have been rarely applied by the courts. Instead, courts, which are mainly preoccupied in this domain by cases of drug dependency, apply to them the respective regulations of the special law on drugs (Law-Nr. 4139/2013). Finally, minors between the ages of 15 – 18 are regarded by the law as having relative criminal responsibility. They are principally subjected to educational or therapeutic measures, as is also the case for minors aged between the ages of 12 – 15. However, for specific serious offenses, the Penal Code provides for punishment in the form of detention in a young offenders’ institution, that is juvenile detention. It is noteworthy that, in 2010, educational or therapeutic measures were imposed to 353 minors (341 boys and 12 girls aged 14 – 18) and to 4 boys up to 13 years old. At a more general level, concerning the trend of imposing educational or therapeutic measures during the last decades, we note a clear decline from 1998 (4,411 cases) to 2010 (1,256 cases). Similarly, regarding reoffending, we may speak of a fluctuating, but rather decreasing tendency of educational or therapeutic measures from 1998 (23 cases) to 2010 (4 cases).
VII. Young Persons Above the Age of 18 and Diversion There are specific provisions for minors who, at the time of sentencing or at the time of the enforcement of the judgment, have already reached the age of 18, and also for young adults committing offenses between the ages of 18 – 25. More specifically, the following applies: If, at the time of sentencing, the juvenile has reached the age of 18 and has committed an offense after the age of 15, the court has the power, instead of ordering educational or therapeutic measures (which could be regarded in the specific case at issue as insufficient), to impose juvenile detention until the age of 25. In extreme 4 Cf. the relevant statistical information for what follows [in Greek]: http://www.statistics. gr/el/statistics/pop/ > Pkghusl|r jai Joimymij]r Sumh^jer> Poimij^ Dijaios}mg and/ or Jatast^lata Jq\tgsgr, and http://www.ministryofjustice.gr/site/el/> SYVQOMISTIJO SUSTGLA >Statistij\ stoiwe_a jqatoul]mym.
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cases, this detention can be served in a separate section of a prison for adults (art. 130 GrPC). Furthermore, if a person sentenced to juvenile detention reached the age of 18 before enforcement of the judgment, the court may order the young adult to serve his detention in a prison for adults (art. 131 GrPC). Finally, if a young adult, at the time of committing an offense, has not yet reached the age of 25, the court may decide to impose juvenile detention or a mitigated prison sentence (art. 133 GrPC). Besides, if a minor commits a misdemeanor, diversion strategies may be applied by the public prosecutor, who may decide not to initiate proceedings if he/she believes that prosecution is not necessary to prevent the minor from committing further offenses. However, according to art. 46 GrCPP, the public prosecutor may then impose on the minor one or more of the non-custodial educational measures (cf supra, VI.).
VIII. Juvenile Detention Juvenile detention is a sui generis punishment, the only one available under juvenile’s law. It is imposed only when educational or therapeutic measures are considered by the court as insufficient to prevent the juvenile from committing further criminal acts (art. 127 GrPC). Hence, juvenile detention must be the last resort or ultima ratio (in line with the principle of subsidiarity). As has already been mentioned above, juvenile detention is imposed on minors who have reached 15 years of age and, thus, have relative criminal responsibility. Therefore, this kind of detention presupposes the establishment of the minor’s criminal liability. Furthermore, it is applied only when the juvenile has committed a felony (not a mere misdemeanor) and only if this felony entailed an element of violence or is directed against the life or corporal integrity of another person. Such felonies are mainly intentional homicide, fatal bodily harm, rape and robbery (respectively art. 299, 310, 336, 380 GrPC). No life imprisonment can be imposed on minors, and their detention must not exceed 8 years (art. 54 GrPC). A prison sentence that has been imposed on minors cannot be commuted into a fine. Equally, a prison sentence cannot be suspended, though in my opinion, this limitation is not plausible from the viewpoint of criminal policy, given that a non-custodial measure, such as a suspended sentence, can indeed be useful also for juveniles. As becomes apparent in jurisprudence, the courts are reluctant to impose a penalty of juvenile detention. According to the available statistics, only 35 juveniles aged 14 to 18 had been sentenced to detention in 2010, corresponding to 9.9 % of the total sanctions (measures and detention) imposed on minors, which amounted to 353 cases. In 2012, 39 juveniles aged 14 – 18 (37 boys and 2 girls) were sentenced to juvenile detention, corresponding to 0.26 % of the total number of detainees (of all
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ages) in the same year, which amounted to 15,128 individuals. However, there were also another 63 juveniles aged 14 to 18 (0.42 %) who served, during that year, previously imposed sentences of juvenile detention from one month up to temporary incarceration. As a result, the share of detainees aged 14 – 18 in that year amounted to 0.68 % of the total number of detainees.
IX. Conditional Release It is extremely seldom that juveniles sentenced to a custodial sentence serve their full sentence. According to art. 129 GrPC, the Courts will, in principle, conditionally release a juvenile when half the period of the sentence has been served. Release takes place almost automatically and is rejected only if the court considers, on the basis of specially documented reasons, that the conduct of the juvenile while serving the term of detention makes it absolutely necessary to continue such detention so that reoffending be prevented. Juveniles may be released at an even earlier time than half their period of detention if serious reasons require it (for example, if the addicted juvenile has successfully attended a drug rehabilitation program), provided that the juvenile has effectively served at least one third of the sentence. Similarly, juveniles may be released after one third of the sentence if they accept to be placed in home confinement with electronic monitoring (respectively art. 129 sec. 4 and 129 A GrPC). It should also be noted that a period of probation must not exceed the remaining period of detention (art. 129 sec. 1 GrPC).
X. The Young Offender’s Institutions If sentenced to juvenile detention, the Greek Correctional Code – GrCC (art. 12 and 19 sec. 3) provides that the minor shall be accommodated separated from adults in specially constructed institutions or in special sections of adult prisons. In Greece there are two closed institutions for minor male detainees, one in a town named Avlona, about 50 km from Athens, and another in the city of Volos, in central Greece. In addition, a prison farm for young offenders exists in the region of Kassavetia, about 30 km from the city of Volos. Finally, a small number of young women are detained in the sole independent women’s institution for closed detention, near Thiva, about 95 km from Athens. In all these institutions there are currently mainly young adults who are detained (art. 12 GrCC). Indicatively, as of 1st October 2018, 199 young adults were detained
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in Avlona, 111 in Volos, 34 adults (and only one juvenile) in Kassavetia and 16 adults (and two juvenile females) in Thiva.5 According to the Correctional Code (art. 12 sec. 2), young offenders’ institutions shall provide educational and vocational training programs. The basic education of young prisoners is obligatory (art. 35 sec. 5 GrCC). In contrast, there is no obligation to work, but anyone who does perform work can reduce his/her time spent in detention. Indeed, one working day counts towards two and a half days of detention; this reduction is also taken into account for calculating the time of regular leaves and of conditional release (art. 40 ff. GrCC).
XI. Detention on Remand for Minors Apart from convicted minors, institutions for young offenders also house minors on remand. Yet, according to the law (art. 287 GrCPP), remand must not last for more than six months. During the pre-trial stage, and in line with the principle of subsidiarity, remand may be imposed on an accused minor when the purpose of such detention cannot be achieved by other, less burdensome measures, namely by the non-custodial “restrictive measures”. These include inter alia bail, an order to appear at regular intervals before the competent authorities, residence restrictions, educational measures or, in more severe cases, electronic monitoring (art. 284 sec. 7 GrCPP). In principle, remand detention for minors may be imposed on an accused juvenile under the same general conditions as is the case of adults, for example if the accused’s address is unknown or if he/she prepares to escape from the country (art. 283 GrCPP). However, additional prerequisites apply in the case of accused juveniles. According to art. 287 GrCPP, a remand order may be imposed only on juveniles between the ages 15 – 18 and only if there is a compelling suspicion that the juvenile has committed a felony involving an element of violence or having been directed against life or corporal integrity of another person, similar to the already mentioned provision for juvenile detention (cf. supra, VIII.). Under the same conditions, the accused minor may be placed in home confinement with electronic monitoring (art. 284 para 7 grCPP). It should be noted that the investigating judge has the power to put restrictive measures aside or to replace them with others, or to replace detention by restrictive measures and vice versa (art. 291 GrCPP). In practice, remand of minors is imposed by the judicial authorities with a certain parsimony. In 2012, there were only 137 such cases, compared to a total of 5,547 de-
5 Consequently, in 2018, only 3 juveniles were detained under juvenile detention. This constitutes a sharp reduction of the aforementioned numbers from 2012 and is due to legislative reform, introduced in 2015, according to which juvenile detention should be imposed only in very rare cases (art. 7 para 3, Law-Nr. 4322/2015).
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tainees on remand (hence, only 2.47 % thereof). Many of these detainees are foreigners, who usually lack a residence in Greece.
XII. Recent Trends in Juvenile Delinquency To complete this overview, it is useful to briefly also look at current developments in juvenile delinquency in Greece, so as to better understand the courts’ lenient attitude towards young offenders. At a general level, and leaving aside traffic offenses which form the majority (around 40 % in 2010) of alleged offenses committed by minors, their share in the total number of alleged offenses committed in Greece does, according to police statistics, not surpass 3 %. Regarding the types of offenses, simple theft is the most frequent offense in adolescence. On the other hand, an increase is observed in the last years (especially since the 1990s) in violent crimes (particularly robbery) and in drug related offenses. The problem seems to be more acute in case of young adults (ages 18 – 25), although, in order to evaluate this tendency, we also have to take into consideration the intensification of police monitoring in recent years.
XIII. Conclusion Juvenile justice in Greece still faces problems of implementation due to the lack of appropriate personnel, in particular with regard to the Juvenile Court Aid. In addition, there are still problems of infrastructure and of facilities. Yet, a lot of progress has been achieved over the last decades, especially after Greece ratified the UN Convention on the Rights of the Child in 1992, which has served as an impetus for necessary reforms in the field of juvenile criminal law. This became apparent, especially in 2003 and in 2010, with the adoption of innovative measures such as the introduction of complete criminal responsibility at the age of 18 (and not at 17, as was the legal age before), the extension of the catalogue of non-custodial measures, the abolition of indefinite juvenile detention, the introduction of the right to appeal against a sentence of juvenile detention, and the introduction of diversion programs as a means to settle a criminal law conflict.6 6 Cf. Angeliki Pitsela, Greece, in: F. Dünkel/J. Grzywa/P. Horsfield/I. Pruin (eds.), Juvenile Justice Systems in Europe, Vol. 2, Forum Verlag 2011, pp. 623 – 670, 674 – 675, describing in detail the juvenile legal system in Greece before the amendments of the new Penal Code and the new Code of Penal Procedure in 2019; for the applied terminology see also the translation of the former Greek Penal Code by Emmanouil Billis/Vassiliki Chalkiadaki, Duncker & Humblot 2017. For an analysis of the socio-economic factors underlying criminal careers of minors in Greece, see Nestor Courakis, Juvenile Delinquents and Society: A Study of the
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These measures have, in my opinion, largely contributed to a reform by means of which – as was mentioned above (supra, II.) – the welfare model is combined harmoniously with the justice model “in the best interests of the child”.7
fundamental values, institutions and juvenile delinquency in Greece, Ant. N. Sakkoulas Publishers 1999. 7 Cf. art. 3 sec. 1 of the UN Convention on the Rights of the Child.
Zum Stand des deutschen Strafzumessungsrechts Von Dieter Dölling Da der verehrte Jubilar sich in seinem umfangreichen Werk auch mit den strafrechtlichen Sanktionen befasst hat,1 behandelt der vorliegende Beitrag ein Thema aus diesem Gebiet. Erörtert wird der Stand des deutschen Strafzumessungsrechts. Dieses ist im Kern durch das 1. und 2. Strafrechtsreformgesetz von 19692 geregelt worden. Fünfzig Jahre nach Verkündung dieser Gesetze stellt sich die Frage, ob sich die getroffenen Regelungen bewährt haben oder ob Änderungen angezeigt sind. So hat sich die Strafrechtliche Abteilung des 72. Deutschen Juristentages 2018 mit der Frage „Sentencing Guidelines vs. freies tatrichterliches Ermessen – Brauchen wir ein neues Strafzumessungsrecht?“ befasst.3 Im Folgenden sollen daher einige Überlegungen zum Stand des deutschen Strafzumessungsrechts dargelegt werden. Die Ausführungen konzentrieren sich auf das allgemeine Strafrecht, die Rechtsfolgenzumessung im Jugendstrafrecht wird nicht behandelt. Bei der Strafzumessung geht es um die Festsetzung der Strafe, die gegen einen Täter in einem Strafverfahren verhängt werden soll. Das deutsche Strafrecht kennt als Hauptstrafen, die als einzige Strafe verhängt werden können, die Freiheitsstrafe und die Geldstrafe und als Nebenstrafe, die zusätzlich zu einer Freiheitsstrafe oder Geldstrafe angeordnet werden kann, das Fahrverbot (§§ 38 bis 44 StGB). Welche Strafen bei der Verwirklichung eines bestimmten Delikts in Betracht kommen, ergibt sich aus den Strafdrohungen, die im Besonderen Teil des StGB und in den Strafvorschriften anderer Gesetze dem jeweiligen Delikt zugeordnet sind. Die grundlegende Regelung über die Strafzumessung findet sich im Allgemeinen Teil des StGB in § 46. Nach § 46 Abs. 1 S. 1 StGB ist die Schuld des Täters die Grundlage für die Zumessung der Strafe. Gemäß § 46 Abs. 1 S. 2 StGB sind die Wirkungen, die von der Strafe 1 Vgl. Sieber, Das strafrechtliche Sanktionensystem zum Schutz der europäischen Gemeinschaftsinteressen, in: Schlüchter (Hrsg.), Geerds-FS, 1995, S. 113 – 127; ders., The Punishment of Serious Crimes. A comparative analysis of sentencing law and practice. Volume 1: Expert Report. Schriftenreihe des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht, Reihe A: Arbeitsberichte, Bd. A 5.1, 2004; ders. (Hrsg.), The Punishment of Serious Crimes. A comparative analysis of sentencing law and practice. Volume 2: Country Reports. Schriftenreihe des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht, Reihe A: Arbeitsberichte, Bd. A 5.2, 2004. 2 1. StrRG vom 25. 6. 1969, BGBl. I S. 645; 2. StrRG vom 4. 7. 1969, BGBl. I S. 717. 3 Siehe dazu das Gutachten von Kaspar, Sentencing Guidelines versus freies tatrichterliches Ermessen – Brauchen wir ein neues Strafzumessungsrecht? Gutachten C zum 72. Deutschen Juristentag, 2018.
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für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, zu berücksichtigen. Nach § 46 Abs. 2 S. 1 StGB wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. § 46 Abs. 2 S. 2 StGB führt eine Reihe von Umständen an, die bei der Abwägung namentlich in Betracht kommen. § 46 Abs. 3 StGB enthält das Doppelverwertungsverbot, nach dem Umstände, die schon Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes sind, bei der Strafzumessung nicht berücksichtigt werden dürfen. Die Vorschrift des § 46 StGB wird unterschiedlich bewertet. So können nach Theune4 die bisherigen Erfahrungen mit der Vorschrift als „überwiegend positiv“ bezeichnet werden. Nach Stratenwerth5 handelt es sich dagegen bei § 46 StGB um eine „gesetzgeberische Fehlleistung von besonderem Rang“. In der aktuellen Diskussion wird vor allem kritisiert, dass die Regelungen zu knapp und zu allgemein seien, um die richterliche Strafzumessung hinreichend zu lenken. Die Strafzumessung sei deshalb nicht vorhersehbar und uneinheitlich.6 Kritisiert werden auch die weiten Strafrahmen für die einzelnen Delikte.7 Zur Auseinandersetzung mit dem geltenden Strafzumessungsrecht ist zunächst anzuführen, dass das geltende Recht verfassungsgemäß ist.8 Aus dem Schuldprinzip, das aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG sowie aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt, ergibt sich die Verpflichtung des Gesetzgebers, Strafrahmen vorzusehen, die gerecht auf die Straftatbestände abgestimmt sind und es dem Richter ermöglichen, in jedem Fall eine schuldangemessene Strafe zu verhängen.9 Aus der in Art. 103 Abs. 2 GG enthaltenen Vorgabe der Bestimmtheit von Strafgesetzen, die auch für die Strafdrohung gilt, folgt, dass die drohende Strafe für den Normadressaten vorhersehbar sein muss.10 Der Gesetzgeber muss daher die Strafarten und Strafrahmen mit einem Mindestmaß und einer Obergrenze festlegen.11 Außerdem muss er dem Richter Leitlinien für die Auswahl der Strafart und die Ausfüllung des Strafrahmens geben.12 Dem Richter kann dann die Festlegung der Strafe entsprechend den Umständen des Ein-
4 In: LK-StGB, 12. Aufl. 2006, § 46 vor Rn. 1; vgl. auch U. Schneider, in: LK-StGB, 13. Aufl. 2020, § 46 vor Rn. 1, nach der § 46 StGB „der tatgerichtlichen Strafzumessungsentscheidung … immerhin eine praktisch handhabbare gesetzliche Basis gegeben“ hat. 5 Tatschuld und Strafzumessung, 1972, S. 13. 6 Vgl. Kaspar (Fn. 3), C 11 ff.; Kudlich/Koch, NJW 2018, 2762 (2763); Hörnle, GA 2019, 282 f. Zu Ungleichheiten in der Strafzumessungspraxis siehe Streng, Strafrechtliche Sanktionen, 3. Aufl. 2012, Rn. 482 ff.; Grundies, in: Neubacher/Bögelein (Hrsg.), Krise – Kriminalität – Kriminologie, 2016, S. 511 ff. 7 Siehe Kaspar (Fn. 3), C 107; Streng, StV 2018, 593 (594). 8 Vgl. Dannecker, in: M. Heinrich u. a. (Hrsg.), Roxin-FS zum 80. Geburtstag, Bd. 1, 2011, S. 285 (302). 9 BVerfGE 45, 187 (259 f.). 10 BVerfGE 105, 135. 11 BVerfGE 105, 135 (153 f., 156). 12 BVerfGE 105, 135 (155 f., 106).
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zelfalles innerhalb des gesetzlich festgelegten Strafrahmens überlassen werden.13 Schuldprinzip und Gesetzesbestimmtheit müssen bei der Strafzumessung zu einem Ausgleich gebracht werden.14 Das StGB und die strafrechtlichen Nebengesetze enthalten für die einzelnen Delikte Strafdrohungen, in denen die Strafarten und Strafrahmen mit Mindest- und Obergrenzen festgelegt sind. Leitlinien für die Strafzumessung finden sich insbesondere in § 46 StGB. Damit liegt ein verfassungskonformes gesetzliches Strafzumessungssystem vor. Wird gefragt, ob die richterliche Strafzumessung durch die gesetzlichen Regeln hinreichend gesteuert wird, ist zu berücksichtigen, dass § 46 StGB von der Rechtsprechung durch die „Spielraumtheorie“ konkretisiert wird.15 Diese Theorie hat die Rechtsprechung bereits vor Inkrafttreten des § 46 StGB entwickelt. Sie ist gut mit dem Wortlaut des § 46 StGB vereinbar.16 Nach dieser Theorie hat sich die Strafzumessung zunächst daran zu orientieren, dass die Strafe ein gerechter Ausgleich für die schuldhaft verwirklichte Unrechtstat sein soll.17 Hierbei gibt es nicht nur eine schuldangemessene Strafe, sondern einen „Spielraum“, der von der „schon schuldangemessenen Strafe“ bis zur „noch schuldangemessenen Strafe“ reicht. Innerhalb dieses Schuldrahmens ist die Strafe nach präventiven Gesichtspunkten festzusetzen. Dies sind in erster Linie Aspekte der Spezialprävention, auf die in § 46 Abs. 1 S. 2 StGB Bezug genommen wird. Generalpräventive Gesichtspunkte, die in § 46 Abs. 1 StGB nicht genannt sind, kommen nur ausnahmsweise in Betracht.18 Auf dieser Grundlage ergibt sich eine klare Strukturierung der Strafzumessung:19 Es ist zunächst die gesetzliche Strafdrohung zu ermitteln. Enthält diese mehrere Strafarten, ist also für das Delikt Freiheits- oder Geldstrafe angedroht, ist eine Entscheidung für eine Strafart zu treffen. Liegt nur eine Strafart im Schuldrahmen, ist diese zu wählen, fallen sowohl Geldstrafe als auch Freiheitsstrafe in den Spielraum schuldangemessener Strafen, ist nach präventiven Gesichtspunkten über die Strafart zu entscheiden. Eine Sonderregelung für das Verhältnis von Geldstrafe und Freiheitsstrafe unter sechs Monaten enthält § 47 StGB. Die Strafhöhe innerhalb der Strafart ist wiederum in zwei Schritten zu bestimmen. Zunächst ist der Schuldrahmen, also der Bereich schuldangemessener Strafen, festzulegen und dann ist in diesem Rahmen die 13
BVerfGE 105, 135 (154). BVerfGE 105, 135. 15 Siehe zur Spielraumtheorie BGHSt 7, 28 (32); 22, 264 (266 f.). 16 Für die Spielraumtheorie Streng (Fn. 6), Rn. 630; Maurauch/Gössel/Zipf/Dölling, Strafrecht Allg. Teil, Tb. 2, 8. Aufl. 2014, § 62 Rn. 19; Kett-Straub/Kudlich, Sanktionenrecht, 2017, § 9 Rn. 19; Meier, Strafrechtliche Sanktionen, 5. Aufl. 2019, S. 176; Güntge, ZIS 2019, 384 (386). 17 Zu den Vorzügen der Anknüpfung der Strafzumessung an die Schuld siehe Frisch, in: ders. (Hrsg.), Grundbegriffe des Strafzumessungsrechts aus deutscher und japanischer Sicht, 2011, S. 3 (7 ff.). 18 Vgl. Dölling, in: Amelung u. a. (Hrsg.), Schreiber-FS, 2003, S. 55 (60). 19 Siehe Dölling, in: Frisch (Fn. 17), S. 85 ff.; vgl. auch Streng (Fn. 6), Rn. 653; Meier (Fn. 16), S. 167 ff. 14
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Strafe nach präventiven Überlegungen zu bestimmen. Ist die Strafhöhe festgelegt, ist über die Ausgestaltung der Strafe, z. B. über die Aussetzung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung, zu entscheiden. Sodann folgt die Entscheidung über die Verhängung weiterer strafrechtlicher Rechtsfolgen, z. B. von Maßregeln der Besserung und Sicherung. Schließlich ist eine Gesamtbetrachtung der Angemessenheit der Strafe im Gesamtzusammenhang der verhängten Rechtsfolgen vorzunehmen, die noch zu einer Änderung der Strafe führen kann. § 46 StGB in der hier dargelegten Auslegung ermöglicht somit eine rationale Strafzumessung, mit der den Strafzwecken angemessen Rechnung getragen werden kann. Allerdings bleiben Unbestimmtheiten, und es ist fraglich, inwieweit die Spielraumtheorie von den Tatgerichten angewendet wird.20 Zudem wird die Spielraumtheorie von Teilen der Literatur abgelehnt.21 Es könnte daher erwogen werden, in Anlehnung an anglo-amerikanische Vorbilder22 durch Strafzumessungsrichtlinien eine größere Einheitlichkeit der Strafzumessung zu erreichen.23 Strafzumessungsrichtlinien legen für bestimmte Fallkonstellationen enge Strafrahmen fest. Abgestellt wird vor allem auf die Tatschwere und die Vorstrafenbelastung des Täters. Unter bestimmten Voraussetzungen kann von dem vorgegebenen Strafrahmen abgewichen werden. Für die Anwendung solcher Strafzumessungsrichtlinien könnten die Gesichtspunkte der Voraussehbarkeit der Strafe und der Rechtssicherheit sprechen. Gegen die Verwendung von Strafzumessungsrichtlinien sind jedoch die Aspekte der Einzelfallgerechtigkeit und der schuldangemessenen Strafe anzuführen. Strafzumessungsrichtlinien stützen sich auf eine begrenzte Zahl von Strafzumessungsfaktoren. Im Einzelfall können weitere strafzumessungsrelevante Umstände vorliegen, die für eine niedrigere oder höhere Strafe sprechen. Bleiben diese Umstände unbeachtet und wird die Strafe ausschließlich nach den in den Richtlinien vorgesehenen Faktoren zugemessen, werden in ungleichen Fällen gleiche Strafen verhängt, sodass das seiner Intention nach der Gleichheit dienende System der Strafzumessungsrichtlinien in Konflikt mit dem Gleichheitsgrundsatz gerät.24 Lässt man zur Vermeidung ungerechter Strafen im Einzelfall in erheblichem Umfang Ausnahmen von den Strafzumessungsrichtlinien zu, drohen diese ihre Steuerungsfunktion zu verlieren, und es stellt sich die Frage, ob sich der Aufwand ausdifferenzierter Strafzumessungsrichtlinien 20 Vgl. Güntge, ZIS 2019, 384 (386), nach dem die Spielraumtheorie in der strafrechtlichen Praxis nicht „gelebt“ wird. 21 Siehe etwa Schünemann, in: Eser/Cornils (Hrsg.), Neuere Tendenzen in der Kriminalpolitik. Beiträge zu einem deutsch-skandinavischen Strafrechtskolloquium, 1987, S. 209 (210 ff.); H.-J. Albrecht, Strafzumessung bei schwerer Kriminalität, 1994, S. 37 ff.; Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung, 1999, S. 27 ff. 22 Vgl. zu den Sentencing Guidelines in den USA Uphoff, Die deutsche Strafzumessung unter dem Blickwinkel amerikanischer Strafzumessungsrichtlinien, 1998, S. 80 ff.; Reichert, Intersubjektivität und Strafzumessungsrichtlinien, 1999, S. 137 ff.; Kaspar (Fn. 3), C 76 ff.; zu den Sentencing Guidelines in England und Wales siehe Hörnle, GA 2019, 282 (288 f.). 23 Für die Einführung von Strafzumessungsrichtlinien Hoven, KriPoZ 2018, 276 (289 f.); Hörnle, GA 2019, 282 (295). 24 Vgl. Streng (Fn. 6), Rn. 765; Kaspar (Fn. 3), C 83.
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lohnt.25 Außerdem ist damit zu rechnen, dass die Praxis Umgehungsstrategien entwickeln wird, wenn Strafen, zu denen die Strafzumessungsrichtlinien führen, im Einzelfall als unangemessen erscheinen.26 Da Strafzumessungsrichtlinien in Distanz zu den konkreten Taten und den individuellen Tätern erstellt werden, kann es zu einem nicht angemessenen Übergewicht leicht quantifizierbarer und eher strafschärfender Gesichtspunkte sowie einer Vernachlässigung spezialpräventiver Aspekte kommen.27 Durch das System der Strafzumessungsrichtlinien wird nicht berücksichtigt, dass es bei der Strafzumessung nicht nur darum geht, einzelne Strafzumessungsfaktoren zu gewichten und zusammenzuzählen, sondern dass es auch darauf ankommt, Tat und Täter zu verstehen und darauf eine angemessene strafrechtliche Reaktion aufzubauen. Problematisch ist weiterhin die Aufstellung der Richtlinien durch sog. Expertenkommissionen. Insoweit stellt sich die Frage, wer die Experten nach welchen Kriterien beruft und wie die Entscheidungen der Expertenkommission im Hinblick auf das Demokratieprinzip und die richterliche Unabhängigkeit legitimiert werden können.28 Insgesamt sprechen somit die besseren Gründe gegen die Einführung von Strafzumessungsrichtlinien.29 Auch eine „Mathematisierung der Strafzumessung“30 sollte – obwohl sie im Zeitalter der Digitalisierung verführerisch sein könnte – nicht erfolgen.31 Denkbar wäre die Einrichtung einer Strafzumessungsdatenbank, in der die Strafzumessungsentscheidungen der Gerichte in bestimmten Fallkonstellationen dokumentiert werden.32 Damit wäre ein Orientierungspunkt für die Strafzumessung gegeben,33 der das ent25
Siehe Kaspar (Fn. 3), C 83; Kudlich/Koch, NJW 2018, 2762 (2765). Vgl. Streng (Fn. 6), Rn. 765; siehe aber auch Grosse-Wilde, ZIS 2019, 130 (137), der annimmt, dass Umgehungsstrategien letztlich „durch Begründungslasten explizit gemacht und entlarvt werden“. 27 Siehe Horstkotte, in: Pfeiffer/Oswald (Hrsg.), Strafzumessung. Empirische Forschung und Strafrechtsdogmatik im Dialog, 1989, S. 281 (288); Kudlich/Koch, NJW 2018, 2762 (2763). 28 Vgl. Kudlich/Koch, NJW 2018, 2762 (2765). Siehe auch den Vorschlag von Mosbacher, Referat in der Abteilung Strafrecht des 72. Deutschen Juristentages (DJT), in: Verhandlungen des 72. DJT Leipzig 2018, Bd. II/1, 2019, M 23 (M 37, M 42), wonach der Große Strafsenat des BGH für Fallkonstellationen, in denen sich die Tatbegehung typischerweise nicht signifikant unterscheidet und sich die Strafzumessung üblicherweise an Schadenshöhe oder Wirkstoffmenge bemisst (BtMG), auf Vorlage eines Strafsenats Leitlinien für die Strafzumessung erarbeiten sollte. 29 Ablehnend auch Kaspar (Fn. 3), C 82 f.; Beschlüsse der Abteilung Strafrecht des 72. DJT, A II. 3. und 4., in: Verhandlungen des 72. DJT (Fn. 28), M 63. 30 Dazu Giannoulis, Studien zur Strafzumessung, 2014, S. 309 ff., 315 ff. 31 Vgl. Streng, Strafzumessung und relative Gerechtigkeit, 1984, S. 313 ff.; ders. (Fn. 6), Rn. 768; Maurach/Gössel/Zipf/Dölling (Fn. 16), § 63 Rn. 185; Kaspar (Fn. 3), C 99. 32 Dafür Mosbacher (Fn. 28), M 36, M 41; Streng, StV 2018, 593 (599); Beschlüsse der Abteilung Strafrecht des 72. DJT, A. II. 6. c), in: Verhandlungen des 72. DJT (Fn. 28), M. 64. Für eine Verfeinerung der Strafverfolgungsstatistik Verrel, JZ 2018, 811 (815). 33 Zur Strafzumessungspraxis als Orientierungsgröße für die Bestimmung der schuldangemessenen Strafe vgl. Schöch, Strafzumessungspraxis und Verkehrsdelinquenz, 1973, S. 76; 26
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scheidende Gericht aber nicht von seiner Verpflichtung entbindet, in dem ihm vorliegenden Fall die nach seiner Überzeugung schuldangemessene Strafe zu verhängen.34 Es stellt sich daher die Frage, ob durch eine Neufassung der zentralen Strafzumessungsvorschrift des § 46 StGB eine stärkere Steuerung der Strafzumessung erreicht werden könnte. Einen Vorschlag hierfür hat Kaspar unterbreitet. Danach soll in § 46 Abs. 1 StGB geregelt werden, dass die Strafe der Wiederherstellung des Rechtsfriedens durch verhältnismäßige Einwirkung auf die Allgemeinheit und den Täter dient. Nach § 46 Abs. 1 S. 2 StGB ist die Zumessung an dem Ausmaß der Störung des Rechtsfriedens zu orientieren, das durch die Tat hervorgerufen wurde und zum Zeitpunkt der Aburteilung noch besteht. In § 46 Abs. 2 S. 1 StGB soll festgelegt werden, dass sich die zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens erforderliche Strafe vorrangig anhand des Ausmaßes des Unrechts der Tat, soweit es schuldhaft verwirklicht wurde, bemisst. § 46 Abs. 2 S. 2 sowie Abs. 3 und 4 StGB des Vorschlags enthalten Regelungen über die Berücksichtigung einzelner Strafzumessungsfaktoren.35 Dieser Vorschlag wirft eine Reihe von Problemen auf. Mit § 46 Abs. 1 S. 1 StGB in der Fassung des Vorschlags soll der Strafzweck der Generalprävention, insbesondere der positiven Generalprävention, zum Leitprinzip für die Strafzumessung erklärt werden.36 Die Strafzumessung soll das Ziel verfolgen, den Rechtsfrieden durch Verhängung einer Sanktion, die für die Allgemeinheit ausreichend akzeptabel ist, wiederherzustellen.37 Es ist unklar, was mit der Formulierung „Wiederherstellung des Rechtsfriedens“ genau gemeint ist. Welche Strafe für die Allgemeinheit ausreichend akzeptabel ist, ist schwer festzustellen. Nach Kaspar38 sollen empirische Untersuchungen über Strafbedürfnisse der Allgemeinheit und von Opfergruppen herangezogen werden. In Bevölkerungsumfragen können allerdings nur Fälle zur Beurteilung vorgelegt werden, die eine begrenzte Zahl von Merkmalen aufweisen. Inwieweit diese Beurteilungen auf die individuellen Einzelfälle übertragen werden können, über welche die Gerichte zu entscheiden haben, ist zweifelhaft. Angaben in Bevölkerungsumfragen können zudem durch möglicherweise unausgewogene Einflüsse der Massenmedien und schwankende Stimmungslagen beeinflusst sein. Auch Kaspar will den Befunden von Bevölkerungsumfragen nicht bedingungslos folgen. Während die Strafen zu senken seien, wenn die Bevölkerung mildere Strafen als ausreichend ansehe, müssten die Strafen nicht ohne weiFrisch, in: Wolter (Hrsg.), 140 Jahre Goltdammer’s Archiv für Strafrecht, 1993, S. 1 (28 ff.); Frisch, in: ders. (Fn. 17), S. 3 (17 ff.); Maurer, Komparative Strafzumessung, 2005. 34 Siehe BGHSt 28, 318 (323 ff.); 56, 262 (264 ff.). 35 Vgl. Kaspar (Fn. 3), C 104 f. 36 Siehe Kaspar (Fn. 3), C 25, 43, 105; zur Straftheorie der Generalprävention vgl. Roxin/ Greco, Strafrecht Allg. Teil, Bd. I, 5. Aufl. 2020, § 3 Rn. 21 ff.; Dölling, in: Kröber/Dölling/ Leygraf/Saß (Hrsg.), Handbuch der Forensischen Psychiatrie Bd. I, 2007, S. 13 (21 ff.). 37 Vgl. Kaspar (Fn. 3), C 43. 38 Kaspar (Fn. 3), C 26, 27.
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teres erhöht werden, wenn die Bevölkerung für schärfere Strafen plädiere.39 Dann stellt sich die Frage, nach welchem Maßstab die Meinungen der Bevölkerung zu beurteilen sind. Probleme ergeben sich auch, wenn nach den Befragungsergebnissen in der Bevölkerung unterschiedliche Strafbedürfnisse bestehen. Außerdem birgt der geschilderte Ansatz die Gefahr in sich, dass die Gerichte allzu sehr nach dem schielen, was von ihnen erwartet wird, und die Aufgabe vernachlässigen, sich sorgfältig mit Tat und Täter auseinanderzusetzen und eine gerechte Strafe für den Einzelfall zu finden.40 Weiterhin ist der Ausschluss des Strafzwecks der Spezialprävention aus der grundlegenden Strafzumessungsvorschrift des § 46 StGB problematisch. Es ist sachgerecht, im Sinne des geltenden § 46 Abs. 1 S. 2 StGB die Strafzumessung in den Grenzen schuldangemessenen Strafens auch spezialpräventiv auszurichten.41 Auch bei der Bemessung der Strafhöhe, also der Strafzumessung im engeren Sinn,42 können in einem gewissen Umfang spezialpräventive Überlegungen sinnvoll sein. So kann es angezeigt sein, bei Tätern mit ungünstiger Kriminalprognose die Strafe im oberen Bereich des Schuldrahmens festzusetzen, und kommt eine Strafe im unteren Bereich des Schuldrahmens in Betracht, um unverhältnismäßige entsozialisierende Wirkungen der Strafe zu vermeiden.43 Diese Möglichkeiten sollten nicht durch eine rein generalpräventive Ausgestaltung des § 46 StGB verbaut werden. Es könnte eingewendet werden, die Spezialprävention habe ihren Platz bei der Strafzumessung im weiteren Sinn, also bei der Bestimmung der Modalitäten der Strafe, etwa bei der Frage, ob die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden soll. Geht es aber in der zentralen Strafzumessungsvorschrift nur noch um Generalprävention, besteht die Gefahr, dass der Spezialprävention bei der Strafzumessung insgesamt zu wenig Beachtung geschenkt wird. Die zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens erforderliche Strafe soll sich nach dem von Kaspar vorgeschlagenen § 46 Abs. 2 S. 1 StGB vorrangig anhand des Ausmaßes des Unrechts der Tat, soweit es schuldhaft verwirklicht wurde, bemessen.44 Damit soll die generalpräventive Orientierung der Strafzumessung mit der Lehre von der Tatproportionalität verknüpft werden.45 Nach dieser Lehre ist die Strafhöhe allein nach dem verschuldeten Unrecht zu bestimmen, wobei sich das Unrecht aus 39
Siehe Kaspar (Fn. 3), C 28. Kritisch zur Berücksichtigung empirischer Erkenntnisse über die Straferwartungen der Bevölkerung bei der Strafzumessung Fünfsinn, Referat in der Abteilung Strafrecht des 72. DJT, in: Verhandlungen des 72. DJT (Fn. 28), M 11 (M 12). Vgl. zur Problematik auch Kaspar/Walter (Hrsg.), Strafen „im Namen des Volkes“? 2019. 41 Zum Strafzweck der Spezialprävention vgl. Roxin/Greco (Fn. 36), § 3 Rn. 11 ff.; Dölling (Fn. 36), S. 19 ff. 42 Zu den Begriffen der Strafzumessung im engeren und im weiteren Sinn siehe Maurach/ Gössel/Zipf/Dölling (Fn. 16), § 62 Rn. 26; Meier (Fn. 16), S. 249 f. 43 Vgl. Dölling (Fn. 18), S. 59. 44 Kaspar (Fn. 3), C. 104. 45 Kaspar (Fn. 3), C 42, C 43. 40
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dem Erfolgs- und Handlungsunrecht der Tat ergibt. Präventive Überlegungen bleiben bei der Strafzumessung im engeren Sinn außer Betracht.46 Nach einem Beschluss der Abteilung Strafrecht des 72. Deutschen Juristentages sollte § 46 StGB dahingehend geändert werden, dass Grundlage der Strafzumessung das vom Täter verschuldete Unrecht ist.47 Auch diese Formulierung kann mit der Tatproportionalitätslehre in Verbindung gebracht werden. Für die vorgeschlagenen Regelungen kann angeführt werden, dass mit ihnen klargestellt werden könnte, dass es bei der Strafzumessung um die Tatschuld und nicht um Charakter- oder Lebensführungsschuld geht.48 Gegen die Formulierungen spricht jedoch, dass mit dem Anschluss an die Tatproportionalitätslehre der Sachverhalt, der die Grundlage für die Bemessung der Schuld des Täters bildet, zu eng gefasst werden könnte. Für die Schuldbemessung kommt es nicht nur auf die Tatfolgen und die Merkmale der Tathandlung an, sondern können auch Ereignisse vor der Tathandlung, wie z. B. der Umstand, dass der Täter von anderen zur Tat gedrängt wurde, von Bedeutung sein. Die Zulässigkeit der Berücksichtigung solcher Umstände bei der Strafzumessung könnte zweifelhaft sein, wenn im Gesetz für die Strafzumessung auf das verschuldete Unrecht abgestellt wird. Außerdem ist die von der Tatproportionalitätslehre vorgenommene Ausblendung der Spezialprävention aus der Strafzumessung im engeren Sinn abzulehnen.49 Hinsichtlich einer Überarbeitung des Katalogs der Strafzumessungsfaktoren in § 46 Abs. 2 S. 2 StGB hat Kaspar u. a. vorgeschlagen, das Merkmal der Gesinnung zu streichen.50 Die Abteilung Strafrecht des 72. Deutschen Juristentages hat diese Streichung befürwortet.51 Begründet wird dies damit, dass durch dieses Merkmal die Trennung zwischen der Missbilligung der Tat und einer (pauschalen) Missbilligung des Täters als Person untergraben werde.52 Das Gesetz spricht jedoch ausdrücklich von der „Gesinnung, die aus der Tat spricht“. Damit ist klargestellt, dass es nicht um eine allgemeine Gesinnung des Täters geht, sondern um die Einzeltatgesinnung, also um die innere Einstellung, die in der Tat zum Ausdruck kommt.53 Das ist ein legitimer Strafzumessungsfaktor. So spielt es für die Strafzumessung eine Rolle, ob der Behandlungsfehler eines Arztes auf Übermüdung oder Gleichgültigkeit gegenüber der Gesundheit des Patienten beruht.54 Vorstrafen sollen nach Kaspar nur 46
Schünemann (Fn. 21), S. 224 ff.; Hörnle (Fn. 21), S. 143 ff. Beschlüsse der Abteilung Strafrecht des 72. DJT, B. I. 8. c), in: Verhandlungen des 72. DJT (Fn. 28), M 65. 48 Vgl. Kaspar (Fn. 3), C 30; Epik, StV 2019, 489 (491). 49 Gegen die Tatproportionalitätslehre Streng (Fn. 6), Rn. 639; Maurach/Gössel/Zipf/Dölling (Fn. 16), § 62 Rn. 18; Meier (Fn. 16), S. 175. 50 Kaspar (Fn. 3), C 71. 51 Beschlüsse der Abteilung Strafrecht des 72. DJT, B. I. 8. e), in: Verhandlungen des 72. DJT (Fn. 28), M 65. 52 Kaspar (Fn. 3), C 71. 53 Vgl. Meier (Fn. 16), S. 195; Fischer, StGB, 67. Aufl. 2020, § 46 Rn. 27. 54 Siehe Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts Allg. Teil, 5. Aufl. 1996, S. 889; Meier (Fn. 16), S. 203. 47
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dann strafschärfend berücksichtigt werden, wenn sie „die Bedrohlichkeit der nun abzuurteilenden Tat und damit das Ausmaß der Rechtsfriedensstörung erhöht haben“.55 Vorstrafen sind jedoch für die Strafzumessung insbesondere deshalb relevant, weil sie unter dem Gesichtspunkt, dass der Täter die von der Vorstrafe ausgehende Warnfunktion in vorwerfbarer Weise missachtet hat, schulderhöhend wirken können und weil sie in spezialpräventiver Hinsicht für eine erhöhte Gefährlichkeit des Täters sprechen können.56 Dies kommt in der vorgeschlagenen Formulierung nicht hinreichend zum Ausdruck.57 Die Frage, ob der Katalog der Strafzumessungsfaktoren in § 46 Abs. 2 S. 2 StGB geändert werden sollte, bedarf daher weiterer Prüfung. Änderungen werden auch im Hinblick auf die gesetzlichen Strafrahmen gefordert. Das geltende Recht enthält zahlreiche verschiedene Strafrahmen.58 Häufig fallen die Strafrahmen weit aus. Zu den Strafrahmen für die Grundtatbestände treten vielfach Sonderstrafrahmen für Privilegierungen oder Qualifikationen des Grundtatbestandes oder für minder schwere oder besonders schwere Fälle. Bei den Strafrahmen für minder schwere Fälle werden teilweise bestimmte Beispiele für minder schwere Fälle tatbestandlich umschrieben (vgl. z. B. § 213 StGB) und bei den Strafrahmen für besonders schwere Fälle werden diese teilweise durch Regelbeispiele konkretisiert (siehe etwa § 243 StGB). Daneben stehen Strafrahmen für unbenannte minder schwere und besonders schwere Fälle (vgl. z. B. § 249 Abs. 2 StGB und § 212 Abs. 2 StGB). Regelstrafrahmen und Sonderstrafrahmen überlappen sich häufig erheblich. Hinzu kommen obligatorische und fakultative Strafrahmenmilderungen nach Vorschriften des Allgemeinen Teils (siehe §§ 27 Abs. 2, 13 Abs. 2, 17, 21 und 23 Abs. 2 StGB).59 Die geltenden Regelungen der Strafrahmen sind somit komplex. Es wurde sogar von einem „Wildwuchs“ gesprochen.60 Kaspar hat u. a. vorgeschlagen, die Spannweite ausgewählter Strafrahmen durch Absenkung der Strafrahmenobergrenzen zu reduzieren, eine Absenkung der Mindeststrafen dort zu erwägen, wo die Gerichte häufig minder schwere Fälle annehmen, die absolute Strafdrohung des § 211 StGB abzuschaffen, fakultative Strafmilderungen in obligatorische Milderungen umzuwandeln, die unbenannten besonders schweren Fälle abzuschaffen, die bei einzelnen Delikten vorgesehenen Sonderstrafrahmen für minder schwere Fälle in eine für alle Delikte geltende Milderungsregelung in § 49 Abs. 1 StGB zu überführen, die Regelbeispielstechnik (ohne die Mög55
Kaspar (Fn. 3), C 104. Vgl. Maurach/Gössel/Zipf/Dölling (Fn. 16), § 63 Rn. 158 ff.; Kudlich/Koch, NJW 2018, 2762 (2766); Meier (Fn. 16), S. 208 f. 57 Die Abteilung Strafrecht des 72. DJT hat sich dagegen ausgesprochen, § 46 StGB dahingehend zu ändern, dass die strafschärfende Berücksichtigung von Vortaten und Vorstrafen begrenzt wird, vgl. Beschlüsse der Abteilung Strafrecht des 72. DJT, B. I. 8. f), in: Verhandlungen des 72. DJT (Fn. 28), M 65. 58 Siehe Kaspar (Fn. 3), C 47. 59 Vgl. zu den gesetzlichen Strafrahmen Streng (Fn. 6), Rn. 506 ff.; Maurauch/Gössel/Zipf/ Dölling (Fn. 16), § 62 Rn. 29 ff.; Meier (Fn. 16), S. 176 ff. 60 Zipf, Kriminalpolitik, 2. Aufl. 1980, S. 202. 56
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lichkeit der Annahme eines unbenannten besonders schweren Falles) behutsam zu erweitern und für bestimmte Bereiche einzelner Strafrahmen konkretere gesetzliche Vorgaben einzuführen, etwa Wertgrenzen beim Diebstahl, die in der Regel erfüllt sein müssen, um in einen höheren Bereich des Strafrahmens zu gelangen.61 Die Abteilung Strafrecht des 72. Deutschen Juristentages hat sich dafür ausgesprochen, die angedrohten Mindeststrafen in den Fällen abzusenken, in denen die Tatgerichte häufig minder schwere Fälle annehmen, die unbenannten besonders schweren Fälle durch Regelbeispiele zu ersetzen und die absolute Strafdrohung des § 211 StGB abzuschaffen.62 Eine Absenkung der Strafobergrenzen und eine Umwandlung von fakultativen Strafmilderungen in obligatorische Milderungen hat die Abteilung Strafrecht abgelehnt.63 Soll an eine Veränderung der Strafrahmen herangetreten werden, ist es erforderlich, die geltenden Strafdrohungen im Einzelnen auf ihre Angemessenheit zu prüfen. Im Hinblick auf die weiten Strafrahmen und Sonderstrafrahmen ist jeweils zu untersuchen, ob es Fallkonstellationen gibt, für deren Erfassung es weiter Strafrahmen oder Sonderstrafrahmen für minder schwere oder besonders schwere Fälle bedarf, oder ob eine Reduzierung der Spannweite der Strafrahmen ohne Verlust an Strafgerechtigkeit möglich ist. Auch die Frage, ob Strafdrohungen – z. B. durch Schaffung von Regelbeispielen für besonders schwere Fälle – in sachgerechter Weise konkretisiert werden können, muss für die in Betracht kommenden Strafrahmen jeweils sorgfältig geprüft werden. Die Frage, ob die absolute Strafdrohung des § 211 StGB aufgehoben werden sollte, ist von der vom Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz eingesetzten Expertengruppe zur Reform der Tötungsdelikte eingehend untersucht und mit großer Mehrheit zu Recht bejaht worden.64 Wird überlegt, wie die Strafzumessung verbessert werden kann, ist der Blick nicht nur auf das materielle Strafzumessungsrecht, sondern auch auf das Strafverfahren zu richten. Die Strafzumessungsentscheidung muss in einem Kommunikationsprozess mit den Verfahrensbeteiligten erarbeitet werden.65 Anzustreben ist eine Rechtsfolgenfindung in einem transparenten, möglichst dialogischen Prozess,66 in den alle Verfahrensbeteiligten ihre Sichtweisen hinsichtlich der angemessenen strafrechtlichen Reaktion einbringen und sich wechselseitig damit auseinandersetzen. Insbesondere unter spezialpräventiven Gesichtspunkten ist es wichtig, dass der Angeklagte in 61
Siehe Kaspar (Fn. 3), C 107 ff., 118 ff. Für eine Gesamtversion der Strafrahmen auch Verrel, JZ 2018, 811 (813 f.). 62 Beschlüsse der Abteilung Strafrecht des 72. DJT, A. II. 7. b) und d), B. I. 10., in: Verhandlungen des 72. DJT (Fn. 28), M 64 f., M 66. 63 Beschlüsse der Abteilung Strafrecht des 72. DJT, A. II. 7. a) und c), B. I. 10., in: Verhandlungen des 72. DJT (Fn. 28), M 64. 64 Vgl. Abschlussbericht der Expertengruppe zur Reform der Tötungsdelikte (§§ 211 – 213, 57a StGB), 2015, S. 21, 55 ff.; dazu Dölling, DRiZ 2015, 260 ff. 65 Siehe Mosbacher (Fn. 28), M 23, M 32 f., M 41. 66 Zur Strafjustiz im Spannungsverhältnis zwischen Zwang und Dialog vgl. Dölling, in: Bode u. a. (Hrsg.), Wolf-FS, 2018, S. 125 ff.
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die Entscheidungsfindung einbezogen wird und ihm die für die Sanktionsentscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte verdeutlicht werden. Dies erhöht die Chance, dass er die Sanktion akzeptiert, und damit verbessern sich die Aussichten für die Resozialisierung.67 Eine angemessene Erörterung der Sanktionsfrage kann durch eine zweigeteilte Hauptverhandlung gefördert werden, in der zunächst über die Tatfrage und dann in einem zweiten Abschnitt über die Rechtsfolge verhandelt wird.68 Eine sachgerechte Strafzumessung setzt schließlich voraus, dass die Richter für diese Aufgabe hinreichend ausgebildet sind. Wegen der zentralen Bedeutung der Strafzumessung für die Strafrechtspflege sollten die Grundzüge des Strafzumessungsrechts Gegenstand des Pflichtfaches Strafrecht der universitären Juristenausbildung sein.69 Das Strafzumessungsrecht sollte Bestandteil der Referendarausbildung und Gegenstand von Fortbildungsveranstaltungen für Richter sein.70 Auch die Schöffen sollten im Strafzumessungsrecht geschult werden.71 Insgesamt bedarf es somit weiterer Anstrengungen zur Verbesserung des Strafzumessungsrechts und seiner Anwendung. Hierfür kommt den von dem Jubilar für das Sanktionenrecht hervorgehobenen Leitgesichtspunkten der Gerechtigkeit, Gleichheit und Rechtssicherheit72 wesentliche Bedeutung zu.
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Siehe Dölling (Fn. 66), S. 129. Vgl. Kilian, Referat in der Abteilung Strafrecht des 72. DJT, in: Verhandlungen des 72. DJT (Fn. 28), M 43 (M 55); Dölling, Die Zweiteilung der Hauptverhandlung, 1978. 69 Siehe Kaspar (Fn. 3), C 112, 120; Kudlich/Koch, NJW 2018, 2762 (2766); Fünfsinn (Fn. 40), M 14, M 20; Güntge, ZIS 2019, 384 (387); gegen die Aufnahme des Strafzumessungsrechts in den Pflichtfachkatalog des Fachs Strafrecht der Ersten juristischen Prüfung Beschlüsse der Abteilung Strafrecht des 72. DJT, B. III. 16. a), in: Verhandlungen des 72. DJT (Fn. 28), M 67. 70 Vgl. Mosbacher (Fn. 28), M 34, M 41; für Ausbildung im Strafzumessungsrecht im Referendardienst Güntge, ZIS 2019, 384 (387); Beschlüsse der Abteilung Strafrecht des 72. DJT, B. III. 16. b), in: Verhandlungen des 72. DJT (Fn. 28), M 67. 71 Siehe Mosbacher (Fn. 28), M 34; Kilian (Fn. 68), M 61; gegen eine obligatorische Schulung von Laienrichtern im Strafzumessungsrecht Beschlüsse der Abteilung Strafrecht des 72. DJT, B. III. 15., in: Verhandlungen des 72. DJT (Fn. 28), M 67. 72 Vgl. Sieber, Geerds-FS (Fn. 1), S. 126 f. 68
Serientötungen kranker und pflegebedürftiger Menschen Anmerkungen zum Fall Niels H. Von Thomas Hillenkamp
I. Einleitung Serielle Tötungen kranker, alter und pflegebedürftiger Menschen1 sind nicht epidemisch. Wie das 2011 neu aufgelegte Buch „Krankentötungen in Kliniken und Heimen“ des Psychiaters Beine zeigt, sind sie aber auch nicht nur eine skurrile Jahrhundertrarität.2 Im Gegenteil: die 36 berichteten Tötungsserien ereigneten sich binnen 37 Jahren. 27 von ihnen geschahen in Kliniken, 9 in Heimen.3 Wie ein im November 2019 beim LG München I eröffnetes Verfahren zeigt, kommen sie zwar auch in der häuslichen Pflege vor.4 Am häufigsten geschehen sie aber offenbar, wie auch im Fall Niels H., im Krankenhaus. Obwohl die justizielle Aufarbeitung von Patiententötungen durch ihn mit einer im Juli 2005 aus dem Krankenhaus Delmenhorst erstatteten Anzeige begann,5 ist diese jedes Maß sprengende Tötungsserie bei Beine noch nicht erwähnt. Es war den Strafverfolgungsorganen (zu) lange nicht klar, dass es sich bei dem 2006 dann angeklagten Einzelfall nur um ein Glied 1
Zumeist treffen die 3 Attribute kumulativ zu. Unter den 100 Personen, wegen deren Tötung Niels H. im 3. Strafverfahren gegen ihn angeklagt war, waren alle im Krankenhaus und auf pflegerische Versorgung angewiesen. Nur 5 waren jünger als 60, zwei älter als 90. Trotz der mittlerweile für das Ende der aktiven Erwerbstätigkeit verschobenen Grenzen wird auch heute noch für das Attribut „alt“ überwiegend die 60-Jahresgrenze angegeben, s. dazu Hillenkamp, ZStW 132 (2020), 705 ff. 2 Beine, Krankentötungen in Kliniken und Heimen – Aufdecken und Verhindern, 2. Aufl. 2011. Im „deutschen Sprachraum“ geht es um 9 Tötungsserien zwischen 1973 bis 2007 (S. 93 – 340), daneben um zahlreiche Serien im Ausland zwischen 1975 und 2010 (S. 19 – 91). Die letzte im deutschsprachigen Raum betrifft den in BGH StV 2009, 524 mit Anm. Neumann behandelten Fall in der Berliner Charité. 3 Beine (Fn. 2), S. 364. 4 Der angeklagte Hilfspfleger ist dort wegen 6 vollendeter und 3 versuchter Morde an von ihm zuhause betreuten Pflegebedürftigen angeklagt. Das Motiv war Bereicherung, laut Anklage auch das für den Angeklagten „unverhandelbare Anrecht auf ungestörte Nachtruhe“, s. FAZ v. 27. 11. 2019 S. 7. 5 Nach einem 1. landgerichtlichen Urteil 2006 rechtskräftig abgeschlossen 2008; s. zur Chronologie des Gesamtgeschehens den Bericht des Sonderausschusses (Bericht SA) „Stärkung der Patientensicherheit und des Patientenschutzes“ vom 27. 4. 2016, Nds. Landtag, Ds. 17/5790, S. 6 – 10.
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einer vermutlich über 200 (Verdachts-)Fälle betreffenden Kette handelte, die jedenfalls im Hellfeld der Serientötungen bisher einmalig ist. Das mag es rechtfertigen, die sich in ihr spiegelnde Problematik des beunruhigenden Phänomens noch einmal aufzugreifen.6 Dabei gilt es, neben den materiellrechtlich und kriminologisch relevanten Aspekten die namentlich durch den Niedersächsischen Landtag ins öffentliche Bewusstsein gehobenen Maßnahmen aufzuzeigen, die Wiederholungen ausschließen oder doch maßgeblich erschweren und frühzeitige Aufdeckung befördern sollen.7
II. Der Fall und die Justiz Niels H., 1976 geboren, wurde am 6. Juni 2019 vom LG Oldenburg des Mordes in 85 Fällen für schuldig erkannt.8 Hinsichtlich weiterer 15 angeklagter Fälle wurde er aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Die Verurteilung zu einer lebenslangen Gesamtfreiheitsstrafe erfolgte unter Einbeziehung der Strafen aus Urteilen des LG Oldenburg von 2008 und 2015.9 Die besondere Schwere der Schuld wurde festgestellt, ein lebenslanges Berufsverbot erteilt, von der Anordnung der Sicherheitsverwahrung aber abgesehen.
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Neben Beine (Fn. 2) widmen sich (gleichfalls noch ohne Bezug zum Fall Niels H.) verschiedentliche Publikationen (Teil)Aspekten der Thematik, so etwa Eisenberg, MSchrKrim 80 (1997), S. 239 ff.; Beiträge in Görgen (Hrsg,), Sicherer Hafen oder gefahrvolle Zone? Kriminalitäts- und Gewalterfahrungen im Leben alter Menschen, 2010 (mit der Einschränkung, dass die verwendete Methode des Self-Reports vollendete Tötungsdelikte nicht aufdecken kann, s. S. 18, 35); R.D. Hirsch, BewH 52 (2005), S. 149 ff.; Kreuzer/Hürlimann, in: dies. (Hrsg.), Alte Menschen als Täter und Opfer, 1992, S. 47 ff.; Maisch, Patiententötungen, 1997; Beiträge unter „III. Serientötungen im Krankenhaus und in der Altenpflege“ von Friedrich, Daldrup, Missliwetz u. a., Bajanowski u. a., Käferstein u. a., Maisch, in: Oehmichen (Hrsg.), Lebensverkürzung, Tötung und Serientötung – eine interdisziplinäre Analyse der „Euthanasie“, 1996, S. 159 ff.; dort auch einleitend H.-J. Wagner, S. 15 ff. und resümierend Oehmichen, S. 229 ff.; Rückert, Tote haben keine Lobby, 4. Aufl. 2000; Walentich/Wilms/M.Walter, BewH 52 (2005), S. 166 ff.; H.-J. Wagner, Rechtsmedizin (1991) 1 : 35 – 40; ders., DÄBl 89 (1992), A 1226 ff., A 4304 ff. Rechtshistorisch Eckart, in: Anderheiden/Eckart (Hrsg.), Handbuch Sterben und Menschenwürde, Bd. 2, 2012, S. 1439 ff. Zur umgekehrten Aggression s. nur Grond, Gewalt gegen Pflegende, Altenpflegende als Täter und Opfer, 2007 und Panke-Kochinke, Gewalt gegen Pflegekräfte, 2008. 7 Das ist auch das Anliegen von Beine (Fn.2) in seinem Schlusskapitel, S. 391 ff. und der Empfehlungen des vom Nds. Landtag im Februar 2015 eingesetzten Sonderausschusses, s. Bericht SA (Fn. 5), S. 14 ff. 8 LG Oldenburg Urt. v. 6. 6. 2019 – Az.5 Ks 800 Js 54254/17 (1/18). Das Urteil war bei Abfassung dieses Berichts (Dezember 2019) noch nicht rechtskräftig (s. jetzt aber u. Fn. 72). Zur vom Vors. Richter Bührmann erbetenen „Gedenkminute“ für die Opfer zu Beginn des Verfahrens s. Leitmeier, StV 2019, 282. 9 LG Oldenburg Urt. v. 23. 06. 2008 – Az. 4 Ks 1/07 und v. 26. 2. 2015 – Az. 5 Ks 1/14, rechtskräftig seit dem 9. 3. 2015.
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Niels H.,10 Sohn eines Krankenpflegers, schloss 1997 seine Ausbildung zum Krankenpfleger ab und bestand 1998 die Prüfung zum Rettungsassistenten. Von Juni 1999 bis Mitte Dezember 2002 arbeitete er im Klinikum Oldenburg und bildete sich dort zum Intensivpfleger weiter, zunächst auf der herzchirurgischen Intensivstation, dann in der Anästhesie. In einem „Vier-Augen-Gespräch“ wohl Ende August 2002 wurde Niels H. von seiner Tätigkeit freigestellt, da die Klinik „kein Vertrauen mehr“ zu ihm habe. Aufgrund einer Einstellung im Klinikum Delmenhorst zum 15. 12. 2002 wurde sein Arbeitsvertrag in Oldenburg, der zum 31. 12. 2002 enden sollte, einverständlich zum 14. 12. 2002 aufgehoben. Niels H. wurde ein positives Zeugnis erstellt.11 Vom 15. 12. 2002 bis zum 8. 7. 2005 arbeitete er auf der Intensivstation in Delmenhorst. Am 8. 7. 2005 wurde er dort aufgrund der Ereignisse, die zu seiner ersten rechtskräftigen Verurteilung am 23. 6. 2008 führten, entlassen. Dieser Verurteilung war am 22. 12. 2006 ein Urteil des LG Oldenburg vorausgegangen, in dem Niels. H. ein versuchter Totschlag zur Last gelegt wurde.12 Die Revision gegen dieses Urteil führte zur Zurückverweisung an das LG Oldenburg13 und der Verurteilung wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 7 Jahren und 6 Monaten sowie einem lebenslangen Berufsverbot.14 Davor war Niels H. 2007/08 noch in einem Alten- und Pflegeheim und für kurze Zeit im Rettungsdienst tätig. Seit dem 6. 5. 2009 ist er in Strafhaft. Der Verurteilung 2006/08 lag ein Sachverhalt zugrunde, der das der gesamten Serie gleichförmig bestimmende Tatschema widerspiegelt. Am 22. 6. 2005 hatte Niels H. um 13.00 Uhr mit anderen die „Spätschicht“ auf der Intensivstation übernommen. Dort traf er einen nach zwei Operationen in ein künstliches Koma versetzten, 63 Jahre alten, schwerstkranken Patienten P an. Eigenmächtig und ohne medizinische Indikation führte er ihm um 13.30 Uhr über den zentralen Venenkatheter 40 ml des Herzantiarrythmikums Gilurytmal (Wirkstoff Ajmalin) zu, das er zuvor unbeobachtet einem Medikamentenfach der Stationsapotheke entnommen hatte. Von ihm wusste er, dass es bei P zu lebensbedrohlichen Herzrhythmusstörungen und zu einem letztlich den Tod herbeiführenden Blutdruckabfall führen konnte. Da bis 14.00 Uhr der bei Eintritt des bedrohlichen Zustands sich einstellende akus10 Der folgende Bericht beruht auf den Gründen der dem Verf. vorliegenden Urteile des LG Oldenburg aus den Jahren 2015 (Fn. 9) und 2019 (Fn.8), im Folgenden zit. als Urt. 2015 bzw. Urt. 2019 sowie ergänzend dem Bericht SA (Fn. 5), S. 6 – 10. 11 Die Angaben zum Ablauf (Vier-Augen-Gespräch/Kündigung?/Auflösung/Zeugniserteilung) im Urteil 2015 (S. 4 ff., 14 f.) weichen von denen im Urteil 2019 (S. 31 – 33) zeitlich und inhaltlich teilweise voneinander ab. 12 Das Urteil lautete wg. versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung auf 5 Jahre Freiheitsstrafe und ein Berufsverbot von gleichfalls 5 Jahren. 13 BGH NStZ 2008, 93 (= vollständiger in BeckRS 2007, 19114) mit Anm. Mitsch, NStZ 2008, 421; Bosch, JA 2008, 389; Satzger, JK 6/08, StGB § 211/54. Der BGH monierte (rechtlich) unzureichende Feststellungen zum bejahten Vorsatz und zum verneinten Mordmerkmal der Heimtücke. 14 Die Gründe dieses Urteils sind in den Urteilen des LG Oldenburg aus den Jahren 2015 und 2019 ausführlich wiedergegeben.
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tische Alarm erwartungswidrig ausblieb, begab sich Niels H. erneut zu P., stellte den dem P ein lebensnotwendiges Medikament zuführenden Perfusor auf „0.00“ und unterdrückte den dadurch ausgelösten Alarm. Sein Plan war dabei, das Zimmer ein zweites Mal schnell wieder zu verlassen und den bald darauf erneut einsetzenden Alarm abzuwarten. Dann wollte er in das Zimmer eilen und in Anwesenheit weiterer Alarmierter den in einen reanimationspflichtigen Zustand geratenen P reanimieren. Dabei ging es ihm nicht in erster Linie um die Rettung des P, sondern um den durch die Aktion ausgelösten Nervenkitzel und Adrenalinstoß, dazu um ein „Zur-SchauStellen“ seiner Fähigkeiten, das ihm Anerkennung und Bewunderung einbringen sollte.15 Besser fühlte er sich, wie er in den späteren Verfahren berichtete, wenn die Reanimation gelang, der „Kick“ und die Demonstration seines Könnens, um die es ihm vor allem ging, waren davon aber unabhängig. Das „Alleinstellungsmerkmal“ dieses Falles war, dass unmittelbar nach Unterdrückung des Alarms die für P zuständige Schwester S zufällig den Raum betrat, sofort den Blutdruckabfall und die Nullstellung des Perfusors bemerkte und einen Kollegen zu Hilfe rief. Trotz Wiederanstellens des Perfusors und der zweimaligen Gabe eines Bolus des entzogenen Medikaments kam es zu einem reanimationspflichtigen Zustand des P. An der erfolgreichen Wiederbelebung beteiligte sich Niels H. nicht.16 P verstarb am folgenden Tag an seinem Grundleiden. S hatte ihm eine Blutprobe abgenommen, festgestellt, dass eine Packung Gilurytmal fehlte und die Verdachtsmomente dem Stationspflegeleiter mitgeteilt. Die Blutprobe ergab einen Rückstand des Wirkstoffs Ajmalin. Die auf Anzeige hin einsetzenden Ermittlungen führten zur Anklage und späteren Verurteilung. Verdachtsmomente auf weitere Fälle, die sich zu Beginn der ersten Ermittlungen, vor allem aber anlässlich der Hauptverhandlung 2008 ergaben, führten später zu 8 weiteren Ermittlungsverfahren, die erst Anfang 2014 in eine Anklage und am 26. 2. 2015 in ein zweites rechtskräftig gewordenes Urteil mündeten. Hierin wurde Niels. H wegen Mordes in zwei Fällen, versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen und wegen gefährlicher Körperverletzung in einem weiteren Fall, die sich sämtlich von 2003 bis 2005 in Delmenhorst ereignet hatten, zu einer lebenslangen Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Auch wurde ein lebenslanges Berufsverbot ausgesprochen. Beiden Verurteilungen wegen vollendeten Mordes lagen von Niels H. erfolglos durchgeführte, durch die Gabe von Gilurytmal provozierte Reanimationen zugrunde. In den beiden Versuchsfällen gelang es ihm trotz der Gabe von Gilurytmal nicht, einen reanimationspflichtigen Zustand herzustellen. Der wenig später eintretende Tod war nicht ausschließbar auf die Grunder15 Dass BGH NStZ 2008, 93 (94) die „vom LG als möglich unterstellte“ Motivation, seine Notfallkompetenz zu beweisen, für fernliegend erachtet, war eine Fehleinschätzung des tatsächlich die gesamte Serie dominierenden Motivs. 16 Insoweit atypisch im Hinblick auf die noch nicht entdeckten Taten. Er hatte auf Nachfrage, weshalb der Perfusor auf Null stünde, geantwortet, er habe „nichts gemacht“ und auf nochmalige Frage: „Glaubst du, ich habe das Arterenol ausgemacht? Es hört sich so an.“ (Urt. 2015, S. 12).
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krankung zurückzuführen. Die Verurteilung (nur) wegen gefährlicher Körperverletzung beruhte in einem weiteren Fall auf der Annahme, dass die Reanimation nach Eintritt des kritischen Zustands gelang und auch hier für den späteren Todeseintritt denkbarerweise die Grunderkrankung ursächlich war. Schon während der Hauptverhandlung 2014 hatte Niels H. bekundet, über die Anklage hinaus in Delmenhorst „nach eigenen Schätzungen … bei mindestens 60 Patienten eine Krise mit anschließender erfolgreicher Reanimation verursacht und in weiteren 20 bis 25 Fällen die Reanimation vergeblich versucht zu haben.“ Das Gericht wies deshalb auf die Notwendigkeit „intensiver Ermittlungen“ hin.17 Im Oktober 2014 errichtete der Polizeipräsident Oldenburg die Sonderkommission „Kardio“. Erst nach wiederholten Vernehmungen räumte Niels H. 2016 die im Verfahren 2014/ 15 noch abgestrittene Tatsache ein, dass er auch schon in Oldenburg Manipulationen an Patienten mit Gilurytmal und mit weiteren missbräuchlich verwandten Wirkstoffen vorgenommen habe.18 Mitte Januar 2018 mündeten die Ermittlungen in Anklagen, mit denen Niels H. 100 Morde zur Last gelegt wurden. In der einleitend unter II. hier aufgeführten Verurteilung in 85 Fällen ging es bei 31 der ihm letztlich nachgewiesenen Morde um Taten auf der herzchirurgischen Intensivstation in Oldenburg zwischen Februar 2000 und November 2001, bei den restlichen 54 Morden um Taten auf der Intensivstation in Delmenhorst. Für die Zeit der Tätigkeit in der Anästhesie in Oldenburg (9. 12. 2001 bis Ende September 2002) wurden keine Taten angeklagt.19 Alle Taten folgten dem für die (versuchte) Tat 2005 oben bereits beschriebenen Muster.20 Niels H. führte in aller Regel den tiefschlafenden oder bewusstlosen und deshalb wahrnehmungsunfähigen sowie „gesundheitlich bereits schwer angeschlagenen“ Patienten und Patientinnen über einen schon gelegten Zugang ohne Indikation und ärztliche Anordnung überwiegend Gilurytmal, aber auch Kalium, Sotalex, Xylocain oder Cordarex in einer prospektiv nicht tödlichen, aber höchstwahrscheinlich einen reanimationspflichtigen Zustand hervorrufenden Dosierung zu. Zuvor stellte er den Signalalarm im Patientenzimmer aus. Zeigte das EKG und das Blutdruckmessgerät die erwünschte Wirkung, entsorgte Niels H. die bereits im Medikamentenraum aufgezogene Spritze gegebenenfalls mit dem nicht mehr benötigten Wirkstoffrest im Mülleimer des Patientenzimmers, verließ es eilig, um sich mög17
S. S. 24/30 des Urt. 2015. Zur (Tätigkeit der) Sonderkommission s. Bericht SA (Fn. 5), S. 9; S. 29 – 31 des Urt. 2019. Zum Abstreiten Oldenburger Vorkommnisse s. S. 33 des Urt. 2015. Die Glaubwürdigkeit dieser Einlassung folgerte die Kammer aus der Angabe, auf der herzchirurgischen Intensivstation in Oldenburg habe kein Bedarf bestanden, reanimationspflichtige Zustände zu provozieren, da sie ohnehin häufig eintraten. Zu den weiteren Wirkstoffen zählte u. a. das in der Leiche nicht mehr nachweisbare Kalium. 19 S. S. 43 des Urt. 2019 sowie S. 34 – 43 und 43 – 59 zu den Fallserien in beiden Häusern. Auf S. 57 ff. finden sich die Fälle der Anklage, die nicht zur Verurteilung führten, Begründung dazu S. 130 ff. 20 S. S. 33 f. des Urt. 2019. 18
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lichst weit weg von dem Zimmer zu begeben, und wartete, bis nach 30 Sekunden der von ihm deaktivierte Signalalarm automatisch wieder ansprang. Dann lief er in das Zimmer zurück und begann vor den Augen der sich einfindenden Kollegen und Kolleginnen mit der Reanimation. Die meisten der 85 zu Tode Gekommenen verstarben während oder kurz nach der missglückten Reanimation. In einigen Fällen trat der Tod aber auch ohne (nachweisbaren) Reanimationsversuch schon aufgrund der Medikamentengabe ein.21
III. Desiderate zu Vorsatz und Heimtücke Was die materielle Wertung der von Niels H. begangenen Taten angeht, soll es hier mit einem Blick auf nur zwei Strafbarkeitsvoraussetzungen in den Urteilen des LG Oldenburg sein Bewenden haben.22 Die materiellen Gründe machen gegenüber der Beweiswürdigung nur einen geringen Umfang der Urteile aus.23 Ganz so evident, wie es scheint, sind die aufgestellten Rechtsbehauptungen zu zwei Voraussetzungen aber nicht. Das gilt zum einen für den Vorsatz. Führt man die Feststellungen zur „inneren Tatseite“ und „Motivation“24 mit den dazugehörigen Rechtsausführungen zusammen, ergibt sich in den Urteilen 2008 und 2015 allerdings zunächst ein scheinbar schlüssiges Bild zum bedingten Tötungsvorsatz. „Der Angeklagte handelte vorsätzlich. Zwar kam es ihm nicht auf den Tod seiner Opfer an“, heißt es 2015 in den Gründen knapp. „Diesen wollte er vielmehr nach Möglichkeit vermeiden, um sich als ,Retter‘ profilieren zu können. Gleichwohl war ihm die Möglichkeit des Todeseintritts bewusst; er nahm sie billigend in Kauf,“25 vier dürre Sätze, auf die sich dann auch das Urteil von 2019 für 85 (!) Fälle beschränkt.26 Auch ziehen hiermit die freilich ohne jede „Theorie“27 auskommenden Ausführungen das vom BGH zum Urteil 21
Zu weiteren eingestellten Verfahren gegen Niels H. (Taten im Rettungsdienst) und gegen 3 Bedienstete der StA Oldenburg s. Bericht SA (Fn. 5), S. 10 und 8 f. 22 Zum niedrigen Beweggrund und zum (Rücktritt vom) Versuch bewegen sich die Ausführungen wie auch die zur Schwere der Schuld, zur Strafzumessung, zum Berufsverbot und zum auf BGH NStZ-RR 2014, 207 gestützten Verzicht auf die Anordnung der Sicherungsverwahrung wohl in gesicherten Bahnen. 23 Auf knapp 3 Seiten (S. 16 – 19) ist im Urt. 2015 die materielle Begründung des Urt. 2008 wiedergegeben; die eigene Begründung umfasst 6 Seiten (S. 34 – 39 einschließlich 1 1/2 Seiten Beweiswürdigung). Das Urt. 2019 kommt mit 3 Seiten (S. 141 u. – 144 Mitte) aus. 24 S. 15 f. des Urt. 2015.; S. 22 des Urt. 2015. Die Richtigkeit der Feststellungen hatte Niels H. gegenüber einer Sachverständigen im Vollzug mittlerweile eingeräumt, S. 33 des Urt. 2015. 25 S. 35 des Urt. 2015. 26 S. 143 mit s. 33 des Urt. 2019. 27 Zur Abgrenzung von dolus eventualis und bewusster Fahrlässigkeit, s. nur Hillenkamp/ Cornelius, 32 Probleme aus dem Strafrecht AT, 15. Aufl. 2017, 1. Problem mit umfassenden Nachweisen.
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2006 erhobene Monitum nicht (mehr) auf sich, die dort „verwendete Formulierung, der Angeklagte habe auf das Ausbleiben des Todes nicht vertrauen, sondern nur vage hoffen können, und die Wertung, es sei für ihn erkennbar gewesen, dass es allein vom Zufall abhänge, ob der Patient reanimiert werden könne oder versterbe,“ vermöge „– für sich genommen – nur den Vorwurf der (bewussten) Fahrlässigkeit zu begründen“.28 Ferner haben die drei Entscheidungen auch das vom BGH aufgeworfene Bedenken leidlich zerstreut, für ein Vertrauen auf nicht tödlichen Ausgang spreche, dass der Angeklagte seine Rettungskompetenz habe unter Beweis stellen und dies zudem auf der Intensivstation eines Krankenhauses habe tun wollen, wo „schnell lebenserhaltende Gegenmaßnahmen eingeleitet werden können“. Tatsächlich hat er, so die Feststellungen, eben gleichwohl nicht vertraut.29 Damit ist aber die Problematik nicht ausgeschöpft, die sich hinter der Absicht verbirgt, in jedem der Fälle nach Möglichkeit eine erfolgreiche Reanimation durchzuführen. Sie drängte sich vor allem in den Urteilen 2006/08 und 2015 auf, in denen es nur bzw. auch um Versuch ging. Schulmäßig beginnt dann nach der Feststellung fehlender (zurechenbarer) Vollendung dessen materielle Erörterung mit dem subjektiven Tatbestand. Gebräuchlich ist dessen Gleichsetzung mit dem Begriff „Tatentschluss“.30 Er erinnert daran, dass zum subjektiven Tatbestand (auch) des Versuchs Vorsatz und also der Wille gehört, die Tat zu vollenden, und daran, dass der Täter von Beginn an mit „Tatentschlossenheit“ handeln muss.31 War das aber so bei Niels H.? Das ist als Frage vom LG Oldenburg, aber auch vom BGH übergangen.32 Man wird sie freilich im Ergebnis in beiderlei Hinsicht bejahen müssen. Denn einerseits geht es beim dolus eventualis darum, dass der Täter den die Vollendung ausmachenden Erfolg zwar nicht anstrebt, sich mit seinem ernsthaft für möglich gehaltenen Eintritt aber um der Vornahme der sein Motiv befriedigenden Handlung willen abfindet und ihn deshalb, selbst wenn er unerwünscht ist, auch will. So aber lag es in der Tat bei Niels H. Und andererseits ficht ein Rücktrittsvorbehalt wie der Rücktritt selbst auch die Tatentschlossenheit nicht durchgreifend an. Das ist aus der Existenz des § 24 StGB, in den hier erörterten Fällen aber auch daraus zu schließen, dass die sich letztlich tödlich auswirkende einleitende Handlung von einem „unbedingten
28 BGH BeckRS 2007, 19114 Rn. 12 (Hervorheb. von Verf.) mit Verweis auf BGH NStZ 2003, 259 (260); 2006 ist damit dem LG Oldenburg der von Verf. beschriebene Fehler 16 bei der Subsumtion unterlaufen, den es zu vermeiden gilt, s. Hillenkamp, 30 Fehler bei der Subsumtion: ohne sie wird’s besser!, StudZR 2019, 169 (178, 182). 29 Die von BGH BeckRS 2007, 19114 Rn. 12 formulierte Annahme, der Beweis der Kompetenz könne ja nur bei Gelingen der Reanimation geführt werden, ist durch die Einlassungen des Angekl. widerlegt. Dass in keinem der späteren Urteile hierzu auf die BGHEntscheidung Bezug genommen wird, erstaunt. 30 LK-Hillenkamp, Bd. 1, 12. Aufl. 2007, § 22 Rn. 30. 31 LK-Hillenkamp, § 22 Rn. 39, 40 m.w.N. 32 Ebenso in den Bespr. von Bosch, JA 2008, 389 und Satzger, JK 6/08, StGB § 211/54. Mitsch, NStZ 2008, 421 geht nur auf die Nebenklagebefugnis bei nur versuchtem Tötungsdelikt ein.
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Handlungswillen“33 getragen und in dieser subjektiven Unbedingtheit nicht mehr von täterunabhängigen Bedingungen des Verlaufs abhängig war. Das war nur noch der tatsächliche Eintritt des Erfolgs.34 Wie es geboten ist, lagen daher auch den vollendeten Taten, bei denen man ja gleichermaßen zweifeln kann, Tatentschlossenheit und Vollendungswille zugrunde. Diese Notwendigkeit einmal ausdrücklich auch für vollendete Fälle festzustellen, ist leider versäumt. Das ist zu bedauern, weil sich eine Fallkonstellation, in der nur die Verhinderung des (bedingt) gewollten Erfolgseintritts den Idealfall der Motivbefriedigung erfüllt, der Rücktritt also nicht nur Vorbehalt, sondern Element des Tatplans ist, voraussichtlich so bald nicht wieder ergibt.35 Zum anderen lassen auch die Ausführungen zum Mordmerkmal der Heimtücke die Gelegenheit zu einer seit langem einmal fälligen Begründung aus. Das betrifft die Ausnutzung der Arg- und Wehrlosigkeit schutzbereiter Dritter. Hier genügen zwar die auf den jeweils betroffenen Stationen eingesetzten Pflegekräfte den Anforderungen, die die Rechtsprechung an sie stellt.36 Es hatte aber das Urteil 2006 für das Ausnutzen ihrer Arg- und Wehrlosigkeit37 verlangt, dass der Täter diesen Zustand gezielt herbeiführt. Bloßes Ausnutzen eines unabhängig von seiner Einflussnahme schon bestehenden entsprechenden Zustands reiche nicht aus.38 Auch das war für den BGH Anlass, das Urteil aufzuheben. An der gefestigten Rechtsprechung, wie beim später Getöteten selbst genüge auch bei schutzbereiten Dritten das Ausnutzen einer vom Täter vorgefundenen Arg- und Wehrlosigkeit, sei festzuhalten. An diese Vorgabe haben sich die drei Folgeurteile dann gehalten.39 Es soll nicht bestritten werden, dass diese Auslegung gut begründbar und mit der Ratio der Heimtückeschärfung40 auch gut vereinbar ist. Was daran aber stört, ist das abermals begründungslose Beharren auf dieser seit 1951 bestehenden und auch damals schon ohne Begründung
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Das ist in BGH GA 1963, 147 f. das Synonym für Tatentschlossenheit. Insofern sind Tatentschlüsse auf unsicherer Tatsachengrundlage und solche mit Rücktrittsvorbehalt strukturell verwandt, s. dazu und zur Argumentation nur LK-Hillenkamp, § 22 Rn. 40 ff., 51; Roxin, Strafrecht AT, Bd. II, 2003, § 29 Rn. 82 ff., 86 f. 35 Angesichts der ersten Revisionsentscheidung war erwartbar, dass das Versäumte in der im September 2020 entschiedenen Revision nicht nachgeholt wurde. 36 Krit. dazu aber Rengier, BT II, 20. Aufl. 2019, § 4 Rn. 30c. 37 Worauf es angesichts des komatösen Zustands des P allein ankam. Anderes als Heimtücke wurde 2006 nicht erwogen. 38 Mitgeteilt in der Revisionsentscheidung BGH NStZ 2008, 93 (94). Das Ausgangsgericht nahm deshalb nur einen Totschlagsversuch an. 39 Die krit. Stellungnahmen von Bosch, JA 2008, 389 und Satzger, JK 6/08, StGB § 211/54 sind ebenso wie Rengier, BT II (Fn. 36), § 4 Rn. 30a – c übergangen. S. auch zu einem ähnlichen, von Beine (Fn. 2), S. 314 ff. ausführlich besprochenen Fall an der Berliner Charité BGH StV 2009, 524 mit zur Heimtücke ebenfalls krit. Anm. Neumann. Dem BGH zust. z. B. MüKo-StGB- Schneider, 3. Aufl. 2017, § 211 Rn. 178. 40 S. zu ihr nur BGHSt GrSS 11, 139. 34
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aufgestellten BGH-Doktrin.41 Spätestens seit der Mahnung des BVerfG, den Mordmerkmalen eine restriktive Fassung zu geben,42 drängte es sich auf, den nicht nur vom LG Oldenburg gemachten einengenden Vorschlag einmal genauer auf den Prüfstand zu stellen.43 Das ist nicht geschehen. Wenigstens offen gelassen werden könnte die Frage, wenn Niels H., anders als im 2006/08 abgeurteilten Fall, „den Signalton des Monitors im Patientenzimmer“ schon vor der Gabe des Medikaments ausgestellt hätte.44 Dann wäre es gut vertretbar, in diesem Vorgehen eine gezielte Herbeiführung des für Heimtücke verlangten Zustands zu sehen.45
IV. Fünf Tötungsserien begünstigende Faktoren Dass die kriminologisch relevanten Facetten der hier erörterten Serientötungen weitgehend bekannt sind, verdanken wir im Wesentlichen „Fachfremden“. In den Lehrbüchern der Kriminologie kommen die Fallketten als Kriminalitätsphänomen, wenn nichts übersehen ist, so gut wie nicht vor.46 Das Fach vertretende Kriminologen haben sich nur vereinzelt und auch nur ausschnittweise mit ihnen beschäftigt.47 Man muss daher die Auskünfte von Maisch, Oehmichen und Beine für das Auffinden der im Fall Niels H. kriminologisch relevanten Daten zu Rate ziehen, wenn man eine Erklärung, warum solche Serien geschehen können, sucht.48 41 BGHSt 8, 216, 217 (219) knüpft an BGH BeckRS 1951, 31399801 und diese Entscheidung an BGH NJW 1951, 204 an. Überall findet sich die Aussage nur als These. 42 BVerfGE 45, 187. 43 Das hält auch BGH NStZ 2006, 338 (339) gegenüber LG Mühlhausen und BGH NStZ 2013, 158 (159) gegenüber LG Limburg nicht für nötig. 44 So ist er offenbar in den 2019 abgeurteilten Fällen verfahren, s. S. 34 des Urt. 2019. 45 Rengier, BT II (Fn. 36), § 4 Rn. 30a will beides „gleichstellen“; s. dazu auch BGH StV 2009, 524 (525) mit dazu krit. Differenzierung von Neumann. 46 Bei Schwind, Kriminologie, 23. Aufl. 2016, § 2 Rn. 38 findet sich ein Hinweis i.R. der Erörterung des Dunkelfelds bei Tötungsdelikten. Eisenberg/Kölbel, Kriminologie, 7. Aufl. 2017, § 49 Rn. 6 und H.-J. Schneider, Kriminologie, 2001, S. 28 f. erwähnen Altenheime, Pflegeeinrichtungen und Krankenhausstationen als Orte der Gewaltkriminalität gegen alte Menschen ohne Hinweis auf Serientötungen. 47 Eisenberg (Fn. 6) hat 1997 eine Fallstudie zu zwei Serien geliefert; Kreuzer nennt 1992 auf den knapp 3 dem Thema gewidmeten Seiten zusammen mit seinem Koautor Hürlimann in: Kreuzer/Hürlimann (Fn. 6), S. 47 – 50 „Überlegungen zum Dunkelfeld und zu Entstehungsbedingungen weitgehend spekulativ“, die 4 aufgeführten Serien gleichwohl „eine Spitze des Eisbergs“ und listet 9 Begünstigungsfaktoren für solche Taten auf. In der Studie von Walentich u. a. (Fn. 6), an der Michael Walter beteiligt ist, sind nur häusliche und institutionelle Pflegesituationen ohne Serientötungen behandelt. 48 Der forensisch und klinisch arbeitende Psychologe Maisch beschäftigt sich mit ihnen in Patiententötungen, 1997, S. 116 ff., 190 ff., 318 ff. Schlussfolgerungen sind von Maisch 1996 in: Oehmichen, Lebensverkürzung (Fn 6), S. 217 ff. vorweg publiziert. Der Mediziner Oehmichen greift das dort S. 229 ff. auf. Der Psychiater Beine (Fn. 2), S. 341 ff. liefert zu den kriminologisch einschlägigen Daten eine umfangreiche und instruktive Auflistung. S. dazu
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Tatorte sind zwei Krankenhäuser, genauer, ihre Intensivstationen der (Herz)Chirurgie, der Anästhesiologie und der Inneren Medizin. Das sind Orte, an denen es um Lebensschutz und Lebenserhalt geht. Aber es sind auch Orte, an denen Sterben und Tod zum medizinischen Alltag gehören. Die Konzentration dominant alter, z. T. hochbetagter, schwerkranker oder moribunder, auch durch gravierende Eingriffe oder akute Ereignisse lebensbedrohlich geschwächter Menschen macht hohe Mortalität und den individuellen Tod zu einem Geschehen, das gewöhnlich kein Misstrauen erweckt und schon gar nicht mit Mord und Totschlag in Verbindung gebracht wird. Auch das Auftreten reanimationspflichtiger Zustände ist normal und erregt keinen Verdacht. Das ist ein erster Grund, der unentdecktes vorsätzliches Töten möglich macht und auch als jahrelanges „Handwerk“, wie bei Niels H., begünstigt. Täter ist mit ihm, wie bislang fast ausschließlich,49 ein nicht selten als besonders qualifiziert beschriebener Angehöriger des pflegerischen Berufsstandes.50 Dessen Angehörige verpflichten und verschreiben sich der Leidensminderung und Lebenserhaltung und einem rücksichtsvollen und zugewandten Umgang mit den ihnen anvertrauten Patienten. Sie teilen das hippokratische Gebot, niemandem zu schaden. Sie genießen im Team, bei den Ärzten und den Patienten ein uneingeschränktes Grundvertrauen. Vorsätzlich ausgerechnet von ihnen begangene Tötungen, zumal in Serie und (selbst in Kriegszeiten) besonders geschützten Räumen, sind daher ein fundamentaler Tabubruch, der gemeinhin für unmöglich gehalten, als unvorstellbar ausgeklammert wird. Auch das begünstigt die Fortsetzbarkeit des kriminellen Geschehens. Die Tathandlungen bewegen sich regelmäßig, wie auch bei Niels H., im Spektrum äußerlich normaler medizinisch-pflegerischer Verrichtungen. Die Eingabe von Medikamenten in einen zentralen Venenkatheter gehört zu den Aufgaben der Intensivpflegekräfte. Sie hinterlässt, anders als die auch oft gegebene Spritze, am Körper des Patienten keinerlei äußerliche Spur. Selbst eine gegenüber dem Durchschnitt gründlichere Leichenschau förderte nichts zutage. Dass sich im Müllbehälter des Krankenzimmers die gebrauchte Spritze, Medikamentenreste und -schachteln wiederfinden, ist per se auch nichts Auffälliges und wird auch vom kundigen Personal nur selten als „verdachtserregend“ eingestuft.51 Der freie Zugang des qualifizierten Pflegepersonals zu den Medikamenten und die offenbar oft laxe bzw. fehlende Kontrolle des Meauch Kreuzer/Hürlimann, in: Kreuzer/Hürlimann (Fn. 6), S. 49 f. Die Skizzierung im Text beruht auf einer Kompilation dieser Quellen. 49 Beine (Fn. 2), S. 15 und 16 berichtet von einer durch Suizid der Verurteilung zuvorkommenden deutschen Ärztin und einem verurteilten englischen Hausarzt. 50 In ihm dominiert der Frauenanteil. Wohl auch deshalb ist die Zahl der Täterinnen (16 = 42 %) gegenüber 22 Tätern (= 58 %) höher als bei Tötungsdelikten im Übrigen, in Relation zum Frauenanteil am Beruf aber immer noch geringer, s. Beine (Fn. 2), S. 354, 376. Niels H. imponierte schon in Oldenburg, namentlich aber auch bei seinem Einstieg in Delmenhorst mit seiner ausgeprägten, manchem Arzt überlegenen Notfallkompetenz. 51 Anders aber in den beiden Fällen, die im Urt. 2015, S. 13 und 32 berichtet werden; im 2. Fall ohne Konsequenz.
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dikamentenverbrauchs gehören zu den die Tathandlung erleichternden Bausteinen, die die kriminelle Manipulation unentdeckt bleiben lassen. Kommt es nicht oder nicht rechtzeitig zu einer gezielt nach Wirkstoffrückständen suchenden Obduktion, ist auch mit einer späteren Aufdeckung nicht mehr zu rechnen, alles in allem ein dritter Faktor, der die auch wiederholte Begehung ermöglicht. Zur Taterleichterung und Herabsenkung des Entdeckungsrisikos tragen auch Opfermerkmale bei. Zum einen ist das in allen Tötungsserien hohe Alter52 und ein häufig (prä)finales Erkrankungsstadium nicht nur Grund, erst einmal auf ein natürliches Ableben zu schließen. Vielmehr können beide Faktoren auch bei Pflegekräften, bei denen die Internalisierung des Wertekanons ihres Berufs an sich gelungen scheint, die Hemmschwelle vor der Tat mit einer Technik der Neutralisation entscheidend absenken53. Sie kann sich zunutze machen, dass das Leben der Opfer einerseits nicht mehr lebenswert und andererseits für das Arbeitsfeld wie für die Gesellschaft belastend erscheint. Mitleid und Erlösung sowie ökonomische Vernunft in Zeiten hoher Lebenserwartung, mehrerer Millionen Pflegedürftiger und einer auf Personal und Apparate bezogenen Ressourcenknappheit in der Medizin können dann vordergründig als Vorwand dienen, etwas für alle Beteiligten „Sinnvolles“ zu tun und damit das eigentliche, ethisch verwerfliche Motiv, das zumeist und auch im Fall Niels H. die Tat wirklich bestimmt, in einer Verteidigung nach innen wie außen überdecken.54 Zum anderen sind die Opfer wie im Fall Niels H., weil in tiefem Schlaf, in Bewusstlosigkeit, im Koma befindlich, nicht nur zu jeder, auch nur durch fragende Blicke äußerbaren Abwehr unfähig, sondern auch dadurch erleichtert zum Objekt und zum Mittel der eigenen Motivbefriedigung degradierbar. Auch fallen sie als denkbare Zeugen einer Manipulation im Falle des Überlebens aus. Zu diesen vier, Serientaten auf Intensivstationen begünstigenden, Faktoren tritt das faktische Übersehen oder verdrängende Übergehen von Frühwarnzeichen hinzu.55 Das 52
In den 85 2019 abgeurteilten Fällen bei Niels H. war das Durchschnittsalter 72,8 Jahre, in den 15 weiteren angeklagten Fällen 68,06 Jahre. Vergleichbare Angaben bei Beine (Fn. 2), S. 353; Maisch, in: Oehmichen, Lebensverkürzung (Fn. 6), S. 221. 53 S. zu dieser hier aufgestellten These grundlegend Sykes/Matza, Techniques of Neutralization, American Sociological Review 22 (1957), S. 664 ff; Opp, Kriminalität und Gesellschaftsstruktur, 1968, S. 90 ff.; ein Anwendungsbeispiel bei Hillenkamp, Vorsatztat und Opferverhalten, 1981, S. 201 f. Bei Beine (Fn. 2), S. 386 ff., Oehmichen, in Oehmichen, Lebensverkürzung (Fn. 6), S. 246 und Kreuzer/Hürlimann (Fn. 6), S. 49, wird (nur) eine (allerdings zweifelhafte) Ursachenverknüpfung zwischen den Taten und der Diskussion um die Liberalisierung der Sterbehilfe hergestellt. 54 Dieses Erklärungsmuster findet sich in den zitierten Arbeiten nicht deutlich, drängt sich aber auf. 2 Krankenpfleger hatten eine der bei Niels H. gegebenen ähnliche Motivation, s. Beine (Fn. 2), S. 362, 364. Niels H. hat offenbar keine Neutralisation benötigt, sondern sich freimütig zu seinem wahren Motiv bekannt. Zu den Motivbündeln und zur zumeist vorgeschobenen (dafür spricht auch die überraschend kurze Zeitspanne zwischen Aufnahme und Tötung der Patienten) Mitleidsmotivation s. Beine (Fn. 2), S. 361 ff.; Maisch, in: Oehmichen, Lebensverkürzung (Fn. 6), S. 218 f.; S. 221 zum Zeitintervall. 55 Dazu Beine (Fn. 2), S. 393 ff.; Maisch, in: Oehmichen, Lebensverkürzung (Fn. 6), S.222 f.; Oehmichen, in: Oehmichen, Lebensverkürzung (Fn. 6), S. 234.
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ist auch im Fall Niels H. geschehen. So wurde in Oldenburg der mit dem Eintritt von ihm in das Team der herzchirurgischen Intensivstation exorbitant anwachsende Verbrauch des eigentlich kaum mehr verordneten Giluryrtmal nicht wahrgenommen oder thematisiert, ein Zusammenhang zwischen Entnahmedaten und dem Eintritt reanimationspflichtiger Zustände nicht hergestellt. Das in vielen Serien beobachtete und in den beiden niedersächsischen Häusern überdeutliche Ansteigen der Sterberate korrelierte zudem auffällig mit den Dienstzeiten von Niels H. Das ist mangels professioneller Führung und Analyse von Sterbestatistiken nicht erkannt worden.56 Seine ganz überproportional häufige Anwesenheit bei dem Auftritt von Notfallsituationen und sein in den Vordergrund drängendes Verhalten bei der erforderlich werdenden Reanimation sind, obwohl wahrgenommen, über einen längeren Zeitraum kein Anlass gewesen, konkreten Verdacht zu schöpfen. Zwar führte das in Oldenburg spät auf Veranlassung des Chefarztes der Herzchirurgie zu einer Versetzung in die Anästhesiologie, später zum Entzug des Vertrauens auch dort. Schon in Oldenburg bewirkten die anwachsenden Notfallsituationen und die auffällige Selbstinszenierung aber über einen langen Zeitraum nicht, dass all dem in der gebotenen Form nachgegangen wurde. Schließlich sind auch verdeckte Selbstbeschuldigungen, ein das Entdeckungsrisiko immer leichtsinniger erhöhendes Verhalten und der im Kollegenkreis für Niels H. aufkommende Spitzname „Blaulichtjunkie“ nicht als Warnzeichen erkannt worden.57
V. Strategien zu „Aufdecken und Verhindern“ Der Fall Niels H. ist ein neuerlicher Weckruf, sich um „Aufdecken und Verhindern“, um „Prävention“ intensiver als bisher zu bemühen.58 Dazu gehört als erstes das Schaffen des Bewusstseins beim gesamten medizinischen Personal, dass das „Undenkbare“ real und auch im eigenen Haus geschehen kann, dass und welche An- und Frühwarnzeichen es dafür gibt, dass ihre Wahrnehmung Anlass ist, sie nicht für sich zu behalten und dass man Wege institutionalisiert, die die Mitteilung an die Adressaten in einer den Wahrnehmenden nicht belastenden Weise ermöglicht. Die Grundinformationen sollten als zweites schon in der Ausbildung vermittelt, in 56
S. Urt. 2015, S. 31. Frage an die ihn überraschende Schwester im 1. Fall: „Glaubst du, ich habe das Artenerol auf Null gestellt?“ (Urt. 2015, S. 12); Frage im Verlauf der in Oldenburg eingeleiteten Vertragsauflösung: „Glauben Sie, ich bin der Feuerwehrmann, der das Feuer legt und dann zur Stelle ist?“ (Urt. 2019, S. 32, 74). Immer nachlässigere Entsorgung der Reste/Verpackungen der unbefugt entnommenen Medikamente (Urt. 2015, S. 13; 2019, S. 11); spätere Gabe der Medikamente in Anwesenheit anderer Pflegekräfte (Urt. 2019, S. 33 f.). Spitzname (Urt. 2019, S. 141). Zu solchen Zeichen s. Beine (Fn. 2), S. 356, 359, 393 f.; Maisch, in: Oehmichen, Lebensverkürzung (Fn. 6), S. 222 f.; Oehmichen, in: Oehmichen, Lebensverkürzung (Fn. 6), S. 234. 58 Vorschläge dazu unter diesen Titeln bei Beine (Fn. 2), S. 393 ff., 397 ff., erg. auch die Einl. S. 13 ff. Das im Text Folgende nimmt hierauf Bezug. 57
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schriftlich kompakter Form in den Ärzte- und Stationszimmern aller Kliniken ausgehängt und in Stationskonferenzen und Fortbildungen regelmäßig in Erinnerung gerufen werden. Wer sich als Adressat dadurch in seiner Berufsehre betroffen fühlt, sollte darüber aufgeklärt werden, dass mit diesem Gefühl der Einstieg in Verdrängung und Vogel-Strauß-Gebaren verbunden ist. Das leitet zu der dritten Forderung nach dem Abbau einer „Aufdeckungs-Barriere“ über, die sich nicht nur aus der schon angedeuteten, jede Fantasie übersteigenden und deshalb verdrängten Schreckensvorstellung speist, das „Unvorstellbare“ könne sich im eigenen Haus, begangen durch eine besonders qualifizierte Kraft, ereignen, sondern auch aus der damit verknüpften „Angst vor dem Skandal“, dem ruinösen Schaden für die medizinische Institution und auch für die „eigene berufliche Karriere“,59 weil man die Aufsichtspflicht verletzt haben oder in den Augen der Adressaten als denunziatorisch oder auf einen eigenen Vorteil Bedachter erscheinen könnte.60 Dass diese Barriere auf allen Ebenen der Stations- und Klinikhierarchie da und ihre Wirkkraft groß ist, zeigt auch der Fall Niels H. Als ein Pfleger „nach einer Reanimation unter Beteiligung des Angeklagten im Abwurfbehälter“ eines Patientenzimmers vier leere Gilurytmalampullen zu einer Zeit gefunden hatte, als es schon „Gerede“ über Niels H. auf der Station gab, und dieser Fund über die stellvertretende Stationsleiterin an den Stationsleiter gelangte, wies dieser sie zurecht und ermahnte sie, „ihre Kompetenzen nicht zu überschreiten.“ Unklar blieb, ob daraufhin überhaupt etwas geschah, jedenfalls aber nichts das Treiben des Niels H. Beendendes.61 Die Bekundung einer wider Erwarten aufwachenden, mit Gilurytmal „behandelten“ Patientin, sie habe bemerkt, wie Niels H. an ihr „rumhantiert“ habe, bevor es ihr schlecht ging, führte zu keinen Weiterungen, nur weil der Angeklagte die Manipulation abstritt.62 Obwohl die Kammer 2019 für die Fälle 27 – 31 und 83 – 85 Heimtücke verneinte, weil sie durch ein mittlerweile entstandenes Misstrauen keine Arglosigkeit der schutzbereiten Dritten mehr annehmen konnte, führten die Gründe dieses Argwohns zwar zu einer „Kaliumkonferenz“, nicht einmal aber zu einer Misstrauensbekundung, geschweige denn zu internen „Ermittlungen“ gegenüber Niels H.63 Den Kulminationspunkt bilden die Vorgänge, die in Oldenburg schließlich zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses führten. Hier war den Pflegekräften, aber auch dem Chefarzt der Herzchirurgie CH „mit der Zeit“ aufgefallen, dass sich Niels H. bei den häufig von ihm durchgeführten Reanimationen „unangemessen in den Vordergrund spielte und zu aktionistischen Verhaltensweisen neigte.“ Die Pflegedirektorin P, die von CH darauf angesprochen wurde, konnte darin „nichts Falsches erkennen und veranlasste nichts.“ Auf Betreiben von CH wechselte Niels H. auf die Intensivstation der Anästhesiologie, wo auch der dortige Chefarzt CÄ die Zunahme von Notfallsituatio59
Zitate aus Maisch, in: Oehmichen, Lebensverkürzung (Fn. 6), S. 223. S, dazu Beine (Fn. 2), S. 377 f., 393 f.; Maisch, in: Oehmichen, Lebensverkürzung (Fn. 6), S. 223. 61 Urt. 2015, S. 32. 62 Urt. 2019, S. 21 f. 63 Urt. 2019, S. 41 f., 142, 149. 60
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nen, das aktionistische Treiben von Niels H. und die Vielzahl von Reanimationen, an denen er teilnahm, auffielen. Im Rahmen der Rotation gelangte Niels H. kurzzeitig zur Herzchirurgie zurück. Hier führte seine Selbstinszenierung vor den eigens hinzugeholten Lernschwestern zu einem erneuten Protest von CH gegen die Verwendung von Niels H. auf seiner Station bei P. Auch CÄ äußerte ihr gegenüber ein „ungutes Gefühl“. In ihrer Vernehmung „konnte oder wollte“ P sich nicht mehr daran erinnern, was sie daraufhin veranlasst habe. Erst im Herbst 2002 kam es dann zu dem „Vier-Augen-Gespräch“ zwischen Niels H. und CH, in dem ihm CH ohne Angabe von Gründen eröffnete, „dass man im Krankenhaus kein Vertrauen mehr zu ihm habe.“ In Absprache wohl mit P stellte er ihn vor die Wahl, entweder in den Hol- und Bringdienst zu wechseln oder von seiner Tätigkeit sofort freigestellt zu werden. Für den zweiten Fall stellte er ihm „ein gutes Arbeitszeugnis“ in Aussicht. „Der vollkommen überraschte Angeklagte akzeptierte die Auflösung seines Arbeitsvertrages.“ In dem ihm alsbald die Einstellung in Delmenhorst erleichternden Zeugnis hieß es dann, er habe „umsichtig, gewissenhaft und selbständig“ gearbeitet und „in kritischen Situationen … überlegt und sachlich richtig“ gehandelt. Die ihm übertragenen Aufgaben habe er zur „vollsten Zufriedenheit“ erledigt. Auch sei er auf Grund „seiner Einsatzbereitschaft und seines kooperativen Verhaltens … im Mitarbeiterkreis und bei Vorgesetzten beliebt und geschätzt“ gewesen. Ausgeschieden sei er „auf eigenen Wunsch“.64 Dieses geradezu sträflich zu nennende Verhalten ist anders als durch die namentlich von Maisch zusammengetragenen, o. a. Gründe für das Entstehen einer „Aufklärungs-Barriere“ kaum zu erklären. Auf dergleichen spektakuläre, durch die Medien der beunruhigten Bevölkerung noch einmal dramatisierend vermittelte Ereignisse reagiert die Politik nicht selten durch ein schnell entworfenes „Anlass- oder Reflex-Gesetz“, mit dem Strafbarkeit etabliert oder der Strafrahmen erhöht wird.65 Statt mit Reflex hat hier aber die Landespolitik einmal mustergültig mit einem gründlich reflektierten gesetzlichen Maßnahmenpaket reagiert. Wie unter I. schon angedeutet, hat der Niedersächsische Landtag im Februar 2015 einen Sonderausschuss „Stärkung der Patientensicherheit und des Patientenschutzes“ eingesetzt, der seinen 64 Seiten umfassenden Abschlussbericht im April 2016 vorgelegt hat.66 Die zahlreichen Vorschläge haben 2018 zunächst zu einer die äußere und innere Leichenschau mit Blick auf die Entdeckung unnatürlicher Todesursachen erweiternden Neuregelung im Bestattungsgesetz geführt.67 Vor 64
Zitat aus Urt. 2015, S. 5 f. S. dazu mit Beispielen Hillenkamp, in: Goeckenjahn u. a. (Hrsg.), Eisenberg-FS II, 2019, S. 655 ff; auf Bundesebene könnte man sich z. B. eine „Schnellschuss“-Erweiterung des § 211 StGB um die Mordmerkmale Tötung „einer Vielzahl von Menschen“ oder Tötung „unter Ausnutzung eines besonderen Vertrauensverhältnisses“ vorstellen. 66 Dem ist eine nicht veröffentlichte Expertenanhörung vorausgegangen; die Arbeit von Beine (Fn. 2) lag dem SA offenbar vor; sein Abschlussbericht ist unter Beratung des Göttinger Medizinstrafrechtlers Gunnar Duttge und seines Mitarbeiters Lammers entstanden, s. Bericht SA (Fn. 5), S. 1, 6, 22 sowie Nds. Landtag, Stenografischer Bericht, 17. WP, 99. Plenarsitzung am 8. 6. 2016, ausgegeben am 23. 6. 2016, S. 9916, 9922. 67 Eine Änderung in § 12 NdsBestattG betrifft die zweite Leichenschau vor Einäscherung. 65
Serientötungen kranker und pflegebedürftiger Menschen
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allem finden sich aber im Niedersächsischen Krankenhausgesetz seit 2019 Änderungen zur Verbesserung der Patientensicherheit, die auf Vorschläge des Sonderausschusses zurückgehen und auch Forderungen von Beine und Maisch zu „Aufdecken und Verhindern“ aufnehmen.68 So ist in § 15 jedem Krankenhaus ein „Fehlermeldesystem“ auferlegt worden, das einfach zugänglich Meldungen, auch anonym und ohne dass Nachteile entstehen, ermöglicht. Neben dieser Ermunterung auch zum Whistleblowing69 sollen zudem nach § 17 regelmäßig abzuhaltende „Morbiditätsund Mortalitätskonferenzen“ durch die Erörterung von Todesfällen und die Bewertung der Statistiken zu einem schnelleren Aufdecken sich häufender und ähnlich gelagerter Abläufe beitragen. Jedes Krankenhaus muss darüber hinaus eine Arzneimittelkommission einrichten, die u. a. in einer Arzneimittelliste die für den laufenden Verbrauch bestimmten Arzneimittel aufführt. Schon angesichts finanzieller und personeller Ressourcenknappheit umstritten ist die in § 19 spätestens bis zum 1. Januar 2022 angeordnete Einsetzung von Stationsapotheker(inne)n, die u. a. darauf hinwirken sollen, dass „notwendige Maßnahmen zur Patientensicherheit und zur Arzneimittelsicherheit getroffen werden“.70 Nach § 20 muss jedes Krankenhaus schließlich einen Plan entwickeln und umsetzen, der Maßnahmen „zur Unterstützung des mit der Patientenversorgung beschäftigten Personals bei der Bewältigung der damit verbundenen berufsbezogenen Belastungen“ vorsieht. Die durch § 21 erweiterte Fachaufsicht soll für die „Durchsetzung der (neu geschaffenen) Pflichten“ sorgen.
VI. Ausblick Für eine Bewertung des Niedersächsischen Wegs fehlt hier der Raum. Sicher ist aber, dass das Land eine beachtliche Vorreiterrolle in der Eindämmung von seriellen, ja nicht auf Niedersachsen beschränkten Krankenhaustötungen einnimmt, von der zu hoffen ist, dass sie die übrigen Bundesländer dazu anregt, in einem föderalen Wettbewerb die wirksamsten Mittel der Aufdeckung und Prävention zu entwickeln. Ob und wie sie wirken, sollte die Politik in Erfüllung der ihr verfassungsrechtlich auferlegten „Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht“ durch eine fachkundig angeleitete Begleitforschung ermitteln und nötigenfalls Berichtigungen oder Ergänzun-
68 S. zu ihnen den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Nds. Krankenhausgesetzes vom 16. 5. 2018, Nds. Landtag, 18. WP, DS 18/908 mit Begründung und dessen im Netz abrufbare Vorstellung durch die Nds. Sozialministerin Dr. Reimann. Ein ausdrücklicher Bezug auf Beine und Maisch fehlt allerdings. 69 Ulrich Sieber, dem dieser Beitrag mit herzlichem Glückwunsch zum 70. Geburtstag gewidmet ist, mag verzeihen, dass mein Thema sich mit seinen Arbeiten und Interessengebieten kaum berührt. Mit Whistle Blowing immerhin hat er sich 1995 in einer im Auftrag der Europäischen Kommission erstellten Studie „Whistle Blowers in Cases of Suspected Fraud in Germany“ auf 145 Seiten beschäftigt. 70 Die Nds. Krankenhausgesellschaft hat am 23. 10. 2018 auch verfassungsrechtliche Bedenken erhoben.
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gen einleiten.71 Zur Prävention wird sicher auch beitragen, dass mittlerweile der „langjährige Geschäftsführer der Krankenhäuser Oldenburg und Delmenhorst, die damalige Pflegedirektorin, der ehemalige Chefarzt der Herzchirurgie, der Chefarzt der Anästhesie sowie ein Stationsleiter“ aus Oldenburg und „zwei Ärzte und zwei leitende Pflegekräfte am Klinikum Delmenhorst“ wegen Totschlags durch Unterlassen angeklagt worden sind.72 Auch wenn nicht alle Anklagen zur Eröffnung eines Hauptverfahrens oder letztlich nicht zu einer Verurteilung führen sollten,73 ist schon das Verfahren allein ein heilsames Zeichen, dass „sträfliches“ Wegsehen und Wegloben mit einem hohen Risiko wenn nicht der Bestrafung, so doch des mit Ermittlungen verbundenen Ansehens- und Vertrauensverlusts verbunden ist. Das wird auf allen Ebenen der Krankenhaushierarchie wirken.
71 S. dazu Hillenkamp, in: E. Müller u. a. (Hrsg.), Eisenberg-FS I, 2009, S. 301 ff. und Tekin, Die Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers im Strafrecht, 2013, S. 157 ff. 72 Bericht des Göttinger Tageblatts vom 27. 9. 2019, S. 22. Der „Prozess vor dem Landgericht Oldenburg“ soll danach „erst beginnen, wenn das jüngste Mordurteil gegen H. rechtskräftig ist. Der Ex-Pfleger soll gegen seine früheren Chefs als Zeuge gehört werden. Das kann noch dauern. Sowohl H. als auch ein Nebenkläger haben Revision eingelegt“. Der 3. Strafsenat hat laut Pressemitteilung vom 11. 9. 2020 die Revisionen verworfen. Das Urteil ist somit rechtskräftig. 73 In einer vorläufigen Bewertung soll die Kammer am 13. 12. 2019 Vorbehalte geäußert haben, s. FAZ v. 14.12. 2019, S. 7; s. zu solchen Vorbehalten schon OLG Oldenburg MedR 2019, 571 mit Problemstellung Eufinger und Kudlich, NStZ.Editorial, Heft 1/2020.
Strafzumessung in Australien – ein Vorbild für Deutschland? Von Elisa Hoven
I. Einführung Die Bedeutung von Strafzumessung kann kaum überschätzt werden. Für den Beschuldigten ist die Frage, welche Sanktion gegen ihn verhängt wird, elementar: Ob er eine Geld- oder eine Haftstrafe erhält, wie lange ihm seine Freiheit entzogen wird oder ob ihm die Möglichkeit einer Bewährung gewährt wird, kann sein Leben langfristig prägen. Auch für die Wahrnehmung der Justiz in der Öffentlichkeit ist die Höhe des Strafmaßes entscheidend. Als „zu milde“ empfundene Strafen schwächen das Vertrauen in staatliche Institutionen und bereiten den Boden für Forderungen nach einer kompromisslosen „Law and Order“-Politik.1 In Anbetracht ihrer herausragenden Bedeutung wird der Strafzumessung in Deutschland bislang zu wenig Gewicht beigemessen. In der universitären Ausbildung spielt Strafzumessung kaum eine Rolle, Gegenstand des Pflichtfachstoffs ist sie nicht. Auch das Recht beschäftigt sich nur oberflächlich mit Fragen der Sanktionsbemessung. Die gesetzlichen Strafrahmen sind weit, minder schwere Fälle und Qualifikationstatbestände stellen allenfalls vorsichtige Korrekturen dar. Die Regelungen in §§ 46 – 47 StGB enthalten nur vage Kriterien, deren Gewichtung und Verhältnis zueinander offen bleibt. In der Praxis sieht es nicht anders aus. Bemühungen um einen Austausch über Strafzumessungsentscheidungen scheint es nicht zu geben: Es existieren weder Datenbanken noch richterliche Fortbildungen oder Arbeitskreise zum Thema. Dabei sind die Probleme bekannt: Studien belegen, dass die Strafmaßentscheidungen deutscher Richter deutlich voneinander abweichen können.2 Dies
1
Hoven, KriPoZ 2018, 276. McFatter, in: Pfeiffer/Oswald (Hrsg.), Strafzumessung. Empirische Forschung und Strafrechtsdogmatik im Dialog, 1989, S. 183; Albrecht, Strafzumessung bei schwerer Kriminalität, 1994, S. 156 ff., 169 ff.; Schott, Gesetzliche Strafrahmen und ihre tatrichterliche Handhabung, 2004, S. 175 ff.; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, 2012, Rn. 480 ff.; ferner Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil, 1996, S. 875 f.; Höfer, Sanktionskarrieren. Eine Analyse der Sanktionshärteentwicklung bei mehrfach registrierten Personen anhand von Daten der Freiburger Kohortenstudie, 2003, S. 42 ff.; Meier, Strafrechtliche Sanktionen, 2015, S. 255 ff. 2
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gilt nicht nur im Vergleich verschiedener Gerichtsbezirke;3 auch derselbe Richter verhängt Studien zufolge für eine Straftat nicht immer dieselbe Sanktion.4 Denkt man über die Reform des eigenen Rechts nach, so lohnt ein Blick darauf, welche Wege andere Länder beschreiten. Dabei sollten nicht allein die rechtlichen Bestimmungen, sondern auch ihre praktische Anwendung untersucht werden. Auf diese Weise lässt sich eruieren, welche Maßnahmen, Vorschriften und Institutionen sich tatsächlich als wirksam erwiesen haben und für Deutschland nutzbar gemacht werden können. Der Jubilar hat durch seine Arbeit am Max-Planck-Institut einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, die Bedeutung der Rechtsvergleichung zu stärken. Ihm soll daher ein Beitrag gewidmet werden, der versucht, von einer anderen Rechtsordnung zu lernen, um das deutsche Recht zu verbessern. Für eine Reform der Strafzumessung ist eine Betrachtung des australischen Rechts in besonderer Weise interessant. Fragen der Strafzumessung wird in Australien die – geboten – große Bedeutung beigemessen. Sie ist Gegenstand einer kaum noch überschaubaren Anzahl empirischer Studien und Publikationen,5 das Regelwerk ist deutlich detaillierter gestaltet und mit der Judicial Commission sowie dem Sentencing Council stehen zwei Institutionen zur Verfügung, die sich intensiv mit Strafzumessungsfragen befassen. Zwar existieren etwa in den USAvergleichbare – und sogar noch weitergehende – Instrumente, doch wird das US-amerikanische Recht mit seinen oft drakonisch anmutenden Strafen als wenig taugliches Vorbild für eine Reform der Strafzumessungspraxis angesehen.6 Vergleichbare Tendenzen zu exzessiven Strafen sind in Australien nicht zu beobachten – wohl aber eine weitaus größere Sensibilität für die Tragweite der richterlichen Strafzumessungsentscheidung. Neben der Lektüre der Rechtsvorschriften, der Rechtsprechung und des rechtswissenschaftlichen Schrifttums beruht der Beitrag insbesondere auf Interviews, die die Verfasserin mit zwei Staatsanwälten und drei RichterInnen aus New South Wales (NSW) sowie je zwei VertreterInnen der Judicial Commission NSW und 3 Siehe z. B. Albrecht, in: Kerner (Hrsg.), Deutsche Forschungen zur Kriminalität und Kriminalitätskontrolle, Bd. 2, 1983, S. 1297; Pfeiffer/Savelsberg, in: Pfeiffer/Oswald (Hrsg.), Strafzumessung, 1989, S. 17; Grundies, in: Hermann/Pöge (Hrsg.), Kriminalsoziologie, 2018, S. 295; Streng, StV 2018, 593 f. 4 McFatter, in: Pfeiffer/Oswald (Hrsg.), Strafzumessung, 1989, S. 183 (190 ff.). Ein ähnliches Phänomen zeigt sich bei Peters, Fehlerquellen im Strafprozess, Bd. 2, 1970, S. 7, 369. 5 Statt aller: O’Connell, in: Northern Ireland Assembly (Hrsg.), Comparative Research into Sentencing Guidelines Mechanisms, 2011, NIAR 610 – 10. 6 Dubber, Einfu¨ hrung in das US-amerikanische Strafrecht, 2005, S. 25; Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung, 1999, S. 362 f.; Meyer, ZStW 118 (2006), 523; Uphoff, Die deutsche Strafzumessung unter dem Blickwinkel amerikanischer Strafzumessungsrichtlinien, 1998, S. 150. Gerade mit Blick auf Strafzumessungsrichtlinien ist diese Kritik wenig überzeugend. Schließlich stellen die „Sentencing Guidelines“ lediglich ein Instrument dar, das – je nachdem, wie es genutzt wird – zu milden oder harten Strafen führen kann; Hoven, KriPoZ 2018, 289; ebenso Kudlich/Koch, NJW 2018, 2762 (2764).
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dem Sentencing Council NSW geführt hat. Außerdem durfte die Verfasserin an einer Sitzung des Sentencing Councils teilnehmen.
II. Das Recht der Strafzumessung in Australien In Australien sind die einzelnen Bundesstaaten („territories“) sowie der Bundesgesetzgeber für die Regelung der Strafzumessung zuständig. Die jeweiligen Statutes – etwa der Crimes (Sentencing Procedure) Act 1999 von New South Wales oder der Sentencing Act 1991 von Victoria – nennen die Ziele der Strafzumessung, die Art der zu verhängenden Strafen sowie strafmildernde und erschwerende Faktoren, die bei der Verurteilung berücksichtigt werden sollen.7 Im Mittelpunkt der nachfolgenden Betrachtungen soll das Strafzumessungsrecht aus New South Wales stehen. 1. Ziele der Strafzumessung S 3 A des Crimes (Sentencing Procedure) Act 1999 (NSW) – im Folgenden: CSPA – legt als Ziele für die Bemessung der Strafe fest: • Sicherstellung einer angemessenen Strafe für den Täter. • Kriminalitätsprävention durch das Abhalten des Täters oder anderer Personen von der Begehung ähnlicher Taten. • Schutz der Gemeinschaft vor dem Täter. • Förderung der Rehabilitation des Täters. • Der Täter soll für seine Tat zur Verantwortung gezogen werden. • Stigmatisierung (öffentliche Anprangerung) des Täterverhaltens. • Anerkennung der Schäden für Opfer und Gemeinschaft. Damit verhält sich der Gesetzgeber zu den Zwecken der Strafe deutlich ausführlicher als es das deutsche Recht vorsieht. Zudem zeigt sich in der Formulierung der Strafzumessungsziele eine ganz selbstverständliche Berücksichtigung der Belange der Gemeinschaft. In Ryan v The Queen führte Richter McHough aus, dass die Erwartungen der Öffentlichkeit für die Bemessung der Strafe eine Rolle spielen müssten. Anderenfalls drohe ein Vertrauensverlust in die Arbeit der Justiz: „The existing principles require many sentences to be retributive in nature, a notion that reflects the community’s expectation that the offender will suffer punishment (…). Public confidence in the courts to do justice would be likely to be lost if courts ignored the retributive aspect of punishment.“8 7 8
Bagaric/Edney, Sentencing in Australia, 2014, S. 4. Ryan v The Queen [2001] HCA 21, [46].
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Neben den Straferwartungen der Öffentlichkeit kommt auch ihrem Schutz vor dem Täter Bedeutung zu. Erwägungen der „Sicherung“ finden hier Eingang in die Strafzumessung: Die Inhaftierung des Täters dient also nicht nur einer gerechten Ahndung seiner Tat, sondern soll ihn auch physisch von der Begehung weiterer Delikte abhalten. „Sentencing principles in this country have emphasised the need to protect the community by imposing sanctions that reduce crime by removing the offender from contact with the general population (…).“9
2. Strafrechtliche Sanktionen Die am häufigsten verhängten Sanktionen in NSW sind die Freiheitsstrafe, die Geldstrafe und die sogenannten „community correction order“ bzw. „intensive correction order“. Das Recht in NSW sieht für vier Delikte eine lebenslange Freiheitsstrafe vor: Mord10, schwerer gemeinschaftlicher sexueller Missbrauch, sexueller Missbrauch von Kindern unter 10 Jahren und in besonders schweren Fällen von Heroin- und Kokain-Handel. Wird eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt, so ist – anders als in Deutschland – eine Entlassung grundsätzlich nicht möglich. Die Gerichte gehen daher zurückhaltend mit der Sanktion um: seit Einführung der lebenslangen Freiheitsstrafe im Jahr 1990 wurde sie erst in 16 Verfahren verhängt. Die lebenslange Freiheitsstrafe ist nach s 61 CSPA zwingend, wenn „das Ausmaß der Schuld bei der Begehung der Straftat so extrem ist, dass das Gemeinschaftsinteresse an Vergeltung, Bestrafung, Gemeinschaftsschutz und Abschreckung nur durch die Verhängung dieser Strafe erfüllt werden kann“11. Auch hier spielen die Interessen der Öffentlichkeit für die Strafzumessung also eine bedeutende Rolle. Die Vorgabe einer zwingenden lebenslangen Freiheitsstrafe steht in Widerspruch zur allgemeinen Regelung in s 21 CSPA, die dem Richter erlaubt, anstelle einer lebenslangen Freiheitsstrafe eine zeitige zu verhängen.12 In der Praxis wird der Konflikt zu Gunsten des richterlichen Ermessensspielraums gelöst: In R v Merritt entschied das Gericht,
9
Ryan v The Queen [2001] HCA 21, [47]. Handelt es sich bei dem Opfer um einen Polizeibeamten im Dienst, so ist die Strafe zwingend lebenslang; s 19B Crimes Act 1900 (NSW). 11 S 61 CSPA: „(…) the court is satisfied that the level of culpability in the commission of the offence is so extreme that the community interest in retribution, punishment, community protection and deterrence can only be met through the imposition of that sentence.“ 12 Im Sentencing Bench Book – dem von der Judicial Commission herausgegebenen Handbuch für die Strafzumessung (siehe unten III.) – heißt es hierzu: „It is difficult to reconcile the terms of s 61 (1) with the preservation of s 21 (1) Crimes (Sentencing Procedure) Act (general power to reduce penalties) in s 61 (3)“, Sentencing Bench Book, Mandatory life sentences under s 61, 8 – 600. 10
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dass eine Ausnahme von der lebenslangen Freiheitsstrafe möglich sei, wenn die persönlichen Umstände des Täters eine geringere Strafe rechtfertigten.13 Neben der Haft- und der Geldstrafe sieht der CSPA insbesondere die Ersetzung der Strafe durch eine „community correction order“ („CCO“, Part 7 CSPA) oder eine „intensive correction order“ („ICO“, Part 5 CSPA) vor. An die Stelle von Haftstrafen von weniger als 2 Jahren (ICO) bzw. 3 Jahren (CCO) können Maßnahmen treten, die stärker auf eine Rehabilitation des Verurteilten ausgerichtet sind. Möglich ist etwa die Anordnung eines Hausarrests, der den Verurteilten zum Verbleib an seinem Wohnsitz zwingt, es ihm aber zugleich – mit Zustimmung seines „supervisor“ – erlaubt, einer Arbeit nachzugehen. So bleibt der Freiheitsentzug für den Verurteilten spürbar, ohne jedoch seine familiären oder beruflichen Bindungen zu kappen. Im Rahmen von ICO und CCO kann der Verurteilte zu gemeinnütziger Arbeit oder der Teilnahme an therapeutischen Maßnahmen verpflichtet werden. 3. Zur Bemessung von Freiheitsstrafen a) Höchststrafen Der Crimes Act 1900 (NSW) sieht grundsätzlich keine Strafrahmen, sondern allein Höchststrafen („maximum penalty“) für den denkbar schwersten Fall der Deliktsbegehung („worst category of cases“14) vor. Damit ist die Maximalstrafe ein wichtiges kriminalpolitisches Instrument. Der Gesetzgeber kommuniziert durch die Erhöhung der Höchststrafe gegenüber den Gerichten, dass er eine Anhebung des durchschnittlich verhängten Strafmaßes für das Delikt erwartet.15 In Muldrock v The Queen stellte der High Court of Australia – das höchste Gericht Australiens – fest, dass eine gesetzliche Erhöhung der maximum penalty ein „Indiz ist, dass die Strafen für das Delikt härter ausfallen sollen“16. In Baumer v The Queen führte der High Court weiter aus, dass eine erhebliche Anhebung der Höchststrafe dazu führe, dass das bestehende Strafniveau „angepasst“ werden müsse, um den Willen des Gesetzgebers umzusetzen.17 Der „maximum penalty“ kommt für die Bemessung der Strafe große Bedeutung zu. Zwar wird überwiegend davon ausgegangen, dass der Richter sie nicht zum Ausgangspunkt seiner Berechnungen machen muss.18 Die Höchststrafe soll allerdings
13
R v Merritt [2004] NSWCCA 19, [36]. Veen v The Queen [1988] HCA 14, [15]. 15 Odgers, Sentence, 2013, Rn. 3.51. 16 Muldrock v The Queen [2011] HCA 39, [31]. 17 Baumer v The Queen [1988] HCA 67, [13]: „…require[s] some adjustment to the range of sentences that would formerly have been considered appropriate … [A] clear expression of legislative will, while permitting some latitude in application, must be given effect“. 18 Odgers, Sentence, 2013, Rn. 3.50. 14
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einen Maßstab für die Schwereeinschätzung des Delikts – auch im Vergleich zu anderen Straftaten – darstellen. In Markarian v The Queen heißt es: „Legislatures do not enact maximum available sentences as mere formalities. Judges need sentencing yardsticks. It is well accepted that the maximum sentence available may in some cases be a matter of great relevance. (…) It follows that careful attention to maximum penalties will almost always be required, first because the legislature has legislated for them; secondly, because they invite comparison between the worst possible case and the case before the court at the time; and thirdly, because in that regard they do provide, taken and balanced with all of the other relevant factors, a yardstick.“19
b) Standard non-parole periods Richter müssen in ihrem Urteil nicht nur das Strafmaß, sondern auch eine Mindestzeit angeben, die der Täter in Haft verbringen muss, bevor er Aussicht auf vorzeitige Entlassung hat. Diese sogenannte „non-parole period“ beträgt mindestens drei Viertel der verhängten Strafe, sofern keine besonderen Umstände vorliegen. Als Reaktion auf eine wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung mit „zu niedrigen“ Strafen20 führte der Gesetzgeber in NSW im Jahr 2003 erstmalig „standard nonparole periods“ (SNPP) ein; in späteren Jahren ergänzte er SNPP für weitere Delikte, etwa 2015 für verschiedene Formen des Kindesmissbrauchs.21 Tabelle 1 Auszug Tabelle der in NSW geltenden standard non-parole periods Item No
Offence
SNPP
1A
Murder – where the victim was a police officer, emergency services worker, correctional officer, judicial officer, council law enforcement officer, health worker, teacher, community worker, or other public official, exercising public or community functions and the offence arose because of the victim’s occupation or voluntary work
25 years
1B*
Murder – where the victim was a child under 18 years of age
25 years
1
Murder – in other cases
20 years
2
Section 26 Crimes Act 1900 (conspiracy to murder)
10 years
3
Sections 27, 28, 29 or 30 Crimes Act 1900 (attempt to murder)
10 years
4
Section 33 Crimes Act 1900 (wounding etc with intent to do bodily harm or resist arrest)
7 years
19
Markarian v The Queen (2005) HCA 25, [30]-[31]. https://www.loc.gov/law/help/sentencing-guidelines/australia.php (zuletzt aufgerufen am 19. 12. 2019). 21 Crimes Legislation Amendment (Child Sex Offences) Act 2015, https://www.parliament. nsw.gov.au/bill/files/219/Passed%20by%20both%20Houses.pdf (zuletzt aufgerufen am 19. 12. 2019). 20
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Item No
Offence
SNPP
4AA
Section 33 A(1) Crimes Act 1900 (discharging a firearm with intent to cause grievous bodily harm) Section 33 A(2) Crimes Act 1900 (discharging a firearm with intent to resist arrest or detention)
9 years
Section 35(1) Crimes Act 1900 (reckless causing of grievous bodily harm in company)
5 years
4AB 4 A*
9 years
Der hier festgelegte Mindestfreiheitsentzug soll gemäß s 54 A CSPA für Taten gelten, die nach objektiven Maßstäben von mittlerem Schweregrad sind.22 Die SNPP ist für das Gericht nicht bindend; sie muss jedoch bei der Strafzumessung berücksichtigt werden, s 54B (2) CSPA. Weicht das Gericht von der SNPP ab, muss es seine Gründe darlegen, s 54B (3) CSPA. Damit kommt den SNPP die Funktion einer Richtlinie zu, die den Strafzumessungsprozess transparenter gestaltet. c) Mindeststrafen – und ihre Bedeutung für die Kriminalpolitik Zwingende Mindeststrafen (außerhalb von SNPP) gibt es in NSW nur für wenige Delikte. So sieht etwa der Migration Act 1958 in s 236B eine Mindeststrafe von 8 Jahren für bestimmte Formen des Menschenschmuggels vor. Besondere Aufmerksamkeit erlangte die Möglichkeit einer festen Mindeststrafe durch die sogenannten „one punch laws“ aus dem Jahr 2014.23 Dem vorausgegangen war das Verfahren gegen Kieran Loveridge, der unter Alkoholeinfluss und ohne jede Provokation einen jungen Mann auf offener Straße mit einem einzigen Schlag ins Gesicht („one punch“) zu Boden gebracht hatte; das Opfer verstarb durch den Aufprall. Der Täter wurde zu 6 Jahren Freiheitsstrafe mit einer non-parole period von 4 Jahren verurteilt. Das als milde empfundene Urteil stieß in der Öffentlichkeit auf massiven Protest. Die Familie des Opfers forderte den Premierminister auf, Mindeststrafen für die Tötung eines Menschen einzuführen.24 Kurz darauf kam es in Sydney zu zwei weiteren, ähnlichen Vorfällen,25 was eine intensive Medienkampagne für ein härteres Vorgehen gegen alkoholbedingte Gewaltdelikte zur Folge hatte.26
22
S 54 (2) CSPA: „For the purposes of sentencing an offender, the standard non-parole period represents the non-parole period for an offence in the Table to this Division that, taking into account only the objective factors affecting the relative seriousness of that offence, is in the middle of the range of seriousness.“ 23 Durch den Crimes and Other Legislation Amendment (Assault and Intoxication) Act 2014 wurde der Crimes Act 1900 um die Vorschriften in s 25 A und B ergänzt. 24 https://www.change.org/thomaskelly (zuletzt aufgerufen am 19. 12. 2019). 25 Die Opfer waren der 23-jährige Michael McEwen, der für eine Woche ins Koma fiel, sowie der 18-jährige Daniel Christie, der an den Folgen des Schlages verstarb. 26 Quilter, IJCJ & SD 3 (2014), 81.
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Der Gesetzgeber in NSW führte daraufhin den Tatbestand „Assault causing death“ mit einer Höchststrafe von 20 bzw. 25 Jahren ein (s 25 A Crimes Act 1900), dessen Merkmale klar auf die Ereignisse in Sydney zugeschnitten wurden: „S 25 A CA: (1) A person is guilty of an offence under this subsection if (a) the person assaults another person by intentionally hitting the other person with any part of the person’s body or with an object held by the person, and (b) the assault is not authorised or excused by law, and (c) the assault causes the death of the other person. Maximum penalty – Imprisonment for 20 years. (2) A person who is of or above the age of 18 years is guilty of an offence under this subsection if the person commits an offence under subsection (1) when the person is intoxicated. Maximum penalty – Imprisonment for 25 years.“
Zugleich legte der Gesetzgeber eine Mindeststrafe (und Mindestdauer für die nonparole period) von 8 Jahren für den Fall des „Assault causing death when intoxicated“ (s 25 A [2] CA) fest. Der Widerspruch zwischen der festen Mindeststrafe und der in s 21 CSPA normierten Befugnis des Richters, mildere Strafen als vorgesehen zu verhängen,27 wird hier zu Lasten des richterlichen Entscheidungsspielraums gelöst. S 25B (3) CA untersagt ausdrücklich ein Abweichen von der Mindeststrafe: „If this section requires a person to be sentenced to a minimum period of imprisonment, nothing in section 21 (or any other provision) of the Crimes (Sentencing Procedure) Act 1999 or in any other Act or law authorises a court to impose a lesser or no sentence (or to impose a lesser non-parole period).“
Der Vorgang wurde im rechtswissenschaftlichen Schrifttum kritisch gesehen.28 Das Gesetz leide unter handwerklichen Schwächen, schaffe eine inkonsistente Rechtslage (im Vergleich zu anderen Delikten mit Todesfolge) und könne die Erwartungen der Öffentlichkeit nicht erfüllen.29 Es wird bemängelt, dass der Gesetzgeber keine Experten konsultiert, sondern überstürzt auf den medialen Druck und die Empörung der Öffentlichkeit reagiert habe: „The addition of two new forms of homicide in NSW – assault causing death, and assault causing death while intoxicated – should not have occurred in the context of a volatile kneejerk reaction to genuine community anxiety about alcohol-fueled violence, and with such
27 S 21 (2) CSPA: „If by any provision of an Act or statutory rule an offender is made liable to imprisonment for a specified term, a court may nevertheless impose a sentence of imprisonment for a lesser term“. 28 Quilter, IJCJ & SD 3 (2014), 81 (86); dies., CICrimJust 8 (2013), 24(3), 439; dies., Australian and New Zealand Journal of Criminology 48 (2014), 24. Grundsätzlich: Dyer, Monash University Law Review 43 (2017), 195. 29 Quilter, Crim LJ 38 (2014), 16.
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haste that there was no opportunity for expert input, careful consideration or broader discussion.“30
Doch auch aus der Wissenschaft wurden Stimmen laut, die eine strengere Bestrafung für richtig hielten – und die Reform für nicht weitreichend genug: „Mandatory eight-year jail terms for intoxicated ’single-punch killers’ announced by the O’Farrell government are a positive move towards injecting fairness into sentencing. The reform suffers from one main defect: it does not go far enough. An empirically driven and morally sound sentencing system would ensure all perpetrators of serious sexual and violent crime serve no less than five years imprisonment.“31
Der Diskussion um die Einführung von Mindeststrafen liegt die generelle Frage zugrunde, wer über die Grundlagen gerechter Strafzumessung entscheiden sollte. Mindeststrafen – gerade in einer solchen Höhe – stellen eine erhebliche Einschränkung des richterlichen Ermessensspielraums dar. Ein stärkerer Einfluss des Gesetzgebers wird teilweise als notwendiges Korrektiv gesehen, um den Vorstellungen der Gemeinschaft Ausdruck zu verleihen und damit ihr Vertrauen in ein gerechtes Justizsystem zu erhalten.32 Gleichzeitig birgt eine Politisierung der Strafzumessung Risiken für ein gerechtes Strafzumessungssystem – jedenfalls dann, wenn der Gesetzgeber unreflektiert den durch spektakuläre Einzelfälle ausgelösten Bestrafungswünschen folgt. Richter, deren Amt nicht von einer Wahl abhängt, werden weniger anfällig dafür sein, einer passageren politischen Stimmung nachzulaufen. d) Strafmildernde und strafschärfende Faktoren S 21 A CSPA listet – nicht abschließend33 – eine Reihe strafmildernder und strafschärfender Faktoren auf, die bei der Bemessung der Strafe zu berücksichtigen sind. Der Richter muss sich in seinem Urteil nicht ausdrücklich mit allen Punkten auseinandersetzen.34
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Quilter, IJCJ & SD 3 (2014), 81 (100). Bagaric, Sydney Morning Herald, 23 January, 2014, https://www.smh.com.au/opinion/ new-chapter-for-crime-and-punishment-begins-with-a-sentence-from-barry-ofarrell-20140122318wy.html (zuletzt aufgerufen am 19. 12. 2019). Bagaric ist Dekan der Swinburne University Law School. 32 „The laws help to ensure that sentences reflect community standards and are not unduly lenient. In other words, to ensure that the punishment matches the crime. This is important for maintaining confidence in the justice system. Elected representatives are more sensitive to community concerns than appointed judges.“ Roth, Mandatory sentencing laws, 2014, https:// www.parliament.nsw.gov.au/researchpapers/Documents/mandatory-sentencing-laws/mandato ry%20sentencing%20laws.pdf (zuletzt aufgerufen am 19. 12. 2019). 33 S 21 A (1) CSPA: „(…) The matters referred to in this subsection are in addition to any other matters that are required or permitted to be taken into account by the court under any Act or rule of law“. 34 JB v Regina [2012] NSWCCA 12, [67]; R v Wickham [2004] NSWCCA 193. 31
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Die in s 21 A (2) CSPA genannten Strafschärfungsgründe lassen sich vier Kategorien zuordnen: Belange des Opfers, Art der Begehung, Person und Motive des Täters sowie Folgen der Tat.35 (1) Strafschärfend soll ins Gewicht fallen, wenn es sich bei dem Opfer um einen Amtsträger oder eine sonstige Person handelt, die für das öffentliche Wohl zuständig ist, etwa Polizeibeamte, Rettungsdienstmitarbeiter oder Lehrer (lit. a). Gleiches gilt, wenn das Opfer in besonderer Weise schutzbedürftig ist, etwa, weil es „sehr jung oder sehr alt war, eine Behinderung hatte, räumlich isoliert war oder einer bestimmten beruflichen Tätigkeit nachging (z. B. […] Taxifahrer)“ (lit. l). Eine Straferhöhung soll auch dann erfolgen, wenn der Täter das Opfer zur Einnahme von Drogen veranlasst (lit. cb) oder der Täter in Bezug auf das Opfer eine Vertrauens- oder Autoritätsposition missbraucht hat (lit. k). (2) Bestimmte Formen der Tatbegehung sollen zu einer strengeren Strafe führen, sofern sie nicht bereits Voraussetzungen für die Strafbarkeit sind (Doppelverwertungsverbot). Hierzu zählen der tatsächliche oder angedrohte Einsatz von Gewalt, Waffen oder Sprengstoff (lit. b-ca), die Begehung der Tat in Anwesenheit eines Kindes unter 18 Jahren (lit. ea),36 im Haus des Opfers (lit. eb), die gemeinschaftliche (lit. e), geplante oder geschäftsmäßige (lit. n) Begehung der Tat sowie eine „grundlos grausame“ Vorgehensweise (lit. f). (3) Zu Lasten des Täters wird berücksichtigt, wenn er zum Zeitpunkt der Tat unter Bewährung stand (lit. j) oder vorbestraft war – insbesondere wenn es sich bei der angeklagten und den bereits verurteilten Taten um Gewaltdelikte handelt (lit. d). Strafschärfend wirken sich auch bestimmte Motive des Täters aus. Eine härtere Strafe droht, wenn die Tat aus finanziellen Gründen (lit. o) oder aus Hass gegen eine religiöse, ethnische oder sexuelle Gruppe bzw. gegen Menschen mit bestimmten Merkmalen wie einer Behinderung (lit. h) begangen wird. (4) Wurde durch die Tat eine erhebliche körperliche oder emotionale Verletzung oder ein bedeutender materieller Schaden bewirkt (lit. g) oder wurden durch die Tat mehrere Personen verletzt (lit. m), so ist die Strafe zu schärfen. Unterhalb der Schwelle eines Schadenseintritts soll es für die Straferhöhung genügen, wenn die Tat ohne Rücksicht auf die öffentliche (lit. i) oder nationale (lit. ia) Sicherheit begangen wurde oder durch sie eine Person in ernsthafte Lebensgefahr gebracht wurde (lit. ib). Die Strafmilderungsgründe in s 21 A (3) CSPA sind teilweise spiegelbildlich zu den strafschärfenden Faktoren ausgestaltet. So soll etwa strafmildernd berücksichtigt
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S 21 A (5 A) und (5AA) CSPA enthalten weitere Sonderregelungen für Kindesmissbrauch und Drogenkonsum. 36 Bei Verkehrsdelikten gilt zudem eine zusätzliche Strafschärfung, wenn im Fahrzeug des Täters ein Kind unter 16 Jahren anwesend war, lit. p.
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werden, wenn durch die Tat kein erheblicher Schaden bewirkt wurde (lit. a) oder der Täter nicht vorbestraft war (lit. e).37 Von Bedeutung kann auch eine besondere Tatsituation sein, zum Beispiel, wenn der Täter von seinem Opfer provoziert wurde (lit. c) oder unter Zwang gehandelt hat (lit. d). Maßgeblich für eine Milderung der Strafe sind allerdings Person und Verhalten des Täters. Eine Absenkung des Strafmaßes soll erfolgen, wenn der Täter eine „Person mit gutem Charakter war“ (lit. f), eine erneute Straffälligkeit unwahrscheinlich (lit. g) bzw. die Aussicht auf Rehabilitation günstig ist (lit. h) oder sich der Täter der Folgen seines Handelns aufgrund seines Alters oder einer Behinderung nicht vollständig bewusst war (lit. j). Seine Reue soll – nur – dann eine Rolle spielen, wenn der Täter sein Bedauern unter Beweis gestellt hat, indem er „den Nachweis erbracht hat, dass er die Verantwortung für sein Handeln übernommen hat, und er alle Verletzungen, Verluste oder Schäden, die durch seine Handlungen verursacht wurden, anerkannt oder eine Entschädigung für diese Verletzungen, Verluste oder Schäden (oder beides) geleistet hat“ (lit. i). Demgegenüber soll ein Schuldeingeständnis („guilty plea“) des Täters stets zu einer Strafmilderung führen (lit. k).38 Die Auswirkungen einer guilty plea auf das Strafmaß waren Gegenstand einer ausführlichen Diskussion in Rechtsprechung und Schrifttum.39 Der NSW Supreme Court hat im Jahr 2000 entschieden, dass der Richter in seinem Urteil die Folgen einer guilty plea für die Sanktion ausdrücklich zu quantifizieren habe.40 Der Strafrabatt müsse sich dabei grundsätzlich zwischen 10 und 25 Prozent bewegen. Begründet wird die strafmildernde Wirkung der guilty plea mit ihrem „utilitarian value“: Die guilty plea mindere zwar nicht die Schuld des Täters, sei aber als incentivierender „collateral benefit“ für das Funktionieren der Justiz notwendig.41 Mit dem Justice Legislation Amendment (Committals and Guilty Pleas) Act 2017 führte der Gesetzgeber die Vorschrift s 25D (2) CSPA ein, die für die meisten Taten42 feste Strafrabatte für eine guilty plea festlegte. Die Höhe der Strafmilderung wird dabei vom Zeitpunkt des Geständnisses abhängig gemacht und variiert zwischen 25 Prozent (Schuldbekenntnis noch während des soge-
37 Man mag eine logische Schwäche darin sehen, dass bestimmte Faktoren zwingend zu einer Milderung oder Verschärfung führen müssen. 38 Ebenso wie eine Unterstützung der Strafverfolgungsbehörden durch den Täter, lit. m. 39 Odgers, Sentence, 2013, Rn. 4.115 ff.; Bagaric/Edney, Sentencing in Australia, 2014, S. 313 ff.; R v Borkowski [2009] NSWCCA 102; R v Thomson [2000] NSWCCA 309, [160]; R v AB [2011] NSWCCA 229, [3]; R v Scott [2003] NSWCCA 286, [28]; R v Newman [2004] NSWCCA 113, [12]; R v Araya [2005], NSWCCA 283, [44]. Siehe für eine ausführliche Darstellung: Sentencing Bench Book, Guilty plea to be taken into account, 11 – 520. 40 R v Thomson [2000] NSWCCA 309, [160]. 41 R v Thomson [2000] NSWCCA 309, [115], [160]; Bagaric/Edney, Sentencing in Australia, 2014, S. 313. 42 Ausgenommen von der Bestimmung sind etwa Straftaten von Personen unter 18 Jahren, siehe s 25 (A) CSPA.
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nannten „committal proceedings“43), 10 Prozent (14 Tage vor dem ersten Verhandlungstag) und 5 Prozent (in allen anderen Fällen). Das Gericht kann von diesen Vorgaben unter den Voraussetzungen von s 25F CSPA abweichen. Auch hier kommt den Vorstellungen der Gemeinschaft eine wichtige Bedeutung zu: Ein geringerer Strafrabatt oder der vollständige Verzicht auf eine Strafmilderung sind etwa dann möglich, wenn „die Schuld des Täters so extrem ist, dass die Interessen der Gemeinschaft an Retribution, Bestrafung, Schutz und Abschreckung“44 dies erforderlich machen. 4. Sentencing Hearing Schuldspruch und Strafzumessung erfolgen in zwei getrennten Verfahrensabschnitten. An die Feststellung der Schuld des Täters schließt sich das „sentencing hearing“ an, in dessen Rahmen Staatsanwaltschaft und Verteidigung zur Höhe der Strafe Stellung nehmen. Eine Nebenklägerbeteiligung ist – wie im anglo-amerikanischen Recht üblich – nicht vorgesehen. Das Opfer der Tat und seine Angehörigen (die sogenannten „family victims“, s 26 CSPA) können allerdings „Victim Impact Statements“ (VIS) abgeben, in denen sie die physischen, psychischen und finanziellen Folgen der Tat schildern, s 28 CSPA. VIS haben durch eine Gesetzesänderung im Jahr 2019 an Bedeutung gewonnen: Während das Gericht VIS zuvor berücksichtigen konnte, sind die Richter nunmehr verpflichtet, sie in ihre Strafzumessungsentscheidung einzubeziehen, s 30E CSPA.45
III. Die Judicial Commission: Maßnahmen zur Vereinheitlichung der Rechtsprechung Ähnlich wie im deutschen Recht haben Richter in NSW einen erheblichen Spielraum in der Strafzumessung. Gesetzgeberische Unternehmungen, das Strafmaß durch Mindeststrafen, SNPP oder zwingend lebenslange Freiheitsstrafen zu begrenzen, treffen in der Richterschaft auf Widerstand. Um gleichwohl eine gewisse Konsistenz in der Strafzumessung – und damit ein notwendiges Maß an relativer Gerechtigkeit – zu garantieren, wurde mit der Judicial Commission eine Institution geschaffen, die die Richter durch ausführliche Informationen und Datenbanken bei der Entscheidungsfindung unterstützt.
43 https://nswcourts.com.au/articles/what-are-committal-hearings/ (zuletzt aufgerufen am 19. 12. 2019). 44 S 25F (2): „(…) the level of culpability in the commission of the offence is so extreme that the community interest in retribution, punishment, community protection and deterrence can be met only by imposition of a penalty with no allowance for, or a reduction of, that discount“. 45 Zur Bedeutung von VIS siehe Bagaric/Edney, Sentencing in Australia, 2014, S. 122 ff.; R v Slack [2004], NSWCCA 128, [58 ff.].
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Die Judicial Commission (JC) in New South Wales wurde 1986 als Antwort auf einen von der Politik beobachteten Vertrauensverlust der Bevölkerung in die Justiz eingesetzt.46 Ziel der JC ist es, die Einheitlichkeit der Strafzumessung in NSW zu verbessern („achieve consistency in imposing sentences“47). Dafür nutzt die JC im Wesentlichen zwei Instrumente: das Bench Book on Sentencing und das Judicial Information Research System (JIRS). Das Bench Book ist ein online verfügbares Handbuch, in dem alle für die Strafzumessung relevanten Informationen zusammengetragen werden. Zu jedem materiellrechtlichen oder prozessualen Aspekt finden sich Informationen über die Entstehungsgeschichte, die Intention des Gesetzgebers sowie Auszüge aus der einschlägigen Rechtsprechung. Das Bench Book ist eine Kombination aus Lehrbuch, Kommentierung und strukturierter Rechtsprechungsübersicht, das den Richtern einen Überblick über die praktische Handhabung der Bestimmungen durch die Gerichte in NSW gibt.48 Während das Bench Book öffentlich zugänglich ist – und sich nicht nur an Richter, sondern grundsätzlich auch an die Öffentlichkeit richtet – handelt es sich beim JIRS um ein kostenpflichtiges Online-Programm, das auf die Arbeit von Richtern zugeschnitten ist. Die Datenbank des JIRS beinhaltet „case law, legislation, sentencing principles, sentencing statistics and other reference material of use to trial judges“49. Neue Entscheidungen werden automatisch in die Datenbank eingepflegt; das Programm generiert sogar knappe Zusammenfassungen der Urteilsgründe. Muss der Richter die Strafhöhe festlegen, so kann er den Tatbestand, nach dem der Täter verurteilt wurde, aufrufen und erhält – grafisch aufbereitete – Statistiken über die verhängten Sanktionen (Anteil Geldstrafe, Freiheitsstrafe etc.). Entscheidet er sich etwa für eine Freiheitsstrafe, so kann er in einem nächsten Schritt eine Übersicht über die Höhe des Strafmaßes einsehen. Anschließend kann er weitere Daten seines Falles eingeben – etwa Vorstrafen des Täters oder das Vorliegen eines Geständnisses – und erhält die statistischen Werte für Fälle mit denselben Parametern. 46
https://www.judcom.nsw.gov.au/ (zuletzt aufgerufen am 19. 12. 2019). https://www.judcom.nsw.gov.au/about-the-commission/ (zuletzt aufgerufen am 19. 12. 2019). 48 Im Vorwort heißt es zum Anliegen des Bench Books: „Centuries of practical experience lead to the conclusion that the balancing of such a multiplicity of factors requires the exercise of a broad discretion. Nevertheless, that discretion is a judicial one and must be exercised in accordance with principle. This volume summarises the principles applicable to the exercise of that discretion in the criminal justice system of New South Wales. This publication incorporates many years of research about sentencing acquired by officers of the Judicial Commission of New South Wales. It serves one of the principal functions of the Commission – the promotion of consistency in sentencing. Although the work is primarily designed to assist judicial officers on a day-to-day basis, its general publication will enable it to serve as a resource for all legal practitioners and others who seek a better understanding of the principles and practice of sentencing in New South Wales.“ 49 https://www.judcom.nsw.gov.au/judicial-information-research-system-jirs/ (zuletzt aufgerufen am 19. 12. 2019). 47
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Auf diese Weise erfährt der Richter, wie die anderen Gerichte etwa in einem Verfahren wegen Raubes, mit zwei einschlägigen Vorstrafen und ohne eine guilty plea des Täters geurteilt haben. Wählt er nun ein Strafmaß für seinen Fall, so werden ihm alle Entscheidungen angezeigt, in denen sich Gerichte für dieselbe Strafhöhe entschieden haben. Er kann vergleichen, ob die von ihm zu beurteilende Tat in ihrer Schwere mit den Fällen vergleichbar ist – und seine Sanktion gegebenenfalls anpassen. Das System enthält auch eine Maske für die Gestaltung der Urteilsbegründung. Der Richter geht hier eine „Checklist“ durch, in der alle relevanten Strafzumessungskriterien abgefragt werden. So wird sichergestellt, dass kein Faktor übersehen wird. Gleichzeitig stellt das Programm sicher, dass der Strafrahmen – auch unter Einbeziehung von minder schweren oder besonders schweren Fällen – richtig berechnet wird. Die Reaktionen der Richterschaft auf die Einsetzung der JC seien zunächst verhalten gewesen; befürchtet wurde eine Beschränkung ihrer Unabhängigkeit und eine externe Einflussnahme auf originär richterliche Entscheidungsprozesse.50 Heute, so berichtet der Interviewpartner in der JC, sei die Arbeit der JC für die Richter nicht mehr wegzudenken: „Today they can’t live without us. Our programs, especially JIRS, is an integral part of their decision making. We help judges make better decisions, we don’t tell them what to do, but we are giving them all the information they need.“51
Der ehemalige Richter Hon Peter McClellan AM QC bestätigt diese Einschätzung: „JIRS does not restrict a judge’s freedom. (…) Some judges have erred in this manner, especially in the early days of JIRS, but I do not believe it is a significant problem today.“ Das System unterstütze die Gerichte dabei, gerechte und konsistente Strafzumessungsentscheidungen zu treffen: „I have no doubt JIRS helps judges to make better sentencing decisions. In any jurisdiction where many judges are engaged in sentencing offenders, without a system which accumulates data in other similar cases there is a risk of injustice through inconsistency.“52
IV. Einbindung der Öffentlichkeit in die Strafzumessung Auch die Einsetzung des Sentencing Council (SC) im Jahr 200353 erfolgte im Zuge einer politischen Diskussion über eine vermeintlich zu milde Strafjustiz, deren Urteile den Gerechtigkeitsvorstellungen der Öffentlichkeit nicht mehr zu entsprechen schienen. Der SC ist ein unabhängiges Gremium, das aus 16 Mitgliedern
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Interview mit dem Experten P1, Judicial Commission. Interview mit dem Experten P2, Judicial Commission. 52 Interview mit Judge The Hon Peter McClellan AM QC. 53 Part 8B CSPA.
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besteht; unter ihnen RicherInnen, StaatsanwältInnen, StrafverteidigerInnen, OpfervertreterInnen und VertreterInnen der Öffentlichkeit. 1. Beratung der Politik Der SC hat die Aufgabe, den Attorney General in Fragen der Strafzumessung zu beraten und dabei die Interessen und Positionen der Öffentlichkeit einfließen zu lassen. Der SC erhält vom Attorney General konkrete Arbeitsaufträge, etwa die Untersuchung der Strafzumessungspraxis bei Mord und Totschlag (seit 2019)54 oder der Opferbeteiligung im Strafzumessungsprozess (2017 – 2018)55. Anlass für den Auftrag kann insbesondere die öffentliche Unzufriedenheit über eine Entwicklung der Strafhöhen sein. So wird etwa die Überprüfung der Strafzumessung in Fällen von Mord und Totschlag ausdrücklich mit einer kritischen Medienberichterstattung begründet: „This review exists in the context of concerns in the media that the sentences imposed on homicide offenders are inadequate. The following views have been recorded in the media in the past 12 months: (…)“56
Der SC entwickelt zunächst ein Consultation Paper, in dem die rechtlichen Grundlagen erläutert und die Statistiken dargelegt werden. Im Consultation Paper werden eine Reihe von Fragen formuliert und die Öffentlichkeit um die Übersendung von Stellungnahmen gebeten. „Question 3.1: Life sentences for murder (1) Are the existing principles that relate to imposing life sentences for murder appropriate? Why or why not? (2) If not, what should change?“57
Auf Basis der eingehenden Stellungnahmen sowie „Roundtables“ mit Betroffenen und Vertretern der Öffentlichkeit verfasst der SC einen Abschlussbericht für den Attorney General. Der Bericht enthält Hinweise auf bestehende Probleme sowie Empfehlungen für gesetzliche Änderungen oder praktische Maßnahmen. So heißt es etwa im Report „Victims’ involvement in sentencing“:
54 http://www.sentencingcouncil.justice.nsw.gov.au/Pages/Homicide.aspx (zuletzt aufgerufen am 19. 12. 2019). 55 http://www.sentencingcouncil.justice.nsw.gov.au/Pages/Current-projects/VIS/Victims. aspx (zuletzt aufgerufen am 19. 12. 2019). 56 NSW Sentencing Council, Consultation Paper Homicide, S. 3, http://www.sentencing council.justice.nsw.gov.au/Documents/Current-projects/Homicide/CP_Homicide.pdf (zuletzt aufgerufen am 19. 12. 2019). 57 NSW Sentencing Council, Consultation Paper Homicide, S. xiii, http://www.sentencing council.justice.nsw.gov.au/Documents/Current-projects/Homicide/CP_Homicide.pdf (zuletzt aufgerufen am 19. 12. 2019).
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„To improve victims’ experience of the court and sentencing process, in this Chapter we recommend improving information available to victims about VISs [Victim Impact Statements] and the sentencing process, and providing for more assistance to victims. (…) Victims Services, in consultation with relevant agencies, should ensure information about VISs: (1) is standardised, centralised and routinely reviewed (2) is as brief as possible and targeted, simplified, in plain language, available in different languages other than in English and in different formats, and trauma-informed (3) is prepared for different categories of authors of a VIS by preparing separate information for each different category of author, and (…)“.58
Dem SC geht es nach Aussage der Interviewpartner in aller Regel nicht um eine Anhebung des Strafmaßes, sondern um eine Verbesserung von Transparenz und Nachvollziehbarkeit: „We tend not to say ,Increase the penalties!‘. The Council tries to come out with different options and alternatives to just increasing penalties.“59
2. Aufklärung und Information Die zweite Aufgabe des SC besteht in der Aufklärung der Öffentlichkeit über Recht und Praxis der Strafzumessung. Auf der Homepage des SC werden Informationen für Laien verständlich aufbereitet.60 Zudem ist der SC zentrale Ansprechstelle für die Medien bei Fragen zu gerichtlichen Strafzumessungsentscheidungen. In anderen Bundesstaaten Australiens existieren noch weitere Projekte, etwa die Online-Programme „You Be The Judge“ oder „Judge for yourself“ in Victoria und Queensland. Hier werden der Öffentlichkeit verschiedene Fälle präsentiert und die Teilnehmenden gebeten, eine Strafzumessungsentscheidung zu treffen. Anschließend werden die statistischen Daten präsentiert und die Bedeutung der jeweiligen strafmildernden und strafschärfenden Faktoren erklärt.61
58 NSW Sentencing Council, Victims’ involvement in sentencing, Report March 2018, S. 54 f., http://www.sentencingcouncil.justice.nsw.gov.au/Documents/Current-projects/Victims/ Report_victims.pdf (zuletzt aufgerufen am 19. 12. 2019). 59 Schenck/Heinrich, in: Lange (Hrsg.), Kriminalpolitik, 2008, S. 137, 143. 60 Die Judicial Conference of Australia hat 2007 das frei verfügbare Buch „Judge for yourself“ herausgegeben, in dem der Öffentlichkeit die Grundzüge der Strafzumessung erklärt werden („A Guide to Sentencing in Australia“), https://www.judcom.nsw.gov.au/wp-content/up loads/2014/03/judge_for_yourself.pdf (zuletzt aufgerufen am 19. 12. 2019). 61 https://www.sentencingcouncil.qld.gov.au/judgeforyourself (zuletzt aufgerufen am 19. 12. 2019).
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V. Fazit und Ausblick: Was lässt sich für Deutschland übernehmen? Der Strafzumessung wird in Australien eine erheblich größere Bedeutung zugemessen als in Deutschland. Ein Grund hierfür mag im Verfahrensverlauf liegen: Schuldspruch und Strafzumessungsentscheidung fallen in Australien nicht zusammen. Durch das eigenständige Sentencing Hearing erhält die Frage nach der Strafhöhe ein erkennbar anderes Gewicht. Die Bedeutung der Strafzumessungsentscheidung zeigt sich bereits in den deutlich ausführlicheren rechtlichen Bestimmungen: Der Gesetzgeber in NSW hat den Gerichten eine detaillierte Liste relevanter Strafzumessungskriterien an die Hand gegeben und in einigen Fällen – etwa der guilty plea oder der Reue – Voraussetzungen für ihre Anwendung normiert.62 Zudem hat NSW verschiedene Maßnahmen entwickelt, um eine einheitliche Strafzumessung zu gewährleisten. Richter werden durch die Arbeit der Judicial Commission – insbesondere das Bench Book on Sentencing und das Programm JIRS – in ihrer Strafzumessungsentscheidung unterstützt. Weiterhin fällt ins Auge, dass Belange der „community“ eine politisch wichtige Rolle spielen – was sich auch in der Strafzumessung niederschlägt. Sie sind ausdrücklich in den Zielen der Strafzumessung genannt und haben für die Wahl und Höhe der Sanktion entscheidendes Gewicht. Ein weiteres Indiz für die Bedeutung der öffentlichen Meinung für die Strafzumessung sind die zunehmend hohen Maximalstrafen und SNPP für Kindesmissbrauch – einem Deliktsbereich, für den die Öffentlichkeit traditionell besonders strenge Strafen fordert. Wie ernst die öffentliche Meinung zu Strafhöhen genommen wird, zeigt sich vor allem in der Einsetzung des Sentencing Council. Er vertritt die Interessen der Gemeinschaft in der rechtspolitischen Diskussion um Strafzumessung und hat gleichzeitig zur Aufgabe, die Bevölkerung über die Grundlagen der Strafzumessung zu informieren. Aus Recht und Praxis in NSW lassen sich für Deutschland im Wesentlichen drei Punkte übernehmen: (1) § 46 StGB ist zu knapp gefasst; strafzumessungsrelevante Faktoren sollten möglichst erschöpfend normiert werden. (2) Deutschland sollte das JIRS System übernehmen und auf diese Weise eine bundesweite Datenbank zu Strafzumessungsentscheidungen63 schaffen, um die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu verbessern.
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Siehe aber kritisch dazu: Bagaric, Fn. 31. Für die Einführung einer Datenbank auch Beschluss des DJT, Beschlüsse des 72. DJT, S. 19 f., https://www.djt.de/fileadmin/downloads/72/181130_djt_internet_72_beschluesse.pdf (zuletzt aufgerufen am 19. 12. 2019). 63
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(3) Es sollte eine Strafzumessungskommission eingesetzt werden,64 die den Gesetzgeber in Fragen der Strafzumessung berät und hierbei unterschiedliche Akteure – Vertreter der Justiz, Strafverteidiger, Opfervertreter, Vertreter der Bevölkerung – einbezieht. Die Kommission sollte zudem zur Aufgabe haben, Medien und Öffentlichkeit über Recht und Praxis der Strafzumessung zu informieren. Dabei sollten innovative Formate, etwa Jura als Schulfach oder Fortbildungsangebote für Medienvertreter, entwickelt werden.
64 Für die Einrichtung einer Kommission auch: Kaspar, Thesen der Gutachter und Referenten des 72. DJT, S. 24, https://www.djt.de/fileadmin/downloads/72/72_thesen_180728.pdf (zuletzt aufgerufen am 19. 12. 2019).
Organisierte Kriminalität und Clankriminalität: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Von Jörg Kinzig
I. Einleitung Im Mai 2019 überreichte Thomas Jungbluth, Abteilungsleiter „Organisierte Kriminalität“ im Landeskriminalamt von Nordrhein-Westfalen (LKA NRW), an Herbert Reul, Innenminister dieses Bundeslandes, das erste Lagebild zur Clankriminalität in Nordrhein-Westfalen.1 Der Umstand, dass die Erstellung des Lagebildes Clankriminalität organisatorisch bei der Abteilung 1 „Organisierte Kriminalität“ des LKA angesiedelt war,2 deutet zusammen mit der Tatsache, dass das genannte Lagebild auch einen Abschnitt mit der Überschrift „Ermittlungsverfahren Organisierte Kriminalität“ enthält,3 darauf hin, dass ein wie auch immer gearteter Zusammenhang zwischen der Clankriminalität und der Organisierten Kriminalität bestehen muss. Und von der Organisierten Kriminalität wiederum ist der Weg zum Jubilar – weniger missverständlich und genauer: seinen Publikationen – nicht mehr weit. Denn Ulrich Sieber ist zweifellos einer der Wissenschaftler in Deutschland, die sich bereits frühzeitig mit dem Phänomen der Organisierten Kriminalität in profunder Weise auseinandergesetzt haben. Schon im Jahr 1993 erschien seine viel beachtete, im Auftrag des Bundeskriminalamts zusammen mit Marion Bögel verfasste Studie über die „Logistik der Organisierten Kriminalität“.4 Der nun folgende Beitrag geht insbesondere dem Verhältnis des bereits lange diskutierten Phänomens der Organisierten Kriminalität zu der vor allem medial in den letzten Monaten vielbeachteten (neuen?) Clankriminalität nach. Dabei sollen nach dieser Einleitung (I.) in einem zweiten Schritt zunächst kurz zentrale Ergebnisse rekapituliert werden, die die Studie von Sieber/Bögel Anfang der 1990er Jahre erbracht 1
Das Dokument „Clankriminalität – Lagebild NRW 2018“ vom Mai 2019 kann im Internet abgerufen werden unter https://polizei.nrw/sites/default/files/2019-05/190515_Lagebild% 20Clan%202018.pdf. Alle Internetquellen haben den Stand 1. 1. 2020. 2 Das Organigramm des LKA NRW findet sich unter https://lka.polizei.nrw/sites/default/ files/2019-02/Organigramm_LKA_NRW_deutsch.pdf. 3 „Clankriminalität – Lagebild NRW 2018“ a.a.O., 15 f. 4 Sieber/Bögel, Logistik der Organisierten Kriminalität: wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsansatz und Pilotstudie zur internationalen Kfz-Verschiebung, zur Ausbeutung von Prostitution, zum Menschenhandel und zum illegalen Glücksspiel, 1993.
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hat (II.) Im Anschluss wird der Blick auf die Entwicklung der Organisierten Kriminalität in Deutschland gerichtet. Dabei ist das jährlich vom Bundeskriminalamt herausgegebene Lagebild Organisierte Kriminalität noch immer der erste Anlaufpunkt, will man sich über Art und Umfang der Organisierten Kriminalität in Deutschland informieren (III.). Sowohl die Studie von Sieber/Bögel als auch die Lagebilder sollen in diesem Zusammenhang besonders daraufhin untersucht werden, ob und inwiefern sich aus diesen Quellen Verbindungen zur Clankriminalität herstellen lassen. Daraufhin wird ein Perspektivenwechsel vorgenommen. Ausgehend von der Definition der Clankriminalität werden deren Verbindungen zum Thema der Organisierten Kriminalität gesucht (IV.). Vorgestellt werden des Weiteren die kriminalpolitischen Maßnahmen, mit denen die Clankriminalität bekämpft wird (V.). Der Ertrag dieser Analysen soll am Ende in einem vorläufigen Fazit zusammengefasst werden (VI.).
II. Die „Logistik der Organisierten Kriminalität“ Die genannte Untersuchung von Sieber und Bögel hatte sich Anfang der 1990er Jahre zum Ziel gesetzt, „zur Klärung von Struktur und Verbreitung der Organisierten Kriminalität“ beizutragen.5 Nachdem die Autoren zunächst eine „Logistik der Organisierten Kriminalität“ konzipiert hatten, überprüften die Verfasser selbige anhand zweier Deliktsbereiche: der „organisierten Kfz-Verschiebung“ sowie der Kriminalität „im Bereich des Nachtlebens.“ Letztere fächerten Sieber und Bögel noch in die organisierte Ausbeutung von Prostitution, den Menschenhandel sowie das illegale Glücksspiel auf. Der empirischen Analyse lagen teilstandardisierte Interviews zugrunde, und zwar von insgesamt 49 Personen, darunter 21 Polizeibeamte und 13 Staatsanwälte.6 Auch wenn inzwischen mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Erscheinen der Studie vergangen ist, lohnt unverändert ein Blick in die Ergebnisse. Dabei schlussfolgerten Sieber und Bögel, dass in allen untersuchten Deliktsbereichen „komplexe Tätergruppen mit Hilfe einer ausgefeilten Logistik geschäftsähnlich agieren und dadurch erhebliche Finanz- und Machtpositionen erreichen.“ Neben „streng hierarchisch strukturierten Organisationen“ existierten „lockere Straftäterverflechtungen.“ Die „Organisations- und Personalstruktur“ sei dadurch gekennzeichnet, „daß die einzelnen Mitglieder der Gruppe streng abgeschottet und – für den Fall ihrer Festnahme – leicht zu ersetzen sind.“7 5
Sieber/Bögel, Logistik (Fn. 4), S. 3. Sieber/Bögel, Logistik (Fn. 4), S. 67 ff., 131 ff., 200 ff., 234 ff.; vgl. auch Sieber, JZ 1995, 758 (761 ff.); Sieber, in Mayerhofer/Jehle (Hrsg.), Logistikstrukturen und neue Bekämpfungsansätze im Bereich der organisierten Kriminalität, 1996, S. 191 ff. sowie Sieber, in: Sieber (Hrsg.), Organisierte Kriminalität in der Bundesrepublik Deutschland, 1997, S. 43 ff., 54 ff. 7 Sieber/Bögel, Logistik (Fn. 4), S. 5 ff., 287 ff.; vgl. auch Sieber, in: Sieber (Hrsg.), Organisierte Kriminalität in der Bundesrepublik Deutschland, 1997, S. 75 ff. 6
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Aus dem Umstand, dass selbst bei Zerschlagung einer ganzen Tätergruppe deren Marktanteile und häufig auch Logistikstrukturen sofort von einer anderen Tätergruppe des oligopolistischen Marktes übernommen würden und sich dadurch langfristig die besser abgeschotteten und organisierten Tätergruppen durchsetzten, folgerten die Autoren, dass neben der Strafverfolgung eine „Zerstörung von Logistik- und Marktstrukturen der Organisierten Kriminalität“ erforderlich sei. Diese könne aber nur deliktsspezifisch erfolgen.8 Im Bereich der „Allgemeinen Verbesserung der Strafverfolgung“ forderten die Verfasser eine Fülle ganz unterschiedlicher Maßnahmen. So schlugen sie eine Optimierung des Personaleinsatzes und der Ausstattung, organisatorische Maßnahmen, eine bessere Informationsgewinnung, materielle Strafrechtsänderungen, Änderungen des Beweisantragsrechts, Maßnahmen im Strafvollzug, Antikorruptionsmaßnahmen in Verwaltung, Polizei und Justiz, eine Verbesserung der internationalen Zusammenarbeit, die Wahrnehmung einer Vorbildfunktion durch die Politik sowie eine verbesserte Öffentlichkeitsarbeit vor.9 Für die zukünftige Kriminalpolitik sei festzuhalten, „daß an der Existenz von planmäßig, arbeitsteilig und überregional operierenden, über ausgefeilte Logistiksysteme verfügende und mit qualifizierten Techniken der Einschüchterung und Einflußnahme arbeitenden – d. h. besonders gefährlichen – Straftätergruppen aufgrund der vorliegenden Untersuchung in den hier analysierten Deliktsbereichen keine Zweifel bestehen.“10 Ausgehend von der Hypothese, dass die neuerdings vieldiskutierte „Clankriminalität“ etwas mit einem Zusammenschluss von Straftätern qua ausländischer, ethnischer oder kultureller Herkunft zu tun haben muss, ist es interessant sich daran zu erinnern, dass schon Sieber und Bögel in allen vier von ihnen speziell untersuchten Deliktsbereichen unter der Überschrift „Organisationsgrad und Personalmanagement“ auch einen Abschnitt über die „Nationalität der Beteiligten“ aufnahmen. Insoweit kamen die Autoren für die organisierte Kfz-Verschiebung zum Ergebnis, dass „Straftäter einer bestimmten Nation … meist gruppenbezogen zusammen“ arbeiteten.11 Für die organisierte Ausbeutung der Prostitution wird ausgeführt, dass ausländische Gruppen darauf bedacht seien, ihre Geschäfte nur mit Landsleuten abzuwickeln.12 Im Bereich des Menschenhandels seien dagegen ausländische Tätergruppen „auf die Zusammenarbeit mit deutschen Straftätern im besonderen Maße angewiesen.“13 Für das illegale Glücksspiel wird stattdessen ein „starker Heimatbezug“ fest8 Sieber/Bögel, Logistik (Fn. 4), 1993, S. 7 ff., 288 ff., für die organisierte Kfz-Verschiebung S. 292 ff., für die Ausbeutung der Prostitution S. 306 ff., für den Menschenhandel S. 314 ff. sowie für das illegale Glücksspiel S. 322 ff.; vgl. auch Sieber, JZ 1995, 758 (766 f.). 9 Sieber/Bögel, Logistik (Fn. 4), S. 328 ff. 10 Sieber/Bögel, Logistik (Fn. 4), S. 374. 11 Sieber/Bögel, Logistik (Fn. 4), S. 87. 12 Sieber/Bögel, Logistik (Fn. 4), S. 154. 13 Sieber/Bögel, Logistik (Fn. 4), S. 208.
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gestellt. Und wörtlich: „Die Angehörigen von solchen Hütchenspielergruppen stammen oftmals aus derselben Stadt … oder aus demselben Dorf. Häufig bestehen darüber hinaus Familienbande zwischen den einzelnen Mittätern.“14 Wurde mit den genannten „Familienbanden“ also schon Anfang der 1990er Jahre ein Phänomen angesprochen, das heute unter dem Stichwort „Clankriminalität“ Karriere macht?
III. Clankriminalität im Spiegel der vom Bundeskriminalamt jährlich erstellten Lagebilder Organisierte Kriminalität Diese Frage legt es nahe, sich dem Bundeslagebild Organisierte Kriminalität zuzuwenden. Dabei soll in einem ersten Abschnitt (1.) in aller Kürze anhand der Lagebilder die Entwicklung der Organisierten Kriminalität generell nachgezeichnet werden, bevor (2.) eruiert wird, ob sich diesen Lagebildern schon früher Hinweise entnehmen ließen, die man mit der Bezeichnung „Clankriminalität“ in Verbindung bringen kann. Ein Lagebild Organisierte Kriminalität wurde für die Bundesrepublik Deutschland zum ersten Mal für das Jahr 1991 angefertigt. Vorausgegangen war ein Auftrag an die Kommission Organisierte Kriminalität (KOK) durch die AG Kripo, einen „Gesamtlagebericht OK für die Bundesrepublik Deutschland“ anzufertigen.15 Kriminalpolitisches Ziel war es, die Existenz Organisierter Kriminalität anhand nachprüfbarer Fakten zu belegen.16 1. Die Entwicklung der Organisierten Kriminalität anhand der Bundeslagebilder Die folgende Darstellung der Entwicklung der Organisierten Kriminalität anhand der Bundeslagebilder bezieht sich auf die Jahre 1993 bis 2018.17 Abbildung 1 zeigt nach der Entdeckung der Organisierten Kriminalität zunächst einen Anstieg der jährlich gemeldeten OK-Verfahren Ende der 1990er Jahre, bis im Jahr 2000 mit 854 Verfahren (Summe aus Erstmeldungen und Fortschreibungen) ein Höhepunkt erreicht war. Mit der Hinwendung zur Bekämpfung des Terrorismus infolge der Terroranschläge vom 11. 9. 2001 setzte ein deutlicher Rückgang der bearbeiteten OK-Komplexe ein. Im Jahr 2008 wurde zum ersten Mal mit (nur) 575 OK14
Sieber/Bögel, Logistik (Fn. 4), S. 252. Gehm/Link, Kriminalistik 1992, 491 (492); vgl. auch Meywirth, Kriminalistik 1999, 447 ff. Eine Kurzfassung der Bundeslagebilder Organisierte Kriminalität kann im Internet ab den Jahren 2000 bis 2017 unter der Homepage des BKA http://www.bka.de abgerufen werden. 16 Meywirth, Kriminalistik 1999, 447 (448). 17 Wegen der anlaufbedingten Schwankungen bleiben die Angaben der Anfangsjahre 1991 und 1992 außer Betracht. 15
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Verfahren die Marke von 600 unterschritten, die in den folgenden Jahren nur noch einmal im Jahr 2010 mit 606 knapp nach oben durchbrochen wurde. Seit dem Jahr 2012 verzeichnet die Statistik nur noch zwischen 560 und 580 OK-Verfahren pro Jahr.18 Zuletzt im Jahr 2018 war das Aufkommen mit 244 Erstmeldungen und 535 OK-Verfahren insgesamt so gering wie noch nie.
Quelle: OK-Lageberichte des BKA 1993 – 2018.
Abbildung 1: Anzahl der jährlichen OK-Verfahren (1993 – 2018)
Bekanntlich setzt die halbamtliche Definition Organisierter Kriminalität in einer Art Allgemeiner Teil zunächst eine „von Gewinn- oder Machtstreben bestimmte planmäßige Begehung von Straftaten, die einzeln oder in ihrer Gesamtheit von erheblicher Bedeutung sind“ voraus, wobei „mehr als zwei Beteiligte auf längere oder unbestimmte Dauer arbeitsteilig … zusammenwirken“ müssen. Darüber hinaus muss eines von drei speziellen OK-Merkmalen erfüllt sein.19
18
Dabei muss man sich vergegenwärtigen, dass ein „OK-Verfahren“ in diesem Sinne aus einer ganzen Reihe unterschiedlicher Ermittlungsverfahren bestehen kann. 19 Die Justizminister/-senatoren und die Innenminister/-senatoren der Länder haben im Jahr 1990 „Gemeinsame Richtlinien über die Zusammenarbeit von Staatsanwaltschaft und Polizei bei der Verfolgung der Organisierten Kriminalität“ beschlossen. Die Definition der Organisierten Kriminalität findet sich in Nr. 2.1 der genannten Richtlinie.
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Verfolgt man das Vorliegen dieser drei speziellen Merkmale über die Jahre,20 steht die „Verwendung gewerblicher oder geschäftsähnlicher Strukturen“ seit jeher an der Spitze der speziellen Alternativen (Abbildung 2). Nach einem Maximalwert von über 95 % im Jahr 2007 war dieses Merkmal zuletzt in rund 90 % bis 92 % der Fälle Organisierter Kriminalität vertreten. Der Anteil der OK-Verfahren, bei denen eine Anwendung von Gewalt oder anderer zur Einschüchterung geeigneter Mittel und damit das zweite spezielle OK-Merkmal zu beobachten war, liegt in der Regel zwischen 45 % und 50 %. Beim dritten Merkmal der Einflussnahme auf Politik, öffentliche Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft ist dagegen ein wellenförmiger Verlauf zu beobachten. Wurde im Jahr 2001 erstmals die Marke von 20 % überschritten und 2007 sogar fast der Wert von 30 % erreicht, war der Anteil dieses speziellen OK-Merkmals in den letzten beiden Jahren mit rund 18 % so niedrig wie seit Mitte der 1990er Jahre nicht mehr.
Quelle: OK-Lageberichte des BKA 1993 – 2018.
Abbildung 2: Verteilung der speziellen Merkmale der OK-Definition (1993 – 2018)
20 Für eine klarere Darstellung der Ergebnisse werden hier nur 2-Jahres-Schritte ausgewiesen.
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Blicken wir auf die verschiedenen Deliktsbereiche organisierter Kriminalität (Abbildung 3). Traditionell seit Jahren – und durchaus in Übereinstimmung mit der Dominanz des speziellen Merkmals der Verwendung gewerblicher oder geschäftsähnlicher Strukturen – ist das bei weitem wichtigste Deliktsfeld das des Rauschgifthandels/-schmuggels. Zwischen 200 bis 250 OK-Verfahren betrafen in den letzten Jahren diesen Bereich. Etwa 50 bis 100 Verfahren werden regelmäßig in den Bereichen Eigentumskriminalität und Kriminalität im Zusammenhang mit dem Wirtschaftsleben geführt, gefolgt von der Schleuserkriminalität. Alle anderen genannten Bereiche sind quantitativ weniger relevant.
Quelle: OK-Lageberichte des BKA 1995 – 2018.
Abbildung 3: Kriminalitätsbereiche organisierter Kriminalität (1995 – 2018)
Die, wie gezeigt, Anfang der 2000er Jahre deutlich abnehmende Zahl der OK-Tatkomplexe hatte zugleich zur Folge, dass in den letzten Jahren gegen deutlich weniger OK-Tatverdächtige neu ermittelt wurde (Abbildung 4). Nach einem Höchststand im Jahr 2000 mit 9.421 halbierten sich die neu ermittelten OK-Tatverdächtigen bis zum Jahr 2004 fast (4.886). Im Jahr 2011 wurde erstmals die Marke von 4.000 unterschritten (3.812). Zuletzt (2018) wurde gar nur noch gegen knapp 3.000 OK-Tatverdächtige neu ermittelt.
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In diesem Jahr 2018 wurden insgesamt noch 6.483 OK-Tatverdächtige gezählt. Setzt man diese ins Verhältnis zu allen Tatverdächtigen, die im Jahr 2018 in der Polizeilichen Kriminalstatistik erfasst wurden (2.051.266 Tatverdächtige), bilden die OK-Tatverdächtigen freilich nur einen Anteil von 0,3 %.
Quelle: OK-Lageberichte des BKA 1999 – 2018.
Abbildung 4: Entwicklung der Zahl der neu ermittelten Tatverdächtigen (1999 – 2018)
Der Anteil nichtdeutscher OK-Tatverdächtiger ist bemerkenswert hoch (Abbildung 5). Selbst im Jahr 2001, als mit nur 52,1 % der bisherige Tiefstwert registriert wurde, lag er über 50 %. Zuletzt erreichte er im Jahr 2018 mit 66,1 % einen anhaltend hohen Wert. Zum Vergleich: Im selben Jahr wies die Polizeiliche Kriminalstatistik einen Anteil Nichtdeutscher an den Tatverdächtigen insgesamt von 34,5 % aus.21
21
Bundeskriminalamt (Hrsg.), Polizeiliche Kriminalstatistik 2018, Band 3, S. 128.
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Quelle: OK-Lageberichte des BKA 1993 – 2018.
Abbildung 5: Anteil nichtdeutscher OK-Tatverdächtiger (1993 – 2018)
2. Hinweise auf das Vorhandensein von Clankriminalität in den OK-Lagebildern bis zum Jahr 2018 Wie eben gesehen, ist der Anteil von Ausländern an den OK-Tatverdächtigen seit jeher hoch. Daher ist es von Interesse zu analysieren, wie die OK-Lagebilder diesen Befund in der Vergangenheit dargestellt und kommentiert haben und ob es schon früher Hinweise auf eine Art „Clankriminalität“ im Bereich der Organisierten Kriminalität gab. Im Jahr 1998 wurde in das OK-Lagebild zum ersten Mal ein Abschnitt über „Strukturen ethnisch geprägter Phänomene“ aufgenommen. Ziel war es, darin „eine ethnienübergreifende Beurteilung der organisierten Strukturen insgesamt, aber auch eine Beschreibung der jeweiligen ethnischen Ausprägungen“ zu liefern.22 Dieser Anspruch wurde im Folgenden jedoch nicht eingelöst. Denn stattdessen wurde die OK durch deutsche, türkische, jugoslawische, polnische, italienische und russische Staatsangehörige, also nicht entlang von Ethnien, sondern nach Staatsangehörigkeiten näher analysiert.23 Betont wurde aber, dass „Familienstrukturen … für italienische, türkische und kosovo-albanische Gruppierungen eine wichtige Rolle“ spielten.24 „Das Agieren innerhalb festgefügter Familienstrukturen“ verursache Ermittlungsprobleme. „Diese geben Autoritätsverhältnisse vor, ermöglichen 22
OK-Lagebild 1998, S. 19 ff. OK-Lagebild 1998, S. 21 ff. 24 OK-Lagebild 1998, S. 30.
23
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eine dauerhafte Zusammenarbeit, bieten sicheres Rekrutierungspotential und sorgen für entsprechende Verschwiegenheit.“25 Bereits im Jahr 2000, also nur zwei Jahre später, gab das OK-Lagebild den Begriff der Ethnie in der Überschrift wieder auf. Stattdessen wurden nun der Realität angenähert „Gruppenstrukturen nach Staatsangehörigkeit“ beleuchtet.26 In einer abschließenden „Gesamtbewertung national geprägter Gruppierungen“27 hob das Lagebild speziell für türkische und kosovo-albanische Gruppierungen hervor, dass „Familienstrukturen“ häufig die maßgeblichen Beziehungsgeflechte und Autoritätsverhältnisse vorgäben. Als Erklärung für dieses Phänomen wurde angeboten, „dass staatliche Machtvakuen in unzugänglichen oder abgelegenen Regionen der Herkunftsländer in der Vergangenheit durch tradierte Familien- bzw. Clanstrukturen ausgefüllt wurden. Die Übertragung familiärer Strukturen auf Deutschland bietet kriminellen Organisationen verschiedene Vorteile, z. B. hinsichtlich der dauerhaften Zusammenarbeit, der Verschwiegenheit und Abschottung auf Grund gegenseitiger Verpflichtung und des verlässlichen Rekrutierungspotenzials.“28 Schon im nächsten Jahr brachte das OK-Lagebild 2001 erneut eine Änderung. Dabei versprach die knappe Überschrift „Ethnien“ einen „Überblick der ethnisch geprägten Phänomene“.29 Dem schloss sich jedoch eine Darstellung an, die wiederum nur nach Nationalitäten gruppierte und die Bedeutung von Familien- oder Clanstrukturen nicht mehr aufgriff. Bereits im darauffolgenden OK-Lagebild 2002 wurde eine neue Überschrift „Tatverdächtige/Gruppenstrukturen“ eingeführt, unter der wiederum die Kriminalität anhand der verschiedenen beteiligten Nationalitäten abgehandelt wurde.30 Eine spätere „Bewertung“ enthielt die Bemerkung, dass Organisierte Kriminalität in Deutschland in vielfältiger Ausprägung festgestellt werde, „insbesondere in Form von Netzwerken und ethnischen Großfamilien.“31 Das sich anschließende OK-Lagebild 2003 widmete erstmals der „OK durch kurdische Tatverdächtige“ einen eigenen Abschnitt. Dabei wurde betont, dass „sehr häufig … die Familienzugehörigkeit oder die Herkunft aus demselben Ort oder derselben Region die Zusammensetzung der Gruppen“ bestimme.32 Ab dem Jahr 2004 traten Aspekte der Familien- oder Clanzugehörigkeit als ein Merkmal bestimmter OKGruppierungen wieder deutlich in den Hintergrund. Ab dem OK-Lagebild des Jahres 2009 wurde der Begriff der Ethnie nicht mehr verwendet. 25
OK-Lagebild 1998, S. 34. OK-Lagebild 2000, S. 31 ff. 27 OK-Lagebild 2000, S. 40 ff. 28 OK-Lagebild 2000, S. 41. 29 OK-Lagebild 2001, S. 25 ff. 30 OK-Lagebild 2002, S. 11 ff. 31 OK-Lagebild 2002, S. 26. 32 OK-Lagebild 2003, S. 38.
26
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Jedoch fanden sich im Jahr 2008 erstmals libanesisch dominierte OK-Gruppen in einem kleinen Abschnitt wieder,33 der aber im Folgejahr aufgrund eines Rückgangs der Tatverdächtigen dieser Nationalität nicht erneut auftauchte. Erst im Jahr 2011 wurde wieder ein Absatz über libanesisch dominierte OK-Gruppen aufgenommen und darin berichtet, dass diese „in den unterschiedlichsten Deliktsfeldern, hauptsächlich im Rauschgifthandel und -schmuggel von Kokain und Amphetamin aus den Niederlanden nach Deutschland“ agierten.34 Im Jahr 2012 wurde die explizite Beschreibung der Gruppenstrukturen entlang von Nationalitäten erneut aufgegeben und auch die OK-Kriminalität von Libanesen nicht mehr gesondert betrachtet. Die OK-Lagebilder der Jahre 2014 und 2015 enthielten wiederum kleine Abschnitte über libanesisch dominierte OK-Gruppierungen.35 Im Jahr 2015 wurde ohne Nennung der Nationalität ein Verfahren im Rauschgiftbereich geschildert, an dem „Clanmitglieder“ beteiligt gewesen seien.36 Im Jahr 2017 schließlich wurde im Abschnitt „Strukturen der OK-Gruppierungen“ davon gesprochen, dass es „OK-Gruppierungen krimineller Mitglieder von Großfamilien ethnisch abgeschotteter Subkulturen“ gäbe. Zudem kam das OK-Lagebild zu folgender Einschätzung: „Kriminalität von Angehörigen türkisch- und arabischstämmiger Großfamilien zeichnet sich durch eine grundsätzlich ethnisch abgeschottete Familienstruktur aus, die unter Missachtung der vorherrschenden staatlichen Strukturen, deren Werteverständnis und Rechtsordnung eine eigene, streng hierarchische, delinquente Subkultur bildet. Die diesbezügliche Entwicklung steht weiterhin im Fokus der Strafverfolgungsbehörden.“37 Referiert wurde in diesem OK-Lagebild auch der Aufsehen erregende Diebstahl einer 100 kg schweren Goldmünze (Wert: rund 3,5 Millionen Euro) aus dem Berliner Bode-Museum. Die Ermittlungen hätten „einen dringenden Tatverdacht gegen mehrere Mitglieder einer amtsbekannten arabischstämmigen Berliner Großfamilie“ ergeben.38 Im Jahr 2018 wurde dann erstmals ein siebenseitiges Kapitel über „Kriminelle Mitglieder ethnisch abgeschotteter Subkulturen (Clankriminalität)“ ins OK-Lagebild aufgenommen.39 Da bislang keine bundesweit verbindliche Definition des Begriffs Clankriminalität existiere, erfolge die Darstellung der Clankriminalität, so das Lagebild, aufgrund von „Zuordnungskriterien und Indikatoren“. Insgesamt hätten im Jahr 2018 45 OK-Verfahren der Clankriminalität zugeordnet werden können. Daran beteiligt seien 24 OK-Gruppierungen arabischstämmiger Herkunft, acht OK-Gruppierungen mit Herkunft aus den Westbalkan-Staaten, drei OK-Gruppierungen türkei-
33
OK-Lagebild 2008, S. 19. OK-Lagebild 2011, S. 25. 35 OK-Lagebild 2014, S. 15; OK-Lagebild 2015, S. 20. 36 OK-Lagebild 2015, S. 25. 37 OK-Lagebild 2017, S. 17. 38 OK-Lagebild 2017, S. 27. 39 OK-Lagebild 2018, S. 28. 34
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stämmiger Herkunft, eine OK-Gruppierung mit Herkunft aus den Maghreb-Staaten und neun OK-Gruppierungen anderer Herkunft.40 In der Definition der „Clankriminalität“ lehnt sich das OK-Lagebild an einen Beschluss der Kommission Organisierte Kriminalität (KOK)41 der AG Kripo vom Herbst 2018 an, nach dem Clankriminalität wie folgt definiert wird: „Clankriminalität ist die Begehung von Straftaten durch Angehörige ethnisch abgeschotteter Subkulturen. Sie ist bestimmt von verwandtschaftlichen Beziehungen, einer gemeinsamen ethnischen Herkunft und einem hohen Maß an Abschottung der Täter, wodurch die Tatbegehung gefördert oder die Aufklärung der Tat erschwert wird. Dies geht einher mit einer eigenen Werteordnung und der grundsätzlichen Ablehnung der deutschen Rechtsordnung. Dabei kann Clankriminalität einen oder mehrere der folgenden Indikatoren aufweisen: *
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Eine starke Ausrichtung auf die zumeist patriarchalisch-hierarchisch geprägte Familienstruktur. Eine mangelnde Integrationsbereitschaft mit Aspekten einer räumlichen Konzentration. Das Provozieren von Eskalationen auch bei nichtigen Anlässen oder geringfügigen Rechtsverstößen. Die Ausnutzung gruppenimmanenter Mobilisierungs- und Bedrohungspotenziale.“42
Einen räumlichen Schwerpunkt sieht das OK-Lagebild 2018 in Nordrhein-Westfalen (22 OK-Verfahren). Neben Berlin (5 OK-Verfahren), Niedersachsen (3 OKVerfahren) und Bremen (1 OK-Verfahren) sind hier auch Bayern (7 OK-Verfahren), das Saarland (4 OK-Verfahren) und Baden-Württemberg (3 OK-Verfahren) vertreten. In den 45 OK-Verfahren wurden 654 Tatverdächtige erfasst, davon u. a. 152 libanesische, 148 deutsche mit teilweise arabischstämmigem Migrationshintergrund, 54 syrische und 52 türkische Staatsangehörige.43 Deliktische Schwerpunkte waren auch hier im Rauschgifthandel/-schmuggel (23 OK-Verfahren) und bei den Eigentumsdelikten (12 OK-Verfahren) zu verzeichnen.44
40
OK-Lagebild 2018, S. 28 f. Der KOK gehören alle Vertreter der LKÄ, des BKA, der Bundespolizei und des Zolls an, die mit der OK-Bekämpfung zu tun haben. 42 Der Beschluss der KOK wird zitiert nach einem Positionspapier des „Bund Deutscher Kriminalbeamter“ mit dem Titel „Clankriminalität bekämpfen: Strategische Ausrichtung – nachhaltige Erfolge“ vom April 2019, S. 5, https://www.bdk.de/der-bdk/positionspapiere/clan kriminalitaet/2019 - 04 - 29 %20BDK%20Positionspapier%20Clankriminalitaet.pdf; vgl. auch OK-Lagebild 2018, S. 29. Diese Definition verwendet auch das im Dezember 2019 veröffentlichte „Lagebild Organisierte Kriminalität Berlin 2018“. 43 Demgegenüber nennt die KOK der AG Kripo folgende regionale Herkunft (nach Fiedler, Der Kriminalist 2019, 4 f.: „arabischstämmig (Arabische Liga), Türkei-Stämmig, Westbalkan (Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Kroatien, Mazedonien, Montenegro und Serbien), Maghreb-Staaten (Algerien, Marokko, Tunesien, Libyen, Mauretanien, andere).“ 44 OK-Lagebild 2018, S. 29 f. 41
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Derzeit liege der Schwerpunkt der Bekämpfung des Phänomens „durch die vorrangig betroffenen Länder Berlin, Bremen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen bei der Bekämpfung krimineller Mitglieder arabisch- bzw. türkeistämmiger Clans. Im Mittelpunkt stehen dabei besonders jene Personen, die der Volkszugehörigkeit der Mhallamiye, libanesischer oder palästinensischer Herkunft zugeordnet werden können.“45 Den arabisch-/türkeistämmigen Clans, so das OK-Lagebild, werde in aller Regel ein hoher Abschottungsgrad nach außen zugeschrieben. Demgegenüber überrascht, dass „lediglich in zwei OK-Verfahren gegen diese OK-Gruppierungen eine homogene Täterstruktur festgestellt“ worden sei. Vermutet wird jedoch, „dass sich die Ebene der Entscheidungsträger innerhalb dieser OK-Gruppierungen weitestgehend aus kriminellen Mitgliedern des engsten Familienkreises zusammensetzt und Tatverdächtige anderer Nationalitäten lediglich für ,Handlangerdienste‘ eingesetzt werden.“46 Der Überblick über die OK-Lagebilder hat gezeigt, dass der Begriff der Clankriminalität bis zum Jahr 2017 darin lediglich zwei Mal auftauchte: immerhin schon im Jahr 2000 als „Familien- bzw. Clanstrukturen“ in Zusammenhang mit türkischen und kosovo-albanischen Gruppierungen und im Jahr 2015 bei der Schilderung eines Rauschgiftverfahrens, an dem „Clanmitglieder“ beteiligt gewesen seien. Im Jahr 2017 fanden dann die türkisch- und arabischstämmigen Großfamilien Eingang in das OK-Lagebild, die sich „durch eine grundsätzlich ethnisch abgeschottete Familienstruktur“ auszeichneten.47 Dessen ungeachtet wurden ähnliche Begriff wie die „Ethnie“ oder auch die „Familienstruktur“ über die Jahre immer wieder insbesondere dazu verwendet, auf besondere Ermittlungsprobleme innerhalb dieser Milieus hinzuweisen.
IV. Clankriminalität: Definition und Verbindung zur Organisierten Kriminalität Herauszufinden, was sich genau hinter dem in aller Munde befindlichen Ausdruck „Clankriminalität“ verbirgt, ist gar nicht so einfach. Eine gesetzliche Definition dieses Begriffs existiert bisher nicht. Ein relativ frühes amtliches Dokument, das das Stichwort „Clankriminalität“ enthält, ist die niedersächsische „Richtlinie über die Zusammenarbeit von Staatsanwaltschaft und Polizei bei der Verfolgung der Organisierten Kriminalität“, die vom Mai 2016 stammt.48 Darin wird im Abschnitt „Begriff, Erscheinungsformen und Indika45
OK-Lagebild 2018, S. 31. OK-Lagebild 2018, S. 33. 47 Über die „libanesisch-kurdische Kriminalitätsszene Berlins“ erschien aber schon im Jahr 2002 ein Aufsatz von Henninger, Kriminalistik 2002, 714 ff. 48 Richtlinie des Ministeriums der Justiz vom 20. 5. 2016 – 23.2 – 12334/4, Nds. MBl. S. 665. 46
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toren der Organisierten Kriminalität“ die Clankriminalität als ein Bereich Organisierter Kriminalität begriffen und wie folgt definiert: „Hierunter fallen durch ethnische Zugehörigkeit geprägte Gruppierungen oder Familienstrukturen, welche sich durch ein hohes kriminelles Potenzial und häufig praktizierter, rechtsstaatlich problematischer Paralleljustiz (Einsetzen von Familienoberhäuptern, Clanältesten als ,Schlichter‘, den staatlichen Strafverfolgungsanspruch konterkarierend) kennzeichnen.“49 In einer ebenfalls aus dem Mai 2016 stammenden Entscheidung des OLG Bremen zum Beschleunigungsgebot in Haftsachen wird darauf hingewiesen, dass die Belastung der Landgerichte auch davon abhänge, „ob sie einen hohen Anteil von aufwändig zu bearbeitenden Verfahren zu erledigen haben, wie etwa Strafverfahren aus dem Bereich der organisierten Kriminalität, der Wirtschaftskriminalität, der Clan- und Bandenkriminalität und insbesondere auch der Betäubungsmittelkriminalität.“50 Ebenfalls als gleichsam feststehender Ausdruck wird die Clankriminalität im zwischen CDU und FDP abgeschlossenen „Koalitionsvertrag für Nordrhein-Westfalen 2017 – 2022“ behandelt. Darin werden „Familienclans“ neben „Banden“ und „Rockern“ als eine Form organisierter Kriminalität bezeichnet, die es zu bekämpfen gelte.51 In ähnlicher Weise wurde bei der Vorstellung des Gemeinsamen Lagebilds Polizei/Justiz Organisierte Kriminalität in Niedersachsen 2017 im August 2018 als ein Schwerpunkt der OK-Bekämpfung die Clankriminalität genannt. Das rechtswidrige Agieren krimineller Clans sei geprägt „von einem hohen Abschottungsgrad, einem hohen Mobilisierungspotenzial innerhalb der vorhandenen Familienstrukturen sowie einer Ablehnung deutscher Gesetze und Normen.“52 Im Oktober 2018 antwortete dagegen die Senatsverwaltung für Inneres und Sport des Landes Berlin auf eine Kleine Anfrage, dass sich der Begriff „Clan“ bzw. „Clankriminalität“ ohne weitere inhaltliche Bestimmung „nicht auf eine Ethnie oder Herkunftsregion beschränken“ lasse. „Aus der unterschiedlichen Betroffenheit der Bundesländer in quantitativer Hinsicht aber auch in Bezug auf die Herkunftsregion bzw. 49
In einer im Jahr 2015 im Auftrag des Landes Berlin verfassten Studie über „Paralleljustiz“ wird die Verbindung krimineller Clans zur Organisierten Kriminalität immer wieder angesprochen, dabei aber weder die Clans noch die Organisierte Kriminalität näher definiert, vgl. Rohe/Jaraba, Paralleljustiz. Eine Studie im Auftrag des Landes Berlin, vertreten durch die Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz, 2015. Goertz, Der Kriminalist 2019, 10, nennt für Berlin – allerdings ohne Beleg – „20 sicherheitsrelevante Großfamilien mit ca. 10.000 Mitgliedern“, um ein paar Seiten später (S. 14) einzuräumen, „dass es kaum genaue Zahlen über Mitglieder und Ausmaß der Familienclans gibt“. 50 OLG Bremen (1. Strafsenat), Beschluss vom 20. 05. 2016 – 1 HEs 2/16, 1 HEs 3/16. 51 „Koalitionsvertrag für Nordrhein-Westfalen 2017 – 2022“, S. 59, https://www.cdu-nrw. de/sites/default/files/media/docs/nrwkoalition_koalitionsvertrag_fuer_nordrhein-westfalen_ 2017_-_2022.pdf. 52 https://www.mi.niedersachsen.de/aktuelles/presse_informationen/vorstellung-des-lagebil des-zu-organisierter-kriminalitaet-ok-2017-167596.html.
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Ethnie resultiert zwangsläufig ein abweichendes Verständnis der Begriffe ,Clan‘ bzw. ,Clankriminalität‘.“ Synonym wird anschließend der Begriff der „soziokulturell geprägten Kriminalität“ gebraucht.53 Wie eingangs erwähnt, erschien im Mai 2019 das Lagebild Clankriminalität in Nordrhein-Westfalen. Auch darin wird betont, dass bundesweit kein einheitliches Verständnis dieses Begriffs existiere. Jedoch bestehe ein Konsens darin, „dass sich Clans durch ethnische Geschlossenheit und abgeschottete, auf Familienzugehörigkeit reduzierte Strukturen definieren.“ In der Folge erarbeitet das LKA NRW eine eigene Definition, die sich von der oben genannten durch die AG Kripo entwickelten und im Bundeslagebild OK verwendeten unterscheidet: „Der Begriff Clankriminalität umfasst die vom Gewinn- oder Machtstreben bestimmte Begehung von Straftaten unter Beteiligung Mehrerer, wobei *
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in die Tatbegehung bewusst die gemeinsame familiäre oder ethnische Herkunft als verbindende, die Tatbegehung fördernde oder die Aufklärung der Tat hindernde Komponente einbezogen wird, die Tatbegehung von einer fehlenden Akzeptanz der deutschen Rechts- oder Werteordnung geprägt ist und die Straftaten einzeln oder in ihrer Gesamtheit von erheblicher Bedeutung sind.“
Trotz dieser Definition beschränkt sich das Lagebild „Clankriminalität“ von Nordrhein-Westfalen im Folgenden jedoch auf Familienstrukturen, die typischerweise offensiv und öffentlichkeitswirksam regionale oder kriminelle Aktionsräume beanspruchen. Dies führt dazu, dass die Clankriminalität „in erster Linie auf türkischarabischstämmige Großfamilien“ begrenzt wird, „deren Angehörige der Bevölkerungsgruppe der Mhallamiye zuzuordnen sind.“ Des Weiteren werden auch „arabische Großfamilien mit vermeintlich libanesischen Wurzeln“ erfasst.54 Zudem enthält das Lagebild „Clankriminalität“ einen Abschnitt mit der Überschrift „Ermittlungsverfahren Organisierte Kriminalität“. So hätten die Polizeibehörden in Nordrhein-Westfalen im Berichtsjahr 15 Ermittlungsverfahren der Organisierten Kriminalität (OK) im Kontext von Tatverdächtigen, die türkisch-arabischstämmig sind, geführt.55 Darunter hätten zehn Verfahren „Bezüge zum Rauschgift53 Antwort auf die Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Tom Schreiber (SPD) vom 1. Oktober 2018 zum Thema: Organisierte Kriminalität – Clankriminalität Status Quo 2018, LT-Drs. 18/16657. 54 „Clankriminalität – Lagebild NRW 2018“ a.a.O., 7. Zur Herkunft der Mhallamiye (auch Mhallami) vgl. auch Rohde/Dienstbühl/Labryga, Kriminalistik 2019, S. 275 ff. sowie Duran, Kriminalistik 2019, 297 ff., die darüber hinaus libanesische und palästinensische Clans beschreibt. Zur Migrationsgeschichte der Mhallamiye vgl. auch das populärwissenschaftliche Buch von Ghadban, Arabische Clans – Die unterschätzte Gefahr, 2018. 55 Zum Vergleich: Das OK-Bundeslagebild 2018 nennt stattdessen 22 OK-Verfahren aus Nordrhein-Westfalen mit Clankriminalität. Woraus die Abweichung resultiert, ist nicht ersichtlich. Möglicherweise werden im Bund weitere Verfahren nicht türkisch-arabischstämmiger Gruppierungen zur OK-Clankriminalität gezählt.
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handel und -schmuggel (vornehmlich Kokain und Cannabis)“. Drei weitere Verfahren hätten die Organisation illegaler Kfz-Verschiebungen zum Gegenstand, darunter den Export unterschlagener Pkw in den Nahen Osten. Eine weitere Gruppierung habe versucht, unter einem Vorwand Wertsachen und Geld von Senioren zu erlangen. Ein weiteres Verfahren gehöre zur Wirtschaftskriminalität.56 In einem Beschluss der Innenministerkonferenz (IMK) vom Juni 2019 schließlich begrüßen die Innenminister und –senatoren, dass das „Phänomen krimineller Mitglieder aus ethnisch abgeschotteten Subkulturen“ verstärkt in den Fokus genommen wird. Selbiges wird als „Clankriminalität“ bezeichnet.57 Die Bundesregierung hat im Juli 2019 auf eine Parlamentarische Anfrage, wie Clankriminalität zu definieren sei, folgendes geantwortet: „Für die Erfassung von Ermittlungsverfahren der Organisierten Kriminalität (OK), die im Kontext der Clankriminalität zu betrachten sind, werden Zuordnungskriterien und Indikatoren für Clankriminalität im Zusammenhang mit OK verwendet, die sich aktuell noch zwischen Bund und Ländern in der Abstimmung befinden. … Insbesondere fallen darunter kriminelle Mitglieder aus Clanstrukturen arabisch- bzw. türkeistämmiger Herkunft.“58
V. Kriminalpolitische Maßnahmen zur Bekämpfung der Clankriminalität So unterschiedlich die Definitionen dieses Phänomens ausfallen, so mannigfaltig sind auch die derzeit praktizierten Bekämpfungsansätze.59 Dabei sind es bisher im Wesentlichen nur vier Bundesländer, die sich mit dem Thema Clankriminalität – was auch immer sich dahinter verbergen mag – intensiver beschäftigen: Berlin, Bremen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. In Berlin wird seit Ende des Jahres 2018 ein sogenannter 5-Punkte-Plan zur Bekämpfung der Clankriminalität verfolgt. Dazu gehören (1) eine „konsequente Verfolgung und Ahndung von Regelverstößen“, etwa durch ein frühzeitiges Eingreifen „bei Profilierungsfahrten und Ordnungswidrigkeiten“, (2) eine „Intensivierung der rechtlichen Möglichkeiten zur Vermögensabschöpfung“, (3) „verstärkte Gewerbe- und Finanzkontrollen“, auch zur Prävention von Geldwäsche, (4) die „Erarbeitung eines ressortübergreifenden phänomenbezogenen Landesrahmenkonzepts zur Entwick56
„Clankriminalität – Lagebild NRW 2018“ a.a.O., 15 f. Der entsprechende Beschluss gehört zu TOP 29 der genannten Konferenz und findet sich unter https://www.innenministerkonferenz.de/IMK/DE/termine/to-beschluesse/20190614_12/be schluesse.pdf?__blob=publicationFile&v=2. 58 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Konstantin Kuhle, Stefan Thomae, Grigorios Aggelidis, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP, BT-Drs. 19/11764 vom 19. 7. 2019. 59 Vgl. auch Rohde/Dienstbühl/Labryga, Kriminalistik 2019, 275 (278 f.). 57
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lung präventiver Maßnahmen und entsprechender Ausstiegsszenarien“ sowie (5) eine „ressortübergreifende Zusammenarbeit“.60 Als spektakulärstes Ermittlungsergebnis gilt bisher die vorläufige Beschlagnahme von 77 Immobilien im Gesamtwert von 9,3 Millionen Euro, die einer arabischstämmigen Großfamilie zugerechnet werden, wobei allerdings bisher nach Medienberichten noch keine Anklage erfolgt sei.61 In Bremen hat die Bürgerschaft im Januar 2019 den Senat unter anderem aufgefordert, ein ressortübergreifendes Konzept zur nachhaltigen Bekämpfung der Clankriminalität zu entwickeln, das ein Bündel von Maßnahmen und darunter auch diejenigen enthalten soll, die im Berliner 5-Punkte-Plan vorgesehen sind. Darüber hinaus wird aber auch ein präventiver Ansatz intendiert, nämlich „ein ressortübergreifendes Konzept zur Verbesserung der sozialen Integration und Teilhabe von Angehörigen ethnisch abgeschotteter Clans beziehungsweise Subkulturen zu erarbeiten und umzusetzen“, das unter anderem auch Aussteigerprogramme speziell für Frauen, Jugendliche und junge Erwachsene enthalten soll.62 In Niedersachsen ist im März 2018 eine „Landesrahmenkonzeption zur Bekämpfung krimineller Clanstrukturen in Niedersachsen“ eingeführt worden. Dazu schreibt das Innenministerium auf eine Kleine Anfrage im Juni 2018 unter anderem: „Sie gibt eine einheitliche Definition der Begriffe ,Clan‘, ,Clankriminalität‘, ,kriminelle Clanstrukturen‘ und enthält eine Zusammenstellung wesentlicher, diesen Phänomenbereich prägenden, Indikatoren. Hierbei richtet sich der Fokus nicht allein auf Mhallamiye (,M-Kurden‘) sondern allgemein auf Clans i.S. einer durch verwandtschaftliche Beziehungen und gemeinsamen Herkunft verbundenen Gruppe bzw. Struktur.“ Neben einem verbesserten Informationsmanagement und einer besseren Vernetzung zuständiger Behörden wird auch hier „ein niedrigschwelliges Einschreiten und konsequentes rechtsstaatliches Vorgehen z. B. durch Platzverweise, Sicherstellung und Beschlagnahme der im Kontext von Straftaten bzw. Ordnungswidrigkeiten genutzten Fahrzeuge oder Abschöpfung rechtswidrig erlangter Vermögenswerte“ genannt.63 In Nordrhein-Westfalen enthält das Lagebild „Clankriminalität“ auch einen Überblick über „Rahmenkonzeptionen, Handlungs- und Maßnahmenkonzepte“. Beson60 Aus der Pressemitteilung der Senatsverwaltung für Inneres und Sport vom 10. 5. 2019, https://www.berlin.de/sen/inneres/presse/pressemitteilungen/2019/pressemitteilung.809456. php; vgl. auch Wortprotokoll der 34. Sitzung des Ausschusses für Inneres, Sicherheit und Ordnung des Berliner Abgeordnetenhauses vom 10. Dezember 2018, S. 4 ff., https://parla ment-berlin.de/ados/18/InnSichO/protokoll/iso18-034-wp.pdf. Zu diesen Maßnahmen aus ordnungsrechtlicher Sicht Dogan/Lehnert, Kriminalistik 2019, 732 ff. 61 Meldung „Vor einem Jahr Immobilien beschlagnahmt: noch keine Anklage“ vom 14. 6. 2019, https://www.berlin.de/aktuelles/berlin/kriminalitaet/5803655-4362932-vor-einem-jahr-im mobilien-beschlagnahmt-.html. 62 Antrag der Fraktionen der CDU, der SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der FDP „Clankriminalität nachhaltig und koordiniert vorbeugen und bekämpfen“, Bremische Bürgerschaft, LT-Drs. 19/2014 vom 22. 1. 2019. 63 Anfrage der Abgeordneten Dr. Marco Genthe, Jan-Christoph Oetjen, Dr. Stefan Birkner und Christian Grascha (FDP) und Antwort des Ministeriums für Inneres und Sport namens der Landesregierung „Clankriminalität in Niedersachsen?“, LT-Drs. 18/1201 vom 28. 6. 2018.
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ders erwähnenswert erscheinen hier besondere „Kontrollaktionen zur Bekämpfung der Clankriminalität“, in denen zahlreiche Lokalitäten (Shisha-Bars, Wettbüros, Spielhallen etc.) überprüft wurden. Zudem wird ein Schwerpunkt „auf eine starke sichtbare Polizeipräsenz sowie ein offensives und konsequentes Auftreten verbunden mit einem niedrigschwelligen Einschreiten gegenüber Clanangehörigen gelegt (Null-Toleranz-Strategie).“ Teil der Strategie ist zudem „die konsequente Verfolgung von Rechtsverstößen im Rahmen verkehrspolizeilicher Maßnahmen.“ Auf der Ebene der Justiz findet das Konzept der „Staatsanwälte vor Ort“ Erwähnung, „die eng in die Zusammenarbeit mit Polizei, Zoll und Finanz- und Ordnungsbehörden eingebunden sind.“ Präventive Maßnahmen werden dagegen skeptisch betrachtet. So heißt es dazu: „Speziell langjährig in kriminelle Aktivitäten und die sich in diesem Zusammenhang entwickelnden Verpflichtungs- und Abhängigkeitsverhältnisse eingebundene Clanmitglieder dürften mit präventiven Initiativen kaum zu erreichen sein.“64 Das Konzept des Staatsanwalts vor Ort wird am besten aus einem Interview mit dem Duisburger Oberstaatsanwalt Stefan Müller erkennbar. Danach würden die Verfahren nun personenorientiert gebündelt. Unter den Verdächtigen gebe es zum einen Personen, die man sofort der Clankriminalität zuordnen könne, dann Personen, in deren „Dunstkreis“ und schließlich „Personen, die nicht aus dem arabisch geprägten Milieu stammen, sondern zum Beispiel dem osteuropäischen Milieu angehören.“ Von 70 türkischen, arabischen und libanesischen Clans mit 2.800 Personen im Duisburger Norden seien 880 polizeilich in Erscheinung getreten, ohne zwingend verurteilt worden zu sein.65 Die Innenministerkonferenz hat im Juni 2019 wesentliche „Bekämpfungsansätze gegen die ,Clankriminalität‘ in der niederschwelligen und konsequenten Verfolgung und Ahndung von Regelverstößen, der Aufdeckung und Verfolgung überregionaler und transnationaler Strukturen, der Einziehung von Vermögen, einer verstärkten Gewerbe- und Finanzkontrolle, der Prüfung und Durchsetzung aufenthaltsrechtlicher Maßnahmen sowie der Prüfung der Möglichkeit präventiver Maßnahmen mit entsprechenden Ausstiegsszenarien und in der ressortübergreifenden Zusammenarbeit“ gesehen.66
64 „Clankriminalität – Lagebild NRW 2018“ a.a.O., 19 ff. Vorangegangen war ein Analyseprojekt KEEAS („Kriminalitäts- und Einsatzschwerpunkte geprägt durch Ethnisch Abgeschottete Subkulturen“), das sich u. a. mit den Strukturen libanesischer Familienclans in NRW befasste (vgl. den Beitrag KEEAS, „Kriminalitäts- und Einsatzschwerpunkte geprägt durch Ethnisch Abgeschottete Subkulturen“, in „Streife“ 2017, S. 24 ff., https://polizei.nrw/sites/de fault/files/2017 – 03/Streife%202_2017.pdf); zu den Ergebnissen vgl. auch den Bericht des Ministerium des Innern NRW vom Mai 2018, https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/doku mentenarchiv/Dokument/MMV17 - 2076.pdf. 65 Welt Online vom 25. 2. 2019, https://www.welt.de/politik/deutschland/plus189274271/ Clans-Ethnische-Familienstrukturen-bei-Straftaten-muss-man-benennen.html. 66 IMK a.a.O., Punkt 4 des Katalogs von TOP 29.
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Darüber hinaus wird diskutiert, ob Clans nach dem Vereinsgesetz verboten werden können.67 Ob ein Clan als ein Verein angesehen werden kann, erscheint jedoch fraglich. Anfang September 2019 hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ein Positionspapier mit der Überschrift „12 Ansätze zur besseren Bekämpfung der Clankriminalität“ mit einem bunten Potpourri kriminalpolitischer Reformvorschläge vorgestellt. Die geforderten Maßnahmen reichen von der Vorratsdatenspeicherung über die Abschaffung des Zeugnisverweigerungsrechts für Verlobte bis hin zu Änderungen des Strafzumessungsrechts.68 Nur wenige Tage danach veröffentlichte die in Nordrhein-Westfalen eingesetzte sogenannte Bosbach-Kommission einen Zwischenbericht zum Thema „,Bekämpfung der Clan-Kriminalität‘ durch Prävention und Strafverfolgung“. Hier wird eingangs festgehalten, dass die Bereiche Clan-Kriminalität und Organisierte Kriminalität „gewisse ,Schnittmengen‘“ aufwiesen, allerdings keinesfalls deckungsgleich seien. Gemeinsam sei beiden Phänomenen, „dass Ermittlungen gegen Beschuldigte aus beiden Bereichen aufgrund der professionellen Herangehensweise und der gesellschaftlichen Abschottung der dahinterstehenden Milieus oftmals besonders schwierig sind.“ Es folgen 21 Empfehlungen, die in erster Linie personeller und organisatorischer Art sind.69
VI. Clankriminalität und Organisierte Kriminalität: ein vorläufiges Fazit Die Übersicht zeigt, dass es sich bei der „Clankriminalität“ um ein bisher wenig konturiertes Feld handelt.70 Derzeit existiert weder eine einheitliche polizeifachliche geschweige denn eine gesetzliche Definition. 1. Clankriminalität und das Verhältnis zur organisierten Kriminalität Schon deswegen ist es wenig überzeugend, Clankriminalität pauschal als einen Bereich Organisierter Kriminalität zu begreifen, wie es die genannte Niedersächsi67
Befürwortend der Vortrag von Albrecht (2019). Das Papier ist nachzulesen unter https://www.cducsu.de/sites/default/files/2019 - 09/Clan kriminalit%C3 %A4 t%20CDUCSU%20FV-Beschluss.pdf. 69 Der Bericht der Bosbach-Kommission findet sich unter https://www.land.nrw/sites/de fault/files/asset/document/zwischenbericht_clan-kriminalitat.pdf. 70 Vgl. auch Launhardt, Leitender Kriminaldirektor beim BKA auf der 34. Sitzung des Ausschusses für Inneres, Sicherheit und Ordnung des Berliner Abgeordnetenhauses vom 10. Dezember 2018 a.a.O., 16 mit der Bemerkung, „Clankriminalität“ sei ein „Konglomerat verschiedenster Sachverhalte“. 68
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sche Richtlinie oder der Koalitionsvertrag in Nordrhein-Westfalen, aber auch Teile erster Publikationen in diesem Bereich tuen.71 Das Verhältnis der Clankriminalität – möchte man diesen Ausdruck überhaupt verwenden – zur organisierten Kriminalität kann vielmehr genauer dahingehend bestimmt werden, dass Clanstrukturen dazu beitragen können, das für das Vorliegen organisierter Kriminalität geforderte längere kriminelle Zusammenwirken mehrerer Beteiligter zu befestigen. Oder anders ausgedrückt und insoweit in Übereinstimmung mit dem Lagebild Organisierte Kriminalität aus dem Jahr 2000: „Familien- bzw. Clanstrukturen“ können die Entstehung organisierter Kriminalität begünstigen. Dies ist freilich keine neue Erkenntnis, sondern wurde über die Jahre hinweg immer wieder – wenn auch vielleicht nicht hinreichend pointiert und unter dem Terminus „Clankriminalität“ – in den Lagebildern Organisierte Kriminalität angesprochen. Hinweise auf die Bedeutung familiärer oder Herkunftsstrukturen für das Gelingen eines dauerhaften kriminellen Gewerbes gibt es zudem, wie gezeigt, schon in der Untersuchung des Jubilars, aber auch in anderen empirischen Arbeiten.72 Demgegenüber deutliche Gemeinsamkeiten zur seit 1991 bekannten Definition Organisierter Kriminalität existieren im Begriff der Clankriminalität, wie er durch das LKA Nordrhein-Westfalen vorgenommen worden ist. Freilich fehlen hier die speziellen Merkmale der OK-Definition. Eher irritierend wirkt auch, wenn man – wie im Positionspapier der KOK und im Lagebild in Nordrhein-Westfalen geschehen – „Clankriminalität“ auf diejenige „türkisch-arabischstämmiger Großfamilien“ sowie „arabischer Großfamilien mit vermeintlich libanesischen Wurzeln“ beschränkt.73 Was genau die Kriminalität dieser Nationalitäten bzw. Ethnien gegenüber anderen auszeichnet, scheint bisher analytisch noch nicht hinreichend aufgearbeitet.74 2. Brauchbarkeit und Bedeutung des Begriffes Clankriminalität generell Die fragwürdige Konzentration der Clankriminalität auf diejenige „türkisch-arabischstämmiger Großfamilien“ sowie „arabischer Großfamilien mit vermeintlich li71 Zu pauschal und fraglich daher Rohde/Dienstbühl/Labryga, Kriminalistik 2019, 275 (280), bei der „Clankriminalität“ handele es sich um „Organisierte Kriminalität mit Eroberungsanspruch“. Goertz, Der Kriminalist 2019, 10 (12) spricht von einer „Sonderform der Organisierten Kriminalität“, ohne diese Sonderform genauer zu belegen. In diese Richtung auch Dogan/Lehnert, Kriminalistik 2019. 72 Vgl. Kinzig, Die rechtliche Bewältigung von Erscheinungsformen organisierter Kriminalität, S. 314, 512 ff., 559 ff., 771 ff., wo die Beteiligung ausländischer Straftäter schon vor 15 Jahren immer wieder thematisiert wurde. Insoweit zutreffend Schmidt/Bannenberg, Kriminalistik 2019, 339 f. 73 So auch Rohde/Dienstbühl/Labryga, Kriminalistik 2019, 275: „Gemeinhin wird mit ihm (sc. dem Begriff ,Clankriminalität‘) die arabische Großfamilie assoziiert“. 74 Vgl. aber Ansätze bei Rohde/Dienstbühl/Labryga, Kriminalistik 2019, 275 ff.
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banesischen Wurzeln“ dürfte auch dafür verantwortlich sein, dass es, wie bereits gesehen, bisher nur vier Bundesländer sind, die ähnliche Phänomene unter diesem Begriff in einer besonderen Art und Weise thematisieren. Stellvertretend für die anderen Bundesländer mag eine Antwort stehen, die das Innenministerium von Baden-Württemberg auf einen Antrag im Landtag von Baden-Württemberg gegeben hat.75 Danach lägen der Landesregierung „bislang keine belastbaren Hinweise auf vergleichbare Strukturen im Sinne der Definition des Lagebildes Clankriminalität NRW vor.“ Hingewiesen wird aber zugleich, dass „bei Ermittlungsverfahren der Organisierten Kriminalität und der Bandenkriminalität“ auch in Baden-Württemberg „kriminelle Familiengeflechte anderer Herkunft“ eine Rolle spielten.76 Sähe man besagte „kriminelle Familiengeflechte“ als Kern der Clankriminalität, wäre jedoch zu diskutieren, ob, um nur ein beliebiges Beispiel zu nennen, die in Baden-Württemberg von gambischen Staatsangehörigen vermehrt betriebene Rauschgiftkriminalität nicht auch als „Clankriminalität“ angesehen werden kann oder sogar sollte.77 Dementsprechend stellt sich dann die Frage der Abgrenzung zu Erscheinungsformen, die man ganz allgemein seit Jahrzehnten unter dem Begriff der (allgemeinen) Ausländerkriminalität diskutiert. Demgegenüber spricht viel dafür, dass das hinter dem Fokus der Clankriminalität auf diejenige „türkisch-arabischstämmiger Großfamilien“ sowie „arabischer Großfamilien mit vermeintlich libanesischen Wurzeln“ stehende kriminalpolitische Anliegen weit umfassender ist und sich eben nicht in der Bekämpfung organisierter Kriminalität erschöpfen soll. Dann jedoch geraten weitere Phänomene abseits der Organisierten Kriminalität in den Blick, welche die polizeiliche Praxis in der letzten Zeit vermehrt zu beschäftigen scheinen, aber nicht – da öffentlichkeitswirksam – dem üblichen Bild einer im Verborgenen agierenden organisierten Kriminalität entsprechen78 : Dabei ist beispielhaft an aus dem Ruder gelaufene Autokorsos im Rahmen insbesondere türkischer Hochzeiten79, aber auch an sogenannte „Tumultlagen“80, neuerdings auch in öffentlichen 75
Antrag der Abg. Nico Weinmann u. a. FDP/DVP und Stellungnahme des Ministeriums für Inneres, Digitalisierung und Migration „Clankriminalität in Baden-Württemberg“, LTDrs. 16/6433 vom 17. 6. 2019. 76 LT-Drs. 16/6433, S. 4. 77 Vgl. dazu den Beitrag „Gambische Flüchtlinge kontrollieren die Drogenszene“ vom 12. 5. 2018, https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.baden-wuerttemberg-gambische-flu echtlinge-kontrollieren-die-drogenszene.dc5567b2 - 3545 - 4285 - 9dbc-5df62c1e4b81.html. 78 Vgl. zur im Verborgenen agierenden Mafia auch Rohde/Dienstbühl/Labryga, Kriminalistik 2019, 275 (279). 79 Interessant dazu eine Meldung des Bayerischen Rundfunks „Autokorsos bei Hochzeiten – das sind die Regeln“ vom 14. 6. 2019, https://www.br.de/nachrichten/bayern/autokorsosbei-hochzeiten-das-sind-die-regeln,RTHxYjT. Darin wird berichtet, dass die Polizei München in den vergangenen 12 Monaten in 34 Fällen Zeugenhinweise auf Hochzeitskorsos bekommen habe. In 31 Fällen sei dann vor Ort nichts mehr feststellbar gewesen, woraus ein Polizeisprecher folgert, dass die Korsos in der Regel nur kurz dauerten. Gravierender scheinen die damit
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Freibädern81, zu denken. Letztere sind in jedem Fall mindestens lästig und können auch zu Ordnungswidrigkeiten und Straftaten führen, haben aber nichts mit organisierter Kriminalität gemein. Insofern hat man den Eindruck, dass es die politische Intention der Verwendung des Begriffes „Clankriminalität“ ist, dafür zu werben, dass besonders in städtischen Problembezirken wie in Neukölln oder auch in Städten des Ruhrgebiets wie etwa Duisburg und Essen wieder die – möglicherweise zwischenzeitlich verloren gegangene – polizeiliche Hoheit über den öffentlichen Raum durch intensive Kontrollen zurückgewonnen werden soll.82 3. Chancen und Risiken des Begriffs der Clankriminalität Dabei hat die Debatte des Jahres 2019 gezeigt, dass dem Begriff der „Clankriminalität“ unzweifelhaft ein hohes politisches und öffentlichkeitswirksames Mobilisierungspotential zukommt. Auch erscheint der Begriff der „Clankriminalität“ hinreichend flexibel, um damit Maßnahmen ganz unterschiedlicher polizeilicher Art rechtfertigen zu können. Ob der Politik die ausufernde mediale Vermarktungsstrategie ihrer Aktivitäten nicht eines Tages sozusagen auf die Füße fallen wird, indem die in der Bevölkerung geweckten Erwartungen nicht erfüllt werden können, steht auf einem anderen Blatt.83 Auch wird zu Recht darauf hingewiesen, dass von Verurteilungen wegen der Bildung krimineller Vereinigungen nach § 129 StGB, die derartige kriminelle Familienclans an sich darstellen könnten, nichts bekannt ist.84 Auch liegen die Gefahren, die in der Verwendung dieses Ausdrucks liegen, auf der Hand. Zunächst suggeriert er, dass es derartige einheitliche, hinreichend abgrenzbare verbundenen Gefährdungen und Ordnungswidrigkeiten in Nordrhein-Westfalen zu sein, vgl. etwa FAZ vom 25. 6. 2019 „Polizei rückt 40 Mal zu Hochzeiten aus“, unter https://www.faz. net/aktuell/gesellschaft/autokorso-polizei-muss-bei-vielen-hochzeiten-in-nrw-eingreifen16253244.html. 80 Vgl. den Beitrag KEEAS a.a.O., 25. 81 Ob Straftaten in Freibädern tatsächlich angestiegen sind, scheint aber noch nicht hinreichend geklärt, vgl. etwa den Artikel „Angstmache am Beckenrand“ vom 28. 8. 2019, unter https://www.tagesschau.de/faktenfinder/freibad-schwimmbad-randale-101.html. 82 Das sollte dann aber in gleicher Weise für Erscheinungsformen gelten, die vor allem im Osten der Republik unter dem Stichwort „national befreite Zonen“ diskutiert werden; vgl. dazu auch BVerfGE 144, 20 (NPD-Verbotsverfahren). 83 Sogar der Bundesvorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (Fiedler, Der Kriminalist 2019, 4) beobachtet in diesem Zusammenhang speziell im Bundesland NordrheinWestfalen „eine wahre Inszenierung wahlweise des Innen- oder des Justizministers“. 84 Insoweit (wenn auch nicht ohne Polemik) zutreffend Fischer, Aufmarsch der Clan-Kriminalisten, 2019. Die Strafverfolgungsstatistik weist auch für das Jahr 2018 nur 25 Aburteilungen wegen einer Straftat nach § 129 StGB aus, von denen gar nur 13 in eine Verurteilung mündeten (vgl. Strafverfolgungsstatistik 2018, S. 62 f.).
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(kriminelle) Clans überhaupt gibt. Zudem läuft er Gefahr, ohne die erforderliche Differenzierung alle Mitglieder eines derartigen Familienclans unter einen Generalverdacht zu stellen. Hier ist also Vorsicht geboten.85 Die „Strategie der 1000 Nadelstiche“ kann zudem zu unbeabsichtigten Kollateralschäden beitragen. Wie solche aussehen können, wird recht eindrücklich aus einem im Juli 2019 im „Stern“ erschienenen Artikel über die Tätigkeit einer Sozialarbeiterin in Berlin-Neukölln deutlich. Prügele sich ein Junge einer bestimmten Großfamilie auf dem Schulhof, solle die Schule den Vorfall der Staatsanwaltschaft melden, worauf sie die Wohnungen durchsuchen könne. Am Ende seien die Eltern sauer, ließen ihren Ärger an dem Kind aus, strichen die Hobbys und verböten den Kontakt zu ihr, so dass das Kind für Maßnahmen der Sozialarbeit nicht mehr zu erreichen sei.86 Ganz abwegig erscheint eine derartige Schilderung der Gefahren, die aus einer zu pauschalen Zuschreibung als Clankrimineller resultieren können, nicht. Auch deswegen dürfte es wichtig sein, die derzeit in erster Linie praktizierten repressiven Komponenten durch präventive Strategien zu flankieren, die bereits die Entstehung dessen, was als „Clankriminalität“ bezeichnet wird, verhindern können.87 Es erscheint nicht vermessen anzunehmen, dass sich ein solcher Ansatz auch in Übereinstimmung mit den kriminalpolitischen Vorstellungen des Jubilars befinden könnte.
85 So auch Rohde/Dienstbühl/Labryga, Kriminalistik 2019, 275 (279) mit dem Hinweis, dass nicht jedes Mitglied eines Clans per se kriminell sei und nicht jede arabische Großfamilie allgemein als kriminell gelten könne. 86 https://www.stern.de/panorama/gesellschaft/berlin-neukoelln-die-sozialarbeiterin-mit-ko ran-und-waschbrettbauch-8816160.html. 87 Vgl. ansatzweise auch Fiedler, Der Kriminalist 2019, 4; Schmidt/Bannenberg, Kriminalistik 2019, 339 (345).
Strafe und Zwangsarbeit im Strafvollzug während der ersten Phase des Franco-Regimes Von Luis Arroyo Zapatero*
I. Einführung 1937 wurde das System des Straferlasses für Arbeit eingeführt, welches es den Häftlingen erlaubte, ihre Strafe um so viele Tage zu reduzieren – zunächst um einen Tag Haft für je zwei Arbeitstage – wie sie Arbeit erbrachten. Für diese erhielten sie eine kaum nennenswerte Entlohnung sowie Hilfe für die Familie. Mit diesem System sollte das Problem der Überbelegung mit Hunderttausenden politischer Gefangenen infolge des spanischen Bürgerkriegs bewältigt, vor allem aber eine brutale Sozialkontrolle über die Gefangenen und ihre Familien ausgeübt werden. Die Betroffenen waren vom Militärgerichten wegen der Verbrechen des Hochverrats oder der Beihilfe zum Hochverrat, im spanischen Recht als Rebellion bezeichnet, verurteilt worden. Gerechtigkeit wurde dadurch „ins Gegenteil verkehrt“, da die wegen Rebellion oder Hochverrat Verurteilten gerade jene waren, die der spanischen Republik die Treue gehalten hatten.1 Es ist nicht leicht, sich vorzustellen, wie es war, als Francos Truppen Städte besetzten und all jene verhafteten, die als aktive Unterstützer der Republik galten, sowie die Mitglieder der schrittweise besiegten und entwaffnete gegnerischen Streitkräfte.2 In den ersten Tagen der Besetzung von Städten und Gebieten konnte dies, wie z. B. in Badajoz erfolgen: die Stierkampfarena wurde zu einem Gefängnis und Ort von Massenhinrichtungen. Aber selbst als Hunderte ausgelöscht waren, gab es immer noch Tausende, die man nicht freilassen wollte und daher in eine Vielzahl von Gefängnissen und Konzentrationslagern einsperrte. So ging es von 1936 bis weit nach 1945. Es * Übersetzung ins Deutsche von Dr. Axel Blumenberg. 1 Vertiefend Arroyo Zapatero, Luis, ,Rebellion and Treason: The family Demons of Europe and the European Arrest Warrant‘, in: European Criminal Law Review, Bd. 8(2) (2018), pp. 146 – 151. Siehe auch Arroyo Zapatero, Luis/Nieto, Adán/Muñoz, Marta, Cooperar y castigar: el caso Puigdemont, Ediciones de la Universidad de Castilla-La Mancha 2018, S. 13 – 20, abrufbar in deutscher und italienischer Sprache unter www.voicesofspain.com. 2 Bernecker, Walther L.: Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert, C.H. Beck 2010; Payne, Stanley G., Fascism in Spain: 1923 – 1977, University of Wisconsin Press 1999; Preston, Paul, The Spanish Civil War: Reaction, Revolution and Revenge, HarperCollins 2012; Preston, Paul, The Spanish Holocaust: Inquisition and Extermination in Twentieth-Century Spain, Norton & Company 2012.
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ist nicht leicht, die Zahl jener zu schätzen, die in den unruhigen Zeiten des Bürgerkrieges und auch während der Ordnung von April 1939 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden. Im Gegenteil, die genaue Zahl der nach dem Bürgerkrieg hingerichteten Menschen ist immer noch eines der größten Geheimnisse der spanischen Geschichte.3
II. Masseninhaftierungen ab dem 18. Juli 1936 Auch wenn keine gesicherten Erkenntnisse zur Zahl der Gefangenen für diesen Zeitraum vorliegen,4 kann man von hunderttausenden Gefangenen ausgehen. Die Masseninhaftierungen in der spanischen Kriegs- und Nachkriegszeit, welche sich bis zum Zeitpunkt der Niederlage der Verbündeten Francos im Weltkrieg hinziehen, dienten einem dreifachen Zweck: erstens, das Regime gegen die hohe Zahl seiner politischen Feinde zu schützen, die zu besiegen es drei Jahre gedauert hat; zweitens, die Besiegten für das begangene Verbrechen des Hochverrats zu bestrafen; drittens, die Sühne, mit dem Ziel, nicht nur die politischen Ansichten der Gefangenen zu neutralisieren, sondern sie auch nach den Werten des neuen politischen Regimes umzuerziehen. Zur Klarstellung sei daran erinnert, dass die meisten Gefangenen in diesem System der „auf dem Kopf stehenden Justiz“5, wie es Serrano Suñer6 – Francos Schwager, Minister der Partei und späterer Außenminister – zu Beginn des zweiten Weltkriegs selbst genannt hatte, wegen des Verbrechens der militärischen Rebellion und der Beihilfe zur Rebellion festgehalten wurden, also für Verbrechen, welche die Todesstrafe, die Verurteilung zu einer schweren Haftstrafe von 20 Jahren und einem Tag bis zum Tode, einer schweren Haftstrafe von 20 Jahren und einem Tag bis 30 Jahren oder eine Haftstrafe von 6 Jahren und einem Tag bis 12 Jahren vorsahen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass mehr als die Hälfte der Gefangenen zu 6 bis 12 Jahren und die 3 Für einen Überblick über Kriminalpolitik und Strafrecht im franquistischen Spanien vgl. Barbero Santos, Marino, kurze Darstellung der kriminalpolitischen Grundlagen des spanischen strafrechtlichen Sanktionensystems seit 1848, in: Madlener/Papenfuss/Schöne (Hrsg.), Strafrecht und Strafrechtsreform, Carl Heymans Verlag 1974, S. 47 ff. 4 Es gibt jedoch Daten aus verlässlicher Quelle wie seitens des damaligen Generaldirektors der Gefängnisse, Ángel B. Sanz, in: De re penitenciaria, Imprenta de Talleres penitenciarios de Alcalá de Henares, 1945, mit einem Vorwort des ehemaligen Justizministers von Franco, in dessen Text es heißt, dass am 1. Januar 1940 270.719 Personen infolge von Militär-Prozessen inhaftiert waren. Eben dieser Justizminister Eduardo Aunós schreibt, dass am 10. April 1943, also vier Jahre nach dem Ende des Bürgerkrieges, 92.477 Häftlinge aus politischen Gründen inhaftiert waren. Andere Berichte sprechen von 112.755 Gefangenen im Jahr 1943. Diese Zahlen beinhalten jedoch weder die Gefangenen in Konzentrations- und Arbeitslagern noch Frauen, die aber einen erheblichen Teil der Gefangenenpopulation ausmachten. 5 Für einen tieferen Einblick dazu Ruiz, Julius, Franco’s justice: Repression in Madrid after the Spanish Civil War, Oxford University Press 2005, S. 85 – 130. 6 Vgl. Serrano Sun˜er, Ramo´n, Entre el silencio y la propaganda, la Historia como fue: Memorias, Editorial Planeta 1977.
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andere Hälfte zu 12 bis 30 Jahren verurteilt wurde. Darüber hinaus kam nur die Todesstrafe in Betracht.7 Diejenigen, die ihrer Freiheit beraubt wurden, konnten von Militärstraf- und Kriegsgerichten verurteilt werden. In diesem Fall wurden sie in gewöhnliche Gefängnisse unter der Aufsicht des Justizministeriums eingewiesen oder, wenn es sich um Mitglieder der Armee der Republik handelte, in Konzentrationslager, oft nach Disziplinarbataillonen organisiert. Im Folgenden beziehen wir uns auf die Gefangenen, die dem Justizministerium unterstanden.
III. Straferlass durch Arbeit In den spanischen Gefängnissen waren Zehntausende Gefangene zusammengepfercht, denen nicht nur die Freiheit entzogen wurde, sondern die auch bewacht und verpflegt werden mussten und letztendlich zu Gehorsam und Loyalität gegenüber dem Regime gezwungen werden sollten.8 Dies stellte die Franco-Institutionen vor ein dreifaches Problem: einerseits eine Unmenge von Strafvollzugsverfahren, die praktisch unmöglich zu bewältigen waren; wirtschaftliche Probleme infolge der Kosten, die aus einer so großen Zahl an Menschen im Strafvollzug resultierten; schließlich die ständige Gefahr einer Revolte in den Massengefängnissen.9 Um dieses „immense Gefängnis“10 effizient und produktiv zu verwalten und so zu versuchen, die überfüllten Strafanstalten ein wenig zu entlasten, wurde ein System der Arbeitspflicht der Gefangenen zum Vorteil der Gefängnisverwaltung, anderer
7 Es ist aus heutiger Sicht nicht leicht, die enorme Schwere der oben genannten Strafen zu verstehen, geschweige denn, dass sie wegen Verhaltensweisen bzw. Handlungen verhängt wurden, die kaum relevant und in den meisten Fällen völlig legitim sind. Ignacio Berdugo beleuchtet mehrere Fälle aus dem Jahre 1940, welche die Brutalität der von der Militärjustiz verhängten Strafen veranschaulichen; vgl. Berdugo Gómez de la Torre, Ignacio, „Derecho represivo en España durante 1936 – 1945“, Revista de la Facultad de Derecho de la Universidad Complutense de Madrid, n8 extra, 3, sobre La reforma del Derecho Penal, 1980, S. 126, und eine erweiterte und aktualisierte Fassung in Arroyo Zapatero et al., 80 años del exilio de los juristas de los juristas españoles en México, Tirant lo Blanch 2019. 8 Zu den leidvollen und gesundheitsgefährdenden Lebensbedingungen in den überfüllten Gefängnissen Francos siehe u. a. Ortiz Heras, Manuel, Violencia política en II República y primer franquismo, Siglo Veintiuno de España Editores 1996, S. 308 ff. 9 de la Cuesta Arzamendi, José Luis/Etxeberria Gabilondo, Francisco (Hrsg.), Situación penitenciaria de las mujeres presas en la cárcel de Saturraran durante la Guerra Civil Española y la primera posguerra: Hacia la recuperación de su memoria, Instituto Vasco de Criminología 2012, S. 125. 10 Im Hinblick auf die Masseninhaftierungen in den letzten Jahren des Bürgerkrieges und den ersten Jahren des Franco-Regimes, vgl. Sobrequés/Molinero/Sala (Hrsg.), Una inmensa prisión: los campos de concentración y las prisiones durante la Guerra Civil y el franquismo, Crítica 2003.
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Verwaltungsbehörden und sogar privater Unternehmen eingeführt.11 Die Einführung dieses Systems ermöglichte es, den Zielen der Sicherung, der Bestrafung und der Sühne zwei weitere Ziele hinzuzufügen: einerseits die wirtschaftliche Ausbeutung während der Haftzeit mit Vorteilen für den Staat oder dem Regime zugetane Privatunternehmen, wodurch die Repression wirtschaftlich rentabel wurde, und andererseits die nachträgliche Kontrolle der Häftlinge und ihrer Familien – im Anschluss an eine vorzeitige Entlassung infolge des Straferlasses durch Arbeit – aufgrund der Bedingungen, denen ein Häftling während seiner Entlassung auf Bewährung unterworfen war. Dieses System wurde zehn Monate nach Kriegsbeginn mit dem Dekret 281/37 vom 28. Mai 1937 konzipiert, welches das „Recht auf Arbeit“ für Kriegs- und Sondergefangene festlegte. Um dieses System zu verwalten, wurde eine staatliche Behörde geschaffen, die mit großer Autonomie operierte: der durch den Erlass vom 7. Oktober 1938 geschaffene Verband für die Strafbefreiung durch Arbeit (Patronato de Redención de penas por el trabajo), welcher zu dem Organ wurde, das den Straferlass umsetzte. Diese beiden Bestimmungen wurden nach und nach durch zahlreiche Ministerialerlasse ergänzt, welche die Gefängnisarbeit näher ausgestalteten, bis sie schließlich in Artikel 100 des Strafgesetzbuches von 1944 aufgenommen wurden.12 Damit die Gefangene freiwillig und engagiert arbeiteten, wurde ein Anreiz geschaffen: Die Anrechnung der Arbeitszeit auf die Haftstrafe, in Höhe eines Tages für jeweils zwei Tage geleisteter Arbeit13, die mit einem Zehntel des marktüblichen Gehalts des Sektors vergütet wurde und mit einer Familienzulage verbunden war, so dass die Sklavenarbeit den Gefangene auch dient, um ihre Frau und Kinder zu unterstützen, die in den Hungerjahren oft keine Mittel für den Lebensunterhalt hatten.14 So sehr auch versucht wurde, diese Arbeit als Vorteil für den Gefangenen dahingehend darzustellen, ihren Familien eine wirtschaftliche Existenzgrundlage zu bieten, so war der Straferlass durch Arbeit in Wahrheit nichts anderes als ein System, um Feinde des Regimes zu bestrafen, dabei den Staat von ihrem Unterhalt freizustellen und zugleich nach einer Strafaussetzung zur Bewährung die Kontrolle über sie zu erleichtern. Füh-
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Zu allen Aspekten des Systems des Straferlasses durch Arbeit empfohlen sei insbesondere die hervorragende Monografie von Gómez Bravo, Gutmaro, La redención de penas: la formación del sistema penitenciario franquista 1936 – 1950, La Catarata 2007. 12 Mit dem Gesetz vom 19. Juli 1944 wurde die revidierte Fassung des Strafgesetzbuches verabschiedet. BOE 13. 01. 1945. 13 Die Zahl der anrechenbaren Arbeitstage war zunächst nicht detailliert geregelt, um diese bewusste Gesetzeslücke nach Belieben des Regimes auslegen zu können. Schließlich wurde die Verkürzung um einen Tag für jeweils zwei Arbeitstage im Strafgesetzbuch festgelegt. Vgl. Roldán Barbero, Horacio, Historia de la Prisión en España, Publicaciones del Instituto de Criminología de Barcelona 1988, S. 189 und 192. 14 Fast ein Jahr später wurde in der Verordnung vom 11. 09. 1939 eine Regelung für Überstunden oder Akkordarbeit dahingehen getroffen, dass sich die Entlohnung nach dem „Anteil der Überstunden an der in dem betreffenden Beruf oder Gewerbe geltenden Zahl an Arbeitsstunden“ richte.
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rungskader der republikanischen Parteien waren jedoch von diesem „Vorteil“ ausgeschlossen und wurden als „unverbesserlich“ angesehen. Kriegsgefangene und Sonderhäftlinge konnten nur als Hilfsarbeiter arbeiten, mit einem dieser Kategorie entsprechenden Lohn. Ein Dekret legte zudem einen Tageslohn von zwei Peseten fest, wovon lediglich fünfzig Cent ausgezahlt wurden, obwohl der normale Lohn zu dieser Zeit zwischen 10 und 14 Peseten pro Tag betrug. Der Differenzbetrag wurde von der Verwaltung für den Unterhalt einbehalten. Für verheiratete Gefangene wurde festgelegt, dass die Ehefrau zwei Peseten erhalten solle, wenn sie in der nationalen Zone und in prekären Lebensbedingungen lebte, und für jedes in der nationalen Zone lebende Kind unter fünfzehn Jahren eine weitere Pesete. Diese Familienbeihilfe wurde von den lokalen Organisationen des Verbands verwaltet, also dem Bürgermeister, der Guardia Civil oder einem rechtschaffenden Bürger. War die Ehe hingegen standesamtlich geschlossen worden, wurde sie nicht berücksichtigt und der Zugang zu entsprechenden Leistungen daran geknüpft, in den Schoß der Kirche zurückzukehren. Tausende von Paaren wurden so vorgeladen, die kirchliche Ehe einzugehen, mit der entsprechenden Unterwerfung unter das demütigende öffentliche Zeremoniell der Rückkehr auf den „rechten Weg“. In Leitlinien des Verbands15 wurden Verfahren festgelegt, mit denen die Dauer der Strafe ausnahmsweise verkürzt werden konnte. Erstens für die Unterstützung der Gefängnisverwaltung oder für die Ausführung von Gelegenheits- oder Hilfsarbeiten im Gefängnis. Zweitens für Freigang zur Durchführung von Arbeitstätigkeit, allerdings abgeschottet von der Öffentlichkeit, und Übernachtung in der Haftanstalt. Drittens, für die Arbeit in einer militarisierten Gefängniskolonie. Viertens, für die Arbeit in einer Gefängniswerkstatt. Fünftens schließlich für den Besuch von Religionsunterricht und kultureller Unterweisung, ein Verfahren des Straferlasses, das, wie wir weiter unten sehen werden, Ende 1940 eingeführt wurde. Wie bereits erwähnt, konnten nicht alle Gefangenen von dem Straferlass profitieren, etwa diejenigen nicht, die vor dem Gericht zur Unterdrückung der „Freimaurerei“ und des Kommunismus angeklagt wurden, soweit sie als unverbesserlich angesehen wurden, sowie diejenigen, die versucht hatten zu fliehen oder die nach der Verurteilung ein neues Verbrechen begingen.16 Dies bedeutete jedoch nicht, dass sie von der Arbeitspflicht zum Nutzen des Staates befreit waren, sondern dass sie zur Arbeit gezwungen werden konnten, ohne aber eine Vergütung oder weitere Vorteile zu bekommen,17 also als reine Vergeltung. Wie man sieht, war dieses System für den Staat sehr vorteilhaft: Der Gefangene zahlt die Kosten für seinen Unterhalt und wurde zudem durch die Familienbande an 15 Vgl. Patronato Central de Redención de Penas por el Trabajo, La Justicia de Franco: Redención de penas por el trabajo, Ed. Reconstrucción 1940, S. 27. 16 Gründungserlass vom 28. Mai 1937 und Verordnung vom 14. März 1939. 17 Über die vom System des Straferlasses ausgeschlossenen Personen, vgl. Lafuente, Isaías, Esclavos por la patria: la explotación de los presos bajo el franquismo, Editorial Planeta 2002, S. 52 – 57.
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produktive Arbeit gebunden. Der Staat erzielt so ein Nettoeinkommen, das im Falle der Überstellung von arbeitenden Häftlingen an private Unternehmen 80 % des vom Unternehmen an den Staat gezahlten Gehalts erreichen konnte.18 Damit wurden nicht nur erhebliche indirekte Einsparungen bei der Versorgung der Gefangenen erzielt, sondern es entstand auch ein florierendes Geschäft rund um das Gefängnis, mit einer großen Zahl billiger und leicht kontrollierbarer Arbeitskräfte, von dem viele dem Regime nahestehende Geschäftsleute profitierten.19 Wie bereits erwähnt, wurde die Verwaltung und Verteilung der Arbeitskraft der Verurteilten durch den Verband für die Strafbefreiung durch Arbeit vorgenommen, welcher dem Leiter des nationalen Strafvollzugsdienstes und letztlich dem Justizministerium unterstand. Der Verband wurde als juristische Körperschaft mit den notwendigen Befugnissen für die Leitung und Verwaltung von Arbeitseinrichtungen, einschließlich Werkstätten, Kolonien oder Depots,20 ausgestattet. Die Organisation erfolgte durch lokale Gremien, die in vielen Gemeinden angesiedelt waren und deren Aufgabe darin bestand, den Lohn an die Familien der Häftlinge auszuzahlen.21 Der Verband umfasste acht Abteilungen: Gefängniswerkstätten; Strafarbeitskommandos; Straferlass durch handwerkliche Tätigkeit; Straferlass für intellektuelle Anstrengungen; Bewährung; Verlag und Wochenschrift Redención; physiotechnisches Archiv,22 sowie Buchhaltung und Zentralregister. Um öffentliche Bauprojekte von nationalem Nutzen durchzuführen, die nicht zu marktüblichen Preisen bezahlbar waren, wurde der Dienst der militärischen Strafkolonien geschaffen.23 18 Eine aufschlussreiche Übersicht über die finanzielle Entschädigung für einen auf ein bestimmtes Handwerk spezialisierten Häftling findet sich in Bardavío, Joaquín, El régimen limpia su imagen, in: Laviana, Juan Carlos, et al. (Hrsg.), El franquismo año a año. Lo que se contaba y ocultaba durante la dictadura, 5, 1945: Ortega, padre de la República, vuelve a la España franquista, Biblioteca el Mundo 2006. 19 Vertiefend zu dem lukrativen Geschäft, das die Sklavenarbeit der Gefangenen auf der Grundlage des Systems des Straferlasses für das Franco-Regime bedeutete, vgl. Lafuente, Esclavos por la patria, S. 173 – 202. 20 Zu den Strafbatallionen, insbesondere ihre Rolle bei der Errichtung öffentlicher Bauwerke, vgl. Quintero Maqua, Alicia, ,El trabajo forzado durante el primer franquismo: destacamentos penales en la construcción del ferrocarril Madrid‘, in: Cuartas Jornadas Archivo y Memoria „La memoria de los conflictos: legados documentales para la Historia“, Madrid 2009, https://www.docutren.com/ArchivoyMemoria/ArchivoyMemoria2009/pdf/4J_Comuni cacion_06_Alicia%20Quintero%20Maqua_web.pdf, abgerufen am 05. 06. 2012. 21 Zur Funktion des Zentralverbandes und der lokalen Gremien insbesondere bei der Organisation der Arbeit in Haft vgl. Acosta Bono/Gutiérrez Molina/Martínez Macías/Del Rio Sanchez , El canal de los presos (1940 – 1962), Trabajos forzados: de la represión política a la explotación económica, Ed. Crítica 2004, S. 57 ff. 22 In dieser Kartei wurden Informationen über die verurteilte Person gesammelt: persönliche Daten, Urteil, Straftat, berufliche Wert-Kategorie, letzter Wohnsitz, letzter Lohn, Dienstalter im Amt, berufliche Vertrauenswürdigkeit, Moral, körperliche Missbildung oder Defekte, Krankheit und Anmerkungen. 23 Für eine Analyse der Struktur und Funktionen des militärischen Strafgefangenenlager in der Zeit von 1939 bis 1960, vgl. Acosta Bono et al., El canal de los presos, S. 81 – 103.
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Unter diesen Prämissen wurden die Häftlinge zu vielfältigsten Arbeiten unter prekären Bedingungen gezwungen, insbesondere unter den Bedingungen von Überbelegung, extremer Kälte und Feuchtigkeit ohne warme Kleidung, stickige Hitze in unbelüfteten Baracken und sogar das Fehlen einer Matratze zum Schlafen,24 wodurch viele an den Folgen der schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen starben.25 Am wichtigsten war der Einsatz von Arbeitskräften im Infrastrukturbereich, insbesondere für den Ausbau des Straßen- und Schienennetzes. Neben der Erschließung neuer Straßen ist auch zu beachten, dass verschiedene Bataillone von Gefangenen und Häftlingen am Wiederaufbau von Brücken, Straßen und Seehäfen teilnahmen, die der Krieg zerstört hatte. Das Eisenbahnsystem wurde während und nach dem Krieg durch Sklavenarbeit weitgehend erneuert und ausgebaut. Innerhalb der Verkehrsinfrastruktur muss zudem die Bedeutung verschiedener Bataillone beim Bau von Flughäfen und Flugplätzen hervorgehoben werden. Nicht weniger wichtige Arbeit wurde zum Wiederaufbau der durch Bombenangriffe zerstörten Bevölkerungszentren geleistet, ebenso im Bergbau, der zu einem wichtigen strategischen Sektor werden sollte. Gleichzeitig profitierten viele Fabriken und Werkstätten von diesem System.26
IV. Zwangsarbeit – Sklavenarbeit Die Gefängnisarbeit war wirkliche Zwangsarbeit. Erstens, weil sie nicht abgelehnt werden konnte, da die Einlösung von Strafen als „Pflicht-Recht“ gestaltet war und ohne Arbeit kein Straferlass erfolgte.27 Zweitens, weil die Häftlinge, wenn sie ihre Familien nicht verhungern lassen wollten, keine andere Wahl hatten, als diese Arbeit zu akzeptieren. Drittens, weil die Arbeit mit einem Hungerlohn im Vergleich zum üblichen Mindestlohn vergütet wurde. Kurz gesagt, die Arbeit wurde 24 Vgl. Lorente Fuentes, María, „Con el miedo en el cuerpo: la política penitenciaria del Régimen permite llevar a cabo la reconstrucción de un país víctima de la posguerra“, in: Arjona/Fernández/Laviana (Hrsg.), Franco viste de uniforme a las Cortes, Unidad Editorial 2006, S. 49. 25 Als Beispiel für die besonders harten Bedingungen seien die des für den Bau des Kreuzes und des Klosters im Valle de los Caídos zuständigen Strafkommandos genannt, wo die Häftlinge im Winter 9 Stunden und im Sommer 10 Stunden arbeiteten, Sonntage und Feiertage eingeschlossen, und zahlreiche Häftlinge an den Folgen dieser Ausbeutung starben. Über die Arbeit der Gefangenen im Valle de los Caídos Lafuente, Esclavos por la patria, S. 111 – 132. 26 Vgl. zu den durch die Gefangenen vorgenommenen Arbeiten u. A. Gastón Aguas, José Miguel/Mendiola Gonzalo, Fernando (Hrsg.), Los trabajos forzados en la dictadura franquista, Instituto Gerónimo de Uztáriz – Memoriam Bideak, Iruñea-Pamplona 2007, S. 52 – 56; Lafuente, Esclavos por la patria, S. 67 – 108. 27 Zur Theorie des „Pflicht-Rechts“, auch „verpflichtendes Recht“ genannt, vgl. Rodrigo, Javier, Los campos de concentración franquistas: Entre la historia y la memoria, Ed. Siete Mares 2003, S. 70; Roldán Barbero, Historia de la Prisión en España, S. 192 – 199; Lafuente, Esclavos por la patria, S. 44 – 47.
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erzwungen, weil die Bedingungen, unter denen sie ausgeführt wurde, außerordentlich prekär waren und die Gefangenen keine andere materielle und moralische Möglichkeit hatten, als sie zu übernehmen, um schweren Schaden von ihrer Person und ihrer Familie abzuwenden. Dies galt umso mehr für politische Häftlinge, die zur Arbeit für den Staat gezwungen wurden, ohne dabei von dem Straferlass profitieren zu können. Die systematische Zwangsarbeit im Rahmen der Strafvollstreckung überdauerte den gesamten so genannten ersten Franquismo, also bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, als das Franco-Regime die Gefahr seines eigenen Endes erkannte und Lockerungen im Strafvollzug umgesetzt wurden.28 Diese Änderungen begannen, als im Februar 1943 die Nachricht von der Niederlage der Nazis in Stalingrad eintraf.29 Die Qualifizierung als Zwangs- oder Sklavenarbeit nimmt zwei unterschiedliche Realitäten in den Blick.30 An dieser Stelle soll die politische, weniger die rechtliche Bedeutung im Vordergrund stehen. Im Spanien Francos und in Hitlerdeutschland nahm die Sklavenarbeit sehr unterschiedliche Formen an, von den weniger schweren bis hin zu höchst grausamen Formen der Kriminalität. Auch in den Nürnberger Prozessen, wie in denen der Reichsindustriellen, die praktisch nur wegen des Einsatzes und der Ausbeutung von Sklavenarbeit verurteilt wurden, ging es in der Gesamtbetrachtung der Verhältnisse nicht nur um die Zwangsaneignung der Arbeit anderer, sondern auch um die unmenschliche Natur der Freiheitsberaubung, die endlosen Stunden, die Unterernährung, das Fehlen minimaler sanitärer Bedingungen, die allesamt tödliche Umstände darstellten, deren maximaler Ausdruck die Vernichtung durch Arbeit war. Ein entscheidender Punkt ist, dass der Sklavenarbeiter ohne zeitliche Begrenzung, und somit ohne Hoffnung, arbeiten sollte. Es genügt an dieser Stelle, daran zu erinnern, dass in den Nazilagern die Überlebensrate nicht mehr als 50 % betrug. Wie Hanna Arendt feststellt, betrug die Überlebensrate im Gulag 90 %, weshalb sie formulierte, dass die Nazilager die Hölle und der Gulag das Fegefeuer seien. Der am wenigsten schwerwiegende Grad der Zwangsarbeit galt auch in Spanien für diejenigen, welche für eine bestimmte Zeit im Strafvollzug arbeiteten und bei denen die Arbeit als Faktor für den Erhalt von Haftvorteilen, bis hin zu einer Reduzierung der Strafe, anerkannt wurde. Auch in Deutschland war dies zu Beginn der 1930er Jahre der Fall, wenngleich es hier bald, vor allem ab 1940, zu Verschärfungen kommen sollte, wobei aber immer noch zwischen Gefängnis bzw. Rehabilitations28
Lorente Fuentes, Con el miedo en el cuerpo, S. 42. Dieser Umstand wurde dem Verfasser durch den ehemaligen Abgeordnete und Kommunistenführer Simón Sánchez Montero im Rahmen der Ausarbeitung des allgemeinen Strafvollzugsgesetzes im Jahre 1979 mitgeteilt. 30 Spoerer, Mark, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz: Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Deutschen Reich und im besetzten Europa, 1939 – 1945, Deutsche Verlags- Anstalt 2001; Wagner, Jens-Christian, Zwangsarbeit im Nationalsozialismus, in: Knigge et al. (Hrsg.), Zwangsarbeit: Die Deutschen, die Zwangsarbeiter und der Krieg, Stiftung Gedenkstätten Buchenwald u. Mittelbau-Dora; 2010, S. 181 ff. 29
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oder Verbesserungslagern und Vernichtungslagern unterschieden wurde. Denn man ging davon aus, dass sich einige „zurückgewinnen ließen“ und somit einsichtsfähig, andere jedoch unverbesserlich seien. Das deutsche Gefängnissystem wurde durch zwei Faktoren pervertiert. Der erste war die Ersetzung der Untersuchungshaft als strafprozessuale Maßnahme in der Hand des Richters bei der Verfolgung eines Verbrechens, sei es politischer oder anderer Art, durch die Entscheidung der Polizei, „Schutzhaft“, also Sicherheitsgewahrsam, gegenüber Asozialen und politisch Verdächtigen zu verhängen, wobei persönliche Schicksale dem reinen Ermessen der Gestapo in den Konzentrationslagern unterlagen. Der zweite Faktor hingegen war die Errichtung und Erweiterung der Haupt- und Nebenkonzentrationslager, die ein ganzes System innerhalb und außerhalb des Reiches bildeten, das der absoluten Kontrolle einer einzigen Behörde, der „Inspektion der Konzentrationslager“,31 unterlag, deren Leitung dem obersten Vollstrecker der Nacht der langen Messer übertragen wurde.32 Was Spanien betrifft, so unterstand das System des Straferlasses durch Sklavenarbeit der Kontrolle der Strafvollzugsverwaltung und des Justizministeriums. Der problematischste Fall war der jener Verurteilten, die aufgrund ihrer exponierten politischen oder gewerkschaftlichen Tätigkeit als unverbesserlich galten, und die der rechtlichen Vorzüge der Arbeit beraubt und zu selbiger gezwungen wurden, ohne jeglichen persönlichen oder strafvollzugsrechtlichen Nutzen. Soldaten und Offiziere der Armee der Republik, die in Konzentrationslagern eingesperrt waren, wurden der Zwangsarbeit in Arbeits- oder Strafbataillonen unterworfen. Mithin bestanden in Spanien erhebliche Unterschiede zwischen geregeltem Strafvollzug und militärischen Konzentrationslagern, wobei allerdings zahlreiche Überschneidungen vorlagen, die noch einer vertieften Untersuchung bedürfen.
V. Grundlage und Rechtfertigung des Franco-Systems für den Straferlass Entgegen allem Anschein war der Urheber dieses Systems und seiner Texte nicht Franco selbst, obwohl er diese Möglichkeit bereits bei einigen Gelegenheiten geäußert hatte,33 nicht einmal Militärangehörige, die zu Spezialisten für Strafvollzug ge31 Wachsmann, Nikolaus, „Annihilation through Labor: The Killing of State Prisoners in the Third Reich“, The Journal of Modern History, Bd. 71(3) (1999), S. 624 – 659. Wachsmann, Nikolaus, KL: A History of the Nazi Concentration Camps, Farrar, Straus and Giroux 2015, spanische Fassung KL: historia de los campos de concentración nazis, Crítica Barcelona 2017, nach der vorliegend zitiert wird und die auf S. 17 auf Hannah Arendt Bezug nimmt. 32 Wachsmann, KL, S. 101 und Fn. 25. 33 Rede in Zaragoza am 19. April 1938; Franco, Francisco, Palabras del Caudillo, Editorial Nacional, 1943, S. 546. Vgl. auch die umsichtigen Erklärungen gegenüber der ausländischen Presse, etwa gegenüber der United Press am 07. 11. 1938 und der Associated Press in Gil, Pablo, La noche de los generales; militares y represión en el régimen de Franco, Ediciones B 2004, S. 38 f.
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macht wurden.34 Es waren Priester, Theologen, Ingenieure und Politiker, alle vereint in der Person des Jesuiten, Ingenieurs und Bildungspolitikers Pater José Agustín Pérez del Pulgar, Gründer des Katholischen Instituts für Industrie (Instituto Católico de Artes Industriales – ICAI) und des Spanischen Ingenieurverbands. Die administrative Verantwortung für die Umsetzung der Richtlinie lag bei Oberst Máximo Cuervo, der bis Juli 1942 Generaldirektor der Gefängnisse war. Cuervo und die höchsten Führer des gesamten Justizapparates waren Kämpfer der katholischen Aktion (Acción Católica), die während des Krieges zu juristisch-militärischen Offizieren ernannt wurden.35 Pater Pérez del Pulgar verkündet ständig seine politische, wirtschaftliche und religiöse Rechtfertigung: Die Gefangenen müssten arbeiten, weil ständiger Müßiggang ihrer Gesundheit schade, weil man nicht erwarten könne, dass ihr Unterhalt von den Arbeitern bestritten werde und weil sie ihren Beitrag zum Aufbau Spaniens leisten müssten, dessen Zerstörung ihnen vorgeworfen wurde.36 Die mit der Arbeit verbundene Bestrafung erhält so eine sühnende und erlösende Bestimmung: Durch die Arbeit im Gefängnis sühnen die Gefangenen nicht nur ihre Sünden, sondern finden auch die geistliche Erlösung für den dem Vaterland zugefügten Schaden.37
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Zwar war der Schöpfer des Systems ein Priester, doch machte sich das Militär die Grundlagen des Systems zu eigen. So empfängt der Generaldirektor der Strafvollzugsanstalten und General der Armee bei der feierlichen Eröffnung des Instituts für Strafvollzugsstudien, das am 28. Oktober 1940 an der Universität Madrid neu eingerichtet wurde, nach einem Grußwort an den Justizminister und andere Amtsträger die Studenten des ersten Jahrgangs mit folgenden Worten: „Ihr, meine Herren Offiziere der ruhmreichen Armee Francos, die ihr eure Feinde auf den Feldern des Sieges besiegt habt, werdet versuchen, sie in den Strafvollzugsanstalten Spaniens zurückzugewinnen.“ Diese Arbeit beruhe auf dem „Gold unserer althergebrachten theologischen und philosophischen Traditionen, das auf den Dachböden des Vergessens liegt, und welche durch das Sektierertum der vergangenen Generation und den politischen Verrat, der die Felder Spaniens während der letzten zwei Jahrhunderte beherrschte, verurteilt wurden. Die Strafe dient ausschließlich der Buße und Abschreckung, wie es bei der Anwendung der Todesstrafe der Fall ist. Die Besserung ist mithin kein Kernziel der Strafe und noch viel weniger ihr einziger Zweck. Die Besserung führt damit als logische und verhängnisvolle Konsequenz zur Streichung der Todesstrafe aus den Gesetzbüchern“; vgl. Cuervo, Máximo, Fundamentos del nuevo sistema penitenciario español, Vortrag bei der Eröffnung des Instituts für Strafvollzugsstudien an der Universität Madrid am 28. Oktober 1940, S. 7 ff. Zur Persönlichkeit von Cuervo siehe Gutiérrez Navas, Manuel, General Máximo Cuervo Radigales, Instituto de Estudios Almerienses 2012: „Die Disziplin einer Kaserne, die Seriösität einer Bank und die Nächstenliebe eines Klosters“, was die Komplexität der Lebenswege der Spanier seiner Generation gut zum Ausdruck bringt. 35 Vgl. Gómez Bravo, La redención de penas, S. 74 ff.; Gutiérrez Molina, José Luis, ,El trabajo esclavo y obras hidráulicas: extremeños en el canal de los presos‘, Revista de Estudios Extremeños, Bd. 67(2) (2011), S. 982. 36 Zu der theologischen und juristischen Grundlage des Straferlasses vertiefend, Pérez del Pulgar, José Agustín, La solución que da España al problema de sus presos políticos, Publicaciones Redención, n8 1, Librería Santarén 1939. 37 Patronato Central para la Redención de las Penas por el Trabajo, La Justicia de Franco: Redención de penas por el trabajo, Ed. Reconstrucción 1940, S. 6 und 7.
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Die Grundlage des Systems des Straferlasses beruht also auf einer Gleichsetzung des Verbrechens mit Sünde und der Strafe als eine Form der Sühne oder der Erlösung des Verbrechers.38 Der Gefangene hatte eine schwere Sünde gegen das Vaterland und gegen Gott begangen, und seine Schuld sollte durch physische Arbeit und die katholische Religion getilgt werden. So wurde er einem doppelten Joch unterworfen: dem der Bekehrung und dem der Arbeit, und zwar derart streng, dass der Gefangene, der seine Bekehrung nicht mit einem tadellosen Verhalten, mit Disziplin und totalem Gehorsam zum Ausdruck brachte, vollumfänglich die verhängte Strafe verbüßen sollte.39 Obwohl die Behörden beabsichtigten, diese Sklavenarbeit zum Zwecke des Straferlasses als Belohnung für die Großzügigkeit des Caudillo darzustellen, diente diese als Mechanismus der religiösen und politischen Umerziehung, sowie der Indoktrination und Unterwerfung. Einer der Hauptinstrumente war dabei die ab dem 1. April 1939 erscheinende Publikation Redención, mit dem Ziel, Propaganda religiöser, patriotischer und familiärer Art zu betreiben.40 Diese Zeitung hatte großen Erfolg, vor allem weil der Gefangene von dreizehn zusätzlichen Nachrichten an seine Familie profitieren konnte, wenn er sie abonnierte.41 Eine mächtige Waffe der ideologischen Umerziehung war auch der Straferlass durch intellektuelle Arbeit,42 eine Methode, die durch das Dekret vom 23. November 1940 geregelt wurde und die es dem Häftling erlaubte, den Bewährungszeitraum vorzuverlagern, wenn er sich während seiner Zeit im Gefängnis der „religiösen und kulturellen Unterweisung“ widmete.43 Der unbestrittene Auftrag der ideologischen Unterdrückung wurde der Kirche anvertraut, deren Aufgabe es war, marxistische Ideen zugunsten katholischer Ideen auszumerzen. Auf diese Weise wurde in den Gefängnissen ein „Evangelisierungs“-Auftrag durchgeführt, unterstützt durch das Gefängnisregime und den sozio-politischen Kontext, und eine Umerziehung in den Werten des Franco-Regimes vorgenommen. Die Arbeit wurde dabei als Lern- und Trainingsmittel für die Korrektur des Häftlings erachtet, bestens geeignet für eine Strafvollzugspopulation, der es an allem fehlt.
38 Zur Verbindung Straferlass-Sühne Roldán Barbero, Historia de la Prisión en España, S. 195 – 196. 39 Vgl. Gómez Bravo, La redención de penas, S. 147 – 150. 40 Eine umfassende und vertiefte Untersuchung des indoktrinierenden Charakters des Strafsystems findet sich bei Gómez Bravo, La redención de penas, S. 147 – 188. 41 Vgl. Gómez Bravo, La redención de penas, S. 170 – 175. 42 Vgl. Gómez Bravo, La redención de penas, S. 165 – 167. 43 Religionsunterricht, sofern vom Gefängniskaplan und Lehrer befürwortet, erlaubte es dem Gefangenen, seine Strafe um zwei Monate zu reduzieren. Dies galt auch für Vorträge oder Kursen für Häftlinge oder Kinder von Häftlingen, sowie die Erbringung von Lehr- und Propagandaarbeit. Auf beide Weisen konnten Strafen um bis zur Hälfte, höchstens jedoch um sechs Monate, herabgesetzt werden. Die Religion wurde so zu einem bevorzugten Mittel, ohne welches eine Verringerung der Strafe nicht möglich war. Vgl. zur Bedeutung der Religion in den Gefängnissen, Ortiz Heras, Violencia política, S. 320 – 324.
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Der Staat wollte eine Bestimmung zur Wiedereingliederung suggerieren und registrierte 1941 bereits 38,26 % Häftlinge, die ihre Strafe durch Arbeit erfüllt hatten. Im darauf folgenden Jahr überstieg deren Anzahl sogar 50 %.44 In Wirklichkeit dienten die Franco-Gefängnisse jedoch keinem anderen Ziel als der Bestrafung und der Moralisierung, bei denen das Vergeltungsdenken und die Wiedereinführung eines „punitiven Utilitarismus“45 am systematischen Einsatz von Kriegsgefangenen und politischen Gefangenen für Zwangsarbeit zum Ausdruck kam.
VI. Konzentrationslager Zusammen mit dem Gefängnis46 und dem System des Straferlasses stellten die Konzentrationslager ein Kernstück der Repressionsmechanismen der Franco-Ära und des „punitiven Utilitarismus“ dar. Unter der Logik des Ausschlusses, der Überwachung, der Ausnutzung und der Ausbeutung wurde mit diesen drei Mechanismen gleichermaßen die Ziele der Demütigung, Umerziehung und Vergeltung gegenüber Dissidenten verfolgt. Obwohl der Begriff „Konzentrationslager“ mitunter fälschlicherweise auch auf andere repressive Elemente des Franco-Regimes angewandt wurde, wie Gefängnis und Zwangsarbeit, die sich im selben Kontext entwickelt haben, ist zu beachten, dass die Konzentrationslager ein gesondertes Phänomen darstellten, das sich ab dem Sommer 1937 und hauptsächlich während des Krieges entwickelte. Die Konzentrationslager waren dadurch gekennzeichnet, dass sie die militärische und behördliche Antwort auf das Problem der enormen Anzahl von Dissidenten, Häftlingen und Gefangenen aller Art war, die von den Kriegsfronten kamen. Auf diese Weise wurden unter dem Begriff Konzentrationslager verschiedenste Formen der zeitweiligen, illegalen und willkürlichen Masseninternierung etabliert, insbesondere in Zeiten des größten Anstiegs der Häftlingszahlen während des Krieges. Es handelte sich um illegale und außergerichtliche Gefangenenlager,47 die von der Militärverwaltung betrieben und in denen versucht wurde, Kriegsgefangene und dem Bürgerkrieg entkommene Republikaner herauszugreifen, und in der Nachkriegszeit Flüchtlinge zu internieren, die vor dem Zweiten Weltkrieg geflohen waren.48 44
Vgl. Rosique, Kiko, „Cómo reducir los presos a la mitad“, in: Laviana et al. (Hrsg.), El franquismo año a año: Lo que se contaba y ocultaba durante la dictadura, 2, 1941 – 1942, La División Azul: España quiere vengarse del comunismo, Biblioteca el Mundo 2006, S. 41. 45 Zur Neuerfindung des punitiven Utilitarismus durch das Franco-Regime, vgl. Gastón Aguas et al., Los trabajos forzados en la dictadura franquista, S. 26 – 28. 46 Für eine vertiefte Analyse der Konzentrationslager des Franco-Regimes, vgl. Rodrigo, Los campos de concentración franquistas; Lafuente, Esclavos por la patria; PASCUAL, P., „Campos de concentración en España y batallones de trabajadores“, Historia, Año XXV, Nr. 310. 47 Vgl. Rodrigo, Los campos de concentración, S. 24. 48 Zu den ausländischen Flüchtlinge des Zweiten Weltkriegs in spanischen Konzentrationslagern Eiroa San Francisco, Matilde, „Refugiados extranjeros en España: el campo de
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Die spanischen Konzentrationslager waren im Gegensatz zu den Konzentrationslagern der Nazis nie ex professo Vernichtungslager. Allerdings folgten sie totalitären Methoden, die unter anderem den Tod, zufällig oder selektiv, zum Ziel hatten.49 Zu diesem Zweck wurden vor allem indirekte Methoden verwendet: Krankheiten, die durch Hunger, Schmutz, Erschöpfung und Kälte verursacht wurden.50 Schmerz und Erniedrigung wurden so zu einer „Lerntherapie“ des Franco-Regimes.51 Zu den Qualen, die durch die Rechtsunsicherheit bei der Inhaftierung in einem Konzentrationslager hervorgerufen wurden, kamen die körperliche Schwäche, die familiäre Isolation und extreme Armut. Auf der anderen Seite erlaubte die totalitäre Geisteshaltung den Einsatz von Sklavenarbeit für alle möglichen Zwecke. Dazu wurde die Inspektion der Häftlingskonzentrationslager (ICCP) geschaffen, eine Einrichtung, die dem Ziel diente, die Klassifizierung und anschließende Ausbeutung der wachsenden Zahl von Häftlingen umzusetzen. Die Gefangenen in den Lagern wurden für die härtesten Aufgaben innerhalb ihrer jeweiligen Spezialbereiche rekrutiert, nicht nur für den Ausbau militärischer Befestigungen, sondern auch für öffentliche und private Infrastrukturprojekte. Sie wurden Teil der Arbeitsbataillone,52 einem ersten Schritt hin zur Einführung der Sklavenarbeit und der Kontrolle der ICCP unterstehend. Eine Alternative bestand in der Eingliederung in Strafbataillone (die sowohl aus Gefangenen als auch aus Verurteilten bestanden), um so eine Lösung für das Problem der Kriegsgefangenen53 zu finden und gleichzeitig von Sklavenarbeit zu profitieren. Durch die in den ersten Monaten des Franco-Regimes entwickelte Sklavenarbeit erkannte das Regime die wirtschaftlichen Möglichkeiten der Gefangenenarbeit, woraus das großangelegte Geschäft mit dem Straferlass durch Arbeit entstand. Die Arbeit wurde einer der Schlüssel der Repression,54 zunächst gegen Kriegsgefangene außerhalb des geregelten Strafvollzugs und innerhalb der Konzentrationslager, und danach im Gefängnissystems des Regimes, in dem sich Tausende von Häftlingen drängten. Obwohl die Konzentrationslager zunächst provisorischer Natur waren, war das gesamte spanische Territorium in den ersten Monaten des Franco-Regimes mit Lagern übersät,
concentración de Mirada de Ebro“, in: Ayer Revista de Historia Contemporánea no. 57 (2005), Los campos de concentración franquistas en el contexto europeo, S. 125 ff. 49 Vgl. Núñez Díaz-Balart, Mirta, „El dolor como terapia. La médula común de los campos de concentración nazis y franquistas“, in: Ayer Revista de Historia Contemporánea no. 57 (2005), Los campos de concentración franquistas en el contexto europeo, S. 82. 50 Vgl. zu den Krankheiten, an denen die Gefangenen in den Gefängnissen und Konzentrationslagern Francos massiv gestorben sind, Lafuente, Esclavos por la patria, S. 245 – 265. 51 Vgl. Núñez Díaz-Balart, El dolor como terapia, S. 83. 52 Diese Bataillone, die etwa 90.000 Gefangene zählten, wurden im Juni 1940 aufgelöst, Rodrigo, Los campos de concentración franquistas, S. 132 ff. 53 Vgl., Rodrigo, Los campos de concentración franquistas, S. 69. 54 Vgl. Rodrigo, Los campos de concentración franquistas, S. 145.
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ein Phänomen, das als wirksames und unzweifelhaftes Instrument der Kontrolle, Demütigung und des Leids ein in höchstem Maße repressives Ziel erfüllte.55
VII. Der Weg zur Bewährungsstrafe: Kommissionen zur Festlegung der Strafe und das System der Bewährungsstrafen Obwohl die Urheber des Strafvollzugsprogramms von Anfang an ein dauerhaftes und allgemeingültiges System vor Augen hatten, das auch für gewöhnliche Kriminelle gelten solle,56 wurde das System der Strafvollzugsarbeit mehrmals modifiziert, um die Vollstreckungsmechanismen zu effektivieren und vorhandene Probleme abzustellen. Die Gefängnisse waren weiterhin überfüllt, und obwohl eine allgemeine Begnadigung für bestimmte Verbrechen eine Lösung gewesen wäre, lehnte Franco diese als Schwäche des Liberalismus ab. Um zu versuchen, der großen Zahl von Häftlingen Herr zu werden, wurden Anfang 1940 zunächst Militärkommissionen zur Klassifizierung und Prüfung von Strafen eingesetzt.57 Mit dem Erlass vom 9. Januar 1940 wurde die Aufgabe der Überprüfung, wer warum in Gefängnissen festzuhalten sei, in Angriff genommen. Überall wurden Provinzkommissionen für die Klassifizierung der Gefangenen eingerichtet, die in Schnellverfahren die Situation von Gefangenen in verschiedensten staatlichen Einrichtungen prüfen sollten, um auf diese Weise die Situation zu ordnen und so die Freilassung vieler zu ermöglichen. Das außerordentliche Maß an Willkür bei der Anwendung der Strafgesetze war so groß, dass die Divergenz der Kriterien bei der Anwendung von Strafen durch Hunderte von Kriegsräten, die zu jeder Zeit und an jedem Ort tätig waren, allgemein bekannt war. Deshalb wurden durch den Erlass des Regierungspräsidiums vom 25. Januar 1940 die Kommissionen zur Überprüfung der Militärstrafen geschaffen, mit der Aufgabe, Haftstrafen für den Tatbestand der Unterstützung des Hochverrats, die weniger als 6 Monate Haft betrugen, aufzuheben und alle anderen Fallgestaltungen in eine „detaillierte Schuld-Skala“ mit 81 Unterfällen
55 Zu den Lebensbedingungen in den Konzentrationslager, vgl. Juliá, Santos (Hrsg.), Víctimas de la guerra civil: Una aportación imprescindible a un debate que sigue abierto, Ed. Booket 2006, S. 279 ff. 56 Dies wurde in der Präambel der Anordnung vom 14. November 1939 verkündet, wodurch die Stelle des Generalinspektors der Gefängniswerkstätten geschaffen und Carlos Inza Tudanca, ein Ingenieur des ICAI und Schüler von Pater Pérez del Pulgar, berufen wird. 57 Zu den Comisiones Provinciales de Clasificación y Comisiones Militares de Examen de Penas, vgl. Rodríguez Teijeiro, Domingo, „Excarcelación, libertad condicional e instrumentos de control postcarcelario en la inmediata posguerra (1939 – 1945)“, in: Alonso et al. (Hrsg.), Nuevos horizontes del pasado: Culturas políticas, identidades y formas de representación, actas del X Congreso de la Asociación de Historia Contemporánea, Editorial de la Universidad de Cantabria 2011.
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einzuordnen. Bis 1940 wurden auf diese Weise 70.850 Fälle58 revidiert und die von den Militärgerichten verhängten Strafen erheblich herabgesetzt. Die Entlassenen mussten jedoch bis zur vollständigen Vollstreckung ihrer Strafe mehr als 250 km von ihrem Wohnsitz entfernt bleiben und unterstanden der Kontrolle des nationalen Bewährungsdienstes, der die Befugnis hatte, sie jederzeit vorübergehend oder auf Dauer in die Haftanstalt zurückzuweisen, was den repressiven und kontrollierenden Charakter des bestehenden Systems noch weiter verdeutlichte.59 Das Hauptinstrument zur Verringerung der Gefängnispopulation und zur Beendigung der unhaltbaren Überbelegung der Gefängnisse war die Verbindung des Straferlasses durch Arbeit mit der Aussetzung der Strafe zur Bewährung im Zuge des Dekrets vom 9. Juni 1939, das Arbeit und gutes (politisches) Verhalten voraussetzte.60 Dieser Erlass verpflichtete zudem die Gefängnisleitung, bei der Gewährung der vorläufigen Haftentlassung die Dauer der Strafe eines Häftlings zu berücksichtigen, die aufgrund der Arbeit in der Haftanstalt erlassen werden konnte. So wurde die Bewährung zum letzten Glied in der Kette des Straferlasses und bildetet das Hauptelement der Kontrolle über die Ex-Sträflinge und ihre Familien durch den staatlichen Aufsichts- und der Vormundschaftsdienst. So konnte der Gefangene seine Strafe um bis zu 37,5 % reduzieren, wenn er arbeitete und Buße zeigte. Nach Freilassung drohte im Falle des Abkommens vom „rechten Weg“ eine automatische Rückkehr hinter Gitter. Gefängnis und Straferlass durch Arbeit wurden so Hauptelemente der Repression Francos. Sie waren nicht nur ein Instrument der Umerziehung und Kontrolle, sondern stellten auch eine latente Bedrohung dar, da dieses System es dem Regime ermöglichte, den Gefangenen während der Zeit der Strafe, aber auch während der Zeit der bedingten Entlassung zu disziplinieren, da jeder Ausdruck der Unzufriedenheit mit dem Regime zur vollständigen Verbüßung der Strafe Anlass geben konnte. Tausende von Gefangenen waren zu Zeiträumen von 20 bis 30 Jahren verurteilt – die üblichen Strafen für Republikaner – mit dem ständigen Risiko, durch eine bloße Verwaltungsentscheidung der lokalen Behörden ins Gefängnis zurückzukehren. 58
So führte die Umwandlung hoher Strafen zur Möglichkeit der Strafaussetzung auf Bewährung. 59 Die Verbannung erhöhte zweifellos die Schwierigkeiten des aus der Haft entlassenen, sich seiner Familie zu nähern, belastete den familiären Zusammenhalt und brachte in der Folge die Notwendigkeit mit sich, ein neues Leben in einer manchmal feindlichen Umgebung zu beginnen, was viele Autoren dazu veranlasst hat, dies als eine zusätzliche Strafe zu erachten. Neben der räumlichen Entfernung und der mit einer Gefängnisstrafe verbundenen Stigmatisierung, der Entehrung einer Verurteilung, die mitunter die ganze Familie betraf, machte in vielen Fällen eine Rückkehr in ein normales Leben unmöglich. Vgl. Gómez Bravo, Gutmaro, Crimen y castigo. Cárceles delito y violencia en la España del siglo XIX, Los libros de la Catarata, 2005; de la Cuesta Arzamendi et al., Situación penitenciaria. 60 Zum Zusammenhang von Bewährungsstrafe und Straferlass Gómez Bravo, Gutmaro, „El desarrollo penitenciario en el primer franquismo (1939 – 1945)“, Hispania Nova. Revista de Historia Contemporánea, Dossier, n8 6 (2006), S. 14 – 18, http://hispanianova.rediris.es/6/ dossier.htm.
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Die Aussetzung der Strafe zur Bewährung war somit ein Kontrollmechanismus, da sie die Verpflichtung beinhaltet, den Behörden regelmäßig „Bericht“ über die Art der Lebensführung außerhalb der Haftanstalt zu erstatten. Vor allem stellte sie für die Entlassenen eine prekäre Freiheit dar, die jederzeit widerrufen werden konnte und somit die Geisteshaltung wesentlich bedingte. Der Straferlass durch Arbeit verbunden mit der Strafaussetzung auf Bewährung, die beide Verhaltenstests unterliegen, drückten den totalitären Anspruch des Regimes aus, das gesamte soziale Verhalten auf die Parameter des neuen Staates zu reduzieren. Im Laufe der Zeit wurde eine ganze Reihe von Maßnahmen im Zusammenhang mit der Bewährung beschlossen, um diese zu fördern, vor allem durch die Gewährung des Zugangs zur Bewährung für diejenigen, die zu längeren Haftstrafen verurteilt waren. Zuerst galt dies nur für Verurteilungen bis zu sechs Jahren, dann bis zu zwölf, dann bis zu vierzehn und schließlich bis zu zwanzig Jahren. So sah das Gesetz vom 3. Februar 1940 vor, dass alle Straftaten im Zusammenhang mit der nationalen Bewegung, die mit einer Freiheitsstrafe von weniger als 12 Jahren geahndet wurden, nach zwei Jahren verjähren. Mit Inkrafttreten des Erlasses vom 5. April 1940 konnten Häftlinge über 60 Jahre auf Bewährung entlassen werden, wenn sie ein Viertel ihrer Strafe verbüßt hatten, eine Maßnahme, die aus humanitären Gründen und auch deshalb begründet war, weil viele Häftlinge nicht mehr in der Lage waren, zu arbeiten und somit das System des Straferlasses durch Arbeit in Anspruch zu nehmen. Von größerer Bedeutung war das Gesetz vom 4. Juni 1940, das den Beginn des Prozesses der Entlassung aus der Haft durch die Inanspruchnahme der „außerordentlichen Vorteile“ der bedingten Entlassung festlegte. Eine Bewährung war demnach üblicherweise möglich, wenn drei Viertel der Strafe verbüßt worden waren. Dieses Gesetz legt zudem fest, dass diejenigen, die von der Militärgerichtsbarkeit zu einer Strafe von höchstens sechs Jahren und einem Tag verurteilt worden waren und die Hälfte der Strafe verbüßt hatten, aus der Haft entlassen werden konnten, sofern sie ein vorbildliches Verhalten gezeigt hatten und sowohl ihre früheren Handlungen als auch das Verbrechen, für das sie verurteilt wurden, die Annahme zuließen, dass ihre Anpassung zufriedenstellend erfolgt sei. Erforderlich waren dazu insbesondere ein positiver Bescheid des Bürgermeisters, des Ortsvorstehers der Falange und des Leiters der Guardia Civil ihres vorherigen Wohnsitzes. Da viele Bescheide abgelehnt und damit das angestrebte Ziel verfehlt wurde, setzte das Dekret vom 23. November 1940 die Voraussetzungen für die bedingte Haftentlassung herab, wobei der Gefangene, wenn alle drei Bescheide ungünstig ausfielen, in eine von der Generaldirektion der Gefängnisse abhängige oder ihr unterstellte Abteilung der Arbeitslager eingewiesen wurde. Mit dem gleichen Ziel wurde die Kategorie der „vorläufigen“ Bewährung durch einen Erlass vom 1. April 1941 geschaffen, der die Freilassung von Häftlingen ermöglichte, wenn die zuständige Kommission zur Überprüfung der Strafmaße vorgeschlagen hatte, ihre Strafe in weniger als 12 Jahre und einen Tag umzuwandeln, d. h. den Anwendungsbereich des Gesetzes
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vom 4. Juni 1940 zu erweitern, der bis dahin nur Haftstrafen von bis zu sechs Jahren erfasste. Nach dem Gesetz vom 16. Oktober 1942 wurde die Bewährung auf Delikte des Hochverrats ausgeweitet, die 14 Jahre und acht Monate (d. h. die niedrigste Haftstrafe)61 nicht überschritten. Nach dem Gesetz vom 13. März 1943 kamen für die Bewährung zudem diejenigen in Betracht, die bis zu 20 Jahren verurteilt wurden. In der Vergangenheit abgelehnte Bewährungsverfahren, wurden auch im Hinblick auf die neuen Gesetze, die für ihre Gewährung günstiger waren, überprüft, wobei der Erlass vom 31. Juli 1943 sogar anordnete, dass bei Häftlingen mit einer Strafe von höchstens 20 Jahren, wenn sie gutes Verhalten im Gefängnis gezeigt hatten, ihre Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt werden sollte.62 Die Flut der zu dieser Zeit erlassenen Vorschriften63 verursachte viele Probleme, welche die Gefängnisbehörden zwangen, anderweitige Lösungen zu finden, z. B. indem sie die Freilassung von verurteilten Personen, die das siebzigste Lebensjahr erreicht hatten, unabhängig von der verhängten Strafe genehmigten,64 aber vor allem durch die Überprüfung von zuvor abgelehnten Verfahren. Schließlich wurde mit dem Dekret vom 17. November 1943 das letzte große Maßnahmenpaket in Bezug auf die Bewährung umgesetzt, indem sie Häftlingen mit einer Strafe von zwanzig Jahren und einem Tag und unter bestimmten Umständen auch Häftlingen mit längeren Strafen gewährt wurde. All diese Maßnahmen erklären die große Zahl von Gefangenen, die ab diesem Zeitpunkt aus der Haft entlassen wurden.65 Das Datum, an dem all diese gesetzlichen Bestimmungen zur Erleichterung der Bewährung und Freilassung in Kraft traten, ist hier entscheidend, denn der Beginn dieser Massenfreilassung hat damit zu tun, dass die Kapitulation der Armee von Paulus nach der Schlacht von Stalingrad viele glauben ließ, dass Deutschland den Krieg vielleicht nicht gewinnen werde.
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Im Jahr 1942 konnten nach offiziellen Angaben insgesamt 29.353 Häftlinge von der Gesetzgebung zur Bewährung profitieren. Der Verband berichtete, dass bis Oktober desselben Jahres die Zahl der genehmigten Verfahren durchschnittlich 2.000 pro Monat betrug und mit der Heraufsetzung der Dauer der Haftstrafe für die Inanspruchnahme auf vierzehn Jahre und acht Monate die Zahl noch einmal anstieg und so im Dezember die Rekordzahl von 7.325 genehmigten Verfahren erreicht wurde; Redención, 16. Januar 1943, S.1. 62 Diese Maßnahme brachte die Schaffung eines Bewährungsdienstes mit sich, dessen Zweck es war, die Kontrolle über die freigelassenen Personen aufrechtzuerhalten, und dessen Tätigkeitsbereich zunehmend ausgeweitet wurde. 63 Eine Übersicht über die Bewährungsstrafe findet sich bei Gil, La noche de los generales, S. 237. 64 Dekret des Regierungspräsidiums vom 29. September 1943, B.O.E. 3. Oktober. 65 Payne, S. G., El Régimen de Franco, Alianza Ed. 1988, S. 240, schätzt das durch „Begnadigungen“ und „Amnestien“, ca. 60.000 Gefangene 1941 und weitere 50.000 1942 freigelassen wurden.
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Effektiver als das System des Straferlasses zur Lösung des Problems der Überfüllung der Gefängnisse war die durch das Dekret vom 9. Oktober 194566 erfolgte massive Begnadigung derjenigen, die während des Bürgerkriegs verurteilt worden waren. Dieser Schritt markierte den Wendepunkt beim Abbau des „riesigen Gefängnisses“, zu dem Spanien geworden war, indem es diejenigen, die wegen militärischer Rebellion und anderer Verbrechen verurteilt worden waren, eine vollständige Begnadigung gewährte, vorausgesetzt, dass es sich nicht um „Gewalttaten“ handelte. Dies trug wesentlich zum Prozess der Imageverbesserung des Regimes bei, der mit dem Ende des Weltkriegs eingeleitet wurde.67 So war es der Verband selbst, der in seinem Bericht von 1949 zynisch ausführte, dass die Gefangenen in den ersten Jahren der Einführung des Systems des Straferlasses durch Arbeit nicht erkennen konnten, wie wichtig diese für sie war, denn bevor sie ihre Arbeitsleistung erbringen konnten, um den Zeitpunkt ihrer Freilassung vorzuverlegen, fanden sie sich aufgrund aufeinanderfolgender Begnadigungen und ständiger Zugeständnisse der Freiheit en bloc schon wieder in Freiheit.68
VIII. Schlussfolgerung Der Straferlass durch Arbeit war ein System, das es dem Franco-Regime erlaubte, den Gefangenen während der Zeit der Strafe zu disziplinieren, seine Arbeitskraft auszubeuten und ihn auch während der Zeit seiner Bewährung zu kontrollieren, da jeder Ausdruck der Unzufriedenheit mit dem Regime die Anordnung der vollständigen Verbüßung der Strafe zur Folge hatte. Tausende von Gefangenen wurden so zu Zeiträumen von 12 bis 20 Jahren verurteilt – was die üblichen, weniger schweren Strafen für Republikaner waren – verbunden mit der ständigen Drohung, durch eine bloße Verwaltungsentscheidung der lokalen Behörden, die mit ihrer politischen und moralischen Wachsamkeit betraut waren, in die Haftanstalt zurückgeschickt zu werden. Die Arbeit wurde erzwungen, weil die Häftlinge keine andere materielle und moralische Möglichkeit hatten, als sie abzuleisten, um schwere Nachteile von sich selbst und ihren Familien abzuwenden. Sie war zugleich auch ausbeuterisch, da der Staat 80 Prozent des Gehalts des Häftlings einbehielt. Diese systematische Zwangsarbeit war Kernbestandteil des so genannten „ersten Franquismo“, also bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, als dem Franco-Regime die Gefahr seines eigenen Endes bewusst wurde. Das System wurde anschließend standardisiert und in das Strafgesetzbuch aufgenommen. Mit Einführung der Demokratie in Spanien wird die Möglich66 Vgl. zu Umfang und Folgen des Dekrets vom 9. Oktober 1945 Gil, La noche de los generales, S. 247 – 253. Zu Amnestie und Begnadigung grundlegend Linde Paniagua, Enrique, Amnistía e indulto en España, Tucar Ediciones 1976, mit einer Aufzählung der Generalbegnadigungen des Franco-Regime S. 125 und 208. 67 Vgl. zu dieser Frage de la Cuesta Arzamendi et al., Situación penitenciaria, S. 153. 68 Patronato Central para la Redención de las Penas por Trabajo, Memoria, Imprenta de los talleres penitenciarios, Alcalá de Henares, 1942.
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keit eines Straferlasses durch Arbeit für alle Straftaten verallgemeinert und die Anwendbarkeit etwa durch die verpflichtende Teilnahme an Fernstudien erleichtert, bis ein solcher Straferlass mit dem Inkrafttreten des Strafgesetzbuchs von 1995 vollständig abgeschafft wird.
Administrative Sanctions: Two Contradictions By Lucia Zedner and Andrew Ashworth*
I. Introduction This chapter addresses an area to which Sieber has made particularly important contributions in recent years: the role of administrative sanctions in regulating misconduct.1 It evaluates the very different ways in which regulatory offences are tackled in England and Germany, and identifies two contradictions relating to where and why the line between criminality and mere misconduct is drawn in each jurisdiction. In so doing, the chapter first briefly traces the divergent paths of legal developments in the two countries, contrasting the complex array of regulatory crimes, civil-criminal hybrid preventive orders, and civil, administrative and executive preventive orders in England and Wales, with the wholesale resort to Ordnungswidrigkeiten (administrative sanctions) in Germany. It considers whether measures such as civil orders and administrative sanctions are better seen as appropriate regulatory responses that are less costly, more effective, and less stigmatic than resort to the criminal law, or whether they should be regarded as problematic subversions of the criminal law and its accompanying procedural and human rights protections.2 This leads on to a discussion of two contradictions in the theory and practice of administrative sanctions. * The authors are grateful to the editors, and, in particular, Dr. Benjamin Vogel, for their insightful comments and to Tarik Güngör for alerting us to proposed changes to the German law. 1 Sieber, Ulrich, Administrative Sanction Law in Germany, in: Vogel, Benjamin/Dyson, Matt (eds.), The Limits of Criminal Law, Intersentia 2018, pp. 301 – 31; Sieber, Ulrich, The New Architecture of Security Law – Crime Control in the Global Risk Society’, in: Sieber, Ulrich et al. (eds.), Alternative systems of crime control: national, transnational, and international dimensions, Duncker & Humblot 2018, pp. 1 – 35; Rui, Jon Petter/Sieber, Ulrich, Non-Conviction-Based Confiscation in Europe, in: Rui, Jon Petter/Sieber, Ulrich (eds.), NonConviction-Based-Confiscation in Europe, Duncker & Humblot 2015, pp.245 – 302; Sieber, Ulrich/Engelhart, Marc, Compliance Programs for the Prevention of Economic Crimes, Duncker & Humblot 2014. 2 Ashworth, Andrew, Social Control and Anti-Social Behaviour: the Subversion of Human Rights?, in: Law Quarterly Review, vol.120 (2004), pp. 263 – 91; Duff, Antony, Perversions and Subversions of Criminal Law, in: Duff, Antony et al. (ed.), The Boundaries of the Criminal Law, Oxford University Press 2010; Zedner, Lucia, Penal Subversions: when is a punishment not a punishment, who decides, and on what grounds?, Theoretical Criminology, vol. 20 (1) (2016), pp. 3 – 20.
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II. Regulatory Offences and Administrative Sanctions in England and Germany State recourse to administrative and other non-criminal measures can be directly linked to concern about the rapid growth in the scope of the criminal law and its impact on the operation of the criminal justice system.3 Some legal systems, like England and Wales, have witnessed serious overcriminalization that has been attributed variously to the ‘war on drugs’, to the emergence of a ‘culture of control’4 and the rise of ‘penal populism’.5 At the lower end of the scale, the rapid criminalisation of lesser regulatory offences is often regarded as symptomatic of the rise of the regulatory state.6 Usually, but not invariably, these regulatory offences are strict liability crimes, and they are often created by regulatory bodies under secondary legislation: as Williams observes, ‘there are now over 60 national regulators with the power, subject to certain limitations, or checks, to make (criminal) law’.7 The formal expansion of regulatory offences has led to debate about whether such conduct is an appropriate target of criminalization.8 In respect of conduct that entails little or no culpability and inflicts little or no immediate harm, the time, human resources and expense of the criminal trial and sentencing appear excessive, costly, and ineffective as a means of prevention or deterrence. UK academics, lawyers and policy-makers have debated whether and to what extent it is appropriate to criminalize regulatory offences, especially where to do so results in costly and disproportionate censure and sanction.9 In practice, most of these strict liability offences are prosecuted in the (first-tier) magistrates’ courts, and the penalties imposed are too low to deter or prevent – probably 3
Husak, Doug, Overcriminalization: The Limits of the Criminal Law, Oxford University Press 2008; Ashworth, Andrew/Zedner, Lucia, Defending the Criminal Law: Reflections on the Changing Character of Crime, Procedure, and Sanctions, Criminal Law and Philosophy, vol. 2 (2008), pp. 21 – 51. 4 Garland, David, The Culture of Control: Crime and Social Order in Contemporary Society, Oxford University Press, 2001. 5 Pratt, John, Penal Populism, Routledge 2007; Loader, Ian/Sparks, Richard, Penal Populism and Epistemic Crime Control, in: Alison Liebling et al. (eds.), The Oxford Handbook of Criminology, Oxford University Press 2017, pp. 98 – 115. 6 Quirk, Hannah et al. (eds.), Regulation and Criminal Justice: Innovations in Policy and Research, Cambridge University Press 2010; Braithwaite, John/Levi-Faur, David, Regulatory Capitalism: How It Works, Ideas for Making It Work Better, Edward Elgar 2008; Moran, Michael, The British Regulatory State – High Modernism and Hyper-Innovation, Oxford University Press 2003. 7 Williams, Rebecca, Criminal Law in England and Wales: Just Another Form of Regulatory Tool?, in: Vogel/Dyson (eds.), The Limits of Criminal Law, pp. 210 – 211. 8 Ibid. Brown, Darryl K., Criminal law’s unfortunate triumph over administrative law, in: Journal of Law, Economics & Policy, vol. 7(4) (2011), pp. 657 – 83; Chiao, Vincent, Criminal Law in the Age of the Administrative State, Oxford University Press 2018. 9 Law Commission, Criminal Law in Regulatory Contexts: Responses, 2010; Ministry of Justice, Guidance on creating new regulatory penalties and offences, 2009; Ashworth/Zedner, Defending Criminal Law.
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making prosecutors disinclined to prosecute.10 As the Law Commission of England and Wales acknowledged a decade ago, the consequence is that, ‘since so often much of this legislation remains unenforced, it simply undermines it and brings it into contempt.’11 One response to this problem has been to develop various ‘out-of-court’ penalties for certain types of criminal offence. The wide discretion accorded to police in England and Wales has permitted increasing use of out-of-court measures such as formal warnings, simple and Conditional Cautions, use of Penalty Notices for Disorder (PNDs) and Fixed Penalty Notices (FPNs) in place of prosecution.12 The police offer the individual the opportunity to pay a financial penalty or face a 50 % increase in the initial fine; if the individual contests the offence or refuses to pay, they may be prosecuted in court. A different form of intervention is to be found in the civil-criminal hybrid,13 civil, administrative and executive orders that target behaviour ranging from merely anti-social behaviour14 through clearly criminal conduct to the most serious types of offending.15 Typically, orders of this kind impose prohibitions and restrictions on the individual, and failure to comply with those conditions is a criminal offence with a maximum penalty of five years’ imprisonment. These orders have provoked academic debate in England as to whether they are preventive or punitive in form, substance and purpose,16 and whether they satisfy the right to a fair trial under 10
Williams, Another Form of Regulatory Tool. Law Commission, Criminal Law in Regulatory Contexts: Responses, Law Commission 2010, p. 35. 12 For further discussion of these orders see Kelly, Rory/Ashworth, Andrew, ‘State Responses to Criminal Offences in England and Wales and the Problem of Equality’, in: Dyson/ Vogel (eds.), The Limits of the Criminal Law, pp. 345 – 364; Theodorakis, Nikolaos, The Role of Administrative Sanctions in Criminal Law, in: Vogel/Dyson (eds.), The Limits of Criminal Law, pp. 273 – 300. 13 Often described as ‘two-step prohibitions’ because the initial order is imposed by a civil court (albeit to a criminal standard of proof) but breach of the order is a criminal offence. Simester, Andrew P./von Hirsch, Andreas, Regulating Offensive Conduct through Two-Step Prohibitions, in: Andreas von Hirsch/Andrew P. Simester (eds.), Incivilities: Regulating Offensive Behaviour, Hart Publishing 2006, pp. 173 – 94. 14 The originator, the Anti-Social Behaviour Order (or ASBO), has since been replaced by anti-social behaviour injunctions (s. 1 of the Anti-social Behaviour, Crime and Policing Act 2014); community protection notices (s. 34 of the Anti-social Behaviour, Crime and Policing Act 2014); and public spaces protection orders (s. 59 of the Anti-social Behaviour, Crime and Policing Act 2014). 15 For example, serious crime prevention orders (s. 1 & s. 19 of the Serious Crime Act 2007,); violent offender orders (s. 98 of the Criminal Justice and Immigration Act 2008); and terrorism prevention and investigation measures (Terrorism Prevention and Investigation Measures Act 2011). 16 Ashworth, Andrew/Zedner, Lucia, Preventive Orders: a problem of under-criminalization?, in: Duff, Antony et al. (eds.), The Boundaries of the Criminal Law, Oxford University Press 2010, pp. 59 – 87; Ashworth, Andrew/Zedner, Lucia, Preventive Justice, Oxford University Press 2014, Ch. 4; Simester, Andrew P./von Hirsch, Andreas, Regulating Offensive 11
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Article 6 ECHR,17 and the right against retrospective punishment under Article 7.18 An especially pressing question, to which we return below, is whether the procedural protections that apply to these orders are commensurate with the severity of the penalties that the courts are able to impose for breach. A further method that English law uses to deal with misconduct is purely regulatory: a regulatory body, such as the Financial Conduct Authority or the Environment Agency, is tasked with regulating a particular sphere of activity, and is given various powers including the power to impose a substantial financial penalty on an individual or organisation that breaches the regulations.19 Thus the Financial Conduct Authority regulates the financial markets, aiming to prevent anti-competitive agreements and the abuse of dominant market positions.20 The Environment Agency’s stated role is to protect the environment, for example by imposing fines on those who pollute watercourses.21 As will be described below, the financial penalties imposed by these regulatory bodies can run into millions of pounds or euros. While English law has used at least four legal techniques to deal with illegal behaviour – the criminal law, out-of-court penalties, hybrid civil, administrative or executive orders, and regulation – Germany has engaged in an altogether more systematic, large scale resolution of the problem under the Ordnungswidrigkeitengesetz (1968).22 As Sieber has described, this Act re-designated a considerable body of criminal offences regarded as insufficiently serious to merit the stigma of criminal conviction, the burdens of punishment and collateral costs of a criminal record by creating an entirely separate category of administrative or regulatory offences. As Sieber notes, the decision to impose Ordnungswidrigkeiten is instead taken by administrative or regulatory authorities; formal court proceedings are not required as sanctions are imposed pre-trial; and the evidentiary requirements for a pre-trial sanction are lower; and, finally, sanctions are limited to non-criminal Geldbußen (administrative fines) that are not subject to criminal penalty for non-payment.23
Conduct, pp. 173 – 94; Kelly, Rory, Behaviour Orders: Preventive and/or Punitive Measures? DPhil Thesis, University of Oxford, 2019. 17 Goss, Ryan, Criminal Fair Trial Rights: Article 6 of the European Convention on Human Rights, Hart Publishing 2014; Ashworth, Andrew: Social Control and Anti-Social Behaviour: the Subversion of Human Rights?, in: Law Quarterly Review, vol. 120 (2004), pp. 263 – 91. 18 Zedner, Penal Subversions. 19 For details, see www.fca.org.uk for the tasks of the Financial Conduct Authority, and for the tasks of the Environment Agency see www.gov.uk/government/organisations/environmentagency. Both organisations also have the power to prosecute, but this is rarely exercised. 20 See https://www.fca.org.uk/about/promoting-competition/powers. 21 See https://www.gov.uk/topic/environmental-management/waste. 22 Sieber, Administrative Sanction Law; Jost, Peter-J, Regulatory Enforcement in the Presence of a Court System, in: International Review of Law and Economics, vol. 17 (1997), pp. 491 – 508. 23 Ibid., p. 306.
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It is a matter of debate whether the creation of Ordnungswidrigkeiten was intended only to alleviate the caseload of the criminal courts, to reduce costs, or to distinguish lesser offences from more serious violations requiring the moral condemnation and penal sanction consequent on criminalization.24 Sieber has suggested two important alternative explanations. First, he postulates that the growing demand for administrative sanctions derives primarily from the fact that, ‘the multitude of risks occasioned by today’s mass technologies (eg driving cars) creates great demand for more efficient, fast, and straightforward legal systems’; secondly, he contends that ‘the complexity of the modern economy and the need for competent supervision and control (eg in the banking sector) generates further demand for efficient control procedures to be applied by specialised administrators, investigators and prosecutors who are intimately familiar with the relevant legal issues.’25 Both identify efficiency as the primary goal. From a comparative perspective, there appear to be at least three other possible reasons for the adoption of Ordnungswidrigkeiten. First, where there is a prima facie case that a crime has occurred, the German legality principle (Legalitätsprinzip) requires that a prosecution must be brought.26 There is thus little scope for the exercise of wide-ranging discretion that moderates the prosecution of criminal offences in England and Wales. Secondly, German criminal law requires proof of culpability (Schuldprinzip), and Ordnungswidrigkeiten require proof of responsibility (Verantwortlichkeit), and so there are no strict liability crimes as such: this means that German criminal law cannot accommodate regulatory offences in the way that English law can. The creation of strict liability offences is common in English criminal law, although not uncontroversial.27 Finally, in Germany it is not currently possible to prosecute corporations because German criminal law does not recognise the criminal responsibility of legal entities,28 although there are proposals for change.29 As a consequence, prosecution in corporate cases has had to be brought against an individual within the corporation, whereas Ordnungswidrigkeiten may be imposed on a corporation as a whole, a fact that led Sieber to conclude that the administrative sanction
24
Jost, Regulatory Enforcement, p. 492; Kelly, Behaviour Orders. Sieber, Administrative Sanction Law, p. 304. 26 Zedner, Lucia/Stuckenberg, Carl-Friedrich, Due Process, in: Ambos, Kai/Duff, Antony (eds.), Core Concepts in Criminal Law and Criminal Justice, Volume 1, Cambridge University Press 2019, pp. 329 – 330. 27 Ashworth, Andrew, Positive Duties, Regulation and the Criminal Sanction, in: Law Quarterly Review, vol. 133 (2017), pp. 606 – 30: Ashworth, Andrew, Positive Obligations in the Criminal Law, Hart Publishing 2013, Ch. 4; Simester, Andrew P. (ed.), Appraising Strict Liability, Oxford University Press 2005. 28 Under section 30 of the Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG) or Regulatory Offences Act. 29 Compare Sieber, Administrative Sanction Law, pp. 314 – 15, with the proposed changes described in Grützner, Thomas/Momsen, Carsten/Menne, Jonas, Draft Bill on German Corporate Sanctions Act, in: Compliance Journal, vol. 5(2) (2019), pp. 26 – 37. For details of the proposed changes, see further below. 25
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‘represents the essential vehicle for sanctioning companies under German law.’30 These significant differences partly explain the need for a separate category of administrative offences in the German system as a tool of regulatory control, particularly in respect of corporate and financial misconduct, which in the UK is more readily targeted under criminal law. Such differences might also alert the wary comparative lawyer against proposing a wholesale transfer or import of administrative offences to other jurisdictions without careful regard for the legal context in which they were created and in which they are to be applied.
III. Two Contradictions While space does not permit a full comparison of the German and English approaches to dealing with misconduct, two contradictions inherent in the two legal systems are worthy of further scrutiny – one relating to the principle of ‘criminal law as the last resort’, and the other relating to the very high financial penalties imposed by regulators. 1. Criminal Law as a Last Resort? The first contradiction concerns the widely-respected principle that the criminal law should be used as a ‘last resort’ or, as it is known in German law, ultima ratio.31 The criminal law is society’s strongest weapon against wrongdoing, and its censure and punishment should be reserved for the worst types of misconduct. As Lamond suggested: a successful prosecution does not simply result in a defendant being held liable for the breach of a legal prohibition – instead, she is convicted of committing a crime – she is found guilty of the charge against her. These are socially expressive terms. The criminal law serves an important condemnatory function in social life – it marks out some behaviour as especially reprehensible, so that the machinery of the state needs to be mobilized against it.32
However, it remains debatable whether criminal offences in England and Wales that do not require any fault element (strict liability) and that impose relatively low fines as the maximum penalty can be said to perform this condemnatory or censuring function. Despite the changes brought in by the Regulatory Enforcement and Sanctions Act 2008, and despite the guidance laid down by the UK Ministry of Justice,33 30
Ibid., at p. 315. Wohlers, Wolfgang, Criminal Law as a Regulatory Tool, in: Dyson/Vogel (eds.), Limits of Criminal Law, pp. 258 – 60. 32 Lamond, Grant, What is a Crime?, in: Oxford Journal of Legal Studies, vol. 27 (2007), pp. 609 – 632, p. 610. 33 Ministry of Justice, Guidance on creating new regulatory penalties and offences, Ministry of Justice 2009, p. 2. 31
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relatively little has changed in the last decade. English law still contains a great many strict liability offences with low maximum penalties that are designed to reinforce various regulatory regimes.34 These minor offences are still heard before a criminal court, albeit mostly the magistrates’ courts. They are inconsistent with the principle, endorsed by the Law Commission of England and Wales, that the criminal law should be reserved for ‘wrongdoers who deserve the stigma associated with criminal conviction, because they have engaged in seriously reprehensible conduct;’35 or, in the words of the German Constitutional Court, reserved for those whose wrongs are ‘violations of elementary values of community life’.36 Instead, especially in England, there is evidence that legislators sometimes have recourse to the criminal law as a first resort, or prima ratio:37 this is the essence of the first contradiction. Would the solution be for English law to move towards the German model and create a separate category of administrative offences, with streamlined procedures and moderate fines, the breach of which is not subject to criminal punishment? The Law Commission of England and Wales addressed this question in 2010, but concluded rather dismissively that to introduce an entirely new ‘regime of administrative sanctions is not a panacea for all ills’ and that such a move would be ‘capable of generating as many problems as it solves.’38 It did not directly confront the contradiction just identified that its own principle, of using the criminal law as a last resort and only for serious wrongdoing, is constantly undermined by English criminal legislation in respect of regulatory offences. The Law Commission did, however, propose that: Low-level criminal offences should be repealed in any instance where the introduction of a civil penalty (or equivalent measure) is likely to do as much to secure appropriate levels of punishment and deterrence.39
This statement, encouraging as it may be, is undermined by its use of vague terms. Certainly, there has been very little action flowing from it, or from the Ministry of Justice’s Guidance on creating new regulatory penalties and offences, which made proposals in similar terms.40 No doubt there would be problems in categorising existing criminal offences so as to retain within the criminal law only those with an appropriate level of seriousness, and to assign to another category (‘civil penalties’ or administrative sanctions) those which are less reprehensible. However, these are linedrawing difficulties of a kind that are encountered frequently in policy-making, and 34 Horder, Jeremy, Ashworth’s Principles of Criminal Law (9th edn), Oxford University Press 2019, pp. 181 – 189. 35 Law Commission, Criminal Law in Regulatory Contexts, Law Commission Consultation Paper no. 195, 2010, para. 3.137. 36 Cited in Wohlers, Criminal Law as a Regulatory Tool, p. 254. 37 Ibid., p. 236. 38 Law Commission, Criminal Law in Regulatory Contexts, paras. 3.21 – 3.37. 39 Ibid., para. 3.139. 40 Ministry of Justice, Guidance on regulatory penalties 2009.
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they are not sufficient to amount to a good reason for rejecting the German model and keeping the unprincipled and chaotic English approach. 2. Mega Sanctions Outside the Criminal Law The second contradiction concerns the capacity of regulators in both the UK and Germany to impose enormous financial penalties for misconduct outside the criminal law. In the UK, the Financial Conduct Authority has the power to impose, for market abuse, ‘a penalty of such amount as it considers reasonable.’41 In 2019, for example, this led to the imposition of financial penalties on businesses of £ 102 million on Standard Chartered Bank, £ 34 million on Goldman Sachs International and £ 29 million on Carphone Warehouse, and the imposition on individuals of fines that ranged between £ 3 million and £ 70 million.42 In Germany, the imposition of what Sieber identifies as mega-Ordnungswidrigkeiten have also resulted in high fines of up to E 1 million (for individuals) or up to 10 per cent of the company’s annual worldwide turnover in the preceding business year.43 Volkswagen, for example, was ordered to pay E 5 million for manipulating the emission levels of its cars.44 As Sieber observes, ‘the trend towards ever higher fines in administrative sanction law shows no indication of abating’.45 The European Commission also regulates the activities of cartels and other market abuse in the European Union, and, in 2018, it imposed a fine of more than E 4.34 billion on Google for abusing the dominant position of its search engine.46 These financial penalties are much higher than most fines on companies for criminal offences in England and Wales. They are intrinsically very severe, even if account is taken of the profits of these companies, yet, in the UK at least, they are accompanied by none of the safeguards of the criminal process. Moreover, the penalties are far higher than they are in ordinary regulatory or administrative criminal law or in Ordnungswidrigkeiten, which is typically characterised by low penalties.47 One element of the contradiction is that the size of the fines indicates that the misconduct is a serious wrong, and, in principle, serious wrongs should be dealt with by the criminal law. As Wohlers argues: “By its very nature … a regulatory fine is a repressive state sanction that has no significant differences in character from the ‘real’
41
S. 123(1) of the Financial Services and Markets Act 2000. See https://www.fca.org.uk/news/news-stories/2019-fines (accessed 23 December 2019). 43 Sieber, Administrative Sanction Law, p. 308. 44 In addition, a confiscation order was made against Volkswagen for E 995 million, as a means of depriving them of profits derived from their unlawful manipulations: Sieber, Administrative Sanction Law, p. 309. 45 Sieber, Administrative Sanction Law, p. 309. 46 Ibid., pp. 309 – 310. 47 Ibid., s. 2.2.1. 42
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criminal law.”48 However, and conversely, since regulation operates without the involvement of a public prosecutor or a criminal court and, particularly in the UK, without the principles and protections that attend the criminal law, its financial penalties should be confined to far more moderate impositions.49 Thus the contradiction is that the regulators are permitted to impose enormous financial penalties, when the procedures fall short of the right to a fair trial by an independent and impartial tribunal, as required by Article 6 of the European Convention on Human Rights, and fall even further short of the additional rights required when a person is the subject of a criminal charge. Perhaps partly in recognition of this second contradiction, and as noted above, Germany has proposed a change in the law on corporate criminal liability. In November 2019, the German Federal Ministry of Justice published a draft bill to create a special category of offences that can be committed by corporations under the Verbandssanktionengesetz50 (Corporate Sanctions Act): the proposed corporate sanctions permits public disclosure of the fines imposed on a company only in cases where a large number of injured parties may seek damages in the civil courts for corporate wrongdoing.51 While the current enforcement method is for the regulators to use Ordnungswidrigkeiten to secure compliance and to keep prosecution as a last resort, the proposed new law will transfer enforcement to the public prosecutor, which may permit considerably less discretion and, therefore, a greater emphasis on prosecutions. This proposed law goes some way to resolving the second contradiction – namely that some of the most burdensome financial penalties are not attended by commensurate procedural protections. However, the failure to include in the proposed reforms adequate protection of lawyer-client confidentiality and sufficient protection for whistle-blowers may undermine their effective operation in practice.52
IV. Conclusion This chapter has identified various difficulties with the legal mechanisms used by Germany, and by England and Wales, to regulate and respond to wrongdoing. In it, we have criticised the very large fines that can be imposed by regulatory agencies without sufficient regard for basic fair trial rights and fair procedures. And while we have been critical of the use of the criminal law for minor (‘regulatory’) offences, we also found fault with the use of out-of-court measures for their evasion of the right to a fair 48
Wohlers, Criminal Law as a Regulatory Tool, p. 255. Regulators such as the UK Financial Conduct Authority have the powers of an investigating officer, prosecutor and sentencer. However, before it imposes a fine, it must give notice to the alleged market abuser, with the possibility of referring the decision to a tribunal. 50 The authors are grateful to Tarik Güngör for drawing this proposed law to their attention. See Grützner/Momsen/Menne, Corporate Sanctions Act. 51 Under existing law, corporate sanctions are not usually disclosed. See ibid. p. 30; https:// hsfnotes.com/fsrandcorpcrime/2020/04/23/german-government-parties-agree-on-corporatesanctions-act/#more-9797. 52 Grützner/Momsen/Menne, Corporate Sanctions Act, p. 33. 49
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trial. As Sieber has suggested the increasing use of mega regulatory fines against corporate crime in Germany ‘raises the question of whether the classification of offences as Ordnungswidrigkeiten … instead of classifying them as “crimes” might not amount to simply using a false label in order to avoid having to comply with the safeguards of criminal law.53 It remains an open question whether simply moving mega regulatory fines into the criminal law or moving low-penalty strict liability offences out of the criminal law are wholly satisfactory solutions to the contradictions identified. Arguably one way forward would be to insist on the principle that the scale of fair trial rights and fair procedures should rise with the severity of the sanction imposed, such that the procedural protections are commensurate with the sanction irrespective of whether it is imposed in or outside the criminal law. Historically, Germany has come closer to abiding by this principle than England and Wales in that the constitutional guarantees applicable to criminal law and procedure apply also to Ordnungswidrigkeiten, although, as Sieber has pointed out, they are subject to important modifications on grounds of effectiveness.54 As Hildebrandt has observed, in respect of both crimes and Ordnungswidrigkeiten the defendant has the right to a ‘fair trial, even if the procedure for regulatory offenses often has fewer constraints than a full-fledged criminal trial.’55 The principle that procedural protections should be commensurate with the sanction imposed such that, if the available sanctions are relatively low, the applicable fair trial rights and procedures should also be low is, in theory, an underlying tenet of the law relating to Ordnungswidrigkeiten. Applying this principle would lead to changes in English laws relating to strict liability offences with low maximum penalties, changes more definite than those recommended by the English Law Commission,56 but that have never been introduced in practice. Upholding this principle of commensurability of procedural protections to the gravity of the misconduct and the severity of the sanction would go some way to answering Sieber’s vital question ‘to what extent (if at all) do the guarantees of criminal law apply to such administrative sanction procedures?’57 Yet it also suggests the need for changes in the laws of both Germany and England and Wales in respect of the high financial penalties increasingly imposed by regulatory agencies. Where the penalties are so high, there should be full procedural protections and respect for fair trial rights at a level not currently true of either jurisdiction. It remains to be seen how far the proposed German Verbandssanktionengesetz will satisfy the principle outlined in this chapter of commensurability between procedural protections and severity of sanction, and whether it is will succeed in resisting or even reversing the trend, rightly deplored by Sieber, toward privileging instrumental efficacy over effective justice. 53
Sieber, Administrative Sanction Law, p. 311. Ibid., p. 316. 55 Hildebrandt, Mireille, Justice and Police: Regulatory Offences and the Criminal Law, New Criminal Law Review, vol. 12(1) (2009), p. 26. 56 See the quotation at footnote 39 above. 57 Sieber, Administrative Sanction Law, p. 311. 54
Veröffentlichungsverzeichnis Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Ulrich Sieber
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Terrorismusfinanzierung – Prävention im Spannungsfeld von internationalen Vorgaben und nationalem Tatstrafrecht, Schriftenreihe des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht, Strafrechtliche Forschungsberichte Bd. S 150, Duncker & Humblot, Berlin 2015, S. XXV + 237 Seiten (gemeinsam mit Benjamin Vogel).
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Bilis¸im Teknolojisi ile Globalles¸en Dünyadaki Tehlikelerin Önlenmesi ve Ceza Hukuku – Yazarın Seçme Makaleleri (in türkischer Sprache), übersetzt und hrsg. von Feridund Yenisey/Salih Oktar/Zehra Bas¸er-Dog˘ an, Seçkin, Ankara, 2021, 639 Seiten.
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Gefahren und Präventionsmöglichkeiten im Bereich der internationalen Organisierten Kriminalität. In: Ulrich Sieber (Hrsg.), Internationale Organisierte Kriminalität – Herausforderungen und Lösungen für ein Europa offener Grenzen, Carl Heymanns Verlag KG, Köln/ Berlin/Bonn/München 1997, S. 269 – 279 (auch abgedruckt in: Kriminalistik 1998, S. 97 – 102.) Chinesische Übersetzung von Zunyou Zhou und Su Jiang. In: Zuny