Die Wirklichkeit des Guten: Dietrich Bonhoeffers 'Ethik' und ihr philosophischer Hintergrund 9783161510663, 9783161505911

Zu Beginn der 1940er Jahre, mitten in Zweitem Weltkrieg und nationalsozialistischem Terror, wird für Dietrich Bonhoeffer

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German Pages 465 [466] Year 2011

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Widmung
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Einleitung
A. Die Erkenntnis des Guten
I. Einführung
II. Erkenntnistheoretische Grundlegung: „Die Liebe Gottes und der Zerfall der Welt“
1. Die Grunddifferenz: Ethik als Ethik-Kritik
2. Biblische Grundlegung
a) Der Sündenfall
b) Die Erwählung
3. Moral und Richtgeist
a) Bonhoeffers Nietzsche-Rezeption
b) Nietzsches Christentums- und Moralkritik
c) Bonhoeffers Aufnahme von Nietzsches Christentums-und Moralkritik
4. Die Entzweiung in Gut und Böse
a) Bonhoeffers Hegel-Rezeption
b) Hegels Sündenbegriff
c) Bonhoeffers Aufnahme von Hegels Sündenbegriff
aa) Die Sünde als Entzweiung in Gut und Böse
bb) Selbstbewusstsein und Sünde
cc) Das Gewissen I
dd) Ganzheitliche Anthropologie: Scham und Sünde
5. Die Existenz jenseits von Gut und Böse
a) Adam und Christus
b) Das neue Wissen
c) Glauben als actus directus
d) Einfalt
aa) Bonhoeffers Kierkegaard-Rezeption
bb) Kierkegaards Existenzbegriff
cc) Bonhoeffers Aufnahme von Kierkegaards Existenzbegriff
e) Prüfen
f) Liebe
B. Grund und Vollzug des Guten
I. Einführung
II. Die Mehrdimensionalität der guten Tat: „Die Geschichte und das Gute“
1. Die neuen Schlüsselbegriffe
2. Leben
a) Die Lebensphilosophie
aa) Bonhoeffers Rezeption der Lebensphilosophie
bb) Grundgedanken der Lebensphilosophie
b) Lebendige Konkretion gegen idealistische Abstraktion
c) Der Fokus auf das geschichtliche Leben
aa) Geschichte und Handeln
d) Vitalität und Selbstverleugnung: Die Ambivalenz des Lebens
3. Person
a) Der Dialogische Personalismus
aa) Bonhoeffers Rezeption des Dialogischen Personalismus
bb) Grundgedanken des Dialogismus Grisebachs
b) Der „Gottmensch“ und das Leben
aa) Der ontologische Aspekt
bb) Der existentielle Aspekt
cc) Christologische Konkretion
4. Verantwortung – Herkunft und Verwendung eines neuen ethischen Begriffs
a) Verantwortung als Antwort
b) Verantwortung als Bindung
aa) Stellvertretung
bb) Wirklichkeitsgemäßheit
cc) Die Ambivalenz der Wirklichkeit und die Ordnung der Dinge
dd) Rezeption der politischen Theorie: Max Weber und Machiavelli
c) Verantwortung und Freiheit
aa) Schuldübernahme
bb) Das Gewissen II
C. Die Formen des Guten
I. Einführung
II. Beruf
III. Gesetz und Gebot
1. Das Gutachten zum primus usus legis
2. Die späten Fragmente der Ethik
3. Die Gültigkeit des Gottesgesetzes: Der ‚Grenzfall‘
4. Systematische Implikationen
a) Mandate
b) Unbewusstes Christentum
IV. Die natürlichen Rechte
1. „Menschsein und Gutsein“
2. Das thomistische Naturrecht: Adnotationes
3. Die Rechte des natürlichen Lebens
Rückblick und Ausblick
Exkurse
I. Bonhoeffers Kritik an der liberalen Theologie des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts
II. Bonhoeffers Zeit- und Geschichtsbegriff
Literatur
1. Textausgaben
2. Andere Primärliteratur
3. Sekundärliteratur
Stellenregister
Namenregister
Sachregister
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Die Wirklichkeit des Guten: Dietrich Bonhoeffers 'Ethik' und ihr philosophischer Hintergrund
 9783161510663, 9783161505911

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Beiträge zur historischen Theologie Herausgegeben von

Albrecht Beutel

156

Friederike Barth

Die Wirklichkeit des Guten Dietrich Bonhoeffers „Ethik“ und ihr philosophischer Hintergrund

Mohr Siebeck

Friederike Barth, geboren 1977, Studium der Ev. Theologie und Latein in Bethel und Münster, Erstes Theologisches Examen 2004 bei der Evangelischen Kirche von Westfalen, 2010 Promotion an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, seit 2009 Vikarin der Evangelischen Kirche von Westfalen in Münster.

Gedruckt mit Unterstützung der Adolf-Loges-Stiftung, der Internationalen-BonhoefferGesellschaft, Sektion Bundesrepublik Deutschland e.V. und der Evangelischen Kirche von Westfalen. e-ISBN PDF 978-3-16-151066-3 ISBN 978-3-16-150591-1 ISSN 0340-6741 (Beiträge zur historischen Theologie)

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Martin Fischer in Tübingen aus der Stempel Garamond und der OdysseaU gesetzt, von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.

Meiner Tochter Helena Sophie

Vorwort Die hier vorliegende Untersuchung zu Dietrich Bonhoeffers Ethik-Konzeption und ihrem philosophischen Hintergrund wurde im Wintersemester 2009/2010 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität als Dissertation angenommen. Für die Drucklegung wurde sie geringfügig überarbeitet. An dieser Stelle möchte ich meinen besonderen Dank all denjenigen aussprechen, ohne die diese Arbeit nicht hätte entstehen und zum Abschluss gebracht werden können. An erster Stelle ist hier mein Doktorvater Herr Prof. Dr. Hans-Richard Reuter zu nennen, dem ich in vielfacher Hinsicht zu großem Dank verpflichtet bin. Er hat diese Arbeit angeregt und mit seiner sorgfältigen, freundlichen Kritik ebenso wie mit Ermutigungen zur rechten Zeit begleitet. Für die große wissenschaftliche Freiheit, die mir bei der Arbeit an diesem umfassenden und komplexen Thema immer gewährt wurde, aber auch für die in Zeiten knapper Kassen und dünner Personaldecken alles andere als selbstverständlichen dienstlichen Spielräume, die für ein solches Projekt erforderlich sind, bin ich ihm außerordentlich dankbar. Ganz besonders möchte ich auch Herrn Prof. Dr. Michael Beintker danken. Er hat nicht nur die Mühe des Zweitgutachtens auf sich genommen, sondern auch schon während des Entstehungsprozesses dieser Arbeit regen Anteil genommen und mich freundlich begleitet und gefördert. Frau Dr. Ilse Tödt, Herr Prof. Dr. Ernst Feil und Herr Dr. h.c. Ulrich Kabitz haben mir in vielerlei Weise freundliche und hilfreiche Beratung und Unterstützung gewährt. Ihnen sei hier herzlich gedankt. Großzügige finanzielle Unterstützung während der Arbeit an der Dissertation hat mir die Adolf-Loges-Stiftung gewährt. Dem Vorstand der Stiftung bin ich sehr zu Dank verpflichtet. Herrn Prof. Dr. Albrecht Beutel danke ich sehr für die Aufnahme dieser Arbeit in die Reihe der Beiträge zur Historischen Theologie. Herr Dr. Henning Ziebritzki, Frau Ilse König und Frau Ilka Waetzoldt vom Mohr Siebeck Verlag haben die Drucklegung meiner Arbeit fachkundig und freundlich betreut. Die Drucklegung wurde durch großzügige Zuschüsse der Adolf-Loges-Stiftung, der Internationalen-Bonhoeffer-Gesellschaft, dt. Sektion, und der Evangelischen Kirche von Westfalen gefördert. Neben den wichtigen kritischen Rückmeldungen des Doktorandenkolloquiums am Institut für Ethik und angrenzende Sozialwissenschaften und des

VIII

Vorwort

Doktorandenkolloquiums am Seminar für Reformierte Theologie waren mir besonders die Gespräche mit Mag. Theol. Nora Uekötter und Dr. Claudia Bendick eine große Hilfe. Sie haben auch die Mühen des Korrekturlesens dieser Arbeit mit ihrer großen Zahl von Anmerkungen nicht gescheut. Am Ende gebührt aber der größte Dank meinem Mann Björn Christian Barth. Ohne ihn und seine selbstlose Unterstützung in allem, was ein großes Dissertationsprojekt an Herausforderungen mit sich bringt, ohne seinen steten aufmunternden Zuspruch und seinen großen Einsatz bei dem komplizierten Unterfangen, Wissenschaft, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen, wäre diese Arbeit niemals geschrieben worden. Münster, im Dezember 2010

Friederike Barth

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

A. Die Erkenntnis des Guten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8 8

I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Erkenntnistheoretische Grundlegung: „Die Liebe Gottes und der Zerfall der Welt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Grunddifferenz: Ethik als Ethik-Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Biblische Grundlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Sündenfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Erwählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Moral und Richtgeist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bonhoeffers Nietzsche-Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Nietzsches Christentums- und Moralkritik . . . . . . . . . . . . . . . c) Bonhoeffers Aufnahme von Nietzsches Christentumsund Moralkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Entzweiung in Gut und Böse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bonhoeffers Hegel-Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Hegels Sündenbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bonhoeffers Aufnahme von Hegels Sündenbegriff . . . . . . . . . aa) Die Sünde als Entzweiung in Gut und Böse . . . . . . . . . . . bb) Selbstbewusstsein und Sünde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Das Gewissen I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Ganzheitliche Anthropologie: Scham und Sünde . . . . . . . 5. Die Existenz jenseits von Gut und Böse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Adam und Christus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das neue Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Glauben als actus directus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Einfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Bonhoeffers Kierkegaard-Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Kierkegaards Existenzbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Bonhoeffers Aufnahme von Kierkegaards Existenzbegriff

10 10 12 12 16 25 26 28 34 44 45 47 58 59 67 71 74 81 82 84 89 93 96 98 106

X

Inhaltsverzeichnis

e) Prüfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 f) Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132

B. Grund und Vollzug des Guten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Mehrdimensionalität der guten Tat: „Die Geschichte und das Gute“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die neuen Schlüsselbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Lebensphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Bonhoeffers Rezeption der Lebensphilosophie . . . . . . . . bb) Grundgedanken der Lebensphilosophie . . . . . . . . . . . . . . b) Lebendige Konkretion gegen idealistische Abstraktion . . . . . c) Der Fokus auf das geschichtliche Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Geschichte und Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Vitalität und Selbstverleugnung: Die Ambivalenz des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Dialogische Personalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Bonhoeffers Rezeption des Dialogischen Personalismus bb) Grundgedanken des Dialogismus Grisebachs . . . . . . . . . . b) Der „Gottmensch“ und das Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der ontologische Aspekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Der existentielle Aspekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Christologische Konkretion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verantwortung – Herkunft und Verwendung eines neuen ethischen Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verantwortung als Antwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verantwortung als Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Stellvertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Wirklichkeitsgemäßheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Ambivalenz der Wirklichkeit und die Ordnung der Dinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Rezeption der politischen Theorie: Max Weber und Machiavelli . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verantwortung und Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Schuldübernahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Das Gewissen II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

138 140 140 145 148 148 151 157 166 170 180 195 196 196 199 208 209 214 218 230 234 244 244 257 261 273 285 296 306

C. Die Formen des Guten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 II. Beruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

Inhaltsverzeichnis

III. Gesetz und Gebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Gutachten zum primus usus legis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die späten Fragmente der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Gültigkeit des Gottesgesetzes: Der ‚Grenzfall‘ . . . . . . . . . . 4. Systematische Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Mandate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unbewusstes Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die natürlichen Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. „Menschsein und Gutsein“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das thomistische Naturrecht: Adnotationes . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Rechte des natürlichen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XI 326 330 334 346 350 350 359 367 367 372 375

Rückblick und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Exkurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 I. Bonhoeffers Kritik an der liberalen Theologie des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts . . . . . . . . 401 II. Bonhoeffers Zeit- und Geschichtsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Textausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Andere Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

427 427 427 432

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

443 443 445 447

Abkürzungsverzeichnis Im Folgenden werden diejenigen Abkürzungen aufgeführt, die in den Anmerkungen anstelle von Kurztiteln verwendet wurden. Für die genauen Literaturangaben ist das Literaturverzeichnis einzusehen. AC ApolCA AS BA BSLK BSRK CA CD CG Conf. Cons. De an. DB De ben. De civ. Dei De Trin. De Trin. Boet. Dig. EC EK Eth. Nic. EuG FC Frag./Fragg. GL GM GMS GPhR Inst. JGB KD KGW KpV KrV KT MA MW N PhG

Nietzsche, Antichrist, KGW Apologia Confessionis Augustanae, BSLK Bonhoeffer, Akt und Sein, DBW 2 Kierkegaard, Der Begriff Angst Bekenntnisschriften der lutherischen Kirche Bekenntnisschriften der reformierten Kirche Confessio Augustana, BSLK Barth, Christliche Dogmatik Barth, Christengemeinde und Bürgergemeinde Augustinus, Confessiones Boethius, Consolatio Philosophiae Aristoteles, De anima Bethge, Dietrich Bonhoeffer. Biographie Seneca, De beneficiis Augustinus, De civitate Dei Augustinus, De Trinitate Boethius, De Trinitate Corpus iuris civilis, Digesta (Ulpian) Kierkegaard, Einübung im Christentum Kierkegaard, Der Einzelne und die Kirche Aristoteles, Ethica Nicomachea Barth, Evangelium und Gesetz Formula Concordiae, BSLK Fragmente der griechischen Vorsokratiker, edd. Diels/Kranz Bonhoeffer, Gemeinsames Leben, DBW 5 Nietzsche, Genealogie der Moral, KGW Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts Corpus iuris civilis, Institutiones (Ulpian) Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, KGW Barth, Kirchliche Dogmatik Nietzsche, Kritische Gesamtausgabe. Werke Kant, Kritik der praktischen Vernunft Kant, Kritik der reinen Vernunft Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, KGW Brunner, Der Mensch im Widerspruch Bonhoeffer, Nachfolge, DBW 4 Hegel, Phänomenologie des Geistes

XIV Pol. Princ. Prot. R II Rhet. RPh SC ScG SF STh SuZ Theait. Tim. UN V VI VII WA WE WL ZE

Abkürzungsverzeichnis Platon, Politeia Machiavelli, Il Principe Platon, Protagoras Barth, Römerbrief, 2. Auflage Aristoteles, Ars rhetorica Hegel, Religionsphilosophie Bonhoeffer, Sanctorum Communio, DBW 1 Thomas von Aquin, Summa contra gentiles Bonhoeffer, Schöpfung und Fall, DBW 3 Thomas von Aquin, Summa theologica Heidegger, Sein und Zeit Platon, Theaitetos Platon, Timaios Kierkegaard, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift Dilthey, Gesammelte Schriften V Dilthey, Gesammelte Schriften VI Dilthey, Gesammelte Schriften VII Luther, Werke, Weimar 1883 ff. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, DBW 8 Hegel, Wissenschaft der Logik Bonhoeffer, Zettelnotizen für eine Ethik, DBW 6 Erg.

Einleitung „Allein weil Gott ein armer, elender, unbekannter, erfolgloser Mensch wurde, und weil Gott sich von nun an allein in dieser Armut, im Kreuz, finden lassen will, kommen wir von der Welt nicht los, darum lieben wir die Brüder. […] Schließlich, wird nicht erst von hier aus verständlich, wovon Sie mit keinem Worte sprechen, daß der Christ bei aller Hingabe an die Brüder und aller Treue zur Erde doch um der Gegenwart Gottes in Christus willen schon um den Abbruch dieser Erde und um die Zukunft einer neuen Erde und eines neuen Himmels weiß, und danach Verlangen trägt? Ja, daß um der Einheit der ursprünglichen, der gegenwärtigen und der zukünftigen Erde als der Erde Gottes, als der Erde, auf der das Kreuz Jesu Christi stand, [willen] die gegenwärtige Erde so ernst genommen werden kann in ihrer Würde, ihrer Herrlichkeit und ihrem Fluch?“1

Am Ende der Periode der Nachfolge steht Bonhoeffers erneute, nun aber klarer und entschiedener das Nein Gottes im Gericht hörende und sagende, Hinwendung zur Welt als dem Lebensraum des versöhnten Menschen. Mitten in der totalen, alle Lebensbereiche und persönlichen Bezüge betreffenden Krise offenbart sich ihm damit eine neue innere und äußere Wertschätzung des natürlichen, des gesellschaftlichen und politischen Lebens des Menschen in der Welt vor Gott, die ihn nicht nur zu einer Neuausrichtung der eigenen Existenz führt, sondern die ihn dazu treibt, die Nachfolge Christi in ihrer umfassenden, weltbezogenen Dimension neu zu durchdenken und auf ihre ethische Gestalt hin zu überprüfen. Ethik als diejenige Disziplin, die Bonhoeffer bis dahin zwar stetig, aber gleichwohl immer nur am Rande seiner theologischen Existenz begleitet hat2, in deren Mittelpunkt vielmehr so unterschiedliche Topoi wie die Ekklesiologie und ihre soziologische Deutung3, die Prolegomena im Hinblick auf ihre philosophischen Denkformen, die theo1

DBW 15, 113 f. (Januar 1939, an Theodor Litt). Schon in Sanctorum Communio hat Bonhoeffer gegen ein rein erkenntnistheoretisches Interesse die „ethische Transzendenz“ des Personseins ins Feld geführt (s. dazu u. B.II.3). Auch später taucht dieses ethische Interesse immer wieder, teils explizit und ausführlich, teils beiläufig, teils verdeckt, wieder auf, so etwa in dem Barcelona-Vortrag Grundfragen einer christlichen Ethik (DBW 10, 323–345), in einem nur noch rudimentär zu rekonstruierenden Seminar von 1932 (Gibt es eine christliche Ethik?, DBW 11, 303–313), aber auch in der Nachfolge in der Auslegung von Bergpredigt und paulinischer Ethik (dazu vgl. auch DBW 14, 610 ff.721 ff.). Größere eigene ethisch-theologische Studien hat Bonhoeffer dennoch bis 1940 nicht begonnen. 3 Sanctorum Communio. 2

2

Einleitung

logische Anthropologie4, die Sündenlehre5, die Heiligung6 und anderes mehr standen, wird nun zum theologischen Hauptthema, das ihn auch im Gefängnis weiter beschäftigt. Die als monographisches Werk geplante Ethik, deren Grundgedanken Bonhoeffer teilweise im brieflichen Gespräch mit Eberhard Bethge weitergeführt hat7, bildet schließlich nach eigener retrospektiver Einschätzung Bonhoeffers, aber auch nach Inhalt und Umfang, sein theologisches Hauptwerk. Es war ihm darum auch ein besonderes, aber nicht mehr zu verwirklichendes Anliegen, dieses sein „Lebenswerk“8 zu vollenden: „[…] manchmal denke ich, ich hätte nun eigentlich mein Leben mehr oder weniger hinter mir und müßte nur noch meine Ethik fertigmachen“,

schreibt er Ende 1943 als politischer Gefangener an Bethge9. Geblieben ist davon ein Fragment, das jedoch bei aller Schwierigkeit, die daraus für den Rezipienten entsteht, eine höchst komplexe, originelle und anspruchsvolle theologische Ethik, oder genauer: „ethische Theologie“10, enthält. Deren systematische Erschließung unter Einschluss der ihr zugrunde liegenden philosophischen Einflüsse lässt nicht nur in besonderer Weise die grundsätzliche existentielle Rückbindung der theologischen Reflexion Bonhoeffers erkennen; sie stellt auch ein großes forschungsgeschichtliches Desiderat dar. Die Literatur zur Ethik ist immer noch so spärlich, dass ein häufig an den Beginn solcher Untersuchungen wie der hier vorgelegten gestellter Forschungsüberblick unterbleiben kann. So existieren bislang nur ganz wenige Monographien, die sich mit der Ethik überhaupt in irgendeiner Weise beschäftigen. Die jeweilige Themenstellung dieser Arbeiten, die zumeist einen bestimmten Aspekt der Ethik fokussiert, unterscheidet sich darin von der hier gewählten, die den ethischen Ansatz als solchen ins Zentrum gerückt hat11. Bisher haben zudem nur ganz wenige, nicht-monographische Untersuchungen das thematische Interesse systematisch mit einer, dann freilich auf 4 Akt und Sein sowie die zugehörige Antrittsvorlesung Die Frage nach dem Menschen in der gegenwärtigen Philosophie und Theologie (DBW 10, 357–178). 5 Schöpfung und Fall. 6 Nachfolge. 7 Vgl. WE 553.577. 8 DB 804. 9 WE 237. 10 Feil, Theologie, 111; natürlich sind hier keine kulturprotestantischen Konnotationen mitzuhören und -lesen, da Feils Dissertation ja 1971 (1970) erschienen ist und Trutz Rendtorffs Konzeption gerade erst im Entstehen begriffen war. Inzwischen ist dieser Ausdruck zugegebenermaßen nicht mehr eindeutig, er soll hier allerdings lediglich die Konzentration von Bonhoeffers später Theologie auf die Ethik bezeichnen, keinesfalls aber einen Rendtorff nahe stehenden theologischen Ansatz beschreiben. 11 Abgesehen von den älteren Arbeiten, etwa von Moltmann, Wirklichkeit, und von Weissbach, Christologie, wird in den jüngst erschienenen von Schliesser, Schuld, und Hartmann, Verantwortung, der ethische Handlungsvollzug, teilweise zugespitzt auf den Gedanken der Schuldübernahme, untersucht. Ähnlich auch bei Prüller-Jagenteufel,

Einleitung

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einen Denker fokussierten, Erschließung des philosophischen Hintergrunds verbunden12. Außerdem liegt einigen Arbeiten zur Ethik noch eine ältere Textausgabe zugrunde, was dazu führt, dass die entsprechenden methodologischen Untersuchungen als überholt gelten können13. Bonhoeffers ‚Wendung zur Ethik‘14, die in Wirklichkeit keine echte Wendung, sondern ein langer, steiler und kurvenreicher Anmarsch durch das weite Feld der Theologie ist, bedeutet dabei keine Engführung der Theologie auf ihre moraltheologischen Konsequenzen, etwa im Sinne von konkludierenden Handlungsanweisungen oder einer nachträglichen normativen Aufladung ursprünglich rein dogmatischer theologischer Topoi. Vielmehr ist die Ethik in einem mehrfachen, emphatischen Sinn als Bonhoeffers Lebenswerk zu verstehen, indem sie nicht nur die theologischen (und philosophischen) Erkenntnisse, sondern auch die praktisch-existentiellen Erfahrungen Bonhoeffers in einer komplexen, aber gleichwohl geschlossenen Konzeption aufeinander bezieht – und zwar nicht zuerst als Theorie und Praxis, sondern bereits systematisch-theologisch: Theologie als Ethik ist schon im Ansatz nur dann wahr und wirklich, wenn sie die Existenz des Menschen zum Thema hat. Diese aber ist immer und ausschließlich Existenz coram Deo in mundo. Das in vielfältiger Weise jeden Augenblick Entscheiden und Tun herausfordernde Leben in der Welt und mit den Menschen, aber vor Gott, ist es also, welches Bonhoeffer dazu führt, Theologie zuletzt als Ethik zu konzipieren, so wie später auch der Kirchenbegriff explizit eine ethische Wendung erhält, wenn nun das Wesen der Kirche, in welcher Christus Gestalt gewinnt15, bestimmt wird als „Dasein für Andere“16. Die Konzeption, die Bonhoeffer in den Jahren seiner aktiven Teilnahme am militärischen Widerstand von 1940 bis 1943 entwickelt hat, ist nun aber in ihrer systematischen Bedeutung und Gestalt nicht von den konkreten Erfahrungen Bonhoeffers her vollständig erschließbar. Denn dass Theologie als nachfolgende, auf das Tun und die Predigt gerichtete, Reflexion des Glaubens17 ethische Theologie wird, ist zuerst selbst eine theologische Verantwortung. Eine ausführliche Analyse des gedanklichen Hintergrunds dieses Konzepts fehlt bei allen. 12 So vor allem Köster, Antipode, außerdem Kodalle, Fremdheit, und Bayer, Christus, jeweils aber die Ethik unter mehreren Schriften Bonhoeffers lediglich mit behandelnd. 13 Sofern die so genannte ‚Ansatzhypothese‘ zugrunde gelegt wird, auf deren Basis die sechste Auflage der Ethik von 1963 veranstaltet wurde. Dazu s. ausführlich E 11 ff. 14 Vgl. Feil, Theologie, 290. 15 E 84 ff. 16 WE 560. 17 Die theologische Rede ist als Reflexion von der Unmittelbarkeit des Glaubens unterschieden, ebenso ist sie aber auch von der subjektivistischen Reflexion des entzweiten Menschen unterschieden, welcher sich in sich selbst zu gründen versucht. Die Theologie ist unter den Bedingungen der noch nicht vollendeten Versöhnung eine Notwendigkeit für den Menschen, der im Vorletzten lebt und darin sein Tun und Leben in die kognitive Dimension

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Entscheidung, die auf einem differenzierten Rezeptions- und Abgrenzungsprozess von sehr unterschiedlichen theologischen, besonders aber auch philosophischen Systemen fundiert ist. Die entsprechenden Diskurse werden von Bonhoeffer freilich überwiegend verdeckt geführt; sein Interesse gilt nicht den Systemen als solchen, in ihrem Eigenwert und ihrer eigentlichen Gestalt. Die kritische Rezeption der in der Ethik präsenten Denker vollzieht sich darum auch nicht als detaillierte Auseinandersetzung mit Einzelaspekten, sondern in der Konzentration auf das Grundgerüst eines Systems oder einer Theorie, das von den speziellen Anwendungen sowie den nicht-wesentlichen Details gerade entkleidet ist. Dieses reduktive Vorgehen ist typisch für Bonhoeffers Denkbewegung. Besonders eindrücklich kann man dies an seiner Habilitation studieren, die einen Durchgang durch verschiedene philosophische und theologische Systeme anhand der schematisch einander gegenübergestellten Begriffe „Akt“ und „Sein“ bietet. Diese Begriffe repräsentieren die beiden unterschiedlichen Denkansätze einerseits transzendentalphilosophischer und andererseits ontologischer Systeme, wobei allerdings das Verfahren Bonhoeffers bei aller zuzugestehenden Genialität des gedanklichen Zugriffs auf die zugrunde liegenden Denkformen Kants, Hegels, Heideggers, Przywaras etc. nicht einer gewissen Gewaltsamkeit entbehrt. Bonhoeffers Umgehen mit den Traditionen ist letztlich zweckgerichtet und erhebt nicht den Anspruch exegetischer Genauigkeit im Detail. Für die Ethik gilt nichts anderes, wobei die früher explizit geführten Diskurse nun eine zumeist implizite, aber dabei die theologische Konzeption wesentlich bestimmende Dimension darstellen. Um die Konzeption der Ethik erfassen zu können, ist daher die Erhellung des philosophischen Hintergrundes unerlässlich. Dabei werden freilich auch die grundlegenden theologischen Einflüsse auf Bonhoeffers ethisch-theologisches Denken deutlich werden; sie bilden aber nicht den Schwerpunkt der Analysen. Denn einerseits sind diese Einflüsse weit weniger schwer zu identifizieren, soweit sie nicht schon längst für die einzelnen Aspekte, an denen sie zutage treten, bekannt sind oder von Bonhoeffer selbst genannt werden18. Sie sind aber auch deshalb nicht von der gleichen zentralen Bedeutung für die hier unternommene Arbeit, weil Bonhoeffers Theologie selbst in einem sehr erheblichen Maße unmittelbar von der Rezeption bestimmter philosophischer Systeme gekennzeichnet ist. Selbst die unzweifelhafte systematisch-theologische Nähe Bonhoeffers zu Karl Barth seiner Existenz erhebt; eben damit dient sie aber auch der Predigt, weil nur auf dem Fundament der theologischen Reflexion die darin erkannten Glaubenswahrheit in die sprachliche Form der Verkündigung gebracht werden kann. Vgl. zu Bonhoeffers Theologiebegriff Feil, Theologie, 47 ff. 18 Insbesondere Luther wird etwa von Bonhoeffer mehrfach als Referenz genannt, wenn auch in der Regel unbestimmt, also ohne exakten Verweis (vgl. E 45.102 f.114 f.140 ff. u. ö.).

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ist darum zuletzt nicht von der Rezeption philosophischer Denker zu isolieren19. Der maßgebliche theologische Bezug der Ethik ist aber auch gar nicht Karl Barth, sondern Martin Luther, um dessen Verständnis sich Barth selbst ja intensiv bemüht hat und als dessen wichtigen zeitgenössischen Interpreten Bonhoeffer Barth offenbar aufgefasst hat20. Gleichwohl bietet die Ethik alles andere als eine textgetreue Luther-Exegese, sondern ist am ehesten als eine sehr eigenständige, mit den Mitteln philosophischer Denkformen konzipierte Luther-Auslegung unter den Bedingungen der Moderne zu verstehen. Die entsprechenden Verweise auf eine sachliche oder intendierte Nähe zu Luther im Verlaufe der Arbeit werden dies zeigen, ohne dass damit allerdings das Verhältnis von Bonhoeffer zu Luther zur zentralen Fragestellung der Arbeit wird, weil es für die Erhellung der wesentlich aus philosophischer Rezeption und Kritik entstandenen Konzeption zu wenig austragen würde. Die besondere Schwierigkeit, die sich hier stellt, besteht nun aber in der schon angesprochenen Unausgewiesenheit fast aller Referenzen. Zwar legen sich manche Vermutungen über im Hintergrund stehende Auseinandersetzungen auch schon bei oberflächlicher Lektüre nahe; der genaue Sinn dessen muss häufig aber erst erschlossen werden durch den unmittelbaren Vergleich des Ethik-Textes mit den vermuteten Referenzen. Aus diesem Grund erschien es nicht nur hilfreich, sondern geboten, die wesentlichen Elemente derjenigen philosophischen – und wenn es erforderlich schien auch der theologischen – Systeme oder Gedanken, die Bonhoeffers Ethik-Konzeption entscheidend beeinflusst haben, ihrerseits kurz zu skizzieren, wobei die strenge Bezugnahme auf Bonhoeffers Rezeption leitend war, um den Leser nicht zu sehr von der hier gestellten Aufgabe weg zu führen. Das eigene Erkenntnisinteresse der Verfasserin besteht folglich nicht darin, einen Kommentar zu Bonhoeffers Ethik oder ausgewählten Teilen derselben zu liefern, auch wenn sich nebenbei dann und wann die Gelegenheit zur Kommentierung eines Gedankens oder Aspektes ergeben hat; Ziel dieser Arbeit ist es vielmehr, durch die Erarbeitung des philosophischen Hintergrunds zu einem tieferen Verständnis des ethischen Ansatzes Bonhoeffers 19 Es lässt sich daher im Einzelfall nicht unbedingt klären, ob ein bestimmter Gedanke, der erst bei Barth und dann bei Bonhoeffer auftaucht, tatsächlich auf die Rezeption Barths durch Bonhoeffer zurückzuführen ist oder nicht vielleicht auch auf eine beiden gemeinsame Rezeption eines Philosophen oder einer philosophischen Richtung, also beispielsweise Kierkegaard oder einen Vertreter des Dialogischen Personalismus (s. zu Bonhoeffers eigenständiger Beschäftigung mit Kierkegaard und Grisebach u. A.II.5.d und B.II.3.a). An einigen Stellen liegt die Annahme nahe, dass Bonhoeffer durch eigenständige philosophische Rezeption wegen des beiden, Barth wie Bonhoeffer, gemeinsamen fundamentaltheologischen Ansatzpunktes bei der Offenbarung und der kritischen Abgrenzung vom Idealismus und der Liberalen Theologie zu den gleichen Folgerungen gekommen ist (s. z. B. u. C.III.4.b). 20 Vgl. DBW 11, 197 f. S. auch Krötke, Bonhoeffer, 57 f.

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vorzudringen. Dabei wurde nicht der Versuch gemacht, die Konzeption der Ethik im Ganzen und mit allen ihren zugehörigen Aspekten zu erfassen. Ein solches Unterfangen wäre nicht nur wegen des fragmentarischen Zustandes der Ethik von erheblichen Schwierigkeiten begleitet; es wäre in einer einzelnen, monographisch angelegten Arbeit auch einfach nicht zu leisten. Das Interesse liegt dagegen auf dem eigentlichen ethischen Feld, d. h. auf der Frage, wie der ethisch-theologische Ansatz Bonhoeffers beschaffen ist und wie seine einzelnen Elemente konstruiert sind. Präzise formuliert heißt dies: Bonhoeffers ethische Erkenntnistheorie (Teil A: Die Erkenntnis des Guten), der Handlungsvollzug und seine Begründung (Teil B: Grund und Vollzug des Guten) sowie der kategoriale Stellenwert inhaltlicher Erwägungen für den ethischen Erkenntnis- und Handlungsbegriff (Teil C: Die Formen des Guten) unter Beachtung ihres philosophischen Hintergrunds werden anhand einer gründlichen Analyse der entsprechenden Teile der Ethik herausgearbeitet. Zu diesem Zweck wurden bestimmte Kapitel der Ethik einer umfassenden Interpretation unterzogen und durch thematisch zugespitzte Interpretationen einiger anderer Kapitel ergänzt. Dieser auswählende Zugriff ist in der Sache selbst begründet. Denn Bonhoeffers Ethik zeichnet sich, wie auch schon die Nachfolge, dadurch aus, dass sie – unabhängig von ihrer Fragmentarizität – unterschiedliche Perspektiven auf die Sache bietet, die zusammen eine konzeptionell geschlossene ethische Theologie ergeben resp. ergeben sollten. „Bonhoeffers Bücher sind nicht nach einem festgelegten unabänderlichen Plan von Kapitel zu Kapitel fortgeschritten, sondern aus vielen Einzelbearbeitungen der Sache allmählich zu einem Ganzen zusammengewachsen.“21

Daraus folgt zweierlei: Zum einen ergibt sich daraus die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Beschränkung der Analyse- und Interpretationsarbeit auf bestimmte Kapitel der Ethik, in denen die zu untersuchenden Sachverhalte, die „Einzelbearbeitungen“, den zentralen Gegenstand bilden. Dies sind für die Frage nach der Erkenntnis des Guten das Kapitel „Die Liebe Gottes und der Zerfall der Welt“, für die Frage nach Grund und Vollzug des Guten das Kapitel „Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]“ und für die Frage nach den Formen des Guten die Kapitel „Das Ethische und das Christliche als Thema“, „Das konkrete Gebot und die göttlichen Mandate“, „Das natürliche Leben“ und bestimmte Passagen aus „Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]“ und aus „Über die Möglichkeit des Wortes der Kirche an die Welt“. Für 21 Vgl. E 10. Diese Formulierung Bethges stammt aus der ersten Auflage der Ethik von 1948. Die inzwischen überholte Hypothese eines mehrfachen Neuansatzes Bonhoeffers bei der Konzipierung der Ethik (aaO. 11 f.) erscheint auch schon von dieser durch Bethge bezeugten Arbeitsweise Bonhoeffers her, sehr zweifelhaft. Freilich setzt solch ein Arbeiten eine gewaltige innere Konzentration und eine außergewöhnliche Fähigkeit zur Systematisierung voraus; dass Bonhoeffer beides besessen hat, soll auch anhand der vorliegenden Arbeit gezeigt werden.

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den dritten Teil wurden die genannten, teils fragmentarischen Kapitel nicht alle insgesamt bearbeitet, sondern teilweise im Hinblick auf die Fragestellung untersucht; die in ihnen enthaltenen darüber hinaus reichenden Erörterungen Bonhoeffers sind daher hier nicht behandelt worden22. Zum anderen war es aber stellenweise erforderlich und wegen der intendierten Geschlossenheit der Konzeption23 auch möglich, Grundgedanken aus anderen Kapitel einzuholen, soweit sie der Explikation bestimmter Sachverhalte dienen oder systematische Voraussetzungen enthalten, die für das Verständnis notwendig sind24. Am Ende der analytischen und interpretatorischen Arbeit hat sich diese Auffassung, dass Bonhoeffers Ethik eine der Intention nach geschlossene Konzeption zugrunde liegt, bestätigt: Erkenntnis des Guten, Grund und Vollzug des Guten und die Formen des Guten verweisen sachlich aufeinander, so dass die ethische Tat in der theologisch-ethischen Reflexion nur aus dem Zusammenhang aller drei Elemente der Ethik heraus verständlich ist. Ihren letzten, diese strukturellen Wesenselemente des ethischen Ansatzes zu einem Ganzen verbindenden Grund aber haben sie in der offenbarten, Welt und Mensch umgestaltenden Christuswirklichkeit als der Repräsentation des ‚Guten‘. Das Thema der christlichen Ethik lautet daher mit einer prägnanten Formulierung Bonhoeffers: „[D]as Wirklichwerden der Offenbarungswirklichkeit Gottes in Christus unter seinen Geschöpfen“25, oder kürzer: Die Wirklichkeit des Guten.

22 Dies betrifft vor allem die inhaltlichen Konkretionen, die für die Mandate und die natürlichen Rechte teilweise vorliegen. S. dazu u. C.I. 23 Vollständig erreichen konnte Bonhoeffer diese Geschlossenheit aufgrund seiner Verhaftung nicht mehr. Sie ist aber zweifellos beabsichtigt gewesen, wie die Äußerung Bonhoeffers an Bethge zeigt (WE  188, meine Hervorhebung): „Außerdem waren meine Gedanken ja auch noch unfertig.“ 24 So war es insbesondere erforderlich, auf das Kapitel „Die letzten und die vorletzten Dinge“ zurückzugreifen, vgl. B.II.4.c und C.III.4.b. 25 E 34.

A. Die Erkenntnis des Guten Wir wissen nicht, was wir tun sollen, sondern unsere Augen sehen nach dir.1

I. Einführung Eine Ethik als Reflexionstheorie der Moral muss zuerst, bevor der ethische Handlungsvollzug und die konkreten Inhalte der kritisch zu reflektierenden Moral zum eigenständigen Thema werden können, die Frage nach Ursprung und Gestalt der moralischen Erkenntnis stellen. Vor der Frage: Was soll ich tun? stellt sich die Frage: Woher kann ich wissen, was ich tun soll? Bonhoeffers Ethik, soweit ihre intendierte Systematik erkennbar ist, bildet da zunächst keine Ausnahme: Am Beginn der Ethik sollte die epistemologische Grundlegung stehen. Als umfangreiche Einleitung des Ganzen geplant, kann die systematische Bedeutung dieser Fragestellung und ihrer Behandlung durch Bonhoeffer kaum überschätzt werden. Freilich ist die Auffassung, dass Bonhoeffer die systematische Anordnung der Ethik-Manuskripte tatsächlich so geplant hat, dass also das Kapitel, welches die Frage nach Ursprung und Gestalt der moralischen Erkenntnis stellt, als Einleitung geplant war und damit am Beginn der Ethik zu stehen kommen sollte: „Die Liebe Gottes und der Zerfall der Welt“2, eine nicht endgültig beweisbare Vermutung. Die chronologische Anordnung der Manuskripte in der Werkausgabe gibt darauf zunächst einmal keinen Hinweis. Bonhoeffer hat seine Arbeit an der Ethik mit diesem Kapitel nämlich nicht begonnen; er hat aber auch nicht, wie es oftmals üblich ist, die geplante Einleitung erst zuletzt verfasst – zumal die Ethik ja insgesamt unabgeschlossen geblieben ist. Vielmehr findet sich dieses grundlegende Kapitel mitten in der Reihe der Manuskripte, zwischen einem kaum weniger grundlegenden – „Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]“ – und vor einem Komplex von Manuskripten, die, zum Teil fragmentarisch, wieder neue Perspektiven enthalten und deren sachliches Verhältnis zu jenem erst erschlossen werden muss3. 1

II Chr 20,12, vgl. DBW 11, 89.416.423. E 301–341. 3 Dazu s. v. a. Teil C. 2

I. Einführung

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Gleichwohl kann es als zumindest nahezu sicher gelten, dass es sich bei „Die Liebe Gottes und der Zerfall der Welt“, verfasst von Sommer bis Ende 1942 (Zeitraum IV), um dasjenige Kapitel handelt, das einmal die Einleitung des gesamten Buches werden sollte. Dafür spricht zunächst ein gewichtiges äußeres Kriterium: abweichend von allen übrigen Manuskripten weist es eine Nummerierung mit römischen Zahlen, beginnend bei I, aus4. Dies ist ein deutlicher Hinweis auf seine geplante Stellung vor dem vermutlichen ersten Kapitel, welches sehr wahrscheinlich auch das als erstes verfasste, „Christus, die Wirklichkeit und das Gute“, ist5. Auffallend ist aber auch der mit der grundsätzlichen Reflexion von Ursprung und Gestalt moralischer Erkenntnis verbundene Rückgriff auf den biblischen Sündenfallmythos gleich zu Beginn des Textes. Dies legt schon für sich genommen die Vermutung nahe, dass Bonhoeffer hier das Fundament für die eigentliche Ethik, die Ausführungen zum geschichtlichen Ort, zu Art und Inhalt der göttlichen Gebote etc., legen wollte. In diese Richtung weisen auch die vielfachen neutestamentlichen Belegstellen; kein anderes Manuskript enthält derart viele biblische Referenzen. Die biblische Verankerung der fundamentalen Überlegungen am Beginn der gesamten Ethik aber verleiht dem reformatorischen sola scriptura einen besonderen Ausdruck: Alles übrige stellt sich nun als Entfaltung der zuvor gelegten biblischen Grundlage dar. Weiter fällt auf, dass in diesem Manuskript die meisten inhaltlichen Verbindungslinien zu Bonhoeffers früheren theologischen Schriften, namentlich Akt und Sein, Schöpfung und Fall sowie der Nachfolge enthalten sind. Bonhoeffer greift  –  ohne ausdrückliche Verweise  –  in einem hohen Maße auf von ihm früher entwickelte Gedanken zurück, deren systematische Bedeutung kaum zu unterschätzen ist, betreffen sie doch die Fragen nach Sünde, Glauben und Heiligung. Dies ist ein starkes Indiz dafür, dass Bonhoeffer hier die theoretische Grundlage für die Ethik insgesamt schaffen wollte; zugleich erhält diese nun einen besonderen Stellenwert für seine systematische Theologie im Ganzen, die ja auch schon als „ethische Theologie“6 bezeichnet worden ist. Freilich vollzieht sich Bonhoeffers erkenntnistheoretische Grundlegung in einer fundamentalen sachlichen Differenz zu anderen Ethiken: das erste Merkmal der von ihm entworfenen christlichen Ethik ist nämlich, dass sie die Kritik der Ethik als Theorie der Erkenntnis von Gut und Böse darstellt (1.), dass sie also die epistemologische Ausgangsfrage der Ethik: Woher kann ich wissen, was ich tun soll? mit einem Wissens- bzw. Erkenntnisbegriff 4

Vgl. hierzu die Herausgeber-Anmerkung E 3011. E 222: „[…] denn die ursprünglichste Wirklichkeit – damit greifen wir auf im 1. Kapitel Gesagtes zurück – ist die Wirklichkeit des menschgewordenen Gottes.“ In „Christus, die Wirklichkeit und das Gute“ wird von Bonhoeffer der Wirklichkeitsbegriff christologisch gedeutet. Das Kapitel wurde von Sommer 1940 bis 13. November 1940 verfasst. 6 Feil, Theologie, 111 (s. dazu die Einleitung). 5

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A. Die Erkenntnis des Guten

verbindet, dessen Spezifikum es ist, dass kein moralisches Urteil mehr gebildet werden kann. Dieser Abgrenzung bezieht sich aber schon auf einen bestimmten Begriff von Erkenntnis, nämlich denjenigen der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie, die sich über die Rezeption Hegels und Kants auch in der Theologie des 19. Jahrhunderts ausgewirkt hat und von Bonhoeffer als Ausdruck des Gefallenseins des Menschen betrachtet wird (4.). Bonhoeffer positioniert sich demgegenüber auf der Seite Nietzsches, des Kritikers der kantisch beeinflussten Gesinnungstheologie und -ethik (3.), und derjenigen des Hegel-Gegners Kierkegaard, dessen christliche Existenzphilosophie er mit Luther und Barth zusammenbringt, um einen Begriff existentieller Glaubenserkenntnis zu entwerfen; dessen Signum aber ist seine praktische Gestalt, d. h. die unmittelbar folgende ethische Tat (5.). Dass dieser Begriff einer praktischen Glaubenserkenntnis zugleich schriftgemäß, dass also die kritische Ethik zugleich biblische Ethik sei, macht die ausdrückliche Verankerung alles Folgenden in der systematischen Interpretation von Gen 3 deutlich (2.).

II. Erkenntnistheoretische Grundlegung: „Die Liebe Gottes und der Zerfall der Welt“ 1. Die Grunddifferenz: Ethik als Ethik-Kritik Zu Beginn dieses Kapitels stellt Bonhoeffer grundlegende Überlegungen zum Wesen, d. h. genauer zum Erkenntnisbegriff und der kategorialen Beurteilung moralischer Erkenntnis in der christlichen Ethik an. Es handelt sich daher beim Folgenden um fundamentalethische Reflexionen im strengen Sinn. Bonhoeffer ist sich dessen wohl bewusst, seine eigene Anmerkung zum ersten Satz des Kapitels, in dem die vermeintlich richtige Zielbestimmung aller ethischen Erkenntnisbemühungen: Das Wissen um Gut und Böse, genannt wird, zeigt seinen Ansatzpunkt vor aller Differenzierung ethischer Reflexion nach kantischen bzw. neukantianischen, wertphilosophischen, existenzphilosophischen oder anderen Begründungstypen: „Wenn die moderne Ethik die Begriffe Gut und Böse denen des Sittlichen und Unsittlichen, oder des Werthaften und Wertlosen oder – in der Existenzialphilosophie denen des eigentlichen und uneigentlichen Seins subsumiert, so bedeutet das für die hier in Betracht kommende Frage keinen Unterschied.“7

Der Anspruch, im Begründungsverfahren noch weiter zurück auf den „Ursprung aller ethischen Fragestellung“8 zu gehen, wirft bereits ein Licht auf die von Bonhoeffer im Verlaufe des Kapitels entfaltete Grundthese, dass das 7 8

E 3011). E 301.

II. Erkenntnistheoretische Grundlegung

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„ethische Urphänomen“9, die notwendige Wahl zwischen Gut und Böse10 als alternativen Handlungs- und Existenzweisen, als das fundamentale anthropologische Defizit zu verstehen ist. Insofern alle (philosophische) Ethik von diesem Defizit ausgehend entworfen wird, muss folglich die „christliche Ethik“ weniger denn als Ethik im geläufigen Sinn eher als „Kritik aller Ethik“11 bezeichnet werden. Der hier wie schon in der Nachfolge12 erfolgende Bezug auf Barth13 ist nicht nur eine sprachliche Reminiszenz: Mit Barth versteht Bonhoeffer sein Anliegen als radikal, die menschlichen Denksysteme grundsätzlich in Frage stellend. Die Barths Römerbrief entlehnte Bestimmung christlicher Ethik als Kritik aller Ethik steht für diese Radikalität des Bonhoefferschen Ansatzes, die hinter alle ethischen Systeme zurückfragt nach der ihnen gemeinsamen Wurzel, nämlich dem Gefallensein des Menschen. Dennoch unterscheiden sich Barth und Bonhoeffer gerade in der Weise der radikalen Infragestellung ethischer Systeme; der Barth des Römerbriefs betont bekanntlich vor allem die kategoriale Verschiedenheit von Gott und Mensch und von daher die Radikalität des göttlichen Gnadenhandelns: „Die ‚Erbarmungen Gottes‘ werden, ohne ihre Jenseitigkeit aufzugeben, zur letzten Bestimmung der ihr gegenüberstehenden Diesseitigkeit […]. Beziehung Gottes zum Menschen, Aufhebung der menschlichen Diesseitigkeit, radikaler Angriff auf alles Gegenüberstehende, Zweite, Andere ist ja […] der Sinn ihrer Jenseitigkeit, der Sinn der Freiheit Gottes […]. Es ist, wenn es zu Ethik kommen soll, nichts anderes möglich, als Kritik alles Ethos […]“14.

Bonhoeffer übt jedoch schon früh, seiner lutherischen Prägung folgend, Kritik am totaliter aliter der frühen Barthschen Theologie15; entsprechend findet die antithetische Dialektik des Römerbriefs hier trotz der Anspielung auf die zitierte Passage keine Verwendung. In der Durchführung der christlichen Ethik als Kritik aller Ethik zeigt sich daher Bonhoeffers Eigenständigkeit; anders als bei Barth wird der Ansatz beim „ethische[n] Konflikt als [dem] ethische[n] Urphänomen“16 zum systematischen Ausgangspunkt aller weiteren Überlegungen gemacht, wobei Bonhoeffer auf schon sehr früh gewon9

N 61. Ich folge hier Bonhoeffers Terminologie, wonach Gut und Böse als Oberbegriffe von ethischer Reflexion unterliegenden Handlungsalternativen verwendet werden. 11 E 301. 12 N 93. 13 R II, 413 f. 14 Ebd. 15 In seiner Habilitationsschrift Akt und Sein, s. dort bes. 75–81.86–90.94–96. Vgl. Beintker, Kontingenz, passim. 16 N  61, vgl. den zustimmend von Bonhoeffer zitierten Satz von E. Spranger (bei Nohl, Grunderfahrungen, 157) E 310 f.: „‚Die Entscheidungsstelle des spezifisch ethischen Erlebnisses ist immer der Konflikt‘.“ 10

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A. Die Erkenntnis des Guten

nene theologische Einsichten zum Wesen der Sünde zurückgreift und sie dem Sein des versöhnten Menschen kontrastiert. Wir haben es darum zunächst mit der theologischen Anthropologie Bonhoeffers zu tun, die – darin folgt er wieder (dem späteren) Barth – von einer christologisch konzentrierten Offenbarungstheologie und als solche zudem von der geschehenen Versöhnung aus konstruiert wird17. In der conditio sine qua non autonomer Sittlichkeit resp. des Personwerdens resp. des Sichentwerfens zum eigentlichen Dasein, d. h. in der Fähigkeit zu einem sittlichen Urteil, besteht, so lautet die Kritik aller (philosophischen) Ethik durch die theologische Ethik, das Wesen des Sündenfalls: „Die christliche Ethik erkennt schon in der Möglichkeit des Wissens um Gut und Böse den Abfall vom Ursprung“18. Die christliche Ethik, die Bonhoeffer hier in der Auseinandersetzung besonders mit der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie zu begründen versucht, ist demgegenüber als das neue Sein des versöhnten Menschen zu verstehen, der eines ethischen Wissens um Gut und Böse weder fähig noch bedürftig ist, sondern sein Handeln aus seiner Gottesbeziehung unmittelbar empfängt. An die Stelle des ethisch-erkenntnistheoretischen Konflikts, die Entzweiung in Gut und Böse, tritt darum die „Einfalt“ des versöhnten Menschen, für die kennzeichnend ist, dass das Gute nun nicht mehr über seinen Gegenbegriff, das Böse, definiert wird, sondern eine Existenz-Bestimmung darstellt, die keine reflexive Distanz mehr zulässt. Kennzeichnend ist daher auch die – aus der Perspektive der Subjektivitätsphilosophie so zu bezeichnende – konstitutive Unwissenheit um das eigene Gute im gehorsamen Tun19; das Tun vollzieht sich nun in einem neuen Wissen und von einem neuen Ursprung her; sein Inbegriff aber ist die Liebe Gottes.

2. Biblische Grundlegung a) Der Sündenfall Bezugspunkt für Bonhoeffers theologische Anthropologie und Sündenlehre ist die biblische Erzählung vom Fall Gen 3,1–24. Gen 3,5 und 3,22 beschreiben 17 Erst in der Ethik vertritt Bonhoeffer ganz dezidiert einen offenbarungstheologischen Ansatz bei der Versöhnung. In der Nachfolge, verfasst im Habitus einer monastischen Distanziertheit von der Welt, ist trotz gelegentlicher Tendenzen zu einer von der Versöhnung ausgehenden Christologie doch eine deutliche Dominanz der theologia crucis zu beobachten. Wenn es auch sicherlich überzeichnet ist, die Periode der Nachfolge – die Zeit Bonhoeffers als Direktor der Predigerseminare Finkenwalde – als „Intermezzo“ zu charakterisieren, wie es die Familie Bonhoeffer nach Auskunft von Eberhard Bethge getan hat, so ist doch mit Feil davon auszugehen, dass es sich um eine Entwicklungsphase von Bonhoeffers Theologie handelt, die in der Zeit der Ethik von einer neuen Weltzugewandtheit und – dementsprechend – einer viel stärkeren Betonung der geschehenen Versöhnung (wie auch der Inkarnation) abgelöst wird. 18 E 301. 19 E 320 u. ö.

II. Erkenntnistheoretische Grundlegung

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als Folge der Übertretung des göttlichen Verbots das Sein wie Gott, in der von Bonhoeffer oft verwendeten lateinischen Übersetzung das esse sicut Deus20, aufgrund21 des mit dem Essen der verbotenen Frucht erworbenen Wissens um Gut und Böse. Der Sinn, den Bonhoeffer der biblischen Erzählung vom Fall und insbesondere den Versen 5 und 22 gibt, ist allerdings von religionsgeschichtlichen und philologischen Erkenntnissen nahezu unbeeinflusst. Bonhoeffers Interpretation ist ganz überwiegend geprägt von systematisch-theologischen und philosophischen Gedanken; in Schöpfung und Fall22, dessen Sündenfallauslegung in dem hier untersuchten vermutlichen Einleitungskapitel erkennbar im Hintergrund steht, erhebt er ausdrücklich den Anspruch, eine „[t]heologische Auslegung“ zu bieten, die wohl auf philologische und historische Analysen zurückgreife, die daraus gewonnenen Erkenntnisse aber streng auf Christus und die Kirche beziehe23. Mit Bonhoeffers früherer Terminologie ist dieses Verfahren wohl als „pneumatische Schriftauslegung“24 zu bezeichnen, die zwar nicht im Gegensatz zur historischen Schriftauslegung (worin für Bonhoeffer alle Methoden der Textanalyse wie Philologie, Religionswissenschaft, Geschichtswissenschaft, Literaturwissenschaft etc. zusammengefasst sind) stehe, diese aber – so Bonhoeffers conclusio in seinem Referat über historische und pneumatische Schriftauslegung25 – nur begrenzt als Voraussetzung akzeptieren könne26. Die biblischen Erzählungen der Urgeschichte seien vielmehr uneigentlich, als Bilderrede aufzufassen, deren Sachgehalt jedoch nicht abstrahiert, sondern lediglich in andere, zeitgemäße Begriffe übersetzt werden könne, deren Wahrheitsgehalt wiederum in gleicher 20 Der Text der Vulgata hat allerdings V.5 eritis sicut dii scientes bonum et malum und folgt so dem hebräischen Text und der Übersetzung der Septuaginta, die ebenfalls den Plural bieten ƛď´úĆ Ċāò¢ĉýÚð; ƚĜ ĒďęƯ čēėƶĝĔęėĞďĜ). Es ist bezeichnend, dass Bonhoeffer, obwohl er den hebräischen Text aufgrund seiner Vorlesung über Gen 1–3 (Schöpfung und Fall) mit Sicherheit genau kannte, möglicherweise sogar auch den lateinischen, für diese Stelle ohne weiteres Luther folgt, der abweichend von Numerus und Syntax übersetzt: „[ihr] werdet sein wie Gott, und wissen“ etc. 21 Der hebräische Text, mit dem sich Bonhoeffer für seine Vorlesung Schöpfung und Fall beschäftigt hat, macht diese logische Verbindung durch die Partizipial- (V.5) bzw. Infinitivkonstruktion (V.22) deutlich. Exegetische Erwägungen insbesondere zur umstrittenen Bedeutung der Wendung ďûĕûĂþìąď¯ĆŽ können und müssen hier nicht berücksichtigt werden, da auch Bonhoeffer von ihnen – mit Ausnahme des kurzen Hinweises auf H. Schmidt, SF 82, der aber in der Ethik nicht mehr auftaucht, – keinen Gebrauch macht. 22 SF 22 f. 23 Vgl. auch DB 261: „[…] er wollte den Text [sc. Gen 1–3] als Systematiker unter der Voraussetzung der Kirche abhören […]“. 24 Vgl. z. B. DBW 9, 314. 25 DBW 9, 305–323. 26 Dem Referat zufolge eigentlich nur, soweit mit diesen Methoden überhaupt die notwendige Textbasis samt allen dazugehörigen Verstehenshilfen äußerer Art – hier ist wohl u. a. an historische und religionsgeschichtliche Kenntnisse über den Alten Orient und das römische Palästina zu denken – geschaffen wird; vgl. DBW 9, 313.317 f.

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A. Die Erkenntnis des Guten

Weise von ihrem pneumatischen Verständnis abhänge27. Schöpfung und Fall präsentiert daher erwartungsgemäß begleitend einige religionsgeschichtliche und historische Erkenntnisse, die aber für die Interpretation in der Regel nicht von zentraler Bedeutung sind28. Stattdessen hat seine Auseinandersetzung mit neuzeitlicher und zeitgenössischer Philosophie zu einer Interpretation des Sündenfalls geführt, die zwar erkennbar lutherisch beeinflusst ist, ihre Substanz aber aus seiner kritischen Rezeption des Idealismus, der Existenzphilosophie sowie Nietzsches Christentumskritik und Übermenschenphilosophie bezieht. Anstelle möglicher religionsgeschichtlicher Erwägungen über mythische Konflikte zwischen Göttern und Menschen, aber auch abweichend von einer moralistisch verengten Deutung der Sündenfallsgeschichte, wie sie von manchen Exegeten geliefert wird29, setzt Bonhoeffer den religionsphilosophischen, auf Hegel zurückzuführenden30, Begriff der ‚Entzweiung‘ als Interpretament des Sündenbegriffs; zur Kennzeichnung des Urstands wird diesem Begriff der Gegenbegriff ‚Einheit‘ gegenübergestellt31. Als weiterer Schlüsselbegriff 27

SF 75–77. Zu Bonhoeffers Wahrheitsverständnis vgl. die Definition AS 73: „Wahrheit ist […] diejenige Bezogenheit auf Gott […], die für christliche Theologie erst mit dem Wort Gottes […] möglich [!] wird“. 28 Bezeichnend hierfür ist gleich der Beginn der Auslegung SF 25 ff.: Bonhoeffer geht mit keinem Wort auf die schwierigen philologischen und grammatischen Probleme von Gen 1,1a ein, die er aber sicherlich – auf dem Stand seiner Zeit – gekannt hat, noch weniger auf den möglichen religionsgeschichtlichen Hintergrund; vielmehr erfolgt sofort eine religionsphilosophische, sich deutlich von Hegel absetzende, Reflexion über das menschliche Denken, das am Unbedingten, der ŁěġƮ, notwendig scheitert und deshalb anfangslos bleiben muß. Vgl. weiter SF  35.45.47 ff.69 ff.76.78 etc. Zu Bonhoeffers biblischer Hermeneutik vgl. ausführlich Kuske, Das Alte Testament, 22–39 et passim; das aus exegetischer Sicht sehr problematische Verhältnis zwischen ‚pneumatischer‘ und ‚historischer‘ Auslegung wird dort allerdings nicht eingehend erörtert. 29 Vgl. dazu die Zusammenfassungen bei Westermann, Genesis I, 330–333. 30 Es ist aus verschiedenen Gründen davon auszugehen, dass Bonhoeffer sich hier auch begrifflich von Hegel absetzen möchte. Dass diesem begriffslogischen Ausdruck eine lange philosophische Vorgeschichte zugrunde liegt, die mindestens bis zur platonischen ĎēċưěďĝēĜ reicht und darüber hinaus heraklitische Wurzeln hat, ist an dieser Stelle nur der Vollständigkeit halber anzumerken. Für die Auseinandersetzung mit Bonhoeffer ist die platonische Dialektik, obwohl sie auf den von Bonhoeffer studierten Hegel eingewirkt hat, noch weniger als ihre vorsokratischen Ursprünge von Bedeutung, da Bonhoeffer einerseits kein Interesse an dieser philosophischen Disziplin hat und andererseits sich mit klassisch-antiker Philosophie offenbar so gut wie nicht beschäftigt hat. Überhaupt scheint sich seine philosophische Kenntnis weitestgehend auf die neuzeitlicher Systeme zu beschränken, ist hier jedoch sehr ausgeprägt und breit angelegt, reicht sie doch von Kant, Hegel, Kierkegaard, Nietzsche, der Phänomenologie Husserls und Schelers, Heidegger und der Dialogphilosophie eines Grisebach bis hin zum Neuthomismus eines Przywara und eines Josef Pieper, um nur die herausragendsten Vertreter und Richtungen zu nennen. Vgl. dazu auch das im Exkurs I (Teil D) zu Bonhoeffers Verhältnis zur vorneuzeitlichen Kirchen- und Theologiegeschichte Angemerkte. Zu Bonhoeffers Auseinandersetzung mit Hegel vgl. ausführlicher A.II.4. 31 Vgl. dazu bereits die ersten beiden Abschnitte auf der zweiten Seite E 302.

II. Erkenntnistheoretische Grundlegung

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taucht mit diesen genannten verbunden der Begriff des entzweiten ‚Wissens‘ bzw. ‚einfältigen Wissens‘ oder ‚Nichtwissens‘ auf, wiederum in der Gegenüberstellung von Fall oder Sünde und Urstand. Dass mit dem Wissen um Gut und Böse32 gerade nicht ein bestimmtes Wissen gemeint ist, sondern vielmehr die Bedingung der Möglichkeit solchen Wissens, hatte Bonhoeffer bereits in Schöpfung und Fall expliziert, wenn er dort in der Auslegung des Verbots, vom Baum der Erkenntnis zu essen, konstatiert: „Leben, Erkenntnis, Tod, von diesen drei Dingen ist hier im Zusammenhang geredet […]“33. Entzweiung mit dem Ursprung, mit Gott, wird von Bonhoeffer darum prägnant und spezifisch verstanden als die Zerstörung der innigen Gottesbeziehung des Menschen durch die „Umkehrung seines bisherigen Wissens“34, das eigentlich ein Nichtwissen war35, in das reflexive Denkvermögen des Menschen. Das eigene Bewusstsein des Menschen von seinem Potential, gut oder böse zu sein, ist dann bereits das, was die Sünde ausmacht; denn indem sich der Mensch denkend auf sich selbst wendet und seine Seins- und Handlungsmöglichkeiten einer ethischen Reflexion unterzieht, generiert er diese Möglichkeiten überhaupt erst: „Im Wissen um Gut und Böse versteht der Mensch sich […] in seinen eigenen Möglichkeiten, nämlich gut oder böse zu sein […] Sich nach seinen Möglichkeiten verstehend […] begreift sich der Mensch als Ursprung von Gut und Böse. Eritis sicut deus.“36

Wenn Bonhoeffer also das reflexiv erworbene Wissen um Gut und Böse, d. h. kantisch gesprochen die praktische Vernunft, der die für das menschliche Leben fundamentale ethische Reflexion entspringt, der Gottbezogenheit des Menschen im Urstand diastatisch entgegensetzt, wird damit die paulinisch-lutherische theologische Anthropologie in eigenständiger Weise unter Bedingungen der aufklärerisch-nachaufklärerischen Philosophie reformuliert: der Selbstruhm des Menschen, die paulinische ĔċƴġđĝēĜ, wird auf ihren anthropologischen Grund, nämlich das praktische Erkenntnisvermögen des nur scheinbar vernunftkritischen, in Wahrheit sich selbst und seine Vernunft absolut setzenden Menschen zurückgeführt. Denn aus diesem Erkenntnisvermögen bezieht der gefallene Mensch seinen Anspruch, sich selbst in seinen Seinsmöglichkeiten bestimmen und sittlich beurteilen zu können; der Mensch wird nun sein eigener Schöpfer und Richter37, sicut Deus statt Gottes Ebenbild. 32 E 301 ff. Dieser Ausdruck wird wegen seines häufigen Vorkommens und wegen seiner Herkunft aus Gen 3,5.22 nicht als Zitat gekennzeichnet. 33 SF 77 f. 34 E 303. 35 Vgl. E 318 ff. 36 E 302. 37 Vgl. E 302: „[…] der Gott gleich [!] Gewordene [sc. der gefallene Mensch] [hat sich] an seinem Ursprung vergriffen und sich zu seinem Schöpfer [!] und Richter gemacht.“

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b) Die Erwählung Der Sünder ist also der Mensch, der nicht mehr unmittelbar gottbezogen, sondern autonom lebt, der selbstständig handelnd und urteilend eine Eigenständigkeit gegenüber seinem Schöpfer gewonnen hat, die traditionell emphatisch als die besondere Würde und Freiheit des Menschen gedeutet wird. Dass darin aber umgekehrt gerade das Widergöttliche, die Entzweiung mit dem Schöpfer als der alles bestimmenden Wirklichkeit besteht, ist für Bonhoeffer unzweifelhaft: der gottebenbildliche Mensch zeichnet sich im Gegensatz zu dem gottgleichen, dem sicut-deus-Menschen, durch seine alleinige Bezogenheit auf Gott aus; anstelle der Reflexion auf die eigenen (sittlichen) Möglichkeiten existiert der urständliche Mensch allein in der Wirklichkeit der Gottesbeziehung, in dem Erwähltsein durch Gott. Prädestination des Menschen zum Heil und die Existenz des gefallenen Menschen erscheinen damit als Gegensätze und gerade nicht als einander ergänzende Bestimmungen: Die Erwählung des Menschen zum Leben in der Einheit mit Gott ist Kennzeichen des geschöpflichen Wesens des Menschen38, das mit dem Fall verloren gegangen ist39; demgegenüber ist der gefallene Mensch derjenige, der gegen seine ursprüngliche Erwählung und geschöpfliche Existenz streitet und sein Leben als gefallener Mensch nun in der Entzweiung vollzieht. Bonhoeffer scheint hier beeinflusst von Barths in zweiten Teil des zweiten Bands der Kirchlichen Dogmatik ausgeführter Erwählungslehre zu sein; diesen Band hat er von Karl Barth bereits vor seinem Erscheinen 1942 auf der dritten Reise in die Schweiz im Auftrag der militärischen Abwehr als Druckfahnen erhalten40. Obwohl er sich zu der Frage nach der Prädestination 38 Vgl. dazu auch die Bemerkungen Bultmanns in seinem Johanneskommentar zum Prolog, auf den sich Bonhoeffer unter Benutzung dieses Kommentars in „Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]“ bezieht (s. u. B.II.2.b): „Daß die ĐģƮdasĠȥĜ war, darf also nicht dahin interpretiert werden, daß sich in der Welt seit je ‚geistige‘ Lebensäußerungen vorfinden wie Sittlichkeit und Kultur, als etwas, was göttliches Leben dokumentiere […]. Vielmehr ist der Gedanke der gleiche wie Röm 118–21: die Welt ist als Schöpfung ursprünglich verständlich und damit auch der Anspruch Gottes auf den Menschen als sein Geschöpf, das ihm Ehre zu geben hat.“ (aaO. 253). Bultmann steht als anfänglicher Mitstreiter der Dialektischen Theologie in der gleichen Frontstellung gegen die Liberale Theologie wie Bonhoeffer. Da Bonhoeffer den Johanneskommentar bereits unmittelbar vor der Arbeit am Einleitungskapitel verwendet hat, dürfte Bultmanns Johannes-Auslegung ihm eine willkommene Bestätigung seiner Position am biblischen Text gewesen sein – mehr aber auch nicht, da die meisten Grundgedanken längst vor dem Erscheinen des Kommentars im Jahr 1941 in früheren theologischen Arbeiten Bonhoeffers ausgebildet sind. 39 Verloren bedeutet allerdings nicht ausgelöscht, sondern eher soviel wie „unvollziehbar“. Der Mensch bleibt Gottes Geschöpf auch als Gefallener, er existiert aber als „Gegengott“, nicht als Gottes Geschöpf. Vgl. SF 108. 40 S. DBW 16, 266 f. Allerdings schreibt Bonhoeffer in diesem Brief an Barth, dass er „wenigstens den 2. Teil“ durcharbeiten wolle, also das mit „Gottes Gebot“ überschriebene achte Kapitel. Die Erwählungslehre ist jedoch im siebenten Kapitel unter der Überschrift „Gottes Gnadenwahl“, also in der ersten Hälfte von KD  II/2 (§§ 32–35,  S. 1–563), aus-

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hier nur sehr verkürzt und andeutend äußert, kann über die terminologische Anlehnung an Barth hinaus auch eine sachliche Nähe zu diesem festgestellt werden: Auch Bonhoeffer verwendet den Ausdruck „Erwählung“ synonym mit „Prädestination“41 und versteht ihn zugleich als universale und ewige Bestimmung, wenn er in dem Kontext der Auslegung von Gen 3 zweimal den Ausdruck „ewige[ ] Wahl und Erwählung“ setzt42. Es kann sich in Anbetracht der Tatsache, dass Barth in KD II/2 die konsequente Ersetzung von praedestinatio durch (die als christologisch konzentriert verstandene) „Erwählung“ resp. „Gnadenwahl“ resp. „ewige Wahl“43 vornimmt und Bonhoeffer diesen Band direkt vor Beginn seiner Arbeit an diesem Manuskript ab Sommer 1942, nämlich im Mai 194244, erhalten und sicherlich wenigstens ansatzweise gelesen hat, nur um eine beabsichtigte Anlehnung an Barths Neuformulierung der traditionellen Prädestinationslehre handeln. Abweichend von Luther45 folgt Bonhoeffer hier also Barth46 in dem indirekten Abweis der traditionellen geführt. Aber auch wenn er zu einer eingehenden Lektüre des ersten Teils (und vielleicht auch des zweiten) nicht gekommen sein sollte, so ist doch anzunehmen, dass er die Grundzüge des dort von Barth Dargelegten erfasst hat – wie er ja überhaupt vorwiegend an den Grundentscheidungen theologischer und philosophischer Autoren, weniger aber an den sich daraus ergebenden Details interessiert war. 41 S. z. B. E 303: „[…] das Geheimnis der Prädestination […] das Geheimnis einer ewigen Wahl und Erwählung […]“. Zu der Begriffsgeschichte von praedestinatio und dem Verhältnis dieses Begriffs zu electio „Erwählung“ vermisst man in den einschlägigen theologischen Lexika präzise Informationen. Vgl. aber HWP s. v. praedestinatio. 42 E 303. 43 KD II / 2, 123 et passim. 44 S. E 17 und den bereits erwähnten Brief an Barth vom 13. Mai 1942, DBW 16, 266 f. 45 Jedenfalls wenn man De servo arbitrio zugrunde legt. Zwar wird immer wieder betont, dass Luther seinen dort dargelegten Standpunkt bezüglich des Gottesbegriffs und der Annahme einer gemina praedestinatio nicht wiederholt habe; ebenso wenig aber hat er ihn später widerrufen. Zweifellos neigte Luther weniger als Zwingli und Calvin zu einer strengen Auffassung von der doppelten Prädestination, dennoch wird man ihn zumindest mit Augustin in eine Linie stellen müssen als jemanden, der contra liberum arbitrium pro gratia Dei streitet (WA 18, 661, vgl. auch WA 18, 754 f.), darum die göttliche Vorherbestimmung des Menschen zum Heil oder Unheil lehrt und den Titel „Freiheit“ allein für Gott reservierte (s. z. B. WA  18,  685). Vgl. für einen Überblick zunächst Beyschlag, Dogmengeschichte, 353–356; Kreck, Grundentscheidungen, 284–299 sowie WA 18, 615 f.634 f.675–678. 46 Damit befindet sich Bonhoeffer allerdings auch in der Nähe der im Konkordienbuch dargelegten Auffassung, wie CA XIX: De causa peccati und insbesondere FC XI: De aeterna praedestinatione et electione Dei zeigen: Im Unterschied zu Luthers De servo arbitrio wird die Sünde nicht auf die göttliche Allwirksamkeit zurückgeführt (dagegen WA 18, 677: Durissima vero illorum [sc. sententia], qui dicunt nomen inane esse liberum arbitrium, sed Deum tam bona quam mala in nobis operari […]; 756: Ideo ad extrema eundum est, ut totum negetur liberum arbitrium, et omnia ad Deum referantur […]); eine Vorherbestimmung zum Heil oder Unheil des einzelnen Menschen wird daher dort nicht vertreten, vielmehr die in Christus erfolgte Erwählung aller Menschen gelehrt und Heil oder Unheil auf das Verhalten des einzelnen Menschen zu seiner Berufung zurückgeführt. Vgl. zum Ganzen Wenz, Theologie, 712–733. Bonhoeffer hat sich mit den lutherischen Bekenntnisschriften nachweislich mehrfach intensiv auseinander gesetzt; zuerst offenbar im Zuge der Arbeit am „Be-

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Lehre von der doppelten Prädestination der Menschen entweder zum Heil oder zum Unheil, der Zweiseitigkeit von Erwählung und Verwerfung durch ein göttliches Dekret, sei es supra- oder infralapsarisch verstanden47. Das auch von Luther bereits nebenbei verwendete Argument, dass eine solche Lehre spekulativ sei und deshalb eigentlich nicht in die Theologie gehöre, wird von Bonhoeffer zwar in einem anderen Kontext zur Zeit der Ethik aufgegriffen, aber antivoluntaristisch gewendet48. Damit widerspricht Bonhoeffer unverkennbar der Tendenz von De servo arbitrio, einen unabhängig von seiner Offenbarung waltenden, Gutes und Böses gleichermaßen bewirkenden und die Menschen willkürlich vorherbestimmenden bzw. erwählenden und verwerfenden Deus absconditus zu postulieren. In dem Abschnitt von „Die Liebe Gottes und der Zerfall der Welt“ ist die Terminologie im Unterschied dazu kaum traditionell; offenbar unter dem Einfluss Barths sind die aus Schöpfung und Fall stammenden Gedanken – wo „Erwählung“ bzw. „Prädestination“ noch nicht eigens thematisiert wurden49 –, deutlich weiterentwickelt worden zu einer eigenständigen universalen Erwählungslehre. Was früher von Bonhoeffer zumeist als anstößig für den Glaubenden wie den Theologen markiert wurde, nämlich die klassische Frage nach einer doppelten Prädestination der Menschen durch Gott50, ist nun so gar kein Gegenstand theologischen Nachdenkens mehr. Vielmehr wird die Ambivalenz des Begriffs ‚Prädestination‘, die Zweiheit von Erwählung und Verwerfung, in den Gottesbegriff selbst hinein verlegt – ohne dass jedoch eine lutherische Differenzierung zwischen verborgenem und offenbartem Gott vorgenommen würde, da in Gott selbst, so Bonhoeffer, „keine Entzweiung“ ist51. Damit hängt unmittelbar zusammen, dass Bonhoeffer ‚Prädestination‘, wie bereits durch die Verwendung des Begriffs ‚Entzweiung‘ angezeigt, mit dem ambivalenten Wissen um Gut und Böse verbindet. Als Brücke dient ihm dafür der Begriff „Wahl“, der bereits von Barth synonym mit Erwählung theler Bekenntnis“ (1933, DBW 12, 362–407), dann wieder in Finkenwalde (1935 und 1936, DBW 14, 316–321.655–713) und schließlich während der Arbeit an der Ethik (1941–1943, DBW 16, 506–535.556 f.563–587.600–619). 47 Zum locus de praedestinatione et reprobatione in der protestantischen Orthodoxie vgl. exemplarisch Schmid, Dogmatik, 193–210. Für Barth ist das supralapsarische Verständnis der Prädestinations- bzw. Erwählungslehre zwingend, vgl. dazu KD II/2, 150–156. 48 Der Kontext ist das von Bonhoeffer im (Spät-)Sommer 1942, also exakt zur Zeit der Arbeit an diesem Manuskript, verfasste Theologische Gutachten zur Tauffrage DBW 16, 563– 587, hier: 585. Für Luthers soteriologisches Interesse an der Proklamation des servum arbitrium hominis vgl. WA 18, 783, sowie für seinen Umgang mit dem postulierten Deus absconditus vgl. DBW 14, 33280 und DBW 9, 480–482. 49 Für die einzig mögliche Ausnahme vgl. SF 4111, wo eine Mitschriftenvariante aufgeführt wird, die – als einzige – das Stichwort „Erwählung“ enthält. 50 Vgl. etwa DBW 10, 415: „unauflösliche Antinomie“; außerdem DBW 14, 331–333.655 f.; N 189 f. 51 E 303.

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verwendet werden konnte52. Die Wahl zwischen und folglich auch das darin implizierte Wissen um Gut und Böse erscheinen nun als das „Geheimnis der Prädestination“, das „Geheimnis einer ewigen Entzweiung“53. Diese bildet gewissermaßen die Kehrseite der ewigen göttlichen Erwählung, ohne dass aber das göttliche Wählen und das göttliche Wissen um die Alternativen seiner Wahl, um Gut und Böse, dem Menschen Gegenstand der Reflexion oder gar Beurteilung werden könnten. Erst recht bleibt dem Menschen verborgen, worin Grund und Möglichkeit für die Entzweiung von Gottes Wissen und Handeln in Gut und Böse, in Erwählung und Verwerfung bestehen, da doch Gottes Sein nicht in sich entzweit, er kein Gott mit doppeltem Antlitz ist. Bonhoeffer verbleibt hier mit Absicht nur im andeutenden Reden; mehr als zu konstatieren, dass es sich dabei um ein „Geheimnis“ handelt, ist auch dem Theologen nicht möglich54. Dennoch zeigen sich darin die Umrisse seines Gottesbegriffs. Denn die Charakterisierung des (göttlichen) Wissens um Gut und Böse und des damit verbundenen Wählens bzw. Erwählens als ‚Entzweiung‘ weisen darauf hin, dass hier ein nominalistisch55 beeinflusster Gottesbegriff zugrunde liegt: Die Entzweiung in Gut und Böse, so Bonhoeffer, hat ihren Ursprung in Gott, „dem ewig Einen“56. Das göttliche Wissen und Wählen selbst konstituiert nämlich durch seinen Vollzug erst die Alternativen Gut und Böse. Daraus folgt dann aber, dass ‚das Gute‘ hier nicht als absolute oder ideale Wesenheit, deren höchste unendliche Ausprägung Gott selbst ist, und dessen Gegenteil lediglich als Nicht-Sein des Guten, als privatio boni, zu beschreiben ist. Vielmehr ist das Gute gut, weil Gott es als solches setzt resp. weiß und wählt, wie umgekehrt das Böse böse ist, weil es von Gott verworfen wird. Zweifellos befindet sich Bonhoeffer damit in der Nähe des hoch- und spätscholastischen Nominalismus, wenn er auch gerade nicht als Vertreter eines extremen Voluntarismus mit dessen Begriff eines de potentia absoluta handeln52 Zumeist, aber nicht immer, präzisiert als „Gnadenwahl“ oder „ewige Wahl“ (KD II/ 2, 123 u. ö.). Daneben tauchen auch Verbformen und Partizipien auf, z. B. bezogen auf Jesus Christus, der „selbst Wählender“, „Subjekt jener Wahl“ sei, so dass Gottes Wahl als „sein [sc. Jesu] eigenes freies Wählen“ verstanden werden müsse (KD II/2, 112). 53 E 303. 54 S. dazu seine Bemerkung DBW 10, 415: „Luther hat es gewagt zu sagen, Gott wirke das Böse wie das Gute. Das ist aber eine letzte spekulative Erkenntnis, die selbst nicht wieder zur Deutung anderer Tatbestände benutzt werden darf. Daß Gott als Schöpfer das Böse haßt und daß doch in der Welt nichts geschehen kann, was er nicht will, ist eine unauflösliche Antinomie, die aber in dem Augenblick nicht mehr als Antinomie verstanden wird, wenn man meint, aus ihr Schlüsse für eine christliche Entwertung des Bösen ableiten zu können.“ 55 Hier ist der Begriff im strengen erkenntnistheoretischen Sinne verwendet, meint also die mit dem veränderten Gottesbegriff direkt zusammenhängende Bestreitung einer realistischen (ante rem esse) oder konzeptualistischen (in re esse) Auffassung der universalia. S. dazu exemplarisch Wöhler, Universalienstreit, passim. 56 E 303.

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den, beliebig immer neu erwählenden und verwerfenden Gottes anzusprechen ist57. Der implizierte Abweis ewiger idealer Wesenheiten, also auch einer Idee des Guten, sowie eines entsprechenden rationalistischen58 Gottesbegriffs steht aber offensichtlich auch bei Bonhoeffer im Hintergrund, so dass er sich vermutlich Duns Scotus angeschlossen hätte, wenn dieser gegen thomistische Konzeptionen einwendet, dass nullum enim aliud bonum, quia bonum, ideo amatum ab illa voluntate [sc. Dei], sed e conversio59. Doch auch unabhängig von der Frage, ob und inwieweit sich Bonhoeffer mit einzelnen Theologen des hohen und ausgehenden Mittelalters unmittelbar beschäftigt hat, ist die hier konstatierte sachliche Nähe im Gottesbegriff kein zufälliges Moment; es dürfte allerdings in erster Linie auf sein intensives Studium der lutherischen, in der Tradition der via moderna stehenden Theologie zurückzuführen sein. Eine eigenständige Auseinandersetzung Bonhoeffers mit der Spätscholastik, die über die Lektüre von Seebergs Dogmengeschichte (und vielleicht noch dessen Monographie über Duns Scotus60) hinausginge, ist nicht nachweisbar; er dürfte sich aber seiner theologiegeschichtlichen Herkunft und Ausprägung in dieser Frage bewusst gewesen sein61. Sicherlich hat er einschlägige Äußerungen Luthers gekannt, wie etwa diejenige aus De servo arbitrio: Deus est, cuius voluntatis nulla est caussa nec ratio, quae illi ceu regula et mensura praescribatur […] Si enim esset illa aliqua regula vel mensura aut caussa aut ratio, iam nec Dei voluntas esse posset. Non enim quia sic debet vel debuit velle, ideo rectum est, quod vult. Sed contra: Quia ipse sic vult, ideo debet rectum esse, quod fit62.

Hier wird besonders deutlich, welch gravierende Umwertung sich im ausgehenden Mittelalter vollzogen hat. Bonhoeffer macht diesen Grundgedanken, dass der göttliche Wille unmittelbar und voraussetzungslos mit dem Guten gleichzusetzen sei, zum Angelpunkt seiner theologischen Kritik aller Ethik und verbindet ihn auch deshalb mit dem Sündenbegriff und seiner Auslegung von Gen 363. 57 Vgl. dazu auch seine Kritik am Aktualismus des frühen Barth AS 75–81.86–90.94–96 von einem lutherischen Sakramentsverständnis und der damit verbundenen zentralen Bedeutung des locus der Inkarnation aus. Zur Lehre von der duplex potentia Dei vgl. die von Bonhoeffer studierte Dogmengeschichte seines Lehrers Reinhold Seeberg (Seeberg, Dogmengeschichte 3 [3. Auflage 1913], 577–579.604–610. S. außerdem u. B.II.3.c. 58 Rationalistisch, insofern traditionell die Idee des Guten mit der göttlichen Vernunft identifiziert wurde. Die platonische Ideenlehre, von der dieser Gottesbegriff ausgegangen ist, beruht ja auf der Intellektualität der von der Vernunft einzusehenden Ideen (vgl. etwa Platon, Pol.  508a–509b [Sonnengleichnis]). Einen solchen Gottesbegriff muss der Lutheraner Bonhoeffer strikt ablehnen. 59 Ord. II, dist. 41, n.54. 60 Seeberg, Theologie. 61 Vgl. etwa AS 4218). 62 WA 18, 712. 63 Zugleich bildet diese Ablehnung eines rationalistischen resp. thomistischen Gottesbegriffs und damit verbunden einer realistischen Universalienauffassung auch den Ansatz-

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Der Gegenstand der göttlichen Wahl, der eben deshalb das „Gute[ ] Gottes“64 ist, wird von Bonhoeffer demnach mit der Erwählung des Menschen zu Gottes Ebenbild identifiziert. Insofern Gottes Erwählung dann als allen Menschen geltend verstanden werden muss, trifft sich hier Bonhoeffer mit Barths Fassung der Erwählungslehre; wie dieser begreift er die Erwählung als dem Sündenfall vorgeordnetes Handeln Gottes am Menschen, d. h. als mit der Schöpfung selbst gesetzte Wirklichkeit. Diese ist folglich in keiner Weise von möglichem menschlichem Tun oder Sein bedingt, kann also auch nicht als – und sei es auch aufgrund der göttlichen praescientia vorweggenommene bzw. überzeitliche – Reaktion Gottes auf den Fall gedeutet werden65. Worin aber entsprechend die göttliche Verwerfung, das „Böse[ ] Gottes [!]“66, besteht, lässt Bonhoeffer an dieser Stelle offen; entscheidend ist die Positivität des Erwählungshandelns Gottes, in welchem das Leben des gottebenbildlichen Menschen gründet67. Die Ebenbildlichkeit des Menschen manifestiert sich nun in der völligen Gottbezogenheit des urständlichen Menschen, der

punkt für eine Integration bestimmter Elemente moderner, sich selbst als idealismus- oder ‚metaphysikkritsch‘ verstehender Philosophie, und zwar insbesondere derjenigen Kierkegaards, Nietzsches und Heideggers in die theologische kritische Ethik. Dies wird im Folgenden deutlich werden. 64 E 304. 65 Ähnlich Barth: „Wir haben […] festgestellt, daß […] eben das die gute, die beste, die schlechterdings heilvolle Botschaft ist: daß Gott sich von Ewigkeit her dafür entschieden hat […] in der […] Zuwendung zum Menschen Gott zu sein.“ (KD II/2, 98); „Es geht darum […] [d]aß dieser Gott sich selbst und also – weil er der Inbegriff aller Herrlichkeit ist – seine Herrlichkeit mitteilen und offenbaren will, das ist seine Ur- und Grundabsicht seiner Schöpfung gegenüber […] In diesem seinem Ur- und Grundwillen als dem Anfang aller Dinge will aber Gott […] den Menschen […] seinen Menschen, seinen erwählten Menschen […] In ihm will er auch die Menschheit, in ihm alle einzelnen menschlichen Individuen, in ihm auch das, was man die Idee der Menschheit nennen kann – aber eben in ihm und darum zuerst und eigentlich und direkt ihn, diesen, seinen, den von ihm erwählten Menschen.“ (KD II/2, 151 f.). S. auch Kreck, Grundentscheidungen, 191 f. u. ö. Die christologische Zuspitzung, die die Pointe von Barths Erwählungslehre bildet, wird von Bonhoeffer in diesem Abschnitt zunächst nicht aufgenommen. Es wird sich aber an anderer Stelle zeigen, dass bei Bonhoeffer ebenfalls ein christologisches Schöpfungsverständnis zugrunde liegt, welches ähnlich wie bei Barth dazu führt, dass auch die Erwählungslehre christologisch begründet wird. S. dazu u. („Christus, die Wirklichkeit und das Gute“) und E 340: „Gott lieben heißt sich seine Erwählung, seine Erzeugung in Christus gefallen lassen.“ 66 E 304. 67 Vgl. E 304: „[…] [das] wirkliche[ ] Leben, wie es aus der Wahl Gottes kommt […]“. Vgl. zu Barth Mahlmann, Prädestination, 1176: „‚In der P[rädestination] handelt es sich zuerst und eigentlich um die ewige Erwählung des Sohnes Gottes zum Haupt seiner Gemeinde und aller Geschöpfe‘; ‚die Existenz der Geschöpfe‘ ist ‚Ausführung dieses Dekretes‘. In diesem Sinne lehnt Barth, in ausdrücklichem Gegensatz zur reformierten Tradition, ein ‚decretum absolutum‘ ab. Wenn Barth dieses ‚komprehensive Erwähltsein‘ ‚doppelte P[rädestination]‘ nennt, so weicht er damit von der Begriffstradition ab, indem Gottes ‚Gnadenwahl‘ nunmehr logisch Verwerfung im Sinne der universal-ontologischen Verneinung der Nicht-Erwählung einschließen soll.“

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„als Bild Gottes ganz aus seinem Ursprung in Gott lebt“68. Dem nominalistischen Gottesbegriff, wie er oben beschrieben wurde, folgend, wird die Existenz als imago Dei von Bonhoeffer als reine Empfänglichkeit, Passivität gedeutet, die um das Gute (Gottes) allein im Empfangen weiß; das Wissen des urständlichen Menschen ist insofern kein reflexives Wissen, sondern ein Wissen, das im Akt des Empfangens, des Ausgerichtetseins auf Gott, nur Gott selbst und Gottes ihm geltende Erwählung weiß und daher sein ganzes Leben darauf bezogen erfährt. „Der Mensch im Ursprung weiß nur eines: Gott. Den anderen Menschen, die Dinge, sich selbst weiß er nur in Gott und Gott in allem.“69

Was das konkret bedeutet, ist Gegenstand von Bonhoeffers Ausführungen zu dem in Christus versöhnten Menschen und wird deshalb erst im zweiten Teil dieses Kapitels dargelegt70. Bonhoeffer macht – wie Barth – ganz ernst mit der neutestamentlichen Aussage, dass Christus das Bild Gottes und der (versöhnte) Mensch diesem als seinem Urbild gleichgestaltet ist. Aussagen über die Gottebenbildlichkeit des Menschen können von dem christozentrischen Standpunkt aus dann nicht abstrahiert vom Versöhnungsgeschehen getroffen werden, so dass allein von dem Christus gleichgestalteten Menschen her seine schöpfungsmäßige Ebenbildlichkeit – gewissermaßen rückprojizierend – zu beschreiben ist71. Es sollen aber einige kurze Hinweise gegeben werden, wie Bonhoeffer an anderer Stelle die Gottebenbildlichkeit des Menschen näher bestimmt. In seiner Auslegung von Gen 1–3 in der Vorlesung Schöpfung und Fall72 ist der Schlüsselbegriff bereits derjenige der Relation, der Bezogenheit auf Gott. In Anlehnung und gleichzeitiger Korrektur zeitgenössischer katholisch-thomistischer Konzeptionen – hier ist insbesondere die von Barth zum theologischen Erzgegner erklärte Analogia-entis-Lehre des Jesuitenpaters Erich Przywara zu nennen – spitzt Bonhoeffer seine eigene Konzeption auf den Begriff analogia relationis zu, der im Wesentlichen besagt, dass die Gottebenbildlichkeit des Menschen erstens relational, also als in Beziehungen (zwischen Gott und Mensch, sowie Mensch und Mensch) bestehend aufzufassen sei und dass zweitens diese deshalb nicht im substanzontologischen 68

E 302. E 302. 70 Etwa ab E 318 ff. 71 Vgl. dazu das Manuskript „Ethik als Gestaltung“ E 62–91, sowie E 319: „Um Christus wissend erkennt und anerkennt er [sc. neue Mensch] ja die ihm geltende Erwählung Gottes, steht er selbst nicht mehr als der Wählende zwischen Gut und Böse, also in der Entzweiung, sondern als der Erwählte, der gar nicht mehr wählen kann, sondern schon gewählt hat indem er erwählt ist […] Er steht im Wissen Gottes, doch nicht mehr als der gottgleichgewordene, sondern als der das Bild Gottes tragende. Er weiß nur noch ‚Jesum Christum den Gekreuzigten‘ (1 Kor 2,2) […]“. 72 SF 58–63. 69

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Sinne genommen werden kann, sondern in der geschenkten Gottesbeziehung begründet und daher analogia externa ist. Von besonderer Bedeutung für diese Konzeption der Gottebenbildlichkeit ist weiter der Freiheitsbegriff, der konsequent ebenfalls als relationales Phänomen gedeutet wird – im Unterschied zu der ontologischen Tradition spätantiker und mittelalterlicher, sowie neuthomistischer katholischer Theologie, die Freiheit essentiell, als individuelles Seelenvermögen, versteht und folglich auch nicht den vollständigen Verlust durch den Sündenfall lehren kann73. Wird ein solches Freiheitsverständnis aber abgewiesen, kann folgerichtig auch  –  mit Luther  –  keine Freiheit des Menschen zum Guten mehr behauptet werden, die etwa auf der, von Bonhoeffer schon als bloße Möglichkeit verneinten, vernunftmäßigen Erkenntnis des Guten und Bösen beruhte74. Umgekehrt setzt sich der gefallene Mensch an Gottes Stelle, wenn er die Gottbezogenheit durchbricht mit dem Ziel, selbst über Gut und Böse entscheiden zu können, wollen und sollen. Denn nun tritt er in eine reflexive Distanz zu seiner Erwählung durch Gott ein, die darauf beruht, dass er selbst anhand des mit dem Fall erworbenen Wissens um Gut und Böse alles, sein Leben, seine Welt und seinen Gott, einem eigenen, autonomen Urteil unterzieht. Bonhoeffer verfährt hier in seiner Sündenfalldeutung sehr konsequent: ist das Gute Gottes gut aufgrund der göttlichen Wahl, aufgrund des göttlichen Wissens und Wollens, dann besteht die Wahl des Menschen darin, sich als Erwählten zu wissen, das Gute also als das aufgrund seiner göttlichen Setzung Gute zu empfangen. Umgekehrt muss dann aber das menschlich Gute und Böse als von dem Menschen selbst hervorgebracht gedeutet werden: „Um gut und böse wissen heißt sich selbst als Ursprung einer […] Wahl und Erwählung wissen.“75 Die Annahme, das menschlich Gute und Böse sei von göttlicher Qualität, habe ewiges Sein, ideale Realität oder absoluten Wert, ist nun der tragische Irrtum des gefallenen Menschen, der ihn nur noch tiefer in die Sünde führt: „Was Gott dem Menschen gab, wollte der Mensch nun durch sich selbst sein. Aber Gottes Gabe ist wesentlich Gottes Gabe. Der Ursprung macht diese Gabe aus. Mit dem Ursprung verwandelt sich die Gabe. Ja, die Gabe besteht geradezu in ihrem Ursprung […] Der Mensch weiß, was gut und böse ist, aber weil er nicht der Ursprung ist, sondern weil er sich dieses Wissen nur in der Entzweiung mit dem Ursprung erkauft hat, ist das Gute und Böse, das er weiß, nicht das Gute und Böse Gottes, sondern Gutes

73 Zu letzterem vgl. etwa Merki, Ebenbildlichkeit, passim; Ebeling, Lutherstudien II.2, 211–227; Pesch, Rechtfertigung, 510–537. Zu Barths Anknüpfung an Bonhoeffers Gedanken von der analogia relationis vgl. KD III / 1, 218 ff. 74 Bonhoeffer unterscheidet sich damit aber auch von dem idealistischen Freiheitsverständnis, das Freiheit subjektivitätstheoretisch deutet, indem es sie mit der Idealität des Ich gleichsetzt. Dazu s. zunächst die Hegel-Rezeption u. A.II.4. S. besonders auch B.II.4.d. 75 E 303.

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und Böses gegen Gott. Es ist Gutes und Böses eigener Wahl gegen die ewige Erwählung Gottes.“76

Hier ist deutlich zu erkennen, dass Bonhoeffer mit seinem Sündenbegriff gegen neuzeitliche Autonomiekonzepte ebenso streitet wie gegen klassische realistische Systeme. Von einer Position aus, die die Realität der Universalien, Ideen oder Wertbegriffe verneint  –  auf die Nähe zum spätmittelalterlichen Nominalismus wurde schon hingewiesen  –, muss jede Anthropologie, die einen Zugang des Menschen zum Absoluten postuliert oder gar das menschliche Wesen selbst absolut setzt77, als Ausdruck des verkehrten Wesens des gefallenen Menschen bewertet werden, der „sich [von seinem] wirklichen Leben, wie es aus der Wahl Gottes kommt, losgerissen hat“78 und nun dem Tod79 verfallen ist. In den folgenden Passagen des Manuskripts wird dieser Sündenbegriff resp. die Existenz Adams, der von ihm bisher allein anhand des biblischen Grundtextes und begrifflich sehr konzentriert vorgestellt wurde, im Gegenüber zur Existenz des versöhnten Menschen von Bonhoeffer näher beleuchtet80. Es wird sich dabei zeigen, dass insbesondere die neuzeitliche Subjektivitätsphilosophie von seiner Kritik getroffen wird. Heuristische Funktion hat dabei seine Aufnahme wichtiger Aspekte von Nietzsches Christentumskritik, die er bereits früh verinnerlicht hat und nun systematisch auswertet. 76

E 302.304. Hier ist beispielsweise an Kant zu denken, dessen Autonomiebegriff als eine Verabsolutierung des wesentlich als Geist zu denkenden Menschen zu lesen ist. Der – mehr oder weniger ausgeprägte  –  Dualismus, durch den sich alle idealistischen resp. kantisch beeinflussten Systeme auszeichnen, wird von Bonhoeffer, gut biblisch, scharf abgelehnt. Vgl. dazu den ausführlichen Abschnitt über die Scham, E 304–308, sowie das Manuskript „Das natürliche Leben“, E 163–217. 78 E 304. 79 Hierzu vgl. SF  84–86.131–133, wo Bonhoeffer näher ausführt, dass mit diesem (Straf-)Tod nicht die von Gott gesetzte Begrenztheit des Geschöpfs gemeint ist, sondern das mit seinem Ursprung entzweite, verkehrte Leben des gefallenen Menschen, der aber gleichwohl leben muss: „Was heißt Totsein? Es heißt […] vor Gott nicht mehr leben können und doch vor ihm leben müssen, es heißt vor ihm als der Geächtete, Verlorene, Verdammte, aber nicht als der Nichtseiende stehen, d. h. aber von Gott nicht mehr das Leben empfangen als Gnade […] sondern als Gebot […] Totsein heißt Leben-müssen.“ (SF 84 f.). Dazu s. auch Claß, Zugriff, 128, der bemerkt, dass der Adam nach dem Fall sein Leben nur noch als eines in dem „Zwiespalt von Sein und Nichtsein“ hat, „in dem Wissen um den drohenden Verlust dieses Lebens“ lebt und daher – gemessen an dem Leben im Urstand – nicht mehr wahrhaft lebt. 80 Typisch für Bonhoeffer ist dieses Vorgehen, zu Beginn in einem einleitenden Abschnitt die Grundgedanken des jeweils Folgenden in nuce vorzustellen, um sie dann anschließend in ihren unterschiedlichen Aspekten ausführlich zu entfalten, vgl. dazu das Vorwort der Ethik, E 22, wo bezogen auf die Neuanordnung der Ethik-Manuskripte eine mündliche Äußerung Bethges referiert wird, wonach „nun, wie bei Bonhoeffer oft, der Auftakt, das Manuskript ‚Christus, die Wirklichkeit und das Gute …‘, im Grunde schon alles Kommende in sich berge […]“. 77

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3. Moral und Richtgeist Bonhoeffers Sündenbegriff bezieht einen Teil seiner Plausibilität aus der Anfang des 20.  Jahrhunderts bereits weit verbreiteten Skepsis gegenüber der traditionellen, wesentlich von der Aufklärung geprägten bürgerlichen Moral, von welcher der junge Bonhoeffer, der sich als Student ja auch der aufklärungskritischen dialektischen Theologie zugewandt hatte, offenbar entscheidend beeinflusst war. Von den unterschiedlichen Ausprägungen dieser Skepsis und ihren jeweils verschiedenen Ansatzpunkten der Kritik am aufklärerischen Menschenbild dürfte Nietzsche allerdings den entscheidenden Einfluss auf seine systematische Theologie ausgeübt haben, obwohl sicherlich auch manches anderes zu der skeptischen Haltung Bonhoeffers gegenüber Kant, dem Idealismus und der liberalen Theologie beigetragen haben mag – jedoch ohne dass eine für Bonhoeffers Theologie systematische Bedeutung ausgewiesen werden könnte81. Gegen das aufklärerische Pathos der moralischen Autonomie der praktischen Vernunft und gegen die damit verbundene Moralisierung des Christentums82 hatte Nietzsche die psychologischen Wurzeln der Moral aufgedeckt und insbesondere das bürgerliche Christentum des ausgehenden 19.  Jahrhunderts mit scharfer Polemik überzogen. Die in Nietzsches Philosophie enthaltene Bestreitung der absoluten Geltung der Moral wurde zwar auch von anderer Seite gestützt oder weitergeführt, so etwa durch den naturwissenschaftlichen Positivismus und Logizismus, den biologischen Darwinismus und durch die von Freud begründete Psychoanalyse83, nicht zuletzt aber auch durch den Fortgang der Geschichte, der den Glauben an die notwendige moralische Höherentwicklung des Menschen nicht bestätigte. In Bonhoeffers gedanklicher Entwicklung kommt jedoch Nietzsches früher und eindrücklicher Kritik zweifellos besondere Bedeutung zu; so wird der Sündenbegriff insbesondere unter Rückgriff auf dessen antimoralische und antichristliche 81 Zu denken ist hier etwa an die so genannte dritte narzisstische Kränkung des Menschen, die Entdeckung des Unterbewussten, die Bonhoeffer ganz selbstverständlich in seine Anthropologie integriert hat (s. u. A.II.4.c). 82 Köster, Antipode, 379, weist auf die Wurzeln dieses Selbstverständnisses in der Aufklärung kantischer Prägung hin, welcher sich auch Nietzsche nicht entziehen konnte. S. dazu den Exkurs zur Liberalen Theologie D.I. 83 Es ist keine eigenständige Auseinandersetzung Bonhoeffers mit Freud oder der Psychoanalyse überhaupt nachweisbar. Dennoch dürfte er als Sohn des führenden Psychiaters und Neurologen Karl Bonhoeffer über Grundkenntnisse hinaus die Infragestellung des Absolutheitscharakters der Moral und ihrer Geltung aufgrund psychologisch-psychiatrischer und psychoanalytischer Einsichten in das menschliche Unbewusste verinnerlicht haben. Eine grundsätzliche Aufgeschlossenheit Bonhoeffers gegenüber Nietzsches, psychoanalytische Erkenntnisse antizipierenden, Moralkritik dürfte deshalb vorhanden gewesen sein. Zu dem Verhältnis von Nietzsche und der modernen Psychologie und Psychoanalytik vgl. Müller-Buck, Psychologie, 509–514, bes. 511 ff.

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Polemik illustriert und gewinnt dadurch über die begründungstheoretische Überzeugungskraft hinaus eine zusätzliche, gewissermaßen empirische, Plausibilität. Dies wird im Folgenden zu erläutern sein. a) Bonhoeffers Nietzsche-Rezeption Der Beginn des Nietzsche-Einflusses auf Bonhoeffer liegt wohl in der Schulzeit und wurde durch den Philosophielehrer Martin Havenstein84 initiiert; konkrete Auseinandersetzungen mit Schriften oder Gedanken sind allerdings für diese Zeit nicht nachweisbar. Spätestens Ende 1928 beginnt nachweislich die selbständige Rezeption Nietzsches durch Bonhoeffer: er nennt den Namen Nietzsches in zwei von drei Barcelona-Vorträgen an mehreren Stellen und bedient sich dessen Gedanken in unterschiedlicher Art und Weise85. Später finden sich immer wieder Bezugnahmen auf Nietzsche, allerdings oft keine direkten Zitate oder gar Referate, sondern nur die Aufnahme von Stichworten und, vor allem, die Anverwandlung Nietzschescher Motive, Topoi oder Gedankengänge. Insgesamt ist eine durchgehende Nietzsche-Rezeption erkennbar, die allerdings immer eingebettet in unterschiedliche Kontexte (und Textgattungen) ist, also keinen Selbstzweck darstellt, sondern jeweils spezifische Funktionen für Bonhoeffers Theologie übernimmt. Daraus lässt sich folgern, dass Nietzsche offensichtlich eine prägende Größe für Bonhoeffers Denken gewesen ist, als solche aber der Reflexion unterworfen und daher sowohl zustimmend als auch kritisch rezipiert wurde. Bonhoeffers Nietzsche-Rezeption scheint mindestens in ihren Anfängen nicht exzeptionell gewesen zu sein, fiel sie doch in eine geistesgeschichtliche Situation, in der Nietzsche begeistert von vielen gelesen und aufgenommen wurde. Auch Bonhoeffer ist als sehr junger Mann, der in der Umbruchsphase des ersten Weltkriegs und den Jahren danach aufgewachsen ist, wohl recht empfänglich für das Pathos Nietzsches und seine scharfe Kritik am Spießbürger resp. „Bildungsphilister“ gewesen86. Die Theorie von N. Capozza einer „umgekehrt proportionale[n] Denkbewegung [sc. Bonhoeffers] von Barth her zu Nietzsche hin“87 scheint dagegen etwas gewaltsam zu sein. Christentums- bzw. Moralkritik und andere Motive oder Topoi aus Nietzsches Philosophie sind offenbar sehr wichtige Elemente in Bonhoeffers Theologie, die aber von Anfang an präsent sind. Auch die 84

Dazu DBW 9, 622. Jesus Christus und vom Wesen des Christentums (DBW 10, 302–322) und Grundfragen einer christlichen Ethik (DBW 10, 323–345). 86 Vgl. die pathetische Sprache und die übersteigerten Ansichten Bonhoeffers in den Barcelona-Vorträgen (er war allerdings auch erst 22 bzw. 23 Jahre alt). Nietzsches Übermensch-Vision und Polemik gegen den „Heerdenmensch“ traf sich vermutlich auch mit dem Selbstbewusstsein der Bonhoeffer-Familie. 87 Capozza, Erde, 63. 85

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Christologie als Gegenbild zum Übermenschen88 deutet sich schon in seinen Barcelona-Vorträgen an. Anhand des Gesamtregisters kann nachgewiesen werden, dass Bonhoeffers Bezugnahmen auf Nietzsche keineswegs ansteigen, sondern in unterschiedlicher Häufung über sein ganzes theologisches Schaffen verteilt sind. Dabei gibt es zwei Perioden, in denen Nietzsche überdurchschnittlich oft vertreten ist, nämlich die Zeit von Ende 1928–1933 und die Zeit der Ethik von 1940–194389. In den dazwischen liegenden Jahren der Predigerseminare und des Sammelvikariats ist Nietzsche unterrepräsentiert. Dabei ist Bonhoeffers Haltung zu Nietzsche keinesfalls einfach als Zustimmung oder Ablehnung oder lineare Entwicklung von einem eher distanzierenden zu einem eher positiv rezipierenden Umgang beschreibbar90. Aufgrund der nicht geringen, sowohl positiven wie auch negativen Bedeutung, die Nietzsche für die Ethik-Konzeption hat, ergibt sich die Schlußfolgerung, dass Bonhoeffers Nietzsche-Rezeption zwar von Anfang an recht intensiv war, im Laufe der Zeit allerdings schärfer konturiert wurde: sowohl die konstruktive Verarbeitung als auch die deutliche Kritik sind klarer und durchdachter geworden. P. Köster spricht ähnlich von einer „Tendenz“, die „Parallelität und kritische Auseinandersetzung zugleich“ ausdrücke, wobei letztere aber im Laufe der Zeit zunehme und schließlich überwiege91. Dass Bonhoeffer Nietzsche in der Ethik wiederaufgenommen hat, ist ein Hinweis auf die Kontinuität in seinem Denken, dass er ihn deutlich kritischer als früher wiederaufgenommen hat, zeigt, dass Finkenwalde und die Sammelvikariate doch mehr als ein Intermezzo in seinem Leben, vielmehr ein wichtiger Entwicklungsschritt hin zu einer reifen, die frühen und die späteren Erkenntnisse und Einflüsse einschließenden Theologie samt einem reflektierten Weltbegriff gewesen sind. Nicht zuletzt für einen auch positiven theologischen Weltbegriff hat Nietzsche in der Ethik Bedeutung – anders aber als früher nun durch eine Phase der 88 Dazu vgl. vor allem u. A.II.5.e, sowie das Kapitel „Ethik als Gestaltung“ (E  62–90), wo Bonhoeffer unverkennbar auf Nietzsches späte Schrift Ecce Homo anspielt, um sich mit der Entfaltung des Christus-Geschehens als Zuwendung Gottes zum „wirklichen“ Menschen, seines stellvertretenden Leidens am Kreuz und endgültiger Annahme und Neuschaffung des Menschen aus Liebe in der Auferstehung – jeweils eingeführt mit „Ecce homo“ (E 70–79) davon abzusetzen. Vgl. ausführlicher Köster, Antipode, 298 ff. 89 Das Nietzsche-Buch von Jaspers ist 1936 erschienen. Eine Benutzung durch Bonhoeffer ist erstmalig für die Ethik nachgewiesen. 90 Darüber hinaus ist auch Bonhoeffers Haltung zu Barth alles andere als eine lineare Entwicklung von Zustimmung oder Kritik. Vielmehr äußert Bonhoeffer grundsätzliche Kritik an Barth schon sehr früh (Akt und Sein), hält aber dennoch an wesentlichen Einsichten Barths fest und lässt sich später noch von Barths Erwählungslehre und seiner Ersetzung des lutherischen „Gesetz“ durch „Gebot“ beeinflussen (s. u. C.III). 91 Köster, Nietzsche-Rezeption, 662, und Antipode, 417. Dies ist sicherlich die zutreffendere Einschätzung; allerdings darf nicht übersehen werden, dass dennoch die Kritik Nietzsches am selbstgerechten Moralismus des Gut und Böse ein konstituiver Bestandteil der Theologie Bonhoeffers schon seit Schöpfung und Fall geworden ist.

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Abgrenzung von der Welt hindurch und kombiniert mit Erkenntnissen der katholischen Thomas-Rezeption. Zweifellos hat Bonhoeffer vorwiegend die späten Schriften Nietzsches rezipiert – nicht allerdings die posthum veröffentlichen Texte: Mit Abstand am häufigsten wird auf Zarathustra Bezug genommen; es folgen Jenseits von Gut und Böse und Ecce Homo, dann92 der Antichrist, Götzendämmerung, Zur Genealogie der Moral, die Fröhliche Wissenschaft, und Menschliches  –  Allzumenschliches. Auf die Dionysos-Dithyramben und die Geburt der Tragödie verweist je einmal der Apparat, aus den Unzeitgemäßen Betrachtungen wird ein Zitat nach Jaspers93 angeführt. Aus der mittleren und der frühen Zeit sind demnach nur jeweils zwei Schriften präsent, während der späte, also der ‚radikale‘ Nietzsche mit der ausgeführten Lehre vom Übermenschen und vom Willen zur Macht deutlich dominiert94. b) Nietzsches Christentums- und Moralkritik Nietzsches Ablehnung v. a. des protestantischen, d.h letztlich lutherischen, Christentums hat zwar mehrere Aspekte und ruht entsprechend auch auf mehreren, teilweise miteinander verbundenen Begründungsfiguren95; beson92 Die folgenden Schriften Nietzsches sind nicht mehr nach der Häufigkeit ihres Vorkommens geordnet, weil sich diese nicht nennenswert unterscheidet. 93 S. E 22116.30614. 94 Das Nietzsche-Buch von Karl Jaspers, das Bonhoeffer besessen und wohl auch gelesen hat, scheint nach dem hier aufgestellten Befund der Nietzsche-Rezeption Bonhoeffers wohl weniger auf ihn eingewirkt zu haben, als man vermuten könnte. Zum einen ist die Monographie Nietzsche erst 1936 erschienen, also viele Jahre nach Bonhoeffers ersten intensiven Auseinandersetzungen mit Nietzsche. Zum anderen hat sich Bonhoeffer offensichtlich für das Grundanliegen Jaspers’, Nietzsches Denken unter der Kategorie der Existenzerhellung als ständig scheiternde Selbstüberwindung zu deuten, nicht interessiert, insofern er Nietzsche zwar als Herausforderung und Inspiration begriffen hat, aber keine Gesamtinterpretation von Nietzsches Philosophie leisten wollte. Widersprüche in Nietzsches Philosophie sowie die Differenzen zwischen den werkgeschichtlichen Phasen (früher, mittlerer, später Nietzsche) sind für Bonhoeffer nicht relevant. Entscheidend sind vielmehr die gewichtigen Anfragen Nietzsches an das Christentum und seine Moral, sowie seine wirkungsvolle Übermenschenvision. Jaspers ist daher möglicherweise im Detail erhellend für die eine oder andere Bezugnahme Bonhoeffers auf Nietzsche in der Ethik, keinesfalls aber von eminenter Bedeutung für das Gesamtverständnis. 95 Für den späten Nietzsche steht die Reformation für die (neue) Etablierung der christlichen Werte und damit einhergehend für die Unterdrückung der wahren Werte eines Lebens aus dem Machtwillen und der Stärke des Einzelnen: „Versteht man […] was die Renaissance war? Die Umwerthung der christlichen Werte, der Versuch, mit allen Mitteln, mit allen Instinkten, mit allem Genie unternommen, die Gegen-Werthe, die vornehmen Werthe zum Sieg zu bringen […] Was geschah? Ein deutscher Mönch, Luther, kam nach Rom. Dieser Mönch, mit allen rachsüchtigen Instinkten eines verunglückten Priesters im Leibe, empörte sich in Rom gegen die Renaissance […] Und Luther stellte die Kirche wieder her: er griff sie an … Die Renaissance – ein Ereignis ohne Sinn, ein großes Umsonst!“ (AC 61, KGW 6.3, 248 f.). Die christlichen Werte wiederum sind nicht das, was sie vorgeben zu sein, sondern eine Form

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dere Bedeutung nicht nur innerhalb seines Werkes sondern auch für seine Rezeption durch Bonhoeffer hat aber gerade die psychologische Moralkritik, die sich verteilt auf unterschiedliche Schriften der mittleren und späten Periode seines Schaffens findet96. Bonhoeffer hat nachweislich besonders den späten Nietzsche, nämlich den des Zarathustra, Jenseits von Gut und Böse und des Antichristen, rezipiert. Der dort und an anderen Stellen geäußerten Vorwurf Nietzsches an das zeitgenössische Christentum lautet, dass christliche Moral nur eine Scheinmoral sei, da sie auf einem an ihren eigenen Maßstäben gemessenen unmoralischen Grund ruhe. Damit ist allerdings nicht nur behauptet, dass vorgeblich moralisches Handeln de facto aus unmoralischen Motiven heraus geschehe. Vielmehr zieht Nietzsche aus dieser psychologischen Beobachtung den viel weiter gehenden Schluss, dass die christliche, als allgemeingültig behauptete, Moral selbst, also die moralischen Sätze, Normen und Pflichten, in Haltungen begründet seien, die keineswegs als moralisch bezeichnet werden können. Moral ist in Nietzsches Deutung deshalb per se, nicht aber wegen ihrer mangelhaften Umsetzung, ein Instrument für die Durchsetzung ganz anderer Ziele, die von der in ihr proklamierten Selbstlosigkeit97 christlicher Liebe weit entfernt sind: „Über euch, ihr Tugendhaften, lachte heute meine Schönheit. Und also kam ihre Stimme zu mir: ‚sie wollen noch – bezahlt sein!‘ […] Ihr liebt eure Tugend, wie die Mutter ihr Kind; aber wann hörte man, dass eine Mutter bezahlt sein wollte für ihre Liebe? […] Und Andre sind stolz über ihre Handvoll Gerechtigkeit und begehen um ihretwillen Frevel an allen Dingen: also dass die Welt in ihrer Ungerechtigkeit ertränkt wird. Ach, wie übel ihnen das Wort ‚Tugend‘ aus dem Munde läuft! Und wenn sie sagen: ‚ich bin gerecht,“ so klingt es immer gleich wie: ‚ich bin gerächt!“ Mit ihrer Tugend wollen sie ihren Feinden die Augen auskratzen; und sie erheben sich nur, um Andre zu erniedrigen […] Und wiederum giebt es Solche, die lieben Gebärden und denken: Tugend ist eine Art Gebärde. Ihre Kniee beten immer an, und ihre Hände sind voll Lobpreisungen der Tugend, aber ihr Herz weiß nichts davon […]. Und Mancher, der das Hohe an den Menschen nicht sehen kann, nennt es Tugend, dass er ihr Niedriges allzunahe sieht: also heisst er seinen bösen Blick Tugend […]. Und derart glauben fast Alle daran, Antheil zu haben an der Tugend; und zum Mindesten will ein Jeder Kenner sein über ‚gut‘ und ‚böse‘.“98

der niederen Instinkte („Rachsucht“). Der protestantisch-christlichen Moral entsprechend förderte die Reformation schließlich das demokratische Ideal, den „Heerdeninstinkt“ (GM 2, KGW 6.2, 274), der dem aristokratisch gesonnenen Nietzsche völlig zuwider ist. Vgl. hierzu und zu Nietzsches Lutherrezeption insgesamt Beutel, Lutherbild, 138 f. et passim. 96 U.a. sind zu nennen: Menschliches – Allzumenschliches, Also sprach Zarathustra, Morgenröthe, Jenseits von Gut und Böse, Zur Genealogie der Moral, Der Antichrist, Götzendämmerung. 97 Für Nietzsche eine Unmöglichkeit, insofern die christliche Moral wesentlich décadence-Moral ist. S. dazu das Folgende. 98 Za II: „Von den Tugendhaften“, KGW 6.1, 117 f.

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Der christliche Mensch lebt demnach seine niedrigen Instinkte dadurch aus, dass er sich die Tugend und mit ihr Gut und Böse als moralisches Maß erfindet. Ursache dafür ist seine Schwachheit, die verhindert, dass er wie der starke, der vornehme Mensch sein Lebensinteresse durchzusetzen vermag. Gut und Böse werden daher nun als Umwertungen der ursprünglichen ‚Werte‘ vornehm und schlecht aufgefasst, erweisen sich in Nietzsches moralhistorischen, psychologischen99 und etymologischen Analysen100 also als keineswegs überzeitliche seinshafte Sachverhalte, sondern als menschliche Konstrukte und zwar aufgrund des Ressentiments der unterlegenen Menschen, der in Nietzsches Terminologie „Sklaven“ oder Schwachen101. ‚Vornehm‘ und ‚schlecht‘ werden demgegenüber von Nietzsche als ursprungshaft-natürlich aufgefasst, wobei sich allerdings die Metaphysik des Willens zur Macht mit biologistischen, pseudo-darwinistischen Annahmen vermischt102. Es ist dennoch bedeutsam, dass auch diese beiden ursprünglichen Wertungen Nietzsche zufolge nicht als im idealistischen Sinne absolute und überzeitliche Werte verstanden werden können; vielmehr sind sie als Inbegriff des Willens zur Macht zeitlich-natürliche Ausprägungen einer Welt, die nicht mehr als auf ein Ewiges Sein resp. einen Gott bezogen gedacht wird; 99 Der psychologische Scharfblick Nietzsches kann kaum bestritten werden (vgl. den bereits erwähnten Artikel Müller-Buck, Psychologie, passim), wenn auch damit noch nicht entschieden ist, ob es sich bei dem aufgedeckten christlichen Moralismus um ein verkehrtes Verständnis des Christlichen oder um einen Wesenszug des Christlichen handelt. Bonhoeffer nimmt im Gegensatz zu Nietzsche Ersteres an und versucht dessen Kritik konstruktiv auszuwerten für die Neubegründung christlicher Ethik als Kritik aller Ethik. 100 Der jeweilige wissenschaftliche Wert dieser Analysen kann hier nicht Gegenstand der Untersuchungen sein. Etymologisch (vgl. dazu GM I 4 f., KGW 6.2, 275–278) ist der von Nietzsche konstatierte Zusammenhang „schlecht“ und „schlicht“ (als Gegensatz zum Vornehmen und Vorzüglichen) nachweisbar, nicht aber eine Grundbedeutung im Sinne von „edel“, „vornehm“ für „gut“; vgl. Kluge, Wörterbuch, s.vv. Im Griechischen ist der Zusammenhang zwischen „edel“ und „gut“ allerdings unzweifelhaft, wie der Superlativ ŅěēĝĞęĜ und der frühe Gebrauch des Wortes ŁěďĞƮ bei Homer zeigen; vgl. Lidell-Scott, Greek-English-Lexicon, s.vv.; ähnlich im Lateinischen, wo bonus ursprünglich und auch noch in der Goldenen Latinität für nobilis stehen kann, vgl. Georges, Handwörterbuch, s. v. 101 Vgl. GM I, z. B. 10, KGW 6.2, 284: „Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit, dass das Ressentiment selbst schöpferisch wird und Werthe gebiert: das Ressentiment solcher Wesen, denen die eigentliche That versagt ist, die sich nur durch eine imaginäre Rache schadlos halten“ usw. 102 Safranski, Nietzsche, 301: „Er [sc. der Nietzsche der 80er Jahre] will eine Theorie aus einem Guß, die alles erklärt, alles verstehbar macht, die den Schlüssel des Weltgeheimnisses in die Hand bekommt […] Aus dem Willen zur Macht, zunächst verstanden als Prinzip der freien Selbstgestaltung und -steigerung, als magische Verwandlungskraft der Kunst, als innere Dynamik des Gesellschaftslebens, wird schließlich auch ein biologistisches und naturalistisches Prinzip, und damit gerät Nietzsche eben doch unter die Gewalt einer causa prima.“; s. auch 269 ff.293 ff. Vgl. GD: „Moral als Widernatur“ 4–6, KGW 6.3, 79–81; „Die vier großen Irrtümer“ 2, KGW  6.3, 83 f.; MA  II  99,  KGW  4.3, 55 f. u. ö.; vgl. auch Ries/ Kiesow, Menschliches, 105.

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‚Ewigkeit‘ im Sinn von Unendlichkeit ist für Nietzsche ein dem Denken nicht vollziehbarer Begriff und kann daher lediglich übertragen als sich ohne absoluten Anfang oder Ende immer neu vollziehendes Werden und Vergehen des Lebens in der Welt und der Welt als ganzer verwendet werden103. „Wie? Die Zeit wäre hinweg, und alles Vergängliche nur Lüge? Diess zu denken ist Wirbel und Schwindel menschlichen Gebeinen und noch dem Magen ein Erbrechen: Wahrlich, die drehende Krankheit heisse ich’s, solches zu muthmaassen […] Alles Unvergängliche – das ist nur ein Gleichniss! Und die Dichter lügen zuviel. – Aber von Zeit und Werden sollen die besten Gleichnisse reden: ein Lob sollen sie sein und eine Rechtfertigung aller Vergänglichkeit!“104

Die Ablehnung der klassisch-philosophischen Zeit-Ewigkeits-Dialektik und die daraus folgende Fokussierung auf die zeitliche Existenz des Menschen ist eine Grundvoraussetzung auch des Bonhoefferschen Denkens und darin sicherlich von Nietzsche und  –  vor allem  –  Heidegger, der aber seinerseits auch Nietzsche-Interpret war, beeinflusst105. Ohne diese Grundvoraussetzung ist die Radikalität von Bonhoeffers Kritik aller Ethik, derzufolge das „Wissen um Gut und Böse“ Kennzeichen des homo peccator und deshalb in der Restitution des Menschen durch das Versöhnungsgeschehen wieder aufzuheben sei106, gar nicht denkbar107. Aus solcher radikal neuen Konzentration auf das zeitlich-natürliche Leben, das Werden, unter gleichzeitiger Bestreitung zeitenthobener allgemein gültiger Werte und Ordnungsstrukturen ergibt sich eine Destruktion traditioneller Moral allerdings ganz folgerichtig, wenn auch Nietzsches spezifische destruierende Deutung christlicher Moral auf weiteren Prämissen beruht, die hier nicht im Einzelnen erörtert werden müssen108. Gut und Böse als Inbegriff der Moral sind jedenfalls für Nietzsche keine universal gültigen, in ihrem Gehalt evidenten Begriffe mehr. Stattdessen wird die christliche Moral von ihm als funktionale Illusion aufgefasst, die den Schwachen als Ventil und Machtinstrument zugleich dient:

103 Von Nietzsche als die, zweifellos eher aus der heraklitischen als aus der stoischen Philosophie übernommene, Vorstellung von der ‚ewigen Wiederkehr (des Gleichen)‘ formuliert. 104 Za II: „Auf den glückseligen Inseln“, KGW 6.1, 105–108, z. B. 106. Vgl. auch Safranski, Nietzsche, 282 f. Die Interpretation des klassischen Begriffs aeternitas als infinitas ist allerdings problematisch, aber insbesondere seit der Aufklärung geläufig, s. dazu ausführlich Jüngel, Geheimnis, 167 ff. 105 Es ist wohl keine Übertreibung, diese Wendung auf die Zeitlichkeit im Verbund mit der Ablehnung der klassischen Metaphysik als Paradigmenwechsel zu bezeichnen, den Bonhoeffer bewusst mit vollzogen hat – zumal hier eine Integration lutherisch-nominalistischer Theologoumena, wie etwa die Ablehnung des thomistischen Intellektualismus, möglich ist. 106 E 301 f. 107 Zugleich liegt darin aber auch der Ansatzpunkt für eine Integration Nietzscheanischer und existenzphilosophischer Elemente in die als dezidiert lutherisch zu verstehende Theologie Bonhoeffers mit ihrem der via moderna nahestehenden Gottesbegriff. 108 Vgl. dazu ausführlich Müller-Lauter, Willen, passim.

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„Wahrlich, ich sage euch: Gutes und Böses, das unvergänglich wäre – das giebt es nicht […] Mit euren Werthen und Worten von Gut und Böse übt ihr Gewalt, ihr Werthschätzenden […]“109.

Die „Schlechtweggekommenen“110 üben mit der von ihnen konstruierten (christlichen) Moral in subtiler Weise Macht über den Starken und Vornehmen aus. Am Maßstab der Tugenden beurteilt der Moralist den Anderen und gewinnt über ihn Macht, wenn seine Perspektive zu der beherrschenden geworden ist: die Macht der Moral ist die „Definitionsmacht“111. Weil der moralische Mensch getrieben ist von diesem fortwährenden Drang, über den Anderen zu urteilen, ist Nietzsche zufolge der Begriff des Bösen genealogisch früher als der des Guten: „Dagegen stelle man sich ‚den Feind‘ vor, wie ihn der Mensch des Ressentiment concipirt – und hier gerade ist seine That, seine Schöpfung: er hat ‚den bösen Feind‘ concipirt, ‚den Bösen‘, und zwar als Grundbegriff, von dem aus er sich als Nachbild und Gegenstück nun auch noch einen ‚Guten‘ ausdenkt – sich selbst! …“112 „Man muss sich nicht irreführen lassen: ‚richtet nicht!‘ sagen sie, aber sie schicken alles in die Hölle, was ihnen im Wege steht. Indem sie Gott verherrlichen, verherrlichen sie sich selber; indem sie die Tugend fordern, deren sie gerade fähig sind – mehr noch, die sie nöthig haben, um überhaupt oben zu bleiben –, geben sie sich den grossen Anschein eines Ringens um die Tugend […]. Die Realität ist, dass hier der bewusste Auserwählten-Dünkel die Bescheidenheit spielt: man hat sich, die ‚Gemeinde‘, die ‚Guten und Gerechten‘ ein für alle Mal auf die Eine Seite gestellt, auf die ‚der Wahrheit‘ – und den Rest, ‚die Welt‘, auf die andere …“113

Das Christentum und seine Moral stellt sich demnach dar als nur oberflächlicher Moralismus, der in ganz und gar nicht moralischen Gesinnungen wurzelt. Die postulierten Tugenden christlicher Liebe enthüllen sich in der Deutung Nietzsches vielmehr als Umwertungen der „habituellen Folgen [der] Schwächen [der vom Leben Benachteiligten]“114. Als die wahre Triebfeder der Moral dagegen wird der Willen zur Macht identifiziert, der sich sowohl in dieser „imaginären Rache“115 an den Starken als auch in den unterschiedlichen Aspekten und Phänomenen von Religion und Religiosität ausprägt: 109

Za II: „Von der Selbst-Ueberwindung“, KGW 6.1, 145. Safranski, Nietzsche, 307 u. ö. 111 Safranski, Nietzsche, 314. 112 GM I 10, KGW 4.2, 287 f.; vgl. auch GD: „Moral als Widernatur“ 6, KGW 6.3, 81: „Die Moral, insofern sie verurtheilt, an sich, nicht aus Hinsichten, Rücksichten, Absichten des Lebens, ist ein spezifischer Irrthum, mit dem man kein Mitleiden haben soll, eine Degenerirten-Idiosynkrasie, die unsäglich viel Schaden gestiftet hat!“ Die Moral, die aus Hinsichten etc. verurteilt, dürfte diejenige sein, die daraus einen Vorteil für das Leben zieht, etwa im Sinne des Darwinschen Selektionsvorteils (wenn auch in problematischer und banalisierender Übertragung, zumal Nietzsche ja gerade keinen Utilitarismus will): „jene Ökonomie im Gesetz des Lebens“ (ebd.). Bonhoeffer könnte diese Stelle gekannt haben, vgl. E 31745. 113 AC 44, KGW 6.3, 217 f. 114 Safranski, Nietzsche, 313. 115 GM I, z. B. 10, KGW 6.2, 284. 110

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Die Stärke des Starken wird mittels der von den Schwachen postulierten Tugenden der Geduld, Demut und Gerechtigkeit116 in moralische Schwäche umgedeutet, so Nietzsche, so dass umgekehrt der Schwache sich jenem moralisch und also menschlich überlegen fühlen kann. Die Gesinnungsmoral des protestantischen Christentums zu Nietzsches Zeiten117, das sich in seiner Wahrnehmung im Gegensatz zum Katholizismus nicht mehr durch die Stärke des priesterlichen Asketismus118 und der religiösen Vorstellungskraft auszeichnet, erweist sich ihm nun als Philistermoral und der Christ als Pharisäer. Die zwangsläufige Konsequenz der Anwendung der christlichen Moral auf sich selbst kann dann nur noch ihre Selbstaufhebung sein: „[…] dergestalt muss nun auch das Christentum als Moral noch zu Grunde gehen, – wir stehen an der Schwelle dieses Ereignisses. Nachdem die christliche Wahrhaftigkeit einen Schluss nach dem andern gezogen hat, zieht sie am Ende ihren stärksten Schluss gegen sich selbst; dies aber geschieht, wenn sie die Frage stellt: ‚was bedeutet aller Wille zur Wahrheit?‘ “119.

Die letzte Konsequenz aus der Anwendung der Wahrhaftigkeitsforderung der Moral auf sich selbst ist nämlich, dass nicht nur die Moral durch sich selbst aufgehoben wird, sondern auch die Wahrhaftigkeitsforderung sich als widersprüchlich erweist, insofern sie ja ein moralisches Gebot ist. Dem Individuum, das zu dieser Erkenntnis gekommen ist, bleibt dann nichts mehr, als sein eigenes Wollen … und Sichdurchsetzen in seinem eigenen schöpferischen Wertsetzen: es muss sich selbst zum Übermenschen machen120. 116

Vgl. GM I 13, KGW 6.2, 294. Dazu s. den Exkurs über Bonhoeffers Beurteilung der Liberalen Theologie D.I. 118 Vgl. z.b. GM III („Was bedeuten asketische Ideale?“), 10 f., KGW 6.2, 377–381 u. ö.; JGB III, 51, KGW 6.2, 69: „Genug, die Mächtigen der Welt lernten vor ihm [sc. dem Asketen] eine neue Furcht, sie ahnten eine neue Macht […] der ‚Wille zur Macht‘ war es, der sie nöthigte, vor dem Heiligen stehen zu bleiben […]“. 119 GM III 27, KGW 6.2, 427 f.; vgl. auch JGB II 32, KGW 4.2, 47: „die Selbstüberwindung der Moral“; vgl. auch FW V 345, KGW 5.2, 261. 120 Dazu s. z. B. Za III „Von alten und von neuen Tafeln“ 2.26–29, KGW 6.1, 242–244.262– 264. Wie sehr Nietzsche mit seiner Vorstellung vom Wesen des Christentums von der Aufklärung geprägt ist, zeigt eine Bemerkung aus der zitierten Stelle aus GM (ebd.): „Dergestalt [sc. dem Prinzip des patere legem, quam ipse tulisti folgend] gieng das Christentum als Dogma zu Grunde, an seiner eigenen Moral; dergestalt muss nun auch das Christentum als Moral noch zu Grunde gehen, – wir stehen an der Schwelle dieses Ereignisses.“ Die lex ist die moralische Norm der unbedingten Wahrhaftigkeit, wie Nietzsche erklärt. Bemerkenswert ist daran, wie Nietzsche die Aufklärung und die entsprechende Aufklärungstheologie mit ihrer Kritik an der überkommenen protestantischen Orthodoxie und der daraus folgenden Versittlichung des Christentums verinnerlicht hat. Sie bildet den Hintergrund, von dem er sich mit seinem Werk prinzipiell absetzt, woraus aber folgt, dass er ihr zutiefst verhaftet bleibt, wenn auch in der Form der Negation: Für Nietzsche verläuft nämlich die Theologiegeschichte nach dem „Gesetz der nothwendigen ‚Selbstüberwindung‘“ (ebd.), ist also die Aufklärungstheologie letztlich schon Folge der christlichen Moral, die nach der – aus der Anwendung der Norm der unbedingten Wahrhaftigkeit resultierenden  –  Destruktion der unvernünftigen und also nicht wahren (nicht begründbaren) Dogmen (Verbalinspiration, 117

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A. Die Erkenntnis des Guten

c) Bonhoeffers Aufnahme von Nietzsches Christentums- und Moralkritik Bonhoeffer übernimmt aus dieser Kritk Nietzsches an der christlichen Moral grundlegende Einsichten für seine Konzeption der christlichen Ethik als Kritik aller Ethik, von denen angenommen werden kann, dass sie ihn schon sehr früh nachhaltig geprägt haben. Aus der von ihm als weitgehend richtig und unwiderlegbar akzeptierten Kritik Nietzsches an einem pharisäischen Moralismus des christlichen Bürgertums zieht er jedoch ganz im Unterschied zu diesem keineswegs den Schluss, dass das Wesen des Christentums selbst in solchem Moralismus bestehe und dieses also mit der Destruktion der Moral zugrunde gehen müsse; vielmehr urteilt er umgekehrt aus einer Auffassung des Christentums, die von derjenigen Nietzsches, aber auch derjenigen liberaler Theologen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts – Bonhoeffers theologischer Vätergeneration121 – in grundsätzlicher Weise differiert und in der engen Verbindung oder gar Gleichsetzung von Christentum und Moral die völlige Verkehrung des eigentlich Christlichen erkennt. Diese theologische Grundüberzeugung findet sich schon bei dem ganz jungen Bonhoeffer der drei Barcelona-Vorträge von 1928/1929, die auch sonst bereits deutlich von der Beeinflussung durch Nietzsche zeugen. Allerdings sind manche Aspekte der Nietzsche-Auseinandersetzung noch recht schematisch und konventionell; einiges davon muss auf die jugendliche Sturm-und Drang-Phase des erst 23jährigen gerechnet werden, in der er für das Übermenschen-Pathos des späten Nietzsche noch weitaus empfänglicher war als zur Zeit der Ethik. Die in den Barcelona-Vorträgen nur angedeutete Kritik an Nietzsche ist in der Ethik zu einer dezidierten Gegenposition ausgeführt, wie sich noch zeigen wird122. Nietzsches Beurteilung der christlichen Moral wird von Bonhoeffer daher modifiziert: Moral bzw. Ethik123 wird einer fundamentalen Kritik unterzogen, Trinität etc.) als Grund und Inhalt des Christentums übrig bleibt und sich zuletzt vor ihrer lex veritatis als selbstwidersprüchlich enthüllt. Aufklärung resp. neuzeitliche Erkenntniskritik und Moralisierung des Gottesverhältnisses erweisen sich für ihn so als notwendige Elemente des Geschichtsprozesses (Entwicklungsgedanke!), denen jedoch gerade keine Wahrheitsgeltung zukommt, weil das Ziel des Prozesses die Vernichtung der Wahrheitsforderung selbst ist. Wenn das forum internum rationis und die Normativität der praktischen Vernunft und schließlich auch der ins Sittliche verlegte Gottesbegriff aufgehoben sind, bleibt – da ist Nietzsche konsequent bis zum Äußersten – nur noch der starke Einzelne, der mit diesem Wissen leben kann und sich seine eigenen Werte setzt. In ihm prägt sich dann der die Welt im Fluss haltende und in ihrer Struktur bestimmende Wille zur Macht in vorzüglicher Weise aus. 121 Vgl. E 66 f. 122 Vgl. zu den genannten Vorträgen DBW  10,  285–354; außerdem Köster, Antipode, 371–287, bes. 372: „In Bonhoeffers Schrifttum stellen sie [sc. die Barcelona-Vorträge] […] so etwas wie ein Präludium zur späteren ‚Ethik‘ und den hier zu verhandelnden Sachfragen dar.“. 123 Bonhoeffer unterscheidet nicht zwischen Moral und Ethik als der Reflexion der Moral; beide Begriffe werden weitgehend synonym verwendet mit einer deutlichen Präferenz

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die zwar von Nietzsche inspiriert ist und sich grundlegender Einsichten von diesem bedient, aber ganz anders begründet wird. Denn nun werden Christentum und Moral in ein antagonistisches Verhältnis gesetzt und dadurch dem liberalen Protestantismus wie auch Nietzsches Auffassung vom Wesen des Christentums gleichermaßen eine Absage erteilt. Den Hintergrund für diese kritische Rezeption von Nietzsches Christentumskritik bildet Bonhoeffers eigene, von Barth wesentlich beeinflußte, grundsätzliche Kritik an der liberalen Theologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts; die ethische Zuspitzung einer kantisch beeinflußten Theologie erscheint dem jungen Bonhoeffer als die eigentliche Ursache für die gesellschaftliche Schwächung des Christentums seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, deren Exponent die antichristliche Polemik Nietzsches geworden ist. In der Ablehnung liberaler Theologie resp. eines moralistischen Christentums ist Nietzsche für Bonhoeffer zunächst ein wichtiger Bundesgenosse. Denn Nietzsche hat, so Bonhoeffer, schärfer als andere erkannt, dass sich hinter der christlichen Moral teilweise auch deren Gegenteil verbirgt, d. h. Aktionen und Reaktionen niederer Triebe und Instinkte, deren „dunkle[ ] Motive“124 im Regelfall unbewusst125 bleiben, gleichwohl aber real und mit psychoanalytischen Methoden auch erfassbar sind126. Damit ist allerdings eine Auffassung, die im Gefolge Kants das Wesentliche am Christentum in dem Ziel der Herausbildung der sittlichen Persönlichkeit erblickt und dessen Möglichkeitsbedingungen anthropologisch verankert, grundsätzlich infrage gestellt. Nietzsches radikale Kritik christlicher Moral hat Bonhoeffer in seine Bestimmung der christlichen Ethik als Kritik aller Ethik aufgenommen, wenn er den Typus des Pharisäers als Inbegriff des moralischen Menschen127 Jesus des Begriffs Ethik und seinen Derivaten, wie z. B. E 365 belegt (meine Hervorhebungen): „Es gibt eine Art das ‚Ethische‘ zum Thema zu machen, die für eine christliche Ethik von vornherein ausscheidet. Die leise ironische Abwehrgeste gegen jeden Versuch, das Ethische zum selbständigen Thema der Erörterung werden zu lassen, wie sie Friedrich Theodor Vischer seinem ‚Auch Einer‘ in den Mund legt: ‚Das Moralische versteht sich immer von selbst‘, verrät – in gewissen Grenzen – vielleicht mehr Einsicht in das Wesen des ‚Ethischen‘ als manches Lehrbuch der christlichen Ethik.“; vgl. auch E 369 f. und E 368: „[…] das sogenannte ‚ethische Phänomen‘ – also ‚das Erlebnis des Sollens‘ […]“. Ausnahmen stellen die polemischen Wendungen „doppelte Moral“ (E 243.359 f.) und „Moralisierung des Lebens“ (E 368. 371) dar. 124 E 317. 125 Zum Unbewußten bei Nietzsche vgl. Müller-Buck, Psychologie, 511 f. 126 Bonhoeffer hat die neue psychologische Wissenschaft, deren Vorläufer in gewissem Sinne Nietszche darstellt, voll akzeptiert und gesteht ohne Umschweife zu, dass gerade bei besonders eifrigen Moralisten „Racheinstinkte“, „heimliche[ ] Verlogenheit“, „verzweifelnde Empörung“ etc. als die eigentlichen Motive psychologisch enthüllt werden können (E 317). 127 Vgl. auch Köster, Antipode, 393, der den Pharisäer in Bonhoeffers Ausführungen E 311 ff. als „Typus des reinen Ethikers“ bezeichnet. Dass diese Bezeichnung als synonym mit der von mir gewählten des „moralischen Menschen“ gelten soll, beruht nicht einfach

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Christus, dem neuen Menschen, gegenüberstellt. Das primäre Charakteristikum des Pharisäers, wie Bonhoeffer ihn beschreibt, ist das Messen menschlicher Handlungen am Maßstab von Gut und Böse. Die pharisäische Moral ist darum – so konstatiert Bonhoeffer in Anlehnung an Nietzsche – in ihrem Wesen den anderen Menschen verurteilend: „Das Tun des Pharisäers ist […] ein Richten der anderen Menschen […]“128; der Pharisäer kann „keinem Menschen anders gegenübertreten, als indem [er] ihn auf seine Entscheidungen in den Lebenskonflikten hin [prüft]“129 und ein Urteil über die moralische Qualität seines Handelns fällt. Nietzsches Vorwurf aus dem Antichristen und dem Zarathustra: „‚richtet nicht‘, sagen sie“, aber „mit [ihren] Werthen und Worten von Gut und Böse [üben sie] Gewalt“ etc.130 klingt in Bonhoeffers Ausführungen unüberhörbar mit. Und auch der Begründung Nietzsches, dass nämlich das pharisäische Richten Ausdruck einer Haltung sein kann, die statt von der Ausrichtung auf das moralische Gute von einem ganz und gar nicht moralischen Racheinstinkt gekennzeichnet ist, stimmt Bonhoeffer hier ausdrücklich zu131. Der äußere Befund Nietzsches, dass Moral, insbesondere die Gesinnungsmoral eines kantisierenden Christentums, keinesfalls immer ihren eigenen Maßstäben entspricht, sondern dass sie manches Mal der Kompensation eigener Schwäche dient132, wird von ihm zunächst akzeptiert und in die eigene Kritik integriert: Denn es ist „eben diese [sc. von Nietzsche destruierte] ideologische, psychologisierendem Verdacht manche Nahrung gebende Form der christlichen Ethik, die Bonhoeffer theologisch zu überwinden sucht“133. Die psychologischen Befunde immoralischer Motive scheinbar moralischer Äußerungen und Handlungen werden von Bonhoeffer allerdings ausdrückdarauf, dass hier ein (scheinbares) terminologisches Defizit Bonhoeffers unbesehen übernommen würde, sondern hat einen tieferen, sachlichen Grund: Bonhoeffers Pharisäer, der moralische Mensch, zeichnet sich gerade dadurch aus, dass alles moralische Handeln bei ihm zuletzt ein Reflektieren ist und gerade nicht „wirkliche[s] Tun“ (E 316 f.), wodurch er tatsächlich zum Ethiker im strengen Sinne wird. Dem entspricht, dass Bonhoeffer mit der Darstellung des Pharisäers explizit nicht einfach einen verkehrten oder heuchlerischen Moralismus und Rigorismus, sondern ethische Theorien als solche einer fundamentalen Kritik unterziehen will (E 3011)). Moralisches (Schein-)Tun und ethisches Reflektieren sind aus Bonhoeffers theologischer Perspektive folglich eins, so dass es in diesem Fall nicht (bzw. nicht nur) mit einer gewissen, bei ihm durchaus stellenweise zu beobachtenden, Nachlässigkeit gegenüber terminologischen Differenzen zu tun hat, dass beide Begriffe letztlich austauschbar erscheinen. Die epistemologische Frage, inwiefern moralisches Tun und Reflektieren identisch und Kennzeichen des homo peccator sein sollen, wird ausführlich im nächsten Kapitel verhandelt. 128 E 316. 129 E 312. 130 S.o. A.II.3. 131 E 317. 132 Vgl. E  317, wo dies ausdrücklich formuliert ist: „Racheinstinkte“ als Movens eines „besonders giftige[n] Richtgeist[es]“. S. dazu ausführlich o. A.II.3. 133 Köster, Antipode, 395.

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lich anders bewertet als von seinem Gewährsmann Nietzsche, denn er „glaubt hier eine ganze Dimension tiefer zu sehen als Nietzsche in seiner Zuordnung von Rache und richtendem Ressentiment zu einer Sklavenmoral, die für Nietzsche nun gerade als Christentum sich realisiert.“134 Nietzsches generalisierende Deutung der Befunde, die sich im Rahmen einer dezidiert antichristlichen Metaphysik des Willens zur Macht vollzieht, verfehlt vielmehr in Bonhoeffers Deutung seine entscheidende Einsicht, die besagt, dass das Verhältnis von „Böswilligkeit“135 und moralischem Richtgeist gerade umgekehrt sei, dass also Nietzsche zwar das Phänomen, gerade aber nicht die Ursache des Phänomens erkannt habe. Denn das moralische Richten aus böswilligen Motiven ist Bonhoeffer zufolge zwar Ausdruck der Sündhaftigkeit oder Verkehrtheit des Menschen; das Begründungsverhältnis wird von ihm aber nun explizit umgedreht: „[…] nicht aus jenen Untugenden und noch so abgründigen Bosheiten des menschlichen Herzens entspringt das Richten, sondern das Richten ist der Ursprung aller jener psychologisch faßbaren Erscheinungen.“136

Was Nietzsche, so Bonhoeffer, nämlich nicht gesehen hat und nicht sehen konnte, weil diese Erkenntnis erst retrospektiv, aufgrund der geschehenen Versöhnung möglich und also eine Glaubenseinsicht ist137, ist die Tatsache, dass es sich bei dem verkehrten Richten, der christlichen Schein- oder Ressentiment-Moral, lediglich um ein abgeleitetes Phänomen handelt, das allerdings Hinweis auf den „wahren Sachverhalt“138 werden kann, denn „[n]icht […] weil das Richten aus so dunklen Motiven kommt, ist es verwerflich, – so meinte es Nietzsche – sondern weil das Richten selbst der Abfall ist, darum ist es böse und darum treibt es auch böse Früchte im menschlichen Herzen. Es läßt sich ja auch gar nicht leugnen, daß psychologisch gesehen auch höchst edle Motive aufgedeckt werden können, die den Richtenden bestimmen. Das vermag aber an der Sache selbst nichts zu ändern.“139

So wie es in Bonhoeffers Einschätzung unleugbar ist, dass Nietzsches Befund teilweise zutrifft, so ist es für ihn gleichwohl auch unleugbar, dass er manches Mal an der Sache vorbeigeht, weil die Motive des moralischen Richtens und Handelns selbst durchaus moralisch sein und daher auch der psychologischen Analyse standhalten können. Nietzsches Moralkritik hat demnach für Bonhoeffer eine phänomenologische Relevanz: sie deckt anhand des extremen, faktisch aber vorhandenen Falls einer Schein- oder Ressentimentsmoral auf, 134

Köster, Antipode, 395. E 317. 136 E 317. 137 E 318. 138 E 317. 139 E  317 f. (meine Hervorhebung). Der Selbstwiderspruch der Moral, wie Nietzsche ihn konstatiert, ist für Bonhoeffer demnach kein notwendiger, sondern nur ein faktischer. 135

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dass es mit der Moral insgesamt nicht ihre Richtigkeit haben kann, und zwar auch dann und gerade dann, wenn es anhand ihrer eigenen Maßstäbe keinen Ansatz für Kritik gibt. Aus diesem Grund wehrt Bonhoeffer auch die nicht unübliche Charakterisierung des Pharisäers als übelgesinnten Heuchlers, die auffällig Nietzsches Zeichnung des moralischen Christenmenschen ähnelt, ab140; vielmehr repräsentiert der Pharisäer in Bonhoeffers Interpretation das Idealbild eines Richters, das Gegenbild des von Nietzsche so heftig bekämpften Ressentiment-Moralisten: „Der Pharisäer ist jener in höchstem Maße bewunderungswürdige Mensch, der sein ganzes Leben unter sein Wissen um Gut und Böse stellt, der ein ebenso harter Richter seiner selbst wie seines Nächsten ist – zur Ehre Gottes, dem er dieses Wissen demütig dankt.“141

In etwas ungewohnter Weise zeichnet Bonhoeffer im Verlauf des Kapitels den Pharisäer daher als moralischen Menschen im besten Sinne, der ernsthaft und selbstkritisch um das Gute in jeder Situation und Lebenslage bemüht und sich dabei seiner Verantwortung vor Gott bewusst ist142. Gerade daran erweist es sich jedoch, dass es sich bei der von Bonhoeffer zu Beginn des Kapitels angekündigten Kritik der Ethik wirklich um eine fundamentale Infragestellung handelt, die schließlich auch zu einer völlig neuen Begründung theologischer Ethik führen muss: Das Gefallensein des Menschen, so Bonhoeffer, manifestiert sich eben nicht primär im moralisch Bösen, sondern es besteht in der moralischen Urteilsfähigkeit selbst, die notwendig den zweiwertigen Maßstab des Gut und Böse voraussetzt. Der das Gute erstrebende Pharisäer steht daher in Bonhoeffers Interpretation für Adam, den „Menschen der Entzweiung schlechthin“143, der gerade in seinen als moralisch besonders wertvoll anzuerkennenden Bemühungen sein ursprüngliches Menschsein, seine Erwählung zu Gottes Ebenbild, verfehlt. Inwiefern aber ist das moralische Urteilen anhand des Maßstabs von Gut und Böse nun der Inbegriff der Sünde? Nietzsches Behauptung, dass Moral notwendig immoralisch sei und deshalb keine absolute Geltung beanspruchen 140 E 311: „Jedes Zerrbild der Pharisäer nimmt der Auseinandersetzung Jesu mit ihnen seinen Ernst und seine Wichtigkeit.“ Eine historisch angemessene Darstellung biblischer Aussagen liegt jedoch ebenso wenig in Bonhoeffers Interesse; vielmehr geht es ihm um den theologischen Gehalt der biblischen Pharisäerdarstellungen, der seinen Auslegungsprinzipien zufolge erst vom Standpunkt der Kirche aus zu erheben ist (vgl. dazu o. A.II.2). Der Pharisäer stellt demzufolge wesentlich gerade nicht eine „zufällige historische Zeiterscheinung“ (ebd.), einen Vertreter der hellenistisch-jüdischen Frömmigkeitsbewegung um die Zeitenwende dar. S. auch Köster, Antipode, 394, der feststellt, dass „das Negativbild [des Pharisäers] […] mit dem historischen Befund schwer zu vergleichen“ sei. 141 E 311 f. Der Pharisäer wird von Bonhoeffer im Folgenden als geistig angespannter, abwägender, ernsthafter, zugleich milder und nachsichtiger, sachlicher und unbestechlicher Mann charakterisiert. 142 Vgl. auch E 334. 143 E 311, vgl. auch 317.

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könne, wurde damit von Bonhoeffer ja gerade abgewiesen. Doch auch hier bewegt sich Bonhoeffer zunächst in der Nähe von Nietzsche; so konstatiert er an anderer Stelle, aber sachlich in enger Verbindung zu dem hier untersuchten Text, dass dieser teilweise tiefer gesehen habe, wenn er erkenne, dass der „gefährlichste Hochmut der Kirchenchristen“ darin liege, aus der christlichen Demut wieder ein Werk zu machen. „Nietzsche hat das durchschaut, seine Kritik gegen die Knechtsseligkeit ist oft eine wirklich christliche [!]“144. Das Gefährliche an der christlichen Moral ist demnach die ihr eigene Tendenz zur Selbsterhöhung des Menschen, eine Tendenz, die Nietzsche scharf gesehen und polemisch zugespitzt hat: „Indem sie Gott richten lassen, richten sie selber; indem sie Gott verherrlichen, verherrlichen sie sich selber; indem sie die Tugenden fordern […] geben sie sich den grossen Anschein eines Ringens um die Tugend, eines Kampfes um die Herrschaft der Tugend. ‚Wir leben, wie sterben, wir opfern uns für das Gute‘ […] sie [machen] sich eine Pflicht daraus: als Pflicht erscheint ihr Leben als Demuth, als Demuth ist es ein Beweis mehr für Frömmigkeit …“145.

Dass diese Tendenz zur Selbsterhebung notwendig im Hintergrund der christlichen Moral mit ihrem Gottesbegriff steht, ergibt sich allerdings für Nietzsche aus seinem oben bereits erläuterten Konstrukt zur Genealogie der Moral; es handelt sich für ihn um die „verhängnissvollste Art von Grössenwahn […] kleine[r] Missgeburten von Muckern und Lügnern“146, deren „Schwäche […] zum Verdienste [!] umgelogen“147 wird. Der Gottesbegriff ist nach Nietzsches Überzeugung dagegen leer; seine Funktion besteht darin, den Schwachen, der sein Sein nicht auf sich selbst begründen kann, wie der selbstmächtige Übermensch, lebensfähig zu erhalten148. Adressaten der christlichen Demutsmoral, 144 DBW 11, 205. Dass Nietzsches Kritik christlich wider Willen ist, wird von Bonhoeffer hier nicht ausgeführt, ergibt sich aber aus der impliziten Nietzsche-Kritik in der Ethik (und an anderen Orten), auf die noch zu sprechen zu kommen ist. 145 AC 44, KGW 6.3, 217 f. Vgl. auch A.II.3.b mit den dort noch zitierten Textstellen GM I 10, KGW 4.2, 287 f.; GD: „Moral als Widernatur“ 6, KGW 6.3, 81; außerdem die auch vom Herausgeber-Apparat der Ethik ausgewiesene Stelle aus Za III „Von alten und von neuen Tafeln“ 26, KGW 6.1, 261 f.: „Oh meine Brüder! Bei Welchen liegt doch die größte Gefahr aller Menschen-Zukunft? Ist es nicht bei den Guten und Gerechten? – als bei Denen, die sprechen und im Herzen fühlen: ‚wir wissen schon, was gut und gerecht, wir haben es auch; wehe Denen, die hier noch suchen!‘ […] Oh meine Brüder, den Guten und Gerechten sah Einer einmal in’s Herz, der da sprach: ‚es sind die Pharisäer‘ […]“. 146 AC 44, KGW 6.3, 218. 147 GM I 14, KGW 6.2, 295. 148 Vgl. etwa AC 54, KGW 6.3, 234 f.: „Jede Art von Glaube ist selbst ein Ausdruck von Entselbstung, von Selbst-Entfremdung … Erwägt man, wie nothwendig den Allermeisten ein Regulativ ist, das sie von außen bindet und festmacht, wie der Zwang, in einem höheren Sinn die Sklaverei, die einzige und letzte Bedingung ist, unter der der willensschwächere Mensch […] gedeiht: so versteht man auch die Überzeugung, den ‚Glauben‘.“ Vgl. dazu den bekannten Abschnitt „Der tolle Mensch“ aus FW III 125, KGW 5.2, 158–160, bes. 159: „Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, – ihr und ich! […]

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die in Wahrheit ein sublimierter, aber umso wirkungsmächtigerer Hochmut ist, sind darum die Starken, die sich aus sich selbst heraus als (absoluten) Zweck setzen können149 und deshalb keine Moral nötig haben. Auch hinsichtlich dieses Befunds gibt Bonhoeffer Nietzsche nun zunächst recht, um jedoch dessen Diagnose sofort umzudeuten und mit einer ganz anderen Begründung zu versehen. Wie dieser erkennt er hinter der Moral den versteckten, aber gleichwohl prinzipiellen Drang des Menschen, sich selbst zu beurteilen und für gut zu befinden, sich selbst also gerecht zu sprechen aufgrund der eigenen moralischen Urteilsfähigkeit. „Das Tun des Pharisäers ist dadurch ein Richten […] daß es die Öffentlichkeit des Urteils – und sei es nur die Öffentlichkeit vor dem eigenen Ich – sucht, daß es gesehen, beurteilt, als gut – und sei es nur vor dem eigenen Ich – anerkannt werden will. ‚Alle ihre Werke tun sie, daß sie von den Leuten gesehen werden‘ (Mt 23,5). Das Tun des Pharisäers ist nur eine bestimmte Ausdrucksweise seines Wissens um Gut und Böse und also seiner Entzweiung mit dem anderen Menschen und mit sich selbst.“150

Der signifikante Unterschied zu Nietzsche wird jedoch dadurch angezeigt, dass Bonhoeffer als Forum, vor dem das moralische Urteil des Menschen gesprochen wird, nicht etwa ausschließlich die soziale Sphäre anspricht; hinter dem Verhältnis zum Mitmenschen, den das moralische Urteil trifft, erscheint das Selbstverhältnis des Urteilenden, die „Öffentlichkeit vor dem eigenen Ich“, das, indem es ein moralisches Urteil über den Mitmenschen – oder sich selbst – fällt, sich damit zugleich als Urteilenden beurteilt. Entscheidend ist für Bonhoeffer daher nicht die Frage nach den (guten oder bösen) Motivationen eines Urteils über den anderen Menschen, sondern die Begründung des Menschen als Urteilsinstanz durch sich selbst: auch der sich selbst verurteilende Mensch setzt sich selbst darin zugleich als absolute moralische Instanz, deren Urteil unbedingte Geltung beansprucht und eben dadurch den Versuch der Selbstrechtfertigung bedeutet – wenn auch auf besonders subtile Art und Weise: „Das Gewissen gibt sich als die Stimme Gottes und als die Norm des Verhältnisses zum Mitmenschen aus […] Der Mensch ist zum Ursprung von Gut und Böse geworden. Er leugnet nicht sein Böses, aber im Gewissen ruft der Mensch sich selbst, den Bösegewordenen, zu seinem eigentlichen, besseren Selbst, zum Guten zurück […] Das Wissen um Gut und Böse in sich tragend ist der Mensch Richter […] geworden […] [i]m Konflikt

Stürzen wir [nun] nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts?“. Das unendliche Nichts kann nur der starke Mensch, der Skeptiker, ertragen, der aus „[der] Stärke, [der] Freiheit aus der Kraft und Überkraft des Geistes“ lebt und Werte und Überzeugungen nur als Mittel seiner Leidenschaft, der „Macht seines Seins“, gebraucht (AC 54, KGW 6.3, 234). 149 Vgl. AC 54, KGW 6.3, 234. 150 E 316. Vgl. DBW 11, 205.

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[…] wird der Richter angerufen. Der Richter aber ist der Wissende um Gut und Böse, ist der Mensch.“151

Dass der Mensch als sein eigener Richter dann aber die Rolle Gottes übernimmt, „gottgleich“, sicut Deus152, wird, ist der eigentliche Grund für Bonhoeffers Identifizierung der moralischen Urteilsfähigkeit mit dem peccatum originale; die „äußerste Realisierung seines Guten“153, das moralische Urteil – und sei es auch die Verurteilung seiner selbst –, ist nichts anderes als die Gottlosigkeit des gefallenen Menschen, der Gott nicht mehr Richter über sich sein läßt154 und stattdessen das Gute (und Böse) in seinem eigenen Erkenntnisvermögen sucht und zuletzt auch noch über Gottes Wort selbst zu urteilen beansprucht155. Im Unterschied zu Nietzsche wird darum von Bonhoeffer das von konkreten Menschen oder Menschengruppen faktisch gebrauchte Phänomen Moral nicht auf einen (scheinbar) historisch und psychologisch erfassbaren Grund zurückgeführt; vielmehr deutet er Moral als anthropologisches Charakteristikum, das als solches prinzipiell Ausdruck der Selbstrechtfertigung des Menschen und insofern Inbegriff der Sünde ist156. Nur auf diesem Hintergrund aber leuchtet auch seine Identifizierung von Moral und Richten ein; denn das Wesentliche an der Moral ist für Bonhoeffer nicht das ihr vielleicht entsprechende Tun des Guten und Unterlassen des Bösen, sondern das zugrunde liegende moralische Urteil des handelnden Menschen – aus dem dann leicht auch ein Verurteilen des Anderen werden kann. 151

E 309 f.311, vgl. auch E 329! E 316; s. auch 304 und die mit „Sicut deus“ überschriebene Auslegung von Gen 3,4–5, SF 103–106. 153 E 316, vgl. auch 320.322. 154 Vgl. auch die frühen Äußerungen Bonhoeffers hierzu, die ganz offenbar von Barth und dessen Kritik an der liberalen Theologie beeinflusst sind: „In der Religion, in der Moral steckt der Keim der Hybris […] d. h. des Stolzes, des Hochmutes. Man glaubt in sich zutiefst doch noch etwas gottähnliches, göttliches zu entdecken, was uns auf die göttliche Ebene hebt, was uns berechtigt, Ansprüche zu stellen.“ (DBW 10, 315) Die Frontstellung gegen die liberale Theologie ist für den späteren Bonhoeffer nicht mehr im Vordergrund, sicherlich auch, weil sich die theologische Lage mit den historischen Umbrüchen verändert hat; im Kern weicht er jedoch von der hier noch wenig eigenständig und differenziert formulierten Auffassung auch später nicht wesentlich ab, wie diesem Kapitel zu entnehmen ist. Vgl. außerdem Barth, R II, 415: Das „vermeintliche Ethos, das von den Höhen der Menschheit herunter predigt [verrät sich] […] an der heiser krächzenden, wenig imponierenden Stimme, die nur von dem Titanismus des bösen und guten Menschen und von dem Gericht, unter dem aller Titanismus steht, immer neues Zeugnis ablegen kann. Ermahnung ist nur da möglich, wo des Menschen Recht darauf begründet ist, daß er – unrecht hat, also nur ‚aufgrund der Erbarmungen Gottes‘.“; vgl. auch 30–40 („Menschengerechtigkeit – Der Richter“); KD II/2, 707. 155 SF 100 f. 156 Vgl. etwa E  323: „Unbegreiflich und verwerflich muß dem Pharisäer, der das letzte Gericht in täglichem ernsten Selbstgericht vorwegnehmen, vorbereiten zu können glaubte, diese Botschaft sein, daß er das Gute allein aus dem Wissen, dem Urteil der Hand Jesu empfangen soll.“ 152

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Das Wissen um Gut und Böse, das Grund und Inhalt der moralischen Urteilsfähigkeit bildet, mag dann zwar allgemein-menschlich sein, sich also in bestimmter Hinsicht als auch inhaltlich universal erweisen; es ist aber nichtsdestotrotz kein Wissen um unbedingte, überzeitliche Werte, das aus einer intellektuellen Schau, einer göttlichen Inspiration im Gewissen oder ähnlichem resultiert, sondern ein Akt der Selbstapotheose des Menschen, der den zweiwertigen moralischen Maßstab aus sich heraus setzt, mit dem er selbst und seine Welt gemessen wird157. Zuletzt muss darum der Mensch sich selbst als absolut verstehen: „[er] weiß nun sich selbst als Ursprung von Gut und Böse […] als Gegengott ist der Mensch geworden wie Gott“158. Wenn folglich das Phänomen Moral an sich selbst Ausdruck des Falls ist und dieses Phänomen strukturell durch die Zweiwertigkeit des Urteils, also die Unterscheidung normativer Alternativen, gekennzeichnet ist, die von Bonhoeffer mit dem Adjektivpaar gut-böse bezeichnet werden159, leuchtet es ein, dass er anstelle der Begriffe ‚Sündenfall‘, ‚Erbsünde‘ (peccatum originale) oder ‚Sünde‘ meistens als synonym mit allen drei den der „Entzweiung“ setzen kann160 und dieser wiederum für „das Auseinanderbrechen der Erkenntnis in Gutes und Böses“161 steht. Der Mensch im Urstand dagegen „weiß weder was gut noch was böse ist; er lebt im eigentlichsten Sinn jenseits von gut und böse, nämlich aus dem Leben, das […] im Guten wie im Bösen den undenkbaren Abfall bedeuten würde“162. Dieses von Bonhoeffer in Anspielung an Nietzsche als urständliches Sein postulierte „Jenseits von Gut und Böse“ muss 157 Vgl. dazu auch Barth, R II, 410: „Das Problem der Ethik bedeutet die ausdrückliche Erinnerung und Einschärfung, daß der Gegenstand solchen Gesprächs keine Objektivität, keine Über- oder Hinterwelt [Nietzsche!], keine Metaphysik, kein Schatz seelischer Erlebnisse, keine transzendente Untiefe ist […]“. Barth hält allerdings an dem Maßstab des Gut und Böse fest, deutet ihn jedoch dahingehend um, dass das Gute „der Wille Gottes in seinem Gebot“ ist und insofern „das Kriterium des Guten und Bösen in unserem Tun“, also die Frage nach „Gehorsam oder Ungehorsam“ (KD II/2, 703.705), so dass dieses Gute letztlich auch bei Barth prinzipiell inkommensurabel mit menschlichen Einsichten in das allgemeine Gute der Moral ist. 158 E 303 f. Vgl. auch SF 107 f. 159 Die Zweiwertigkeit bleibt natürlich auch dann bestehen, wenn Komparativformen verwendet werden. 160 SF 82 u. ö.; E 302 ff. 161 SF 82. 162 SF 82. „Undenkbar“ deshalb, weil dem Adam im status integritatis ja gerade das zweiwertige moralische Urteilen keine Existenz- bzw. Denkmöglichkeit darstellt. Solange er nicht gefallen ist, gibt es keine Moral für ihn. Dass er fällt, ist, so Bonhoeffer, unerklärlich, weshalb die Frage unde malum? auch gar nicht gestellt werden kann. Vgl. SF 96.111 f.: „Die Frage nach dem Warum des Bösen ist keine theologische Frage […] Könnten wir das Warum beantworten, so wären wir nicht Sünder.“ Die Frage quid malum? ist dagegen sehr wohl Gegenstand theologischer Rede, sie wird ja nicht nur in diesem Kapitel verhandelt, sondern auch an etlichen anderen Orten innerhalb von Bonhoeffers Werk (etwa SF 75–87.96–122 oder AS 135–148), wobei sie jedoch präzise nur lauten kann: quid fuit malum? (vgl. SF 113). Vgl. auch DBW 10, 327.

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daher ganz anders als bei diesem aufgefasst werden. Denn das Jenseits von Gut und Böse, das Bonhoeffer als ursprüngliches Sein des Menschen konstatiert, ist wörtlich zu nehmen als eine Existenz, die die moralische Ambivalenz nicht kennt und sich daher in der Unwissenheit um Gut und Böse, a-moralisch im strengen Sinne163, vollzieht. Demgegenüber behält Nietzsche ein funktionales Äquivalent der Moral bei: Zwar ist das selbstmächtige Leben des Übermenschen als Gegenbild der (christlich-bürgerlichen) Moral gekennzeichnet und kann daher von ihm mit gewissem Recht als immoralisch bzw. übermoralisch164 bezeichnet werden, soweit es an dieser gemessen wird. Dennoch handelt es sich strukturell um ein Denken in alternativen Handlungs- resp. Existenzformen, die zwar den zeitgenössischen Moralvorstellungen inhaltlich widersprechen, für das aber ebenso wie für diese der Dualismus von – wie auch immer begründeten – Wertungen (Gut – Böse, Vornehm – Schlecht, Stark – Schwach) konstitutiv ist. Diese zweifellos von Luther beeinflusste Kritik Bonhoeffers an der moralischen Selbstbeurteilung des Menschen erhält dadurch aber einen bestimmten, über die ethische Fragestellung hinaus weisenden Schwerpunkt. In Auseinandersetzung mit der aufklärerischen und nachaufklärerischen Philosophie, insbesondere dem Idealismus, fokussiert Bonhoeffer die Frage nach der Begründung der theologischen Ethik auf die in ihr implizierte Erkenntnisfrage: Das Wissen um Gut und Böse, d. h. das moralische Urteil über die bonitas vel malitia operum, wird als Grund der Selbstrechtfertigungsversuche des Menschen ausgemacht; zugleich steht dieses aber metonymisch für sämtliche menschlichen Erkenntnisbestrebungen und folglich für die menschliche Existenz überhaupt, die von Bonhoeffer daher auch kurz als „entzweite

163 DBW 10, 315, hier bezogen auf das eschatologische Sein des Menschen, das wie im Urstand jenseits von Gut und Böse ist: „[…] so ist die christliche Botschaft grundsätzlich amoralisch […] so paradox das klingen mag.“; 327: „Die Entdeckung des Jenseits von Gut und Böse gehört also durchaus nicht dem Christentumsfeind Fr. Nietzsche, der von hier aus gegen das Moralin des Christentums polemisiert, sondern sie gehört zum freilich verschütteten Urgut der christlichen Botschaft.“ In der Ethik taucht häufig der Ausdruck „Nichtwissen (um Gut und Böse)“ anstelle der ausdrücklichen Bezugnahme auf Nietzsches „Jenseits von Gut und Böse“ auf (E 224.268.318 ff.); in Schöpfung und Fall dagegen stehen beiden Wendungen nebeneinander (meist allerdings „Unwissenheit“ statt „Nichtwissen“, vgl. etwa SF  79–82). Der Grund liegt zweifellos darin, dass sich Bonhoeffers Position Nietzsche gegenüber mit den Jahren verändert hat: in der Anfangszeit der theologischen Bezugnahmen auf Nietzsche, also zur Zeit seines Barcelona-Aufenthaltes, überwog noch die zustimmende Rezeption, wenn auch mit inhaltlichen Verschiebungen, wie sich gezeigt hat, während Kritik am „Christentumsfeind“ hauptsächlich implizit und zurückhaltend geübt wurde. Die Ethik dagegen enthält einen regelrechten Gegenentwurf zu Nietzsches später Philosophie, obwohl die konstruktiv rezipierten Elemente der Moralkritik, des Jenseits von Gut und Böse und anderer Gedanken (s. später) erhalten geblieben sind. S. Köster, Nietzsche-Kritik, 662; ders., Antipode, 417. 164 S. z. B. JGB VII 226, KGW 6.2, 168.

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Existenz“165 bezeichnet werden kann. Ihre Erkenntnisse unterliegen ebenso wie alle menschlichen Verhältnisse und Selbstverhältnisse grundsätzlich dem „Gesetz der Entzweiung“166, das in der ursprünglichen Entzweiung des Menschen mit Gott gründet und in dem moralischen Wissen um Gut und Bösen deshalb seinen prägnantesten und wesentlichsten Ausdruck findet, weil die Frage nach dem geforderten Tun des Menschen, die „Frage nach dem Guten […] zu unserem Leben [gehört] wie unser Leben zu der Frage nach dem Guten gehört.“167

4. Die Entzweiung in Gut und Böse Während Nietzsches Moralkritik von Bonhoeffer offenbar aus Gründen ihrer empirischen, wenn auch nicht systematischen bzw. begründungstheoretischen, Plausibilität in seine Konzeption theologischer Ethik aufgenommen wurde, steht hier noch eine ganz andere Auseinandersetzung im Hintergrund, die bisher allerdings nur angedeutet werden konnte und nun systematisch eingeholt werden soll. Über die von Nietzsche bereits formulierte Kritik an der zeitgenössischen kantisierenden Theologie hinaus, arbeitet sich Bonhoeffer besonders an einem weiteren philosophisch-theologischen Gegner ab, dessen Wirkung auf die Theologie kaum geringer als diejenige Kants war: Georg Wilhelm Friedrich Hegels spekulative Ausdeutung der christlichen Religion, präzise des Trinitätsdogmas, der lutherischen Christologie und des Sündenfalls, wie sie Bonhoeffer aus dessen Vorlesungen über die Religionsphilosophie bekannt war168, wird in dem vermutlichen Einleitungskapitel 165

E 316. E 322, hier geht es konkret um psychologische Erkenntnisse. S. auch die schon (A.II.2.a) zitierte Stelle, wonach der gefallene Mensch in der „Entzweiung mit den anderen Menschen und mit sich selbst“ existiert. In Schöpfung und Fall (SF 82–87) wird diese Ausweitung des „moralischen Zwiespalt[s]“ auf einen „letzten Zwiespalt in der Welt des Menschen überhaupt“ anhand der Begriffe „tob“ und „ra“ erläutert, die Bonhoeffer zufolge umfassender auch als „lustvoll“ bzw. „leidvoll“ zu verstehen sind und so auf die Vergänglichkeit des gefallenen Menschen hinweisen. Bonhoeffer scheint hier wiederum von Nietzsche inspiriert zu sein, vgl. Za IV „Das Nachtwandler-Lied“ 11, KGW 6.1, 399. Interessant ist, dass sich Bonhoeffer teilweise mit neueren exegetischen Erkenntnissen trifft, vgl. exemplarisch Westermann, Genesis I, 337: „An allen Stellen [sc. wo diese Wendung auftaucht] geht es um Erkenntnis (oder Weisheit) in allgemeinem, umfassendem Sinn. Damit ist jede partielle Deutung der ‚Erkenntnis von gut und böse‘ ausgeschlossen. Es kann weder die sittliche noch die sexuelle, noch eine andere Teilerkenntnis gemeint sein, sondern nur eine das ganze Menschsein umfassende und bestimmende Erkenntnis […] Das in Aussicht gestellte ‚Sein wie Gott‘ ist nicht noch etwas außer dem Erkennen, sondern es bezeichnet dieses Erkennen in seiner äußersten Möglichkeit: es geht um eine göttliche, eine auf das höchste gesteigerte Befähigung zur Bewältigung des Daseins.“ 167 E 245. 168 Bonhoeffer hat offenbar Hegel im Unterschied zu Kant als den gefährlicheren Gegner eingeschätzt, was angesichts von Hegels gewaltigem spekulativen und sich dezidiert 166

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zwar gar nicht explizit erwähnt, hat aber zweifellos nicht allein die Sache, sondern sogar die Formulierungen Bonhoeffers beeinflusst169. Bereits in Akt und Sein hatte Bonhoeffer sich mit Hegel auseinandergesetzt und befunden, dass bei diesem letztlich eine Apotheose des Menschen, nicht aber die echte Menschwerdung Gottes Grund des Systems sei170. Diese radikale Kritik ist mitzudenken, wenn in „Die Liebe Gottes und der Zerfall der Welt“ die Frage nach dem Verhältnis von Sünde, Offenbarung und Ethik gestellt und in grundsätzlicher Abgrenzung von Hegel beantwortet wird. a) Bonhoeffers Hegel-Rezeption Dass Hegels Philosophie schon früh auf die Ausbildung von Bonhoeffers Theologie, insbesondere bezüglich des Glaubensbegriffs (Akt und Sein) und des Kirchenbegriffs (Sanctorum Communio), aber auch im Zusammenhang mit weiteren Theologoumena, eingewirkt hat, kann hier nicht im Einzelnen aufgezeigt werden. Es sollen daher nur kurze Hinweise zu Bonhoeffers HegelRezeption gegeben werden, soweit sich diese rekonstruieren lässt. Dass auch in der Ethik eine kritische Auseinandersetzung mit Hegel für die Gesamtkonzeption eine Rolle spielt, muss sich im Folgenden erweisen. Es wird sich zeigen, dass die Ausweitung des schon früh entwickelten Glaubensbegriffs als Bewusstseinsakt hin zu einem existentiellen, wesentlich über das Handeln bestimmten Akt auch auf der Abgrenzung von Hegel beruht. Nachweisbar ist Bonhoeffers Hegel-Rezeption seit dem Referat über Kirche und Eschatologie bei Seeberg während der Studienzeit in Berlin171, sicherlich nicht nur angeregt sondern auch beeinflusst von diesem. Zu dieser Zeit wie auch später scheint sich Bonhoeffers Hegel-Lektüre wohl auf die Vorlesungen der lutherischen Dogmatik bedienenden System weder verwunderlich noch unangemessen erscheint (vgl. exemplarisch AS 44 f.47, wo von der „theologische[n] Unerträglichkeit“ des philosophischen Systems Hegels die Rede ist). Es ist zudem sehr wahrscheinlich, dass seine Barth-Kritik aus Akt und Sein (die sich allerdings noch nicht auf den Barth der Kirchlichen Dogmatik bezieht, vgl. aber WE 404 f.481 f.!) trotz ihrer erkennbaren Zurückhaltung letztlich auch auf eine vermutete Nähe Barths zu Hegel und die daraus sich ergebenden Implikationen, wie etwa die Vernachlässigung der konkreten Existenz des Glaubenden, zielt. 169 Nachweise werden im Laufe der Analyse geboten. 170 Vgl. etwa AS  47: „Die dem allem zugrunde liegende innerste Identität von Ich und Gott ist hier wie im ganzen Idealismus nur ein Ausdruck des Satzes: Gleiches wird nur durch Gleiches begriffen. Soll Gott zum Menschen kommen, so muss dieser im Wesen schon Gott von Art sein. Soll die Theologie das Verhältnis von Gott und Mensch fassen, so kann sie es nur, indem sie eine tiefste Gleichheit beider voraussetzt und gerade hier die Einheit zwischen Gott und Mensch findet. Man gleicht eben doch dem Gott, den man begreift.“ Der letzte Satz ist ganz streng zu nehmen und daher nicht nur als Absage an alle neuzeitlichen Versuche zu verstehen, den Glaubensbegriff über subjektivistische Reflexions- bzw. Bewusstseinsphilosophien zu deuten, sondern insbesondere als Grundsatzkritik an Hegel zu lesen. S. auch DBW 10, 315. 171 1926, DBW 9, 336–354.

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über die Philosophie der Religion weitgehend beschränkt zu haben, obwohl sich auch eine Ausgabe der Phänomenologie des Geistes samt Einführung in seinem Besitz befunden hat172. In seinen beiden akademischen Qualifikationsschriften wird Hegel explizit gewürdigt und kritisiert, wenn auch immer aus einer bestimmten, an Hegels System als solchem letztlich nicht interessierten Perspektive173. Sehr wahrscheinlich ist, dass er sich für seine hier schon mehrfach erwähnte Vorlesung Schöpfung und Fall wiederum mit der Religionsphilosophie Hegels auseinandergesetzt hat174; im darauf folgenden Semester hielt er selbst ein Seminar zu dieser ab, in welchem größere Abschnitte intensiv besprochen wurden, wie man aus der veröffentlichten Nachschrift F. Lehels ersehen kann175. Dort wird von der Herausgeberin I. Tödt am Ende auch ein kurzer Überblick über Bonhoeffers Notizen in seinen Bänden der Religionsphilosophie gegeben, der erkennen lässt, dass er sich intensiv mit den Abschnitten zum Sündenbegriff und zur Sündenfalldeutung im dritten Teil „Die absolute Religion“ auseinander gesetzt hat176. Diese Abschnitte waren aber wohl nur sehr beiläufig Gegenstand des Seminars und wurden vermutlich schon früher, nämlich im Zusammenhang von Schöpfung und Fall durchgearbeitet177, was es nur umso mehr rechtfertigt, nun auch in dem vermutlichen Einleitungskapitel der Ethik, in welchem deutliche Anleihen bei dieser Vorlesung gemacht wurden, eine implizite Aufnahme und Kritik von Hegels Sündenfalldeutung zu unterstellen  –  deren Umfang und Bedeutung damit allerdings noch nicht geklärt ist. Parallel zu dem Hegel-Seminar hielt Bonhoeffer seine Christologie-Vorlesung, in welcher er sich sehr deutlich und an herausgehobenen Stellen von Hegel abgrenzt178. Die offenbar nach Akt und Sein noch einmal intensivierte Hegel-Rezeption (und -Kritik) könnte dabei auch auf den Einfluss von Bonhoeffers damaligem engsten Freund Franz

172 Der von Georg Lasson herausgegebene Band wie auch die Lasson-Ausgabe der Religionsphilosophie sind laut Verzeichnis in seinem Nachlass enthalten. 173 Vgl. dazu SC 46.62 ff. u. ö. sowie das Nachwort 311 f.; AS 32 ff. 174 S. dazu auch SF  148–150. Offenbar hat sich Bonhoeffer die Lasson-Bände der Religionsphilosophie schon recht bald nach ihrem Erscheinen (1925–1929) gekauft – ähnlich wie z. B. Karl Barth, der die Bände wohl sofort nach ihrem Erscheinen erworben und (großenteils) gelesen hat (vgl. HS 120 f.). 175 HS passim. 176 HS 122 ff. 177 HS 130; SF  149. Die zahlreichen Anstreichungen und Markierungen in dem Kapitel „Schöpfung, Mensch und Sünde“ (RPh  III, 85–129) in Bonhoeffers Exemplar der Religionsphilosophie (vgl. HS 123 ff.) sind ein wichtiger Beleg für die Vermutung, dass Bonhoeffers Sündenfalldeutung, die er erstmals in SF entwickelt hat, in Zusammenhang mit derjenigen Hegels steht. 178 So insbesondere am Beginn der Vorlesung; die Abgrenzung von Hegel kommt damit einer Grundentscheidung gleich (vgl. DBW 12, 282 f. u. ö.). Interessant ist der DoketismusVorwurf, den Bonhoeffer gegen Hegel erhebt, aaO. 321.

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Hildebrandt179 zurückzuführen sein, dieser hat Hegel „fast unkritisch, z. T. sogar emphatisch [rezipiert]“180. Anders als mit der Nietzsche-Rezeption verhält es sich offenbar mit derjenigen Hegels während Bonhoeffers Zeit als Leiter der Predigerseminare bzw. Sammelvikariate: die Auseinandersetzung mit Hegels Religionsphilosophie steht hier zwar erwartungsgemäß nicht im Mittelpunkt, dennoch sind in der Nachfolge an mehreren Stellen Bezugnahmen auf diese  –  und zwar überwiegend negativer Art – erkennbar181. In der Ethik werden von den Herausgebern etliche Anspielungen auf Hegel ausgewiesen, allerdings von teilweise sehr unterschiedlichem Gewicht182. Insgesamt ist für die Ethik von einer mehr indirekten Rezeption und Kritik auszugehen, die aber dennoch von recht erheblichem Gewicht für das Verständnis von Bonhoeffers Ethik-Konzeption ist, weil sie zentrale theologische Grundfiguren betrifft183. In Widerstand und Ergebung findet sich nur noch eine sehr sporadische, negative Bezugnahme, die hier weitgehend unbeachtet bleiben kann. Abschließend kann festgestellt werden, dass die Hegel-Rezeption insgesamt eine höhere Kontinuität aufweist als die jedes anderen von Bonhoeffer rezipierten Philosophen – mit Ausnahme von der Sören Kierkegaards184 – und entsprechend auch noch vor derjenigen Nietzsches liegt. Zudem werden von ihm für das Gesamtcorpus von Bonhoeffers Schriften im Vergleich zu den anderen rezipierten Philosophen die meisten Belege ausgewiesen185. Dass damit noch keine einfache Gewichtung und inhaltliche Bewertung vorweggenommen werden kann, versteht sich von selbst. Jedenfalls ist dieser Befund aber ein Beleg für die Kontinuität in Bonhoeffers eigenem Denken, weil und sofern die Art der Rezeption sich nicht grundsätzlich, sondern nur im Detail und in der Intensität ändert. b) Hegels Sündenbegriff Ausgangspunkt für Bonhoeffer und darum auch für die hier unternommene Analyse ist Hegels Interpretation des biblischen Sündenfallmythos in

179 Die Freundschaft zu diesem begann 1929 während dessen Arbeit an seiner Dissertation (vgl. DB 174); ihre Intensität und Bedeutung für Bonhoeffer hat aufgrund von Hildebrandts Emigration nach London 1937 und der Bekanntschaft mit Bethge 1935 etwas nachgelassen, ohne aber zu verschwinden. 180 Abromeit, Geheimnis, 206 (mit Belegstellen aus Hildebrandt, EST). 181 Vgl. etwa N 71.122.190 u. ö., bes. aber 299. 182 Für einen Überblick vgl. das Personenregister E 510. 183 Beispielsweise den Glaubens- und den Sündenbegriff, näherhin das Verhältnis von Glauben bzw. Sünde und Erkennen, sowie von Glauben bzw. Sünde und Tun; die Christologie und die Abendmahlslehre, die Schöpfungslehre, die Anthropologie. 184 Dazu s. ausführlich u. A.II.5.d. 185 Insgesamt 102, worin aber das Hegel-Seminar von 1933 nicht eingerechnet ist.

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seinen Vorlesungen zur Philosophie der Religion186; auch Hegel verwendet hier mehrfach und emphatisch den Begriff „Entzweiung“ zur Deutung des Sündenfalls – allerdings mit einer von der Bonhoeffers ganz verschiedenen Intention, wie sich zeigen wird. Schon aufgrund dieser und anderer sprachlicher Parallelen187 ist es offensichtlich, dass Bonhoeffers Kritik der philosophischen Ethik nicht allein – mit Nietzsche – auf kantische und neukantianische Auffassungen von Ethik zielt; Kant mit seiner nahezu vollständigen Identifikation von Religion und Moral, d. h. der Begründung des Gottesgedankens in der sich selbst ihr Gesetz gebenden Praktischen Vernunft188, erscheint gegenüber Hegel vielmehr als der harmlosere Gegner – trotz der nicht unbeträchtlichen Wirkung seiner Philosophie auf die Theologie noch des ausgehenden 19. und des beginnenden 20.  Jahrhunderts. Denn Hegels, für Bonhoeffer nicht akzeptabler, Anspruch besteht darin, Religion, speziell in Gestalt der lutherischen Konfession, philosophisch auf ihren Grund im Begriff hin zu durchdenken und ihr also ein spekulatives Fundament zu verleihen, indem der begriffliche Gehalt zentraler Lehraussagen im Rahmen des philosophischen Systems rekonstruiert wird. Dies schließt allerdings trotz der philosophischen Aufwertung der Religion zugleich ihre mindere Vollkommenheit gegenüber der philosophischen Erkenntnis ein189. Hatte Schleiermacher gegen Kant versucht, der Religion mit den epistemologischen Mitteln der Aufklärung ein ganz eigenes Territorium im menschlichen Bewusstsein neben Metaphysik und Moral zu sichern190, so ist Hegels System als gegenläufiger Versuch der Überwindung der kantischen Begrenzung der Vernunft auf das endliche Erkennen zu werten191; die erneute Ausweitung der Erkenntnisfähigkeit auf die 186 Vgl. RPh III, 102–129, v. a. 121 ff. Alle Belegstellen und Zitate werden der im FelixMeiner-Verlag erschienenen Sonderausgabe von Georg Lasson entnommen (RPh I–III), die text- und seitenidentisch mit derjenigen ist, die Bonhoeffer selbst benutzt hat. Textvergleiche mit der neuen kritischen Ausgabe von W. Jaeschke (s. Literaturverzeichnis) können weitgehend unterbleiben, da es hier in erster Linie um Bonhoeffers Hegel-Interpretation gehen soll und sich diese – wie meistens – nur an das Grundgerüst hält und nicht an Details abarbeitet. 187 S. dazu u. A.II.3.c. 188 Vgl. dazu ausführlich Jaeschke, Vernunft, 39–91, der dort die unterschiedlichen Stufen des Verhältnisses von Moral und Religion resp. Gottes- und Unsterblichkeitsgedanken erörtert und zugleich auf die Inkonsistenzen im Kantischen System hinweist und Zirkelschlüsse aufdeckt. 189 Denn das religiöse Wissen wird hier lediglich als ein Zustand des individuell-konkreten Bewusstseins aufgefasst, während Erkenntnis ein das Konkrete in sich aufhebendes Allgemeines ist. 190 Vgl. Schleiermacher, Reden, 41 ff. (zitiert nach der ersten Auflage 1799). 191 Zu Hegels Kant-Kritik, die sich in ähnlicher Form durch alle Hauptwerke zieht, vgl. exemplarisch RPh  I,  131–141, bes. 138 f.139 f.: „Auf dem subjektiven Standpunkt hat die Einheit, die Unendlichkeit aber die Einseitigkeit, vom Endlichen selbst gesetzt zu sein, selbst also sich als Endliches zu zeigen und nur dadurch unendlich zu sein, daß das endliche Ich in dem als endlich gesetzten Unendlichen mit sich identisch und somit unendliches ist

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letzten Gründe von Welt und Mensch kulminiert daher folgerichtig in einer philosophischen Theologie: „Wenn wir nun sagen, daß die Philosophie die Religion betrachten soll, so sind beide ebenso in ein Verhältnis der Verschiedenheit getreten. Demgegenüber ist zu sagen, daß der Inhalt der Philosophie, ihr Bedürfnis und Interesse mit der Religion ganz gemeinschaftlich ist; ihr Gegenstand ist die ewige Wahrheit, nichts als Gott und seine Explikation […] Die Philosophie ist in der Tat selbst Gottesdienst.“192

Religionsphilosophie bildet dann zwar den Abschluss des Systems; zugleich ist die Religion selbst aber begründungstheoretisch von der Philosophie abhängig. Denn nur die Philosophie, das Denken, kann die Religion mit ihren „Vorstellungen“193 auf ihren vernünftigen Inhalt, d. h. ihren Begriff, hin befragen und ihr so auch gegen die verstandesmäßige Auflösung ihrer dogmatischen Inhalte ihr Fundament sichern. Die Religion soll demnach nicht durch das philosophische Denken destruiert, sondern vielmehr stabilisiert werden mittels der philosophischen Kritik und Rechtfertigung, als welche sich das Messen der Religion an ihrem Begriff vollzieht194. Die Inhaltsidentität von Religion und Philosophie ist daher nicht zu verwechseln mit einer erkenntnistheoretischen Gleichberechtigung: „Das Denken ist die tiefste, innerste Weise

[…] Die Reflexion ist selbst das Trennende; sie kommt zwar hier zur Einheit, aber zu einer, die nur endliche Einheit ist […] [Dieser Standpunkt] hat allen Inhalt als ideellen aufgehoben […] die Subjektivität und Unendlichkeit in jenem Standpunkt [ist] nur die rein inhaltslose Form.“ Vgl. auch HS 77 f., wo Bonhoeffers Anstreichungen zu dieser Stelle vermerkt sind. 192 RPh  I  28 f. Vgl. auch den bekannten Satz aus der Wissenschaft der Logik, der die Logizität der Wirklichkeit Gottes und darum auch der Wirklichkeit insgesamt konstatiert, da die Logik als „das System der reinen Vernunft, als das Reich des reinen Gedankens zu fassen [ist]. Dieses Reich ist die Wahrheit, wie sie ohne Hülle an und für sich selbst ist. Man kann sich deswegen ausdrücken, daß dieser Inhalt die Darstellung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist“ (WL I, 44); Kroner, Kant II, 262 f. S. auch Jaeschke, Vernunft, 300 f., der dort Hegels Anspruch mit demjenigen in Lessings Erziehung des Menschengeschlechts parallelisiert. Offensichtlich denkt Hegel keinen persönlichen Gott – ähnlich wie die antike philosophische Theologie, etwa diejenige Plotins, dem Hegel zweifellos nahe steht. Vgl. auch Hoffmann, Hegel, 276: „[…] wie denn das Christentum, die absolute Religion, nach Hegel Gott […] als Logos anschaut […] er ist insofern die eigentlich konkrete Einlösung des Vernunftpostulats und der Parmenideischen Identität, wie sie sich nun von seiten des Geistes ergeben hat“. Vgl. dazu auch Hirsch, Philosophie, 69 ff. 193 Die Weise der religiösen Erkenntnis vollzieht sich in Vorstellungen, die geschichtlich fassbar und konkret sind, sich bestimmter sprachlicher Formen, wie etwa des Mythos bedienen, nichtsdestotrotz aber einen vernünftigen Kern enthalten. Dazu vgl. ausführlich Jaeschke, Einleitung III, XIX–XXV; Ringleben, Theorie, 22–37. 194 In Anlehnung an Formulierungen von Hegel (RPh III, 231) spricht Jaeschke, Einleitung III, XXVII, hier von einer „felix fuga“ der durch rationalistische und subjektivistische Kritik gefährdeten Religion in den Begriff, die religionsphilosophische Spekulation. Dass das altkirchliche Theologoumenon von der felix culpa hier mitschwingt, welches ohne Weiteres auf Hegels philosophische Deutung der christlichen Theologie anzuwenden ist, ist sicherlich beabsichtigt.

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der Einsicht“195, sein Inhalt erscheint darum im Unterschied zur religiösen Vorstellung mit (logischer) Notwendigkeit196. Dass Bonhoeffer einer solchen Zuordnung von Religion bzw. Theologie und Philosophie grundsätzlich ablehnend gegenüber steht, hat er bereits in seiner Habilitationsschrift deutlich zum Ausdruck gebracht. Dort wurden eine als Auslegung der Offenbarung sich verstehende Theologie und Philosophie, gleich welcher Provenienz, in ein antagonistisches Verhältnis zueinander gesetzt. Im Gegensatz zu Hegel billigt Bonhoeffer ausschließlich der sich an die Offenbarung haltenden und sie nachdenkenden Theologie Wahrheitserkenntnis zu, während demgegenüber die Philosophie stets im Unwahren, in der Sünde verbleibe, ja sogar, weil sie sich dennoch im Besitz der Wahrheit glaubt oder wenigstens sich deren Erfassen für fähig hält, selbst Ausdruck der Sünde sei197. Bonhoeffer und Hegel können demnach als Exponenten der beiden möglichen Positionen hinsichtlich des Verhältnisses von Religion (Theologie) und Philosophie gelten: eines „polemisch-antithetische[n]“ Verhältnisses und eines Verhältnisses „prinzipielle[r] Konkordanz“198. Denn weil beide, Theologie wie Philosophie, jeweils „auf Totalität gehen“, sind „strenggenommen nur [sc. diese] zwei Verhältnisse denkbar“199, Indifferenz aber ausgeschlossen. Diese Alternative hat Bonhoeffer sehr früh erkannt und sie in der Auseinandersetzung auch mit Hegel auf einen offenbarungstheologischen Ansatz zuzuspitzen versucht; Philosophie rückt dabei in Bonhoeffers Auffassung wieder in ihre alte Rolle der ancilla theologiae ein, hat demnach lediglich die Funktion, methodische und begriffliche Klarheit in die Theologie einzubringen, ohne dass ihr Recht und Möglichkeit auf umfassende Wahrheitserkenntnis in den Grundfragen der Wirklichkeit zugestanden würde200. Dass diese gegensätzlichen Auffassungen der Leistungsfähigkeit der Philosophie zu wesentlichen Unterschieden in Anthropologie und Ethik, die beide zusammen genommen, das Thema des Kapitels „Die Liebe Gottes und 195

Jaeschke, Einleitung III, XXIV. RPh I 292. Diese logische Notwendigkeit ist nicht mit äußerem Zwang aus Kausalität zu verwechseln. Für Hegel ist es daher nicht nur unproblematisch, sondern geboten, so verstandene Notwendigkeit mit wahrer Freiheit, die gerade nicht Willkür ist, sondern das Wesen der Dinge verwirklicht, in eins zu setzen. Ein sich davon absetzendes Verständnis von Freiheit als dem schlechthin nicht Notwendigen, d. h. von absoluter Freiheit im strengen Wortsinn, findet sich bei Bonhoeffer in kritischer Wendung gegen Hegel angedeutet (SF 25). S. aber auch den Hegel-Kritiker Kierkegaard, BA 19.48.61.116; KT 25.32 ff., den Bonhoeffer schon sehr früh studiert hat (vgl. DB 95; SC 301). 197 Vgl. exemplarisch AS 73–75. S. auch E 310 f., dort treten der philosophisch reflektierende, sündige (!) und der versöhnte, einfältige Mensch einander gegenüber. Die Anspielungen an die neuzeitliche subjektivitätstheoretische Philosophie sind unverkennbar. Dazu ausführlicher s. u. 198 Hoffmann, Hegel, 456. 199 AaO. 455 f. 200 Vgl. dazu AS 73. 196

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der Zerfall der Welt“ bilden, führen müssen, versteht sich von selbst und wird von Bonhoeffer auch programmatisch am Beginn des Kapitels festgestellt: theologische Ethik zeichnet sich wesentlich dadurch aus, dass sie Kritik der philosophischen Ethik ist201. Wie sich diese fundamentalen Differenzen nun präzise darstellen, wird an der jeweiligen Deutung des Sündenfallmythos von Gen 3 deutlich werden. Der auch Nietzsche kritisch vorgehaltene Begriff der „Entzweiung“ resp. des entzweiten Wissens um Gut und Böse, der hier von Bonhoeffer synonym mit dem traditionellen peccatum originale gebraucht wird, gewinnt seine volle Plausibilität erst aus dem Vergleich mit seiner Verwendung bei Hegel. Zwar ist bereits darauf hingewiesen worden, dass Bonhoeffer traditionsgeschichtlich anknüpft an den spätmittelalterlichen Nominalismus, der den Allgemeinbegriffen, also auch denjenigen des Guten und Bösen, ein selbständiges Sein, eine Realität, bestreitet, so dass in der Konsequenz eine eigenständige, vom konkreten göttlichen Willen unabhängige ethische Reflexion als Unmöglichkeit betrachtet werden muss202. Die Vehemenz seiner Ablehnung der Reflexionsform, also auf ethischem Gebiet des ambivalenten Bewertens, ist damit aber noch nicht erklärt – dass der (gefallene) Mensch sich allgemeine Wertbegriffe bildet, anhand derer er sein Leben auszurichten versucht, muss ja nicht negativ bewertet werden; vielmehr läge es zunächst nahe, ein ernsthaftes Bemühen um Moral als vorbildlich darzustellen und von jedem Einzelnen einzufordern. Es geht Bonhoeffer jedoch zuletzt weder um den moralistischen Philister Nietzsches noch um den historischen Gegenspieler des Nominalismus, die Spielarten platonisch beeinflusster früh- und hochscholastischer Theologie mit ihrem Begriff des substantiellen Guten; vielmehr – und darauf wurde schon mehrfach hingewiesen  –  hat Bonhoeffer die philosophischen Systeme nach der von Descartes eingeleiteten subjektivistischen Wende im Visier. Hegel kann aus Bonhoeffers Perspektive als Vollender der mit Descartes begonnenen Fundierung des menschlichen Weltumgangs im denkenden Ich, im cogito, gelten203. Das erkennende Ich wird von Kant in Anknüpfung an den cartesischen Zweifel nicht mehr als (vorwiegend) rezeptives Element im Erkenntnisprozess verstanden, dem ein Objekt gegenübersteht, dessen unabhängige essentielle Realität (res) wahrhaft erfasst werden könnte. Vielmehr konstituiert das transzendentale Ich im Erkenntnisprozess seinen Gegenstand 201

E 301, s. o. A.II.1. S.o. A.II.1. 203 AS  32 f.: „[…] daß das Denken [sc. des Idealismus, im Unterschied zu demjenigen Kants] sich zum Herrn über das Nichtgegenständliche aufschwingt, indem es den Vollzug, das Ich, noch denkend in sich hineinnimmt, somit das sich denkende Ich nicht zum Grenzpunkt, sondern zum Ausgangspunkt des Philosophierens schlechthin macht […]. Das Denken kann durch nichts genötigt werden, gerade als freies Denken das Unbedingte nicht in sich hineinzuziehen, sich nicht seines Ich mächtig zu machen.“ 202

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als Gegenstand (Objekt); zuletzt hängt daher alles wahre Erkennen am Selbsterkennen, genauer an der apriorischen synthetischen Identität des denkenden Ich204. Hegel nun hat diese kantische Denkfigur zu einem ontologischen Prinzip ausgeweitet und so den alten Substanzbegriff wieder eingeführt und mit dem neuen Grundbegriff der Subjektivität verbunden205, wobei dem letzteren jedoch systematische Priorität zukommt: An die Stelle der klassisch-metaphysischen starren substantia ist der wesentlich als Selbsterkenntnis, d. h. dynamisch-prozessual auf sich bezogen gedachte Geist getreten, der sich zuletzt auch im Menschen als endlicher Geist manifestiert. Von dieser Voraussetzung her interpretiert Hegel daher auch den Sündenfallmythos. Denn wenn das Bestimmende am Geistbegriff die Selbsterkenntnis ist, schließt dies einerseits das Sich-selbst-gegenständlich-Werden, andererseits aber ebenso das Sichvom-Anderern-seiner-selbst-Abgrenzen des Geistes ein. „Entzweiung“206 ist dann aber ein notwendiges Merkmal des Geistes, insofern er nur aufgrund dieser Differenzierungen wirklicher Geist ist207. Konsequent deutet Hegel darum den Sündenfall aus dieser geistphilosophischen Perspektive heraus als ein notwendiges Verlassen des Zustandes der Unschuld. Der Zustand der Unschuld wird dabei verstanden als logische Unmittelbarkeit, die als solche keinen Bestand haben kann und darf, weil sie dem Wesen des Geistes, der reflexiven Vermittelheit, ja gerade widerspricht:

204 Für Kants Aufhängen der Erkenntnis an der synthetischen Einheit der transzendentalen Apperzeption, dem Ich denke, vgl. v. a. KrV B 132–139 sowie Kroner, Kant I, 55 ff. Diese zugegebenermaßen stark vereinfachende Zusammenfassung des Grundgedankens der Kantischen Vernunftkritik dient hier nur dem Aufweis der philosophiegeschichtlichen Zusammenhänge. Bonhoeffer hat in dieser philosophischen Tradition gestanden, wie seine Habilitationsschrift zeigt. Die Reflexe in der Ethik, speziell in dem vermutlichen Einleitungskapitel, belegen dies ebenfalls sehr deutlich. 205 Vgl. den bekannten Satz aus der Phänomenologie des Geistes (PhG 18, zitiert nach der Paginierung der kritischen Ausgabe der Gesammelten Werke Bd. 9, edd. W. Bonsiepen/R. Heede, 1980): „Es kömmt nach meiner Einsicht […] alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken […] Die lebendige Substanz ist ferner das Sein, welches in Wahrheit Subjekt, oder was dasselbe heißt, welches in Wahrheit wirklich ist, nur insofern sie die Bewegung des sich selbst Setzens, oder die Vermittlung des sich anders Werdens mit sich selbst ist.“ Bonhoeffer hat bereits in AS diese Ontologisierung und Idealisierung der kantischen Transdzendentalphilosophie durch Fichte und v. a. Hegel deutlich benannt („Monismus“, vgl. AS 32 f.; DBW 11, 149; HS 109–113; WE 532: „Kant ist imgrunde Deist, Fichte und Hegel Pantheisten.“; s. auch SC 131). Vgl. auch Schnädelbach, Hegel, 55: „Das […] Bewußtsein hat nichts außer sich, es hängt von nichts Äußerem ab, und in diesem Sinne ist es absolut; tatsächlich ist Hegels Bewußtseinsbegriff nichts anderes als eine Umformung der ersten drei Grundsätze von Fichtes Wissenschaftslehre, die das wahre, absolute ICH als die sich selbst setzende Einheit von ICH und Nicht-ICH darstellt. Genau in diesem Sinne vertritt Hegel einen Holismus […] des Bewußtseins.“; Kroner, Kant II, 263 f. 206 RPh III, 107 u. ö. 207 RPh III, 106; PhG 412.

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Was man sich leerer Weise vorstellt, daß der erste Zustand des Menschen der Stand der Unschuld gewesen sei, ist der Stand der Natürlichkeit, des Tieres[!].“208 „In dem unmittelbaren Menschen sind zwei Bestimmungen, die erste, was er an sich ist, seine Anlagen, seine Vernünftigkeit, Geist an sich, das Ebenbild Gottes, was er innerlich an sich ist. Die zweite ist seine Natürlichkeit, daß seine Vernünftigkeit noch nicht entwickelt ist. Der Mangel hierin ist, daß der Mensch eben nur an sich Vernunft, Geist ist; dies ist der Mangel selbst: der Geist soll nicht an sich sein, sondern er ist nur Geist, indem er für sich ist […] das Ansichsein, die Natürlichkeit soll aufgehoben werden […] Bei jenem Zustand der Unschuld soll der Mensch nicht stehen bleiben.“209

Mit „an sich“ und „für sich“ sind also diese beiden ‚Zustände‘ des Geistes bezeichnet, derjenige, in dem er noch keine Wirklichkeit hat, weil er noch nicht zu seiner, auf reflexiven Differenzierungen beruhenden Selbsterkenntnis gelangt ist, und derjenige, in dem er als konkret seiender Geist sich selbst bestimmt und unterscheidet210. Damit sich der Geist überhaupt erkennen kann, muss er also zunächst in die Entzweiung treten, und zwar in doppelter Hinsicht, nämlich in die Entzweiung gegen sich selbst, als erkennendes und erkanntes Ich, und gegen das Andere seiner selbst, gegen Welt und Gott. Darin ist der Grundgedanke impliziert, dass Selbstbewusstsein zugleich immer mit Weltbewusstsein und Bewusstsein des Absoluten resp. Unendlichen verbunden ist, indem das Ich sich dadurch identifiziert, dass es sich vom Anderen seiner selbst abgrenzt; zugleich erfährt es sich darin jedoch selbst als Urheber dieser Abgrenzung und also – in gewissem Sinne – als Urheber seiner selbst als Selbstbewusstsein und seiner von ihm unterschiedenen Welt, so dass der Entzweiungsprozess in Hegels Deutung notwendig weiterführt vom Zustand der Entzweiung zum wahrhaften Selbstbewusstsein des Geistes als des schöpferischen Ganzen und Unendlichen211. Die Einschränkung durch die Parenthese weist erstens darauf hin, dass das Ich, der endliche Geist, Hegel zufolge die Ambivalenz an sich aufweist, einerseits mit dem absolut schöpferischen unendlichen Geist identisch zu sein, andererseits als endlicher, konkret existierender Geist aber zugleich in einer von der Identität umfassten Differenz zu stehen. Er ist daher nicht als Monade zu verstehen, die sich ihre monadische Welt schafft, sondern als Moment des absoluten Geistes, das keine isolierte Eigenständigkeit besitzt. Zweitens ist aber auch darauf hinzuweisen, dass der Gedanke, dass das erkennende Bewusstsein kategorial höher als das erkannte Objekt steht, insofern Bestandteil der Objekterkenntnis zugleich auch die Erkenntnis der Differenz von Objekt und Subjekt ist und diese sich also wiederum im Bewusstsein befindet, gleichwohl nicht zwingend zu solch einer Art ‚Panlogismus‘212 ontologisiert 208

RPh III, 115. RPh III, 106 f. 210 Dazu vgl. ausführlicher Hoffmann, Hegel, 207–209; Schnädelbach, Hegel, 55–61. 211 Vgl. Ringleben, Theorie, 46–49.53 f. 212 Hirschberger, Geschichte, 419. 209

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werden muss, sondern auch zu einer kantischen Erkenntnistheorie führen kann und  – allerdings historisch früher –  geführt hat, die bei gleichzeitiger Begründung der Erkenntnis von ‚etwas‘ im Subjekt an der Trennung von Sein und Bewusstsein festhält und daher das vorgängige Gegebensein eines Objekts postuliert und sich hinsichtlich des Subjekts einer Seinsaussage, des ‚cartesischen Schlusses‘213, enthält. Dieser Grundgedanke wird nun zum Kern der Anthropologie wie auch der Schöpfungs- und Gotteslehre Hegels und implizit folglich auch einer Ethik. Das Ich, das differenziert zwischen sich selbst und dem Anderen seiner selbst, um sich als wirklicher Geist zu setzen, sich also konkret und abgrenzend als Für-sich-Sein zu bestimmen, differenziert analog hierzu zwischen seinem Guten und Bösen, die es nun ebenfalls selbst zu setzen hat, indem es zwischen ihnen wählt. Denn die Abgrenzung, die das Ich zwischen sich und dem Anderen vornimmt, impliziert zugleich ein Bewerten des eigenen Seinsollens, so dass mit der formalen Unterscheidung zwischen Ich und Anderem auch eine normative Unterscheidung gesetzt wird: nämlich die Unterscheidung zwischen der richtigen und der verkehrten Selbstverwirklichung des Ich, die auf dieser erkennenden Differenzierung beruht. Hier steht demnach kein vorgegebenes, gar statisches Ich, sondern das sich selbst bewusst bestimmende und bestimmen müssende Ich zur Debatte; eben darum aber kann Hegel diese Subjektivitätsspekulation mit der Sündenfallerzählung zusammenbringen, in der die ethische Reflexion die Schlüsselstellung einnimmt: „Mensch [ist] Bewußtsein, Denken; [das ist seine] allgemeine Bestimmung, das Gute [steht] vor ihm. Mensch [ist er] nur als Übergehen, [er unterscheidet] Gutes und Böses. Böses [ist das] überhaupt, wie er nicht sein soll […] Beides [steht] vor ihm; [er hat die] Wahl zwischen beidem214 […]. Damit ist das Erkennen die Entzweiung, die Trennung, in der erst das Gute für den Menschen ist, aber zugleich auch das Böse […]. Erkennen, Bewußtsein überhaupt heißt dies Urteilen, dies sich in sich selbst Unterscheiden215 […]. Darum ist die Forderung, der Mensch solle diesen abstrakten Gegensatz [sc. des Guten und Bösen] in sich erfassen216.

Der Sündenfall macht demnach den endlichen Geist überhaupt erst zum Geist und den Menschen daher auch erst zum wirklichen, über das bewusstlose, tierische Sein erhobenen Menschen. Er ist keineswegs eine nicht seinsollende Verkehrung des menschlichen Wesens, sondern ein notwendiges Stadium für die Verwirklichung des Menschseins, „die Ansicht“, die als „die wesentlich[e] […] in dem Menschen überhaupt wirklich werden soll, d. h. daß der Mensch zu der Unendlichkeit dieses Gegensatzes von gut und böse in sich 213

KrV B 422 f.*; s. dazu auch Bonhoeffers Einschätzung AS 33. RPh III, 104. Zu dieser Stelle finden sich in Bonhoeffers Exemplar Markierungen, vgl. HS 124. 215 RPh III, 126 f. 216 RPh III, 117. 214

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komme“217. Das entzweite Ich erfährt sich nun als bewusstes, vom Anderen unterschiedenes und dieses kategorisierendes Selbst und wird damit zum Urheber von Handlungen und Selbstbestimmungen, die auf der Alternativität fundamentaler Wertungen beruhen: der Unterscheidung von Gut und Böse, von richtiger und verkehrter Selbstverwirklichung des Subjekts. Der Sinn des Sündenfalls scheint demnach für Hegel in der auf Erkenntnis beruhenden sittlichen Freiheit des Subjekts zu liegen218 – und man kann hier schon leicht einen vermutlichen Kritikpunkt des lutherischen Theologen Bonhoeffer erahnen, insofern dieser ja wohl umgekehrt urteilen und den Sündenfall mit Luther als den Verlust der sittlichen Freiheit des Menschen werten muss219. Zunächst muss aber noch eine andere Frage beantwortet werden, in deren Folge dann auch der positive Bezug Bonhoeffers auf Hegel gezeigt werden kann, nämlich die Frage, warum Hegel darauf verfällt, diesen notwendigen und wesentlichen Entwicklungsschritt der Bewusstwerdung des endlichen Geistes, der zugleich auch ein Schritt in die Freiheit des Subjekts ist, als Kern der religiösen Vorstellung vom Sündenfall zu identifizieren? Warum beurteilt Hegel diese einerseits als Fortschritt bewertete Entzweiung in Gut und Böse auf der anderen Seite selbst als „das Böse“, den „Widerspruch“, und beruft sich dabei auf Gen 3, wo zu Recht das Erkennen des Guten und Bösen als die „Quelle des Bösen“ behauptet werde220? Diese Frage stellt sich nicht nur deshalb, weil andernfalls der Hegelsche Sündenbegriff in seiner Pointe noch nicht erfasst wäre, sondern auch, weil Bonhoeffer sich gerade an Formulierungen zu dieser Fragestellung anlehnt. Der Grund hierfür liegt in der Prämisse der Hegelschen Philosophie, die auch den entscheidenden Unterschied zwischen ihm und Kant markiert: im Unterschied zu diesem setzt Hegel als Wesen und Ziel des Wirklichen die in sich differenzierte Einheit von Selbst und Anderem, die Identität der Identität und Nichtidentität221. Diese gedankliche Grundfigur, 217 RPh  III,  116 (im Umkreis hierzu wieder Markierungen Bonhoeffers); vgl. auch aaO.  128: „Aber was den Menschen als Menschen, als Geist [!] auszeichnet, ist eben das Erkennen, Entzweien.“ 218 „[…] der Mensch soll […] nicht unschuldig sein; was er tut, daran soll er schuld sein“ (RPh  III,  113); „[…] Schuld heißt überhaupt Imputabilität“ (aaO.  115, meine Hervorhebung). S. auch Ringleben, Theorie, 55: „Die Erkenntnis des Guten […] die freilich nur um den Preis der Erkenntnis auch des Bösen erlangt wird, ist Voraussetzung für wahrhafte Sittlichkeit.“ 219 S. Ringleben, Theorie, 54. Oben (A.II.b) wurde bereits eine Stelle aus dem für Luthers Interpretation des Sündenfalls einschlägigen Traktat De servo arbitrio zitiert, von dem vorausgesetzt werden kann, dass ihn Bonhoeffer mindestens auszugsweise selbst gelesen hat. Dass sich Bonhoeffer als seinem Selbstverständnis nach guter Lutheraner dieser Deutung anschließt, kann schon aus DBW  9,  346 f.355 ff. ersehen werden, ist aber auch in dem ersten Absatz dieses Kapitels, E 301, ausgedrückt. Auf dessen unmittelbaren und sicherlich beabsichtigten Gegensatz zu dem gerade angeführten Hegel-Zitat muss nicht mehr eigens hingewiesen werden. 220 RPh III, 127. 221 Vgl. PhG 416.417; Schnädelbach, Hegel, 14–17; Kroner, Kant II, 319 ff.

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die als ontologisches Prinzip die in sich unterschiedene Identität von Subjekt und Substanz bezeichnet – die Substanz steht an der Stelle der Nichtidentität, ist also der Subjektivität als differenzierendes und daher Selbsterkenntnis erst ermöglichendes Moment ein- und untergeordnet –, muss jede abstrakte oder schlechthinnige begriffliche Unterscheidung222 als zuletzt unwahr erscheinen lassen. Das zwischen sich selbst einerseits und der Welt und dem Absoluten andererseits sowie den sich daraus ergebenden als strikte Alternativen gedachten Selbstbestimmungsmöglichkeiten (Gut – Böse) differenzierende Ich ist darum noch nicht in seiner Wahrheit angelangt: es versteht sich in seiner Konkretheit oder Einzelheit vom Anderen seiner selbst getrennt, das es sich nun als das Wahre, Allgemeine und Vernünftige gegenübersetzt: „Das Böse ist erst innerhalb des Kreises der Entzweiung vorhanden; es ist das Bewußtsein des Fürsichseins gegen anderes, aber auch gegen das Objekt, das in sich allgemein ist im Sinne des Begriffs, des vernünftigen Willens […] Bösesein heißt abstrakt: mich vereinzeln; es ist diese Vereinzelung, die sich abtrennt von dem Allgemeinen. Dieses ist das Vernünftige, die Gesetze, die Bestimmungen des Geistes […] die Erkenntnis ist [also] selbst das Böse.“223

Weil der Mensch seine Identität mit der allgemeinen substantiellen Vernünftigkeit (noch) nicht begreift, impliziert das Erwachen seines Bewusstseins, die Entzweiung, die – im Rückblick allerdings als vorläufig zu setzende – Selbst222

PhG 416. RPh III, 109 f. Für genauere Ausführungen hierzu vgl. RPh III, 118–121, wo Hegel die Zweiseitigkeit dieses negativen Zustands der Entzweiung darlegt, wonach nämlich einerseits das Gute als das vom Subjekt getrennte Allgemeine bestimmt wird, wobei das Allgemeine Gott sowie der allgemeine Begriff des Menschen ist, beides also als rein geistig-abstrakt aufgefasst wird, so dass das Böse in dem konkret-natürlichen, als ungeistig verstandenen Sein des Einzelnen besteht. Insofern beurteilt sich der Mensch darum auch als zur sittlichen Freiheit bestimmt und setzt diese in Gegensatz zu seiner natürlichen Welt und seinem natürlichen Sein, so dass das Gute nun in der Abstraktion des geistigen, rein formalen Ichs von seiner Welt und seinem Handeln, also in einem ‚leeren Allgemeinen‘ liegt. Diese Zweiseitigkeit, der Mensch als natürlich-böse auf der einen Seite und als abstrakt-gut auf der anderen Seite, bleibt aber jedes Mal eine Gegensatzbestimmung, ein Dualismus, der darum ohne „Erfüllung“ (aaO.  112) und lebendige Wirklichkeit ist. Unschwer erkennbar ist hier Hegels Streben nach einem monistischen System, in welchem sich die Gegensätze durchdringen und in einer höheren Einheit aufgehoben werden, wobei der Prozess der Aufhebung als wesentlicher Teil des Systems betrachtet wird. Es ist daher auch nicht überraschend, dass die Beschreibung der Zustände der Entzweiung immer wieder besonders an Kant erinnert, dessen strikte Geist-Natur-Unterscheidung sowie den damit verbundenen Verzicht auf Seinsaussagen Hegel als unzureichend abweist. Vgl. auch aaO. 135–142. Noch der von Bonhoeffer eifrig gelesene Kierkegaard arbeitet sich an diesem Problem ab, wie denn endliche Natürlichkeit und ewiger, Natur überlegener Geist im Menschen zu einer personalen „synthetischen“ Einheit kommen können (vgl. exemplarisch BA 39 ff.61 f.86 ff.; KT 8 f.25 ff.). Dass Hegel dieses Grundproblem menschlicher Existenz zu lösen versucht hat, anstatt beide Aspekte, Natur und Geist, unausgeglichen nebeneinander stehen zu lassen, macht die Stärke seines Ansatzes aus – die allerdings einen scharfsichtigen und zugleich alles andere als optimistischen theologischen Denker wie Kierkegaard nicht befriedigen konnte. 223

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erkenntnis, dass „er der ist, der böse ist“224 und dem das Gute daher stets als Forderung gegenüber tritt225. Der unschuldige Mensch, der Mensch in seinem Ansichsein, ist seinem Begriff nach, nämlich geistig zu sein, gut226. Aber weil diese Unmittelbarkeit des Menschen notwendig ohne Bestand ist  –  der Geist kann ja nicht unmittelbar sein und muss deshalb ‚sofort‘ in seine Verwirklichung, d. h. Entzweiung mit sich als allgemeinem Begriff und der konkreten Existenz als dem Anderen des allgemeinen Begriffs treten –, muss er zugleich auch als böse bestimmt werden. Der Mensch nach seiner Wirklichkeit oder konkreten Subjektivität betrachtet ist daher „von Natur böse“227. Da es sich hierbei aber um logische Bestimmungen handelt, die sich, jedenfalls Hegels Intention nach, eben deshalb auch mit Notwendigkeit auseinander entwickeln228, ist die Folgerung, dass die als Quelle des Bösen bestimmte Erkenntnis wiederum zugleich auch der Wendepunkt, die „Quelle der Gesundheit“ resp. Versöhnung sein soll229, systemnotwendig. Indem das in sich entzweite Subjekt diese Entzweiung als vorläufig begreift, weil es nur so zu einer konkret erfüllten und dennoch geistbestimmten, d. h. zuletzt selbstbewussten Existenz kommen kann, die gerade nicht leere Form bleibt, erkennt es die höhere Identität von diesen beiden vorläufigen Abstrakta, dass nämlich „dieser Gegensatz nichtig ist und daß die Wahrheit, das Affirmative, Absolute, die Einheit des Endlichen und Unendlichen ist, die Einheit der Subjektivität in ihren verschiedenen Bestimmungen und der Objektivität […] so […] bleibt die Bestimmung der göttlichen und menschlichen Natur als der Prozeß ihrer Identität, das Konkrete.“230 224 RPh III, 116. Dieser Satz ist in Bonhoeffers Exemplar doppelt unterstrichen und mit zwei Ausrufezeichen versehen, s. HS 130. 225 RPh III, 117. 226 Vgl. RPh III, 116. 227 RPh III, 117. Hegel lehnt sich hier terminologisch an den klassisch-reformatorischen Sündenbegriff an und nennt die logisch-ontologische Vereinzelung, die das konkrete ‚entzweite‘ Subjekt vornimmt, dessen „Selbstsucht“ (aaO. 116 u. ö.). Die fundamentale Differenz zwischen diesem und seinem eigenen Sündenbegriff wird damit sprachlich verschleiert, was möglicherweise auch zu dem überschwänglichen Lob beigetragen hat, das der Philosoph und Theologe (!) Georg Lasson in seiner Einführung in Hegels Religionsphilosophie zum Ausdruck bringt, vgl. Lasson, Einführung, 11 f.16 f. et passim. 228 RPh III, 116: „Es ist somit das eine [sc. das Ansichsein, der Begriff] wie das andere gesetzt [sc. die Wirklichkeit, das konkrete Subjekt], aber wesentlich im Widerspruch, so daß eine der beiden Seiten die andre voraussetzt, nicht daß die eine nur sei, sondern es sind beide in dieser Beziehung, daß sie entgegengesetzt sind.“; s. auch aaO. 123; Ringleben, Theorie, 48: „Der Begriff Unschuld […] ist eine Vergegenständlichung, die ihm selber widerspricht; der Akt des Denkens widerspricht dem Gedachten […] Der Begriff Unschuld ist selber Selbstaufhebung […] [er] erscheint dem Vorstellen als dessen Vergehen bzw. Vergangensein. Der Begriff setzt Geschichte, um denkbar zu sein […] das Paradies ist eo ipso ein verlorenes.“ Vgl. auch Kierkegaards Kritik an dieser Identifikation von Unschuldszustand und logischer Unmittelbarkeit BA 32–35. 229 RPh III, 110.128; s. auch 113. 230 RPh III, 134 f.

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Die gegensätzlichen Bestimmungen des abstrakten Denkens einerseits und des Natürlich-Endlichen andererseits, die ja beide im wirklichen Subjekt vorhanden sind und insofern eine Trennung in die Einheit des Subjekts bringen, haben ihre Wahrheit demnach erst in ihrer Bezogenheit aufeinander231. Der abstrakte Begriff kann erst wirklich werden, wenn seine Einheit mit der konkreten natürlichen Existenz eingesehen ist, wenn also zuletzt eine Identität von Denken und Sein vorliegt, die im Denken erkannt wird  –  wobei das Denken dann als Selbst-Denken gedacht werden muss, weil nur so das Sein als das Andere des Denkens verstanden und die differenzierte Identität beider festgehalten werden kann. An die Stelle der Entzweiung von Abstrakt-Göttlich-Allgemeinem und Endlich-Natürlichem tritt mit der Versöhnung nun notwendig deren strukturierte Einheit, die wahre Unendlichkeit der Vernunft, die ihre Grenze, das endliche Sein, in sich selbst aufgenommen und damit als überwunden gesetzt hat, versinnbildlicht in der christologischen Einheit von Gott und Mensch, d. h. Göttlichem und Menschlichem232. Dass in dieser Erkenntnis der aufgehobenen Trennung von Gut und Böse, Gott und Mensch, Subjekt und Substanz das eigentlich Gute des Menschen und die echte Realisation seiner Freiheit liegt, ist eine ebenso notwendige Folge aus dem System, weil nun erst der Mensch sein Menschsein voll verwirklicht – als Moment des Prozesses, in dem das Unendliche das Endliche in sich aufhebt233. c) Bonhoeffers Aufnahme von Hegels Sündenbegriff Es ist bereits auf die grundlegenden Unterschiede in den Prämissen hingewiesen worden, die Bonhoeffer und Hegel voneinander trennen und es erwarten lassen, dass zwischen dem Sündenbegriff des einen und dem des anderen fundamentale Differenzen sichtbar werden234. Dennoch gibt es auch 231 Vgl. etwa RPh I, 42: „[Wahrheit ist] ein Konkretes, eine Fülle von Inhalt.“ Die kritische, sich selbst auf die Erkenntnis des Endlichen begrenzende Vernunft, kann darum die Wahrheit nicht erreichen, weil sie die Trennung zwischen Denken und Sein festschreibt und sich so aller Substanzaussagen enthält. Erst recht kann sie damit keine Aussagen über das göttliche Wesen machen, das von Hegel mit der Wahrheit ineins gesetzt wird und deshalb selbst als konkret statt als bloße Abstraktion, d. h. formaler Gegensatz zum Endlichen, gedacht werden muss. 232 Vgl. dazu RPh III, 137.141 f.; RPh I, 33–35, sowie Hegels Beurteilung des Inkarnationsgeschehens als sinnlichen Ausdruck der logischen Notwendigkeit und – folglich – konkreten Wirklichkeit der allgemeinen Einheit von Unendlichem und Endlichem (zitiert nach Jaeschke, Einleitung III, XIX): „[…] dieser einzelne sind alle Einzelnen […]“. Vgl. auch Hirsch, Philosophie, 52. 233 S. dazu DBW 12, 321 f. (Christologievorlesung). Für genauere Informationen zu Hegels Geistbegriff und dessen Entwicklungsstufen von der Unmittelbarkeit über die Entzweiung hin zur Versöhnung, d. h. seiner wahren resp. konkreten Verwirklichung s. Jaeschke, Vernunft, passim. 234 S.o. das zu dem Verhältnis von Theologie und Philosophie Gesagte (A.II.4.b).

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Berührungspunkte zwischen beiden, die sich einer auch konstruktiven Rezeption Hegels durch Bonhoeffer verdanken und dabei zentrale Aspekte des letzteren betreffen. Die gleichzeitige sachliche Nähe verbunden mit einer prinzipiellen Differenz legt den Eindruck nahe, dass Bonhoeffer hier geradezu ein Gegenbild zu Hegels Religionsphilosophie entwirft, das deshalb nicht explizit gemacht wird, weil Hegel als Exponent nicht nur einer bestimmten geistesgeschichtlichen Strömung, sondern darin und darüber hinaus der philosophischen Grundhaltung des gefallenen Menschen selbst aufgefasst wird. aa) Die Sünde als Entzweiung in Gut und Böse Dass es Bonhoeffer darum geht, eine theologische Ethik zu konzipieren, die im Unterschied und Gegensatz zu jeder anderen, also jeder philosophischen oder theologico-philosophischen235 Ethik auf die grundlegende Reflexionsform des ambivalenten Bewertens verzichtet und verzichten muss, war bereits das Ergebnis der Analyse seiner Nietzsche-Rezeption. Es zeigt sich nun, dass hier eine gewisse Parallele zu Hegels Sündenbegriff besteht, der, wie oben erläutert, die Entzweiung des Denkens in Gut und Böse, Selbst und Anderes, Endliches und Unendliches etc. als böse, als den Sündenfall und die Sünde des Menschen auffasst. Dies legen auch Formulierungen Bonhoeffers nahe, die teilweise denjenigen Hegels bis in die Wortwahl ähneln, etwa wenn er gleich zu Beginn des Kapitels konstatiert, dass „[d]ie christliche Ethik schon in der Möglichkeit des Wissens um Gut und Böse den Abfall vom Ursprung [erkennt]“236 oder dass das Wissen um Gut und Böse zugleich die Entzweiung mit dem Ursprung, mit Gott sei237, dass das sich in Alternativen vollziehende ethische Reflektieren also als entzweites Wissen zugleich die Entzweiung des Menschen mit Gott darstelle  –  bei Hegel ganz analog die Entzweiung des in unmittelbarer Einheit mit Gott und Welt lebenden, noch ungeistigen, Menschen in die bewusste konkrete und daher auch zwischen Alternativen wählen müssende Existenz des Subjekts.

235 Nimmt man Bonhoeffer ganz streng beim Wort, dann kann es keine Theologie bzw. theologische Ethik geben, die sich nicht als Auslegung der Offenbarung versteht, weil nur eine solche der Offenbarung nachdenkende und sie interpretierende Wissenschaft bei der Wahrheit ansetzt (nicht: sie hat oder über sie verfügt) – Wahrheit nämlich ist „Bezogenheit auf Gott“, die „erst mit dem Wort Gottes, das in der Offenbarung […] über den Menschen und zu ihm gesprochen ist“ (AS 73). Darum fällt manche sich selbst jedenfalls auch als Theologie verstehende Wissenschaft, wie etwa der katholische Neuthomismus, für Bonhoeffer eindeutig und ausschließlich unter die Kategorie Philosophie. Vgl. auch Bonhoeffers Definition und Abgrenzung der Theologie von anderen Wissenschaften AS 128 f., wo der entscheidende Unterschied darin gemacht wird, dass die Theologie wesentlich auf die Kirche bzw. das in der Kirche sich ereignende Versöhnungsgeschehen bezogen ist. 236 E 301. 237 E 302 f.

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Bonhoeffer offenbart sich hier als theologischer Denker, der grundlegend von der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie geprägt ist, wenn er einen Sündenbegriff entwickelt, der in gleichzeitiger Anlehnung an und Abgrenzung von Hegel (und Kant) alle Erkenntnis auf die Beziehung des erkennenden Subjekts auf sich selbst zurückführt. Denn wenn die kopernikanische Wende der Erkenntnistheorie eben das besagt, dass das Subjekt, verstanden als logisches Ich, im Erkenntnisakt sein Erkenntnisobjekt als Objekt konstituiert, dann ist die sich selbst vom Gegenstand wie auch von seiner konkreten Existenz (Objektivität) unterscheidende Identität des den Erkenntnisakt begleitenden Selbstbewusstseins, des Ich denke, tatsächlich der Grund aller materialen Erkenntnis: „Selbsterkenntnis ist Wesen und Ziel des Lebens […] Alles Erkennen gründet sich nun auf die Selbsterkenntnis […] Erkennen heißt nun die Beziehung auf sich selbst herstellen, heißt in allem sich selbst und sich selbst in allem erkennen.“238

Hatte nun aber Hegel an Kant kritisiert, dass die daraus resultierende Entzweiung von Sein und Denken oder Einzelnem und Allgemeinem, insbesondere vom transzendentalen, formal identischen logischen Ich und dem konkret seienden, empirischen (lebendigen) Ich festgeschrieben und daher – in der Sprache der religiösen Vorstellung – böse, Sünde sei, so folgt Bonhoeffer hier Hegel zwar in der Bewertung, aber aus entgegengesetzten Gründen und entsprechend auch mit einem entgegengesetzten Argumentationsziel. Die Prämisse, dass das Erkennen sich grundsätzlich nach dem erkennenden Subjekt richte und daher an diesem seinen Maßstab finde, wird von Bonhoeffer allerdings prinzipiell akzeptiert, das zeigt sich schon durchgehend in seiner Habilitationsschrift239 und ist auch hier von ihm explizit formuliert worden240. Deshalb folgt er Hegel in der Konklusion, dass, weil das Subjekt sich in seinen unterscheidenden Reflexionen immer auch selbst bestimmt und bestimmen muss – es ist ja selbst Urheber und Maß seiner Erkenntnisse und daher vollkommen unbestimmt  –, in diesem erkenntnistheoretischen Subjektivismus zugleich die unterscheidende Normierung von Gut und Böse, von richtiger und verkehrter Selbstverwirklichung des Subjekts impliziert ist: das abstrakt freie, im Wortsinn absolute Subjekt muss in der Reflexion selbst sein Gutes und Böses setzen, an dem es sich misst241. Bonhoeffer konstatiert diesen Sachverhalt mit knappen Worten, die durchaus auch bei Hegel stehen könnten: 238 E 310. Allerdings sind Bonhoeffers sehr vereinfachende Formulierungen nicht unbedingt geeignet, eine differenzierte Auseinandersetzung mit der transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie zu führen. Es geht ihm hier offensichtlich nur um das Prinzip der Umkehrung der Bedeutung von Subjekt und Objekt im Erkenntnisakt, das er als solches gerade nicht hinterfragt, sondern als gültig akzeptiert. 239 S. dazu u. A.II.4.c. 240 Vgl. die gesamte Passage, der das eben angeführte Zitat entstammt, E 310, sowie E 303 f. 241 S. dazu o. A.II.4.b.

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„In der Entzweiung mit dem Ursprung um Gut und Böse wissend, tritt der Mensch in die Reflexion auf sich selbst ein […] [d]er Mensch ist zum Ursprung von Gut und Böse geworden.“242

Folgerichtig kann daher die Entzweiung in Gut und Böse metonymisch für die zugrunde liegende subjektivistische Erkenntnistheorie stehen; so wie das Unterscheiden und zugleich auf sich selbst Beziehen des Subjekts im Erkenntnisprozess alle theoretische Erkenntnis begründet, so begründet es damit auch alle auf seinen praktischen Weltumgang zielende Erkenntnis. Mehr noch, weil das theoretische Erkennen sein Ziel in der praktischen Selbstverwirklichung hat  –  so muss letztlich auch Hegels Deutung des logischen Prozesses der Konstituierung des Selbst mittels der biblischen Sündenfallgeschichte gelesen werden243 –, ist die Erkenntnis von Gut und Böse damit die fundamentale, alle weiteren Reflexionen bestimmende und sie einschließende Zweiheit. Als Beleg für Bonhoeffers Nähe zu Hegel gerade an diesem Punkt seien zwei Zitate von beiden einander gegenübergestellt: „Alles Erkennen gründet sich nun auf die Selbsterkenntnis […]. Nun wird alles in den Prozeß der Entzweiung hineingezogen […]. So entzweit sich dem […] Menschen alles: das Sein und das Sollen, das Leben und das Gesetz, Wissen und Tun, Idee und Wirklichkeit, Vernunft und Trieb, Pflicht und Neigung [etc.] […]. Alle diese Entzweiungen sind Spielarten der Entzweiung im Wissen um Gut und Böse.“244 Darum ist die Forderung, der Mensch solle diesen abstrakten Gegensatz [sc. von Gut und Böse] in sich erfassen […] dazu gehört, daß der Gegensatz diese Unendlichkeit gewonnen habe, daß diese Allgemeinheit das Innerste umfasse, daß nichts ist, was außer diesem Gegensatz wäre, daß also der Gegensatz kein Besonderes ist.“245

Erst aus dieser bereits im kantischen System enthaltenen246 Vorordnung der praktischen gegenüber der theoretischen Vernunft heraus leuchtet es aber ein, die Entzweiung in Gut und Böse über die spezifisch ethische Bedeutung hinaus als Grundphänomen der gefallenen menschlichen Existenz zu betrach242 E 310.309. Vgl. dazu RPh III, 127: „Denn Erkennen, Bewußtsein überhaupt heißt dies Urteilen, dies sich in sich selbst Unterscheiden […]. Die Entzweiung […] enthält die zwei Seiten, das Gute und das Böse […]. Es ist also ganz richtig, daß es das Bewußtsein ist, worein das Gute und das Böse fällt.“ 243 Vgl. Hoffmann, Hegel, 16–22, der dort Hegels System als eine „Philosophie der Freiheit“ bezeichnet, deren Aufgabe es sei, mittels der Kategorienkritik der Logik und unter Zugrundelegen eines Vernunftrealismus, den Menschen von der „Macht der Objektivität“ zur Verwirklichung des wahren Menschseins als eines freien Selbstverhältnisses zu befähigen. Vgl. Ringleben, Theorie, 282 ff. 244 E 310. Vgl. auch die schon zitierte Wendung Bonhoeffers, wonach nach bzw. mit dem Sündenfall alle Erkenntnis dem „Gesetz der Entzweiung“ unterliege (E  322). Dieser Ausdruck, der hier auf psychologische Erkenntnisse angewandt wird, darf mit Blick auf die gerade im Text zitierte Passage ohne weiteres verallgemeinert werden. S. außerdem SF 79–87. 245 RPh III, 117. 246 KpV A 4: „Der Begriff der Freiheit […] macht nun den Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der spekulativen, Vernunft aus […]“. S. auch Kroner, Kant I, 152 ff.

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ten. Denn erst dann gewinnen die vom Subjekt vorgenommenen Unterscheidungen zwischen abstrakt-idealem und konkret-gegenständlichem Ich oder Subjekt und Objekt oder Denken und Sein247 ihre Relevanz für dessen Existenz248, manifestieren sie sich als die Entzweiung des Subjekts selbst249; dessen Ziel aber ist, wie Bonhoeffer nun mit Hegel feststellt, „die Einheit mit sich selbst“250. Weil jedoch die Zweiheit von Gut und Böse für den Menschen alles bestimmend oder unendlich ist, insofern sie ja gerade das Spezifische seines Selbst- und Weltumgangs darstellt, steht sie der Verwirklichung der Einheit von Sein und Sollen oder Wesen und Wirklichkeit251 des Menschen entgegen, lässt sich darum theologisch als Sünde beschreiben  –  sofern die Sünde, das peccatum originale, als die gesamte menschliche Wirklichkeit grundlegend bestimmend verstanden wird. Voraussetzung ist also nicht nur bei Bonhoeffer sondern auch bei Hegel ein jedenfalls vordergründig lutherisch beeinflusster Sündenbegriff. Im Unterschied nicht nur zu einem katholisch-thomistischen Sündenbegriff252 sondern 247 Bonhoeffer selbst nennt eine Reihe von Gegensatzbegriffen (vgl. die zuletzt zitierte Stelle aus E 310), wobei es ihm wohl nicht um die im Sinne Hegels terminologisch exakte Benennung des gemeinten Sachverhalts geht, sondern um die Umschreibung seiner Auswirkungen auf die konkrete (wirkliche) Existenz. Die inhaltliche Nähe ist aber offenkundig. SF 84 führt Bonhoeffer zudem – inspiriert von Nietzsche – als eine fundamentale, derjenigen von Lust und Leid zugrunde liegende, Zweiheit die von Ewigkeit und Vergänglichkeit ein; sachlich bleibt er damit in der Nähe Hegels, der stattdessen Unendlichkeit – Endlichkeit oder Allgemeinheit – Besonderheit etc. hat. 248 E 302.304 u. ö. setzt Bonhoeffer als Synonym für die Entzweiung in Gut und Böse das „Sich verstehen aus seinen Möglichkeiten“; der Begriff Möglichkeit bzw. Möglichkeiten zeigt sehr deutlich, dass es um die Selbstverwirklichung oder das Sich-selbst-Entwerfen des Menschen geht, als Entfaltung des Selbst durch sich selbst. Es handelt sich hierbei um eine wörtliche Anlehnung an Formulierungen Heideggers aus Sein und Zeit (vgl. etwa SuZ 197: „Das Dasein entwirft als Verstehen sein Sein auf Möglichkeiten.“, s. auch den ganzen Abschnitt über das Verstehen als Existenzial SuZ 190 ff.); dies ist nur auf den ersten Blick überraschend, hatte doch Bonhoeffer in Akt und Sein Heideggers fundamentalontologischen Ansatz wegen der darin enthaltenen reflexiven Struktur, wonach sich das Dasein in der Daseinshermeneutik auf sich selbst und die Strukturen seiner Existenz richtet, ebenfalls unter die „Ichreflexion des Idealismus“ subsumiert (AS 65). Vgl. auch AS 66: „Welt ist [sc. bei Heidegger] daseinsbeschlossen.“, außerdem A.II.4.c, sowie B.II.4.d. 249 Dieser Genitiv ist also als Genitivus subjektivus und objektivus zugleich zu verstehen! 250 E 310. 251 Vgl. E 310. 252 Diese Vereinfachung sei hier einmal erlaubt, auch wenn die reformatorische Kritik sich in erster Linie gegen die spätscholastische Gnadenlehre mit ihrem ausgeprägten Synergismus richtete, welcher so von Thomas nicht vertreten wird – aber aus seiner theologischen Anthropologie durchaus abgeleitet werden könnte, insofern diese nicht die vollständige Verkehrung des menschlichen Wesens durch die Sünde lehrt und daher eine, unvollständige, aber dennoch aus eigener Kraft mögliche Gotteserkenntnis und Erkenntnis des Guten sowie darin begründeter sittlicher Freiheit auch für den gefallenen Menschen postuliert. Allerdings resultiert diese Sündenlehre aus ganz anderen Voraussetzungen, insofern Thomas unter dem Einfluss platonischer und aristotelischer Wesenslehre das Wesen des Menschen mit seiner substantiellen Vernünftigkeit identifiziert und dann weder die völlige (empirische) Unver-

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beispielsweise auch zu Augustin, der auch in dem späten Werk De Trinitate, ungeachtet seiner zum Teil gleichzeitig ausgeführten radikalen Sünden- und Gnadenlehre, noch neuplatonischem Einfluss unterliegt und daher dort eine nicht (ausschließlich) christologisch resp. offenbarungstheologisch, sondern auch bewusstseinsphilosophisch (!) vermittelte Erkenntnis des trinitarischen Gottes postulierten kann253, wird von Hegel und Bonhoeffer die Sünde zunächst als total, eben alles bestimmend und unendlich, aufgefasst254. Erst bei genauerem Hinsehen offenbart sich, dass Hegel dennoch eher in der genannten augustinischen Tradition steht255, als tatsächlich in der lutherischen, da es ihm zuletzt gar nicht um ein personales Gottesverhältnis, sondern um Geistphilosophie geht: um das dynamische Selbstverhältnis des endlichen Geistes und sein Abbildverhältnis (Augustin) bzw. Identitätsverhältnis (Hegel) mit dem unendlichen Geist. Die bisher dargelegte Anlehnung Bonhoeffers an Hegels Sündenbegriff findet darum eben hier auch ihr Ende und impliziert zugleich eine Kritik des Hegelschen Ansatzes. Denn obwohl er den bewusstseinsphilosophischen Sündenbegriff Hegels übernimmt, folgt er diesem nicht in der Gesamtkonzeption, legt also einen anderen Gottesbegriff und eine andere Anthropologie zugrunde. Weil für ihn nicht der selbstbewusste Geist die letzte Wirklichkeit des Menschen und seiner Welt ist, sondern das persönliche und personhafte Gottesverhältnis256, ist die Entzweiung des Menschen mit sich selbst257 echte Verkehrung des menschlichen Wesens und nicht wie bei Hegel das, was zwar aufgehoben werden soll, dennoch aber notwendiges Stadium in der Entwicklungsgeschichte des Geistes und daher Schritt auf dem Weg der Ver-

nünftigkeit des gefallenen Menschen behaupten kann noch überhaupt von ‚Mensch‘ sprechen könnte, wenn dessen Substanz vollständig zerstört wäre. In der Logik des Wesensbegriffs liegt es ja gerade, dass nur von ihm aus das begriffliche Erfassen und damit auch das konkrete Identifizieren einer Existenz möglich ist. Vgl. für einen Überblick über die Bedeutung der Vernunft in der thomistischen Anthropologie Groh, Schöpfung, 398 ff.; s. auch Ebeling, Lutherstudien II.3, 278 ff. 253 De Trin. XIV, 8,11: sed prius mens in se ipsa consideranda est antequam sit particeps dei et in ea reperienda est imago eius. diximus enim eam etsi amissa dei participatione obsoletam atque deformem dei tamen imaginem permanere. eo quippe ipso imago eius quo eius capax est eiusque esse particeps potest […] ecce ergo mens meminit sui, intellegit se, diligit se. hoc si cernimus, cernimus trinitatem, nondum quidem deum sed iam imaginem dei. Ähnlich XV, 9,16; vgl. auch De Trin. XV, 6,10 f.: sic enim et in homine inuenimus trinitatem, id est mentem [sc. memoriam] et notitiam [sc. intelligentiam] sui qua se nouit et dilectionem qua se diligit […] quapropter singulus quisque homo […] imago est trinitatis in mente. Vgl. im übrigen Kreuzer, Einleitung, passim. 254 WA 39.1, 426,2–5: das peccatum originale ist corruptio totius naturae, s. dazu Ebeling, Lutherstudien II.3, 282 ff. 255 Kreuzer, Einleitung, LX.LXII f. 256 Dazu s. ausführlich B.II.3. 257 Vgl. E 310.

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wirklichung des menschlichen Wesens258. Schon der Versuch des Menschen, sich selbst und seine Wirklichkeit bewusstseinsphilosophisch zu deuten, ist dann aber Ausdruck und Inbegriff einer verkehrten, sündigen Anthropologie, die ihren Geist, ihr Bewusstsein oder ihre Vernunft idealisiert, d. h. absolut setzt. Die Entzweiung des Menschen mit Gott, der Sündenfall, wird demnach zwar – mit Hegel – als Prozess des Selbst- oder Wirklichwerdens des Geistes259 verstanden, aber mit dem wesentlichen Unterschied, dass Bonhoeffer dieses Selbstwerden des Geistes für notwendig zum Scheitern verurteilt erklärt; der Mensch ist weder wesentlich Geist, noch hat er in seinem, unbestritten vorhandenen, vernünftigen Denk- und Erkenntnisvermögen, Anteil am unendlichen Geist: er ist Geschöpf, das sich von seinem Grund losgerissen hat und sich nun auf sich selbst gründen will und gründen muss – ohne dadurch aber je zu seiner Ganzheit und Einheit kommen zu können: seinen Anfang, die ŁěġƮ, kann das endliche, vom unendlichen streng zu unterscheidende, Bewusstsein nicht erreichen, das „Denken […] der gefallenen Menschen ist anfangslos“260. Die kategoriale Verschiedenheit von Gott und Mensch, oder in Hegels Terminologie unendlichem und endlichem Geist, ist eine Voraussetzung, die von Bonhoeffer an anderen Stellen explizit zur Sprache kommt und dabei kontextuell immer auch als gegen Hegel gerichtet verstanden werden muss; in dem hier untersuchten Abschnitt wird sie allerdings mehr vorausgesetzt als explizit gemacht, insofern eben sein Sündenbegriff aus einer kritischen Rezeption des Hegelschen erwachsen ist. Unmittelbar gegen das Hegelsche System gerichtet formuliert Bonhoeffer seinen Standpunkt zu früheren Zeitpunkten, in Akt und Sein261 sowie in Schöpfung und Fall 262, wo er zwar mit Hegel den wahrhaften Begriff des Unendlichen, der hier für den schöpferischen Gott steht, gerade nicht als das einfache Endlose verstehen will, zugleich aber bestreitet, dass es dem Menschen dann möglich sein könne, aus eigener Kraft bzw. mit der endlichen Vernunft die wahre Unendlichkeit, und damit den Grund seiner selbst, zu begreifen. Deutlich wird diese weiterhin gültige 258 Bonhoeffers dezidierter Abweis der Frage unde malum? (vgl. SF 111 f. u. ö.) erhält von dieser Gegenüberstellung her ein besonderes Gewicht. Sein Insistieren auf der Unbegreiflichkeit des Falls dürfte auch von Kierkegaards Kritik an Hegel sowie an orthodoxen Erklärungsversuchen des Sündenfalls beeinflusst sein (vgl. BA 27–39), zumal in SF 97 von dem „Zwielicht“ der Schöpfung und der „Zweideutigkeit der Schlange“ im biblischen Text die Rede ist, das bzw. die um der Unbegreiflichkeit des Falls willen nicht durch Rationalisierungen aufzulösen seien. Kierkegaard schärft in BA immer wieder ein, dass der Unschuldszustand ein zweideutiger Zustand sei, aus dem der Fall gerade nicht als einfache oder gar notwendige Folge, sondern allein durch den „Sprung“ hervorgehe; vgl. dazu BA 40 f. et passim. 259 Vgl. Hoffmann, Hegel, 208; Kroner, Kant II, 412: „Böse und Selbst-Werden [sc. des endlichen Geistes] ist für ihn [sc. Hegel] daher eines […]“. 260 SF 26. 261 AS 47 (vgl. Anm. 196). 262 SF 25.

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Prämisse der grundlegenden Unterschiedenheit von Gott und Mensch in dem vorliegenden Abschnitt der Ethik besonders an der Differenzierung Bonhoeffers zwischen Gottebenbildlichkeit und (geraubter) Gottgleichheit263, mit welcher zweifellos idealistische Konzeptionen einer Wesensverwandtschaft von Gott und Mensch abgewiesen werden264. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass Bonhoeffer diese seine offenkundige Voraussetzung mit einer anderen Terminologie noch klarer hätte zum Ausdruck bringen können: Der Begriff ‚Schöpfer‘, der im Kontext seiner Interpretation von Gen 1.3265, mit einer Ausnahme266, nicht auftaucht, impliziert nämlich notwendig die kategoriale Verschiedenheit zwischen Schöpfer und Geschöpf – im Unterschied zu dem philosophischen Begriff ‚Ursprung‘, der durchaus auch ein Verhältnis ontologischer Teilhabe von Setzendem und Gesetztem beinhalten kann. Dass Bonhoeffer hier den Begriff ‚Ursprung‘ dennoch vorzieht, macht aber umso deutlicher, worum es ihm geht: den Abweis des neuzeitlichen Idealismus, der gerade nicht mehr zwischen idealem Ich und Gott kategorial unterscheidet, so dass das Ich nun seinen Ursprung in sich hinein nimmt267, was in Bonhoeffers Wertung zu der vollständigen Verkehrung des menschlichen Wesens führt. Wenn daher der „Gottgleichgewordene […] aus dem eigenen Ursprung [lebt]“268, was bedeutet, dass er sein Selbstsein, seine Selbstverwirklichung auf sich selbst, auf seine reflexive Erkenntnis von Gut und Böse oder Ideal und Wirklichkeit, Sollen und Sein etc., zu gründen versucht, lebt er faktisch in einer denkerisch gerade nicht überwindbaren Zerrissenheit, deren ständiger Selbstbezug in allem Erkennen und Tun die Stelle Gottes einnimmt, ohne dies aber wahrhaft leisten zu können: „Darum ist die Hegelsche Frage: wie gewinnen wir einen Anfang […] nur durch einen Gewaltstreich der Inthronisierung der Vernunft an Gottes Statt zu beantworten.“269 263

E 302. Früher hat sich Bonhoeffer hierfür der klassischen Terminologie der orthodoxen Dogmatik bedient, als er das reformierte, hier auf Voraussetzungen platonischer Philosophie beruhende, Axiom finitum incapax infiniti (vgl. AS 46 f.78.123) abgewiesen hat, das in seiner Umkehrung – die zugleich seine ursprüngliche empedokleische Fassung ist – besagt, dass Gleiches nur durch Gleiches erkannt werde (Frg. B 107.109). Für eine offenbarungstheologische Konzeption im Gefolge Luthers ist allerdings Bonhoeffers kurz darauf vorgenommene Erweiterung, finitum capax infiniti non per se sed per infinitum (DBW 12, 331 f.), zwingend – und zwar zuerst in der Christologie, folglich aber ebenso in der Soteriologie. 265 E 301 ff. 266 E 307, innerhalb des Exkurses über die Scham. 267 Vgl. E 302 f. S. dazu auch den Abschnitt über Grisebach, von dem sich Bonhoeffer wohl hat inspirieren lassen, ohne dass allerdings seine theologische Konzeption an Eigenständigkeit eingebüßt hätte. 268 E 302 f. 269 SF 26. Vgl. auch DBW 12, 282. S. dagegen RPh III, 126: „Die Schlange hat also nicht gelogen; Gott bestätigt, was sie gesagt hat […] Es ist in diesem Prinzip des Erkennens auch das Prinzip der Göttlichkeit gesetzt […] Das wird gewöhnlich übersehen nach dem Vorurteil, das man einmal hat; man meint, es sei eine Ironie von Gott, Gott habe eine Satire gemacht.“ 264

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„Selbsterkenntnis ist [sc. nun] die nie zum Ende gelangende Bemühung des Menschen, die Entzweiung mit sich selbst denkend zu überwinden, durch unaufhörliches Sich unterscheiden von sich selbst zur Einheit mit sich selbst zu kommen.“270

Damit ist dem gefallenen Menschen, im Unterschied zu Hegels Sündenfallinterpretation, das Erreichen seines wahrhaft Guten verstellt: denn die Reflexivität des menschlichen Denkens, das im Rückgang auf sich Gutes und Böses erkennt (oder: setzt), ist unhintergehbar, weil es immer nur endliches und in sich selbst verkehrtes Bewusstsein ist, keine potentiell unendliche, in sich selbst gegründete Vernunft. Der universale Konflikt zwischen normativen Alternativen wird daher bei Bonhoeffer zur tiefen Kluft, die nur von außen, d. h. von jenseits des in seinem entzweiten Denken und Handeln gefangenen Menschen überbrückt werden kann, indem sich der wahre Ursprung des Menschen diesem offenbart und damit die unendliche Entzweiung und den permanenten, immer an sich selbst und seiner Vorgängigkeit scheiternden Selbstbezug aufhebt – und dies nicht in eine höhere Einheit von göttlichem und menschlichem Bewusstsein, sondern in die Einfalt des wieder aus seinem Ursprung lebenden, unmittelbar gottbezogenen geschöpflichen Menschen271. Vgl. aaO. 129 und RPh I, 258: „Es soll […] das Göttliche durch mich in mir werden […]“. Vgl. dagegen die auffällig Bonhoeffers Position ähnelnde Idealismuskritik Kierkegaards KT 68: „Dies unendliche Selbst [sc. Fichtes] […] ist das Selbst, das er verzweifelt sein will, indem er das Selbst losreißt von jeder Beziehung zu einer Macht, die es gesetzt hat […] [er] will […] über sich selbst verfügen, oder sich selbst erschaffen, sein Selbst zu dem Selbst machen, das er sein will, bestimmen, was er in seinem konkreten Selbst mit dabei haben will und was nicht […] Das will heißen, er möchte ein wenig früher anfangen als andre Menschen, nicht mittels des Anfangs und mit dem Anfang, sondern ‚am Anfang‘ […] er will vermöge dessen, daß er die unendliche Form ist, [sein Selbst] selber konstruieren.“ 270 E  310, ähnlich im Kontext der gerade zitierten Stelle SF  26. Mitschriften der Vorlesung zeigen, dass Bonhoeffer seinen Sündenbegriff hier ausdrücklich in Abgrenzung von Hegel konzipiert hat: „‚Es ist nicht Hegels göttliches Wissen, was gut und böse ist. Die Einheit steht allein im Glauben. Der Glaube ist das wirklich Gute Gottes […] der Mensch [hat nach, Einfügung der Hrsg.] Hegel Wissen Gottes um Gut und Böses. Aus eigenem Guten leben wollen ist … nicht gut.‘“ (SF 8728). Vgl. auch die u. (A.II.5.d) zitierte, im Blick auf Bonhoeffers Position innerhalb der neuzeitlichen Geistesgeschichte als Schlüsselstelle zu bewertende, Passage AS 35. 271 Prüller-Jagenteufel, Verantwortung, 57.236 ff., entgeht diese Zielrichtung von Bonhoeffers Sündentheologie, obwohl sie schon in Akt und Sein von ihm offen ausgesprochen wird (s. u. A.II.4.c). Zugleich verkennt er, dass diese Kritik zunächst mit Nietzsche geübt wird (s. o. A.II.3); anders Prüller-Jagenteufel, aaO. 102), wenn auch dessen Metaphysik des Willens zur Macht von Bonhoeffer ebenfalls einer indirekten Kritik unterzogen wird, die allerdings nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Sündenbegriff steht (vgl. B.II.2.d) Zudem verweist jener für seine These, dass sich Bonhoeffers Sündenbegriff unmittelbar gegen Nietzsche richte, auf die nationalsozialistische Vereinnahmung Nietzsches, was schon deshalb problematisch ist, weil der Sündenbegriff von Bonhoeffer bereits in Schöpfung und Fall in seinen Grundzügen entwickelt ist und zudem unmittelbar an seine Idealismuskritik aus Akt und Sein anknüpft, während die Nietzsche-Rezeption zu eben dieser Zeit noch überwiegend positiv ist (s. o. A.II.3.a). Abgesehen davon wendet sich ja Nietzsche selbst, als Aufklärungskritiker eigener Art, gegen die klassische Differenzierung

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bb) Selbstbewusstsein und Sünde An dieser Stelle sollen einige kurze Hinweise zu der Herkunft dieses von Bonhoeffer entwickelten Sündenbegriffs gegeben werden, ohne dass jedoch der sehr komplexe Sachverhalt hier ausführlich eingeholt werden könnte oder müsste. Es sollte bereits deutlich geworden sein, dass Bonhoeffer sich intensiv und kritisch mit dem neuzeitlichen Denken, speziell mit dem des Deutschen Idealismus, auseinander gesetzt hat. Zweifellos greift er in „Die Liebe Gottes und der Zerfall der Welt“ nun auf die Auseinandersetzung zurück, die er in seiner Habilitationsschrift sowie der zugehörigen Antrittsvorlesung Die Frage nach dem Menschen in der gegenwärtigen Philosophie und Theologie272 geführt hat, welche beide im Wesentlichen bereits den hier dargestellten Sündenbegriff vorweg nehmen, allerdings mit einer nicht auf das Praktische, die Ethik fokussierenden, sondern einer theoretischen Ausrichtung, nämlich auf den Glaubensbegriff bzw. das Verhältnis von Glauben und Erkennen. Entscheidend beeinflusst wurde der junge Bonhoeffer einerseits von der neuzeitlichen, systematisch und konsequent bei Kant erfolgten Hinwendung zum Subjektivismus, der kopernikanischen Wende der Erkenntnistheorie, die er als solche niemals in Frage gestellt hat, etwa durch ein Festhalten an einem vorneuzeitlichem Realismus in der Erkenntnisfrage273. Andererseits war mit dieser seiner Einsicht sogleich die andere verbunden, der zufolge das nun statt im selbständigen Objekt, in der zu erkennenden res, im Subjekt begründete Erkennen Ausdruck der Sündigkeit des Menschen sei, weil dieser nun versuche, seine Welt und sich selbst in sich und seinem Erkenntnisvermögen zu verankern274. Daher werden auch andere philosophische Systeme von ihm zwischen gut und böse und proklamiert dagegen das von Bonhoeffer an mehreren Stellen übernommene „Jenseits von Gut und Böse“, wie bereits gezeigt werden konnte – die Pointe Bonhoeffers besteht deshalb darin, dass eben nicht nur der offensichtlich böse, vermessene, menschenverachtende Nationalsozialist, sondern auch und gerade der gut und aufrichtig handelnde, sich selbst be- und verurteilende moralische Mensch der Mensch unter der Sünde ist (so auch richtig in Prüller-Jagenteufels Referat von SF 96 ff. [aaO. 94 f.]; allerdings wird dieser entscheidende Aspekt in der Zusammenfassung [aaO. 96 f.] nicht erwähnt). In dem Abschnitt über „die theologische Bestimmung des Menschen nach dem Fall, unter der Sünde […] [sc. dem] ‚cor curvum in se‘“ (aaO. 98, vgl. 101 ff.) geht der gerade abgewiesenen These die Bemerkung voran: „Diese Bestimmung [sc. der Sünde als Erkenntnis und Erstreben von Gut und Böse] Bonhoeffers ist nicht einfach als rechtfertigungstheologisches Glasperlenspiel abzutun [!] […]“. 272 DBW 10, 357–378. 273 Offenbar hat sich Bonhoeffer schon zu Beginn seiner Studienzeit (1923) mit kantischer Erkenntniskritik beschäftigt; Bethge nennt Bonhoeffers erkenntniskritische Studien als das erste einschneidende Erlebnis seiner Studienzeit vor der Begegnung mit Barths Theologie und der Begegnung mit dem Katholizismus während der Romreise – auf der er übrigens wiederum Kant studierte, vgl. DB 83.86.93. 274 Dazu s. exemplarisch AS 74.75: „Das Denken vermag ebensowenig das cor curvum in se aus sich zu befreien wie das gute Werk. Sollte es Zufall sein, daß die tiefste deutsche Phi-

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jedenfalls de intentione auf ihren impliziten Subjektivismus hin befragt und als Ausdruck der Verkehrung des menschlichen Wesens kritisiert, so etwa die Fundamentalontologie Heideggers, die Phänomenologien Husserls und Schelers, aber auch der eines neuzeitlichen Subjektivismus scheinbar unverdächtige Neuthomismus Przywaras275, weil nämlich, so Bonhoeffer, „[…] der [sc. philosophierende] Mensch sich selbst grundsätzlich zugänglich und durchsichtig ist, sich durch sich selbst versteht; er findet in sich den Einheitspunkt, von dem aus sich ihm sein Wesen erschließt, gegeben. Er wird sich selbst gegenständlich, indem er sein Ich denkt. Denken des eigenen Ich als Denken aus Einheit wird hier zur Urposition aller Philosophie […]. Der [sc. philosophierende] Mensch hat in sich wesentlich keine Grenzen, er ist in sich unendlich. Darin hat der Idealismus recht.“276

Darum fällt jede Philosophie für Bonhoeffer unter das Verdikt des lutherischen Sündenbegriffs, der damit auf die epistemologische Frage zugespitzt wird, die trotz des mittlerweile zentralen Interesses an der Ethik auch hier den eigentlichen Ansatzpunkt für die Kritik der philosophischen Ethik bildet. „Dies Ergebnis der philosophischen Bemühungen nimmt die Theologie hin, aber sie deutet es in ihrer Weise als das Denken des cor curvum in se […]. Das in sich gefangene Denken ist der echte Ausdruck des nach sich fragenden Menschen im status corruptionis.“277

losophie in der Ichbeschlossenheit des Alls endet? […] die Welt des unbegnadigten Ich ist ichbeschlossen […] nur aus der geschehenen und geglaubten Offenbarung und ihrer Wahrheit heraus [kann] die Unwahrheit des menschlichen Selbstverständnisses durchschaut werden. Wäre es nicht so, so würde die Offenbarung als letztes Postulat menschlichen Denkens in die Unwahrhaftigkeit des Selbstverständnisses selbst hineingezogen, so daß der Mensch aus den Postulaten seiner eigenen Existenz heraus in die Lage gesetzt wäre, sich selbst recht zu geben und in die Wahrheit zu stellen […]“. 275 Vgl. AS  27 ff.; DBW  10,  357 ff. Allerdings könnte gerade Przywara hier entscheidenden Einfluss auf Bonhoeffer ausgeübt haben, insofern dieser selbst ausdrücklich das Selbstverständnis des erkennenden Subjekts an den Anfang seines Philosophierens setzt: „Für klassische katholische (Augustinus-Thomas von Aquin) wie klassische moderne (Kant-Hegel) Philosophie ist ‚Selbstreflexion des Ich‘ der philosophische Ausgangspunkt.“ (aaO. 25). Dass nun aber der Anspruch thomistischer Theo-Philosophie gerade ein anderer als derjenige des neuzeitlichen Idealismus sei, dass sie unter anderem „Vorzeichen“, nämlich dem des analogischen Denkens anstelle des Denkens im Schema Identität-Widerspruch philosophiere, weil „diese ‚Selbstreflexion‘ […] nur scheinbar eine rein erkenntnistheoretische, d. h. eine solche, die vor aller Metaphysik läge, [ist]“ (vgl. aaO. 25.26), wird von Przywara im gleichen Zusammenhang ausgeführt. Im Ausgang vom erkennenden, denkenden Subjekt wird darum von ihm an der Transzendenz Gottes festgehalten und das Ich als von diesem seinem Grund her und auf hin ausgerichtet verstanden, so dass das „geschöpfliche Bewußtsein“ gerade nicht „in sich […] irgendeinen ‚absoluten Fixpunkt‘ hat […] [s]ondern […] ‚in‘ seiner Gegensatzspannung seines wesenhaft übergeschöpflichen ‚absoluten Fixpunktes‘ in Gott inne wird. Das geschöpfliche Bewußtsein erlebt den ‚absoluten Fixpunkt‘ seiner Einheit jenseits über sich.“ (aaO. 28). 276 DBW 10, 359.368 (Antrittsvorlesung). Vgl. auch später (1935) DBW 14, 532 f., wo das Christliche dem Idealismus als Gegensatz gegenüber gesetzt wird. 277 DBW 10, 369.

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Bonhoeffer greift mit dieser Deutung auf die lutherische Vernunftkritik zurück, die einen Aspekt von dessen Sündenbegriff ausmacht und deren vielleicht bekannteste Formulierung in der Disputatio de homine enthalten ist278. Bekanntlich wendet sich Luther in dieser Disputation gegen scholastische und spätscholastische Auffassungen über den Menschen, die, ausgehend vom Gedanken einer substantiellen, als essentia hominis verstandenen Vernunft, annehmen279, dass mittels dieser, der göttlichen verwandten Vernunft eine intellektuelle Hinwendung zum göttlichen Grund erfolgen könne sowie eine wahre Erkenntnis der geschöpflichen Wirklichkeit wenigstens in Ansätzen möglich sei280. Bonhoeffer selbst verwendet an anderer Stelle die an den Sprachgebrauch Luthers angelehnte Wendung von der ratio in se ipsam incurva, unter ausdrücklicher Berufung auf dessen Römerbriefkommentar281. Daraus geht deutlich hervor, dass er die antischolastische Vernunftkritik Luthers auf seine eigene Kritik neuzeitlicher Philosophie282 beziehen möchte, was allerdings zu einer verkürzenden Auslegung der häufig vorkommenden anderen Wendung Luthers vom cor curvum in se283 führt, die durchaus mehr meint als die primär auf die intellektuelle Seite der Gottesbeziehung bezogene von der ratio in se ipsam incurva und deshalb für einen weiteren, das ganze Personverhältnis zwischen Gott und Mensch einschließenden, Sündenbegriff steht284. 278

WA 39.I, 176 (These 24): Quibus stantibus […] ratio […] sub potestate diaboli […] esse concluditur. 279 Vgl. dazu These 1–4 (WA 39.I, 175), die ausdrücklich bei der scholastischen Definition des Menschen als eines animal rationale (sensitivum, corporeum) und dem darin implizierten Gedanken von der Göttlichkeit der Vernunft ansetzen. 280 Hierzu s. den Exkurs über den scholastischen Vernunftbegriff bei Ebeling, Lutherstudien II.2, 211–227. 281 AS  34. Bei der von Bonhoeffer angegebenen Stelle handelt es sich offenbar um WA 56, 304,25–29 (Scholion zu Röm 5,4): Ratio est, Quia Natura nostra vitio primi peccati tam profunda est in seipsam incurua, vt […] [v]erum etiam hoc ipsum ignoret, Quod tam inique, curue et praue omnia, etiam Deum, propter seipsam querat […]. Allerdings dürfte es sich hierbei entweder um eine freie Anlehnung an den Luthertext oder um ein Missverständnis des Satzes handeln, da in dem angegebenen Zitat ratio zweifellos nicht „Vernunft“, sondern „Grund“ bedeutet. Sachlich ist Bonhoeffers interpretierende Wendung gleichwohl berechtigt, vgl. etwa Ebeling, Lutherstudien II.3, 321 f. zu Luthers Urteil über die religiöse und sittliche Leistungsfähigkeit der Vernunft: Luther kann zwar in Bezug auf die Gegenstände der Vernunft durchaus von Gütern sprechen, aus der theologischen Perspektive heraus handelt es sich dennoch um auf schlechte Weise, da ex naturalibus, d. h. secundum nos, erstrebte Güter: male bona deprecatur [sc. ratio]. 282 Im Kontext dieses Zitats: Fichte und Hegel. 283 Stattdessen auch: homo incurvatus, curvitas naturalis u.ä.; vgl. die Fortsetzung der von Bonhoeffer zitierten Stelle WA 56, 304, wo Luther ein Jeremia-Wort anfügt (Jer 17,9): ‚Prauum est cor hominis et inscrutabile, quis cognoscet illud?‘; 305: cor hominis ita curuum in se, Vt nullus hominum, quantumlibet sanctus (seclusa tentatione), scire possit; s. auch WA 56, 356,5 f. 284 Vgl. dazu ausführlich Ebeling, Lutherstudien II.3,84 ff.153 ff., bes. 204 f. S. dazu besonders B.II.3.b.

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Offenbar war neben diesem vernunftkritischen Aspekt des lutherischen Sündenbegriffs aber noch ein anderer Gedanke leitend, der für Bonhoeffer die Berechtigung zu seiner fundamentalen theologischen Kritik an den Systemen des Idealismus abgeben hat: nämlich der Gedanke, dass das zum erkenntnistheoretischen Fundament gewordene Selbstbewusstsein stets aporetisch bleiben muss, weil es sich immer selbst voraussetzt und es daher nie zur wirklichen Einheit mit sich selbst, der Einheit von sich als Subjekt und sich als Objekt, kommen kann285. Dass Bonhoeffer mit diesem Gedanken die Pointe der kantischen Erkenntniskritik nur sehr vereinfacht darstellt, mag für ihn nicht von Belang gewesen sein286; er dient ihm jedenfalls als basales Argument gegen alle subjektivistischen Geistphilosophien und wird daher ebenso gegen Hegel gerichtet, dessen Anspruch, dass der endliche Geist aufgrund seiner letztlichen (differenzierten) Identität mit der unendlichen, als reines Selbstbewusstsein gefassten Vernunft dieser Aporie gerade nicht unterliege, damit einfachhin bestritten wird287. Stattdessen scheint Bonhoeffer die jeder Selbstbewusstseinstheorie inhärente, auf unterschiedliche Weise bearbeitete Problematik, dass nämlich das sich selbst erkennende Ich, indem es sich in Subjekt und Objekt entzweit, zugleich als Erkennendes immer schon ein vorgängiges bzw. reflexiv nicht erreichbares Bewusstsein seiner Identität bei sich haben muss, als Hinweis auf die Gesetztheit des Ich durch einen ihm transzendenten Grund deuten zu wollen – von dem her dann diesem Ich auch seine Bestimmung, sein Seinsollen als Ziel seiner konkreten Existenz gegeben wird288. Darum muss in seiner Deutung auch jede Philosophie und mit ihr jede philosophische Ethik scheitern, die zu ihrem systematischen Ausgangspunkt das Selbstbewusstsein macht – und das ist Bonhoeffer zufolge letztlich immer der Fall, wenn der Mensch philosophiert, weil er immer zuerst bei seinem Denken und damit bei seinem Selbstverständnis ansetzt, an welchem dann die Wirklichkeit ihren Maßstab 285 Dieser Gedanke findet sich beispielsweise: E  310; AS  31 f.; SF  26; DBW  10,  358; DBW 12, 180 f. 286 Vgl. dazu etwa KrV B 132 ff.157.404 f.422 f.*. 287 Vgl. AS 47; DBW 12, 282; HS 125 f., wo Bonhoeffers Markierungen zu RPh I, 146– 148 („Der Begriff Gottes“) beschrieben werden. 288 Dies legt sich von seiner Kant-Deutung in Akt und Sein her nahe, wo er die transzendentale Apperzeption als Transzendenz oder Grenzbegriff bezeichnet und dann mit dem Ding an sich parallelisiert (AS 28 u.ö, vgl. DBW 12, 180 f.), klingt aber auch an anderen Stellen durch, etwa DBW  10,  358.369; SF  26 f. und wird in dem jetzt untersuchten Text (E  310) vollends deutlich, wo die unüberwindliche Entzweiung des Selbstbewusstseins Folge des Verlustes des Ursprungs ist. Ob Bonhoeffer damit Kant besser versteht, als er sich selbst verstanden hat (vgl. AS 32.38), m.a.W. eine dem Ansatz Kants gegenläufige Auslegung des Ich denke einträgt, soll hier dahingestellt bleiben. Auffällig ist aber, dass er sich hier in unmittelbarer Nähe zu Kierkegaards Existenzdialektik befindet, derzufolge einerseits das Denken am Existieren „stranden muß“ (UN II, 14) und andererseits sich die Existenz nur selbst versteht in ihrer Bezogenheit auf Gott. S. dazu u. A.II.5.d.

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erhält, auch dann, wenn es sich ausdrücklich nicht um Transzendental- oder idealistische Philosophie, sondern beispielsweise um die Existenzphilosophie Martin Heideggers handelt289. Unabhängig von der Frage, wie plausibel eigentlich diese Subsumierung verschiedenster philosophischer Richtungen und Systeme unter das subjektivitätstheoretische Paradigma des 18. und 19. Jahrhunderts ist290, stellt sich allerdings sogleich die andere Frage, ob Bonhoeffer zuletzt vom Glaubenden und daher auch vom Theologen, sofern Theologie ein Nachdenken der Offenbarung ist291, ein sacrificium intellectus fordert  –  Einfalt im psychischen Sinne292 –, wenn doch scheinbar jedes selbständige Denken des Menschen als Ausdruck der Sünde begriffen und daher vom Glaubenden abgelegt werden muß. Hierauf ist im letzten Teil dieses Abschnitts zurückzukommen. Zuvor soll noch in Kürze auf den Gewissensbegriff Bonhoeffers eingegangen werden, anhand dessen die Vorordnung des praktischen vor dem theoretischen Weltumgang des Menschen innerhalb von Bonhoeffers Anthropologie deutlich werden wird, sowie anhand des Phänomens der Scham eine bisher nur implizit erwähnte Abgrenzung Bonhoeffers von Hegel zur Sprache kommen. cc) Das Gewissen I Im vorhergehenden Teil stellte sich der in der Auseinandersetzung mit den subjektivitätstheoretischen philosophischen Entwürfen der Neuzeit gewonnene Sündenbegriff Bonhoeffers als ein besonders auf die Erkenntnisfrage zugespitzter dar. So sehr aber auch in dem Kapitel „Die Liebe Gottes und der Zerfall der Welt“ das Problem der Wahrheitserkenntnis, also wiederum eine theologische Erkenntnistheorie, den argumentativen Grund für Bonhoeffers 289 Man könnte daher etwas vereinfachend auch sagen, dass Bonhoeffer jeder Philosophie den eigentlich erkenntniskritischen Homo-mensura-Satz des Protagoras unterschiebt, wonach der Mensch das Maß aller Dinge sei, der Seienden, dass sie sind, und der Nichtseienden, dass sie nicht sind (Theait. 152a; vgl. auch 166d), und den Idealismus lediglich als besonders deutliche Ausprägung dieses eigentlich allgemeinen Prinzips betrachtet. 290 Eine umfassende Kritik der Beurteilung der genannten unterschiedlichen philosophischen Richtungen durch Bonhoeffer anhand des erkenntnistheoretisch gewendeten lutherischen Sündenbegriffs kann hier nicht geleistet werden. Jedenfalls soll aber darauf hingewiesen werden, dass Bonhoeffers frühe Zusammenschau unterschiedlichster Philosophien in einem Prinzip zumindest als etwas gewaltsam eingeschätzt werden muss (vgl. das Nachwort des Herausgebers der Habilitationsschrift, AS  164: „Dargeboten wird [sc. hier] […] eine philosophische tour d’horizon, gefolgt von einer theologischen tour de force […]“). Er hat sie so denn auch nicht wiederholt, wenn auch fraglos der – letztlich recht simple – Grundgedanke der gleiche geblieben ist: dass der philosophierende Mensch immer (auch) bei seinem Selbstverständnis ansetzt und ansetzen muss, und dies als sündiges Losreißen von seinem Grund, dem Schöpfer begriffen werden müsse. 291 AS 128 f. 292 Vgl. E 322.

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Kritik der philosophischen Ethik abgibt, hat sich doch im Vergleich mit Akt und Sein die Gewichtung geändert. Die Frage nach der Erkenntnis mündet nun nicht mehr in eine Reflexion über den Glauben als Bewusstseinsakt, sondern zielt auf die praktische Haltung des Menschen vor Gott – als Sünder wie als Glaubender. Dass darin der Glaubensakt im Sinne von Akt und Sein, also als direktes Bewusstsein oder actus directus, eingeschlossen und vorausgesetzt ist, wird im Anschluss an diesen Abschnitt dargelegt werden293. Hier soll nur in Kürze darauf hingewiesen werden, dass und wie Bonhoeffer den in der Auseinandersetzung mit Hegel entwickelten Sündenbegriff weit stärker als dieser auf die ethischen Implikationen zuspitzt, wenn er das zunächst theoretische, das gesamte menschliche Erkennen betreffende, Selbstbewusstseinsproblem auf dessen praktisch-ethische Implikationen befragt. Da der Gewissensbegriff in einem anderen Manuskript, in „Die Geschichte und das Gute [Zweite Fassung]“ allerdings noch einmal auftaucht und dort auch etwas ausführlicher von Bonhoeffer reflektiert wird, soll hier lediglich andeutend die systematische Funktion beschrieben werden, ohne auf die weiteren Einflüsse etwa durch Heidegger und Holls Lutherdeutung, aber auch Kant, an dieser Stelle näher einzugehen294. Die als Ziel der menschlichen Existenz genannte Bestimmung der „Einheit des Menschen mit sich selbst“295 dient Bonhoeffer hier offenbar der Konkretion des in seinem Grund eher abstrakten Sündenbegriffs als subjektivitätstheoretisch begründete Selbstreflexion, aus welcher die fundamentale Zweiheit von Gut und Böse folgt. Denn der nun mit dem Sündenbegriff verbundene Gewissensbegriff ermöglicht eine zusätzliche anthropologische Verankerung von jenem, indem das Gewissen nun als Brücke zwischen dem reflexiven Erkennen und dessen praktischen Folgen, dem ethischer Reflexion unterliegenden Handeln fungiert. Die Einheit mit sich selbst wird nun ganz konkret vom Gewissen als Ziel des Handelns vorgegeben und im Gewissensurteil über Gut und Böse hinsichtlich seiner Erreichung bzw. Verfehlung bewertet296. Dieses Selbst-Beurteilen zum Zweck der Herstellung der Einheit des eigenen Selbst mündet freilich in einen circulus vitiosus297: Denn die Einheit des Menschen mit sich selbst wird vom Gewissen als das Gute dem zu vermeidenden Bösen gegenüber gesetzt, obwohl gerade diese Entzweiung in Gut und Böse ja eigentlich, so Bonhoeffer, die Sünde darstellt. Wenn also der Mensch seinem Gewissensruf Folge leistet oder zu leisten versucht, gerät er zwangsläufig 293

A.II.5. S. dazu u. B.II.4.d. Vgl. auch SF 119–122. 295 E 310. 296 E  309: „[…] der letzte Maßstab [sc. des Gewissens] bleibt […] die Einheit mit sich selbst […].“ 297 Dieser Begriff wird von Bonhoeffer selbst für das  –  in seiner Sicht notwendige  –  Scheitern menschlicher Selbstbegründungsversuche verwendet, vgl. SF  26. S. auch DBW 12, 18016: „Ring“ (hier wie in Schöpfung und Fall bezogen auf Hegel). 294

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nur immer mehr in die Entzweiung hinein, was – so muss man Bonhoeffers Ausführungen hier ergänzen – dann nur ein umso rigoroseres Anwenden des Maßstabs von Gut und Böse provoziert anstelle die echte Befreiung aus der Sünde zu leisten. Das Gewissen überträgt daher die grundlegende Entzweiung des Menschen in sich selbst ins im engeren Sinne Moralische, indem es anhand seines Maßstabes, der Einheit von Denken und Sein, Wissen und Tun etc.298, Gutes und Böses als Erlaubtes und Verbotenes unterscheidet299. Exemplarisch steht hierfür der Pharisäer, das Paradigma des Sünders bzw. Adams, der sich gerade wegen seiner hoch ausgebildeten ethischen Urteilskraft in seinen moralischen Ansprüchen verstrickt und dadurch zum permanenten Richten seiner selbst und seiner Mitmenschen verdammt ist300. Jedoch kommt es Bonhoeffer hier weniger auf die konkreten Konsequenzen eines starken moralischen Gewissens für den Menschen an, wie er sie später an dem genannten Beispiel des Pharisäers resp. dem Phänomen des Richtens erläutert. Vielmehr geht es ihm zunächst grundsätzlich um die Funktion des Gewissens als Urteilsinstanz der praktischen Vernunft. Hier liegt denn auch wieder eine, nun aber eher unspezifische, Nähe zu Hegel vor; das als Richter seiner selbst fungierende Gewissen des Menschen übernimmt die Selbstbegründung des Menschen in praktischer Hinsicht und wird darum als göttliches Element im Menschen verstanden, aus dessen Urteil die Richtlinien für das Handeln und für alle Außenverhältnisse des Menschen abgeleitet werden: „Das Gewissen gibt sich als die Stimme Gottes und als die Norm des Verhältnisses zum anderen Menschen aus. […] Der Mensch ist zum Ursprung von Gut und Böse geworden. Er leugnet nicht sein Böses, aber im Gewissen ruft der Mensch sich selbst, den Bösegewordenen, zu seinem eigentlichen, besseren Selbst, zum Guten zurück. Dieses Gute, das in der Einheit des Menschen mit sich selbst besteht, soll nun der Ursprung alles Guten sein […]. Das Wissen um Gut und Böse in sich tragend ist der Mensch Richter über Gott und Mensch geworden, wie er Richter über sich selbst ist.“301

Im Unterschied zu Hegels Sündenfalldeutung führt daher in Bonhoeffers Interpretation das in der fundamentalen Selbstbezogenheit begründete Urteil des Gewissens, d. h. die Erkenntnis und Bewertung des ganz konkreten eigenen Guten und Bösen, notwendig tiefer in die Entzweiung hinein statt aus ihr heraus. Nicht bedeutet „sich als böse zu setzen […] an sich Aufhebung des Bösen“302; vielmehr bleibt dem Gewissen als moralischer Urteilsinstanz303 die 298

E 310. Vgl. E 309. 300 S.o. A.II.3.c und E 311 f.317. 301 E 309 f. 302 RPh III, 110; dieser Satz ist von Bonhoeffer in seinem Exemplar unterstrichen, mit zwei Seitenstrichen sowie zwei Ausrufezeichen markiert worden, vgl. HS 130. 303 Dass dem Gewissen dann auch für den versöhnten Menschen eine Funktion zukommt, die eben nicht im moralischen Urteil besteht, erläutert Bonhoeffer im Kontext des christ299

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Erkenntnis des wahrhaft Bösen, dass nämlich die Entzweiung in Gut und Böse in der Reflexion auf sich selbst Sünde ist und daher die angestrebte Einheit von Sollen und Sein resp. Erkennen und Tun für das Selbst gar nicht erreicht werden kann, notwendig verborgen304  –  was unmittelbar aus Bonhoeffers oben erläuterten Sündenbegriff folgt, wonach der menschliche Geist gerade nicht denkend über seine Endlichkeit und sein Gefallensein hinaus gelangen kann und deshalb im Zirkel der scheiternden Selbstbegründungsversuche gefangen ist305. Dem phänomenologischen Aufweis dieser fundamentalen Verkehrtheit des Gewissens resp. des daraus resultierenden moralischen Richtens über sich, den Anderen und Gott selbst, aber dient Bonhoeffers Rückgriff auf Nietzsches Moralkritik306. dd) Ganzheitliche Anthropologie: Scham und Sünde Noch vor dem anthropologischen Phänomen des Gewissens behandelt Bonhoeffer das der Scham; den Grund für diese Reihenfolge gibt er selbst an: die Scham ist ein Phänomen, das dem Gewissen eigentlich vorgeordnet, ursprünglicher als dieses ist307. Wie dieses wird auch jene allein als eine anthropologische Konstante, die mit dem Fall auftritt, behandelt; dass die Scham als negative Folge des Sündenfalls gedeutet wird, ist zunächst nicht erstaunlich, bleibt Bonhoeffer damit doch eng am biblischen Sündenfallmythos308, wohinlichen Handlungsbegriffs als Verantwortung. Dort ist deutlicher Einfluss von Martin Heidegger einerseits und Luther andererseits erkennbar. S.u. B.II.4.d. 304 E  309. S. auch Claß, Zugriff, 142 (bezogen auf die Darlegungen zum Gewissen in Schöpfung und Fall [SF 119 ff.]): „Das Gewissen überwindet also nicht die Sünde, sondern bestätigt und bestärkt sie.“ 305 Demgegenüber kann Hegel das Gewissen als „göttliche Stimme“ und darin den mit sich selbst versöhnten Geist ansprechen (vgl. PhG 352 f.361 f. sowie Jaeschke, Handbuch, 193). Ob Bonhoeffer diese Stelle gekannt oder vor Augen gehabt hat, lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen, ein Reflex in der Erinnerung an frühere Lektüre ist möglich; andererseits ergibt sich der hier bestehende Gegensatz stringent aus der Unterschiedlichkeit der oben beschriebenen Grundvoraussetzungen, es ist also ebenso gut möglich, dass Bonhoeffer hier nicht unmittelbar gegen Hegel gerichtet schreibt. Vgl. außerdem Claß, Zugriff, 138153, der dort Grisebachs ähnliche Kritik am Gewissensbegriff als innerer Urteilsinstanz äußert. 306 S. dazu auch SF  121 f., wo der gefallene Mensch sich gegen Gott auf sein Gewissen beruft. Vgl. außerdem AS 137 ff.154 ff.; DBW 10, 370 f. 307 Vgl. E 308. 308 Vgl. Gen 2, 25 mit 3, 7.11, s. E 304. Die Überschrift, die Bammel, Augen, 264, dem Kapitel über Bonhoeffers Deutung des Phänomens Scham gibt („Zur kreatürlichen Ambivalenz der Scham im Anschluss an Dietrich Bonhoeffer“), geht daher an der Sache vorbei: Scham ist in Bonhoeffers Interpretation keineswegs kreatürlich, sondern Folge des Falls und damit Ausdruck der Verkehrung des geschöpflichen Wesens des Menschen, so sehr sie dann auch als ein ambivalentes Phänomen zu verstehen ist, dem auch eine positive resp. Erhaltungsfunktion für das Menschsein zukommt. Darüber hinaus wird die Positivität der Scham nach Bonhoeffer von Bammel (aaO. 267 f.) überbewertet; die Passage E 305–308 lässt deutlich erkennen, dass die Scham in erster Linie als Zeichen des Verlustes bewertet wird – gerade auch in ihrer Erhaltungsfunktion. Daher vollzieht sich auch die Versöhnung

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gegen die Deutung des Gewissens als Signum des Sündenfalls resp. der Entzweiung zunächst überraschend ist. Die Interpretation des Phänomens Scham ist allerdings recht originell und erhält zusätzliche Bedeutsamkeit aus ihren anthropologischen Implikationen, die den oben bereits beschriebenen Unterschied zwischen Bonhoeffers und Hegels Sündenbegriff bei aller ebenfalls erkennbaren Nähe zwischen beiden deutlich herausstellt. Bonhoeffers Ausführungen über die Scham als Phänomen von Verhüllung und Enthüllung liegt eine zu derjenigen Hegels gegenläufige Auffassung des menschlichen Wesens zugrunde. Denn die Scham zeigt in Bonhoeffers Verständnis dadurch, dass sie Verhüllung für unterschiedliche Lebensäußerungen und Erscheinungsformen des menschlichen Welt- und Selbstumgangs fordert, an, dass der Mensch in einer fundamentalen Entzweiung lebt; deren Umfang wird folglich zuerst durch die universale und keineswegs auf den naturalen oder geschlechtlichen Bereich beschränkte Scham bezeichnet, die als unwillkürliche, affektiv-physische Reaktion tief im Menschen verankert ist309. Bonhoeffer deutet daher das Phänomen Scham als fundamentaleren Ausdruck des Sündenfalls als das Gewissen, das ethisch-reflexive Selbstverhältnis des Menschen: „Scham ist ursprünglicher als Reue […] Das Gewissen ist dem Ursprung ferner als die Scham.“310 In dieser Vorordnung der Scham vor der Reflexion sind aber zwei wichtige Aspekte für Bonhoeffers Deutung des Wesens des Menschen enthalten, die kurz erläutert werden sollen: Erstens, so muss gefolgert werden, vertritt Bonhoeffer hier eine theologische Anthropologie, die im Unterschied und Gegensatz zu Hegel, aber auch zu anderen Deutungen des Menschen in der Tradition platonisch-neuplatonischer Philosophie, von einer grundsätzlichen und wesentlichen Zusammengehörigkeit von Leib, Seele und Geist im Menschen ausgeht. Ganz offenbar werden hier indirekt Auffassungen abgewiesen, die das Wesentliche am oder im Menschen primär oder ausschließlich im Geistigen, d. h. Intellektuellen oder Vernünftigen, lokalisieren und dem Körperlichen oder Körperlich-Seelischen entweder negative Auswirkungen auf das geistige Selbst- und Weltverhältnis zuweisen, wie dies in einer bestimmten Auslegungstradition platonischer Philosophie der Fall ist311, oder die das Geistige als das bestimmende durch einen „Akt[ ] letzter Beschämung“, also durch das Gericht, das „Offenbarwerdenmüssen[ ]“ hindurch (E  308). Auch wenn durch das Gericht hindurch Gottes Rettungshandeln vollzogen wird, so lässt sich dieses Wirklichwerden göttlicher Liebe (vgl. Bammel, Augen, 268) eben nicht ohne den göttlichen Zorn denken, will man nicht in die Nähe einer von Bonhoeffer als gefährliche Verkehrung des Evangeliums bewerteten Entwertung der „teuren Gnade“ (N 29 ff.) kommen – was von Bammel so wohl nicht gemeint ist, sich aber durch die Verkürzung und Konzentration auf die Positivität des Phänomens Scham nahe legt. 309 Bammel, Augen, 26–36.79–84. 310 E 305.308. 311 Ausgangspunkt hierfür ist beispielsweise das bekannte Wort Platons vom Körper als Grab der Seele ([…] ĔċƯšĔęğĝċ […]ƚĜ […] ĞƱĖƫėĝȥĖċőĝĞēėŞĖȉėĝǻĖċ[…];Gorgias

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Element im Menschen, als das Physische in sich aufnehmende und daher in anderer Weise für unwesentlich erklärende deuten, wie dies etwa bei Hegel der Fall ist. Das Sein oder Natürliche, oder wie immer man es bezeichnet, wird nämlich dort, wie oben erläutert, zum bloßen Moment des selbstbewussten Geistes – als das Andere des Denkens, das sein Ziel allein in der aufgehobenen Einheit von Denken und Sein im Denken hat: „Aber was den Menschen als Menschen, als Geist auszeichnet, ist eben das Erkennen, Entzweien.“312 „In dem unmittelbaren Menschen sind zwei Bestimmungen, die erste, was er an sich ist, seine Anlagen, seine Vernünftigkeit, Geist an sich, das Ebenbild Gottes, was er innerlich an sich ist. Die zweite ist seine Natürlichkeit, daß seine Vernünftigkeit noch nicht entwickelt ist […] Hingegen der Mensch soll Geist für sich sein, nicht nur Geist an sich; das Ansichsein, die Natürlichkeit soll aufgehoben werden.“313

Demgegenüber müssen Bonhoeffers Ausführungen über die fundamentale Bedeutung der Scham im Kontext der Erläuterung des Sündenbegriffs, mit dessen Anleihen und Kritik an demjenigen Hegels, als eine theologische Depotenzierung der Vernunft einerseits und eine Aufwertung sowohl der physischen als auch der psychischen314 Natur des Menschen andererseits gelesen werden. Dass er zudem von letzterer jedenfalls etwas genauere Kenntnis gehabt hat, darf man sicherlich auch ohne explizite Hinweise unterstellen, ist doch Bonhoeffer Sohn des zu seiner Zeit führenden Psychiaters und zugleich Zeitgenosse der Entwicklung dieser neuen medizinischen Disziplin (einschließlich der Psychoanalyse) sowie der ihr verwandten Lebenswissenschaft Psychologie. Eine in der Passage zur Scham enthaltene Andeutung Bonhoeffers aber wurde bereits genannt: die Thematisierung des Verdrängungsproblematik315; dort wird von ihm außerdem der Ausdruck „wachsen“ verwendet, der offenbar für die Persönlichkeit im weiteren Sinne betreffende innere Zustände, Einstellungen und Verhaltungen gebraucht wird und die bisherigen Ausführungen dadurch bestätigt. Denn mit diesem Ausdruck werden ganz wesentliche, einen Menschen zutiefst bestimmende und beeinflussende Wirk493a). Im Neuplatonismus, der die theologische Tradition ganz wesentlich beeinflusst hat, findet sich eine verstärkt negative Sicht des Natürlichen, der empirischen Welt, die sich allerdings in der Wertung und in der Begründung deutlich sowohl vom Gnostizismus als auch von einem echten Manichäismus unterscheidet. 312 Vgl. RPh III, 128. 313 RPh III, 106. Dies Aufheben des Natürlichen in die Vernünftigkeit des Selbstbewusstseins geschieht aber eben durch den selbstbewussten Geist, der zuvor Urheber der Entzweiung war: „[…] sie [sc. die Entzweiung] ist […] auch der Mittelpunkt der Konversion, die das Bewußtsein in sich enthält, daß diese Entzweiung auch aufgehoben ist.“ Vgl. dazu Ringleben, Theorie, 40: „[…] daß das Menschsein [sc. nach Hegel] wesentlich als Selbstbewußtsein zu verstehen ist.“ 314 E 307 erwähnt Bonhoeffer den psychischen Mechanismus der Verdrängung, daneben werden andere psychische und physische Erscheinungen genannt, wie etwa die Unfähigkeit, den fremden direkten Blick zu ertragen (E 305) oder der sexuelle Trieb. 315 E 307, s. auch E 321.

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lichkeiten des individuellen Personkerns als geradezu naturhaft, der reflexiven Steuerung mehr entzogen als unterworfen gekennzeichnet316. Man kann darum hier ohne Bedenken mit einem modernen Ausdruck von einem ‚ganzheitlichen‘ Menschenbild sprechen, in welchem der traditionell geläufige Geist-Natur-Dualismus sowie die Zentriertheit philosophischer Anthropologie auf die Vernunft überwunden werden soll317. Vielmehr muss der Versuch, den Menschen von seiner Vernunft und ihren Möglichkeiten her zu deuten und daraus auch sein Gottes- und Weltverhältnis abzuleiten, als der eigentliche Sündenfall verstanden werden – von dessen Folgen aber folgerichtig der ganze Mensch und nicht etwa nur seine falsch verstandene, verabsolutierte, Vernunft betroffen ist. In Schöpfung und Fall hatte Bonhoeffer die Entzweiung in Gut und Böse noch mit dem Begriffspaar ‚Lust und Leid‘ bzw. ‚lustvoll und leidvoll‘ ausgedrückt, das in dem entsprechenden Zusammenhang der Ethik nicht mehr auftaucht. Offenbar war dessen Verwendung in der Vorlesung veranlasst durch die Auseinandersetzung Bonhoeffers mit exegetischen Erwägungen zur Semantik der Wendung ďãĂþìą318. Allerdings zeigt er sich hier keineswegs interessiert an philologischen und religionsgeschichtlichen Erkenntnissen; vielmehr ist seine Intention bei der Aufnahme dieses Begriffspaar, die Fun316 Der Satz E 307 lautet genau: „Schließlich wahrt der Mensch auch sich selbst gegenüber eine letzte Verhüllung, er behütet sein eigenes Geheimnis vor sich selbst, indem er zum Beispiel sich weigert, sich selbst in allem, was in ihm wächst, bewußt zu werden.“ Die Herausgeber zitieren dazu einen brieflich geäußerten Satz Bonhoeffers (DBW 16, 325), der aus dem Sommer 1942 stammt, daher fast gleichzeitig zu jener Passage entstanden sein dürfte, und recht gut verdeutlicht, was hier wohl von Bonhoeffer gemeint ist: „[…] da ich glaube, daß mir jetzt hier ein Knoten platzen soll, lasse ich den Dingen ihren Lauf und setze mich nicht zur Wehr.“ Der Satz bezieht sich auf seine Aktivitäten im militärischen Widerstand und sein damit verbundenes Abstandnehmen von seiner mehrjährigen Lebensweise in den Predigerseminaren und Sammelvikariaten. Im Kontext ist zudem von einem inneren „Widerstand gegen alles ‚Religiöse‘“ die Rede, der in ihm wachse (wörtlich!) und sich bis zu einer „instinktiven Abscheu“ steigere, was schließlich zu der Folgerung führt: „Ich bin keine religiöse Natur[!]“. Ohne Zweifel ist Bonhoeffer von der Bedeutung psychischer Vorgänge für das denkende und handelnde Selbst auch aufgrund eigener Erfahrung überzeugt. An dieser Stelle zeigt sich außerdem, dass die Reflexion in seinem Verständnis, manchmal oder oft (?), erst ein Zweites, Nachfolgendes ist, das sich auf die ihm vorgängigen psychischen (und vielleicht auch physischen) Veränderungen richtet – sicherlich auch mit Einflussmöglichkeiten, aber eben doch nachgeordnet. 317 Darauf deutet auch das Fragezeichen hin, das Bonhoeffer nach Auskunft der Herausgeber der Ethik (E 30511) zu dem Text von Nohl, Grunderfahrungen, 152 f., gesetzt hat, wo das Phänomen Scham auf den „Kontrast“ oder „Gegensatz“ zwischen den „höchsten Antrieben“ bzw. der „höheren Bestimmung“ und der „körperlichen Existenz“ zurückgeführt wird. Vgl. auch SC 21871: „Mit Recht gibt sich der christlich-ethische Personbegriff als eine Erfassung der ganzen Person aus. In jedem idealistischen Versuch wird durch den Geistbegriff irgendwie in der Realität eine Schnittlinie durch die Lebendigkeit der Person gelegt. Der christliche Begriff bejaht die ganze konkrete Person mit Leib und Seele […]“. 318 Vgl. SF 82, wo Bonhoeffer selbst den Alttestamentler Hans Schmidt nennt – einer seiner wenigen expliziten Verweise auf Bezugsautoren!

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damentalität und Universalität der Entzweiung als Inbegriff des peccatum originale auszusagen319. Dies ist jedoch nur möglich, wenn eine Anthropologie zugrunde gelegt ist, derzufolge der Mensch gerade nicht wesentlich Geist, Vernunft oder animal rationale ist, sondern im Gegenteil wesentlich aus Leib und Seele320 bzw. Leib, Seele und Geist besteht, so dass der physisch-psychische Bereich menschlicher Existenz nicht weniger als das reflexive Denkund Urteilsvermögen des Menschen von dem Sündenfall betroffen ist – so wie vorher der Mensch in seiner Ganzheit und in allen Aspekten seiner Existenz gutes Geschöpf war321. Mit der dargelegten Abgrenzung gegen Hegel ist allerdings Bonhoeffers theologische Anthropologie noch nicht in ihrem Kern erfasst; die Manifestation der Sünde in dem fundamentalen psycho-physischen Phänomen der Scham setzt ebenso wie die inhaltliche Bestimmung der Sünde als selbstreflexives praktisches und theoretisches Vernunfturteil zwar grundsätzlich voraus, dass Geist und Natur ursprünglich unmittelbar und wesentlich zusammengehören. Aber auf dieser Voraussetzung ruht die eigentliche theologische Bestimmung des Menschen, die Bonhoeffer als eine ursprüngliche Bezogenheit des Menschen auf Gott als seinen Ursprung und auf seinen Mitmenschen auffasst. Ohne nun schon im Detail erläutern zu müssen, wie diese ursprüngliche und in der Versöhnung wiederhergestellte Bezogenheit konkret zu fassen ist, kann jedenfalls aus der Passage über die Scham gefolgert werden, dass es sich um eine Ausrichtung des ganzen Menschen handelt, die nicht vernunftvermittelt, also reflexiv ist. Dies ergibt sich zunächst weniger aus der vorangestellten These, wonach Bonhoeffer das Phänomen Scham als Folge einer fundamentalen Entzweiung zwischen Mensch und Gott und Mensch und Mensch fasst. Denn diese Entzweiung könnte ja auch ‚hegelisch‘ als eine notwendige reflexive Entzweiung verstanden werden, deren Wirklichkeit grundsätzlich geistbestimmt wäre. Dann wäre eine ‚ganzheitliche‘ Bezogenheit von Mensch und Gott und Mensch und Natur, Umwelt, Mitmensch gar keine wirkliche, sondern eine immer schon reflexiv zu vermittelnde und vermittelte322. Gerade dies wird von 319

SF 82–84. Oder: Physischem und Nicht-Physischem. 321 Bonhoeffers Zeitgenosse Josef Pieper konstatiert 1939 die Verbreitung der Auffassung, derzufolge „das ‚rein‘ Geistige“ als das „eigentlich Menschliche“ beurteilt wird (Pieper, Zucht, 187). Vgl. auch aaO. 161 f. u. ö. Pieper nennt diese verbreitete Meinung einen latenten Manichäismus (aaO. 162 f.). Bonhoeffer hat den Traktat für seine Arbeiten an der Ethik benutzt, weshalb der Verweis hier zulässig sein mag, wenn auch sicherlich nicht von einer einfachen Einwirkung Piepers auf Bonhoeffer gesprochen werden kann, weil der dargestellte Sündenbegriff und folglich auch dessen anthropologische Implikationen, jedenfalls in ihren Grundzügen, bereits sehr früh von Bonhoeffer entwickelt wurden. Die Bemerkungen Piepers zeigen aber an, dass Bonhoeffers Streit gegen einen Geist-Natur-Dualismus innerhalb philosophischer und theologischer Konzeptionen vom Menschen auch Anfang der 40er Jahre, also bereits in der Hochphase der Existenzphilosophie, nicht ins Leere geht. 322 S. dazu o. A.II.4.b. 320

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Bonhoeffer aber verneint – wohl auch in Kenntnis und Würdigung der Bedeutung des dem Denken nicht bis in Letzte zugänglichen Bereiches menschlichen Lebens: des ‚Unbewussten‘, Affektgesteuerten und Instinkthaften. Vielmehr gelangt man zu der Einschätzung, dass Bonhoeffer hier den Standpunkt einer ganzheitlichen und fundamentalen Außenbezogenheit des Menschen vertritt aufgrund der im Text genannten Beziehungen religiöser, sexueller, psychischer, partnerschaftlicher Art etc.323, auf welche sich dann jeweils die Scham richtet. Alle diese Bereiche menschlicher Außen- und Selbstverhältnisse sind, obwohl natürlich der vernünftigen Reflexion nicht grundsätzlich entzogen, immer auch oder sogar primär als psychische und physische Wirklichkeiten anzusprechen; diese sind dann aber alles andere als unwesentlich, sondern vielmehr grundlegende Bestimmungen der menschlichen Existenz. Der Mensch als Person, so darf man Bonhoeffers Ausführungen hier zusammenfassen, wird demnach durch seine die ganze, leiblich-seelischgeistig verfasste, Existenz betreffenden Beziehungen konstituiert324, weshalb sich die Sünde gerade in der Zerstörung bzw. Verkehrung dieser Beziehungen äußert und als wiederum ganzheitliche Reaktion die Scham hervorruft. Interessant ist, dass sich eine ähnliche Verbindung von personaler Bezogenheit und leiblich-geistiger Existenz bzw. verkehrtem Selbstverhältnis als Selbstbezogenheit und deren Auswirkungen auf die ganze konkrete Existenz auch bei Kierkegaard findet. Im Begriff Angst heißt es, dass das Dämonische, d. h. die Sünde im Einzelnen, die sich psychologisch als Angst vor dem Guten325 äußert, „in gewissem Sinne allen drei Bereichen zugehört: dem Leiblichen (Somatischen), dem Seelischen (Psychischen), dem Geistigen (Pneumatischen). Dies deutet darauf hin, dass das Dämonische einen weit größeren Umfang hat als man gewöhnlich annimmt, etwas das sich daraus erklären lässt, dass der Mensch eine Synthesis von Seele und Leib ist, getragen vom Geist, weshalb die Desorganisation des einen Teils sich in dem Übrigen zeigt.“326

Inhaltlich wird das Dämonische dann als (nahezu) totale Beziehungslosigkeit bestimmt, das weder auf das Unendliche (Gott) noch auf den Anderen sich wahrhaft zu richten vermag: 323 Vgl. dazu E 305–308, wo Bonhoeffer das Gebet nennt, die Liebe zwischen Mann und Frau, das Selbstverhältnis, das immer auch von Verdrängung gekennzeichnet ist, die Freundschaft, das herstellende Tun des Menschen, das sich wohl auf sein Verhältnis zu der ihn unmittelbar umgebenden Welt bezieht, sowie die Fortpflanzung. 324 Vgl. SC 195: „Konkrete Gemeinschaft ist nur möglich durch die leibliche Ausstattung des Menschen, so daß der Leib wesentlich mit der Seele verknüpft zu denken ist. Wir nehmen an, daß mit dem Leibe auch die sündige Seele sterbe, und daß mit der Seele Gott auch einen Leib neu schaffe in der Auferstehung und daß dieser neue pneumatische Leib Gewähr und Bedingung für die ewige Gemeinschaft personaler Geister sei.“ 325 Verstehe: Verstrickung in die Sünde bzw. Unfreiheit. 326 BA 126.

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„Das Dämonische verschließt sich nicht in sich mit Etwas, sondern schließt sich selber ein, und darin liegt das Tiefsinnige am Dasein, daß die Unfreiheit eben sich selber zu einem Gefangenen macht.“327

Das Dämonische wird daher von Kierkegaard näher als das „Verschlossene“, also nicht Kommunizierende oder Stumme, als das „Plötzliche“, also zu keiner zeitlich ausgedehnten existentiellen (kontinuierlichen) Beziehung Fähige und als das „Langweilige“ resp. „Inhaltsleere“, also Monologisierende, zum echten Ansprechen Unfähige charakterisiert328. Allerdings dürfte es sich hier wohl nicht um unmittelbaren Einfluss, sondern eher um eine, dem beiden gemeinsamen grundsätzlichen Ansatz bei der konkreten Existenz geschuldete, Parallele handeln329. Dass Bonhoeffer ohne Zweifel stark von der existenzphilosophischen Wende durch Kierkegaard beeinflusst ist und sich darum etliche, z. T. erhebliche Ähnlichkeiten in Gedankenfiguren finden, zeigt sich auch anderswo in seinem Werk, z. B. in Sanctorum Communio oder der Nachfolge. Seine Idealismuskritik hat er an früherer Stelle zudem auch unter Verweis auf die Kierkegaards durchgeführt: „Nicht mit Unrecht hat Kierkegaard gesagt, daß bei solchem Philosophieren offenbar vergessen werde, daß man selber existiere.“330; und zur Existenz gehört nach Bonhoeffer und Kierkegaard wesentlich die Bezogenheit des Menschen nach außen – auf Transzendenz, wie es in Akt und Sein noch heißt, bzw. auf Gott, den anderen Menschen und die Wirklichkeit der Welt, wie es dann in der Ethik formuliert wird331. Von daher erst wird aber auch Bonhoeffers Vorordnung der Scham vor der praktischen Reflexion des Gewissens einleuchtend, denn dieses ist die Instanz, die sich an die Stelle der fundamentalen personkonstituierenden Beziehungen setzt und sie seinem Urteil unterwirft: „Während der Mensch in der Scham an seine Entzweiung mit Gott und dem Menschen erinnert wird, ist das Gewissen das Zeichen der Entzweiung des Menschen mit sich selbst. Das Gewissen ist dem Ursprung ferner als die Scham; es setzt die Entzweiung mit Gott und den Menschen schon voraus […]. Ein von dem Verhältnis zu Gott und 327

BA 128. BA 127–141. 329 Darauf deutet beispielsweise die bei Kierkegaard ganz anders erfolgende Bewertung der Scham hin, vgl. BA 69–72. 330 AS 32 f. Bei Kierkegaard findet sich diese Aussage sinngemäß z. B. in der Einübung im Christentum (EC  76*). Dies könnte auch ein Hinweis darauf sein, dass Bonhoeffer gerade diese Schrift sorgfältig studiert und möglicherweise auch für die Nachfolge zugrunde gelegt hat (vgl. Barth, Nachfolge, 17 ff.). Das Kierkegaard-Brevier Der Einzelne und die Kirche dagegen wurde von Bonhoeffer offenbar erst nach 1935 gelesen, vgl. Vogel, Vorbild, 302. S. außerdem SC 3412). 331 Die personale Bezogenheit des Menschen im Urstand bzw. in der Versöhnung auf Gott (Jesus Christus) und den Mitmenschen wird im Zusammenhang der Analyse des Kapitels „Die Geschichte und das Gute“ näher behandelt werden. S. dazu B.II.3 und zu dem Einfluss Kierkegaards auf Bonhoeffer u. A.II.5.d. 328

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dem anderen Menschen gelöstes Verhältnis zu sich selbst aber gibt es erst durch das Gottgleichwerden des Menschen in der Entzweiung. Das Gewissen selbst kehrt dieses Verhältnis um. Es läßt das Verhältnis zu Gott und Menschen aus dem Verhältnis des Menschen zu sich selbst hervorgehen.“

Die Scham kann daher auch als in bestimmter Hinsicht zum Gewissen gegenläufiges anthropologisches Phänomen bewertet werden: will das Gewissen resp. die Selbstreflexion des Menschen sein Selbst und seine Welt denkend und urteilend in sich begründen, so tritt dagegen die Scham auf und signalisiert, dass gerade in dieser Selbstbezogenheit das eigentliche, in ganzheitlichen Beziehungen lebende Selbst des Menschen verloren gegangen und durch kein menschliches Denken und Tun wiederherstellbar ist: der Mensch ist stattdessen nun in allen Bereichen seiner Existenz auf sich allein zurückgeworfen, er ist „entblößt“332.

5. Die Existenz jenseits von Gut und Böse Bisher wurde Bonhoeffers Abgrenzung von Hegel, die auf einer differenzierten Rezeption von dessen Sündenbegriff beruht, besonders nach ihrer negativen Seite beleuchtet. Die geist- bzw. bewusstseinsphilosophische Anthropologie, die sich nach Bonhoeffers Urteil durch die gesamte Philosophiegeschichte zieht und deren Spitze lediglich Hegels System darstellt, wird von ihm als Sündenfall und Sünde zugleich ausgemacht und der von ihm entwickelten theologischen Anthropologie entgegengestellt. Nun ist es im Gegenzug erforderlich, diese auch nach ihrer positiven Seite zu erhellen, indem auf seine Ausführungen zum versöhnten Menschen und dessen Denken und Handeln eingegangen wird, denen er einen erheblichen Teil seines Einleitungskapitels widmet. Es stellt sich hier insbesondere die Frage, wie nun überhaupt eine theologische Ethik möglich sein kann, soll sie mehr als bloße Destruktion aller philosophischen Ethik sein, und welche Rolle dafür der Glaubensbegriff Bonhoeffers spielt. Das Gegenbild des entzweiten Menschen wird hier unter Rückgriff auf biblische Gedanken entworfen, so dass zunächst scheinbar philosophisch-neuzeitliches Denken einer biblischen Einfalt kontrastiert werden. Bonhoeffer greift aber auch hier wieder auf philosophische Gedankengeber zurück, denen er wesentliche Anstöße für seinen eigenen Ansatz verdankt, verbindet also biblisches und philosophisches Denken auf originelle Weise miteinander. Neben Nietzsche ist hier besonders Sören Kierkegaard zu nennen, der von Anfang an auf Bonhoeffer bleibend eingewirkt hat und dessen neuem, Hegel kritisch entgegengehaltenen, Existenzbegriff Bonhoeffers theologische Anthropologie verpflichtet ist. Beachtet man diese Nähe Bonhoeffers zu Kier332

E 304.

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kegaard und darüber hinaus grundsätzlich zur Existenzphilosophie, leuchtet auch seine Idealismuskritik noch einmal anders ein, eben weil sie von einem neuen gedanklichen Fundament aus gewonnen wurde  –  das allerdings, wie bereits gewohnt, an keiner Stelle von Bonhoeffer selbst ganz explizit gemacht wird333. Der erste Teil dieses Abschnitts wird diesem Komplex nachgehen und zunächst den grundsätzlichen Zusammenhang von Existenz, Glauben und Tun im Kontrast zu dem im Vorangehenden dargelegten Leben des Sünders in der Entzweiung in Gut und Böse thematisieren. Im Anschluss daran ist die Frage aufzugreifen, die sich im Verlaufe der Erörterungen bereits gestellt hatte, ob nämlich der versöhnte Mensch zu einem sacrificium intellectus genötigt ist, oder ob Bonhoeffer nicht dennoch auch eine denkende Durchdringung theologisch-ethischen Handelns fordert und fordern muss, und wie diese dann zu fassen sei. Diese Frage wird Gegenstand eines eigenen Teils dieses Abschnitts sein, wenn es um den von Bonhoeffer verwendeten Begriff des „Prüfens“ gehen wird. Zuletzt wird noch kurz auf Bonhoeffers abschließende Reflexion seiner Darlegungen einzugehen sein, in denen er alles vorhergehende zusammenfasst in der Deutung des theologischen Liebesbegriffs334. a) Adam und Christus In Schöpfung und Fall hatte Bonhoeffer ausführlich dargelegt, dass eine theologische Anthropologie nur auf indirektem Wege als Beschreibung des geschöpflichen Wesens des Menschen möglich sei. Denn, so Bonhoeffer, zwischen der Schöpfung und dem nach ihr fragenden Menschen, „zwischen Anfang und Jetzt“ liegt die Sünde, der „Bruch“, die bzw. der die Geschöpflichkeit von Mensch und Welt völlig verkehrt hat335. Um das wahre Wesen des Menschen und der Welt als Geschöpfe Gottes zu erkennen, bedarf es daher

333 Jedenfalls ist mir nicht bekannt, dass Bonhoeffer sich je ausdrücklich selbst philosophie- und theologiegeschichtlich ein- oder zugeordnet hat. Sicherlich gibt es Sympathiebekundungen einerseits und z. T. massive Kritik andererseits, aber er scheint sich doch – getreu seinem frühen Grundsatz (SC 46: „[…] die Erkenntnis zu erhalten, ohne den Fehler mitzumachen, bleibt unsere Aufgabe.“) – kritische Unabhängigkeit und Eigenständigkeit auch gegenüber ihm sehr nahe stehenden Strömungen und Autoren bewusst bewahren zu wollen. Als, so scheint es, einzige Ausnahme von seinen zuletzt immer etwas reserviert bleibenden positiven Beziehungen auf andere Autoren (dies gilt sogar für Barth, an dem er trotz zugestandener Nähe bis zuletzt auch Kritik äußert), könnte und müsste wohl lediglich Luther genannt werden, der offenbar den Maßstab abgibt, an welchem Bonhoeffer alle weiteren misst – wobei zugleich umgekehrt seine Rezeption Hegels, Nietzsches, Kierkegaards, Barths etc. offenbar der Deutung Luthers unter den Bedingungen der Moderne dient. 334 Anfang und Ende des Kapitels werden demnach von biblischen Reflexionen eingerahmt: am Anfang steht eine Deutung des Sündenfalls, am Ende eine Deutung der göttlichen Liebe. 335 SF 21.

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der Versöhnung, d. h. der Restitution von Welt und Mensch in und durch Christus: „Die Kirche […] sieht die Schöpfung von Christus her; besser, sie glaubt in der gefallenen, alten Welt an die neue Schöpfungswelt des Anfangs[!] und des Endes, weil sie an Christus glaubt und sonst an nichts.“336

Diesen Ansatz beim Versöhnungsgeschehen verfolgt Bonhoeffer ganz ähnlich in dem vermutlichen Einleitungskapitel, das ja auch sonst wesentliche Aussagen aus Schöpfung und Fall wieder aufgenommen hat337. Die theologische Anthropologie wird demnach systematisch aus dem Versöhnungsgeschehen abgeleitet und bildet zugleich den Erkenntnisgrund für das geschöpfliche Wesen des Menschen, das dem Sünder nicht zugänglich und in gewissem Sinn auch nicht zueigen338 ist. „Es muß nun jedem auffallen, der das Neue Testament […] liest, daß hier diese Welt der Entzweiung, des Konfliktes, der ethischen Problematik wie versunken ist. Nicht der Zerfall des Menschen mit Gott, mit den Menschen, mit den Dingen, mit sich, sondern die wiedergefundene Einheit, die Versöhnung ist der Grund, von dem aus gesprochen wird […]“339.

Dass Christus aber zugleich auch Realgrund des geschöpflichen Wesens von Mensch und Welt ist, folgt aus der konsequenten Anwendung des trinitarischen Dogmas, wonach Christus wesenhaft eins mit Gott ist und  –  in der Differenzierung des göttlichen Handelns ad extra – als Schöpfungsmittler geglaubt wird340. Setzt man dies für Bonhoeffers Konzeption voraus, dann wird plausibel, weshalb er den Sündenbegriff von dem Begriff des versöhnten Menschen bzw. von Jesus Christus abhebt, dessen Bild der versöhnte Mensch ist, 336

SF 21 f. Allerdings kann für die Ethik insgesamt eine höhere Reflektiertheit und Durchdachtheit dieses Ansatzes bei der Versöhnung erwartet werden, und zwar schon deshalb, weil zwischen dem frühen Stadium aus Schöpfung und Fall und dem späten aus der Ethik die Periode einer relativen Weltabgewandtheit und eines dementsprechenden kreuzestheologischen Ansatzes liegt (die Zeit der Nachfolge). Gilt demnach zwar immer, dass die Theologie Bonhoeffers fundamental in der Christologie gründet, unterscheiden sich doch die Wertungen und Gewichtungen je nach Lebensphase. In dem hier interessierenden Zusammenhang ist dies jedoch von eher untergeordneter Bedeutung; erst im Kontext von Bonhoeffers Weltund Wirklichkeitsbegriff sowie seiner Bewertung des „Natürlichen“ werden sich die Konsequenzen dieser Verschiebung von der Nachfolge im Vergleich zur Ethik deutlich zeigen. 338 In Schöpfung und Fall bleiben Bonhoeffers diesbezügliche Aussagen etwas undeutlich: einerseits verneint er für den Sünder die Geschöpflichkeit, andererseits gesteht er diesem zu, dass er auch in der völligen Verkehrung seines Wesens Geschöpf Gottes bleibe, ohne dass er aber davon ein Wissen haben könne (SF 107 f.). Daraus lässt sich folgern, dass hier – wie offenbar auch in der Ethik – Bonhoeffer dem Sünder nicht die ‚formale‘ Geschöpflichkeit, das Geschöpfsein als solches, abspricht, sondern eine Verkehrung des geschöpflichen Wesens meint, die aber gleichwohl dazu führt, dass das Geschöpfsein für den Menschen nun unerkennbar und ohne existentielle Bedeutung bleibt. 339 E 311. 340 Kol 1,16 f. von Bonhoeffer häufig zitiert. 337

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und nicht von der geschöpflichen Ausstattung des Menschen, seiner iustitia originalis, handelt. Insgesamt haben wir es hier daher mit einer Adam-Christus-Typologie zu tun, von der Bonhoeffer aber im Verlauf der Darstellung überleitet zu der Darstellung des versöhnten Menschen. ‚Christus‘ wird dann entweder anstelle oder unmittelbar neben ‚Gott‘ gesetzt, womit noch einmal deutlich die Gottheit Christi hervorgehoben und damit die Adam-ChristusTypologie wesentlich ergänzt wird. b) Das neue Wissen Was kennzeichnet nun den neuen, versöhnten Menschen im Unterschied zum Sünder? Aus dem vorhergehenden lässt sich zunächst folgern, dass der versöhnte Mensch nicht der auf sich selbst reflektierende Mensch ist, der darin sich und seine Welt zu gründen versucht. Was aber ist er dann, oder anders gefragt: wie ist das nicht selbstreflexiv vermittelte Selbst-, Welt- und Gottesverhältnis des neuen Menschen beschaffen? Die Antwort Bonhoeffers auf diese Frage lautet, dass der versöhnte Mensch, derjenige sei, der vollständig auf Jesus Christus ausgerichtet und daher keiner Reflexion auf sich selbst fähig oder bedürftig sei: „[Der versöhnte Mensch] steht im Wissen Gottes, doch nicht mehr als der gottgleichgewordene, sondern als der das Bild Gottes tragende. Er weiß nur noch ‚Jesum Christum, den Gekreuzigten‘ (1 Kor 2,2) und in ihm weiß er alles.“

Die Terminologie, also die auffällig betonte Verwendung des Begriffs „Wissen“ samt Derivaten, deutet hier schon darauf hin, dass Bonhoeffer mit seiner Abgrenzung von bewusstseinsphilosophisch begründeten Anthropologien dennoch offenbar keine prinzipielle Vernunft- resp. Geistfeindlichkeit intendiert, aus welcher etwa ein bloß affektiver oder irrationaler Glaubensbegriff folgte. Diese Auffassung könnte sich zwar von manchen Aussagen Bonhoeffers her zunächst nahe legen, etwa wenn er konstatiert, dass Jesus Christus „[…] aus einer völligen Freiheit heraus [spricht], die auch nicht an das Gesetz logischer Alternativen gebunden ist“341.

Eine antiintellektuelle Haltung des Christen wird gleichwohl von ihm nicht nur nicht gefordert, sondern an anderer Stelle im Text sogar ausdrücklich abgewiesen342. Vielmehr geht es Bonhoeffer offenbar um die Begründung eines Glaubensbegriffs, demzufolge Glauben jedenfalls auch ein Bewusstseinsakt ist (Wissen!), wobei dieser aber gerade nicht selbstreflexiv und somit begrifflich letztlich auch nicht adäquat erfassbar ist. Das Wissen, das dem neuen Menschen zu eigen ist, wird darum von Bonhoeffer paradox als ein „Nichtwissen“ 341 342

E 314. Vgl. E 322 ff. Dazu s. u. (A.II.5.d) ausführlicher.

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charakterisiert343. Diese scheinbar sinnlose, weil der klassischen Logik bzw. dem Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch entgegengesetzte Bezeichnung des neuen Wissens als ein Nichtwissen ist auf dem Hintergrund des erläuterten Sündenbegriffs durchaus folgerichtig: denn es ist als nicht-reflexives Wissen eine geistige Tätigkeit, die sensu stricto tatsächlich nicht „Wissen“ heißen kann, sofern man mit dem üblichen Sprachgebrauch hierunter das begreifende, abstrahierende, definierende, identifizierende etc., immer aber nach logischen Gesetzen sich vollziehende geistige Tun eines erkennenden Subjekts versteht. Denn während in neuzeitlichen Erkenntnistheorien nun prinzipiell das Subjekt als Maßstab und Grund seines Erkennens impliziert ist, gilt umgekehrt für das nur uneigentlich so zu bezeichnende neue Wissen des versöhnten Menschen, dass es gerade nicht in diesem selbst resp. seiner Subjekthaftigkeit begründet sein kann und soll. Eine allgemeine, sei es formale, sei es spekulative Logik hat daher aufgrund ihrer jeweiligen Subjektabhängigkeit keine konstitutive Funktion für dieses neue Wissen, das zugleich Nichtwissen ist. Der anstößige Satz von der alogischen oder überlogischen344 Struktur des neuen Wissens, der innerhalb von Bonhoeffers Exegese der Streitgespräche Jesu mit den Pharisäern steht, lässt sich darum auf diesem Hintergrund in erster Linie wieder als Abgrenzung von Hegel und den neuzeitlichen Erkenntnistheorien lesen, die in Bonhoeffers Interpretation ja für philosophisches Erkennen überhaupt stehen345. Diesen wird immer wieder, z. T. mit unterschiedlichen Wendungen, z. T. wiederholend, das Nichtwissen des versöhnten Menschen entgegengehalten; dessen Inhalt wird als Gott selbst resp. Jesus Christus selbst bestimmt, auf welchen sich das Bewusstsein des neuen Menschen vollständig ausrichtet, so dass es streng genommen für ihn nur diesen einzigen Erkenntnis‚gegenstand‘

343 Ab E 318 tauchen dieser Ausdruck und sinngemäße Umschreibungen („Nichtrichten“, „Unwissenheit“) synonym zu bzw. parallell mit dem „neuen Wissen“ (E 319) auf. 344 Der Formulierung Bonhoeffers E 314 ist nicht zu entnehmen, dass das neue Wissen sich notwendig als im klassischen Sinne alogisches, etwa in permanentem Selbstwiderspruch befindliches zu vollziehen hätte. Ein logischer Selbstwiderspruch ist lediglich umgekehrt kein Kriterium für die Unwahrheit oder Defizienz des Wissens – zugleich aber auch nicht der Schritt auf dem Weg in eine höhere spekulative Logik, denn dann handelte es sich wiederum nicht um eine echte Freiheit von logischen Gesetzen, was Bonhoeffer ja für das neue Wissen behauptet. 345 Oben ist ausführlich erläutert worden, dass für Bonhoeffer die neuzeitliche Subjektphilosophie das Paradigma allen philosophischen Erkennens abgibt.  –  Ob Bonhoeffers Auslegung der Streitgespräche nach zeitgenössischen sowie nach heutigen exegetischen Kriterien plausibel ist, kann und muss hier nicht erörtert werden. Bonhoeffer selbst erhebt diesen Anspruch auch nicht (s. auch o. A.II.2.a); allerdings darf nicht verschwiegen werden, dass er in E  keine methodischen Reflexionen über seinen Umgang mit biblischen Aussagen anstellt und daher Anlass, Auswahlprinzipien und interpretative Methoden dem Leser, soweit er sie nicht extrapolieren kann, verborgen bleiben.

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gibt346. Im Unterschied zu dem reflexiven Erkennen ist aber das neue Wissen um Christus dadurch gekennzeichnet, dass er als Inhalt des Erkennens zugleich Ermöglichungsgrund ist, dass also Grund und Inhalt des Erkennens identisch sind. Ausdrücklich formuliert Bonhoeffer mehrfach, dass Christus selbst die Ausrichtung des Bewusstseins auf sich, das neue Wissen, begründet347, ohne aber bei dieser Voraussetzung zu verweilen und sie ausführlich zu erläutern, wohl weil es ihm hier eigentlich um die Bedeutung dieses neuen Wissens für das Existieren und Handeln des Christen geht. Es ergibt sich aber schon notwendig aus der im ersten Teil des Kapitels geübten Kritik, wonach das reflexive Erkennen der Versuch der Gründung des Menschen in sich selbst und seinem Denk- resp. Urteilsvermögen sei. Auch ohne dass Bonhoeffer sich hier näher erklärt, ist daher zu folgern, dass das neue Wissen sein Spezifikum auch348 darin hat, dass sein Inhalt in jeder Hinsicht, also sowohl was seine prinzipielle Erkennbarkeit (Gegenständlichkeit) als auch was sein Gegebensein betrifft, vollständig unableitbar ist, so dass er nur dann zum paradoxen Wissen werden kann, wenn er selbst die Bedingungen dafür schafft, indem er sich zu wissen gibt – jenseits, d. h. unabhängig von den logischen Strukturen des Denkens. In Akt und Sein hat Bonhoeffer im Anschluss an seine umfassende Kritik neuzeitlicher und zeitgenössischer philosophischer Systeme diesen Gedanken der Unableitbarkeit der Offenbarung Christi etwas ausführlicher erläutert. Entscheidende Kategorien sind ihm hierfür die negativ gebrauchte der „Möglichkeit“ und die positiv gebrauchte der „Kontingenz“ der Offenbarung. Sein Abweis der Versuche, die erkenntnistheoretische Möglichkeit der Offenbarung zu begründen, etwa in Systemen hegelscher, aber auch neuthomistischer Art, wird unter Berufung teilweise auf den spätscholastischen Nominalismus und Voluntarismus, teilweise auch auf Luther plausibilisiert. Aufschlussreich ist besonders seine dort eingeführte Entgegensetzung der beiden genannten Kategorien: In der klassischen aristotelischen Tradition, aus 346 E 302: „Der Mensch im Ursprung weiß nur eines: Gott.“; E 319: „Als Nicht-Wissender ist er [sc. der versöhnte Mensch] der allein Gott […] Wissende geworden.“ Für Gott kann immer auch Jesus Christus eingesetzt werden. Oft stehen beide nebeneinander, teilweise tauscht Bonhoeffer in den vielen, immer wieder variierenden, Formulierungen dieser einen Sache einfach beide miteinander aus, etwa ebd.: „[…] um Christus als Ursprung und Versöhnung wissend […] weiß [er] Gott als die Aufhebung der Entzweiung […]“ u. ö.; meist steht aber im Folgenden Jesus Christus, während von Gott als Gegenstand des Wissen ganz überwiegend in der Verbindung „Wille Gottes“ die Rede ist, der aus dem Wissen um Jesus Christus abgeleitet wird. Dies zeigt sehr deutlich, dass die Bedeutung der Mittlerfunktion Christi für die Gottesbeziehung des Menschen in Bonhoeffers Sicht entscheidend ist. Einen Zugang zum göttlichen Willen außerhalb des Wissens um Jesus Christus gibt es demnach nicht. Vgl. auch Feil, Theologie, 154. 347 Vgl. etwa E 318.321 f.324 u. ö. 348 Es wird sich später (A.II.5.d) zeigen, dass das neue Wissen resp. Nichtwissen sich in Bezug auf den Wissenden vom reflexiven Wissen ebenfalls grundsätzlich unterscheidet.

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welcher diese Kategorien bekannt sind, ist die reale Möglichkeit weder der Wirklichkeit noch der Kontingenz entgegengesetzt, sondern der Notwendigkeit, die in der Formursache liegt. Möglichkeit bezeichnet hier das Nochnicht-Seiende als das Unbestimmte (causa materialis), das erst ins Werden treten muss, um zu sein, sowie das Kontingent-Seiende, d. h. das Akzidentelle349. Der Kontingenz-Begriff wird jedoch von Bonhoeffer spezifisch anders gebraucht, indem er den Gegensatz zu Notwendigkeit wie auch zu Möglichkeit bezeichnet. Kontingenz ist demnach in der eigentlichen Bedeutung von contingere genommen als „eintreffen, widerfahren, sich ereignen“350; daher kann Kontingenz von Bonhoeffer als synonym mit Wirklichkeit, d. h. eigentlich als Präzisierung des Wirklichkeitsbegriffs verwendet werden, um damit ein in keiner Weise notwendiges, aktuelles (wirkliches) Ereignis oder Geschehen auszusagen. Dieses ist entweder gesetzt oder nicht gesetzt, kann aber gerade nicht postuliert werden und hat demnach seinen Grund außerhalb der menschlichen Wirklichkeit351. Die Offenbarung ist folglich für Bonhoeffer immer nur als kontingente, d. h. de facto wirkliche richtig verstanden, der gerade keine wie immer geartete Möglichkeit auf seiten des Menschen bzw. seinem Erkenntnisvermögen vorausgeht, denn „[w]äre es nicht so, so würde die Offenbarung als letztes Postulat menschlichen Denkens in die Unwahrhaftigkeit des Selbstverständnisses [sc. des gefallenen, auf sich reflektierenden Menschen] selbst hineingezogen, so dass der Mensch aus den Postulaten seiner eigenen Existenz heraus in die Lage gesetzt wäre, sich selbst recht zu geben und in die Wahrheit zu stellen, was doch eben immer nur die Offenbarung […] selbst tun kann […] Von hier aus ist das Anliegen aller Theologie, die seit Duns und Occam auf die Kontingenz der Offenbarung Gewicht legt, zu begreifen; mit der Kontingenz ist aber die Vernunfttranszendenz behauptet, d. h. die absolute Freiheit der Offenbarung gegenüber der Vernunft […]“352.

Als Folge dieses Grundgedankens ist Bonhoeffers Interesse an dem strengen Transzendenzbegriff zu verstehen, welcher ihm das Kriterium abgibt, an dem 349 Vgl. Seidl, Art. Möglichkeit, Sp. 76–79.82 f.; Met V, 12; IX, 6 ff.; STh  I  qu.41  art.4; qu.3 art.4; qu.21 art.4; qu.25 art.3.5; ScG III 86. Auch die logische Möglichkeit als die „Widerspruchsfreiheit im Denken, Urteilen und Aussagen“ (Seidl, Art. Möglichkeit, Sp. 79 f.) ist als Möglichkeit zu sein oder nicht zu sein (wobei das Kontingent-Sein eingeschlossen ist) einerseits der Notwendigkeit zu sein und andererseits der Unmöglichkeit zu sein konträr entgegengesetzt. Die logische Möglichkeit folgt aus der ontologischen, derzufolge das Sein widerspruchsfrei ist. 350 So die intransitive Grundbedeutung von contingere, vgl. Georges, Handwörterbuch, s. v.; meist unpersönlich gebraucht als contingit, ut […]. 351 Vgl. auch SC 21871. 352 AS 75 f. Vgl. auch AS 76: „Offenbarung […] ist kontingentes Geschehen, das in seiner Positivität nur zu bejahen oder zu verneinen, d. h. als Wirklichkeit zu nehmen ist […]“. Damit ist allerdings auch nicht die Zufälligkeit des Ereignisses behauptet. Vielmehr bestreitet Bonhoeffer die Möglichkeit einer modalen Aussage von der Offenbarung überhaupt. S. auch DBW 12, 298 (Christologievorlesung).

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sich das menschliche Denken messen lassen muss: als gehorsames Denken bezieht es sich, besser: ist es bezogen auf Transzendenz, also auf die ihm absolut vorgängige (kontigente) Offenbarung Jesu Christi, während es als selbstmächtiges, ungehorsames Denken umgekehrt auch noch die Offenbarung auf sich selbst und sein Erkenntnisvermögen bezieht und somit zu sich in ein Verhältnis der Potentialität setzt. Die hier noch vorwiegend in epistemologischer Hinsicht entfaltete Bedeutung der Offenbarung für den Menschen wird von Bonhoeffer aber zunehmend in den ethischen Bereich verlagert, so etwa schon in der Nachfolge353. Das Fundament bleibt jedoch bestehen, wie auch die zentrale Bedeutung des „Wissens“ in der Ethik zeigt. Umgekehrt ist die Hinwendung zu den praktischen Auswirkungen der Offenbarung bereits in Akt und Sein angelegt, wie Bonhoeffers dortiges Insistieren auf dem Existenzbegriff zeigt354. Die völlige Inkommensurabilität des neuen, geschenkten Wissens gegenüber dem reflexiven Urteilen drückt sich darum besonders in den Begriffen aus, die neben und zusammen mit den paradoxen Formulierungen verwendet werden und die alles andere mehr als eine reflexive Distanz zwischen Erkennendem und Erkenntnisgegenstand im Urteilsakt bezeichnen. Im Gegenteil besteht nach Bonhoeffer für den versöhnten Menschen eine geradezu seinshafte Einheit zwischen sich selbst als Wissendem und dem Inhalt seines Wissens, eine durch Reflexion und Urteil ungebrochene Ausrichtung auf Jesus Christus, die daher von Bonhoeffer in Anlehnung an biblischen Sprachgebrauch als einfältiges Wissen resp. „Einfalt des Nichtwissen“355 bezeichnet wird: „[Der] Ruf aus der Entzweiung, aus dem Abfall, aus dem Wissen um Gut und Böse heraus […] ist der befreiende Ruf zur Einfalt, zur Umkehr, es ist der Ruf, der selbst das alte Wissen des Abfalls aufhebt und das neue Wissen um Jesus schenkt […] Der ‚Mann mit den zwei Seelen‘ freilich, der ŁėƭěĎưĢğġęĜ, [sc. ist] das Gegenbild zu dem Einfältigen […]“356.

353 In gewisser Weise kann man hier zwar auch von einer Rückbesinnung auf die in Sanctorum Communio entworfene ‚ethische Transzendenz‘ des Menschen sprechen, welche Realität setzt, indem sie den personhaften ethischen Anspruch des Du an das Ich erhebt (SC 27 f.). Allerdings geht es in Sanctorum Communio noch nicht um eine konkrete Ethik dergestalt, dass sie – über die dem „abstrakt-metaphysische[n]“ Idealismus (SC 29) entgegengesetzte personalistische Konkretion hinaus – auch inhaltlich konkretisiert und auf den außerkirchlichen Bereich bezogen wäre. Insofern steht die Nachfolge mit ihren sehr konkreten Erörterungen zum Leben und Tun des Nachfolgers trotz ihrer tendentiell eher weltabweisenden Grundstimmung der Ethik deutlich näher als Sanctorum Communio. 354 AS 75 f.87 f.90 ff.100 ff. u. ö. 355 E 327. 356 E 321. Das Griechische ist bei Bonhoeffer nicht akzentuiert. Zitiert wird von ihm aus Jak 1,7 f.

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Mit dem Begriff ‚Einfalt‘ und der Berufung auf seine biblische Herkunft besonders aus der Bergpredigt357 knüpft Bonhoeffer unmittelbar an Gedanken an, die er in der Nachfolge entwickelt hat, in der es ebenfalls, wenn auch in anderer Perspektive und mit anderer Gewichtung, um die Frage des rechten Lebens und Handelns des Christen geht358. Bevor dieser Komplex aber näher erläutert werden wird, soll auf noch frühere Voraussetzungen dieser Gedankenfigur in Bonhoeffers theologischem Werk zurückgegriffen werden, nämlich auf den in der Habilitationsschrift präsentierten Glaubensbegriff, der dem Gedanken vom einfältigen Wissen hier zugrunde liegt. c) Glauben als actus directus In Akt und Sein hat Bonhoeffer ausführlich versucht, seinen Glaubensbegriff im Gegenüber zum Sündenbegriff zu begründen. Er verwendet dabei eine sowohl an die zeitgenössische Philosophie wie auch an die altprotestantische Orthodoxie angelehnte Terminologie, die zwar später kaum wieder auftaucht, der Sache nach aber erhalten bleibt359. Glauben wird von Bonhoeffer hier im Anschluss an die Phänomenologie als gerichteter Akt der Bewusstseins verstanden, der „reine Intentionalität“360 sei. Hierfür führt Bonhoeffer den Terminus actus directus ein, der dem anderen möglichen Bewusstseinsakt, der methodischen und logischen Durchdringung des intentionalen Bewusstseinsakt, d. h. in Bonhoeffers Terminologie dem actus reflexus, entgegengesetzt ist. Entscheidend für Bonhoeffer ist, dass diese reine Intentionalität, der actus directus, einerseits nur eine echte Intention hat, nämlich Jesus Christus, und andererseits der vollständigen reflexiven Vergegenwärtigung zuletzt entzogen bleiben muss, weil die reflexive Brechung der reinen Intentionalität diese ja gerade vernichte, indem sie zwischen Bewusstsein und intentionalen Bewusstseinsinhalt die von deren akthafter Einheit abstrahierende Distanz des methodisch reflektierten Erkennens setze361. Die Unterscheidung dieser beiden Akte sowie die Begrifflichkeiten stammen hier wohl aus Bonhoeffers 357

S. dazu u. A.II.5.d. In der Nachfolge geht es Bonhoeffer zwar auch um konkrete Gebote, nämlich bei seiner Auslegung der Bergpredigt, aber er schreibt hier doch keine Ethik, sondern befasst sich mit den Kennzeichen des christlichen Lebens, der Nachfolge oder Heiligung eben. Daher behandelt er zuerst und in gewichtiger Weise den Eintritt in die Nachfolge, also das Christwerden, sowie anschließend deren bzw. dessen Konsequenzen. Es ist bedeutsam, dass Bonhoeffers eigener theologischer Weg von der Nachfolge zur Ethik, von einer sich als Christ in erster Linie von der Welt abgrenzenden zu einer als Christ die Verantwortung für die Welt übernehmenden Haltung führt. Die Unterscheidung zwischen Christ und Welt wird dabei trotz ihrer Relativierung durch den Gedanken vom „unbewußte[n] Christentum“ (E 16295) nicht aufgehoben, sondern vorausgesetzt, s. dazu u. C.III.4.b. 359 Feil, Theologie, 84 f.; Reuter, Nachwort, 183–185. 360 AS 23. 361 AS 23 f. 358

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Rezeption Husserls und Schelers, genauer aus einer Umdeutung Schelers und dessen Kritik an Husserl362. Der Gesichtspunkt, der Bonhoeffers eigenes Verständnis der beiden Akte wesentlich bestimmt und zugleich den Ausgangspunkt für seine – perspektivische und sehr komprimierte – Kritik an den beiden Phänomenologen bildet, ist sein fundamentales Interesse an einer dem jeweiligen intentionalen Bewusstseinsakt vorgängigen Wirklichkeit, einem „transzendente[n] Sein“363, das im actus directus auf eine nichtreflexive Weise erfasst wird. Bonhoeffer beruft sich hier ausdrücklich auf Diltheys Verstehensbegriff, um den actus directus von dem Akt des reflexiven Erkennens (actus reflexus) abzusetzen: „Akt [sc. intentionaler Akt] kann nie ‚erklärt‘, nur ‚verstanden‘ werden (Dilthey), wie Sein nie zu ‚erweisen‘, stets nur ‚aufzuweisen‘ ist.“364 Bonhoeffers Intention bei der Unterscheidung der beiden Akte und der Berufung auf Diltheys Hermeneutik ist allerdings nur zu verstehen, wenn man seinen von Kant und dem Idealismus wesentlich beeinflussten Erkenntnisbegriff bedenkt: nur dann nämlich ist einleuchtend, weshalb er auf der Unzugänglichkeit des actus directus für die Reflexion insistiert; denn der intentionale Bewusstseinsgehalt ist dadurch der Vergegenständlichung des Erkenntnisvermögens des Menschen prinzipiell entzogen, bleibt also für dieses transzendent, statt zum transzendentalen Objekt oder gar zur Realisierung des erkennenden Selbst im Anderen zu werden365. Unter diesen transzendenten Gehalt des actus directus fällt dann aber streng genommen nur ein einziges, von allem Seienden (allen möglichen Objekten) unterschiedenes und diesem voraus liegendes Sein: Gott in seiner Offenbarung, d. h. Jesus Christus366. Anders ist in Bonhoeffers Auffassung auch ein Erfassen des dem Menschen und seinem Erkenntnisvermögen vollständig Transzendenten gar nicht denkbar: es kann sich dabei nur um die Offenbarung Christi handeln, also um ein von außen her dem Menschen sich Darbieten in der Form der reinen Intentionalität. Der intentionale Akt ist demnach keine allgemeine Erkenntnisfunktion des Menschen, wie in der 362 Boomgarden, Verständnis, 238. Zu Bonhoeffers Rezeption der Phänomenologie in AS sowie deren Einfluss auf den Glaubensbegriff vgl. ausführlich aaO. 210–254; TietzSteiding, Kritik, 43–58. 363 AS 54. 364 AS 24. Bonhoeffers knappe Formulierungen könnten hier etwas irreführend sein: die Unterscheidung actus directus und actus reflexus ist keineswegs unmittelbar mit der die gesamte Erörterung von AS leitenden Grundunterscheidung ‚Akt‘ – ‚Sein‘ identisch; vielmehr gehört das ‚Sein‘, von dem hier die Rede ist, eben auf die Seite des intentionalen Aktes, indem es dessen nicht-gegenständlichen Inhalt bildet. Vgl. auch Feil, Theologie, 40. 365 S. dazu den Abschnitt über Hegel, besonders A.II.4.c. 366 Vgl. AS 22 f., wo Bonhoeffer das Anliegen seines Buches kurz beschreibt: „[…] es geht um die ‚Gegenständlichkeit‘ des Gottesbegriffs und einen adäquaten Erkenntnisbegriff, um die Verhältnisbestimmung von ‚Sein Gottes‘ und dem dies erfassenden Akt, d. h. es soll theologisch interpretiert werden, was ‚Sein Gottes in der Offenbarung‘ bedeutet und wie es erkannt wird, wie sich Glaube als Akt und Offenbarung als Sein zueinander verhalten […]“.

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Phänomenologie, sondern eine durch seinen singulären transzendenten Gehalt konstituierte spezifische Form des menschlichen Bewusstseins367, die theologisch als Glauben zu bezeichnen und vom objektivierenden Denken nicht hinreichend einholbar ist. Entsprechend transponiert Bonhoeffer diese der Phänomenologie entlehnte Unterscheidung schließlich in die theologische Begriffssprache, indem er die altprotestantische Unterscheidung einer fides directa und einer fides reflexa aufnimmt und durch diejenige von actus directus und actus reflexus interpretiert368. Dabei nimmt er zugleich eine Verschiebung vor: Die fides directa, mit welcher ursprünglich der den Kindern in der Taufe vom Heiligen Geist zugeeignete einfache Glaube (fides simplex) im Unterschied zum reflektierten Glauben des erwachsenen Christen bezeichnet wurde369, ist für Bonhoeffer nun der eigentliche Glaubensakt, die forma fidei essentialis370 und wird daher synonym mit dem actus directus verwendet. Das Kind wird dadurch für Bonhoeffer zum Paradigma des wahren, unmittelbar auf Christus gerichteten Glaubenden und steht so für die eschatologische Verheißung der endgültigen Versöhnung: „Der actus directus als allein von und auf Christus gerichteter Akt und Kindertaufe als paradoxes Offenbarungsgeschehen ohne die reflektierende Antwort des Bewußtseins, wie sie die altprotestantische Dogmatik zusammengestellt hat, ist der eschatologische Auftakt, unter den das Leben [sc. mit der Versöhnung] gestellt wird […]. Die Taufe ist die nur eschatologisch zu verstehende Berufung des Menschen zum Kind […]. Dies ist die schon hier im Glauben Ereignis werdende, dort im Schauen vollendete Schöpfung des neuen Menschen […], der wird, was er war oder doch nie war, ein Geschöpf Gottes [!], ein Kind.“371

Schon hier also hat Bonhoeffer, von der Versöhnung bzw. Offenbarung, wie es in Akt und Sein noch ganz überwiegend heißt, ausgehend das reine Gerichtetsein auf Christus als die Wiederherstellung der Geschöpflichkeit des 367 Wenn in der Phänomenologie auch die Vorgängigkeit des intentionalen Gehalts vor dem intentionalen Akt selbst behauptet wird, so ist dies in Bonhoeffers Interpretation ein Irrtum. Vielmehr, so versucht er in Akt und Sein zu beweisen, gilt auch für die phänomenologische Methode, dass das menschliche Erkenntnisvermögen dasjenige ist, was den Erscheinungen ihren Maßstab gibt und sich deshalb an ihnen vergreift. Auch Husserl und Scheler fallen daher unter Bonhoeffers philosophiekritisches Verdikt der ratio in seipsam incurva. Vgl. dazu AS 56 f.59–61; Boomgarden, Verständnis, 221–226.248–254. 368 Vgl. dazu AS 157–161. 369 Dazu s. das Zitat Bonhoeffers aus Hollaz AS30): habent infantes fidem non reflexam aut discursivam, sed directam et simplicem a Spiritu Sancto, cui malitiose non resistunt per baptismum accensam. Weitere Ausführungen und Belege bei Schmid, Dogmatik, 404 f.10. 370 AS  15829); Bonhoeffer zitiert hier Franz Delitzsch (Psychologie, 306) mit der Bemerkung, dass er dessen psychologisch gemeinte Ausführungen theologisch verstehe, also den gerichteten Bewusstseinsakt unmittelbar als Glauben oder Wesen des Glaubens, nicht aber als dessen psychische Gestalt deute. Dies ist auch konsequent, denn andernfalls wäre die fides directa wieder etwas Vorfindliches und als solches Gegenstand der Reflexion. 371 AS 159.161.

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Menschen interpretiert, der in ungebrochener Einheit mit seinem Schöpfer existiert. Das später so genannte neue Wissen erscheint hier als das Bewusstsein eines Kindes, das keinerlei reflektierender Distanz fähig ist und deshalb ‚einfältig‘ von Gott (Jesus Christus) sich selbst und seine Existenz empfängt. Ganz ausdrücklich formuliert Bonhoeffer diesen Gedanken schon früher, wenn auch noch ohne die von ihm zu der Zeit nur avisierten, erst in Akt und Sein und der Antrittsvorlesung durchgeführten systematischen Überlegungen zum „Problem des Kindes in der Theologie […] im Zusammenhang mit dem Problem des Bewußtseins“372; in einem seiner Gemeindevorträge in Barcelona stellt er ausdrücklich den Zusammenhang zwischen dem Sündenfall und der eschatologischen Verheißung des Kindseins her, das in der Ethik nicht mehr so zentrales Interpretament für das Sein versöhnten Menschen ist wie früher373: „Es ist überaus tiefsinnig, daß in der alten Sündenfallsgeschichte der Grund des Falls das Essen vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen ist. Die ursprüngliche – sagen wir kindliche – Gemeinschaft des Menschen mit Gott steht jenseits dieses Wissens von Gut und Böse, sie weiß nur von einem, von der grenzenlose Liebe Gottes zum Menschen.“374

Erst diese Deutung des geschöpflichen Wesens des Menschen als kindliches Verhältnis zum Schöpfer und Erlöser illustriert aber den zunächst so abstrakt bleibenden Glaubensbegriff Bonhoeffers als actus directus. Bonhoeffers Rückgriff auf philosophische Denkmodelle der Neuzeit und des frühen 20. Jahrhunderts dient hier einerseits der methodischen Durchdringung und Präzisierung und damit der wissenschaftlichen Anschlussfähigkeit seiner eigener Konzeption, andererseits wird seine inhaltliche Absetzung von eben diesen Systemen damit nur umso deutlicher: denn der Glaubensbegriff als actus directus ist ebenso sehr Kritik aller philosophischen Bewusstseinsmodelle (actus reflexi) wie später die christliche Ethik Kritik aller philosophischen Ethik sein wird. Seine im Gewand philosophischer Begrifflichkeit und unter 372

DBW 10, 92 (1928). Allerdings nennt Bonhoeffer in dem Einleitungskapitel einmal ausdrücklich das Sein des neuen Menschen die „Gestalt des Kindes Gottes“ (E  325), bleibt also bei seinen früh erworbenen Auffassungen, wenn auch neue Begriffe jetzt im Vordergrund stehen. 374 DBW 10, 327 (Grundfragen einer christlichen Ethik). Vgl. außerdem aaO. 377 f. (Antrittsvorlesung); DBW 9, 396 f., wo Luthers Bemerkung im Blick auf die Kindertaufe zitiert wird: Deus atque potest infundere fidem infantibus atque aliis; 231, wo Bonhoeffer das Neue des Christentums gegenüber dem Judentum herausstellt und besonderen Nachdruck auf das Vater-Kind-Verhältnis des Glaubenden zu Gott legt. Möglicherweise liegt hierin der Ausgangspunkt für seinen am Paradigma des Kindes entwickelten Glaubensbegriff. Anders aber die Position in Sanctorum Communio (164), wo Bonhoeffer die fides directa der Kinder nicht als (echten) Glauben begreift und deshalb die Kindertaufe über den Gemeindebegriff zu begründen versucht; offenbar ist diese, in Akt und Sein ja widerrufene, Position nur ein Durchgangsstadium hin zu einer in Beziehung auf neuzeitliche und moderne Problemkonstellationen interpretierenden Aneignung des zitierten lutherischen Satzes von der fides infantium a Deo infusa und dessen orthodoxer Formalisierung als fides directa et simplex. 373

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Verwendung philosophischer Denkfiguren auftretende Konstruktion des Glaubensbegriffs als spezifischen Bewusstseinsakts hat darum ihren Zweck außerhalb dieser: in der Wirklichkeit des neuen Menschen als dem in der Versöhnung geschenkten, vor- bzw. außerreflexiven Kindsein des Glaubenden375. Damit ist zuletzt das Christsein in ein geradezu antagonistisches Verhältnis zum philosophischen Selbstverständnis des autonomen Subjekts gebracht worden, auf dessen Grund alle weiteren theologischen Aussagen Bonhoeffers künftig fundiert werden. d) Einfalt Der Glaubensbegriff Bonhoeffers stammt demnach aus einer relecture biblischer Texte und reformatorischer Auslegungen im Hinblick auf aktuelle philosophische und theologische Grundsatzfragen, insbesondere auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie. Gegen den neuzeitlichen Subjektivismus und seinen Begriff von einer autonomen Freiheit des Subjekts wird im Anschluss an zentrale Schriftworte und lutherische Theologie ein ganz anderer Erkenntnisbegriff in Stellung gebracht, der vor Zeit der Ethik als Kinderglaube erscheint, hier dagegen besonders durch den Begriff ‚Einfalt‘ charakterisiert wird376. Dieser Ausdruck samt seinen Derivaten, der erstmals in der Nachfolge zur Qualifikation des Christseins verwendet wird und in dem geplanten Einleitungskapitel der Ethik gehäuft auftritt, präsentiert das früher mit dem Bild des Kindes Ausgesagte nun in begrifflichem Gewand, welches zudem biblischen Anhalt hat und darum wahrscheinlich auch dort seinen Ursprung hat. Grund für diese Änderung mag die Überlegung gewesen sein, dass das Bild vom Kind – so treffend hiermit auch die neue Beziehung zwischen Gott und Mensch aufgrund von Christi Heilswerk illustriert sein mag – doch im Hinblick auf das Bonhoeffer spätestens seit seiner Finkenwalder Zeit besonders interessierende Problem der Nachfolge und Heiligung weniger einleuchtend ist. Die begriffliche Charakterisierung des Lebens des Christen als ‚einfältig‘ schließt zwar inhaltlich an das Bild vom Kind direkt an, präzisiert es aber andererseits auch und erlaubt außerdem eine leichtere Übertragung auf den Adressaten, den ‚mündigen‘ Nachfolger Christi. Obwohl Bonhoeffer das Bild vom Kind als Paradigma des versöhnten Menschen zwar beibehält, steht dennoch die Konzentration auf diesen neuen Schlüsselbegriff seit Finken375 S. dazu auch Bonhoeffers Ausführungen zum Problem der Theologie als Wissenschaft AS  128–131.133 f., wo Theologie als Reflexionsakt streng vom actus directus unterschieden und diesem nach- bzw. untergeordnet wird: „Weil durch die Theologie die Offenbarung zu etwas Seiendem gemacht wird, darf Theologie nur dort getrieben werden, wo die lebendige Christusperson gegenwärtig ist und dies Seiende zerbrechen oder sich zu ihm bekennen kann“. Vgl. Reuter, Nachwort, 176–179 et passim; Feil, Theologie, 47–52; Tietz-Steiding, Kritik, 287–297. 376 Vgl. etwa E 315.321–323.326 f.329.

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walde im Vordergrund und wird in der Ethik sogar noch verstärkt377. Der biblische Sprachgebrauch, d. h. genau genommen die vor allem paulinische Verwendung dieses Wortes, dürfte Bonhoeffers schon früh entwickeltem Glaubensbegriff besonders entgegen gekommen sein. Während im Deutschen nämlich für ‚einfältig‘ jedenfalls auch die Konnotation ‚töricht‘, ‚dumm‘ nahe liegt, was Bonhoeffers Ausführungen eine Zielrichtung gäbe, die gerade nicht beabsichtigt ist, weisen das Griechische und die lateinische Übersetzung sehr viel deutlicher in die Richtung, die hier offenbar gemeint ist. Denn an den entsprechenden Stellen, auch in dem Logion aus der Bergpredigt Mt 6,22, das Bonhoeffer seit der Nachfolge als einschlägigen biblischen Beleg für seine Konzeption heranzieht378, stehen łĚĕęȘĜ oder łĚĕƲĞđĜ bzw. simplex oder simplicitas379. Beide Worte drücken vorwiegend den Aspekt der Einfachheit im numerischen Sinne, also abgeleitet von der Einheit, sowie den Aspekt der Schlichtheit im Sinne von Reinheit oder Unschuld aus380. Gerade auf diese beiden Bedeutungsaspekte aber dürfte es Bonhoeffer bei seiner Entgegensetzung zum entzweiten Wissen ankommen, während er sich gegen die Interpretation der christlichen Einfalt als intellektuelle Beschränktheit verwahrt381. Biblische Einfalt resp. Unschuld und Demut werden damit, so könnte man zusammenfassen, von Bonhoeffer gegen philosophisch-ethische Definitionsmacht mittels der Adam-Christus-Typologie abgesetzt: gegen den menschlichen Versuch der „Selbstrechtfertigung vor Gott, die auf dem ei-

377 In der Nachfolge finden sich nur die Adjektiv-Formen ‚einfältig‘ etc., aber noch nicht das Substantiv ‚Einfalt‘. Erst in der Ethik wird auch das Substantiv dezidiert als Gegenbegriff zu demjenigen der ‚Entzweiung (in Gut und Böse)‘ gesetzt. Auch in der Nachfolge ist diese Entgegensetzung zwar schon ausdrücklich vorgenommen worden (etwa N 106), aber eben noch nicht mit der in der Ethik erreichten Abstraktionsstufe, die durch die Substantivierung ausgedrückt wird. 378 N 167.295; E 64.321. 379 Vgl. Mt 6,22parLk 11,34; Röm 12,8; II Kor 1,12; 8,2; 9,11.13; 11,3; Eph 6,5; Kol 3,22 jeweils im Novum Testamentum Graece sowie in der Vulgata. Vermutlich hat Bonhoeffer diesen Begriff demnach nicht nur aus dem bereits zitierten Logion Mt 6,22, sondern auch aus dem paulinischen Sprachgebrauch aufgenommen, da łĚĕęȘĜund łĚĕƲĞđĜabgesehen von dem genannten Logion und seiner lukanischen Parallele nur in den paulinischen und pseudopaulinischen Briefen vorkommen. Als Gegenbegriff hierzu beruft sich Bonhoeffer auf den von ihm sehr geschätzten Jakobusbrief, nämlich Jak 1,8; 4,8, wo der Sünder und der Zweifler als Menschen mit zwiespältigem Sinn (ĎưĢğġęĜ, ĎưĢğġęē) angesprochen und ermahnt werden (vgl. E 321). S. auch ZE Nr. 15. 380 Bauer, Wörterbuch; Menge-Güthling, Großwörterbuch; Georges, Handwörterbuch, jeweils s. v. Eingehendere semantische und lexikographische Ausführungen sind hier nicht erforderlich, weil nicht davon auszugehen ist, dass sich Bonhoeffer über die gemeinen, hier aufgeführten, Bedeutungen hinaus informiert hat. Im Deutschen sind nach Grimm, Wörterbuch, s. v., sowohl die für das Griechische und Lateinische genannten Bedeutungsaspekte als auch der inzwischen geläufigere der intellektuellen Schlichtheit (homo stultus) genannt. 381 S. dazu das Folgende.

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genen Wissen um Gut und Böse begründet ist“382 handelt der Christ in der demütigen „Einfalt des Nichtwissens um das eigene Gute, weil [er] […] nur auf Jesus Christus blickt.“383 Ähnliche Formulierungen mit teilweise noch engeren Anlehnungen an biblische Texte begegnen auch in der Nachfolge, etwa wenn Bonhoeffer Mt 5,8 auf gerade diese Gegenüberstellung hin auslegt: „Das reine Herz ist das einfältige Herz des Kindes, das nicht weiß um Gut und Böse, das Herz Adams vor dem Fall [!], das Herz, in dem nicht das Gewissen, sondern Jesu Wille herrscht.“384

Dennoch ist mit dieser Antithese von biblisch begründeter Einfalt oder Herzensreinheit und philosophischem Selbstverständnis noch nicht die ganze Pointe von Bonhoeffers theologischer Anthropologie erfasst, zumal auch seine ethische Zuspitzung der einfältigen Gerichtetheit des Glaubenden auf Christus bisher nur implizit zur Sprache kam, und zwar nur insofern der biblische Begriff der Einfalt vorwiegend auf das konkrete Verhalten der Christen angewendet wird und damit kontextuell in der Sphäre des Seins und Handelns verankert ist. Gerade im Hinblick auf die ethische Bedeutung ist Bonhoeffer allerdings trotz seiner Kritik an einer relativierenden Interpretation speziell der Bergpredigt, aber auch christlicher Nachfolge-Ethik (Heiligung) überhaupt385, keineswegs an einer simplifizierenden, gar anachronistisch-wörtlichen Übernahme wirklichkeitsfremder und unreflektierter – einfältiger im negativen Sinne – biblischer Handlungsanweisungen interessiert. Schon die Tatsache, dass Bonhoeffer von sich selbst sagt, dass er erst nach Akt und Sein zum ersten Mal zur Bibel kam386, ist zudem ein Hinweis darauf, dass hier keineswegs ‚nur‘ biblisches Denken im Gegensatz zur neuzeitlichen Philosophie akzentuiert wird, da ja die prinzipielle Opposition dieser Selbstaussage zufolge bereits vor der ‚Wende zur Bibel‘ entwickelt wurde. Vielmehr werden von ihm biblische Aussagen und biblischer Sprachgebrauch interpretierend übernommen und dabei durchaus auch positiv mit bestimmten philosophischen Ansätzen verknüpft. Ansätze, die ihrerseits schon in Abgrenzung vom Deutschen Idealismus entstanden sind und außerdem sehr früh auf Bonhoeffer eingewirkt haben, weshalb mindestens von einer wechselseitigen Beziehung biblischer Texte und von Bonhoeffer positiv rezipierter philosophischer Gedanken zu sprechen ist. Im Verlaufe 382

E 329. E 327. 384 N 106 f. 385 Dieser Intention entspricht ja insbesondere die Nachfolge, deren Antithese vor allem ein die Forderung Christi relativierendes, die Gnade somit „billig“ nehmendes weltförmiges Christentum ist. Vgl. dazu N 29 ff.97 ff. et passim. 386 Vgl. DBW 14, 113 (1936). Diese ‚Wende‘ wird von den Herausgebern auf die Zeit unmittelbar nach dem Verfassen von Akt und Sein, also etwa die Jahre 1931/32 datiert. Ähnlich äußert sich Bethge DB 246 ff. 383

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der bisherigen Analyse sind bereits mehrfach Verweise auf gedankliche Parallelen zwischen Bonhoeffer und Sören Kierkegaard gemacht worden. Der Einfluss des Begründers der Existenzphilosophie auf Bonhoeffers Theologie, insbesondere den Sündenbegriff und die Anthropologie, ist aber nur schwer zu überschätzen und wird im Folgenden ausdrücklich aufgewiesen werden; daneben zeigt sich aber wiederum die ambivalente Bedeutung Nietzsches für Bonhoeffers Konzeption der christlichen Ethik und ihres Begriffs des Nichtwissens um Gut und Böse. aa) Bonhoeffers Kierkegaard-Rezeption Bonhoeffer hat sich mit der christlichen Existenzphilosophie387 Sören Kierkegaards nachweislich bereits während seiner Studienzeit beschäftigt und ihn dabei sehr geschätzt388. In seiner Restbibliothek befinden sich noch etliche Bände, von denen die meisten wohl auch gründlich von ihm studiert wurden, wie die erhaltenen Anmerkungen und Unterstreichungen belegen. Dabei scheint sich Bonhoeffer allerdings vorwiegend auf das spätere, d. h. vor allem das unmittelbar religiöse, sowie auf das spätere pseudonyme, den christlichen Sündenbegriff behandelnde, Schrifttum Kierkegaards konzentriert zu haben, urteilt man nach seinen nachgelassenen Kierkegaard-Bänden. Demnach hat er besonders den religiösen Schriftsteller Kierkegaard zur Kenntnis genom387 Sören Kierkegaard wird hier als Philosoph bezeichnet, auch wenn er insbesondere mit seinem mittleren und späten Schrifttum fraglos hohe Bedeutung für die Theologie gewonnen hat. Nicht nur seine eigene Sicht spricht aber gegen seine Vereinnahmung als Theologe, wonach er sich selbst in erster Linie als (religiöser) Schriftsteller gesehen hat (Liessmann, Kierkegaard, 34, zur Problematisierung dieser Kategorie durch den späteren Kierkegaard selbst vgl. Gerdes, Einübung, 10), keineswegs aber als theologischer Wissenschaftler. Entsprechend hat Kierkegaard auch diejenigen Schriften, die zentral genuin theologische Themen behandeln, d. h. die Schriften über den Sündenbegriff, nicht nur pseudonym, sondern auch explizit nicht als dogmatisch-theologische, sondern als „psychologische“, d. h. hier: existenzphilosophische Abhandlungen verfasst. Gleichwohl ist die Bezeichnung als Philosoph letztlich vor allem mit Blick auf seine enorme Wirkungsgeschichte in der Philosophie der Moderne zu rechtfertigen, welche grundlegende Einsichten Kierkegaards zum Begriff der Existenz, des Selbst und den Stadien der Existenz – ohne deren eigentliche theologische Begründung und Bedeutung – rezipiert und zu neuen, nun allerdings zumeist ausdrücklich atheistischen, existenzphilosophischen oder existentialistischen Entwürfen verarbeitet hat. 388 Vgl. DB 95. Wem er den Anstoß zur Beschäftigung mit Kierkegaard verdankt, ist unklar. Vermutlich ist sie auf den einen oder anderen Barth, vielleicht aber auch auf beide zurückzuführen. Während Karl Barth im Römerbrief, den Bonhoeffer wohl 1924 oder 1925 für sich entdeckte (DB 103), sich auf Kierkegaard beruft (R II, XIII.261–263.479 f.), hat sein Bruder Heinrich Barth in Zwischen den Zeiten 4 (1926) einen längeren Aufsatz über Kierkegaard verfasst (Barth, Kierkegaard), den Bonhoeffer für seine Dissertation genutzt hat. Aber auch Thurneysen (DBW 9, 30820) beruft sich auf Kierkegaard, so dass es letztlich nicht aufzuklären ist, welcher der Dialektischen Theologen oder ihnen nahe stehenden Denker Bonhoeffer hier beeinflusst hat – oder ob überhaupt. Sehr wahrscheinlich ist aber, dass Bonhoeffer sich schon früh intensiv mit Kierkegaards Schriften beschäftigt hat, worauf es hier allein ankommt.

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men, weniger den früheren ästhetischen Schriftsteller, d. h. philosophischen Dichter oder dichtenden Philosophen389. Besonders die wichtigen Schriften Der Begriff Angst, Die Krankheit zum Tode und Einübung im Christentum hat er offenbar neben der Textsammlung Der Einzelne und die Kirche – Über Luther und den Protestantismus durchgearbeitet. Diese Auswahl ist sehr aufschlussreich, zeigt sie doch, dass Bonhoeffer Kierkegaard offenbar erhebliches Gewicht in zentralen theologischen Fragestellungen beigemessen hat. In allen seinen Monographien spielt Kierkegaard eine mehr oder weniger große Rolle, darüber hinaus sind im Gesamtcorpus seines Schaffens immer wieder ausdrückliche und angedeutete Bezüge auf Kierkegaard enthalten. Diesem kommt damit die größte Kontinuität hinsichtlich der philosophischen Einflüsse auf Bonhoeffer zu, wenn er auch an Zahl der ausgewiesen Belege erst deutlich nach Hegel und Kant und gleich auf mit Nietzsche folgt390. Gewichtet man die Belege allerdings nach ihrer Wertigkeit, so stellt sich der Befund etwas anders da: Hegel und Kant werden zwar nicht ausnahmslos, aber doch überwiegend kritisch von Bonhoeffer beurteilt, Kierkegaard dagegen überwiegend zustimmend391. Besonders augenfällig ist die mehrfach

389 Zu diesen Unterscheidungen vgl. etwa Liessmann, Kierkegaard, 32 ff. Bonhoeffers Nachlass enthält nur den zweiten Band der gewichtigen Unwissenschaftlichen Nachschrift zu den Philosophischen Brocken (vielleicht ist der erste Band aber auch nur bei Bonhoeffers vielen Umzügen verloren gegangen oder im Krieg verschollen), in dem er möglicherweise auch nur sporadisch gelesen hat; Entweder – Oder hat er zwar von Bethge als Geschenk erhalten, ohne dass aber deutlich wäre, ob er überhaupt darin gelesen hat. Vgl. Meyer, Nachlaß, 219. 390 Vgl. dazu das Gesamtregister DBW  17. Hegel führt mit 102 Belegen (das HegelSeminar von 1933 nicht eingerechnet), gefolgt von Kant mit 94, während auf Kierkegaard und Nietzsche je 74 entfallen. 391 Kritik übt Bonhoeffers an Kierkegaards Individualismus (SC 3412).10420), s. aber auch SC 171) sowie an seinem besonders in den späten Schriften negativen Weltverständnis. Charakteristischerweise findet sich der erstgenannte Einwand in der Dissertation, die eine mit Mitteln der zeitgenössischen Sozialphilosophie konstruierte Ekklesiologie enthält, der andere Einwand aber in Widerstand und Ergebung (WE 548 f.), wo Bonhoeffers Entwicklung von einem zur Zeit der Nachfolge sehr distanzierten Weltverhältnis über die theologische Integration des Weltbegriffs in der Ethik bis zu einem die späte Theologie geradezu dominierenden positiven Weltbegriff als Ergebnis der weiter gedachten Versöhnungstheologie fortgeschritten ist. Der am Rande der Vorlesung über die Geschichte der systematischen Theologie offenbar gefallene Satz Bonhoeffers, dass Kierkegaards „subjektivistisch[e]“ Interpretation des „monistische[n]“ Hegelschen Geistbegriffs „derselbe idealistische Ansatz“ sei wie bei Schleiermacher (DBW 11, 149), wird nicht wiederholt. In Anbetracht der Tatsache, dass Bonhoeffers Idealismus-Kritik sich bestimmter Grundfiguren aus Kierkegaards Denken bedient, sollte darum diese sachlich – trotz aller erkennbaren Nähe Kierkegaards zum Idealismus im Allgemeinen und Schleiermacher im Besonderen  –  unzutreffende Bemerkung mindestens als dem Genre geschuldete bewusste Verkürzung gewertet werden. Zudem finden sich in derselben Vorlesung zwei Bemerkungen, die Kierkegaard dazu gegenläufig deuten als Gewährsmann für das Anliegen dialektischer Theologie (DBW 11, 197 f.201). Zu Bonhoeffers differenzierter Beurteilung Nietzsches s. o. A.II.3.

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nahezu wörtliche Bezugnahme auf ihn in der Nachfolge392, aber sowohl davor als auch danach zeigt sich die gleiche Tendenz der Kierkegaard-Rezeption Bonhoeffers, nämlich der Anschluss an dessen Luther-Auslegung, sowie die Übernahme wichtiger Elemente von dessen insbesondere gegen Hegel gerichteten Existenzbegriff393. Überhaupt dürfte mit Recht festgestellt werden, dass Bonhoeffer sich bewusst in das neue Paradigma der existenzphilosophischen, nicht nur idealismus-, sondern darüber hinaus prinzipiell metaphysikkritischen Denkrichtung gestellt hat und insofern maßgeblich von dessen Begründer Kierkegaard beeinflusst ist. Dies wird im Folgenden konkretisiert, aber auch an anderer Stelle in der Ethik deutlich werden. bb) Kierkegaards Existenzbegriff Bonhoeffers Gegenüberstellung von biblischer Einfalt und philosophischer Reflexion vollzieht in gewisser Weise den „Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts“394 im Bereich der Theologie mit bzw. nach. Wie Kierkegaard, aber auch Nietzsche und Heidegger, welche Bonhoeffer beide ebenfalls rezipiert und (auch) konstruktiv in sein theologisches Denken eingebracht hat395, nimmt Bonhoeffer eine Position ein, die gegen den Idealismus gerichtet auf die konkrete einzelne und endliche Existenz konzentriert ist und damit zugleich die Vorgängigkeit der Weltwirklichkeit vor der einzelnen Existenz und ihrem Denken voraussetzt. Hatte er sich früher bereits Kierkegaards Kritik an Hegel zu eigen gemacht, wonach dessen System der Geschichte des absoluten Geistes die konkrete, ins Dasein geworfene Existenz übergehe396, 392 S. dazu neben den Anmerkungen besonders das Nachwort N 319. Zum Verhältnis der Nachfolge zum Denken Kierkegaards vgl. Barth, Nachfolge, passim. 393 Vgl. exemplarisch DBW 11, 197 f.201; 12, 179.194 f.; AS 32 f.; DBW 8, 179 f. Diese Verortung Bonhoeffers, die im Folgenden am Text zu zeigen ist, wird vorab bestätigt durch die Bemerkung Franz Hildebrandts an Ilse Tödt über die Diskussionen mit Bonhoeffer in London 1933 / 34 (im Brief vom 11.02.1984, Dietrich-Bonhoeffer-Archiv Münster): „Es war so, dass ich, nicht er [sc. Bonhoeffer] […] in den Bann des Idealismus geraten war […] Dietrich verteidigte Kierkegaard […]“. 394 S. den Untertitel von Löwith, Hegel. 395 Im Fall von Heidegger wird sich dies später noch zeigen. Vgl. aber auch AS 65 f., wo Heidegger neben der, alle dort verhandelten Philosophen treffenden, Kritik auch ausdrückliches Lob erhält, was hier sonst nur noch – und etwas verhaltener – Przywara widerfährt; s. außerdem DBW 10, 365 f.395.398; 11, 113. 396 AS 32 f. Vgl. auch AS 35, wo Bonhoeffer eine wohl an Kierkegaard und besonders an Heidegger angelehnte Hegel-Kritik anbringt: Der Philosophierende (Hegel) scheitert „am Widerstande seiner eigenen Wirklichkeit mit dieser [sc. seiner] Philosophie. Hegel schreibt eine Philosophie der Engel, aber nicht des menschlichen Daseins. Der konkrete Mensch, auch der Philosoph, ist eben nicht im Vollbesitz des Geistes; daß er nur zu sich selbst zu kommen brauchte, um in Gott zu sein, muß ihm in der Erfahrung des gänzlichen In-sich-selbst-gekehrt-seins, -beharrens, -ruhens, der völligen einsamsten Alleinigkeit in ihrer qualvollen Öde und Unfruchtbarkeit zur grauenvollen Enttäuschung werden. Er sieht sich hineingestellt in ein zufälliges Hier und Da als einer, der sich fragend, denkend, handelnd

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so findet sich hier wieder, nun aber untergründig, die gleiche Konstellation einer Abgrenzung von Hegel unter Verwendung wesentlicher Einsichten Kierkegaards397. Interessant ist, dass völlig unabhängig voneinander und von der nachweislichen Bezugnahme Bonhoeffers auf Kierkegaard beinahe dieselbe Aussage in Bezug auf das Verhältnis zum Idealismus – insbesondere, aber nicht nur, hegelscher Art  –  einmal über diesen und einmal über jenen zu lesen ist. So heißt es über Kierkegaard, dass er „durchaus Sinn für die Größe der hegelschen Konzeption [hatte]; und man darf wohl sagen, daß er sie nicht mit solcher Leidenschaft bekämpft haben würde, wenn sie nicht für ihn selbst eine überaus gefährliche Anfechtung bedeutet hätte.“398 Von Bonhoeffer wiederum heißt es: „Es darf […] erwogen werden, ob Bonhoeffer mit seinem Kampf gegen den solipsistischen Autonomieanspruch der Subjektivität nicht auch eine Anfechtung bearbeitet, die er selbst als Repräsentant eben dieses Autonomiebewußtseins erfahren hat und die als der subjektive Faktor in seiner erbarmungslosen Destruktion allen philosophischen Selbstverständnisses zu werten ist.“399 Inwieweit solche wahrscheinlich vorhandenen ‚subjektiven‘ Faktoren neben die Überzeugung und Überzeugtheit durch Gründe treten, ist schwer zu beurteilen und noch schwieriger zu bewerten. Letztere sind sicherlich nicht nur nicht abzustreiten, sondern auch von größerem Gewicht, aber die Entscheidung für oder gegen eine Philosophie oder philosophische Richtung mag dennoch zuletzt einen existentiellen Kern haben. Ob dieser aber psychologisch erhellt werden kann, ist für das hier interessierende Thema letztlich nicht von Bedeutung, da es dabei um systematische Grundentscheidungen und die daraus abzuleitenden Folgen geht. Darum soll es auch bei der bloßen Feststellung dieser vermutlichen Ähnlichkeit in der individuellen Haltung gegenüber den idealistischen Denksystemen bleiben. Darüber hinaus verstehen sich beide außerdem als Luther-Ausleger, was unabhängig von allem Individuell-Persönlichen zu der gemeinsamen Ablehnung nicht nur des „solipsistischen Autonomieanspruch[s] der Subjektivität“, sondern auch zu dem damit ja nicht zwangsläufig verbundenen besonderen Interesse an der darin zurechtfinden soll, der die ihm vorgegebene Lage auf sich zu beziehen und damit sich ‚in bezug auf‘ sie zu entscheiden hat. Und die Vergewaltigung, die der Mensch dadurch an sich erfährt, daß er ‚in bezug auf‘ ein Anderes, ihm Transzendentes ‚jeweils schon ist‘, ist etwas wesenhaft Anderes als die Gewißheit, in sich die Möglichkeit zur Bewältigung der Welt zu tragen.“ S. dazu o. A.II.4.b u. c, wo erläutert wird, inwiefern Hegel das Endliche zu einem Moment im Prozess der Selbsterkenntnis des Unendlichen macht. 397 Auch Nietzsche spielt hier eine nicht geringe Rolle, aber gleichwohl kommt ihm in systematischer Hinsicht weniger Bedeutung als Kierkegaard zu, schon weil jener sich selbst als dezidiert antichristlicher Denker verstanden hat und daher eine grundsätzlich von der Bonhoeffers (und Kierkegaards) verschiedene Ausgangsposition einnimmt. 398 Diem, Spion, 8. 399 Reuter, Nachwort, 185.

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konkreten, einzelnen Existenz und ihrem persönlich-innerlichen Gottesverhältnis geführt haben kann. Voraussetzung dieser existenzphilosophischen Hegel-Kritik ist einerseits die Hinwendung zum Zeitlichen und das Bestreiten eines Zugangs des Menschen zum Ewigen aus eigener Kraft und andererseits der damit verbundene neue, antimetaphysische und antispekulative Wahrheitsbegriff. Denn auch wenn der metaphysische Wahrheitsbegriff, die adaequatio rei et intellectus400, von Hegel prozessualisiert worden ist, so bleibt es doch auch bei ihm dabei, dass Wahrheit, als absolute bzw. allgemeine, das einzelne Subjekt zwar zu ihrem Moment hat, keineswegs aber als solche konstitutiv mit diesem verbunden ist; „sie zeigt sich vielmehr als kategoriales Resultat; zwar partizipieren wir an ihr – soweit nämlich wir es sind, denen die Bewegung der Kategorien widerfährt –, aber wir ‚machen‘ sie nicht […]. Wahrheit […] ist autonom“401. Daher ist auch für Hegel die Wahrheit in ihrer Prozesshaftigkeit die „Übereinstimmung […] zwischen dem Erkennen und dem Erkannten“402, wobei diese nun aber nicht mehr als streng geschiedenes Subjekt und Objekt wie im klassisch-metaphysischen Denken aufgefasst werden, sondern als das sich selbst im Andern erkennende Absolute. Darum ist Wahrheit begriffliches, vermitteltes Wissen und als solches von dem uneigentlichen (unmittelbaren) Wissen des Glaubens verschieden, denn dieses ist Gewißheit, aber „Gewißheit ist nicht Wahrheit“403. Eben gegen diesen Begriff von Wahrheit wendet sich nun Kierkegaard immer wieder, manchmal explizit, manchmal andeutend, von seinem ganz anderen existentiellen Wahrheitsbegriff aus, für den die Identität von Wahrheit und (existentieller oder subjektiver) Gewissheit entscheidendes Kriterium ist404. Dabei ist zu beachten, dass er von der Voraussetzung aus philosophiert, die auch Bonhoeffer teilt, wie bereits gezeigt werden konnte405, wonach dem Menschen von sich aus kein Zugang zu überzeitlichen abstrakten, idealen bzw. absoluten Wahrheiten möglich ist, mehr noch, diese gar nicht vorhanden 400 Vgl. dazu exemplarisch ScG I cap. 59 n. 2: Cum enim veritas intellectus sit adaequatio intellectus et rei, secundum quod intellectus dicit esse quod est vel non esse quod non est, ad illud in intellectu veritas pertinet quod intellectus dicit, non ad operationem qua illud dicit. Non enim ad veritatem intellectus exigitur ut ipsum intelligere rei aequetur, cum res interdum sit materialis, intelligere vero immateriale: sed illud quod intellectus intelligendo dicit et cognoscit, oportet esse rei aequatum, ut scilicet ita sit in re sicut intellectus dicit. Ähnlich öfter im Corpus Thomisticum. 401 Hoffmann, Hegel, 239. S. auch aaO. 236: „Wahrheit ist eine Funktion, ja die Wirklichkeit der Begriffsbewegung selbst […] der Genesis logischer Gegenwart des einen für das andere, des Vielen im Einen und des Einen als Viel.“ 402 Hoffmann, Hegel, 239. 403 RPh I, 85. 404 S. dazu die in UN I, 190 f. ausdrücklich formulierte Kritik an dem objektiven Wahrheitsbegriff. Vgl. auch Schulz, Kierkegaard, 55 ff. 405 S.o. A.II.2.b.

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sind abseits des eigenen existentiellen Verhältnisses zur Wahrheit. Denn die Wahrheit ist nur konkret, d. h. nur als Gewissheit möglich und wirklich und darum als Existenzbetroffenheit zu verstehen. Dahinter steht eine Anthropologie, die zwar mit dem Idealismus, im Unterschied zu dem klassischen scholastischen Substanzdenken406, die Notwendigkeit der handelnden Selbstbestimmung des Menschen denkt. Bei diesem aber beruht sie auf dem idealen Subjektivismus der Freiheit, wonach das allgemeine vernünftige Subjekt sich im absolut freien sittlichen Handeln realisiert, so dass letztlich Freiheit und Vernunftnotwendigkeit zusammenfallen. Bei Kierkegaard dagegen – und auch bei Bonhoeffer – ist über den Idealismus hinausgehend nicht nur das Substanzdenken vollständig verlassen, sondern auch die Denkrichtung umgekehrt: anstelle vom allgemeinen oder absoluten Subjekt aus auf das endliche zu schließen und dieses von jenem aus definieren, wird nun beim konkreten, endlichen Einzelnen angesetzt, der sich selbst handelnd als Selbst erzeugen muss ohne dies aber als Forderung des idealen Vernunftgesetzes begreifen zu können. Denn es gibt, so Kierkegaard, für das einzelne, sich selbst erst gewinnen müssende Selbst, keine allgemeine Vernunftwahrheit, die es allein durch Denken zu erweisen und sich anzueignen hätte, sondern immer nur eine es selbst unmittelbar und konkret betreffende, in diesem Sinn ‚gewisse‘ Wahrheit. Weder kann der Einzelne sich selbst als ideal und damit allgemein begreifen, noch kann er sich folglich selbst erwerben durch auf abstrakter oder allgemeiner Erkenntnis gegründetes sittliches Handeln; vielmehr ist es zurückgeworfen auf sich als endliche Existenz, deren eigenes persönliches Verhältnis zur Wahrheit erst Wahrheit konstituiert407: „Wovon ich […] rede, ist etwas ganz Schlichtes und Einfältiges[!], daß die Wahrheit nur für den Einzelnen ist, sofern er selbst sie handelnd erzeugt […] Die Wahrheit hat allezeit viele laute Verkündiger gehabt, aber die Frage ist, ob ein Mensch in tiefstem Sinne die Wahrheit erkennen will, sein ganzes Wesen von ihr durchdringen lassen will […] jetzt ist es an der Zeit, daß die Gewißheit, die Innerlichkeit geltend gemacht werde, nicht in dem abstrakten Sinne […] sondern durchaus konkret.“408 406 Dieses findet sich bekanntlich noch bei Descartes, der zwar das Erkennen auf die Selbstgewissheit des cogito gründet, dieses aber noch traditionell als res cogitans, also seiende Substanz, denkt und der res extensa an die Seite bzw. gegenüber stellt, noch nicht aber als transzendentales oder ideales Subjekt auffasst, dessen Wirklichkeit im Erkennen und Handeln nicht: besteht, sondern gesetzt wird. 407 Vgl. dazu Zimmermann, Einführung, 11 f. 408 BA 143 f. BA 145 ist (wieder) von dem „ganz schlichte[n] Mensch[en]“ die Rede, der seinerseits „ganz schlicht von der Unsterblichkeit spricht“. Die Kritik an der abstrakten Gewißheit oder Innerlichkeit bezieht sich hier auf Fichte. Hirsch erläutert in seiner Anmerkung (BA 267235) hierzu: „Joh. Gottlieb Fichte hat in der ‚Bestimmung des Menschen‘ […] unter Verneinung des bloßen sich selbst tragenden Wissens den Ursprung aller Gewißheit und Überzeugung im Gewissen ausführlich dargelegt […]: ‚Ich besitze, nachdem ich dieses weiß, den Prüfstein aller Wahrheit und aller Überzeugung. Aus dem Gewissen allein stammt die Wahrheit.‘ Kierkegaards Abgrenzung gegen den von ihm aufgenommenen Satz Fichtes liegt darin, daß die so im Gewissen ergriffene Wahrheit von Fichte als ein Reich allgemeiner

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Abstrakte Wahrheitserkenntnis ist diejenige des Idealismus, der auf das allgemeine vernünftige Subjekt reflektierend von diesem aus zur Wahrheit auch der endlichen Existenz findet und daher dann das sittliche Handeln, in dem diese Wahrheit oder Vernünftigkeit sich als mit der Vernunft zusammen stimmende Freiheit realisiert, grundsätzlich intellektuell vermittelt. Dagegen ist die Wahrheit Kierkegaards immer nur Wahrheit für409, existentiell, und insofern auch nicht mit bloßer intellektueller Evidenz zu verwechseln, die Einsicht in Grundprinzipien der Wirklichkeit verschafft ohne selbst begründbar zu sein410. Vielmehr ist diese innerliche oder gewisse Wahrheit etwas qualitativ von intellektueller und damit notwendig allgemeiner Wahrheit Verschiedenes; denn sie ist als unmittelbar an das einzelne Selbst gebundene und von diesem handelnd erzeugte tatsächlich nur im konkreten Existieren nicht nur wirklich, sondern auch möglich. Mit anderen Worten: sie ist als Existenzvollzug und nur als Existenzvollzug zu begreifen, dem logisch keine allgemeine Vernünftigkeit als Maßstab voraus ginge; sie ist wirklich, oder sie ist nicht. „Daher ist […] die Wahrheit natürlich nicht: die Wahrheit wissen, sondern: die Wahrheit sein […] Zwischen beidem ist, der ganzen neuesten Philosophie zum Trotz, ein unendlicher Unterschied […]“411.

Wahrheitserkenntnis geht daher nicht nur zeitlich, sondern auch logisch nicht dem Vollzug der Wahrheit im Existieren resp. Handeln voraus, ist vielmehr nur im Vollzug selbst enthalten, so dass die Wahrheit für den Einzelnen, so scheint es, letztlich vom existierenden Einzelnen selbst gesetzt wird. Denn auch Kierkegaard interpretiert die nun existentiell verstandene Wahrheit als Freiheit, d. h. Freiheit zur Selbstsetzung; diese erscheint daher nun als absolute Freiheit im anderen Sinne als im Idealismus, da sie ja nicht mehr mit der realisierten Vernunft zusammenfällt, sondern allein mit dem Existenzvollzug des Einzelnen: Erkenntnis dargestellt wird, sich also in der philosophischen Betrachtung nicht mit den Bezügen des allerindividuellsten Lebens durchdringt.“ Die Fichtesche Gewissheit ist daher von anderer Art, als Kierkegaard sie fordert, da sie nur das Verhältnis von allgemeiner Wahrheit und einzelnem Ich vermittelt, aber eben nicht selbst als Verhältnis zwischen Wahrheit und Einzelnem Wahrheit konstituiert. 409 Hier drängt sich unmittelbar die Assoziation mit Luthers pro me auf, die tatsächlich auch sachlichen Anhalt hat, wie sich zeigen wird, da Kierkegaard den Wahrheitsbegriff inhaltlich auf das Gottesverhältnis des Einzelnen einschränkt, vgl. EC  63: „[…] die Bestimmung, welche die der Wahrheit (als der Innerlichkeit) und die aller Religiosität ist, die Bestimmung: für dich.“ 410 Die evidente Erkenntnis allgemeiner Sätze (principia per se nota, notitia evidens) wird bereits seit dem Hochmittelalter von abgeleiteten Sätzen oder intuitiver Erkenntnis unterschieden. Gerade das meint Kierkegaard aber nicht, weil hier wiederum die Wahrheit abstrakt bzw. allgemein gedacht wird. 411 EC 196.

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„Der Freiheit Inhalt, intellektuell gesehen, ist Wahrheit, und die Wahrheit macht den Menschen frei. Eben darum ist die Wahrheit ein Werk der Freiheit dergestalt, daß sie fort und fort die Wahrheit erzeugt. Es versteht sich von selbst, daß ich hier nicht an die Geistreichigkeit der neuesten Philosophie denke, welche weiß, daß die Notwendigkeit des Gedankens auch seine Freiheit sei […].“412

Dem entspricht, dass Kierkegaard zugleich mit der nicht logisch schon bestimmten, sondern zunächst streng absoluten Freiheit des Einzelnen auch dessen Unableitbarkeit als Existenz und Existenzvollzug betont: an die Stelle der mit vernünftiger Notwendigkeit sich entwickelnden Subjektivität tritt der individuelle, ohne jede Notwendigkeit wirklich werdende Selbstvollzug, den Kierkegaard daher auch als „Sprung“413 bezeichnet. Das einzelne Dasein an seinem zufälligen geschichtlichen Ort bestimmt sich selbst aus Nichts heraus414. Damit ist insbesondere auch die Unvertretbarkeit des Einzelnen in seinem Selbstvollzug akzentuiert, deren Fehlen im idealistischen System Kierkegaard besonders bemängelt; denn allein durch die jeweilige unableitbare Entscheidung und Tat des Einzelnen wird dieser eine geschichtlichindividuelle Existenz415. Dass der Selbstvollzug aber immer wieder neu aufgegeben ist, liegt in seinem Begriff: als Handlung oder Existieren kann er nicht ein für allemal geschehen sein, sondern ist eine „Bewegung am Ort“416, nämlich ein immer neues Selbstwerden am Ort der je eigenen Existenz417. Diese nun scheinbar radikale, scheinbar im strikten Sinn absolute Freiheit ist allerdings tatsächlich keineswegs einem ebenso radikalen Subjektivismus geschuldet; vielmehr ist der Freiheitsbegriff Kierkegaards im Unterschied 412 BA  143, s. auch aaO.  19: „[…] Freiheit ist niemals möglich; sobald sie ist, ist sie wirklich […]“; EC  152. Vgl. Diem, Spion, 83, der diesen Sachverhalt so zusammenfasst: „Mit dem Bewußtwerden findet sich das Ich vor in dem Kreislauf, in welchem Denken und Existieren, Erkennen und Wollen zusammenfallen in der Existenz, und zwar so, daß dieses Zusammenfallen der einzelnen Momente in jedem Augenblick als Aufgabe vor dem Existierenden steht.“ 413 Vgl. zur Kategorie des Sprungs BA 28 et passim. 414 BA 116: „Die Freiheit ist unendlich und entspringt aus nichts.“ 415 Gegen Hegel entwickelt Kierkegaard einen geschichtlichen Wirklichkeitsbegriff, der entscheidend von der Kategorie der Zufälligkeit bestimmt ist: „[…] der Zufälligkeit, die ein wesentlich mit zur Wirklichkeit Gehöriges ist, kann die Logik keinen Einschlupf gestatten. Der Logik ist damit nicht gedient, denn falls sie die Wirklichkeit gedacht hat, hat sie etwas gedacht, was sie nicht verdauen kann […]“ (BA 7, vgl. 9–11); s. auch KT 30, wo von der zum Menschsein bzw. zur Existenz gehörenden „wesentlicheren Zufälligkeit“ die Rede ist, die „gerade nicht abgeschliffen werden soll“. Dazu SC 22085. Vgl. Löwith, Hegel, 15 ff.; Diem, Spion, 9. 416 KT 32. 417 S. auch Seibert, Existenzphilosophie, 21: „Was und wer ich selbst bin, folgt aus der Weise, in der ich mich zu mir selbst verhalte […]. Folglich ist mein Selbst kein fester Bestand, keine feste Größe, keine unmittelbare Gegebenheit, sondern ein stets neu ein- und auszuübendes Sich-Verhalten zum eigenen Sich-Verhalten […]“.

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zu dem idealistischen letztlich relational verfasst418. Denn während Kierkegaard einerseits bestreitet, dass Freiheit die Verwirklichung vernünftiger Einsicht oder das Zusichkommen des absoluten Geistes und insofern mit logischer Notwendigkeit zuletzt identisch sei419, bestreitet er nicht zugleich auch die Existenz eines Ewigen oder Absoluten, mit welchem die Freiheit ins Verhältnis trete. Die Freiheit, welche zugleich Wahrheit für den Einzelnen ist, nämlich die Wahrheit seines Selbstseins im Existieren, hat vielmehr sehr wohl einen bestimmten, aussagbaren Inhalt, der gleichwohl keine abstrakte Wahrheit ist und sein kann. Denn sie besteht in dem den freien Selbstvollzug begleitenden und erst ermöglichenden persönlichen Gottesverhältnis des Einzelnen420. Damit stellt sich der Selbstvollzug der Existenz schließlich als Freiheit dar, die in der Bezogenheit auf Gott gründet und daher anders nicht wirklich sein kann421. Der Mensch ist zwar in seine Freiheit entlassen422, sein freier Selbstvollzug oder freies Existieren gelingt aber nur, wenn ihm sein Grund, Gott, gegenwärtig bleibt. Dieses persönliche Verhältnis zwischen Einzelnem und Gott nämlich ist erst die wesentliche Dimension der Existenz, von welcher sich der Einzelne her zu verstehen hat, so dass er „im tiefsten Sinne einen Eindruck davon empfinge, daß da ein Gott ist und daß ‚er‘, er selber, er mit seinem Selbst da ist für diesen Gott: ein unendlicher Gewinn […]“423

418 Schulz, Kierkegaard, 57 ff. übernimmt Kierkegaards Ausdrucksweise aus UN I, 190 f. und setzt daher hierfür den Begriff des „Strebens“. Relationalität ist m. E. aber eine durchaus auch zutreffende Charakterisierung des gemeinten Sachverhalts, weil Kierkegaard das Verhältnis der Existenz zur Wahrheit als christologisch vermitteltes und insofern persönliches begreift, wie auch Schulz ebd. deutlich herausstellt. 419 Hierzu s. RPh  I  296 u. ö. sowie A.II.4. Hegel identifiziert ausdrücklich „absolute Notwendigkeit“ und Freiheit miteinander. Vgl. dazu auch Bonhoeffers Kritik aus Schöpfung und Fall (SF 25). 420 S. dazu ausführlich das Kapitel „Über die subjektive Wahrheit, die Innerlichkeit; die Wahrheit ist die Subjektivität“ UN  I,  179 ff.; vgl. auch Seibert, Existenzphilosophie, 29: „Der Alleinstand der einzelnen in sich und vor Gott ist keine Frage des Wissens, sondern die erste Angelegenheit ihres lebendigen Daseins, Angelegenheit des Existierens im Ganzen.“ Hier besteht der entscheidende Unterschied zwischen Kierkegaard einerseits und Heidegger und den französischen Existentialisten andererseits, deren Existenzbegriff von radikaler Immanenz gekennzeichnet ist. S. dazu Bonhoeffers Kritik der „Geschlossenheit der Endlichkeit“ in Heideggers Daseinsanalyse, AS 66 f. 421 Vgl. KT 25 f.: „Das Selbst ist die bewußte Synthesis von Endlichkeit und Unendlichkeit, die sich zu sich selbst verhält, deren Aufgabe es ist sie selbst zu werden, etwas das sich nur vollbringen läßt durch das Verhältnis zu Gott.“; BA 107.112. 422 KT  11 heißt es, dass „Gott, der den Menschen zu dem Verhältnis gemacht hat, ihn gleichsam aus seiner Hand losläßt“, damit er ein Selbst wird. Der Mensch ist demnach zur Freiheit bestimmt, die aber immer auf ihren Grund bezogen bleibt. Vgl. auch die bereits zitierte Idealismuskritik KT 68; EC 152. 423 KT 23.77 f. Ähnlich BA 146: „Der Gedanke an das Dasein eines Gottes hat, sobald er als solcher für die Freiheit des Individuums gesetzt wird, eine Allgegenwärtigkeit […]“, die sein gesamtes Existieren fundamental bestimmt.

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Darum ist die Realisierung der Freiheit des Einzelnen, sein Selbstwerden, die Handlung, in welcher „sich das Selbst durchsichtig [gründet] in der Macht, die es gesetzt hat“424. Die Freiheit des Selbstwerdens, indem der Einzelne in ein existentielles Verhältnis zu Gott tritt ist dann sowohl seine wahre Existenz oder die Wahrheit seiner Existenz als auch das Gute selbst, das so verstanden dann nicht einer abstrakten sittlichen Freiheit als bloße Handlungs- oder Entscheidungsmöglichkeit gegeben ist, sondern mit der realisierten Freiheit identisch ist: „Das Gute ist die Freiheit […] aber die Freiheit ist nie im Abstrakten“425, sondern immer der aktuell gelingende Existenzvollzug im Bezogensein auf Gott. Kierkegaards Konzeption der Existenz enthält jedoch eine entscheidende Bestimmung darüber hinaus, die den Gegenstand vor allem seiner späteren Schriften bildet, in den früheren aber auch vorausgesetzt wird. Der existierende Einzelne nämlich ist de facto derjenige, der sein Gottesverhältnis oder Gottesbewusstsein immer schon verloren hat und deshalb als Sünder begriffen werden muss. Ohne hier ausführlich auf Kierkegaards anspruchsvollen Sündenbegriff eingehen zu können und müssen426, ist hier lediglich festzuhalten, dass demnach der Mensch seine Freiheit ursprünglich verfehlt hat und daher auch immer wieder neu verfehlen muss – so wie die Sünde immer schon im Menschen ist und sich doch immer aktuell vollzieht427 –; er ist daher faktisch unfrei, nicht in der Lage, aus sich selbst heraus die Wahrheit seiner Existenz, sein Gottesverhältnis wieder zu gewinnen. Dies wird ihm allein durch Jesus Christus ermöglicht, dadurch dass Gott selbst in die Endlichkeit eintritt und sich zum Menschen in ein Verhältnis setzt. Das Verhältnis, in dem daher das Selbst des Menschen gründet, ist genauer das in Jesus Christus bestehende Gottesverhältnis oder die Bezogenheit auf Christus. Der Einzelne als existierendes Selbst ist immer erst der erlöste Mensch, nie aber der ursprüngliche, weil „ein jeder Mensch […] seine Unschuld verliert“428, und zwar schuldhaft, also als eigene Tat. Darum ist Kierkegaards Existenzdialektik sachlich von der Versöhnung her gedacht, sie ist eine „neue Ethik“, die „die Dogmatik [voraussetzt] […] während sie zur gleichen Zeit die Idealität als Aufgabe stellt, jedoch nicht in der Bewegung von oben herab, sondern von unten hinauf“429. Christus selbst ist für den Einzelnen nun die Wahrheit, die, weil die Wahrheit ja ein Verhältnis des Existierenden Selbst zu sich selbst und darin zu Christus ist, nur wirklich ist als Nachfolge Christi: 424

KT 134. BA 114 f.*. 426 Vgl. exemplarisch Axt-Piscalar, Freiheit, 141–173; Schulz, Dialektik, 347–366. 427 BA 12; KT 100.106. 428 BA 34. Vgl. auch Schulz, Kierkegaard, 50 ff. 429 BA 18. Vgl. auch Pieper, Kierkegaard, 136. 425

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„Also in dem Sinne ist Christus die Wahrheit, daß die einzige wahre Erklärung dessen was Wahrheit ist, die ist, die Wahrheit zu sein […]. Das will heißen, Wahrheit in dem Sinne, in dem Christus die Wahrheit ist, ist keine Summe von Sätzen, keine Begriffsbestimmung u. dgl., sondern ein Leben […] das Sein der Wahrheit ist die Verdoppelung in dir […], daß dein […] Leben die Wahrheit im Streben danach annähernd ausdrückt, daß dein […] Leben im Streben danach annähernd die Wahrheit ist, so wie die Wahrheit in Christus war, als ein Leben, denn er war die Wahrheit.“430

Der Glaube besteht folglich nicht in einem isolierten Bewusstseinsakt, der vom Denken wenigstens annähernd eingeholt werden könnte431, sondern in dem existentiellen Verhältnis zu Christus und sich selbst, das immer wieder neu sich als Nachfolge bewähren muss; denn „Glaube ist eine Wahl“432 und „die Wahl ist Christus“433 und darin das eigene, wahre Selbst. cc) Bonhoeffers Aufnahme von Kierkegaards Existenzbegriff Bonhoeffers Begründung und Konzeption einer theologischen Ethik, wie sie von ihm hier entwickelt wird, lässt deutlich erkennen, dass im Hintergrund eine produktive Auseinandersetzung mit dem Hegel-Kritiker Sören Kierkegaard steht. Insbesondere die zentrale Kategorie des einfältigen Wissens resp. Tuns, die Bonhoeffer dem reflektierten Urteilen resp. Scheintun gegenüber stellt, erweist sich nun als eine Kategorie, die auf den Grundeinsichten von dessen Existenzphilosophie beruht und auch nur von daher vollständig verstanden werden kann. Kierkegaard beschränkt den Begriff ‚Wissen‘ zwar in der Regel auf den traditionellen Wahrheitsbegriff, genauer auf die „Spekulation“ oder „objektive Wahrheit“434, verwendet aber stattdessen den Begriff ‚Reflexion‘ doppelt435, was jedoch für Bonhoeffer wegen seiner früh entwickelten Terminologie (actus directus  –  actus reflexus) unannehmbar gewesen wäre. Der gemeinte Sachverhalt ist aber trotz diesen etwas unterschiedlichen sprachlichen Bezeichnungen bei beiden im Grunde der gleiche: Denn wie Kierkegaard versteht auch Bonhoeffer Wahrheit oder wahres Wissen als existentielles Wissen, das von dem reflektierten Wissen der Entzweiung streng zu unterscheiden ist. Dieses existentielle Wissen ist zunächst dadurch gekennzeichnet, dass es 430

EC 195. UN I, 202 f. 432 EC 136. 433 EC 152. 434 UN I, 179 ff. 435 UN I, 183–186: „Also kehren wir wieder zu den zwei Wegen der Reflexion zurück […]. Der Weg der objektiven Reflexion macht das Subjekt zu dem Zufälligen und damit die Existenz zu etwas Gleichgültigem, Verschwindendem […]. Die subjektive Reflexion wendet sich nach innen auf die Subjektivität zu und will in dieser Verinnerlichung in der Wahrheit sein, und zwar in der Weise, daß […] hier eben die Subjektivität das Letzte und das Objektive das Verschwindende wird.“ 431

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nicht in der Selbstreflexion des Menschen gründet und daher auch nicht der Reflexionsform, also etwa der Urteilslogik, unterworfen ist436. Entscheidend ist aber über diese negative Bestimmung hinaus die positive Charakterisierung dieses einfältigen Wissens, die offenbart, dass es Bonhoeffer tatsächlich nicht um eine Schlichtheit im Denken geht, die nur mangels intellektueller Möglichkeiten keine Reflexionsform aufweist. Die positive Bestimmung des einfältigen Wissens ist vielmehr dessen vollständige Identifikation mit dem ethisch geforderten Tun, so dass auch keine logische und zeitliche Abfolge zwischen beiden mehr gedacht werden kann: „Das Wissen um Jesus geht ohne jede Reflexion auf sich selbst gänzlich im Tun auf […]. So fraglos ist sein Tun geworden, so gänzlich hingegeben und ausgefüllt ist er durch sein Tun, so sehr ist sein Tun nicht mehr eine Möglichkeit unter vielen, sondern das Eine, das Wirkliche, der Wille Gottes, daß das Wissen gar nicht mehr hindernd dazwischentreten kann, daß hier buchstäblich keine Zeit mehr verloren werden kann, die das Tun aufhielte, infragestellte, beurteilte.“437

Die entscheidende Voraussetzung für eine solche Identifizierung von Wissen und Tun ist der gegenüber der Subjektivitätsphilosophie, aber auch gegenüber einem klassischen scholastischen Realismus veränderte Wahrheitsbegriff. Wahrheit ist demnach für Bonhoeffer ebenso wie für Kierkegaard Existenzbetroffenheit durch die Offenbarung oder das Gottesverhältnis, in welchem der Mensch die Wahrheit seiner Existenz, seines Menschseins, nicht: erkennt, sondern erfährt438. Außerhalb dessen kann es keine Wahrheit geben, sondern bloßes Reflektieren oder Spekulieren ohne Bedeutung für die konkrete, sich immer nur handelnd verwirklichende Existenz. Es ist daher auch nicht allein dem Genre des Buches geschuldet, dass hier immer wieder vom Tun die Rede ist, vielmehr liegt der Grund dafür in der Sache selbst: wird Wissen oder Wahrheit als Existenzbetroffenheit verstanden, dann folgt daraus unmittelbar eine „Umgestaltung“439 der ganzen Existenz, ein „völlige[r] innere[r] Wandel[ ] der bisherigen Gestalt“440. Gegen den Anschein ist dies nun gerade nicht substantiell zu nehmen, etwa in dem Sinne, dass eine Umwandlung des Wesenskerns, der essentia, des Menschen stattfände, die ein für allemal aus dem alten Adam den neuen Menschen machte. Tatsächlich spielt der alte Substanzbegriff für Bonhoeffer überhaupt keine Rolle mehr; vielmehr ist hier die Einsicht Kierkegaards impliziert, wonach der Mensch sich selbst aufgegeben ist, als Existenz sich handelnd übernehmen und sein Menschsein immer neu 436

S.o. die Erläuterungen zu Kierkegaards Existenzbegriff. E 320. 438 Vgl. dazu DBW 12, 298 (Christologievorlesung): „Wahrheit ist […] etwas, was zwischen zweien geschieht und was nicht ewig in sich ruht.“ 439 Vgl. E 323, wo Bonhoeffer Röm 12,2 zitiert, um die Bedeutung der Offenbarung für die konkrete Existenz des Einzelnen zu erläutern. 440 E 324. 437

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verwirklichen und bewähren muss. Denn als konkret, zeitlich Existierender ist der Einzelne immer zum Handeln, und das heißt zur Selbstbestimmung, gefordert: er steht immer in der Entscheidung441 und steht zugleich immer auch als entscheidendes Selbst mit der Handlung zur Disposition. Das neue Wissen ist darum nur als unmittelbar tätiges oder wirkendes denkbar, soll es wirklich Wahrheit, d. h. Wahrheit für sein: Existentielle Betroffenheit durch die Wahrheit ist Handeln, „das Wissen Jesu und der Seinen besteht nur im Tun“442. Wie Kierkegaard vertritt Bonhoeffer demnach eine Anthropologie, die an die Stelle eines substantiellen oder idealen Begriffs vom Menschen443 dessen existentielle Bezogenheit auf seinen Ursprung setzt. Die Beziehung des Menschen auf Gott, das Gottesverhältnis, ist dasjenige, was das Menschsein begründet; entscheidend dabei ist, dass dies nicht abstrakt-allgemein, sondern immer nur konkret gedacht werden kann, nämlich als personales Verhältnis zwischen dem existierenden, endlichen Menschen und dessen Grund, dem personhaft gedachten Gott444. Der Mensch wird allein durch dieses Verhältnis bestimmt und zwar derart, dass er sich von daher und daraufhin selbst bestimmt. Sein Menschsein oder Selbst wird demnach nur dann existierend verwirklicht, wenn es in der ständigen Relation auf seinen Grund geschieht. Umgekehrt muss man folgern, dass der reflektierende und darin sich auf sich selbst gründen wollende Mensch nicht Existenz in diesem strengen Sinne ist und daher sein Menschsein verfehlt. Denn wenn das Gottesverhältnis über das Menschsein entscheidet, kann es „keine Übergänge oder Stufen, sondern nur das Eine oder das andere“ geben445, den wirklichen oder den verfehlten, den auf Gott bezogenen oder den selbstbezogenen Menschen. Dass Bonhoeffer diesen gerade zitierten Satz von der Unmöglichkeit eines gestuften oder gar gleitenden Übergangs vom Sünder- zum Christsein wahrscheinlich in erster Linie gegen Hegel gerichtet formuliert hat, legt sich aus verschiedenen Gründen nahe. Die Kontraposition Bonhoeffers zu Hegel ist an dieser Stelle unübersehbar, insofern das System des Letzteren ja gerade auf der dialektischen Entwicklung des Geistes beruht, in welcher der Sündenfall ein notwendiges und zugleich vorläufiges Stadium darstellt446. Bonhoeffer befindet sich aber gerade hier in einer besonderen Nähe zu Kierkegaard, der in ganz ähnlicher Weise gegen Hegel gerichtet auf der vollständig verschiedenen

441

Vgl. etwa E 327. E 319. 443 Für Bonhoeffer notwendig abstrakte und damit unwahre Begriffe vom Menschsein. 444 Hier zeigt sich besonders, dass Bonhoeffers Theologie von der Christologie aus konzipiert ist. 445 E 321. 446 Vgl. A.II.4.b. 442

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Qualität des Sünderseins einerseits und des Christseins andererseits beharrt447 und damit sein Interesse an der konkreten Existenz in ihrer geschichtlichen Zufälligkeit und Bestimmtheit, dem ‚Einzelnen‘, mit dem an der Unableitbarkeit der Offenbarung verbindet448. Diese Betonung der Alternativität anstelle von Entwicklungsstufen oder dialektischen Übergängen zwischen Christund Sündersein, die sich sowohl bei Kierkegaard als auch bei Bonhoeffer findet, ist die unmittelbare Folge dieses neuen Denkansatzes: etwas drittes zwischen einem existentiellen Verhältnis zur Wahrheit und einem objektiven (intellektuellen) Verhältnis zu einer allgemeinen, d. h. hier: nur scheinbaren Wahrheit kann nicht gedacht werden. Zu einem früheren Zeitpunkt hat Bonhoeffer dies mit einer sehr deutlichen und zugleich eingängigen Formulierung zusammengefasst, deren Terminologie, nicht aber deren Sachgehalt zur Zeit der Ethik verändert worden ist: „Existenz ist wirklich betroffen oder wirklich nicht betroffen, und zwar als konkrete geistleibliche Ganzheit an der ‚Grenze‘, die nicht mehr durch den Menschen hindurchgeht oder von ihm selbst gezogen ist, sondern die Christus selbst ist.“449

Die von der Offenbarung betroffene, d. h. mit ihrem Grund (wieder) ins Verhältnis gesetzte Existenz ist in jeder Hinsicht inkommensurabel mit der unbetroffenen, im bloßen Reflektieren verharrenden, unwahren Existenz, denn „[d]er Mensch kann nicht zugleich in der Versöhnung und in der Entzweiung, in der Freiheit und unter dem Gesetz, in der Einfalt und in der Zwiespältigkeit leben.“450 Hieran wird noch einmal deutlich, dass der von Bonhoeffer mehrfach gebrauchte biblische Begriff des Umgewandelt- oder Umgestaltetwer-

447 Vgl. dazu EC 12 ff.; BA 10 f.27 ff. An diesen Stellen setzt sich Kierkegaard jedesmal, oft polemisch, gegen Hegel ab, vgl. etwa BA 10 f., wo die Unableitbarkeit („Transzendenz“) der Sünde oder des Bösen gegen Hegel behauptet wird: „Verläßt man die Logik [sc. Hegels] um sich der Ethik zuzuwenden, so trifft man hier wiederum auf das in der ganzen Hegelischen Philosophie unermüdlich tätige Negative. Hier erfährt man zu seinem Erstaunen, daß das Negative das Böse ist. Nun ist die Verwirrung in vollem Gange; es gibt keine Grenze für die Geistreichigkeit […] Man sieht, wie unlogisch die Bewegungen in der Logik sein müssen, sintemal das Negative das Böse ist; wie unethisch sie in der Ethik sein müssen, sintemal das Böse das Negative ist. In der Logik ist das zuviel, in der Ethik zu wenig, nirgends paßt es, falls es beiderorts passen soll. Hat die Ethik keine andere Transzendenz, so ist sie wesentlich Logik, soll die Logik so viel Transzendenz haben, als schandehalber für die Ethik doch nötig ist, so ist sie keine Logik mehr.“ Vgl. außerdem seine Kritik an Hegels Deutung des Unschuldszustand aus Gen 3 als (logische) Unmittelbarkeit aaO. 32 f. 448 Vgl. dazu Schulz, Kierkegaard, 63. 449 AS 75 f. Vgl. den inhaltlich sehr ähnlichen Satz E 339: „Liebe [sc. Gottes] bedeutet das Erleiden der Umwandlung der gesamten Existenz durch Gott […]“ und AS 113: „Existenz ist als pati bestimmt, d. h. von Existenz kann ‚eigentlich‘ erst geredet werden als von getroffener Existenz. Jeder Existenzbegriff, der nicht vom Getroffen- oder Nichtgetroffensein durch Christus aus gebildet ist, ist ‚uneigentlich‘ […]“. 450 E 320.

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dens451 von ihm auf dem Hintergrund des existenzphilosophischen Denkens tatsächlich ganz streng verstanden wird als eine fundamentale Veränderung des konkreten menschlichen Daseins. Deshalb auch liegt das Gewicht seines theologischen Denkens und Arbeitens schon seit der Nachfolge auf der Frage, wie sich das existentiell gedachte Gottesverhältnis manifestiert, auf der Frage nach der Heiligung also, worin Bonhoeffer wiederum Kierkegaard sehr nahe steht, dessen Kritik der spekulativen, von Hegel beeinflussten Theologie gerade bei der diesem unterstellten452 Diskrepanz zwischen Wissen und Sein (oder Tun) ansetzt und daran den neuen Wahrheitsbegriff expliziert: „Das Christentum ist das Unbedingte, hat nur ein Sein, das unbedingte Sein; ist es nicht unbedingt, so ist es abgeschafft; im Verhältnis zum Christentum gilt unbedingt: entweder – oder […]. Der Unterschied bleibt […], nämlich zwischen: ‚das sein oder zu sein streben, was man bewundert‘ – und ‚sich für seine Person aus dem Spiel halten‘.“453

Darum ist für Bonhoeffer auch die Rede von einer „neue[n] Gestalt“454 des versöhnten Menschen nicht nur nicht problematisch, sondern sogar geboten – obwohl diese Metapher durchaus missverständlich ist, weil sie zunächst an eine einmalige, vielleicht sogar im klassischen Sinne substantielle Umwandlung bzw. Transformation denken lassen könnte. Intendiert ist demgegenüber offenbar aber auch mit dieser Metapher wieder die Betonung des fundamentalen Unterschieds zwischen diesen beiden Verhältnissen des Menschen zur Wahrheit. Denn die ‚neue Gestalt‘ wird von Bonhoeffer mit den Kategorien der Existenzphilosophie prinzipiell dynamisch, von ihrer Relation zu Gott resp. Jesus Christus als je neu konstituiert und sich handelnd bewährend 451 Bonhoeffer zitiert mehrfach, z. T. in Übersetzung, den Röm 12,2 gebrauchten Begriff ĖďĞċĖęěĠęȘĝĞċē Vgl. etwa E 323 f. 452 Hegel selbst würde für seinen Ansatz natürlich eine solche Diskrepanz bestreiten, da ihm das Wirkliche ja das Vernünftige ist, vernünftige Erkenntnis also keineswegs nicht wirklich ist, sondern sogar das allein im emphatischen Sinne wirkliche Tun aus sich heraussetzt. 453 EC 219.244, vgl. auch aaO. 76 f.122 ff. Bereits DBW 10, 302 f. (Jesus Christus und vom Wesen des Christentums) formuliert Bonhoeffer diese seine Position in nicht zu überhörender Anlehnung an Kierkegaard: „Eins aber ist klar, daß wir Christus nur verstehen, wenn wir uns zu ihm in einem schroffen Entweder – Oder entscheiden [!] […] Wollen wir ihn haben, dann beansprucht er Entscheidendes über unser ganzes Leben zu sagen […] in dem Anspruch, den er an uns in seiner Frage stellt: Willst du ganz oder willst du nicht? […]“. 454 E 325 u. ö. Der Gestaltbegriff ist zweifellos von dem im unmittelbaren Kontext mehrfach verwendeten ĖďĞċĖęěĠęȘĝĞċē (umgewandelt, umgestaltet werden) bzw. „Metamorphose“ abgeleitet. „Gleichgestaltung“ oder „Metamorphose“ (ebd.) haben bei Bonhoeffer den eigentlich geläufigeren der Ebenbildlichkeit Christi ersetzt. Dies fällt besonders auf, da es II Kor 3,18 heißt, dass ĞƭėċƉĞƭėďŭĔƲėċ[scõğěưęğ]ĖďĞċĖęěĠęƴĖďĒċ, die Umgestaltung ihr Ziel also in dem Bildsein hat. Hier taucht dagegen überdurchschnittlich oft der Gestaltbegriff auf und bildet sogar den Leitbegriff eines ganzen Ethik-Kapitels („Ethik als Gestaltung“), während von der Ebenbildlichkeit nur am Anfang des Kapitels bei der Interpretation von Gen 3 und einmal in gleicher Verwendung E 288, also mit Bezug auf die Schöpfung, die Rede ist. Möglicherweise liegt ein Grund dafür darin, dass in ‚Gleichgestaltung‘ einerseits der dynamische Aspekt betont und andererseits zugleich die Passivität des Geschehens mitgesetzt ist, was bei der Metapher des ‚Ebenbilds‘ beides nicht der Fall ist.

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gedacht; sie ist „etwas lebendiges […] nicht etwas ein für allemal Gegebenes, Feststehendes, Inbesitzgenommenes“455. Insofern sie aber eine neue Existenzweise des Menschen anzeigt, betrifft sie durchaus sein Sein: sie bezeichnet das Nachfolger-Sein des zur Versöhnung erwählten Menschen, das immer nur konkret gelebt werden kann456: „Um Christus wissend erkennt und anerkennt er [sc. der versöhnte Mensch]457 […] die ihm geltende Erwählung Gottes, steht er selbst nicht mehr […] in der Entzweiung, sondern als der Erwählte, der garnicht mehr wählen kann, sondern schon gewählt hat, indem er erwählt ist, in der Freiheit und Einheit des Tuns des Willens Gottes […] Es ist die Gestalt des Kindes Gottes, das in der Einheit mit dem Willen des Vaters lebt in der Gleichgestalt des einen wahren Sohnes Gottes.“458

Als Nachfolger entspricht der Mensch also seiner Erwählung, existiert er wirklich als Mensch in der Bezogenheit auf seinen Ursprung. Das existentielle Betroffenwerden von der Offenbarung, die hierin begründete Relationalität zwischen Gott und Mensch und Nachfolge als wiederum in der Relationalität begründete neue Existenz des Menschen können darum nicht sinnvoll voneinander getrennt und lediglich zur Beschreibung unterschiedlicher Aspekte eines und desselben Sachverhalts verwendet werden: Die von Jesus Christus konstituierte existentielle Beziehung ist bereits die Nachfolge, die sich einerseits immer nur als konkret-geschichtliches Existieren (oder: Tun) im Bezug auf Jesus Christus verwirklicht, andererseits aber auch immer wieder neu konstituiert werden muß, weil es sich um ein noch nicht endgültiges Geschehen handelt, dessen Vollendung noch aussteht. An anderer Stelle hat Bonhoeffer für dieses ‚eigentliche Existieren‘459 die durch Barths Verwendung prominent gewordene Formel der analogia relationis geprägt460; gemeint ist auch dort schon das personale Verbundensein des Menschen mit Gott resp. Jesus Christus, von dem her die gesamte Existenz bestimmt wird, so dass das Erwähltsein des Menschen durch Gott, die Prädestination, allein in dem Leben aus der Bezogenheit auf Gott liegt461. Von hier aus ist auch Bonhoeffers Formel von der Einheit von Glaube und Gehorsam aus der Nachfolge zu interpretieren462; wird Glaube verstanden 455

E 325. Vgl. E 322. 457 Bei Bonhoeffer steht bezeichnenderweise „der Mensch“. 458 E 319.325. Vgl. dazu EC 177 ff.228 ff. 459 Vgl. AS 113. 460 SF 61. S. das o. A.II.2.b zu der Abgrenzung dieser Deutung von Gen 1,26 f. von der platonisch-neuplatonisch beeinflussten klassischen Interpretation Gesagte. 461 Vgl. zu Bonhoeffers Auffassung von der Prädestination ausführlich o. A.II.2.b. 462 Vgl. N 52: „Nur der Glaubende ist gehorsam, und nur der Gehorsame glaubt […] Um der Rechtfertigung willen müssen ja Glaube und Gehorsam [sc. begrifflich] getrennt werden, aber die Trennung darf niemals die Einheit beider aufheben, die darin liegt, daß Glaube nur im Gehorsam existiert, niemals ohne Gehorsam ist, daß Glaube nur in der Tat des Gehorsams Glaube ist.“ 456

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als existentielle Bezogenheit und die Existenz selbst als sich stets neu verwirklichende, so folgt daraus notwendig, dass beides nicht voneinander getrennt werden kann, dass dem Ruf Christi „ohne jede weitere Vermittlung […] die gehorsame Tat des Gerufenen“ folgt463: „Nachfolge ist Bindung an Christus“464. Es ist darum ein schweres Missverständnis, Bonhoeffer hier eine versteckte, vielleicht von ihm selbst sogar unbemerkte Werkgerechtigkeit zu unterstellen, wie es verschiedentlich geschieht. Vielmehr wird von ihm umgekehrt vorausgesetzt, dass das Tun, die Nachfolge, unmittelbar aus der Begegnung mit der Gnade entsteht, also gerade das Gegenteil menschlicher Selbstrechtfertigung ist, und stattdessen gewissermaßen die Wirklichkeit der Gnade in der konkreten menschlichen Existenz darstellt. Vom Existenzbegriff Kierkegaards ausgehend kann Bonhoeffer darum formulieren, dass erst der von der Gnade betroffene Mensch wirklich, „im strengen Sinne“ existiert und darin „zum Einzelnen“ wird465. Damit wird von Bonhoeffer der traditionelle Wahrheits- und Erkenntnisbegriff abgewiesen und an dessen Stelle die Einheit von Wahrheit und Existenz, d. h. Glauben und Tun gesetzt; Glauben ist demnach ein Geschehen, das streng subjektiv – nicht subjektivistisch! – zu verstehen ist als direkte und unmittelbare Veränderung oder besser: Neukonstitution der Existenz466, d. h. des geschichtlich-konkreten Lebens des Einzelnen. Oder mit Kierkegaards Worten: „[…] das Christentum ist eine Existenz-Mitteilung und kann nur dargestellt werden  –  dadurch daß man existiert.“467 Die umgestaltete Existenz, das Nachfolger-Sein, zeichnet sich durch das unvermittelte Verhältnis zu Jesus Christus aus, das selbst alle übrigen Verhältnisse, also das Selbstverhältnis, das Weltverhältnis, sowie das Verhältnis zum Mitmenschen vermittelt468. Als existentielles Verhältnis stellt es gerade 463

N 45. N 47. 465 N 46.87 ff. Vgl. für Kierkegaards Insistieren auf dem „Einzelnen“ Löwith, Hegel, 125 ff.164 ff.341 ff.; UN I, 118 ff. („Das Subjektivwerden“); EK Nr. 17.31 (Berufung auf Luthers pro me) u. ö. 466 N 50 nennt Bonhoeffer den Ruf in die Nachfolge, das Betroffenwerden durch die Gnade, die „Neuschöpfung der Existenz“. 467 EK Nr. 54. Bonhoeffer hat diese Textsammlung nachweislich für seine Arbeit an der Nachfolge benutzt, vgl. N 319; vgl. auch EK Nr. 148, wo Bonhoeffer in seinem Exemplar Kierkegaards Bestimmung des wesentlichen Elements des Kirchenbegriffs mit zwei Strichen und Ausrufezeichen am Rand markiert hat: „die Gemeinschaft der Heiligen, worin die Bestimmung in Richtung auf das Existentielle liegt“. Vgl. zu Bonhoeffers KierkegaardRezeption in der Nachfolge ausführlicher Barth, Nachfolge, passim. 468 Vgl. dazu E 319: „Nicht mehr um Gut und Böse, sondern um Christus als Ursprung und Versöhnung wissend, wird der Mensch alles wissen […]. Er steht damit in einem neuen Wissen, in dem das Wissen um Gut und Böse überwunden ist […]. Er weiß nur noch ‚Jesum Christum, den Gekreuzigten‘ (1 Kor 2,2) und in ihm weiß er alles […]. Wer Gott in seiner Offenbarung in Jesus Christus weiß, wer den Gekreuzigten und Auferstandenen weiß, der weiß alles, was im Himmel, auf Erden und unter der Erde ist.“; N 88 f.: „[Christus] steht 464

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keinen Maßstab dar, an welchem das Selbst nun wieder im Rückgang auf sein Erkenntnisvermögen seinen Weltumgang messen könnte, sondern vielmehr den Bezugsrahmen für alle übrigen, von daher ebenfalls als existentiell zu verstehenden Verhältnisse. Andernfalls handelte es sich ja um eine objektive, allgemeine Wahrheit eines allgemeinen Verhältnisses zwischen Gott und Mensch, z. B. im Sinne Hegels, wonach zwischen Unendlichem und Endlichem eine in sich differenzierte Identität besteht, von welcher aus die Entwicklung des Geistes ihr Ziel erhält. Stattdessen geht es Bonhoeffer aber ebenso wie Kierkegaard um das unvertretbare Tun des Einzelnen, das unmittelbare Folge seines Gottesverhältnisses ist und gleichzeitig von ihm als handelndem Subjekt nicht abgelöst werden kann, da „eine Erkenntnis [sc. des geforderten Tuns als Nachfolge Christi] nicht getrennt werden kann von der Existenz, in der sie gewonnen ist“469. Das neue Wissen ist also in dem Sinne ‚einfältiges Wissen‘, dass es vom Subjekt unmittelbar übernommen und dadurch ins Tun umgesetzt wird – wobei dieses Tun sich durchaus sehr verschieden darstellen kann und keineswegs blinden Aktivismus oder dergleichen meint; entscheidend ist nicht die bloße, äußerliche Form des Handelns, sondern das Verhältnis des Subjekts zum Handeln, d. h. ob es wesentlich von der Bindung an Jesus Christus bestimmt wird. Dies gilt übrigens ganz analog für den alternativen Begriff des Hörens, der von Bonhoeffer teilweise anstelle von dem des einfältigen Wissens verwendet wird470: als existentielles Hören ist es untrennbar vom Tun, kann sogar unmittelbar das geforderte Tun sein, ist jedenfalls aber immer unverzichtbarer Teil des existentiellen Aktes, in welchem der Einzelne einfältig, d. h. nicht selbstreflexiv, auf Gott bezogen ist. Was bei Bonhoeffer Einfalt genannt wird, heißt bei Kierkegaard meist ‚Innerlichkeit‘, wird aber auch von diesem manchmal mit ‚einfältig‘ umnicht nur zwischen mir und Gott, sondern er steht eben damit auch in der Mitte zwischen mir und der Welt, zwischen mir und den anderen Menschen und Dingen. Er ist der Mittler, nicht nur zwischen Gott und Mensch, sondern auch zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mensch und Wirklichkeit. Weil alle Welt durch ihn und zu ihm geschaffen ist (Joh 1,3; 1. Kor 8,6; Hebr. 1,2), darum ist er der einzige Mittler in der Welt. Es gibt seit Christus kein unmittelbares Verhältnis des Menschen mehr, weder zu Gott noch zur Welt; Christus will der Mittler sein.“ 469 N 38. 470 E 331–334. Bonhoeffer mag dieses Verb gewählt haben, weil es einerseits ein wichtiges biblisches Wort zur Beschreibung des Gottesverhältnisses ist  –  und zwar bereits im Alten Testament (Dtn 6,4 f.) –, vielleicht auch wegen der Gegenüberstellung von Hören und Tun in dem von ihm so geschätzten Jakobusbrief (Jak 1,22.25), was eine Erklärung dessen erforderlich machte, indem zwei Weisen des Hörens, analog zum entzweiten und einfältigen Wissen, unterschieden werden. Ein weiterer Grund dürfte aber auch die Tatsache sein, dass im ‚Hören‘ einerseits die Dynamik, das Akthafte, der Relationalität zwischen Gott und Mensch und andererseits der Außenbezug besser ausgedrückt ist als im ‚Wissen‘: das Gehörte (und Getane) hat seine Ursache gerade nicht im Menschen selbst, sondern kommt von außen auf ihn zu und wird ‚hörend‘ empfangen. Zuletzt dürfte auch noch der etymologische Zusammenhang von Hören und Gehorchen bzw. Gehorsam eine Rolle gespielt haben.

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schrieben471, so dass zweifellos der gleiche Sachverhalt, die existentielle Bestimmtheit des Subjekts und seines Handelns durch die Wahrheit, gemeint ist. Vermutlich ist sogar Bonhoeffers emphatische Verwendung dieses Begriffs neben den biblischen Einflüssen auch auf Kierkegaard zurückzuführen, denn auch dieser setzt einige Male den „Einfältigen“ direkt in Opposition zu dem „Spekulanten“, der natürlich ein Vertreter von Hegels Philosophie ist472. Wenn auch Kierkegaards Innerlichkeit möglicherweise besser verdeutlicht, was hier gemeint ist, dürfte Bonhoeffers Nachdruck auf dem Begriff ‚Einfalt‘ darin seine Veranlassung und sein Recht haben, dass die Abgrenzung gegen seinen Begriff für den Sündenfall, die Entzweiung, direkt mitgesetzt ist. Wenn er aber formuliert, dass das einfältige Tun nur „das Eine, das Wirkliche, der Wille Gottes sei“473, das entzweite Tun dagegen das Abwägen und Wählen von Möglichkeiten, so steht dahinter nicht eine Kritik an einem umsichtigen und verantwortlichen Weltumgang des Menschen, sondern an dem vorausgesetzten Verhältnis zur Wahrheit. Denn die Handlungsmöglichkeiten werden hier als Gegenstand eines sittlichen Urteilsakt aufgefasst, weshalb sie gar nicht erst existentielle Bedeutung gewinnen können. Der reflektierende Mensch kann demzufolge auch nicht als handelnd im von Bonhoeffer vorausgesetzten Sinn verstanden werden; anstelle der Einheit von Wissen und Tun findet sich bei ihm immer ein dem Handeln logisch und zeitlich vorgängiges, den Maßstab von Gut und Böse gebrauchendes Urteilen: „Der Richtende kommt nie zum Tun […] Das Tun des Pharisäers ist nur eine bestimmte Ausdrucksweise seines Wissens um Gut und Böse und also seiner Entzweiung mit den anderen Menschen und mit sich selbst […] In diesem Sinne also, der in der entzweiten Existenz begründet ist, – nicht im Sinne bewußter Böswilligkeit – ist das Tun des Pharisäers, das heißt des Menschen, der das Wissen um Gut und Böse bis ins Letzte [!] verwirklicht, Scheintun, Heuchelei […] ihr [sc. der Pharisäer] Tun ist kein echtes Tun“474.

471 S. z. B. BA 143 f.; EC 68.165.219 u. ö.; UN I, 214 ff.; EK 180–183 u. ö. (Ebenso in den von Bonhoeffer verwendeten Übersetzungen, vgl. das Literaturverzeichnis). 472 UN I, 214 f.: „Das Christentum in der Art, wie es von Spekulanten verstanden wird, ist ja etwas anderes als die Art, wie es den Einfältigen vorgetragen wird. Für diese ist es das Paradox [sc. der Menschwerdung Gottes]; der Spekulant aber versteht das Paradox aufzuheben.“ Und zwar indem Christus als Paradigma für das allgemeine Verhältnis von Unendlichem und Endlichem verstanden wird. Ähnlich aaO. 218 f.: „Wenn der Spekulant das Paradox so erklärt, daß er es aufhebt […], daß also das Paradox nicht das wesentliche Verhältnis der ewigen wesentlichen Wahrheit zu einem Existierenden im äußersten Punkt seiner Existenz ist, sondern nur ein zufälliges Relations-Verhältnis zu den beschränkten Köpfen: so besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Spekulanten und dem Einfältigen […] Der einfältige Weise [!] wird sich […] darein vertiefen, das Paradox als Paradox zu erfassen und sich nicht darauf einlassen, das Paradox zu erklären […]“. Das Erfassen geschieht in der Innerlichkeit des Glaubens. 473 E 320. 474 E 316 f.

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Spätestens an dieser neuen Opposition von wahrem Tun und Scheintun dürfte vollends deutlich werden, dass es Bonhoeffer hier tatsächlich nicht um äußerlich beschreibbare Handlungsformen, sondern um die das Handeln bestimmende Innerlichkeit oder Einfalt geht475. Denn nach äußeren Kriterien, so gesteht auch Bonhoeffer zu, ist es nicht nur unmöglich zu bestreiten, dass der Pharisäer handelt, es ist zudem unmöglich zu bestreiten, dass er tugendhaft oder sittlich gut handelt476. Aber, so könnte man hier ohne Weiteres mit Kierkegaard im Sinne Bonhoeffers einwenden: das Gegenteil von Sünde ist nicht Tugend, sondern Glaube477; deshalb „kann sich [der Pharisäer] nur in seinen Tugenden und Untugenden, nicht aber in seinem Wesen, in seinem Abfall vom Ursprung erkennen“478, während vielmehr eben die Reflexion auf die Tugenden und Untugenden, auf das Gute und Böse, die Sünde ist. Dass das Gute für Bonhoeffer daher „jenseits von gut und böse“479 liegt, in einem im strengen Sinne alternativlosen, aus existentieller Betroffenheit unmittelbar entstehendem Handeln besteht, ist die notwendige Konsequenz aus seiner Konzeption des einfältigen Tuns. Das Gute ist so verstanden nicht etwas, das aus dem Kontrast zu seinem Gegenteil, dem Bösen480, hervorgeht, auch nicht etwas, das als seine Negation oder Privation das Böse notwendig mit sich führt, sondern etwas, das immer konkret, d. h. situationsgebunden und positiv, als direkt ergehende Weisung481 zu verstehen ist. Das einfältige 475 In ähnlicher Weise werden das geschäftige (Schein-)Tun der Martha und das scheinbar müßige Hören das Maria aus Lk 10, 38–42 von Bonhoeffer einander gegenüber gestellt (E 333 f.). Marias Zuhören, so interpretiert Bonhoeffer, ist ein existentielles Sich-Ausrichten auf Jesus, wohingegen Marthas Geschäftigkeit auf ihrem eigenen Urteil über das in der Situation Notwendige beruht. Gesetzt aber, das Hören auf Jesu Worte wäre gekennzeichnet von einer reflektierenden Distanz, die das Gehörte in allgemeine Wahrheiten oder ein sittliches Urteil anhand allgemeiner Maßstäbe umsetzte, müsste umgekehrt gelten, dass das Hören keinesfalls wirkliches Tun, also auch kein wirkliches Hören, sondern nur scheinbares Tun wäre (vgl. E 332). 476 Vgl. neben dem obigen Zitat auch o. A.II.3.c. 477 KT  81: „Dies aber ist oft genug übersehen worden, daß der Gegensatz zu Sünde keineswegs Tugend ist. Dies ist eine zum Teil heidnische Betrachtung, welche sich an einem bloß menschlichen Maßstabe genügen läßt, welche eben nicht weiß, was Sünde ist, daß nämlich alle Sünde vor Gott ist. Nein, der Gegensatz zu Sünde ist Glaube, wie es Röm 14,23 heißt: Was nicht aus dem Glauben gehet, das ist Sünde. Und dies ist eine der für das ganze Christentum entscheidendsten Bestimmungen, daß der Gegensatz zu Sünde nicht Tugend ist, sondern Glaube.“ 478 E 318. 479 Vgl. DBW 10, 327; SF 82.86 f. sowie o. A.II.3.c. 480 An ethische Adiaphora als etwas nicht-Gutes und zugleich nicht-Böses ist hier nicht gedacht. Bonhoeffer führt demgegenüber ja alles Urteilen und Handeln des gefallenen Menschen auf die normative Zweiheit von Gut und Böse zurück; das Erlaubte, das in der Pflichtethik kantischer Prägung sittlich irrelevant ist, rechnet Bonhoeffer vielmehr als das Gute (E 309), so dass tatsächlich alles Handeln von ihm auf die Grundunterscheidung von Gut und Böse zurückgeführt werden kann. Vgl. auch E 373.386 f. 481 Vgl. EC 166: das „du sollst“ – nicht im kantischen Sinne.

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Tun als das Gute zeichnet sich darum dadurch aus, dass es dem von Gott unmittelbar, hic et nunc482, geforderten Gebot unmittelbar entspricht, so dass Gebot und Gebotserfüllung letzlich eine untrennbare Einheit bilden; das an den Menschen ergehende Wort Gottes ist als existentielles Wort „wesentlich […] das ganz ins Tun Weisende“483, niemals aber objektive Wahrheit oder reflektierbares Wissen, das unabhängig von Person und Situation gewusst werden könnte484. „Weil [der Wille Gottes] […] kein von vornherein festliegendes System von Regeln ist, sondern in den verschiedenen Lebenslagen ein jeweils neuer und verschiedener ist […]485 Weil […] das Wissen um Jesus Christus, weil die Metamorphose, die Erneuerung […] etwas lebendiges ist und nicht etwas ein für allemal Gegebenes, Feststehendes, Inbesitzgenommenes […]“486,

‚gibt‘ es das Gute nur konkret, situativ und persönlich, nämlich als das sich immer wieder neu ereignende Erfüllen des als Anrede zu verstehenden Gebots487. Das unmittelbare Verhältnis zu Jesus Christus, in dem das Hören und Erfüllen des Gebots sich je neu vollzieht, setzt zugleich einen gegenüber dem Idealismus veränderten Freiheitsbegriff voraus. Freiheit wird nun von Bonhoeffer mit Kierkegaard relational verstanden488; an die Stelle einer durch den Autonomiebegriff definierten sittlichen Freiheit wird die allein durch die Bezogenheit auf ihren Ursprung ermöglichte Freiheit zu dem geforderten Tun gesetzt. Implikat dieses Freiheitsverständnisses ist der Gedanke, dass Freiheit und Menschsein zwar wesentlich zusammengehören, es aber im Unterschied zu idealistischen Freiheitskonzeptionen immer nur von außen von der „Grenze“489 her ermöglichte Freiheit zum wahren Menschsein ist. Mit Relationalität ist hier darum zweierlei ausgesagt: Einerseits die persönliche Beziehung oder Bezogenheit zwischen Mensch und Gott resp. Jesus Christus, andererseits die 482

Vgl. E 325: „heute und hier und in dieser Situation“. E 332. 484 Vgl. E 332: „Der Hörer des Wortes aber, der nicht zugleich sein Täter ist, verfällt damit notwendig dem Selbstbetrug. (Jac 1, 22) Indem er sich wissend im Besitze des Wortes Gottes glaubt, hat er es bereits wieder verloren, weil er meint, man könnte das Wort Gottes auch nur einen Augenblick anders haben als im Tun.“; E 333: „Eins ist not – nicht hören oder tun, sondern beides in einem, das heißt in der Einheit mit Jesus Christus sein und bleiben, auf ihn ausgerichtet sein, von ihm Wort und Tat empfangen […]“. 485 E 323. 486 E 325. 487 Vgl. dazu EC 225: „[…] was christlich das Entscheidende beim Predigtvortrag ist, das Persönliche, dies ‚Du und Ich‘, dies daß der Redende selber als Person in Bewegung ist, ein Strebender ist, und ebenso der Angeredete […] alles miteinander in Hinblick auf ein Streben, ein Leben […] der Predigtvortrag in unsrer Zeit hat zum ersten rein übersehen und zum andern es ganz vergessen gemacht, daß die christliche Wahrheit eigentlich nicht Gegenstand von ‚Betrachtung‘ sein kann.“ 488 Vgl. z. B. E 326: „Freiheit für […] das Wort Gottes“. Vgl. außerdem B.II.4.d. 489 SF 79 u.ö 483

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Abhängigkeit der menschlichen Freiheit von eben dieser sie ermöglichenden persönlichen Gottesbeziehung. Relatio ist hier also gleichzeitig als asymmetrisches Begründungsverhältnis zu verstehen und darin dem idealistischen Anspruch auf Absolutheit sensu stricto entgegengesetzt490. Damit ist aber das Zentrum idealistischer Philosophie getroffen; das einfältige Wissen in der kindlichen Gottbezogenheit stellt das genaue Gegenbild zu der von Hegel proklamierten sittlichen Freiheit dar. Wenn dieser fordert: „Die Natürlichkeit, das unmittelbare Herz ist das, dem entsagt werden muß, weil dieses Moment den Geist nicht frei sein läßt und er als natürlicher Geist nicht durch sich gesetzt ist […] diese Natürlichkeit ist nicht das, was sein soll, sondern was nicht sein soll, und alles, was der Mensch ist, ist in ihn, in seine Freiheit verlegt: er muß sich dazu machen. Sein Wesen muß ihm Gegenstand sein […]“491,

so insistiert Bonhoeffer dagegen auf der völligen Hingabe des Menschen an das Wort Gottes, die jedes selbstreflexive Wissen ausschaltet. Der versöhnte Mensch ist derjenige, „der garnicht mehr wählen kann“492; unterbleibt aber die Reflexion auf Gut und Böse, indem das gehörte Gebot unmittelbar ins Tun umgesetzt wird, so bleibt auch das Wissen um das eigene Gute aus, kann das eigene Tun und Sein also gerade nicht selbst bewertet werden: „Das Wissen um Jesus geht ohne jede Reflexion auf sich selbst gänzlich im Tun auf. Das eigene Gute bleibt dem Menschen nun verborgen.“493

Damit wendet sich Bonhoeffer direkt gegen Hegels Begriff einer in der vernünftigen Freiheit verankerten Sittlichkeit, die wesentlich als bewusste Selbstbestimmung des Menschen zum vernunftmäßigen Guten verstanden wird; der einfältige Mensch ist der Mensch, der ohne sittliche Freiheit oder Autonomie in der gebundenen Freiheit des „Kindes Gottes“ theonom existiert, des Kindes, „das in der Einheit mit dem Willen des Vaters lebt in der Gleichgestalt mit dem Sohn“494. Dass innerhalb der existentiellen Bezogenheit des Menschen auf seinen Grund, in der Einheit mit Christus, eine Selbstbeurteilung unmöglich ist, weil an deren Stelle die Nachfolge tritt, ist in dieser existenzphilosophisch beeinflussten Konzeption des einfältigen Wissens und Tuns der für Bonhoeffer entscheidende Aspekt495. Als Nach490

Vgl. E 319. RPh I, 277. Vgl. dazu HS 129. S. auch RPh III, 107: „Der Mensch soll aber nicht wie ein Kind, er soll in diesem Sinne nicht unschuldig sein; was er tut, daran soll er schuld sein.“ Bonhoeffer hat diesen Satz unter anderem mit zwei Ausrufezeichen markiert, vgl. HS 125. Vgl. dagegen die bereits zitierte Stelle N 106 f.: „Das reine Herz ist das einfältige Herz des Kindes, das nicht weiß um Gut und Böse, das Herz Adams vor dem Fall, das Herz, in dem nicht das Gewissen, sondern Jesu Wille herrscht.“ 492 E 319. 493 E 320. Ähnlich öfter im Abschnitt E 318–335. 494 E 325. 495 S. dazu die Erläuterungen zu Bonhoeffers unter Berufung auf Nietzsche erfolgende Kritik des moralischen Richtgeists (A.II.3.c). 491

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folgendem ist dem versöhnten Menschen jede Möglichkeit zur Selbstrechtfertigung genommen, weil ihm kein allgemeiner Maßstab zur Verfügung steht und weil damit das neue Wissen gemessen an dem reflexiven Wissen aufgrund eines sittlichen Urteilsakts letztlich Nichtwissen ist. Diese „Einfalt des Nichtwissens“ entsteht, „weil man im Tun ganz hingenommen nur auf Jesus Christus blickt“496 und sich daher jeglichen objektiven Messens des eigenen Handelns etwa an dem allgemein aufgefassten Gottesgesetz notwendig enthält497. Das Gesetz oder Gebot498 kennt der einfältig Wissende daher immer nur als persönliche Anrede, die zugleich Forderung und Ermöglichung ihrer Erfüllung ist499. Auch hierin steht Bonhoeffer Kierkegaard nahe, der selbst ausdrücklich diesen Gedanken formuliert. Das persönliche Gottesverhältnis wird auch von diesem als konkrete Forderung oder Gebot verstanden, als „Du sollst“, das gerade kein Zwang, sondern die Ermöglichung von Freiheit ist. Der Gegensatz ist hier ebenso der menschliche Versuch, sein Handeln verdienstlich aufzufassen, indem allgemeine Maßstäbe angelegt werden und entsprechend das eigene Urteil an die Stelle der Nachfolge tritt500. Gegen jeden Versuch, sich das Tun selbst zuzurechnen steht hier wie bei Bonhoeffer die Bindung an Christus, von dem her das Selbstsein, die Nachfolge als gehorsamer Glaube oder glaubender Gehorsam, allein ermöglicht wird. Bonhoeffer allerdings betont diesen Gedanken erheblich stärker als Kierkegaard dies tut, dessen systematisches Interesse mehr der Struktur der Selbstseins bzw. Existenz und deren Begründung im Gottesverhältnis, dessen theologisches Interesse aber vor allem dem Kampf gegen die billige Gnade gilt501. Dagegen läuft Bonhoeffers Argumentation auf die Betonung 496

E 327. Vgl. E 330: „Der Richtende versteht das Gesetz als Maßstab […] der Richtende stellt sich damit über das Gesetz […], er mißtraut ihm, daß es die lebendige Kraft des Wortes Gottes besitze, sich selbst durchzusetzen und Geltung zu verschaffen.“ 498 Bonhoeffer verwendet hier Gesetz doppelt; einerseits bedeutet es Gesetz im landläufigen Sinne, also auch im Sinne des usus civilis legis, andererseits ist es Synonym für Gebot, das seinerseits aber nur für den sogenannten tertius usus legis verwendet wird. Daher kann Gesetz sowohl für die allgemeine Wahrheit des Sünders als auch für die persönliche Anrede Gottes an den neuen Menschen stehen, wie E 330 f. zeigt. Zum Gesetzesbegriff s. ausführlicher C.III. 499 „Der ‚Täter des Gesetzes‘ – im Unterschied zum Richter – unterwirft sich dem Gesetz, niemals wird ihm das Gesetz zum Maßstab […] niemals begegnet ihm das Gesetz anders als daß es ihn persönlich zum Tun aufruft.“ 500 Vgl. EC  166: „[…] dabei ist das Wort ‚Du sollst‘ auch im allerschönsten Sinne an seinem rechten Platz. Das Wort ‚Du sollst‘ ist dabei nicht so sehr befehlend – denn wozu dem befehlen, der begeistert begehrt was der Befehl ihm befiehlt! – es ist heiligend und läuternd, auf daß in diesem Eifer keine Unbesonnenheit sei, keine eingebildete Übertriebenheit, kein verunreinigender Gedanke an irgendein Verdienst.“ Gedacht ist hier an selbstgewähltes Leiden, das als solches gerade das Gegenteil von Nachfolge ist, vgl. aaO. 292 f. 501 Im Begriff Angst und in der Krankheit zum Tode ist das systematische Interesse besonders deutlich erkennbar. Wird auch in den Einübung das Selbstsein thematisiert und als Nachfolgersein bzw. -werden, das das Thema der Einübung darstellt, interpretiert 497

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der reformatorisch verstandenen Passivität, auf die Nicht-Zurechenbarkeit des guten Handelns direkt zu; mit dem ‚Nichtwissen des eigenen Guten‘ wird diese Intention von ihm, vor dem Hintergrund seiner indirekt geführten, teils konstruktiven, teils sehr kritischen Auseinandersetzungen mit Hegel und Kierkegaard, auf einen knappen aber aussagekräftigen Begriff gebracht: denn im einfältigen Nichtwissen ist „dem Menschen jede Selbstrechtfertigung vor Gott, die auf dem eigenen Wissen um Gut und Böse begründet ist“, schon an der Wurzel abgeschnitten502. e) Prüfen In welcher Weise nun das Gebot Gottes von dem auf Jesus Christus ausgerichtet existierenden Menschen umgesetzt wird, ist bisher noch nicht vollständig erhellt worden. Von dem ausführlich dargelegten Anschluss Bonhoeffers an Kierkegaard her liegt zunächst die Vermutung nahe, dass hier ähnlich wie bei diesem die Nachfolge, das Hören und Tun, sich zwar in der Bindung an Jesus Christus vollzieht, dabei aber zugleich freie, situative Entscheidung des Einzelnen ist. Die Tat ist dann als existentieller Akt, als Sprung, zu verstehen, der durch keine allgemeinen normativen Alternativen vorbestimmt und daher aus nichts ableitbar ist, sondern immer nur entweder wirklich ist oder nicht ist503. Denn Kierkegaards Interesse gilt, nicht nur in seinen pseudonymen, (EC  152 f.), so geht es in jenen beiden Schriften zentral um das Selbstsein, die konkrete Subjektivität, deren Möglichkeit aber wiederum im Gottesverhältnis begründet wird. Demgegenüber wird die Sünde als der – notwendig scheiternde – Versucht des Menschen gedeutet, sein Selbstsein auf sich selbst zu gründen, sich also von dem, in Kierkegaards Sicht für das Selbstsein konstitutiven, Gottesverhältnis abzuschneiden. Hier besteht demnach eine ähnliche Opposition zum Idealismus, wie bei Bonhoeffer, aber mit einem besonderen Interesse an der Struktur der Subjektivität, welche bei Bonhoeffer gar nicht im Mittelpunkt steht, da es diesem vielmehr zentral um die praktischen Folgen des wahren und des verkehrten Menschseins geht. Vgl. zu Kierkegaards im Begriff Angst und der Krankheit zum Tode entwickelten Sündenbegriff Axt-Piscalar, Freiheit, 141–173.206–219, bes. 163 ff. Bei Kierkegaard sind das Gottes- bzw. Christusverhältnis und dessen Konsequenzen für den Einzelnen zwar Gegenstand der Einübung im Christentum, aber auch dort verbunden mit sehr grundsätzlichen Erwägungen zur Christologie und zum Wahrheits- und Existenzbegriff in Abgrenzung von einem gleichgültigen (billigen) Staatskirchenchristentums. Das Christwerden, so könnte man etwas simplifizierend zuspitzen, hat in der Einübung Priorität vor dem Christsein – ähnlich wie in Bonhoeffers Nachfolge, der gegenüber die Ethik einen Schritt weiter geht und die Nachfolge in ethischer Hinsicht konkretisiert. 502 E 329. Vgl. E 322. 503 Vgl. Liessmann, Kierkegaard, 97: Die psychologische Analyse im Begriff Angst „behauptet […], daß die entscheidenden Beweggründe des Handelns nicht begreiflich sind – weil es im strengen Sinn keine Gründe gibt, sondern das Handeln, die Tat, welcher moralischen Qualität auch immer, nur für sich selber stehen, auf nichts weiter zurückgeführt werden kann – zweifellos eine Antizipation des existentialistischen Tatbegriffs. Diese von Vigilius Haufniensis durchgeführte radikale Fassung eines Handlungsbegriffs, der aus keinem allgemeinen Prinzip mehr deduzierbar ist, erlaubt nicht nur die Einforderung einer strengen Verantwortlichkeit, sondern konstituiert überhaupt erst Individualität.“ Zwar ist richtig,

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sondern auch in seinen nicht-pseudonymen religiösen Schriften, immer auch der Frage nach dem Selbst, dessen Konstitution im Handeln zwar durch das Gottesverhältnis ermöglicht wird, dabei aber doch zugleich eigene freie, etwas qualitativ Neues setzende Tat ist und sein soll504. Bonhoeffer folgt hier Kierkegaard ein Stück weit, wenn er konstatiert, dass sich die personhafte Einheit des Einzelnen mit Christus, in welcher das Gebot ergeht, keineswegs „mechanisch“505 vollziehe, sondern „etwas lebendiges“506, sich immer wieder Ereignendes sei, das dementsprechend auch immer wieder die ganze Person herausfordert, ja den Menschen überhaupt erst zur Person, zum existierenden (handelnden) Subjekt, macht, indem sie ihn zum Tun erst befähigt. Dass das Tun aber auf der „wirklichen Entscheidung“507 des Einzelnen beruht, ist notwendige Voraussetzung, soll hier wirklich von einer lebendigen Einheit zwischen Christus und dem Menschen als Handlungssubjekt die Rede sein; andernfalls wäre der Mensch unmündiger Vollstrecker eines empfangenen Befehls und das Verhältnis zwischen Gott und Mensch kein freiheitliches, existentielles, sondern von einem unpersönlichen Automatismus oder übernatürlicher, gleichsam magischer Inspiration508 gekennzeichnet. Dem wirklichen Tun geht daher nichts voraus, es ist eine unvertretbare, in der konkreten Situation gefällte Entscheidung ohne allgemeingültige Norm, anhand welcher zwischen alternativen Handlungsmöglichkeiten, zwischen Gut und Böse, gewählt werden könnte. Deshalb fallen Wissen bzw. Hören, Entscheiden und Tun in eines zusammen,

dass Vigilius den Begriff des Einzelnen über den Begriff Sünde ableitet (ebd.), allerdings liegt trotzdem ein Missverständnis bei Liessmann vor, wenn er behauptet, dass hier Sünde und Freiheit zusammen-, die Freiheit im Glauben aber als aufgehoben gedacht würde (aaO. 97 f.). Denn Vigilius meint eben das Gegenteil: die Freiheit wird im existentiellen Sprung der ursprünglichen Subjektwerdung ebenso ursprünglich verspielt und erst im Glauben, im existentiellen Augenblick der Bezogenheit auf Christus, wieder erlangt. Insofern ist zwar der Einzelne nur als Sünder ein Individuum – die Sünde ist ja seine eigene Tat und das, was das Werden des Selbst nun überhaupt erst erfordert, in diesem Sinne also Geschichte begründet (vgl. BA 47) – nun aber als solcher nicht der wahrhaft existierende freie Einzelne, sondern der im Dämonischen gefangene, unfreie, sich ängstigende oder verzweifelte Mensch, von dem gilt, dass er nicht das Selbst sein will, das er in Wahrheit ist (KT 16). Vgl. auch Pieper, Kierkegaard, 107: „Daß der Mensch verzweifelt sein kann, ist ein Indiz für sein geistiges Selbstseinkönnen, seine Freiheit, doch wenn er wirklich verzweifelt, hat er seine Freiheit verloren.“; 127. 504 EC 152 f.; KT 10 ff.; BA 149: „Dies Selbstbewußtsein ist nicht Betrachtung […] sintemal er sieht, daß er selbst zu gleicher Zeit im Werden ist. Dies Selbstbewußtsein ist daher Handlung, und diese Handlung wiederum ist die Innerlichkeit […]“. Vgl. Pieper, Kierkegaard, 48–60. 505 E 328. 506 E 325. Vgl. z. B. EC 63.174. 507 E 327. 508 Dazu E 322 f.

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gibt es keinen „Aufenthalt“509, d. h. keine reflexive Distanz zwischen Wissen oder Hören, Wollen und Tun510. Dennoch wird hier kein strikter theologisch legitimierter Dezisionismus vertreten, dem der junge Bonhoeffer freilich noch sehr viel näher gestanden hat. Deutlicher Hinweis darauf ist zunächst das überraschende Fehlen des früher mit den Erwägungen zum Sündenbegriff und zum Sein und Handeln des versöhnten Menschen verbundenen plakativen Nietzsche-Zitats vom „Jenseits von Gut und Böse“511. Diese Wendung ist zu verstehen als unmissverständliche Anspielung auf Nietzsches Konzeption des Übermenschen, der unter Bestreitung ewiger Wahrheiten sich für sein Handeln nur auf seinen eigenen Willen zur Selbststeigerung beruft und sich selbst daher als spontan, völlig frei handelnd und darin wertsetzend erfährt512. Insofern ist Nietzsches Begriff des Handelns erheblich radikaler als derjenige Kierkegaards; denn er ist nicht nur in ähnlicher Weise existentialistisch aufgefasst als nicht kategorisierbare unvertretbare Tat des Einzelnen in der konkreten Situation, sondern zugleich auch als von jeder Bindung an ein Höheres, Begründendes oder Normierendes gelöst und damit als schöpferische Tat aufgefasst, in welcher der Handelnde sich selbst ursprünglich bestimmt513. Zweifellos hat der junge 509

E 316. E 332: „Nicht Denken und Wollen fielen beim Pharisäer auseinander, sondern eben Hören und Tun.“ Denken und Wollen gehören vielmehr auf die Seite des Hörens, bilden also gemeinsam den geistigen Aspekt, während das Tun für den praktisch-empirischen Aspekt ein und desselben Akts steht. Bonhoeffer vertritt ja eine ganzheitliche Anthropologie, wie bereits gezeigt werden konnte (s. o. A.II.4.c). Hier wird dies noch einmal besonders deutlich, während seine Kritik den traditionellen Konzeptionen gilt, in denen Denken, Wollen und Tun unterschieden bzw. das Wollen vom Denken abhängig gemacht, das Tun aber als bloße, d. h. sekundäre (oder: tertiäre) Umsetzung des Gedachten und Gewollten betrachtet wird. 511 S. etwa DBW 10, 327; SF 82.86 f. 512 Za III: „Von alten und neuen Tafeln“, KGW 6.1, 242–265, bes. 242 f.: „Alle dünkten sich lange schon zu wissen, was dem Menschen gut und böse sei […] Diese Schläferei störte ich auf, als ich lehrte: was gut und böse ist, das weiss noch Niemand: – es sei denn der Schaffende! – Das aber ist Der, welcher des Menschen Ziel schafft und der Erde ihren Sinn giebt und ihre Zukunft: Dieser erst schafft es, dass Etwas gut und böse sei.“ Des Menschen Ziel und der Sinn der Erde sind Ziel und Sinn des einzelnen schaffenden, darin übermenschlichen Menschen, dem sich die scheinbar ewigen Werte als menschliche Konstrukte („Sklavenmoral“) enthüllt haben. Nietzsches Interesse gilt wie das Kierkegaards dem Einzelnen, stärker noch als dieser polemisiert er gegen alles Gemeinschaftliche oder Kollektive, die „Heerde“ (vgl. etwa GM 2, KGW 6.2, 274, außerdem o. A.II.3.b). 513 FW  IV  335, KGW  5.2, 242 f.: „Wer noch urtheilt ‚so müsste in diesem Fall Jeder handeln‘, ist noch nicht fünf Schritt weit in der Selbsterkenntnis gegangen: sonst würde er wissen, dass es weder gleiche Handlungen giebt, noch geben kann, – dass jede Handlung, die gethan worden ist, auf eine ganz einzige und unwiederbringliche Art gethan wurde, und dass es ebenso mit jeder zukünftigen Handlung stehen wird […] dass jede Handlung, beim Hinblick oder Rückblick auf sie, eine undurchdringliche Sache ist und bleibt, – dass unsere Meinungen von ‚gut‘, ‚edel‘, ‚gross‘ durch unsere Handlungen nie bewiesen werden können, weil jede Handlung unerkennbar ist […] Beschränken wir uns also auf die […] Schöpfung neuer eigener Gütertafeln: – über den ‚moralischen Wert unserer Handlungen‘ aber wollen 510

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Bonhoeffer sich von diesem Handlungsbegriff inspirieren lassen für seine Konzeption des nicht um Gut und Böse wissenden unschuldigen resp. versöhnten Menschen; in dem Barcelona-Vortrag Grundfragen einer christlichen Ethik von 1929 beruft sich Bonhoeffer sogar ausdrücklich auf Nietzsches übermenschlichen Werteschöpfer, um das christliche Handeln jenseits von gut und böse zu charakterisieren514. Dass er damit in eine große Nähe zu einer dezisionistischen Ethik gelangt, die unter Verweis auf die existentielle nichtreflektierbare Bindung an Jesus Christus und unter gleichzeitiger Berufung auf den späten Nietzsche eigene Willkür rechtfertigen könnte, lässt sich nicht leicht bestreiten515. Es ist zu vermuten, dass Bonhoeffer selbst diese Gefahr im Laufe der Zeit bemerkt und zu umgehen versucht hat. Die früher für das christliche Handeln gebrauchte Wendung ‚Jenseits von Gut und Böse‘ taucht daher seit der Nachfolge, der Zeit, in welcher Nietzsche insgesamt eine ganz untergeordnete Rolle in seinem theologischen Denken spielt516, nicht mehr auf. Dort ist sie vielmehr bereits durch das in der Ethik dann zum Schlüsselbegriff gewordene „Nichtwissen um Gut und Böse“ bzw. „Nichtwissen um das eigene Gute“ ersetzt worden517. Diese Vermutung wird durch die weitere Beobachtung unterstützt, derzufolge in diesem Kapitel deutliche, offensichtlich positiv wertende, Anspielungen auf Nietzsches Konzeption zwar vorhanden sind, aber weitgehend auf Jesus Christus beschränkt werden, während die direkte Verbindungslinie vom Christsein zum Übermenschen nicht mehr gezogen wird. Ein reines schöpferische Wertsetzen wird demnach explizit nur von Jesus Christus ausgesagt, der mit Formulierungen Nietzsches als „Nihilist“, „der nur sein eigenes Gesetz kennt und achtet“ beschrieben wird518. Der wir nicht mehr grübeln!“. Der schöpferische Wille, der als Ausprägung des allgemeinen Willens zur Macht zu verstehen ist, zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass er keiner normativen Bestimmung unterliegt bzw. unterliegen soll, weil er bloßer Wille, ohne vorgegebenen Zweck sein soll. Dass Nietzsche hier gleichwohl Prämissen mit sich führt, die sich indirekt normierend auf das Konzept vom schöpferischen Willen auswirken, indem nämlich Stärke, Vornehmheit und Selbstbehauptung, sowie die Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen, als Interpretamente dafür auftauchen, ist sicher nicht zu bestreiten; dennoch wird hier in vorher ungekannter Weise das Handeln des Einzelnen als schöpferisches Sichhervorbringen in der Freiheit von allgemeinen Normen und ohne ein Verhältnis, sei es ein denkend-intellektuelles, sei es ein persönlich-existentielles, zum Ewigen gedeutet. Vgl. dazu Safranski, Nietzsche, 289 ff.; Müller-Lauter, Lehre, passim. 514 Vgl. DBW  10,  227.331 f. Gleichzeitig ist hier auch eine etwas unspezifische Bezugnahme auf Kierkegaard zu erkennen, wenn nämlich Bonhoeffer ebd. fortfährt, dass in der ethischen Entscheidung der Mensch einsam vor dem lebendigen Gott stehe; Denn „[i]n dem Bewußtsein von Gott angerufen, in Anspruch genommen zu sein, erwacht erst unser ‚Ich‘. Erst durch den Ruf Gottes werde ich ‚Ich‘, isoliert von allen anderen […] mich allein wissend der Ewigkeit gegenüber […] darum kann nur ich für mich persönlich wissen, was gut und was böse ist.“ S. auch aaO. 333 f. 515 Vgl. Köster, Antipode, 384 f. 516 S. o. den Abschnitt über Bonhoeffers Nietzsche-Rezeption A.II.3.a. 517 N 106 f.155 f. u. ö. 518 E 315.

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Glaubende ist jedoch in das wertschöpfende Handeln Christi einbezogen, und zwar über seine Bezogenheit auf Jesus Christus, die von Bonhoeffer im Folgenden ja auch als Gleichgestaltung bezeichnet wird. Insbesondere der letztere Begriff hebt aber zugleich hervor, dass hier der wesentliche Unterschied zwischen Urbild und Abbild, zwischen Grund und Begründetem bestehen bleibt. Wenn demnach auch dem Nachfolger in seinem Tun ein schöpferisches Element zugestanden sein dürfte519, so dominiert dennoch unverkennbar das Element der persönlichen Bindung an Christus, von dem der Wille Gottes, das Gebot empfangen wird: „Nicht aus dem Wissen um Gut und Böse, sondern aus dem Willen Gottes lebt und handelt er [sc. Jesus Christus und mit ihm „die Seinen“]. Es gibt nur einen Willen Gottes. In ihm ist der Ursprung wiedergewonnen, in ihm ist Freiheit und Einfalt alles Tuns begründet.“520

Auch im weiteren Verlaufe des Textes wird diese Bindung an Christus und darin an den Willen Gottes immer wieder eingeschärft. Der neue Mensch ist hier nicht das Kind im Sinne Nietzsches, also nicht der Mensch, der nirgendwo seine Grenze hat und sich selbst der Maßstab ist521. Die Gefahr eines übersteigerten Dezisionismus ist damit etwas zurückgedrängt; das Tun des Nachfolgers ist freies Handeln in der konkreten Situation, darin aber zugleich bezogen auf seinen Ermöglichungsgrund und insofern keineswegs absolutes, allein in sich selbst begründetes Wertsetzen wie bei Nietzsches Übermenschen. Im Vergleich mit früheren ähnlichen Aussagen, besonders in dem Barcelona-Vortrag Grundfragen der Ethik, der zweifellos eine  –  noch nicht so durchreflektierte – Vorstufe zu diesem Kapitel darstellt522, fällt hier zudem die Dominanz des Ausdrucks „Wille Gottes“ auf523; auch dies ist ein deutliches Indiz für eine implizite Selbstkorrektur Bonhoeffers. Demnach ist, so lässt sich fürs Erste folgern, in den teilweise an Nietzsche, teilweise an Kierkegaard angelehnten Formulierungen offenbar eine persönliche, situative 519 Vgl. E  315, wo von Jesus und „den Seinen“ die Rede ist. Deutlicher ist dies E  288 formuliert, wo allerdings diese schöpferische Freiheit in ein dialektisches Verhältnis zum „blinden“ Gehorsam des Christen gesetzt wird. S. dazu u. B.II.4.d. 520 E 315. 521 Vgl. Za I: „Von den drei Verwandlungen“, KGW 6.1, 25–27, bes. 27: „Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen. Ja, zum Spiele des Schaffens, meine Brüder, bedarf es eines heiligen Ja-sagens: seinen Willen will nun der Geist, seine Welt gewinnt sich der Weltverlorene.“. Ob Bonhoeffers Faszination für das Kind auch von diesem Gleichnis des Zarathustra beeinflusst ist, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, vgl. dazu Reuter, Nachwort, 179; Köster, Antipode, 377. 522 Köster, Antipode, 390 f. 523 E  320 ff. kommt zahlreiche Male diese Wendung vor; teilweise stehen synonym mit ihr auch „Wort Gottes“, „Gesetz“ oder „Gebot“. In dem genannten Barcelona-Vortrag dagegen werden diese Ausdrücke zwar verwendet, aber mit deutlich größerer Zurückhaltung, vgl. DBW 10, 328 ff.

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und darin in gewissem Sinne schöpferische Aneignung des Willens Gottes, des konkreten Gebots, durch das handelnde Subjekt intendiert, die unmittelbar aus der konkreten Anrede Christi entsteht; damit ist eine strenge Verallgemeinbarkeit des Handelns im Sinne der polemischen Formulierung Nietzsches, „so müsste in diesem Fall Jeder handeln“524, notwendig ausgeschlossen, ebenso aber auch die reine Dezision, das bloß formale Verantwortung Tragen vor Gott und sich selbst525. Neben diese schon sprachlich und terminologisch, aber auch an der Verwendung der Nietzsche-Anspielungen sich bemerkbar machende leichte Selbstkorrektur tritt deshalb vor allem die unmissverständliche Einschränkung des hier jedenfalls auch enthaltenen dezisionistischen Elements durch den neu eingeführten Begriff des ‚Prüfens‘526. Denn damit ist direkt bestritten, dass die bloße Entscheidung, das reine Wollen – auch wenn der Handelnde sich dabei auf Jesus Christus berufe527 – die Legitimation der Tat sei. Andererseits wird damit aber ebenso der schwärmerische Gedanke kritisiert528, dem Handelnden offenbare sich der konkrete Wille Gottes auf übernatürliche, gleichsam magische Weise, etwa durch Eingießungen göttlicher Handlungsanweisungen in das Bewusstsein, und setze auf geheimnisvolle Weise ein Tun in Gang, dessen Subjekt dann nur noch Organon und darum nicht wirkliches Subjekt mehr sein kann529. Dabei handelt es sich vielmehr, so Bonhoeffer, um „jenes psychologisierende Mißverständnis“530, welches, so darf man ergänzen, sich aus dem Gedanken eines anthropologisch begründeten unmittelbaren Verhältnisses des Menschen zum Ewigen, zu Gott ergibt und damit einerseits für die „Schwärmerei“531 kennzeichend, andererseits aber auch Bestandteil 524

Vgl. die schon zitierte Stelle aus FW IV 335, KGW 5.2, 242 f. Vgl. DBW 10, 332. 526 E 322 ff. 527 Also etwa so, wie es noch DBW 10, 330–334, von Bonhoeffer ausgeführt wird, wo der Christ an seine Freiheit zur Entscheidung in der konkreten Situation gewiesen wird: „[d]as Handeln aus der Freiheit ist schöpferisch“ (aaO. 331), „[d]ie in der Wirklichkeit geforderte Entscheidung muß […] jeder in Freiheit in der konkreten Situation selbst vollziehen.“ Freilich werden diese Sätze später nicht negiert, sondern ergänzt: die freie Entscheidung im Akt des Prüfens enthält eben doch inhaltliche, orientierende Bindungen. 528 Vgl. ZE Nr. 15: „Schwärmerei“. 529 Dazu E 322–324. 530 E 323. 531 Vgl. ZE Nr. 15. Hierunter fällt im Grunde auch der von Bonhoeffer 1932 ausführlich referierte und kritisierte Entwurf von Karl Heim, Glaube und Denken. Philosophische Grundlegung einer christlichen Lebensanschauung (1931), der zwar deutlich existenzphilosophisch beeinflusst ist, aber in seiner Tendenz zu einem „religiöse[n] Titanentum“ (DBW 12, 230), einen Hang zu schwärmerischen, weltverleugnenden Positionen hat: der glaubende Mensch wird dargestellt als ein quasi prophetischer Typ, der in Gottesgewissheit sein Leiden erträgt, weil er „in seinem Handeln den Akzent der Ewigkeit in Gehorsam vernimmt“ (ebd.). Dagegen noch E 232: „Es ist durchaus nicht gesagt, daß der Wille Gottes sich ohne weiteres mit dem Akzent der Ewigkeit geladen dem menschlichen Herzen auf525

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jener pietistischen und liberaltheologischen Entwürfe ist, für die das Gottesverhältnis mit seiner psychischen Gestalt, dem Gefühl oder Erleben, identisch ist532. Weder das eine: eine existentialistische Situationsethik der bloßen schöpferischen Entscheidung, noch das andere: unmündiger Gehorsam in Gestalt von Schwärmerei oder ‚Gefühlstheologie‘, ist also von Bonhoeffer mit dem Handeln im und aus dem Nichtwissen um Gut und Böse sowie das eigene Gute gemeint. Beides aber findet sich bei ihm selbst noch in dem genannten Vortrag, in welchem Bonhoeffer die Frage, wie sich das von Gott geforderte existentielle Tun des Christen konkret vollziehe, mit dem Verweis auf das Sich-Entscheiden-Müssen und die persönliche Unvertretbarkeit beantwortet, unter der Berufung auf Nietzsche und angelehnt an Kierkegaard also seine christliche Ethik formal als Situationsethik fasst: „[…] es gibt eben kein Gesetz im inhaltlichen Sinne, sondern nur das Gesetz der Freiheit, d. h. seine Verantwortung allein zu tragen vor Gott und sich selbst.“533. Der möglichen Kritik an diesem starken dezisionistischen Element in der dort entworfenen christlichen Ethik begegnet er zwar ganz am Rande, aber lediglich mit dem Verweis auf das sich im Handeln des Christen ereignende Geführtwerden durch den Heiligen Geist: „So gibt es auch Ethik nur im Vollzug der Tat, nicht im Buchstaben, d. h. im Gesetz. Der Geist aber, der im ethischen Handeln an uns wirksam ist, soll der Heilige Geist sei. Heiliger Geist gibt es nur in der Gegenwart, in der ethischen Entscheidung […]. So läßt sich immer nur, auch in unserer Zeit, das Eine wiederholen: es gilt, sich bei ethischen Entscheidungen unter den Willen Gottes zu stellen, sein Handeln sub specie aeternitatis [!] zu bedenken und dann mag es laufen, wie es will, es läuft richtig.“534

Diese etwas unklare und durchaus naive Mischung aus Situationsethik und Inspirationsglaube, die sicherlich zu einem guten Teil auf das Konto des jugendlichen Alters gerechnet werden kann, wird dagegen nun in der Ethik mittels des Gedankens vom notwendigen Prüfen und sich-selbst-Prüfen in der Handlung explizit korrigiert. Stattdessen strebt Bonhoeffer hier letztlich eine Wechselbeziehung von eigener Entscheidung, Bindung an das als konkret, also in irgendeiner Weise inhaltlich bestimmt, aufgefasste Gebot und gedanklicher Durchdringung der konkreten Handlung an, die begrifflich nur schwer aufzuhellen ist. Dass eine Darstellung dieser Intention mit Schwierigkeiten behaftet ist, liegt jedoch in erster Linie in der Sache selbst, ergibt sich notwendig aus der Voraussetzung, wonach es sich bei dem Tun, der Nachfolge, um eine der abstrahierenden zwinge [!], daß er einfach auf der Hand liege und mit dem, was das Herz denkt, identisch sei.“ Vgl. 382. 532 Vgl. E 323 f. 533 DBW 10, 332. 534 DBW 10, 333.

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Reflexion unzugängliche Sache handelt. Das Prüfen ist also der Form nach als eine Art nicht-reflexiver Reflexion zu verstehen, als ein geistiger Akt, der nicht im Subjekt und seinem Erkenntnisvermögen, sondern in seinem Inhalt selbst, dem persönlichen Gottesverhältnis, begründet ist535. „Wie geht nun dieses Prüfen […] vor sich?“536 Das Prüfen hat hier zwei Aspekte, die zwar zusammengehören, aber dennoch begrifflich von einander unterschieden werden: das im engeren Sinne ethische Prüfen, was nämlich das konkrete Gebot sei, und die Selbstprüfung, ob nämlich der Glaubende auch wirklich glaube, d. h. auf Jesus Christus ausgerichtet sei. Beides ist ermöglicht durch Jesus Christus selbst und beides kann vom Glaubenden nicht zu einem Ergebnis geführt werden. Was von Bonhoeffer hier intendiert ist, kann nur indirekt erhoben werden, weil seine Ausführungen eher im Andeutenden verbleiben. Dennoch lässt sich mit einiger Sicherheit sagen, dass es ihm hinsichtlich der geforderten Selbstprüfung des Christen darum geht, an der Personalität des Menschen innerhalb seiner Gottesbeziehung festzuhalten. Denn die Selbstprüfung, die wesentlich zum Christsein dazugehören soll, wird von Bonhoeffer als Antwort des Menschen auf die von Jesus Christus aufgerichtete Beziehung charakterisiert: „Christliche Selbstprüfung gibt es nur aufgrund dieser Voraussetzung, daß Jesus Christus – und indem dieser Name in seiner Ganzheit genannt wird, ist es ja deutlich, daß es sich hierbei nicht um irgendein Neutrum, sondern um die geschichtliche Person Jesu selbst handelt – in uns ist. Der Blick bleibt ganz an Jesus Christus hängen, und unter dieser Voraussetzung […] muß nun allerdings auch die Frage entstehen, ob und wie wir ihm im täglichen Leben gehören, glauben, gehorchen.“537

Die Selbstprüfung ist dann als Akt des Gehorsams zu verstehen, in welchem der von Christus angesprochene Mensch in seinem ganzen Sein diesem Anspruch zu entsprechen versucht. Sie ist als konkreter Akt darum auch immer wieder neu erforderlich, weil, wie bereits gezeigt wurde, der Mensch bzw. das Menschsein hier nicht substanzhaft, sondern als immer wieder neu sich zu verwirklichende Existenz verstanden wird, deren Ermöglichungsgrund das personhafte Verhältnis zu Jesus Christus ist538. Bonhoeffer versucht mit diesem Gedanken demnach einerseits an der freien Verantwortlichkeit des Menschen festzuhalten, indem von ihm dieser Akt der Selbstprüfung, des freien Gehorsams gefordert wird; andererseits wird mit dem Insistieren auf der Nachrangigkeit dieses Gehorsamsakts – er ist ja Antwort statt Ansprache – dennoch betont, dass sowohl der Akt selbst als auch dessen Ziel, die Beantwortung der Frage nach der (rechten) Nachfolge, nicht in mensch535

Vgl. E 324 f. E 324. Vgl. für das Folgende E 322–329. 537 E 328. 538 Vgl. E 325.328 f. 536

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licher Macht stehen. Mit dieser Beschreibung des Akts der Selbstprüfung wird von Bonhoeffer daher die Gebundenheit der Freiheit, der vom Idealismus abgesetzte, von Kierkegaard beeinflusste Freiheitsbegriff hinsichtlich seines geistigen oder Bewusstseins-Aspekts erläutert: In dem Ermöglichtsein durch das Gottesverhältnis ist die Freiheit erst wirklich als die eigene, bewusst – aber nicht reflexiv im Sinne der Subjektivitätstheorie – verantwortete Tat des Menschen, so wie in der bewussten Aneignung des von außen, von Jesus Christus begründeten Gottesverhältnisses der Mensch erst wirklich Partner in diesem Verhältnis ist und es dennoch nicht in seiner Verfügung hat. Lutherische Passivität wird hier mit dem modernen, aus der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie übernommenen und existenzphilosophisch umgedeuteten Postulat personaler Freiheit zusammen gedacht – ein Anliegen, das Bonhoeffer bereits in der Nachfolge mit Gedanken Kierkegaards umzusetzen versucht hat539. Die dort angestellten Überlegungen zu der eigenen Tat des Gehorsams des Gerufenen, ohne welche die Nachfolge nicht möglich ist, werden hier nun auf die intellektuelle und voluntative Seite dieser Tat zugespitzt; dies verdeutlicht durchaus seine auch in der Nachfolge schon ausgesprochene Intention, die darin besteht, die personale Freiheit als notwendige Voraussetzung einer jeden echten Beziehung zu bewahren und zugleich an deren Begründung in der zuvorkommenden Gnade festzuhalten: „Die Mitteilung dieser […] Wahrheit an die Jünger aber beginnt […] damit, daß Jesus seine Jünger noch einmal ganz frei gibt […] Es kann ja keiner gezwungen werden […] Noch einmal ist alles auf die Entscheidung gestellt, mitten in der Nachfolge, in der die Jünger stehen, wird […] nichts erzwungen.“540

Dass Bonhoeffer in der Ethik mit dem Gedanken der notwendigen Selbstprüfung zu einer etwas klareren und zugleich der Aufgabe, eine christliche Ethik zu entwerfen, angemesseneren Formulierung dieser Intention gekommen ist, dürfte auf seine Lektüre von KD II/2 zurückgehen, wo sehr ähnliche Formulierungen begegnen: „Es ist wahr: wir werden, indem wir uns entscheiden werden, nicht unsere eigenen Richter sein, sondern unter dem Urteil Gottes stehen und dieses selbst vollstrecken und ebenso steht es mit der Selbstprüfung, in der wir je unserer nächsten Entscheidung entgegengehen. Aber nochmals und nochmals: eben unsere eigenen freien Entscheidungen

539 N 58 f.: „Nur der Gehorsame glaubt, und nur der Glaubende gehorcht. Er [sc. der Seelsorger] muß im Namen Jesu zum Gehorsam, zur Tat, zum ersten Schritt aufrufen […] Er [sc. der Glaubende] muß in die freie Luft der Entscheidung.“; EC 104: „Das Entscheidende am christlichen Leben ist: Freiwilligkeit […]“; 136: „Glaube ist eine Wahl, keineswegs das unmittelbare Empfangen […]“. Letzteres wäre das, was Bonhoeffer und Kierkegaard billige Gnade nennen. Sachlich ähnlich die parallelen Formulierungen N 45 ff. und EK Nr. 140–147. Vgl. Barth, Nachfolge, passim. 540 N 78 f.

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sind es, auf die sich die göttliche Entscheidung über Gut und Böse bezieht […] Gottes Person nimmt Stellung zu unserer Person […]“541.

Das Anliegen teilt Bonhoeffer folglich mit Barth, wobei hier offen gelassen werden kann, inwieweit diese inhaltliche Kongruenz auch auf eine beiden gemeinsame Rezeption der gedanklichen Voraussetzungen, etwa der Kierkegaardschen Existenzphilosophie im Verein mit einer Ablehnung neuzeitlicher Subjektivitätstheorie à la Hegel oder Schleiermacher sowie einer intensiven eigenen Auseinandersetzung mit der lutherischen Rechtfertigungslehre, zurückzuführen ist542. Jedenfalls aber ist unbezweifelbar, dass Bonhoeffers hier ausgeführte Ethik in ihren Grundzügen bereits lange vor dem Erscheinen von KD  II / 2 entwickelt war, wie andererseits ebenso unbezweifelbar ist, dass Barths dort enthaltene ethische Reflexionen für Bonhoeffer auch zur Verdeutlichung des eigenen Anliegens beigetragen und daher sicherlich die Ausformulierungen in der Ethik beeinflusst haben. Ohne diese Selbstprüfung, ohne diesen eigenen Akt der bewussten Übernahme des Anspruchs Christi – bei gleichzeitigem Verzicht auf die Bewertung des eigenen Gehorsams darin – ist das Christsein für Bonhoeffer nicht denkbar: „Dieser Vorgang der Selbstprüfung aber ist darum nicht überflüssig, weil ja Jesus Christus wirklich in uns ist und sein will und weil sich dieses Sein Jesu Christi in uns nicht einfach mechanisch vollzieht, sondern gerade in dieser Selbstprüfung immer wieder ereignet und bewährt […] die Selbstprüfung des Christen [ist] ein Stück des Seins Jesu Christi in uns […]“543.

Da aber das Christsein sich keineswegs als bloßer (gerichteter) Bewusstseinsakt vollzieht, sondern im Gegenteil die ganze Existenz oder Person einschließt, also immer ein Tun hervorruft und sei es auch ein ‚nur‘ wahrnehmen541 KD II / 2, 706 f.; vgl. 713. S. aber auch EC 37: „Prüf dich nun selbst – denn es ist dir erlaubt, es ist dir erlaubt, dich selbst zu prüfen, hingegen ist es dir eigentlich nicht erlaubt, dir ohne Selbstprüfung von ‚den andern‘ einbilden zu lassen, oder dir selbst einzubilden, daß du ein Christ seiest – also prüf dich nun selbst: wenn du nun zu gleicher Zeit mit ihm lebtest!“ Die Gleichzeitigkeit ist bei Kierkegaard ein Ausdruck für die Nachfolge, das existentielle oder persönliche Betroffensein durch den Anspruch Christi. S. außerdem die Passage UN I, 219 f. 542 So verweisen beispielsweise die Herausgeber E 32880 auf KD II/2, 565, wo eine derjenigen Bonhoeffers sehr ähnliche Formulierung auftaucht: „kein Neutrum, sondern eine Person“; allerdings wird diese Wendung dort auf den erwählten Menschen bezogen, bei Bonhoeffer dagegen auf Jesus Christus. Der Sache nach ist der Unterschied zwar geringer, als es scheint, weil die Person Jesus Christus für Bonhoeffer auch die Personhaftigkeit des Menschen in der Erwählung begründet; gleichwohl ist hier der emphatische Personbegriff für Christus allein reserviert. Die auffällige Ähnlichkeit in der Formulierung mag demnach auf seine Barth-Lektüre zurückzuführen sein, sachlich besteht aber darüber und dahinter auch eine Parallele zu Gedanken Kierkegaards, wie etwa an EC 117 ersichtlich ist: „Jedoch in unserer Zeit läßt man alles abstrakt werden und schafft alles Persönliche ab: man nimmt Christi Lehre – und schafft Christus ab. Das heißt das Christentum abschaffen; denn Christus ist eine Person […]“. 543 E 328 f.

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des wie etwa das Hören der Maria, ist mit der Selbstprüfung unmittelbar und wesentlich der andere Aspekt des Prüfens verbunden: So wie der Anspruch Christi immer wieder neu ist, so konkret ist er auch in der immer wieder neuen Situation und fordert einen konkreten Akt der Nachfolge. Die Frage nach dem „ob“ des Glaubens ist darum zugleich auch diejenige nach dem „wie“544; das Wie aber erfordert neben bzw. in der konkreten Entscheidung auch ein denkendes Durchdringen des Tuns. Der Akt der Nachfolge ist hier also keineswegs als bloße Praxis, reines gedankenloses Handeln, zu verstehen, sondern hat neben und in diesem praktischen auch einen geistigen Aspekt. Ein sacrificium intellectus des Nachfolgenden ist daher ganz und gar nicht das, was Bonhoeffer hier anstrebt, vielmehr grenzt er das geforderte einfältige Tun ausdrücklich von solchen Auffassungen ab: „Psychologisch gesehen kann der in der Nachfolge Jesu einfältig und frei gewordene ein Mensch sehr komplizierter Reflexion sein, wie es umgekehrt eine psychische Einfalt gibt, die mit der Einfalt des mit Gott versöhnten Lebens nichts zu tun hat.“545

Dies ist auch schon deshalb folgerichtig, weil Bonhoeffer, wie bereits gezeigt werden konnte, eine ganzheitliche Anthropologie vertritt; seine Kritik an der klassischen anthropologischen Definition als animal rationale sowie an dem neuzeitlichen Verständnis des Menschen als absolut freies Vernunftwesen führt darum keineswegs in das Gegenteil einer Definition des Menschen allein über seine leiblich-seelische Verfasstheit. Vielmehr ist die Geistigkeit, das Bewusstsein oder Denkvermögen auch für Bonhoeffers theologischen Begriff vom Menschen eminent wichtig. „Verstand, Erkenntnisvermögen, aufmerksame Wahrnehmung des Gegebenen“546 haben entscheidende Bedeutung für das Zustandekommen des gehorsamen Akts der Nachfolge. Dass damit aber kein distanziertes, von dem gehörten Gebot und der Situation, in der es gehört wird, Abstand nehmendes moralisches Urteil gemeint ist, ergibt sich notwendig aus der Differenzierung zwischen dem verkehrten selbstbezogenen und dem wahren gottbezogenen Erkennen, zwischen Entzweiung und Einfalt oder neuzeitlichem Subjektivismus und existentialistischem Wahrheitsbegriff547. Das Prüfen richtet sich demnach auf den konkreten Akt, innerhalb von welchem zugleich die Selbstprüfung erfolgt; es ist eine „ethische 544 Vgl. E 328: „[…] ob und wie wir ihm im täglichen Leben gehören, glauben, gehorchen.“ Die drei Verba sind zweifellos als Synonyme aufzufassen. Vgl. auch E 325: „Eben diese Frage [sc. wie ich im Leben mit Jesus Christus bleibe] aber ist der Sinn des Prüfens, was der Wille Gottes sei.“ 545 E 322. 546 E 326. 547 Vgl. etwa E 325: „Weil ja das Wissen um Jesus Christus, weil die Metamorphose, die Erneuerung […] etwas lebendiges ist […] darum entsteht mit jedem neuen Tag die Frage, wie ich heute und hier und in dieser Situation in diesem neuen Leben mit Gott, mit Jesus Christus bleibe und bewahrt werde […], darum entsteht hier ein täglich neues echtes Prüfen, das gerade in der Ausschaltung aller anderen Quellen des Wissens über den Willen Gottes

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Besinnung“548 als Teil der Nachfolge bzw. des jeweiligen Akts der Nachfolge, die jedoch mit der ethischen Reflexion des gefallenen Menschen völlig inkommensurabel ist, weil sie sich in der vollständigen Ausrichtung auf Christus vollzieht. Dabei soll offenbar auch hier der Mensch in seiner freien Verantwortlichkeit und Personalität stark gemacht werden, als derjenige, der aufgrund seines Fragens nach dem Willen Gottes „auch die Freiheit zur wirklichen Entscheidung“549 haben wird und dennoch nicht selbst darüber urteilen kann, ob das Getane dem Willen Gottes tatsächlich entspricht. Dahinter steht deutlich erkennbar nicht nur der Gedanke, dass der Mensch ursprünglich bzw. in der neuen Gestalt kein eigenes, von seiner Gottesbeziehung ablösbares Wissen um das Gute – und dessen Gegenteil, das Böse – besitzt, sondern zugleich eine, allerdings lediglich angedeutete, Providenzlehre. Denn das Prüfen kann nur dann zur Entscheidung führen, wenn der Prüfende selbst bereits im Vertrauen auf Gottes Führung, d. h. in der neuen Gottesbeziehung lebt. Das eigene, in der ethischen Besinnung auf das Gebot bewusst übernommene Tun kann seine Rechtfertigung nicht aus dem Potential des Menschen erhalten, wie Bonhoeffer immer wieder einschärft, weil dieser sich nicht von seiner Nachfolge denkend bzw. urteilend distanzieren kann, ohne dadurch aus ihr heraus zu treten; vielmehr ist es allein darin gerechtfertigt, dass die freie Entscheidung des Menschen in der Bindung an Christus geschieht und deshalb als die geforderte Entsprechung zum göttlichen Vorsehungshandeln geglaubt werden kann550. Sowohl das Handeln als auch die ihm wesentlich zugehörige bestehen wird […] ein Prüfen in der Freiheit für das immer neue Wort Gottes, in der Einfalt des immer nur Einen Wortes Gottes.“ 548 KD II / 2, 715 u. ö. Bonhoeffer hat sehr wahrscheinlich auch den Begriff des Prüfens von Barth übernommen, der ebd. als ethische Besinnung interpretiert wird und in ähnlicher Weise wie hier bei Bonhoeffer als konkrete Antwort des ganzen Menschen auf die Anrede Gottes erläutert und von einem sittlichen Urteil anhand allgemeiner Prinzipien abgegrenzt wird, vgl. etwa aaO. 718: „Uns kommt es nämlich zu, zu fragen nach Gottes Gebot als der Norm, die nicht in uns, sondern über uns ist […] indem wir nach ihr fragen, gehorchen wir ihr […]. Nie kraft eines vermeintlichen Wissens um sie [sc. handeln wir gehorsam] und jeder Versuch, unserem Handeln kraft dieses Wissens so etwas wie Gottähnlichkeit zu verleihen, wäre vielmehr sofort und automatisch der Abfall von Jesus Christus, die Verleugnung der Gnade Gottes, von der wir leben und damit der Rückfall in den Ungehorsam.“ Es gilt hier ebenfalls das über Bonhoeffers vermutliche Aufnahme von Barths Begriff der Selbstprüfung Gesagte: Barth hat Bonhoeffer sicherlich zu einer Klärung des Anliegens und der Formulierungen verholfen; gleichzeitig dürften aber auch gemeinsame Voraussetzungen wirksam sein, ohne die Bonhoeffers Anlehnung an Barth in diesem Punkt nicht denkbar wäre. 549 E 326. 550 Vgl. E 326 f.: „Es wird der Glaube dasein, daß Gott dem, der ihn demütig fragt, seinen Willen gewiß zu erkennen gibt […]“. Interessant ist die sachliche Parallele bei Kierkegaard UN  I,  221: „Hätte Pilatus nicht objektiv danach gefragt, was Wahrheit sei, so hätte er Christus niemals kreuzigen lassen. Hätte er subjektiv nach der Wahrheit gefragt, so hätte ihn die Leidenschaftlichkeit der Innerlichkeit mit Rücksicht darauf, was er in der ihm anheimgestellten Entscheidung in Wahrheit zu tun habe, daran gehindert, unrecht zu tun […]“.

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denkende Durchdringung sind darum zwar eigene Tat, Aktivität, die aber theologisch gleichwohl als Passivität zu beurteilen ist, insofern sie allein aus dem Angesprochenwerden durch das göttliche Wort heraus entsteht und auf dessen rechtfertigendes Urteil angewiesen bleibt. Nun legt schon Bonhoeffers lose Zusammenstellung der am Prüfen jeweils beteiligten geistigen und seelischen Kräfte und Vermögen (Verstand, Vernunft, Wahrnehmungskraft, Fähigkeit zur Folgenabschätzung, Mäßigung der Emotionen, Einfühlsamkeit etc.)551 bereits nahe, dass sich dieser Aspekt der konkreten Nachfolge auch formal beschreiben lässt. Denkbar sind hier etwa Reflexionen über die Verantwortlichkeit des Handelnden im Hinblick auf die Folgen seines Tuns, ebenso aber Überlegungen zur Bedeutung von Tugenden, zur Frage nach dem Grad der Bewusstheit im nachfolgenden Tun etc. Damit entsteht zugleich die weitere Frage, ob sich das Prüfen in inhaltlicher Hinsicht nicht auch näher beschreiben lassen muss mittels orientierender, nicht aber im strengen Sinne normativer Grundaussagen über die Existenz und den Existenzrahmen des versöhnten Menschen. Denn wenn dabei an der bloßen Orientierungsfunktion solcher Grundaussagen festgehalten wird, sie also nicht gesetzlich missverstanden und als Maßstäbe für ein sittliches Urteil über das konkret ergehende Gebot verwendet werden, dürften sie der ethischen Besinnung des Einzelnen in der konkreten Situation zu größerer Klarheit verhelfen. Das Prüfen steht dann so verstanden nicht nur für die Aufgabe der konkreten ethischen Besinnung im Akt der Nachfolge, sondern auch für die spezifische Aufgabe Bonhoeffers einer grundsätzlichen Besinnung auf das christliche Handeln mit dem Ziel, die ethischen Implikationen der Nachfolge zu durchdenken und darin Orientierungen für das persönliche, unvertretbare und frei von sittlichen Prinzipien und Moralgesetzen sich vollziehende Nachfolgen zu geben. Bonhoeffer begegnet darum mit der Einführung dieses Aspekts in den Begriff des einfältigen Tuns nicht zuletzt einer Aporie, derer er sich durchaus schon früh bewusst war: dass nämlich neben der möglichen, inhaltlichen Kritik an einer Theorie christlicher Ethik, wie er sie 1929 zuerst ausgeführt hat, sich auch noch die ganz pragmatische Frage stellt, wieso dann überhaupt ethische Reflexionen angestellt und Vorträge gehalten oder gar eine ganze Monographie über eine christliche Ethik verfasst werden sollten, wenn doch allein die konkrete Situation und das darin persönlich und unmittelbar ergehende göttliche Gebot das Handeln bestimmen soll552. Blieb die damals gegebene 551

E 326. DBW 10, 333: „Aus all dem folgt nun eigentlich, daß über inhaltliche ethische Probleme unter christlicher Beleuchtung garnicht gesprochen werden könnte; es besteht eben schlechterdings keine Möglichkeit allgemein gültige Prinzipien auszustellen, weil jeder Augenblick vor Gottes Augen gelebt eine unerwartete Entscheidung bringen kann […] Wir können vielmehr nur in die konkrete Situation der Entscheidung hineinzuführen versuchen 552

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A. Die Erkenntnis des Guten

Antwort letztlich unbefriedigend, nicht nur, weil sie zwischen einem starken Dezisionismus und einem unreflektierten Inspirationsglauben schwankte und doch beides nicht konsequent vertreten wollte, sondern auch, weil nicht plausibel gemacht werden konnte, welcher Stellenwert nun beispielsweise den biblischen Geboten, aber auch Lehrstücken wie Luthers ordo-Lehre oder den neuzeitlichen Menschenrechten zukomme, so ist hier nun eine Möglichkeit eröffnet, die persönliche und situative Freiheit mit einer strengen Auffassung der lutherischen Betonung der Passivität des nachfolgenden Tuns und schließlich einer positiven Aufnahme ethischer Traditionen und überlieferter Inhalte sowie biblischer Gebote zu kombinieren. f) Liebe Abschließend fasst Bonhoeffer seine Überlegungen zur Ethik als Kritik aller Ethik mit einer kurzen Reflexion über den theologischen Begriff der Liebe zusammen. Das einfältige Tun der versöhnten Menschen im Unterschied zu dem entzweiten Richten des Sünders wird nun durch den von Bonhoeffer entwickelten theologischen Liebesbegriff interpretiert; die christliche Ethik, das Tun der Nachfolge, könnte darum scheinbar mit Recht auch als Ethik der Liebe oder Liebesethik bezeichnet werden. Dies wäre aber durchaus missverständlich, weil Bonhoeffer zunächst den theologischen Liebesbegriff von den geläufigen, in seinem Verständnis verkehrten, Interpretationen absetzt und ihn stattdessen mit der am Anfang dieses Kapitels in nuce vorgestellten, von Barth beeinflussten Erwählungslehre und dem von Luther übernommenen theologischen Begriff der Passivität verknüpft. Damit ist der Liebesbegriff sofort allen gängigen Assoziationen und Deutungen enthoben, die ihn dem seelischen Bereich des Menschen zurechnen und ihn folgerichtig auf eine individuelle Haltung und ein persönliches Verhalten zwischen Menschen einschränken. Vielmehr werden solche Deutungen von Bonhoeffer ausdrücklich als unzureichend abgewiesen mit der Begründung, dass die Liebe dann keine totale Bestimmung des Menschen sein könne, vielmehr nur als partielles Phänomen menschlicher Lebenszusammenhänge aufgefasst sei, das dementsprechend auch in Konflikt mit von ihr zu unterscheidenden Prinzipien, sachlichen Erfordernissen oder menschlichen Unzulänglichkeiten geraten könne553. Aus solch einer Einschränkung des Liebesbegriffs auf einen bloßen Teil menschlicher Existenz ergibt sich aber zwangsläufig die Konklusion, dass christliche Ethik, die den Liebesbegriff

und eine der dort sich ergebenden Möglichkeiten [!] der Entscheidung aufzeigen. Die in der Wirklichkeit geforderte Entscheidung muß eben jeder in Freiheit in der konkreten Situation selbst vollziehen.“ 553 E 336.

II. Erkenntnistheoretische Grundlegung

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ins Zentrum stellt, nur als „höheres Ethos des Persönlichen“554 verstanden werden kann. Eine solche, der klassisch-katholischen Unterscheidung von praecepta und consilia evangelica555 entsprechende Differenzierung in eine allgemeine und eine außerordentliche Ethik, welche je nach Lebenslage zum Zuge kommen, widerspricht direkt Bonhoeffers Bemühungen, das Handeln des Christen, als ganzes und ungeteiltes als Nachfolge Christi zu begreifen. Nur unter der Voraussetzung aber, dass mit dem theologischen Liebesbegriff stattdessen die Existenz in der Nachfolge bezeichnet wird, ist eine Dispensierung von so genannten christlichen Liebespflichten aufgrund einer Kollision mit beispielsweise rationalen Erwägungen556 als verkehrte Auffassung abzuweisen. An dem Abweis der genannten Deutungen des theologischen Liebesbegriffs wird darum eine Intention Bonhoeffers sichtbar, die zwar in den vorangehenden Erwägungen impliziert ist, nun aber auch explizit zur Sprache kommt. Denn wenn die Nachfolge, das Leben und Handeln des Christen mit den Kategorien der Existenzphilosophie Kierkegaards gedeutet wird als existentielle Betroffenheit durch die Offenbarung, die sich in einem der Offenbarung entsprechenden einfältigen Tun äußert, dann ist eine strikte Trennung zwischen den beiden Regimenten, zwischen Christperson und Weltperson, nicht mehr möglich. Es gibt dann „keinen Bereich von Sachen, die prinzipiell außerhalb des Personbereichs und damit außerhalb der Reichweite der göttlichen Gebote stünden.“557 Aus dem existentialistischen Wahrheitsbegriff folgt daher eine neue, ‚ganzheitliche‘ Beziehung des Christen zur Welt, die als ganze seine Lebenswelt ist, keineswegs aber sich in einen Bereich der Nachfolge, des Christseins, und einen Bereich des institutionalisierten, Sachzwängen und Rationalisierungen unterliegenden Weltlebens aufteilt: „Die Liebe kennt den Konflikt, durch den man sie definieren möchte, gerade nicht, es gehört vielmehr zu ihrem Wesen, daß sie jenseits jeder Entzweiung ist […] Eine Liebe, die nur das Gebiet der persönlichen Beziehungen umfaßt, aber vor dem Sachlichen kapituliert, ist niemals die Liebe des Neuen Testaments.“558 554 E 336. Bonhoeffer führt hier offensichtlich eine indirekte Auseinandersetzung mit dem an anderer Stelle ausführlich kritisierten Otto Dilschneider, der eine solche Differenzierung zum Angelpunkt christlicher Ethik mache, vgl. DBW 16, 550 („Personal“- und „Sach“ethos). Bonhoeffers Kritik dort schließt ausdrücklich das von anderen zeitgenössischen Lutheranern (etwa P. Althaus, W. Elert) neu interpretierte Lehrstück von den „Zwei Reichen“ ein, das er als Ausprägung einer solchen Trennung von Person und Institution deutet und als Fehlinterpretation Luthers verwirft. 555 Vgl. exemplarisch STh  II–II  qu. 184  art. 3 sowie Bonhoeffers Kritik an dieser Unterscheidung N  33, vgl. WA  11,  229–281 [Von weltlicher Obrigkeit 1.2]; CA  XXVII (BSLK 111 f.). 556 Oder der umgekehrte Fall eines offensichtlich irrationalen, in seinen Auswirkungen möglicherweise fatalen Handelns unter Berufung auf die ‚christliche Liebe‘, vgl. E 336. 557 DBW 16, 557 („Personal“- und „Sach“ethos). 558 E 336.

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A. Die Erkenntnis des Guten

Wenn also von Bonhoeffer die Liebe, die ŁčƪĚđ559, als der Inbegriff des einfältigen Lebens in der Nachfolge Christi interpretiert wird, ist damit das Heilsgeschehen, das aus dem erwählenden und rechtfertigenden Handeln Gottes in Jesus Christus besteht, in einen Begriff zusammengefasst. Liebe ist demnach der Inhalt oder die Konkretion der Erwählung560, mit deren Darlegung Bonhoeffer dieses Kapitel begonnen hatte. Weil das Handeln Gottes am Menschen aber Gottes Wesen offenbart, weil also die Heilsökonomie nicht als ein von Gottes Wesen verschiedenes, d. h. seinem Wesen akzidentelles Handeln gedacht werden kann561, soll darin wirklich Gott offenbar sein, wird von ihm in strenger Konsequenz der Liebesbegriff als Wesensaussage über Gott aufgefasst – der in Jesus Christus als Liebe sich offenbart hat: „Liebe ist immer Er selbst“562. Seinem christozentrischen Ansatz folgend kann Bonhoeffer darum auch formulieren, dass die Liebe Jesus Christus selbst sei und sich in dem Erlösungsgeschehen verwirkliche: „Die Liebe bezeichnet also jene Tat Gottes am Menschen, durch die die Entzweiung, in der der Mensch lebte, überwunden ist. Diese Tat heißt Christus, heißt Versöhnung.“563 559 E 338. Auf den Unterschied dieser Vokabel zu dem traditionell als griechischer Gegenbegriff für ŁčƪĚđ gebrauchten ŕěģĜ geht Bonhoeffer hier nicht ein. Aus dem Kontext ist aber ersichtlich, dass solche menschlichen Formen der Liebe wie die erotische Liebe, der ŕěģĜ, aber sicherlich auch die freundschaftliche Liebe, die Ġēĕưċ, nur dann mit dem, von Bonhoeffer als ursprünglich und primär theologischer Begriff aufgefassten, ‚Liebe‘ bezeichnet werden dürfen, wenn sie sich innerhalb der Nachfolge realisieren (vgl. E 337.339). Die bereits 1930 und 1937 erschienene zweibändige Studie von A. Nygren über Eros und Agape dürfte ihm bekannt gewesen sein (s. die Anspielung GL 27, vgl. auch die Briefe an Nygren DBW 14, 130.133; DBW 16, 261 f.); dessen strikte Unterscheidung zwischen diesen beiden Formen der Liebe wird hier von Bonhoeffer folgerichtig nicht aufrecht erhalten. 560 Vgl. auch schon SC 135: „Glaube ist das Empfangen des göttlichen Herrschaftswillens, die Unterwerfung unter die göttliche Wahrheit. Liebe ist die geistgewirkte Betätigung desselben.“ S. SC 181 f. 561 Damit ist nicht, weder von Barth, der hier vermutlich im Hintergrund steht, noch von Bonhoeffer, gemeint, dass Gottes Heilshandeln notwendig, also kein Gnadenhandeln ist, sondern dass es aufgrund der freien Selbstbestimmung Gottes, Gott für den Menschen zu sein, ein Ausdruck seines Wesens ist. Der Unterschied zwischen jenem „spekulativen“ und diesem theologischen Verständnis ist schmal, aber bedeutsam. Vgl. KD I/1, 442. 562 E 338. Hierin geht Bonhoeffer mit Barth konform, der im Unterschied zu Luther keinen vom Deus revelatus verschiedenen Gott in seiner Verborgenheit behaupten will – und sei es auch aus soteriologischem Interesse, wie Luther dies in De servo arbitrio getan hat; vgl. CD  180: „Der verborgene Gott (‚Deus absconditus‘) ist zugleich auch der offenbare Gott (‚Deus revelatus‘), so gewiss immer auch das Umgekehrte zu sagen ist.“; KD I / 1, 437: „Jesus Christus ist darum der wirkliche und wirksame Offenbarer Gottes und Versöhner mit Gott, weil Gott in ihm, seinem Sohn oder Worte nicht irgendetwas […] sondern sich selbst setzt und zu erkennen gibt, genau so wie er sich von Ewigkeit und in Ewigkeit selber setzt und erkennt.“ Vgl. aber für Luther auch Ebeling, Lutherstudien II.3, 551: „Die christliche Theologie dagegen lehrt […] man dürfe von keinem Gott wissen als dem deus incarnatus et humanus deus“ sowie das Diktum Luthers, ebd.: „Extra Iesum quaerere Deum est diabolus […]“. 563 E 339.

II. Erkenntnistheoretische Grundlegung

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Es ist demnach die göttliche Zuwendung, die beim Menschen wiederum als Antwort Liebe evoziert, nämlich das Nachfolgen, die neue einfältige Existenz; gerade deshalb aber bleibt Liebe das göttliche Wesensprädikat und kann nicht eigentlich auch vom Menschen ausgesagt werden, dessen Liebe im Unterschied zu der göttlichen, zum Wesen Gottes, als Passivität beschrieben werden muss. Bonhoeffer überträgt folglich Luthers Einsichten zum Verhältnis von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit auf den Liebesbegriff, der nun die zentrale theologische Kategorie geworden ist, in welcher alle Ausführungen zur Erwählung des Menschen zum Heil, zu Rechtfertigung und Versöhnung und zu der neuen geheiligten Existenz konzentriert werden. Hinsichtlich dieser terminologischen Differenz zu Luther könnte Bonhoeffer von Barth beeinflusst sein; denn Barth hat dem Begriff der ‚Liebe Gottes‘ gleichfalls die höhere Stellung gegenüber dem  –  durchaus verwendeten  –  Begriff der ‚Gerechtigkeit Gottes‘ eingeräumt564 und zugleich das neue Sein des versöhnten Menschen explizit und emphatisch als Leben aus der geschenkten Liebe bestimmt565. Zugleich aber schließt sich Bonhoeffer auch ausdrücklich an die lutherische Rechtfertigungslehre an, obgleich deren Zentralbegriff, die Gerechtigkeit Gottes, hier fehlt: Denn ähnlich wie Luther die Gerechtigkeit des Menschen eigentlich nur als von Gott im Geschehen der Rechtfertigung geschenkte oder angerechnete (imputierte), als iustitia externa oder aliena und in diesem Sinne passive Gerechtigkeit verstehen konnte566, deutet hier 564 So wird die Lehre von Gottes Wesen (KD  II / 1,  §§ 28–31) formal unter den beiden Wesensprädikaten Liebe und Freiheit abgehandelt, wobei die zusammengehörigen substantialen Attribute („Vollkommenheiten“) Gerechtigkeit und Barmherzigkeit als Ausdruck der göttlichen Liebe verstanden werden; vgl. etwa KD II / 1, 423: „Die Gerechtigkeit Gottes ist, davon haben wir von Anfang an auszugehen, eine Bestimmung der Liebe und also der Gnade und also der Barmherzigkeit Gottes.“ Vgl. aber auch Hegels Bestimmung des Wesens Gottes als Liebe und seine damit einhergehende Kritik an den traditionellen Gottesprädikaten (z. B. RPh  III,  74 f.), sowie Kierkegaards Bestimmung Christi und Christi Heilstat als Liebe (z. B. EC 61.163 ff.) und das gleichzeitig nahezu vollständige Fehlen des lutherischen Gerechtigkeitsbegriffs in dessen religiösem Schrifttum. 565 Vgl. KD I/2, 409, wo auffallende Parallelen zu Bonhoeffers Ausführungen vorhanden sind: „Die Liebe ist das Wesen des christlichen Lebens […] Aber aus dem Allem dürfte nun doch wohl vor allem dies hervorgehen, daß Liebe als Lebensäußerung der menschlichen Kinder Gottes, Liebe als Selbstbestimmung der menschlichen Existenz weder in ihrem Wesen noch in ihrer Wirklichkeit aus sich selbst, sondern eben nur in jenem Raum oder Licht der göttlichen Vorherbestimmung zu verstehen ist, unter deren Ordnung und Kraft der Mensch, indem er das Wort Gottes hört, indem er also als Kind Gottes neu geboren wird, zu stehen kommt. Ist die Liebe der Inbegriff und die Totalität des vom Menschen geforderten Guten, wie soll es dann vom Menschen als solchem aus verständlich sein, daß er liebt? Daß er das wirklich tut, das kann offenbar nur daraufhin von ihm gesagt werden, daß zuerst etwas ganz anderes von ihm gesagt werden darf, dies nämlich: daß er geliebt wird, daß er ein Geliebter ist.“ Vgl. auch R II, 476–480. 566 Für Luther vgl. Ebeling, Lutherstudien II.3, 500–506.587–592, sowie exemplarisch WA 40.1, 41,2–5: […] iusticia, quae ex nobis fit, non est Christiana iusticia, non fimus per eam probi. Christiana iusticia est mere contraria, passiva, quam tantum recipimus, ubi nihil

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A. Die Erkenntnis des Guten

Bonhoeffer die Liebe als ein ganz und gar nicht menschlich-allzumenschliches Phänomen567, sondern als eine Existenzform, deren Grund außerhalb der menschlichen Verfügung liegt, die also allein durch und in der Gottesbeziehung ermöglicht wird568. Dass diese theologische Passivität aber keineswegs missverstanden werden darf als eine Nötigung zu einer vita passiva, zu einer gleichsam monastischen Lebensform, dass sich diese caritas passiva et externa vielmehr – weil es hier um die Betroffenheit der ganzen Existenz auch und gerade in ihrem Weltbezug geht  –  immer wieder neu und in den unterschiedlichsten Kontexten auf unterschiedlichste Weise verwirklicht, ist die entscheidende Konsequenz und zugleich wesentliche Voraussetzung für alle folgenden Überlegungen zur christlichen Ethik: „Passivität angesichts der Liebe Gottes bedeutet nicht jenes Gedanken, Worte und Taten ausschließende Ausruhen in einer Liebe Gottes, die mir nur in solcher ‚stillen Stunde‘ gehört […]. Als ganze Menschen, als denkende und handelnde Menschen sind wir in Christus von Gott geliebt, mit Gott versöhnt. Als ganze Menschen, denkend und handelnd, lieben wir Gott und die Brüder.“569

Die passiv empfangene Liebe ist daher in ihrer die Existenz des Menschen umwandelnden Wirkung schließlich echte Aktivität, nämlich wahrhaftes, ‚einfältiges‘ Tun ohne den reflexiven Aufenthalt der moralischen (Selbst-) Beurteilung, weil sie unmittelbar gerichtet ist auf den von Gott geliebten Mitmenschen, weil sie sich also unmittelbar als Verantwortung des Einen für den Anderen verwirklicht570. Beachtet man Bonhoeffers eigene Interpretationen der Begriffe, so kann man abschließend diesen nun ausführlich explizierten Zusammenhang von Tun und Erkenntnis, von Handeln aus Liebe und einfältigem Wissen des Guten, das gerade nicht ein Wissen um Gut und Böse ist, mit einem Satz Nietzsches571 zusammenfassen, den Bonhoeffer höchstwahroperamur sed patimur alium operari in nobis scilicet deum. und WA 40.3, 588,2 f.: […] primum petimus opus tuum, Domine. Ibi nos nihil agimus, sed tantum sumus spectatores et receptatores, sumus mere passivi. Deus ostendit nobis et facit nos salvos suo solius opere. S. außerdem für Bonhoeffers striktes und ausdrückliches Festhalten an dem lutherischen Begriff der Passivität das Luther-Zitat AS 113: Prius est enim esse quam operari, prius autem pati quam esse. Ergo fieri, esse, operari se sequuntur (WA 56, 117 [von Bonhoeffer zitiert aus der von J. Ficker veranstalten Ausgabe]); vgl. DBW 14, 823. 567 Vgl. E 339: „[…] alles natürliche Denken über die Liebe [hat] nur soweit Wahrheit und Wirklichkeit, als es an diesem seinem Ursprung, also an der Liebe, die Gott selbst in Jesus Christus ist, teilhat.“ 568 E 339: „Liebe bedeutet das Erleiden der Umwandlung der gesamten Existenz durch Gott, das Hineingezogenwerden in die Welt [!], wie sie vor Gott und in Gott allein leben kann. Liebe ist also nicht Wahl des Menschen, sondern Erwählung des Menschen durch Gott.“ 569 E 341. 570 Dem Vollzug dieser Liebes-Tat gelten die Überlegungen des umfangreichen, zentralen Kapitels „Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]“, s. dazu ausführlich u. Teil B. 571 JGB IV, 153, KGW 6.2, 99.

II. Erkenntnistheoretische Grundlegung

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scheinlich gekannt hat: „Was aus Liebe gethan wird, geschieht immer jenseits von Gut und Böse.“572

572

Offen bleibt hier das Problem der göttlichen Verwerfung, das Bonhoeffer in diesem Einleitungskapitel, welches mehr eine theologische Grundlegung alles Folgenden denn eine bloße thematische Einführung ist, nur andeutungsweise anreißt, ohne es zu explizieren, geschweige denn zu lösen. Dies hat freilich einen theologischen Grund: Ebenso wie der Abweis der Frage unde malum? (s. o. A.II.3.c. u. 4.c.) fordert Bonhoeffer auch an diesem Punkt die in der Sache begründete theologische Selbstbescheidung: „Daß dies möglich ist, daß es ein aufrichtiges Christusbekenntnis, daß es Christusnachfolge mit allen Konsequenzen gibt, die von Christus selbst verworfen werden muß [!] mit den Worten: ‚ich habe euch noch nie erkannt; weichet von mir, ihr Übeltäter‘  –  das ist zwar ein dunkles Rätsel, das in der geraubten Gottgleichheit des Menschen seinen Grund hat, aber es ist ebensowohl eine Tatsache, mit der Jesus und Paulus gerechnet haben.“ (E 335). Vgl. auch 303, wo Bonhoeffer andeutet, dass der Ursprung des Falls in Gott selber liege, ohne dass dieser Gedanke aber vom Menschen wahrhaft erfasst werden könne („Geheimnis“). Die verkehrte, spekulative Frage unde malum? würde also, nimmt man diese Andeutungen Bonhoeffers ernst, auf Gott selbst verweisen und zu der anderen spekulativen Frage nach dem Grund für Gottes Verwerfungshandeln führen. Beide Fragen haben freilich keine existentielle Bedeutung für den Glaubenden, der aus der Christusbeziehung lebt, erkennt und handelt, weshalb Bonhoeffer konsequent einen versöhnungstheologischen Ansatz der Ethik vertritt und sich hinsichtlich der beiden spekulativen Fragen auf bloße Andeutungen beschränkt. Deutlich wird daran aber, dass Bonhoeffer sich hier nun doch  –  trotz des deutlich erkennbaren Nähe zu Barths versöhnungstheologischem Gottesbegriff (s. o.)  –  dem Luther von De servo arbitrio ein wenig annähert, und zwar nicht nur in dem konsequenten Durchdenken der göttlichen Wesensattribute der Allmacht und Allwirksamkeit, sondern gerade auch in der davon verschiedenen tieferen Intention, die Luther selbst ausdrücklich formuliert: Weder kann es in der theologischen Besinnung um eine intellektuelle Beschäftigung mit dem malum metaphysicum noch um eine existentielle Verängstigung des sein Heil suchenden Menschen gehen, sondern im Gegenteil allein um das Leben aus der Gnade, welches von der Versuchung solcher Überlegungen genauso befreit ist wie von dem Irrglauben an die göttlichen Fähigkeiten von Vernunft und Willen und damit an die Verdienstlichkeit der menschlichen Werke: Ego sane de me confiteor […] nollem mihi dari liberum arbitrium, aut quippiam in manu mea relinqui, quo ad salutem conari possem […] neque enim conscientia mea, si in aeternum viverem et operarer, unquam certa et secura fieret, quantum facere deberet, quo satis Deo fieret […] At nunc cum Deus salutem meam, extra meum arbitrium tollens, in suum receperit, et non meo opere aut cursu, sed sua gratia et misericordia promiserit me servare, securus et certus sum, quod ille fidelis sit et mihi non mentietur, tum potens et magnus, ut nulli daemones, nullae adversitates eum frangere aut me illi rapere poterunt. (WA 18, 783, vgl. den Schlussteil von De servo arbitrio im Ganzen, aaO. 783–787).

B. Grund und Vollzug des Guten Esto peccator et pecca fortiter, sed fortius fide et gaude in Christo, qui victor est peccati, mortis et mundi1.

I. Einführung Der Handlungsvollzug, das vom Glaubenswissen nicht zu trennende und nur theoretisch zu unterscheidende unmittelbare Tun der Liebe, und seine Begründung in der Christuswirklichkeit, dem geschichtlich-personalen Leben, werden in dem sowohl der Position als auch dem Inhalt nach zentralen Kapitel „Die Geschichte und das Gute“ behandelt. Bevor aber skizziert werden kann, welche Fragestellungen und Problemkomplexe sich damit verbinden, muss auf eine Besonderheit eingegangen werden, die ihrerseits die Bedeutung dieses längsten Abschnitts der Ethik in ihrer vorliegenden Form anzeigt: Das Kapitel „Die Geschichte und das Gute“ existiert nämlich in zwei Fassungen, die offenbar unmittelbar nacheinander entstanden sind, sich jedoch in charakteristischer Weise voneinander unterscheiden2. Die hier vorgelegte Analyse von Grund und Vollzug des christlichen Handelns und seinen philosophischen Voraussetzungen bezieht sich nahezu ausschließlich auf die so genannte Zweite Fassung; die erste, d. h. die zeitlich frühere Fassung wird zwar in die Überlegungen mit einbezogen, ohne jedoch selbständig analysiert zu werden. Der Grund für dieses Vorgehen liegt darin, dass die zweite Fassung zweifellos diejenige ist, die Bonhoeffer in seine geplante Ethik übernommen hätte, wäre es zu einer Fertigstellung gekommen: Sie ist zeitlich unmittelbar nach der ersten entstanden, enthält etliche nahezu wörtliche Passagen aus dieser, ist zugleich aber strenger und klarer gegliedert. Über den Verantwortungsbegriff hinaus werden zudem weitere Schlüsselbegriffe teils sehr ausführlich behandelt3. Die zweite Fassung ist dabei mehr als doppelt so lang wie die 1

WA.BR 2, 372, Nr. 424 (an Melanchthon). Vgl. dazu N 38–40. E 218–244 (1. Fassung) und E 245–299 (2. Fassung). 3 Von diesen Schlüsselbegriffen sind einige bereits im früheren Werk Bonhoeffers von Bedeutung, so etwa der Personbegriff, aber auch der Gewissensbegriff; manche Begriffe nehmen das in anderen Manuskripten Ausgeführte auf oder ergänzen es, so wiederum der Gewissensbegriff, aber auch der Wirklichkeits- und der Lebensbegriff. Der Geschichtsbegriff, der ebenfalls „Die Geschichte und das Gute“ mit anderen Manuskripten verknüpft, 2

I. Einführung

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erste. Zudem sind die in der ersten Fassung noch enthaltenen Erwägungen zum Liebesbegriff in das auf die zweite Fassung chronologisch folgende, als Einleitung geplante Kapitel „Die Liebe Gottes und der Zerfall der Welt“ eingegangen und systematisiert worden4. An welcher Stelle innerhalb der Ethik-Konzeption das Kapitel „Die Geschichte und das Gute [Zweite Fassung]“ zu stehen gekommen wäre, ist allerdings nicht zweifelsfrei festzustellen. Es gibt jedoch Hinweise auf einen möglichen Ort im vorderen Teil der Ethik nach dem wahrscheinlichen ersten Kapitel „Christus, die Wirklichkeit und das Gute“ sowie dem hieran direkt anschließenden „Ethik als Gestaltung“, aber noch vor dem ‚geschichtsphilosophischen‘ Kapitel „Erbe und Verfall“, das den hier verwendeten Geschichtsbegriff inhaltlich konkretisiert5. In ähnlicher Weise wie hinsichtlich des Geschichtsbegriffs scheint der in „Die Geschichte und das Gute“ ausgeführte Lebensbegriff der Oberbegriff zu sein, von dem her das in dem gleichnamigen Kapitel ausgeführte „natürliche Leben“ als eine Fokussierung speziell auf die konkrete Erscheinungsform der menschlichen Existenz zu verstehen ist6. In der Reihenfolge der Manuskripte müssten also die beiden zweifellos zusammengehörigen7 Teile „Die letzten und die vorletzten Dinge“ und „Das natürliche Leben“ hinter „Die Geschichte und das Gute“ eingeordnet werden. Nimmt man an, dass die Ausführungen zum Vorletzten und zu den natürlichen Rechten einen Platz nicht ganz am Ende, sondern ungefähr in der Mitte der Sachreihenfolge erhalten sollten8, dann ergibt sich auch daraus taucht schon in der ersten Fassung auf, kann also nicht als Beleg für die sachliche Priorität der zweiten Fassung gelten. 4 S. dazu Teil A.II.5.f. 5 Vgl. den Anordnungsvorschlag der Herausgeber E 455. 6 Dafür spricht auch, dass Bonhoeffer das natürliche Leben in seine biologischen und seine geistigen bzw. mentalen Fähigkeiten differenziert. Es wäre dann der Begriff Leben so zu gliedern: A. Leben in seinem allgemeinen Sinn und von seinem Grund her verstanden („Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]“), a. Leben in seiner konkreten natürlichen Erscheinungsform samt den darin begründete Rechten, ċ. als biologisches bzw. leibliches, Č. als geistiges bzw. mentales („Das natürliche Leben“). S. zu den natürlichen Rechten u. C.IV. 7 Bei diesen beiden Manuskripten ist immer schon bekannt gewesen, dass Bonhoeffer sie unmittelbar nacheinander, während seines Aufenthalts im Benediktinerkloster Ettal bei München (November 1940 bis Februar 1941) verfasst hat. Dass beide Kapitel auch sachlich unmittelbar zusammengehören, ist nie bezweifelt worden (vgl. die Synopse der Manuskriptanordnungen E  470); die inhaltliche Verzahnung ist so eng, dass für eine Trennung schwerlich überzeugende Argumente gefunden werden können. 8 So etwa dem Anordnungsvorschlag der Herausgeber zu entnehmen (E  455). Dafür sprechen bestimmte inhaltliche Erwägungen, denen zufolge Bonhoeffer die natürlichen Rechte einerseits als durch den Nationalsozialismus besonders gefährdet und andererseits als fundamental für alle übrigen ethischen Konkretionen bewertet haben könnte. Demnach müssten sie gleich zu Beginn der inhaltlichen Konkretion der Grundlegungen behandelt werden und folglich etwa in der Mitte der Ethik zu stehen kommen. Weitere Konkretionen sind oder sollten sein: Die Überlegungen zum Guten (nur Notizen, vgl. ZE Nr. 63.65.64.66–69), d. h. zu einer christologisch begründeten Tugendethik, die Erwägungen zum Gebot als der

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B. Grund und Vollzug des Guten

für „Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]“ eine Position im vorderen grundlegenden Teil der geplanten Ethik. Ein Versuch einer noch genaueren Bestimmung muss hier unterbleiben; für den Gegenstand der Arbeit ist dies aber auch nicht erheblich. Entscheidend sind die unterschiedlichen Dimensionen des geschichtlich Guten, d. h. des Handlungsvollzugs und seines Grundes, die Bonhoeffer in diesem dicht geschriebenen und sachlich komplexen Kapitel im Rückgriff auf Lebensphilosophie (2.), dialogischen Personalismus (3.), politische Theorie und Neuthomismus (4.) und die schon im ersten Teil bedeutsamen gedanklichen Systeme entwirft.

II. Die Mehrdimensionalität der guten Tat: „Die Geschichte und das Gute“ 1. Die neuen Schlüsselbegriffe In diesem Kapitel wird von Bonhoeffer eine neue Perspektive eingenommen; im Zentrum stehen bisher nicht oder nur am Rande verwendete Begriffe, wie vor allem „Leben“, „Person“, „Verantwortung“, aber auch „Stellvertretung“, „Gewissen“, „Beruf“, sowie natürlich die die Überschrift bildenden Begriffe „Geschichte“ und „Gutes“. Auch hinter allen diesen Begriffen stecken wieder jeweils von Bonhoeffer rezipierte philosophische bzw. theologische Theorien oder Traditionen, mit welchen er sich – zustimmend oder ablehnend – indirekt auseinandersetzt, um dadurch zu einer eigenen ethischen Konzeption zu kommen. Auffällig ist zunächst die betonte Verwendung des Lebensbegriffs. Nicht nur, dass dieser Begriff emphatisch gleich zu Beginn des Kapitels auftaucht und auf den folgenden Seiten in spezifischer Weise interpretiert wird; die Verwendung dieses Begriffs in solch exponierter Weise ist auch ein wesentlicher Unterschied zu der ersten Fassung dieses Textes, in welcher er nicht nur keinen Schlüsselbegriff darstellt, sondern praktisch überhaupt nicht vorkommt. Die einzige Ausnahme hiervon findet sich E  241, wo es aber gar nicht um ‚Leben‘ als philosophischen oder theologischen Begriff geht, sondern wo eine Reihe von Verhaltensweisen des Nachfolgers bzw. Hörers der Bergpredigt aufgezählt wird, zu welcher dann auch der „Verzicht auf das eigene Leben“ gehört, was wohl bedeuten soll, dass die Selbsterhaltung nicht zum (einzigen oder entscheidenden) handlungsleitenden Prinzip erhoben wird. entscheidenden christlich-ethischen Kategorie im Unterschied zur philosophischen Ethik („Das ‚Ethische‘ und das ‚Christliche‘ als Thema“), Ausführungen zu den Mandaten als den Grundstrukturen, innerhalb derer das Gebot gehört wird („Das konkrete Gebot und die göttlichen Mandate“), sowie ein Kapitel zum Gesetz (vgl. E  391), dessen Bedeutung ausgesprochen unsicher ist, das aber fraglos auch Teil der Konkretionen sein sollte.

II. Die Mehrdimensionalität der guten Tat

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Ausgerechnet diese Stelle aber gehört zu denjenigen, die keinen Eingang in die zweite Fassung des Textes gefunden haben, wohl auch, weil die Bergpredigt in der zweiten Fassung nicht mehr explizit thematisiert wird9. Zudem hat Bonhoeffer sich zeitlich unmittelbar vorher, in dem Kapitel „Das natürliche Leben[!]“, ausführlich zum natürlichen Recht auf Selbsterhaltung geäußert, so dass durch eine verkürzte Aussage wie die oben zitierte der Eindruck erweckt werden könnte, er vertrete doch entweder ein ‚katholisches‘ Modell einer Zwei-Stufen-Ethik oder ein neulutherisches Modell einer ‚Zwei-Raum-Ethik‘ oder aber eine Form der liberal-theologischen Unterscheidung von säkularer Ethik im öffentlichen Raum einerseits und christlicher Gesinnungsethik im privaten Bereich andererseits10. Die Abwehr gerade dieser zeitgenössischen lutherischen Position, die nicht nur von Karl Holl, sondern besonders auch von führenden Lutheranern wie Paul Althaus, Werner Elert und Emanuel Hirsch vertreten wurde, bildet einen der ganz entscheidenden Kritikpunkte Bonhoeffers; sie taucht daher viele Male in der Ethik auf, meistens unmittelbar verbunden mit der ähnlichen Kritik an der Liberalen Theologie, die – jedenfalls in ihrer späteren Ausprägung bei Friedrich Naumann und ansatzweise auch schon bei Ernst Troeltsch – zwar mit anderer Begründung, in der Konsequenz aber kaum anders, eine Aufteilung der Wirklichkeit in einen weltlichen und einen religiösen Bereich lehrt11. Das Fehlen dieser Aussage zum Verzicht auf Erhaltung des eigenen Lebens im Verein mit der emphatischen Verwendung des Lebensbegriffs am Beginn der zweiten Fassung ist daher umso auffälliger und nötigt zu der Schlussfolgerung, dass Bonhoeffer hier einen wesentlichen Aspekt seiner ethischen Theorie nachträgt; inwieweit und in welcher Weise dabei bestimmte philosophische und theologische Traditionen im Hintergrund stehen, muss die Analyse ergeben. Im Unterschied zu dem nur in der zweiten Fassung als Schlüsselbegriff verwendeten Lebensbegriff taucht der immerhin in der Überschrift des Kapitels stehende Geschichtsbegriff weit häufiger in der ersten als in der zweiten Fassung auf12. Dies muss nicht bedeuten, dass der Geschichtsbegriff bzw. 9

S.u. und B.II.4.c. Vgl. dazu zunächst die Hinweise in dem Exkurs zu Bonhoeffers Kritik an der Liberalen Theologie IV.1. 11 In dem vorliegenden Kapitel findet sich diese Kritik E 263 ff., als Wiederaufnahme aus der ersten Fassung (E 236 ff.); vgl. außerdem die bereits zitierte Äußerung Bonhoeffers DBW  16,  551 f. (D.I), die sehr wahrscheinlich gleichzeitig mit der zweiten Fassung von „Die Geschichte und das Gute“ entstanden ist (dazu E 17 und DBW 161) und ausdrücklich Troeltsch und Naumann nennt. 12 Das Register listet für die erste Fassung insgesamt 36 Stellen für ‚Geschichte‘ und Derivate auf – von insgesamt knapp 27 Seiten; für die zweite Fassung mit knapp 50 Seiten werden dagegen nur 11 Stellen ausgewiesen (Mehrfachnennungen auf einer Seite sind dabei nicht berücksichtigt, dürften das Bild aber kaum verändern). 10

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B. Grund und Vollzug des Guten

Geschichtlichkeit als ethisch relevantes Element der Wirklichkeit in der überarbeiteten und erweiterten Version des Kapitels tatsächlich von geringerer Bedeutung ist als in der ersten. Zum einen wurde ja die Überschrift beibehalten und damit offenbar auch die in der ersten Fassung noch unzulänglich ausgedrückte Intention des Kapitels; zum anderen treten weitere Schlüsselbegriffe und Themenkomplexe hinzu oder werden stärker ausgeführt, die in enger sachlicher Verbindung zum Geschichtsbegriff stehen, so vor allem der Verantwortungs- und Berufsbegriff, aber eben auch der neu eingeführte und direkt mit dem Geschichtsbegriff verbundene Lebensbegriff13. Interessant ist hier auch der Vergleich mit dem Liebesbegriff, der ja in der zweiten Fassung als Schlüsselbegriff fehlt und stattdessen in das chronologisch folgende Einleitungskapitel eingegangen ist. Dort wird der Liebesbegriff erst auf den letzten 6 bzw. 7 Seiten behandelt, also auf weniger als 20 Prozent des Textes; doch die Ausführungen des gesamten Kapitels kulminieren in diesen wenigen Seiten, was auch die Überschrift, „Die Liebe Gottes und der Zerfall der Welt“, bereits anzeigt. Der Geschichtsbegriff wird innerhalb des Kapitels „Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]“ zwar nicht ganz so exponiert verwendet. Schaut man jedoch genauer hin, so zeigt sich, dass er schon in dem einleitenden Abschnitt E 245 f. zusammen mit dem Lebensbegriff auftaucht und damit zweifellos ein für die weiteren Ausführungen grundlegender Begriff ist, der folglich auch immer wieder einmal im Verlauf des Kapitels gebraucht wird. Die bereits erwähnte weitere Auffälligkeit, dass nämlich in der zweiten Fassung des Kapitels die Bergpredigt überhaupt nicht mehr explizit thematisiert wird14, ist in jedem Fall erläuterungsbedürftig. Im Zusammenhang mit der Kritik Bonhoeffers an einem dualistischen Wirklichkeits- resp. Weltbegriff der Liberalen Theologie und des zeitgenössischen Luthertums dürfte ihr Fehlen wohl auch in der Absicht begründet sein, ihren in Bonhoeffers Auffassung verhängnisvollen Status einer Sonderethik für die private christliche Existenz abseits aller weltlichen Gefordertheiten dadurch indirekt zu bestreiten. Es ist gleichwohl unwahrscheinlich, dass sie nun, mit der zweiten Fassung von „Die Geschichte und das Gute“, von Bonhoeffer als für die Ethik marginaler oder wegen der kritisierten Missverständnisse sogar zu meidender Text beurteilt wird: nicht nur, dass eine christliche Ethik üblicherweise, gerade zu Bonhoeffers Zeit, d. h. vor dem Hintergrund der Theologie des 13

Vgl. bes. E 244–247. Ausdrücklich genannt wird die Bergpredigt in der gesamten Ethik, abgesehen von der ausführlichen Thematisierung in der ersten Fassung von „Die Geschichte und das Gute“ E 235–244, nur noch an wenigen Stellen: E 251.282.321.329.361. Dort wird sie aber jedes mal nur beiläufig oder in Aufzählungen genannt, nicht aber eigenständig behandelt. Erst recht bildet sie in „Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]“ nicht den Höhepunkt des Kapitels, wie das noch in der ersten Fassung der Fall war. 14

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19.  Jahrhunderts, selbstverständlich die Bergpredigt behandelt, wenn nicht gar zu ihrem inhaltlichen Zentrum macht. Auch Bonhoeffer selbst hat nur wenige Jahre zuvor fast ein halbes Buch diesem zentralen neutestamentlichen Text gewidmet, nämlich seine Nachfolge15, die sicherlich auch deshalb bis heute zu seinen berühmtesten und beliebtesten theologischen Werken zählt und die an wesentlichen Stellen gedankliche Voraussetzungen oder Parallelen zur Ethik aufweist16. Die Bedeutung der Bergpredigt für die Ethik-Konzeption und besonders für die in „Die Geschichte und das Gute [Zweite Fassung]“ entwickelten Gedankengänge lässt sich deshalb nicht einfach als eine negative bestimmen; zugleich ist aber schon bei oberflächlicher Lektüre deutlich, dass sich ihr Stellenwert in Bonhoeffers Denken während der Arbeit an dem thematischen Komplex zu geschichtlichem Leben und Verantwortung signifikant verschoben hat. Denn der mit der Bergpredigt sachlich eng zusammen gehörende Schlüsselbegriff der ersten Fassung dieses Kapitels, Liebe, wird von Bonhoeffer zwar ebenfalls in der zweiten Fassung nicht mehr als solcher gebraucht. Stattdessen erhält die Auseinandersetzung mit ihm aber eine, wenn auch kürzere, dafür aber sehr viel exponiertere Stellung innerhalb 15 N  97–211. Aber auch in den der Bergpredigtauslegung vorangehenden Kapiteln der Nachfolge und im zweiten, paulinischen Teil tauchen immer wieder direkte und indirekte Bezugnahmen auf die Bergpredigt auf. Die Nachfolge ist daher – auch aufgrund von eigenen Aussagen Bonhoeffers – sicher richtig verstanden als das Bemühen, die Bergpredigt als Grundlage des christlichen Lebens zu verstehen und auszulegen, wobei die paulinische Theologie als Aufnahme und Weiterführung des synoptischen Nachfolge-Begriffs verstanden wird (N 220 f.10)). Vgl. DBW 13, 128 f. (Brief vom 28.4.1934 an Erwin Sutz): „Wissen Sie, ich glaube, daß die ganze Sache an der Bergpredigt zur Entscheidung kommen wird […]. Schreiben Sie doch mal, wie Sie über die Bergpredigt predigen. Ich versuche es gerade […], es geht immer um das Halten des Gebotes und gegen das Aufweichen. Nachfolge Christi – was das ist, möchte ich wissen […]“; s. auch das Vorwort der Herausgeber der Nachfolge, N 9, zu der Vorgeschichte dieses Buches im Finkenwalder Predigerseminar: „Bonhoeffer legte zuerst Synoptiker-Stellen vom Ruf in die Nachfolge und dann die Bergpredigt aus […]. In allen folgenden Kursen behandelte er Entsprechungen zum Ruf in die Nachfolge und zur Bergpredigt in den übrigen neutestamentlichen Schriften, besonders bei Paulus.“ 16 Hier ist vor allem an das vermutliche Einleitungskapitel „Die Liebe Gottes und der Zerfall der Welt“ zu denken (Teil A). Bereits in der Nachfolge hatte Bonhoeffer in Anlehnung an Kierkegaard seine Konzeption des neuen Lebens und Handelns des Christen ausgearbeitet. Insbesondere der existentielle Wahrheitsbegriff Kierkegaards spielt hierfür eine zentrale Rolle, wenn er auch in der Einleitung der Ethik mit einer sehr viel ausdrücklicheren Hegel-Kritik als in der Nachfolge und darüber hinaus mit einer Rezeption Nietzsches verbunden ist. Vgl. für die Nachfolge Barth, Nachfolge, passim. Die frühere Anordnung der Ethik, die auf der Annahme basierte, dass Bonhoeffer mehrfach neu angesetzt habe, enthält nicht ohne Grund gerade dieses Kapitel an erster Stelle: die Parallelen zur Nachfolge und überhaupt zu früheren Werken Bonhoeffers waren immer schon aufgefallen (vgl. E 11; Feil, Theologie, 294 f.423). Inzwischen ist diese ‚Ansatzhypothese‘ überholt; die Anknüpfung an frühere Erkenntnisse in „Die Liebe Gottes und der Zerfall der Welt“ muss daher anders bewertet werden, nämlich als bewusster Rückgriff auf erkenntnistheoretische und dogmatische Voraussetzungen, auf denen die Konzeption der Ethik beruht. Vgl. dazu das einleitend zu diesem Kapitel Gesagte A.I. sowie A.II.1.

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der Ethik: er bildet nun den Abschluss des gewichtigen Einleitungskapitels, das die erkenntnistheoretischen und dogmatischen Grundlagen für die gesamte Konzeption enthält17. Zudem steht er dort auch schon in der Überschrift („Die Liebe Gottes und der Zerfall der Welt“) und bildet demnach das Leitwort, unter dem alles Folgende zu lesen ist. Die für Bonhoeffer noch im Frühjahr 1942 offenbar entscheidende Auseinandersetzung mit der Bergpredigt ist folglich ersetzt worden durch die (alleinige) Konzentration auf den Liebesbegriff. Daneben ist aber auch zu prüfen, inwiefern die Intention seiner Auseinandersetzung mit der Bergpredigt gleichwohl indirekt in der zweiten Fassung enthalten ist: offenbar ist nämlich der bereits in der ersten Fassung verwendete Verantwortungsbegriff, der das Zentrum der zweiten Fassung bildet, an deren Stelle gerückt, so dass eine explizite Auslegung speziell der Gebote aus Mt 5–7 nicht mehr notwendig war18. Der Verantwortungsbegriff wird schon in der ersten Fassung gebraucht; in der zweiten Fassung wird er jedoch umfassender reflektiert und sehr viel systematischer behandelt. Zugleich ist mit diesem ein weiterer zentraler Begriff verknüpft, der in der ersten Fassung noch nicht ausdrücklich zu den Schlüsselbegriffen gehörte und auch in der zweiten Fassung nicht sehr häufig, dafür aber in exponierter Weise begegnet: Leben, Geschichte, Wirklichkeit und Verantwortung werden von Bonhoeffer durch den Personbegriff interpretiert, so dass in diesem Begriff und den von ihm repräsentierten philosophisch-theologischen Gedanken die Verknüpfung der verschiedenen Aspekte zustande kommt. Zu diesen genannten zentralen Begriffen und den in ihnen rezipierten Traditionen treten noch der im engeren Sinn ethische Begriff des Gewissens und der theologischen Begriffe der Stellvertretung und des Berufs19. Diese werden von Bonhoeffer verwendet, um die von ihm entwickelte Konzeption der christologischen Verantwortung zu explizieren, und zwar in ihrem Bezug auf Christus als Grund der guten Handlung resp. des Guten, das eigene Selbst als Subjekt der Handlung, den Anderen als Adressaten der verantwortlichen Tat und den geschichtlichen Ort der Verantwortung. Die Interpretation des Kapitels wird sich an den zentralen Begriffen und ihren inhaltlichen Konzepten ausrichten, indem die verarbeiteten Traditionen einerseits und ihre gedanklichen Verknüpfungen andererseits herausgearbeitet 17

E 335–341. Im Gegenteil wäre eine solche sogar irreführend gewesen, wie sich noch zeigen wird, da Bonhoeffers Ethik-Konzeption davon gekennzeichnet ist, dass weder bestimmte Gebote als besonders christlich herausgehoben werden (etwa im Sinne der katholischen ‚überpflichtigen‘ consilia evangelica) noch überhaupt allgemeine Gebote oder Prinzipien verkündet werden. 19 Sofern es sich dabei um den in der lutherischen Tradition virulenten Berufsbegriff handelt, der sich von einem säkularen Berufsbegriff deutlich unterscheidet. 18

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werden. Wie bisher handelt es sich auch hier wieder weitgehend um indirekte, sprachliche und sachliche Bezüge zu philosophischen und theologischen Traditionen, die von Bonhoeffer selbst nicht offen gelegt werden, durch eine genaue Analyse aber erhellt werden können. Erst dann kann es gelingen, die Konzeption des Guten als Verantwortung in ihrer Vielschichtigkeit zu erfassen.

2. Leben Bonhoeffer beginnt die zweite Fassung von „Die Geschichte und das Gute“ mit einer fundamentalen Opposition. Begrifflich lässt sich diese zunächst an der Gegenüberstellung von „Leben“ und „Abstraktion“ festmachen20; ihrer Erläuterung dienen die Ausführungen des ungewöhnlich langen Kapitels, in dessen Zentrum der Verantwortungsbegriff steht. Es wird sich zeigen, dass diese begriffliche Opposition in modifizierter Weise Bonhoeffers eigene von der Philosophie der Moderne beeinflusste Position und seine damit eng verbundene fundamentale Kritik an idealistischen Systemen im Kontext der Reflexion auf die konkrete Gestalt der Nachfolge-Ethik zum Ausdruck bringt, deren erkenntnistheoretischen und anthropologischen Grund Bonhoeffer im Einleitungskapitel „Die Liebe Gottes und der Zerfall der Welt“ gelegt hat. Dabei entspricht die Kritik, die hier geäußert wird, dem, was er schon ganz früh als Grundproblem der idealistischen bzw. kantischen Philosphie und Ethik markiert hat. Wie bereits in Akt und Sein, nun aber ausführlicher und mit eigenen Formulierungen, wird auch hier das Absehen von der konkreten Existenz, das notwendige Bedingung für die Grundlegung der idealistischen praktischen Philosophie ist, als fundamentaler Fehler der ethischen Theorie bewertet: „Das Grundschema dieser Abstraktion verfehlt […] gerade das spezifisch ethische Problem.“21 Denn dieses Grundschema, in welchem die ethische Fragestellung, das ethische Subjekt und der ethischen

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Vgl. E 245 f. E 246. Vgl. AS 32 f.: „Nicht mit Unrecht hat Kierkegaard gesagt, daß bei solchem Philosophieren offenbar vergessen werde, daß man selbst existiere.“; sowie die bereits zitierte Hegel-Kritik AS  35: „[…] der Philosophierende selbst [scheitert] am Widerstande seiner eigenen Wirklichkeit mit dieser Philosophie. Hegel schreibt eine Philosophie der Engel, aber nicht des menschlichen Daseins. Der konkrete Mensch, auch der Philosoph, ist eben nicht im Vollbesitz des Geistes; daß er nur zu sich selbst zu kommen brauchte, um in Gott zu sein, muß ihm in der Erfahrung des gänzlichen In-sich-selbst-gekehrt-seins, -beharrens, -ruhens, der völligen einsamsten Alleinigkeit in ihrer qualvollen Öde und Unfruchtbarkeit zur grauenvollen Enttäuschung werden. Er sieht sich hineingestellt in ein zufälliges Hier und Da als einer, der sich fragend, denkend, handelnd darin zurechtfinden soll, der die ihm vorgegebene Lage auf sich zu beziehen und damit sich ‚in bezug auf‘ sie zu entscheiden hat.“ Bedient sich Bonhoeffer für seine grundsätzliche Hegel-Kritik im ersten Fall auch ausdrücklich einer Formulierung Kierkegaards (vgl. UN I, 111–117.179–198; UN II, 1–19; s. 21

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Maßstab von einem absoluten, d. h. abstrakten Standpunkt aus betrachtet werden, ist, so Bonhoeffer, ein „metaphysisches an und für sich seiendes Gebilde ohne wesentliche Beziehung zum Leben“22. Der Standpunkt Bonhoeffers ist damit offen gelegt: Indem er die idealistische Reflexionsbewegung als Metaphysik und als solche als etwas für das Leben Irrelevantes bezeichnet23, hat er sich die Grundüberzeugung sowohl der Existenzphilosophie als auch der sich etwa zeitgleich entwickelnden Lebensphilosophie zu eigen gemacht. Denn dass die Vertreter der idealistischen Philosophie, gleich welche Ausprägung man untersucht, gerade der Auffassung sind, Leben und Wirklichkeit allein vom Standpunkt des transzendentalen idealen Subjekts aus wahrhaft erfassen und bestimmen zu können, steht außer Zweifel24. Gerade diese Annahme aber bestreitet Bonhoeffer im Verein mit der modernen25 Philosophie; impliziert ist in dieser Kritik folglich eine bestimmte Deutung von Leben, d. h. von Welt und Mensch, die sich fundamental von derjenigen neuzeitlich-idealistischer, aber auch derjenigen mittelalterlich-scholastischer Prägung unterscheidet. Um seine Konzeption der christlichen Ethik als Verantwortungsethik, wie sie in diesem Kapitel entwickelt wird, vollständig erfassen zu können, ist es daher notwendig, den Lebensbegriff und seine von Bonhoeffer ausgeführten Aspekte im Rückgriff auf die zugrunde liegenden Einflüsse zu analysieren. Dies ist umso wichtiger, als Bonhoeffer offenbar selbst der Auffassung war, dass dieser Begriff mit seinen Implikationen die entscheidende gedankliche Voraussetzung für den christologisch gedeuteten Verantwortungsbegriff ist,

auch EC 76*; aus welcher Schrift Bonhoeffer Kierkegaards Kritik paraphrasiert, lässt sich nicht entscheiden), so klingt im zweiten Fall deutlich Heidegger an, wenn er auch, wie meistens bei Bonhoeffers Referenzautoren, ungenannt bleibt (vgl. etwa SuZ § 12, § 39 ff.). 22 E 246, meine Hervorhebungen. Man beachte die polemische Anspielung auf Hegel! 23 Bonhoeffer verwendet den Begriff Metaphysik folglich kritisch bzw. abwertend. Auch dies ist ein Hinweis auf seine Abhängigkeit von der modernen Lebens- und Existenzphilosophie. 24 Bei Hegel ist dies sicher am deutlichsten (s. o. A.II.4). Aber auch für Kant kann dies mit Recht behauptet werden  –  obwohl seine kritische Philosophie vom englischen Empirismus beeinflusst ist –, wie am Verzicht auf einen traditionellen Seins- resp. Substanzbegriff deutlich wird (KrV B 419 ff.). Insofern wird bei ihm die Vernunftkritik folgerichtig fortgesetzt vom praktischen Idealismus der Freiheit (vgl. etwa KpV  A  4 f.: „Mit diesem [sc. praktischen] Vermögen steht auch die transzendentale Freiheit nunmehro fest […] Der Begriff der Freiheit, so fern dessen Realität durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist, macht nun den Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der spekulativen, Vernunft aus, und alle anderen Begriffe (die von Gott und Unsterblichkeit), welche, als bloße Ideen, in dieser ohne Haltung bleiben, schließen sich nun an ihn an, und bekommen mit ihm und durch ihn Bestand und objektive Realität, d. i. die Möglichkeit derselben wird dadurch bewiesen, daß Freiheit wirklich ist; denn diese Idee offenbart sich durchs moralische Gesetz.“) 25 „Modern“ soll hier als Epochenbegriff verstanden werden und meint dementsprechend die geistigen Strömungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts einschließlich ihrer bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückreichenden Wurzeln.

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da er die zweite Fassung dieses Kapitels im Unterschied zu der ersten mit der ausführlichen Reflexion auf diesen Begriff beginnen lässt26 und dabei selbst ausdrücklich auf die grundlegende Bedeutung des Lebensbegriffs hinweist: „Die wesentliche Unfruchtbarkeit eines Begriffs des Guten, der vom Leben absieht und das heißt ja, der selbst einen Begriff des Lebens einschließt, der weder der Wirklichkeit entspricht noch auch nur dazu geeignet ist, den Gegensatz zwischen dem Guten und dem Leben zu überwinden, führt zu der Frage nach dem Leben selbst und sucht in der Beantwortung dieser Frage zugleich Anleitung für ein rechtes Verständnis des Guten.“27

Der Anlass für eine solche Neubestimmung des Lebensbegriffs als Fundament der ethischen Theorie ist dabei die unmittelbare Erfahrung der Unzulänglichkeit des idealistischen Lebens- resp. Naturbegriffs28 und ihrer praktischen Philosophie, die Bonhoeffer mit einigen der von ihm rezipierten Vertretern von Lebens- und Existenzphilosophie, darunter vor allen anderen Nietzsche und Kierkegaard, teilt29, die ihn aber in einer Weise zum Handeln drängt, wie sie von den Denkern des mittleren und späten 19.  Jahrhunderts kaum vorhergesehen werden konnte. Daher überwiegt in seinen Ausführungen die Konstruktion des neuen Lebensbegriffs und die von ihm aus entwickelte ethische Theorie die Destruktion des „unfruchtbaren“ idealistischen Begriffs des Guten und führt ihn zu einer komplexen, viele Traditionen mit einbeziehenden Konzeption eines christologischen Verantwortungsbegriffs.

26 Vgl. dazu die Hinweise auf Veränderungen der zweiten gegenüber der ersten Fassung in der Einleitung B.I. 27 E 248. 28 Der Vorwurf der Einschränkung des Lebensbegriffs auf einen biologisch-physikalischen Naturbegriff (E 248) unter der Voraussetzung eines Geist-Natur-Dualismus bezieht sich im Wesentlichen sicherlich auf Kant; allerdings hat Bonhoeffer wohl neben Kant auch Hegel im Visier, wenn er moniert, dass der „abstrakte[ ] Begriff des Guten“ einen Lebensbegriff impliziere, bei dem „Leben […] bestenfalls als jenes Stück ‚Natur‘ verstanden [wird], das seinen Ursprung wie seine Erlösung dem Geist, der Idee verdankt.“ (E  248). Hegels Versuch einer Überwindung des Kantschen Dualismus von Geist und Natur durch die dialektische Verbindung von Substanz und Subjekt bzw. Natur und Selbstbewusstsein bzw. Sein und Denken wird damit von Bonhoeffer für verfehlt erklärt. Vgl. dazu den Abschnitt über Hegels Sündenbegriff sowie die Ausführungen über Bonhoeffers Deutung der Scham als Folge des Sündenfalls A.II.4.c, wo gegen die von der Spätantike bis zum Idealismus über den Vernunftbegriff konzipierten Anthropologien eine biblisch inspirierte, ganzheitliche theologische Anthropologie im Hintergrund steht. 29 Vgl. dazu besonders die Kapitel über Bonhoeffers Nietzsche- und KierkegaardRezeption, sowie den Exkurs zu seiner Beurteilung der Liberalen Theologie des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts (A.II.3 u. 5.d; D.I). Zu Kierkegaard ist außerdem die Nachfolge zu vergleichen, in welcher sich Bonhoeffer Kierkegaards Kritik an der vom Hegelianismus beeinflussten Theologie des bürgerlichen Luthertums zu eigen gemacht hat (s. z. B. N 29 ff.69 ff.).

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a) Die Lebensphilosophie aa) Bonhoeffers Rezeption der Lebensphilosophie Die emphatische Verwendung des Lebensbegriffs in der zweiten Fassung legt die Vermutung nahe, dass Bonhoeffer – jedenfalls auch – von der um die Jahrhundertwende sehr populären Lebensphilosophie beeinflusst ist. Ein weiterer Hinweis in diese Richtung ergibt sich aus der Durchsicht von Bonhoeffers Lektüre: Unter den von ihm nachweislich nicht nur besessenen, sondern auch gelesenen Autoren befinden sich etliche, die der Lebensphilosophie nahe stehen oder unmittelbar zu ihren Vertretern gerechnet werden. Dies sind etwa Friedrich Nietzsche, Wilhelm Dilthey, Georg Simmel, Oswald Spengler, Herman Nohl, Eduard Spranger, Theodor Litt und Romano Guardini, um nur die wichtigsten zu nennen. Es ist hier bemerkenswert, dass eine Reihe der genannten Autoren von Bonhoeffer mehrfach oder besonders intensiv, dabei aber in ganz unterschiedlichen Kontexten rezipiert wurde. Besonders im Fall Nietzsches ist dies offenkundig, da es eine ganze Reihe ganz verschiedener Bezugnahmen auf ihn gibt und ihm keinesfalls bloß im Hinblick auf lebensphilosophisches Gedankengut besondere Bedeutung für Bonhoeffers Theologie zukommt30. Aber auch Dilthey taucht schon früh in Bonhoeffers Werk auf, etwa im Zusammenhang mit der Kritik an der idealistischen Erkenntnistheorie31, um dann wieder eine herausragende Rolle für die Weiterarbeit an der Ethik aus dem Tegeler Militärgefängnis heraus zu spielen. Aber auch schon vorher, während des Studiums, hat Bonhoeffer nachweislich Dilthey rezipiert für seine Arbeit über Historische und Pneumatische Schriftauslegung32. Hier liegt wohl die erste Begegnung Bonhoeffers mit Diltheys Hermeneutik, die in engem Zusammenhang mit seiner geschichtlichen Lebensphilosophie steht33. Vermittelt wurde die Beschäftigung mit Dilthey vielleicht über Karl Holls von Bonhoeffer benutzten Aufsatz über Luthers Bedeutung für die Hermeneutik, in dem eine Auseinandersetzung mit Dilthey stattfindet34. Abgesehen von einigen Belegen aus der Zeit von Akt und Sein und der Vorlesung Geschichte der systematischen Theologie35 taucht Dilthey dann wieder, und nun in besonderem Maße, im Zuge der Weiterarbeit an der Ethik im Gefängnis auf: Bonhoeffer lässt sich mehrere Titel kommen36 30 S. dazu die Ausführungen zu Bonhoeffers Rezeption von Nietzsches Moralkritik A.II.3.c; vgl. außerdem Köster, Antipode, passim. 31 Vgl. AS 4826). 32 DBW 9, 305–323. 33 Vgl. dazu Albert, Lebensphilosophie, 70 ff.; Kozljanicˇ, Lebensphilosophie, 120 ff. 34 DBW 9, 3051. 35 AS 66.125; DBW 11, 139–213. Vgl. dazu Wüstenberg, Theologie, 261 f. 36 Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing. Goethe. Novalis. Hölderlin. Vier Aufsätze (1906), Von deutscher Dichtung und Musik. Aus den Studien zur Geschichte des deutschen

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und berichtet von seiner Lektüre in ausführlichen Briefpassagen an Eberhard Bethge37. Bei der Arbeit an der Ethik bediente sich Bonhoeffer außerdem intensiv bestimmter Studien von Nohl und Spengler38 und mindestens einer Studie von Guardini, von dem er sich – zweifellos im Zusammenhang seiner ethischen Studien – eine ganze Reihe von zwischen 1935 und 1940 erschienen Werken gekauft hat. In seinem Nachlassverzeichnis werden insgesamt sieben Titel von Guardini aufgeführt, von denen fünf zwischen 1935 und 1940 erschienen sind39. Aber auch die beiden Titel, die schon 1922 bzw. 1927 erschienen sind, könnte sich Bonhoeffer um die Jahre 1939 und 1940 oder später beschafft haben, da es keinen Hinweis darauf gibt, dass er sich schon früher direkt mit Guardini beschäftigt hat. Einzig in einer Rezension40 aus dem Jahr 1932, taucht er erstmals namentlich auf, ohne dass aber erkennbar wäre, dass Bonhoeffer zu dieser Zeit schon selbst diesen Autor gelesen hätte. Interessant ist allerdings, dass diese Studie, eine Dissertation, ausgerechnet auf Anregung von Theodor Litt, den Bonhoeffer aus der Zeit seiner Dissertation gut kannte, entstanden ist41. Am wahrscheinlichsten ist es dennoch, dass Guardini eine Entdeckung der Zeit der Ethik war, deren Einfluss freilich nicht ganz leicht abzuschätzen ist, weil es wenig eindeutige Hinweise und gar keine Zitate gibt42. Insofern der Theologe Romano Guardini jedoch seinerseits nicht nur von der Existenz-, sondern auch von der Lebensphilosophie beeinflusst ist, dürfte er für Bonhoeffer wohl – mit Einschränkung, da es sich ja um einen katholischen Denker handelt  –  ein geistiger Bundesgenosse gewesen sein, nicht jedoch ein ursprünglicher Einflussgeber43. Geistes (21931), Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation (evtl. 21921). 37 WE 286: „Außerdem interessiert mich Dilthey sehr […]“; vgl. bes. auch 476 f.530–532 und die Bemerkung von Karl Bonhoeffer: „Dietrich […] wird Mühe haben, sich auf Dilthey zu konzentrieren, den er jetzt für seine Ethik studiert.“ (aaO. 553). 38 Nohl, Die sittlichen Grunderfahrungen. Eine Einführung in die Ethik (1939); Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte (1923); Der Mensch und die Technik. Beitrag zu einer Philosophie des Lebens (1931); Jahre der Entscheidung. Erster Teil: Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung (1933); vgl. das Literaturverzeichnis a) zur Ethik. 39 Meyer, Nachlaß, 179.213.227. Es handelt sich um folgende Werke: Die christliche Liebe. Eine Auslegung von 1. Kor. 13 (1940); Christliches Bewusstsein. Versuche über Pascal (1935); Die Offenbarung. Ihr Wesen und ihre Formen (1940); Vom Geist der Liturgie (1922); Vom heiligen Zeichen (1927); Welt und Person. Versuche zur christlichen Lehre vom Menschen (1939); Religiöse Gestalten in Dostojewskijs Werk (1939). 40 Zu Cord Cordes, Der Gemeinschaftsbegriff im deutschen Katholizismus und Protestantismus der Gegenwart, Leipzig 1931 (DBW 11, 367–369). 41 Vgl. DBW 3671. 42 Abgesehen von dem in der Ethik verwendeten Ausdruck „Randgestalten“ bzw. „Randexistenzen“ (E 141.352), der aber nicht als Zitat ausgewiesen wird. 43 Nicht unbedingt ein Beweis, aber doch ein Hinweis auf eine gewisse Nähe zum Denken Guardinis ist außerdem die Tatsache, dass sich Bonhoeffer zur Zeit der Ethik erstmals

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Spranger wird in der Ethik einmal zitiert44, Simmel und Litt sind wichtige Referenzen in Sanctorum Communio, tauchen später jedoch nur noch vereinzelt in Bonhoeffers Werk auf45; José Ortega y Gasset dürfte Bonhoeffer während der Zeit der Ethik bereits gekannt haben, wenn sich auch in seinem Nachlass kein Titel von ihm befindet46. Damit ist zwar keineswegs eine direkte, spezifische Abhängigkeit von diesen Denkern belegt oder belegbar; schließlich handelt es sich bei den jeweils vertretenen Konzeptionen um sehr unterschiedliche Ausprägungen einer als Lebensphilosophie bezeichneten breiten Strömung47. Das besondere Interesse am Lebensbegriff und damit verbunden die Kritik am Logozentrismus der traditionellen Philosophie und Theologie, das ein entscheidendes Merkmal der unterschiedlichen Varianten von Lebensphilosophie darstellt, dürfte aber sehr wohl seinen Ursprung in der Rezeption einiger oder aller dieser Autoren haben48. Gerade deshalb ist der Einfluss, den die Lebensphilosophie auf das Denken Bonhoeffers ausgeübt hat, allerdings auch nur schwer konkreten Autoren zuzuweisen; eine direkte Auseinandersetzung mit eindeutig identifizierbaren Elementen bestimmter lebensphilosophischer Konzeptionen ist – anders als hinsichtlich der Rezeption intensiver mit bestimmten Elementen katholischer Theologie beschäftigt (insbesondere mit der thomistischen Ethik) und neben Guardini nachweislich und intensiv den seinerseits von Guardini beeinflussten Josef Pieper studiert und für seine Ethik positiv verwertet. Piepers im Rahmen der zeitgenössischen katholischen Theologie sehr eigenständige Thomas-Auslegungen wiederum zeigen deutliche Einflüsse der Existenzphilosophie. 44 E 3113), aus dem Werk Lebensformen. Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persönlichkeit (71930. Dieses Werk hat er – in einer früheren Auflage – allerdings auch schon in Sanctorum Communio verwendet, es gehört also zu den frühen Entdeckungen Bonhoeffers. Hier ist der Bezug allerdings kritisch). 45 S. das Register von Sanctorum Communio, SC  334.336. Auf Simmel verweist Bonhoeffer in seiner Vorlesung über die Geschichte der systematischen Theologie des 20. Jahrhunderts (DBW 11, 141.156.192). Dass Bonhoeffer sich auch mit Litt weiterhin jedenfalls am Rande auseinander gesetzt hat, belegt der Brief, den er im Januar 1939 an ihn geschrieben hat in Reaktion auf die Lektüre von dessen beiden neuen Arbeiten „Der deutsche Geist und das Christentum“ (1938) und „Protestantisches Geschichtsbewusstsein“ (1939), vgl. DBW 15, 112 f. 46 Dies legt die Anspielung E  105 auf dessen Werk „Aufstand der Massen“ nahe; ins Gefängnis hat sich Bonhoeffer dann mehrere Titel von ihm erbeten (vgl. WE 171.400), erhalten hat er von diesen „Geschichte als System und Über das römische Imperium“ (deutsch 1943) und „Das Wesen geschichtlicher Krisen“ (deutsch 1943). 47 Für einen Überblick vgl. Albert, Lebensphilosophie, passim; Kozljanic ˇ , Lebensphilosophie, passim. 48 Vermutlich haben Nietzsche und Dilthey hier die größte Rolle gespielt; sie sind in Bonhoeffers Werk schon früh vertreten und werden auch später – verteilt auf unterschiedliche Lebensphasen – intensiv rezipiert (s. o.). Sicherlich aber hat Bonhoeffer nicht nur von der Lebensphilosophie her Impulse zur Konzentration auf den Lebensbegriff erhalten; von dieser übernimmt er zunächst bestimmte Grundelemente, wie insbesondere die Kritik am Idealismus. Darüber hinaus ist es aber wahrscheinlich, dass Bultmann im Verein mit dem biblischen Sprachgebrauch und sogar Hegel noch im Hintergrund stehen. Dazu s. u. B.II.2.d.

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von Nietzsches Moralkritik oder Hegels Sündenfalldeutung – kaum erkennbar und hat wohl auch nicht im Interesse Bonhoeffers gelegen. bb) Grundgedanken der Lebensphilosophie Die unterschiedlichen lebensphilosophischen Konzeptionen, die Bonhoeffer in den verschiedenen Phasen und Kontexten seines theologischen Wirkens zur Kenntnis genommen hat, sollen und müssen hier nicht im Einzelnen dargestellt werden. Die Auseinandersetzung mit ihnen ist, abgesehen von der frühen und dann besonders der späten Tegeler Beschäftigung mit Dilthey49 und der intensiven Auseinandersetzung mit Nietzsche50, weitgehend unspezifisch. Gleichwohl sind zentrale lebensphilosophische Elemente, die sich in ähnlicher Weise bei fast allen der von Bonhoeffer rezipierten Denker finden, zweifellos in sein theologisches Denken eingegangen, zum Teil vermischt mit Grundgedanken der Existenzphilosophie, die ihrerseits von der Lebensphilosophie entscheidende Impulse erhalten hat51. Die Darstellung beschränkt sich daher auf die Hervorhebung der wichtigsten lebensphilosophischen Grundgedanken, bevor Bonhoeffers Rezeption und Modifikation dieser Elemente in dem Kapitel „Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]“ untersucht werden52. Die Lebensphilosophie als geistesgeschichtliche Strömung des späten 19. und frühen 20.  Jahrhunderts ist in kritischer Auseinandersetzung mit der idealistischen Philosophie entstanden. Sie gehört insofern konstitutiv zu dem von Löwith festgestellten Epochenbruch des 19. Jahrhunderts53, wenngleich 49 Allerdings geht es in beiden Fällen primär um andere Aspekte von Diltheys Werk: während der Studienzeit setzt sich Bonhoeffer überwiegend mit der Hermeneutik Diltheys auseinander, ohne dabei deren lebensphilosophischen Hintergrund explizit zu würdigen (DBW 9, 305–323); später im Gefängnis ist es vor allem Diltheys Geschichtsdeutung, die ihn interessiert und die er mit Eberhard Bethge diskutiert (WE 476 f.530–532 u. ö.). Auch hinter dieser steht freilich der metaphysikkritische lebensphilosophische Ansatz Diltheys, wonach das Wesen der Geschichte nicht im dialektischen Wirken der Vernunft, sondern in der konkret-lebendigen Entwicklung von Individuum und Gesellschaft besteht. Vgl. dazu zunächst Lieber, Kulturkritik, 27 ff.; Stegmaier, Fluktuanz, 132 ff. („Diltheys Kritik an Hegel: Hegels dogmatischer Panlogismus“). 50 A.II.3.a. 51 Statt anderer vgl. die Hinweise Bollnows auf Heidegger, Jaspers und Sartre: Lebensphilosophie, 151 f. (Register). 52 Dabei werden Dilthey und Nietzsche am stärksten berücksichtigt. Dies einerseits, weil ihre Rezeption durch Bonhoeffer im Vergleich mit den anderen am intensivsten ist und sich dabei über mehrere Phasen seiner theologischen Entwicklung erstreckt; andererseits, weil diese beiden sehr unterschiedlichen Denker als die wichtigsten Begründer der Lebensphilosophie gelten und daher entscheidende Motive dieser philosophischen Richtung sehr deutlich und in Abgrenzung zur vorangehenden und parallelen idealistischen und neukantianischen Philosophie erfasst werden können – trotz der Komplexität des Denkens beider, das keineswegs ‚nur‘ lebensphilosophisch genannt werden kann. 53 Löwith, Hegel.

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diese Klassifizierung mindestens für einen der Begründer der Lebensphilosophie, nämlich Dilthey, ungenau ist. Denn dieser verdankt seine philosophische Entwicklung gerade einem intensiven und dabei auch konstruktiven Studium idealistischer Philosophie54; doch auch Dilthey verlässt die Voraussetzungen idealistischer Philosophie und entwirft einen philosophischen Denkansatz, der diese grundsätzlich in Frage stellt. Löwith untersucht in seiner bekannten Studie nicht Dilthey, sondern die „revolutionären“ Denker Nietzsche, Kierkegaard, Feuerbach und Marx sowie einige andere55; Dilthey und die Lebensphilosophie als solche könnten diesem existenzphilosophisch beeinflussten Denker nicht radikal genug, vielleicht auch nicht greifbar genug erschienen sein, insofern sich die Lebensphilosophie als geistige Strömung sehr viel breiter, zugleich aber auch sehr viel uneinheitlicher als die Existenzphilosophie entwickelte. Wichtige Motive, besonders im Zusammenhang der Kritik an Rationalismus und Idealismus teilen beide Strömungen aber miteinander, so dass mit einem gewissen Recht nicht nur die Lebensphilosophie im Allgemeinen, sondern auch der vom Idealismus noch erkennbar geprägte Dilthey im Besonderen  –  cum grano salis – als Protagonist bzw. Resultat dieses geistigen Epochenumbruchs gewertet werden können. Die Lebensphilosophie zeichnet sich in ihrer kritischen Wendung gegen Rationalismus und Idealismus nicht allein durch die besondere Betonung des Lebensbegriffs aus. Vielmehr verbindet sich mit der Fokussierung dieses Begriffs zugleich eine neue Konzeption von Leben, deren entscheidenden Aspekte sich prinzipiell von traditionellen philosophisch-theologischen Deutungen des Lebensbegriffs unterscheiden. Sind die Konzeptionen des Idealismus dadurch gekennzeichnet, dass Leben entweder reduziert wird auf die vom Geist bzw. der Vernunft streng zu unterscheidende bloße Natur, die ĠƴĝēĜ, oder – in bewusster Anknüpfung an das neuplatonische Denken56  –  vom Geist, d. h. 54 Dabei ist als Einflussgeber, abgesehen von seinem philosophischen Lehrer Friedrich Adolf Trendelenburg, nicht nur Schleiermacher zu nennen, den Dilthey im Zusammenhang seiner Promotion über dessen Ethik und besonders des späteren Werkes Das Leben Schleiermachers gründlich studiert hat; auch mit Hegel hat er sich literarisch beschäftigt (z. B.: Jugendgeschichte Hegels) und mit Kants Transzendentalphilosophie intensiv, wenngleich kritisch auseinander gesetzt (vgl. Stegmaier, Fluktuanz, 124 ff.; Lieber, Kulturkritik 30 ff.). 55 Löwiths Studie verfolgt insbesondere die Entwicklung vom absoluten Idealismus Hegels, den er in Verbindung mit Goethes Anschauung des Objektiven bringt (aaO. 20 ff.), zum anthropologischen, materialistischen und existentialistischen Umbruch bei Feuerbach, Marx und Kierkegaard und ihren Zeitgenossen und Nachfolgern. Daneben beschäftigt er sich mit dem eigenständigen Denken Nietzsches, das ebenfalls auf dem Idealismus wesensfremden Prinzipien ruht und teils scharfe Kritik an dessen Vertretern beinhaltet (vgl. etwa JGB I, 11, KGW 6.2, 18–20), wenn auch diese Auseinandersetzung im Unterschied zu den ‚Junghegelianern‘ (aaO. 78 ff.) für Nietzsches Philosophie nicht in derselben Weise konstitutiv ist. 56 Kreuzer, Einleitung, VIII.XIII.LXIIf. et passim.

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von einem allgemeinen Vernunftprinzip her, gedeutet wird, so werden in der Lebensphilosophie beide Interpretationen bestritten: weder ein Geist-NaturDualismus, noch eine logozentrische Deutung erfassen den Lebensbegriff und damit die Wirklichkeit überhaupt. In der kantischen Konzeption eines Geist-Natur-Dualismus hat folgerichtig der Lebensbegriff selbst gar keine besondere Bedeutung. Die vom Geist zu unterscheidende Natur liefert das Material für die Sinnlichkeit und ist so zwar konstitutiver Bestandteil der Erfahrung. Die Kategorien aber, und d. h. die von ihnen strukturierte Objekterkenntnis selbst, gründen im transzendentalen Subjekt, welches als solches „rein intellektuell“ ist57. Im Hinblick auf die Moral wiederum stehen sich praktische Vernunft und natürliche Begehrungsvermögen gegenüber, wobei letztere als Ausdruck der „Lebenskraft“58 gerade nicht zur Begründung von Moralität taugen, weil diese nur notwendig und allgemein, d. h. a priori aus Gründen der Vernunft erfolgen kann59. Hegel verwendet dem gegenüber den Lebensbegriff betonter, deutet ihn aber spekulativ aus. Das wahre Leben ist die dynamische Einheit von Allgemeinem und Einzelnem oder Unendlichem und Endlichem oder Negation und Position und insofern die Verwirklichung des Selbstbewusstseins60: das Wesen des Lebens ist die „natürliche Form von

57 KrV B 423*: „Denn es ist zu merken, daß, wenn ich den Satz: ich denke, einen empirischen Satz genannt habe, ich dadurch nicht sagen will, das Ich in diesem Satz sei empirische Vorstellung; vielmehr ist sie rein intellektuell, weil sie zum Denken überhaupt gehört […] das Empirische ist nur die Bedingung der Anwendung, oder des Gebrauchs des reinen intellektuellen Vermögens.“ 58 KpV A 43. 59 KpV A 47: „[…] der Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens ist auf das Gefühl der Lust und der Unlust, das niemals als allgemein, auf dieselben Gegenstände gerichtet, angenommen werden kann, gegründet […] Der Bestimmungsgrund [sc. der Selbstliebe als moralischen Prinzips] wäre immer doch nur subjektiv gültig und bloß empirisch, und hätte diejenige Notwendigkeit nicht, die in einem jeden Gesetze gedacht wird, nämlich die objektive aus Gründen a priori; man müßte denn diese Notwendigkeit gar nicht für praktisch, sondern für bloß physisch ausgeben, nämlich daß die Handlung durch unsere Neigung uns eben so unausbleiblich abgenötigt würde, als das Gähnen, wenn wir andere gähnen sehen. Man würde eher behaupten können, daß es gar keine praktischen Gesetze gebe, sondern nur Anratungen zum Behuf unserer Begierden, als daß bloß subjektive Prinzipien zum Range praktischer Gesetze erhoben würden, die durchaus objektive und nicht bloß subjektive Notwendigkeit haben, und durch Vernunft a priori, nicht durch Erfahrung (so empirisch allgemein diese auch sein mag) erkannt sein müssen.“ S. auch A 10*. 60 Vgl. Hoffmann, Hegel, 121: „Hegels dialektischer Begriffsrealismus, das heißt seine These, daß das Allgemeine niemals nur als Abstraktum aufgefaßt werden kann, versteht sich primär von diesem ‚Modell‘ [sc. dem Leben selbst] her.“; ähnlich Bonsiepen, Einleitung, XXXIII: „Das Bewußtsein soll […] das Wesen des Lebens erkennen, d. h. es soll erkennen, daß es möglich ist, den Widerspruch in sich selbst zu denken. Solche Gegenstandserkenntnis bedeutet in eins Selbsterkenntnis; Verstehen des Lebens und Erkenntnis seiner selbst bedingen einander.“

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Reflexivität“61, die Erscheinungen von Natur, Geschichte und menschlichem Bewusstsein sind daher als Manifestationen der Selbsterkenntnis des Geistes zu interpretieren. Der höchste Ausdruck dieser selbstreflexiven Struktur des Lebens resp. der Substanz ist zugleich die Vollendung des Geistes als absoluter Geist im begrifflichen Sichselbstwissen, indem die Dynamik des Reflexionsvorgangs – also der Übergang von der Unmittelbarkeit über die Entzweiung in Selbst und Anderes bis zur reflexiven Vermittlung von Selbst und Anderem in der Selbsterkenntnis – als Wesen des Geistes erkannt wird. Zuletzt wird das Leben also durch die logische Struktur dieses Reflexionsvorgangs, d. h. eine Vernunftnotwendigkeit, bestimmt62. Die Lebensphilosophie zeichnet sich demgegenüber durch eine „Wendung gegen den Verstand“63 aus, deren Kern darin besteht, die exklusive Bedeutung des Intellekts für Welterkenntnis und gelingenden Weltumgang zu bestreiten. Insofern richtet sie sich zwar zunächst gegen den das frühe 19. Jahrhundert bestimmenden Idealismus, dahinter aber zugleich auch gegen einen großen Teil der abendländischen Philosophiegeschichte64. Gleichwohl wird in den meisten Konzeptionen kein reiner Irrationalismus an die Stelle des traditionellen Intellektualismus gesetzt; vielmehr geht es primär um eine Einbeziehung der nicht-intellektuellen, d. h. physischen und psychischen Aspekte sowie der sozialen und geschichtlichen Bestimmtheiten des Menschseins in die Anthropologie. Das Menschsein wird so nicht mehr wesentlich als Vernunfttätigkeit 61 Jaeschke, Hegel-Handbuch, 182; s. auch aaO.: „Die Struktur der immanenten Zweckmäßigkeit [sc. der Natur] ist […] zu denken […] spekulativ als Ausdruck der Subjekthaftigkeit der Substanz.“ S. dazu PhG 18: „Die lebendige Substanz ist ferner das Sein, welches in Wahrheit Subjekt, oder was dasselbe heißt, welches in Wahrheit wirklich ist, nur insofern sie die Bewegung des sich selbst Setzens, oder die Vermittlung des sich anders Werdens mit sich selbst ist.“ 62 PhG 40: „Eben darin, daß das Dasein als Art bestimmt ist, ist es einfacher Gedanke; der Nus, die Einfachheit ist die Substanz. Um ihrer Einfachheit oder Sichselbstgleichheit willen erscheint sie als fest und bleibend. Aber diese Sichselbstgleichheit ist ebenso Negativität; dadurch geht jenes feste Dasein in seine Auflösung über. Die Bestimmtheit scheint zuerst es nur dadurch zu sein, daß sie sich auf Andres bezieht, und ihre Bewegung ihr durch eine fremde Gewalt angetan zu werden; aber daß sie ihr Anderssein selbst an ihr hat und Selbstbewegung ist, dies ist eben in jener Einfachheit des Denkens selbst enthalten; denn diese ist der sich selbst bewegende und unterscheidende Gedanke, und die eigene Innerlichkeit, der reine Begriff. So ist also die Verständigkeit ein Werden, und als dies Werden ist sie die Vernünftigkeit. In dieser Natur dessen, was ist, in seinem Sein sein Begriff zu sein, ist es daß überhaupt die logische Notwendigkeit besteht; sie allein ist das Vernünftige und der Rhythmus des organischen Ganzen [!], sie ist eben so sehr Wissen des Inhalts, als der Inhalt Begriff und Wesen ist, – oder sie allein ist das Spekulative.“ 63 Bollnow, Lebensphilosophie, 47. 64 Nämlich gegen den platonisch-neuplatonischen Realismus; vgl. Safranski, Nietzsche, 162: „Gleichwohl will Nietzsche […] einen Versuch mit dem radikalen Nominalismus machen“, und zwar vornehmlich als Kritik an der philosophischen Sprache und ihren Begriffen (vgl. MA  I,  11, KGW  4.2, 26 f. u. ö.); Bollnow, Lebensphilosophie, 15, über Diltheys Kritik an Husserls ‚Platonismus‘.

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auf einer naturalen Basis, sondern ganzheitlich als Einheit aus Natur, unbewusstem und bewusstem Sein verstanden, das zudem in einer vorgegebenen sozialen und historischen Wirklichkeit existiert und mit dieser in wechselseitigem Austausch steht. Die Bedeutung der einzelnen Aspekte für die lebensphilosophische Anthropologie kann dabei durchaus verschieden sein; so ist für Nietzsche die naturale Seite des menschlichen Daseins fraglos von besonderer Bedeutung65, während etwa Dilthey in viel höherem Maße das geistige Sein in seinem historisch-kulturellen Kontext betont66. Entscheidende Voraussetzung für eine jede lebensphilosophische Anthropologie ist aber prinzipiell die für die Wendung gegen den Intellektualismus wesentliche Bestreitung einer überzeitlichen Vernunftstruktur der Wirklichkeit, aufgrund derer Mensch und Welt erkannt werden und die Moral ihre Begründung erfährt. Gegen ein solches metaphysisches67 Systemdenken und die implizierte Aufteilung der Wirklichkeit in einen geistigen, zeitenthobenen und essentiellen sowie einen natürlichen, zeitlichen, aber unwesentlichen Bereich postulieren die Lebensphilosophen das Werden und die Zeitlichkeit als letzten Bestimmungsgrund der Wirklichkeit. Zur Verdeutlichung sei noch einmal eine Stelle aus Nietzsches Zarathustra angeführt: „Wie? Die Zeit wäre hinweg, und alles Vergängliche nur Lüge? Diess zu denken ist Wirbel und Schwindel menschlichen Gebeinen und noch dem Magen ein Erbrechen: Wahrlich, die drehende Krankheit heisse ich’s, solches zu muthmaassen […]. Alles Unvergängliche – das ist nur ein Gleichniss! Und die Dichter lügen zuviel. – Aber von Zeit und Werden sollen die besten Gleichnisse reden: ein Lob sollen sie sein und eine Rechtfertigung aller Vergänglichkeit!“68 65 Dabei geht es Nietzsche um einen Vitalismus, der nicht unmittelbar mit einem simplen Biologismus gleichzusetzen ist, von diesem aber auch einige Aspekte aufgenommen hat. Exemplarisch kann die bekannte Stelle aus dem Zarathustra angeführt werden, wo Nietzsche die organische Vitalität gegenüber dem geistigen Sein des Menschen aufwertet (Za I: „Von den Verächtern des Leibes“, KGW 6.1, 35 f.): „‚Leib bin ich und Seele‘ – so redet das Kind […] Aber der Erwachte, der Wissende sagt: Leib bin ich ganz und gar, und Nichts ausserdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe. Der Leib ist eine große Vernunft, eine Vielheit mit einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein Hirt. Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du ‚Geist‘ nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner grossen Vernunft […]“. Vgl. auch GM V: „Zur Naturgeschichte der Moral“, KGW 6.2, 105 ff., sowie Safranski, Nietzsche, 268–277. 66 Vgl. etwa Lieber, Kulturkritik, 27, der die Einheit von Diltheys teilweise fragmentarischem Schaffen in der „radikale[n] Absage an jede als Metaphysik auftretende Philosophie“ und in dem „großartigen Gedanken von der Geschichtlichkeit des Menschen, seinem Werden im geschichtlichen Prozeß der Gesellschaft“ sieht. Geschichtlichkeit meint dabei den „Prozeß der Selbsterarbeitung des Menschen, die nicht Selbstproduktion ex nihilo ist, sondern im Medium der Naturbearbeitung stattfindet“ (ebd.). 67 Zum kritischen Gebrauch des Begriffs Metaphysik bei Dilthey und Nietzsche vgl. Stegmaier, Fluktuanz, 167 f.; Dilthey, Philosophie, 72–74; MA 9 f.16–18.20 f. u. ö. 68 Za II: „Auf den glückseligen Inseln“, KGW 6.1, 106; vgl. auch MA I, 2, KGW 4.2, 20 f. u. ö. Vgl. auch Albert, Lebensphilosophie, 60. Die besondere Bedeutung des Werdens in der Lebensphilosophie ist zwar – z. B. bei Nietzsche – sicherlich ein heraklitisches Moment, un-

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Dilthey formuliert zwar nüchterner und zurückhaltender als Nietzsche in seinem Zarathustra, doch auch bei ihm ist Zeitlichkeit die erste Kategorie zur Erfassung von Leben, d. h. Wirklichkeit, in welcher dann die Geschichtlichkeit als bedeutunggebendes Erinnern begründet ist. „In dem Leben ist als erste kategoriale Bestimmung desselben, grundlegend für alle andern, die Zeitlichkeit enthalten […]. So bestimmt dies Erlebnis der Zeit nach allen Richtungen den Gehalt unseres Lebens. Daher denn auch die Lehre von der bloßen Idealität der Zeit überhaupt keinen Sinn in den Geisteswissenschaften hat. Denn sie könnte nur besagen, daß hinter dem Leben selber […] als dessen Bedingung ein schattenhaftes Reich der Zeitlosigkeit liege, ein Etwas, das nicht gelebt wird. In diesem Leben aber liegt die Realität, von welcher die Geisteswissenschaften wissen.“69

Hier liegt sicherlich auch eine der wichtigsten Parallelen zum Denken der Existenphilosophie vor, die sich ihrerseits dagegen wendet, das Leben aus einem abstrakten überzeitlichen Vernunftprinzip heraus zu begreifen70. Beide Strömungen rücken demgegenüber das konkret-individuelle und damit unhintergehbare und unvertretbare Dasein des Einzelnen ins Zentrum71, für das seinerseits die vorgegebene geschichtliche und natürliche Umwelt das unhintergehbare Bedingungsgefüge seines Lebens darstellt. Dies bedeutet allerdings terscheidet sich von diesem ‚dunklen‘ Vorsokratiker aber dadurch, dass zugleich überhaupt kein einziges, letztes Prinzip der Wirklichkeit, d. h. hinter dem Werden, mehr angenommen wird (s. dazu auch Müller-Lauter, Willen, 246 ff.). Zwar ist aufgrund der fragmentarischen Überlieferung Heraklits philosophisches Denken keineswegs ganz erschlossen, dennoch ist deutlich, dass er hinter dem alles bestimmenden Streit, dem ĚƲĕďĖęĜ, ein letztes göttliches Prinzip, den ĕƲčęĜ, annimmt, das freilich nicht ruhend oder statisch aufgefasst wird, sondern als sich in dem fortwährenden Wandel allen Seins, d. h. als dynamische Einheit des Gegensätzlichen, manifestierend (vgl. dazu Mansfeld, Vorsokratiker, 231 ff. und z. B. Frgg. B 2.72.67.10.8.53.80.88). 69 Dilthey VII,  192.194 (meine Hervorhebung); vgl. aaO.  201 f.: „Indem wir zurückblicken in der Erinnerung, erfassen wir den Zusammenhang der abgelaufenen Glieder des Lebensverlaufs unter der Kategorie der Bedeutung […] Nur die Kategorie der Bedeutung überwindet das bloße Nebeneinander, die bloße Unterordnung der Teile des Lebens. Und wie Geschichte Erinnerung ist und dieser Erinnerung die Kategorie der Bedeutung angehört, so ist diese eben die eigenste Kategorie geschichtlichen Denkens.“ 70 Kierkegaards Polemik gegen Hegel ist bereits mehrfach vorgeführt worden, vgl. A.II.5.d. Allerdings muss betont werden, dass für Kierkegaards Denken der Ewigkeitsbezug durchaus konstitutiv ist: dieser besteht nun aber gerade nicht in einer intellektuellen Durchdringung ewiger Prinzipien der Wirklichkeit, sondern in der relationalen Bestimmtheit der konkreten Existenz durch das Gottesverhältnis (Ebd.). Die Wirklichkeit der Existenz ist darum zwar nicht zu reduzieren auf reine, bloße Zeitlichkeit, wie dies bei Heidegger der Fall ist (Sein und Zeit, vgl. Bonhoeffers Kritik an der „Geschlossenheit der Endlichkeit“ [AS  66 f.]); gleichwohl ist der Ewigkeitsbezug nur innerhalb der Zeit, nämlich nur in der Begegnung mit dem inkarnierten Gott möglich, so dass der gelingende Existenzvollzug also bei Kierkegaard ein dynamisches und personales Geschehen ist, das nicht auf einer überzeitlichen Wesensform (einer anima rationalis o.ä.) beruht. 71 Bei Nietzsche ist dies der von der Masse unterschiedene schöpferische Übermensch, bei Dilthey der unerreichbare individuelle Personkern. Trotz der sehr erheblichen Differenzen zwischen beiden Denkern besteht darum hier eine Parallele in dem Fokus auf die individuelle Existenz.

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auch die Absage an einen archimedischen Punkt des Denkens – etwa ein transzendentales ICH –, der dem Werden entzogen sein könnte und die in begrifflichen Schemata nur unzureichend erfassbare Mannigfaltigkeit des zeitlichen Lebens begründen könnte. Mehr als Strukturierungen der Vielheit von einem relativen oder perspektivischen Standpunkt aus sind dem Menschen als Teil der Vielheit und des Werdens nicht möglich72. Ganzheitlichkeit des menschlichen Lebens, Individualität resp. Mannigfaltigkeit und Diesseitigkeit als wesentliche Verbundenheit mit dem Ganzen des zeitlichen Lebens, im Verein mit der Ablehnung des absoluten Standpunkts einer Metaphysik, sind darum entscheidende Charakteristika der Lebensphilosophie. Dabei unterscheidet sich die Lebensphilosophie von der Existenzphilosophie, mit der sie ja wichtige Elemente gemeinsam hat, grundsätzlich in der positiven Wertung des Lebens als solchem, der Hochschätzung der Diesseitigkeit. Sowohl die Natürlichkeit des Lebens als auch die Gestaltungsfähigkeit des Menschen im Hinblick auf sich selbst und seine Umwelt, die Implikat der Bestreitung einer traditionellen metaphysischen Weltauffassung ist, werden als positive Möglichkeit der Daseinssteigerung beurteilt73, wenn auch keine absoluten Kriterien für die Gestaltungsaufgabe zur Verfügung stehen, sondern die Handlung jeweils neu aus der Lebenssituation als den konkreten Erkenntnisbedingungen und dem unmittelbaren Tätigkeitsfeld heraus begründet werden und d. h. eben schöpferisch sein muss. b) Lebendige Konkretion gegen idealistische Abstraktion Der von Bonhoeffer in der zweiten Fassung von „Die Geschichte und das Gute“ im ersten Teil74 explizierte Lebensbegriff hat wichtige Elemente mit 72

Dazu Bollnow, Lebensphilosophie, 60–68.120–130 (mit Belegen). Vgl. für Dilthey etwa VII,  290 f.: „Das historische Bewußtsein von der Endlichkeit jeder geschichtlichen Erscheinung, jedes menschlichen oder gesellschaftlichen Zustandes, von der Relativität jeder Art von Glauben ist der letzte Schritt zur Befreiung des Menschen. Mit ihm erreicht der Mensch die Souveränität, jedem Erlebnis seinen Gehalt abzugewinnen, sich ihm ganz hinzugeben, unbefangen, als wäre kein System von Philosophie oder Glauben, das Menschen binden könnte. Das Leben wird frei vom Erkennen durch Begriffe […] Und der Relativität gegenüber macht sich die Kontinuität der schaffenden Kraft als die kernhafte historische Tatsache geltend.“ Für Nietzsche s. unter den zahlreichen Stellen exemplarisch aus den „drei Verwandlungen“ (Za I, KGW 6.1, 27): „Aber sagt meine Brüder, was vermag noch das Kind, das auch der Löwe nicht vermochte? Was muss der raubende Löwe auch noch zum Kinde werden? Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen. Ja, zum Spiele des Schaffens, meine Brüder, bedarf es eines heiligen Ja-sagens: seinen Willen will nun der Geist, seine Welt gewinnt sich der Weltverlorene.“ Vgl. auch die bei Bollnow zitierte Aussage Ortega y Gassets (Bollnow, Lebensphilosophie, 45): „Der Mensch muß sich nicht nur selbst machen, sondern das Schwierigste, was was er tun muß, ist die Bestimmung dessen, was er sein wird. Er ist causa sui in zweiter Potenz.“ 74 E 245–254. 73

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lebensphilosophischen Konzeptionen gemeinsam. Gleichwohl handelt es sich bei Bonhoeffer nicht um einen eigenen echten lebensphilosophischen Entwurf; vielmehr bündelt der Lebensbegriff eine theologische Anthropologie, die zugleich das Fundament der christlichen Ethik bildet. Daher überschreitet Bonhoeffers Lebensbegriff trotz des erkennbaren Einflusses lebensphilosophischer Konzeptionen deren Intention und methodische Beschränkung und mündet in eine christologische Begründung von ‚Leben‘. So hat den unmittelbaren Anstoß für die Ausarbeitung eines christologischen Lebensbegriffs als Fundament der Verantwortungsethik möglicherweise gar keine lebensphilosophische Konzeption gegeben, obwohl dies auch nicht ausgeschlossen ist, sondern – so ist zu vermuten – der Johanneskommentar von Rudolf Bultmann, den Bonhoeffer im März 1942 noch während der Arbeit an der ersten Fassung brieflich erwähnt75. Dies liegt auch nahe, weil zwei der sehr wenigen Hinweise, die Bonhoeffer selbst in der Ethik auf Referenzautoren gibt, sich auf den Lebensbegriff beziehen und auf eben diesen Kommentar verweisen76. Dabei wird Bultmann zur Erläuterung der christologischen Zuspitzung des Lebensbegriffs herangezogen und dient also als Referenz für die eigentliche Intention Bonhoeffers bei der Verwendung des Lebensbegriffs. Abgesehen von diesen beiden ausdrücklichen Hinweisen auf Bultmann sind allerdings auch Anspielungen auf andere, lebensphilosophische bzw. lebensphilosophisch beeinflusste Denker erkennbar: so zum einen die mehr oder weniger deutliche Kritik an Nietzsches „Vitalitätsethik“77, zum anderen die zustimmende Verwendung eines Gedankens von Herman Nohl, mit dem dieser eine Ethik auf der Basis eines nicht ganzheitlichen Lebensbegriffs kritisiert78. Nimmt man den Ethik-Zettel mit der Nr. 30 hinzu, der vermutlich im Winter 1941/1942 entstanden ist, so finden sich Hinweise auf eine Benutzung von Bultmanns Johanneskommentar und Nohls Werk Die sittlichen Grunderfahrungen, das die erwähnte Kritik an einer partiellen, d. h. nicht ganzheitlichen Ethik enthält. Bultmann wird dort zwar nicht genannt, aber da oben auf dem Zettel zweimal der später in der Ethik genannte und mit einem Bultmann-Verweis versehene Vers Joh  1,4 auftaucht, liegt die Vermutung eines Einflusses Bultmanns auf die Verwendung und vor allem auf die christologische Zuspitzung des Lebensbegriffs durchaus nahe. Nohl wiederum wird weiter unten auf dem Zettel zweimal ausdrücklich genannt, einmal ver75

DBW 16, 248 (an Ernst Wolf). E 2491) (Bultmann, Johannes, 21: Auslegung von Joh 1,4a [ƀčƬčęėďėőėċƉĞȦĐģƭţė]) und E 2502) (Bultmann, Johannes, 308: Auslegung von Joh 11,25 f. [őčƵďŭĖēŞŁėƪĝĞċĝēĜ ĔċƯĐģƮžĚēĝĞďƴģėďŭĜőĖƫĔŃėŁĚęĒƪėǹĐƮĝďĞċēĔċƯĚǬĜžĐȥėĔċƯĚēĝĞďƴģėďŭĜőĖƬęƉ ĖƭŁĚęĒƪėǹďŭĜĞƱėċŭȥėċ]). 77 E 251. 78 E 254: mit Nohl wehrt Bonhoeffer ethische Theorien ab, die als „Teilantworten“ die Ganzheit des Lebens in Jesus Christus negieren. 76

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bunden mit dem für lebensphilosophische Konzeptionen typischen Ausdruck „Kraft“ bzw. ĎƴėċĖēĜ, das andere Mal verbunden mit den für den Inhalt des Manuskripts besonders bedeutsamen Begriffen „Das Gute u. die Ganzheit“79. Es ist darum denkbar, dass zwar ein unmittelbarer Anstoß zur Konzeption eines christologisch begründeten Lebensbegriffs zwar von Bultmann stammte, Bonhoeffer aber bewusst zugleich bestimmte lebensphilosophische Elemente aufgegriffen und damit verbunden hat. Entscheidend war für ihn dabei offenbar besonders der für die Lebensphilosophie fundamentale Gedanke der Einheit der Wirklichkeit. Die Opposition, mit der Bonhoeffer dieses Kapitel beginnt, lässt deutlich erkennen, dass hier die lebensphilosophische Kritik an Kantianismus und Idealismus von ihm aufgenommen und zur Grundlage eines neuen Lebensbegriffs gemacht wird: „Die das ethische Denken noch weithin beherrschende Abstraktion eines isolierten Menschen, der nach einem absoluten Maßstab eines an und für sich Guten unaufhörlich und ausschließlich zwischen diesem klar erkannten Guten und dem ebenso klar erkannten Bösen zu entscheiden hat, haben wir […] hinter uns gelassen […]. Nicht, was an sich gut ist, sondern was unter der Voraussetzung des gegebenen Lebens und für uns gut ist, ist unsere Frage.“80

Hatte Bonhoeffer bereits in der Einleitung grundsätzliche Kritik an der Begründung jeglicher Ethik auf die Erkenntnis von Gut und Böse geübt, so führt er dies nun aus anderer Perspektive fort. Die Erkenntniskritik aus dem Einleitungskapitel „Die Liebe Gottes und der Zerfall der Welt“ wurde vom Glaubensbegriff aus geführt und hatte zum Ziel, das Bemühen um die Erkenntnis von Gut und Böse als tiefsten Ausdruck der Sünde zu entlarven81. Diese subtile epistemologische Folgerung aus der theologischen Anthropologie wird nun ergänzt und erweitert durch den theologischen Lebensbegriff, mit dem der Blick über die Frage nach dem Zusammenhang von Erkennen, Glauben und Handeln hinaus auf das Sein des Menschen und seiner Welt gelenkt wird. Wenn daher Leben resp. Wirklichkeit in Opposition zu einem „an sich Guten“ gebracht wird, dann impliziert dies die für die Lebensphilosophie grundlegende Bestreitung einer dualistischen intellektualistischen Weltdeutung – oder umgekehrt: es wird von Bonhoeffer eine ganzheitliche dynamische Wirklichkeit vorausgesetzt, für die überzeitliche, also dem steten Werden enthobene Prinzipien irrelevant sind. Denn die Gültigkeit solcher Prinzipien könnte nur darin begründet sein, dass zwischen dem konkreten zeitlichen bzw. geschichtlichen82 Leben einerseits und dem idealen Wesen 79

ZE Nr. 30. E 246.245. 81 S. bes. A.II.4.c. 82 Da es Bonhoeffer um den Menschen und seinen Weltumgang geht, nicht aber um grundsätzliche kosmologische Erwägungen, konzentriert er sich nicht auf die Unterscheidung Zeitlichkeit – Überzeitlichkeit bzw. Ewigkeit, sondern auf die spezifisch menschliche 80

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der Wirklichkeit andererseits unterschieden würde. Entsprechend müsste das ethisch Gute im Unterschied zum Bösen oder Verwerflichen in der „Verwirklichung bestimmter vom Leben unabhängiger Ideale oder Werte“83 bestehen, da ja allein das Ideale, die überzeitliche Struktur der Wirklichkeit den Maßstab des Handelns vorgäbe. Auch wenn Bonhoeffer auf inhaltliche Präzisierungen verzichtet, ist erkennbar, dass damit die Grundfigur des kantischen sowie des idealistischen Rationalismus bzw. Intellektualismus gemeint ist, die auch auf die Theologie und Ethik des 19. Jahrhunderts Einfluss ausgeübt hat. Diese Grundfigur einer Unterscheidung von Natur und Geist, d. h. von physischem und idealem Sein, erfasst die Wirklichkeit seiner Kritik zufolge gerade nicht wahrhaft, so dass die in ihr begründete Prinzipien- oder Vernunftethik folgerichtig nicht zu ihrem Ziel, nämlich der Humanisierung von Mensch und Geschichte gelangen kann. Denn wenn das Gute (im Unterschied zum Bösen), d. h. das Ideal, sei es als Wert, Tugend oder Pflicht aufgefasst, und das Leben, d. h. die konkrete Wirklichkeit, mittels des Geist-Natur-Schemas gedeutet werden, sind damit sowohl das Gute als auch das Leben, so Bonhoeffer, missverstanden: Die Wirklichkeit wird nicht erfasst, weil sie aufgeteilt wird in die beiden gegeneinander metaphysisch abgestuften Bereiche Natur, oder noch allgemeiner: Materie, einerseits und Geist oder Vernunft andererseits: „Das Leben ist zu einer quantité négligéable gemacht, von der man keine Kenntnis zu nehmen braucht. Das Leben wird [sc. im Rationalismus resp. Idealismus] bestenfalls als jenes Stück ‚Natur‘ verstanden, das seinen Ursprung wie seine Erlösung dem Geist, der Idee, verdankt. Wo aber das Gute und das Leben sich verhalten sollen, wie Natur und Geist, dort […] wird ein gesetzlich verstandenes Gegenüber behauptet, für das es keine Versöhnung, höchstens eine Vergewaltigung des einen durch das andere gibt.“84

Leben wird dann also mit der unvernünftigen Natur identifiziert, die in sich selbst keine ethische Potenz hat und darum der Bestimmung und Formung durch die praktische Vernunft bedarf. Damit treten ethische Forderung und natürliches Sein einander gegenüber, selbst wenn – wie etwa bei Hegel – gar kein wirklicher Dualismus vorliegt, weil zuletzt die Natur als das Andere des Geistes erscheint85. Bestreitet man jedoch einem solchen Lebensbegriff seinen Form der Zeitlichkeit, nämlich die Geschichtlichkeit, der überzeitliche Prinzipien als ungeschichtlich und damit unwirklich gegenübergestellt werden. Zum Geschichtsbegriff s. ausführlich den Exkurs D.II. 83 E 252. 84 Vgl. E 248. 85 Vgl. dazu o. B.II.2.a sowie A.II.4.b. Die Differenz von Geist und Natur bildet darum einen wesentlichen Teil seines Systems; und auch wenn diese Differenz, oder in Hegels Terminologie die Trennung resp. Entzweiung, schließlich aufgehoben wird in die höhere Einheit des absoluten Geistes, so sind doch sowohl die Unterscheidung von Subjekt und Substanz in der Identität als auch die Priorität des Intellektuellen hierbei konstitutiv: „der Geist ist das Sichunterscheiden, das Setzen von Unterschieden.“ (RPh III, 234). Bonhoeffer geht es hier nicht um eine umfassende und differenzierte Hegel-Kritik, sondern um die s.E. verkehrte

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Wirklichkeitsbezug86, dann muss auch die Ethik vollständig anders begründet werden: Das absolute oder an sich Gute87 kann nicht als das wahrhaft Gute gelten, weil es, da es der idealen Sphäre, dem geistigen Sein, zugehört, „ein metaphysisches Gebilde ohne wesentliche Beziehung zum Leben ist“88. Sollte seine Gültigkeit behauptet werden und die Umsetzung des Guten im oder für das Leben gefordert werden, so müsste dies notwendig, so Bonhoeffer, zu einer Gesetzlichkeit führen, die ihr moralisches Ziel, die Humanität89, nur verfehlen kann; das postulierte Gute würde notwendig zu einem „toten Gesetz, zum Moloch, dem alles Leben und alle Freiheit geopfert wird und das selbst die Verbindlichkeit eines echten Sollens verliert“90. Hier wird ganz deutlich, wie weit Bonhoeffer gedanklich von den idealistischen Systemen entfernt ist: nicht nur der Lebensbegriff wird völlig anders gebraucht, auch Freiheit hat bei ihm zweifelsohne eine andere Bedeutung als in den rationalistischen Systemen, wo höchste Freiheit mit der Notwendigkeit der Vernunft zusammenfällt91. Denn ein solcher Freiheitsbegriff setzt die metaphysische Geist-Natur-Unterscheidung – folgerichtig – in der Anthropologie fort, so dass die ethische Forderung als Konflikt zwischen Erkenntnis und Willen innerhalb des Menschen erscheint. Die Erkenntnis, der intellektuelle Zugang zum absolut Guten, steht dabei nicht in Frage, so dass allein der Wille als Ausdruck des natürlichen Seins des Menschen das kritische Moment bildet, das die Umsetzung des erkannten Guten verhindert oder verhindern Grundunterscheidung von Natur und Geist, weil diese auch eine Abwertung des Natürlichen im Unterschied zum Geistigen beinhaltet. Dass Hegels System eigentlich alles andere als dualistisch, sondern vielmehr der Versuch einer Überwindung des kantischen Dualismus ist, weiß er wohl: „Hegel [ist imgrunde] Pantheist[ ]“ (WE 532), „[…] für [Hegel] war […] Wahrheit das Verhältnis des Geistes zu sich selbst. Monistischer Gedanke.“ (DBW 11, 149). 86 E 248. 87 E 246. 88 E 246. 89 S. dazu den Exkurs über Bonhoeffers Kritik an der Liberalen Theologie D.I. 90 E 246. Dass unter solchen Voraussetzungen das Sollen Kants, das Gesetz der praktischen Vernunft, keine Gültigkeit haben kann, ist selbstverständlich. Eine Pflicht, ein ethisches Sollen, muss also anders begründet werden. Diesem Zweck hätte wohl das nur geplante und nicht mehr verfasste Kapitel zum Gesetzesbegriff gedient. S. dazu u. C.III.2. 91 Für Kant vgl. etwa KpV A 52 ff.; für Hegel o. A.II.4. In den vorneuzeitlichen Systemen spielt der Freiheitsbegriff noch nicht dieselbe Rolle, wie im Idealismus, doch auch für den mittelalterlichen Rationalismus gilt die Verbindung von vernunftmäßiger Erkenntnis und freiem Wollen des Guten. Statt möglicher Hinweise z. B. auf Thomas von Aquin oder spätscholastische Denker vgl. Luthers De servo arbitrio, wo in der Auseinandersetzung mit scholastischer und spätscholastischer Theologie sowohl die natürliche Fähigkeit der ratio zur Erkenntnis des wahrhaft Guten als auch die Vernunftbestimmtheit des moralischen Wollens bestritten werden (WA 18, 600–787). Bonhoeffers Selbstverständnis als Lutherinterpret unter den Bedingungen der Moderne zeigt sich bei aller Bestimmtheit durch die zeitgenössische Philosophie auch an seiner selbstverständlichen Kritik am vorausgesetzten Freiheitsbegriff und der rationalistischen Anthropologie, wenn auch ein expliziter Hinweis auf Luther fehlt.

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könnte92. Das Ethische wird demnach „in den Kampf zwischen der bereits am Guten orientierten Erkenntnis und dem noch widerstrebenden Willen“ verlegt93. Eine freie Entscheidung für das Gute müsste dieser Konzeption zufolge zugleich die Überwindung des Willens beinhalten, d. h. den Sieg der Vernunft über die Natur. Eine solche traditionelle Konzeption beruht jedoch auf den zwei bereits genannten Voraussetzungen, die von der Lebensphilosophie ebenso wie von der Existenzphilosophie, korrigiert worden sind und auch Bonhoeffers Kritik zugrunde liegen: dem Intellektualismus bzw. Rationalismus, der impliziert, dass dem Menschen als anima rationalis die vernünftige Struktur der Wirklichkeit im Prinzip zugänglich ist, und der damit zugleich postulierten hierarchischen Aufteilung der Wirklichkeit auch und gerade in Bezug auf die Anthropologie: „[D]ie Entscheidung zwischen dem klar erkannten Guten und dem klar erkannten Bösen nimmt die menschliche Erkenntnis selbst von der Entscheidung aus […] und verfehlt damit jene echte Entscheidung, in der der ganze Mensch samt Erkenntnis und Willen in der Vieldeutigkeit einer geschichtlichen Situation nur im Wagnis der Tat selbst das Gute sucht und findet.“94

Dass die menschliche Erkenntniskraft aus eigenem Vermögen heraus jedoch keineswegs imstande ist, das Gute prinzipiell zu erkennen, dass vielmehr der sein Erkennen absolut setzende Mensch der in der Sünde gefangene Mensch ist und das von ihm postulierte Gute und Böse seine eigenen die Wirklichkeit verfehlenden Schöpfungen sind, hat Bonhoeffer im Einleitungskapitel ausgeführt. Mit dem Bestreiten einer dualistischen bzw. rationalistischen Kosmologie und Anthropologie mittels des lebensphilosophisch beeinflussten Lebensbegriffs ist nun auch die ontologische Voraussetzung eingeholt: die Wirklichkeit ist das eine ganzheitliche und zeitliche Leben, so wie der Mensch wesentlich nur geschichtlich als leib-geistige Einheit existiert; ein Transzen92 Ausdrücklich ist hier mit dem der Erkenntnis entgegenstehenden Willen der natürliche, also triebbestimmte und eigensüchtige Willen, nicht aber ein mit der Vernunft unmittelbar verbundenes übergeordnetes Wollen des Guten gemeint, das ja auf die Seite des Intellekts gehört. Es geht also weder um den kantischen guten Willen (z. B. KpV BA 1 ff.) noch um das thomistische Wollen, das dem Erkennen unmittelbar folgt (vgl. dazu ausführlich Pieper, Wirklichkeit, 67 ff.), sondern um die vom geistigen Sein des Menschen zu unterscheidenden Antriebskräfte der Natur. Allerdings ist für Thomas zu bedenken, dass bei ihm nicht ein einfacher anthropologischer Dualismus vorliegt, sondern ein gestuftes Menschenbild; die Führung hat aber auch hier die anima rationalis, soweit sie nicht durch die Sünde in ihrer Erkenntniskraft beeinträchtigt ist und zugleich die Triebe des Menschen sowie schlimmstenfalls auch das (intellektuelle) Wollen des Menschen entgleisen (dazu ausführlich Pieper, Klugheit, passim; ders. Zucht, passim). Auf diese, ihm mindestens aus der Pieper-Lektüre bekannten, Differenzierungen kommt es Bonhoeffer nicht an; seine Kritik richtet sich grundsätzlich an eine hierarchische Aufteilung der Anthropologie und die damit verbundene übermäßige Aufwertung der menschlichen Erkenntniskraft. 93 E 246. 94 E 246.

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dieren des Lebens, also der konkreten natürlich-geschichtlichen Wirklichkeit, ist weder sinnvoll noch möglich. Damit ist Leben in seinem allgemeinen Sinne (als zeitlich sich vollziehendes organisch-geistiges Werden) ebenso wie die individuelle Lebendigkeit des einzelnen Menschen das ontologische Fundament sowohl für das Erkennen als auch für die ethische Entscheidung und das damit freigesetzte Handeln: „Nicht was gut wäre, wenn wir nicht lebten, also unter irgendwelchen fingierten Umständen, geht uns an – ja wir können als Lebende diese Frage garnicht einmal ernsthaft stellen eben weil wir auch eine Abstraktion vom Leben nur als ans Leben Gebundene […] vollziehen können […], sondern was unter der Voraussetzung des gegebenen Lebens und für uns als Lebende gut ist, ist unsere Frage.“95

An die Stelle eines absoluten Standpunkts, etwa das transzendentale ICH oder das überzeitliche Licht der Vernunft, ist für Bonhoeffer darum der unhintergehbare Horizont des Lebens zu setzen, innerhalb dessen es steten Wandel, aber gerade keine unwandelbaren Prinzipien gibt96, denn „[n]ichts wäre verkehrter als die Welt statisch, ruhend zu denken.“97. Mit dieser Position steht Bonhoeffer offenkundig in der Tradition lebensphilosophischen Denkens, wie er es besonders bei Nietzsche und Dilthey kennen gelernt hat98: die Absage an einen archimedischen Punkt des Denkens, von dem aus das immer im Wandel begriffene Leben erst seinen Sinn und seinen Maßstab erhielte, ist begründet in der Absage an einen rationalistischen Wirklichkeitsbegriff. Stattdessen ist Leben, genauer: geschichtliches Leben, die Bezugsgröße der gesamten Existenz und insofern zugleich Voraussetzung oder Bedingungsgefüge wie auch Maß allen Denkens und Handelns; das Lebendige als Teil des Lebens ist prinzipiell nicht fähig und bedürftig, diesen seinen Horizont zu überschreiten. Stattdessen gewinnt es aus diesem Horizont heraus den Grund

95

E 245. E 245 f. 97 ZE Nr. 35. Aus dem Kontext des Zettels wie auch des gesamten Textes „Die Geschichte und das Gute“ ergibt sich, dass Bonhoeffers Fokus auf der menschlichen Existenz und folglich der Geschichtlichkeit des Lebens liegt; Zeitlichkeit als übergordnete, das außermenschliche Sein einschließende Kategorie, ist für ihn nicht von Interesse. S. ausführlicher u. D.II. 98 S. dazu o. B.II.2.a; vgl. auch Stegmaier, Fluktuanz, 162 f.: „Nach Schleiermachers Vertiefung von Kants Transzendentalphilosophie ist für Dilthey Leben ‚nun die Grundtatsache, die den Ausgangspunkt der Philosophie bilden muß‘ […] Er begreift Leben nicht erst als Grenze, an der alles Erkennen und Handeln im religiösen Gefühl aufgeht, sondern schon als Bedingungsgefüge, das alles Erkennen und Handeln auslöst. Das Lebensgefühl ist dann nicht mehr zuerst ein Gefühl der Abhängigkeit, sondern ein Gefühl der Tätigkeit und als solches in jedem Moment erfahrbar […] So, als im Gefühl gegenwärtige einheitliche Leistung einer unergründlichen Vielheit von Kräften, begreift auch Nietzsche das Leben. Er stellt jedoch das Tätige, Aneignende, Angreifende, Übergreifende des Lebens noch weit schärfer gegen die Erfahrung des Abhängig-Seins heraus […]“. 96

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für die ethische Entscheidung, d. h. für das jeweils im konkreten99 Leben begründete ontologisch Gute: „Die wesentliche Unfruchtbarkeit eines Begriffs des Guten, der vom Leben absieht […] führt zu der Frage nach dem Leben selbst und sucht in der Beantwortung dieser Frage zugleich Anleitung für ein rechtes Verständnis des Guten.“100

Die Bestreitung jeglicher Relevanz einer Prinzipienethik für das menschliche Leben ist darum nur folgerichtig: selbst wenn sie einmal scheinbar zum Erfolg führen, d. h. sich kurzfristig in der Geschichte durchsetzen sollte, so ist dies nur eine Täuschung, ein Irrtum, der auf einer verkehrten Wertung beruht, derzufolge das Leben statt als Bedingung und Maßstab allein als Material eines von diesem zu unterscheidenden Prinzips genommen wird101. Zeichen dieses „qualifizierten Mißerfolg[s]“102 jeglicher Prinzipienethik ist die für die zeitgenössische theologische Ethik in Bonhoeffers Wahrnehmung charakteristische Aufteilung auch der konkreten Lebenswirklichkeit in den Bereich des Ideals und den Bereich der diesem Ideal widersprechenden Welt. Das Gute ist dann das die gegebene Welt transzendierende moralisch Gute, zu dessen Begriff der Kontrast mit dem Nicht-Guten, Bösen gehört, welches die nicht moralisch überformte Welt kennzeichnet. An den Beispielen, die Bonhoeffer hier nennt, zeigt sich ganz deutlich, dass nicht die unterschiedlichen ethischen Theorien in ihren jeweiligen Besonderheiten, sondern dahinter und darüber hinaus das ihnen gemeinsam zugeschriebene Fundament Gegenstand seiner Kritik ist: die Gemeinsamkeit so verschiedener theologischer Ethiken wie der kantisch beeinflussten Liberalen Theologie, der katholischen Stufenethik und der schwärmerisch-radikalen Ethik reformatorischer Ausprägung ist der verkehrte Begriff von der Wirklichkeit, von dem aus erst die Ethik der vermeintlichen weltlichen Wirklichkeit kontrastierend gegenüber gestellt oder jedenfalls streng von ihr abgesetzt wird. Dabei ist es Bonhoeffer gleichgültig, wie der Wirklichkeitsbegriff im Einzelnen genau konzipiert ist. Ob es sich um eine kantische Denkfigur handelt, derzufolge eine im religiösen Apriori begründete Sittlichkeit von der natürlichen Welt zu unterscheiden ist, ob es sich um den katholischen Gedanken einer hierarchisch gestuften Wirklichkeit handelt, bei dem das asketische Leben den höchsten Stellenwert erhält, oder ob es sich um den 99 Konkret muss das Gute ja schon deshalb sein, da es nicht in der Form eines Prinzips erfasst werden kann. Zudem kann auf dem Hintergrund des dargestellten Lebensbegriffs immer nur ein situativ Gutes Gegenstand ethischer Erkenntnis und Tat sein, weil das Leben selbst sich immer nur konkret vollzieht. Inwiefern dieses im Leben begründete konkrete Gute allerdings gleichwohl gewisse strukturelle und inhaltliche Orientierungen enthält, ergibt sich aus den weiterführenden Bestimmungen des Lebensbegriffs, die Bonhoeffer im Folgenden vornimmt. 100 E 248. 101 E 248. 102 E 247.

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Antagonismus von sündhaft verdorbener Welt und idealer Ethik Jesu im Schwärmertum handelt  –  in jedem Fall wird die ontologische Einheit der Wirklichkeit und ihre wesentliche Lebendigkeit, d. h. eben auch der sie kennzeichnende stete Wandel verkannt und durch eine „statische Grundformel“ ersetzt, die im strengen Wortsinn eine Abstraktion vom Leben darstellt103 und den Konflikt zur „‚Entscheidungsstelle des spezifisch ethischen Erlebnisses‘“ macht104. Gerade dies aber ist einer der ganz wesentlichen Grundgedanken in Bonhoeffers ethischer Theorie: In dem Kapitel „Die Liebe Gottes und der Zerfall der Welt“ hatte er den moralischen Grundkonflikt von Gut und Böse als das fundamentale Problem, man könnte auch sagen: den Fehlansatz, jeder philosophischen Ethik bestimmt, dem er die transmoralische Einfalt des Glaubenden als die konkrete Ganzheit und Einheit von Erkennen, Existieren und Handeln in der jeweils gegebenen Situation und im personalen Bezug auf Jesus Christus als Grund der Existenz, gegenüber gestellt hat. Nun konkretisiert er diesen Gedanken dahingehend, dass dieser zunächst erkenntnistheoretisch entfaltete Grundkonflikt von Gut und Böse sich je nach ethischer Theorie auch ganz praktisch in verschiedenartigen Entscheidungsund Lebenskonflikten äußert, die jeweils eine Zerreißung des eigentlich ganzheitlichen Lebens zur Folge haben müssen und darum am wirklichen Leben vorbeiführen105. Das ontologisch Gute ist damit, in Bonhoeffers Deutung, als dieses das transmoralisch Gute. Zugleich wird hier auch wieder deutlich, dass für Bonhoeffer offenkundig die Erfahrung der Unzulänglichkeit solcher Ethiken, nicht nur, aber in besonderer Weise während des Unrechtsregimes des Nationalsozialismus, ein entscheidender Anlass für die Neubegründung christlicher Ethik auf einem ganz anders gearteten Wirklichkeitsbegriff gewesen ist. Beeinflusst von Barths dialektisch-theologischer Kritik, aber auch von Nietzsches Christentumsund Moralkritik106 und schließlich in besonderer Weise durch sein familiäres Umfeld, in dem das Handeln auf dem vermeintlich weltlichen Sektor, also in den konkreten politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen, im Mittelpunkt steht, ist diese Erkenntnis der „wesentlichen Unfruchtbarkeit“107 der zeitgenössischen Ethiken aufgrund ihrer statischen, tendentiell dualistischen bzw. gestuften Wirklichkeitsauffassung darum der negative Hintergrund seiner Konstruktion einer neuen, d. h. für Bonhoeffer, wahrhaft christlichen Ethik. 103

Vgl. E 246 f. E 310, Zitat von Spranger, vgl. ebd.3). 105 E  247: „[…] daß hier überhaupt keine echte Begegnung mit dem Leben […] stattgefunden hat“. 106 S. dazu den ganzen Abschnitt über Bonhoeffers Rezeption von Nietzsches Christentums- und Moralkritik sowie den Exkurs über Bonhoeffers Kritik an der Liberalen Theologie u. D.I. 107 E 248. 104

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c) Der Fokus auf das geschichtliche Leben Der Lebensbegriff, auf den Bonhoeffer die christliche Ethik begründen will, ist nun allerdings nicht biologistisch aufzufassen, wenn es auch ein erkennbares Anliegen Bonhoeffers ist, die Dimension der Natürlichkeit in die Ethik im Unterschied zu idealistischen und kantisch-neukantianischen Theorien einzubeziehen108. Vielmehr wird der Lebensbegriff von Bonhoeffer durchaus essentialistisch gefasst; gleich zu Beginn109 des Kapitels findet sich darum eine erste Näherbestimmung, mit welcher die zwei möglichen philosophischen Missverständnisse eines abstrakt-dialektischen Lebensbegriffs einerseits und eines positivistisch-biologistischen Lebensbegriffs andererseits abgewehrt werden können. Beide Missverständnisse legen sich wenigstens dem zeitgenössischen Leser durchaus nahe: so hat sich Bonhoeffer selbst ja intensiv mit Hegels Vorlesungen zur Philosophie der Religion, daneben auch mit andern Schriften Hegels – insbesondere der Phänomenologie – auseinander gesetzt, was für einen Theologen des frühen 20. Jahrhunderts keineswegs ungewöhnlich ist110, wenn auch die Blüte der evangelisch-theologischen Hegel-Rezeption bereits vorbei war. Hegels dialektischer Lebensbegriff mit seinen neuplatonischen Wurzeln aber, der für sein Denken von größter Bedeutung ist, stellt in gewisser Weise gerade die Negativfolie für Bonhoeffers eigenen philosophisch-theologischen Begriff von ‚Leben‘ dar, von dem es sich darum abzugrenzen gilt. Denn bei Hegel ist ‚Leben‘ ja trotz der Inklusion der Endlichkeit in die Unendlichkeit, vom Absoluten her gedacht, nicht aber vom konkret-zeitlichen Dasein ausgehend und auf dieses bezogen. Die positivistische Interpretation des Lebensbegriffs lag für Bonhoeffers Denken sicherlich weniger nahe als für naturwissenschaftlich orientierte Denker. Gleichwohl dürfte ihm bewusst gewesen sein, dass der Lebensbegriff seit dem späten 19. Jahrhundert jedenfalls auch von einem dominanten naturwissenschaftlichen Positivismus interpretiert und auf die biologischen Grundfunktionen reduziert wurde, deren überindividueller Sinn einzig in der evolutionären Behauptung des genos liege. Auf solcher Basis aber konvergieren ethische und biologische Theorien zum bloßen evolutionstheoretischen Nützlichkeitsdenken111. Der hiermit methodisch und ethisch verwandte em108

Dazu s. u. B.II.2.d. E 245 ff. 110 Auch Barth hat sich sofort nach ihrem Erscheinen gründlich mit den von Lasson herausgegebene Bänden von Hegels Religionsphilosophie befasst, vgl. HS 123 f. 111 Statt längerer Ausführungen sollen hier die Verweise auf Herbert Spencer und Thomas Robert Malthus, in deren Folge sich entsprechende Deutungen ausbildeten, sowie auf den zu Bonhoeffers Zeit virulenten Sozialdarwinismus genügen. Auch Charles Darwin selbst kann m. E. genannt werden, wenngleich seine Evolutionstheorie weit weniger biologistisch verfasst ist, als manchmal behauptet wird (vgl. Darwin, Abstammung, 262 ff., 109

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pirische Pragmatismus ist Bonhoeffer über seine James-Studien112 in den USA als philosophische Strömung bekannt und wird im Verlauf des Kapitels mehr oder weniger explizit kritisiert, weil er Wahrheit und Nutzen verwechsele und damit das – nicht ohne weiteres empirisch gegebene – Wesentliche des Lebens nicht erfassen könne113. Die ethische Frage, die Frage nach dem Guten114, ist in Bonhoeffers Deutung dagegen nicht die Frage nach dem biologisch Vorgebenen bzw. dem evolutionär oder individuell Nützlichen, so wenig wie die nach dem absolut Guten des Idealismus; vielmehr ist sie, da sie präformiert ist durch den zugrunde liegenden Lebensbegriff, als die Frage nach dem jeweils konkreten geschichtlich Guten zu bestimmen:

bes. 273). Aber auch der lebensphilosophische Denker Oswald Spengler baut sein großes Geschichtswerk auf biologistischen Theorien einer organischen Entwicklungs- und Verfallsgeschichte der Kulturen auf und begründet die kulturelle Leistung der Technikentwicklung auf dem Lebenskampf des ‚Raubtieres‘ Mensch (vgl. Albert, Lebensphilosophie, 145–149, vgl. auch WE 354: „[…] die Spengler’sche ‚Morphologie‘ ist biologisch […]“.). 112 Vgl. DBW 10, 268–270.408–410. 113 Vgl. E 259. Im Unterschied zu der Herausgeber-Meinung (E 25942) scheint mir Bonhoeffer mit seiner Kritik am „banausischen Pragmatismus“ nicht nur das nationalsozialistische Rechtsverständnis („Recht ist, was dem Volke nützt“, ebd.) zu meinen. Vielmehr dürfte die Entgegensetzung von dem „in sich Wertvollen“ und dem, was „in kurzsichtiger, direkter Weise dem menschlichen Nutzen untergeordnet [wird]“ (E 259 f.) jedenfalls auch auf den amerikanischen Pragmatismus zielen, der Bonhoeffer zwar in seiner Konsequenz beeindruckt, zugleich aber auch ganz offenbar theologisch abgestoßen hat: „Die Destruktion [!] der Philosophie als Frage nach der Wahrheit zur positiven Einzelwissenschaft – wie sie am radikalsten von Dewey vollzogen wird – verändert den Wissenschaftsbegriff in seinem Kern und die Wahrheit als absolute Norm alles Denkens erfährt ihre Begrenzung durch das, was sich ‚in the long run as useful‘ erweist […]. Wahrheit ‚gilt‘ nicht, sondern ‚works‘ und das ist ihr Kriterium […], [sc. so] daß der wirkende Gott […] an der ‚usefulness‘ seines Wirkens am Menschen bestätigt werden muß, um wahr zu sein […]. Bei dieser Sachlage wird es dem Deutschen begreiflich, warum der moderne Amerikaner schlechthin verständnislos bleibt für paulinisches und lutherisches Christentum. Er ist ja nicht nur reinster Pelagianer, sondern zudem noch Anhänger des Protagoras.“ (Studienbericht für das Kirchenbundesamt, DBW  10,  269 f.). Ob Bonhoeffer damit den amerikanischen Pragmatismus des frühen 20. Jahrhunderst völlig zutreffend erfasst hat, soll dahin gestellt bleiben. Sicherlich kannte er nicht alle Spielarten und Feinheiten (vgl. Peters, Präsenz, 145), während andererseits die These, dass Bonhoeffer selbst eine vom Pragmatismus erheblich beeinflusste Ethik konzipiert habe (ebd.ff.), doch wohl etwas weit geht, wenn man berücksichtigt, dass insbesondere das Element der Wirklichkeitsgemäßheit als Sachgemäßheit unmittelbar auf den Einfluss Josef Piepers zurückgeht (s. u. B.II.4.b). Die situative Gebundenheit der Wahrheit wiederum ist doch tatsächlich erst einmal eine Gebundenheit an das geschichtliche Leben und damit Ausdruck der zugrunde liegenden dynamischen Ontologie und des damit verbundenen Geschichtsbegriffs; dass ihre in Bonhoeffers Auffassung konstitutive Realisierung im konkreten Handeln des Menschen, d. h. ihre notwendige ethische Wendung, die zunächst einmal Erbe von Existenzphilosophie und Dialogismus ist, dann auch an den Pragmatismus erinnert, muss damit nicht bestritten werden. Diese Nähe ist aber derart unspezifisch, dass sie für das tiefere Verständnis der Ethik nur wenig austrägt. 114 E 245 u. ö.

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„Die Frage nach dem Guten gehört selbst zu unserem Leben wie unser Leben zu der Frage nach dem Guten gehört. Mitten in der jeweils bestimmten und doch unabgeschlossenen, einmaligen und schon wieder dahinfließenden Situation unseres Lebens, mitten in den lebendigen Bindungen an Menschen, Dinge, Einrichtungen, Mächte, das heißt mitten in unserem geschichtlichen Dasein wird die Frage nach dem Guten gestellt und entschieden. Die Frage nach dem Guten ist nicht mehr zu trennen von der Frage nach dem Leben, nach der Geschichte.“115

Dass der Lebensbegriff hier offenkundig auf das menschliche geschichtliche Leben eingeschränkt ist, hat den äußeren Grund darin, dass die Begründung einer Ethik auf dem Lebensbegriff eine auf den Menschen, das im geschichtlichen Kontext handelnde resp. handeln müssende Subjekt, bezogene Aufgabe ist. Darüber hinaus hat diese Einschränkung freilich auch einen sachlichen Grund, der mit der Bestimmung des Lebens als wesentlich geschichtliches zusammenhängt. Denn das (geschichtliche) Leben wird von Bonhoeffer im Folgenden116 näher bestimmt als personales, auf Christus ausgerichtetes Leben und insofern – also aufgrund der christozentrischen Begründung – sozusagen ‚anthropozentrisch‘ aufgefasst117. Zeitlichkeit, oder noch allgemeiner: Werden als das wesentliche Merkmal eines lebensphilosophischen Lebensbegriffs ist darum bei Bonhoeffer präzisiert worden auf die spezifisch menschliche Form der Zeiterfahrung, das geschichtliche Werden. Das geschichtlich Gute, welches nun den Gegenstand der auf dem geschichtlichen Lebensbegriff fundierten Ethik bildet, kann folgerichtig seinem Inhalt nach nicht abstrakt als das jeweils Nützliche oder Vernünftige, sondern muss immer wieder neu als das in einem konkreten politisch-sozialen Handlungsraum jeweils gerade Gebotene bestimmt werden. Denn auch das jeweils Nützliche oder jeweils Vernünftige wären prinzipielle Bestimmungen des Guten (im Sinne einer Normenethik), durch welche echte Geschichtlichkeit als wesentliches Charakteristikum des Lebens wieder reduziert würde auf den gerade aktuellen Kontext einer per se ungeschichtlichen Zuschreibung des Lebensbegriffs und entsprechend der Ethik. Das geschichtliche Leben wäre dann letztlich nicht mehr als das Material für die Umsetzung allgemeingültiger Prinzipien durch ein im Wesen als ungeschichtlich zu bestimmendes Handlungssubjekt. Der die christliche Ethik begründende geschichtliche Lebensbegriff ist dagegen geeignet, sowohl die ontologische Fundiertheit in einer das einzelne Leben umgreifenden lebendigen geschichtlichen Entwicklung als auch die 115

E 245 f. E 248 ff. 117 Die Markierung des Ausdrucks soll verdeutlichen, dass die Entgegensetzung hier gerade nicht zwischen Anthropozentrik und Theo-/Christozentrik besteht, sondern zwischen einem das menschliche Leben ins Zentrum rückenden Lebensbegriff und einem das außermenschliche Leben in gleicher Weise einbeziehenden Lebensbegriff, der von Bonhoeffer eben nicht verwendet wird. 116

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jeweils konkrete geschichtliche Bestimmtheit und ethische Gefordertheit der individuellen Existenz in sich zu begreifen118. Bonhoeffers Interpretation des Lebens als geschichtliches Leben weist darum diese zwei entscheidenden Aspekte auf, die inhaltlich bestimmte, dynamische Geschichtlichkeit des Menschen und seiner sozialen und politischen Lebensbedingungen einerseits und die existentielle Geschichtlichkeit des Handelns andererseits. Mindestens der erste Aspekt dürfte auch von der Lebensphilosophie beeinflusst sein, während der andere Aspekt deutlichen Einfluss der ihrerseits teilweise mit der Lebensphilosophie verwandten Existenzphilosophie erkennen lässt. Gilt für das lebensphilosophische Denken grundsätzlich, dass Leben als wesenhaft zeitliches, d. h. also stetig fließendes, sich variierendes und mannigfaltiges aufzufassen ist, das darum gerade nicht auf zeitenthobene Formen zurückgeführt werden kann, so ist dieser biologische bzw. organologische und – bei manchen Vertretern – psychologische Lebensbegriff119 gleichwohl nur indirekt bei Bonhoeffer präsent. Geschichtlichkeit wird von ihm nicht aus einem allgemeinen Zeitbegriff abgeleitet, sondern unmittelbar als Modus des Lebens vorausgesetzt, so dass an die Stelle biologischer oder psychologischer Deutungen von Zeitlichkeit das menschliche Erleben von Zeit, also die Geschichte mitsamt ihren konkreten Inhalten, in den Fokus rückt. Damit befindet sich Bonhoeffers Lebensbegriff in der Nähe des Diltheyschen, der in der Wendung gegen Kant und Hegel das geschichtliche Leben zum Ausgangspunkt des Denkens nimmt120. 118 Daraus ergibt sich allerdings eine entscheidende Veränderung im Begriff der Kirche: war in dieser für Bonhoeffer früher das Sein, die konkret-geschichtliche Kontinuität der Glaubensexistenz begründet, so hat die Kirche in der Ethik nun vornehmlich funktionale Bedeutung. Das ontologische Fundament des Glaubens ist jetzt die theologisch gedeutete Welt: die christologisch begründete Wirklichkeit bzw. das Leben, das sein Wesen und seinen Grund in Christus hat und dessen Zentrum jetzt die Kirche bildet als derjenige Bereich, in dem die Versöhnung Gottes mit der Welt Gestalt gewonnen hat (vgl. E 84 f., außerdem u. B.II.4.b. 119 Henri Bergson mit seinem psychologischen Zeitbegriff und dem organologischen Lebensbegriff ist von Bonhoeffer wohl nicht rezipiert worden, jedenfalls findet sich darauf kein Hinweis in seinem Werk. Nietzsches kosmologischer Zeitbegriff einschließlich des Konzepts der ‚ewigen Wiederkehr des Gleichen‘ spielt für Bonhoeffer offenkundig überhaupt keine Rolle. Nietzsches Lebensphilosophie ist in anderen Aspekten von Bonhoeffers Lebensbegriff präsent, nämlich in der Wertschätzung des Lebendigen als solchem und im existentiellen resp. schöpferischen Handlungsbegriff. S. dazu u. B.II.2.d sowie o. A.II.4.e. 120 S. etwa Dilthey, VII, 277 f.: „Die geschichtliche Welt ist immer da, und das Individuum betrachtet sie nicht nur von außen, sondern es ist in sie verwebt […]. Wir sind zuerst geschichtliche Wesen, ehe wir Betrachter der Geschichte sind, und nur weil wir jene sind, werden wir zu diesen.“ Allerdings dürfte die Nähe zwischen beiden Denkern hier eher Ergebnis einer indirekten Beeinflussung sein; jedenfalls lässt sich eine Lektüre dieser Äußerungen Diltheys zur Zeit der Ethik nicht nachweisen. Dass Bonhoeffer die metaphysikkritische Konzeption Diltheys eines geschichtlich aufgefassten Lebensbegriffs und der darauf aufbauenden hermeneutischen Methode aber prinzipiell gekannt hat, belegt die bereits bekannte Anmerkung aus Akt und Sein (AS  4826)): „Die auf den ersten Blick traditionell befangen wirkende Untersuchung W. Diltheys […] über die Realität der Außenwelt, die aus dem

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aa) Geschichte und Handeln Das konkrete, geschichtlich existierende Einzelleben ist demnach nicht nur als sich stets wandelndes, im allgemeinen natürlichen Lebensprozess ontologisch fundiertes Leben verstanden, aus dem heraus es sich als Individuum entwickelt und in das hinein es wieder zugrunde geht; es ist auch nicht bloß, wie die nicht-menschlichen Lebewesen, in seinen lebenserhaltenden biologischen Funktionen mit dem allgemeinen Leben verschränkt. Über die schon in dem biologischen Lebensbegriff enthaltene ontologische Fundiertheit des einzelnen Lebens im allgemeinen Leben hinaus ist in dem geschichtlichen Lebensbegriff vielmehr die Kontextualität des Lebens impliziert: das Individuum lebt notwendig in geschichtlich gewordenen und sich verändernden sozialen, politischen und institutionellen Verhältnissen. Es ist folglich in seiner Individualität bedingt und bestimmt von seinem sich geschichtlich verändernden Lebenskontext, also dem jeweils aktuellen politisch-sozialen Lebensraum, der „unabgeschlossenen, einmaligen und schon wieder dahinfließenden Situation unseres Lebens“ mit ihren „lebendigen Bindungen an Menschen, Dinge, Einrichtungen, Mächte“121. Es ist als individuelle Existenz geschichtlich geworden und sich im Werden befindend, es ist zutiefst ein ‚geschichtliches Dasein‘122. Ein „aus seiner geschichtlichen Situation und seinen geschichtlichen Bindungen gelöstes isoliertes Individuum“ ist demgegenüber ethisch nicht relevant: es ist irreal, statisch und im Wortsinn abstrakt aufgefasst und dadurch in seinem lebendig-dynamischen und sozialen Wesen verkannt123. Der ethisch handelnde Mensch kann folglich nicht als das von der konkreten zeitlich ausgespannten Existenz und der allgemeinen geschichtlichen Entwicklung abstrahierte transzendentale oder ideale Subjekt verstanden werden, dem die historischen, sozialen und biologischen Lebensbedingungen äußer-

Erlebnis des Willens und seines Widerstandes hergeleitet wird, versucht zutiefst die ganze idealistische Erkenntnistheorie zu überwinden zugunsten einer durch die Geschichte bestimmten Philosophie des Lebens. So interpretiert ist die Arbeit Diltheys von entscheidender Bedeutung für die modernste Geschichtsphilosophie, wie sie gerade in jüngster Zeit auch auf die Theologie Einfluß bekam.“ 121 E 246. 122 E 247. Vgl. dazu Dilthey VII, 277 f. 123 Vgl. E 246 f. Deutlicher noch als in dem hier untersuchten Kapitel hat Bonhoeffer dieses sein Interesse an der steten Wandelbarkeit des Lebens und damit auch die Absage an eine vom Konkreten, Faktischen und Individuellen abstrahierende Ethik allgemeiner, ‚statischer‘ Prinzipien in seinen Zettelnotizen zum Ausdruck gebracht: „Das Leben hat seine eigene Dynamis Frage nach dem Guten ist die Frage nach dem Gesetz, Wesen des Lebens […] Gutsein an sich gibt es nicht, es muß gelebt werden.“ (ZE Nr. 29). In der Ethik geht es darum um „Das Lebendige, Konkrete, Fließende.“ (ZE Nr. 27). Die Zusammenstellung auf Ethik-Zettel Nr. 30 zeigt deutlich, dass Bonhoeffer sich hier an das lebensphilosophische Denken Diltheys und Nohls anschließt: „Unaussprechbarkeit des Lebens – Ich weil selbst lebendig Kraft – ĎğėċĖēĜ Nohl“.

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lich oder lediglich eine Erscheinungsform des übergeschichtlichen selbstreflexiven Geistes sind: „Die das ethische Denken noch weithin beherrschende Abstraktion eines isolierten einzelnen Menschen, der nach einem absoluten Maßstab eines an und für sich Guten […] zwischen diesem klar erkannten Guten und dem ebenso klar erkannten Bösen zu entscheiden hat, haben wir […] hinter uns gelassen. Weder gibt es diesen isolierten Einzelnen noch steht uns jener absolute Maßstab eines an und für sich Guten zur Verfügung, noch zeigt sich das Gute und Böse in der Geschichte in seiner reinen Gestalt.“124

Die Unhintergehbarkeit des geschichtlichen Lebens lässt jeden geschichtstranszendenten Maßstab allgemeiner Prinzipien entfallen; das ethische Handeln ist zurückgeworfen auf die „Vieldeutigkeit der geschichtlichen Situation“125. Die konkrete faktische Einmaligkeit des Handlungskontextes hat damit selbst unmittelbar ethische Relevanz, insofern er sowohl Bedingungsgefüge als auch Gegenstand der ethischen Entscheidung ist126. Die geschichtliche Gewordenheit des Handlungssubjekts und seines Handlungsraums beruhen dabei auf der Kontingenz des menschlichen Handelns, das die Geschichte als solche erst hervorbringt. Hinter dem geschichtlichen Verlauf des menschlichen Lebens können keine allgemeinen Gesetze gefunden werden, welche den Wandel des historischen Kontextes und des menschlichen Selbstverständnisses determinieren, wie es etwa in den aufklärerischen Konzeptionen einer Entwicklung resp. Erziehung des Menschengeschlechts bei Herder und Lessing oder in der idealistischen Konstruktion des zu sich kommenden Weltgeistes bei Hegel postuliert wird127. Die Faktizität des Einmaligen und die Vorstellung einer wirklichen, d. h. nicht durch ein abstrakt-allgemeines Vernunftgesetz vorherbestimmten Handlungsfreiheit des Menschen korrespondieren in Bonhoeffers Geschichtsbegriff daher miteinander128. Denn gerade wenn der geschichtliche Gang nicht prinzipiell vorhersehbar und die gegebene „unabgeschlossene[ ], einmalige[ ] und schon 124 E 246. Vgl. hierzu und zum folgenden DBW 10, 428 f. (Concerning the Christian Idea of God). 125 E 246. 126 Vgl. E 260: Die Situation ist „die Tat mitgestaltend“. 127 Vgl. exemplarisch Lessing, Erziehung. Für Hegel ist ‚Geschichtlichkeit‘ kein Zentralbegriff, obwohl er von ihm neu gebildet wurde, denn: „[d]as ‚nur Faktische‘ und ‚bloß Historische‘ ist letztlich spekulativ gleichgültig.“ Vgl. HWPh s. v. 405 und das Zitat WE 353 f. zur Kritik des geschichtsphilosophischen Fortschrittsdenkens (D.II.). Vgl. zu Bonhoeffers Bewertung auch den Abschnitt über den Doketismus aus der Christologievorlesung, DBW  12,  320: „Der Doketismus tritt in der offenkundigsten Gestalt wieder auf in der neuen protestantischen Theologie […] Dabei muß man den spekulativen Geschichtsbegriff sehen. Geschichte ist für dieses Denken Träger bestimmter religiöser Ideen. Geschichte ist Erscheinung einer übergeschichtlichen Idee.“ 128 Vgl. dazu auch Feil, Theologie, 161 f., sowie den dort genannten Vortrag Bonhoeffers über die Theologie Barths (1931) Concerning the Christian Idea of God (DBW 10, 423–435).

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wieder dahinfließende[ ]“129 Situation nicht vollständig überschaubar ist, ist der Mensch zur Entscheidung aus wahrer Freiheit gefordert. Geschichtliche Freiheit ist so verstanden gerade nicht das Zusammenstimmen des Wollens mit dem Vernunft- oder Naturnotwendigen, sondern eine in der wertenden Außenperspektive kontingente, situative und ganzheitliche Entscheidung130; der rationalistische Freiheits- und Geschichtsbegriff ist demgegenüber, so Bonhoeffer, gesetzlich verfasst und daher dem dynamisch sich entwickelnden, auf konkreter Freiheit beruhenden geschichtlichen Leben zutiefst widersprechend131. Notwendige Konsequenz ist dann aber auch, dass das Ziel des ethischen Handelns nur das jeweils vermutete „relativ Bessere[ ]“132 sein kann. Absolute Gewissheit über die moralische Richtigkeit des Tuns kann nicht vorhanden sein, müsste dazu doch wieder der von Bonhoeffer bestrittene von der singulären geschichtlichen Existenz und ihrem historisch-sozialen Kontext abstrahierte Standpunkt eingenommen werden. Der stete geschichtliche Wandel, die auf konkreter Freiheit beruhende Kontingenz des Handelns, die Einmaligkeit der Situation und die Undurchsichtigkeit menschlicher Motivationen133 werfen vielmehr ein „Zwielicht“ auf das ethische Handeln, das wohl ein Abwägen der Relativitäten fordert134, zuletzt aber zu einer Entscheidung nötigt, die nicht argumentativ oder durch den Verweis auf Gesetzmäßigkeiten gerechtfertigt werden kann135.

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E 245. Dies ist schließlich auch ein Grund dafür, dass Bonhoeffer die moralische Bewertung des Tuns durch einen ‚Richter‘, einen pharisäischen Menschen, für verfehlt erklärt. Freilich bohrt er viel tiefer, wenn darüber hinaus von ihm auch die moralische Selbstbewertung nicht nur als verkehrt beurteilt, sondern sogar als die Spitze der Verkehrung des menschlichen Seins behauptet wird. Denn die Begrenzungen des von außen erfolgenden Urteils über eine nicht erlebte Situation, die grundsätzliche Begrenzung der Empathiefähigkeit und die psychologischen Begrenzungen durch das so genannte Unbewusste, das auch der psychoanalytisch geschulte Fachmann nur schwer erhellen kann, sind ja, so Bonhoeffer, nicht mehr als Indizien für einen grundlegenden theologischen Sachverhalt: dass nämlich der autonom sein wollende Mensch sich im Ganzen verkennt und verfehlt. 131 Vgl. E 246: „[D]er absolute [sc. geschichtstranzendente] Maßstab eines an und für sich Guten […] macht das Gute zu einem toten Gesetz, zum Moloch, dem alles Leben und alle Freiheit geopfert wird“. S. auch E 284–286: Es geht Bonhoeffer darum, dass der Handelnde „wahrhaft frei“, d. h. nicht beschränkt durch ein abstrakt gültiges Gesetz entscheidet, dass ihm also die „freie Luft des weiten Raumes großer Entscheidungen“, die „schöpferische ethische Kraft, die Freiheit“ erhalten bleibt. Zu Bonhoeffers Freiheitsbegriff und der grundlegenden Differenz zum idealistischen Freiheitsbegriff, teilweise unter dem Gegensatz von konkreter und abstrakter Freiheit gefasst, s. bes. u. den Abschnitt zu Freiheit und Verantwortung (B.II.4.d sowie o. A.II.5.d.). 132 E 260. 133 Vgl. zur Bedeutung des Unbewussten für Bonhoeffer in Theorie und Praxis A.II.4.c. 134 E 284. 135 E 285. 130

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Die ethische Entscheidung gewinnt in dieser Konzeption daher besondere Bedeutung: sie wird zur „echten Entscheidung, in der der ganze Mensch […] nur im Wagnis der Tat selbst das Gute sucht und findet.“136 Die auf dem geschichtlichen Lebensbegriff fundierte Ethik ist so verstanden eine Ethik der situativen Entscheidung, d. h. eine Form des lebens- und existenzphilosophischen Dezisionismus137. Aus der Begegnung mit dem geschichtlichen Leben, d. h. aber in jedem einzelnen, geschichtskonstituierenden Augenblick des Lebens, tritt an den Menschen die Forderung zur ethischen Tat entgegen, der er durch seine Entscheidung zu entsprechen hat. Am Ende des Kapitels macht Bonhoeffer dies noch einmal deutlich, dass es nämlich bei der ethischen Tat tatsächlich um den gesamten Vollzug des Lebens im je neu zur Entscheidung fordernden Augenblick, keineswegs aber nur um das „große Erfahrungsmaterial“ in der besonderen weltgeschichtlichen Stunde und am außergewöhnlichen politischen Ort geht138. Dahinter steht die zu einer originellen Einheit verbundene doppelte Tradition lutherischer Ethik und existenzphilosophischer Anthropologie. So erblickt Kierkegaard das Menschsein in der Selbstübernahme, d. h. in der jeweils neu aufgegebenen Entscheidung zum Selbstsein, so dass jeder Moment der Existenz unter der bedeutsamen Alternative gelungenen oder scheiternden Selbstseins steht, und zwar auch dann, wenn dies gar nicht bewusst erfahren wird:

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E 246. Nietzsche formuliert dies u. a. mit dem bekannten Ausdruck von der Schaffung neuer Gütertafeln (Za III: „Von alten und von neuen Tafeln“, KGW 6.1, 242 ff.); die Entscheidung zur Tat setzt darum ein wertschöpferisches Handeln im dezisionistischen Sinne frei: das eigene freie Handeln als solches ist der Wert, es ist ein selbstschöpferisches, selbstmächtiges Handeln des Übermenschen (vgl. z. B. Za II: „Auf den glückseligen Inseln“, KGW 6.1, 107 f.). Dass auch die Lebensphilosophie Diltheys eine starke Tendenz zum Dezisionismus hat, zeigt Lieber, Kulturkritik, 117 ff. 138 „Es ist nun kein Zweifel, daß in unserer modernen und insbesondere in unserer deutschen Gesellschaftsordnung die Existenz des Einzelnen in so bestimmter Weise umschrieben, reglementiert und damit zugleich gesichert ist, daß es nur wenigen vergönnt ist, die freie Luft des weiten Raumes großer Entscheidungen zu atmen und die Gefahr eigensten verantwortlichen Handelns kennen zu lernen […] Dennoch wäre es ein Fehler, die Frage [nur] noch unter dieser Perspektive zu sehen. Tatsächlich gibt es nicht ein einziges Leben, das nicht die Situation der Verantwortlichkeit [sc. der Entscheidung] kennen lernen könnte und zwar in ihrer bezeichnendsten Gestalt, nämlich in der Begegnung mit anderen Menschen […]. Wo immer […] Mensch und Mensch einander begegnen, dort entsteht echte Verantwortlichkeit und dort kann kein Reglement diese verantwortlichen Verhältnisse aufheben. Das gilt also nicht nur für das Verhältnis der Ehegatten, für Eltern und Kinder, für Freunde, sondern auch für den Meister und seinen Lehrling, den Lehrer und seinen Schüler, den Richter und seinen Angeklagten“ (E  285 f.) Auch die Verantwortung gegenüber einer Sache wird von Bonhoeffer ausführlich thematisiert (E 262 ff.). Er strebt also einen umfassenden Begriff von ethischer Tat an. Vgl. auch E 291: „Dieses Leben ist […] mein Beruf, […] meine Verantwortung.“ 137

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B. Grund und Vollzug des Guten

„Wenn nun das Mißverhältnis [sc. im Selbst], die Verzweiflung eingetreten ist, versteht es sich dann von selbst, daß es fortdauert? Nein, das versteht sich nicht von selbst; falls das Mißverhältnis fortdauert, so folgt dies nicht aus dem Mißverhältnis, sondern aus dem Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält. Das will heißen, jedes Mal, daß das Mißverhältnis sich äußert, und einen jeden Augenblick, in dem es nicht da ist, muß auf das Verhältnis zurückgegangen werden […], ein jeder wirkliche Augenblick der Verzweiflung ist zurückzuführen auf Möglichkeit, jeden Augenblick, den er verzweifelt ist, zieht er sich das Verzweifeltsein zu […]. Das kommt daher, daß Verzweiflung eine Bestimmung des Geistes ist, sich zu dem Ewigen im Menschen verhält. Des Ewigen aber kann er nicht quitt werden […], er muß in einem jeden Augenblick, da er es nicht hat, es fortgeworfen haben oder fortwerfen  –  aber es kehrt wieder, das heißt, jeden Augenblick, da er verzweifelt ist, zieht er sich das Verzweifeln zu.“139

Jeder geschichtliche Moment hat damit existentielle Bedeutung, insofern er über das Grundverhältnis der Existenz entscheidet resp. der Mensch selbst darin über sein Selbst entscheidet140. Dem Begriff existentieller Entscheidung entspricht darum auch ein strenger Existenzbegriff, demzufolge das Menschsein immer neuer Verwirklichung bedarf und immer wieder neu scheitert, also nicht auf einer ungeschichtlich verstandenen essentia aufruht. Luther wiederum insistiert darauf, dass als Konsequenz des Rechtfertigungsglaubens das Leben unter einem neuen Vorzeichen steht, so dass jedes Tun, und sei es auch das Aufheben eines Strohhalms, ein gutes Werk ist; denn allein der Glauben entscheidet in jedem Moment des Lebens über das vollbrachte Werk: „Czum drittenn, fragistu sie weytter, ob sie [sc. die großen Gelehrten] das auch gut werck achten, wann sie arbeyten yhr handtwerg, ghan, sthan, essen, trincken, schlaffen, und allerley werck thun zu des leybs narung odder gemeinen nutz, und ob sie glauben, das got ein wolgefallen darynnen uber sie habe, szo wirstu finden, das sie nayn sagen […] und alszo […] gotte seine dienst, dem alles dienet, was ym glauben geschehen, geredt, gedacht werden mag, vorkurtzen und geringern. […]. Czum vierden, Hie kan nu ein iglicher selb mercken und fulen, wen er guttes und nit guttis thut: dan findet er sein hertz in der zuvorsicht, das es gote, gefalle szo ist das werck gut, wan es auch szo gering were als ein strohalmen auffheben, […] Dieweil dan menschlich wesen unnd natur kein augenblick mag sein on thun odder lassen, leiden odder flihen (dan das leben ruget nymmer, wie wir sehen). Wolan, szo heb an, wer do wil frum sein und vol gutter werck werden, und ube sich selb in allem leben unnd wercken zu allen tzeiten an diszem glaubenn, lerne stetiglich alles thun unnd lassen in solcher zuvorsicht, szo wirt er finden, wievil er zuschaffen hat, und wie gar alle ding im glauben ligenn, und nymmer mussig mag werden, dieweil der mussig gang auch musz in des glaubens ubung und werck geschehen.“141

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KT 12 f. Vgl. dazu den Abschnitt über Kierkegaard o. A.II.5.d. Was freilich aus eigener Kraft immer zum Scheitern bestimmt ist, weshalb Verzweiflung die Grundverfassung des Menschseins ist, aus welcher er von außen erlöst werden muss. S.o. A.II.5.d. 141 Vgl. WA 6,205–213. 140

II. Die Mehrdimensionalität der guten Tat

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Dahinter steht das von Luther bewusst vollzogene Abrücken vom scholastischen Substanzbegriff und die damit verbundene Einführung einer relationalen, d. h. nicht-statischen Anthropologie. Dem Geschehenscharakter der theologischen Definition des Menschen als homo iustificatus fide entspricht dabei der Gedanke der je neuen Annahme des Glaubens mit der gesamten konkreten Existenz; die Glaubensexistenz ist damit eine auf dem passiven Empfangen des Wortes begründete vita activa142 Sowohl für Luther als auch für Kierkegaard korrespondieren der Gedanke der Ganzheitlichkeit, d. h. das Einbeziehen aller Lebensverhältnisse, und der Gedanke des tätigen Vollzugs der Existenz miteinander, so dass in jedem Augenblick und jedem Akt das Ganze des Lebens zur Disposition steht. Die existentielle Entscheidung143 bzw. das gute Werk des Glaubens bzw. die ethische Tat ist dann aber auch im Kleinen, Normalen, Unbewussten144 möglich und notwendig, als je konkreter, geschichtlicher Lebensmoment gelungenen – oder aber scheiternden – Menschseins. Es mag für Bonhoeffer nahe liegend gewesen sein, die starke lutherische Prägung, die er in dem Abschnitt über den „Ort der Verantwortung“ unter dem Stichwort „Beruf“ explizit einbringt145, mit der frühen und nachhaltigen Prägung durch Kierkegaard und seinen Begriff von existentieller Entscheidung in einer eigenen theologischen Konzeption zu verbinden. Mit beiden Denkern146 erhebt er hier nun ausdrücklich den Anspruch, eine ganzheitliche, von der tätigen, geschichtlich-natürlichen Existenz ausgehende Ethik zu konzipieren. 142 Vgl. Ebeling, Lutherstudien II.3, 587 ff., bes. 591. Zu Bonhoeffers Rezeption des lutherischen Begriffs von theologischer Passivität s. den Abschluss von A.II.5.f. 143 Besser: der Sprung. Vgl. BA 86: „Im Bereich der geschichtlichen Freiheit ist der Übergang ein Zustand. Mittlerweile darf man, um dies recht zu verstehen, nicht vergessen, daß das Neue durch den Sprung kommt. Falls dies nämlich nicht festgehalten wird, erhält der Übergang ein quantitierendes Übergewicht über die Federkraft des Sprungs.“ Der Übergang ist deshalb als Zustand zu verstehen, weil er ein Augenblick von eigenem Wert und eigenem ontologischem Status ist, im Gegensatz zur traditionellen Vorstellung vom Moment der Gegenwart, der wie ein punctum mathematicum eigentlich nicht ist (vgl. BA 83–85**). Andererseits ist der Übergang nicht logisch abzuleiten, sondern dasjenige, was aus sich selbst – eben im ‚Sprung‘ – eine neue Qualität setzt. 144 Dies begrifflich besser plausibilisieren zu können, ist wohl ein Vorzug der Lebensphilosophie gegenüber der Existenzphilosophie; das Insistieren auf Begriffen wie ‚Entscheidung‘, ‚Sprung‘ u.ä. kann das weniger gut leisten. Andererseits transportieren diese besser den auch für Bonhoeffer besonders wichtigen Gedanken der Selbstheit, des individuellen Personseins. S. auch u. B.II.2.d. 145 E 289 ff. S.u. B.II.4.c. 146 Die dynamische Anthropologie der Existenzphilosophie wird von Bonhoeffer offenkundig vorausgesetzt im Begriff des ‚sich handelnd realisierenden Lebens‘ (E 253). S. auch die auffällige Verwendung des Begriffs der Entscheidung (E  246 f.256.274.282 ff.). Vgl. im Übrigen den Exkurs zu Bonhoeffers Zeit- und Geschichtsbegriff (D.II), sowie Barth, Nachfolge, passim.

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B. Grund und Vollzug des Guten

Seine Überlegungen zu dem Komplex „Das natürliche Leben“ illustrieren den Anspruch auf Ganzheitlichkeit eindrücklich, wenn Bonhoeffer sich darin keineswegs nur der Begründung menschlicher Grundrechte und orientierenden Überlegungen zu fundamentalen Fragen der menschlichen Existenz (etwa Fortpflanzung, Ehe, Familie) widmet bzw. widmen wollte; vielmehr waren auch – das geht aus seinen Zettelnotizen hervor – Abschnitte zu „Freude Spiel, Kunst, Schönheit“ geplant147, ebenso zu „Glück“148. Folgerichtig kritisiert er in „Das Ethische und das Christliche als Thema“, wo er sich mit der neuzeitlichen Pflichtethik auseinandersetzt, den „kantisch-fichteschen“ Begriff der ethischen Adiaphora und insistiert stattdessen darauf, dass es der christlichen Ethik der ‚Erlaubnis‘ um den gesamten Lebensvollzug in jedem einzelnen seiner – auch unbewussten – Momente geht149. Es geht dementsprechend in seiner Konzeption einer christlichen Ethik nicht primär um bestimmte einzelne Sachverhalte wie Normen, Werte, Gesetze, Tugenden etc. sondern um eine alle so genannten ethischen Pflichten, Güter und Tugenden umfassende Lebenshaltung, die bedeutet, dass in jedem Augenblick, „die Ganzheit des Lebens eingesetzt wird, daß auf Leben und Tod gehandelt wird“150. Die Gesetz- resp. Prinzipienlosigkeit des Handelns, die ihren Grund in dem nicht-metaphysisch aufgefassten Lebensbegriff hat, ist darum nicht als eine resignative oder verzweifelte zu deuten, sondern als Ermöglichung der existentiell bedeutsamen Tat, die das wahre Menschsein qualifiziert; umgekehrt verfehlt der prinzipiell Handelnde sich und seine Wirklichkeit und damit schließlich auch sein Handlungsziel: „Wenn wir nun von all diesen Versuchen [sc. der Durchführung bestimmter Prinzipien] sagen müssen, daß sie am Leben selbst gescheitert sind und immer scheitern werden, so […] meinen wir damit jenen qualifizierten Mißerfolg […], der seinen letzten Grund in der Tatsache hat, daß hier überhaupt keine Begegnung mit dem Leben, mit dem Menschen stattgefunden hat, ja daß hier etwas Fremdes, Unechtes, Gemachtes […] abgeschüttelt wird, ohne daß der Mensch selbst in seinem Wesen davon wirklich getroffen, verändert, zur Entscheidung genötigt worden wäre.“151

Geschichtliches Handeln konstituiert so einerseits als existentielle Entscheidung des ganzen Menschen überhaupt erst das wirkliche Menschsein152 eben147

ZE Nr. 51. ZE Nr. 47. Vgl. auch die Reflexionen über den Begriff des ‚Guten‘ auf ZE Nr. 63: dort taucht zwischen den möglichen Bestimmungen dieses Begriffs als Existenz oder Qualität, als Idee, Gesinnung oder Werk unerwartet auch der Ausdruck „gute Musik“ auf – ein deutliches Indiz für Bonhoeffers Anspruch auf Ganzheitlichkeit in der Konzeption seiner Ethik. 149 Vgl. E 373 f.384 ff. 150 E 254. 151 E 247. Man beachte die existenzphilosophisch gefärbte Terminologie. Ähnlich formulierte Bonhoeffer schon in der Nachfolge mit den Kategorien Kierkegaards, dass der Glaube gelingender Existenzvollzug, „‚Existieren‘ im strengen Sinne des Wortes“ sei (N 46). 152 Vgl. auch E 253: „[…] mit dem ganzen Leben, wie es sich jeweils handelnd realisiert“. Hier steht eine von Nietzsche und Kierkegaard beeinflusste Anthropologie im Hin148

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so wie auch die individuelle und allgemeine Geschichte selbst153. Andererseits wird das Handeln erst durch die je und je neu gegebene geschichtliche Lebenssituation evoziert, die existentielle Entscheidung ist zugleich begründet im geschichtlichen Leben mit seinen jeweils konkreten, sich dynamisch verändernden und komplexen Herausforderungen an den Einzelnen. Der geschichtliche Lebensbegriff mündet daher  –  so scheint es  –  in eine strikt dezisionistisch konzipierte Ethik der Tat, in welcher die bloße, die Ganzheit des Lebens einsetzende Haltung, bereits an sich selbst ethisch qualifiziert ist. Darein fügt sich auch, dass Bonhoeffer in diesem Kapitel darauf insistiert, dass auch moralisch verwerflich erscheinende Handlungen wie „Krieg, aber auch Betrug, Vertragsbruch“154 und – so wird man ergänzen dürfen – Mord155 situativ geforderte Entscheidungen des Einzelnen, sei er Staatsmann, Unternehmer, Familienoberhaupt oder einfach Staatsbürger156, sein können, die abstrahiert von ihrem

tergrund, derzufolge das Wesen des Menschen nicht mehr in einem substantiell gedachten Wesenskern, einer essentia, erblickt wird, sondern – in der Folge und zugleich Kritik am neuzeitlichen Idealismus – dem Menschen aufgegeben ist, und zwar ohne dass hier die Vernunft als höchste Instanz wirkte und darin die Norm der Selbstverwirklichung abgäbe. 153 Vgl. Dilthey VII,  278: „[…] daß ich selbst ein geschichtliches Wesen bin, daß der, welcher die Geschichte erforscht, derselbe ist, der Geschichte macht.“ Auf diesem Gedanken beruht Diltheys Hermeneutik, mit welcher sich schon der ganz junge Bonhoeffer befasst hat: so wie die ratio das hypothetische Erfassen der nach Gesetzen geordneten Natur ermöglicht, so ist es auf dem Gebiet von Geschichte, Kultur und Anthropologie die geschichtliche Verfasstheit des Geistes, die einerseits die geschichtlichen Lebensäußerungen schafft und andererseits ihre Bedeutung zu verstehen vermag. Vgl. dazu auch Heideggers Sein und Zeit (SuZ 398), Bonhoeffer seit mindestens 1929 bekannt: „Schematisch läßt sich die Forschungsarbeit Diltheys in drei Bezirke aufteilen […] Wissenschaftstheoretische, wissenschaftsgeschichtliche und hermeneutisch-psychologische Untersuchungen […]. Was sich wie Zwiespältigkeit und unsicheres, zufälliges ‚Probieren‘ ausnimmt, ist die elementare Unruhe zu dem einen Ziel: das ‚Leben‘ zum philosophischen Verständnis zu bringen, und diesem Verstehen ‚aus dem Leben selbst‘ ein hermeneutisches Fundament zu sichern. Alles zentriert in der ‚Psychologie‘, die das ‚Leben‘ in seinem geschichtlichen Entwicklungs- und Wirkungszusammenhang verstehen soll als die Weise, in der der Mensch ist, als möglichen Gegenstand der Geisteswissenschaften und als Wurzel dieser Wissenschaften zumal […] Diltheys eigenste philosophische Tendenz in der Kommunikation mit seinem Freunde, dem Grafen Yorck, bringt dieser einmal unzweideutig zum Ausdruck, wenn er auf ‚das uns gemeinsame Interesse Geschichtlichkeit zu verstehen‘ [Hervorhebung M.H.] hinweist.“ 154 E 273. 155 Zweifellos dienen Bonhoeffers Ausführungen zu Verantwortung, Freiheit, Schuld und Gewissen auch dem Zweck, den vom militärischen Widerstand geplanten Tyrannenmord ethisch zu reflektieren und argumentativ einzuholen. Recht unverblümt spielt Bonhoeffer im Kapitel „Das natürliche Leben“ schon einmal auf diesen Vorsatz an, wenn er formuliert: „Das erste Recht des natürlichen Lebens besteht in der Bewahrung des leiblichen Lebens vor willkürlicher Tötung […]. Willkürlich ist selbstverständlich nicht die Tötung des Verbrechers, der fremdes Leben antastete.“ (E 183). 156 Bonhoeffer nennt E 272 die ersten drei Gruppen, die vierte, die Gruppe der Staatsbürger, die im Interesse des Rechtsstaats und der verfolgten Mitbürger den Staatsstreich einschließlich der Ermordung Hitlers plante, dürfte aber eigentlich gemeint sein.

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B. Grund und Vollzug des Guten

unmittelbaren konkreten Kontext, also mittels allgemeingültiger Sätze und Normen, nicht angemessen beurteilt werden können. Doch gegen den ersten Anschein ist diese Ethik der Entscheidung nicht eine reine Situationsethik, deren theologischer Gehalt darin bestünde, dass das natürlich-geschichtliche Leben in seiner Faktizität theologisch aufgeladen würde und dadurch den Rechtfertigungsrahmen konkreter ethischer Entscheidung abgäbe. Dabei bliebe auch unklar, wie das Verhältnis von existentiellem Handeln und Geschichtlichkeit inhaltlich zu denken ist. Denn das geschichtliche Leben ist in Bonhoeffers Konzeption ja nicht nur Produkt des situativen Handelns, darüber hinaus aber auch nicht nur zur Entscheidung nötigende Situation, sondern als das ontologische Fundament des individuellen Lebens und Handelns an sich selbst ethisch qualifiziert: „Gutsein heißt ‚leben‘“157 resp. geschichtlich leben. Soll dies mehr sein als eine formale Bestimmung für eine inhaltlich leere Situationsethik, soll die existentielle Tat über ihren Vollzug hinaus tatsächlich das „relativ Bessere“158 zum Ziel haben, sollen also Leben und die Geschichtlichkeit des Lebens mehr bedeuten als bloße dynamische und inhaltlich kontingente Veränderlichkeit, so nämlich dass die Geschichte selbst in ihrem Verlauf und ihrer je aktuellen situativen Gestalt theologisch deutbar ist159, so muss sie auch theologisch begründet sein. Diese Begründung nimmt Bonhoeffer freilich in „Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]“ mehr indirekt vor: sie ist Folge des von ihm entfalteten Lebensbegriffs, der zwar wichtige Impulse aus der zeitgenössischen Lebensphilosophie erhalten hat, der aber eigentlich ein christologischer Lebensbegriff ist. Wie das menschliche Leben seinen wirklichen Grund im Christusereignis hat, so ist auch die Geschichte letztlich in Menschwerdung, Kreuzigung und Auferstehung Christi begründet, sie hat in Christus ihr „Lebensgesetz“160. Die leibliche161 Annahme der Menschennatur und die Zeitlichwerdung des 157

E 252. E 260. 159 Eben dies, eine theologische Geschichtsdeutung, liefert ja das auf den ersten Blick im Zusammenhang der Ethik-Fragmente seltsam anmutende Kapitel „Erbe und Verfall“ (E 93–124). Aber auch der geschichtliche Ort des Handelnden, der Beruf (s. E 289 ff.), kann nur dann mehr sein als eine bloß zufällig zustande gekommene Position im kontingenten geschichtlichen Verlauf, wenn damit der Gedanke eines geschichtlichen Sinnes verknüpft ist. 160 E 263. 161 In „Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]“ formuliert Bonhoeffer diesen inkarnationstheologischen Grundgedanken nur an einer Stelle explizit, setzt ihn aber grundsätzlich voraus, wenn er  –  in durchaus gefährlicher Weise  –  auf die Inkarnation im Kontext des christologischen Lebensbegriffs zu sprechen kommt (vgl. E  253: „Es gibt keinen Menschen an sich wie es keinen Gott an sich gibt; beides sind leere Abstraktionen.“, vgl. dazu DBW 12, 339). Vgl. auch E 262: „[…] indem er selbst leibhaftig Mensch wurde […]“ und E 71 („Ethik als Gestaltung“): „[…] daß Gott […] die Menschengestalt leibhaftig angenommen hat.“ S. auch das gesamte Kapitel „Das natürliche Leben“ (E 163–217), das auf diesem Grundgedanken beruht. 158

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überzeitlichen Gottes sind dabei notwendig miteinander verknüpft, denn das zeitlich-geschichtliche Existieren ist eben kein unwesentliches Attribut, sondern zum Wesen des Menschen gehörig162. Die Geschichte kann dann aber zuletzt nicht einfach als zufällige Reihung miteinander verknüpfter Ereignisse verstanden werden, die – auch noch retrospektiv – an jedem beliebigen Punkt so oder anders hätte verlaufen können. Ebenso wenig aber kann sie im Sinne der griechischen Tragödie als immer wieder notwendiges Scheitern an der Unvereinbarkeit elementarer, an sich ungeschichtlicher religiös-sittlicher Zwecke und Pflichten gedeutet werden, das ein menschliches Handeln aus Freiheit fragwürdig werden lässt163. Vielmehr sind durch die christologische Begründung der geschichtlichen Menschennatur das menschliche Handeln aus Freiheit und die in Christus begründete Heilsgeschichte einander zugeordnet: göttliche Providenz und menschliche Tat entsprechen einander.164 Welche inhaltlichen Implikationen für die Ethik ein solcher christologischer Geschichtsbegriff im einzelnen hat, entfaltet Bonhoeffer in erster Linie in dem geschichtstheologischen Kapitel „Erbe und Verfall“165. In dem hier untersuchten Kapitel dagegen bleibt es zunächst dabei, dass die jeweilige geschichtliche Situation – in ihrem im Glauben erschlossenen, aber nicht reflexiv wissbaren Sinnzusammenhang mit der Geschichte selbst166 – als Bedingungsgefüge der ethischen Tat vorausgesetzt wird. Diese ist damit zugleich begründet im und ausgerichtet am „Wesen der Geschichte“167, also dem Offenbarungsgeschehen in Christus. Der näheren formalen und inhaltlichen Bestimmung dieser ethischen Tat dienen die weiteren Ausführungen, in welchen Bonhoeffer zunächst noch einmal auf den Lebensbegriff zurückkommt und dessen weitere Bedeutung für die Existenz des Glaubenden erhellt.

162 S.o. das zur Lebensphilosophie und ihrer Rezeption bei Bonhoeffer Gesagte B.II.2. Vgl. außerdem DBW 10, 429. 163 Bonhoeffer deutet hier die griechische Tragödie explizit als Muster eines verfehlten, weil gesetzlichen Wirklichkeitsverständnisses: „Wo ein weltliches und ein christliches Prinzip einandergegenübergestellt[!] werden, dort gilt als die letzte Wirklichkeit das Gesetz – oder vielmehr eine Mehrzahl von miteinander unversöhnlichen Gesetzen. Es macht das Wesen der griechischen Tragödie aus, daß der Mensch an dem Zusammenprall unvereinbarer Gesetze zugrundegeht.“ (E 264). 164 Vgl. E 273 f.285. Dazu s. ausführlicher den Exkurs zu Bonhoeffers Geschichtsbegriff, D.II, und den Abschnitt über Verantwortung und Freiheit, B.II.4.d. 165 Allerdings schließt „Erbe und Verfall“ inhaltlich direkt an den Abschluss von „Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]“ an, wo es nämlich um den Ort der Verantwortung geht. S. zudem B.II.4.d. 166 Sie ist ja nicht überschaubar und auch retrospektiv nicht bis ins Letzte deutbar. Darum enthalten Bonhoeffers geschichtstheologische Überlegungen aus „Erbe und Verfall“ und Widerstand und Ergebung auch keine Rechtfertigungen für konkretes Handeln, sondern bilden nur den Versuch, einen theologisch sinnvollen großen Geschichtszusammenhang zu rekonstruieren. Zum Antagonismus von Reflexion und Glauben s. Teil A. 167 E 263.

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d) Vitalität und Selbstverleugnung: Die Ambivalenz des Lebens Die Geschichtlichkeit des Lebens ist derjenige wesentliche Aspekt von Bonhoeffers Lebensbegriff, der das individuelle tätige Leben ontologisch fundiert in einer allgemeinen Geschichte Gottes mit dem Menschen und der darin enthaltenen eigenen individuellen Geschichte der Gottesbeziehung. Dadurch sorgt dieser geschichtliche Lebensbegriff zugleich für die situative Konkretion, die Verankerung der ethischen Tat an einem einmaligen geschichtlichen Ort mit all seinen konkreten, unwiederholbaren und sich stetig verändernden Bedingungen, und verhindert die statische Fixierung des Lebensbegriffs und des auf ihm beruhenden menschlichen Tuns auf biologische oder idealistische Lebensnormen. Eine inhaltliche Orientierung des Tuns am so verstandenen Leben bedeutet eine Begrenzung des situationsethischen Moments, das für Bonhoeffers Insistenz auf Konkretion und für seinen Begriff von menschlicher Freiheit entscheidend wichtig ist. Ein wesentlicher inhaltlicher Aspekt der ethischen Tat resultiert aus der christologischen Begründung des Lebens- und des Geschichtsbegriffs168. Dabei ist es freilich weniger die theologische Geschichtsdeutung, die das konkrete Handeln direkt und unmittelbar zu orientieren vermag, bleibt doch die Geschichte in ihrem je konkreten künftigen Verlauf nicht vorhersehbar und die geschichtliche Situation in ihrer Mannigfaltigkeit und Dynamik im Letzten unüberschaubar. Sie führt zwar zu wichtigen Einsichten über den Kontext des Handelns und den Sinn der Geschichte, kann aber nicht die systematische Begründung des ethischen Handelns ersetzen169. Der Lebensbegriff, den Bonhoeffer als ontologisches Fundament des Handelns einführt, wird darum bei aller Nähe zu lebensphilosophischen Konzeptionen schließlich doch ganz anders bestimmt. Er belässt es nicht bei der Beschränkung auf das phänomenologisch erfassbare, aber gedanklich nicht hintergehbare, also auch nicht begründbare Leben, das den Horizont allen Denkens und Handelns bildet, denn in dieser letzten Verschlossenheit vermag es keine gültige Orientierung des Handelns zu leisten. Alle aus einem solchen Lebensbegriff gewonnen Prinzipien wären nämlich nur „biologische oder ideologische Abstraktionen“170, die, so muss man Bonhoeffer hier präzisieren, nichts anderes als eine ĖďĞƪČċĝưĜďŭĜŅĕĕęčƬėęĜ bedeuteten, weil aus einem nicht bis ins Letzte erfassbaren und darum nur scheinbaren Sein auf ein Sollen geschlossen würde, weil also an das ‚Leben‘ Maßstäbe angelegt würden, die 168 Die anderen Aspekte, die Bonhoeffer unmittelbar unter dem Begriff der Verantwortung entfaltet, sind je unterschiedlich begründet. Dazu s. u. B.II.3. u. 4. 169 Denn die ethische Tat ist zwar geschichtliches Handeln und in die Geschichte eingebettet. Es ist aber zugleich freies, unmittelbar auf dem Glauben bzw. dem Christusereignis beruhendes Handeln, das folglich nicht in der Geschichte seinen Grund, sondern bloß seine Manifestationen hat. 170 E 250.

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„weder der Wirklichkeit [entsprächen] noch auch nur dazu geeignet [wären], den [sc. fälschlich konstruierten] Gegensatz zwischen dem Guten und dem Leben zu überwinden“171. Dagegen bestimmt Bonhoeffer, ausgehend vom Johannes-Prolog, Leben von seinem Grund in Christus her: „[…] das Leben selbst ist Jesus Christus. Was so von meinem Leben gilt, das gilt von allem Geschaffenen. ‚Was da geworden ist – in dem war Er das Leben‘ (Joh 1,4)“172.

Mit Bultmann geht es Bonhoeffer dabei nicht allein um die Hervorhebung der Schöpfungsmittlerschaft Christi, die er in der Ethik mehrfach auch unter Bezug auf die klassische Stelle Kol 1,16 betont173. Vielmehr zielt er auf den daraus ableitbaren – aber nicht notwendig abzuleitenden174 – Gedanken der fortgesetzten Gegründetheit alles Seins, d. h. präziser allen Lebens, weil die Wirklichkeit eben nicht statisch sondern werdend gedacht wird, im Ursprung Jesus Christus. Leben wird so zunächst in formaler Analogie zu einer platonischen Wesenslehre von seinem Grund oder Urbild her bestimmt: Christus ist das „Leben selbst“175, an welchem der Mensch, sofern er selbst lebendig

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E 248. E  249, mit Verweis auf Bultmann, Johannes, 21 f. Bultmanns Übersetzung von Joh 1,4a, die Bonhoeffer hier zitiert, lautet genau: „Was da geworden ist, – in dem war er (der Logos) das Leben.“ Die Lesart, die Bultmanns Übersetzung zugrunde liegt, entspricht dem Text von Nestle / Aland seit der 27. Auflage des NT Graece, worin im Unterschied zu früheren Auflagen der Satzteil ƀčƬčęėďė aus Vers 3c (bei Bultmann schon zu Vers 4 gehörig) auf den folgenden Satz aus Vers 4a bezogen wird. Damit wird statt einer tautologischen Aussage („und ohne ihn ist auch nicht eines geworden, was da geworden ist“ V. 3b.c) eine inhaltliche Erweiterung gemacht, die offenbar sehr in Bonhoeffers Interesse gelegen hat, insofern sie über das Gewordensein hinaus auch die Lebendigkeit oder die Lebenskraft alles Geschaffenen unmittelbar in Christus begründet sein lässt. Schöpfer und Geschöpf verbindet so nicht nur der einmalige Akt des Schaffens ‚am Anfang‘, sondern die dauernde Beziehung des Gegründetseins in Gott bzw. im Schöpfungsmittler Jesus Christus als dem Lebensgrund. Freilich hat auch diese Lesart ihre grammatischen Probleme, nämlich im Anschluss von Vers 3c an Vers 4a, bei Bultmann am Bindestrich ersichtlich, und in dem impliziten Subjektwechsel vom Ŗė zum ĕƲčęĜ. Bultmann schlägt darum auch noch eine zweite Übersetzungsmöglichkeit vor: „Dabei bleibt es sich gleich, ob man versteht: ‚Was da geworden ist, – in ihm (dem Logos) war (dafür) das Leben‘; oder: ‚Was da geworden ist, – in dem war er (der Logos) das Leben.‘ In jedem Falle ist gesagt, daß dem Geschaffenen als Geschaffenen Leben nicht zu eigen war.“ (Ebd., vgl. zur Erläuterung aaO. 20 f.4).“ 173 E 39.54.363. Die ersten beiden Verweise finden sich im geplanten ersten Kapitel „Christus, die Wirklichkeit und das Gute“, das eine auf dem Theologoumenon der Schöpfungsmittlerschaft Christi begründete theologische Ontologie entfaltet. Der dritte steht in dem Kapitel, von welchem fraglich ist, ob es einmal Teil der Ethik werden sollte, „Über die Möglichkeit des Wortes der Kirche an die Welt“ (E 354–364). 174 Sofern die einmalige creatio ex nihilo keineswegs zwingend den Gedanken einer creatio continuata resp. conservatio impliziert, wenn dieser auch traditionell Bestandteil der klassischen Dogmatik ist, allerdings nicht sub loco De creatione, sondern De providentia (vgl. Schmid, Dogmatik, 117 f.1247)). 175 E 248. 172

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B. Grund und Vollzug des Guten

ist, teilhat176. Das Insistieren auf dem Begründungsverhältnis, das in der von Bonhoeffer gewählten Begrifflichkeit – „das Leben“, „Leben selbst“, „Wesen des Lebens“177 – zum Ausdruck kommt, unterscheidet seine Konzeption darum an einem entscheidenden Punkt von den klassisch lebensphilosophischen Entwürfen: nicht geht es um eine durchwaltende, unbestimmte und unbegründbare Lebenskraft oder Entelechie178, sondern um dasjenige, was dem Lebendigen zugrunde liegt, was seine Lebendigkeit begründet und bestimmt, gerade deswegen aber auch streng vom Begründeten, dem Leben der Kreatur zu unterscheiden ist179. Im Unterschied aber zum platonischen Lebensbegriff geht es zuletzt nicht um ein prinzipielles Verhältnis ontologischer Teilhabe des vergänglichen und damit nur uneigentlichen Lebens am unvergänglichen wahren Leben, so dass schließlich dieses „Leben selbst“ nur eine „möglicherweise mich nicht [sc. existentiell] betreffende metaphysische Größe“180 wäre. Vielmehr denkt 176 So wörtlich im ersten Kapitel „Christus, die Wirklichkeit und das Gute“, z. B. E 35, wo anstelle von ‚Leben‘ der Wirklichkeitsbegriff verwendet wird. 177 Vgl. E248 f. 178 Oder aber Nietzsches „Willen zur Macht“, vgl. dazu Albert, Lebensphilosophie, 59 ff. Bergsons Gedanken eines élan vital hat Bonhoeffer vielleicht nicht gekannt, die Grundvorstellung der Lebensphilosophie von einer allgemeinen, sich im Individuum verwirklichenden Lebenskraft war ihm aber wohl nicht nur von Nietzsche her geläufig, da er mit weitaus mehr lebensphilosophisch beeinflussten Denkern vertraut war (s. dazu o. B.II.2.a). 179 Die Referenz auf Bultmann dürfte sich daher wohl nicht allein auf die Übersetzung von Joh 1,4 beziehen, die Bonhoeffer zitiert, sondern ebenso auf die Erläuterungen Bultmanns im Kontext dieser Übersetzung, vgl. etwa aaO. 214: „Für das Verständnis ist leitend: 1. daß die Sätze des Prologs durchweg den Logos charakterisieren sollen, daß also nicht V.4a (sc. V. 3c.4a) als eine Charakteristik des Geschaffenen den Zusammenhang unterbrechen darf; 2. daß von der ĐģƮ als der lebenschaffenden Kraft des Logos (das, was lebendig macht), nicht als von der Lebendigkeit (das, was lebendig ist), die Rede sein muß; denn die ĐģƮ wird ja sofort als das ĠȥĜ bezeichnet, das dem Geschaffenen gegenübersteht; sie kann also nicht die dem Geschaffenen eigene Lebendigkeit sein.“ 180 E  249. Im Platonismus ist der Gedanke eines prinzipiellen ontologischen Partizipationsverhältnisses zwischen ewigem und vergänglichen Sein grundlegend; nur von dieser ĖƬĒďĘēĜ her erhält das Werden seine konkrete Form und damit überhaupt eine Art von Sein. Daneben ist aber auch das ursprünglich sokratische Element wesentlich, dass nämlich der Mensch zu seiner Bestimmung nur kommt, wenn er sich selbst ein Wissen vom Guten bildet, welches darum auch nicht einfach schriftlich gefasst und weitergegeben werden kann, sondern ŅěěđĞęė bleiben muss. Gemeint ist hier freilich eine intellektuelle Erkenntnis allgemeiner Wahrheit und also gerade nicht das personale Verhältnis zur Wahrheit, das für Bonhoeffer entscheidend ist. Inwieweit sich Bonhoeffer hier bewusst von der platonischen Philosophie abgrenzt, bleibt unklar, weil es insgesamt kaum Hinweise darauf gibt, dass er sich einmal intensiver mit ihr beschäftigt hat. Die wenigen Verweise auf Platon (s. DBW 17 s.n.) geben Anlass zu der Vermutung, dass er kaum primäre Kenntnisse von ihm gehabt hat, vgl. etwa AS 33. Gleichwohl ist die Terminologie hier auffällig; sie kann allerdings ebenso gut aus der Rezeption platonischer Philosophie im (Neu-)Thomismus, bei Schleiermacher, Hegel oder anderen Bonhoeffer gut bekannten Denkern sowie aus Windelbands Philosophiegeschichte stammen (vgl. z. B. SC 20). In der Sache würde dies nichts ändern.

II. Die Mehrdimensionalität der guten Tat

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Bonhoeffer das Teilhabe-Verhältnis als ein personales Glaubensverhältnis, so dass eine echte Partizipation am Leben nur für den Glaubenden Wirklichkeit wird. Damit ist nicht nur einer monistischen Deutung des Lebensbegriffs ihr Recht bestritten, wie sie in manchen lebensphilosophischen Entwürfen zugrunde liegt181; der Lebensbegriff erhält zudem eine Ambivalenz, welche die Lebensphilosophie nicht kennt, insofern nun differenziert werden muss zwischen wirklichem oder wahrem und nicht wirklichem oder unwahrem Leben. Denn auch wenn Leben prinzipiell182 in Christus als dem Schöpfungsmittler und Ziel der Schöpfung gründet und darum von ihm auch prinzipiell sein Wesen empfängt, so kann dies trotzdem nicht objektiv oder abstrakt erkannt und formuliert werden. Der Grund dafür liegt darin, dass das in Christus begründete Leben wesentlich personales Leben, Leben in Beziehung ist; eine vom konkreten Subjekt abstrahierende Erkenntnis des Wesens des Lebens ist darum ebenso unmöglich wie ein Leben ohne die ihm wesentliche Gottesbeziehung183. Das Leben, das dem gefallenen Menschen gleichwohl zu eigen ist, er ‚lebt‘ ja in einer bestimmten, uneigentlichen Weise, ist darum „abgefallenes Leben“, das zwar weiterhin seinen ontologischen Grund in Christus hat, aber nicht zu seiner Wirklichkeit und Wahrheit kommt – es sei denn im Glauben: „Indem uns das Wort trifft – und dazu ist es gesprochen – erkennen wir, daß wir im Widerspruch zum Leben, zu unserem Leben, leben[!]. So vernehmen wir in diesem Wort Jesu Christi das Nein über unser Leben, das kein – oder doch nur darin Leben ist, daß wir auch im Widerspruch eben immer noch von dem Leben, das Jesus Christus heißt, das Ursprung, Wesen und Ziel alles Lebens und unseres Lebens ist, leben.“184

Wenn Bonhoeffer darum Leben und ethisch qualifiziertes Leben identifiziert, ist dies nicht Ausdruck eines Naturalismus, der das Vorhandene einfach bejaht; vielmehr steht dahinter eine dialektische Wirklichkeitsdeutung, derzufolge von Leben wahrhaft nur die Rede sein kann, wenn es wahres und wesentliches, d. h. im Glauben als christusbezogen erfahrenes Leben ist. D. h. Leben ist entweder so, wie es sein soll, und damit wesentlich gut, oder es ist 181

Z. B. bei Nietzsche. Bonhoeffer bestreitet, dass dieser Begriff verwendet werden kann. Allerdings meint er damit dualistische Systeme bzw. Systeme, die er für dualistisch hält, und die darum die existentielle Dimension der Wirklichkeit verfehlen. Gleichwohl muss sein Wirklichkeitsbegriff so gedeutet werden, dass es sich um eine prinzipielle Gründung der Welt im Versöhnungsgeschehen handelt. Dass dies keine Bedeutung für den Menschen hat, der nicht glaubt, wie Bonhoeffer postuliert, ist damit noch nicht bestritten. Dennoch bleibt die Frage, wie sich die christologische Ontologie und der Begriff einer existentiellen Glaubenserkenntnis zueinander verhalten; die Gefahr eines Hegelianismus, die auch bei Karl Barth von manchen gesehen wurde (so z. B. Hans Urs von Balthasar in seiner Darstellung über Barth), und auf die Bayer aufmerksam macht, liegt zumindest nahe. 183 Zur Erläuterung s. u. den folgenden Abschnitt über den Personalismus. 184 E 250. 182

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B. Grund und Vollzug des Guten

kein resp. bloß uneigentliches Leben: „Gut ist nicht eine Qualität des Lebens, sondern das ‚Leben‘ selbst. Gutsein heißt ‚leben‘“185. Darum, so Bonhoeffer, erfährt der Mensch das Leben aber auch in seiner organischen Natürlichkeit als grundsätzlich ambivalent. Denn das abgefallene Leben ist als uneigentliches Leben dem Gericht verfallen, in dem es verneint wird; wenn also das uneigentliche, unwahre Leben selbst schon metaphorisch als Tod oder „Totsein“ bezeichnet werden kann186, so ist das von Gott negierte Leben wirklich und ganz dem Tod verfallenes und damit leidendes und sterbendes Leben. Nur weil das Gericht nicht Gottes letztes Wort ist, sondern durch das Gericht hindurch sich die Versöhnung des Lebens mit Gott vollzieht, indem nämlich Christus, das Leben, stirbt und aufersteht, ist der Tod des Lebens nicht das Letzte, sondern Teil des eigentlichen, wahren Lebens, das wächst, gedeiht und blüht187. Die Phänomenologie des natürlichbiologischen Lebens wird damit von Bonhoeffer in die theologische bzw. christologische Begründung des Lebensbegriffs eingeholt: die Dialektik von Leben und Sterben, Wachsen und Zugrundegehen ist äußerlich-natürliche Manifestation des Christusgeschehens und damit Ausdruck von Gericht und Versöhnung. Die von jeher erklärungsbedürftige Dialektik des Lebens, dessen integraler Teil sein Gegenteil, das Sterben ist, wird von Bonhoeffer darum 185

E  252. Hier steht offenbar eine gedankliche Auseinandersetzung mit dem (Neu-) Thomismus im Hintergrund, wie sie besonders auch im Kapitel über den Wirklichkeitsbegriff anhand der Rezeption Josef Piepers geführt wird, da der Anklang an den grundlegenden thomistischen Satz bonum est esse (vgl. z. B. ScG II cap. 41; III cap. 7: Omne igitur, quod est […] inquantum est ens, bonum est.) sicherlich von Bonhoeffer beabsichtigt ist. Dass hier anstelle des Seinsbegriffs der Lebensbegriff gesetzt wird, zeigt deutlich, wie sehr es Bonhoeffer auf einen dynamischen Wirklichkeitsbegriff ankommt, der einerseits – anders als im Thomismus  –  keine rationalistische Weltordnung impliziert und andererseits die Deutung des Wirklichkeits- resp. des Lebensbegriffs mittels personalistischer Kategorien erlaubt. Gleichwohl hat er den Grundgedanken von Thomas übernommen, dass die essentia, das Wesen des Seienden, zu seiner Wirklichkeit kommen muss, was bei allem Geschaffenen aber nur partiell möglich ist, wohingegen Gott als das vollkommene Wesen und der Ursprung aller entia die vollkommene Identität von Akt und Sein resp. actus und essentia ist und deshalb von Thomas die Bezeichnung actus purus erhält (vgl. dazu STh I qu. 4: Utrum in Deo sit idem essentia et esse). Vgl. dazu u. B.II.4.c. 186 Eine metaphorische Deutung des gefallenen Lebens als „Totsein“ hat Bonhoeffer in Schöpfung und Fall entfaltet: „Adam ist nicht in der Versuchung, den Lebensbaum anzurühren […] Er hat ja das Leben […] Der Mensch, der um tob und ra weiß, weiß im selben Augenblick um seinen Tod. Der Mensch stirbt am Wissen um Gut und Böse […] Der Tod als Vergänglichkeit ist nicht der Tod, der von Gott kommt. Was heißt Totsein? Es heißt nicht die Aufhebung des Geschaffenseins, sondern es heißt vor Gott nicht mehr leben können und doch vor ihm leben müssen […] Totsein heißt Leben-müssen […] er [sc. der gefallene Mensch] lebt aus sich selbst, er ist allein; aber er kann es nicht, denn er lebt eben nicht, sondern er ist in diesem Leben tot; denn er muß nun leben, d. h. er muß es aus sich selbst heraus vollbringen und eben das ist sein Tod (als Erkenntnisgrund und Realgrund zugleich!)“ (SF 78.84 f., vgl. auch 126 f.132 f.). 187 Vgl. E 250 f.

II. Die Mehrdimensionalität der guten Tat

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anders als beispielsweise bei Hegel nicht spekulativ durchdrungen188, anders aber auch als im Platonismus nicht durch die prinzipielle Differenz von Sein und Werden erklärt; vielmehr ist das Leben in Bonhoeffers Deutung sowohl in seiner Kraft und Blüte als auch in seiner Brüchigkeit und Vergänglichkeit in Christus gegründetes Leben, weil das Ja zum Leben nur aufgrund des Nein bzw. durch das Nein hindurch erfolgt; Bonhoeffers Insistieren auf der Ganzheit und Einheit des Lebens zielt damit letztlich auf einen Begriff von differenzierter Einheit, nämlich auf die Einheit von Negation und Bejahung, von Gericht und Annahme des Lebens. Dieser Begriff einer differenzierten Einheit könnte dabei durchaus von Hegel angeregt sein, den Bonhoeffer ja gründlich studiert hat. Denn auch wenn er sich vom spekulativen Lebensbegriff Hegels abgrenzt, entspricht die Interpretation des christologischen Lebensbegriffs als einer „lebendige[n] […] widerspruchsvolle[n] Einheit“ von „Ja und Nein“189 doch formal der dialektischen Grundfigur des Hegelschen Denkens der Identität der Identität und Nichtidentität190. Dabei ist es gerade auch der Gedanke Bonhoeffers, dass diese Einheit, diese dialektische Vermittlung des „Ja zum Geschaffenen“ und des „Nein zu dem all diesem immer schon innewohnenden Abfall vom Ursprung, Wesen und Ziel des Lebens“ im Versöhnungsgeschehen jeweils neu im Glauben und Handeln wirklich wird, der ihn bei aller grundlegenden Differenz in eine Nähe zu Hegel rückt; denn auch für Hegel ist am dialektischen Denken entscheidend nicht das „je schon Vermittelte[ ]“, also nicht das „nach Identität und Differenz Wohlbestimmte, sondern eine Tätigkeit: nicht eine Identität, sondern eine Identifzieren, nicht eine Differenz, sondern ein Differieren, welches beides ein Sich-Beziehen und als solches die Wurzel bestimmter Beziehung ist“191. In dieser Nähe zu Hegel liegt freilich ebenso die fundamentale Differenz: während Hegels Begriff einer differenzierten Einheit tatsächlich ein Begriff und damit Resultat einer logischen Bewegung ist, denkt Bonhoeffer seinen Begriff einer widerspruchsvollen Einheit des Lebens als den jeweils neu zu erfahrenen Akt Gottes von Gericht und Annahme des Lebens in Christus, dem je konkret ein Lebensakt des Menschen entspricht. Die widerspruchsvolle Einheit von Ja und Nein zum Leben ist darum die ganzheitlich zu verstehende Lebenswirklichkeit des glaubenden Menschen, die sich jeweils neu im Handeln, in der existentiellen Tat des Menschen für ihn selbst realisiert: „[…] das Handeln der Christen quillt aus der in Christus geschaffenen Einheit von Gott und Welt und Einheit des Lebens. In Christus findet das Leben seine Einheit 188

Vgl. dazu Hoffmann, Hegel, 199 ff.400 f. E 251. 190 S. dazu o. A.II.4.b. 191 Hoffmann, Hegel, 32. 189

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B. Grund und Vollzug des Guten

wieder, zwar im Widerspruch von Ja und Nein, der doch im konkreten Handeln des an Christus Glaubenden immer wieder überwunden wird.“192

Abgesehen aber vom Glauben ist diese in Christus begründete widerspruchsvolle Einheit dem Menschen nicht als solche zugänglich; er kommt darum nur zu „biologische[n] oder idealistische[n] Abstraktionen“193, in welchen entweder das natürliche Wachstum, die biologische Funktionalität des Lebens ethisch qualifiziert oder in umgekehrter Denkbewegung dem natürlich Vorhandenen eine Sphäre weltloser, ‚unnatürlicher‘ Werte und Pflichten gegenübergestellt wird. Die phänomenologisch wohl erfassbare Ambivalenz von Ja und Nein des Lebens wird also, so Bonhoeffer, notwendig missinterpretiert, weil ihr Grund, das Versöhnungsgeschehen, nicht erfasst wird. Folge dieses notwendigen Missverstehens sind dann zumeist einseitige Weltdeutungen, die entweder, wie z. B. diejenige Nietzsches, ein Vitalitätsprinzip zugrunde legen, aufgrund dessen das ‚Ja‘, das Wachsen und Gedeihen des Lebens vergötzt wird als Manifestation des Willens zur Macht, d. h. zur Selbsterhaltung und Selbststeigerung, dem die ‚christlichen‘ Prinzipien Demut und Mitleid entgegengesetzt sind194. Oder aber es kommt in der alternativen Deutung zur Abwertung des Weltlichen von einem Standpunkt überweltlicher Prinzipien aus, welche, z. B. in der Form einer „Ethik Jesu“195, mit der natürlich-geschichtlichen Existenz kaum vereinbare Haltungen totaler Selbstverleugnung fordern und darin das ‚Nein‘, das Leiden und Sterben des Lebens idealisieren. Die natürliche Welt, die eigentlich von diesen aus der Bergpredigt abgeleiteten Prinzipien überformt werden soll, muss dann aber, weil dies nicht gelingen kann, zu einer ‚autonomen‘196, eigengesetzlichen Sphäre werden, die der postulierten Ethik der Bergpredigt in tragischer Weise widerspricht197. 192

E 252. E 250. 194 S.o. A.II.3.b und zum Prinzip des Willens zur Macht ausführlich Müller-Lauter, Willen, passim; außerdem Safranski, Nietzsche, 294 ff. 195 Vgl. E 252. 196 Zur Verwendung dieses Begriffs für die Eigengesetzlichkeit der Welt vgl. E 253. Gemeint ist hier folglich nicht eine von der Natur streng unterschiedene Praktische Vernunft, sondern schlicht eine nicht auf dem Versöhnungsgeschehen begründete, säkulare oder philosophische Ethik. 197 Vgl. dazu E 251.264 f. und die erste Fassung dieses Kapitels E 236. Dass die Bergpredigt auf dem Fundament eines solchen verkehrten Lebens- bzw. Wirklichkeitsbegriff zwangsläufig gesetzlich und damit verkehrt ausgelegt wird, deutet Bonhoeffer hier nur noch an: „Es kommt dann zu den Abstraktionen einer Vitalitätsethik und einer sogenannten Ethik Jesu, zu jenen bekannten Theorien von den autonomen Lebensbereichen, die mit der Bergpredigt nichts zu tun haben.“ (E 251). In der ersten Fassung hatte Bonhoeffer dies noch ausführlicher dargelegt (E 236 f.); dass er die Ausführungen hier so stark verkürzt hat, ist im Grunde sehr konsequent: Wenn allgemeingültige Handlungsnormen zurückgewiesen werden, darf auch keine Konzentration auf die Gebote der Bergpredigt mehr erfolgen, da andernfalls diese leicht wieder als abstrakte Normen missverstanden werden könnten. Ihre konkrete 193

II. Die Mehrdimensionalität der guten Tat

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Darum führen diese Alternativen zuletzt dazu, dass sie miteinander kombiniert werden als je an ihren Bereich oder Raum gewiesene Prinzipienethiken, die freilich miteinander darum auch in Konflikt stehen und das Handeln immer neu in Dilemmata führen müssen: „Man bleibt hier als Folge [sc. der] falsche[n] Abstraktionen in ewig unlösbaren Konflikten stecken, über die das praktische Handeln nicht hinauskommt und an denen es sich zerreibt“, weil die beide Dimensionen, „Vitalität und Selbstverleugnung“198, umfassende Ganzheit des Lebens nicht begriffen wird. Die „bittere[ ] Resignation“199 über die Unzulänglichkeit dieser einseitigen Prinzipienethiken, die Bonhoeffer in diesem Zusammenhang konstatiert und als Hinweis auf deren Verkehrtheit deutet, dürfte freilich ganz überwiegend auf der Seite der zweiten Alternative der ‚idealistischen Abstraktion‘ liegen. Dass Nietzsche, auf den Bonhoeffer mit dem Stichwort „Vitalität“ ja höchstwahrscheinlich zielt, in eine bittere Resignation wegen des „unheilbaren Riss[es] zwischen Vitalität und Selbstverleugnung“200 verfallen sei, kann schon deshalb nicht behauptet werden, da er mit dem vitalistischen Grundprinzip des Willens zur Macht – auch wenn dieser nur als ‚Viele‘ sich manifestiert  –  eine causa prima postuliert201. Darum muss explizit festgehalten werden, dass der Vorwurf eines dualistischen Lebensbegriffs auf Nietzsche selbst nicht zutrifft, weswegen es für ihn auch nicht zum Konflikt seiner ‚Vitalitätsethik‘ mit anderen dieser entgegengesetzten Prinzipien kommen konnte – jedenfalls nicht auf der Theorieebene. Eher könnte es sich im Falle von Nietzsches psychischen Krisen und literarischen Ausfälligkeiten um ein uneingestandenes Zweifeln an der Richtigkeit seines vitalistischen Grundgedankens vom Willen zur Macht handeln, welcher mit bestimmten charakterlichen Dispositionen von ihm nicht übereinstimmte – dies könnte man jedenfalls aus dem Zusammenbruch Nietzsches beim Anblick des misshandelten Kutschpferdes 1889 schließen und als psychologischen Erklärungsversuch für seine übermäßige Ablehnung des Christentums und zentraler christlicher Grundgedanken bemühen. Die – spekulativ bleibende – Bedeutung psychologischer und biographischer Faktoren für Nietzsches Denken spielt freilich im Hinblick auf Bonhoeffers Nietzsche-Rezeption keine Rolle202, darum soll es hier bei dem Hinweis bleiben, dass Bonhoeffer mit der zitierten Wendung sehr wahrscheinlich in erster Linie auf liberal-theologischer Denker wie Ernst Bedeutung wird vielmehr erst im Glauben immer wieder neu erfahren, so dass ihr Sinn je nach Situation auch in der „Gestalt des um Selbstbehauptung, Macht, Erfolg, Sicherheit Kämpfenden“ erscheinen kann (E 244). 198 E 251 f. 199 E 252. 200 Ebd. 201 Dazu Safranski, Nietzsche, 301 und Müller-Lauter, Willen, 245 ff. 202 Vgl. dazu statt anderer ausführlich Safranski, Nietzsche, passim.

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B. Grund und Vollzug des Guten

Troeltsch und besonders Friedrich Naumann203 anspielt, denen er auch an anderer Stelle ein verkehrtes Denken in zwei Räumen vorwirft, das stets nur zu unbefriedigenden Kompromissen oder unlösbaren Konflikten der so genannten christlichen Prinzipien mit den weltlich-natürlichen Erfordernissen und Werten führen müsse204. An die Stelle solch einseitiger Prinzipienethiken ist dagegen zwar mit der Lebensphilosophie die Einheit der Wirklichkeit und des Lebens der dualistischen oder vereinseitigenden Weltdeutung entgegen zu setzen. Dabei sind aber – und das ist das Neue an Bonhoeffers christologischem Lebensbegriff  –  die konträren Folgerungen für das von diesen Systemen jeweils postulierte ethische Handeln im je konkreten Handeln des Christen zu integrieren, weil es nur so dem dialektischen Lebensbegriff entspricht. Die Dynamik des Lebensbegriffs ist also noch einmal in neuer Weise wesentliches Element der Ethik geworden: nicht nur geht es um die je neue existentielle Tat des Einzelnen, die nicht prinzipiell vorbestimmt werden kann, weil sie dem immer neuen geschichtlichen Lebenskontext entstammt, den sie nicht überschreiten kann; vielmehr ist diese je neue konkrete Tat darüber hinaus gekennzeichnet durch die gleichfalls immer neue Vermittlung der widerspruchsvollen Aspekte des Lebens in der Verbindung von Bejahung und Verneinung des Lebens, d. h. in der Verbindung der nur scheinbar antagonistischen grundlegenden Handlungsnormen der Selbstbehauptung und der Selbstverleugnung einschließlich aller ihnen zugehörigen Einzelnormen und -güter wie Gesundheit und Leiden, Glück und Verzicht, Leistung und Demut etc.205. Erst damit ist aber die ethische Tat mehr als bloße Entscheidung, so dass der strikte Dezisionismus, der sich bei Bonhoeffer mehrfach angedeutet hat, korrigiert wird hin zu einer sehr wohl inhaltlich orientierten Ethik der konkreten Entscheidung. Diese inhaltlichen Orientierungen, die natürlich nicht gesetzlich aufgefasst werden dürfen, ergeben sich dabei aus dem in seinem Grund und seinem Wesen im Glauben erfassten Lebensbegriff, weil dieser das Gute selbst ist206. In dem christologisch begründeten Lebensbegriff sind so beide Aspekte enthalten, zum einen das dezisionistische Element, weil Leben nur konkret und dynamisch gedacht werden kann und lebendiges Handeln also situativ und konkret sein muss, und zum anderen die inhaltliche Orientierung, weil Leben eben nur als auf Christus bezogenes, von ihm begründetes und bestimmtes Leben wahrhaft Leben ist. Das Gute besteht also, 203

Vgl. dazu Naumann, Briefe, 18. Dies legt auch die Anmerkung der Herausgeber E 2521 nahe. S. außerdem E 236 (erste Fassung) mit Hrsg.-Anm. 69. S. besonders auch den Exkurs zu Bonhoeffers Kritik an der Liberalen Theologie D.I. 205 Zu diesen und weiteren Gegensatzpaaren vgl. E 251. 206 Vgl. E 253: „Zurückkehrend zur Frage nach dem Guten können wir […] sagen, daß es […] das Leben selbst [ist].“ 204

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auf eine Formel gebracht, darin, das christusbezogene Leben je konkret zu leben. Das heißt aber auch, dass seine im Christusereignis begründeten inhaltlichen Dimensionen, die Ambivalenz von Ja und Nein, Lebensbehauptung und Lebensverneinung, im Handeln je neu und konkret zu vermitteln und so zur Wirklichkeit zu bringen sind: „Wir ‚leben‘, indem sich […] das Ja und das Nein zu widerspruchsvoller Einheit verbindet, zu selbstloser Selbstbehauptung, zur Selbstbehauptung in der Selbstpreisgabe […]“207.

Die Formulierungen, mit denen Bonhoeffer das ethische Handeln des Menschen beschreibt, können darum, soweit sie diese Ambivalenz betreffen208, nicht weiter präzisiert werden; orientierende Funktion besitzen sie im Hinblick auf die dialektische Form des Handelns und die je neu zu entfaltenden inhaltlichen Implikationen der genannten Ambivalenz. Dabei ist besonders bedeutsam die Betonung der notwendigen Integration auch der vitalistischen resp. weltlich-natürlichen Dimension in die christliche Ethik. Ist schon traditionell die Vorstellung, dass christliche Ethik eine Ethik der Selbstentsagung sei, die das profane Glücksstreben, die natürlichen Bedürfnisse und einen ästhetischen Weltumgang mindestens einfach ausspart, geläufig, so reagiert Bonhoeffer auf eine theologische Tradition, die im Anschluss an Kant der Ethik den Bereich des geistigen Personkerns, der Gesinnung oder des Gewissens zuweist. Die leibliche und psychische Natürlichkeit des Menschen einschließlich ihrer Bedürfnisse und Triebe kommt dann aber nur als adiaphoristisch einzuschätzende naturale Basis oder als im Sittlichkeitsstreben zu überwindendes Hemmnis in den Fokus, nicht aber als eigenständige, positiv bewertete Dimension einer ethisch qualifizierten Existenz209. Dagegen ist dies für Bonhoeffers ganzheitlichen Lebens- und Menschenbegriff nur konsequent; das Leben als Ganzes ist ja das Gute, so dass die psychisch-physische Natürlichkeit und ihre positiven Aspekte wie „Werden“, „Wachstum“, „Blüte“, „Frucht“, „Gesundheit“, „Glück“ etc. inbegriffen sind210. Dass diese Aspekte nicht an sich, sondern in dialektischer Vermittlung mit ihrem Gegenteil erst das Leben und das Gute ausmachen, zeigt aber auch, dass Bonhoeffer sich hier trotz des Einflusses, den Nietzsche wohl an diesem Punkt auf ihn ausgeübt hat, in einer kritischen Distanz zu ihm befindet. Die frühere deutliche Nähe zu Nietzsches Postulat einer

207

E 253. Im Fortgang der Ethik entfaltet Bonhoeffer freilich weitere Implikationen des Lebensbegriffs und kommt so auch zu weiteren inhaltlichen Orientierungen, die für das ethische Handeln bestimmend sind. Auch diese aber können das Handeln nicht in gesetzlicher Weise determinieren. Dazu s. bes. C.III. 209 Vgl. den Exkurs zur Liberalen Theologie D.I. 210 E 251. 208

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„Treue zur Erde“211 ist nun reduziert zu einer impliziten Bezugnahme in dem Stichwort ‚Vitalität‘ und inhaltlich korrigiert zu einer zwar wesentlichen, aber gebrochenen Wertschätzung des Natürlichen. In der Zeit der Barcelona-Vorträge konnte Bonhoeffer dagegen noch sehr direkt auf Nietzsches Kritik an der kantisierenden zeitgenössischen Theologie und ihrer Vernachlässigung des Natürlichen, Zeitlichen und Konkreten rekurrieren, wobei aber dieser Rekurs durch seinen Kontext bereits eine kritische Wendung gegen Nietzsche enthält, weil schon für den jungen Bonhoeffer das Festhalten am Irdischen allein vom Ewigen her legitimiert ist: „[Der Christ] bleibt an die Erde gebunden, wenn er zu Gott will […]. Der Mensch, der die Erde verlassen will, der heraus will aus der Not der Gegenwart, der verliert die Kraft, die ihn durch ewige geheimnisvolle Kräfte immer noch hält. Die Erde bleibt unsere Mutter, wie Gott unser Vater bleibt und nur wer der Mutter treu bleibt, den wird sie dem Vater in die Arme legen.“212

Mit der Thematisierung der Antäus-Sage213 spielt Bonhoeffer wohl bewusst auf Nietzsche an, der auch sonst in seinen Barcelona-Vorträgen mehrfach vorkommt und trotz dessen fundamentaler Differenz zum Christentum von Bonhoeffer für seine von Barth inspirierte Kritik an der zeitgenössischen Theologie und Ethik angeführt wird214. Die Funktion der Nietzsche-Referenzen bleibt allerdings noch etwas unbestimmt: zwar verfolgt Bonhoeffer auch hier schon die Intention einer Absage an Prinzipienethiken, ohne jedoch schon zu einem tragenden ontologischen Fundament gefunden zu haben, wie in der Ethik215. Die ‚Treue zur Erde‘ wird folglich noch nicht näher spezifiziert und führt erst recht noch nicht zu einer ausdrücklichen und ausführlichen Thematisierung des Natürlichen, Vitalen als einer Grunddimension menschlicher Existenz und darum auch der Ethik. In der Zeit der Ethik schien ihm eine Berufung auf den ‚Christentumsfeind‘ Nietzsche216 als Zeugen für die Bedeutung des Weltlich-Natürlichen offenbar schon deshalb nicht mehr notwendig, weil inzwischen auch Thomas 211 Zu diesem Ausdruck vgl. Capozza, Treue, passim. Nietzsche formuliert in Also sprach Zarathustra (Vorrede 3, KGW 6.1, 9): „Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu und glaubt Denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden.“, vgl. aaO. 95 u. ö. 212 DBW 10, 344 f. 213 Ebd. 214 Vgl. etwa DBW 10, 311.314.331. 215 Dies wird etwa daran deutlich, dass Bonhoeffer noch nicht konsequent die Vorstellung von Schöpfungsordnungen durch die von Erhaltungsordnungen ersetzt hat (vgl. z. B. DBW 10, 331 f., wo vom Widerstreit der zwei Ordnungen die Rede ist). Ebenso arbeitet er in den Barcelona-Vorträgen noch mit der Differenz Zeit-Ewigkeit (vgl. z. B. DBW 10, 345), die seine später weiter ausgearbeitete Intention eines ganzheitlichen theologischen Weltbegriffs, eines umfassenden Glaubensbegriffs sowie einer existentiellen und konkreten Ethik eher verdeckt als erhellt. 216 DBW 10, 327.

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von Aquin auf Bonhoeffers Versuch einer Inklusion des Natürlichen in die christliche Ethik eingewirkt und in seiner Bedeutung dabei Nietzsche verdrängt hat217. Sie dürfte ihm aber auch nicht mehr sinnvoll erschienen sein, weil sich einerseits seine Distanz zu Nietzsche vergrößert und andererseits parallel dazu seine Distanz zur Liberalen Theologie verringert hat218. Nietzsches Lebensbegriff trifft darum unter dem Etikett des Vitalismus bzw. der Vitalität Bonhoeffers scharfe Kritik; zwar ist sie an dieser Stelle nur noch begrifflich angedeutet, aber es können dennoch keine Zweifel bestehen, dass jener hier im Hintergrund steht. Dies legt sich weniger von Bonhoeffers Rezeption Herman Nohls her nahe, dessen Sittliche Grunderfahrungen219 Bonhoeffer mehrfach zu Gedanken und Formulierungen in der Ethik angeregt hat220. Nohl reflektiert dort unter anderem das „Ideal der Kraft und Größe“ hinsichtlich seiner Bedeutung für das sittliche Leben; Kraft, Größe und Stärke werden dabei unter Rekurs auch auf Nietzsche dem Ideal der Vollkommenheit zugeordnet und als integraler Bestandteil der lebensbezogenen Ethik aufgefasst221. Diese Reflexionen dürfte Bonhoeffer mit der Notiz auf dem Ethik-Zettel Nr. 30 mit den Stichwörtern „Kraft – ĎğėċĖēĜ Nohl“ gemeint haben, die ihn auch zu der Beschreibung der lebensjahenden Haltung als dem „Ja zur Entfaltung der Kraft des Lebens“222 angeregt haben könnten. Die kritische und nicht bloß über Nohl vermittelte Rezeption Nietzsches bei diesem Aspekt wird noch deutlicher, wenn man den Abschnitt mit den unmittelbar vor „Die Geschichte und das Gute“ entstandenen Ausführungen zum „Natürlichen Leben“ sowie 217 Vgl. die während der Arbeit an „Das natürliche Leben“ entstandenen Zettelnotizen, die deutlich die Auseinandersetzung mit Josef Piepers Thomas-Interpretationen erkennen lassen (ZE Nr. 50): dort finden sich u. a. die Stichworte „Sachgemäßheit“ (vgl. Pieper, Wirklichkeit, 93 ff.) und „selbstlose Selbstliebe“ (vgl. Pieper, Zucht, 143), sowie „Recht auf Leben“ (vgl. STh I–II qu. 94 art. 2, s. auch u. B.II.4.c). Von Thomas von Aquin hat sich Bonhoeffer inspirieren lassen, als es darum ging, die ethisch-theologische Wertschätzung des Natürlichen zu konkretisieren in der Konstruktion christologisch begründeter natürlicher Rechte des Menschen („Das natürliche Leben“, E  162–218). Auch wenn die Begründung und die Ausführung der natürlichen Rechte in der Ethik teilweise erheblich vom thomistischen Naturrecht abweichen, ist die Nähe deutlich erkennbar. Insgesamt liegt der katholische Thomismus dem Denken Bonhoeffers auch deshalb näher als Nietzsches Metaphysik der Macht, weil es sich durch eine besondere Ausgewogenheit auszeichnet, die Bonhoeffer selbst immer wieder anstrebt bei seinen Bemühungen, extreme Denkpositionen miteinander in einer neuen Konzeption zu vermitteln. 218 Vgl. dazu E 66 f.124.342 f. sowie o. A.II.3.a. 219 Nohl, Grunderfahrungen. 220 Vgl. dazu das Register s.n. 221 Nohl, Grunderfahrungen, 61 ff., vgl. 73: „Die letzte Darstellung des Ideals des gesunden und starken, darum eben vornehmen, aktiven, nicht reaktiven Menschen hat schließlich Nietzsche in ‚Jenseits von Gut und Böse‘ und in dem ‚Willen zur Macht‘ gegeben.“ Nohl stellt hier auch den Zusammenhang her, den Bonhoeffer in seinen geschichtstheologischen Betrachtungen entfaltet, nämlich von dem „Ethos der Kraft“ der griechischen Antike bis zu Nietzsche (aaO. 71–73, vgl. E 92–124). 222 E 251.

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dem noch früheren Kapitel „Erbe und Verfall“ vergleicht223, in denen der Begriff „Vitalismus“ – wiederum jeweils kritisch – verwendet wird; aus den Kontexten wird dabei jedesmal deutlich, dass Bonhoeffer damit (besonders) auf Nietzsche zielt: „Die Vergottung des Menschen […] ist […] die Proklamation des Nihilismus […] Es entsteht ein hemmungsloser Vitalismus, der die Auflösung aller Werte in sich schließt und erst in der Selbstzerstörung, im Nichts, Ruhe findet“224. „Vitalismus endet zwangsläufig im Nihilismus […] das Leben an sich – im konsequenten Sinne – ist ein Nichts, ein Abgrund, ein Sturz; es ist eine Bewegung ohne Ende, ohne Ziel, Bewegung ins Nichts hinein.“225

Die sprachlichen Anklänge an Nietzsche sind so deutlich226, dass es höchst unwahrscheinlich ist, anzunehmen, Bonhoeffer habe in „Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]“ den Begriff Vitalität unspezifisch verwendet. Interessant ist, dass Bonhoeffer hier Nietzsches Argumentation direkt aufgreift und als Hinweis auf die Verkehrtheit von dessen Gedanken interpretiert: wenn das Leben „konsequent“ monistisch, ohne jeden Transzendenzbezug begriffen wird, dann ist Nietzsche darin recht zu geben, dass es nur eine immer gleiche Bewegung von Kraft und Zerstörung ist, deren einziger Sinn darin liegen kann, diese Dynamik immer wieder zu erleben und zu potenzieren227. Eine „Wertbezogenheit“, wie sie Bonhoeffer schon in der Dissertation als Kriterium des existentiellen Augenblicks fordert228, kann es im strengen Sinne dann nicht geben, insofern die Potenzierung der bloßen Kraft, die Manifestation des Willens zur Macht, alle Werte als Werte zerstört; übrig bleibt dann nur das Prinzip der Selbststeigerung, das – darin besteht ein Ansatz der Kritik an Nietzsche – eben nicht wahrhaft schöpferisch ist, weil es ja gar keine Werte 223 Zwar sollen die einzelnen Kapitel der Ethik zunächst möglichst aus sich heraus interpretiert werden, weil der systematische Zusammenhang ja erst hergestellt werden muss. Da es hier aber um eine Stichwortverknüpfung geht, die sicherlich von Bonhoeffer beabsichtigt ist und noch nicht viel über das systematische Verhältnis der jeweiligen Kapitel aussagt, ist es sinnvoll, die entsprechenden Textstellen, die ja auch chronologisch früher sind, heranzuziehen. 224 E 114 f. 225 E 171. 226 Vgl. z. B. Za III: „Von alten und neuen Tafeln“, KGW 6.1, 253: „Zerbrecht, zerbrecht mir die Tafeln der Frommen!“; vgl. insgesamt Jenseits von Gut und Böse und die Genealogie der Moral, sowie den Titel von Nietzsches geplantem, aber nicht durchgeführtem Hauptwerk „Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe“ (GM III, KGW 6.2, 427). S. außerdem den berühmten Aphorismus aus der Fröhlichen Wissenschaft, „Der tolle Mensch“, KGW 5.2, 158–160: „Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn gethödtet, – ihr und ich! […] Wohin bewegt sie [sc. die Erde] sich nun? Wohin bewegen wir uns? […] Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an?“ 227 Vgl. Müller-Lauter, Willen 258 f.260. 228 SC 28.

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freisetzt, sondern nur eine letztlich sinnlose, weil ziellose, kreisförmige229 Bewegung ist. Die fundamentale Differenz in den Voraussetzungen ist Bonhoeffer demnach sehr bewusst: Nietzsches Argumentation wird als in sich schlüssig akzeptiert, ihre Voraussetzung aber, dass der verabsolutierte Wille zur Selbststeigerung alle extrinsischen Ziele ausschließt und sich selbst genug ist, abgelehnt. Wenn Bonhoeffer dagegen postuliert: „Gutsein heißt ‚leben‘“230, so ist zwar ebenfalls dem Leben kein Wert mehr gegenüber gesetzt; die christologische Begründung des Lebensbegriffs ist es aber gerade, die hinter der Phänomenologie des Lebens von Kraft und Zerstörung den eigentlichen Wert des Lebens, d. h. das wahre Wesen des Lebens enthüllt. Der scheinbar sinnlose Kreislauf aus Kraftentfaltung und Untergang, den Nietzsches als das nur mannigfaltige231 Wirken des Willens zur Macht versteht, wird von Bonhoeffer zuletzt als sinnvoll, nämlich als Ausdruck des richtenden und versöhnenden Handelns Gottes gedeutet. Darum kann er von Nietzsche auch nicht den Willen zur Selbststeigerung als Element ethischen Handelns übernehmen, sondern lediglich den Willen zur (relativen) Selbstbehauptung232, denn Selbststeigerung als vitalistisches Prinzip ist in der Perspektive des christologischen Lebensbegriffs notwendige Folge einer Verkennung des Wesens des Lebens, die einen Aspekt vordergründig betrachtet und auch noch für das Ganze nimmt. Daher bleibt als Resultat von Bonhoeffers zustimmender Rezeption von Nietzsches Würdigung der leiblich-natürlichen Existenz nur noch die allerdings wesentliche Erkenntnis, dass eine prinzipiell lebensverneinende Selbstverleugnung aus theologischen Gründen, weil nämlich Christus das ganze Leben ist und jedes konkrete Einzelleben als leiblich-geistige Ganzheit in ihm begründet ist, keine ethische Forderung sein kann und im konkreten Handeln immer an ihr Gegenteil, das vitale Interesse an Selbstbehauptung, gebunden bleiben muss233. 229 Dies formuliert Bonhoeffer zwar nicht ganz explizit, es ist aber die Konsequenz, die ja Nietzsche selbst gezogen hat mit seinem Lehrstück von der ewigen Wiederkunft des Gleichen. Eine solche Bewegung im Kreis ist letztlich nichtig, weil sie keine echte, dauernde Veränderung erzeugt. Dass dies nur von den ‚Starken‘ ausgehalten werden kann, betont Nietzsche selbst. Vgl. dazu Safranski, Nietzsche, 283. 286 ff. 230 E 252. 231 Müller-Lauter, Willen, 246: „Der Willen zur Macht ist die Vielheit von miteinander im Streite liegenden Kräften.“ Einheit sei für Nietzsche nur im Sinne der Organisation, d. h. als Zusammenspiel bzw. Gegeneinanderwirken von Kräften. 232 Vgl. dazu Nohl, Grunderfahrungen, 73: „Das Ziel [sc. bei Nietzsches Ideal der Kraft] ist nicht die mühselige Selbsterhaltung, sondern die Kraftsteigerung“; Safranski, Nietzsche, 291 f.: „Selbstüberwindung im Schaffen […] ist mehr als Selbsterhaltung. Es ist Selbststeigerung […], dies ist der zweite Aspekt des Willens zur Macht. Man denkt zu gering vom Leben, wenn man in ihm nur den Trieb zur Selbsterhaltung entdeckt. Im Menschen ist das Selbst eine expansive Kraft, eine Steigerungs- und Akkumulationstendenz ist ihm eigentümlich.“ 233 Dies stimmt auch mit dem Resultat überein, das Köster insgesamt hinsichtlich der Bedeutung Nietzsches für Bonhoeffers Theologie aus seinen Beobachtungen ableitet, dass nämlich in der Zeit der Ethik im Unterschied etwa zur Zeit der Barcelona-Vorträge die

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Dieser zweite Aspekt, die Würdigung des natürlichen Lebens mit all seinem Guten, ist es freilich, den Bonhoeffer in der Ethik zur Geltung bringen will und als dessen Voraussetzung er den christologischen Lebensbegriff eingeführt hat. Damit unterscheidet er sich auch in nicht unerheblichem Maße von der für sein theologisches Denken sonst so bedeutsamen Existenzphilosophie Kierkegaards, der er an anderer Stelle in der Ethik nicht nur einen Mangel an Konkretion vorwirft234, sondern später in Widerstand und Ergebung auch einen einseitig negativen Weltbegriff235. Demgegenüber setzt er in seiner „kritische Auseinandersetzung“ überwiege (vgl. Köster, Nietzsche-Rezeption, 662 und Nietzsche als Antipode, 417). 234 Vgl. dazu das seine Überlegungen aus „Die Liebe Gottes und der Zerfall der Welt“ und „Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]“ erweiternde und mögliche Missverständnisse beseitigende Kapitel „Das Ethische und das Christliche als Thema“, wo es in kritischer Wendung gegen die (unbestimmt gelassene) Existenzphilosophie heißt: „Es ist im Ansatz dasselbe, ob man das Ethische als das rein Formal[-]Allgemeingültige oder ob man es als die in jedem ‚Augenblick‘, je und je gänzlich neu fallende ‚existentielle‘ Entscheidung des Einzelnen versteht. Zugrunde liegt die Zerstörung des Ethischen durch seine Ablösung von der konkreten Bestimmung.“ (E 376, meine Hervorhebung). Die grundsätzliche Position Bonhoeffers hat sich hier nicht geändert, schließlich dienen die Ausführungen in „Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]“ wie auch diejenigen der gesamten Ethik in weiten Teilen gerade der Begründung einer konkreten Ethik, die folgerichtig bei aller Kritik an der prinzipiellen Haltung die Intention verfolgt, inhaltlich orientierende Aussagen zu machen – besonders augenfällig im Kapitel „Das natürliche Leben“ mit seiner Konstruktion christologisch begründeter natürlicher Rechte. Dennoch liegt hier eine leichte Selbstkorrektur vor, insofern als nun die rigorosen Formulierungen aus dem Einleitungskapitel und die teils stark existenzphilosophisch eingefärbte Terminologie aus „Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]“, welche allesamt leicht zu Missverständnissen führen konnten, durch gegenläufige Aussagen ergänzt werden. Ob allerdings mit der korrigierenden Äußerung tatsächlich Kierkegaard gemeint ist, bleibt unklar, weil dieser bei aller Insistenz auf der Kategorie der Entscheidung doch auch die inhaltliche Bestimmung des Handelns durch das Vorbild Christus kennt (vgl. EC 229 ff.). Die Tendenz zur Ablösung vom Konkreten ist bei ihm freilich vorhanden und wohl auch seinem später verstärkt negativen Weltbegriff geschuldet, wenn sie auch von seinem Ansatz her eigentlich unmöglich ist, da es ja gerade um die alles Tun durchdringende Innerlichkeit geht, die gar nicht anders als konkret erscheinend gedacht werden kann (vgl. BA 143 ff.). 235 Diese spätere Kritik an Kierkegaard richtet sich – falls er unmittelbar gemeint sein sollte – gegen das mögliche Missverständnis des späten Kierkegaard, wonach der Weg des Menschen notwendig von der Verzweiflung zur Erlösung führe, so dass einerseits das Negative des Lebens unangemessen stark betont und andererseits eine Methode gezeigt werde, wie über die Verzweiflung – demnach eine moderne Form der contritio activa – zum Glauben zu gelangen sei (WE 478.498.503 f.). Beides wird freilich Kierkegaard so nicht gerecht: die Verzweiflung als bloß negative Lebenseinstellung zu werten, übersieht, dass Kierkegaard hiermit die von aller Befindlichkeit unabhängige grundlegende Verlorenheit des Menschen an die Sünde beschreibt, die auch der Lutheraner Bonhoeffer nicht in Frage stellt; eine Methode wiederum will gerade der Kirchenkritiker und Lutherdeuter Kierkegaard nicht liefern, wenn auch manches Missverständnis dies ihm unterstellt hat. Allerdings könnte Bonhoeffers spätes Unbehagen an der Existenzphilosophie resp. Kierkegaard auch damit zusammenhängen, dass er sich durch die Periode der Nachfolge hindurch zu einem Versöhnungstheologen entwickelt hat; die Wirklichkeit der Versöhnung und das neue Sein

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letzten theologischen Phase den Ansatz beim christologischen Lebensbegriff und der Wirklichkeit der Versöhnung fort, wenn er mit beinahe den gleichen Begriffen, wie er sie im Kontext der Integration der positiven Aspekte des Lebens in die Ethik gebraucht, sein theologisches Grundanliegen formuliert: „[…] mitten im Leben muß Gott erkannt werden; im Leben und nicht erst im Sterben, in Gesundheit und Kraft und nicht erst im Leiden, im Handeln und nicht erst in der Sünde will Gott erkannt werden. Der Grund dafür liegt in der Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Er ist die Mitte des Lebens […]“236.

3. Person Das Leben, das in seinem Ursprung, Wesen und Ziel Christus resp. das Gute ist, wird von Bonhoeffer aber nicht nur als dialektische Bewegung von Ja und Nein oder Selbstbehauptung und Selbstverneinung bestimmt. Damit ist auch noch keine überzeugende Abgrenzung von den von ihm so genannten metaphysischen Lebensbegriffen vollzogen; schließlich findet sich ein mit den Mitteln der Vernunft konstruierter dialektischer Lebensbegriff beispielsweise auch bei Hegel. Um das Leben, das Jesus Christus ist, dagegen wirklich als concretissimum237 bezeichnen zu können, das als solches gerade nicht das Paradigma für die differenzierte Einheit logischer Gegensätze oder das ideale, allgemeine Urbild des an ihm partizipierenden zeitlichen Lebens ist, muss noch die für Bonhoeffers Denken von Anfang bis Ende zentrale Grundkategorie eingebracht werden, nämlich die Kategorie der Person. Denn das Allerkonkreteste ist die – nicht transzendental aufgefasste, sondern dialogisch bestimmte – Person, weshalb die Frage nach dem Wesen des Lebens zuletzt des Glaubenden, der demnach bei aller Ambivalenz der Existenz bereits in die neue Wirklichkeit des ‚Vorletzten‘ eingetreten ist, und die ihn darum auch außerhalb des jeweils konkreten, nicht reflexiv fassbaren Glaubensaktes, des ‚Letzten‘, trägt, stehen im Zentrum seiner Reflexionen, während Kierkegaard – gedanklich gewissermaßen einen Schritt davor – ausgehend von der Existenz des Sünders die Positivität der geschehenen Versöhnung und die Konsequenzen für den Glaubenden, jedenfalls später, kaum mehr in den Blick bekommt. S.o. A.II.5.d, außerdem Hirsch, Kierkegaardstudien I, 416 f. Eher könnte Bonhoeffer hier allerdings Karl Heim im Visier haben, der ihm als existenzphilosopischer Denker gut bekannt ist und bei dem er gerade diesen ‚Methodismus‘ , wenn auch noch nicht unter dem Begriff, schon 1932 moniert hat, vgl. DBW 12, 223–227. 236 WE 455, vgl. 407 f.500. 237 Bonhoeffer verwendet diesen Begriff als Wesensbeschreibung Gottes nur einmal und an eher marginaler Stelle, nämlich in dem Aufsatz zu Karl Heims Der evangelische Glaube und das Denken der Gegenwart I (DBW 12, 228, vgl. DBW 17 s. v.). Gleichwohl ist dieser Begriff geeignet, das Grundanliegen seiner Theologie zu bezeichnen, die von dem fortwährenden Dringen auf Konkretion und der Abwehr eines abstrakt-metaphysischen Zugangs zur Gotteswirklichkeit gekennzeichnet ist (vgl. dazu Feil, Theologie, 99 ff.: „Die Wirklichkeit als konkrete Wirklichkeit Gott, das ‚concretissimum‘“).

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umformuliert werden muss in die Frage238, „wer das Leben sei“239, deren Antwort Jesu Selbstaussage aus Joh 14, 6 ist240. Was dies genau bedeutet, dass das Leben in konkretester Weise als Person bestimmt wird, zeigt sich, wenn diese Kategorie und ihre geistesgeschichtliche Herkunft aus dem Dialogischen Personalismus näher beleuchtet wird. a) Der Dialogische Personalismus aa) Bonhoeffers Rezeption des Dialogischen Personalismus Bonhoeffer ist mit den Denkern dieser Richtung moderner Philosophie schon sehr früh, d. h. wohl noch vor dem Beginn der Arbeit an der Dissertation, in Berührung gekommen. Möglicherweise ist das nachhaltige Interesse an der modernen Interpretation der eigentlich alten Kategorie Person schon zu Beginn des Studiums durch die Begegnung mit Karl Heim ausgelöst worden, bei dem er bereits in seinem zweiten Semester in Tübingen eine DogmatikVorlesung gehört hat241 und der in gewisser Weise als Vertreter der mit der Existenzphilosophie verwandten philosophischen Strömung des Dialogischen Personalismus resp. der Sozialontologie bezeichnet werden kann242. Den wichtigsten und bekanntesten Vertreter diese Denkens, Martin Buber, hat Bonhoeffer freilich nicht weiter zur Kenntnis genommen, obwohl dieser zeitgenössische jüdische Philosoph ihm zweifellos ein Begriff gewesen ist243. Dagegen hat sicher der zeitweilig eng mit Friedrich Gogarten verbundene Eberhard Grisebach entscheidende Wirkung auf den jungen Bonhoeffer ausgeübt; die Dissertation Sanctorum Communio verdankt ihm wichtige Impulse bei der Ausarbeitung einer auf einem theologischen Personbegriff beruhenden Ekklesiologie244. Mit der theologischen Anverwandlung des Dia238 Bei Bonhoeffer: „Antwort“ (E 249). Freilich meint er hiermit, dass die Frage, wer das Leben sei, nur deshalb gestellt werden könne, weil sie zuvor schon beantwortet ist und daher eigentlich keine Frage ist. 239 E 249. 240 Vgl. E 248 f. 241 Wintersemester 1923 / 24. Vgl. die Auflistung der von ihm besuchten Lehrveranstaltungen DBW 9, 640. 242 Den Begriff ‚Sozialontologie‘ hat Michael Theunissen in seinem grundlegenden Werk über den Personalismus geprägt, vgl. Theunissen, Der Andere. Zu Heim vgl. aaO. 366–373. 243 Es finden sich keinerlei Belege für eine Lektüre der Schriften Bubers oder eine Begegnung mit ihm. Vgl. auch DBW 10, 628. 244 Vgl. für eine thematische Einführung das Nachwort von Joachim von Soosten, SC 306–324, bes. 314 f. Grisebachs Einfluss auf Bonhoeffers frühen Personbegriff scheint mir freilich nachhaltiger als derjenige Litts mit seiner Monographie Individuum und Gemeinschaft zu sein, den von Soosten (ebd.) besonders betont. Vgl. SC 39 f.: „Wenn im Folgenden von ‚Ich‘ und ‚Du‘ und ihren Beziehungen geredet wird, so geschieht das in grundsätzlich anderem Sinne als im zweiten Kapitel [Anm. 9 des Herausgebers (SC 225): ‚B folgt in der Erläuterung des Ich-Du-Verhältnisses Th. Litt, Individuum, 140 ff.‘]. Ich ist nicht die vom Du aufgerufene, erst hier zum Ich [!] erweckte Person, Du ist nicht der unerkennbare,

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logismus befindet sich Bonhoeffer mit an der Spitze einer neuen theologischen Denkbewegung, denn die Rezeption des dialogischen Denkens, insbesondere durch Vertreter der Dialektischen Theologie, setzt in der Mitte der 20er Jahre, der Blütezeit des Dialogischen Personalismus,245, gerade erst ein. Es handelt sich daher bei Bonhoeffer offenbar um eine recht eigenständige, aber wegen der kritischen Wendung gegen den Idealismus sowohl Bonhoeffers als auch des Dialogischen Personalismus sicherlich nahe liegende, konstruktive Auseinandersetzung, die besonders anhand der wichtigen Werke Grisebachs, Die Grenzen des Erziehers und seine Verantwortung und Gegenwart. Eine kritische Ethik, stattgefunden hat. Beide Schriften hat er sich vermutlich schon bald nach ihrem Erscheinen 1924 und 1928 beschafft, da er sie für die 1926 eingereichte Dissertation und die 1929/1930 verfasste Habilitation verwendet hat. Neben Grisebach dürften aber auch Friedrich Gogarten und Emil Brunner Bonhoeffers theologische Verarbeitung des dialogischen Denkens beeinflusst haben, wenn auch wohl in geringerem Maße als Grisebach; Gogartens Ich glaube an den dreieinigen Gott (1926) hat er freilich erst zur Kenntnis genommen, als der Personbegriff von Sanctorum Communio bereits ausgearbeitet war246, während er Brunners Die Mystik und das Wort von 1924, das sicher von Ferdinand Ebner, eventuell auch schon von Martin Buber beeinflusst worden ist247, für seine Dissertation verwendet und auch später immer

undurchdringliche, fremde andere, sondern wir bewegen uns in ganz anderer Sphäre […]. Wenn […] gezeigt werden muß, daß Selbstbewußtsein nur am andern entspringt, so darf man sich nicht verleiten lassen, dies mit der christlichen Ich-Du-Beziehung zu verwechseln.“ Die Doppeltheit des Personbegriffs, die Bonhoeffer hier noch voraussetzt, findet sich in seinen späteren Schriften nicht mehr. Eine Differenzierung zwischen dem „christlich-ethischen Personbegriff“ und einer „allgemein-metaphyischen Betrachtung“ der selbstbewussten und selbstbestimmten Person als der „Voraussetzung“ für die ethische Person (SC 227(3)) könnte als eine abgestufte Anthropologie missverstanden werden  –  was Bonhoeffers theologischer Grundintention völlig entgegensteht. Vgl. auch die einleitenden Bemerkungen Bonhoeffers in ihrer ursprünglichen, später gekürzten Fassung (die gestrichenen Satzteile werden mit spitzen Klammern gekennzeichnet), SC 18 (vgl. 20919.20): „Nachdem im nächsten Kapitel der christliche Personbegriff als nur in der Sozialität wirklich erwiesen wird, soll in einem sozialphilosophischen Teil die allgemeine Geistigkeit [!] des Menschen als ebenfalls nur in der Sozialität möglich und wirklich dargetan werden. Aus diesem Grund wird dieser Abschnitt dem theologischen Begriff des Urstand untergeordnet.“ Die „sozialphilosophischen“ resp. „allgemein-metaphysischen“ Betrachtungen des Personbegriffs werden in der späteren Theologie Bonhoeffers keine eigenständige Rolle mehr spielen, weil nun konsequent alle anthropologischen Aussagen offenbarungstheologisch gewonnen und darum christologisch fundiert werden. Folgerichtig bleibt die Nähe zum Dialogismus bestehen, während die Sozialphilosophie in Bonhoeffers Interessenkreis an den Rand und schließlich darüber hinaus rückt. 245 Theunissen, Der Andere, 3. 246 Vgl. SC 259). 247 Vgl. dazu Jehle, Brunner, 191 f.351.368.

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wieder wichtige Schriften von Brunner herangezogen hat248. Interessant ist darüber hinaus, dass ausgerechnet Emanuel Hirsch, zu dem Bonhoeffer später strikte Distanz hält, in dem für Bonhoeffers Verständnis des Idealismus wichtigen und für Sanctorum Communio intensiv verwerteten Vorlesungszyklus Die idealistische Philosophie und das Christentum auf dem Boden eines von Kierkegaard beeinflussten Ich-Du-Denkens seine Kritik des Idealismus durchführt249. Eine exakte Abgrenzung des Einflusses dieser verschiedenen Theologen ist freilich kaum möglich, aber auch nicht notwendig, da es auf die gemeinsame Grundfigur ankommt und diese zudem ebenfalls bei Grisebach vorliegt, den Bonhoeffer fraglos besonders intensiv studiert hat und an den er sich teilweise wörtlich anlehnt250. Wie prägend diese philosophische Strömung für ihn war, zeigt sich trotz der reichlichen frühen Belege aber dennoch weniger an der ausdrücklichen Beschäftigung mit Grisebach, Gogarten und Brunner, als vielmehr an dem Festhalten der in der Rezeption Grisebachs erstmals gewonnenen theologischen Erkenntnis, dass die letzte Wirklichkeit personal verfasst ist251. Dagegen beschränken sich die expliziten Verweise auf Grisebach auf die Jahre von der 1926 abgeschlossenen Dissertation bis 1933252, während die Beschäftigung mit Brunner thematisch und zeitlich breit gestreut ist; unter dessen Schriften bezieht sie sich zudem besonders auf seine erste Ethik Das Gebot und die 248 In Emil Brunners theologischem Schrifttum ist bis in die 40er Jahre der Einfluss des Dialogischen Personalismus von erheblichem Gewicht. Bonhoeffer hat die in dieser Zeit entstandenen wichtigen Werke Brunners, Die Mystik und das Wort (1924), Der Mittler (1927), Das Gebot und die Ordnungen (1932), Der Mensch im Widerspruch (1937), dazu noch die Vorträge Gott und Mensch. Vier Untersuchungen über das personhafte Sein (1930) und die berühmt gewordene kontroverse Schrift Natur und Gnade. Zum Gespräch mit Karl Barth (1934), sämtlich  –  teils kritisch  –  verarbeitet. Vgl. dazu die Literaturverzeichnisse DBW  10,  709; 11, 514; 12,  541; 13,  530; 14,  1109; 15,  661; 16,  823 sowie SC  299; SF  165; N 342; E 472. 249 Vgl. etwa die dritte Vorlesung: „Kritische Selbstbesinnung gegenüber der idealistischen Grundeinsicht“ (Hirsch, Philosophie, 66–84, bes. 76 ff.). 250 S. dazu bes. SC 26 ff. mit Grisebach, Grenzen, 83 ff. 251 S. dazu E 249 und das Folgende. 252 Vgl. das Gesamtregister DBW 17 s.n. Dies ist freilich kein aussagekräftiges Indiz für ein nachlassendes Interesse am Personalismus z. B. Grisebach’scher Prägung; auch für andere wichtige philosophische Denker gilt, dass Bonhoeffers Beschäftigung mit ihnen in den früheren Jahren ausführlicher und mit ausdrücklichen Verweisen versehen ist, während sie in den späteren Jahren zumeist gar nicht oder nur sehr selten namentlich genannt werden. Die impliziten Verweise und indirekten Auseinandersetzungen bilden aber dennoch wesentliche Elemente der Ethik-Konzeption  –  und teilweise auch der Nachfolge. In Widerstand und Ergebung ist Bonhoeffer in seiner theologischen Entwicklung so weit voran geschritten, dass die Abgrenzungen und konstruktiven Aufnahmen philosophischer und theologischer Denker nur noch wenig unmittelbare Bedeutung für seine eigene theologischer Konzeption besitzen. Er ist hier zu einer Souveränität des theologischen Denkens gelangt, die in der von den indirekten Auseinandersetzungen bestimmten Ethik noch nicht in dem gleichen Maße vorhanden ist.

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Ordnungen und beschränkt sich demnach nicht bloß auf den theologischen Personbegriff253. Von Brunner ist aber vielleicht der für die Ethik entscheidende gedankliche Schritt der Christologievorlesung von 1933 angeregt worden, den dialogischen Personbegriff aus Sanctorum Communio nicht nur mit der Ekklesiologie, sondern auch mit der Christologie und Trinitätslehre zu verknüpfen254 und darin dann die Ekklesiologie zu gründen. Der christologische Personbegriff wird von da an zum theologischen Grundbegriff, aus dem heraus die fundamentalen thematischen Komplexe der Ethik, Anthropologie, Ontologie, Epistemologie und Ethik (im engeren Sinne) entfaltet werden. bb) Grundgedanken des Dialogismus Grisebachs Die Philosophie des Dialogischen Personalismus ist wie ihre zeitgenössischen philosophischen Strömungen der Existenz- und der Lebensphilosophie aus der Abgrenzung gegen den Idealismus und die Transzendentalphilosophie heraus zu verstehen255. Die zeitgenössische Form des Transzendentalismus finden die Denker des Dialogismus in Husserl, dahinter und darüber hinaus trifft ihre Kritik aber nicht weniger Kant, Hegel und Fichte256, da es um das allen gemeinsame transzendentale Prinzip geht, dem die – jeweils unterschiedlichen – dialogischen Konzeptionen entgegengestellt werden257. 253

Gogarten ist zwar durchgehend, häufiger aber in den früheren Jahren in Bonhoeffers Schriften und Briefen präsent. Sein Einfluss auf Bonhoeffers Personbegriff lässt sich dabei schwer von demjenigen Grisebachs abgrenzen, mit welchem Gogarten in Jena intensiv zusammen gearbeitet hat. Entsprechend fasst Bonhoeffer in Akt und Sein seine Kritik an beiden zusammen (vgl. AS 82 f.102: „Gogarten-Grisebach“). Da Grisebachs Denken ausführlich thematisiert wird, kann Gogarten hier vernachlässigt werden. S. auch Feil, Theologie, 307. 254 DBW 12, 279–348, bes. 292 ff. Interessant ist besonders, dass die Bezeichnung Christi als ‚Mittler‘ bei Bonhoeffer – abgesehen von einer Ausnahme in Sanctorum Communio (SC 88: „Mittler der Versöhnung“, mit Bezug auf Eph 1,4 f.) – erstmals in der Christologievorlesung, besonders intensiv aber in der Zeit der Nachfolge als zentraler christologischer Titel auftaucht; für beide hat er nachweislich Brunners Monographie Der Mittler verwendet (vgl. DBW  12,  28917 u. ö.; N  47 f.90 ff. u. ö.; vgl. die Literaturverzeichnisse der genannten Bände). S. auch Abromeit, Geheimnis, 82–84, der auf Parallelen zwischen Bonhoeffers Christologievorlesung und Brunners Mittler aufmerksam macht, die auf auf die Benutzung Brunners durch Bonhoeffer zurückgehen. 255 Vgl. Theunissen, Der Andere, 1–11.243 ff. S. auch von Soosten, Nachwort, 315. 256 Weniger freilich Schelling, der z. B. Franz Rosenzweig bei seiner kritischen Konzeption beeinflusst hat, vgl. Theunissen, Der Andere, 247 f. 257 Im Unterschied zu Leiner, Gegenwart, 54 f., scheint mir Theunissens eben genannte Kernthese, dass sich die Denker des Dialogismus fundamental vom Transzendentalismus abgrenzen, sehr plausibel und gut begründet zu sein. Dass möglicherweise Husserls über die Zeit sich veränderndes Denken nicht vollständig erfasst ist, stellt keinen Widerspruch zu seiner These dar, insofern damit ja nicht bestritten ist, dass sich beispielsweise Buber, der bereits 1923 Ich und Du verfasst hat, gar nicht mit dem Husserl der späten Schriften Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie: Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie (1936) und Cartesianische Meditationen und Pariser Vor-

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Die Abgrenzung beinhaltet dabei zwei Aspekte, nämlich einerseits die Kritik an Bewusstseinsphilosophie überhaupt258 und andererseits die Kritik an der spezifisch neuzeitlichen Form der Bewusstseinsphilosophie, die sie durch den Ausgang beim transzendentalen resp. idealen ICH nimmt. Dass der zweite Aspekt der wesentlichere ist und erst von ihm her die Kritik an der Philosophie des Bewusstseins generell evoziert sein dürfte, legt Theunissen einleuchtend dar259. Es ergibt sich freilich auch aus der einfachen Gegenüberstellung der Ansätze der Transzendentalphilosophie und des Dialogismus: gründen für den ersteren Erkenntnis und Wirklichkeit260 in den kategorialen Strukturierungen des transzendentalen Subjekts, das wesensmäßig nicht als faktisches, konkretes und soziales zu verstehen ist, so ist umgekehrt im Dialogismus Wirklichkeit und Wirklichkeitserkenntnis bzw. -erfahrung in der konkreten Zweiheit der Personen begründet, sofern sie miteinander ins Verhältnis treten. Die grundsätzliche Opposition des Dialogismus besteht daher der doppelten Kritik entsprechend in dem Ausgang vom faktischen, einzelnen Menschen statt vom allgemeinen Bewusstsein und in der Lehre von der Konstitution der Wirklichkeit im sozialen bzw. dialogischen Geschehen statt in der Subjektivität. Beide Aspekte sind bei aller Unterschiedlichkeit der Ansätze für den Dialogismus als philosophische Strömung der ersten beiden Jahrzehnte des 20.  Jahrhunderts konstitutiv und kennzeichnen in modifizierter Weise auch seine theologische Rezeption, und zwar gerade auch durch Bonhoeffer.

träge (posthum 1950 erschienen!), sondern dem der Logischen Untersuchungen (1900) und der Phänomenologieschrift (Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, 1913) auseinandergesetzt hat. Die von Leiner zitierten Ausführungen von E. Ströker (vgl. ebd.) beziehen sich aber auf diese beiden späten Schriften, die lange nach den Hauptschriften des Dialogismus erschienen sind. Eine Bewertung der Einschätzung von Husserls später Intersubjektivitätstheorie erübrigt sich daher, sofern zugestanden wird, dass die für Buber und die übrigen dialogphilosophischen Denker zugänglichen Schriften Husserls eine transzendentalphilosophisch konstruierte, ‚egologische‘ Phänomenologie enthalten. Die Einschätzung von Leiner, dass selbst nach Kant in dem Begriff einer transzendentalen Erkenntnis nicht zwingend der Ausgang vom ICH resp. vom transzendentalen Subjekt enthalten sei (aaO. 53 f.) teile ich nicht – und zwar deshalb nicht, weil in Kants Ansatz, für den von ihm selbst erstmals nach der ganz anderen scholastischen Bedeutung der transcendentalia der Begriff ‚transzendental‘ gebraucht wird, ja gerade alle Erkenntnis am ICH aufgehängt wird (vgl. dazu KrV B 116 ff. [Transzendentale Deduktion]). 258 Ein Beispiel dafür ist etwa Augustins in De Trinitate entwickelte, der göttlichen Trinität analog verfasste trinitarische Struktur der mens. 259 Theunissen, Der Andere, 246 ff. 260 Dieser Begriff spielt freilich nicht in allen Konzeptionen eine entscheidende Rolle – im Unterschied zum Wahrheitsbegriff. Dies ist plausibel, da die transzendentalistischen und idealistischen Konzeptionen ja primär epistemologische Konzeptionen sind, welche den ontologischen Status der Erkenntnisobjekte entweder ausklammern (Kant, Husserl) oder aus der Erkenntnis resp. Selbsterkenntnis des Ich ableiten (Hegel). Nur bei Hegel ist daher der Wirklichkeitsbegriff auch von Bedeutung, indem er dem Wahrheitsbegriff zugeordnet wird: Das Vernünftige ist ihm notwendigerweise auch das Wirkliche (GPhR 11).

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Hinter dieser fundamentalen Opposition steht der kritische Gedanke, dass der Wirklichkeitsbegriff etwa des Idealismus oder des Neukantianismus, aber auch der Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts, ein bloßes Konstrukt sei, das von der Erfahrung nicht eingeholt oder gar bestätigt werden könne. Das Selbst Hegels wie Heideggers261 verfehle notwendig die Wirklichkeit, weil es diese aus sich selbst heraus zu konstruieren versuche. Erfahrung und Erkenntnis fallen im Systemdenken des Transzendentalismus also auseinander, lautet darum der Vorwurf Grisebachs, weil die im Selbst verankerte Erkenntnis ein immanentes System, d. h. Metaphysik ist, welches an der nur erfahrbaren262 menschlichen Existenz mitsamt ihren ethischen Fragestellungen notwendig vorbeigeht: „Die Zuständigkeit der Erkenntnis für die ethische Wirklichkeit wird in Zweifel gezogen, weil eine Identifizierung von Wahrheit und Wirklichkeit nur eine formale Überbewertung der Innerlichkeit bedeutet, die gar keine Realgründe zum Beweis ihrer Wahrheit beibringen kann.“263

Die Insistenz auf der zu erfahrenen Wirklichkeit ist dabei allerdings nicht als Nähe zum Empirismus misszuverstehen, den die kantische Erkenntniskritik ja mit der Verankerung der kategorialen Erkenntnis im Verstand überwunden hatte. Vielmehr ist die Erfahrung der Wirklichkeit, um welche das Denken des Dialogismus kreist, eine Erfahrung eigener Qualität, deren Differenz zum rationalistischen bzw. spekulativen Wirklichkeitsbegriff der neuzeitlichen Denksysteme strengstens betont wird. Die Kritik an den pejorativ als Metaphysik bezeichneten Systemen erhält daher, jedenfalls bei Grisebach, konstitutive Bedeutung für seinen Entwurf einer „Ethik der Gegenwart“264, die folgerichtig von ihm auch „kritische Philosophie“265 genannt wird. Die Grunddifferenz liegt dabei freilich im Bereich der nicht mehr hinterfragbaren Prämissen, wenn Grisebach die prinzipielle Identität von Sein und Denken resp. Wahrheit ablehnt und die in der Immanenz des Selbst verankerte

261 Heidegger fällt ebenfalls unter das Verdikt, einen wirklichkeitsverfehlenden Transzendentalismus zu vertreten, da auch das faktische Selbst, das Dasein, das Heidegger dem Subjektivismus entgegensetzt als das je schon vorfindliche, jemeinige, im Verstehen seine Welt resp. den Sinn des Seins – die Frage nach dem Grund des Seins lehnt Heidegger ja als verkehrte Frage ab (vgl. dazu Rentsch, Sein, 53) – erst konstruiere. Dazu Theunissen, Der Andere, 250; Grisebach, Gegenwart, 51.88 f.131.511 f.1) u. ö. Bonhoeffer folgt in seiner ganz ähnlichen Heidegger-Kritik in Akt und Sein sicherlich Grisebach, von dem er ja auch die Bedeutung der Kategorie Person und den existentialistischen Zeitbegriff (s. u. D.II) übernommen hat. 262 Vgl. zu Grisebachs Differenz von Wirklichkeitserfahrung und systematischer Wahrheitserkenntnis Weinrich, Wirklichkeit, 91 ff. 263 Grisebach, Gegenwart, 13. 264 Grisebach, Gegenwart, 6. 265 AaO. 591, vgl. 211.

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Erkenntnis als letztlich unwahr, weil unwirklich beurteilt266. Damit folgt er zunächst, wenn auch nicht explizitermaßen zugestanden, Kierkegaards Idealismuskritik, welche auf dem Fundament einer existenzphilosophischen Anthropologie begründet ist und worin dieser bestreitet, dass das systematische Denken des Idealismus Zugriff auf die faktische Wirklichkeit habe267. Die der Bestreitung einer begrifflichen Erfassung der Wirklichkeit korrespondierenden Gedanken, dass nämlich einerseits die Erfahrung der Wirklichkeit Erfahrung des Anderen resp. der Transzendenz und dass die Wirklichkeit ihrem Wesen nach ethische Wirklichkeit sei, finden sich gleichfalls schon bei Kierkegaard268. Die Entfaltung dieser Begriffe unterscheidet sich bei Grisebach freilich in spezifischer Weise von Kierkegaards christlicher Existenzphilosophie, da sie jenem dazu dienen, eine philosophische Konzeption dialogischer Wirklichkeit als Fundament von Ethik und Pädagogik zu entwerfen. Entscheidend für diese Konzeption ist die genannte Verbindung der Begriffe Wirklichkeit und Transzendenz, von Grisebach auch „Außen“ genannt269: nur das wahrhaft Andere begründet, so Grisebach, die Erfahrung der Wirklichkeit270. Dieses Andere oder Außen oder Transzendente muss dann aber wesensverschieden von dem logischen Anderen des dialektischen Denkens sein. Denn dieses ist eine begriffliche Operation, die im Ich bzw. Selbst verankert ist, so dass das Identische und das Andere eben keinen strikten Gegensatz bilden, sondern folgerichtig in einer höheren Einheit aufgehoben werden. 266 Vgl. Grisebach, Gegenwart, 40 f. Vgl. auch aaO. 184.187: „Die Einheit von Denken und Sein in ethischer Hinsicht ist nur dogmatisch anzunehmen oder auf Grund der vorausgesetzten Definition beider Begriffe eine bare Selbstverständlichkeit […]. Wir glauben allerdings es in der modernen Aufklärung weiter gebracht zu haben als das Altertum, aber genau besehen sind wir noch immer im Platonismus oder Aristotelismus befangen und möchten dem menschlichen Wesen auf irgendeine Weise die Verfügung über das letzte Ursprungsprinzip sichern. Aber es läßt sich weder an Plato noch an Aristoteles, weder an Kant noch an Schelling anknüpfen, um eine für das praktische Leben zureichende Begründung beizubringen.“ 267 Grisebach bemüht sich darum, die Nähe zu Kierkegaard nicht allzu groß erscheinen zu lassen (vgl. Grisebach, Grenzen, XII–XXI). Dies dürfte trotz der vordergründigen Kritik an Kierkegaards paradoxaler ‚Dialektik‘ vornehmlich darin seinen Grund haben, dass er – auch im Unterschied zu Gogarten – eben keinen konstitutiven Gottesbezug des Menschen denken will, dass es also für ihn bei einer kritischen Philosophie bleiben soll, die nicht eigentlich Theologie ist oder in Theologie mündet – wie dies etwa bei Buber der Fall ist, dessen Dialogismus nach Theunissen letztlich auf eine „‚Theologie‘ des Zwischen“ zielt (Theunissen, Den Andere, 330 ff.). Zum Verhältnis Grisebach – Kierkegaard vgl. auch Kodalle, Fremdheit, 24: „Historisch-philosophisch kann ich dieser [sc. Grisebachs] Kierkegaard-Deutung keineswegs beipflichten. In meiner Sicht folgt Grisebachs kritische Ethik gerade dort, wo sie besonders überzeugend ist, Spuren, die bereits Kierkegaard gezogen hat.“ 268 Vgl. A.II.5.d. 269 Vgl. die Überschrift des ersten Kapitels: „Innen oder Außen“. 270 Vgl. dazu Weinrich, Wirklichkeit, 99 f.

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Das Denken erreicht dann aber nicht die Wirklichkeit, sondern verbleibt bei sich, im Innen, der Innerlichkeit oder Immanenz, d. h. im System. „Die mannigfaltigen Bemühungen der Metaphysiker lassen sich dadurch übereinstimmend charakterisieren, daß sie einmal an ihren […] Erkenntniszirkel gebunden bleiben, dann aber doch das Transzendente, das Andere, nötig haben, um die Realität ihres zu begründenden Daseins zu erweisen […]. Aber selbst dem geschicktesten Dialektiker kann es am Ende nicht gelingen, uns über die Immanenz seiner Transzendenz hinwegzutäuschen […]. Das so prinzipiell begründete oder interpretierte Dasein bleibt Erinnerung und Entfaltung des eigenen Wesens“271.

Wenn aber das systematische Denken sich nicht selbst überschreiten kann und darum alles ihm scheinbar Transzendente im Denken selbst seine Begründung findet, wenn also die „‚Selbsttranszendenz‘ [sc. des Denkens] ein Paradoxon [ist]“272, dann folgt daraus, dass die Wirklichkeit und ihre Transzendenz kein Gegenstand der Erkenntnis sein kann, ihrem Wesen nach also etwas ganz anders geartetes als das kategorial strukturierbare intentionale Objekt sein muss. Die Diastase von Innen und Außen wird von Grisebach nun näher bestimmt als die Diastase von innerlich bleibender Erkenntnisbewegung und des von außen konstituierten und nach außen gerichteten Existenzvollzugs; an die Stelle der „ethischen Untersuchungen der Systematiker“, die sich auf eine „erkenntnistheoretische Begründung einer durch die Geisteswissenschaften abgegrenzten historischen Gegenständlichkeit“ richtet, tritt für den von der Existenzphilosophie beeinflussten Dialogiker „das Problem der menschlichen Existenz“273. Der entscheidende Kritikpunkt am Idealismus und Transzendentalismus ist dabei nicht bloß das Übergehen der Faktizität des Daseins, welche etwa für Heidegger von zentraler Bedeutung ist274. Vielmehr geht es Grisebach ebenso wie anderen Vertretern des Dialogismus in der Kritik an der Erkenntnistheorie spezifisch neuzeitlicher Ausprägung als der Grunddisziplin der Philosophie um das Problem der Intersubjektivität. Die Innerlichkeit des so genannten metaphysischen Denkens ist deshalb ein Problem, weil es in die intentionale Vergegenständlichung der Welt im Erkenntnisvorgang notwendig auch den Anderen einschließt. Das universale Subjekt-ObjektSchema der Erkenntnis kann die für das dialogische Denken entscheidende 271 Grisebach, Gegenwart, 40 (im Original teilweise gesperrt). Die Fortsetzung des Zitats lautet: „Die Ideal- und Realdialektik Hegels und Schellings sind dafür die klassischen Beispiele, in deren Fußstapfen fast alle modernen Metaphysiker wandeln. Die Metaphysik hat sich somit immer schon für das Innen entschieden und muß sich zu seinem eigenen Wesen und Zirkel bekennen.“ Erinnerung ist hier als Synonym für die im Denken resp. in der Subjektivität begründete Erkenntnis zu verstehen. Grisebach übernimmt (aaO. 5) den ja eigentlich platonischen Begriff von Kierkegaard, der die rückwärts gewandte ‚abstrakte‘ Erkenntnis der Vernunft der existentiellen Erkenntnis „vorlings“ entgegenstellt. Vgl. dazu o. A.II.5.d und den Exkurs zu Bonhoeffers Zeit- und Geschichtsbegriff u. D.II. 272 Grisebach, Gegenwart, 41. 273 Grisebach, Gegenwart, 15 (im Original teilweise gesperrt). 274 SuZ 56.181 u. ö.

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Dimension der Wirklichkeit, die im emphatischen Sinne einzig wirkliche Dimension des Menschseins, nämlich die nicht verobjektivierbare Beziehung mit dem anderen Menschen, nicht wahrhaft erfassen. Deshalb ist die grenzenlose Immanenz der intentionalen Erkenntnis letztlich ein „Traum“275, ein Verfehlen des Menschseins, das sich je neu vollzieht als konkrete Begegnung mit dem in den Erkenntnisvollzug nicht hineinziehbaren, d. h. notwendig außen bleibenden, wahrhaft transzendenten Anderen, dem Du. In dieser Begegnung findet die echte Begrenzung des Menschen durch einen ihm völlig fremden Anspruch statt. Wirklichkeit ist dann aber von Grund auf als ethische Wirklichkeit qualifiziert, sie ist das je konkrete, faktische Verhältnis von Ich und Du, das jeweils neue Sich-zueinander-Verhalten. Im Unterschied zum allgemeinen Ich des Transzendentalismus oder Idealismus sind Ich bzw. Du nicht der logische Einheitspunkt des kategorialen Urteils, sondern die zwei irreduziblen Pole der Begegnung, die im strengen Sinne als relativ zu verstehen sind: ihre existentielle Wirklichkeit haben sie allein in dieser begrenzenden Begegnung, die zugleich die Negation der absoluten, subjektivitätstheoretisch begründeten Wahrheitserkenntnis einschließt, denn „[w]irkliche Gemeinschaft ist nur da, wo in dem Konflikt der fremden Menschen die Absolutheit des Urteils von keiner Seite in Anspruch genommen wird.“276 Die Wirklichkeit ist also näher zu bestimmen nicht nur als ethische, weil es um das konkrete Verhältnis zweier Personen zueinander geht; sie ist darum notwendig auch als dynamische Wirklichkeit, als das Geschehen der Begegnung oder das „Zwischen“277 zu verstehen, das begrifflich nicht mehr vollständig erfasst werden kann, eben weil es immer nur der je konkrete Vollzug einer kontingenten Begegnung ist: „Es ist für das Ich immer überraschend und unerwartet, welcher andere sich ihm gegenüberstellt. Deshalb bedeutet diese Beziehung von Ich und Du einen Gegensatz, eine Differenz, die sich durch eine Identität schlechthin nie aufheben läßt. Hier laufe ich nicht Gefahr, aus diesem Grundgegensatze von Ich und Du in eine Abstraktion zu geraten. Dieser andere Mensch hält […] seine Gegensätzlichkeit von Anbeginn aufrecht, er läßt alle Herrschaftsansprüche [sc. des grenzenlosen ICH] nicht unwidersprochen, so daß ich mich nicht darüber täuschen kann, daß ich diesen Gegenpart mit seinem Widerspruch niemals zu überwinden vermag.“278

Wird so Wirklichkeit immer neu konstitutiert in der überraschenden Begegnung des Ich mit seiner Grenze, dem Du, so gilt umgekehrt für das Ich, dass sich seine wirkliche Existenz nur in diesem Geschehen vollzieht; das je neue 275

Grisebach, Gegenwart, 11 f. u. ö. Grisebach, Gegenwart, 481. 277 Zu diesem Begriff vgl. Theunissen, Der Andere, 243–277 („Bubers Ontologie des Zwischen“). M.E. darf dieser Begriff für den Dialogismus insgesamt verallgemeinert werden; vgl. Weinrich, Wirklichkeit, 114,  der dort von einer „partiellen Übereinstimmung“ an diesem Punkt zwischen Buber und Grisebach spricht. 278 Grisebach, Grenzen, 294. 276

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ethische und dynamische Verhältnis von Ich und Du hat darum zugleich ontologische und anthropologische Begründungsfunktion. Dabei ist es freilich in sich als asymmetrisch zu denken, weil es immer das Du, die Transzendenz des Ich ist, das eben durch diese Begrenzung des Ich Wirklichkeit als Begegnung begründet und dem Ich darin existentielle Bedeutung zuweist279. Das Ich wird in dem Konflikt der Begegnung in Anspruch genommen und zwar derart, dass es aus dem Reflexionszirkel des systematischen Denkens heraustreten muss; es ist ganz und gar bezogen auf das begegnende Du, welches das Ich anspricht und damit in nicht vorhersehbarer Weise, „zufällig“280, dessen denkende Selbstbezogenheit durchbricht, weil es ihm von außen entgegen tritt. Die Zufälligkeit der Begegnung ist darum von konstitutiver Bedeutung für das Geschehen der Wirklichkeit resp. die personale Begegnung; nur ein Geschehen, das nicht begründbar, nicht kategorisierbar und damit auch nicht  –  jedenfalls theoretisch  –  berechenbar ist, also ein im strengen Sinne zufälliges Ereignis, übersteigt das Ich-immanente, subjektivitätstheoretische Denksystem als dessen von außen auf es zukommende Grenze. Dass eine solche kontingente Begrenzung des Denkens durch einen nur erfahrbaren, aber nicht erkenntnistheoretisch begründbaren Anspruch allein vom Du geleistet werden kann, ergibt sich dann von selbst. Denn indem das „Wort“, also die Ansprache des Anderen an das Ich, nicht „in Wahrheit“, sondern „in Wirklichkeit vernommen wird“281, begründet es das existentielle und unmittelbare Verhältnis des hörenden Ich zu dem es ansprechenden Du. Alles übrige Seiende ist seiner Wesensqualität nach dagegen nicht etwas Ansprechendes, Erfahrbares, sondern etwas Objektives, Erkennbares – was freilich auch der andere Mensch sein kann, sofern er nicht das Du der Begegnung, sondern bloß der vom Denksystem vereinnahmte bzw. vergegenständlichte „Mitmensch“282 ist. Wirklichkeit ist als Ereignis personaler Beziehung daher ein nicht feststellbares dynamisches Wirken, das den Augenblick der Gegenwart als ein besonderes, aus dem Zeitfluss herausgehobenes Moment qualifiziert; eine reflexive Distanz ist dem begegnenden Ich in diesem existentiellen Augenblick nicht möglich, es ist vielmehr ganz an die Gegenwart gewiesen, die nur als solche ihrem Begriff auch wahrhaft entspricht283. Diese unmittelbare und – im Sinne 279

S. dazu das Folgende. Vgl. Grisebach, Gegenwart, 263 u. ö. 281 Grisebach, Gegenwart, 588. 282 Vgl. Grisebach, Gegenwart, 559–562. Buber setzt dafür die Differenzierung der beiden so genannten Grundverhältnisse des Menschen, das „Ich-Es-Verhältnis“, das mit Grisebachs System, dem intentionalen Denken des transzendentalen Subjekts, konform ist, und das „Ich-Du-Verhältnis“, das sich im Augenblick der personalen Begegnung ereignet (Buber, Ich und Du, 6: „Die Welt der [sc. intentionalen] Erfahrung gehört dem Grundwort Ich-Es zu. Das Grundwort Ich-Du stiftet die Welt der Beziehung.“). 283 Diese Gegenwart ist also der existentielle Augenblick, von dem in dem Abschnitt über Bonhoeffers Zeit- und Geschichtsbegriff die Rede ist (D.II). Dass die volle Gegenwart 280

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des systematischen Denkens neuzeitlicher Vernunft – unreflektierte Bezogenheit aber lässt sich ebenso gut, weil sie eben eine personale Beziehung ist, als eine Haltung existentieller Verantwortung des Ich für das Du beschreiben, dessen begrenzenden, widerständigen Anspruch das Ich im gegenwärtigen Augenblick als eine ethische Aufgabe für sich selbst anerkennt: „[…] fragt [der Andere] mit uns einmal nach der Wirklichkeit, so treten wir mit ihm in die Grundbeziehung des Wirklichen, in die Verantwortung ein […]. Durch Beachtung der gegenseitigen Begrenzung, der Relativität sind wir nun aufeinander angewiesen, um überhaupt wirklich zu sein und an der Gegenwart teilzunehmen. Die Berücksichtigung des anderen, der mir die Grenze der Endlichkeit gibt, die ist meine ‚Verantwortung‘“.284

Dass dieser personale Verantwortungsbegriff inhaltlich unbestimmt bleibt, folgt notwendig aus dem Ansatz der kritischen Philosophie; der reflexive Zugriff auf das Geschehen der Verantwortung ist ja für Grisebach immer das subjektivitätstheoretische Denksystem – selbst wenn es sich dabei um einen platonisch-neuplatonischen Realismus handelt285 –, welches die Wirklichkeit der Personbeziehung nicht erfassen kann und darum stets in der erkenntnistheoretisch grenzenlosen Innerlichkeit des Ich verbleibt. Dennoch bietet er einige Umschreibungen, die ansatzweise zu illustrieren vermögen, was die konkrete ethische Existenz, also das Ereignis der Verantwortungsübernahme, auszeichnet. Die existentielle Haltung des vom Du in Anspruch genommenen Ich ist im Unterschied zu den Postulaten theoretischer Ethik nicht primär die Ausübung einer oder mehrerer bestimmter Tugenden, sondern das leidenschaftliche, totale dem Anderen Gegenwärtig-Sein, denn „Leidenschaft [ist] die reale Bindung jeder besonderen Konfliktslage“286. Weil das Ich den Anderen und seinen konfligierenden Anspruch in diesem leidenschaftlichen Bezogensein auf ihn aushält und sich darin selbst begrenzt, sich „bescheigerade nicht den bloßen verfließenden, mathematischen Jetztpunkt der in Erinnerung und Erwartung ausgedehnten Zeit meint, sondern eine besondere Haltung der Zukunftsoffenheit einschließt, und zwar der Offenheit für die aus der nicht vorherbestimmten, zufälligen Zukunft das Ich treffende Begegnung, wird dort ebenfalls kurz erläutert. Grisebach selbst formuliert dies am Ende seiner Ethik, deren Abschlusskapitel mit „Die Zukünftigen“ überschrieben ist (Gegenwart, 593): „Wenn nun zuletzt von den Zukünftigen die Rede sein soll, so sind damit nicht mehr die vorausgeschauten Menschen eines kommenden Zeitalters gemeint – die Philosophie hat keine Möglichkeit, prophetisch [!] zu sprechen – die Zukünftigen sind die, die im Heute die Begrenzung durch den Zufall annehmen und der Begegnung nicht mehr ausweichen. Sie haben in der Gegenwart am Bescheide ihre Aufgabe empfangen und wirken mit Leidenschaft in der ethischen Existenz.“ 284 Grisebach, Grenzen, 318. 285 Dieses Verdikt ist bereits von Bonhoeffer bekannt, wobei die traditionsgeschichtliche Reihenfolge natürlich umgekehrt verläuft, da ja Bonhoeffer von Grisebach gelernt hat. Unabhängig davon gilt auch für Grisebach, dass ein solcher Totalvorwurf sehr undifferenziert und sachlich unangemessen ist, weil er eine bestimmte, dabei ad malam partem gedeutete, Haltung („Herrschaft“, vgl. Gegenwart 31 u. ö.) im Erkenntnisstreben rückprojizierend vom neuzeitlichen Denken auf das vorneuzeitliche überträgt. 286 Grisebach, Gegenwart, 593.

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det“287, kann Grisebach diese Haltung der Verantwortung schließlich als Liebe bezeichnen, deren wesentliches Merkmal die Leidensbereitschaft, die „Tragbarkeit des Leides in der Gebundenheit der unausweichlichen Gemeinschaft“ ist, welche in der Begegnung je neu entsteht – oder eben nicht entsteht, wenn die wirkliche Haltung ethischer Existenz ausbleibt288. Dass es freilich beim Aushalten des Konflikts bleibt, jedenfalls in der kritischen Betrachtung, die keine weitergehenden Aussagen machen kann, liegt auch an Grisebachs Ansatzpunkt. Wenn nämlich die subjektivitätstheoretisch begründete Intentionalität als verfehlte Haltung des Ich behauptet wird, deren Brechung allein durch die Begrenzung durch ein Außen, also die zufällige Begegnung mit einer anderen Person, möglich ist, indem dieses Du den absoluten Erkenntnisanspruch des Ich bestreitet, dann ist ein Hinausdenken über den Konfliktfall der Begegnung ausgeschlossen289. Zugleich wird dem Du, welches das Ich aus der Erkenntnissphäre heraus in die Erfahrung der Wirklichkeit versetzt, eine Bedeutung zugeschrieben, die dem dialogischen Grundansatz letztlich zuwider läuft. Denn anstelle einer Gleichursprünglichkeit der Personen im Geschehen der Begegnung ist hier eine asymmetrische Personenbeziehung vorgestellt, welche die Tendenz zu einer Verabsolutierung des Du enthält, die in einem personalistischen Ansatz gerade nicht mehr begründet werden kann, weil dann das Ich seiner personalen Subjektivität beraubt wird290 – zumal Grisebach, anders als Buber, die Begründung des Dialogismus in einer „‚Theologie‘ des Zwischen“291, d. h. also im Gottesgedanken als dem im menschlichen Du aufleuchtenden „ewigen Du“292 abweist293. 287 Zur „Bescheidung“ als Erfahrung im Unterschied zur Tugend der Bescheidenheit vgl. Grisebach, Gegenwart, 507 f. 288 AaO. 594 (im Original gesperrt); vgl. weiter: „Die Liebe ist keine Forderung, als solche wäre sie in Wahrheit unerfüllbar, sie ist kein Ideal, kein Gedanke, sondern sie enthält eine wirkliche Leidenschaft in der erfahrenen zufälligen Begegnung. Theoretisch läßt sich nicht sagen, ob sich ein Konfliktsfall ertragen läßt. Nur wo in Wirklichkeit alles bis zum äußersten ertragen wurde, da läßt sich sagen, daß diese Liebe im Geschehen ist.“ 289 Vgl. Weinrich, Wirklichkeit, 114; Theunissen, Der Andere, 365. 290 Vgl. zu dieser Kritik besonders Theunissen, Der Andere, 361–366. 291 Zu diesem Begriff vgl. Theunissen, Der Andere, 330 ff. 292 Buber, Ich und Du, 71. 293 S. auch Weinrich, Wirklichkeit, 115 f.; Theunissen, Der Andere, 363. Übrig bleibt dann ein säkularisiertes Konzept von Sünde und Erlösung, wobei die Sünde, die Innerlichkeit der im transzendentalen Subjekt begründeten Erkenntnis (die „Satanie“, vgl. Grisebach, Gegenwart, 461 ff.), dem kritischen Denken sich durchaus enthüllt, da der Absolutheitsanspruch des ICH notwendig die Negation des anderen Ich enthalte und darum letztlich in einen „bösen“ Individualismus resp. das soziale Chaos führe (vgl. 471). Die Erlösung naht in der Gestalt des Du, das ja nicht zufällig von Grisebach auch als Transzendenz bezeichnet wird und damit den Charakter einer Offenbarung erhält. Freilich bleibt dies eine gebrochene Erlösung, nicht nur weil immer wieder der Eintritt in den Reflexionszirkel droht, sondern auch, weil über die Form der in der Wirklichkeit der Begegnung erreichten Gemeinschaft keine Aussagen mehr gemacht werden können. Ob also die Wirklichkeit der Erfahrung

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b) Der „Gottmensch“ und das Leben Die frühere große Nähe zum Denken Grisebachs, an den sich Bonhoeffer ungeachtet seiner ebenfalls schon früh vorgebrachten Kritik, in Sanctorum Communio und Akt und Sein stärker angelehnt hat, als er explizit macht, ist in der Zeit der Ethik unspezifischer und insgesamt vermindert, betrifft aber weiterhin zentrale Elemente seiner Theologie. In Sanctorum Communio ist diese Nähe noch offenkundiger, da Bonhoeffer sehr direkt Grisebachs Verständnis vom Personwerden im existentiellen Augenblick der Verantwortung und die damit verbundene Kritik am erkenntnistheoretischen Zugriff auf Welt und Mensch im Idealismus übernimmt294. Wenn er in Akt und Sein die personale Transzendenzerfahrung, um die es Grisebach geht, als „einen starken Schritt dem christlichen Denken entgegen“ bewertet295 und bei der Bestimmung der von außen dem Menschen widerfahrenden kontingenten Offenbarung die Grundlagen für eine „dem Zeitbegriff als Gezähltes an der Bewegung gegenüber eigenartige christliche Zeitphilosophie“ erarbeitet296, scheint die systematische Nähe zu Grisebach freilich noch größer zu sein – während die Kritik entsprechend deutlicher formuliert wird. Interessant ist dabei auch, dass der Philosoph Grisebach, der dezidiert nicht von Theologen vereinnahmt werden möchte297, nicht in dem ersten Teil von Akt und Sein, sondern an mehreren Stellen in Teil B bzw. C298 direkt und indirekt behandelt wird. Das Register weist aus, dass Grisebach nach Barth, Luther und dem 1928 neu entdeckten Heidegger – lässt man den Lehrer Seeberg außer Acht – in der Anzahl der Belege bereits an vierter Stelle liegt299. Ausgerechnet zu Heidegger und Grisebach sind zudem Thesen Bonhoeffers aus seiner Assistentenzeit erhalten300  –  daneben existieren an schriftlichen Dokumenten zu Auseinandersetzungen mit bestimmten Philosophen nur noch die Aufzeichnungen und die Nachschrift von F. Lehel zu seinem HegelSeminar. Interessant ist allerdings auch, dass er den Sündenbegriff, der sichertatsächlich zur Haltung der Liebe wird und damit eine Gemeinschaft des Friedens schafft, ist kein Gegenstand auch des kritischen Denkens mehr (592.594), sondern der Inhalt der existentiellen „Erwartung“ als Offenheit für die Begegnung (575 f.577 ff.), die damit zu einer säkularisierten Hoffnungskonzeption wird. 294 SC 26 ff. S.u. die Ausführungen zu Bonhoeffers Zeit- und Geschichtsbegriff (D.II). Vgl. auch Kodalle, Fremdheit, 136. 295 AS 83. 296 AS 107.10837). 297 Vgl. die Abgrenzung in Grenzen, IX–XII, bes. X; Gegenwart, 595. 298 A: „Das Akt-Sein-Problem propädeutisch dargestellt als Problem der Erkenntnistheorie am autonomen Daseinsverständnis in der Philosophie“; B: „Das Akt-Sein-Problem in der Auslegung der Offenbarung und die Kirche als Lösung des Problems“; C: „Das AktSein-Problem in der konkreten Lehre vom Menschen ‚in Adam‘ und ‚in Christus‘“. 299 AS 205 s.n. 300 DBW 11, 214 f.

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lich auch von Grisebach angestoßen wurde301, erst in Schöpfung und Fall und unter Bezug auf den biblischen Text dezidiert und eigenständig entwickelt hat. Zur gleichen Zeit hat er sich intensiv mit Hegel befasst302, was ihm wohl erst ermöglicht hat, den pauschalen und wenig differenzierten Begriff des Bösen bei Grisebach in der Auseinandersetzung mit Hegel zu durchdenken und daraus einen eigenen theologischen Sündenbegriff zu entwickeln. Erst die Herausforderung durch Hegels dialektisch-logischen Sündenbegriff ist es darum letztlich, die Bonhoeffer zu seinem Begriff des peccatum originale als „Entzweiung“ und damit über Grisebach hinaus führt303. Die Ethik aber schließt an diese Erkenntnisse der frühen Dreißiger Jahre in einer neuen Situation und mit einer neuen, Grisebach wiederum nahe stehenden Intention an, nämlich der Absicht, eine Ethik zu konzipieren, in welcher der personale Verantwortungsbegriff im Zentrum steht. aa) Der ontologische Aspekt Die weitere Bestimmung des Lebensbegriffs mit der Kategorie der Person, in welche die Ausführungen Bonhoeffers dazu kulminieren, kann in ihrer Bedeutung für die Ethik und für die diese begründende Christologie kaum überschätzt werden. Sie hat freilich zwei Aspekte, von denen nur der eine sich wohl direkt auf Bonhoeffers frühe, modifizierende Rezeption des Dialogismus Grisebachs und der theologischen Anverwandlungen des Dialogismus zurückführen lässt. Dieser existentielle Aspekt ist das Resultat der Transposition bestimmter Grundeinsichten des Dialogismus auf die Theologie, d. h. für Bonhoeffers offenbarungstheologisches Denken auf die Person Jesus Christus, von welcher her alle übrigen Theologoumena ihre Gestalt und 301 Vgl. das zustimmende Grisebach-Referat AS 81: „Jedes System setzt irgendwie Wirklichkeit  –  Wahrheit  –  Ich in eins, es maßt sich an, Wirklichkeit zu verstehen, über sie zu verfügen. Der Mensch ist in seiner ‚Satanie‘ versucht, die Wirklichkeit, das Absolute, den Mitmenschen in sich hineinzuziehen, so aber bleibt er in seinem System bei sich selbst und kommt nicht zur Wirklichkeit.“ Dazu vgl. Grisebach, Gegenwart, 469.471 (in dem Abschnitt „Die Satanie“, 467 ff., [im Original gesperrt]): „Die Natur des Menschen ist nicht gut, sie ist böse. Das ist kein ethisches Urteil, sondern ein logisches: es gehört zum Wesen des Ich, sich unbegrenzt zu entfalten […] Das Böse ist somit nicht auf rätselhafte Weise in die Welt gekommen: wir sind der Ursprung alles Übels selbst, soweit die Entfaltung unserer Egoität Gegenwart und Gemeinschaft gefährdet“. Bereits am Ende von Teil A, AS 74, deutet Bonhoeffer einen ähnlichen, idealismuskritischen Sündenbegriff an, ohne ihn aber eingehender zu reflektieren; die Bestimmung des „Sein[s] in Adam“, AS 135 ff., ist wiederum in erster Linie traditionell-lutherisch und enthält vorwiegend Ausführungen zu Gewissen und Reue bzw. der Differenz von contritio activa und contritio passiva. 302 S. das in HS zusammengestellte Material. Dieses Hegel-Seminar fand im Sommersemester 1933 statt. Die vorbereitende Auseinandersetzung mit Hegels Religionsphilosophie dürfte darum deutlich eher stattgefunden haben und kann mit guten Gründen als zeitgleich mit der Arbeit an der im Wintersemester 1932/33 gehaltenen Vorlesung Schöpfung und Fall vermutet werden (vgl. etwa SF 148–150). 303 Dazu ausführlich A.II.4.

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Funktion erhalten. Die gedankliche Entwicklung, die Bonhoeffer bis dahin durchlaufen hat, kann und muss an dieser Stelle nicht nach gezeichnet werden304; deutlich ist aber, dass ihr Ergebnis den Hintergrund der Ausführungen in der Ethik bilden, auf dem nun erstmals der andere, ontologische Aspekt der theologischen Kategorie der Person zum Tragen kommt, indem Bonhoeffer konsequent den christologischen Lebensbegriff als in seinem Wesen personales Leben präzisiert305. Erst damit ist aber auch die tiefste Begründung für alle übrigen Bestimmungen, die Ganzheitlichkeit und Einheit des Lebens, die Konkretheit und Mannigfaltigkeit des Lebens, die Geschichtlichkeit und die natürliche Ambivalenz von Vitalität und Schwachheit geliefert, ohne zugleich Christus zu einem abstrakt-ontologischen Lebensprinzip zu verfremden, an dem der Mensch qua Lebendigsein partizipiert und dies sich lediglich zur Erkenntnis bringen muss306. Dieser Gefahr, die stärker noch im ersten Kapitel mit der unter dem Wirklichkeitsbegriff abgehandelten theologischen Ontologie droht307, wird dadurch gewehrt, dass das menschlich-weltliche Leben, so muss man Bonhoeffers knappe Ausführungen explizieren, als Beziehung und in diesem Sinne als personal aufgefasst wird. Dieses In-Beziehung-Sein bedarf freilich nicht einfach eines gleichursprünglichen und gleichgeordneten Partners, das ließe sich ja ohne den Gottesbegriff resp. ohne Christus aussagen; vielmehr ist es begründet in der von Jesus Christus ausgehenden Beziehung, der als dieser Grund der Beziehung darum „das Leben selbst“308 ist: „Das Leben ist nicht ein Ding, ein Wesen, ein Begriff, sondern eine Person und zwar eine bestimmte und einzige Person und diese bestimmte und einzige Person nicht in dem was sie unter anderem auch hat, sondern in ihrem Ich, das [sc. dem] Ich Jesu.“309 304 Vgl. dazu Feil, Theologie, 141 ff. und für die frühe Anverwandlung von Grisebachs Denken Weinrich, Wirklichkeit, 215–264, sowie generell zu Bonhoeffers GrisebachRezeption Kodalle, Fremdheit, 135–156. 305 Green, Freiheit, 40 f., ist teilweise zuzustimmen in der Einschätzung, dass der von mir so genannte ontologische Aspekt des Personbegriffs einen bedeutsamen Unterschied zum existentiellen Aspekt und damit auch zum Einflussgeber Grisebach ausmacht. Gleichwohl kann nicht mit Recht Grisebach ein Verharren im Individualismus unterstellt werden, schließlich gelten umfangreiche Erwägungen der Gegenwart gerade gemeinschaftlich-gesellschaftlichen Zusammenhängen (220–458). Entscheidend für den Dialogismus ist nicht die mathematische Zweiheit, sondern das an der personalen Zweiheit darstellbare existentielle Verhältnis des Ich zum Du, welches sich vom objektivierenden Zugriff des transzendentalen Subjekts fundamental unterscheidet. Mir scheint dagegen, dass Green letztlich das Fehlen spezifisch institutionstheoretischer Überlegungen beim Dialogismus kritisieren möchte; freilich hat Bonhoeffer ausgerechnet diese Verbindung (Dialogismus und Soziologie) aus Sanctorum Communio mittels des Begriffs vom objektiven Geist bzw. der Übertragung des Personbegriffs auf „korporative[ ] menschliche[ ] Gemeinschaften“ (ebd.) in seinem weiteren theologischen Werk nicht mehr fortgeführt. 306 S. dazu auch o. B.II.3. 307 S. dazu Bayer, Christus, passim. 308 E 249. 309 E 249.

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Nur das konkrete, je neue In-Beziehung-Sein auf Christus kann mit Recht in Bonhoeffers Auffassung als Leben resp. als wahrhaftes Leben angesprochen werden. Der Lebensbegriff ist darum wesentlich ein relationaler Begriff, weshalb Bonhoeffer darauf insistiert, dass ein Abstrahieren von dieser Relationalität am Lebensbegriff vollständig vorbeigeht: „Es kann von unserem Leben nicht […] anders gesprochen werden als in dieser Beziehung auf Jesus Christus. Abgesehen von ihm als dem Ursprung, dem Wesen und dem Ziel des Lebens […] erreichen wir nur […] Abstraktionen.“310

Die explizite und nachdrückliche Abwehr eines solchen Missverständnisses, wonach Jesus Christus in seiner Beziehung auf den Menschen dessen Leben lediglich eine besondere Qualität oder einen besonderen Wert hinzufüge, es in seinem Wesen oder seiner Substanz aber nicht alteriere311, zeigt deutlich, dass Bonhoeffer mit der Präzisierung des Lebensbegriffs als eines relationalen oder personalistischen Begriffs den Anspruch auf eine theologische Ontologie, den er zuvor in diesem Kapitel und in den Ausführungen über den Wirklichkeitsbegriff erhoben hat, keinesfalls aufgeben will312. Freilich muss differenziert werden zwischen einem strikten und einem weiten Verständnis des relationalen Lebens: denn auch wenn das Leben nur dann wahrhaft so bezeichnet werden kann, wenn der Mensch in der von Christus empfangenen Beziehung zu ihm steht resp. lebt, so „besteht“313 doch das Leben grundsätzlich in Christus, so dass also auch die nicht einer im strengen Sinne so zu bezeichnenden personalen Beziehung fähige Welt und sogar der abgefallene Mensch, soweit er eben ein gesellschaftliches und natürliches Lebewesen ist, vom Lebensbegriff erfasst werden. Dabei liegt jedoch ein uneigentliches Verständnis von Beziehung zugrunde, das besser mit Bonhoeffers Worten an anderer Stelle als „Ausrichtung“314, d. h. also als ein Bezogensein auf Christus bezeichnet wird, weil es sich dabei eben nicht um das Verhältnis von Personen zueinander handelt  –  der abgefallene Mensch ist in diesem theologischen Sinne nicht Person, sondern hat lediglich die Bestimmung, Person zu werden in der Begegnung mit der Offenbarung. Vielmehr geht es um die Erfassung 310

E 250. Vgl. E 249. 312 Die etwas umständliche Begriffs-Trias, die diesen Anspruch deutlich zum Ausdruck bringt, „Ursprung, Wesen und Ziel“, taucht in „Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]“ wohl aus diesem Grund häufig auf (vgl. das Register E 558 s. v. „Ursprung“). 313 Mit dem Begriff „Bestand“ (E 249.282 u. ö.) zeigt Bonhoeffer noch einmal deutlich an, dass es bei seinen Ausführungen zum Lebensbegriff um einen ontologischen Anspruch geht. Der Unterschied zwischen der ‚Welt‘, die ihren Bestand in Christus hat, und dem Menschen, der allein aus der konkreten Beziehung zu Christus lebt, wird daran gleichfalls deutlich, insofern eben nur der Mensch einer solchen Personbeziehung fähig ist, während die Welt auf Christus ausgerichtet ist und diese ihre Wirklichkeit vom Menschen ‚nur‘ adaptiert, d. h. im Glauben erfahren werden muss. 314 E 54 ff.165 ff. 311

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des Wesens natürlicher und gesellschaftlich-sozialer Sachverhalte, was allein von der Offenbarung her möglich ist, da sie das Verhältnis Christi zur Welt und folgerichtig auch das Wesen der Welt ja erst offen legt. Die Anmerkung Bonhoeffers, dass die Wirklichkeit „letztlich im Personhaften [besteht]“ und darin das „Wahrheitsmoment des primitiven Animismus“ liege315, ist nur dann auch in seinem eigenen gedanklichen Kontext verständlich, wenn Natur und Gesellschaft – d. h. genauer die vier nicht beliebigen gesellschaftlichen Grundverhältnisse resp. Mandate316 – funktional317 auf den Menschen bezogen gedacht werden und darum nicht in ihrer Eigenständigkeit von Interesse sind: „Gott wurde Mensch, er nahm den Menschen leibhaftig an und versöhnte so die Welt des Menschen mit Gott. Die Bejahung des Menschen und seiner Wirklichkeit geschah aufgrund der Annahme, nicht umgekehrt.“318

Die Welt bzw. das Leben sind demnach vom Menschen her gedacht, der wiederum sein wirkliches Leben allein in der Beziehung zu Jesus Christus hat. Der „Bereich der Dinge“ ist darum nur recht verstanden, wenn seine „ursprüngliche, wesenhafte und zielhafte Beziehung auf Gott und den Menschen  [!] im Auge“ behalten wird319; alles sachliche und dinghafte Sein hat folglich eine ihm wesentliche Bezogenheit auf die „Person“320 resp. das personhafte Leben, welche man darum auch die personale Dimension der (Gesamt-)Wirklichkeit nennen könnte – so lange berücksichtigt wird, dass es sich dabei um ein abgeleitetes Verständnis von Personalität handelt, das letztlich eben eine teleologische Relation der Dinge zum wesentlich Person seienden Menschen meint321. Freilich sanktioniert Bonhoeffer damit keinen pragmatistischen resp. empiristischen Umgang mit den Dingen, weil diese personale Dimension der Dinge zum einen nur von einem rechten, d. h. christologischen Verständnis des Personseins aus erkannt wird und zum anderen das menschliche Personsein als eingebettet in das umfassende, auf Christus bezogene Leben gedacht wird. Natur und Ding haben darum zwar eine „wesenhafte Ausrichtung auf den Menschen“ resp. die „Welt der Personen“322, weil der geschaffene und versöhnte Mensch in und mit der Natur und den Dingen in einer personalen Beziehung zu Christus lebt; dabei gehört zu dieser wesenhaften Ausrichtung auf das personale Leben des Menschen aber eine jeweils bestimmte Gestalt, 315 E  2613), unter Bezug auf die Holzschnittreihe „Totentanz“ von Hans Holbein d. J. (1525 / 6). 316 S. dazu E 54 ff. S. auch C.III.4.a. 317 ‚Funktion‘ ist hier nicht mechanistisch aufzufassen. 318 E 261 f. (meine Hervorhebungen). Im Folgenden noch mehrfach ähnliche Formulierungen. 319 E 270. 320 Ebd. 321 Vgl. auch E 259: „Durch Christus erhält die Welt der Dinge und Werte ihre schöpfungsgemäße Ausrichtung auf den Menschen zurück.“ 322 E 259 f.

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welche sich nicht aus dem bloßen Nutzen, sondern aus der Gesamtsicht des christologisch ausgerichteten, personalen Lebens erschließt323. Nur von der umfassenden christologischen Struktur der Welt her werden darum die Dinge, die sozialen Grundstrukturen und die Naturgegebenheiten324 in ihrem Wesen erfasst und ihre personale Dimension nicht utilitaristisch missinterpretiert325. Hier besteht ein interessanter Unterschied zu Karl Barth, von dem Bonhoeffer möglicherweise zu der Formulierung inspiriert wurde, dass „die Wirklichkeit zuerst und zuletzt nicht ein Neutrum, sondern der Wirkliche, nämlich der menschgewordene Gott ist.“326 Barth formuliert im Zusammenhang seiner Lehre vom Gebot in der Kirchlichen Dogmatik, dass der von Gott „erwählte[ ] Mensch […] keine Sache, kein Ding, kein Neutrum, sondern eine Person und als solche Person Partner des von Gott zwischen sich und ihm beschlossenen und begründeten Bundes“ ist327. Die Ausweitung der personalistischen Kategorie, die Bonhoeffer vornimmt, indem von der Person Christi, des Schöpfungsmittlers, auf die von ihm streng zu unterscheidende, geschaffene Wirklichkeit geschlossen wird, „[w]eil in Jesus Christus, dem Wirklichen, die ganze Wirklichkeit aufgenommen und zusammengefaßt ist, weil sie ihn [zum] Ursprung, Wesen und Ziel hat“328, unterbleibt bei Barth, der Personalität resp. Relationalität allein von Gott und  –  in abgeleiteter Form – vom Menschen aussagt329. Dies mag seinen Grund darin haben, dass Barth den theologischen Weltbegriff weniger vom Inkarnationsgeschehen aus denkt als der Lutheraner Bonhoeffer, der daraus direkt materiale anthropologische und kosmologische Konsequenzen ziehen kann330. Vermutlich hängt 323 Vgl. E 259: „Nicht der Nutzen der Sache für den Menschen und also der Mißbrauch ihres Wesens“ ist hier gemeint; es ist „also der banausische Pragmatismus gänzlich ausgeschlossen“. So sind dann auch die Mandate zu verstehen, die früher von Bonhoeffer „Erhaltungsordnungen“ genannt wurden (DBW 11, 337) So wie auch die Gestalt des Natürlichen, das „auf das Kommen Jesu Christi hin Ausgerichtete“ (E 165), sind diese „[g]öttlich […] allein um ihrer ursprünglichen und endlichen Beziehung auf Christus willen“ (E 55 f.), denn „Gott will in der Welt Arbeit, Ehe, Obrigkeit, Kirche, und er will dieses alles durch Christus, auf Christus hin und in Christus“ (E 55). 324 E 271. 325 S. auch u. B.II.4.c. 326 E 260. 327 KD II / 2, 565. 328 E 262. 329 KD III / 1, 218 f.: „Wie Gott für den Menschen ist, so der Mensch für den Menschen: indem nämlich Gott für ihn ist, so daß die analogia relationis als Sinn der Gottebenbildlichkeit mit irgend einer analogia entis nicht verwechselt werden kann.“ Gottes Sein für den Menschen ist das relationale, zugewandte Sein ad extra, das die Trinität ad intra verwirklicht. Vgl. auch aaO. 105 ff.; wenn dort von „Geschöpf“ die Rede ist, so ist zweifellos unmittelbar der Mensch gemeint, der dazu bestimmt ist, „Partner“ Gottes zu sein. 330 Vgl. z. B. Barths Ausführungen zum Kolosserhymnus (Kol 1, 15–20, bes. V. 16 f.), den Bonhoeffer für seine Deutung der Schöpfungsmittlerschaft Christi mehrfach heranzieht, KD III/ 1, 52 ff., bes. 57–59. S. auch die Einschätzung von Abromeit, Geheimnis, 204: „Das personalistische Wirklichkeitsverständnis Bonhoeffers […] muß Barth verdächtig gewesen

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es aber auch mit dem unterschiedlichen Fokus der beiden Denker zusammen: Das Interesse des Barth der Kirchlichen Dogmatik gilt – mit Bonhoeffers Formulierungen – primär der „Wahrheit der Offenbarungswirklichkeit Gottes in Christus“, das des späten Bonhoeffer dagegen primär dem „Wirklichwerden der Offenbarungswirklichkeit Gottes in Christus“331; Reflexionen über die konkrete Gestalt von Natur und Gesellschaft, welche sowohl Bedingungsgefüge (in ihrer jeweiligen Faktizität) als auch Ziel (in ihrem zur Wirklichkeit zu bringenden Wesen) des menschlichen Handelns ist, müssen darum in die christologisch begründete Ethik integriert werden. bb) Der existentielle Aspekt Wenn also das weltlich-natürliche Leben nur aus seiner Bezogenheit auf Christus und darin auf den von Christus erlösten Menschen heraus erfasst werden kann, so ist das personale Verhältnis von Mensch und Christus die entscheidende Dimension der Wirklichkeit resp. des Lebens, auf die sich darum Bonhoeffer bei der Konzeption des personalistischen Lebensbegriffs konzentriert. Für diesen eigentlichen, existentiellen Aspekt des personalistischen Lebensbegriffs ist zunächst die Grundeinsicht Grisebachs leitend, dass nämlich Wirklichkeit resp. Leben Ereignis der Beziehung zwischen Personen ist und nichts sonst. „Daß unser Leben außerhalb unser selbst […] ist, das ist keinesfalls Ergebnis unserer Selbsterkenntnis, sondern uns von außen begegnender Anspruch […]“332.

Die Formulierung ähnelt sicher nicht zufällig denjenigen Grisebachs333, auch wenn dieser ausschließlich den Wirklichkeitsbegriff verwendet, während Bonhoeffer in diesem Kapitel ‚Leben‘ und ‚Wirklichkeit‘ synonym gebraucht. Der Lebensbegriff dürfte der Bonhoeffer und Grisebach verbindenden Intention, einem objektivierenden Verständnis von Wirklichkeit, das auf einer im Subjekt verankerten epistemischen Struktur der Gegenstandswelt basiert, ein dynamisches und relationales Wirklichkeitsverständnis entgegenzusetzen, dabei eher gerecht werden. Denn entscheidende Aspekte eines solchen Wirklichkeitsverständnisses sind ja die Mannigfaltigkeit und Unverfügbarkeit der Begegnungen, der Geschehenscharakter, also das Werden, und die Absage an diese Begegnungen transzendierende und in diesem Sinne überweltliche Wirklichkeitsstrukturen, d. h. also diejenigen Aspekte, welche Bonhoeffer über seine Rezeption der Lebensphilosophie aufgenommen hat334 und die sich sein. Gewiß konnte er es nicht teilen […] Damit zusammen hängt natürlich die unterschiedliche Stellung der beiden Theologen zum finitum capax infiniti und zum genus maiestaticum.“ 331 E 34 (im Original teilweise kursiviert). 332 E 249. 333 Dazu vgl. o. die Ausführungen zu Grisebach B.II.3.a. 334 S. dazu o. B.II.2.

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ohne weiteres seinem personalistischen Wirklichkeitsverständnis integrieren lassen – oder besser: es konkretisieren und präzisieren. Die Ausgestaltung des personalistischen Lebensbegriffs Bonhoeffers ist allerdings durch eine kritische Anverwandlung der Position Grisebachs bestimmt, der ja dezidiert als Philosoph und nicht als Theologe seine kritische Ethik entworfen hatte. Hatte dieser die Begegnung, also die Wirklichkeit, vom Anspruch des Du an das Ich evoziert sein lassen, das damit den erkenntnistheoretischen Subjekivismus des Ich transzendierte und also begrenzte, so folgt Bonhoeffer auch in der Ethik noch teilweise diesem Konzept. Die Begriffe „Grenze“ und „Transzendenz“ tauchen zwar im Unterschied zu früheren Texten nicht mehr auf, die Sache ist aber sicherlich gemeint, wenn er formuliert, dass „[…] das Leben, das wir uns nicht selbst geben können […] ganz von außen, ganz von jenseits zu uns kommt“335. Der Wechsel in der Terminologie dürfte einerseits damit zusammenhängen, dass Bonhoeffer den erkenntnistheoretischen Fokus inzwischen zugunsten einer Konzentration auf die konkrete Existenz des Glaubenden und damit auf die Ethik aufgegeben hat. Andererseits gelingt es ihm mit der neuen Terminologie auch sprachlich, eine größere Nähe zum Denken Luthers herzustellen. Die Anschlussfähigkeit Grisebachs an die reformatorische Theologie, die (auch) darin besteht, dass die Wirklichkeit der Begegnung sprachlich vermittelt wird, das „Wort“ resp. der „Anspruch“ also konstitutive Bedeutung hat336, wird so von Bonhoeffer genutzt, um das bei Grisebach zwischen menschlichem Ich und menschlichem Du stattfindende, wesentlich konfliktive Beziehungsgeschehen umzudeuten als die Begegnung zwischen Christus und Mensch. Die von Bonhoeffer früher bei Grisebach kritisierte Asymmetrie in der Begegnung337 wird daher von ihm nicht etwa durch eine Gleichursprünglichkeit der Personen ersetzt, sondern ‚unendlich‘ verschärft: Christus ist die Person schlechthin und darum das Leben schlechthin; die Begegnung mit Christus begründet folglich auch erst und ausschließlich das lebendige Personsein des Menschen: 335 E  250 (meine Hervorhebung). Vgl. DBW  11, 357 ff., bes. 358 (Die Frage nach dem Menschen in der gegenwärtigen Philosophie und Theologie); DBW 12, 281 ff., bes. 286.306 f. (Christologievorlesung); SF 81.91 f. u. ö. 336 Vgl. etwa Grisebach, Gegenwart, 579. Dabei ist diese Anschlussfähigkeit des Dialogismus an reformatorische und an die sich als gültige Reinterpretation reformatorischen Denkens verstehende Dialektische Theologie natürlich generell vorhanden, weil sie ein zentrales Element beider betrifft, und tatsächlich auch so beurteilt worden, wie die Bezugnahmen auf und Auseinandersetzungen mit Buber, Ebner und Grisebach bei Barth, Brunner und Gogarten zeigen. Für einen kurzen Überblick vgl. Theunissen, Art. IchDu-Verhältnis, 554 f. Einige Hinweise zu Luther werden im nächsten Abschnitt gegeben. 337 Vgl. AS  81–83; DBW  11, 367 f.: „Das wirklich Neue an Grisebach ist, daß er den Menschen nicht denken kann ohne den konkreten andern Menschen. Damit ist der Wille jeden Individualismus, d. h. jede Gefangenheit des Ich in sich selbst zu überwinden, klar ausgesprochen. Aber dies gelingt Grisebach doch nur, indem er an Stelle des Ich nun das Du verabsolutiert und ihm eine Stellung gibt, die nur Gott selbst zukommen kann.“

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„So läßt sich das Leben niemals mehr von dem Ich, von der Person Jesu trennen. Indem Jesus dies verkündigt, sagt er, daß er […] gerade mein Leben, unser Leben [ist] […]. Mein Leben ist außerhalb meiner selbst, außerhalb meiner Verfügung […]“338.

Das Geschehen der Begegnung, das Leben also, vollzieht sich bei Bonhoeffer zwar strukturell analog zu Grisebachs Konzeption vom das Ich begrenzenden Anderen, ist aber qualitativ ganz anders zu bewerten, weil das dem Menschen gegenübertretende Du eben kein Mensch, sondern Gott und Mensch zugleich ist339. Der Mensch ist dann grundsätzlich nur Empfänger und also nur in abgeleitetem Sinne Partner des Du und lebendige Person, niemals aber Initiator. Bonhoeffers Insistieren auf dem „von außen“ und dem „außerhalb“ des Lebens ist darum bei ihm ganz strikt zu verstehen: der Mensch ‚hat‘ sein Leben immer nur im Angesprochenwerden von außen, er ist niemals selbst ansprechendes Du, sein Leben vollzieht sich grundsätzlich als „Antwort“340 und nicht als „Anspruch“341. Zugleich ist der begrenzende Anspruch von außen auch Grenze der Erkenntnis, da das Sündersein des Menschen im erkenntnistheoretischen Zugriff des Subjekts auf Welt, Mensch und Gott besteht, diesen von Grisebach wohl mit inspirierten Gedanken hat Bonhoeffer ja auch der Ethik zugrunde gelegt342. In Sanctorum Communio hat Bonhoeffer sogar noch, im Anschluss an Grisebach, den Ausdruck „ethische Transzendenz“ verwendet, um seine vom Idealismus abgegrenzte Position zu kennzeichnen343. Die spätere Reduktion auf „Transzendenz“ und dessen allmähliche Verdrängung durch den Begriff 338

E 249 (im Original teilweise kursiviert). Damit entfällt in Bonhoeffers Konzeption auch das logisch problematische Element bei Grisebach, dass nämlich unklar bleibt, wie das Du, das für sich selbst ja nichts anderes als ein selbstzentriertes Ich wie jedes andere menschliche Ich ist, dazu imstande sein soll, die Ichzentriertheit des Anderen zu durchbrechen, ohne dass zugleich der Gottesgedanke mit gedacht wird, wie dies etwa bei Buber der Fall ist. Denn auch Grisebachs kritisches Denken, das als eine Art Propädeutik für die Wirklichkeitserfahrung verstanden werden will, bezieht sich ja bereits mindestens auf die Defiziterfahrung, dass das subjektivistische Denken keinen Wirklichkeitsbezug hat, sowie auf die begrenzenden Ansprüche der Anderen, die ja nur dann das je eigene System wahrhaft sprengen können, wenn dieser Andere bereits nicht mehr als der vergegenständlichte Mitmensch gewusst, sondern schon irgendwie als das personale Du erfahren wird. Vgl. dazu Gegenwart 173 ff.461 ff., Grenzen 275 ff., sowie Bonhoeffers Kritik DBW 11, 368: „Ich selbst setze den Anspruch des Du […] als absoluten, ich könnte ihn […] auch relativieren“. Interessant ist, dass Bonhoeffer in seiner Christologievorlesung von 1933 (DBW 12, 279– 348) im Kontext der Erörterung des bekannten Satzes von Melanchthon (hoc est Christum cognoscere, beneficia eius cognoscere aaO. 289 f.), selbst auf die strukturelle Analogie zum dialogischen Personalismus verweist, wenn er konstatiert, dass „ich zu einer Person nicht vorstoßen [kann], es sei denn, der andere offenbart sich mir selbst […]. Diese Gedanken sind auf die Christologie anzuwenden.“ 340 E 253. 341 E 249. 342 S.o. A. 343 SC 26 f. Zur Erläuterung vgl. Weinrich, Wirklichkeit, 215 ff. 339

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„Grenze“ steht wohl im Zusammenhang seiner dann profilierten Kritik an Grisebach  –  auch dieser Ausdruck verschwindet allerdings mit der Zeit, was komplexe Ursachen hat, insofern Bonhoeffers mittlere und späte theologische Entwicklung von mehreren verschiedenen, aber miteinander zusammenhängenden Aspekten gekennzeichnet ist: d.i. wie bereits erwähnt die Verschiebung des Interesses von Erkenntnistheorie resp. Glaubensbegriff hin zur Nachfolge-Ethik344; sodann die Entwicklung eines dialektisch-positiven Weltbegriffs einschließlich der zunehmend wichtigeren Betonung der „Grenze“ als „Mitte“ resp. „Ursprung, Wesen und Ziel“, d. h. der Positivität der Begrenzung als Neugründung der Existenz345; schließlich der Ansatz zu einer theologischen Hermeneutik mit einem nur negativ konnotierten Begriff von „Grenze“ – welche analog zur epistemologisch-philosophischen Bedeutung aus den frühen Jahren wiederum nicht als echte Grenze zu verstehen ist, weil die empirischen und theoretischen Naturwissenschaften ihren Horizont stetig und ohne anzunehmende prinzipielle Beschränkung erweitern346. Nichtsdestotrotz bleibt die von Grisebach übernommene Denkfigur, wonach das selbstzentrierte Ich der personalen Begrenzung von außen bedarf, um aus dieser Verkehrung heraus in die Wirklichkeit zu finden, eben auch für die Ethik (und darüber hinaus) noch fundamental – freilich immer mit der entscheidenden Modifikation, dass die „Grenze“, die „Transzendenz“ oder das „von außen“ als „Mitte“ der Existenz nicht das menschliche Du, sondern allein Christus ist. Allerdings hat die fundamentale Kritik am subjektivitätstheoretischen Paradigma ihren Platz mit gutem Grund nicht mehr im Zentrum der Erwägungen, sondern in der Einleitung zur Ethik; es geht Bonhoeffer bei seiner Identifikation des Lebensbegriffs mit der Person Jesu Christi und der Zuschreibung eines Begriffs von personalem Leben an den auf Christus bezogenen Menschen nun nämlich um die existentielle Bedeutung des Glaubens, d. h. um die Lebensäußerung des personalen Verhältnisses zwischen Christus und Mensch. „Von außen“ und „außerhalb“ bedeutet daher nicht nur das Empfangen des an den Menschen ergehenden Anspruchs Christi, sondern zugleich die in eben dieser Bezogenheit auf Christus erfolgende Entsprechung, die mit der „ganzen Existenz“ gegebene „Antwort“ des Menschen347. Wie sich dabei die Relationalität als Wesen des Menschen zur Leiblichkeit, Geistigkeit und Emotionalität, d. h. also zu der ‚ganzen Existenz‘ des Menschen verhält, expliziert Bonhoeffer nicht näher. Die Verwendung des Lebensbegriffs 344

Akt und Sein – Nachfolge – Ethik. Schöpfung und Fall  –  Christologievorlesung  –  Ethik  –  Widerstand und Ergebung. Bonhoeffers theologische Entwicklung könnte also schlagwortartig nicht nur als – sehr früher – Übergang ‚von der Grenze zur Mitte‘ beschrieben werden, sondern – in der späten Zeit – als Akzentverschiebung von der ‚Mitte des Lebens‘ zur ‚Mitte des Lebens‘. 346 Widerstand und Ergebung. 347 E 253. 345

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mit seinen oben dargelegten Merkmalen impliziert aber den Gedanken, dass sich das personale Sein des Menschen konkret je unterschiedlich ausprägt als Naturbeziehung oder leiblich-emotionale Personbeziehung, als geistige und tätige Auseinandersetzung mit der natürlich-sozialen Lebenswelt etc., die zugleich immer die anderen Fähigkeiten und Dispositionen des leiblich-geistigemotionalen Menschseins einschließt348. Die Antwort kann darum „nur eine ganze, mit dem ganzen Leben, wie es sich jeweils handelnd realisiert, gegebene sein“349. Als entscheidendes Moment ist dabei grundsätzlich festzuhalten die essentielle Dimension der personalen Ausrichtung des gesamten individuellen und globalen Lebens auf Christus und, innerhalb dieser je eigenen Christusbeziehung, auf den anderen Menschen, dessen Personsein darin erfahren wird, sowie auf die umgebende, zu gestaltende Welt. Das Wesen des Menschen ist daher immer etwas in der konkreten Personbeziehung sich Verwirklichendes, Dynamisches, das in doppelter Hinsicht „außen“ bleibt resp. sich „außen“ vollzieht, insofern es nicht nur im Anspruch von außen begründet wird, sondern als existentielle, tätige Antwort wiederum nach außen gerichtet ist – und zwar sowohl auf Christus als den Urheber und Partner der Beziehung als auch auf die in Christus begründete Welt und den Mitmenschen. cc) Christologische Konkretion Zur Begründung für diese Thesen ist es freilich nötig, die vorausgesetzte Christologie wenigstens ansatzweise zu entfalten, was Bonhoeffer in diesem Kontext auch tut. Dabei dürfte vor allem auch dessen ontologischer Aspekt, wieso also der von Bonhoeffer anhand des Wirklichkeitsbegriffs explizierten theologischen Ontologie die personale Dimension als ihr wesentliches Charakteristikum inhärent ist, nicht einfach unerklärt bleiben, da er sich aus dem von Bonhoeffer rezipierten Konzept des Personalismus gerade nicht ergibt. Dieser Aspekt beruht auf dem von Bonhoeffer besonders im Kapitel „Christus, die Wirklichkeit und das Gute. Christus, Kirche und Welt“350 explizierten Gedanken der Schöpfungsmittlerschaft Christi; Christus aber ist Person und daher die in ihm und auf ihn hin351 geschaffene Welt personal strukturiert352. Fraglich bleibt aber, wie genau der personalistische Lebensbegriff in der Christologie begründet ist; außerdem verdient die Frage, wieso das menschliche Personsein in Christus und nur in Christus begründet ist, Aufmerksamkeit, da es im zeitgenössischen philosophischen und theologischen Personalis348 Dass Bonhoeffer einen ganzheitlichen, also nicht-dualistischen und nicht naturalistischen Begriff vom Menschsein hat, wurde bereits mehrfach erwähnt. S. dazu die Ausführungen zum Lebensbegriff B.II.2 und – speziell zum Menschen – diejenigen zur Scham A.II.4.c. 349 E 253. 350 E 31–61. 351 Vgl. Kol 1,16 f. Bonhoeffer verweist in der Ethik häufig auf diese Stelle. 352 Für einige Hinweise zum christologischen Wirklichkeitsbegriff s. u. B.II.4.c.

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mus vorwiegend den Ansatz gibt, das Du einfach als Träger oder Repräsentant des göttlichen Du aufzufassen, das darin „aufleuchtet“353 – wenn auch gerade nicht beim auf Abgrenzung von der Theologie bedachten Grisebach, dafür aber in Sanctorum Communio, womit Bonhoeffer also bereits über Grisebach hinaus geht, ohne schon zu seiner späteren, christologisch begründeten personalistischen Konzeption gefunden zu haben354. Der pauschale Verweis auf das offenbarungstheologische Denken Bonhoeffers ist darum zwar richtig, aber noch nicht hinreichend präzise. Die christologischen Aussagen in „Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]“ sind freilich sehr komprimiert; deutlich ist dennoch, dass Bonhoeffer sie zur Begründung für die christologische Vermitteltheit des menschlichen Personseins anführt. Das Fehlen eines Verweises auf das Trinitätsdogma muss in diesem Zusammenhang auch als Hinweis darauf gelesen werden, dass in Bonhoeffers Denken Personalität oder In-Beziehung-Sein unmittelbar in der Christologie gründet, wie für ihn auch sonst überhaupt keine im engeren Sinne theologischen Aussagen möglich sind, sofern sie nicht direkt aus der Christologie abgeleitet sind355. Im Unterschied zu Barth greift Bonhoeffer darum für die Begründung der menschlichen Personalität nicht auf eine immanente Trinitätslehre zurück, derzufolge Gott in sich selbst relational strukturiert und dies eben der Ausdruck seiner Dreieinigkeit sei, von welcher der Mensch wiederum Abbild, d. h. genauer in Christus restituiertes Abbild 353 Theunissen, Der Andere, 330 ff., erläutert dies für Bubers ‚Theologie‘ des Zwischen. Dabei ist der Unterschied zu einer Theologie mit einem echten Offenbarungsbegriff zu beachten, weil dieser eine kategoriale ontologische Differenz zwischen Gott und menschlichem Du impliziert, welche Buber Theunissen zufolge nicht voraussetzt: „Um des Eigentlichen der Buberschen ‚Theologie‘ habhaft zu werden, muß man also dem Satz ‚Gott ist seinem Wesen nach Du‘ den anderen hinzufügen: ‚Das Du ist seinem Wesen nach Gott‘“ (aaO. 341). 354 SC 29–35, bes. 32 f.: „Nur am Du entspringt Ich, nur auf den Anspruch hin entsteht Verantwortung […]. Nicht ein Mensch von sich aus [sc. aber] kann den anderen zum Ich, zur ethisch verantwortungsbewußten Person machen. Gott oder der Heilige Geist tritt zum konkreten Du hinzu, nur durch sein Wirken wird der andere mir zum Du, an dem mein Ich entspringt, m. a. W. jedes menschliche Du ist Abbild des göttlichen Du. Der Du-Charakter ist ganz eigentlich die Form, unter der das Göttliche [sic!] erlebt wird, jedes menschliche Du trägt seinen Charakter nur durch das Göttliche […]. Das Du des anderen Menschen ist das göttliche Du.“ Vgl. die Ähnlichkeit zu den Aussagen Gogartens, Ich glaube, 59 f. 355 Vgl. dazu die Aussagen aus der Christologievorlesung (Nachschrift), die in Grundzügen bereits die eindrücklichen Gedanken Bonhoeffers zur Ohnmacht Gottes aus Widerstand und Ergebung (s. bes. WE 534 ff.) vorweg nehmen (DBW 12, 341, meine Hervorhebung) und verdeutlichen, dass sie eine Konsequenz aus dem streng offenbarungstheologischen Ansatz Bonhoeffers sind: „Jesus, der Mensch, wird als Gott geglaubt […]. Jesus Christus ist Gott nicht in einer göttlichen Natur, sondern Gott allein im Glauben […]. Soll Jesus Christus als Gott beschrieben werden, so darf nicht von seiner Allmacht und Allwissenheit geredet werden, sondern von seiner Krippe und seinem Kreuz. Es gibt nicht ‚göttliches Wesen‘ als Allmacht, Allgegenwärtigkeit […]. Soll von dem Menschen Jesus Christus als von Gott geredet werden, so darf man nicht von ihm als dem Repräsentanten einer Gottesidee reden, d. h. [!] in seiner Eigenschaft als Allwissenheit, Allmacht, sondern von seiner Schwachheit und Krippe.“

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sei356. Die Konzentration auf den strengen Offenbarungsbegriff, demzufolge die Offenbarung Gottes in Christus in formaler Hinsicht notwendiger und hinreichender Erkenntnisgrund, in materialer Hinsicht aber Manifestation des Wesens Gottes ist, weil es Gottes Selbstoffenbarung ist, bewegt Bonhoeffer vielmehr dazu, alle theologischen Sätze als Entfaltungen der Christologie aufzufassen357. Denn die Menschwerdung Gottes, die ja ein Entschluss Gottes von Ewigkeit her ist und die nicht so verstanden werden darf, als ob darin eine von dieser Menschwerdung Gottes zu unterscheidende göttliches Substanz sich selbst ein Attribut hinzufüge, ist, so Bonhoeffer, die vollgültige Wesensäußerung Gottes:

356 Der Vergleich mit Barth ist nicht nur in systematischer Hinsicht aufschlussreich, da sich beide Theologen gedanklich recht nahe stehen, sondern auch deshalb, weil gerade an diesem Punkt im Unterschied zum früheren umgekehrten Verhältnis Barth von Bonhoeffer gelernt hat und dennoch eine bedeutsame Differenz zutage tritt. Darum soll die entsprechende Stelle aus der Kirchlichen Dogmatik etwas ausführlicher zitiert werden (KD  III / 1,  219 f. [unter Bezug auf Bonhoeffers Ausführungen in Schöpfung und Fall zur imago Dei als analogia relationis, SF 56–63]): „Der Fortschritt in der Textnähe, der bei Bonhoeffer (auch über Vischer hinaus) gemacht ist, besteht offenbar darin, daß hier nicht nur der von der Vorstellung des Urbildes und Abbildes unzertrennliche Begriff des in freier Unterscheidung und Beziehung sich realisierenden Gegenübers ernst genommen und fruchtbar gemacht, sondern endlich auch der Gehalt von v 27 ins rechte Licht gestellt wird […]. Geht man aber davon aus, daß es wirklich das Gegenüber und die Zusammengehörigkeit von Mann und Frau ist, in welchem die Sage das Wesen und also das Abbildliche und Nachbildliche des Menschen gesehen hat, und fragen wir von da aus nach dem Urbildlichen und Vorbildlichen im Wesen Gottes, dann […] können [wir] uns […] im Text selbst an die Tatsache halten, die weder von Vischer noch von Bonhoeffer gewürdigt ist: an das ‚Lasset uns!‘ als die eigentümliche Form des Schöpfungsbefehls v 26 und also an die damit gerade in diesem Zusammenhang eindeutig bezeugte Pluralität im göttlichen Wesen, an jene Unterscheidung und Beziehung, jenes liebende Zusammensein und Zusammenwirken, jenes Ich und Du, das allererst in Gott selber Ereignis ist […] Wie sich das anrufende Ich in Gottes Wesen zu dem von ihm angerufenen göttlichen Du verhält, so verhält sich Gott zu dem von ihm angerufenen Menschen, so verhält sich in der menschlichen Existenz selbst das Ich zum Du, der Mann zur Frau.“ Die ‚Würdigung‘ des Deliberativs aus Gen 1,26, deren Fehlen bei Bonhoeffer von Barth bemängelt wird, hat jener zweifellos mit gutem Grund unterlassen; denn den hier von Barth unternommenen gedanklichen Überschritt vom Wirken Gottes ad extra zum innertrinitarischen Sein Gottes vermeidet Bonhoeffer prinzipiell. Dass bereits Luther ähnlich wie Barth deutete, hat Bonhoeffer in seiner Vorlesung offenbar selbst erwähnt, es handelt sich also um eine bewusste Entscheidung, wenn er schreibt, dass es sich bei dem Plural um die „Bezeichnung der Bedeutsamkeit und der Hoheit des Schöpfers“ handele, vgl. SF  57 und ebd. Hrsg.-Anm. 6, derzufolge zu Gen 1,26 in mehreren Vorlesungsnachschriften eine entsprechende Notiz steht (z. B.: „Plural Trinitatis [nach Luther]“). Vgl. WA 42; im Übrigen sind Äußerungen Bonhoeffers zum Trinitätsdogma, die über bloße Erwähnungen hinaus gehen, sehr selten und folgen dann ganz traditionell den altkirchlichen und reformatorischen Formulierungen (vgl. etwa: DBW 9, 357 f.; DBW 14, 467 f.6327). 357 Daraus folgt nicht, dass Bonhoeffer z. B. Barths eben zitierte Sätze über die göttliche Trinität bestreiten würde; gerade hinsichtlich ihrer anthropologischen Relevanz aber haben sie für ihn letztlich keine unmittelbare Bedeutung, weil das Menschsein als Bild Christi gar keiner weiteren Begründung bedarf.

II. Die Mehrdimensionalität der guten Tat

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„Von nun an kann […] Gott nicht mehr anders als in Jesus Christus gedacht und erkannt werden […]. Es gibt […] keinen Gott an sich […]“358.

Entscheidend ist freilich, dass es ein Entschluss Gottes aus absoluter Freiheit ist, dass also die Menschwerdung, anders als etwa bei Hegels Ableitung der Inkarnation aus der „trinitarischen Idee“359, nicht schon zum Begriff Gottes hinzu gedacht wird. Doch der ein für alle mal gefasste ewige Entschluss Gottes, Mensch zu werden, hat für den Lutheraner Bonhoeffer sehr wohl die Konsequenz, dass Gott ‚von nun an‘, d. h. deshalb, nicht abgesehen von seiner Menschwerdung erfasst werden könne. Die freie Selbstbestimmung Gottes, im Menschen Jesus für die Menschen erkennbar und ihnen zugewandt zu sein, ist zwar nicht-notwendiges Ereignis, als Ereignis aber notwendig Entfaltung von Gottes Wesen: „Der menschgewordene Gott ist der Herrliche. Gott verherrlicht sich im Menschen. Das ist das letzte Geheimnis der Trinität. ‚Von nun an bis in Ewigkeit‘ sieht sich Gott als Menschgewordenen an.“360 358 E 253. Ähnlich bereits in der Christologievorlesung (DBW 12, 294): „Gott in seiner zeitlosen Ewigkeit ist nicht Gott. Jesus Christus in seiner zeitbegrenzten Menschlichkeit ist nicht Jesus Christus. Vielmehr in dem Menschen Jesus Christus ist Gott Gott.“ 359 DBW 12, 342. 360 DBW  12,  342. In Akt und Sein bildet dieser Gedanke letztlich den Kern aller Auseinandersetzungen mit neuzeitlicher und zeitgenössischer Philosophie und Theologie um die Frage nach dem Verhältnis von Akt (= Akt absoluter Freiheit Gottes) und Sein (= freies Sich-Gebundenhaben Gottes an den Menschen) der Offenbarung. Zur Klärung des Gemeinten dient ihm dabei offenbar auch die spätmittelalterliche nominalistische Differenzierung zwischen zwei potentiae Dei: Sofern Gott absolut frei ist, kann sein Akt der Zuwendung zum Menschen immer nur als völlig kontingente (zu dem Gebrauch dieses Begriffes bei Bonhoeffer vgl. A.II.4.c) Tat seiner potentia absoluta verstanden werden. Weil aber Gott sich dazu bestimmt hat, Mensch zu werden und sich in Christus resp. in der Kirche dem Menschen zuzuwenden, ist das Wirken Gottes tatsächlich das Wirken seiner potentia ordinata, d. h. die Unverfügbarkeit des Wirkens Gottes ist Ausdruck seiner Freiheit, die im Wirken Gottes erfolgende Zuwendung zum Menschen aber Ausdruck seiner freien Bindung an den Menschen. Bonhoeffer interpretiert darum die Differenz zwischen den beiden potentiae mit der Differenz zwischen Form und Inhalt der göttlichen Tat, woran deutlich wird, dass für ihn der machtvoll wirkende Gott immer nur der menschgewordene gebundene Gott ist. Vgl. dazu bes. AS 73 ff.85. Zur potentia-Lehre vgl. exemplarisch die Äußerung Ockhams: […] quasi realiter in Deo sit duplex potentia, quarum una sit absoluta et alia ordinata; quia unica potentia est in Deo, immo ipsa unica potentia est unica essentia […] unica tamen potentia realiter est in Deo, sed locutio est diversa. Et propter istam diversam locutionem dicitur quod Deus potest aliqua de potentia absoluta, quae non potest de potentia ordinata […] Et ita dicere, quod Deus potest aliqua de potentia absoluta, quae non potest de potentia ordinata, non est aliud […] quam dicere quod Deus aliqua potest, quae tamen minime ordinavit se facturum; quae tamen si faceret, de potentia ordinata faceret ipsa; quia si faceret ea, ordinavit se facturum ipsa. (zitiert bei Bannach, Lehre, 2269.72). Bei Ockham ist diese Differenzierung darum anders als bei Bonhoeffer letztlich nur Sprechweise, locutio, so dass „der spätscholastische Begriff der Freiheit Gottes nur von irrealen Möglichkeiten zu reden [scheint]“ (AS  787)). Gemeint ist vom Nominalismus nämlich, darin ist Bonhoeffers Einschätzung zutreffend, bloß die logische Möglichkeit in Gott, die nicht mehr als eine gedankliche Abstraktion darstellt, um den Gottesbegriff von seiner rationalistischen Determiniertheit zu entlasten. Für

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Die Frage, wie sich Gottes trinitarisches Wesen ad intra zum menschgewordenen Gott, d. h. seinem Wirken in Christus ad extra verhält, kann dann aber streng genommen schon logisch nicht gestellt werden, sofern es sich um mehr als bloß begriffliche Differenzierungen ein und derselben Sache handeln soll. Soteriologische Bedeutung haben diese, wie auch die Frage nach dem konkreten Vollzug der Menschwerdung Gottes, zudem allenfalls indirekt, sofern sie davor bewahren, einen verkehrten Gottesbegriff aufzustellen, anstatt das Geheimnis Gottes zu wahren, das sich dem Menschen nicht erschließen kann, weil es aus der kategorialen Differenz von Schöpfer und Geschöpf resultiert361. Von entscheidender Bedeutung ist vielmehr, dass die Entfaltung des göttlichen Wesens in Jesus Christus sich derart vollzieht, dass hier der Mensch als Person von der Person des „Gottmenschen“362 in seiner zeitlich-natürlichen Existenz angesprochen wird. Das göttliche Wesen, das sich in Christus offenbart, zeichnet sich darum wesentlich als Zugewandtsein zum Menschen aus, d. h. also als personales Verhältnis Gottes zum Menschen. Dessen wesentliches Merkmal wiederum ist die Sprachlichkeit, das Wort, in dem und als welches Gott sich dem Menschen zuwendet und ihn dadurch zur Person macht: „Aus der Frage, was das Leben sei, wird hier die Antwort, wer das Leben sei […]. Indem Jesus dies verkündigt, sagt er, daß er nicht nur das Leben – das heißt irgendeine mich möglicherweise nicht betreffende metaphysische Größe  –  ist, sondern gerade mein Leben“363.

Die Ansprache des Menschen durch Christus ist darum nicht einfach Schranke, Grenze, Anspruch  –  das freilich auch  –, sondern zuerst Zuspruch des Lebens als personale Bindung des Menschen an Christus. Dieser Zuspruch des Lebens, also das lebendige Personwerden, ist dabei einerseits möglich, weil nicht nur ein menschliches Du dem Menschen begegnet, sondern in der Person des Sohnes und Schöpfungsmittlers Gott selbst; zugleich ist es aber auch notwendig, weil der Mensch nämlich aus sich selbst heraus nicht (mehr) die Ethik und ihre komprimierten christologischen Aussagen sind diese frühen Erwägungen Bonhoeffers voraus zu setzen. 361 Bonhoeffer respektiert also die altkirchlichen Dogmen zur Trinität und zur Christologie (in ihrer lutherischen Deutung) unter der Voraussetzung, dass sie als sprachlichgedanklicher Schutz des Geheimnisses Gottes verstanden werden. Sie dienen so lediglich der Abwehr verkehrter Gottesbegriffe, keinesfalls aber dem präzisen begrifflichen Erfassen von Gottes Wesen und Wirken, ganz im Gegenteil. Die Anstößigkeit dieses Geheimnisses, das dem Denken entzogen bleibt, benennt Bonhoeffer häufiger auch mit dem paulinischen, von Kierkegaard zum Leitbegriff erhobenen „Ärgernis“. Wie diesem sind ihm der spekulative, gedankliche und der paradox-persönliche, glaubende Zugang zur Wirklichkeit Gottes Antagonismen (dazu s. o. A.II.5.d). Vgl. DBW 12, 342 ff.; 15, 537 ff., bes. 538 f. Ausführlich zum Geheimnisbegriff und zur Christologie: Abromeit, Geheimnis, passim und bes. 35 ff. 362 E 69.146. Auch im Übrigen Schrifttum Bonhoeffers häufig verwendeter Christustitel, vgl. DBW 12, 294 ff. 363 E 249.

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lebendige Person sein kann, weil er also theologisch gesprochen in der Totalität seiner Existenz Sünder ist. Darin besteht der wesentliche Unterschied zwischen Konzeptionen, in denen menschliches Du und Gott im Ereignis der Begegnung gewissermaßen kurzgeschlossen werden, wie Bonhoeffer es Gogarten vorwirft364 und wie er es ganz zu Beginn seiner theologischen Entwicklung, in der Dissertation noch selbst durchgeführt hat365. Die Begegnung des Menschen mit Gott in Christus ist unter diesen Voraussetzungen daher nicht rein formal als begrenzendes und in die personale Wirklichkeit versetzendes, inhaltlich aber unbestimmtes Wort zu verstehen, auch nicht, wie bei Grisebach, als bloßer ethischer Anspruch des Du – und sei es auch eines göttlichen Du – an das Ich366. Vielmehr ist es ein dialektisch bestimmtes Wort, nämlich zugleich Verneinung und Bejahung des Menschen enthaltendes und erst als solches wirkliches Leben zusprechendes Wort: „So vernehmen wir in diesem Wort Jesu Christi das Nein über unser Leben […]. Das Nein, das wir hören, bringt uns selbst den Tod. Aber indem es uns den Tod gibt, wird aus dem Nein ein verborgenes Ja zu einem neuen Leben, das Jesus Christus ist.“367

Die Antwort auf die christologische Frage, auf die Wer-Frage368, ist darum zwar das „Ich Jesu“369; es ist aber als dieses Ich Jesu Gericht über das nicht wirkliche, weil in der erkenntnistheoretischen Subjektivität gefangene, nichtpersonhafte Leben des Menschen. Dass sich darin auch schon der Zuspruch des wahrhaften, personalen Lebens aus der Gottesbeziehung ereignet, ist dann konsequent: denn indem Christus den im Reflexionszirkel gefangenen isolierten Menschen mit seinem richtenden und begrenzenden Wort daraus befreit, ist die Personbeziehung zwischen Gott und Mensch ja schon aufgerichtet und der Mensch zur Antwort gerufen und befähigt. Das Wort, das 364

AS 82 f.102; DBW 10, 372; vgl. die ähnliche Einschätzung bei Theunissen 361 f. SC 29 ff. Feil, Theologie, 141–144.149 u. ö., hat zwischen Sanctorum Communio und den übrigen theologischen Werken Bonhoeffers eine bedeutsame gedankliche Verschiebung festgestellt, insofern die Dissertation noch nicht streng christologisch konzipiert sei und vielmehr einen „ekklesiozentrischen Ansatz“ aufweise, der darum gewissen Aporien in den Begründungsfragen mit sich bringe (aaO. 143 f.). An dem Umgang mit dem Dialogismus lässt sich dies gut zeigen, weil dessen Rezeption durch Bonhoeffer in Sanctorum Communio ganz offenkundig nicht von der Christologie her, sondern in ekklesiologischer Absicht erfolgt, während schon in Akt und Sein, ausführlicher noch in der Christologievorlesung, die Christologie in der theologischen Systematik an die Stelle des voraussetzungslosen Begründungs‚prinzips‘ rückt und als dieses mittels bestimmter Grundfiguren des Dialogismus entfaltet wird. 366 Vgl. dazu den Vorwurf, den Bonhoeffer Gogarten macht (DBW  10,  372), von dem „[w]ie bei Grisebach […] der Nächste absolut gesetzt [wird] […]. Dadurch aber, daß Gogarten dem Nächsten den Anspruch Gottes einräumt, gleitet er […] von der Theologie der Offenbarung in eine innerweltliche Ethik ab.“ S. auch AS 124. 367 E 250. 368 E 249, vgl. DBW 12, 282 ff. 369 E 249. 365

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Christus zu dem Menschen spricht, ist „als Anrede nur möglich als Wort zwischen zweien, als Anrede und Antwort“370, wie Bonhoeffer in der Christologievorlesung formuliert hat. Als dieses anredende göttliche Wort, also die Aufrichtung der Gottesbeziehung, ist es wahres Wort und darum auch lebendigmachendes Wort, sofern Wahrheit und Leben untrennbar zusammengehören. Damit bestätigt sich auf anderem Wege der in der Interpretation des Einleitungskapitels identifizierte unter dem Einfluss Kierkegaards371 entstandene Wahrheitsbegriff: „Wahrheit geschieht nur in der Gemeinschaft von zweien“372; Wahrheit ist dialogische Wahrheit, und Leben ist Leben im Dialog – mit Christus und von da aus auch mit den Menschen. Der Reiz des philosophischen Dialogismus dürfte für Bonhoeffer jedenfalls auch, wenn nicht sogar in erster Linie, in seiner oben bereits erwähnten Anschlussfähigkeit an Luthers Theologie liegen. Zwar zeichnet sich Bonhoeffers Rezeption der Grundkategorien des Dialogismus Grisebachs dadurch aus, dass diese zugleich einer fundamentalen Kritik unterzogen werden373. Dennoch bestehen bei ganz wesentlichen Elementen Anknüpfungspunkte, so dass Bonhoeffers Ethik-Konzeption mit ihrer dialogischen Christologie jedenfalls auch als moderne Luther-Revision gelesen werden darf – und vermutlich soll. Das betonte „von außen“ und „außerhalb“ ist, darauf wurde bereits hingewiesen, eine den Dialogismus Grisebachs mit seiner Kritik an der Transzendentalphilosophie und Luthers Rechtfertigungslehre verbindende Formulierung. Zwar fehlt in Bonhoeffers Ausführungen jeder Bezug auf den forensischen Aspekt von Luthers Gerechtigkeitsbegriff; doch gerade dessen Betonung der Externität des Heilsgeschehen, die im Gedanken der zugerechneten fremden Gerechtigkeit liegt374, ist in Bonhoeffers dialogischer Reinterpretation als von Christus herkommendes Geschehen der Begegnung zwischen Christus und Mensch verwirklicht. Wenn zudem Luther Rechtfertigung als Sprachgeschehen auffasst, indem der Mensch die Gerechtigkeit Gottes in resp. von 370

DBW 12, 298. Dieser Einfluss wird freilich durch diese Interpretationsergebnisse nicht in Frage gestellt, sofern der Dialogismus, und gerade auch derjenige Grisebachs, seinerseits erheblich, wenn nicht maßgeblich von Kierkegaard beeinflusst worden ist. Dies ließe sich nicht nur sachlich zeigen, sondern wird auch bestätigt durch die Idealismus-Kritik Emanuel Hirschs von einer dem Dialogismus mindestens sehr nahe stehenden Position, die aber offenkundig nicht vom zeitgenössischen Dialogismus, sondern von Kierkegaard beeinflusst worden ist, vgl. dazu o. B.II.3.a. 372 DBW 12, 298. 373 S.o. B.II.3.a. 374 Vgl. z. B. die Scholie zu Röm 1,1 (WA 56, 158): Deus enim nos non per domesticam, sed per extraneam justitiam et sapientiam vult salvare, non que venit et nascitur ex nobis, sed que aliunde veniat in nos, non que in terra nostra oritur, sed que de celo venit. Igitur omnino externa et aliena justitia oportet erudiri. S. auch WA  40.2,  353 (Enn.Ps. 51): Misericordia et miseratione es iustus. Das ist nicht meus habitus vel qualitas cordis mei, sed extrinsecum quoddam, scilicet misericordia divina, quod scimus peccatum nostrum remissum et quod vivimus in suis misericordiis et miserationibus multis et magnis. 371

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Christus zugesprochen wird, dann ist es gerade die Dimension sprachlich vermittelter personaler Beziehung, um die es bei der Gerechtmachung des Menschen geht, d. h. also um das Personwerden des Menschen im Hören des Versöhnungswortes, d. h. in der glaubenden Bezogenheit auf Christus. „Im Unterschied zur Weltoffenheit der Renaissance war Luther kein Augenmensch, sondern (hierin noch echt MAlich […]) ein solcher des Hörens. Das bedeutet: für Luther ist ‚Wort‘ nicht einfach verbale Information (dies ist die profantheologische Einstellung der Gegenwart), vielmehr ‚viva vox‘ […], d. h. Lebensbezug von Person zu Person: ‚Verbum Dei nonnisi auditu percipitur‘ […]“375.

Damit hat Luther einerseits das scholastische Substanzdenken weit hinter sich gelassen, andererseits aber auch dem Begriff der iustitia Dei einen Impuls über das forensische Verständnis hinaus verliehen hin zu einer existentiellpersonalen Auffassung von Gerechtigkeit, die sich im Dialog Gottes mit dem Menschen verwirklicht. „Wie sehr Luther dabei den Rahmen des Vorgegebenen sprengt, wird […] an drei Beobachtungen besonders deutlich. Weder die Kennzeichnung von persona durch individuum trifft hier zu […] noch gilt die Kennzeichnung als incommunicabilis […]; auch die Kategorie der Substanz ist hier nicht mehr verwendbar: hat doch die Person ihr Sein extra se, getragen von dem sie konstituierenden Wort. Oder dieses Dreifache auf ein einziges reduziert: fides facit personam.“376

Umgekehrt lässt sich aus Bonhoeffers Beschreibung des Versöhnungsgeschehens mit Kategorien des Dialogismus die Voraussetzung erheben, oder eigentlich: erfahren, dass nämlich der in Christus offenbare, den Menschen anredende Gott in seinem Wesen selbst dialogisch bzw. personal strukturiert ist. Dabei ist für Bonhoeffer argumentativ unerheblich, ob bzw. inwiefern es sich bei der Entfaltung des göttlichen Seins in Beziehung in der Offenbarung um eine Verwirklichung des logisch, nicht zeitlich, schon vor der Menschwerdung so zu beschreibenden Wesens Gottes handelt, das dann als immanente Relationalität377 zu beschreiben wäre, wie Barth dies unter Rückgriff insbesondere auf Augustins Trinitätslehre tut. Entscheidend ist, dass sich das relationale Wesen Gottes ein für alle mal in der Christus-Offenbarung für den Menschen verwirklicht hat, und zwar in doppelter Hinsicht: als für den Menschen erkennbares Sein für den Menschen. Von diesem Faktum der 375 Vgl. Beyschlag, Dogmengeschichte II.2, 341, dort auch Belege für die beiden Luther-Zitate; ebd.f.: „Grundlegend für Luthers Auffassung vom ‚verbum externum‘ sind drei Grundmerkmale: (1) Verbalität, (2) Personalität, (3) Externität.“ 376 Ebeling, Lutherstudien II.3, 204 f. (meine Hervorhebung). 377 Vgl. die dogmengeschichtlich sehr bedeutsamen Ausführungen von Augustinus zur Anwendung der aristotelischen Kategorie der Relation auf die göttliche Trinität in De Trinitate (liber V). Freilich geht es dabei um die Ursprungsrelationen der substanzgleichen göttlichen Personen, die zueinander im Verhältnis von auctor, unigenitus und donum stehen; diese Bedeutung von Relationalität hat daher wenig mit dem personalistischen Verständnis bei Barth und Bonhoeffer zu tun.

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Offenbarung aus, das für Bonhoeffer am Anfang aller Glaubenserfahrung und aller dem Glauben nachdenkenden Theologie steht, lässt sich dann mit Recht sagen, dass „es keinen Gott an sich gibt“378, obwohl es sich dabei vordergründig um einen äußerst anstößigen Satz handelt, weil er Bonhoeffers theologisches Denken in eine bedenkliche Nähe ausgerechnet zu Hegel zu rücken scheint. Doch zweifellos ist damit nicht die begriffsnotwendige Dialektik von Unendlichem und Endlichem gemeint, sondern die Selbstbestimmung Gottes, Gott für den Menschen im Dialog zu sein, und also das, was Bonhoeffer in der Christologievorlesung wohl ungefähr so formuliert hat: „Kraft welcher Personstruktur ist Christus der Kirche gegenwärtig? […] Die ‚Pro-meStruktur‘ ist es. Das Sein der Person Christi ist wesenhaft Bezogenheit auf mich. Sein Christus-Sein ist sein Pro-me-Sein. Dieses Pro-me will nicht verstanden sein als eine Wirkung, die von ihm ausgeht, als ein Accidenz, sondern es will verstanden werden als das Sein der Person selbst. Der Person-Kern selbst ist pro me. Dieses ist […] eine ontologische Aussage […]. Es ist nicht nur wertlos, über einen Christus an sich nachzudenken, sondern gottlos, eben weil Christus nicht an sich da ist, sondern Dir da ist.“379

Wenn aber Gott in Christus der Gott für den Menschen ist, dann ist die Bestimmung des Menschen als Bild Christi, aus dieser Beziehung heraus zu leben. Darin ist aber zugleich inbegriffen, dass auch zwischen Mensch und Mensch sich personale Begegnung ereignet; der auf Christus bezogene und von ihm seine lebendige Personalität empfangende Mensch ist für Bonhoeffer nur so zu denken, dass er als solcher zugleich auf den anderen Menschen bezogen ist. Es besteht damit zwischen dem Für-den-Menschen-Sein Gottes in Christus und dem Für-den-Anderen-Sein des Menschen sowohl ein analoges Verhältnis als auch ein Begründungsverhältnis, weil die personale Beziehung zwischen Mensch und Mensch allein dadurch ermöglicht wird, dass der Mensch in der Christus-Beziehung überhaupt lebendige Person wird und sich dadurch seine Bestimmung zur menschlichen Gemeinschaft380 verwirklichen kann381. Zwar expliziert Bonhoeffer diesen Gedanken hier nicht näher, aber die, teilweise etwas missverständlichen, Formulierungen meinen zweifellos das, was er Jahre zuvor in seiner Auslegung von Gen 1, 26 in 378

E 253. DBW 12, 295 f., mit Bezug auf Luthers Wort: „Darumb, das ein anders ist, wenn Gott da ist, und wenn er dir da ist.“ (WA 23, 150 f.). 380 Wirkliche Gemeinschaft kann dabei nur die Kirche sein, in welcher die Menschen durch die Beziehung auf Christus, durch den Glauben, personal und empirisch-konkret miteinander verbunden sind. Weil die Kirche aber nach außen gerichtet ist, sofern Christus der Herr der Welt ist, zielt die Bestimmung des Menschen zur Gemeinschaft prinzipiell auf jedes denkbare menschliche Verhältnis ab. Dem entspricht der universale Verantwortungsbegriff, den Bonhoeffer entwirft: er ist gerade nicht auf die innerkirchliche Gemeinschaft begrenzt, sondern hat seinen Geltungsbereich in der gesamten Existenz mit allen zugehörigen Strukturen. S. dazu u. B.II.4.c. 381 S. ZE Nr. 11: „Nächsten Liebe nicht als ‚ethisch‘ zu trennen von Gottesliebe,“ 379

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Schöpfung und Fall ausgeführt hat, dass nämlich der Mensch von Gott her dazu bestimmt ist Gemeinschaft mit dem anderen Menschen zu haben, so dass die Gottesbeziehung also notwendig mit der Beziehung auf den Anderen verknüpft ist – und beide Personverhältnisse durch das Verhältnis zu Christus vermittelt sind, wenn auch in je verschiedener Weise: „Es gibt keinen Menschen an sich […]. Es gibt kein Verhältnis zum Menschen ohne ein Verhältnis zu Gott und umgekehrt. Wiederum begründet das Verhältnis zu Jesus Christus erst unser Verhältnis zu den Menschen und zu Gott. Wie Jesus Christus unser Leben ist, so darf nun – von ihm her! – auch gesagt werden, daß der andere Mensch und daß Gott unser Leben ist […]“382.

Wenn Bonhoeffer hier allerdings die Beziehung des Menschen zu Gott und zum Anderen scheinbar in eine Parallelität zueinander setzt, so steht dahinter sein Bemühen, die exklusive Heilsvermittlung in Christus so stark wie möglich zu betonen383. Denn die eben zitierten Formulierungen suggerieren, dass die Beziehung des Menschen auf Gott und den anderen Menschen unmittelbar und in gleicher Weise darin begründet seien, dass Christus Gott und Mensch zugleich ist, was tatsächlich von Bonhoeffer nicht gemeint ist, da das Begründungsverhältnis ja dezidiert einseitig gefasst wird: Gott ist es, der im ‚Gottmenschen‘ Jesus Christus Subjekt des Heils ist, indem er Mensch wird, stellvertretend die Schuld trägt und aufersteht384. Darum ist der Mensch ant382

E 253. Weil es sich um einen für die Theologie Bonhoeffers ganz zentralen Gedanken handelt, sei die entsprechende Passage aus Schöpfung und Fall hier zur Verdeutlichung auszugsweise zitiert (SF 60 f.): „Der Mensch ist nicht allein, er ist in Zweiheit und in diesem Angewiesensein auf den anderen besteht seine Geschöpflichkeit […] Das ‚Bild, das Gott ähnlich sei‘ [vgl. Gen 1,26.28], ist […] keine analogia entis, bei der der Mensch in seinem Anund-für-sich-sein, in seinem Sein, Gott ähnlich wäre. Eine solche analogia zwischen Mensch und Gott gibt es schon darum nicht, weil Gott, der allein an-und-für-sich-seiende in seiner Aseität, doch zugleich als der für sein Geschöpf Seiende, seine Freiheit an den Menschen bindende, sich gebende, nicht allein seiende gedacht werden muß, sofern er der Gott ist, der in Christus sein ‚für den Menschen Sein‘ bezeugt. Die Analogia des Menschen zu Gott ist […] analogia relationis […], relatio ist […] geschenkte, gesetzte Beziehung, justitia passiva […]. Analogia relationis ist darum die von Gott selbst gesetzte Beziehung und nur in dieser von Gott gesetzten Beziehung analogia. Beziehung von Geschöpf zu Geschöpf ist gottgesetzte Beziehung […]“. 383 Dieses Anliegen kommt auch in dem wohl von Brunners Christologiebuch (Brunner, Mittler) übernommenen Christus-Titel „Der Mittler“, zum Ausdruck, der in Bonhoeffers Theologie der mittleren Jahre eine wichtige Rolle spielt, vgl. DBW 12, 307 ff.; N 47.88 ff. u. ö. 384 De facto handelt es sich bei diesem Gedanken um die altkirchliche (neochalcedonensische) Lehre von der Enhypostasie. Zwar scheint Bonhoeffer in der Christologievorlesung sich Harnacks Kritik daran („feiner Apollinarismus“, vgl. DBW 12, 31980) angeschlossen zu haben. Gleichwohl vertritt er sachlich in der Nachfolge (N 227 f.), im Weihnachtsrundbrief von 1939 (DBW 15, 539–543) und in der Ethik (s. u.) die Auffassung, wonach Jesus Christus nicht einen Menschen von „hypostatische[r] Individualität“, sondern die menschliche Natur angenommen habe (Beyschlag, Dogmengeschichte II.1, 179 f.), vgl. N 228: „Die Väter der Kirche haben bei der Betrachtung dieses Wunders mit Leidenschaft darum gestritten, daß hier gesagt werden müsse, Gott habe die menschliche Natur angenommen […]. Das heißt […] Gott nahm die ganze abgefallene Menschheit an; nicht aber: Gott nahm den Menschen

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wortend auf Gott bezogen. Auf den Anderen darf er – von da aus und nur von da aus – bezogen sein, weil Gott Mensch und Welt seiner Ansprache würdigt; dass das Verhältnis zum Mitmenschen aber ein anderes ist als zur Welt, nämlich ein dialogisch-personales, ist allein darin begründet, dass der Mensch zum Personsein geschaffen und in der Versöhnung dazu (wieder) befreit ist, so dass man in gewisser Weise sagen kann, dass der gottbezogen lebende Mensch nun auch notwendigerweise personal auf den Anderen bezogen ist385. Es bleibt darum sachlich bei dem asymmetrischen, d. h. unumkehrbaren und nur konkret, d. h. im Glauben wirklichen Analogieverhältnis, das er schon in Schöpfung und Fall entwickelt hat386: Sozialität wird als anthropologisches Jesus an.“ Möglicherweise bezieht sich die Kritik aus der Christologievorlesung aber vorwiegend auf die Begrifflichkeiten, die suggerieren könnten, dass damit die menschliche Natur in Christus in irgendeiner Weise verkürzt würde (vgl. Beyschlag, aaO. 180 f.). In den eben genannten späteren Stellen ist diese Gefahr einer „verfeinerten Gestalt des Doketismus“ (DBW 12, 319) für Bonhoeffer allerdings kein Thema mehr. Vgl. z. B. E 71.253.257 f., an diesen Stellen heißt es, dass Gott „die Menschheit“ leibhaftig angenommen habe, dass er „menschliches Wesen“ angenommen habe, dass Jesus Christus „der Mensch und Gott in einem“ ist (meine Hervorhebung), dass Jesus „in sich das Ich aller Menschen aufgenommen hat und trägt“. Entscheidend ist für Bonhoeffer bei dem unausgewiesenen Rückgriff auf diese Lehre allerdings weniger die Frage, wie die Personeinheit Christi gewährleistet werden kann (vgl. das Verwerfen der „Wie-Frage“ DBW 12, 283 ff.); vielmehr ist für ihn der bedeutsame Aspekt hieran die soteriologische Inklusivität, die darin besteht, dass Gott die menschliche Natur, d. h. in ihrer Sündigkeit und in ihrer Universalität, angenommen hat und folglich Jesus stellvertretend für alle Menschen gestorben ist. 385 Man muss diesen Gedanken, auch wenn er von Bonhoeffer in der Ethik nicht explizit genannt wird, hier als Begründungsglied nennen, weil andernfalls die Formulierungen unverständlich bleiben. Wenn tatsächlich die Begegnung von Mensch zu Mensch genauso aus dem Christusgeschehen abgeleitet würde, wie die Begegnung von Gott und Mensch, weil Christus der ‚Gott-Mensch‘ ist, handelte es sich um einen seltsamen Kurzschluss aus der nun als notwendig zu denkenden Inkarnation auf das Menschsein post Christum. Dies widerspräche nicht nur Bonhoeffers Deutung der Offenbarung als rein kontingentes Geschehen, sondern auch seiner Interpretation der Gottebenbildlichkeit in Schöpfung und Fall, die umgekehrt seine schwierigen Aussagen aus der Ethik erhellt. 386 Dass Bonhoeffer den Analogiebegriff später nicht mehr verwendet, obwohl er in der Sache daran festhält, wie sich gezeigt hat, dürfte damit zusammenhängen, dass er die Debatte zwischen Barth und Przywara, in die er sich noch ausführlich in Akt und Sein auf Seiten von Barth eingeschaltet hatte und auf die er stichwortartig in Schöpfung und Fall verweist (s. o. B.II.3.b), nicht revozieren möchte. Wie das Barth-Buch von Balthasar mit seiner ausführlichen Thematisierung von Barths theologischem Analogiebegriff zeigt, hat sich diese konfessionelle Differenz nämlich auch 1951 noch nicht erledigt. Sie hätte aber weggeführt von Bonhoeffers Arbeit an einer konkreten Ethik hin zu einer dogmatischphilosophischen Auseinandersetzung über Sein und Analogie, die er in den späteren Jahren im Unterschied zu früher nicht mehr bereit war zu führen. Sein theologisches Denken wird nun dominiert von einem – auf den frühen dogmatischen Arbeiten aufbauenden – praktischethischen Interesse, das zudem zeitgeschichtlich dringlich ist und keine solchen Umwege mehr erlaubt. Die in Akt und Sein dargelegte Position Bonhoeffers bleibt freilich in ihren Grundzügen, wenn auch nicht in den Formulierungen, unverändert, dass nämlich im Gedanken der analogia entis zwischen Gott und Geschöpf „eine Kontinuität der Seinsweise im status corruptionis und status gratiae eingeschlossen“ ist (AS 68), die weder dem lutherischen Verständnis der Sünde entspricht noch erlaubt, Gott in der Weise als concretissmum auf-

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Charakteristikum gedacht, das aber nur als Entfaltung des personalen Verhältnisses des Menschen zum menschgewordenen Gott richtig verstanden wird und allein von daher auch angemessen inhaltlich zu beschreiben ist. Dieser für das wahre Menschsein konstitutive, existentielle resp. personale Bezug auf Christus und – darin – auf den anderen Menschen ist von Bonhoeffer formal als dialektische Einheit von Selbstbejahung und Selbstverneinung beschrieben worden387. Damit entspricht das antwortende Handeln dem Verhältnis, das Christus zum Menschen aufgerichtet hat, nämlich Verwerfung und Versöhnung, Nein und Ja, wie Bonhoeffer immer wieder formuliert und wie es bereits im vorigen Kapitel ausgeführt wurde. Das Bindeglied zwischen diesem von Bonhoeffer unter dem Einfluss der Lebensphilosophie entwickelten dialektischen Lebensbegriff und dessen personalistischer Ausdeutung ist dabei der für die gesamte Ethik zentrale christologische Topos, und zwar die Inkarnation. Denn weil sich Gericht und Annahme des Menschen im Christusgeschehen ganz konkret leiblich vollziehen, indem Gott Mensch wurde, als Mensch starb und auferstanden ist, geht es auch um den ganzen Menschen, der in seiner leiblich-geistig-seelischen Verfasstheit Adressat des Wortes Gottes ist. Personsein ist so keineswegs eine von der natürlichen Existenz abstrahierbare eigene Dimension des Menschseins, sondern die Verwirklichung des wahrhaften Menschseins in seiner Natürlichkeit. Hören und Handeln als die zusammengehörigen Vollzugsweisen des personalen Lebens sind darum in ihrer konkretesten Weise zu denken als wirkliches Hören und wirkliches Tun, so wie auch biologisch-natürliche Erscheinungsformen des Menschseins wie Wachsen und Vergehen Ausdruck des Urteils Gottes über den Menschen, d. h. also der Beziehung Gottes zum Menschen, sind. Darum ist das Handeln des Menschen von der gleichen Ambivalenz gekennzeichnet wie jene, mehr noch: es ist darauf immer bezogen, weil es immer auch begründet ist in der natürlichen Verfasstheit und auf diese zurückwirkt388. Dass zufassen, wie es für das reformatorische Denken in Bonhoeffers Deutung kennzeichnend ist. Denn „Gott ist nicht primär das Ist schlechthin, sondern er ‚ist‘ vielmehr der Gerechte, er ‚ist‘ der Heilige, er ‚ist‘ die Liebe“ (aaO. 69), d. h. also Gott ist für den Menschen immer nur der Gott, der sich als Gott für den Menschen bestimmt, indem er sich in Christus offenbart. 387 S. dazu die teilweise bereits zitierte Stelle E 253: „Wir ‚leben‘, indem sich in unserer Begegnung mit den Menschen und mit Gott das Ja und das Nein zu widerspruchsvoller Einheit verbindet, zu selbstloser Selbstbehauptung, zur Selbstbehauptung in der Selbstpreisgabe an Gott und die Menschen.“ Man beachte die Reihenfolge: erst die Menschen, dann Gott (so im Kontext noch mehrfach). Das dürfte Ausdruck nicht einer Wertigkeit oder (schon gar nicht einer) Begründungsreihenfolge sein, sondern dem Anliegen Bonhoeffers geschuldet sein, eine Ethik zu entwerfen: Das Handeln der Menschen in der Welt und aneinander ist Gegenstand des theologischen Überlegens. 388 In exzeptioneller Weise hat Bonhoeffer diese ambivalente Einheit von Selbstbejahung und Selbstverneinung nicht einmal ein Jahr später erfahren: Seine Existenz im Gefängnis erlebt er selbst als von „Widerstand und Ergebung“ gekennzeichnet, als immer wieder neu „zwischen Ja und Nein eingespannt“ (E 251) – und zwar durchaus auch leiblich-konkret. Vgl. dazu die Passage, die der Briefsammlung ihren Titel gegeben hat (WE 333 f.): „Ich habe

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die Ambivalenz im Handeln nicht einen Dualismus bedeutet, der dazu führt, dass sich das Personverhältnis in aporetische Konflikte auflöst, wie es aus dem Ansatz Grisebachs resultiert, ist die Verheißung, unter der für Bonhoeffer der versöhnte Mensch schon jetzt steht: das Existieren und Handeln aus dem Glauben heraus, das lebendige Personsein in den vielfältigen und komplexen menschlichen Verhältnissen ist ein Leben aus der konkreten Einheit von Ja und Nein heraus; es ist ein Handeln in „Nüchternheit und Einfalt“ aus der „vollzogenen Einheit der Welt mit Gott“ in Jesus Christus.

4. Verantwortung – Herkunft und Verwendung eines neuen ethischen Begriffs Bonhoeffers christologisch begründeter Personbegriff zeichnet sich durch die modifizierende Rezeption bedeutsamer Elemente des Personbegriffs des Dialogismus aus. Dabei sind es nicht allein die Wendung gegen Transzendentalphilosophie und Idealismus und die Verbindung des Wirklichkeitsbegriffs mit dem Geschehen der Begegnung von Ich und Du, die schon den ganz frühen Zugriff Bonhoeffers auf das Denken Grisebachs bestimmt haben. Seit Sanctorum Communio gehört zu Bonhoeffers theologisch bzw. christologisch begründetem Personbegriff die ethische Wendung, welche Bonhoeffer ihm in Anschluss an Grisebach gegeben hat, indem er wie dieser die personale Begegnung als Geschehen der Verantwortung charakterisiert hat389. Zwar hat Bonhoeffer die völlige Ethisierung der dialogischen Konzeption bei Gogarten und Grisebach kritisiert390; doch auf dem Fundament der christologischen Entfaltung des Personbegriffs bildet Grisebachs ethische Deutung der Wirklichkeit den wichtigsten Aspekt für Bonhoeffer. Es ist darum eine konsequente Entwicklung seines theologischen Denkens, die ihn dazu geführt hat, den christologisch begründeten Verantwortungsbegriff sachlich ins Zentrum seiner Ethik zu stellen, weil er die Schaltstelle zwischen Christologie und Ethik darstellt. Was dies genau bedeutet, ist damit freilich noch nicht geklärt, weil die konzeptionelle Position des Verantwortungsbegriffs dazu genauer bestimmt werden muss. Wenn von Grisebach mit dem Begriff Verantwortung einfach das ganze Geschehen der personalen Begegnung beschrieben wird, in der das Ich den mir hier oft Gedanken darüber gemacht, wo die Grenzen zwischen dem notwendigen Widerstand gegen das ‚Schicksal‘ und der ebenso notwendigen Ergebung liegen […]. Die Grenzen zwischen Widerstand und Ergebung sind […] prinzipiell nicht zu bestimmen; aber es muß beides da sein und beides mit Entschlossenheit ergriffen werden. Der Glaube fordert dieses bewegliche, lebendige Handeln. Nur so können wir unsere gegenwärtige Situation durchhalten und fruchtbar machen.“ 389 SC 28 f. u. ö. 390 S.o. B.II.3.b.

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mit seiner eigenen Existenz konfligierenden Anspruch des Du akzeptiert und dadurch als Herausforderung für eben seine eigene Existenz erfährt, erhält dieser Begriff zwar eine zentrale Position innerhalb der Konzeption. Er bleibt aber seinerseits inhaltlich eher unbestimmt, was in erster Linie der Intention geschuldet ist, das Geschehen der Wirklichkeit der Vergegenständlichung des transzendentalen Denkens zu entziehen391. Bonhoeffer dagegen übernimmt zwar mit dem Begriff auch den systematischen Ort, die existentielle, unreflektierbare Begegnung von Ich und Du, erweitert und präzisiert aber den Verantwortungsbegriff und bezieht seinen systematischen Ort auf dessen Begründung, das Christusgeschehen. Verantwortung wird damit in noch umfassenderer Weise als bei Grisebach zu der zentralen Kategorie eines (christlich-) ethischen Handlungsbegriffs. Dabei greift Bonhoeffer auch auf Bedeutungsaspekte des Verantwortungsbegriffs zurück, die bei Grisebach nicht im Blickfeld sind und die einerseits dem zeitgenössischen politischen bzw. politiktheoretischen Kontext entstammen und andererseits mit der Verwendung des Begriffs im Bereich der Rechtsprechung und der Alltagssprache verbunden sind. Gerade wegen dieser Ausweitung des dialogischen Verantwortungsbegriffs muss Bonhoeffers Konzept aber als im zeitgenössischen Kontext originelle theologische Antizipation ethischer Reflexionsperspektiven gelesen werden. Denn erst mit dem Ende des 19. Jahrhunderts beginnt überhaupt die Konzentration auf den Verantwortungsbegriff als einen ethischen Schlüsselbegriff, ausgehend von der politischen Theorie her und begleitet von rechtsphilosophischen, existenzphilosophischen und auch schon theologischen Reflexionen. Als ursprünglicher Kontext des begriffsgeschichtlich recht jungen Wortfeldes ‚verantworten‘/‚Verantwortung‘ gilt dabei die Rechtsprechung392. Nach Grimm393 hat sich ‚verantworten‘ samt Derivaten im Deutschen erst während des 15. Jahrhunderts ausgebildet mit einem, seiner etymologischen Herkunft von ‚antworten‘ folgend, zunächst eher unspezifischen Bedeutungsfeld, das sowohl einfaches dialogisches antworten als auch die engeren, zum Teil juridischen, Bedeutungsaspekte wie sich rechtfertigen, etwas bewirkt haben, Schuld haben an etwas, für etwas oder jemanden Sorge tragen394 umfasst. Sein Bezugsgegenstand ist demzufolge das Verhältnis von Subjekt und Handlung im Hinblick auf den anvertrauten Handlungsbereich, also den intentionalen Rahmen (Sachbereiche oder Personen), einerseits und das Problem der Zu391

S. dazu ausführlich o. B.II.3.a. Vgl. Bayertz, 19. Zur Begriffsgeschichte s. Bayertz, Verantwortung, 3–71; Lenk/ Maring, Verantwortung, Sp. 566–575; Wittwer, Verantwortung I, 574–577; Kress, Verantwortung II, 577–581. 393 Vgl. Grimm, Wörterbuch, Sp. 79–82. 394 Erkennbar an dem transitiven Gebrauch, während der Aspekt der Rechtfertigung einen intransitiven, reflexiven Gebrauch des Verbums erfordert. 392

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rechnung und daraus folgenden Beurteilung andererseits395. Dieses juridische Bedeutungsspektrum spiegelt sich auch in Bonhoeffers Konzept von Verantwortung. Die Erweiterung der Perspektive hin zur systematischen philosophischethischen Durchdringung findet wohl mit der Dissertation von Wilhelm Weischedel mit dem Titel Das Wesen der Verantwortung396 statt. Dass Bonhoeffer sich mit dieser Arbeit befasst hätte, kann allerdings nicht nachgewiesen werden und ist daher eher unwahrscheinlich. Zu nennen ist abgesehen von Brunners vom Dialogismus beeinflusster Verantwortungskonzeption397 auf dem Gebiet der Theologie noch Albert Schweitzers Kulturphilosophie von 1923, in welcher eine neue Ethik der Verantwortungen aus der Gesinnung einer ‚Ehrfurcht vor dem Leben‘ abgeleitet wird. Ob sich Bonhoeffer mit diesem Werk selbst beschäftigt hat, ist aber sehr fraglich, ein Einfluss auf seinen Verantwortungsbegriff darum nicht anzunehmen. Die kritische Bemerkung zu Schweitzers Leitidee der Ehrfurcht vor dem Leben in einer Bethge-Mitschrift aus Finkenwalde398 belegt jedenfalls keine eigene Lektüre (die auch sonst nicht nachgewiesen werden kann). Von Bedeutung für die zunehmende Verwendung des Verantwortungsbegriffs und dessen theoretische Durchdringung ist aber vor allem der politische Kontext und hier wieder besonders die Deutung und die zentrale Position, welche Max Weber ihm 1919 in seinem auch Bonhoeffer bekannten Vortrag Politik als Beruf gegeben hat. Mit der darin proklamierten politischen Verantwortungsethik beginnt schließlich die Herausbildung des Verantwortungsbegriffs als einer Grundkategorie der Ethik. Wenn Bonhoeffer selbst im Zusammenhang der Konstruktion des Verantwortungskonzepts namentlich auf Max Weber und Otto von Bismarck verweist399, macht er damit einen gedanklichen Zusammenhang explizit, der auch für die spätere – erst nach 1945 395 Bayertz hebt diesen zweiten Aspekt als den wesentlichen hervor (Bayertz, Verantwortung, 5), weist aber darauf hin, dass für die Beurteilung einer Handlung im Hinblick auf die Zurechenbarkeit der Handlung und ihrer Folgen auch „subjektive Randbedingungen“ berücksichtigt werden müssen, nämlich „die Intention des Handelnden und die Möglichkeit der Voraussicht der Folgen“ (aaO.  8). Voraussetzung für die Anwendung des Verantwortungsbegriff ist außerdem ein Konzept von Freiheit (aaO. 9–13). Allerdings ist bei dieser Begriffsbestimmung das Element der verpflichtenden Sorge für etwas oder jemanden, die Zuständigkeit oder Pflicht, der intentionale Rahmen, marginalisiert. Es geht aber beim Verantwortungsbegriff eben nicht nur um Schuld, also ob jemand wissentlicher Verursacher bestimmter schädlicher Folgen ist, sondern auch um das „Objekt der Verantwortung“ (aaO.  16). Die Rechtfertigung einer Tat und ihrer Folgen geschieht darum üblicherweise auch unter Verweis auf das übergeordnete Handlungsziel, den Fürsorgebereich, der ein bestimmtes Handeln erfordert(e) oder nahe legt(e). Der Vorzug dieses Begriffs ist es darum, beide Aspekte unmittelbar miteinander zu verbinden. 396 Im Jahre 1933 bei Martin Heidegger in Freiburg. 397 In Der Mensch im Widerspruch (1937). 398 Vgl. N 12284. 399 E 254.

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aufkommende – Dominanz dieses Begriffs in der ethischen Theorie insgesamt gilt, wenn sich auch die Konzepte inhaltlich von Weber emanzipieren400. Bonhoeffer waren darum wohl bei der Konzeption der Ethik außerdem der noch eher marginale juridische sowie der neuere politische Gebrauch des Begriffs bekannt; auf beide bezieht er sich aber direkt und indirekt und fügt so dem ja erstmals unter dem Einfluss von Grisebachs Dialogismus verwendeten personalen Verantwortungsbegriff neue Aspekte hinzu. Damit sind zunächst drei maßgebliche Referenzen – Alltagsprache und Rechtsprechung, Dialogismus, Politische Theorie – für Bonhoeffers Verantwortungsbegriff bezeichnet. Die sich daraus ergebenden unterschiedlichen Aspekte von Verantwortung werden von Bonhoeffer allerdings auch biblisch reflektiert unter Bezug auf den alttestamentliche Gebrauch von āčď im Sinne von ‚sich verantworten‘401, auf den er selbst verweist – auch wenn er zugestehen muss, dass dieser Begriff „in der Bibel […] kaum an so hervorragender Stelle [begegnet]“402. Da der alttestamentliche Begriff von Verantwortung sich zumeist durch die Verwendung von āčď, das ja die Grundbedeutung ‚reagieren, erwidern‘ hat403, im Kontext eines Rechtsstreits auszeichnet, besteht hier eine enge Verbindung zu dem juridisch genannten Gebrauch. Auf alle diese Referenzen wird – soweit erforderlich404 – im jeweiligen Kontext kurz eingegangen werden. Aus Bonhoeffers origineller und der Intention nach die zeitgenössisch bekannten Verantwortungskonzepte umfassender theologischer Deutung des Verantwortungsbegriffs ergeben sich nun bestimmte inhaltliche Aspekte, die teils von den anderen Verantwortungskonzepten direkt beeinflusst sind, teils aber auch ganz eigenständig von ihm entwickelt wurden. Es handelt sich dabei erstens um den Gedanken der existentiellen Lebensäußerung des personalen Glaubensverhältnisses als Verantwortung, zweitens um die darin enthaltene ethisch-soziale Bezogenheit auf den anderen Menschen („Stellvertretung“) und drittens um die notwendige konkrete Folgenabschätzung des Handelns 400 Zur neueren und neuesten Entwicklung der Verantwortungsethik vgl. ausführlich Picht, Wahrheit, passim; Bayertz, Verantwortung, passim. 401 Dies hat sich freilich nicht auf den neutestamentlichen Sprachgebrauch ausgewirkt, insofern der griechische Begriff für āčď in der Septuaginta, ŁĚęĔěưėęĖċē, dort keine Rolle spielt  –  zumal sowohl das klassische Griechisch als auch das klassische Latein überhaupt einen Begriff mit dieser spezifischen Bedeutung nicht kennen. Bei dem Sprachgebrauch der LXX handelt es sich also um eine Ableitung, die sich außerhalb dieses engen biblischen Kontextes offenbar kaum niedergeschlagen hat. Ähnliches gilt auch für das lateinische respondere, welches die Vulgata bietet und das später die Ausbildung eines entsprechenden Begriffs von Verantwortung in den romanischen Sprachen und im Englischen beeinflusst hat. Im klassischen Latein gibt es unterschiedliche Konstruktionen, um das mit dem Verantwortungsbegriff gemeinte – besonders im Gerichtskontext – auszusagen. Diese werden aber sämtlich nicht mit respondere gebildet; ebenso verhält es sich im Griechischen (dort etwa ĕƲčęėĎưĎęėċē, ŁĚęĕęčďȉė). 402 E 255. 403 Vgl. Stendebach, Art.āčď I, Sp. 235. 404 Für Grisebach s. o. B.II.3.

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unter Berücksichtigung der personal-christologisch gedeuteten Wirklichkeit („Wirklichkeitsgemäßheit“). Die Bedingung aber, unter der allein der Gebrauch des Begriffs Verantwortung sinnvoll möglich ist, ist ein Konzept von Freiheit. Nach Bonhoeffers eigener Strukturierung des Abschnitts wird Freiheit dem Verantwortungsbegriff doppelt zugeordnet, einmal als eines von vier Merkmalen des Verantwortungsbegriffs, davor aber schon als einer von zwei übergeordneten Aspekten, nämlich Freiheit und Bindung405; daran ist schon ersichtlich, dass dem Freiheitsgedanken besonderes systematisches Gewicht zukommt, insofern er logische Voraussetzung eines stringenten Begriffs von Verantwortung ist. Bonhoeffers Entfaltung des Freiheitskonzepts, wonach Freiheit, personale Bindung und Gehorsam gegenüber dem Gebot, sowie die Begrenzung von Freiheit und die damit verbundene freie Bereitschaft zur Schuldübernahme miteinander verbunden werden, wird im Ganzen erst nach der Erläuterung der beiden Elemente der Bindung, Stellvertretung und Wirklichkeitsgemäßheit, ausführlich behandelt werden; was in kategorialer, nicht in inhaltlicher, Hinsicht mit Bindung als Komplementärbegriff der Freiheit gemeint ist, wird sich entsprechend erst im Zusammenhang mit dem Freiheitskonzept erschließen. Zuerst wird aber die personale Dimension des Verantwortungsbegriffs behandelt; darin erhält das verantwortliche Tun unter Bezugnahme auf den juridischen Gebrauch des Verantwortungsbegriffs seine grundlegende christologische Zuspitzung, indem es als Ausdruck der praktisch-existentiellen Christusnachfolge begriffen wird. a) Verantwortung als Antwort Die Lebensäußerung des Glaubens wurde von Bonhoeffer bisher beleuchtet als Handlung im in das geschichtliche Leben eingebundenen existentiellen Augenblick des ganzen, auf Christus personal bezogenen Menschen. Dabei ist diese Tat formal zu beschreiben als die je neue und konkrete dialektische Vermittlung der fundamentalen Gegensätze des Lebens, der Selbstverneinung und der Selbstbejahung. Nun führt Bonhoeffer zunächst einfach einen Begriff ein, der die bisherigen Aspekte in sich begreift: „Dieses Leben als Antwort auf das Leben Jesu Christi (als Ja und als Nein über unser Leben) nennen wir ‚Verantwortung‘. In diesem Begriff der Verantwortung ist die zusammengefaßte Ganzheit und Einheit der Antwort auf die uns in Jesus Christus gegebene Wirklichkeit gemeint […]. Verantwortung bedeutet daher, daß die Ganzheit des Lebens eingesetzt wird, daß auf Leben und Tod gehandelt wird.“406

Der Vorzug dieses in der evangelischen Ethik bis dahin alles andere als zentralen Begriffs liegt für Bonhoeffer darin, dass in ihm deutlich die für das Verständnis von Wirklichkeit grundlegende dialogisch-personale Dimension zum 405 406

S. dazu E 256.283. E 254.

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Ausdruck kommt. So hat er diesen Begriff ja zuerst auch in seiner frühesten Grisebach-Rezeption in Sanctorum Communio verwendet, um das dialogische Personverhältnis begrifflich zu erfassen. Verantwortung angewendet auf die personale Begegnung transportiert einmal das responsorische Verhältnis des Ich zum Du, das Antworten, von dem der neuzeitliche Begriff der Verantwortung abgeleitet worden ist407. Zum anderen bezeichnet sie aber mehr als bloß eine sprachliche oder andere zeichenhafte Antwort; die Haltung der Verantwortlichkeit bedeutet darüber hinaus einen pragmatischen reagierenden Bezug, also ein Handeln in der Bezogenheit auf den Anderen, ein echtes Tun408: Der Anspruch des Du wird be-antwortet mit einer Tat der ganzen Existenz, d. h. er wird ver-antwortet. Mit dieser Interpretation der Verantwortung befindet sich Bonhoeffer nicht nur in einer grundsätzlichen Nähe zum Dialogismus Grisebachs; er folgt wohl auch nicht bloß der Etymologie des Begriffs, welche ein dialogisches Verständnis von Verantwortung transportiert; vielmehr könnten die Formulierungen, in denen Verantwortung explizit als Antwort der ganzen Existenz auf das Wort Christi bezeichnet werden, auch auf Bonhoeffers Lektüre von Brunners Anthropologie zurückgehen409. Zwar gibt es auch in der Christologievorlesung schon eine ähnliche Formulierung, aber ohne die Prägnanz, wie sie in der Ethik enthalten ist410. Vor allem aber ist auffällig, dass die erste Fassung von „Die Geschichte und das Gute“ zwar den Verantwortungsbegriff enthält, aber nicht die Deutung von Verantwortung als Antwort, so dass letztere also eine Neuerung und Ergebnis der gründlichen Überarbeitung ist. In den Zeitraum der Überarbeitung – höchstwahrscheinlich Frühsommer und Sommer 1942 – aber fällt wohl Bonhoeffers Lektüre von Der Mensch im Widerspruch, wie ein in Bonhoeffers Exemplar gefundener Zettel vermuten lässt, der aus der Zeit zwischen April und September 1942 stammen muss411. Brunners theologische Anthropologie baut ganz ähnlich wie Bonhoeffers auf dem Gedanken auf, dass das wahre Menschsein sich im Angesprochensein von Gott in Christus und der existentiellen Antwort des Menschen auf das Wort verwirklicht und die imago Dei daher als Verantwortung oder Verantwortlichkeit zu interpretieren ist412. Freilich gründet Bonhoeffers Konzeption auf 407

Bayertz, Verantwortung, 16. Vgl. E 318 u. ö. 409 Der Mensch im Widerspruch, 1937. 410 Vgl. DBW 12, 298 f. 411 Vgl. dazu DBW 5961. Der Zettel enthält den Entwurf für eine Kirchenverfassung nach dem geplanten Umsturz von Friedrich Justus Perels. 412 Vgl. etwa MW 38 f.: „In der christlichen Lehre vom Menschen geht es um die wahre Erkenntnis des verantwortlichen Seins. Wer das Wesen der Verantwortlichkeit verstanden hat, der hat das Wesen des Menschen verstanden […], in ihr [sc. der Verantwortlichkeit] ist alles enthalten: die Freiheit und die Gebundenheit, die Selbständigkeit des Einzelnen und die Verbundenheit und Gemeinschaft, das Verhältnis zu Gott, zum Mitmenschen und 408

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seiner eigenständigen Anverwandlung dialogischen Denkens und ist darum wohl in erster Linie als echte Parallele zu Brunners fünf Jahre früher entstandener zu betrachten; andererseits hat sich Bonhoeffer für die Überarbeitung sehr wahrscheinlich von Brunner zu der prägnanten Formulierung der Verantwortung als Antwort inspirieren lassen und dadurch die Interpretation der Verantwortung als eine dialogische Existenzäußerung stärker hervorgehoben. Von entscheidender Bedeutung für die weiteren Reflexionen ist aber, dass Verantwortung eine antwortende Tat von ethischer Bedeutung ist, weil in dem sie hervorrufenden Ereignis der Begegnung das Ich vom Du resp. von Christus nicht neutral angesprochen, sondern ethisch in Anspruch genommen wird. Darum erfährt sich das Ich als mit seiner ganzen Existenz dem Du resp. Christus verantwortliches, das einseitig zum Tun zugunsten des Gegenüber herausgefordert ist, nicht aber bloß als dialogisches Gegenüber. Es liegt also noch hier in der Ethik der Gedanke zugrunde, der in Sanctorum Communio im Gefolge Grisebachs ausgebildet wurde, dass nämlich die personhafte Verbundenheit in der Begegnung immer als ein Verhältnis ethischer Inanspruchnahme und Entsprechung zu denken ist413. Freilich wird diese Voraussetzung, die Bonhoeffer beibehält, nun anders als bei Grisebach und anders als in der Dissertation, streng christologisch gedeutet und von daher inhaltlich gefüllt. Für Grisebach nämlich kann die Antwort bzw. Verantwortung letztlich nur zur Welt […]“; aaO. 87: „Des Menschen Sein als Ich ist das Sein aus und in dem göttlichen Du, genauer aus und in dem göttlichen Wort, dessen Anspruch das menschliche Sein ins Dasein ‚ruft‘ […]. Die Art dieser doppelseitigen Bezogenheit heißt von Gott aus ‚Anruf‘, vom Menschen aus ‚Antwort‘; das Sein des Menschen ist so, nach seinem Kern verstanden: verantwortliches Sein […], es ist […] nicht aus sich selbst seiendes, sich ursprünglich selbstsetzendes, sondern antwortendes, responsorisches, ‚antwortliches‘, ver-antwortliches Sein; es ist die von Gott gesetzte kreatürliche Entsprechung seines göttlichen Selbstseins, das von Gott geschaffene Gegenüber Gottes, das Gott antworten kann und in diesem Antworten erst Gottes Schöpfung erfüllt – oder sie zerstört […] diese Verantwortung ist – hier scheidet sich endgültig das biblische vom idealistischen Verständnis – nicht zuerst Aufgabe, sondern Gabe, nicht zuerst Forderung, sondern Leben, nicht Gesetz, sondern Gnade.“ 413 SC 27 f.: „Im Augenblick des Angesprochenwerdens steht die Person im Stande der Verantwortung oder anders gesagt, der Entscheidung; und zwar […] die Person in konkreter Lebendigkeit und Besonderheit […] der ‚Augenblick‘ ist die Zeit der Verantwortung […] so folgt aus unserem Zeitbegriff ein für den Idealismus völlig unsinniger Gedanke: Person entsteht und vergeht immer wieder in der Zeit. Sie ist nicht ein zeitlos Bestehendes, sie hat nicht statischen, sondern dynamischen Charakter, sie besteht immer nur, wenn der Mensch in ethischer Verantwortung steht […]“. AaO. 31: „Transzendenz des Du […] ist eine rein ethische Transzendenz“. Die Nähe zu Grisebach noch in der Ethik wird sprachlich besonders deutlich am Beginn der ersten Fassung von „Die Geschichte und das Gute“ (E 220): „In dem Augenblick, in dem ein Mensch Verantwortung für andere Menschen auf sich nimmt – und nur indem er das tut, steht er in der Wirklichkeit – entsteht die echte ethische Situation, die sich von der Abstraktion, in der der Mensch sonst das Ethische zu bewältigen sucht, allerdings wesentlich unterscheidet.“ Dass die Formulierung nicht in die zweite Fassung übernommen wurde, dürfte wohl weniger an dieser sprachlichen Nähe zu Grisebach liegen als vielmehr daran, dass Bonhoeffer den gesamten Abschnitt umgearbeitet und stark erweitert hat. Vgl. dazu E 257 ff.275 ff.

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umschrieben werden als das sich bescheidende, leidenschaftlich-liebende Aushalten eines jedenfalls theoretisch nicht als erfüllbar zu denkenden Anspruchs des Du, so dass die Ethik der Begegnung also in der Negativität verbleibt – und zwar nicht nur, weil sie als wirkliches Geschehen der Reflexion entzogen bleibt, sondern auch und vor allem, weil sie ohne einen Erlösungsgedanken auskommen muss. Bonhoeffer dagegen denkt die Verantwortung nicht nur und nicht primär als Antwort auf eine Forderung; vielmehr ist die Anrede Christi zuerst lebendig machendes Versöhnungswort und erst als dieses dann auch notwendigerweise Gebot414: „[Die Worte Jesu Christi] sind göttliches Gebot für das verantwortliche Handeln in der Geschichte, insofern als sie die in Christus erfüllte Wirklichkeit der Geschichte, die in Christus allein erfüllte Verantwortung für den Menschen sind.“415

Wenn Verantwortung als Antwort auf die Anrede Christi den Menschen zur Person macht, so geschieht dies dadurch, dass ihm ermöglicht wird, in der Bindung an Christus überhaupt erst zu erfahren, was echte Verantwortung ist416; denn Christus offenbart in seiner Person das Wesen und den Sinn der Verantwortung und setzt damit den Menschen, der Adressat der Verantwortung Christi ist, in den Stand, selbst verantwortlich zu leben und sich darin als Person zu erfahren, deren tätige Existenz für Christus und die in Christus gegründete Welt von unendlicher Bedeutung ist417. Der erste wesentliche Struktur-Aspekt dieses Verantwortungsbegriffs folgt direkt aus dieser christologischen Begründungsfigur. Es handelt sich dabei um die Bestimmung, die Bonhoeffer ihm gibt, bevor er die übrigen strukturellen und materialen Aspekte von Verantwortung (Stellvertretung, Wirklichkeitsgemäßheit, Selbstzurechnung und Wagnis)418 ausführt; diese sind so als Entfaltung des ersten Aspekts zu verstehen, welcher summarisch von Bonhoeffer als „Bekenntnis zu Jesus Christus mit Wort und Leben“419 gefasst wird. Was bedeutet dies? Zugrunde liegt hier eine Aufnahme und Umdeutung der begrifflichen Struktur von Verantwortung. Aus Bonhoeffers kurzen Erläuterungen zu der von ihm intendierten, die gängigen Verwendungsweisen in sich schließenden, „Fülle“420 des Verantwortungsbegriffs wird deutlich, dass die zunächst scheinbar nur formalen Aussagen zur Verantwortung eigentlich schon eine inhalt414

Zum Gebotsbegriff s. ausführlich u. C.III.2. E 263, vgl. 269. 416 Die inhaltliche Näherbestimmung der Verantwortung führt Bonhoeffer unter den Begriffen ‚Stellvertretung‘ und ‚Wirklichkeitsgemäßheit‘ durch. 417 Vgl. ZE Nr. 28.32.31: Der Mensch wird zum Einzelnen in der verantwortlichen Tat. S. auch ZE Nr. 18, wo Verantwortung als „[a]uf Person ausgerichtet“ bestimmt wird. 418 E 256 ff. 419 E 256. 420 E 254. 415

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liche Bestimmung voraussetzen. So ist Verantwortung nicht einfach die auf die Anrede durch Christus antwortende existentielle Tat, die theoretisch nicht weiter konkretisiert könnte. Sie ist vielmehr dadurch auch schon inhaltlich qualifiziert, weil die Anrede des Menschen durch Christus selbst bestimmte Rede ist und nicht bloß formal bleibender Anspruch. Denn das Wort Christi an den Menschen ist Versöhnungswort und damit die Aufrichtung der verloren gegangenen Gottesbeziehung des Menschen. Das „Christusereignis“421 besteht darin, dass Gott und Mensch in Christus – aufgrund der göttlichen Tat der Menschwerdung, Kreuzigung und Auferstehung – in ein wesentliches personhaftes Verhältnis miteinander treten. Das Wesen der Verantwortung offenbart sich also darin, dass Jesus Christus, der „Mittler“, „vor den Menschen für Gott und vor Gott für die Menschen eintrat. Verantwortung geschieht vor Gott und für Gott, vor den Menschen und für die Menschen, immer ist es Verantwortung der Sache Christi.“422

Dabei muss freilich ein Glied der Argumentationskette extrapoliert werden, um Bonhoeffers knappe Sätze verständlich zu machen. Wenn Verantwortung, was ja im Begriff liegt, immer eine antwortende, also nicht initiative Haltung ist, dann ist auch formal notwendig, was dogmatisch vorausgesetzt ist: dass nämlich die Verantwortung Christi, das Mittler-Dasein, die Antwort auf Gottes Gerichtswort ist. Dass Bonhoeffer dies so denkt, ergibt sich auch daraus, dass er unmittelbar anschließend an diese Passage den soteriologischen Stellvertretungsbegriff einführt, um daraus den ersten der anschließend behandelten materialen und strukturellen Aspekte von Verantwortung herzuleiten423. Hier ist aber zunächst entscheidend, dass Bonhoeffer aus dem Mittler-Sein Christi die Struktur der existentiellen Verantwortung des Menschen als Antwort auf die Tat Christi ableitet. Nur darum ist es nämlich einleuchtend, wenn er konstatiert, dass nun auch der Mensch darin verantwortlich existiert, dass er „zugleich für Christus vor den Menschen und für die Menschen vor Christus [steht]“, dass also die „Verantwortung für Jesus Christus vor den Menschen […] die Verantwortung für die Menschen vor Jesus Christus [ist]“424. Denn damit ist der Mensch nun zwar nicht unmittelbar und in der gleichen Weise wie Christus selbst zum Mittler zwischen Gott und Mensch geworden; er ist aber sehr wohl dazu ge- und berufen, auf die Erfahrung von Christi MittlerTat mit dem Zeugnis davon zu antworten425. Dabei ist das zweite Glied dieser 421

E 255. E 255. 423 Zum Stellvertretungsbegriff ausführlich in B.II.4.b. 424 E 255. 425 Auf einem der Ethik-Zettel findet sich allerdings tatsächlich die gewagte Formulierung vom Mittler-Sein des Menschen (ZE Nr. 63, meine Kursivierungen): „Gott u. den Nächsten in einen Blick fassen, sie zus. fassen, zwingen. Zwischen Gott u. Nächsten stehen, der Mittler zwischen beiden sein!!“ Aus der sonst immer wieder betonten Exklusivität der Heilsmitt422

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doppeltseitigen Verantwortung grundsätzlich im strengen Sinne als sekundär zu verstehen: weil Christus dem Menschen die Gottesbeziehung ermöglicht, bezeugt der antwortende Mensch notwendigerweise mit seinem Eintreten für Christus vor den Menschen umgekehrt, dass der Mensch von Christus angenommen ist und tritt in einem übertragenen Sinne darum für den Menschen vor Gott resp. Christus und umgekehrt vor den Menschen für Christus und sein Versöhnungswort ein426. Mit dieser Deutung der Verantwortung hat Bonhoeffer in interessanter Weise den juridischen Verantwortungsbegriff, auch in seiner ähnlichen biblischen Verwendung, aufgenommen, zugleich aber in charakteristischer Weise neu interpretiert. Dass Bonhoeffer den zunächst dialogisch interpretierten Verantwortungsbegriff inhaltlich auch um das mit dem juridischen verwandte biblische Verständnis von Verantwortung erweitern will, macht er E 254 f. ganz deutlich. Referenzen sind dabei paulinische und deuteropaulinische Briefstellen, in denen es dem Apostel und den Adressaten der Briefe zur Aufgabe gemacht wird, das Evangelium vor Gericht oder in einer vergleichbaren Situation zu verteidigen und damit in der Gnade des Herrn, also nicht aus eigener Kraft, zu seiner Verbreitung beizutragen. Die ŁĚęĕęčưċwird damit zum Zeugnis, ein Aspekt, den Bonhoeffer übernimmt. Daneben greift er auch Hiobs Rechtsstreit mit Gott auf, in dessen Kontext wiederum der Verantwortungsbegriff in seiner juridischen Bedeutung verwendet wird. Der Verweis auf den alttestamentlichen Verantwortungsbegriff und die neutestamentlichen Entsprechungen hat demnach formal den Zweck, den systematischen Verantwortungsbegriff als ethischen Zentralbegriff zu legitimieren, indem er als schriftgemäß erwiesen wird. Faktisch unternimmt Bonhoeffer hier freilich keine eingehenden exegetischen Betrachtungen, um die historische Bedeutung der Begriffe zu eruieren, was er am Ende des Abschnitts auch begründet: die biblischen Begriffe und ihr jeweiliger Kontext bedürfen nämlich, um nunc et hic orientierend sein zu können, der Kontextualisierung mit der Gegenwart, die auch eine veränderte Gewichtung und Neuinterpretation der biblischen Konzepte mit sich bringt427. lerschaft Christi (z. B. E  160: „Nur Christus schafft den Glauben […]“) folgt aber, dass das menschliche Mittler-Sein ein anderes, abgeleitetes sein muss, das aus der Sozialität des Menschen folgt bzw. genauer die Sozialität des Menschen erst voll zur Verwirklichung bringt. Eine größere Bedeutung der Gemeinschaftsnatur des Menschen lässt sich ja nicht denken als diejenige, dass das Heil des Einzelnen in der Gemeinschaft erfahren wird – wobei damit nicht das Umgekehrte gesagt ist, da „Sein [sc. Christi] Kommen niemand hindern kann […] weil er sein eigener Wegbereiter ist“ (E 154.159) und also auch der Einsame nicht vom Heil ausgeschlossen ist. 426 Vgl. Bonhoeffers betonte Formulierung E 255 (meine Hervorhebungen): „[…] indem ich Christus, das Leben, vor den Menschen verantworte – und nur so, – verantworte ich mich zugleich für die Menschen vor Christus […]“. 427 Die drei Sätze Bonhoeffers zum Umgang des Ethikers mit der Schrift E 256 legen längere Ausführungen zu Bonhoeffers hermeneutischem Konzept natürlich sehr nahe,

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Der im Hintergrund stehende juridische Verantwortungsbegriff weist eine dreigliedrige (bzw. viergliedrige, wenn man das Subjekt mitzählt) Struktur auf: Verantwortung bezieht sich auf einen Empfänger oder ein Objekt der Verantwortung (für jemanden oder etwas: intentionales Element428), betrifft die Durchführung einer konkreten Handlung oder eines Handlungszusammenhangs (pragmatisches Element) und wird vor einer Urteilsinstanz übernommen (normatives Element)429. Darin spiegelt sich deutlich die Herkunft dieses Begriffs aus dem Kontext eines Rechtsstreits bzw. einer gerichtlichen Auseinandersetzung430, wie er auch für den biblischen Verantwortungsbegriff bei Hiob kennzeichnend ist431, auf den sich Bonhoeffer hier beruft. Dies gilt auch noch für die neuzeitliche Internalisierung von Verantwortung, bei der und zwar insbesondere mit Blick auf die fragmentarische Hermeneutik aus Widerstand und Ergebung sowie die Auslegung von Gen 1–3 in Schöpfung und Fall und das Referat aus der Studienzeit zur Historischen und pneumatischen Schriftauslegung. Freilich würde dies viel zu weit führen. Deutlich wird hier jedenfalls, dass Bonhoeffers Umgang mit der Schrift sich als die spannungsvolle und nur konkret zu leistende Verbindung von zwei Polen vollzieht; den Aussagen der Schrift und der gegenwärtigen Situation muss dabei jeweils ihr eigenes Recht gelassen werden. Weder ist ein wörtliches Festhalten am biblischen Text, noch aber die völlige Vereinnahmung des Textes von modernen Fragestellungen oder Positionen (z. B. einem existenzphilosophisch beeinflussten Vorverständnis) zuträglich. Vgl. auch die Bemerkungen o. A.II.2.a. 428 Im handlungstheoretischen Sinne. Mit Intentionalität ist also nicht die gerichtete Erkenntnishaltung der Phänomenologie gemeint. 429 Es ist nicht unbedingt sinnvoll, jedenfalls aber nicht zwingend, die Struktur von Verantwortung in der Weise als viergliedrig zu bestimmen, dass zwischen der Instanz und den Normen differenziert wird (so Wittwer, Art. Verantwortung I, 575), weil die Instanz, auch wenn es sich um Personen (und nicht z. B. um das Gewissen) handelt, sich ja gerade dadurch auszeichnet, dass sie die betreffenden Normen repräsentiert, und zwar auch dann, wenn es sich um göttliche oder überpositive Normen handelt. Zu den möglichen Gliederungsmerkmalen des Begriffs vgl. auch Bayertz, Verantwortung, 15 f.: „Wir haben es […] mit einem mehrstelligen Relationsbegriff zu tun, der mindestens drei Elemente in Beziehung miteinander bringt: a) ein Subjekt der Handlung, b) ein Objekt der Handlung und c) ein System von Bewertungsmaßstäben.“ Die Handlung selbst als das verbindende Element ist hier also nicht mitgezählt. Picht, Wahrheit, 319 ff. spricht von einer „doppelten Verweisung“ im Verantwortungsbegriff: „für eine Sache oder für andere Menschen“ und „vor einer Instanz, welche den Auftrag erteilt“. Die mit „für“ gekennzeichnete Verweisung ist wiederum zu differenzieren nach ihrem Zeitbezug: die Fürsorge oder Pflicht hat einen Zukunftsbezug (ist also intentional: Worauf zweckt[e] die Handlung ab? Welche Handlungsmöglichkeiten gibt / gab es für die Erreichung des Zwecks?), die Handlungs- und Handlungsfolgenzurechnung hat einen Vergangenheitsbezug (ist also kausal: Wer ist der Verursacher von etwas Geschehenem?). 430 Es kommt also wohl nicht von ungefähr, dass das deutsche Wort Verantwortung/ sich verantworten im 15. Jahrhundert erstmals auftaucht und allmählich in den alltäglichen Sprachgebrauch einwandert, in einer Umbruchszeit, in welcher das mittelalterliche Fehdewesen nach und nach von einem institutionalisierten Gerichtswesen abgelöst wird. Der Ewige Landfrieden von 1495 dürfte dabei ein wichtiger Schritt, zugleich aber auch Ausdruck und Ergebnis einer schon früher einsetzenden gesellschaftlichen, politischen und geistigen Entwicklung sein, für die die Neubildung des Verantwortungsbegriffs symptomatisch ist. 431 Dazu ausführlich Stendebach, āčď I, 235–242.

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die Strukturelemente des Verantwortungsbegriffs sämtlich auf das Subjekt übertragen werden und das forum internum des Gewissens die Funktion der richtenden Instanz übernimmt432. Diese Strukturelemente werden von Bonhoeffer zunächst übernommen, darin aber zugleich auch – den theologischen Voraussetzungen entsprechend – umgedeutet. Die Antwort auf das Wort der Versöhnung, die verantwortliche Tat, bezieht sich darauf, indem dieses Geschehen bezeugt wird. Insofern übernimmt der Mensch Verantwortung für Christus bzw. für das Christusereignis der Versöhnung von Gott und Mensch, und zwar vor den Menschen; er übernimmt aber auch für den Menschen vor Gott Verantwortung, insofern der Mensch, der Andere, mit dem Zeugnis ja in die Christusbegegnung hinein gerufen werden soll. Wenn dieses Bezeugen von Bonhoeffer nun folgerichtig in seinem Inhalt als das Eintreten für Gott vor den Menschen und für die Menschen vor Gott bezeichnet wird, so meint er damit allerdings sicher nicht die wirkliche und wirksame dialogische Vermittlung des Gottesverhältnisses, was ja allein Christus zukommt, sondern dessen Darstellung in der Existenz, der der Impuls zur Verkündigung inhärent ist; diese Verkündigung aber ist wie die Tat selbst zuletzt in dem Ruf Christi begründet433. Die Intention der Verantwortung setzt sich also unmittelbar in der konkreten verantwortlichen Tat um und predigt in dieser Tat – mit Worten oder eben praktisch durch das Tun – Christus als Versöhner und Ursprung der Verantwortung. Dass Bonhoeffer dies nun auch als ein Rechenschaft Ablegen bezeichnet und so das für den Verantwortungsbegriff in seinem juridischen Gebrauch konstitutive normative Element wiederum mit der Tat selbst, dem Wirklichwerden der Versöhnung im antwortenden Zeugnis, identifiziert434, bezeichnet dabei eben diese Verkündigungsdimension der verantwortlichen Tat – die auch ganz direkt eine ŁĚęĕęčưċďƉċččďĕưęğ sein kann, die aber ebenso gut in der Gefangenschaft um Christi willen oder einfach in einem gottgefälligen Lebenswandel bestehen kann435. Freilich ist damit das normative Element des Verantwortungsbegriffs wesentlich verändert: denn statt dass es der Tat nachfolgt, um diese vor einem forum internum oder externum zu rechtfertigen, sind Tat und Rechenschaft Ablegen in eins gesetzt worden; die Rechenschaft wird darum vom Sub432 Dass der neuzeitliche Mensch nicht nur die Richterfunktionen auf sich selbst und sein Gewissen überträgt, sondern auch die Normierung selbst vornimmt, weil er das moralische Gesetz des Handelns in seiner vernünftigen Freiheit vorfindet, ist die radikalste und konsequenteste Form der Verinnerlichung eines ursprünglich relationalen Geschehens. Der Mensch ist nun „Angeklagter, Richter und Gesetzgeber zugleich“ (Bayertz, Verantwortung, 19). Bonhoeffer reflektiert dies im Kontext des Gewissensbegriffs, wenn er den Zusammenhang von Schuld, Freiheit und Verantwortung erörtert (E 276–285). S.u. B.II.4.d. 433 E  256 (meine Hervorhebung): „Verantwortung gibt es nur im Bekenntnis zu Jesus Christus mit Wort und Leben.“ 434 Vgl. E 255. 435 Vgl. die von Bonhoeffer genannten Stellen II Tim 4, 16; Phil 1,7.16; I Petr 3,15.

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jekt auch gar nicht mehr für sich selbst abgelegt, sondern als Zeugnis und Bekenntnis des Evangeliums gedeutet, das freilich auch in einer äußerlichen Rechtfertigungssituation entstehen kann als Antwort auf die Frage des Menschen nach Tun und Leben. Die Frage, inwiefern das normative Element, das Rechenschaft Ablegen, damit freilich noch als solches anzusprechen ist, stellt sich für Bonhoeffer dabei gar nicht. In seinem ursprünglichen juridischen Sinne – als Selbst-Rechtfertigung – kann es der Verantwortungskonzeption überhaupt nicht integriert werden, weil es dazu schließlich einer Instanz und externer Normen zur Beurteilung bedürfte. Entscheidend für Bonhoeffer ist aber genau das Gegenteil: wenn der verantwortliche Akt des Christuszeugnisses nun auch zugleich als Akt der Rechtfertigung verstanden werden soll, so bedeutet dies für Bonhoeffer, dass Verantwortung in ihrem normativen Sinn nicht, wie es begrifflich eigentlich notwendig ist, die Rechtfertigung einer eigenen Tat und damit der eigenen Person unter Verweis auf allgemein zugängliche normative Prinzipien sein kann436. Anstelle der eigenen Person wird nämlich auf Christus selbst als Grund und Inhalt des Rechenschaft Ablegens verwiesen und die Frage kann also nicht lauten, ob der Handelnde und Zeugnis Gebende moralisch und juristisch richtig oder gut gehandelt und gesprochen hat angesichts seiner Verantwortung; die Frage lautet vielmehr nur noch: ist überhaupt Verantwortung vorhanden, d. h. existiert der Mensch überhaupt als Verantwortlicher resp. Glaubender und darin Rechenschaft von Christus Ablegender? Ist dies so, dann ist das aber zugleich auch seine Rechtfertigung, so dass schließlich  –  sehr verkürzt und komprimiert  –  gesagt werden kann: „Ich rechtfertige also primär nicht mich selbst […], mein Tun, sondern ich verantworte Jesus Christus […] immer ist es Verantwortung der Sache Jesu Christi und allein darin eine Verantwortung des eigenen Lebens.“437 Das Subjekt der verantwortlichen Tat ist darum letztlich nicht auch das Objekt einer nachfolgenden Rechtfertigung, oder anders: Verantwortung wird von Bonhoeffer nun inhaltlich als Rechenschaft Ablegen für Christus mittels bzw. in einem konkreten Tun aufgefasst; zugleich aber ist dieses verantwortliche Tun seinerseits nicht mehr zurechenbar, weil es aus der intentionalen Haltung auf Christus herkommt und das Subjekt sich so nicht mehr als in sich selbst gegründeten, logisch identischen Urheber seines Tuns denken, sondern nur 436 Insofern ist auch der dialogische Verantwortungsbegriff bei Grisebach uneigentlich aufgefasst: Er enthält nur das Element des Sorge Tragens, nicht aber dasjenige des Rechenschaft Ablegens, jedenfalls nicht mehr als eigenen, das Tun reflektierenden Akt. Dies ist ja auch nicht möglich, weil es ein Herausfallen aus der personhaften Wirklichkeit bedeutete. Innerhalb dieser Wirklichkeit gibt es vielmehr nur das Du und seinen Anspruch an das Ich, dem durch die Haltung der Verantwortlichkeit in Bescheidenheit, Leidenschaft und Liebe entsprochen wird. Verantwortung hat so ihre Rechtfertigung in sich selbst. 437 E 255 f.

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noch aus seinem personalen Bezug auf Christus heraus erfahren438 kann. Die Urheberschaft liegt vielmehr, wenn man so will, in einem Verhältnis, nämlich dem Personverhältnis von Christus und Mensch. Der Mensch ist so zwar das faktisch handelnde Subjekt, der Verursacher, nicht aber der Grund der Tat; dieser ist ja die Anrede des Menschen durch Christus. Der dialogische Verantwortungsbegriff gibt folglich den Rahmen ab, in welchen die Merkmale des juridischen eingeordnet werden. Das Kernproblem des Verantwortungsbegriffs, die Frage nach der Zurechenbarkeit der Tat an den faktischen Urheber, wird letztlich umgedreht: Verantwortliches Tun zeichnet sich dadurch aus, dass es inhaltlich das Rechenschaft Ablegen von Christus ist; diese Tat aber kann der faktische Urheber sich selbst nicht reflexiv, d. h. zum Zweck eines moralischen Urteils,439 zurechnen – aber nicht, so muss man hier Bonhoeffer durch sich selbst ergänzen, weil er sich als unmündiges Werkzeug versteht und also Verantwortung allein Jesus Christus und seinem Gebot zuschreibt440; schließlich zielt Bonhoeffer hier ja auf einen Begriff von personaler Verantwortung als menschliches, eigenes und unvertretbares Tun. Vielmehr ist dies so, weil das Urteil über die Handlung, also die bewertende Zurechnung, die personale Unmittelbarkeit der verantwortlichen Tat brechen und damit die Verantwortung selbst zerstören muss. Verantwortung ist als Verantwortung, d. h. aber als antwortende und verkündigende Bezogenheit auf Christus, ihre eigene Rechtfertigung, und allein darin schließlich auch der Mensch als faktisches Subjekt der verantwortlichen Tat, d. h. also allein im Tun selbst, gerechtfertigt. Ist so der Gedanke der Zurechenbarkeit als nachfolgende Beurteilung einer Tat und ihres Täters letztlich aufgehoben, so ist nur folgerichtig, dass von der Tatsache der Verantwortung bzw. der gerechtfertigten Tat der Mensch kein reflexives Bewusstsein mehr erwerben kann: Verantwortung ist die Form des Handelns aus Glauben. 438 Freilich nicht im psychologischen Sinne, sondern im Sinne einer Ausrichtung der Existenz mitsamt allen geistigen, psychischen und natürlichen Funktionen. 439 Reflexiv also im doppelten Sinne genommen: als gedankliche Reflexion, actus reflexus in Bonhoeffers Diktion, und als dem Begriff eigenes reflexives Moment, das im sich verantworten steckt. Für Bonhoeffer gehört dies beides zusammen, weil die gedankliche Reflexion mit der subjektivitätstheoretischen Erkenntnistheorie identifiziert wird und also per se reflexiv – im ursprünglichen lateinischen Wortsinn – ist. Damit ist auch klar, dass es nicht um die Frage geht, wer das faktische Subjekt einer Tat ist. Das ist natürlich der Mensch, der darin zum Einzelnen, zur Person wird, weil sein Handeln unvertretbar ist. 440 Die Formulierung E 255 („[…] ich rechtfertige mich nicht selbst […], sondern ich verantworte Jesus Christus und damit allerdings auch den mir von ihm gewordenen Auftrag […]“) könnte man wohl so verstehen. Tatsächlich schließt aber schon der Gedanke einer personalen Beziehung von Gott und Mensch bzw. das Personwerden des Menschen im Gottesverhältnis das Mündigwerden des Menschen ein. Im Abschnitt über Schuld, Gewissen und Freiheit wird dies ganz deutlich, s. u. B.II.4.d. S. auch die schon genannten Notizen ZE Nr. 28.31.32. Zudem wäre ansonsten der Verantwortungsbegriff überhaupt als Zentralbegriff der christlichen Ethik völlig unsinnig und besser durch einen rigiden („schwärmerischen“, s. o. A.II.5.e sowie u. B.II.4.d) Gehorsamsbegriff zu ersetzen.

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b) Verantwortung als Bindung aa) Stellvertretung Die verantwortliche Tat, mit welcher der Mensch auf das Wort Christi antwortet, wird von Bonhoeffer aber noch näher bestimmt. Die längeren Ausführungen dazu und ihr inhaltliches Gewicht legen nahe, dass die nun zur Sprache kommenden materialen Aspekte des Verantwortungsbegriffs jedenfalls mit entscheidender Grund dafür waren, ausgerechnet den bisher in der theologischen Ethik kaum verwendeten Begriff der Verantwortung ins Zentrum zu stellen441. Die bisherigen mehr formalen Bestimmungen des Handlungsbegriffs werden nun zunächst durch den Gedanken der Stellvertretung erweitert: Verantwortung geschieht darin, dass ein Mensch konkret stellvertretend für einen oder mehrere andere Menschen handelt442. Mit dieser Bestimmung versucht Bonhoeffer, den Verantwortungsbegriff christologisch zu fundieren: stellvertretende Verantwortung folgt aus der Stellvertretung Christi, das christlichethische Handeln hat also auch seine causa materialis im Christusgeschehen: „Weil Jesus, – das Leben, unser Leben, – als der Menschgewordene Sohn Gottes stellvertretend für uns gelebt[!] hat, darum ist alles menschliche Leben durch ihn wesentlich stellvertretendes Leben.“443

Um diese Ableitung genauer zu verstehen, ist freilich zunächst zu beachten, dass Bonhoeffer in diesem Kapitel aus dem dogmatischen Topos der Stellvertretung resp. des officium sacerdotale Jesu Christi444 zwei unterschiedliche Handlungsmerkmale deduziert, die nicht immer deutlich voneinander unterschieden werden: zum einen leitet er eben die Stellvertretung als Kennzeichen der christlichen Verantwortung ab. Diese bezieht sich auf das intentionale Element des Verantwortungsbegriffs, genauer auf das fürsorgliche Handeln einer Person für eine oder mehrere andere. An anderer Stelle aber diskutiert Bonhoeffer die Frage nach der Schuldhaftigkeit des Handelns wiederum unter Bezug auf den soteriologischen Begriff der Stellvertretung, der damit unter einem anderen Aspekt Bedeutung für das menschliche Handeln gewinnt: es geht nun nämlich um den Handlungsvollzug selbst sowie die Handlungsfolgen und die Frage nach der Zurechenbarkeit der Handlung an das Subjekt, 441 Der andere entscheidende Grund liegt in der notwendigen Voraussetzung dieses Begriffs, nämlich einem Konzept von Freiheit, dazu s. u. B.II.4.d. 442 E 257 f. 443 E 257. 444 Zur systematischen Klassifikation vgl. diejenige in der von Bonhoeffer verwendeten Lehrdogmatik von Heinrich Schmid: Pars III. De principiis salutis, cap. II. De fraterna Christi redemptione, B. De officio Christi: officium sacerdotale (Schmid, Dogmatik, 250 ff.). Vgl. dazu die Vorarbeiten und den Entwurf zu einer Predigt über Hebr 4,15.16 in DBW 14, 346–348.

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also diejenigen Elemente, die oben als das pragmatische und das normative Element bezeichnet wurden und welche von dem intentionalen Rahmen der Handlung unbedingt zu unterscheiden (nicht: zu trennen) sind. Diese Erörterung wird Gegenstand des Kapitels über den vorausgesetzten Freiheitsbegriff Bonhoeffers sein und soll darum hier nicht weiter behandelt werden. Entscheidend für den material näher bestimmten Verantwortungsbegriff ist zunächst vielmehr der Gedanke der ursprünglichen sozialen Verbundenheit der Menschen, die mit dem Begriff der (ethisch-sozialen) Stellvertretung von Bonhoeffer etwas missverständlich umschrieben wird. Die von mir zugesetzte Klammer zeigt dabei diese begriffliche Unklarheit schon an: Bonhoeffer verwendet einen äquivoken Stellvertretungsbegriff, der einerseits die soteriologische Stellvertretung Christi und andererseits die ethisch-soziale445 Stellvertretung446 des verantwortlichen Handelns meint, welche teils auf soziologisch beschreibbare Rollen, teils auf amtliche oder andersartige gesellschaftliche Funktionen447 und teils auf situative, d. h. konkret-zufällige und einmalige Verantwortungssituationen zurückzuführen ist448. Die konkret gegebenen 445

Bonhoeffer unterscheidet in früheren Texten streng zwischen dem christologischen und ekklesiologischen Begriff der Stellvertretung und dem einer „ethischen Stellvertretung“ (z. B. DBW 11, 266 f. [Das Wesen der Kirche]). Dabei steht „ethisch“ aber für „philosophisch“ bzw. „nicht-theologisch“/„allgemein“ oder dergleichen und bildet deshalb den Gegensatz zu seinem eigenen Stellvertretungsbegriff. Wenn in der Ethik das christlich-ethische Handeln mit dem Stellvertretungsbegriff charakterisiert wird, so liegt nun freilich keine umfassende Selbstkorrektur vor, sondern eine perspektivische Verschiebung. Allgemeine, d. h. über bloße Vernunfteinsicht oder sonstige von der Offenbarung absehende Erkenntnis wird von Bonhoeffer auch hier grundsätzlich abgewiesen (vgl. dazu nur den Beginn der vermutlichen Einleitung „Die Liebe Gottes und der Zerfall der Welt“, E 301 f.; dazu s. o. A.II.2.a). Darum wird hier zur Kennzeichnung des Stellvertretungshandelns des Menschen, also der nicht-soteriologischen, aber christologisch begründeten Stellvertretung, immer der Zusatz „ethisch-sozial“ verwendet, um anzuzeigen, dass es nicht um einen allgemeinen Begriff von menschlicher Stellvertretung geht, den Bonhoeffer früher mit „ethisch“ markiert und abgewiesen hat. 446 Dass der Stellvertretungsbegriff in Bonhoeffers Theologie folglich von besonderem Gewicht ist, könnte auch auf eine Lektüre der Beilage zur Krankheit zum Tode (Der Hohepriester – der Zöllner – die Sünderin. Drei Reden beim Altargang am Freitag [KT 135–163]), zurückgehen, in welcher Kierkegaard mit eindrücklichen Worten die Versöhnungstat Christi pro me als Geschehen der Stellvertretung beschreibt. Ob darüber hinaus Seebergs Christliche Dogmatik Bonhoeffers Verwendung des Stellvertretungsbegriffs als christologisch-anthropologischen Zentralbegriff beeinflusst hat, kann nicht entschieden werden, weil es darauf nur wenige Hinweise gibt (die inhaltliche Parallele zu Seeberg, die von Soosten konstatiert [SC 26281] ist m. E. kein zwingender Hinweis auf ein Abhängigkeitsverhältnis, weil sie sich doch sehr in Grenzen hält). 447 Zwar sind auch Ämter und Berufe soziologische Rollen, es soll mit dieser Terminologie hier aber vor allem der Unterschied zwischen Rollen im nicht-öffentlichen Bereich und öffentlich relevanten amtlichen oder beruflichen Funktionen (besonders im Hinblick auf die vor 1945 mit den gesellschaftlichen Schichten von Adel und oberen Bürgertum weitgehend zusammenfallende Funktionselite, der auch Bonhoeffer angehörte) angezeigt werden. 448 Eine solche einmalige Situation ist etwa durch die Teilnahme am militärischen Widerstand für Bonhoeffer selbst entstanden: er weiß sich weder aufgrund seiner sozialen Rollen

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sozialen Verhältnisse449 des Einzelnen konstituieren demnach Verantwortung im Sinne von „Verantwortlichkeit“450 für eine oder mehrere Personen: „Daß Verantwortung auf Stellvertretung beruht, geht am deutlichsten aus jenen Verhältnissen hervor, in denen der Mensch unmittelbar genötigt ist, an der Stelle anderer Menschen zu handeln, also etwa als Vater, als Staatsmann, als Lehrmeister. Der Vater handelt an der Stelle der Kinder, indem er für sie arbeitet, für sie sorgt, eintritt, kämpft, leidet. Er tritt damit real an ihre Stelle. Er ist nicht ein isolierter Einzelner, sondern er vereinigt in sich das Ich mehrerer Menschen.“451

Wenn Bonhoeffer hier allerdings als Beispiele für das Moment der Stellvertretung im verantwortlichen Handeln die Verantwortung des Vaters, des Lehrers oder des Politikers anführt, so wird daran sofort deutlich, dass der Stellvertretungsbegriff mit Schwierigkeiten behaftet ist. Denn es geht bei diesen Funktionen bzw. Rollen genau genommen um ganz unterschiedliche Personen-Verhältnisse, die nicht alle oder jedenfalls nicht vollständig sinnvoll unter den Stellvertretungsbegriff gefasst werden können452. Dies lässt nur den Schluss zu, dass es ihm bei der Bestimmung von Verantwortung als stellvertretendem Handeln nicht um eine präzise benennbare und abgrenzbare Form der Stellvertretung, also etwa um die Repräsentation, Substitution oder Interzession453, geht. Dabei liegt offenbar der Gedanke zugrunde, dass sich menschliche Existenz immer nur in bestimmten sozialen Verhältnissen vollzieht, dass also das Handeln des Einzelnen notwendig einen wesentlichen Bezug zu anderen Menschen hat, unabhängig davon, wie sich diese soziale Bezogenheit konkret verwirklicht. Für den Begriff der stellvertretenden Verantwortung ist demnach konstitutiv die Vorstellung einer fundamentalen anthropologischen Sozialität, die sich in je konkreten Phänomenen eines asymmetrischen, d. h. nicht oder zumindest nicht notwendig reziproken Eintretens noch aufgrund seiner amtlichen Funktion, sondern allenfalls als Bürger, letztlich aber wohl einfach als Christ zum Widerstand berufen, weil sich ihm diese Situation durch die verwandtschaftlichen Verhältnisse, die sozialen Kontakte und die eigenen persönlichen Verhältnisse dargeboten hat. Diese Zufälligkeit (oder: Fügung) mindert nicht die Verantwortung, eher dürfte sie sie in Bonhoeffers Deutung verstärken, weil sie nun erst recht extraordinär ist – eben nicht nur in ihrer Folgenschwere, sondern auch schon wegen ihres unerwarteten, nicht durch Rollen und Funktionen vorherbestimmten Zustandekommens. 449 Im Wortsinn, also nicht die ökonomischen Verhältnisse. 450 E 257. 451 E 256 f. 452 So ist etwas das Verhältnis des Vaters zu seinen Kindern ein komplexes, das freilich auch, aber eben nicht nur, den speziellen Aspekt der vom Vater bzw. von den Eltern stellvertretend übernommenen Geschäftsfähigkeit umfasst, sofern das Kind nicht mündig ist; der Lehrer wiederum vertritt streng genommen seine Schüler gar nicht, sondern ist Vermittler von Kompetenzen und Sachinhalten und zugleich Erzieher; der Politiker dagegen kann in bestimmten Funktionen Repräsentant der Bürger oder eines Teils der Bürger sein, nämlich sofern er gewählt ist; damit ist allerdings eine andere Art der Stellvertretung benannt als z. B. die vicariatio (vgl. zur Begriffsgeschichte ausführlich Schaede, Stellvertretung, 10–270). 453 Vgl. ebd.

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des einen für einen oder mehrere andere manifestiert. Der christologisch abgeleitete ethisch-soziale Stellvertretungsbegriff bildet so dann auch, zumindest stichwortartig, die Schaltstelle zwischen der bisher erfolgten Näherbestimmung des Verantwortungsbegriffs als Antwort resp. als antwortendes Eintreten des Menschen für Gott und den anderen Menschen im Bekenntnis einerseits und der christologischen Begründung dieser Verantwortung im Eintreten Christi für Gott und den Menschen andererseits. Die sachliche Verbindung ist allerdings komplizierter als es zunächst scheint. Denn beide Elemente, auf die es Bonhoeffer bei der Verwendung des Stellvertretungsbegriffs ankommt, die Sozialität und die christologische Begründung, stehen tatsächlich nicht in dem einfachen Verhältnis einer strengen Herleitung; sie sind aber auch nicht strikt aus den zuvor dargelegten Elementen des Verantwortungsbegriffs deduzierbar454, weshalb der Überschritt von dem soteriologischen zu dem ethisch-sozialen Stellvertretungsbegriff problematisch ist und die Konzeption mit logischen Schwierigkeiten behaftet, die vergleichsweise leicht zu umgehen wären. Allerdings steht der ethisch-soziale Stellvertretungsbegriff für die Einsicht Bonhoeffers in die Sozialität des menschlichen Wesens, die sich durch sein ganzes Werk zieht und daher immer wieder in unterschiedlichen Kontexten und mit unterschiedlichen Zuspitzungen zur Sprache kommt: zu Beginn in Sanctorum Communio im Hinblick auf die sozialtheologische Struktur der Kirche, am Ende in Widerstand und Ergebung im Hinblick auf das Wesen der christlichen Existenz als Fürsorglichkeit455. In Bezug auf diesen Gedanken einer anthropologischen Sozialität zeigen sich daher bei gleich bleibender Bedeutsamkeit – es ist ja bemerkenswert, dass Bonhoeffer ausgerechnet über den Kirchenbegriff eine soziologisch-theologische bzw. sozialphilosophischtheologische456 Dissertation verfasst hat457  –  einerseits die Beständigkeit, 454 So bringt der Stellvertretungsbegriff für das Verantwortungskonzept tatsächlich etwas Neues, was die bisherigen Bestimmungen wohl ergänzt und präzisiert; es lässt sich aber folgerichtig nicht daraus herleiten: Das antwortende Bekenntnis mit Wort und Leben ist zwar auf Gott und den Menschen bezogen, damit ist es aber noch nicht als ethische Tat zugunsten des Nächsten qualifiziert. 455 SC 92 ff.; WE 558 ff. 456 Die eigene Deklarierung der Arbeit als „dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche“ (so der Untertitel von Sanctorum Communio), ist nach heutigem Sprachgebrauch missverständlich, sofern Soziologie zumeist und zuerst Soziologie als deskriptive Gesellschaftswissenschaft meint. Bonhoeffer bedient sich für seinen theologischen Kirchenbegriff, den er mit Hilfe nicht-theologischer Theorien konzipiert, zwar nicht nur bei der zeitgenössischen Sozialphilosophie, sondern bezieht sich auch auf soziologische Gesellschaftsmodelle, etwa von F. Tönnies oder Simmel, doch letztlich nur zu dem Zweck, einen diese Modelle überschreitenden eigenen theologischen Begriff kirchlicher Gemeinschaft zu entwickeln. 457 Ihm hätten wohl viele Themen nahe gelegen, wie schon der Blick auf die späteren Arbeiten und besonders Akt und Sein zeigt, während das Interesse an der Ekklesiologie für den einer kirchendistanzierten (nicht: christentumsdistanzierten) großbürgerlichen Familie

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andererseits aber innerhalb der prinzipiellen Beständigkeit auch die Verschiebungen und Modifikationen von Bonhoeffers theologischem Denken. Zwar ist es hier unmöglich (und unnötig), auch nur in Grundzügen einen Abriss der Entwicklung dieses Topos innerhalb von Bonhoeffers Theologie zu liefern, dazu müsste schließlich die Ekklesiologie erschöpfend aufgearbeitet werden; es soll aber der Hinweis nicht unterbleiben, dass eine Ausweitung der Perspektive stattgefunden hat von einer ekklesiologischen Binnensicht hin zu einer Sicht, in der Welt und Kirche als aufeinander bezogene Einheit gedacht werden. Sozialität und Stellvertretung werden darum in der Zeit der Ethik konsequent nicht mehr nur zur Deutung des Kirchenbegriffs reflektiert – das freilich auch, die Kirche bleibt ja der vorzügliche Ort der Gegenwart Christi458. Stellvertretung wird nun aber, nachdem sie in der frühen Theologie Bonhoeffers explizit und exklusiv auf den Kirchenbegriff bezogen wurde, ausgeweitet zum „Strukturprinzip“459 des christlichen Handelns überhaupt. Schaut man auf Anfang und Ende von Bonhoeffers theologischer Entwicklung, so wird dies ganz deutlich. In Sanctorum Communio, wo erstmals der Stellvertretungsgedanke zentrale Bedeutung gewinnt, gilt er als „Lebensprinzip der neuen Menschheit“, denn „das Prinzip der Stellvertretung“ ist es, unter dem das „Füreinander der Glieder [sc. der Gemeinde]“ zum Ausdruck kommt460. In Widerstand und Ergebung lautet die christologische Kernaussage mit einer neuen, eindrücklichen Formulierung „[…] daß Jesus nur ‚für andere da ist‘. Das ‚Für-andere-dasein‘ Jesu ist die Transzendenzerfahrung! […] unser Verhältnis zu Gott ist ein neues Leben im ‚Dasein für andere‘, in der Teilnahme am Sein Jesu.“461 Entsprechend gilt: „Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist.“462 Abgesehen von der veränderten und eingängigeren Terminologie – Für-Andere-Dasein anstelle von (ethisch-sozialer) Stellvertretung – ist hier die Ausweitung des Prinzips ganz deutlich: Der Gedanke eines von Christus herkommenden Füreinander aus Sanctorum Communio wird nun, mehr als 17 Jahre später, nicht mehr bloß auf die Glieder der Gemeinde beschränkt, sondern universalisiert, indem jede weitere Bestimmung der „Anderen“ entfällt. Gleichwohl wird Stellvertretung bzw. Für-AndereDasein als innerkirchliches Wesensmerkmal offenkundig nicht aufgehoben, damit wäre ja der Kirchengedanke selbst überflüssig; vielmehr ist die Kirche, welche als ‚Leib Christi‘ Christus in der Welt repräsentiert, als empirisches und geistliches Zentrum einer Bewegung nach außen zu verstehen, und zwar entstammenden Intellektuellen zunächst überraschend ist  –  und doch auch wieder nicht, weil es die konsequente Fortsetzung der innerhalb des Familienkreises ungewöhnlichen Entscheidung für die Theologie darstellt. 458 Vgl. E 84 f.398 ff. 459 Vgl. dazu DBW 11, 266–275 (Das Wesen der Kirche). 460 Vgl. SC 92 ff.117 ff. 461 WE 558. 462 WE 560.

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einer Bewegung ethisch-sozialen Mit- und Füreinanders, wie es in der Ethik unter dem Begriff einer stellvertretenden Verantwortung beschrieben ist. Auf diese Bewegung von der Kirche zur Welt hin kommt es nun im Denken Bonhoeffers an463, nachdem die frühe und die mittlere Phase seiner Theologie der Entwicklung einer Ekklesiologie und damit auch – oder vielleicht gerade – dem theologischen Erweis der Legitimation von Kirche gedient hat. Dabei ist das Problem bei der Ausweitung des Gedankens der Stellvertretung zu einem anthropologisch verankerten Handlungsmerkmal weniger der Begründungsweg, d. h. die Richtung oder – systematisch gesprochen – das theologische Grundprinzip, ob Bonhoeffer also auch dabei dem offenbarungstheologischen Ansatz treu bleibt oder nicht. Denn hier wie an anderen Stellen kann kein Zweifel bestehen, dass alle anthropologischen Aussagen und speziell die Interpretation des Menschen als homo sociale animal464 ihre ratio cognoscendi ebenso wie ihre ratio essendi – freilich genauer: restituendi – in der Offenbarung haben465. Es ist also ganz konsequent, wenn Bonhoeffer den Verantwortungsbegriff auf dem Gedanken einer anthropologischen Sozialität fußt: weil der Mensch von Gott her in seiner Geschöpflichkeit resp. in seinem in Christus restituierten versöhnten Menschsein ein soziales Wesen ist, kann seine Existenz nur gelingen, wenn er verantwortlich auf den Mitmenschen bezogen lebt466. Deswegen aber gehört zu jeder Begegnung konstitutiv die Angewiesenheit des einen auf den anderen, die ethische Inanspruchnahme und die entsprechende Verantwortung, die je nach Person und Situation sich ganz unterschiedlich darstellt, immer aber eine existentielle Tat der ganzen Person freisetzt. Mit der materialen Bestimmung einer aus der Bezogenheit auf Christus heraus entstehenden stellvertretenden Verantwortung wird folglich der Personbegriff selbst konkretisiert; denn die personale Bezogenheit des Menschen auf den anderen Menschen, die zu seiner Gottbezogenheit und damit zum menschlichen Wesen selbst gehört – sofern nämlich der Mensch aufgrund seines Gottesverhältnisses zu seiner Bestimmung kommt – manifestiert sich praktisch in konkreten Akten der Fürsorge, d. h. also als Christus antwortende ethische Tat für den Nächsten: „die Situation der Verantwortlichkeit […] in ihrer bezeichnendsten Gestalt [sc. ist] […] die Begegnung mit anderen Menschen“ und darum Verantwortung „immer ein Verhältnis von Personen zueinander […], gegründet in der Verantwortung Christi für die Menschen“467. 463

Vgl. dazu auch schon E 407–411. Vgl. Seneca, De ben. VII,1,7. 465 S. dazu o. den Abschnitt über den Lebensbegriff (B.II.2) sowie o. A.II.5.a. 466 Dies bildet auch schon den Hintergrund für Sanctorum Communio; dazu von Soosten, Sozialität, 69 f. (mit Hinweis auf die prägnantere Fassung der anthropologischen Sozialität in Schöpfung und Fall). 467 E 287.269. 464

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Soweit handelt es sich darum bei der Entwicklung der Kategorie der stellvertretenden Verantwortung zunächst nur um die Gewinnung einer neuen Perspektive auf die schon vorausgesetzten Grundlagen468, nämlich die der praktischen Sozialität des Personseins. Die Schwierigkeit liegt demgegenüber im Begriff, wie es auch schon oben bei den von Bonhoeffer selbst angeführten Beispielen deutlich wurde, d. h. also in der Unterordnung der verschiedenen Phänomene von sozialer Verantwortlichkeit unter einen genuin christologischen Begriff469. Damit versucht Bonhoeffer offenbar, die anthropologische Sozialität mit ihrer ‚Stellvertretungsstruktur‘ bzw. praktischen Sozialität, die sich in der je konkreten Verantwortlichkeit zeigt, in sehr direkter Weise auf Jesus Christus zurückzuführen. Es droht damit aber umgekehrt470 eher als die Gefahr einer unausgewiesenen Schöpfungstheologie vielmehr diejenige einer Prinzipialisierung des Christusgeschehens, wie sie Oswald Bayer moniert hat471. Denn ist die Übertragung des christologischen Stellvertretungsgedankens auf den Kirchenbegriff deshalb noch weitgehend unproblematisch, weil die Kirche eben Leib Christi und als solche die neue Gemeinde der versöhnten Menschen, Gemeinschaft der Heiligen, ist, so könnte dagegen die Ableitung einer anthropologischen Struktur aus der Christologie nun als die notwendige und allgemeine, seinshafte und einsehbare Überbietung des ursprünglichen Menschseins durch den stellvertretenden Gottmenschen resp. durch das von ihm repräsentierte Stellvertretungsprinzip verstanden werden472. Das aber ist 468 Die Bonhoeffer hier allerdings nicht explizit macht, sondern in seinen Formulierungen bloß andeutet. Es ist ihm offensichtlich eine Selbstverständlichkeit, die zudem schon deshalb keiner ausführlichen Erörterungen bedarf, weil ein gedanklicher Rückgriff auf den Menschen ‚vor‘ dem Fall sinnlos ist: der versöhnte Mensch lebt ja nun wieder als Geschöpf, aber von Christus her. 469 Schaede, Stellvertretung, 550, weist nach, dass das Verbalnomen Stellvertretung erstmals von S.J. Baumgarten im Paragraphen über das Mittleramt Christi in seiner Evangelischen Glaubenslehre verwendet wurde, und damit vergleichsweise spät (1759) auftritt. 470 Jüngel, Geheimnis der Stellvertretung, 253 f., referiert den Vorwurf von Heinrich Vogel, wonach Bonhoeffer eine anthropologische Stellvertretungsstruktur postuliere und von dieser ausgehend das Sein Jesu Christi interpretiere. Das entspricht aber nicht dem Text E 257 f. (und schon gar nicht dem Kontext), in welchem das Begründungsverhältnis ohne Zweifel umgekehrt verläuft. Richtig ist freilich der andere Kritikpunkt, welcher von Jüngel nicht als verschieden von dem ersten ausgewiesen wird, dass nämlich der Stellvertretungsbegriff bei Bonhoeffer problematisch ist, weil er suggeriert, dass der Mensch Subjekt soteriologischen Handelns sein könne (ebd.). Dies ist bei Bonhoeffer weiter zu hinterfragen, wobei ja meine schon geäußerte Ansicht ist, dass hier von ihm – zweifellos ebenfalls problematisch – ein äquivoker Stellvertretungsbegriff gebraucht wird. 471 Bayer, Christus, 273. Bayer nennt dies eine „nachchristliche natürliche Theologie“ (ebd.), die darin begründet sei, dass Bonhoeffer eine prinzipielle Vermittlung von Gott und Welt denke. 472 Vgl. auch Kodalle, Fremdheit, 154–156, der Bonhoeffer eine „gesetzliche verstandene[ ] Stellvertretungstheorie“ bzw. „Opferideologie“ vorwirft (aaO. 156). Allerdings stützt er sich dabei ganz überwiegend auf frühe Formulierungen, die Bonhoeffer – mit gutem Grund – in der Ethik so nicht wiederholt hat.

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von Bonhoeffer so nicht gemeint, auch wenn es sich durch die verkürzte Ausdrucksweise und den früheren, recht unbefangenen Sprachgebrauch durchaus an manchen Stellen nahe legt473. Freilich genügt es nicht, Bonhoeffers Äußerungen über die Notwendigkeit des Glaubens für das neue Sein des Menschen anzuführen, auch wenn dies ein entscheidender Punkt ist. Denn es bleibt auch dann die Frage, in welchem Verhältnis soteriologische Stellvertretung Christi und ethisch-soziale Stellvertretung des Menschen stehen, insofern es sich doch wohl um unterschiedliche Dinge handelt. Hätte Bayer uneingeschränkt recht mit seiner Kritik, so wäre Bonhoeffer ein doppelter Denkfehler unterlaufen: entgegen seiner Absicht hätte er sich mit seiner Konzeption dem Denken Hegels stark angenähert und dabei auch noch in kurzschlüssiger Weise einen Begriff aus einem inkommensurablen anderen, homonymen Begriff abgeleitet. Das lässt sich freilich in dieser Zuspitzung nicht nachweisen und würde auch einen starken Abfall im gedanklichen Niveau bedeuten, der wiederum erklärt werden müsste. Dabei scheint mir allerdings, dass Bayer mit seiner Kritik auch nicht uneingeschränkt unrecht hat, auch wenn nach meiner Auffassung schon eine Interpretation ad malam partem vorliegt474. Überblickt man nicht nur den Text der Ethik, sondern auch die früher verfassten Passagen zum Stellvertretungsbegriff, so zeigt sich, dass Bonhoeffer wohl einerseits durch eigene frühere Überlegungen zum Stellvertretungsbegriff zu den teils unklaren Formulierungen gekommen ist, andererseits aber das scheinbar fehlende Argumentationsglied bei genauem Hinsehen wohl vorhanden ist, aber nicht eigens betont wird. Denn das stellvertretende Handeln Christi, die Verantwortung Christi für alle Menschen475, ist zwar – und hier entsteht die Unklarheit – primär als die soteriologische Stellvertretung Christi für alle Menschen zu verstehen, es handelt sich also, wenn man so will, zunächst um einen formalen Akt der Stellvertretung, bei welcher die Stelle der Menschen vor Gott durch Jesus Christus ausgefüllt wird, indem Gott in seiner zweiten Person Mensch wurde, und zwar im Sinne des altkirchlichen Dogmas ohne eine eigene menschliche Hypostase476. Darum hat er „das Ich aller Menschen aufgenommen“477 und vertritt so die Menschen nicht exklusiv, sondern inklusiv – die Voraussetzung dafür, dass mit der Zurechnung der Gerechtigkeit aufgrund der stellvertretenden Gebotserfüllung und des stellvertretenden Strafleidens Christi sowie seiner Fürbitte478 der Mensch im Glauben wirklich 473 Also etwa, wenn direkt aus der Christologie das „Gesetz der Stellvertretung“ abgeleitet wird (so offenbar wörtlich in der Vorlesung über das Wesen der Kirche, DBW 11, 275). 474 So nimmt er sehr einseitig auf den Text der Ethik Bezug und verankert die zitierten Stellen kaum im Kontext, was aber zu Klärung der Frage eminent wichtig ist. 475 Vgl. E 257. 476 S. dazu o. B.II.3.c. 477 E 258. 478 Bonhoeffer schließt sich der traditionellen dogmatischen Interpretation des Heilsgeschehens an, wie sie beispielsweise in der von ihm verwendeten Lutherischen Dogmatik

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erneuert wird, auch wenn diese Erneuerung ihre Vollendung erst eschatologisch erfährt479. Der entscheidende Punkt bei Bonhoeffers Aufnahme ist nun aber, dass er diese, etwas vereinfachend formuliert, eigentliche, soteriologische Stellvertretung Christi mit der uneigentlichen, ethisch-sozialen Stellvertretung schon in Christus zusammen denkt480. Die Gebotserfüllung durch Christus und sein Aufsichnehmen der Strafe, die de iure ausschließlich den Menschen auferlegt werden müsste, sind darum nicht voneinander zu trennen, auch wenn sie begrifflich und sachlich unterschieden werden – und zwar auch von Bonhoeffer, freilich an dieser Stelle nicht explizit481. Vielmehr ist zwar das Leiden und der Tod Christi am Kreuz wirklich Strafleiden, aber als stellvertretendes Strafleiden aus Liebe zugleich auch das, was Albrecht Ritschl die Erfüllung des Berufsgehorsams nennt482, also in Fortsetzung seines aktiven Gehorsams die wahrhafte und wirkliche Erfüllung des Gebots: von Schmid dargestellt ist (Dogmatik, 250 ff.: § 36. officium sacerdotale): „Christi anderes Geschäft ist es, die Erlösung selbst und die Versöhnung mit Gott zustande zu bringen […]. Darnach zerfällt dasselbe in zwei Teile […]. Der erstere Teil desselben wird satisfactio genannt […]. Der andere heißt intercessio. I. Satisfactio. […]. Ein Doppeltes aber muß geleistet werden. Es muß einmal bewirkt werden, daß Gott aufhört, die Menschen als solche zu betrachten, welche den Forderungen des heiligen Gesetzes nicht genügt haben. Dieses geschieht, wenn der, welcher genugthun will, an der Menschen Statt das ganze Gesetz so erfüllt, daß von ihm jetzt geleistet ist, was von den Menschen unterlassen worden war. Dann muß bewirkt werden, daß auf den Menschen keine Schuld mehr ruht, um deretwillen sie Strafe verdienen, und dieses geschieht, wenn der für die Menschen Genugthuende die Strafen auf sich nimmt. Beides aber hat Christus bewirkt: das erstere durch seine obedientia activa (quae in perfectissima legis impletione consistit), denn da hat er, der für seine Person dem Gesetze nicht unterworfen war, dasselbe an Statt der Menschen erfüllt; das andere durch seine obedientia passiva (quae in sufficientissima poenarum, quae nos manebant, persolutione consistit), denn da hat er gelitten, was die Menschen hätten erleiden sollen, und hat er so ihre Strafe auf sich genommen, und an ihrer Statt ihre Sünden abgebüßt […] II. Intercessio. Nachdem nämlich Christus sich so zum Opfer für die Menschen dargebracht hat, besteht der zweite Teil seines priesterlichen Geschäfts darin, daß er, nachdem er erhöht ist zur Rechten des Vaters, bei demselben sich auf den Grund seines Verdienstes hin wirksam dafür verwendet, daß den so erlösten Menschen auch alles das zu gut kommt, was er ihnen durch sein Leiden und Sterben erworben hat […] dieselbe [wird] nach ihrem Umfange unterschieden als int. generalis, qua orat Christus patrem pro omnibus hominibus, ut salutaris mortis suae fructus illis applicetur […] und als int. specialis, qua orat pro renatis et electis, ut in fide et sanctitate conserventur atque crescant […].“ Vgl. dazu Bonhoeffers Ausführungen zur Stellvertretung in SC 91 ff., bes. 93–9.98 f.; DBW 11, 266 ff., bes. 267 f.292; DBW 14, 340–342.346–348; DBW 16, 480. 479 Bonhoeffers Festhalten an der Eschatologie zeigt sich besonders deutlich an dem Kapitel über die letzten und die vorletzten Dinge, E 137–162. 480 Dabei ist mit der Unterscheidung von eigentlich und uneigentlich nicht die Differenz zwischen soteriologisch und nicht-soteriologisch gemeint, sondern rein formal diejenige zwischen einem echten und ausschließlichen Vertretungsakt und einem Akt fürsorglichen Handelns, der dann freilich auch, aber eben nur im Spezialfall, ein Vertretungsakt sein kann. 481 Vgl. dazu die früheren Ausführungen Bonhoeffers zur Stellvertretung (s. o.), außerdem E 263 (stellvertretende Gebotserfüllung) mit 275 (stellvertretende Schuldübernahme). 482 Vgl. dazu Ritschl, Rechtfertigung und Versöhnung III, 388 ff.410 ff. Freilich ist für Ritschl der Beruf Christi die Darstellung und Gründung des Gottesreiches als der vollen und endgültigen Verwirklichung des allgemeinen Sittengesetzes (aaO. 389). Dass Bonhoef-

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„Weil es Jesus […] allein um die Liebe zum wirklichen Menschen geht, darum kann er in die Gemeinschaft ihrer Schuld eintreten […] Aus seiner selbstlosen Liebe, aus seiner Sündlosigkeit [!] heraus tritt Jesus in die Schuld der Menschen ein, nimmt sie auf sich.“483

Als Entsprechung zu diesem göttlichen Liebeshandeln wird von den Menschen in den göttlichen Geboten daher letztlich nichts anderes verlangt als ein von der Liebe bestimmtes Handeln484. Dieses wird nun aber von Bonhoeffer in seiner Vollzugsform als stellvertretende Verantwortung beschrieben, weil es sich dabei immer um ein konkretes, intentional auf das Wohl des oder der Anderen gerichtetes (ethisch-sozial „stellvertretendes“) und zugleich umsichtiges, situatives („wirklichkeitsgemäßes“)485 Tun handelt486. „Liebe und Verantwortung“487 sind darum ganz einfach zwei Seiten derselben Medaille oder zwei Perspektiven auf dieselbe Sache: Das ethisch-soziale Handeln ist sowohl formal als Verantwortung als auch inhaltlich als Liebe auf Christus bezogen: es ist die antwortende Tat, die aus der Begegnung mit Christus freigesetzt wird, und es ist als diese Antwort resp. Verantwortung Erfüllung des Gebots, dessen Sinn die Liebe ist, d. h. die stellvertretende Verantwortung, in welcher fürsorglich für den Nächsten gehandelt wird488. fer eine solche kantisierende Interpretation der Jesus-Verkündigung prinzipiell ablehnt, muss nicht mehr eigens begründet werden (vgl. im Übrigen den Exkurs zu seiner Beurteilung der Liberalen Theologie [D.I]). Ritschls Kritik an der Interpretation des Leidens Christ als stellvertretendem Strafleiden statt als „Probe der Geduld und Standhaftigkeit“ (aaO. 390), d. h. als bloßen Erweis und Konsequenz der sittlichen Berufstreue hat Bonhoeffer bereits in der Dissertation abgelehnt (SC 99 mit Hrsg.-Anm. 80). S. auch von Soosten, Sozialität, 66 f. 483 E 275. 484 Vgl. E 282: „Es ist das Gesetz der Gottes- und der Nächstenliebe, wie es im Dekalog, in der Bergpredigt und in der apostolischen Paränese ausgelegt ist“. Summarisch kann Bonhoeffer dieses jesuanische Doppelgebot der Liebe (Mk. 12, 29–31parr) auch das „Lebensgesetz“ (ebd.) nennen. (Man beachte hier die Gleichordnung von alttestamentlicher Tora und neutestamentlicher Toraverschärfung.) S. auch ZE Nr. 63: „Das Gute entsteht durch Liebe zu Gott u. zum Nächsten, d. h. Blick nicht nur auf Gott, sd. auch auf den Nächsten.“ 485 Dazu s. u. B.II.4.c. 486 ZE Nr. 18: „Mensch steht immer schon in Verantwortung, Frage nur, ob er sie realisiert. Realisierbar nur in […] Liebe, Stellvertretung.“ 487 So die ‚Unterschrift‘ unter dem Kapitel E 299. Vgl. auch den entsprechenden Abschnitt aus der ersten Fassung des Kapitels E 231 f. Da Bonhoeffer bei dem Über- und Umarbeiten des Kapitels die Reflexionen zum Liebesbegriff ganz herausgenommen hat, wohl um diesen mehr hervorzuheben und als Leitbegriff über die gesamten Ausführungen der Ethik zu setzen, entfallen die Äußerungen nun, obwohl sie Bonhoeffers Intention bei der Verwendung des Stellvertretungsbegriffs besser verdeutlichen würden. Vgl. zum Liebesbegriff E 335–341 und o. A.II.5.f. 488 Vgl. auch ZE  Nr. 28: „Liebe ist […] ein Sein, nämlich ein Zueinandergehören, Miteinandersein, in Christussein etc. .. Gebot der Liebe bedeutet nur: dieses Sein aktualisieren.“; sowie die Formulierungen der ersten Fassung (E 231): „Der Inhalt der Verantwortung […] ist Liebe, ihre Form ist Freiheit.“ Dass Verantwortung Freiheit als Form habe, ist keine besonders glückliche Ausdrucksweise, schon weil Freiheit bei Bonhoeffer grundsätzlich nicht ohne ihren Gegenpol, die Bindung auftritt. Entsprechend hat er sich in der zweiten

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Weil Bonhoeffer diese perspektivischen Unterscheidungen hier nicht explizit durchführt, sondern voraussetzt, verwendet er allerdings faktisch, wie schon angemerkt wurde, einen äquivoken Begriff von Stellvertretung. Denn eine soteriologische Stellvertretung ist dem Menschen unmöglich489. Er kann seinerseits nur wegen seiner Inklusion in das soteriologische Stellvertretungshandeln Christi das Wesen dieser Tat Christi, die Liebe, in seinem eigenen Handeln in menschlicher Weise zur Darstellung und Wirklichkeit bringen. Dazu gehört dann zwar wohl die Selbstlosigkeit des Handelns in der personalen Bezogenheit auf den Anderen, die aber keine absolute und totale ist, weil dies dem Wesen der Liebe entgegensteht – nicht, weil der Mensch dazu nicht fähig wäre490; dazu kann auch die eigene Gefährdung bis hin zum Tod Fassung korrigiert (s. u. B.II.4.d). Sinnvoller ist es dagegen, Verantwortung als Oberbegriff bzw. Vollzugsform des Handelns zu interpretieren, deren wesentliches Element dann die (innere und äußere) Freiheit des Subjekts ist, wie es in der überarbeiteten Fassung der Fall ist. Vgl. im Übrigen Brunners Anthropologie, in welcher die Gottebenbildlichkeit des Menschen formal als Verantwortung und material als Sein in der Liebe bestimmt wird (MW 81–104, bes. 86 ff.). 489 Die Ursache für diese verwirrende Äquivokation mag darin liegen, dass Bonhoeffer hier eben einen ursprünglich exklusiv in der Ekklesiologie verwendeten Begriff ausweitet. Für das Verhältnis der Glaubenden untereinander, also für die Glieder am Leib Christi, gilt nämlich, dass sie aufgrund des Erlösungshandelns Christi einander stellvertretend für Christus die Sünde vergeben, weil sie sich von Christi Stellvertretung getragen wissen (SC 126 f.). Bonhoeffer interpretiert dies als stellvertretendes Schuldtragen durch die Gemeinde, was darin ermöglicht sei, dass Christus selbst die Gemeinde bzw. umgekehrt die Gemeinde der Christus praesens sei (vgl. DBW 11, 271 u. ö.), so dass in Wirklichkeit Christus selbst in seiner Gemeinde handele. Weil Bonhoeffer dieses geistliche Handeln in der Kirche mit dem christlich-ethischen Handeln des Glaubenden parallelisiert, kommt er wohl zu dem begrifflichen Kurzschluss, die ethisch-soziale Stellvertretung  –  die von einer säkularen ethischen Stellvertretung zu unterscheiden ist (vgl. SC 99 f.17); DBW 11, 266 f.) – unmittelbar aus der soteriologischen Stellvertretung Christi abzuleiten, obwohl auch das geistliche Handeln der Sündenvergebung, die ja durch den Bruder zugesprochen wird, deshalb kein stellvertretendes Handeln sensu stricto ist, weil gar keine echte Vertretung geschieht. So ist ja auch in Bonhoeffers ekklesiologischer Konzeption letztlich Christus das Subjekt der Sündenvergebung, die im Raum der Kirche sich ereignet, aber nicht von der Kirche – etwa im Sinne der römischen Heilsanstalt – unmittelbar aufgrund einer ihr bzw. ihren sie repräsentierenden Priestern eigenen sakramentalen Weihe vermittelt wird (vgl. Bonhoeffers Kritik am katholischen Kirchenbegriff SC 121.187 f.; DBW 11, 292). Am ehesten noch leuchtet dagegen die Bestimmung der Fürbitte als stellvertretendes Handeln aufgrund der Stellvertretung Christi ein. Doch auch hier gilt: es ist kategorial verschieden von dem Erlösungshandeln Christi; die Stellvertretung eines Menschen durch einen anderen vor Gott geschieht in der Bitte um Erlösung für den anderen, nicht bewirkt sie per se – das gesteht auch Bonhoeffer ein – dessen Erlösung (vgl. SC 125). Doch schon hier formuliert Bonhoeffer deutlich, worauf es ihm bei der Verwendung dieses uneindeutigen Begriffs von Stellvertretung eigentlich ankommt, nämlich auf die menschlichen Verwirklichungsweisen der in Christus erfahrenen göttlichen Liebe: „Einer trägt den anderen in tätiger Liebe, Fürbitte und Sündenvergebung in der völligen Stellvertretung, die nur in der Gemeinde Christi möglich ist, die als Ganze auf dem Prinzip der Stellvertretung, d. h. der Liebe Gottes ruht“ (SC 128 [meine Hervorhebung], vgl. 99). 490 Dazu ist er nämlich durchaus fähig, aber damit übersieht er einerseits die Komplexität seiner Lebensverhältnisse, die oftmals von verschiedenen Seiten aus ein verantwortliches

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aus Liebe für andere gehören, wenn dies unvermeidlich ist; schließlich gehört dazu auch das Übernehmen, d. h. genauer das Inkaufnehmen von handelnd selbst verursachter Schuld um des Anderen willen, d. h. der Verlust der eigenen moralischen Integrität durch Übertreten des göttlichen und menschlichen Gesetzes zum Wohl des oder der Anderen491. Nicht aber gehört dazu dasjenige, was nur der Gottmensch allein vermag, nämlich die Wiederherstellung der Gottesbeziehung und die stellvertretende Übernahme der Strafe492: „Als der Sündlose nimmt Jesus die Schuld seiner Brüder auf sich, und unter der Last dieser Schuld erweist er sich als der Sündlose.“493 Wenn aber die ethisch-soziale stellvertretende Verantwortung des Menschen Erfüllung des Gebots oder Gesetzes ist – beide Begriffe werden in diesem Kapitel von Bonhoeffer weitgehend synonym verwendet494 –, dann geht es im Handeln des Menschen um die Verwirklichung des ursprünglich gewollten und geschaffenen Menschseins, das seinen alleinigen Ermöglichungsgrund nun aber, wegen der Sünde, im Christusgeschehen hat. Ohne Christus, d. h. ohne den Glauben an die ein für alle Mal geschehene Erlösung in Christus dagegen ist die wesenhafte praktische Sozialität des Menschen zwar nicht derart ausgelöscht, dass der Mensch nun bloß als Eremit zu existierten vermöchte; sie

Handeln von ihm verlangen, und verabsolutiert stattdessen den konkreten Adressaten seines Handelns (E 258); er missachtet andererseits auch seine eigene, persönliche Bedeutung vor Gott, die in der Dialektik von Selbstverneinung und Selbstbejahung des Handelns von Bonhoeffer zu einem Grundelement des christlich-ethischen Handelns gemacht wird. Auch darum ist der Vorwurf Kodalles, Bonhoeffer entwerfe hier eine Opferideologie nicht zutreffend, denn sowohl in diesem Kapitel als auch in demjenigen über das natürliche Leben insistiert Bonhoeffer ausdrücklich auf dem Recht zur Selbsterhaltung bzw. der „Selbstbehauptung“ als Strukturelement jedes christlich-ethischen Handelns (vgl. E 179 ff.253). 491 Zur Schuldübernahme s. u. B.II.4.d. Es ist deutlich, dass Bonhoeffers Reflexion der christlichen Verantwortung einen Sitz im Leben hat, dessen Bedeutung für die Ethik kaum zu unterschätzen ist. So spiegeln sich die theoretischen Erwägungen zu Verantwortung, Liebe und anderen Aspekten der hier entworfenen christlichen Ethik deutlich in seiner Existenz zwischen politischem Widerstand einschließlich des Versuchs des Tyrannenmords, Leid und Todesbedrohung als Folge des verantwortlichen Handelns und gleichwohl festgehaltener Lebensbejahung, erkennbar u. a. an seinen Zukunfts- und Heiratsplänen im Gefängnis. Eine ausführliche und konkrete Untersuchung zum Wechselverhältnis zwischen Ethik und Existenz Bonhoeffers kann allerdings sinnvollerweise erst dann geleistet werden, wenn jene umfassend auf Konzeption und materiale Folgerungen untersucht ist. 492 Dies formuliert Bonhoeffer auch an keiner Stelle. Im Gegenteil stellt er E 279 u. ö. deutlich heraus, dass allein in Christus das Leben besteht und begründet ist und allein Christus Verantwortung und Freiheit des Gewissens begründet, dass der Mensch dagegen niemals wahrhaft sündlos ist, was aber die Voraussetzung der wirksamen soteriologischen Stellvertretung ist (vgl. z. B. DBW  14,  348, vgl. E  275) etc. Von diesen Äußerungen her müssen die etwas undeutlichen, aber einander nicht widersprechenden Sätze E 257 f. gelesen werden. S. ausführlicher u. B.II.4.d. 493 E 275 f. 494 Vgl. E  263.274.282 f. Zur Verwendung von ‚Gesetz‘ und ‚Gebot‘ in der Ethik s. u. C.III.2.

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ist aber strukturell verkehrt, so dass er seine Bestimmung, die stellvertretende Verantwortung, verfehlt: er ist „stellvertretend […] zum Tode“495. Schwierig ist hier allerdings das Argument, mit dem Bonhoeffer offenbar einem möglichen Einwand gegen seine Konzeption begegnen will. So setzt er sich gedanklich mit der Frage auseinander, welche Bedeutung und Funktion denn das Eremitendasein überhaupt haben kann, wenn der Mensch zur Sozialität bestimmt ist. Wenn er, wohl um diese Existenzform nicht als dem Menschen inadäquat verwerfen zu müssen, behauptet, dass „der Einsame stellvertretend [lebt]“ und zwar in „qualifizierter Weise“, weil er stellvertretend für „den Menschen schlechthin“ lebe, so leuchtet dies im Zusammenhang seiner Konzeption nicht ein. Denn damit setzt er offenbar einen allgemeinen Begriff vom Menschen voraus, dessen Würde nun Gegenstand der stellvertretenden Verantwortung dieses außerhalb der konkreten sozialen Verhältnisse Lebenden ist. Ebenso wird plötzlich die Selbstverantwortung, ein Gedanke, den Bonhoeffer anscheinend nicht aufgeben möchte, als diejenige Verantwortung ausgelegt, „die ich mir als Mensch,  –  also weil ich Mensch bin  –  gegenüber wahrnehme. Selbstverantwortung ist in Wahrheit Verantwortung gegenüber dem Menschen und das heißt der Menschheit.“496 Auch das widerspricht einerseits der christologischen Begründung der Anthropologie und dem entsprechenden Glaubensbegriff, wonach allein in der konkreten personalen Christusbeziehung das Menschsein als Personsein realisiert wird, es also kein abstraktes Menschsein gibt, welches im Handeln und Denken objektiviert werden könnte; es kollidiert andererseits aber auch mit der Chris495 E 258, vgl. 257: „Kein Mensch, der der Verantwortung und das heißt der Stellvertretung überhaupt entgehen könnte.“ S. auch 220 (erste Fassung): „Er hört ja nicht auf, Familienvater zu sein, sondern er ist nur statt ein guter Familienvater zu sein ein schlechter Familienvater.“ Hieran sieht man noch deutlicher als an der kürzeren und abstrakteren Formulierung an der Parallelstelle 257, dass Bonhoeffer eine anthropologische Bestimmung zur Gemeinschaft voraussetzt, die sich konsequent auch in biologischen und sozialen Grundverhältnissen äußert. Freilich ist diese Bestimmung unter der Sünde eben völlig verkehrt, eine „soziale“ Existenz zum Tode. 496 E  257. Die Begründung dürfte wohl Kants Menschenwürdekonzeption entlehnt sein; derzufolge begründet die „vernünftige Natur“ des Menschen als „oberstes praktisches Prinzip“, d. h. als „objektives Prinzip des Willens“ die niemals ganz aufgebbare Selbstzwecklichkeit eben des vernünftigen menschlichen Wesens und verbietet darum jede bloße Instrumentalisierung des Menschen zu einem bestimmten anderen Zweck (Umgehung künftiger Übel); vgl. GMS  BA  66 f. Warum Bonhoeffer diese Argumentation aber aufgreift und damit seine eigene Konzeption verlässt, bleibt unklar – zumal er Kants Selbstzweckformel noch in einem anderen Kontext verwendet („Das natürliche Leben“, vgl. E 173) und seiner Konzeption dort aber durch die spezifische Interpretation zu integrieren vermag (dazu s. u. C.IV). Der Begriff der Selbstverantwortung hätte jedenfalls nicht an dieser Stelle, also im Kontext der Erwägungen zum Stellvertretungsbegriff, aufgenommen werden müssen. Es hätte vielmehr genügt, wenn im Verlauf der Konkretion des Verantwortungsbegriffs der eigene Personwert als in der Christusbeziehung sowohl begründeter als auch erfahrener entfaltet worden wäre; das verantwortliche Handeln würde sich dann ganz selbstverständlich auch auf die eigene Person und ihre Bedürfnisse beziehen.

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tologie selbst: denn allein Christus ist ja der Stellvertreter für alle Menschen resp. für die Menschheit, weil in ihm Gott „Natur, Wesen, Schuld und Leiden des Menschen leibhaftig auf sich nimmt und trägt“497, der je konkrete Einzelne dagegen ist immer nur von Christus her zur konkreten, situationsgebundenen ethisch-sozialen Stellvertretung befähigt. Er kann immer nur „das Ich mehrerer Menschen in sich [vereinigen]“, nicht aber „in sich das Ich aller Menschen [aufnehmen] und [tragen]“498. In der stellvertretenden Verantwortung des Menschen realisiert sich darum zwar das wirkliche Leben, das wahrhaft soziale Menschsein solo Christo, aber nicht als die Ableitung aus einem Christusprinzip, sondern als das mit Gott versöhnte Menschsein, das als dieses allein in der personalen Bezogenheit auf Christus, in der Antwort, besteht. Wenn Bonhoeffer daher mit etwas einseitigen Formulierungen ein direktes, strukturelles Begründungsverhältnis zwischen der Stellvertretung Christi und dem stellvertretenden Handeln des Menschen postuliert499, so sind die teils nur indirekt oder beiläufig genannten dogmatischen Voraussetzungen mitzulesen: die ethisch-soziale Stellvertretung ist als Vollzug des Liebesgebots die von Christus durch seine oboedientia activa et passiva stellvertretend verwirklichte restitutio hominis per fidem. bb) Wirklichkeitsgemäßheit Dem Element der Sozialität im Verantwortungsbegriff, das Bonhoeffer mit dem Begriff der (ethisch-sozialen) Stellvertretung bezeichnet hat, ordnet er nun ein weiteres Element der „Bindung“500 bei, das in anderer Weise als jenes 497

E 71. E 257 f. 499 Wenn Bonhoeffer etwa E  258 formuliert: „Weil er [sc. Christus] das Leben ist, ist durch ihn alles Leben zur Stellvertretung bestimmt.“, so ist hier zu bedenken, dass Bonhoeffer zwar letztlich das Menschsein auch inhaltlich, also z. B. hinsichtlich seiner Sozialität, in Christus begründet sein lässt, aber dies als restitutio mundi versteht; weil Christus auch Schöpfungsmittler ist und also auch die creatio mundi durch ihn geschehen ist, kann dann schließlich die Ausdrucksweise verkürzt werden und in missverständlicher Weise alles Sein in seiner konkreten Gestalt aus der Person Christi abgeleitet werden. Vgl. dazu bes. die eben angegebenen Stellen aus Sanctorum Communio, wo Stellvertretung als ekklesiologisches Prinzip aus der Gleichung Kirche = Christus praesens abgeleitet wird (dazu s. auch Abromeit, Geheimnis, 272, der diese Einschätzung bestätigt); in der Christologievorlesung stellt Bonhoeffer demgegenüber mit gutem Grund den Vorrang der Person Christi vor seinem Werk heraus (DBW 12, 289 f.). Gerade der vom Dialogismus beeinflusste Personbegriff (s. o. B.II.3) aber ist es, der Bonhoeffers Konzeption bei aller an einigen Stellen feststellbaren sprachlichen Nähe zu Hegels Geistphilosophie grundlegend unterscheidet und es verbietet, Christus als personifiziertes Stellvertretungsprinzip zu begreifen, an dem der Mensch qua allgemeiner Versöhnung teilhat. 500 Zu den von Bonhoeffer entwickelten Strukturelementen „Bindung“ und „Freiheit“, die in „Stellvertretung“ und „Wirklichkeitsgemäßheit“ einerseits und „Selbstzurechnung“ und „Wagnis“ andererseits differenziert werden, vgl. E 256. 498

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das verantwortliche Handeln inhaltlich näher bestimmt. Geht es bei der stellvertretenden Verantwortung um die Fürsorglichkeit des Handelns, die grundsätzlich dem jeweils Nächsten gilt, d. h. also demjenigen, der je konkret dem Subjekt des Handelns begegnet oder anvertraut ist501, so bezieht Bonhoeffer nun die (Um-)Welt des Menschen in das verantwortliche Handeln ein. Dies ist die konsequente Fortführung seines lebensphilosophisch inspirierten Ansatzes: Als Teil des natürlichen und gesellschaftlichen Lebens handelt der Mensch immer in Bezug auf die ihn umgebende und bedingende Situation. Das christlich-ethische Handeln hängt nicht im leeren Raum der Abstraktion, sondern ist auf die konkrete Wirklichkeit des Handelnden bezogen  –  und zwar nicht trotz, sondern wegen seiner Existentialität, die immer eine ganzheitliche, im allgemeinen natürlich-geschichtlichen Leben verankerte ist. Die biologisch-natürlichen Grundlagen seiner Existenz und die sozialen, politischen und kulturellen Gegebenheiten sind für sein Handeln wesentliche Faktoren  –  nämlich kausale, konditionale und intentionale Faktoren, insofern sie einerseits die konkrete, das Handeln herausfordernde und „mitgestaltend[e]“502 Situation einschließlich ihrer Handlungsmöglichkeiten schaffen und andererseits in einer bestimmten, von Christus her erkannten Gestalt das je konkrete Handlungsziel abgeben. Es ist daher notwendig, den Zusammenhang von Welt resp. Wirklichkeit und Handeln näher zu reflektieren und dem Verantwortungsbegriff zu integrieren, wenn er zur Leitkategorie des christlichen Handelns taugen soll. Dies tut Bonhoeffer unter dem Stichwort „Wirklichkeitsgemäßheit“503. Die zuvor anhand des Lebensbegriffs sowie im (sachlich und chronologisch) ersten Kapitel „Christus, die Wirklichkeit und das Gute. Christus, Kirche und Welt“ entfaltete christologische Ontologie wird folglich nun auf ihre konkrete, die ethische Handlung betreffende Bedeutung befragt. Hatte Bonhoeffer zunächst nur den allgemeinen Zusammenhang von Ontologie und Ethik behandelt, indem er das christlich-ethische Handeln des Glaubenden als „Wirklichwerden“ der Wirklichkeit der Welt gedeutet und so Sein (bzw. Leben bzw. Wirklichkeit) und Handeln, oder anders: Versöhnung Gottes mit der Welt und dem Menschen, miteinander verschränkt hat, so wird dieser Zusammenhang nun weiter expliziert: Die Wirklichkeit (der Welt bzw. des Lebens) ist als Ganze in Jesus Christus gegründete und auf 501 Dabei ist es bedeutsam, dass Bonhoeffer keine wertenden Differenzierungen mehr vornimmt: es geht nicht mehr primär um den Bruder in der Gemeinde – um den natürlich auch, – sondern um den Menschen, der ihm als Nächster begegnet und dabei wie im Gleichnis vom Samariter eine andere (oder gar keine) religiöse Prägung besitzen kann. Dieser Nächste kann daher unter den gewöhnlichen einschränkenden Kategorien von Nationalität, religiöser Zugehörigkeit, gesellschaftlicher Gruppe etc. durchaus als der „Fernste“ erscheinen. S. dazu u. den Abschnitt über Verantwortung als Beruf. 502 E 260. 503 E 256.260 ff.

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ihn bezogene Wirklichkeit – für den Glaubenden, der sie erkennt und von ihr lebt504. Zugleich aber ist dies nicht nur eine epistemologische Relation, dann wäre die Ontologie ja auch nicht derart grundlegend für die Ethik, wie Bonhoeffer in seinen Ausführungen zum Wirklichkeits- und zum Lebensbegriff behauptet. Vielmehr realisiert sich eben diese Wirklichkeit, die bloß im Glauben zugänglich ist, ihrerseits erst im Glauben und d. h. letztlich im Handeln, sofern ja Glauben und Tun in Bonhoeffers Auffassung nicht voneinander zu trennen sind. Klar und deutlich hat Bonhoeffer dies etwa in dem zentralen Satz des ersten Kapitels formuliert, welcher nicht nur den Gegenstand der Ethik als theologischer Disziplin bestimmt, sondern darin zugleich die Ethik ontologisch fundiert: „Das Problem der christlichen Ethik ist das Wirklichwerden der Offenbarungswirklichkeit Gottes in Christus unter seinen Geschöpfen“505. Im Handeln, dem unmittelbaren und notwendigen Praktischwerden des Glaubens, kommt so einerseits die Versöhnung Gottes mit dem Menschen zu seiner Wirklichkeit. Andererseits aber kommt eben darin auch die Versöhnung Gottes mit der Welt, also gewissermaßen die kosmologisch-ontologische Seite des Christusgeschehens, zu ihrer Wirklichkeit, weil der Mensch konstitutiv mit der ihn umgebenden Welt verbunden ist – ja mehr noch, weil die Welt, wie nun von Bonhoeffer im Folgenden deutlich gemacht wird, wesentlich Welt für den Menschen ist und darum in das Gottesverhältnis des Menschen einbezogen ist506. Umgekehrt aber ist der Mensch darum auch nicht ohne Welt zu denken; sein Menschsein vollzieht sich ja gerade als praktisches Weltverhältnis, welches vom Glauben an Christus getragen und inhaltlich bestimmt ist507. Das bedeutet dann 504

E 43 u. ö. S. dazu o. B.II.2. E 34 (im Original kursiv). Die Fortsetzung des Zitats lautet (im Original recte): „[…] wie das Problem der Dogmatik die Wahrheit der Offenbarungswirklichkeit Gottes in Christus ist.“ Demnach versteht Bonhoeffer die Dogmatik nicht als von moralischen Handlungsregeln unterschiedene theologische Prinzipienlehre, sondern als Teil der Ethik – sofern nämlich Ethik sich von der Dogmatik lediglich darin unterscheidet, dass sie über die intellektuelle Reflexion des Glaubens hinaus seinen existentiellen Anspruch im resp. auf das konkrete Leben des Glaubenden bedenkt. 506 Dazu s. den nächsten Abschnitt. Die existentielle Verbundenheit des Menschen mit der ihn umgebenden Welt hat Bonhoeffer demnach erst mit den Ausführungen zum Lebensbegriff näher expliziert. Dass die Welt eine Ordnung auf den Menschen hin aufweist, ist Gegenstand der im Folgenden behandelten Ausführungen zur Wirklichkeitsgemäßheit. Mit „Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]“ werden darum nicht nur Gedanken des Wirklichkeitskapitels wieder aufgenommen und mit neuen Aspekten versehen – was insbesondere den Wirklichkeitsbegriff selbst betrifft, der nun mittels des Lebensbegriffs dynamisiert und historisiert wird –; es werden zudem gedankliche Voraussetzungen offen gelegt, die für ein tiefes Verständnis auch des ersten Kapitels unerlässlich sind. 507 Hier stellt sich die sehr bedeutsame Frage, wie genau dieser Zusammenhang von Mensch und Welt in Christus zu denken ist. Vereinfacht gefragt: Setzt Bonhoeffer ein Modell voraus, in dem die Welt sozusagen potentiell mit Christus versöhnt ist und dieses ihr Wesen, ihre Essenz, nun im Leben und Tun des Menschen sich erst aktualisiert, also zur 505

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schließlich, dass das Handeln des Menschen nicht nur Verwirklichung bzw. Wirklichwerden508 der Versöhnung in der und für die Welt und damit final auf die Christuswirklichkeit bezogen ist, sondern dass es ebenso aus der in Christus gesehenen, wirklichen Welt herkommt und folglich in dieser begründet ist. Das Verhältnis von Handeln und Wirklichkeit lässt sich darum nur zureichend mit zwei sachlich einander komplementär zugeordneten Begriffen beschreiben, nämlich als „Wirklichwerden“ (der Offenbarungswirklichkeit) einerseits, wie es Gegenstand des ersten Kapitels ist, und als „Wirklichkeitsgemäßheit“ (der mit Christus versöhnten Welt) andererseits, was im Folgenden konkretisiert wird.

(vorfindlichen, empirisch erfahrbaren) Wirklichkeit, d. h. zur Identität mit ihrer Existenz im thomistischen Sinne gebracht wird? So scheinen die Ausführungen des ersten Kapitels gemeint zu sein, die damit als Umdeutung der thomistischen Ontologie zu lesen wären – was sich auch dadurch nahe legt, dass dieses Kapitel insgesamt von Bonhoeffers Rezeption der grundlegenden Studie Josef Piepers zur thomistischen Ethik (Pieper, Wirklichkeit) gekennzeichnet ist. Dies zeigt Bonhoeffer selbst ja auch schon im Titel an, in den er den Titel von Piepers Schrift (Die Wirklichkeit und das Gute) aufgenommen hat. Andererseits scheinen manche Formulierungen dieses Kapitels in eine andere Richtung zu weisen, insofern sie eine Nähe zum Denken Hegels suggerieren. Das aber würde bedeuten, dass Bonhoeffer ein prinzipielles Verhältnis von Christus und Welt voraussetzt, für welches der Glaubensakt des Einzelnen keine echte Bedeutung mehr hat, insofern dieser dann nur noch unwesentlicher individueller Aspekt eines kosmologischen Gesamtgeschehens wäre. Diese Vermutung hat Oswald Bayer (Bayer, Christus), die er mit weiteren Stellen aus der Ethik und früheren Texten Bonhoeffers zu untermauern versucht, worauf auch schon im Zusammenhang des Begriffs der stellvertretenden Verantwortung hingewiesen wurde (B.II.4.b). Wenn auch speziell im Hinblick auf den Stellvertretungsgedanken diese These abgewiesen worden ist, kann damit die grundsätzliche Anfrage Bayers gleichwohl nicht einfach als erledigt gelten; vielmehr sind hier umfassende Analysen zum Wirklichkeitsbegriff Bonhoeffers erforderlich, die im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden können. Für die praktisch-ethische Bedeutung des christologischen Wirklichkeitsbegriffs, um die es hier geht, ist diese Frage allerdings nicht so erheblich. 508 Vgl. E 44 f.: „Die in Christus gesetzte Einheit von Gottes- und Weltwirklichkeit […] verwirklicht sich immer wieder an den Menschen.“ Bonhoeffer hat in dem ersten, ontologischen Kapitel „Christus, die Wirklichkeit und das Gute“ ja zumeist ‚Wirklichwerden‘ für das Verhältnis von menschlichem Tun und göttlicher Versöhnung der Welt gesetzt und den selten verwendeten Begriff ‚Verwirklichung‘ in der zitierten Passage mit gutem Grund reflexiv gebraucht. Andernfalls könnte es so scheinen, als ob der Mensch aus eigenen Möglichkeiten heraus das Christusereignis in der Welt zur Realität bringen könnte. Das widerspricht natürlich nicht nur Bonhoeffers eigener Auffassung, derzufolge der Mensch grundsätzlich nur rezeptiv-passiv Gott gegenübertreten kann (s. o. A.II.5.f.), sondern auch der orthodoxen lutherischen Dogmatik. Andererseits hat der Mensch für Bonhoeffer durchaus eine von Gott zugewiesene und im empfangenen Gottesverhältnis begründete große Verantwortung, weil in seinem Tun und Leben sich die Versöhnung darstellt, d. h. realisiert. Als mit Freiheit beschenkte Person ist es eben der Mensch, der wegbereitend für das Wort Gottes ist (vgl. E 152 ff.), indem er als neuer Mensch von der neuen Wirklichkeit lebt. Unter dieser Voraussetzung könnte der Begriff ‚Verwirklichung‘, der etwas weniger sperrig ist als ‚Wirklichwerden‘ m. E. verwendet werden.

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cc) Die Ambivalenz der Wirklichkeit und die Ordnung der Dinge Indem also die Welt, als wirkliche Welt resp. als Leben im qualifizierten Sinn, auf Christus bezogen ist, ist sie zugleich auf den Menschen bezogen, mit dem Gott in Christus Gemeinschaft haben will: „Durch Christus erhält die Welt der Dinge und Werte ihre schöpfungsgemäße Ausrichtung auf den Menschen zurück“.509 Mit dieser Folgerung aber ist erst das Verhältnis von Welt, Mensch und Offenbarung vollständig beschrieben. Denn das Begründungsverhältnis ist ja tatsächlich umgekehrt: nicht weil die Welt von Christus angenommen ist, ist auch der Mensch angenommen, sondern weil Christus Mensch geworden und darin den Menschen angenommen hat, ist auch die Welt des Menschen angenommen und in ihrer Wirklichkeit wieder hergestellt, nämlich Welt für den in Gemeinschaft mit Gott lebenden Menschen zu sein: „Gott wurde Mensch, er nahm den Menschen leibhaftig an und versöhnte so die Welt des Menschen mit Gott. Die Bejahung des Menschen und seiner Wirklichkeit geschah aufgrund der Annahme, nicht umgekehrt.“510

Von dem für Bonhoeffers theologisches Denken fundamentalen Ereignis der Inkarnation her ist darum sein Weltbegriff anthropozentrisch verfasst, sofern man darunter nicht den Gegensatz zur den theologischen Weltbegriff begründenden Christozentrik versteht: das Wesen (die Wirklichkeit) der Welt besteht in einem ordo personalis, der wegen seiner christologischen Begründung und Ausrichtung allerdings ebenso gut als ordo Christi bezeichnet werden kann511. Welt und Mensch sind ineinander verschränkt, insofern der Mensch nur Mensch im Kontext ist und von seiner Lebenswirklichkeit nicht abstrahiert werden kann. Umgekehrt ist diese Lebenswirklichkeit, die Welt, nichts eigenständiges, zu dem der Mensch eben auch noch hinzukommt, sondern sie ist als Welt die Welt des Menschen. Dabei gilt freilich, dass Welt und Mensch ihre eigentliche Wirklichkeit allein von Christus her erhalten. Der gefallene Mensch lebt nur uneigentlich, d. h. auch nur in uneigentlicher bzw. verkehrter Beziehung zu seiner ‚Lebens‘wirklichkeit, und die gefallene Welt kann per se, d. h. abstrahiert vom Glauben, nicht als eine geordnete betrachtet werden. Das Urteil Gottes über den Menschen, welches dieser in der Begegnung mit Christus empfängt, das Nein und das Ja, bezieht sich wegen dieser fundamentalen Verschränkung von menschlicher Existenz und diese umgebender Lebenswirklichkeit auf die gesamte Welt: Sie ist als Welt des Menschen auch mit ihm gefallene und versöhnte Welt512. Wenn nun die Wirklichkeit des Menschen, d. h. sein konkreter physischer, soziokultureller und politischer 509

E 259. E 261 f. 511 S. dazu auch die Ausführungen über den ontologischen Aspekt von Bonhoeffers christologischer Begründung des Lebensbegriffs B.II.3.b. 512 Vgl. Röm 8, 19–23, worauf auch Bonhoeffer verweist (E 260). 510

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Lebens- bzw. Handlungskontext unter das an den Menschen adressierte göttliche Verwerfungs513- und Versöhnungsurteil fällt, dann bedeutet das für den Weltumgang des Glaubenden, dass er nicht nur pragmatisch, sondern auch epistemologisch diese Dialektik von Ja und Nein resp. Nein und Ja realisiert. Es ist also im Handeln nicht nur im Bezug auf das Handlungssubjekt die dialektische Einheit von Selbstverleugnung und Selbstbehauptung kennzeichnend, sondern auch im Bezug auf Bedingungen, Gegenstand und Ziel der Handlung die Dialektik von Position und Negation wesentlich: „Anerkennung und Widerspruch gegen das Faktische sind im echten wirklichkeitsgemäßen Handeln unlösbar miteinander verbunden […] Alles Faktische erfährt von dem Wirklichen, dessen Name Jesus Christus heißt, seine letzte Begründung und seine letzte Aufhebung, seine Rechtfertigung und seinen letzten Widerspruch, sein letztes Ja und sein letztes Nein […], von dem Wirklichen, von Jesus Christus her, empfängt nun die Wirklichkeit […] ihr Recht und ihre Schranke. Bejahung und Widerspruch verbinden sich nun im konkreten Handeln dessen, der den Wirklichen erkannt hat.“514

Dabei gilt zwar prinzipiell, dass weder das Vorfindliche epistemologisch und pragmatisch sanktioniert noch mittels im Wortsinne abstrakter Prinzipien negiert werden darf; gleichwohl ist die dialektische Einheit von Akzeptanz und Bestreitung des Rechts der vorfindlichen Wirklichkeit als solche nicht wiederum prinzipiell zu bestimmen, weil sie Ausdruck der lebendigen Beziehung des Menschen zu Jesus Christus und damit selbst konkret-lebendige Einheit ist515. Die Verwendung des Gegensatzpaars „weltlich“ und „christlich“ anstelle von „Ja und Nein“ sowie anstelle von „Gott und Welt / Mensch“, die Bonhoeffer hier im Zusammenhang seiner Kritik an liberal-theologischen, zeitgenössischen lutherischen sowie an den so genannten schwärmerischen Konzeptionen auch für sich stellenweise übernimmt516, ist kurz zu erläutern, weil sie nicht unerhebliche Schwierigkeiten mit sich bringt. Bonhoeffer bringt hier in sehr verkürzter Weise zwei unterschiedliche Sachverhalte in den Gegensatzpaaren zusammen, die ihre Verknüpfung im für die Ethik so zentralen locus theologicus der Inkarnation haben und folgendermaßen rekonstruiert werden können: in Christus ergeht das Urteil Gottes über den Menschen und seine Welt als Verwerfung und Bejahung, d. h. genauer als in Christus stellver513 Sofern Gott, auch wenn er die dem Menschen geltende Strafe in Jesus Christus selbst übernimmt, die Sünde nicht will. 514 E 261 f. 515 S. dazu o. den Abschnitt über den Lebensbegriff B.II.2. 516 Vgl. zur bereits gut bekannten Kritik an den gegensätzlichen (Extrem-)Positionen E 251 f. (Nietzsche und Liberale Theologie); 260 f. (Pragmatismus und Idealismus); 263 f. (zeitgenössisches Lutherum und Schwärmertum [evtl. sind damit Bewegungen wie die Berneuchener oder die Oxfordgruppenbewegung gemeint, vgl. zu Bonhoeffers Kritik DB 537 f. u. ö.]). Man sieht schon an dieser Reihung, dass Bonhoeffers Umgang mit den von ihm abgelehnten Theorien diese stark, teilweise sogar grob vereinfacht.

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tretend vollzogene Verwerfung und daher als Versöhnung, die freilich nicht ‚etwas‘ von der alten Welt übrig behält und durch ‚etwas‘ Christliches ergänzt, sondern Mensch und Welt „auf Hoffnung hin“ neukonstituiert. Dass Bonhoeffer in diesem Akt der Bejahung der Welt die Inkarnation besonders heraushebt517, hängt zwar auch mit der traditionellen dogmatischen Auffassung zusammen, dass Gott nur als wahrhaft Menschgewordener den Menschen wirksam inklusiv vertreten kann518; Bonhoeffer versteht dies allerdings noch in einem viel weiteren Sinne als Ausdruck des göttlichen Versöhnungswillens mit dieser gefallenen Welt, mit der er sich trotz ihrer Sündigkeit selbst persönlich, leiblich-natürlich verbindet: Gott schafft die Welt neu, aber er schafft keine neue Welt. Darin aber, an dem Festhalten Gottes an der strafwürdigen Welt, liegt für Bonhoeffer der Akt der Bejahung der Welt und aus diesem Grund betont er zur Zeit der Ethik bei der Inkarnation zumeist weniger die Kondeszendenz Gottes als in früheren Texten519: die Perspektive auf das Inkarnationsgeschehen hat sich etwas verschoben vom Subjekt, Gott, der sich in die Niedrigkeit begibt, hin zum Objekt, der Welt, die darin ohne Verdienst und Anspruch der göttlichen Anwesenheit ein für allemal gewürdigt wird. Im Grunde widerspricht nun die Nomenklatur („christlich-weltlich“ anstelle von „Ja und Nein“) dieser Konzeption Bonhoeffers, weil deren Kerngedanke ja darin besteht, dass es nur eine Wirklichkeit bzw. Welt gibt, die in Jesus Christus begründet ist („besteht“)520 und abgesehen von ihm, dem inkarnierten Gott, nicht erkannt521 wird. Wenn Bonhoeffer durch die alternativ gebrauchten Gegensatzpaare jedoch faktisch das Urteil Gottes in Christus über die Welt, das „Ja und Nein“, mit dieser anderen Unterscheidung, „weltlich  –  christlich“, identifiziert, hieße das genau genommen: Christus steht für das Nein über die Welt, das bloß kein vollständiges ist, weil die Welt ein eigenes Recht behält, das neben ihre Bestreitung tritt und sie relativiert. Dies aber wäre nun tatsächlich eine Form der Natürlichen Theologie, die Bonhoeffer nicht anstrebt und begründungstheoretisch ausgeschlossen hat, indem er die gesamte Welt als versöhnte Welt – eine andere ‚gibt‘ es de facto für ihn nicht – auf Christus ausgerichtet und von ihm her allein verstehbar sein lässt522. Ja und Nein sind aber eben darum nicht aufteilbar auf ein Weltliches und ein dieses verwerfendes Christliches, von dem letztlich unklar ist, was es überhaupt bedeutet, da nun gerade die Annahme der Welt in der Inkarnation 517 Vgl. exemplarisch E 262: „[…] darum nahm […] Gott [den Menschen] an und bejahte ihn, indem er selbst leibhaftig Mensch wurde und so den Fluch des göttlichen Neins über das menschliche Wesen selbst auf sich nahm und erlitt. 518 Vgl. Beyschlag, Dogmengeschichte II.1, 8 f.21.u. ö. 519 DBW 12, 294 ff.343 ff. (Christologievorlesung). 520 E 265 f. 521 So mehrmals wörtlich, z. B. E 262 (ebd. auch „Erkenntnis der Wirklichkeit“). 522 Vgl. E 265 f.

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ja im emphatischen Sinne christlich genannt werden kann, sondern sie sind zusammen das eine Urteil Gottes über die zu Christus gehörende ganze Welt523. Andererseits ist es gerade bei einer so starken Betonung der Inkarnation als Grund und Vollzug der Einheit von Gott und Mensch resp. Welt entscheidend wichtig, an der gleichzeitigen Differenz zwischen Gott und Welt festzuhalten: Gott ist in Christus wohl in die Welt eingegangen, aber er geht nicht in der Welt auf, sondern bleibt Gott. Auch wenn er in Christus allein als der inkarnierte Gott erkannt wird, der nicht ohne die Welt sein will, so ist doch gerade dann der kategoriale Unterschied wesentlich; andernfalls wären Inkarnation, Kreuz und Auferstehung eben nicht die rettende Tat des souveränen Gottes, sondern die bloße Sanktionierung des Bestehenden durch eine Art göttliche Weihe524. Wohl darum mag Bonhoeffer auf das Gegensatzpaar ‚christlich‘ – ‚weltlich‘ nicht völlig verzichten, obwohl er es ja mit der Abwehr der von ihm des Dualismus bezichtigen Konzeptionen ohne weiteres hätte verwerfen und seine Ausführungen damit nicht unerheblich vereinfachen können. Die immer wiederkehrende Formulierung von der „Einheit von Gott und Welt“ resp. Christlichem und Weltlichem525, mit der Bonhoeffer das Inkarnationsgeschehen umschreibt, ist dabei schon an sich irreführend, weil sie das christologische Dogma ‚kyrillisch‘ zu verkürzen scheint, was Bonhoeffer freilich selbst bemerkt und an anderer Stelle korrigiert526. Der nachgeschobene Satz, wonach die Einheit von Gott und Mensch bzw. Christlichem und Weltlichem sich im menschlichen Handeln zwar als Einheit realisiere, aber eben als differenzierte bzw. dialektische Einheit von Ja und Nein527, zeigt dagegen die Schwierigkeiten, die sich Bonhoeffer mit seiner Terminologie einhandelt: nicht nur die monophysitische Tendenz in der Christologie wird hier überdeutlich; gerade auch die Parallelisierung der Gegensatzpaare erzeugt in erster Linie Verwirrung, beachtet man Bonhoeffers offenbarungstheologischen Ansatz: wer oder was wird denn hier verneint und bejaht? Die (unterschiedene) Einheit von Gott und Mensch ist doch nicht eine Einheit von Ja und Nein, und das Weltliche und Christliche sind weder einfach das eine noch das andere, fasst man alle Termini im Rahmen der Konzeption streng auf, es sei denn, man interpretierte noch einmal anders das Weltliche als die sündige und nicht 523

Zu der Formulierung vgl. E 53 u. ö. S. dazu den Abschnitt über den Wirklichkeitsbegriff, wo Bonhoeffer bei aller Betonung der Einheit der Wirklichkeit in Christus an der Differenz festhält, z. B. E 45 (meine Hervorhebung): […] in diesem Sinne einer polemischen Einheit […]“. Die angezeigten terminologischen Schwierigkeiten sind dort nicht in gleichem Maße vorhanden, weil die NeinJa-Dialektik des göttlichen Urteils noch nicht eigens thematisiert wird. 525 E 252.265, vgl. 39 ff. 526 Vgl. E 252 mit 265. 527 E 252. 524

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versöhnte Welt, das Christliche aber als die versöhnte, d. h. zugleich verneinte und bejahte Welt, was aber die terminologische Verwirrung vollständig machen würde. Als Fazit bleibt: Die Welt als wirkliche Welt hat, weil sie unter der Sünde und doch versöhnt ist (lutherisches simul) keine einfach positive oder einfach negative Gestalt für den Glaubenden, sondern eine Gestalt dialektischer Einheit von Negation und Position, die als – je konkrete – Einheit aber keine Zerrissenheit mehr erzeugen kann, sondern freudige Einfalt und Nüchternheit des Handelns hervorbringt528. Ihr Grund aber ist die unterschiedene Einheit von Gott und Mensch, die zwar formal das Modell abgeben kann für die Gestalt der wirklichen Welt als einer echten konkreten Einheit von zweien529, aber inhaltlich nicht mit der anderen Einheit von Ja und Nein parallel geht. Die im ersten Kapitel grundgelegte Ontologie der Versöhnung wird demnach hier präzisiert: die Welt ist nur recht verstanden, wenn sie als Welt in Bezug auf Gott resp. Jesus Christus erkannt wird; sie ist aber als diese auf Christus bezogene und in Christus gegründete keine eindimensionale Wirklichkeit, sondern als versöhnte Wirklichkeit immer nur die lebendige Einheit von Verwerfung und Erneuerung, von Nein und Ja. Damit schließt Bonhoeffer sachlich an den Schluss des ersten Kapitels an, wo er diese Konklusion bereits angedeutet hat, nachdem er zuvor die in Christus begründete Zusammengehörigkeit von Gott und Mensch bzw. Welt ausgeführt hat: der Wille Gottes, der sich im antwortenden menschlichen Tun realisiert, ist eine „Wirklichkeit, die im Seienden und gegen das Seiende immer neu wirklich werden will.“530 Damit ist aber, schaut man auf die erkenntnistheoretischen Implikate dieses Weltbegriffs, nicht nur ein idealistischer Zugriff auf die Wirklichkeit abgewiesen, sofern dieser in Bonhoeffers Verständnis die vorfindliche Welt von einer ontologisch höheren geistigen bzw. geistig-sittlichen Realität aus marginalisiert oder zu überwinden versucht531. Es sind auch alle Formen des Positivismus und Pragmatismus verworfen, sofern sie einen empiristischen Weltbegriff einschließlich einer utilitaristischen Ethik vertreten, der528

Vgl. E 252.266. So ist die versöhnte, d. h. die durch das Nein hindurch bejahte Welt die mit Christus verbundene Welt. Im Ja ereignet sich also die Einheit von Gott und Welt nach dem Denkmodell des Chalkedonense als Einheit von Unterschiedenen, die weder trennbar und teilbar noch vermischbar und veränderlich sind. Vgl. dazu E  44 f.: „Wie in Christus die Gotteswirklichkeit in die Weltwirklichkeit einging, so gibt es das Christliche nicht anders als im Weltlichen, das ‚Übernatürliche‘ nur im Natürlichen, das Heilige nur im Profanen, das Offenbarungsmäßige nur im Vernünftigen. Die in Christus gesetzte Einheit von Gottesund Weltwirklichkeit (wiederholt sich oder genauer) verwirklicht sich immer wieder an den Menschen [sc. und ihrer Welt].“ 530 E 61 (meine Hervorhebungen). 531 Vgl. zu Bonhoeffers Abgrenzung o. den Abschnitt über die Lebensphilosophie und ihre Rezeption bei Bonhoeffer B.II.2. 529

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zufolge das Faktische bereits das Nützliche und darum das Gesollte ist532. Mit seinem Konzept strebt Bonhoeffer dagegen nicht nur einen einheitlichen Weltbegriff, sondern zugleich auch die Mittelposition zwischen den von ihm ausgemachten Extremen, Idealismus und Pragmatismus, an. Diese Mittelposition impliziert, dass immer beide erkenntnistheoretischen und ethischen Gegenpositionen im Weltumgang des Menschen gemeinsam präsent sind, dass es also im ethischen Tun nicht entweder nur um Bewahrung des als christusgemäß erkannten Vorfindlichen oder nur um Erneuerung des Verkehrten geht, sondern immer beides zu einer spannungsvollen Einheit vermittelt werden muss. Dass dies nicht prinzipiell möglich sei, liegt aber nicht allein darin begründet, dass die ethische Tat als Antwort auf den Ruf Christi ein personaler, also nicht aufgrund von Prinzipien bzw. allgemeinen Einsichten vorher bestimmbarer Akt ist; es ist daneben das situative Element im ethischen Tun, das diesen Begriff einer das Gegensätzliche vermittelnden Verantwortung inhaltlich offen hält. Der lebendigen Mannigfaltigkeit des Lebens entspricht der differenzierte situationsbezogene, „wirklichkeitsgemäße“ Umgang, der eben deswegen verantwortlich ist – und darin die echte, freie Entscheidung vom Menschen fordert533.

532 Vgl. E  259.260 f. Bonhoeffer zitiert hier einfach ein bei Jaspers genanntes Nietzsche-Zitat (KGW 4.1, 133, vgl. E 26145), ohne näher zu erläutern, wen er im Visier hat. Da er William James aus seiner New Yorker Zeit gekannt hat, könnte dieser hier im Hintergrund stehen. Allerdings ist vorstellbar, dass es ihm jedenfalls auch um eine praktische Haltung von Opportunismus geht (der Begriff fällt E 261), von welchem der Nationalsozialismus sehr erheblich profitiert hat. Zieht man frühere Äußerungen Bonhoeffers speziell zum amerikanischen Pragmatismus (s. o. B.II.2.c) heran, so wird aber deutlich, dass er diesen wegen des unterstellten fundamentalen Utilitarismus grundsätzlich ablehnt und wohl einen theoretischen Zusammenhang zwischen dem politischen Opportunismus und einer pragmatistischen Wirklichkeitsdeutung behaupten würde. Es dürfte daher für die Deutung hier wenig weiterführend sein, zwischen beiden einen erheblichen Unterschied zu machen. 533 Interessant ist die Parallele zu Brunners erster Ethik Das Gebot und die Ordnungen (1932). Dort heißt es im Abschnitt über den „Willen Gottes als Grund und Norm des Guten“ (106–115), dass das christliche Ethos „mit ebenso viel Recht“ als „revolutionär“ wie als „konservativ“ bezeichnet werden kann (112). Im „Augenblick“, dem „Moment der Entscheidung“ (107) begegnet dem Menschen Gottes „Gebot der Stunde“ (110), das von ihm ein Handeln fordert, welches „zugleich ‚konservativ‘ und ‚revolutionär‘“ ist, zugleich die Welt bejahend als auch verneinend: „Die Liebe ist […] [sc. diese] einzig mögliche Verbindung des ‚Konservativen‘ und ‚Revolutionären‘, die nicht das eine auf Kosten des anderen zur Geltung bringt“, sondern „das eine nur zusammen mit dem anderen“ (11–113). Konkret ereignet sie sich dabei als Hingabe an den anderen und als Dienst an der Welt, ohne dass aber dieses „Sichhingeben“ als Prinzip verstanden werden dürfte, weil es „nicht gesetzlich“ zu bestimmen ist. Dieses dialektische Liebes-Handeln vollzieht sich vielmehr an dem konkreten, von Gott gegebenen Ort, dem „Beruf“ (114), als ein Handeln an der geschaffenen und erlösten Welt. Es hat darum die „Wirklichkeitsbestimmtheit als Grundlage“, denn „wir sollen ‚am Ort‘, gemäß der ‚Lage‘ handeln; wir sind zum ‚Realismus‘ verpflichtet.“ (113). Brunner zitiert in diesem Zusammenhang sogar das bekannte Nietzsche-Wort aus dem Zarathustra (Vorrede 3, KGW 6.1, 9): „‚Brüder, bleibt der Erde treu‘ – dies Wort des ‚Antichristen‘ [sic!] ist echt biblisch!“

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Der an die Stelle idealistischer und pragmatistisch-empiristischer Weltbegriffe getretene christologische Wirklichkeitsbegriff lässt das Konzept christlich-ethischen Handelns aber nicht derart unbestimmt, dass es immer nur von einer konkret zu schaffenden dialektischen Einheit von Selbstbehauptung und Selbstverleugnung und von Bewahrung und Erneuerung der in Christus erkannten Welt gekennzeichnet wäre. Aus der personalistischen Deutung der Wirklichkeit, aus ihrem ordo personalis Christi, leitet Bonhoeffer weitere Konkretionen des Begriffs einer christlichen Verantwortung ab, die das Handeln orientieren. Diese Konkretionen betreffen das Verhältnis des Menschen zur Dingwelt, aus dem sich der rechte Umgang mit der konkret gegebenen Lebenswelt ergibt. Die ordo-Vorstellung enthält zunächst zwei von Bonhoeffer herausgehobene Aspekte, die zusammen unter dem Stichwort „Sachgemäßheit“534 erläutert werden. Der eine Aspekt betrifft die strukturelle personale Ausrichtung der Sachwelt. Weil die Sache, gleich welcher Art sie ist, also ob Ding, Wert, Kulturgut, politische Aufgabe etc., auf den Menschen bezogen ist, kann der verantwortliche Umgang mit ihr nur im Blick auf diese ihre Funktion erfolgen. Dass dieser Umgang nicht ein Nutzbarmachen, sondern ein Enthüllen des tieferen menschlichen Sinns aller Sachen ist, betont Bonhoeffer ausdrücklich, in Abwehr eben derjenigen Verhaltensweisen, die – bewusst oder unbewusst – dem philosophischen Pragmatismus in seiner Lesart nahe stehen. Es geht um die „wesenhafte Ausrichtung [sc. der Sache] auf den Menschen“, die „die Sachlichkeit nicht verdirbt, sondern reinigt“535. Der anthropologische und damit also auch kosmologische536 Sinn von Wissenschaft, um Bonhoeffers Beispiel aufzugreifen, besteht nicht primär in der Ökonomisierung oder Technisierung oder Ideologisierung ihres Gegenstands, sondern in dem Auffinden von Wahrheit, in der Erkenntnisbewegung selbst. Für die menschliche Existenz sinnvolle Anwendungen der gewonnenen Erkenntnis sind dann freilich nicht ausgeschlossen, sondern direkte Konsequenz der echten, sich in die Ordnung der Dinge einfügenden Haltung des Menschen537. Das Bei Bonhoeffer, der sich offenbar auch von diesem Kapitel des Buches hat inspirieren lassen, fehlt freilich gerade diese Nietzsche-Referenz, die von manchen zum Leitwort des Verhältnisses Bonhoeffer-Nietzsche gemacht worden ist (z. B. Capozza, Treue, passim)! 534 E 269. 535 E 259.270. 536 Bei diesem großen Wort ist die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs im Auge zu behalten. Bonhoeffer meint ja tatsächlich eine Ordnung der Welt, einen Kosmos, der in Christus begründet ist und auf den Menschen, mit dem Gott Gemeinschaft haben will, ausgerichtet ist: einen ordo mundi personalis Christi, wie oben formuliert wurde. 537 Vgl. dazu E  270: „Wo […] der Mensch in der Wissenschaft allein und vorbehaltlos der Erkenntnis der Wahrheit dient, dort findet er in der selbstlosen Preisgabe aller eigenen Wünsche sich selbst, und die Sache, der er selbstlos diente, muß zuletzt ihm dienen.“ Dieser scheinbar selbstverständliche Satz hat weitreichende Implikationen bezüglich der Wirklichkeitsdeutung.

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handlungsbestimmende Element der Dialektik von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe manifestiert sich hier in dem Verhältnis des Menschen zu den Dingen, d. h. in dem ‚Zwischenraum‘ von Mensch und Sache, nämlich von seiten des Menschen als „dienender“538 Umgang mit der Sache und von seiten der Sache in ihrer sinnhaften Funktion für den Menschen – diese wiederum unterliegt der oben postulierten Dialektik von Faktizität und Idealität bzw. Anerkennung und Kritik bzw. Bewahrung und Erneuerung in Bezug auf die Sache selbst und ihre Erscheinung in der Wirklichkeit. Damit unmittelbar verknüpft ist der andere Aspekt, welcher das verantwortliche Handeln mit resp. für die Sache bestimmt: das der Sache eigene „Wesensgesetz“539, ein Begriff, der kaum seine Herkunft aus der abendländischen Philosophie der Scholastik verbirgt und dennoch von Bonhoeffer christologisch uminterpretiert wird. Dieser Gedanke von den Sachen inhärenten Wesensgesetzen oder essentiellen Strukturen ist konstitutiv mit dem ordo-Gedanken, wie ihn Bonhoeffer bisher entfaltet hat, verbunden. Ohne ihn könnte nicht plausibel gemacht werden, weshalb die Ausrichtung der Dinge auf den Menschen, der ordo personalis, nicht doch darin verwirklicht sein sollte, dass der Mensch sich die Dinge unmittelbar nutzbar macht, warum hier also keine pragmatistisch-utilitaristische Weltdeutung vorliegen soll, sondern eine echte kosmologische ordo-Lehre. Zugleich erläutert dieser Gedanke auch die epistemologische und pragmatische Dialektik von Faktizität und Idealität der Dingwelt, und zwar hinsichtlich ihrer konkreten Manifestation als Dialektik von Existenz und Essenz. Wenn nämlich in Bonhoeffers Auffassung die wesenhafte Ausrichtung der Sache auf den Menschen im Unterschied zu einem utilitaristischen Umgang gerade dann zur Geltung kommt, wenn sich der Mensch seinerseits in einer bestimmten, „sachgemäßen“ Weise auf eben diese Sache ausrichtet, ihr ‚dient‘540, dann impliziert dies notwendig die Vorstellung von bestimmten essentiellen Strukturen in den Sachen. Bonhoeffer postuliert hier mit dem Begriff des Wesensgesetzes demnach ein Äquivalent zu der traditionellen Wesenslehre, die er in der neuthomistischen Deutung bei Josef Pieper näher kennen gelernt hat541. Wie die res in der Ontologie des Thomas von Aquin, so ist auch bei Bonhoeffer die Sache nicht einfach das bloße Vorfindliche, empirisch erfassbare Gegenständliche; die Sache ist vielmehr dynamisch aufgefasst als etwas, was zwar empirische Gestalt hat, dessen Wesen aber davon unterscheidbar und faktisch unterschieden ist, insofern es immer erst zur Wirklichkeit kommen muss542. Das Wesensgesetz ist damit 538

Ebd. E 270. 540 S.o. 541 Pieper, Wirklichkeit, passim. 542 Dazu Pieper, Wirklichkeit, 49 ff., bes. 84: Die res ist das, was „unabhängig vom Denken ein Sein hat“, das „ob-iectum“. Ihr Dasein und ihr Sosein sind aber nicht miteinander 539

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dasjenige, was die empirische Sache überhaupt identifizierbar, bezeichenbar macht; es ist vergleichbar der thomistischen causa formalis, die als „innere Form-Ursache“543 des Dings mit der Sache selbst in ihrem eigentlichen Sinn, der essentia oder ihrem „Sosein“544, identisch ist. „Unter einer ‚Sache‘ in diesem Sinne verstehen wir alles Gegebene, dem ein solches Wesensgesetz innewohnt […] Die Axiome der Mathematik und der Logik gehören ebenso hierher wie der Staat oder die Familie, wie eine Fabrik oder eine Aktiengesellschaft. Überall muß das betreffende Wesensgesetz aufgedeckt werden, durch das diese Größe Bestand hat.“545

Die Gestaltwerdung des Wesensgesetzes im Handeln des Menschen ist es also, welche Bonhoeffer als Sachgemäßheit bezeichnet. Indem der Mensch sein Tun an dem der Sache inhärenten Sinn, ihrer Essenz, orientiert, indem er es, mit Bonhoeffers Formulierung, dem jeweils erkannten Wesensgesetz unterwirft, handelt er verantwortlich, weil er die in der Wirklichkeit und den einzelnen Sachen angelegte Ordnung realisiert. Damit folgt Bonhoeffer strukturell zunächst der thomistischen Ethik mit ihrer „ontische[n] Fundierung“ und ihrem dementsprechenden „ethischen Realismus“546. „Sachgemäßheit“ resp. „Sachlichkeit“ wird hier zur „ethischen Wesenshaltung“547, die davon gekennzeichnet ist, dass sie das Wesen der Dinge zu der ihnen bestimmten Realität, oder genauer: zu ihrer Realisierung bringen will – sofern dies im Bereich menschlichen Tuns liegt548: „Das Gute ist […] das Ziel und das Ende dieser Wesensbewegung: das Verwirklichtsein des Soseins [sc. einer Sache]“, „[d]as Gute ist das seinserfüllte Wirkliche“549, oder mit Bonhoeffers lebensphilosophischer Terminologie: „Gut ist […] das ‚Leben‘ selbst. Gutsein heißt leben.“550 Die Ausrichtung auf die Sache, die Bonhoeffer als wahrhaft wirklichkeitsgemäß postuliert hat, gründet in eben diesem ontologischen Eigenrecht der Sachen identisch; vielmehr ist es die Bestimmung jeder geschaffenen res, „ausverwirklichtes Sosein“ zu werden, d. h. im Hinblick auf ihr Wesen, ihre essentia, vom ens in potentia soweit möglich zu einem ens in actu zu werden, indem sie, die res, sich ihrem Seinkönnen bzw. die existentia ihrer essentia maximal annähert. Vgl. dazu auch Groh, Schöpfung, 385 ff. 543 Pieper. Wirklichkeit, 55. 544 Pieper, Wirklichkeit, 84 u. ö. 545 E 271 (meine Hervorhebung). 546 Pieper, Wirklichkeit, 97. 547 So eine der Zwischenüberschriften Piepers: „Sachlichkeit als ethische Wesenshaltung“ (aaO. 93). Bonhoeffers „Sachgemäßheit“ ist nur eine geringfügige sprachliche Abwandlung des gleichen Postulats. 548 Vgl. dazu Piepers knappe Zusammenfassung der ethischen Funktion der Synderesis (aaO. 85): „Der Spruch des Ur-Gewissens sagt demnach: Auf was das Wirkliche sich wesenhaft hinbewegt, darauf soll es sich hinbewegen […]. Zum andern bedeutet der Spruch des Ur-Gewissens, als Urgrundsatz des menschlichen Tuns, die ethische Notwendigkeit der bewußten Selbst-Einordnung des Menschen in die Bewegungsrichtung der Gesamtwirklichkeit.“ 549 AaO. 84 f. 550 E 252.

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bzw. des Lebens und seiner Strukturen, das diese als Bestandteil einer Ordnung ausweist, die dem Menschen zwar zur Verwirklichungs-Aufgabe werden, über deren Wesensgestalt und Sinn er aber nicht verfügen kann. Freilich unterscheidet sich diese strukturell mit dem Thomismus vergleichbare und offenbar auch direkt von diesem inspirierte, auf einer dynamischen Ontologie fundierte Ethik der Sachlichkeit an anderer Stelle grundlegend von dessen Konzeption. Während nämlich die Ontologie des Thomismus vernunftmäßig strukturiert und damit – in bestimmten, durch die Geschöpflichkeit und durch die Sünde gesetzten, Grenzen – der Vernunft prinzipiell zugänglich ist, weil diese (über das Naturgesetz) an der schaffenden göttlichen Vernunft teilhat551, ist die Wirklichkeit in Bonhoeffers Auffassung ja ganz und gar christologisch begründet und bestimmt. Die ethische Haltung der Sachgemäßheit, der verantwortliche Umgang des Menschen mit der Sache, und die dafür erforderliche Wirklichkeits- bzw. Wesenserkenntnis stehen darum gerade nicht in der Eigenmacht der Vernunft, sondern sind im strengen Sinne nur von Christus her, also dem Glaubenden möglich552. Entsprechend ist auch die Ordnung der Welt einschließlich der den Sachen inhärenten Wesensgesetzen nicht als eine allgemeine, vernünftige Struktur auf den dem natürlichen Erkenntnisvermögen (begrenzt) zugänglichen Schöpfergott hin zu deuten553, sondern einzig und allein von Christus her als Ordnung der Erhaltung resp. Versöhnung zu glauben. Damit ist zwar kein sachlicher Hiatus zwischen Schöpfung und Versöhnung behauptet554, aber doch die Schöpfungsgestalt der Welt und ihre natürliche Ordnung als bedeutungslos behauptet  –  weil sie dem gefallenen Menschen verschlossen ist. Der versöhnte Mensch aber lebt von Christus her in der versöhnten und auf Christus hingeordneten Welt. Der ordo mundi besteht, zusammenfassend, dann darin, dass alle Dinge, indem sie ihr Wesen verwirklichen, auf Christus und darin auf den mit Christus verbundenen Menschen ausgerichtet sind. Das Menschsein wiederum ver551 STh I–II, qu. 91, art. 2: Lex naturalis nihil aliud est quam participatio legis aeternae in rationali creatura. Vgl. auch STh I, qu. 12, art. 12. 552 Es scheint, als ob Bonhoeffer diese notwendige Konsequenz seiner Konzeption an dieser Stelle gar nicht ziehen wolle. Die allgemeinen Regeln der Staatskunst beispielsweise sind ja offenbar vielen zugänglich und werden an Universitäten und im politischen Geschäft gelehrt, geübt und befolgt (vgl. E 271 ff.). Es ist aber zu beachten, dass Bonhoeffer, wie später noch deutlicher werden wird (C.III), keineswegs voraussetzt, dass die gesellschaftlichen und politischen Eliten sich überwiegend oder großenteils aus Nicht-Christen zusammensetzen, dass er vielmehr umgekehrt jedenfalls zur Zeit der Ethik dem Gedanken eines christlichen Abendlandes (vgl. dazu „Erbe und Verfall“ (E 93–124]) und eines Staates mit christlichen Grundlagen – und entsprechend einer christlichen Führungsschicht – weiter anhängt. 553 Vgl. dagegen Groh, Schöpfung, 398 f. 554 Das wäre für Bonhoeffer schon deshalb unmöglich, weil der biblische Gedanke der Schöpfungsmittlerschaft Christi für ihn ein zentraler Topos ist, mit dem er auch die Einheit von ursprünglich geschaffener und in Christus erneuerter Welt begründen kann.

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wirklicht sich in der existentiellen Bezogenheit auf Christus. Da der Mensch aber immer nur Mensch im (natürlichen, sozialen, kulturellen, politischen) Kontext ist, gehört zu diesem Sein von Christus her und auf Christus hin der sachgemäße, d. h. der an dem Wesen bzw. Wesensgesetz der Sache ausgerichtete, verantwortliche Umgang mit diesem Kontext. In der sachgemäßen Verantwortung erfüllt sich damit zugleich der in der christologischen Ordnung angelegte Sinn der Dinge und die Bestimmung der menschlichen Existenz in der Welt. Dennoch ist die Sachgemäßheit als Element des verantwortlichen Handelns etwas Anderes als ein einfaches Umsetzen be- bzw. erkannter Funktionsmechanismen. Bonhoeffer verkennt hier keineswegs die Komplexität gerade der kulturellen, sozialen und politischen Sachverhalte, die den eigentlichen Bereich des menschlichen Handelns ausmachen, sofern nur dieser auch im eigentlichen Sinne gestaltbar und der Gestaltung bedürftig ist555. Zwar entsprechen diesen Komplexen je verschiedene Techniken, die der Mensch beherrschen muss, um wirklichkeitsgemäß oder, mit einem nahezu modernen Begriff, ‚sachgemäß‘ handeln zu können. Die Techniken repräsentieren demnach das Wesensgesetz einer Sache oder eines Sachverhalts im Handeln des Menschen und sind darum auch besser mit dem ursprünglichen griechischen Begriff als ĞƬġėđ bzw. mit dem lateinischen ars zu bezeichnen, weil eine umfassende Kunstfertigkeit und erst sekundär auch das mechanische Befolgen von Regeln oder Anleitungen gemeint ist556. Der geradezu aristotelische Ausdruck „Technik der Staatskunst“557, den Bonhoeffer wählt, enthüllt darum auch seinen Anspruch, mit dem Gedanken einer nach je spezifischen Wesensgesetzen geordneten Welt, einem Kosmos Christi, sich einerseits in die abendländische Tradition zu stellen und andererseits gerade dadurch einen 555 Dazu zählen natürlich auch kulturelle Anverwandlungen der Natur, die damit keine ‚reine‘ Natur mehr ist. Der Unterschied liegt in der Form der Erfassung: nur der naturwissenschaftliche Bereich lässt sich mittels exakter, formalisierter Sätze erfassen – auch dann, wenn mehrere Variablen in den Sätzen für eine spezifische, aber als solche eben bestimmbare ‚Unschärfe‘ bzw. Beobachterabhängigkeit sorgen. Für naturwissenschaftliche Problemzusammenhänge hat Bonhoeffer sich allerdings offenkundig kaum interessiert. Dass sich dort ebenfalls äußerst vielschichtige und komplizierte Fragen auftun, deren Verhältnis gerade auch zu den Kultur- und Sozialwissenschaften von sehr erheblicher und keineswegs schon abschließend bestimmter Bedeutung ist, würde er bei genauerer Kenntnis wohl nicht bestreiten. So dürfte das Fehlen entsprechender Reflexionen auch eher als Lücke, denn als systematisches Problem beurteilt werden. 556 Vgl. z. B. Eth. Nic. VI, 4, 1140a; Vgl. auch De an. VI, 3, 1139b. 557 E  271. Trotz möglicher begrifflicher Anlehnung an Spengler (vgl. ebd. die Hrsg.Anm. 81) steht Bonhoeffer ihm sachlich wohl nicht nahe. Der Staat mit seinem (Wesens-) Gesetz ist in Bonhoeffers Auffassung nicht eine Verwirklichungsform der „faustischen Kultur“, die das „Raubtier Mensch“ zur Steigerung des Machtgefühls entwickelt (vgl. Spengler, Mensch, 32 ff.), sondern ein auf Christus ausgerichtetes Mandat Gottes (E 55 f.58 f., vgl. auch DBW 16, 506–535 [Theologisches Gutachten: Staat und Kirche]).

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Gegenentwurf zur klassisch griechischen und lateinisch-mittelalterlichen Philosophie anzubieten. Die Differenz liegt dabei nicht nur in der unterschiedlichen Begründung, sondern auch darin, dass Bonhoeffer die Wesensgesetze zuletzt nicht als in sich und miteinander ganz und gar wohlgeordnete Teile des großen Ganzen auffasst. Insbesondere die komplexen Bereich von Kultur, Staat und Gesellschaft nämlich, also die Bereiche, die in Bonhoeffers Auffassung nicht als exakte Wissenschaft beschreibbar sind und seiner gestuften Weltordnung entsprechend eine größere Bedeutung haben, weil sie spezifisch menschliche Bereiche sind, sind zuletzt nicht grundsätzlich und ausnahmslos durch die klare Erkenntnis und umsichtige Anwendung des jeweiligen Wesensgesetzes gestaltbar: „Nun wird sachgemäßes Handeln allerdings […] zu der Erkenntnis gezwungen [!], daß mit diesen Gesetzlichkeiten der Staatskunst das Wesensgesetz des Staates nicht erschöpfend erfaßt ist, ja daß das Gesetz des Staates, gerade weil dieser mit der menschlichen Existenz unlöslich verbunden ist, zuletzt über alles gesetzlich Faßbare hinausreicht.“558

Damit ist freilich gegen den ersten Anschein nicht gemeint, dass das Gesetz nun doch kein Gesetz sei, weil seine Gültigkeit dann und wann aufgehoben sein könnte. Gemeint ist vielmehr, dass das Gesetz, etwa das des Staates, zwar gelte, in bestimmten Fällen aber übertreten werden müsse, um dem Zweck des Gesetzes, nämlich der Erfüllung des Wesens der Sache zu dienen. Obwohl Bonhoeffer dies nicht explizit formuliert, ist doch deutlich, dass der von ihm postulierte ordo Christi einschließlich der Wesensgesetze nicht harmonistisch konstruiert ist: das Wesensgesetz schließt daher die Möglichkeit seiner Aufhebung grundsätzlich ein, wenn es nämlich „durch den Verlauf des geschichtlichen Lebens […] mit den nackten Lebensnotwendigkeiten von Menschen [zusammenprallt]“559 und ein Handeln außerhalb oder gegen das Gesetz geboten sein lässt. Den Grund für diese „außerordentliche[n] Situation[en]“560 des Handelns nennt Bonhoeffer in diesem Abschnitt nicht. Er kann aber leicht extrapoliert werden, denn die Illustration solcher unvermeidlicher Handlungen außerhalb des „Prinzipiell-Gesetzlichen [sic!], des Normalen, des Regulären“561 am Beispiel der Staatskunst und ihrer Grenzen zeigt deutlich, dass sie Folge des eschatologischen Charakters der Versöhnung sind, mit anderen Worten: dass sie darauf beruhen, dass die Welt eben als versöhnte doch immer noch zugleich gefallene ist, wie, d. h. genauer weil der Mensch selbst simul iustus et peccator ist. Darum sind Handlungen und Ereignisse wie „Krieg, aber auch Betrug, Vertragsbruch“562 etc. unvermeidlich resp. notwendig563. 558

E 272. Ebd.f. 560 E 272. 561 Ebd. 562 E 273. 563 Vgl. ebd.: „Staatsnotwendigkeit“. 559

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Blickt man in das unmittelbar vor den beiden Fassungen von „Die Geschichte und das Gute“ entstandene Kapitel „Das natürliche Leben“, so wird die hier gewonnene Auffassung bestätigt: Die christologisch begründeten natürlichen Rechte des Menschen, die Bonhoeffers alternatives Konzept zu den allgemeinen Menschenrechten darstellen und darum auch unter dem antiken rechtsphilosophischen Grundsatz suum cuique eingeführt werden564, sind, obwohl von grundlegender Bedeutung, nicht prinzipiell widerspruchsfrei miteinander vermittelbar, können also per se kollidieren: „Entsprechende Vorkommnisse, also Konflikte zwischen im Natürlichen begründeten Rechten, [sc. können nicht] als Unvollkommenheiten, Mißverständnisse, Unzulänglichkeiten in den Rechtsbegriffen aufgefaßt werden.“ Vielmehr müssen sie „auf die Struktur der Welt selbst, wie sie ist, zurückgeführt werden“, d. h. „in der Sünde, wie sie auch im Natürlichen wirksam ist, begründet gefunden [werden].“565 Was dies für den Gesetz- und Gebotsbegriff im Einzelnen bedeutet, wird später noch näher ausgeführt. Zunächst soll hier das einfache Ergebnis festgehalten werden, dass der ordo mundi reconciliati eben doch zugleich die Unordnung der gefallenen Existenz einschließt und es darum nicht notwendigerweise ein Erkenntnisproblem ist, wenn das Handeln nicht dem Wesensgesetz eines Sachverhalts zu entsprechen vermag, sondern möglicherweise in der Sache selbst begründet liegt – und damit in einem höheren Sinn sachgemäß sein kann. dd) Rezeption der politischen Theorie: Max Weber und Machiavelli Aus der Bindung des verantwortlichen Handelns an die Wirklichkeit ergibt sich systematisch dasjenige weitere Element, welches Bonhoeffer aus der politischen Ethik Max Webers übernommen und an politischen Existenzen wie etwa derjenigen Otto von Bismarcks geschätzt hat566. Der begrifflichen Struktur des Verantwortungsbegriffs folgend geht es bei diesem Element nun um den pragmatischen Aspekt von Verantwortung, also um die Frage, mit welchen Mitteln ein bestimmtes Handlungsziel erreicht werden kann oder soll und welche Nebenfolgen dabei auftreten oder voraussichtlich auftreten 564

E 174 ff. E 175 f., vgl. 284. S. dazu auch u. C.IV. 566 Otto von Bismarcks Memoiren (Gedanken und Erinnerungen, 1920) hat er zur Konfirmation erhalten (vgl. Meyer, Nachlaß, 233). Mit Max Weber war der Vater Karl Bonhoeffer über dessen Bruder Alfred bekannt (vgl. DB 68). Ob dies auch ein Anlass für Bonhoeffer war, sich mit Max Weber zu beschäftigen, ist nicht sicher, aber auch nicht unwahrscheinlich. Während er ihn für die Dissertation recht intensiv studiert hat, konzentrieren sich die späteren direkten oder indirekten Verweise allerdings überwiegend auf den ersten Band der Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie und darin wieder besonders auf die wichtige Aufsatzsammlung Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1920). 565

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werden. Allerdings findet sich bei Bonhoeffer keine Abhandlung über erlaubte und verbotene Mittel, Handlungsprinzipien und verbindliche, ‚harte‘ Bewertungskriterien von Nebenfolgen; das wäre innerhalb seines Ansatzes auch unmöglich, weil eine solche Abhandlung notwendigerweise von der konkreten Situation abstrahieren müsste567. Bedeutsam ist vielmehr, dass Bonhoeffer überhaupt auf diesen Komplex Bezug nimmt und dadurch den Verantwortungsbegriff der politischen Theorie in seinen eigenen zu integrieren versucht. Die Absicht, die ihn dabei leitet, ist deutlich erkennbar: es geht ihm um die Konkretion der bisher noch recht vagen Elemente für das verantwortliche Handeln, die als Stellvertretung und Wirklichkeitsgemäßheit zwar bereits wichtige materiale Bestimmungen liefern, aber noch kaum praktische Konsequenzen zur Orientierung für das tatsächliche Handeln enthalten. Wesentlich sind hier vor allem bestimmte Aspekte, die Bonhoeffer lediglich andeutet, die aber gleichwohl für sein Verantwortungskonzept konstitutiv sind. Denn es stellt sich ja die Frage, welche Bedeutung der Entscheidung des Menschen nun wirklich zukommt, ob überhaupt an dem Gedanken einer existentiellen Tat resp. Entscheidung des Menschen festgehalten werden kann, wenn doch das Handeln als wirklichkeitsgemäßes den Wesensgesetzen folgt, oder aber, für den Fall der Ausnahmesituation, sie bewusst und gerade um des Wesens der Sache willen überschreitet und insofern negativ von ihnen bestimmt wird. D. h. umkehrt, ob es nur um eine richtige Erkenntnis der Sache geht, die als Glaubenserkenntnis den Handlungsimpuls in sich selbst trägt und folglich auch die Handlung präformiert568. Dies wäre der Fall, wenn der Begriff ‚Wesensgesetz‘ bzw. ‚Gesetz‘569 ganz strikt aufgefasst würde und alle von ihm erfassten Handlungen also bloße Anwendungen wären, die mehr oder minder differenziert erfolgen müssten, aber aus der vollen Kenntnis des Gesetzes heraus eben möglich wären. Das entspricht freilich nicht den Er567 Wenn Slenczka eben das Fehlen der „entscheidenden Orientierung, [der] Antwort auf die Frage nach der Grenze der Heiligung der Mittel durch den Zweck“ (Slenczka, Schuld, 110) kritisiert, so handelt es sich eigentlich um eine Kritik des gesamten Ansatzes, insofern dieser ein starkes situationsethisches Moment enthält (m. E. aber keine reine Situationsethik bietet). Innerhalb des ‚Systems‘ Bonhoeffers ist allerdings das bemängelte Fehlen der „Orientierung“, der nicht überschreitbaren „Grenze“, konsequent – und unproblematisch, weil sie sich aus der Zielrichtung des Handelns (Stellvertretung und Wirklichkeitgemäßheit) je situativ im Prüfen ergibt. Ob man freilich einen solchen Ansatz, der dem Einzelnen ja tatsächlich eine sehr große Verantwortung zuweist, insgesamt bejahen kann, ist eine Frage, die den Rahmen der hier unternommenen Arbeit bei Weitem sprengen würde. 568 Vgl. dazu Pieper, Wirklichkeit, 67 ff. zum Verhältnis von theoretischer und praktischer Vernunft: „Das ‚Grundvermögen‘ ist die theoretische Vernunft, die sich zur praktischen ‚ausweitet‘ […] Nur sofern sie theoretisch ist, ist die Vernunft auch praktisch […] ‚Intellectus speculativus fit practicus‘ [STh I, qu. 79, art. 11]“. Die theoretische Vernunft ist das Fundament der praktischen. Vgl. auch das Schema zum Aufbau der sittlichen Handlung aaO. 72. 569 Beide Begriffe werden hier parallel verwendet, vgl. etwa E 272. Dies zeigt, dass Bonhoeffer auch den theologischen Gesetzesbegriff einschließt. Das Wesensgesetz wäre also eine spezielle Form des Gesetzes bzw. Gebots. Dazu s. u. C.III.2.

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fahrungen, die etwa ein politisch Verantwortlicher macht und die Bonhoeffer aufmerksam zur Kenntnis genommen hat570, es widerspricht aber auch dem gesamten Konzept, weil es eine Intellektualisierung und Mechanisierung der Ethik bedeuten würde, die Bonhoeffer ablehnt. Schließlich wäre auch der Verantwortungsbegriff fehl am Platze, weil er nur noch in einem ganz übertragenen Sinn gebraucht würde. Vermutlich aber hat Bonhoeffer diesen Begriff zwar zuerst, aber nicht nur aus dem Personalismus rezipiert, sondern wichtige Impulse später gerade aus dessen Verwendung in der politischen Theorie empfangen. Nicht umsonst stammen seine Illustrationen ja auch aus diesem Feld, das einer grundlegenden theologisch-ethischen und zugleich sachgemäßen Revision bedürftig war. Es ist darum zu präzisieren: die Wirklichkeit, die Sache, um die es geht, erscheint immer nur als die konkrete Situation. Diese ist nicht fixierbar, sondern im Fluss, sie ist einmaliger Moment im geschichtlichen Verlauf, und ihr Grundmerkmal ist die nicht verallgemeinerbare Mannigfaltigkeit ihrer Aspekte, die anders als in vom Platonismus beeinflussten Systemen nicht reduziert werden können auf zeitenthobene ďųĎċ, welche – wie es im Wesensbegriff liegt – durch ihre Erscheinung im Werden nicht alteriert werden. Entsprechend sind auch die Wesensgesetze Bonhoeffers nicht von der Situation ablösbar, in welcher sie gelten und zur Verwirklichung kommen durch ihre menschliche Gestaltung. Ihr übergreifender, allgemeiner Sinn, der auch von Bonhoeffer reklamiert wird, indem er die Wesensgesetze als „wesentliches Moment der Ordnung“571 der Welt definiert, eröffnet sich darum, soweit es sich jedenfalls um die geschichtlichen, vom Menschen zu gestaltenden Bereiche handelt, nicht in der abstrakten Reflexion572, sondern in der situativen Herausforderung zur Tat: 570 S. dazu die Verweise der Herausgeber z. B. auf die von Bonhoeffer verwendeten Darstellungen des politisch tätigen Theologen Otto Baumgarten und der Historiker Friedrich Meinecke, Reinhold Schneider und Gerhard Ritter (vgl. das Personenregister E 504 ff. s.nn.). 571 E 272. 572 Interessant wäre hier die Frage, wie Bonhoeffer überhaupt, etwa hinsichtlich der Methoden, aber auch der Gegenstände, zu den mathematischen und naturwissenschaftlichen Disziplinen steht. Denn er bezieht ja die „Axiome der Mathematik und der Logik“ in das Konstrukt der Wesensgesetze ein (E  271), um dann aber einzuräumen, dass die „Gesetze des logischen Denkens […] leichter zu definieren [!] [sind] als zum Beispiel das Gesetz des Staates“ (ebd.), weil, so muss man ergänzen, sie allgemeingültige, formalisierte Sätze und damit gerade situationsunabhängig sind. Eine gedankliche Schwierigkeit entsteht allerdings vor allem dann, wenn man die erkenntnistheoretischen Überlegungen Bonhoeffers aus dem geplanten Einleitungskapitel, das ja unmittelbar im Anschluss an dieses entstanden ist, einbezieht: denn wenn er dort alle transzendentalen und idealistischen Erkenntnistheorien abweist, zugleich aber auch prinzipiell philosophische, d. h. ja eigentlich säkulare bzw. nicht christologisch begründete Wirklichkeitserfassung unter den als Sünde bestimmten Subjektivismus subsumiert, stellt sich jedenfalls die Frage, welchen kategorialen Rang mathematische Sätze haben, sofern sie beanspruchen, wahre Sätze zu sein, also mehr zu bedeuten, als innere Widerspruchslosigkeit. Dies betrifft insbesondere die moderne Physik, da in dieser

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„Sein [sc. des Verantwortlichen] Verhalten liegt nicht von vornherein und ein für allemal, also prinzipiell fest, sondern es entsteht mit der gegebenen Situation. Er hat kein absolut gültiges Prinzip zur Verfügung, das er fanatisch gegen jeden Widerstand der Wirklichkeit durchzuführen hätte, sondern er sucht das in der gegebenen Situation Notwendige, ‚Gebotene‘ zu erfassen und zu tun.“573

Das wahrhaft Wirklichkeitsgemäße ist darum, so kann man Bonhoeffers Ausführungen zuspitzen, nicht das reine, abstrakte Wesensgesetz, sondern die situationsangemessene Gestalt der Sache: das Wesensgesetz ist immer nur situativ, d. h. in einer bestimmten Gestalt erkennbar und gültig, auch wenn die damit bestimmte Sache, ihr Sinn, identisch bleibt. Bonhoeffers Illustrationen am Beispiel des Staates aufgreifend bedeutet dies, dass der Zweck des Staats wohl derselbe bleibt, andernfalls würden unterschiedliche Sachen mit demselben Begriff bezeichnet und die Konstruktion der Wesensgesetze überflüssig sein; aber die geschichtliche Manifestation dieses Zwecks könnte und würde höchst unterschiedlich sein574. Die ordnenden Momente des Zweckbegriffs Staat, das also, was Bonhoeffer als Wesensgesetz bezeichnet, wären diejenigen Gestaltungsregeln, welche im Begriff resp. Zweck selbst liegen und deshalb nicht „ungestraft verachtet“ werden können575; sie bilden damit aber nicht ein keineswegs das Experiment für sich allein, also das empirische Verfahren, der sicheren Erkenntnisgewinnung dient, sondern immer der mathematischen Beschreibung bedarf. Welche Bedeutung hat also, um ein bereits Bonhoeffer bekanntes Beispiel zu nennen, die 1905 veröffentlichte spezielle Relativitätstheorie Albert Einsteins (bekannt unter der Formel zum Masse-Energie-Gleichgewicht E=mc2), welche eine mathematisch formulierte Wirklichkeitserkenntnis zu sein beansprucht? Es wäre natürlich theoretisch unproblematisch, Mathematik und Logik als Formen und Strukturen der geschaffenen Welt zu betrachten, und dadurch ihre Wahrheit zu behaupten ohne zugleich ein transzendentales System vertreten zu müssen; kontrafaktisch wäre es dann aber, ihre Erkenntnis an den Glauben an Christus zu binden, wie es die Konsequenz aus Bonhoeffers Gleichsetzung von „christusgemäß“ und „wirklichkeitsgemäß“ und überhaupt seiner christologischen Begründung der Wirklichkeit sein müsste (vgl. E 262) – es sei denn, man verzichtete darauf, das Glaubenswissen darum als ein notwendigerweise explizites zu postulieren, etwa mittels einer Figur von „unbewußte[m] Christentum“ (E 16295; vgl. WE 547), was aber gerade an diesem Punkt wie ein nachträgliches Hilfskonstrukt erscheinen müsste und zudem nichtchristliche Denker, wie z. B. den jüdischen Physiker Einstein, in problematischer Weise für eine christliche Wirklichkeitsdeutung vereinnahmen würde (was Bonhoeffer natürlich nicht beabsichtigt und als mögliche Konsequenz wohl auch nicht einkalkuliert hat, weil er sich mit diesen Fragen gar nicht befasst hat). 573 E 260. 574 Dem entspricht die Verwendung des Mandatsbegriffs: die Mandate werden als auf Christus ausgerichtete, historisch wandelbare und zur Gestaltung freigegebene Strukturen der Welt begriffen, die folglich einen identischen Sinn, aber unterschiedliche geschichtliche Ausprägungen haben (dazu s. u. C.III.4.a). 575 E 271. Für den Bereich der Politik bzw. des Staatswesen sind dies beispielsweise „die Technik[en] der „Verwaltung, der Diplomatie“, die „positiven Rechtsordnungen und Verträge, ja auch die rechtlich nicht fixierten Regeln und durch die Geschichte sanktionierten Formen des innen- und außenpolitischen Zusammenlebens, schließlich sogar die allgemein akzeptierten sittlichen Prinzipien staatlichen Lebens“ (E 271).

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Arsenal von Anwendungsvorschriften, ebenso wenig, wie sie die je konkrete Gestalt des Staats präformieren, sondern eben eine Techn , eine zielgerichtete Kunstfertigkeit, die ohne die Einsicht in das Wesen des Staats, d. h. genauer in die je konkrete, situative Manifestation des Wesens des Staats, verfehlt ist. Hat Bonhoeffer damit den aus dem (Neu-)Thomismus übernommenen Gedanken einer in der Sache begründeten Ethik konsequent in seinen geschichtlichen Lebensbegriff integriert, so ist nun aber der umgekehrte Schluss daraus bedeutsam: das Wesensgesetz und die dem entsprechende Kunstfertigkeit sind als geschichtliche, nur situativ zur Verwirklichung kommende, eben den spezifischen Herausforderungen der geschichtlichen Situation unterworfen. D. h. die Uneindeutigkeit, Dynamik und Begrenztheit der eigenen Position, die persönliche psychologische Undurchschaubarkeit, die Unwägbarkeit bestimmter Handlungsfolgen etc. sind nun Momente, mit denen der Handelnde rechnen muss und die er zu bedenken hat. Er muss im umgangssprachlichen Sinn des Worts ‚realistisch‘ handeln. „Unsere Verantwortung […] umfasst das Ganze der Wirklichkeit; sie fragt nicht nur nach dem guten Willen, sondern auch nach dem guten Gelingen des Handelns, nicht nur nach dem Motiv, sondern auch nach dem Gegenstand, sie sucht das gegebene Wirklichkeitsganze in seinem Ursprung, Wesen und Ziel zu erkennen […]“576

Die existentielle Antwort auf den Anruf Christi ist darum nicht Ausdruck einer übernatürlichen Inspiration, sondern ein echter und ganzheitlicher menschlicher Akt, der geistige Anstrengung, Umsicht, Selbstbeherrschung, Selbstbegrenzung, Einsatz etc., also all die Fähigkeiten und Bemühungen fordert, die auch in anderen Theorien ethisch qualifiziert werden und die doch an sich, abgesehen von der sich konkret vollziehenden Glaubensexistenz, keinen ethischen Eigenwert haben577. Dabei sind insbesondere der umsichtige Umgang mit den gegebenen Verhältnissen, das Abschätzen von Folgen und das sich Halten an das unter den gegebenen Bedingungen Mögliche wichtige Elemente der ethischen Tat, weil die lebendige Wirklichkeit den Handlungsspielraum nicht nur eröffnet, sondern auch begrenzt. Zur Wirklichkeit, wie Bonhoeffer sie versteht, gehören daher konstitutiv ihre begrenzte Überschaubarkeit und die Grenzen des Machbaren, sie sind nicht aufhebbare Bedin576

E 267. Bonhoeffer setzt hier also keine Tugendethik an die Stelle der von ihm kritisierten Prinzipienethik. Aber er integriert wohl den Tugendbegriff in seine Ethik, indem er ethisches Tun als ganzheitlichen Existenzakt ausweist, der also natürlich auch die Ausübung bestimmter Tugenden einschließt. Dabei folgt er auch, aber nicht nur, der klassischen antiken Tugendlehre, die er über Josef Piepers Deutung der thomistischen Fassung der vier Kardinaltugenden rezipiert hat; er nimmt auch andere ergänzende oder interpretierende Tugenden bzw. „Haltungen“, „Verfaßtheiten“, „Gaben“ etc. auf, die als „ultimum potentiae“ resp. „Erfüllung d. Seinkönnens“ nicht dem Glauben als dem „Jenseits d. Seinkönnens“ entgegenstehen, sondern diesem dienen (ZE Nr. 64). 577

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gungen des geschöpflichen Handelns und darum zunächst kein Verhängnis, sondern als Herausforderung an alle Fähigkeiten des Menschen zu betrachten: „Wirklichkeitsgemäßes Handeln steht in der Begrenzung durch unsere Geschöpflichkeit […]. Wir stehen handelnd nach vorwärts wie rückwärts in bestimmten Grenzen, die nicht übersprungen werden können. Unsere Verantwortung ist nicht eine unendliche, sondern eine begrenzte.“578

Wenn das unter je konkreten Bedingungen „Notwendige“ oder „Gebotene“579 und insofern ‚Wirklichkeitsgemäße‘580, nicht aber etwas Abstrakt-Allgemeines, etwa eine bestimmte Norm, Ziel und Sinn der ethischen Tat ist, dann sind in der dieser geschichtlichen Wirklichkeit entsprechenden Notwendigkeit resp. dem Gebot Beobachten, Abwägen, Werten, Entscheiden581 inkludiert. Erst recht aber gehören gedankliche Konzentration und größtmögliche mentale Anstrengung zur Situation des gefallenen und versöhnten Menschen und seiner Welt, denn diese zeichnet sich ja dadurch aus, dass sie über die der Welt als Schöpfung eigenen geschichtlichen „Relativitäten“582 hinaus nicht mehr eine ganz und gar harmonische Hinordnung auf Christus darstellt, sondern eine erhaltene, zugleich aber immer in Frage gestellte Ordnung ist, in welcher Rechte, Ziele, Pflichten, Tugenden etc. miteinander kollidieren können. Umso mehr ist die Urteilskraft und Entscheidungsfähigkeit des Einzelnen gefordert, um in den unzähligen Konfliktfällen wirklichkeits- bzw. christusgemäß zu handeln583. Bonhoeffer übergeht demnach mit dem in der personalen Unmittelbarkeit zu Christus begründeten Verantwortungsbegriff keineswegs die Bedeutung der ethischen Urteilsbildung, sondern integriert sie, wobei er diese aber als nicht-reflexiven, passiven bzw. rezeptiven Akt deutet: der Urteilsakt entsteht direkt aus der Wirklichkeit, wie sie in Christus gesehen wird. Weil er folglich in einem Unmittelbarkeitsverhältnis wurzelt, d. h. weil er sich ohne eine reflexive Distanz zwischen Subjekt, Tat und Situation bzw. Wirklichkeit vollzieht, ist er kategorial verschieden von einem moralischen Urteil, das auf im ICH, im Gewissen oder im Objekt gefundenen allgemeinen Normen beruht. Es geht also um eine bestimmte Form der tätigen Hingabe an die Wirklichkeit, die den wahrnehmenden und gedanklichen Zugriff und die bewusste Entscheidung, kurz das Prüfen und Wagen584, nicht aus-, sondern einschließt, aber gerade deshalb sich von dieser Wirklichkeit, aus der sie unmittelbar her578

E 267. Vgl. E 260. 580 Da ja, um es noch einmal zu betonen, für das Wirklichkeitsgemäße die Geschichtlichkeit ebenso konstitutiv ist wie der identische Sinn des Wesensgesetzes. 581 Vgl. E 267.284. 582 E 284. 583 Vgl. E 262: „[…] daß christusgemäßes Handeln wirklichkeitsgemäßes Handeln ist“. 584 Vgl. E 284 f. 579

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kommt und in die sie ebenso unmittelbar wieder hineinführt, auch nicht mehr reflexiv distanzieren darf und kann. Das Prüfen, von dem schon in dem erkenntnistheoretischen Einleitungskapitel „Die Liebe Gottes und der Zerfall der Welt“ die Rede war585, ist folglich eine entscheidende Dimension der Verantwortung; ohne den Akt des Prüfens müssten Bonhoeffers Ausführungen in einem echten Dezisionismus enden, der zugleich von einer schwärmerischen Inspirationsethik kaum zu unterscheiden wäre, oder die Elemente der Stellvertretung und Wirklichkeitsgemäßheit würden zu einem Prinzipalismus verfestigt, der eben nicht mehr echt wirklichkeitsgemäß wäre, sondern am Leben, gerade auch mit seinen komplexen historisch-politischen Herausforderungen, vorbeiführen würde. Bonhoeffer hat hier offenkundig viel von der zeitgenössischen politischen Theorie gelernt, insbesondere von Max Weber. Dessen kritische Auseinandersetzung mit der christlichen Ethik, die bei genauer Betrachtung bestimmte Formen der vom Kantianismus beeinflussten Liberalen Theologie meint, die auch Bonhoeffer bekämpft hat, und der dieser entgegengesetzte politische Verantwortungsbegriff, der die Mittel- und Folgenverantwortung zum Zentrum der ethischen Reflexion erhebt, haben sich in Bonhoeffers Ausführungen erkennbar niedergeschlagen. Die Postulate Webers nämlich, dass der Beruf zur Politik neben der „Leidenschaft“, die den „Sinn von Sachlichkeit“ habe, „Verantwortungsgefühl“ und „Augenmaß“ voraussetze586, sind es, die Bonhoeffer mittels des Begriffs des Prüfens seinem bisher ganz anders konzipierten Verantwortungsbegriff einfügt: „Weil es nicht um die Durchführung irgendeines grenzenlosen Prinzips geht, darum muß in der gegebenen Situation beobachtet, abgewogen, gewertet, entschieden werden, alles in der Begrenzung menschlicher Erkenntnis überhaupt. Es muß der Blick in die nächste Zukunft gewagt, es müssen die Folgen des Handelns ernstlich bedacht werden, ebenso wie eine Prüfung der eigenen Motive, des eigenen Herzens versucht werden muß […]. Es muß […] die Frage nach dem Möglichen gestellt […] werden.“587

Spätestens daran aber wird ganz deutlich, dass mit dem Begriff der Wirklichkeitsgemäßheit kein abstraktes theologisches Programm, sondern eine zur „Selbstbescheidung“588 und zum Dialog mit anderen Disziplinen bereite589 585

S. dazu o. A.II.5.e; außerdem u. B.II.4.d. Weber, Politik, 227. 587 E 267. 588 E 260. 589 Dieses theoretische Postulat hat Bonhoeffer auch gleich selbst umgesetzt, wie anhand der von den Herausgebern gebotenen Belegen aus Bonhoeffers Lektüre zu diesem Thema deutlich wird (s. dazu besonders das Literaturverzeichnis a) der Ethik). Vgl. aber auch die fragmentarischen Thesen „Über die Möglichkeit des Wortes der Kirche an die Welt“, wo ein „bestimmtes Interesse der Kirche nicht nur an dem punctum mathematicum des Glaubens, sondern auch an den empirischen Größen“ wie etwa der wirtschaftlichen Ordnung eines Staates reklamiert wird. Die Mitwirkung an der Gestaltung einer solchen Ord586

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Haltung gemeint ist, deren Kennzeichen nicht nur die Sachlichkeit, sondern auch Verantwortungsbereitschaft im alltagssprachlichen Sinne ist, also die Bereitschaft, eine Handlung umfassend, d. h. hinsichtlich ihrer Motive, Ziele, Bedingungen, Mittel und Folgen, zu bedenken590. Wenn Bonhoeffer sich hier indirekt auf Webers in dem berühmten Vortrag von 1919, Politik als Beruf, durchgeführte Grundunterscheidung von Verantwortungsethik und Gesinnungsethik bezieht591, enthüllt dies zudem noch einmal deutlich seine kritische Distanz gegenüber der kantischen Ethik und ihren theologischen Rezipienten. Denn das Prüfen, die Mittelbewertung und Folgenabschätzung sowie das Bedenken von Motiven und Zielen, das also, was man den ‚Realitätssinn‘ der konkreten Ethik Bonhoeffers nennen könnte, kann, und würde in der Praxis wohl auch zumeist tatsächlich, zum Ergebnis haben, dass das „relativ Bessere dem relativ Schlechteren vorzuziehen“ ist, weil das vermeintliche „‚absolut Gute‘“ eben nur ein wirklichkeitsfremdes abstraktes Prinzip ist592. Der scheinbar geringere Anspruch, den Bonhoeffer mit seinem Aufgreifen des Weberschen Verantwortungsbegriffs proklamiert, enthüllt sich daher als die eigentlich größere Herausforderung an den Handelnden: die pragmatische, bescheidene und umsichtige Haltung im Tun erfordert nicht nur die besondere Mühe, Sorgfalt, Einsatzbereitschaft etc. vom Einzelnen; die tatsächliche, und sei es auch nur in kleinen Schritten erfolgende593, Gestaltung der Wirklichkeit ist ihr Sinn und Ziel, so dass sie sich nicht damit zufrieden geben kann, das Gewissen zu bewahren und den Erfolg Gott anheim zu stellen594. nung geschieht dabei in der „Autorität des verantwortlichen Rates christlicher Fachleute“ (E 363 f.), nicht aber qua kirchlichem Amt, dessen Zweck die Christusverkündigung ist. Dies liegt zuerst daran, dass das Handeln immer mit dem Prüfen und Abwägen verbunden ist und darum gar keine von der konkreten Tat abstrahierte Gewissheit über das Notwendige und Gebotene möglich ist, auch bzw. gerade nicht für die Kirche, die Ort der lebendigen Christusbegegnung ist. Außerdem aber entbehrt der Amtsträger der Kirche im Regelfall der notwendigen Sachkenntnis und kann auch deshalb zur Sache keine konkreten Aussagen treffen. Das heißt im Umkehrschluss zweierlei: erstens ist der Christ auf eigene und auf im Austausch mit anderen erworbene Fach- und Sachkenntnis angewiesen, wie Bonhoeffer es in „Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]“ mittels des Begriffs der Wesensgesetze fordert; zweitens obliegt der Kirche nicht die Aufgabe, verbindliche Kriterien für das Handeln in einer bestimmten Situation anzugeben, sondern die Wirklichkeit Christi zu verkündigen. S. dazu ausführlicher u. C.III. 590 Ohne aber darüber ein moralisches Urteil fällen zu können. 591 Weber, Politik, 237: „Wir müssen uns klar machen, daß alles ethisch orientierte Handeln unter zwei voneinander grundverschiedenen, unaustragbar gegensätzlichen Maximen stehen kann: es kann ‚gesinnungsethisch‘ oder ‚verantwortungsethisch‘ orientiert sein.“ Bonhoeffer wählt nicht den Terminus ‚Gesinnung‘, sondern bezeichnet das gemeinte als prinzipielles Handeln, vgl. E 263 ff.280 f. u. ö. 592 E 260. S. dazu auch u. B.II.4.d. 593 Vgl. E 267. 594 Vgl. dazu Webers, auf das vermutlich lutherische Diktum zugespitzte, Kritik an der ‚Gesinnungsethik‘ (Weber, Politik, 237): „Nicht daß Gesinnungsethik mit Verantwortungs-

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Bonhoeffer teilt demnach zweifellos die Einschätzung Webers, der davor warnt, mit Grundsätzen der Gesinnung Politik zu machen, weil dies zumeist an den tatsächlichen Verhältnissen vorbei führe und sie damit nicht verbessere, sondern verschlechtere595. Seine Behauptung, dass jede Prinzipienethik notwendig in den „qualificierten Mißerfolg“ führe, weil „keine echte Begegnung mit dem Leben […] stattgefunden hat“596, die wohl primär auf die beiden totalitären Ideologien seiner Zeit zielt, kann darum zumindest auch als Reflex auf eine Lektüre von Webers Vortrag gelesen werden. Dass er Webers politiktheoretischen Verantwortungsbegriff jedenfalls in seinen Grundzügen übernimmt und zu einem Element seines umfassenderen christologischen Verantwortungsbegriffs macht, zeugt darum einerseits von dem seine Ethik charakterisierenden grundlegenden Gestaltungswillen, der die Komplexität der Welt ernst nimmt und sich zugleich nicht mit skandalösen Verhältnissen abfinden will. Es zeugt aber auch von dem Selbstverständnis und Selbstbewusstsein des Theologen, der sich, gerade indem er Webers, der religiösen dezidiert entgegengesetzte politische Ethik in die von ihm entworfene christliche Ethik integriert, nicht (mehr) in den privaten Bereich der Gesinnung verweisen lassen will, sondern im Gegenteil die Weltgestaltung als Aufgabe des Christen reklamiert597. Wenn also die Gestaltungsaufgabe das Prüfen und Tun bestimmt, dann kann sich für den Einzelnen freilich unter Umständen auch das ergeben, was Bonhoeffer im Rückgriff auf Niccolò Machiavelli als ein Ausrichten an der necessità bezeichnet: die situative Erkenntnis nämlich, dass für das ethische Tun ein „Grenzfall“598 vorliegt, in dem die Sachgemäßheit darin besteht, dass die mit der Sache verbundenen Regeln des Handelns – also etwa die normalerweise gebotene Vermeidung der kriegerischen Gewaltanwendung des Staates, um wieder Bonhoeffers Illustration aufzugreifen599 – übertreten losigkeit und Verantwortungsethik mit Gesinnungslosigkeit identisch wäre. Davon ist natürlich keine Rede. Aber es ist ein abgrundtiefer Gegensatz, ob man unter der gesinnungsethischen Maxime handelt  –  religiös geredet  –: ‚der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim‘, oder unter der verantwortungsethischen: daß man für die (voraussehbaren) Folgen seine Handelns aufzukommen hat.“ Den Herausgebern zufolge (vgl. ebd.124) handelt es sich bei dem von Weber als Zitat gekennzeichneten Satz um eine freie Wiedergabe von Luthers Mahnung aus der Genesisvorlesung: fac tuum officium, et eventum Deo permitte (WA 44, 78). 595 Weber, Politik, 237 f. 596 E 247. 597 In dem Kapitel „Die letzten und die vorletzten Dinge“ hat Bonhoeffer dies deutlich ausgesprochen: die christliche Ethik hat orientierende Funktion für das Handeln des Christen, welches als Antwort auf das Christusgeschehen nichts anderes als „Wegbereitung“ für Christus ist: „Diese Wegbereitung aber ist nicht nur ein innerliches Geschehen, sondern ein gestaltendes Handeln in sichtbar größtem Ausmaß“ (E 153, meine Hervorhebung). 598 Vgl. E 273. 599 Vgl. E 272–274.

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werden müssen, weil andernfalls ein viel größerer Schaden für die dem Handelnden Anvertrauten drohte als beim Verzicht auf dieses Mittel. Der entscheidende Gedanke ist hierbei der gleiche wie bei der Kritik, die Bonhoeffer an dem absoluten Wahrhaftigkeitsprinzip Kants äußert600: Maßgeblich für das ethische Handeln ist nicht die Prinzipientreue, sondern das Verhältnis des Handelnden zur Wirklichkeit. Nur die echte Sachkenntnis und der ernsthafte, alle geistigen, psychischen und physischen Fähigkeiten beanspruchende Einsatz des Handelnden erschließen das je Gebotene  –  und dieses kann in außerordentlichen Situationen ein der Sache normalerweise widerstreitendes Irreguläres, aber eben konkret Notwendiges sein, nämlich „Krieg“, „Betrug“, „Vertragsbruch“, „Lüge“601 etc. Dass dies nicht wiederum zu einem Prinzip gemacht wird, ergibt sich schon aus dem einzigen Prinzip, das Bonhoeffers Ethik auszeichnet: nämlich der Bestreitung der Gültigkeit von Prinzipien im ethischen Handeln. Es folgt aber auch aus dem Konzept der Wesensgesetze, das ja nur dann orientierende Funktion für das Handeln besitzen kann, wenn der damit bezeichnete Zweck und die ihm entsprechende Techn in Grundzügen identisch bleiben, auch wenn sie immer wieder neu konkretisiert und gestaltet werden müssen. „Alles wird in seinem tiefsten Grunde verkehrt, wenn die ultima ratio selbst wieder zu einem rationalen Gesetz gemacht wird, wenn aus dem Grenzfall das Normale, wenn aus der necessità eine Technik gemacht wird.“602

Dass hier im Hintergrund der ausdrücklichen Betonung des Irregulären, des Notstands im eigentlichen Sinne des Worts, als Negativ-Folie der Missbrauch der Notstandsgesetzgebung durch Hitler steht, durch welchen erst die schlimmsten Auswüchse der Diktatur ermöglicht wurden, zeigt Slenczka, indem er Äußerungen Hitlers zum so genannten ‚Röhm-Putsch‘ im Sommer 1934 neben die Passage aus der Ethik stellt603. Die Aktualität dieser bereits neun Jahre alten, allerdings in ihrer Bedeutsamkeit sicherlich schon damals durch Bonhoeffer nicht verkannten, Worte hat sich demnach durch ein folgenschweres Ereignis im Frühjahr 1942, also parallel zur Abfassung der ersten oder schon des Beginns der zweiten Fassung von „Die Geschichte und das Gute“, ergeben: „Hitler hatte sich am 20. April 1942 unter ausdrücklicher terminologischer Bezugnahme auf die […] Rechtfertigung der Morde während des ‚Röhm-Putsches‘ vom Reichstag die Vollmacht geben lassen, ohne Bindung an das positive Recht als ‚Oberster Gerichtsherr‘ zu wirken“604. Das auch schon im klassischen Naturrecht enthaltene Zugeständnis außer600

E 280. E 273.280. 602 E 273. 603 Vgl. Slenczka, Schuld, 115. 604 Ebd. 601

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ordentlicher Mittel in außerordentlichen Situationen605 als unvermeidbares Element wirklichkeitsgemäßen Handelns muss darum von Bonhoeffer noch einmal ganz explizit als ein solches festgehalten werden, um eben den Missbrauch, die Normalisierung des Nicht-Normalen, als fundamental verkehrt auszuschließen. Dass Bonhoeffer allerdings überhaupt die Möglichkeit eines Handelns als ultima ratio konzediert, zeigt deutlich seinen Willen, insbesondere den politischen Bereich mit seinen spezifischen, hohen situativen Herausforderungen an den Einzelnen nicht preiszugeben, sondern als Handlungsfeld christlicher Ethik zu behaupten. Denn die Negation solcher Möglichkeit wäre, abgesehen von ihrer Unvereinbarkeit mit Bonhoeffers Wirklichkeitsbegriff, dem Politiker gar nicht vermittelbar; dieser weiß nämlich, wie Bonhoeffer jedenfalls auch von Max Weber gelernt hat, dass im politischen Handeln Prinzipien niemals durchgehalten werden können, wenn einerseits die Macht zur Gestaltung erhalten bleiben und andererseits die Folgen des politischen Handelns vertretbar sein sollen606. Wenn also gleichwohl in Bonhoeffers Verantwortungskonzept der Grenzfall einen systematischen Ort hat, weil er Folge der Ambivalenz der gefallenen und versöhnten Welt ist, so kommt nun erst recht dem Prüfen und Entscheiden wesentliche Bedeutung zu. Denn in der Natur des Grenzfalles liegt es ja, dass er nur theoretisch postuliert, nicht mehr aber entscheidungswirksam antizipiert werden kann. Ein Traktat über das bellum iustum bzw. über die legitimen Kriegsgründe beispielsweise ist von dieser Position aus dann weder sinnvoll noch möglich, denn es müsste die je konkrete Situation erlebt werden, in welcher der Krieg als letztes Mittel zur notwendigen Tat wird, obwohl er unter normalen Umständen dem Wesen des Staats entgegen steht. Einen Hinweis, wenn auch kein echtes Kriterium, gibt Bonhoeffer allerdings: eine außerordentliche Situation ist jedenfalls dadurch gekennzeichnet, dass die Sache, das Wesensgesetz, mit fundamentalen, natürlichen Rechten607 einzelner Menschen oder eines Kollektivs konfligiert: „Dort, wo die sachliche Befolgung des formalen Gesetzes eines Staates […] durch den Verlauf des geschichtlichen Lebens zusammenprallt mit den nackten Lebensnotwendigkeiten von Menschen, tritt verantwortliches sachgemäßes Handeln […] vor die durch kein Gesetz mehr zu regelnde, außerordentliche Situation.“608 605 Das bellum iustum zeichnet sich etwa insbesondere, aber nicht ausschließlich, dadurch aus, dass es als eine ultima ratio zustande gekommen ist. Vgl. Reuter, Krieg, 1771; Justenhoven, Vitoria, 94 f.; Beestermöller, Thomas, 130–132. 606 Vgl. Weber, Politik, 234 ff. Es wäre darum für den Bonhoeffer der Ethik unmöglich, einen prinzipiellen Pazifismus als Gebot Christi zu fordern – was er auch früher so nicht getan hat, obwohl er gedanklich noch nicht so weit voran geschritten war, dass er auch den aktiven Widerstand einschließlich des Tyrannizids als situativ geboten beurteilt hat. Zu Bonhoeffers Stellung zum Pazifismus vgl. jetzt Reuter, Pazifismus, passim. 607 S. dazu ausführlich u. C.IV. 608 E 272. Vgl. dazu auch Slenczka, Schuld, 114.

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Nur dann also könnte etwa ein Krieg oder eine Tötungshandlung verantwortliches Tun sein, sofern es sich dabei wirklich um die ultima ratio handelt – das aber lässt sich abstrahiert von der Situation ebenso wenig bestimmen wie ein entsprechender Konflikt theoretisch vorweggenommen werden kann. Diese Absage an naturrechtliche Begründungen eines bellum iustum ist die zwangsläufige Konklusion aus Bonhoeffers Formulierungen in diesem Kontext609, in dem es um den Einzelnen geht. Insbesondere die Beiordnung von Krieg und Vertragsbruch zeigt dies deutlich, denn es wäre ja theoretisch durchaus denkbar, dass ein Krieg unter bestimmten Umständen grundsätzlich legitimiert ist (und umgekehrt nur aus außerordentlichen Gründen unterlassen würde) – so etwa der Verteidigungskrieg, oder ein Krieg, der aufgrund eines völkerrechtlichen Beschlusses zustande kommt und dem Schutz bestimmter Bevölkerungsgruppen dienen soll, oder ein Krieg, der sich aus Bündnisverpflichtungen ergibt etc. Die Ausrichtung des Handelns auf die Sache, die auch bei dem außerordentlichen Handeln gegen die formale Gesetzlichkeit des Wesensgesetzes (also aufgrund einer eben nicht theoretisch schon begründbaren necessità, als ultima ratio im Grenzfall), für das Handeln leitend ist, begründet dann freilich die Wahrung der Verhältnismäßigkeit, impliziert also dann doch wieder bestimmte rationes, obwohl es zunächst „irrationales Handeln“610 ist. Bonhoeffer thematisiert dies zwar hier nicht ausdrücklich, weil ihm daran gelegen ist, den Grenzfall überhaupt als mögliche Situation zu behaupten. Da er an anderer Stelle aber in Anlehnung an das traditionelle Naturrecht Grundsätze des Kriegsrechts aufgreift611, bezieht sich die Rede von der Irrationalität eines Handelns aus necessità zweifellos allein auf ihr Zustandekommen, nicht aber auf ihren konkreten Vollzug. Die necessità Machiavellis wird so freilich von Bonhoeffer umgedeutet: statt eines für die herausgehobene Person des Principe bzw. politischen Führers legitimen Mittels zum Machterhalt612 ist sie das den Einzelnen je konkret herausfordernde Außerordentliche, welches zwar ein entsprechendes außer609

Vgl. E 273. Ebd. 611 E 183 f. Zu der klassischen scholastischen bzw. spätscholastischen Lehre vom bellum iustum vgl. für Thomas von Aquin bes. STh II–II qu. 40 und Beestermöller, Thomas, passim, sowie für Francisco de Vitoria Justenhoven, Vitoria, passim. 612 Vgl. z. B. Princ. XVIII: „Ein kluger Herrscher kann und darf sein Wort nicht halten, wenn ihm dies zum Nachteil gereicht und wenn die Gründe fortgefallen sind, die ihn veranlaßt haben, sein Versprechen zu geben […]. Für einen guten Fürsten ist es also nicht erforderlich, alle obengenannten guten Eigenschaften wirklich zu besitzen, wohl aber den Anschein zu erwecken, sie zu besitzen. Ich wage gar zu behaupten, daß sie schädlich sind, wenn man sie besitzt und ihnen stets treu bleibt; daß sie aber nützlich sind, wenn man sie nur zu besitzen scheint […]. Man muß nämlich einsehen, daß ein Fürst […] nicht all das befolgen kann, dessentwegen die Menschen für gut gehalten werden, da er oft gezwungen ist – um seine Herrschaft zu behaupten –, gegen die Treue, die Barmherzigkeit, die Menschlichkeit, die Religion zu verstoßen.“ 610

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ordentliches Tun freisetzt, aber immer nur mit dem Ziel, die Ordnung, die Gestalt der Welt, wie sie in Christus erkannt wird, unter den gegebenen Bedingungen wieder neu wirklich werden zu lassen613. Auch die hinsichtlich ihres Zustandekommens nicht mehr rationalisierbare ultima ratio ist daher zuletzt verantwortliches Handeln im Sinne Webers: ein auf die Zukunft gerichtetes umsichtiges Tun614. c) Verantwortung und Freiheit Immer wieder deutete sich bereits an, dass Bonhoeffers ethischer Zentralbegriff der Verantwortung mitsamt seinen Voraussetzungen ein bestimmtes Freiheitskonzept impliziert. Dies zeigt sich schon daran, dass Bonhoeffer das gesamte Verantwortungskonzept als ein Konzept relativer resp. relationaler Freiheit kennzeichnet: als „Bindung des Lebens an Mensch und Gott und […] Freiheit des eigenen Lebens“615. Wenn diese beiden später als zusammengehörig erwiesenen Begriffe ihrerseits in vier Unterbegriffe differenziert werden, nämlich „Stellvertretung“ und „Wirklichkeitsgemäßheit“ einerseits und „Selbstzurechnung“ und „Wagnis“ andererseits616, liegt damit bei Bonhoeffer eine begriffliche Inkonsistenz vor, weil ausgerechnet der zunächst übergeordnete Freiheits613

Die sehr weitgehende Einschätzung Slenczkas, dass Bonhoeffers Deutung des Verantwortungsbegriffs als „eine Art ‚Antimachiavelli‘“ (Schuld, 107) zu lesen seien, teile ich in dieser Zuspitzung nicht. Zwar beinhalten Bonhoeffers Ausführungen eine Gegenposition zu Machiavelli, aber abgesehen davon, dass nicht erkennbar ist, dass sich Bonhoeffer mit jenem wirklich intensiv auseinandergesetzt hat – es dürfte beispielsweise kaum zu entscheiden sein, ob er den Gedanken der necessità direkt Machiavelli entlehnt hat oder nicht vielleicht doch eher den historischen Darstellungen, die er verwendet hat (besonders Ritter, Machtstaat) –, sind die Grundlagen, auf denen die Gegenposition ruht, erkennbar nicht nur nicht gegen eine machiavellistische Herrschafts- und Geschichtsauffassung gerichtet. Dass sich Bonhoeffer mit einer machiavellistischen Geschichtsdeutung auseinandersetzt, die auf dem Schicksalsbegriff beruht („la fortuna“, vgl. Slenczka, Schuld 107), lässt sich am Text nicht zeigen (der E 265 verwendete Schicksalsbegriff zielt ja offenbar auf Werner Elerts Lutherdeutung, nicht aber auf Machiavelli). Dennoch ist die Konsequenz des gesamten Kapitels natürlich ein Kontrast zu Machiavelli, der fraglos auch beabsichtigt ist, m. E. aber nicht die entscheidende Intention darstellt, wie es dagegen die zitierte Formulierung Slenczkas suggeriert. 614 Weber, Politik, 232: „[…] was den Politiker angeht: die Zukunft und die Verantwortung vor ihr“. Vgl. E 267: „Es muß der Blick in die nächste Zukunft gewagt, es müssen die Folgen des Handelns ernstlich bedacht werden […]“. Freilich kommt das Tun des Christen zugleich auch aus der Zukunft her, nämlich aus der nicht antizipierbaren, kontingenten Begegnung mit Christus. Insofern ist die ethische Tat des Christen zwar Zukunftsgestaltung, aber wegen ihrer Begründung in der qualifizierten Zukunft der Christusbegegnung nicht menschliche Konstruktion mit unsicherem Ausgang, sondern in der Existenz sich vollziehendes Wirklichwerden der Zukunft Christi. Gerade darum aber, weil sich in der menschlichen Existenz der Wille Gottes Raum schafft, ist der Mensch gestalterisch tätig. 615 E 256. 616 Ebd.

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begriff später den vierten Unterbegriff ‚Wagnis‘ ersetzt617. Die Deutung der Herausgeber618, dass es sich hier um einen „Teilaspekt“ der Freiheit, nämlich die freie Tat, handele, die deshalb dem ‚Wagnis‘ als dem vierten der zu Beginn angekündigten Strukturierungsmerkmale entspreche, weist insofern in die richtige Richtung als der terminologische Wechsel bei Bonhoeffer damit zusammenhängt, dass der vierte Strukturaspekt ein bestimmtes Moment der freien Tat als Ganze, einschließlich ihrer Bindung und der unvermeidlichen Schuldübernahme, bezeichnet, nämlich den Entschluss zur Tat: Die Freiheit als Wesen der verantwortlichen Tat kommt darin in vorzüglicher Weise zum Ausdruck. Freilich kann diese Freiheit der Entscheidung nur noch theoretisch von ihrem Vollzug unterschieden werden. So erscheint es sinnvoller, das gesamte Verantwortungskonzept als eine Freiheitskonzeption zu bestimmen, wie Bonhoeffer selbst es schließlich tut, indem er die vorangehenden Strukturelemente in die Explikation des Freiheitsbegriffs münden lässt619. Das Element der Bindung wiederum, zu dem neben der ethisch-sozialen Stellvertretung auch die Begrenzungen der Tat in der Wirklichkeit und dem Gebot gehören, gehört unmittelbar mit seinem Gegenbegriff zusammen, weil damit der Freiheitsbegriff selbst in bestimmter Weise qualifiziert wird. Erst vom Freiheitsbegriff her wird daher auch die Bindung recht verstanden – und umgekehrt. Begrifflich erfordert Verantwortung als sachliche Voraussetzung intellektuelle und pragmatische Freiheit des Handlungssubjekts; das normative Element des Verantwortungsbegriffs wäre andernfalls dem Begriff nicht sinnvoll zuzuschreiben und damit der Verantwortungsbegriff als allgemeiner ethischer Begriff selbst ohne Bedeutung620. Da Bonhoeffer aber gerade dieses Element des Verantwortungsbegriffs umgedeutet hat – das moralische Urteil ist ihm ja Ausdruck der Verkehrtheit der menschlichen Existenz621 – ist der Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung bei ihm nicht im Hinblick auf die bewertende Zurechenbarkeit einer Handlung und ihrer Folgen zu bestimmen. Das auch von Bonhoeffer konstatierte notwendige Verhältnis von Freiheit und Verantwortung impliziert darum einen dem Verantwortungsbegriff entsprechenden theologischen Freiheitsbegriff:

617 Vgl. E 283: „So müssen wir in der Analyse der Struktur des verantwortlichen Handelns zuletzt [sc. nach Stellvertretung, Wirklichkeitsgemäßheit und Schuldübernahme] von der Freiheit sprechen.“ 618 E 283121. 619 E  283 ff.: Freiheit als Wagnis der Schuldübernahme; 288 f.: Freiheit und Gehorsam; 293–297: Beruf und Freiheit; 297–299: Freiheit und Gesetz. 620 Vgl. Bayertz, Verantwortung, 8 ff., bes. 12: „Pointiert gesagt ist es nicht nur so, daß Verantwortung Freiheit voraussetzt; vielmehr wird zugleich auch Freiheit unterstellt, um Verantwortung zuschreiben zu können.“ 621 Dazu A.II.3 u. 4.

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„Verantwortung und Freiheit sind einander korrespondierende Begriffe. Verantwortung setzt sachlich – nicht zeitlich – Freiheit voraus, wie Freiheit nur in der Verantwortung bestehen kann.“622

Dieser dem Verantwortungsbegriff korrespondierende Freiheitsbegriff ist es nun erst, der die unterschiedlichen Elemente christlich-ethischen Handelns, welches Bonhoeffer in diesem Kapitel begründet und ausarbeitet, und den theologischen Erkenntnisbegriff resp. den Begriff einer nicht-reflexiven623 Glaubenserkenntnis, den er im Einleitungskapitel begründet hat, in einem Ganzen integriert, weil erst im Freiheitsbegriff die systematische Verknüpfung des ontologischen Fundaments, des theologischen Existenzbegriffs, des inhaltlich schon vorbestimmten sozialen Verantwortungsbegriffs und der erkenntnistheoretischen Kategorisierung des Tuns erfolgt. Entsprechend weist der Freiheitsbegriff unterschiedliche Aspekte auf, die auch in ihrem jeweiligen Kontext bereits andeutungsweise benannt worden sind. Das entscheidende Kennzeichen von Bonhoeffers Freiheitsbegriff ist zunächst die fundamentale Differenz, die zwischen Bonhoeffers Theologie und besonders dem zugehörigen Freiheitsbegriff einerseits und einer vom Rationalismus bestimmten Theologie oder Theo-Philosophie andererseits besteht: dem Grundsatz von der prinzipiellen Identität von Denken und Sein, der Prämisse sowohl des Thomismus als auch des Denkens Hegels, aus dem ein Begriff vernünftiger Freiheit resp. die Identität von Vernunftnotwendigkeit und Freiheit folgt624, setzt Bonhoeffer ein Konzept existentieller und personaler Freiheit entgegen, das dem Einfluss moderner Philosophie entstammt und früher von ihm durch den Abgrenzungsbegriff analogia relationis interpretiert wurde625. Freilich ist der entscheidende Unterschied zu Rationalismus 622 E 283. S. auch DBW 16, 540: „Freiheit ist […] eine Verantwortung […]“. Vgl. auch den Kontext dieses Zitats (ebd.), der in Kürze die Folgenden Erörterungen zusammenfasst. 623 D. h.: nicht subjektivitätstheoretisch begründeten. 624 S. dazu v. a. A.II.4, außerdem B.II.2.a. 625 SF 61. Dass Bonhoeffer diesen Begriff, der später von Barth zustimmend in seine theologische Anthropologie übernommen worden ist (KD  III/1,  222 ff.), selbst nicht wieder aufgegriffen hat, muss beachtet werden. Zwar bleibt Bonhoeffer inhaltlich der damit bezeichneten Sache treu, aber den Begriff selbst und die in ihm implizierten negativen und positiven Bezüge wollte er offenbar später nicht mehr mitgesagt wissen. Das dürfte auch damit zusammenhängen, dass ihm der pragmatische Sinn dieses Freiheitsbegriffs, also der entsprechende theologische Handlungsbegriff, zunehmend wichtig wird – so wie seine Theologie im Laufe der Jahre zu einer ethischen Theologie wird, deren dogmatische Voraussetzungen darum immer unmittelbar im Hinblick auf ihre ethische Bedeutung, nie aber für sich, reflektiert werden. Vielmehr versteht Bonhoeffer sein durchaus vorhandenes Bemühen um ein dogmatisches Fundament bereits selbst als Teil der Ethik – sofern nämlich Ethik sich von der Dogmatik lediglich darin unterscheidet, dass sie über die intellektuelle Reflexion des Glaubens hinaus seinen existentiellen Anspruch im resp. auf das konkrete Leben des Glaubenden bedenkt: „Das Problem der christlichen Ethik ist das Wirklichwerden der Offenbarungswirklichkeit Gottes in Christus unter seinen Geschöpfen, wie das Problem der Dogmatik die Wahrheit der Offenbarungswirklichkeit Gottes in Christus ist.“ (E 34).

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und Idealismus nicht dieser, dass Bonhoeffer nun Freiheit und Gutes zusammen denkt, dass also der Vollzug der Freiheit selbst das Gute sei; denn das ist auch Kennzeichen für rationalistische Konzeptionen: Freiheit ist selbst die Realisation des Guten und darum keineswegs als formale Voraussetzung für die gute Tat zu denken, etwa im Sinne eines abstrakten liberum arbitrium oder des Postulats eines formalen Indeterminismus des Handelns626. Dies hat seinen Grund darin, dass ja die Vernunft selbst das Gute ist und die von der Vernunft bestimmte Freiheit darum unmittelbar als das Gute angesprochen werden muss. Bonhoeffers Kritik trifft vielmehr eben diese Prämisse, wie ja bereits ausführlich dargelegt wurde: die Bestimmung der Freiheit als Entfaltung der menschlichen Vernunft, d. h. die Begründung der Freiheit im menschlichen Vermögen, wodurch Freiheit zur Autonomie und der Mensch zum Subjekt des moralischen Urteils über sich selbst wird627. Es ist freilich nicht nur dieser Aspekt, den Bonhoeffer als Inbegriff der Sünde markiert hat, sondern auch die praktische Konsequenz aus dieser Konzeption: wenn nämlich das sittliche Handeln aus vernünftiger Freiheit erfolgt, dann ist es, wie Kant vorgeführt hat, ein Handeln in gesetzlicher Form, sofern nämlich das Wesen der Vernunft darin besteht, die Wirklichkeit in allgemeingültigen Sätzen zu erfassen und folgerichtig auch das dieser Wirklichkeit entsprechende sittliche Handeln zu strukturieren628. Dies hätte in Bonhoeffers Auffassung, die ja gerade keine rationale Kosmologie impliziert, nicht nur zur Folge, dass das Tun an der Dogmatische Abgrenzungen gegenüber katholisch-philosophischen Systemen – und seien sie auch nur indirekt terminologisch angedeutet – müssen dann aber als Ablenkung vom Ziel, der Begründung der Ethik, verstanden und folglich vermieden werden. 626 Bonhoeffer scheint mit seinem beiläufigen Abweis der Frage, ob das (ethische oder überhaupt das menschliche) Handeln determiniert sei oder nicht (E 2846)) etwas Ähnliches im Visier zu haben wie Kierkegaard, der den Gedanken einer rein formalen, d. h. vom konkreten Akt abstrahierten Wahlfreiheit des Menschen zwischen dem Guten und dem Bösen im Sinne eines abstrakt-allgemeinen liberum arbitrium, verwirft (BA 48). Eine solche formale Wahlfreiheit wäre offenbar ähnlich zu denken wie der von Bonhoeffer als Kategorienverwechslung abgelehnte Indeterminismus des Handelns, weil damit dieses nicht im Hinblick auf seine ethische Bedeutung, nämlich hinsichtlich seines „Wesen[s] als geistige Entscheidung“ (ebd.), sondern als kausales Ereignis betrachtet wird. Freilich impliziert die Kritik Kierkegaards wie diejenige Bonhoeffers eine Anthropologie, die sich nicht mit derjenigen einiger moderner Neurowissenschaftler deckt, die bestreiten, dass über die wissenschaftlich-empirisch erforschbare Materie hinaus dem Menschen eine wesentliche Dimension der Existenz eignet (etwa: Gottesverhältnis, Freiheit des Entscheidens und Handelns, die Natur beeinflussendes Bewusstsein etc.). 627 S. dazu auch u. den Abschnitt zum Gewissensbegriff. 628 Dabei ist es Bonhoeffer offenkundig gleichgültig, ob diese Strukturierung in Form des kantischen Sittengesetzes erfolgt oder in der Form der dialektischen Selbsterkenntnis der allgemeinen Vernunft Hegels. Entscheidend ist eben die Allgemeingültigkeit, die als Begriffsmerkmal der Vernunft immer zur Abstraktion vom Faktischen führt, auch wenn sie dieses in sich aufzuheben trachtet. Vgl. dazu den Abschnitt über Bonhoeffers HegelRezeption o. A.II.4. Für Kant vgl. das „Erste Hauptstück von den Grundsätzen der reinen praktischen Vernunft“ (KpV A 35 ff.).

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Wirklichkeit vorbeiginge – selbst wenn es scheinbar erfolgreich ist629 –; die aufgrund sittlicher Autonomie erfolgende Selbstbeurteilung könnte, indem sie als Selbstrechtfertigung des Menschen vor dem forum internum et externum menschlicher Vernunft sich manifestierte, für den Anderen schwerwiegende Folgen haben, weil die Fürsorge, die Verantwortung für ihn unter Umständen als dem allgemeinen Sittengesetz widersprechend erkannt würde. Das Gewissen aber bliebe dennoch rein: „Wenn Kant aus dem Prinzip der Wahrhaftigkeit heraus zu der grotesken Folgerung kommt, ich müsse auch dem in mein Haus eingedrungenen Mörder seine Frage, ob mein Freund, den er verfolgt, sich in mein Haus geflüchtet habe, ehrlicherweise bejahen, so tritt hier die zum frevelhaften Übermut gesteigerte Selbstgerechtigkeit des Gewissens dem verantwortlichen Handeln in den Weg.“630

Die ganz praktische Gefahr einer Verbindung von Freiheit und Vernunftgesetz, gewissermaßen Ausdruck und Folge der Sünde coram hominibus, besteht in Bonhoeffers Einschätzung daher in der moralisch zu rechtfertigenden Verfehlung der Verantwortung gegenüber dem Nächsten. Damit ist dann aber auch das Wesen der Freiheit als sachliche Voraussetzung der Verantwortung verfehlt, denn tatsächlich „gibt [es] kein Gesetz, hinter dem der Verantwortliche […] Deckung suchen könnte […], es gibt vielmehr angesichts dieser Situation nur den Verzicht auf jedes Gesetz, verbunden mit dem Wissen darum hier in freiem Wagnis entscheiden zu müssen […]“631.

Und doch will Bonhoeffer nun an die Stelle des rationalistischen Freiheitsbegriffs keinen Begriff einer radikalen dezisionistischen Freiheit setzen, deren einzige Bindung in dem streng subjektiven Verhältnis des Einzelnen zu Gott und der je konkreten situativen Gefordertheit besteht632. Denn wenn Freiheit sich in der verantwortlichen Tat verwirklicht, dann sind ihr bestimmte, auch inhaltliche Bindungen wesentlich, die einerseits in der ihr vorgegebenen Wirklichkeit, dem Leben, gründen633 und andererseits auf den Willen Gottes, d. h. auf das Gottesgesetz bezogen sind, dessen Gültigkeit von Bonhoeffer keineswegs bestritten, sondern vorausgesetzt wird. Schließlich ist auch der faktischen, in die Zeit ausgedehnten Existenz des Menschen Rechnung zu tragen: denn der Gedanke einer je neuen unmittelbaren und unreflektierbaren freien Entscheidung könnte aktualistisch missverstanden werden im Sinne eines radikalen Existentialismus, der am Ende die bloße kontextlose Entscheidung als wirklich und sittlich gerechtfertigt betrachtete und folglich den Verantwortungsbegriff rein formal fassen müsste. Bonhoeffers Interesse aber gilt bei aller 629

S.o. B.II.2.b. E 280. 631 E 274. 632 Vgl. dazu o. B.II.2.b, sowie A.II.5.e. 633 Vgl. E 281: „meine[ ] in der Wirklichkeit begründete[ ] Verantwortung“. 630

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Kritik an einer gesetzlichen – und sei es auch vernunftgesetzlichen – Ethik durchaus auch den inhaltlichen und strukturellen Momenten der verantwortlichen Tat. Es entsteht darum für ihn die Frage, worin Orientierungen für das Handeln bestehen und welche Gültigkeit sie haben können, oder anders: was es bedeutet, dass Freiheit zwar als Freiheit vom Gesetz, aber dennoch nicht ohne ihr Gegenteil, die Bindung an bestimmte Inhalte des Gesetzes, gedacht werden kann634, und was diese Bindung an das in Christus erfüllte Gesetz, diese relationale Freiheit des Menschen zum Guten, für den Vollzug der Verantwortung bedeutet. Der Begriff einer personalen existentiellen Freiheit wird daher nun von Bonhoeffer um die für die christliche Ethik, als Theorie des Wirklichwerdens des Guten im Existenzvollzug des versöhnten Menschen, konstitutive635 Dimension der inhaltlichen Orientierung des Handelns am offenbaren Willen Gottes erweitert, die sich genauer als paradoxer, d. h. nicht-gesetzlicher Gehorsam gegenüber dem Gottesgesetz und die von diesem bestimmte Christuswirklichkeit darstellt. Das methodische Moment, welches im ethischen Akt die konkrete Gebundenheit an Gesetz und Wirklichkeit und die existentielle Freiheit des Menschen als auf Christus bezogene Person vermittelt, ist das Prüfen. Wegen dieser systematischen Bedeutung für die Ethik hat Bonhoeffer es in dem Einleitungskapitel bereits eingeführt636. Dass Bonhoeffer einen solchen Akt überhaupt als wesentliches Element der ethischen Tat postuliert, ist von entscheidender Bedeutung für die gesamte Konzeption, auch wenn er selbst dies nicht explizit herausstellt. Denn erst das Prüfen als Vollzugselement der Tat sichert sowohl die menschliche Freiheit, und damit die der Freiheit korrespondierende Verantwortung als auch die bleibende Bedeutung des göttlichen Gesetzes für den Glaubenden637. In diesem Kontext steht dabei weniger der voraus liegende Gedanke der personalen Freiheit des Menschen im Vordergrund, welche einerseits ermöglicht wird durch die Gottesbeziehung in Christus und andererseits als freie Antwort des Menschen auf die Anrede Christi Verwirklichungsform der geschenkten Beziehung zwischen Gott und Mensch ist; dafür hat Bonhoeffer in der Einleitung den Begriff der ‚Selbstprüfung‘ gewählt, die wesentliches Element der ‚Antwort‘, d. h. des gesamten Aktes der Verantwortung ist638. Vielmehr geht es um den damit unmittelbar 634

E 256. Sonst wäre es kaum notwendig, eine konkrete Ethik zu verfassen, die mehr als die bloße Entfaltung des Christusgeschehen für den Einzelnen wäre. Genau das ist aber Bonhoeffers Intention: materiale ethische Orientierungen über den Handlungsvollzug, seine Bedingungen und Ziele zu geben, die dennoch nicht gesetzlich missverstanden werden können. 636 S.o. A.II.5.e sowie B.II.4.c. 637 Zu Bonhoeffers Gesetzesbegriff s. u. C.III. 638 Vgl. dazu ausführlich den Abschnitt über Bonhoeffers Kierkegaard-Rezeption (A.II.5.d) und über das Prüfen (A.II.5.e). S. außerdem das Kapitel über den Personalismus (B.II.3) und über Verantwortung als Antwort (B.II.4.a). 635

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zusammengehörigen Akt des auf das Tun selbst gerichteten Prüfens, also um die Richtung der ‚Antwort‘ nach außen, während die Selbstprüfung direkt auf Christus bzw. die Beziehung zwischen Christus und Selbst gerichtet ist. Dass der Verantwortliche nämlich „in der Freiheit des eigenen Selbst“ handelt, erweist sich daran, dass er „selbst […] beobachten, urteilen, abwägen, sich entschließen, handeln“ muss, indem er „die Motive, die Aussichten, den Wert und den Sinn seines Handelns“ prüft639. Das personale Verhältnis des Menschen zu Christus setzt also zwar die existentielle Tat der Verantwortung frei, aber als eine solche, die der Mensch nicht nur selbst vollbringen, sondern deren Wesen, Sinn und Gestalt er überhaupt erst selbst erkennen und damit in gewisser Weise selbst setzen muss: Ziel, situativer Kontext, strukturelle Bedingungen (Wesensgesetze, Mandate, Rechte), individuelle Voraussetzungen im Subjekt (Tugenden, Fähigkeiten und Motive), zu erwartende Folgen, mögliche Hemmnisse und schließlich das Tun selbst sind Aufgabe des zur Tat gerufenen Handlungssubjekts, dem folglich gerade aufgrund dieser Freiheit zum Prüfen und Tun auch höchstmögliche Verantwortung – im Sinne von Webers politiktheoretischem Verantwortungsbegriff – zufällt. Weil der Mensch nun aber nicht über unabhängig von der Situation resp. der Tat selbst bestehende normative Maßstäbe verfügen kann640, wenn er nicht die personale Beziehung auf Christus und das unmittelbare Verhältnis zu der in Christus begründeten Wirklichkeit zerstören will, kann das verantwortliche Tun, so scheint es, faktisch dennoch nur als selbstmächtige Tat existentieller Freiheit begriffen werden, für die das Prüfen tatsächlich keine Bedeutung hat, deren Kennzeichen also das Wagnis der reinen Dezision ist  –  so dass also letztlich gar kein Wagnis mehr besteht641. Damit ist freilich der Sinn des Prüfens für diese Konzeption verkannt: denn dieses erfolgt, anders als bei Weber, nicht, um ein moralisches Urteil über die Tat zu ermöglichen; ein solches ist dem versöhnten Menschen ja gerade nicht mehr möglich, weil er in der (reflexiven) „Unwissenheit um das Gute“642 handelt. Das Prüfen ist dagegen deshalb notwendig, weil die verantwortliche Tat, das freie Wagnis, auch eine inhaltliche Bestimmung aus dem Gottesverhältnis in Christus empfängt. Diese aber liegt nicht einfach klar auf der Hand, sie ergibt sich auch nicht in der Form göttlicher Inspiration oder visionärer Schau; sie entsteht erst darin, dass der Mensch in der Anrede durch Jesus Christus sich je konkret zum Tun, d. h. zu einem bestimmten Tun gerufen erfährt. Dieses Tun aber vollzieht sich in der Zeit und in der Welt, unter den Bedingungen der menschlichen Existenz mit ihrer Begrenztheit der Erkenntnis, mit der so eingeschränkten Überschaubarkeit der Situation, mit der der ambivalenten Gestalt der Welt 639

E 284. Bei Weber sind diese Normen implizit vorhanden, aber nicht ausgewiesen. 641 Vgl. E 285.274. 642 E 285. 640

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geschuldeten Kollision von Rechten und Gesetzen etc643. Darum aber ist das Prüfen die Weise des Empfangens des Willens Gottes und darum ist der Gehorsam, den dieser fordert, zugleich ein Akt der Freiheit und ein Wagnis; es ist nicht nur das Einstimmen des versöhnten, des einfältigen Menschen in den Willen Gottes, der Freiheit und Gehorsam als zwei Seiten derselben Sache ausweist, sondern es ist darüber hinaus die Notwendigkeit der eigenen Entscheidung, was in der gegebenen Situation der konkrete, materiale Wille Gottes ist, welche das Tun zu einem verantwortlichen macht und darin alle Fähigkeiten des Menschen in höchstem Maße beansprucht644. Der tätige christliche Existenzvollzug ist daher einerseits Wagnis der Entscheidung und darin Kierkegaards ‚Sprung‘ vergleichbar; er ist aber andererseits zugleich in die konkrete zeitliche Existenz hinein ausgedehnte Aktivität der ganzen Person, oder mit Bonhoeffers Worten: Prüfen und Tun sind der Vollzug des Lebens im Vorletzten in der Beziehung auf das Letzte: „Wir leben im Vorletzten und glauben das Letzte […]. Die Konsequenzen sind sehr weitreichend […] vor allem eben für die Ethik.“645

Denn damit fällt alles menschliche Entscheiden und Tun in den Bereich des im strengen Sinne relativen Vor-Letzten, das in dieser Relation sein eigenes Recht hat und zur Gestaltung durch den Menschen, zur „Wegbereitung“646, freigegeben ist647. Nur mit diesem Modell des Lebens im Vorletzten vom Letzten her und auf das Letzte hin, das auf einer Ontologie der eschatologischen Versöhnung begründet ist, aber lässt sich von der verantwortlichen Tat, in welche der Entscheidungsprozess, das Prüfen, mündet, beides zugleich aussagen: dass sie als eigenes freies Wagnis „ganz im Bereich der Relativitäten, ganz in dem Zwielicht, das die geschichtliche Situation über Gut und Böse breitet“, geschieht und dennoch im Glauben als Gehorsam erkannt wird, dass also Gottes Führung und menschliche Entscheidung aufgrund des Prüfens, was hic et nunc der Wille Gottes sei, zuletzt zusammenfallen und darin das Gute wirklich wird648. 643

S.o. B.II.4.c. Dazu s. auch ZE Nr. 27. 645 WE 226 f. Vgl. dazu ausführlich das Kapitel der Ethik „Die letzten und die vorletzten Dinge“ (E 137–162, bes. 151 ff.). 646 E 152 ff. 647 Vgl. E 142 f.: „Es sei hier die Frage gestellt […] ob der Mensch allein aus dem Letzten leben kann, ob der Glaube sozusagen zeitlich ausgedehnt werden kann oder ob er nicht immer nur als das Letzte einer Zeitspanne, vieler Zeitspannen im Leben wirklich wird […] Wir fragen, ob dieser Glaube täglich, stündlich realisierbar ist und sein soll oder ob auch hier immer wieder die Länge des Vorletzten durchschritten werden muß um des Letzten willen […] Wird also nicht gerade um des Letzten willen das Vorletzte immer wieder […] geboten sein und nicht mit belastetem, sondern mit gutem Gewissen getan werden müssen?“ 648 E 285. Vgl. auch E 389: „[Der Mensch] […] darf […] sich auf dem Wege vom Gebot wie von einem guten Engel leiten, begleiten und bewahren lassen, und Gottes Gebot selbst 644

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Inwieweit diese Führung Gottes im Leben nicht nur zur Wirklichkeit durch das eigene freie Tun, sondern darin, d. h. im Akt des Prüfens und Sichentscheidens, auch in das (nicht-subjektivistische) Bewusstsein, also, modern gesprochen, auf die Ebene der Kognition, erhoben wird, inwieweit es also einen als solchen auch erlebten und durchlebten, möglicherweise schwierigen Entscheidungsprozess einschließt, hängt dabei von der Situation und dem zu tuenden resp. zu entscheidenden Sachverhalt ab649. Der reale Lebensvollzug des Einzelnen wird häufig auch aus den unbewussten oder nur begrenzt kognitiv durchdrungenen, aber gleichwohl freien650 Entscheidungen zum Gehorsam gegen Gottes Gebot gekennzeichnet sein, so konstatiert Bonhoeffer an anderer Stelle, und führt eben darum als echte Befreiung von den Zwängen einer gesetzlichen, zur dauernden Selbst- und Fremdbeurteilung zwingenden Ethik zu einer dem Gebot entsprechenden Ethik der „Erlaubnis“651. In diesem Kapitel „Die Geschichte und das Gute“ geht es jedoch primär um die auch immer wieder, und in manchen geschichtlichen und persönlichen Konstellationen ganz besonders, auftretenden außergewöhnlichen Herausforderungen zu folgenschwerem Tun, die den Prozess des Prüfens und Sichentscheidens als zeitlich ausgedehntes Leben und Handeln im Vorletzten aus dem Letzten her auch mit inneren Konflikten und den Empfindungen existentieller Infragestellung beladen, bis im Vollzug der Entscheidung, dem freien Wagnis zur Tat, schließlich eben dieses Prüfen, Entscheiden und Tun der Gnade Gottes zuversichtlich anheim gestellt wird. Noch vor der theologischen Explikation dieses Begriffs der ethischen Tat als eigene Prüfung und göttliche Führung und damit auch noch vor der vollständigen und konsequenten Teilnahme am militärischen Widerstand hat Bonhoeffer selbst einen solchen folgenschweren kann nun in der Gestalt alltäglicher, scheinbar kleiner, bedeutungsloser Worte, Sätze, Winke, Hilfen dem Leben die einheitliche Richtung, die persönliche Führung geben.“ Vgl. zu diesem Element von Bonhoeffers Theologie und persönlichem Glauben ausführlicher Krötke, Hand, passim. 649 Und davon, wie gut das eigene Unterbewusste durchforscht werden kann, was aber auch der genauesten und umfassendsten Psychoanalyse nur bedingt gelingen kann. S. dazu o. A.II.4.c. 650 Auch hieran wird wieder gut sichtbar, dass Freiheit in Bonhoeffers Deutung nicht primär ein intellektuelles Vermögen ist, dem das Wollen des erkannten Guten unmittelbar folgt (Thomas) bzw. mit dem der gute Wille zusammenfällt (Kant), sondern ein existentielles Selbstverhältnis, dessen Signum es ist, dass es sich gerade nur und ausschließlich aus seinem Gottesverhältnis heraus vollzieht. Freiheit zum Guten resp. Gebot ist darum an sich selbst schon der Lebensvollzug coram Deo – insofern sie ja nicht abstrakt zu denken ist – und manifestiert sich nicht notwendigerweise, aber doch möglicherweise, in einem bewussten, (im nicht-subjektivistischen Sinne) reflektierten Entscheidungsprozess. 651 Dies ist Gegenstand von Bonhoeffers Explikation des theologischen Gebots-Begriffs in „Das Ethische und das Christliche als Thema“ (E 365–391). Hier wird also, wenn man so will, der Einbezug des alltäglichen, gerade nicht extraordinären Lebens vor Gott nachgetragen, nachdem zuvor die Grenzfälle und extremen ethischen Herausforderungen der Existenz in der Tyrannis im Mittelpunkt standen. Zum Gebotsbegriff s. u. C.III.

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Entscheidungsprozess durchlebt und in Tagebuchaufzeichnungen gedanklich verarbeitet. Es ging dabei um die Frage, ob er im Sommer 1939 das Angebot einer auch beruflich gesicherten Existenz im amerikanischen Exil annehmen sollte, oder nicht. Um der Illustration des hier systematisch Erörterten willen seien daraus einige Abschnitte, verbunden mit der retrospektiven Einschätzung Bonhoeffers im Gefängnis, zitiert652: „13. Juni 1939 […] Ich begreife nicht, warum ich hier bin, ob es sinnvoll war, ob das Ergebnis sich lohnen wird […]. 16. Juni 1939 […] Ich werde wohl nicht lange bleiben. Gottes Wort sagt heute: ‚Siehe, ich komme bald –‘. Es ist keine Zeit zu verlieren, und hier verliere ich Tage, vielleicht Wochen. Jedenfalls sieht es im Augenblick so aus. Dann sage ich mir wieder: es ist Feigheit und Schwäche, jetzt hier wegzulaufen. Aber werde ich hier jemals wirklich sinnvolle Arbeit tun können?  –  Beunruhigende politische Nachrichten aus Japan. Wenn es jetzt unruhig wird, fahre ich bestimmt nach Deutschland. Ich kann nicht allein draußen sein. Das ist mir ganz klar. Ich lebe ja doch drüben […]. 19. Juni 1939 Ohne Nachricht aus Deutschland den ganzen Tag, von Post zu Post, vergebliches Warten […]. Ich will wissen, was die Arbeit drüben macht, ob alles gut geht oder ob man mich braucht. Ich will für die morgige entscheidende Unterredung einen Wink von drüben haben. Vielleicht gut, daß er nicht gekommen ist […]. 20. Juni 1939 Morgens Brief von den Eltern aus Süddeutschland. Aus Stettin Hefte. Besuch bei Leiper. Damit ist wohl die Entscheidung gefallen. Ich habe abgelehnt. Man war sicherlich enttäuscht und wohl etwas verstimmt. Für mich bedeutet es wohl mehr, als ich im Augenblick zu übersehen vermag. Gott allein weiß es. Es ist merkwürdig, ich bin mir bei allen meinen Entscheidungen über die Motive nie völlig klar. Ist das ein Zeichen von Unklarheit, innerer Unehrlichkeit oder ist es ein Zeichen dessen, daß wir über unser Erkennen hinausgeführt werden, oder ist es beides? […]. Am Ende kann ich nur bitten, daß Gott ein gnadenvolles Gericht üben möge über diesen Tag und alle Entscheidungen. Es ist nun in seiner Hand […]. 21. Juni 1939 […] Zu meiner Entscheidung kommen natürlich immer noch Gedanken. Man hätte ja auch ganz anders begründen können […]. Werde ich es bereuen? Ich darf es nicht, das ist sicher […]. Ich kenne mich nicht mehr aus. Aber Er kennt sich aus; und am Ende wird alles Handeln und Tun klar und rein sein.“653 Im Sommer 1943 zurückblickend kann Bonhoeffer dann aus dem Gefängnis heraus an Eberhard Bethge schreiben: „Man muß sich klar werden über das, was man will, 652

Zum Ganzen vgl. DB 729–744. DBW  15,  221–230. Vgl. auch den Eintrag vom 26. Juni 1939 (aaO.  234), wo Bonhoeffer das Existieren und Entscheiden coram Deo mit dem theologischen Lebensbegriff verknüpft: „Heute las ich zufällig aus 2. Tim. 4,21 ‚komme noch vor dem Winter‘ – die Bitte des Paulus an Timotheus […]. Das geht mir den ganzen Tag nach. Es geht uns wohl so wie den Soldaten, die vom Feld in den Urlaub kommen und trotz allem, was sie erwarteten, wieder ins Feld zurückdrängen. Wir kommen nicht mehr davon los. Nicht als wären wir nötig, als würden wir gebraucht (von Gott!?), sondern einfach weil dort unser Leben ist und weil wir unser Leben zurücklassen, vernichten, wenn wir nicht wieder dabei sind. Es ist gar nichts Frommes, sondern etwas fast Vitales. Aber Gott handelt nicht nur durch fromme, sondern auch durch solche vitalen Regungen. ‚Komme noch vor dem Winter‘ – Es ist nicht Mißbrauch der Schrift, wenn ich das mir gesagt sein lasse. Wenn mir Gott Gnade dazu gibt.“ Zur Kategorie der Entscheidung zu einem bestimmten Tun (nicht: zwischen prinzipiell bestimmbaren moralischen Alternativen) und der letzten Verschlossenheit ihrer Begründung s. auch ZE Nr. 36. 653

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man muß sich fragen, ob man es verantworten kann, und dann muß man es mit einer unwiderstehlichen Zuversicht tun. Dann und nur dann kann man auch die Folgen tragen. – Du mußt übrigens wissen, daß ich noch keinen Augenblick meine Rückkehr 1939 bereut habe […]. Ohne jeden Vorwurf denke ich an das Vergangene und ohne Vorwurf nehme ich das Gegenwärtige hin […]. Wir können nur in der Gewißheit und im Glauben leben.“654

Vom Letzten her, im Glauben, also gehören Freiheit der eigenen Tat und Gehorsam gegenüber Gottes konkretem Willen im Handeln unmittelbar zusammen als zwei Seiten derselben Sache: Weil das Tun auch und gerade als menschliches begrenztes und fehlbares, als mühsames und manchmal quälendes Prüfen und Sichentscheiden, ganz und gar von der Beziehung auf Christus bestimmt wird, mündet es schließlich subjektiv in Zuversicht und Gewissheit um Gottes Führung655, objektiv aber in die schöpferische Tat der Freiheit jenseits aller allgemeinen Maßstäbe von Gut und Böse: „Der Gehorsam bindet das Geschöpf an den Schöpfer, die Freiheit stellt das Geschöpf in seiner Ebenbildlichkeit dem Schöpfer gegenüber. Der Gehorsam zeigt dem Menschen, daß er sich sagen lassen muß, was gut [ist] und was Gott von ihm fordert (Micha 6,8), die Freiheit lässt den Menschen das Gute selbst schaffen […]. Im Gehorsam befolgt der Mensch den Dekalog Gottes, in der Freiheit schafft der Mensch neue Dekaloge (Luther).“656

Damit gewinnt auch die Fundamentaldifferenz zwischen Bonhoeffer und Nietzsche noch einmal an Konturen: Obwohl Bonhoeffer von diesem sowohl den Begriff der schöpferischen Tat als auch die grundsätzliche Kritik an der von Kant beeinflussten Gesinnungsethik übernommen hat657, liegt hier eine ganz andere ethische Konzeption vor. Denn das schöpferische Tun jenseits von Gut und Böse entsteht erst aus der fundamentalen Bezogenheit auf Jesus 654 WE  253 f. Auch Tödt, Gewissenspraxis, 146 ff. verweist auf diesen Zusammenhang zwischen der Entscheidung von 1939 und den Ausführungen in der Ethik zu Freiheit der Tat, Schuldübernahme und Gewissenserfahrung, den Bonhoeffer retrospektiv explizit gemacht hat. 655 E 269.285.288.299. D. h. hinsichtlich der Erkenntnishaltung in Einfalt (s. u.). Diesen für Bonhoeffers christlichen Handlungsbegriff entscheidenden Aspekt, von dem aus ja auch erst die Charakterisierung der Tat als schöpferisches Jenseits von Gut und Böse (s. bes. o. A.II.5.e) möglich ist, hat Schliesser, Schuld, 261, übersehen. Das Nichtwissen des eigenen Guten und Bösen ist sehr wohl ein (einfältiges) Wissen um das Gute und die menschlich unsichere, fehlbare Tat im Vorletzten ist als Antwort auf den Ruf Christi, das Letzte, gerade nicht von „ethische[r] [sc. moralischer] Unsicherheit“ (ebd.) gezeichnet. 656 E  288. In dem Einleitungskapitel verwendet Bonhoeffer anstelle des praktischethischen Begriffs ‚Gehorsam‘ als Gegenpol zur ‚Freiheit‘ den auf die Glaubenserkenntnis zielenden Begriff der ‚Einfalt‘. Der einfältige Gehorsam ist die unmittelbar praktisch werdende Erkenntnishaltung des auf Christus bezogenen Menschen und gleichzeitig die Ermöglichung der Freiheit als eigener Vollzug des Guten (vgl. E 322.326 f.). Der entzweite Mensch dagegen ist nicht frei, sondern unter das Gesetz bzw. die miteinander und der Wirklichkeit konfligierenden Prinzipien versklavt. 657 S. dazu ausführlich o. A.II.3. und 5.e, sowie unten D.I.

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Christus, d. h. aus dem freien Sich-Unterstellen unter den Dekalog als Gottes Gebot. Das Neuschaffen von Dekalogen ist so verstanden eben keine ‚übermenschliche‘ Tat, sondern das wirkliche Erfüllen658 des im biblischen Dekalog ausgelegten659 Willens Gottes durch die von Gott begründete und gewollte relationale menschliche Freiheit. aa) Schuldübernahme Offen ist nun aber immer noch die Frage, woraus Freiheit und Gehorsam zum Guten konkret entstehen, wie also die inhaltliche Bestimmung des nach außen gerichteten existentiellen Akts im Prüfen erfolgt und welche Bedeutung dafür das Gesetz Gottes hat. Offen ist auch die Frage, welche Bedeutung die Ambivalenz der Wirklichkeit in inhaltlicher Hinsicht, also hinsichtlich des konkreten Gegenstands des Prüfens, den miteinander kollidierenden Rechten, Pflichten, Ansprüchen und Bedürfnissen der zur Verantwortung anvertrauten Nächsten, hat, d. h. worin das Wagnis der Freiheit konkret besteht. Schuldübernahme und Gewissen sind die Begriffe, unter denen Bonhoeffer diese Fragen verhandelt hat und denen noch weiter nachzugehen ist. Ohne schon ausführlich Bonhoeffers Gesetzesbegriff an dieser Stelle beleuchten zu können660, ist doch deutlich, dass das Gesetz, die lex divina, für das Handeln aus Freiheit und im Gehorsam eine wesentliche Funktion hat, die vorweg nehmend mit dem reformatorischen Terminus als usus legis divinae in renatis bezeichnet werden kann. Denn auch „das in Jesus Christus befreite Gewissen stellt das verantwortliche Handeln vor das Gesetz“661, aber nun in anderer Weise als dies für den „natürliche[n]“ Menschen gilt662. Dabei setzt Bonhoeffer offenkundig voraus, dass das solchermaßen weiterhin gültige 658 Schliesser, Schuld, 83 ff., hat bei ihrer kritischen Erörterung von Bonhoeffers Freiheitskonzept einschließlich des Gedankens der Schuldübernahme nicht beachtet, dass die Freiheit auch vom göttlichen Gesetz (aaO. 93), die Bonhoeffer konstatiert, keine prinzipielle Gesetzlosigkeit resp. Bindungslosigkeit des Tuns meint, dann wäre man ja bei einem schrankenlosen Dezisionismus angekommen und der Gedanke der unvermeidlichen Schuld bliebe völlig unverständlich. Freiheit ist dagegen nicht absolute, sondern – vordergründig paradox – an Gottes Willen in seinem Gebot gebundene Freiheit; ihr Begriff bei Bonhoeffer kann folglich nur dann recht verstanden werden, wenn eingesehen wird, dass ‚Gesetz‘ hier nicht eindeutig bestimmt ist, sondern je nachdem einen gesetzlichen Umgang mit Gottes Gebot, das Gebot selbst (in seiner konkreten Gestalt oder in seinem grundsätzlichen Sinn als Gottes- und Nächstenliebe) oder die vom Gebot gesetzten Grenzen der Existenz meint (s. dazu das Folgende und u. C.III.2). 659 E 282. 660 S. dazu C.III. 661 E 282. 662 Vgl. E  283. Bonhoeffers Terminologie gibt zu dieser Differenz hier noch keinen direkten Hinweis; sein Sprachgebrauch schwankt zwischen Gesetz und Gebot, ohne dass zwischen beiden ein sachlicher Unterschied an diesen Stellen erkennbar wäre (vgl. exemplarisch E 274). Dies ändert sich in den letzten Manuskripten der Ethik, wobei das keine Revision der bisher ausgeführten Bedeutung der lex divina (in der allgemeinsten Bedeu-

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Gesetz, das in der Schrift, genauer in Dekalog, Bergpredigt und apostolischer Paränese „ausgelegt[!]“ ist663, unmittelbar mit der Christuswirklichkeit verbunden ist, so dass deren (Wesens-)Gesetze, Strukturen und Rechte konstitutiv für das konkrete Verstehen resp. Hören des in der Schrift explizierten Willens Gottes ist. Mit anderen Worten: Das Gebot Gottes entsteht immer auch aus der konkret gegebenen Wirklichkeit und zielt wiederum auf diese, die wesentlich ja Christuswirklichkeit ist und deren „Wirklichwerden“664 Sinn und Inhalt der christlichen Ethik ist. Da dann aber das konkrete Gebot einschließlich der es mitbestimmenden konkreten Gestalt der Wirklichkeit Ausdruck des einen Willen Gottes ist, nämlich des „Gesetzes der Gottes- und Nächstenliebe“665, geht es im christlichen Handeln darum, die Liebe als Inhalt der ethischen Tat666 resp. den Sinn des Gesetzes in den Strukturen der Wirklichkeit mitsamt den entsprechend geordneten menschlichen Verhältnissen (Mandaten667) Gestalt werden zu lassen. Das bedeutet, dass die in höchster Weise konkrete, nicht gesetzliche Form des Willens Gottes, das Gebot in seinem Bezug auf die Wirklichkeit, dennoch nicht beliebige Gestalt annehmen kann, sondern sich als stellvertretende freie und wirklichkeitsgemäße Verantwortung vollzieht und eben darin das Gesetz Gottes – in der Form des je konkreten Gebots – erfüllt. Ist so das Hören des Gebots inhaltlich einerseits bezogen auf den in der Schrift ausgelegten Willen Gottes, andererseits begründet in der konkreten Christuswirklichkeit, formal wiederum einerseits freies und unvertretbares Prüfen durch den Einzelnen und andererseits gehorsame Bindung an Christus, als ganzheitlicher existentieller Akt der Einheit von Hören und Tun schließlich ermöglicht in der stellvertretenden Erfüllung des Gesetzes durch Christus und die Versöhnung Gottes mit der Welt, so dürfte das christliche Handeln in Einfalt und Zuversicht subjektiv ohne jede Anfechtung und objektiv eine in jeder Hinsicht vollkommene Tat der Liebe sein. Dies ist aber nicht der Fall und deshalb zugleich Gegenstand und Movens für Bonhoeffers Bestimmung des verantwortlichen Handelns als notwendige Schuldübernahme. Was bedeutet das? Ginge es hier nur um die schöpfungsmäßige Begrenztheit der menschlichen Vermögen, so könnte dies für den versöhnten, in der Gemeinschaft mit dem Schöpfer lebenden Menschen nicht dazu führen, dass seine antwortende Tat notwendigerweise – auch – dem Willen Gottes, dem Doppelgebot der Liebe, tung) einschließt, sondern als Präzisierung schon angedeuteter Sachverhalte zu verstehen ist. S. dazu ausführlich u. C.III.2. 663 E 282. 664 E 34. 665 E 282. 666 S. dazu auch das Einleitungskapitel: Die Ausführungen Bonhoeffers zum Zusammenhang von Erkennen und Tun kulminieren in dem Abschnitt über die Liebe (dazu: A.II.5.f). 667 S.u. C.III.4.a.

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zuwider läuft und er darum Schuld auf sich lädt. Denn „[d]er Mensch im Ursprung weiß nur eines: Gott. Den anderen Menschen, die Dinge, sich selbst weiß er nur in Gott und Gott in allem.“668 Diese Beschreibung der iustitia originalis durch Bonhoeffer verdeutlicht, dass der Mensch als Geschöpf resp. als versöhnt mit seinem Schöpfer zwar in dem „letzte[n] Nichtwissen des eigenen Guten und Bösen“669 handelt, welches folglich kein Urteil über die moralische Qualität der Tat erlaubt – das ist ja mit dem „eigenen Guten und Bösen“ gemeint –, dies aber auch in keiner Weise nötig hat, es ihm also keine Anfechtung sein kann, weil seine Beziehung zu Gott und darin zu der Gotteswirklichkeit unmittelbar und ungebrochen ist. Wenn dennoch Bonhoeffer dem mit Gott versöhnten, einfältig Handelnden eine aus seinem Handeln notwendigerweise folgende Schuld zuschreibt, so muss dies anders begründet sein. Dass freilich nicht einfach nur die eschatologisch vollendete Versöhnung, also das lutherische simul der Existenz als Gerechter und Sünder, hier gemeint ist, zeigt sich schon daran, dass Bonhoeffer ganz explizit und betont von der „fremde[n] Schuld“ spricht670, die dann also nicht unmittelbares sichtbares Zeichen der noch realen eigenen Sündenverhaftetheit des Einzelnen sein kann. Entsprechend gilt Bonhoeffers Interesse bei der Begründung der christlichen Ethik ja auch der Tat, die aus der Versöhnung herkommt und die Antwort auf die Anrede Christi ist, also der Existenz im Vorletzten, welches nur vom Letzten her als dieses erfahren wird und folglich kategorial vom Sein bzw. Leben des Sünders unterschieden ist671. Diese Existenz vollzieht sich in der Welt, die zwar gerichtet und versöhnt ist, aber darin eine bleibende Ambivalenz behält; sie ist ja nicht nur die Welt des Glaubenden, sondern auch die Welt des Nicht-Glaubenden, des Sünders – und, so muss man ergänzen, des Glaubenden, sofern er selbst auch zugleich gerichteter Sünder ist und auch seine vorletzte, vom Letzten bestimmte Existenz unvollkommen bleibt. Deshalb aber ist die Welt auch als auf Christus ausgerichtete immer noch zugleich die verneinte gefallene Welt, auch wenn das letzte Wort die Versöhnung, das 668

E 302. E 268. 670 So E 279.280. 671 Dazu s. o. das zum Lebensbegriff Gesagte (B.II.2.d). Bonhoeffer hat schon von Beginn seiner theologischen Existenz an sein Interesse auf eben diesen Punkt gerichtet: das Sein des Einzelnen in Christus resp. in der Kirche resp. in der Nachfolge, welches bei allem Wissen um die Unvollendetheit dieser Existenz, um die eschatologische Vorläufigkeit, ein anderes, neues Leben im Vergleich zur Existenz des nichtgerechtfertigten, entzweiten Menschen ist. Die Kontinuität der Wirklichkeit der Versöhnung ist es, die für ihn unhintergehbare Voraussetzung der theologischen Rede und der christlichen Existenz ist und die ihn in der Ethik zu der Ausweitung dieses Gedankens auf die Kosmologie bewogen hat, d. h. zum Begriff des weltlichen Vorletzten als Lebenswirklichkeit des Glaubenden geführt hat. Insofern teilen die in mancher Hinsicht recht unterschiedlichen theologischen Schriften und Fragmente Bonhoeffers, Sanctorum Communio, Akt und Sein, Nachfolge, Ethik und Widerstand und Ergebung, dieselbe, eher Barth als Luther nahe stehende, Prämisse. 669

II. Die Mehrdimensionalität der guten Tat

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Ja Gottes zu Welt ist672. Weil also die Ausrichtung der Welt auf Christus, ihr ordo Christi, (noch) nicht vollkommen ist, kann auch das Handeln des Menschen in Freiheit und Gehorsam nicht vollkommen sein. Bonhoeffer denkt hier demnach das verantwortliche Tun zwar als freien Gehorsam gegen das Gebot Gottes, aber zugleich auch als moralisch ambivalente Tat, die in einer oder mehrfacher Hinsicht nicht die Gestalt des Liebeshandelns hat, sondern diesem gerade widerspricht. Es geht hier also zunächst um das gleiche Problem, das auch in Webers politisch-ethischer Theorie zentrale Bedeutung hat, nämlich die faktische Unmöglichkeit einer in jeder Hinsicht, also im Hinblick auf Motive, Absichten, Mittel und Folgen, guten Tat, die das Prüfen als konstitutives Element des verantwortlichen Tuns erst wahrhaft notwendig und bedeutsam macht. Gemessen an dem allgemeinen Maßstab des in Christus erfüllten göttlichen Gesetzes, das den Willen Gottes mit dem Menschen und der Welt formuliert, kann darum auch die ethische Tat des Christen keinen moralischen Bestand haben, weil sie zwangsläufig Schuld nach sich zieht. Dass der Wille Gottes an den Menschen immer nur konkret ergeht, ist freilich kein Ausweg aus diesem ethischen Dilemma: denn auch wenn der Mensch nicht abstrakt wissen kann, was er konkret tun soll, weil ihm keine unbedingt gültigen Normen und Prinzipien zu Verfügung stehen, so kennt er doch von Christus her den Sinn und die Wirklichkeit des Gesetzes resp. der je konkret ergehenden Gebote, die Liebe, und weiß, dass kein menschliches Tun in der vorläufigen Welt diese wahrhaft und vollständig verwirklichen kann. Die Formulierung Slenczkas, dass die „Geltung der normativen Ethik – der Bergpredigt oder des Dekalogs […] festgehalten“ werde673, trifft die Pointe bei Bonhoeffer darum nicht ganz genau; denn Bergpredigt und (nicht: oder!) Dekalog haben für den Glaubenden zunächst einmal keine normative Geltung sensu stricto, das wäre ja das verkehrte Verständnis des Sünders vom Gesetz. Andererseits setzt Bonhoeffer aber zweifellos voraus, dass auch die Tat des Glaubenden, der freie Gehorsam gegenüber dem Gebot, sofern sie notwendig Schuldigwerden nach sich zieht, normativ begrenzt ist, und insoweit ist Slenczka darum andererseits wieder zuzustimmen. Bei diesen normativen Grenzen handelt es sich einmal um das ‚Gesetz‘ im Unterschied zum ‚Gebot‘, welches den Rahmen für die menschliche Existenz absteckt und darum als (eigentlich) unüberschreitbare Grenze auch für den Glaubenden gilt674. Aber auch abseits der in Hinsicht darauf entstehenden seltenen „Grenzfälle“675 gibt es in Bonhoeffers Auffassung offenbar in jedem Fall wirksame Orientierungen des Handelns, die aus der Erfahrung der Christuswirklichkeit stammen und anzeigen, dass bestimmte Aspekte einer Tat deren Wesen widersprechen. 672

Vgl. dazu E 250 f. u. ö. Slenczka, Schuld, 111. 674 S. dazu u. C.III. 675 E 273. 673

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B. Grund und Vollzug des Guten

Als Beispiel kann der von Bonhoeffer selbst genannte Fall angeführt werden, wonach ein Arbeitgeber aus wirtschaftlichen Gründen einen Arbeitnehmer und Familienvater entlassen muss676. Die Entlassung kann dann wohl konkret geboten sein, weil dadurch der Betrieb samt etlichen Arbeitsplätzen gerettet werden kann; dass aber das unvermeidbare Unglück des einen Einzelnen dennoch an sich selbst betrachtet dem Wesen der Christuswirklichkeit, der Liebe, widerspricht, ist auch für den dem Gebot gehorsam Handelnden evident. Dass schließlich hinter solchen so genannten moralischen Dilemmata dann auch die eigene menschliche Begrenztheit steckt, wird von Bonhoeffer hier zwar nicht direkt ausgesprochen; es dürfte aber jedenfalls mit gemeint sein, weil diese Begrenztheit ja schon in der Geschöpflichkeit des Menschen ihren Grund hat und sich zumal in der gefallenen und versöhnten, erhaltenen Welt auswirken muss, deren Vollendung erst noch aussteht. Um zu verdeutlichen, was Bonhoeffer hier vor Augen steht, muss also nicht unbedingt auf die Attentatspläne im militärischen Widerstand zum Zweck der Verhinderung schrecklicher Untaten verwiesen werden, auch wenn dies sicherlich für Bonhoeffers Argumentation von besonderer persönlicher Aktualität war. Denn Bonhoeffer selbst nennt auch andere, weniger spektakuläre Beispiele ethischen Tuns, aus denen hervorgeht, dass er tatsächlich jedes ethische Tun und nicht nur den großen und seltenen Grenzfall, die ultima ratio, als nach bestimmten Seiten schuldig werdendes denkt677. Dadurch entsteht nun allerdings das sachliche Problem, wie denn das gebotene Tun in Freiheit und Gehorsam zugleich eines sein kann, das zwar notwendig schuldig werden lässt, aber dennoch nicht Ausdruck einer tragischen Verfasstheit der Welt ist, wie sie in den klassischen Tragödien beschrieben wird678. Denn wenn der 676

Vgl. E 282. Ebd. Vgl. ZE Nr. 36, der überschrieben ist mit: „Die Fraglichkeit, ob man sich durch d. Gute bestimmen läßt“ (im Original unterstrichen). 678 Vgl. dazu Bonhoeffers Kritik an der Weltdeutung der antiken Tragödie E  264 f. Interessant ist Bonhoeffers Einschätzung der Iphigenie Goethes (E  281): Ausgerechnet der einem naturphilosophischen Pantheismus nahe stehende Goethe wird hier als Referenz für die Wirklichkeitsgemäßheit des theologischen Verantwortungsbegriffs im Gegensatz zu einer gesetzlich aufgefassten Moral, wie sie nach Bonhoeffers Auffassung in den Tragödien dargestellt wird, geboten. Die sachliche Nähe besteht dabei wohl vor allem darin, dass Bonhoeffers Ethik auf einem von der Lebensphilosophie beeinflussten Lebensbegriff gegründet ist und daher Goethes grundsätzliche Kritik an einer Marginalisierung der lebendigen Natur durch eine abstrakt-prinzipielle, religiöse Moral  –  wenn auch aus anderen Gründen als dieser – teilt. Allerdings ist nun eben die Iphigenie auf Tauris nicht gut geeignet, diese Nähe in dem Interesse an der Lebendigkeit und Natürlichkeit der Welt und des Menschen darzustellen, denn gerade dieses Drama ist eine Art Proklamation des klassischen Humanitätsideals, für das Iphigenie steht, und dem Pylades, dessen Figur Bonhoeffer für seinen Verantwortungsbegriff vereinnahmt, kontrastiert wird. Zwar wäre wohl auch eine andere Deutung möglich gewesen, bei der Iphigenies Wahrheitsliebe, die sie zur Konfrontation mit Thoas treibt, als verantwortliche Tat interpretiert wird – so wie Bonhoeffer ja den religiös emanzipierten Humanismus als ursprünglich Christus und der Kirche zugehörig auffasst 677

II. Die Mehrdimensionalität der guten Tat

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Glaube an Gottes Führung und Gebot keine Illusion sein soll, andererseits aber die Schuld im eigenen Tun erkannt wird und werden muss679, scheint hier eine schwerwiegende Inkonsistenz zu bestehen, die allenfalls mit einer Theorie Weberscher Art, also mit der moralischen Bewertung des Tuns an ihren erwünschten und unerwünschten Folgen und einer daraus resultierenden Klassifikation aller Handlungsoptionen, d. h. also mittels allgemeiner normativer Maßstäbe welcher Art auch immer gelöst werden könnte680. Bonhoeffer freilich präsentiert eine andere Lösung des scheinbaren theoretischen und praktischen Dilemmas, die weniger leicht zu verstehen ist als es zunächst scheint, was allerdings auch mit den recht sperrigen und zum Teil stark anstößigen Formulierungen zusammenhängt: „In [dem] sündlos-schuldigen Jesus Christus hat nun jedes stellvertretend verantwortliche Handeln seinen Ursprung […]. Weil Jesus die Schuld aller Menschen auf sich nahm, darum wird jeder verantwortlich Handelnde schuldig […]. Daß der Sündlose […] schuldig wird, gehört durch Jesus Christus zum Wesen verantwortlichen Handelns.“681

Gemeint ist hier aber nicht das, was sich zuerst nahe legen könnte, dass nämlich der Mensch nun, indem sein Handeln in Christus begründet ist, auch an der soteriologischen Stellvertretung Christi aktiv, also als Subjekt und sei es auch in sekundärer Weise, Anteil hat. Bonhoeffer verlässt hier nicht seine eigene reformatorische Voraussetzung, derzufolge der Mensch vor Gott immer passiv-rezeptiv ist und darum so wenig wie für sich selbst für den anderen Menschen Heilsvermittler im strikten Sinne sein kann. Wenn also Bonhoeffer sprachlich die stellvertretende Schuldübernahme Christi – die in diesem Kontext allerdings ohne den Zusatz „stellvertretend“ verwendet wird, offenkundig, um die ethisch-soziale Stellvertretung von der als „Schuldtragen“ bezeichneten Schuld- und Strafstellvertretung Christi begrifflich zu unterscheiden682 – mit der Schuldübernahme des verantwortlich Handelnden (vgl. E 124.342–344) –, aber dies tut Bonhoeffer hier ausdrücklich nicht, obwohl er den Kontext des von Nohl gebrachten Zitats der Rede des Pylades nachgeschlagen haben muss (vgl. E 281117). Die Funktion dieses Goethe-Verweises bleibt darum letztlich etwas unklar. 679 E 280 f.298 f. 680 Oder aber dadurch, dass eine Art ethische Unerschütterlichkeit erworben wird, die die Unvollkommenheit des gebotenen Tuns hinnimmt und sich davon nicht anfechten lässt. Das hat Bonhoeffer aber offensichtlich nicht im Sinn, ganz im Gegenteil. 681 E  276. Die Knappheit der Formulierung „Weil Jesus … schuldig“ könnte daher zu ernsten Verständnisschwierigkeiten führen, wenn man sie isoliert vom engeren und weiteren Kontext betrachtet. Dass Bonhoeffer hier nicht plötzlich eine häretische Deutung des Christusgeschehens und seiner Wirkung auf den Menschen präsentiert, ist aber dennoch mehr als wahrscheinlich und auch aus dem weiteren Kontext dieser Passage ableitbar. Liest man also die Sätze hier ad bonam partem (d. h. nach meiner Auffassung auch: de intentione), so ergibt sich eine höchst interessante, alles andere als heterodoxe Deutung menschlichen Handelns und seiner zwangsläufigen Schuldverstrickung. 682 S. etwa E 275 f.

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B. Grund und Vollzug des Guten

parallelisiert683, so kann dies bei flüchtigem Lesen leicht das Missverständnis erzeugen, es gehe beim verantwortlichen Tun des Menschen um ein quasisoteriologisches Handeln des einen für den anderen. Das ist zweifellos nicht gemeint, wie schon aus der Kant-Kritik684 deutlich wird685. Vielmehr vollzieht Bonhoeffer hier eine doppelte Verschränkung des verantwortlichen Handelns des Menschen mit dem Stellvertretungshandeln Christi, deren einzelne Glieder aber nicht vollständig analog sind. Das stellvertretende Leben und Tun Jesu Christi hat, wie ja schon im Kontext des ethisch-sozialen Stellvertretungsbegriffs erläutert wurde, in der lutherischen Orthodoxie686 zunächst zwei Aspekte, die Bonhoeffer beide bejaht: die Deutung als oboedientia activa einerseits und als oboedientia passiva andererseits, d. h. die stellvertretende Gesetzeserfüllung und die Schuld- und Strafstellvertretung687. Wenn nun Bonhoeffer voraussetzt, dass der verant683

So E 276.279. E 280 f. 685 Im übertragenen Sinne kann der Mensch freilich auch in Bonhoeffers Auffassung eine Art Heilsvermittler sein, indem nämlich der Heilige Geist sich eines Menschen bedient, um in anderen den Glauben zu wirken. In diesem Geschehen hat aber der Mensch gerade keine aktive Rolle, weil diese allein dem Geist zukommt (vgl. SC 125 ff.; DBW 11, 292.295). Schließlich kann auch von der Gemeinde, dem Leib Christi, ausgesagt werden, dass sie bzw. der Bruder die Sünde des Einzelnen trägt, nämlich indem sie bzw. er sie ihrerseits auf Christus legt. Diesen bei Luther häufiger formulierten Gedanken (vgl. z. B. WA 2, 742 ff.) hat Bonhoeffer ausdrücklich in Sanctorum Communio und Das Wesen der Kirche aufgegriffen, vgl. SC 125 ff.; DBW 11, 290 ff. Auch das ist in dem hier untersuchten Abschnitt aber nicht gemeint. Vgl. im Übrigen zu Bonhoeffers Festhalten am Begriff der theologischen Passivität in der Ethik o. A.II.5.f. Mokrosch, Gewissensverständnis, 87, hat eben diesen bedeutenden theologischen Unterschied zwischen der soteriologischen und der verantwortungsethischen Schuldübernahme eingeebnet. 686 Vgl. Schmid, Dogmatik, 250 ff., den Bonhoeffer herangezogen hat. Auf die Differenz zu Ritschl, der unter dem Einfluss von Kant den Gedanken der Schuld- und Strafstellvertretung kritisiert, wurde schon hingewiesen, s. o. B.II.4.b. 687 Dazu kommt dann noch der weitere Aspekt der stellvertretenden Fürbitte beim Vater, der intercessio. Insofern es dabei um die persönliche Heilszueignung, das lutherische pro me, geht, ist sie jeweils voraus zu setzen, wenn Bonhoeffer die beiden anderen Aspekte thematisiert (S.o. B.II.4.b). Die Frage, inwieweit es sich bei dem zweiten der beiden oben genannten Aspekte um eine satisfaktorische Leistung oder eine echte Strafstellvertretung handelt, ist hier nicht von Bedeutung. In Sanctorum Communio finden sich einige knappe Äußerungen Bonhoeffers zur Deutung der soteriologischen Stellvertretung Christi am Kreuz, die nicht in die Richtung von Anselms Satisfaktionslehre weisen, aber dafür auch hier schon stellvertretende Gesetzeserfüllung und stellvertretende Schuld- resp. Strafübernahme unmittelbar zusammen denken (SC 99): „Stellvertretung findet statt für Schuld und Strafe […]. Man hat häufig den Strafcharakter des Leidens Jesu bestritten. Luther hat gerade auf ihn allen Nachdruck gelegt […], die Eigenart des christlichen Stellvertretungsgedankens ist eine Schuld- und Strafstellvertretung im prägnanten Sinne. Als Unschuldiger nimmt Jesus Schuld und Strafe der Anderen auf sich, und indem er selbst als Verbrecher stirbt, ist er verflucht, denn er trägt die Sünden der Welt und ist für sie gestraft; am Verbrecherkreuz triumphiert die stellvertretende Liebe, der Gehorsam gegen Gott über die Schuld, und damit ist Schuld tatsächlich gestraft und überwunden.“ Im Fortgang des Textes folgt die schon erwähnte 684

II. Die Mehrdimensionalität der guten Tat

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wortlich handelnde Mensch in eben diesem Tun an dem Handeln Christi teilnimmt688, so geschieht dies hinsichtlich der beiden genannten Aspekte in unterschiedlicher Weise. So ist das verantwortliche Tun, das wegen seiner Ausrichtung auf den Nächsten auch ethisch-soziale Stellvertretung genannt wurde, ermöglicht durch das stellvertretende Tun Christi, das in formaler Hinsicht echte Stellvertretung, vicariatio689, d. h. die von den Menschen nicht zu leistende Gesetzeserfüllung, und in inhaltlicher Hinsicht, nämlich als diese Gesetzeserfüllung, die vollkommene Verwirklichung der ethisch-sozialen Stellvertretung ist. Weil also die vollkommene Gesetzeserfüllung, die Liebe, es ist, aufgrund derer Christus Schuld und Strafe690 der Menschen stellvertretend übernimmt und sie darin von der Sünde befreit resp. ihr zerstörtes Gottesverhältnis wiederherstellt, besteht hier ein sachlicher Zusammenhang zwischen Liebeshandeln und Schuldübernahme, den Bonhoeffer in  –  entscheidend  –  modifizierter Weise auf das menschliche Handeln überträgt. Die Schuldübernahme Christi, das soteriologische Schuldtragen am Kreuz nämlich ist, obwohl Bonhoeffer dies nicht an allen Stellen in gleicher Weise explizit macht, kategorial verschieden von der in dieser begründeten Übernahme fremder Schuld des Menschen in der verantwortlichen Tat. Das tertium comparationis besteht darin, dass die Übernahme von fremder Schuld „aus Nächstenliebe“691, aus „selbstlose[r] Liebe“692 geschieht und damit Erfüllung des Gesetzes der Gottes- und Nächstenliebe in Gestalt des Gehorsams gegen das konkrete Gebot ist. Die Differenz wiederum liegt in zwei bedeutsamen anderen Punkten: der eine betrifft die Person in ihrem Wesen, der Existenz coram Deo: hier gilt, dass der Mensch „niemals sündlos sondern von der

Kritik Bonhoeffers an Ritschls (bzw. Kants) Kritik des dogmatischen Topos der Schuldund Strafstellvertretung (ebd.f.). 688 So wörtlich E 279 f., vgl. auch den Grundgedanken der Ethik, wonach christlich-ethisches Handeln die „Teilhabe[ ] an der in Christus offenbarten Gotteswirklichkeit“ ist (E 35). 689 Natürlich könnte hier auch ein anderer Terminus aus der lateinischen Vorgeschichte des Stellvertretungsbegriffs genannt werden, etwa die substitutio oder die locitenentia (vgl. Schaede, Stellvertretung, 7 ff.). Unter den dort aufgeführten Begriffen ist für den theologischen Zusammenhang der Begriff vicariatio aber besonders eingängig. Dass keiner der unterschiedlichen lateinischen Begriffe für sich bereits ausreichend zur Erfassung der Soteriologie ist, hat Schaede ebd. gezeigt. 690 Bonhoeffer konzentriert sich in diesem Zusammenhang auf den Schuldbegriff. Das könnte den Grund haben, dass er von dem hier anvisierten Argumentationsziel ablenkende Erörterungen (oder Anstöße zu solchen) über die dogmatischen Differenzen hinsichtlich der Frage nach der genauen Bedeutung des Todes Christi: Strafe oder Satisfaktion, vermeiden wollte (vgl. dazu ausführlich Schaede, Stellvertretung, 274 ff.). Darüber hinaus dient ihm aber der Schuldbegriff dazu, den Zusammenhang zwischen dem menschlichen verantwortlichen Handeln und dem soteriologischen Stellvertretungshandeln Christi herzustellen, wie es im Folgenden erläutert wird. 691 E 280. 692 E 275.

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wesenhaften Erbsünde vergiftet ist“693. „[W]esenhafte Sündlosigkeit“694 aber, wie sie allein Jesus Christus zu eigen ist, ist Voraussetzung für eine wirksame soteriologische Stellvertretung des Menschen vor Gott695, welche folglich allein in Christus geschehen ist und möglich war. Der zweite Punkt betrifft die ‚fremde Schuld‘: Christus hat im Kreuzestod fremde Schuld sensu stricto auf sich genommen, er selbst war ja ganz ohne Sünde und deshalb entsprechend für sich selbst auch ohne Schuld. Der verantwortlich handelnde Mensch wiederum wird zwar von Bonhoeffer als „sündlos-schuldig“696 bezeichnet, er ist beides aber in anderem Sinne als Jesus Christus. Die Schuld nämlich, die er auf sich nimmt resp. übernimmt, entsteht daraus, dass er, dem Ruf Christi antwortend, aus Liebe für den Nächsten handelt, dass er also dem Gebot gehorsam ist, zugleich aber notwendigerweise im Gehorsam gegen das konkrete Gebot dem Inhalt des Gottesgesetzes in bestimmter Weise zuwiderhandelt. Diese unvermeidliche Schuld ist daher keine im strengen Sinne eigene Schuld, sie entsteht ja aus dem Gebot Gottes und um des Nächsten willen, so dass umgekehrt das Unterlassen des verantwortlichen Tuns Schuld im eigentlichen theologischen Sinne, die „heillosere“697 resp. heillose Schuld wäre. Die unvermeidliche Schuld dagegen ist im übertragenen Sinne ‚fremde‘ und nicht eigene Schuld, die aber sehr wohl unmittelbar den Handelnden zum Subjekt hat und die er selbst sich als Verursacher eines objektiv nicht dem Gesetz der Gottesund Nächstenliebe resp. der Gotteswirklichkeit im Großen und Ganzen, als unbegrenzte und vollkommene Liebe, entsprechenden Sachverhalts folglich auch zuschreibt: „Wer in Verantwortung Schuld auf sich nimmt – und kein Verantwortlicher kann dem entgehen – der rechnet sich selbst und keinem anderen diese Schuld zu und steht für sie ein, verantwortet sie.“698

Wenn also Bonhoeffer, um ein plakatives Beispiel zu nennen, an den Planungen zum militärischen Umsturz einschließlich der Beseitigung des Führers beteiligt war, so war dies – vorausgesetzt, dieses sein Tun ist Ausdruck des oben beschriebenen Prüfens gewesen, was hier angenommen wird – ein Tun aus Liebe und insofern freier Gehorsam dem konkreten Gebot Gottes, das ihn, Bonhoeffer, zur Mithilfe an der Wiederherstellung des rechten Staates und am Schutz vieler unschuldiger Menschen geführt hat; zugleich aber war 693

E 279. Ebd. 695 Dass Bonhoeffer diesen unstreitigen dogmatischen Satz in irgendeiner Weise angezweifelt hätte, kann nicht belegt werden und ist m. E. auch in diesem Kapitel nicht der Fall. Gerade seine Betonung dieser „Wesens“-Differenz weist in die andere Richtung, sie wäre ja sonst gar nicht notwendig gewesen. Vgl. im Übrigen DBW 12, 343 ff. 696 Vgl. dazu E 276. 697 E 276. 698 E 283. 694

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es ein Tun, das mindestens die Tötung eines, wahrscheinlich aber von noch mehr Menschen eingeschlossen hätte – sofern es zur Umsetzung gekommen wäre –, und damit in genau dieser bestimmten Hinsicht dem Sinn des Gesetzes der Gottes- und Nächstenliebe zuwider gelaufen wäre, ja dabei sogar die äußersten Grenzen des Gebots überschritten hätte, nämlich das im Dekalog ausgesprochene Tötungsverbot ohne Mandat699. Darin aber hätte dann die ‚fremde‘ Schuld gelegen, von der Bonhoeffer sich selbst nicht freisprechen wollte und konnte, obwohl er von der Richtigkeit der Planung eines gewaltsamen Umsturzes überzeugt war. Das normative Element des Verantwortungsbegriffs wird so von Bonhoeffer nun doch noch aufgegriffen, aber in seinem Sinn verändert: die Zurechnung von Schuld geschieht gerade nicht in der Absicht, sich zu rechtfertigen oder moralisch und juristisch zu beurteilen. Die Fortsetzung des Zitats zeigt dies deutlich an: denn dass der „Mann der freien Verantwortung“ vor den Menschen durch die Not gerechtfertigt und vor sich selbst vom Gewissen freigesprochen wird, ist nicht von Bedeutung für die existentielle Dimension seines Lebens, die Existenz „vor Gott“: da aber ist er auf Gnade angewiesen, so dass er er sich selbst im Zurechnen der Schuld an das eigene Tun der Gnade und Führung Gottes anvertraut700. Die „relative Sündlosigkeit“, welche Bonhoeffer konstatiert701, ist dann aber nichts anderes als das „erlösende[ ] Geheimnis des sündlosen Schuldtragens Jesu“ pro me, worin der Einzelne „Anteil [hat] an der göttlichen Rechtfertigung, die über diesem Ereignis liegt“702. Schuld und Sünde sind also nun, im verantwortlichen Tun aus Glauben, nicht mehr zu einer Einheit verbunden, sondern von unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlicher existentieller Bedeutung: die Sünde ist dem Einzelnen abgenommen, wenn und indem er in der Christus-Beziehung lebt und verantwortlich handelt; die ‚fremde‘ Schuld aber entsteht gerade aus diesem von der Sünde befreiten Handeln des freien Gehorsams heraus. Dass aber auch diese Schuld um des Nächsten willen resp. aus Liebe, obwohl der Mensch sie sich selbst zurechnet und damit Verantwortung auch im Sinne des juridischen Gebrauchs dieses Begriffs übernimmt, vergeben wird, dass also Gott diese Schuld nicht als solche ansieht, sondern der Verantwortliche in seinem Tun gerechtfertigt ist703, ist als Glaubensgewissheit keine verallgemeinerbare Aussage mehr. Es bleibt für die theologische Reflexion also bei dem Satz, dass das Urteil über die Tat dem Menschen entzogen und die freie Verantwortung 699

Zu dieser Differenzierung s. u. C.III.3. Ebd., vgl. 268 f.285 u. ö. 701 E 280. 702 E 276. S. auch die Formulierung auf dem wichtigen Notizzettel Nr. 27: „Schuldübernahme, etwas anderes, als persönliche Sünde tun!“ – und doch Folge des eigenen Tuns des Verantwortlichen. 703 Vgl. E 276: „die wirkliche Unschuld“. 700

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ein Wagnis bleibt, denn „so oder so wird der Mensch schuldig und so oder so kann er allein von der göttlichen Gnade und der Vergebung leben.“704 bb) Das Gewissen II Es gibt nun für diesen sachlichen Komplex von freier Entscheidung, Gehorsam und Schuldübernahme auch eine anthropologische Perspektive, deren Bedeutung und Wesen von Bonhoeffer in Abgrenzung von anderen Positionen entfaltet wird. Es handelt sich dabei um die Betrachtung des Gewissens. Aus dem geplanten Einleitungskapitel ist das Gewissen als Funktion des Menschen unter der Sünde bereits von Bonhoeffer eingeführt worden705. Diese Funktion ist dort bestimmt worden als „Stimme des abgefallenen Lebens, das wenigstens mit sich selbst eins bleiben will“706. Hier nun707 greift Bonhoeffer den Gewissensbegriff wieder auf708, um ihn umfassender zu bestimmen und die negative Funktion des Gewissens im gefallenen Menschen zu erweitern durch die Explikation der Bedeutung des Gewissens für den versöhnten Menschen. Das eigentlich Auffällige daran ist freilich eben dieses: dass dem Gewissen nun auch für den neuen, einfältigen Menschen eine Funktion zukommt, obwohl es doch primär, wie auch der Blick in frühere Texte zeigt, das Sündersein, das sicut-Deus-esse(-velle) des Menschen anzeigt709. Nicht nur wegen dieses werkgeschichtlichen Befundes, sondern auch wegen der Merkmale, die Bonhoeffer dem Gewissensbegriff zuschreibt, handelt es sich hierbei um ein nicht leicht zugängliches Konzept, das offenkundig unter verschiedenen, teils einander entgegengesetzten Einflüssen entstanden ist. Eine vollständige Aufhellung dieses Begriffs und seines philosophischen und theologischen Hintergrunds ist hier darum nicht möglich710; es muss stattdessen bei der 704

E 275. E 308–310, vgl. o. A.II.4.c. 706 E 308. 707 E 276–283. 708 Chronologisch ist es zwar gerade umgekehrt: im Einleitungskapitel wird der in „Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]“ erläuterte Gewissensbegriff wieder aufgegriffen. Der geplanten Sachreihenfolge entspricht aber die Formulierung oben im Text und damit auch Bonhoeffers Intention, den Gewissensbegriff für den künftigen Leser zunächst im Kontext der Sündenlehre und erst danach im Kontext des christlichen Handlungsbegriffs zu entwerfen. 709 E 277.308 f. Vgl. dazu vor allem AS 137–143.154–157; SF 112–121; DBW 10, 364 f.379.376; DBW 11, 184 f.; N 107.132 u. a. 710 Unterbleiben muss erst recht ein ausführlicher Vergleich der Gewissenstheorie der Ethik mit dem frühen Gewissenskonzept aus Akt und Sein, das neben dem Gewissen als Ort und Inbegriff der Selbstreflexion resp. des peccatum originale auch ein christliches Gewissen kennt, welches in der zweifachen Gestalt als Anfechtung und Buße auftritt und auf das nur eschatologisch zur vollen Wirklichkeit kommende fröhliche Gewissen des vollkommen neuen, versöhnten Menschen verweist (AS 155 f.161). Kurze Zusammenfassungen von Bonhoeffers Deutungen des Gewissensbegriff in den frühen Schriften bietet Mokrosch, Gewissensverständnis, 59–74. 705

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Skizzierung der wesentlichen Grundelemente und ihrem geistesgeschichtlichen Hintergrund bleiben. Anstoß zur Auseinandersetzung mit dem Gewissensbegriff dürfte vor allem der Berliner Lehrer Bonhoeffers Karl Holl gewesen sein, dessen Lutherinterpretation dem Gewissensbegriffs eine zentrale Funktion in Luthers Theologie zuweist711. Dabei ist es zweifellos weniger Holls Theologie selbst, wie sie in seiner Luther-Deutung Gestalt gewonnen hat, die Bonhoeffer in dieser Richtung beeinflusst hat712, als vielmehr die diesem verdankte Einsicht, dass das Gewissen für Luther bei aller Ambivalenz713 durchaus auch eine wichtige positive Bedeutung hat, auch wenn rezeptionsgeschichtlich häufig der Glaubensbegriff selbst und die evangelische Freiheit im Vordergrund stehen, der Gewissensbegriff dagegen eine weniger dominante Position erhalten hat714. Dass das Gewissen primär als Signum des Falls, sekundär dann aber auch als Ort von Anfechtung, Buße und Einfalt715 gedeutet wird, ist zunächst ein ganz formaler Hinweis auf die anthropologische Relevanz, welche auch Bonhoeffer diesem Konzept zugesteht. In der Ethik wird diese anthropologische Relevanz nun aber mit neuen Interpretamenten festgestellt, die offenbar auch, aber nicht nur, Martin Heideggers Gewissenskonzeption aus Sein und Zeit entlehnt sind. Wenn dort das Gewissen als ein Existenzial des Daseins aufgefasst wird und als solches von entscheidender Bedeutung für das Selbstseinkönnen des Daseins ist716, dann enthält diese Gewissensdeutung für Bonhoeffer einen An711 Vgl. dazu den Abschnitt aus Holls Studie zu Luthers Religionsbegriff: „Luthers Auffassung der Religion; die Religion als Gewissensreligion“ (Holl, Religion, 35 ff.). 712 Dazu s. die Kritik Bonhoeffers an Holls Deutung der Theologie Luthers als „Gewissensreligion“ (AS  14011); DBW  10,  370; DBW  11,  185; ansatzweise auch schon DBW 9, 365). Dennoch kann Bonhoeffer nicht umhin, den Gewissensbegriff in die eigene Theologie aufzunehmen, wenn auch bis zur Zeit der Ethik (fast, mit Ausnahme der ganz frühen Äußerung während des Studiums, s. o.) ausschließlich negativ. 713 Vgl. dazu die Belege, die Bonhoeffer in Akt und Sein gebracht hat (WA 40.I, 511.73: das Gewissen als diabolus; dagegen WA  8,  564–669; z. B. 593 u. ö. [De votis monasticis], sowie das Zitat aus der Theologia deutsch: „‚Wer ohne Conscienz ist, der ist Christus oder der böse Geist‘“ (AS 154, vgl. ebd.51) und die ihn offenbar bewogen haben, dem vollständig negativ bewerteten Begriff des (natürlichen) Gewissens immerhin denjenigen eines christlichen Gewissens und die eschatologische Aussicht eines ‚fröhliche[n] Gewissens‘ (dazu vgl. WA 30.I, 208; WA 31.I, 176 f.) an die Seite zu stellen. 714 Vgl. zu Luthers Gewissensbegriff Ebeling, Lutherstudien II.2, 267–269 u. ö.; II.3, 461–466 u. ö. Dagegen taucht der Gewissensbegriff in der weit verbreiteten und auch von Bonhoeffer verwendeten Lehrdogmatik (Schmid, Dogmatik) überhaupt nicht auf. 715 Vgl. AS 137 ff. Die eschatologische Möglichkeit des Kindes entspricht der Einfalt des versöhnten Menschen aus der Ethik, s. o. A.II.5.c u. d. 716 Dazu SuZ 357 f.: „Das Gewissen […] erschließt. Aus dieser formalen Charakteristik entspringt die Anweisung, das Phänomen in die Erschlossenheit des Daseins zurückzunehmen […] Der Gewissensruf hat den Charakter des Anrufs des Daseins auf sein eigenstes Selbstseinkönnen und das in der Weise des Aufrufs zum eigensten Schuldigsein.“, vgl. zum Gewissen insgesamt aaO. 355 ff.; dazu Luckner, Sein und Zeit, 114 ff.; Rentsch, „Sein und Zeit“, 71 f.

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satzpunkt zu einem theologischen Gewissensbegriff, der den schon viel früher entwickelten – Gewissen als Inbegriff des sicut-Deus-esse(-velle) – einschließt. Gewissen ist demnach auch für Bonhoeffer ein fundamentales Phänomen der menschlichen Existenz, dessen Wesen und Funktion in dem „aus einer Tiefe jenseits des eigenen Willens und der eigenen Vernunft sich zu Gehör bringenden Ruf der menschlichen Existenz zur Einheit mit sich selbst“717

besteht. Es ist aber gleichwohl inhaltlich anders interpretiert als in Heideggers dezidiert nicht-theologischer und nicht-moralischer Fundamentalontologie718. Der Ruf des Gewissens zur Einheit mit sich selbst, formal dem Ruf des Gewissens in Sein und Zeit ähnlich, wird nämlich von Bonhoeffer mit der traditionellen und idealistischen Deutung des Gewissens als moralischer Urteilsinstanz719 verbunden. Die Einheit des Selbst, das existentielle Selbstverhältnis, soll so in der Übereinstimmung von Urteil und Tun resp. Sein bestehen, sofern das Sein des Menschen sich im Tun verwirklicht oder verfehlt. Dabei tritt das Gewissen nur in seiner negativen Funktion auf, indem es die Verfehlung, den „Verlust des eigenen Selbst“720 als Einheit von Denken, Sein und Handeln androht oder anzeigt – je nachdem, ob es um ein zukünftiges oder ein vergangenes Tun geht721: „[Das Gewissen] erscheint als Anklage gegen die verlorene Einheit und als Warnung vor dem sich selbst Verlieren. Es ist primär nicht auf ein bestimmtes Tun, sondern auf ein bestimmtes Sein gerichtet. Es protestiert gegen ein Tun, das dieses Sein in der Einheit mit sich selbst gefährdet.“722

Im Unterschied zu Heidegger ist der Sinn des Gewissensrufs darum auch, Schuld als zu vermeidende anzuzeigen, nicht aber, das Dasein erst in sein exis-

717

E 277. So taucht etwa der Gedanke, dass das Gewissen mit seinem Ruf die Einheit der menschlichen Existenz herstellen wolle, bei Heidegger nicht auf. Das eigentliche Seinkönnen Heideggers mag vielleicht auch als eine solche bezeichnet werden können, von Bedeutung ist dieser Gedanke aber im Grunde nicht. Es geht nämlich in Sein und Zeit letztlich gerade nicht um ein intellektuell vermitteltes Selbstverhältnis, eine Einheit von Sein und Sollen bzw. Wissen und Tun bzw. Idee und Wirklichkeit etc. (vgl. E 310), erst recht aber auch nicht um eine theologische bzw. christologische Umdeutung dieses neuzeitlichen Gewissensbegriffs, wie Bonhoeffer sie hier vornimmt, sondern um das tätige, weltbezogene Sich-auf-sichselbst-Beziehen des Daseins angesichts der radikalen Erfahrung der Endlichkeit der Existenz. Vgl. zur Einführung Rentsch, „Sein und Zeit“, passim. 719 Vgl. dazu Reiner, Art. Gewissen, passim; Blühdorn, Art. Gewissen I, passim. 720 E 278. 721 Dass das Gewissen in beiden zeitlichen Richtungen wirkt, setzt Bonhoeffer offenbar voraus. Dabei ist aber auch das zukünftige Tun, welches dem Gewissensurteil unterstellt wird, nicht im eigentlichen Sinne Zukunft, sondern der Vergangenheit zugehörig, weil es im Modus der im Selbst bzw. Subjekt begründeten vergegenständlichenden Reflexion bewusst gemacht wird. Vgl. dazu A.II.4.c. 722 E 277. 718

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tenziales Schuldigsein hineinzurufen723. Dass das Gewissen aber überhaupt als Manifestation einer Entzweiung auftreten kann, dass es also den Selbstverlust, den Verlust der moralischen Integrität, aufgrund eines Tuns anzeigen kann, ist darin begründet, dass das Gewissen inhaltlich gebunden ist, und zwar an das Gesetz entweder in seiner Verkehrung als autonomes, im ICH begründetes Gesetz der Vernunft724 oder als heteronomes, an eine ichfremde Instanz gebundenes725, jeweils aber unbedingtes, zwingendes und abstraktes Gesetz; oder als Gesetz Christi, das „Gesetz der Gottes- und Nächstenliebe“ in der Gestalt des Gebots, d. h. als nicht unbedingt verpflichtendes „Letztes“ (im Sinne von ultimum, nicht im eschatologischen Sinne), sondern als auf Christus bezogenes und von ihm her zur konkreten Gestaltung freigegebenes Gesetz726. Bonhoeffer führt demnach hier die existenziale Gewissensdeutung Heideggers mit dem Gewissensbegriff Kants bzw. des Idealismus zusammen, wobei die Heidegger entlehnte formale Struktur, der Ruf zur Einheit des Selbst, dasjenige am Gewissen ist, was auch dem versöhnten Menschen bleibt, was also den anthropologischen Sinn des Gewissensbegriffs ausmacht, während der idealistische Inhalt, das autonome Vernunftgesetz, die Gestalt des Gewissens unter der Sünde und dem Gesetz (im Unterschied zum Gebot und zum Evangelium) bezeichnet. Damit sind freilich beide Gewissenstheorien ihrer ursprünglichen Bedeutung und ihrem genuinen Kontext entfremdet, aber das ist für Bonhoeffer unerheblich, weil sein Interesse dem theologischen Gewissensbegriff gilt, den er mit Elementen der genannten philosophischen Konzepte entwirft. Wenn nun die existentielle Funktion des Gewissens darin besteht, Sein und Denken auf dem Gebiet der Praxis, also im Handeln, als Einheit zu bewahren, indem das Handeln am Gesetz ausgerichtet wird, ist die Aufgabe des Gewissens grundsätzlich ein Urteilsakt, in welchem das Tun am Gesetz 723 SuZ 295: Der Gewissensruf ist ein „vorrufender Aufruf zum Schuldigsein.“ Das Gewissen gibt im tiefsten zu verstehen, dass das Dasein schuldig ist und sich als solches übernehmen muss. Schuld ist hier freilich nicht moralisch gemeint, sondern existenzial-ontologisch: Grund einer Nichtigkeit sein (SuZ 280 ff.); moralische Schuld ist umgekehrt erst abgeleitet aus dem existenzial-ontologischen Schuldigsein des Daseins, welches darin besteht, dass dieses Dasein, welches sich nicht selbst begründet hat, nun aber selbst übernehmen muss, indem es seine Existenzmöglichkeiten wählt; mit dieser Wahl setzt es aber notwendig mit der Position auch die Negation und wird so Grund von Nichtigkeit. Mit dieser (hier nur knapp angerissenen) Deutung unterscheidet sich Heideggers Gewissenskonzeption allerdings fundamental von den traditionellen Konzeptionen des Gewissens als moralischer Urteilsinstanz, die im (negativen) Urteil dem Subjekt einer Tat oder eines Vorhabens einen moralischen oder rechtlichen Mangel anzeigt (vgl. Luckner, Sein und Zeit, 118). S. auch Heideggers Kritik an Kants Konzeption des Gewissens als „Gerichtshofvorstellung“ in dem Abschnitt über „Die existenziale Interpretation des Gewissens und die vulgäre Gewissensauslegung“ (§ 59), SuZ 289 ff. 724 E 277 f. 725 Vgl. dazu die Anspielung auf den nationalsozialistischen Führerkult E 278. 726 E 282 f. S. zum Gesetzesbegriff ausführlicher u. C.III.2.

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gemessen und damit das im Tun verwirklichte Sein auf seine normative Identität mit der Vernunft befragt wird. Insofern ist das Gewissen Ausdruck der sündigen Verkehrtheit Adams, welche sich im moralischen Urteil, im Richten, manifestiert, und dabei ein im Selbst, im transzendentalen Subjekt resp. der allgemeinen Vernunft, gegründetes Gesetz zugrunde legt727. Das Gewissen ist damit eine Funktion der vorausgesetzten Autonomie des Subjekts und folglich auch nicht mehr auf eine externe Instanz bezogen, sondern tatsächlich ein innerer Gerichtshof, ein forum interum728. Soweit folgt Bonhoeffer zunächst der kantischen Gewissenskonzeption. Die Notwendigkeit zu diesem Urteilsakt entsteht für Bonhoeffer aber im Unterschied etwa zu Kant nicht aus dem Anspruch des Gesetzes selbst, also zuletzt aus der allgemeinen Vernunft des transzendentalen Subjekts, sondern umgekehrt aus der Erfahrung der Kontingenz, d. h. aus der faktischen, begrenzten und vereinzelten Existenz des Menschen, der sich in sich selbst zu begründen sucht, um diese existentielle Infragestellung seiner selbst nicht aushalten zu müssen: „Das Ich, das in seiner kontingenten Einzelheit keinen Halt findet, führt sich auf ein allgemeines Gesetz des Guten zurück und sucht in der Übereinstimmung mit ihm die Einheit mit sich selbst.“729

Was Bonhoeffer hier in eine gewisse Reihenfolge zu bringen scheint, nämlich erst die Erfahrung der Kontingenz und metaphysischen Haltlosigkeit, dann der Versuch der Selbstbegründung und Selbstrechtfertigung, ist allerdings eigentlich als ein- und dieselbe Tat des sich Losreißens vom Ursprung und Schöpfer zu denken. Dies hat Bonhoeffer ausführlich in dem geplanten Einleitungskapitel „Die Liebe Gottes und der Zerfall der Welt“ dargelegt und das Gewissen als Manifestation dieses Autonomiestrebens des gefallenen Men-

727 E 278: „Es gilt in der Befolgung des Rufes, diese Autonomie, die ihren Ursprung jenseits des eigenen Wollens und Wissens, ‚in Adam‘ hat, jeweils selbst neu zu verwirklichen.“ 728 MS 438: „[…] die innere Zurechnung aber einer Tat, als eines unter dem Gesetz stehenden Falles (in meritum aut demeritum), gehört zur Urteilskraft (iudicium), welches als das subjektive Prinzip der Zurechnung der Handlung, ob sie als Tat (unter einem Gesetz stehende Handlung) geschehen sei oder nicht, rechtskräftig urteilt; worauf denn der Schluß der Vernunft (die Sentenz), d.i. die Verknüpfung der rechtlichen Wirkung mit der Handlung (die Verurteilung oder Lossprechung) folgt: welches alles vor Gericht (coram iudicio), als einer dem Gesetz Effekt verschaffenden moralischen Person, Gerichtshof (forum) genannt, geschieht. – Das Bewußtsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen (‚vor welchem sich seine Gedanken einander verklagen oder entschuldigen‘) ist das Gewissen.“ Das Gewissen ist darum „seinem [sc. dem Menschen als moralische Person] Wesen einverleibt“ und als dieses eine „intellektuelle und (weil sie Pflichtvorstellung ist) moralische Anlage“ (ebd.). 729 E 277 f. Die bloße existentielle Endlichkeit ist, das offenbart Heideggers Fundamentalontologie, auch intellektuell nicht zu ertragen und muss darum durch den Vorbehalt des eigenen Seinkönnens und Sichverstehens, also durch die Verfügung des Daseins über den je eigenen Sinn der Existenz angesichts des Todes gemildert werden. Vgl. dazu auch Bonhoeffers Einschätzung AS 61–67.

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schen interpretiert730. Der Mensch könnte nämlich, so muss man ergänzen, die radikale Kontingenzerfahrung, die „Erfahrung des gänzlichen In-sich-selbstgekehrt-seins […] der völligen einsamsten Alleinigkeit“731 gar nicht aushalten, so dass das sich Losreißen vom Schöpfer notwendig und unmittelbar mit dem Versuch der Selbstbegründung einhergeht – oder aber umschlägt in eine Form ideologischer Heteronomie. Diese hätte dann aber erst recht die Zerstörung des Menschseins zur Folge, weil nun die vom Gewissen angestrebte Einheit des Menschen mit sich selbst externalisiert wird in einer dazu gar nicht befähigten, nur scheinbaren moralischen Instanz, wie es insbesondere im den Einzelnen entmündigenden Führerkult des Nationalsozialismus manifest geworden ist732. Ist dagegen beides, Autonomie wie Heteronomie des Gewissens, tatsächlich Verfehlung des Menschseins und damit der Einheit des Selbst im Existieren, obwohl eben diese vom Gewissensruf angestrebt wird, so gewinnt der Mensch diese Einheit, dieses existentielle praktische Selbstverhältnis nun doch im, aber nicht durch das Gewissen: denn dieses ist es, welches in der Begegnung mit Christus seine ursprüngliche Gestalt zurückerhält, die darin besteht, dass die freie Verantwortung, d. h. das eigene Wagnis der Tat in der Gerichtetheit auf Christus, die Bindung an das Gottesgesetz und die unvermeidliche Schuldübernahme miteinander vermittelt werden, ohne dass der Mensch zwischen einander entgegengesetzten Ansprüchen zerrissen würde. Dies kann aber nur dadurch gelingen, dass das Gewissen als anthropologischer Ort der Christusbegegnung erfahren wird, dessen Funktion damit einerseits die Bewahrung der Einheit des Menschen in der Beziehung auf Christus ist – Bonhoeffer kann hier verkürzt formulieren, dass Christus zum „Einheitspunkt meiner Existenz geworden ist“733; eben darin ist es andererseits dann aber der Ort der je konkreten Vermittlung von freier Tat und Gebundenheit an das Gesetz. Denn die Begegnung mit Christus setzt ja die unmittelbar praktisch werdende Antwort des Menschen frei. Die Funktion des Gewissens ist daher auch für den versöhnten Menschen formal identisch mit derjenigen des verkehrten, autonomen (oder heteronomen) Gewissens, indem es das Gottesgesetz in seinem Sinn und Ziel, als Liebe, zur Geltung bringt, ohne aber die im freien Wagnis der Tat, die zugleich dem konkreten Gebot gehorcht, unvermeidliche Missachtung des Gesetzes in bestimmter Hinsicht als existentielle Infragestellung des Menschen zu verkünden734. Dies ist aber allein deshalb möglich, weil das Gewissen in Christus begründet ist, 730

S.o. A.II.4.c. AS 35. 732 Vgl. E 278. 733 E 278. 734 Vgl. E 282 f.: „Auch das in Jesus Christus befreite Gewissen stellt das verantwortliche Handeln vor das Gesetz […]. Aber weil das Gesetz nicht mehr das Letzte ist, sondern Jesus Christus, darum muß in der Auseinandersetzung zwischen Gewissen und konkreter Verantwortung die freie Entscheidung für Christus fallen.“ 731

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B. Grund und Vollzug des Guten

d. h. genauer in der Beziehung des Menschen auf Christus, und von daher seine Ausrichtung erhält: „Wo Christus […] zum Einheitspunkt meiner Existenz geworden ist, dort bleibt zwar das Gewissen – formal immer noch der Ruf […] zur Einheit mit mir selbst: diese Einheit kann aber nicht mehr verwirklicht werden in der Rückkehr zu meiner aus dem Gesetz lebenden Autonomie, sondern in der Gemeinschaft mit Jesus Christus […] Nicht ein Gesetz, sondern der lebendige Gott und der lebendige Mensch, wie er mir in Jesus Christus begegnet, ist Ursprung und Ziel meines Gewissens.“735

Das Gewissen vollzieht diesen Ruf zur Einheit des Selbst mit bzw. in Christus darum nicht mehr als Urteilsakt, dazu fehlt ihm ja der von der Tat abstrahierte Maßstab. Es ist vielmehr diejenige Instanz, die den konkreten Tatvollzug inhaltlich bestimmt, indem sie Gesetz und Freiheit zu der schöpferischen Tat des Gehorsams vermittelt und die mit ihr verbundene unvermeidliche Schuld als je gebotene statt zu vermeidende anzeigt736. Die Paradoxie erscheint folglich nur in der abstrahierenden Reflexion: konkret ist ja der freie, schöpferische Tatvollzug eben darin Gehorsam gegen das Gebot, weil er den im personalen Verhältnis zu Christus empfangenen Willen Gottes in der allerkonkretesten situativ angemessenen Weise verwirklicht. In dieser Zuspitzung ist darum die Funktion des christlichen Gewissens geradezu in einen Gegensatz zum traditionellen und idealistischen Gewissensbegriff getreten: das freie Gewissen ermöglicht nun das Übernehmen der ‚fremden‘ Schuld statt anzuzeigen, wo eine moralische und damit auch eine Selbst-Verfehlung droht oder eingetreten ist. In dieser Funktion hat das Gewissen dann allerdings doch noch einen Vorbehalt gegenüber dem eigentlich unmittelbar im Akt bzw. Ruf des Gewissens begründeten Tun: wenn nämlich das gebotene, zur Schuldübernahme nötigende Tun dem Menschen als so untragbar erscheint, dass es ihn schließlich zerstören würde. In diesem Fall aber müsste gefolgert werden, dass das scheinbar gebotene Tun nicht diesem Menschen wahrhaft geboten ist, dessen individuelle Verfasstheit der Aufgabe nicht entspricht737. Das Gewissen bleibt damit auch in dieser besonderen Funktion als verbietendes bzw. begrenzendes738 eine personale Instanz, die im Unterschied zu den idealistischen Gewissenskonzeptionen nicht in der Universalität und Allgemeinheit des ihr innewohnenden Gesetzes begründet ist, sondern seine Bestimmtheit und damit seine die konkrete Verantwortung bestimmende Funktion wesentlich aus der personalen Beziehung zwischen Christus und dem konkreten individuellen Menschen empfängt. 735

E 278 f. Vgl. E 280. 737 Vgl. E 282. 738 Vgl. E 281: „Das in verantwortlichem Handeln jeweils notwendig werdende Schuldtragen bleibt durch das Gewissen in zweifacher Hinsicht begrenzt.“ 736

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Das (christliche) Gewissen ist damit, so lässt sich abschließend zusammenfassen, von Bonhoeffer gegenläufig zur neuzeitlichen Interpretation des Gewissens und diese nur als ihre Negation einschließend, gedeutet. Ist das Gewissen Kants nämlich geistesgeschichtlich betrachtet der Ausdruck der neuzeitlichen Internalisierung des Verantwortungsgedankens, dann ist damit aus der ursprünglich sozial verfassten Verantwortung die transzendental-subjektive Gewissensverantwortung geworden, bei welcher der Mensch zugleich Handlungssubjekt, Urteilsinstanz und Gesetzgeber ist739. Umgekehrt ist dagegen Bonhoeffers gedankliche Operation als eine Re-Externalisierung der Gewissensverantwortung zu verstehen, bei der das Gewissen und sein Ruf in Analogie zu dem Verantwortungsbegriff als ein dialogisches Geschehen aus dem Subjekt heraus in das Personenverhältnis verlegt wird. Entsprechend ist die Funktion des Gewissens dann aber nicht mehr das moralische oder juristische Urteil; es repräsentiert in diesem Geschehen vielmehr die menschliche tätige Person, die sich aus der Beziehung auf Christus heraus versteht und diese Beziehung unmittelbar im Handeln wirklich werden lässt. Dieser relationale Gewissensbegriff ist damit, auch wenn Bonhoeffer dies nicht explizit ausweist, offenbar eine unter dem positiven Einfluss von Personalismus und Existenzphilosophie und dem negativen des Idealismus erfolgte Anverwandlung der lutherischen Interpretation des Gewissens in Abgrenzung von scholastisch-katholischen Deutungen. Denn Luthers „Umdenken“ gerade im Kontext des Bußsakraments – d. h. also im Gewissens-Kasus – bewirkt eine „Wandlung“, die „den conscientia-Begriff anders als bisher dem Menschen zuordnet […]. [D]adurch wird in Luthers Theologie conscientia zu einer anthropologischen Kategorie ersten Ranges“740. Auch bei Luther findet sich 739 Vgl. dazu Bayertz, Verantwortung, 19. Strukturell ist dies auch bei Heidegger so: der Gewissensruf ist eine sensu stricto reflexive Funktion des Subjekts, dem gerade keine dem Dasein in irgendeiner Weise äußerliche Instanz mehr entspricht. Zur reflexiven Struktur der Fundamentalontologie von Sein und Zeit vgl. z. B. Luckner, Heidegger, 16: „Heidegger vollzieht hier methodisch eine sehr strenge Reflexionsbewegung, insofern der Gegenstand des Fragens der Fragende selbst ist.“; 20: „Die reflexive Struktur des Daseins […] erlaubt die Durchführung einer solchen Analyse [sc. der Existenzialität]“; Heideggers Fundamentalontologie ist insofern „die Erbin der Subjektphilosophie“ (aaO. 5315). Freilich verweist Luckner in diesem Kontext darauf, dass Heidegger zwar die reflexive Bewegung als grundlegendes Strukturmoment der Daseinsanalytik und daher des Seins selbst fasse, sich zugleich aber von dem neuzeitlichen Subjektivismus dadurch abzusetzen versuche, dass er das Dasein nicht als isoliertes Subjekt und die Welt als vom Dasein bzw. seiner Erkenntnis abhängiges Objekt interpretiere, sondern Dasein und Welt miteinander verschränke. Andererseits ist das Dasein zwar in der faktisch vorgängigen Welt da, die Welt aber dennoch die des Daseins, indem sie durch dessen Verstehen erschlossen ist. D. h., das Dasein konstituiert sich seine Welt in ihrer Sinnhaftigkeit für es selbst. So wertet auch Bonhoeffer in Akt und Sein (AS 66): „Welt [sc. bei Heidegger] ist daseinsbeschlossen.“. Schärfer als Luckner stellt Rentsch diese Struktur der Daseinsanalyse hervor (Heidegger, 147): in Sein und Zeit finde sich ein „extrem übersteigerte[r] existentielle[r] Subjektivismus“. 740 Ebeling, Lutherstudien II.3, 462.

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B. Grund und Vollzug des Guten

darum die Entgegensetzung des Gewissens als moralisches Urteilsvermögen einerseits741 und als neues, die Person als Ganze auszeichnendes Gottesverhältnis andererseits: Conscientia mala bestia, quia facit hominem contra seipsum stare. Aber: fides nihil aliud est quam bona conscientia742. Darum ist auch bei Luther die Freiheit des Gewissens kein formales Vermögen, sondern als die externe Relation des Menschen, sofern er Handelnder ist, auf seinen Gott anzusprechen. In diesem relationalen Gewissen ist die wahre Existenz des Menschen coram Deo als unmittelbar praktisch werdendes Verhältnis zu Gott, Mitmensch und Welt verankert743. Das Gewissen des Christen ist getröstetes Gewissen, weil es ein von der Drohung des Gesetzes befreites Gewissen ist: es ist certa, laeta et libera conscientia744 und darin Ermöglichungsgrund für die wahrhaft guten Werke. Fasst man dieses sich nur als Praxis, als gutes Werk im lutherischen Sinne, verwirklichendes Gottesverhältnis als Verantwortung, so kann man schließlich mit Bonhoeffer Gewissen als die personal-existentielle anthropologische Entsprechung der verantwortlichen Tat bezeichnen, in welcher Bindung, Freiheit und Schuld zu ihrer je konkreten Einheit kommen: „[…] die Verantwortung [wird] durch das Gewissen gebunden, aber das Gewissen durch die Verantwortung frei. Es zeigt sich nun, daß es dasselbe ist, ob wir sagen: der Verantwortliche wird sündlos-schuldig, oder: allein der Mann des freien Gewissens kann Verantwortung tragen.“745.

741 Luther grenzt sich natürlich gegen den dominierenden scholastischen Gewissensbegriff ab, welcher in der Differenzierung in synteresis und conscientia bei Thomas von Aquin schulmäßig geworden ist. Conscientia ist hier, im Unterschied zur habituellen synteresis als praktischem Erkenntnisvermögen, das Urteilsvermögen, welches zwischen den prima principia practica und der auszuführenden Tat über abgestufte Schlussverfahren, die conclusiones, vermittelt. Vgl. dazu STh  I–II  qu.94  art.1; qu.96  art.4; für einen Überblick außerdem Böckenförde, Geschichte, 248–252; Groh, Schöpfung, 403 ff.; Ebeling, Lutherstudien II.3, 316–319. S. auch die Bonhoeffer gut bekannte Studie Piepers zur thomistischen Ethik, Die Wirklichkeit und das Gute, 78 ff. 742 WA 20, 718. 743 WA 8, 594: Demonstratum Röm. 14, 23 et invictis testimoniis firmatum est, omne, quod non est ex fide, peccatum esse, solius autem fidei esse remissionem peccatorum operari, certam et letam et liberam a peccatis conscientiam reddere. Opera vero seu fructus fidei proprie non pertinent ad remissionem peccatorum et letam conscientiam, sed sunt fructus iam praesentis et praecedentis remissionis et bonae conscientiae. 744 Vgl. WA 8, 594 u. ö. S. dazu Bonhoeffers – teils schon zitierte – retrospektive Bewertung eigenen Tuns (nämlich der Entscheidung zur Rückkehr aus Amerika im Sommer 1939, WE  253 [meine Hervorhebung]): „Du muß übrigens wissen, daß ich noch keinen Augenblick meine Rückkehr 1939 bereut habe, noch auch irgendetwas von dem, was dann folgte. Das geschah in voller Klarheit und mit bestem Gewissen.“ 745 E 283.

C. Die Formen des Guten Und stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.1

I. Einführung Die Erläuterungen von Erkenntnis, Grund und Vollzug des Guten, wie sie Bonhoeffer in „Die Liebe Gottes und der Zerfall der Welt“ und „Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]“ vorgenommen hat, sind zwar von fundamentaler Bedeutung für die theologische Reflexion der Wirklichkeit des Guten. Sie verbleiben aber hinsichtlich der Tat selbst und ihrer je konkreten Gestalt  –  die als solche theoretisch freilich nicht wahrhaft erfasst werden kann – noch sehr im Allgemeinen und Unbestimmten. Zugleich wird auch der Anspruch Bonhoeffers, in der ethischen Konzeption wirklich das ganze Leben des Menschen in der Welt vor Gott zu umfassen, noch nicht hinreichend deutlich. Beide Desiderate werden von Bonhoeffer aber, jedenfalls de intentione, erfüllt: Die inhaltliche Bindung des verantwortlichen Tuns sowohl im Hinblick auf die Strukturen und Formen der Wirklichkeit, dem es gemäß ist, als auch im Hinblick auf die Formen, in denen der konkrete Willen Gottes mit dieser Wirklichkeit erfahrbar wird, sind Gegenstand der Konkretionen und der fragmentarischen materialethischen Ausführungen Bonhoeffers in den vermutlich für den zweiten großen Teil der Ethik geplanten Manuskripten2: 1

Röm 12,2, vgl. E 323 f. Schon die Themen und Charakteristika der einzelnen Manuskripte, die sich klar in fundamentalethische und materialethische Reflexionen differenzieren lassen, legen nahe, dass die Ethik eine klassisch-systematische Form erhalten sollte. Auch Bonhoeffer selbst bestätigt dies in einem Brief an Bethge, wenn er schreibt: „Heute ist mir ein möglicher Titel für mein Buch eingefallen: ‚Wegbereitung und Einzug‘ – entsprechend der Zweiteilung des Buches (die vorletzten und die letzten Dinge).“ (DBW 16, 79). Die letzten Dinge, d. h. der fundamentalethische Teil, sollten dabei zweifellos – der dialektischen Beziehung zwischen Letzten und Vorletztem entsprechend (E 137 ff.) – im ersten Hauptteil behandelt werden, dem Überlegungen zu den vorletzten Dingen, d. h. zu den materialethischen Konkretionen, hätten folgen sollen (ähnlich die Titelversuche auf Ethikzettel Nr. 1: „Grundlagen u. Aufbau 2

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C. Die Formen des Guten

„Das natürliche Leben“, „Das Gute“ oder „Gutsein“3, „Das Ethische und das Christliche als Thema“, „Das konkrete Gebot und die göttlichen Mandate“, „Das Gesetz“4. Systematisiert man die in diesen teils fragmentarischen Abschnitten enthaltenen Überlegungen Bonhoeffers, so ergeben sich als Themen einmal die Gestalt des göttlichen Gesetzes (III.1–3), einschließlich der ihm zugehörigen Wirklichkeitsstrukturen, d. h. der Mandate, und der systematischen Voraussetzung des Gedankens eines „unbewussten Christentums“ (III.4). Außerdem befasst sich Bonhoeffer aber auch mit der Wirklichkeit des Guten im Bezug auf die Existenz des Menschen als Mensch, oder anders formuliert: Thema der Konkretionen der Ethik sind die Rechte des Menschseins als zu bewahrende Wirklichkeit des Guten und die innere Haltung des Menschen als aufgegebene Wirklichkeit des Guten (IV.)5. Das verantwortliche Handeln ist in seinem Wirklichkeitsbezug immer auch auf diese beiden Aspekte bezogen, die in der Gestalt der ethisch-theologischen Reflexion orientierende Funktion für das Prüfen und Entscheiden erhalten. Zu den das verantwortliche Tun im Hinblick auf seinen Inhalt orientierenden Elementen gehört aber auch der Abschnitt aus „Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]“ über den Beruf als Ort der Verantwortung. Darin wird die Situativität des Handelns begrenzt auf den zugewiesen individuellen geschichtlichen und gesellschaftlichen Ort; die im Beruf je konkret und individuell vorgegebenen Strukturen haben als Elemente der geschichtlichen Wirklichkeit selbst schon orientierende Funktion für das verantwortliche Handeln, ohne dass damit zugleich ein abstrakt-allgemeiner normativer Rahmen aufgestellt würde (II.). Nun hat Bonhoeffer die vorgegebenen Wirklichkeitsstrukturen der Mandate und die wirkliche Gestalt des Menschseins im Hinblick auf ihre natürlichen Rechte und ihre innere Haltung teilweise auch inhaltlich als Orientierungen für das konkret gebotene Handeln entfaltet. Geplant war wohl auch, das Gottesgesetz im Hinblick auf seine begrenzende Funktion anhand einer Dekalogauslegung zu entfalten6. Diese inhaltlichen Orientierungen werden hier allerdings nicht zum Gegenstand der Analyse gemacht. Dies hat erstens seinen Grund darin, dass wegen der fragmentarischen Gestalt der entsprechenden Kapitel keine vollständige Erhellung dieser Komplexe möglich ist – und zwar auch dann nicht, wenn man zeitlich parallel oder in unmittelbarer Nähe entder mit Gott versöhnten [einer künftigen] Welt / Versuch einer christlichen Ethik“). S. dazu auch den Anordnungsplan der Herausgeber E 455. 3 Nur geplant, kein Text vorhanden, vgl. E 157 ff. und E 455. 4 Nur als Überschrift vorhanden, s. dazu C.III.2. 5 Letztere kann freilich nicht zum Gegenstand ausführlicher Analysen gemacht werden, weil das entsprechende Kapitel ja nicht mehr geschrieben wurde. Es bleibt daher bei der systematischen Einordnung dieses geplanten Abschnitts in die Konzeption (s. u. IV.1). 6 S.u. C.III.2.

II. Beruf

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standene Texte heranzieht7. Zweitens würde ein solches Vorhaben dennoch, obwohl nur Teile der Konkretionen vorhanden sind, schon sehr umfangreiche Studien zu den von Bonhoeffer jeweils verarbeiteten Traditionen erfordern, die sinnvollerweise in eigenen, thematisch darauf ausgerichteten Arbeiten geleistet werden. Schließlich aber bilden solche inhaltlichen Analysen auch nicht das Thema der hier unternommenen Arbeit. Von Interesse sind hier einerseits der kategoriale Rang der Formen des Guten und ihre Zuordnung zu der in den Teilen A und B erarbeiteten Erkenntnistheorie und zu den fundamentalen und strukturellen Aspekten der guten Tat. Andererseits und damit sachlich eng verbunden interessiert auch hier wieder der philosophische Hintergrund – soweit er erkennbar und vorhanden ist. Dabei handelt es sich insbesondere um den Einfluss des Neuthomismus auf die Konzeption der natürlichen Rechte (IV.2). Zu den Inhalten der natürlichen Rechte, der Mandate und des Gutseins werden darum am jeweiligen Ort nur kurze Hinweise gegeben, die die ungefähre Richtung, die Bonhoeffer anstrebte, erkennen lassen.

II. Beruf „Nachdem wir […] die Struktur des verantwortlichen Lebens zu erfassen versucht haben, werden wir nun durch das Verlangen nach weiterer Konkretion zu der Frage geführt, ob es möglich sei, den Ort näher zu bestimmen, an dem sich verantwortliches Leben realisiert.“8

Die Wirklichkeitsbezogenheit der Verantwortung und ihre in der Rezeption lebensphilosophischer Gedanken erfolgte theoretische Rückbindung an die geschichtliche Situation können nur dann orientierend für das Handeln sein, wenn diese Situation näher bestimmt wird als konkreter und damit auch (relativ) begrenzter Handlungsraum des je einzelnen verantwortlichen Menschen. Insofern sind die Ausführungen zur Verantwortung als Wirklichkeitsgemäßheit bisher noch nicht hinreichend konkretisiert worden, was Bonhoeffer daher nun am Ende des Kapitels „Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]“ unternimmt, indem er  –  wieder unter Rückgriff auf die politische Theorie Webers – den Berufsbegriff einführt. Charakteristisch ist freilich die kritische, sowohl positive als auch negative, Aufnahme Webers, die im Zusammenhang der Verknüpfung von Webers Berufsbegriff mit genuin theologischen, nämlichen der neutestamentlichen und der lutherischen, Deutungen erfolgt; der Berufsbegriff Bonhoeffers ist damit Ergebnis einer sehr eigenständigen 7 So existieren etwas bezüglich der Mandate Äußerungen Bonhoeffers in dem Gutachten zu Staat und Kirche (DBW 16, 506–535) und in Widerstand und Ergebung (WE 73 ff.290 ff.329 u. ö.). Auch diese vermitteln aber nicht die ganze Gestalt der vier Mandate, wie Bonhoeffer sie auszuführen beabsichtigte. 8 E 289.

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C. Die Formen des Guten

Anverwandlung der ihm vorliegenden Berufskonzeptionen, bei der die größte sachliche Nähe trotz der intensiven Auseinandersetzung mit Weber dennoch zu Luther und dessen Deutung durch Karl Holl besteht. Wenn Bonhoeffer für die Konzeption seines Verantwortungsbegriffs entscheidende Aspekte aus der politischen Ethik Webers übernommen hat, so besteht gleichwohl ein signifikanter Unterschied zwischen beiden, der sowohl die materiale als auch die formale Seite von Bonhoeffers Verantwortungsbegriff betrifft. Denn einerseits, das wurde bereits erwähnt, integriert Bonhoeffer den für Weber entscheidenden Aspekt der Mittel- und Folgenverantwortung einem inhaltlich weit umfassenderen Verantwortungsbegriff. Das Prüfen, welches bei Bonhoeffer diesen Aspekt vertritt, wird damit zwar zu einem wichtigen, aber eben nur zu einem von mehreren Elementen des Verantwortungskonzepts. Unter dem formalen Aspekt, also den Geltungsbereich betreffend, aber weitet er den Verantwortungsbegriff Webers aus. Dieser bezieht sich nämlich ausdrücklich nur auf den Handlungsbereich, von dem her der Vortrag seinen Titel hat, also auf die Politik, die sich gegenüber anderen Handlungsbereichen dadurch auszeichnet, dass sie als einzige über das Mittel der legitimen Gewaltanwendung verfügt9. Eben diese Spezifizierung, die die Voraussetzung für die Entgegensetzung von politischer und religiöser bzw. Gesinnungsethik bei Weber bildet, entfällt jedoch bei Bonhoeffer, auch wenn er zur Illustration nun selbst den politischen Bereich heranzieht. Sein Verantwortungsbegriff einschließlich des pragmatischen Elements des Prüfens und Folgenabschätzens scheint dagegen auf den ersten Blick gerade das zu bezeichnen, was Weber – beeinflusst von der zeitgenössischen Liberalen Theologie – als dem politischen Handeln diametral entgegengesetzt versteht, nämlich das Handeln in der Nachfolge Christi, das christliche Ethos. Diese Einschätzung ist allerdings nur mit Einschränkung richtig. Denn Bonhoeffer teilt ja durchaus Webers Kritik an der kantischen bzw. liberaltheologischen Gesinnungsethik, mit welcher keine Politik zu machen sei, weil sie der religiösen Innerlichkeit, nicht aber der weltlichen Existenz zugehöre10. Diese Gemeinsamkeit dürfte daher auch den eigentlichen Grund dafür bilden, dass Bonhoeffer in der zweiten Fassung des Kapitels die Ausführungen zur Bergpredigt signifikant reduziert hat11. Um eine Interpretation der Bergpredigt als auf den innerlichen Bereich gerichteter christlicher Sonderethik zu vermeiden, wird sie hier nur noch beiläufig erwähnt als eine Form des „Lebensgesetzes“, welches das verantwortliche Handeln bestimme12. Umgekehrt erhebt 9

Weber, Politik, 158 u. ö. S. dazu besonders den Exkurs zur Liberalen Theologie (D.I). 11 S. dazu o. B.II.1. 12 Vgl. E 282 f. S. dagegen Weber, Politik, 234 f.: „Also: – die Ethik der Bergpredigt? Mit der Bergpredigt ist es eine ernstere Sache, als die glauben, die diese Gebote heute gern zitieren […] ganz oder gar nicht, das gerade ist ihr Sinn, wenn etwas anderes als Trivialitäten heraus10

II. Beruf

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Bonhoeffer damit aber nun den Anspruch, eine universale christliche Ethik zu entwerfen, die als ‚Lebensethik‘ keine Begrenzungen auf abgesonderte Lebens- oder Handlungsbereiche enthält, sondern die gesamte Existenz des Menschen bestimmt. Das Zugeständnis Webers, dass die religiöse Ethik zwar nicht zur Politik tauge, aber immerhin für die gute Gesinnung sorge, welche dem politischen Handeln dann doch wieder – zumindest im Grenzfall – eine per se unerreichbare Tiefe verleihen könne13, ist darum für Bonhoeffer nicht Anlass, eben diese politische Ethik auf ihre richtige Gestalt zu überprüfen, sondern beide Ethiken resp. Ethik-Typen Webers schon aufgrund ihrer begrenzten Gültigkeit zugunsten einer die Existenz als Ganze umfassenden Verantwortungsethik zu verwerfen. Politik, um wieder das seinerzeit besonders strittige und besonders brennende Aufgabenfeld aufzugreifen, ist also für den Einzelnen ein zur Gestaltung herausfordernder Handlungsbereich nicht obwohl, sondern weil er Christ ist und sich zum verantwortlichen Handeln auch im Kontext staatlicher und politischer Aufgaben berufen weiß; die neulutherische strikte Trennung eines weltlichen und eines christlichen Lebensbereichs ist daher nicht ein Problem für die persönliche Integrität, wie Friedrich Naumann für sich selbst festgestellt hat14, sondern eine verfehlte Lebensauffassung, aus der der verkehrte Dualismus der Ethik, wie er auch von Weber proklamiert wird, resultiert. Auf den Begriff bringt Bonhoeffer diese universale Gültigkeit der christlichen Verantwortungsethik mit dem besonders in der lutherischen Tradition bedeutsamen Stichwort „Beruf“15. Hier einen vollständiger Abriss der Begriffsgeschichte von ‚Beruf‘ zu liefern, ist allerdings nicht möglich – und unnötig, weil Bonhoeffer im Rückgriff auf den biblischen Sprachgebrauch (ĔĕǻĝēĜ, vgl. 1. Kor 7,20) eine eigene und weitgehend eigenständige Interpretation dieses Begriffs beansprucht16. Freilich dürfte ein Anstoß, den Berufskommen soll […]. Das evangelische[!] Gebot ist unbedingt und eindeutig: gib her, was du hast – alles, schlechthin. Der Politiker wird sagen: eine sozial sinnlose Zumutung, solange es nicht für alle durchgesetzt wird […]. Das ethische Gebot aber fragt darnach gar nicht, das ist sein Wesen. Oder: ‚halte dem anderen Backen hin!‘ Unbedingt, ohne zu fragen, wieso es dem andern zukommt, zu schlagen. Eine Ethik der Würdelosigkeit – außer: für einen Heiligen. Das ist es: man muß ein Heiliger sein in allem, zum mindestens dem Wollen nach, muß leben wie Jesus, die Apostel, der heilige Franz und seinesgleichen, dann ist diese Ethik sinnvoll und Ausdruck einer Würde.“ Hier spiegelt sich deutlich die katholisch-mittelalterliche Interpretation der Bergpredigt als einer monastischen Sonderethik: sie enthält nicht praecepta für alle Christen, sondern consilia evangelica für einen besonderen geistlichen („heiligen“) Stand (vgl. exemplarisch STh I–II qu. 108 art. 4. Dazu Webers Aufsatz über Luthers Berufskonzeption [Protestantische Ethik, 69–71]). 13 Vgl. Weber, Politik, 230.250. Dabei dient ihm Luther auf dem Reichstag zu Worms als Beispiel. 14 Vgl. Naumann, Briefe, 55.56 u. ö. 15 E 289 ff. 16 E 290. Vgl. im Übrigen Holl, Geschichte, passim; Wingren, Beruf, passim; Gatzen, Beruf, 15–97; außerdem Weber, Protestantische Ethik, 63–83.

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C. Die Formen des Guten

begriff überhaupt zu gebrauchen, auch in Luthers wirkungsmächtiger Deutung des im Alt- und Mittelhochdeutschen ganz überwiegend im geistlichen resp. spirituellen Sinne verwendeten17 Begriffs liegen, selbst wenn Bonhoeffer diese Deutung vielleicht weniger direkt aus Luther-Texten als indirekt über die Darstellungen von Karl Holl und Max Weber rezipiert hat18. Andererseits ist wohl Max Webers wichtige Studie über das Verhältnis von protestantischer Ethik und Kapitalismus, in dessen Kontext der lutherische Berufsbegriff von ihm dargestellt und in Beziehung zu einem modernen Berufsbegriff gesetzt wird, die Folie, auf welcher er analog zum Verantwortungsbegriff ein eigenes Verständnis von ‚Beruf‘ entwickelt19. Die Traditionsgeschichte von Bonhoeffers Berufsbegriff ist dennoch nicht vollständig aufklärbar20, was aber das Verständnis seiner Intention bei der Verwendung des Berufsbegriffs nicht sehr erschwert, weil er diese deutlich ausspricht. Seinen Andeutungen nach scheint er zunächst bei der Einschätzung des biblischen Referenztextes I Kor 7,17–24 und besonders Vers 20 der im Artikel zu ĔċĕƬģ und seinen Derivaten dargelegten Auffassung Schmidts zu folgen, welcher die Übersetzung vonĔĕǻĝēĜ in Vers 20 mit ‚Beruf‘ im Sinne 17 Vgl. dazu Grimm s. v. (Sp. 1530–1534); Kluge, Wörterbuch, 100; Wingren, Beruf II, 657. Das Adjektiv ‚spirituell‘ stammt von Luther selbst (vgl. z. B. die bei Gatzen angegebenen Stellen zu dem von Luther verwendeten Ausdruck vocatio spiritualis [Beruf, 45 ff. u. ö.]). 18 Diese beiden bereits genannten Darstellungen Holls und Webers über Luthers Berufsbegriff hat Bonhoeffer vermutlich (Holl) bzw. sicher (Weber) gekannt hat. Webers Darstellung zitiert Bonhoeffer E 290, es besteht darum kein Zweifel, dass Bonhoeffer den berühmten Aufsatz über den Zusammenhang von Kapitalismus und protestantischer Ethik, auf den er sich auch sonst häufig bezieht und innerhalb von welchem die Studie über Luthers Berufskonzeption steht, gelesen hat. Für Holls Aufsatz ist mit einiger Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass Bonhoeffer ihn gekannt hat, weil er sich immer wieder mit dessen Luther-Deutungen befasst und kritisch auseinander gesetzt hat. Den 3. Band der Gesammelten Aufsätze zur Kirchengeschichte, in dem dieser Text enthalten ist („Der Westen“), hat Bonhoeffer mindestens einmal vor der Entstehung der Ethik verwendet (vgl. DBW 11, 515) und sich 1943 ins Gefängnis bringen lassen (vgl. WE 57 u. ö.). 19 Dies legt sich nicht nur dadurch nahe, dass Bonhoeffer selbst kritisch auf Weber verweist (s. o.); die Bemerkung, dass der Berufsbegriff und der Verantwortungsbegriff, so wie er sie beide interpretiert, in einer „eigenartig-glücklichen Entsprechung“ (E 290) zueinander stehen, lässt vermuten, dass es bei beiden Begriffen mindestens auch um eine Auseinandersetzung mit Weber geht, in dessen Werk neben dem Verantwortungsbegriff auch der Berufsbegriff eine wichtige und prägnante Bedeutung hat. 20 So bleibt z. B. unklar, welche Bedeutung der neutestamentliche Sprachgebrauch nun tatsächlich für Bonhoeffer hat, ebenso wie der prägende Sprachgebrauch Luthers, der zwar über den biblischen hinausgreife, aber doch „sachlich gerechtfertigt ist“ – so wie auch der bedeutungsvolle interpretierende Zusatz, den Luther in Röm 3,28 mit der Zufügung des sola fide gemacht hat (vgl. E 290). Der neutestamentliche Sprachgebrauch aber, der den Ausgangspunkt der Erwägungen zum Berufsbegriff bilden soll (vgl. ebd.), ist wiederum mit dem Sprachgebrauch Bonhoeffers selbst „nicht identisch“ (ebd.), ohne dass deutlich gemacht würde, inwiefern und warum. Es muss darum letztlich offen bleiben, wie sich der ĔĕǻĝēĜ-Begriff aus I Kor 7,20 genau ausgewirkt hat.

II. Beruf

321

von Stand abweist21. Jedenfalls könnte dessen Kritik an den Interpretationen Lietzmanns und Holls als Eintragung reformatorischen Denkens in den paulinischen Text22 und die von ihm selbst vorgeschlagene Übersetzung mit „Berufung“, entsprechend dem übrigen Vorkommen des als terminus technicus bewerteten Ausdrucks für den göttlichen Akt der Erwählung23, Bonhoeffer dahingehend beeinflusst haben, dass er als Grundbedeutung nun ebenfalls den „Ruf Gottes“, die Berufung des Menschen „zum Leben in der Gemeinschaft Jesu Christi“24 festhält. Dennoch wird von Bonhoeffer direkt anschließend diese Grundbedeutung erweitert im Rückgriff auf Luthers Interpretation der Stelle im Kontext seiner theologischen Kritik am Mönchtum resp. an einem geistlichen Stand25, wie er sie abgesehen von eigener Luther-Lektüre wohl über Holl und Weber vermittelt bekommen hat. Schließlich bildet auch Max Webers moderner Berufsbegriff, von dem aus dieser den rekonstruierten lutherischen bewertet26, eine wichtige Referenz. An diesem Vorgehen Bonhoeffers wird vor allem wieder eines deutlich, dass nämlich Bonhoeffer trotz seiner Bemühungen um eine textgemäße Exegese biblischer Aussagen im Grunde nicht primär an der intentio auctoris interessiert ist, sondern jene direkt in Beziehung zu der „veränderte[n] ethische[n] Problematik“27 zu setzen versucht. Zunächst geht Bonhoeffer also von dem als biblisch markierten Verständnis von Beruf resp. ĔĕǻĝēĜaus, wonach damit das geistliche Geschehen der Berufung, der Ruf Christi gemeint sei. Damit ist sofort die Grenze gegenüber möglichen soziologischen oder politologischen Berufskonzeptionen gezogen, und zwar derart, dass diese zwar zutreffende, aber nur noch abgeleitete Deutungen sein können, die nicht das Zentrum der Sache treffen. So verstanden ist freilich der Berufsbegriff – jedenfalls zunächst – nicht ernsthaft von dem zuvor konzipierten Verantwortungsbegriff unterscheidbar; die „Entsprechung“28 scheint zur Identität zu werden, die nur perspektivisch differenziert werden kann: „Dieses Leben [sc. in der Gemeinschaft Jesu Christi aufgrund des Rufs Christi] ist nun von Christus her gesehen mein Beruf, von mir her gesehen meine Verantwortung.“29

Aber diese Interpretation wird sofort erweitert durch die im paulinischen Text schon vom Kontext her vorgegebene30 Ambivalenz des Begriffs, derzufolge es Schmidt, Art. ĔċĕƬģ / ĔĕǻĝēĜ,492 Apparat. Vgl. aaO. 493 Apparat. 23 AaO. 492 f. 24 E 290. 25 Vgl. E 291 f. 26 Weber, Protestantische Ethik, 63 ff., bes. 64 Anm. 68Anm. 27 E 256. 28 E 290. 29 E 291. 30 Vgl. Schrage, Korinther, 135: „Es geht weniger um das schiere ĖƬėďēė als um das ĚďěēĚċĞďȉė […] also um das christliche verantwortete Leben an dem jeweiligen Ort, an dem 21 22

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C. Die Formen des Guten

eben nicht bloß um das Geschehen der Berufung, sondern auch um ihre Konkretion geht, d. h. um die konkrete Situation des Berufenen, zu der wesentlich auch sein „Stand“ oder „Orden“31 bzw. modern gesprochen seine berufliche Funktion und gesellschaftliche Rolle gehören. Im Unterschied zur Nachfolge legt Bonhoeffer allerdings jetzt auf diesen zweiten Aspekt größten Wert: nicht mehr nur die völlig einmalige und inkommensurable Situation des erstmaligen Rufs ist gemeint32, sondern darüber hinaus die kontinuierlichen und umfassenden Bedingungen für die je verschiedenen konkreten Situationen, welche der Einzelne durchlebt, wie sie etwa die Erwerbsarbeit und die stabilen persönlichen Beziehungen in Familie und Freundschaft schaffen33 – so wie es nun auch nicht mehr bloß um den Eintritt in die Nachfolge, sondern um die Existenz als Nachfolgender geht. Beruf ist also in Bonhoeffers Deutung ein ambivalenter Begriff, der sowohl die Berufung des Menschen zur Versöhnung mit Gott als auch die gesamte ‚weltliche‘ Existenz des Christen meint, und zwar unter Einschluss des engeren Verständnisses von Beruf als Erwerbsarbeit, wie es bei Weber begegnet. Das Charakteristische gegenüber Max Webers soziologischem Berufsbegriff ist darum nicht nur die geistliche Bedeutung, Beruf als vocatio spritualis, sondern daneben die wohl eher Luther als dem paulinischen Text entlehnte und der ersteren zugeordnete zweite Bedeutung als „Ort, an dem dem Ruf Christi geantwortet wird“34, als vocatio externa, die von Luther prägnant als Beruf statt als Berufung übersetzt wurde35: denn auch diese meint etwas anderes als Weber, weil sie auf die ganze Existenz in allen ihren Bezügen zielt und damit unmittelbar Bonhoeffers Intention stützt, die Aufteilung der Existenz und folgerichtig der Ethik auf unterschiedliche, vollständig eigengesetzliche Lebens- und Handlungsbereiche zu überwinden36. Wäre dagegen ausschließlich, dem modernen Sprachgebrauch Webers folgend, die Arbeit zum Lebensunterhalt gemeint, könnte der Berufsbegriff nicht die zentrale Stellung erhalten, die Bonhoeffer ihm zu geben beabsichtigt, weil dann eine nicht unerhebliche Gruppe von Menschen ausgeschlossen wäre37 und er zudem auch für die Einzelexistenz nicht umfassende sondern bloß partielle Bedeutung hätte – Beruf als Erwerbsarbeit bezöge sich eben nur auf Gottes Ruf den Menschen trifft. Christen können und sollen ihren Platz in der Welt halten bzw. neu als Christen einnehmen, weil jeder Ort im Alltag der Welt ein Ort christlichen Gottesdienstes sein kann und jeder ordo ein ordo salutis.“ S. auch Lindemann, Korintherbrief, 171. 31 Vgl. zu den von Luther als Synonyme gebrauchten verschiedenen Übersetzungen von vocatio Holl, Geschichte, 217 f. 32 Vgl. N 50 ff. 33 Vgl. E 293. 34 E 291. 35 Vgl. z. B. WA 32; 52; 30.1. 36 WA 32, 325,33 ff.; 6, 206,13 ff. 37 Also: Frauen, Kinder, Arbeitslose, Ältere, von Grundbesitz, Pacht oder Erbe lebende Adlige etc.

II. Beruf

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einen (wenn auch wichtigen) Teil der Existenz. Aus diesen Gründen betont Bonhoeffer ganz explizit den Unterschied zu Webers Definition von Beruf als eines „abgegrenzte[n] Gebiet[s] von Leistungen“38, dessen Zweck „normalerweise“ die Sicherstellung der „ökonomische[n] Existenzgrundlage“ ist39. Die Funktion dieses ambivalenten Berufsbegriffs dürfte dennoch in dessen partieller Nähe zu Weber liegen, auf die Bonhoeffer selbst indirekt hinweist40. Denn der neue Aspekt, den der Berufsbegriff als Entsprechungsbegriff zu Verantwortung transportiert, ist ja nicht das schon im Lebensbegriff enthaltene strikte situationsethische Element, wonach Verantwortung immer nur konkret wirklich wird in der nicht vorherbestimmbaren individuellen Situation; vielmehr enthält der Berufsbegriff umgekehrt die Strukturierungsmerkmale, welche das verantwortliche Handeln auf einen bestimmten Kontext beziehen und es damit zugleich begrenzen. Darum hat nun aber auch Webers Berufsbegriff durchaus eine wichtige Bedeutung für das verantwortliche Handeln, weil nämlich das in diesem modernen Sinne berufliche Handeln, die Arbeit oder das Amt, einen wesentlichen und unter dem zeitlichen Aspekt betrachtet auch sehr erheblichen Teil der Existenz ausmacht. Die Beispiele, anhand derer Bonhoeffer seinen eigenen, von der Erwerbsarbeit unterschiedenen Berufsbegriff illustriert, sind deshalb nun doch Berufe im engeren soziologischen Sinne, etwa der des Mediziners oder des Pfarrers, obwohl sie nur einen Teil des Berufs als Ort der Verantwortung bilden41. „Die Frage nach Ort und Grenze der Verantwortung hat uns auf den Begriff des Berufs geführt […]. Er ist der Ruf Jesu Christi, ihm ganz zu gehören; er ist meine Inanspruchnahme durch Christus an dem Ort, an dem ich von diesem Ruf getroffen werde; er umfaßt sachliche Arbeit und persönliche Beziehungen; er fordert ‚ein abgegrenztes Gebiet von Leistungen‘ […]“42.

Beruf im Sinne Bonhoeffers ist also einerseits ein Ordnungsbegriff, indem er dem Einzelnen seine unterschiedlichen Lebensbezüge als Ort bzw. Bereich des verantwortlichen Handelns zuweist und damit die unüberschaubare Situation mit ihren komplexen Herausforderungen begrenzt. Insofern handelt es sich also zunächst um eine bloße Erweiterung des soziologischen Berufsbegriffs, der von Weber auf die Erwerbsarbeit festgelegt wurde, indem die übrigen Dimensionen der Existenz  –  „persönliche Beziehungen“, aber wohl auch Tätigkeiten der Muße, also heute so genannte ‚Freizeitaktivitäten‘43  –  ihm 38

Vgl. Weber, Protestantische Ethik, 68 Anm., sowie E 290. Weber, Protestantische Ethik, 64 Anm. 40 Vgl. E 293. 41 Vgl. E 293 f.296 f. 42 E  293. Hier wird also noch einmal Webers Definition aufgenommen, nun aber im Unterschied zur ersten Bezugnahme (E 290) positiv. 43 Vgl. E  216: „Es gibt drei fundamentale Verhaltungsweisen des geistigen Lebens zur Wirklichkeit: das Urteilen, das Handeln, das Genießen. In ihnen tritt der Mensch der Wirk39

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C. Die Formen des Guten

eingeordnet und als ethisch relevante Handlungsbereiche bestimmt werden. Der Grund für diese Ausweitung ist aber der die gesamte Existenz betreffende Ruf Christi, der nicht nur in anthropologischer Hinsicht eine Antwort der ganzen Existenz revoziert, also mit allen Fähigkeiten und Vermögen des Menschen wie etwa Verstand, Wille, Gefühl, sondern konsequent auch den gesamten Lebensbereich des Einzelnen betrifft, der damit zum Beruf im prägnanten Sinne wird. Eben darum ist aber die Aufteilung der Ethik, wie Weber sie auch unter Verwendung des soziologischen Berufsbegriffs durchgeführt hat – Politik ist der Beruf, Gesinnung (und Religion) aber nur die innerliche, private Dimension der Existenz – unzulänglich und folglich verkehrt. Wenn damit aber die ‚Welt‘ in ihrer jeweils geordneten und begrenzten Gestalt für den Einzelnen zum Vollzugsbereich des christlich-ethischen Handelns wird – so wie Luther es in seiner fundamentalen Kritik am Mönchtum erläutert hat44  –, stellt sich die Frage, wie strikt die Ordnungsfunktion des Berufsbegriff zu verstehen ist, ob also damit dem verantwortlichen Handeln nun neue absolute Grenzen gezogen werden, die zwar nicht mehr einzelne Lebensbereiche voneinander trennen, aber dafür qualitativ das Handeln begrenzen. Bonhoeffer greift damit eine Auslegungsschwierigkeit des lutherischen Berufsbegriffs und besonders seines sachlichen Kontextes, nämlich der Regimenten-Lehre, auf, die unter den zeitgenössischen Luther-Interpreten zumindest auch zu einem einflussreichen Konservatismus geführt hat45. Allerdings ist ein solches Missverständnis von Bonhoeffers Berufsbegriff bereits durch den einheitlichen christologischen Wirklichkeits- bzw. Lebensbegriff ausgeschlossen und muss darum hier nur noch konkretisiert und durch den Verweis auf Luthers ursprüngliches Anliegen als vera doctrina bezeugt werden. Denn dass der Beruf die „Heiligkeit der Berufspflichten und der irdischen Ordnungen als solcher“46 impliziere und daher ein absolut pflichtgemäßes, aber dadurch letztlich unfreies Handeln fordere, widerspricht dem dialektischen Wesen der Wirklichkeit: lichkeit, der er selbst angehört, in Freiheit gegenüber und erweist darin sein Menschsein.“ Dem „Genießen“ hat Bonhoeffer nachträglich die beiden Worte „Spielen Sich freuen“ zugefügt, vgl. E 216149. S. auch ZE Nr. 51, wo es in den Vorarbeiten zu der gerade zitierten Stelle heißt: „Verantwortlichkeit die Freude Spiel, Kunst, Schönheit Wort Gottes Urteilen, Handeln, Genießen“. 44 Vgl. Holl, Geschichte, 215 ff.; Weber, Protestantische Ethik, 69 ff. Hier besteht ein gradueller Unterschied zu Paulus, der ĔĕǻĝēĜ nicht so emphatisch versteht, obwohl auch er das Alltagsleben als Gottesdienst deutet (Röm 12,1). 45 Bonhoeffer bezeichnet solche Luther-Interpretationen und ihre Vertreter als „Pseudoluthertum“ (E 292). Konkret dürften damit die Lutheraner Althaus, Elert, Hirsch und wohl auch Seeberg gemeint sein, die mit je verschiedenen Akzentuierungen den Versuch unternahmen, Luther derart zu deuten, dass die ‚völkische Bewegung‘ oder der Volksbegriff als schöpfungsgemäße und damit nicht mehr hinterfragbare Ordnungsfunktion sanktioniert wurde. 46 E 292.

II. Beruf

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„Der Beruf im neutestamentlichen Sinne ist niemals eine Sanktionierung der weltlichen Ordnungen als solcher, sein Ja zu ihnen enthält immer zugleich das schärfste Nein, den schärfsten Protest gegen die Welt. Die Rückkehr Luthers aus dem Kloster in die Welt, in den ‚Beruf‘ ist – echt neutestamentlich – der heftigste Angriff und Stoß, der seit dem Urchristentum gegen die Welt geführt worden ist.“47

Der Beruf als Ort der Verantwortung ist darum keinesfalls als eine prinzipielle Bejahung des Faktischen misszuverstehen; er bezeichnet vielmehr die Gesamtheit der verschiedenen Dimensionen der einzelnen Existenz als Gestaltungsaufgabe – weil die Welt in ihrer Faktizität eben nicht so ist, wie sie sein soll resp. in der Glaubenswirklichkeit schon ist. Inhaltliche Orientierungen aber ergeben sich daraus, dass der je konkrete Ort immer schon bestimmte Sachbezüge vorgibt, die sich in ihrer Bedeutung allerdings nur von Jesus Christus her enthüllen48. Als Beispiel nennt Bonhoeffer selbst hier den Mediziner, der sich mit seinem Handeln sowohl dem Patienten als auch der medizinischen Forschung verpflichtet weiß49, weil er diese beiden Größen als bestimmende Aspekte des Wesensgesetzes der Medizin und damit zugleich als ordnende Elemente für die Ausübung des Arztberufs erkannt hat50. Von diesen Voraussetzungen des christologischen Wirklichkeitsbegriffs her kann Bonhoeffer darum den faktischen Erwerbsberuf, als Teil des umfassenden Berufs der verantwortlichen Existenz am gegebenen Ort, als relativ geordneten Bereich der Verantwortung fassen, die ihr Ziel aus der Sache, d. h. schließlich von Jesus Christus selbst empfängt und daher in bestimmten Situationen auch den „Fernsten“ als den im Beruf anvertrauten Nächsten erkennen kann51. Die Konsequenz dieses umfassenden, eine 47 E 291, vgl. dazu N 34 f. Bezeichnend ist die Wertung Luthers als desjenigen, der erstmals nach fünfhundert Jahren das echte christliche Weltverhältnis und folglich die wahrhafte christliche Ethik wiederhergestellt hat. Das wirft die Frage auf, ob nicht hier das Neue Testament von Luther aus gedeutet wird statt umgekehrt. 48 S.o. B.II.4.c. 49 Der familiäre Hintergrund ist hier überdeutlich, besonders wenn Bonhoeffer um der Sache, also des Patienten und der Medizin als praktischer und theoretischer Disziplin, willen unter den besonderen Umständen der Diktatur den öffentlichen Protest vom Arzt fordert. Vgl. dazu E 294154, sowie ausführlich Gerrens, Medizinisches Ethos, passim. 50 Vgl. E 270. 51 Bonhoeffer zitiert hier Nietzsche, um sein Verständnis des Berufsbegriffs zu unterstützen: „Nietzsche hat ohne es zu wissen im Geiste des Neuen Testaments gesprochen, wenn er gegen das gesetzlich-philisterhafte Mißverständnis des Gebotes der Nächstenliebe mit den Worten angeht: ‚Ihr drängt euch um den Nächsten und habt schöne Worte dafür. Aber ich sage euch: eure Nächstenliebe ist eure schlechte Liebe zu euch selber. Ihr flüchtet zum Nächsten vor euch selbst und möchtet eine Tugend daraus machen: aber ich durchschaue euer „Selbstloses“ … Rathe ich euch zur Nächstenliebe? Lieber noch rathe ich euch zur Nächsten-Flucht und zur Fernsten-Liebe!‘ [Za  I: „Von der Nächstenliebe“; KGW 6.1, 73]. Allerdings deutet Bonhoeffer hier Nietzsches Aussagen ganz erheblich um. Denn Nietzsches Rat bedeutet nicht, hinter dem Nächsten den Fernsten im Sinne Bonhoeffers, nämlich Jesus Christus, d. h. Gott selbst, und umgekehrt Gott selbst immer

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C. Die Formen des Guten

nur relative Ordnung bezeichnenden Berufsbegriffs ist allerdings die hohe Bedeutung der Freiheit, ohne deren Postulat Verantwortung schließlich auch gar kein sinnvoller ethischer Begriff wäre: für den Beruf des Einzelnen ist es konstitutiv, dass er immer wieder neu selbst entscheiden muss, wozu durch Gottes Gebot er am konkreten Ort berufen ist.

III. Gesetz und Gebot Ein diffiziles Problem ist die Verwendung des Gesetzes- und des Gebotsbegriffs in der Ethik und parallelen Texten. Die freie, am je gegebenen Ort resp. im konkreten Beruf vollzogene Tat der Verantwortung erfolgt in der Bindung an Gottes Willen, wie er im Gesetz dem Einzelnen erfahrbar wird. Was aber ist das Gesetz, die lex divina, konkret für den Glaubenden – und den nicht Glaubenden – und in welcher Form bringt es sich zur Geltung? Sowohl im Hinblick auf die Terminologie als auch im Hinblick auf die Sache, die zentrale Bedeutung nicht nur für dieses Kapitel, sondern für die gesamte Ethik hat, entstehen bei der Lektüre zunächst mehr Schwierigkeiten als bezüglich anderer Begriffe und Sachverhalte. Dies liegt dementsprechend nicht nur an den stilistischen Besonderheiten der Ethik, die sich insgesamt weniger durch definitorische Strenge als durch einen umschreibenden, stellenweise geradezu essayistischen Stil auszeichnet. Es hängt vielmehr einerseits mit der Komplexität der Sache zusammen, hat andererseits aber auch in terminologischen Verschiebungen seine Ursache, welche wegen des fragmentarischen Zustandes der Ethik auch nicht durch genaue Analysen vollständig aufgeklärt werden können. Denn das Kapitel, das über ‚Gesetz‘, ‚Gebot‘ und ihr Verhältnis zueinander am meisten Aufschluss geben könnte, ist nicht mehr geschrieben worden. Es handelt sich dabei um das nur als Überschrift vorhandene „Das Gesetz“52. Für dieses zentrale Thema der gesamten Ethik, besonders aber auch von „Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]“ muss daher die Perspektive erweitert werden. Denn die entscheidenden Erläuterungen – soweit sie überhaupt verfasst wurden – finden im Nächsten zu sehen (E 296); auch zielt Nietzsche nicht auf eine Verantwortung, die über die normalen, engen Berufspflichten hinaus reichen und für den Fremden Partei ergreifen kann, wie Bonhoeffer weiter fordert und worauf es ihm besonders ankommt (vgl. das Bsp. zum Kirchenkampf E 297). Vielmehr verweist Nietzsche den Menschen allein an sich selbst, damit er sich übersteige und zum Übermenschen mache: „Ich wollte, ihr hieltet es nicht aus mit allerlei Nächsten und deren Nachbarn; so müsstet ihr aus euch selber euren Freund und sein überwallendes Herz schaffen […]. Die Zukunft und das Fernste sei dir die Ursache deines Heute: in deinem Freunde sollst du den Übermenschen als deine Ursache lieben.“ (aaO. 73 f.). 52 Vgl. E 391: „Damit gliedern sich die nächstfolgenden Überlegungen von selbst in die zwei Teile: 1. Das konkrete Gebot Gottes 2. Das Gesetz.“

III. Gesetz und Gebot

327

sich einerseits vor allem in den späten Fragmenten der Ethik, „Über die Möglichkeit des Wortes der Kirche an die Welt“53, Das Ethische und das Christliche als Thema“, „Das konkrete Gebot und die göttlichen Mandate“, andererseits aber in dem zeitlich parallel dazu abgefassten Gutachten zum primus usus legis. Sowohl das Gutachten als auch die späten Fragmente der Ethik werden darum hier einbezogen, um den Gesetzesbegriff aus „Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]“ genauer verstehen zu können. Die Voraussetzung für dieses Vorgehen bildet die Annahme, dass trotz einer terminologischen Verschiebung die Sache die gleiche ist. Anders gesprochen: Auch wenn in „Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]“ zumeist bloß von ‚Gesetz‘ die Rede ist, gelten die späteren Differenzierungen zwischen ‚Gesetz‘ und ‚Gebot‘ doch auch schon und müssen entsprechend von der Sache aufgewiesen werden. Ob es sich bei dem nur aus der Überschrift bestehenden, aber nicht mehr inhaltlich vorbereiteten Kapitel „Das Gesetz“ um das geplante Abschlusskapitel der Ethik handelt oder nicht, ist schwer zu beurteilen54. Einerseits könnten Aussagen bzw. Formulierungen Bonhoeffers als Indiz dafür gedeutet werden, dass noch ein oder mehrere weitere Kapitel folgen sollten, so etwa die in der Anmerkung zitierte Wendung „nächstfolgend“, die bedeuten könnte, dass danach noch Weiteres folgt, aber auch die Tatsache, dass Bonhoeffer kurz nach seiner Verhaftung in Tegel „in paar Kapitel paulinischer Ethik“ ausgelegt hat55. Andererseits können beide möglichen Indizien auch anders gedeutet werden: so das erste einfach als ein Hinweis auf die Reihenfolge der Fragmente, dass also die Kapitel „Das Ethische und das Christliche als Thema“, „Das konkrete Gebot und die göttlichen Mandate“, sowie „Das Gesetz“ unmittelbar hintereinander gehören; das zweite wiederum muss nicht bedeuten, dass ein ganzes Kapitel zur paulinischen Ethik bzw. zur neutestamentlichen Paränese geplant war, etwa in dem Sinne, dass noch ein thematisch der Nachfolge ähnelnder Abschnitt an die Ethik angehängt würde56. Die Einschätzung 53 Im Falle dieses Fragments ist es äußerst unklar, ob es sich um einen als Teil der Ethik geplanten Text handelt oder nicht doch eher um eine Thesenreihe zu einem andere Zweck. Unstreitig ist aber, dass es während der Arbeit an den letzten Kapiteln der Ethik entstanden ist und in einem engen inhaltlichen Zusammenhang mit diesen steht. Daher erscheint es vertretbar, für die Analyse des Gesetzes- und Gebotsbegriffs dieses Fragment ebenso wie die anderen genannten Texten heranzuziehen. 54 Vgl. den Gliederungsvorschlag der Herausgeber E 455. 55 Vgl. E 39178 und WE 51. 56 Dass Bonhoeffer die Ausführungen zur Bergpredigt in der zweiten Fassung von „Die Geschichte und das Gute“ „ausgespart“ habe, um sie an anderer Stelle zu behandeln (vgl. E 39178), ist keineswegs ein zwingender Schluss. Das Fehlen der ausführlichen Bezugnahmen auf die Bergpredigt kann auch anders erklärt werden, nämlich damit, dass der Eindruck, es gebe nun doch noch eine evangelische Sonderethik, vermieden werden soll. Zudem erlaubt der Ansatz Bonhoeffers mit seinem starken situationsethischen Element gar keine umfassenden Einzelexegesen der Gebote. Es ist auch insgesamt auffällig – vergleicht man die Ethik

328

C. Die Formen des Guten

dieser Bemerkung Bonhoeffers vom April 1943 hängt allerdings mindestens auch davon ab, wie die Planungen zu dem nicht mehr durchgeführten Kapitel über „Das Gute“ bewertet werden, welches wohl eine Tugendethik hätte enthalten sollen57, die sich dann jedenfalls zu Teilen mit den paulinischen und deuteropaulinischen, von der stoischen Ethik beeinflussten Laster- und Tugendkatalogen überschnitten hätte58. Es ist sehr gut möglich, dass Bonhoeffer dieses zunächst auszuarbeiten geplant hatte und es nur wegen der widrigen äußeren (und inneren) Bedingungen in der Haft dann doch unterlassen hat59. Dafür, dass Bonhoeffer in Tegel neue, zuvor noch gar nicht geplante Kapitel in Angriff nehmen wollte, gibt es im Übrigen keine Indizien. Vielmehr könnte gerade die Bitte um den zweiten Band der Moraltheologie von Schilling60 ein Hinweis darauf sei, dass er bereits geplante oder begonnene Kapitel ausarbeiten bzw. vervollständigen wollte; denn dieser enthält Überlegungen, die sich thematisch mit einigen der bereits verfassten oder vorbereiteten Kapiteln überschneiden61. Auch die Bemerkung über die paulinische Ethik könnte

mit der Nachfolge –, dass in jener nur vereinzelte biblische Referenzen enthalten sind, die zumeist auch nicht in ihrem ursprünglichen Kontext ausgelegt werden. Die ausführlichsten Bezugnahmen auf die Schrift finden sich am Beginn des vermutlichen Einleitungskapitels (E 302–308) und im Zusammenhang der Berufskonzeption (E 290 f.), die aber schon eng mit den systematischen Überlegungen verzahnt und daher mit den Schriftinterpretationen der Nachfolge in methodischer Hinsicht kaum vergleichbar sind. Das muss nicht bedeuteten, dass Bonhoeffer die Methode der Nachfolge, die er ja auch in ähnlicher Weise in Schöpfung und Fall angewendet hat, nun indirekt in Frage stellt (vgl. WE 542); es offenbart aber die Verschiebungen in Bonhoeffers später Theologie, die einerseits den Weltbegriff, andererseits aber dann notwendigerweise auch die Hermeneutik betreffen. Insbesondere letztere bedarf allerdings noch genauer und umfassender Analysen. 57 Vgl. dazu die vorbereitenden Zettelnotizen ZE Nr. 63–65.67–69. 58 Der Vers I Kor 7,6, den Bonhoeffer nach Auskunft der Herausgeber (E 39178) auf einem der Tegeler Zettel notiert hat dürfte wohl sachlich zu dem Kapitel über „Das Ethische und das Christliche als Thema“ gehören. Das Charisma, von dem im folgenden Vers die Rede ist, weist wieder in die Richtung der Tugenden; sollte Bonhoeffer den Kontext von V. 7 mit gemeint haben – was allerdings sehr unsicher ist – wäre hier also noch am ehesten an das geplante Kapitel vom Guten zu denken. 59 Überblickt man die Zeiträume der Arbeit an der Ethik im Kontext der übrigen Tätigkeiten Bonhoeffers – besonders als Teil des Widerstandszirkels der Abwehr (DB 811–878; E 16 f.457–469) –, so zeigt sich deutlich, dass die Vollendung der Konkretion des Vorletzten, des „Menschsein[s] und Gutsein[s]“ (E 157), aus äußeren Gründen zunächst nicht erfolgt ist, während es umgekehrt keinen Hinweis darauf gibt, dass z. B. das Kapitel über das Gute resp. „Gutsein“ ganz hätte gestrichen werden sollen. Eine solche Streichung hätte zudem auch den bedeutenden, aber unvollendeten, langen Teil über die „Natürlichen Rechte“, also das „Menschsein“, sowie die Schlusspassagen von „Die letzten und die vorletzten Dinge“ betroffen. Die Herausgeber haben es daher m. E. zu Recht in ihren Gliederungsentwurf aufgenommen (E 455). Dann liegt freilich die Vermutung nahe, dass jedenfalls Aspekte der „paulinischen Ethik“ (s. o.) in dieses Kapitel über das „Gutsein“ eingeflossen wären. 60 Schilling, Moraltheologie II, vgl. WE 51. 61 Neben dem Kapitel vom „Guten“ sind besonders die Mandate und die natürlichen Rechte zu nennen.

III. Gesetz und Gebot

329

dann auf die Vertiefung und Ergänzung von schon Geschriebenem, etwa der vier Mandate, oder auf biblische Fundierung des noch zu schreibenden, aber bereits geplanten Abschnitts über das zum Glauben gehörige „ultimum potentiae“, das „Seinkönnen“ im Sinne einer Tugendethik zielen62. Schließlich wäre es auch möglich, dass die Arbeiten über die paulinische Ethik in das Gesetzes-Kapitel eingeflossen wären. Denn: „Dekalog und Bergpredigt [sc. und die paulinische Ethik] sind […] nicht zwei verschiedene ethische Ideale, sondern der eine Ruf zum konkreten Gehorsam gegen den Gott und Vater Jesu Christi.“63 Wenn auch die Überlegungen zu Inhalt und Funktion des Gesetzeskapitel zu keinen sicheren Ergebnissen kommen können, weil Bonhoeffer eben nicht mehr imstande war, seine Pläne zur Ethik ganz zu verwirklichen, so liegt es also immerhin im Bereich des Möglichen oder vielmehr Wahrscheinlichen64, dass der Gliederungsvorschlag der Herausgeber vollständig ist und das Kapitel über das Gesetz den Abschluss der gesamten Ethik bilden sollte. Das ‚Gesetz‘ erst ganz am Schluss und unmittelbar nach dem ‚Gebot‘ und den vorangehenden Abschnitten zu Rechtfertigung und Versöhnung und ihrer Wirklichkeit in der Welt und der Existenz des Menschen65 zu behandeln, weist dann freilich auf eine sachliche Nähe zu Barths Gesetzesbegriff66 hin, die sicherlich auch beabsichtigt ist. Andererseits ist wiederum die Tatsache, dass überhaupt ein ganzes Kapitel zum ‚Gesetz‘, in der zuvor entwickelten Bedeutung des Pflichtmäßigen, des philosophischen „Sollens“67, geplant war, ein deutlicher Hinweis auf die lutherische Bindung Bonhoeffers. Gerade im Hinblick auf dieses zuvor nicht in Erscheinung getretene Thema, das Gesetz und seinen mehrfachen Gebrauch, hat zweifellos auch das nur wenig vorher verfasste Gutachten zum primus usus legis in den lutherischen Bekenntnis-

62

ZE Nr. 64. E 361. 64 Unter der sehr wahrscheinlichen Voraussetzung, dass keine Kapitel zu den bereits geplanten oder geschriebenen hinzu gekommen wären, kann kaum etwas anderes angenommen werden, weil sonst der gesamte Komplex „Das Ethische und das Christliche als Thema“, „Das konkrete Gebot und die göttlichen Mandate“ und „Das Gesetz“ an einer völlig anderen Position innerhalb der systematischen Gliederung zu stehen käme, was angesichts der thematischen Schwerpunkte dieser und der übrigen Kapitel kaum sinnvoll wäre. Vgl. auch neben dem Gliederungsvorschlag der Herausgeber (E 455) die Synopse der früheren Anordnungen (E 470), welche beide „Das Ethische und das Christliche als Thema“ und „Das konkrete Gebot und die göttlichen Mandate“ hintereinander an das Ende der Ethik stellen – trotz recht unterschiedlicher Anordnungen der übrigen Manuskripte. 65 S. das Einleitungskapitel „Die Liebe Gottes und der Zerfall der Welt“, das als Ansatzpunkt für die Ethik eindeutig und bestimmt die geschehene Versöhnung voraussetzt (A.II.5.a). Dies wird in den übrigen Kapiteln entfaltet, bevor die Konkretionen folgen. 66 Vgl. vor allem EuG. 67 E 368 ff. S. dazu das Folgende. 63

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C. Die Formen des Guten

schriften68 Bonhoeffers theologische Reflexion beeinflusst69. Es könnte also noch vor jeder genaueren Analyse gemutmaßt werden, dass Bonhoeffer in der letzten Phase der Ethik den zuvor zwar verwendeten, aber nicht näher explizierten Gesetzes- bzw. Gebotsbegriff mit der Intention einer Vermittlung zwischen Barth und Luther ausdifferenzieren wollte.

1. Das Gutachten zum primus usus legis Um das Verhältnis Bonhoeffers zu Luther und der lutherischen Tradition einerseits und zu Barth andererseits an diesem Punkt, dem Begriff des göttlichen Gesetzes, genauer zu verstehen, reichen allerdings die knappen Aussagen der Ethik kaum aus. Es muss darum auch ein Blick auf das parallel verfasste Gutachten zum primus usus legis in den Bekenntnisschriften geworfen werden, auch wenn eine Interpretation der Ethik durch das Gutachten nur eingeschränkt möglich ist70. Auffällig ist in dem Gutachten vor allem, dass Bonhoeffer ungeachtet seiner Kritik an der Uneindeutigkeit des usus-Begriffs an der damit in den Bekenntnisschriften bezeichneten dreifachen Gestalt des Gesetzes festhalten will: „Die Verkündigung des Gesetzes enthält immer alle drei Elemente. Sie wirkt, je nach Gottes Willen und [!] je nach dem Hörer, in verschiedener Weise, zum Tun der äußeren Werke, zur Buße, zum neuen Gehorsam.“71

Wenn Bonhoeffer sich damit bewusst in die lutherische Tradition stellt, so kann dies auch im Blick auf den Gesetzesbegriff der Ethik nicht ignoriert wer68

DBW 16, 600–619. Es ist darum auch sicher kein Zufall, dass den terminologischen Verschiebungen des Gesetzesbegriffs sowie den Planungen eines eigenen Kapitels zum ‚Gesetz‘ die Arbeiten an dem Gutachten zum primus usus legis in den lutherischen Bekenntnisschriften unmittelbar vorangegangen sind (vgl. E 17: Terminus a quo für das Gutachten ist der 10. August 1942, die erste Sitzung der „Primus-usus-legis“-Kommission der ApU-Synode [vgl. E 466]; terminus ad quem ist deren zweite Sitzung am 15. März 1943, auf der Bonhoeffer das Gutachten vorgetragen hat. „Das Ethische und das Christliche als Thema“ und „Das konkrete Gebot und die göttlichen Mandate“ sind ab Anfang 1943 entstanden.). 70 Nicht nur, dass Bonhoeffer sich ja trotz aller in dem Gutachten geäußerten vorsichtigen Kritik als lutherischer Theologe den Bekenntnisschriften verpflichtet fühlt. Das Gutachten hat schließlich auch einen Auftraggeber, die Bekenntnissynode der altpreußischen Union (DBW 16, 6001), der bei aller wissenschaftlichen Freiheit zumindest manche Formulierungen indirekt beeinflusst haben mag. Schließlich unterscheidet sich die Terminologie des Gutachtens signifikant von derjenigen der Ethik. Bonhoeffer hat in dieser bewusst auf den traditionellen Sprachgebrauch der Bekenntnisschriften verzichtet, offenkundig, um Missverständnisse, die sich dadurch nahe legen könnten, zu vermeiden (vgl. das Resümee zum Gutachten, DBW 16, 618 f.). Das hat aber notwendigerweise sachliche Konsequenzen (oder: Voraussetzungen, ganz wie man will). 71 DBW  16,  604., vgl. 618 f. Dass Bonhoeffer anders als Luther eine Freiheit des Menschen zur Absage an das in Christus angebotene Heil lehrt, zeigt sich an Formulierungen wie dieser. Vgl. dazu ausführlicher N 45–67, sowie Barth, Nachfolge, 35–37 mit Anm. 73. 69

III. Gesetz und Gebot

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den, wenn auch schon aufgrund der veränderten Terminologie sowie natürlich aufgrund der Kritik, die er in dem Gutachten an dem Sprachgebrauch der Bekenntnisschriften äußert, keine vollständige Übertragung des lutherischen triplex usus legis auf jenen möglich ist. Für Bonhoeffers Interpretation des ersten Elements der Gesetzesverkündigung nach den Bekenntnisschriften ist zudem eine Prämisse leitend, die wohl dem theologischen Einfluss Barths entstammt und eine charakteristische Differenz nicht nur zum Denken Luthers, sondern auch der lutherischen Tradition begründet. Es handelt sich dabei um die immer festgehaltene Bestreitung der Geltung und Erkennbarkeit eines Naturrechts resp. einer weltlichen Gerechtigkeit als einer eigenen, allgemeinen Erkenntnis- und Handlungssphäre72. Zwar referiert Bonhoeffer in dem Gutachten die Auffassung der Bekenntnisschriften, wonach der primus usus legis resp. der Dekalog und die lex naturalis identisch seien73. Am Ende freilich moniert er, dass „[d]as Verhältnis der Predigt des primus usus zum natürlichen Gesetz […] nicht geklärt“ sei und „[i]n der vorliegenden Gestalt […] zu einer falschen Theologie der Ordnungen“ Veranlassung geben könne74. Auch das Postulat eines eingeschränkt gültigen und erkennbaren Naturrechts, wie es für Luther charakteristisch ist, erscheint Bonhoeffer also offenkundig verfehlt, weil es die Gefahr einer ideologisch verzerrten Schöpfungsordnungstheologie in sich berge75. Die lutherische Differenz der existentiellen Sphären, in denen der Mensch lebt und agiert und welcher die Unterscheidung von weltlicher Gerechtigkeit und Gottesgerechtigkeit korrespondiert, das Existieren coram Deo und coram hominibus76, muss darum von Bonhoeffer mindestens modifiziert werden. Denn Luther kennt, dieser Differenz entsprechend, durchaus ein Naturrecht, welches das Mittel des göttlichen Regierens im Bereich der iustitia civilis resp. der weltlichen Obrigkeit ist und insofern eine eigene Legitimation und einen eigenständigen Zweck hat, wenn ihm auch ganz und gar keine persönliche Heilsbedeutung zukommt77. Bonhoeffer kommt daher in seiner Darstellung und Bewertung der lutherischen Lehre vom primus usus legis zu einem Ergebnis, das bei genauem 72

Vgl. E 358 f.363. DBW 16, 608 f. 74 DBW 16, 618. 75 Vgl. auch DBW 16, 605: „Inhaltlich ist im primus usus legis das ganze Gesetz enthalten (AC [=ApolCA] IV 8) […] Dennoch enthält die erste Tafel bereits den Hinweis darauf, daß auch die zweite nicht allein durch Werke erfüllt werden kann, also eine Überwindung des primus usus (AC [=ApolCA] IV 8, 35, 130).“ 76 Dazu vgl. Ebeling, Lutherstudien II.3, 387 ff. u. ö. 77 Deutlich ausgesprochen hat er dies in der wichtigen Schrift „Von weltlicher Obrigkeit“ (1523, WA 11, 229–281), deren Anliegen es ist, den Bereich politischer Herrschaft dem Zugriff der (katholischen) Kirche ebenso zu entziehen wie umgekehrt die Freiheit des nicht mit äußeren Mitteln bezwingbaren individuellen Gewissens als Ort des geistlichen Wirkens Gottes zu bewahren. Vgl. auch die Paraphrase der Lehre vom Gesetz in den Bekenntnisschriften DBW 16, 605 ff., bes. 608 f. Dazu vgl. vor allem CA IVX (par Apol). 73

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C. Die Formen des Guten

Hinsehen überrascht: der primus usus legis ist nämlich nicht einfach die Predigt der allgemeinen Werke zur Herstellung einer äußeren, von der geistlichen Gerechtigkeit streng zu unterscheidenden, zwangsbewehrten öffentlichen Gerechtigkeit, sondern der Aufruf an den Christen zur Arbeit an der iustitia civilis. Es geht also um die „durch den primus usus auferlegte weltliche Verantwortung“ des Christen78, die dadurch als eine theologisch bzw. christologisch qualifizierte, und gerade nicht allgemein-natürliche, quasi-säkulare, Weltlichkeit gekennzeichnet wird. Wenn also mit dem primus usus die „Verwirklichung bestimmter Zustände“ intendiert wird, d. h. wenn die „weltliche[ ] Ordnung nach Gottes Willen“ statt „der Christ in weltlicher Ordnung“79 thematisch ist, ergibt sich allerdings als Konsequenz, dass der primus usus legis im Grunde nichts anderes als die inhaltliche Erfassung des von Gott mit seinem Gesetz Gewollten ist und darum unmittelbar mit dem tertius usus legis zusammengehört; letzterer nämlich wird von Bonhoeffer inhaltlich nicht näher bestimmt, sondern als „Erfüllung des Gesetzes (durch Christus und den Glauben)“80 definiert. Dies kann nur der unausgesprochenen Intention Bonhoeffers geschuldet sein, Luther und die lutherische Tradition durch Barth zu interpretieren und folglich einen primus usus legis im Sinne eines auch abgesehen von der Christus-Predigt gültigen und einsehbaren allgemeinen Gesetzes zu verwerfen. Dennoch folgt er den Bekenntnisschriften soweit, dass er die Notwendigkeit des ersten Gebrauchs des Gesetzes in einer spezifischen Differenz zu seinem tertius usus bekräftigt. Dabei interpretiert er diese erste Gestalt81 allerdings in charakteristischer Weise um. Denn wenn er feststellt, dass der primus usus „das Interesse der christlichen Verkündigung am Inhalt des Gesetzes [bezeichnet]“82, so entspricht dies gerade nicht der lutherischen Auffassung – und erst recht nicht der reformierten: der Inhalt des Gesetzes und seine Bedeutung für den Gläubigen wird nämlich durch den tertius usus legis bezeichnet, demzufolge das Gesetz in Christus erfüllt ist und der darin von der Sünde befreite Christ dieses nun als Richtschnur des Handelns gebraucht83. Der primus usus dagegen hat bloß funktionalen Sinn, seine ursprüngliche Inhaltsidentität mit 78

DBW 16, 614. DBW 16, 617. 80 DBW 16, 618. Darum kann Bonhoeffer schreiben: „Die Stellungnahme der Bibel zu den Ordnungen der Welt geschieht vorwiegend in konkreter Unterweisung der Gemeinde (Römer 13. Philemon. Haustafeln. Lasterkataloge)“. Mahnungen das Verhalten der Gemeindeglieder nach außen betreffend werden hier unter der Hand mit den Mahnungen das Verhalten nach innen betreffend in eins gesetzt. 81 Vgl. DBW 16, 618. 82 DBW 16, 617. 83 Vgl. dazu exemplarisch FC SC VI: De tertio usu legis divinae. Zu der Frage, ob, bzw. der Auffassung, dass Luther – jedenfalls der Sache nach – einen tertius usus legis vertreten habe, vgl. Wenz, Bekenntnisschriften II, 634 ff.71. 79

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dem Gottesgesetz, das erst im tertius usus zu seiner wahren Gestalt für den Gläubigen kommt, ist darum für den Nichtgläubigen nicht erkennbar und entsprechend bedeutungslos – jedenfalls aus dessen Perspektive84. Von Bonhoeffer wird demgegenüber der primus usus legis nicht mehr als eigene Weise der Erkenntnis und des Umgangs mit dem Gottesgesetz gedeutet, welcher grundsätzlich allen Menschen möglich ist und eine allgemeine Grundordnung des menschlichen Zusammenlebens ermöglicht85, sondern als das Handeln der Kirche nach außen. Um dann freilich eine kirchliche Heteronomie über die Welt zu verhindern, muss er die Verkündigung des primus usus der Kirche bestimmten Restriktionen unterwerfen, die im Zusammenhang der ursprünglichen lutherischen Auffassung überraschen. Geht es nämlich um die eigentlich nur von Christus her, aus dem Raum der Kirche heraus, einzusehende Gestaltung der Welt, dann ist das mögliche und notwendige Verhalten der Kirche gegenüber einer als begrenzt eigenständig behaupteten Welt nur der Rat und die Strafandrohung, nicht aber eine inhaltliche Verkündigung der jeweiligen konkreten Gestalt der iustitia civilis: Die Welt ist dann zwar nicht Ursprungsort der Erkenntnis ihrer wirklichen Gestalt, aber dennoch selbst, sozusagen in abgeleiteter Weise, Raum der Christuserkenntnis, wie umgekehrt die Kirche zwar Christus verkündigt, aber nicht konkrete Handlungsanweisungen erteilen kann: „Auf dem Gebiet der iustitia civilis gibt es eine mögliche und notwendige Zusammenarbeit zwischen Christen und Nichtchristen zur Klärung bestimmter Aufgaben. Die aus dieser Kooperation entstehenden Ergebnisse haben wegen ihrer wesentlich verschiedenen Begründungen nicht den Charakter der Verkündigung des Wortes Gottes, sondern der verantwortlichen Beratung oder Forderung aufgrund menschlicher Erkenntnis […]. Während sich die Konkretion innerhalb der Verkündigung wesentlich auf das Strafen konkreter Sünden bezieht, wird die Konkretion auf dem Gebiet der verantwortlichen Beratung und Forderung auch zu positiven Ergebnissen kommen können und müssen.“86

Das frühere einseitige Postulat nach einer vollmächtigen Verkündigung des konkreten Gebots durch die Kirche wird damit durch ein differenzierteres Konzept ersetzt: die Kirche kann nun wohl die Grenze aufrichten, sie könnte also sagen: „geh nicht in diesen Krieg“87, sofern sie diesen Krieg eben für die Grenzüberschreitung hält, welche das menschliche Leben fundamental 84 Dass das Gesetz in seinem primus usus für den Ungläubigen nicht nur als Zwangsgewalt, sondern auch zur Selbstgerechtigkeit wirken kann, ist eine Einsicht, die diesem ja gerade verschlossen bleibt, obwohl er das Gesetz in der Funktion der ordnenden Zwangsgewalt als gültig anerkennt (vgl. exemplarisch Honecker, Einführung, 65 f.). 85 Vgl. dagegen Luthers Einschätzung der Fähigkeiten der Vernunft im Hinblick auf das Existieren coram hominibus: WA 39.1, 175: Et sane verum est, quod ratio omnium rerum res et caput et prae caeteris rebus huius vitae optimum et divinum quiddam sit. Melanchthon ist noch um einiges optimistischer. S. auch Wenz, Bekenntnisschriften II, 437 ff., bes. 444.462 f. 86 DBW 16, 617 f. (meine Hervorhebung). 87 DBW 11, 333.

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in Frage stellt. Allerdings kann sie nicht positiv politisch verkündigen, d. h. sie kann nicht sagen: „geh in diesen Krieg“88 – und zwar auch nicht in der Gestalt des ‚Gebots‘ (im engeren Sinne) an den Gläubigen. Denn die Kirche verfügt nicht aus sich, d. h. aus ihrer Christusverkündigung heraus, über die politischen Spezialkenntnisse, die für eine solche Entscheidung erforderlich sind. Sie liegen in diesem Fall bei dem Einzelnen, sofern er Staatsbürger ist, bzw. genauer bei dem Staatsmann, welcher die ermächtigte Autorität für den Bürger ist und dessen Gebot – möglicherweise! – vom Einzelnen als bindend erfahren wird89. Es ist darum kein Zufall, sondern bloße Konsequenz des differenzierteren Ansatzes, dass die Wendungen vom durch die Kirche verkündigten konkreten Gebot ab der Zeit der Ethik nicht mehr auftauchen. Bei aller für das Denken des Bonhoeffer der Ethik geradezu konstitutiven Ablehnung einer sei sie auch noch so begrenzten Schöpfungs- resp. Schöpfungsordnungstheologie90, hat er demnach offenbar während der Arbeit an dem Gutachten über die lutherische Bekenntnistradition zum ersten Gebrauch des Gesetzes die Einsicht gewonnen, dass es, salopp gesprochen, nicht nützlich ist, ‚das Kind gleich mit dem Bade auszuschütten‘. Das bedeutet: ein funktionales Äquivalent zum Naturrecht muss schließlich auch Bonhoeffer postulieren, um der umgekehrten Gefahr eines Schwärmertums zu entgehen und einen geregelten Austausch über die von Gott gewollte iustitia civilis zwischen Kirche und Gesellschaft begründungstheoretisch zu ermöglichen. Dies geschieht in der Strafandrohung des geistlichen Amts und der diakonischen Beratung als den beiden Modi des primus usus legis. Die damit notwendig vorausgesetzte indirekte bzw. relative Eigenständigkeit des „weltlichen Regiment[s]“91 müsste dann allerdings anders als bei Luther begründet werden, auch wenn Bonhoeffer sich hier durch die Verwendung der Terminologie als Luther-Ausleger verstanden wissen will92. In dem Gutachten fehlen dazu aber noch die entscheidenden Begründungsschritte – im Unterschied zur Ethik.

2. Die späten Fragmente der Ethik Versucht man nun, die teils ähnlich lautenden, aber terminologisch verschiedenen späten Aussagen der Ethik zum Gesetzesbegriff unter Berücksichtigung der Erläuterungen und Bewertungen, die Bonhoeffer in diesem Gutachten vorgenommen hat, zu entschlüsseln, so ergibt sich Folgendes: Die lex divina hat einen Inhalt, nämlich die Gestalt der Welt in Christus, also die „Wirk-

88

Ebd. Dazu s. ausführlicher u. C.III.4.a sowie E 374 ff. 90 S.o. B.II.4.c. 91 DBW 16, 617. 92 Vgl. dazu WA 11, 229–281. 89

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lichkeit der Welt“93; sie verwirklicht sich aber in zweifacher Form, nämlich als ‚Gesetz‘ im engeren Sinne und als ‚Gebot‘, d. h. als „gnädige Weisung“94. Ersteres ist damit zwar nicht direkt mit dem traditionellen primus usus legis der lutherischen Bekenntnisschriften identisch, weil es bloß „negativ“, ein „Sollen“ resp. Nichtsollen ist, nämlich die Warnung vor der Übertretung95; es deckt sich dafür aber mit dem in dem Gutachten proklamierten Modus der Verkündigung des primus usus durch die Kirche, der Strafandrohung96. Primär ist daher auch mit dem ‚Sollen‘ der Ethik nicht der secundus resp. praecipuus usus gemeint, welcher den verzweifelten Sünder zur Annahme des Gnadenworts bereit macht. Es hat vielmehr eine bestimmte Funktion im Hinblick auf den Inhalt des göttlichen Willens, indem es anzeigt, dass dieser in einer konkreten Situation fundamental und existenzbedrohend verfehlt wird. Als solches kann es dann aber durchaus auch allgemein eingesehen werden, einfach, weil es immer dann zur Geltung kommt, wenn die elementarsten Erfordernisse und Regeln des menschlichen Zusammenlebens in Frage gestellt werden. „Das ethische Phänomen ist seiner inhaltlichen wie seiner erlebnismäßigen Seite nach ein Grenzereignis. Das ‚Sollen‘ gehört seinem Gehalt und seinem Erlebnis nach dorthin, wo etwas nicht ist […].“97

Darum zeichnet sich das allgemeine, aber begrenzte Phänomen des Sollens durch seinen konstitutiven Bezug zu allgemeinen Normen oder Werten aus, welche die je geforderte Entscheidung im ethischen Konfliktfall leiten98. Bonhoeffer nimmt damit seine prinzipielle Kritik an der Konzeption eines Naturrechts zwar nicht ausdrücklich zurück, gesteht aber indirekt zu, dass eine allgemeine Erkenntnis bestimmter Grundzüge des „Lebensgesetzes“99 93 S. dazu E  30–61. Statt ‚Wirklichkeit der Welt‘ gebraucht Bonhoeffer in dem Gutachten mit einer charakteristischen Uminterpretation den traditionellen Begriff der iustitia civilis. Diese ist gerade nicht ein Relikt der gefallenen Schöpfung und als solches allgemein verfügbar. 94 DBW 16, 619. 95 E 385 u. ö. 96 Vgl. DBW 16, 617 f. 97 E 368 f. 98 E 367 f. 99 E 282; vgl. auch DBW 15, 502, wo dieser Begriff erstmals in der Meditation über Ps 119 verwendet wird. Der Gebrauch dieses Begriffs illustriert besonders deutlich Bonhoeffers Anspruch: das ‚Lebensgesetz‘ ist in Christus begründet und nur von ihm her empfängt jede Kreatur ihr Leben. Es gibt keine Lebensäußerungen, die nicht erst von Christus her wirklich und ganz erschlossen werden könnten. S. auch DBW 16, 559, wo das „Lebensgesetz“ allerdings anders als an den anderen Stellen nur mit dem Dekalog identifiziert und als „Rahmen“ des „weltlichen Lebens“ definiert wird. An den beiden anderen Stellen ist das Lebensgesetz eindeutig dem übergeordneten ‚Gebot‘ zugeordnet und der Dekalog in der Funktion der ‚Grenze‘ nur ein bestimmter, abgeleiteter Modus. Es scheint sich hier allerdings um eine bloße Unsorgfältigkeit in den Formulierungen zu handeln, nicht aber um eine sachliche Differenz, wie der Blick auf den Kontext zeigt.

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C. Die Formen des Guten

jedenfalls in negativer Form möglich ist ohne die bewusst erfahrene personale Bindung an Christus. Er macht daher hier aus der systematisch-philosophischen Perspektive ein Zugeständnis an die „kantisch-fichtesche“100 Pflichtethik mit ihrem Begriff des unbedingten moralischen Sollens: zwar trifft diese das „Christliche“, also das Wesen der christlichen Ethik, gar nicht, weil sie eben von einem Prinzip ausgeht, nämlich dem Prinzip des guten Willens bzw. des unbedingten Pflichtbewusstseins101; dennoch hat sie ein eingeschränktes Recht: sofern sie nämlich die Grenzen bezeichnet, welche der Mensch nicht überschreiten darf, wenn er nicht sich selbst und alle Gemeinschaft zerstören will. Damit ist natürlich der strenge Pflichtbegriff, wie er sich bei Kant und Fichte findet, im Grunde aufgelöst, denn er wird ja nun gerade nicht mehr formal gefasst, sondern vom Inhalt her bestimmt: Nur wenn bestimmte Grundnormen eingehalten werden, wie sie vorzüglich der Dekalog benennt, ist menschliche Existenz überhaupt – ganz äußerlich betrachtet – möglich, auch wenn ihr wahrer Sinn noch gar nicht zur Geltung gekommen ist, weil er in dem von Christus begründeten Gottesverhältnis besteht102. Darum impliziert dieses Zugeständnis, wie es oben genannt wurde, auch keine Auflösung des ursprünglichen ethischen Ansatzes Bonhoeffers, in dem Prinzipien, Normen und Werte keine absolute Bedeutung haben können. Denn mit dem Postulat einer Geltung bestimmter Grundnormen an der Grenze der Existenz ist diese selbst gar nicht wesentlich betroffen, weil sie sich nur innerhalb dieser Grenzen wirklich vollzieht. Das ‚Gesetz‘ als Grenze der Existenz ist darum nicht nur ein allgemein verfügbares Sollen aufgrund bestimmter verkehrter Zustände, sondern als das Erlebnis dieses Sollens auch – erkenntnistheoretisch betrachtet  –  der Moment der im Selbst gegründeten subjektivistischen Reflexion, die den echten Lebensvollzug unterbricht und damit anzeigt, dass der Mensch aus dem Gottesverhältnis heraus gefallen ist. „Das ‚Ethische‘ kann dieses Leben immer nur unterbrechen wollen, es jeden Augenblick neu vor den Konflikt seiner Pflichten stellen, das ‚Ethische‘ kann dieses Leben immer nur sich selbst gegenüber fragwürdig werden lassen, es kann es nur auflösen in unzählige Einzelentscheidungen.“103

Die Funktion dieses Sollenserlebnisses ist, sekundär, gleichwohl nicht nur die Herstellung eines bestimmten Zustandes durch das Verbot der Grenzüberschreitung, sondern darüber hinaus auch die Erkenntnis der Sünde und die 100

E 386. GMS BA 1; für Fichte vgl. Schulz, Fichte, 27 f. 102 Vgl. E 362: Die Grenzen, innerhalb deren menschliche Existenz und – vor allem – die Christusverkündigung möglich ist, sind „in allgemeinster Form im Dekalog gezogen“. Freilich müssen diese allgemeinen Grenzen dann je situativ konkretisiert werden. 103 E 387 f. S. auch 369: Das Erlebnis des Sollens als die „profane Analogie zur Erbsündenlehre“. S. dazu o. A.II.2.a, wo ausgeführt wird, dass in Bonhoeffers Auffassung der ethische Konfliktfall resp. sein Erlebnis Kennzeichen des entzweiten Menschen unter der Sünde ist. 101

III. Gesetz und Gebot

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Zucht auf Christus hin104. Es hat also neben, d. h. genauer in seiner inhaltlichen Funktion, der Anzeige einer fundamentalen Verfehlung, zugleich die Funktion der „Anklage“, Demütigung und „Selbstbescheidung“105. Der Begriff des ‚Gesetzes‘ in den späten Kapiteln der Ethik spiegelt so unmittelbar die traditionellen Elemente des zwangsbewehrten primus usus, des secundus usus resp. usus elenchticus und des usus paedagogicus, den tertius usus dagegen nur mittelbar, sofern dieser nicht als Negation des Verbots, sondern als Positivität der Erlaubnis106 erfahren wird und darum das Gesetz nur als seine Grenze107 inkludiert. Die sachliche Vorordnung des Gebots im Sinne Barths wird demnach von Bonhoeffer ganz ausdrücklich festgehalten, der traditionelle primus usus allerdings nicht ganz eliminiert, sondern (einerseits108) auf die bloße Grenzziehung, die Negativität des Sollens, weil etwas nicht ist, reduziert. Das ‚Gebot‘ wiederum, die „Erlaubnis“109, ist als Anverwandlung des reformatorischen, besonders aber für die reformierte Tradition charakteristischen110 Begriffs des tertius usus legis zu verstehen und – hierin Barth folgend – der Ausgangspunkt und das Zentrum der Gesetzeslehre, weil nur von ihm her der Inhalt des Gesetzes wahrhaft, d. h. jeweils konkret erfasst werden kann111. Es ist darum, wie Bonhoeffer ganz explizit betont, auch nicht mit dem Erlaubnis-Begriff der idealistischen Pflichtethik zu verwechseln, die damit das 104 Dies allerdings nur andeutungsweise, vgl. z. B. E 369.385.388 f. Dass der secundus resp. praecipuus usus legis von Bonhoeffer kaum je explizit thematisiert wird, dürfte mit seiner Ablehnung des „Methodismus“ zusammenhängen, den er insbesondere bestimmten Richtungen der Existenzphilosophie sowie der Psychotherapie (ohne Spezifizierung) vorwirft (vgl. WE 465.477 ff.503 f.511 f.548 f.; E 140 f. S. auch Krötke, Weltlichkeit, 17). Nicht, dass er einen solchen Luther selbst unterstellte, ganz im Gegenteil (vgl. E 140 f.; N 36–40) – aber die nachreformatorische Kirchengeschichte und besonders die geistesgeschichtlichen Entwicklungen der Neuzeit haben, darin folgt Bonhoeffer ausdrücklich Kierkegaard, zu einer Verkehrung der ursprünglichen Intention Luthers geführt. Vgl. neben der deutlich von Kierkegaard beeinflussten Nachfolge (bes. N 29 ff.) auch die Äußerung aus Widerstand und Ergebung (WE 179 f.): „Kierkegaard hat schon vor 100 Jahren gesagt, daß Luther heute das Gegenteil von dem sagen würde, was er damals gesagt hat. Ich glaube das ist richtig – cum grano salis.“ 105 E 369. 106 E 381 ff. 107 E 368 f.372 u. ö. 108 Andererseits hat er noch die schon in dem Gutachten angesprochene diakonische Funktion, die sich allerdings von dem ‚Gesetz‘ in Bonhoeffers Interpretation kategorial unterscheidet. Dazu s. u. in diesem Abschnitt. 109 E 384 ff. 110 Vgl. exemplarisch Calvin, Institutio III. De modo percipiendae Christi gratiae, et qui inde fructus nobis proveniant, et qui effectus consequantur (I,369-II,198); Heidelberger Katechismus III. Von der danckbarkeyt (BSRK 706–719). 111 Dabei hat Bonhoeffer offenbar nicht nur das Konzept, sondern auch die begriffliche Zuspitzung, derzufolge das Gebot Erlaubnis sei, von Barth übernommen. Vgl. KD II/ 2, 648 ff., bes. 650: „Die Form, durch die das Gebot Gottes sich von allen anderen Geboten unterscheidet […] besteht darin, daß es Erlaubnis ist: Gewährung einer ganz bestimmten Freiheit.“

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C. Die Formen des Guten

ethische Adiaphoron bezeichnet112. Vielmehr ist das ‚Gebot‘ deshalb Zentrum und Fundament der übrigen usus, weil es aus dem Glauben an die Versöhnung entsteht113. Die stellvertretende Erfüllung des göttlichen Gesetzes in Christus, an der der Glaubende teil bekommt114, ermöglicht ihm, Gottes Gesetz nicht als strenge Forderung, sondern als Freigabe des Lebensvollzugs vor Gott zu erfahren: „Das Gebot Gottes wird zu dem Element, ‚in‘ dem man lebt, ohne daß man sich dessen immer wieder bewußt würde.“115

Es entspricht darum weniger einem expliziten Auftrag als einer stetigen, aber untergründigen bzw. unreflektierten Führung im Leben, die als Befreiung von dem Zwang zur moralischen Höchstleistung und fortwährenden Selbstbeurteilung erlebt wird116. Im Gegenteil ist gerade dies die Verkennung des Sinns des göttlichen Gebots, welches den Menschen moralisch entlastet statt ihn zu belasten117. Dieser im eigentlichen Sinne elementare Charakter des 112 E 386 f.373 führt Bonhoeffer für diesen in seiner Auffassung verfehlten ErlaubnisBegriff der kantischen Pflichtethik als Beispiel Wilhelm Herrmanns Zugeständnis an die natürliche Existenz des Menschen an, das sich in dem letzten Abschnitt seiner Ethik unter dem Titel „Die sittlich erlaubte Erholung“ niedergeschlagen hat. Eine „groteske Überschreitung der Grenzen des ‚Ethischen‘“, wie Bonhoeffer konstatiert (ebd.). 113 Vgl. E 263: „[Die Worte] Jesu Christi [sind] also die Auslegung seiner Existenz und damit die Auslegung jener Wirklichkeit, in der die Geschichte zu ihrer Erfüllung kommt. Sie sind göttliches Gebot für das verantwortliche Handeln in der Geschichte, insofern als sie die in Christus erfüllte Wirklichkeit der Geschichte, die in Christus allein erfüllte Verantwortung für den Menschen, sind.“ Ähnlich auch bei Barth in Evangelium und Gesetz (EuG 87 f.): „Wir lesen aus dem, was Gott hier [sc. in Jesus Christus] für uns tut, ab, was Gott mit uns und von uns will […]. Gilt der Indikativ: ‚daß ich nicht mein, sondern meines getreuen Heilandes Jesu Christi eigen bin‘, dann ist eben dies sein Gelten die Aufrichtung der 10 Gebote, samt ihrer Auslegung in der Bergpredigt samt ihrer Anwendung in den apostolischen Weisungen.“ 114 Vgl. dazu E  34 f.: „Die Frage nach dem Guten wird zur Frage nach dem Teilhaben an der in Christus offenbarten Gotteswirklichkeit.“; 263: „[Die Worte Jesu Christi] sind göttliches Gebot für das verantwortliche Handeln in der Geschichte, insofern als sie die in Christus erfüllte Wirklichkeit der Geschichte, die in Christus allein erfüllte Verantwortung für den Menschen, sind.“ 115 E 385, vgl. DBW 15, 502. S. aber o. B.II.4.c und d: Bonhoeffer thematisiert in „Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]“ den bestimmten Fall der schwierigen, bewusst vollzogenen Entscheidung zu einer auf besonders herausfordernden Umständen beruhenden Tat. Diese ist aber, wie er nun nachträgt, nur ein möglicher Fall des freien, die Tat wagenden oder auch einfach nur unbewusst lebenden Gehorsams gegenüber dem Gebot, denn „alles [hat] seine Zeit […] essen, trinken, schlafen sogut wie bewußtes Sichentscheiden und Handeln, Arbeit und ausruhen, Zwecke erfüllen und zwecklos dasein, Pflichten genügen und Neigungen folgen, streben und spielen, entsagen und sich freuen […]“ (E 367). 116 Dazu E 384 f. 117 Vgl. dazu E 367.: „Es gehört zu den großen […] Torheiten der Ethiker, […] von der Fiktion auszugehen, als habe der Mensch in jedem Augenblick seines Lebens eine letzte unendliche Wahl zu treffen, als müsse jeder Augenblick des Lebens eine bewußte Entscheidung zwischen Gut und Böse sein […] Es ist diese Verkennung des geschichtlichen menschlichen Daseins, in dem alles seine Zeit hat […], die den Ethiker zum gefährlichen Quälgeist und Tyrannen, zum Narren oder zur tragikomischen Figur werden läßt.“

III. Gesetz und Gebot

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göttlichen ‚Gebots‘ führt dazu, dass es im alltäglichen Lebensvollzug ganz unterschiedliche Gestalt annehmen kann, also keineswegs beschränkt ist auf die sprachlichen Formen biblischer oder gar nur bestimmter neutestamentlicher Weisungen und Gebote. Diese stehen in Bonhoeffers Auslegung vielmehr für den Grundsinn des göttlichen Gesetzes, „das Gesetz der Gottes- und Nächstenliebe, wie es im Dekalog, in der Bergpredigt und in der apostolischen Paränese ausgelegt ist“118, sind also gerade nicht als allgemeine Handlungsanweisungen misszuverstehen, die notwendigerweise nicht den konkreten Menschen in der konkreten Situation seiner Existenz vor Gott betreffen119. Darum ist es aber auch nicht unbedingt erforderlich, das ‚Gebot‘ durch eine ausführliche Exegese etwa der Bergpredigt oder der paulinischen Paränesen zu erläutern. Dies wäre in Grenzen wohl möglich und sinnvoll, so lange solche Exegesen nicht mehr als Orientierungen für das Prüfen, d. h. für das den Menschen mit allen Fähigkeiten beanspruchende Empfangen des konkreten Gebots120, zu sein beanspruchen. Es könnte aber irreführen, weil es suggerieren würde, dass damit bereits das konkrete Gebot erfasst würde, was aber gerade das Gegenteil des von Bonhoeffer mit diesem Begriff Gemeintem wäre. Das ‚Gebot‘ ergeht nämlich nur aufgrund der personalen, also je aktuellen und konkreten Bindung an Christus in einer bestimmten Situation und entzieht sich dadurch jeder Verallgemeinerung121. „Gottes Gebot ist Gottes Rede zum Menschen und zwar in ihrem Inhalt wie in ihrer Gestalt konkrete Rede zum konkreten Menschen […]. Gottes Gebot kann nicht zeitund ortlos gefunden und gewusst, sondern nur in der Bindung an Ort und Zeit gehört werden. Gottes Gebot ist entweder bestimmt, klar, konkret bis ins Letzte oder es ist nicht Gottes Gebot.“122

Das Gebot entspricht damit dem begrenzten situationsethischen Ansatz, den Bonhoeffer im Rückgriff auf die Lebensphilosophie zu Beginn von „Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]“ ontologisch und in der geplanten Einleitung „Die Liebe Gottes und der Zerfall der Welt“ erkenntnistheoretisch begründet hat. Es ist verwiesen an die jeweilige Situation und kann deshalb nicht in abstrakten bzw. allgemeinen Sätzen ausgesagt, sondern nur je neu empfangen werden. Gleichwohl ist es nicht mit einer schwärmerischen Inspiration zu verwechseln, die „jeden Augenblick“ mit dem „Akzent der Ewigkeit“ auflädt, ebenso wenig, wie es hier um einen bloßen, inhaltsleeren Dezisionismus 118 E 282. Vgl. die eben zitierte nahezu gleiche Formulierung in Evangelium und Gesetz (EuG 88). S. außerdem ZE Nr. 9: „Liebe als Lebensgesetz“. 119 Vgl. E 263. 120 Dazu vgl. A.II.5.e; B.II.4.c. 121 Vgl. E 263.384: „Gottes Gebot […] ist immer ein konkretes Reden zu jemandem, niemals ein abstraktes Reden über etwas oder jemanden. Es ist immer Anrede, Beanspruchung […]“. S. dazu ausführlicher B.II.3. 122 E 382.

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C. Die Formen des Guten

geht123. Denn weil es aus der Christuswirklichkeit entsteht, die ja nicht allein das personale Verhältnis des Einzelnen zu Christus, sondern zugleich die Welt als Ganze, in ihrer Wirklichkeit für den Einzelnen, umschließt, ist das Gebot immer gebunden an Strukturen und Gestalten dieser Christuswirklichkeit: „Das Gebot Jesu Christi, des lebendigen Herrn, befreit das Geschaffene zur Erfüllung des ihm eigenen,  –  das heißt aber von seinem Ursprung, Ziel und Wesen in Jesus Christus her innewohnenden, – Gesetzes.“124

Dabei handelt es sich einerseits um die ‚Wesensgesetze‘, welche die Sachwelt in ihrer Beziehung auf Christus und den Menschen bestimmen125, und andererseits um die ‚Mandate‘ als diejenigen Strukturen der Wirklichkeit, in denen und auf die bezogen sich die gestalterische Existenz des Menschen grundsätzlich und immer vollzieht126. Dabei kommt den Mandaten nicht nur Bedeutung im Hinblick auf die konkrete Gestalt und die gebotene Gestaltung der Wirklichkeit zu; sie sind zugleich auch die je konkrete Vollzugsform des Verkündigens und Hörens des Gebotes, d. h. diejenigen Strukturen, in denen sich das Gebot als Anrede an den Menschen überhaupt ereignet127 und sein wirklichkeitsgestaltendes Tun freisetzt. Das Gebot ist so verstanden die Konkretion der Bedeutung der Wirklichkeits-Strukturen und -Gestalten für den Einzelnen in seiner jeweiligen und einmaligen Situation: Gebot und Wirklichkeit sind aufeinander verwiesen, sofern die Wirklichkeit sich dem Einzelnen nur über das Gebot erschließt und umgekehrt das Gebot das Wirklichwerden der Christuswirklichkeit128 im Tun des Einzelnen ermöglicht. Darum kann Bonhoeffer schon viel früher, nämlich bereits 1932, als das ‚konkrete Gebot‘ zum Thema seiner Theologie wird, prägnant und durchaus auch noch später für den Ansatz der Ethik passend formulieren, dass die Wirklichkeit das „ethische Sakrament“ sei129: „Was für die Verkündigung des Evangeliums das Sakrament ist, das ist für die Verkündigung des Gebotes die Kenntnis der konkreten Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist das Sakrament des Gebotes.“130

Das Gebot ist darum nur gültig, d. h. wirklich Gottes Gebot, in seinem wesentlichen Bezug auf die konkrete Situation des Hörens und die diese Situation wiederum bestimmende Christuswirklichkeit mit ihrer auf Christus

123

E 382.376. S. dazu A.II.5.e. E 406. 125 Dazu B.II.4.c. 126 Dazu C.III.4.a. 127 E 392 u. ö. 128 Vgl. E 34 (im Original kursiviert): „Das Problem der christlichen Ethik ist das Wirklichwerden der Offenbarungswirklichkeit Gottes in Christus unter seinen Geschöpfen […]“. 129 DBW 11, 334. 130 Ebd. 124

III. Gesetz und Gebot

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ausgerichteten Ordnung der Wesensgesetze und den zur Gestaltung freigegebenen Strukturen der Mandate131. Die Implikationen dieser Konstruktion sind bereits in anderen Kontexten zur Sprache gekommen: das Gebot evoziert nämlich gerade wegen seiner Bindung an die Wirklichkeit beim Menschen das Prüfen, den Akt also, in dem aus der Christusbeziehung die Wirklichkeit in ihrem Wesen und zugleich als Gestaltungsaufgabe empfangen wird. Dass sich dieser ganzheitliche Akt, das Hören und Prüfen und Tun132, dann aber durchaus nicht immer wissentlich als Akt des auf Christus ausgerichteten Bewusstseins vollzieht, sondern je nach Situation von mehr oder weniger großer kognitiver Zugänglichkeit ist, folgt aus seiner Begründung in der Gesamtausrichtung der Existenz, die schließlich jeden Akt bestimmt, und sei es auch das Aufheben eines Strohhalms133; es entspricht aber auch ganz einfach der Wirklichkeit der menschlichen Existenz, die oft ganz schlicht aus den einfachen und selbstverständlichen Tätigkeiten des menschlichen Lebens besteht und zu deren Strukturierung und Ordnung die Mandate dienen134. Folgt Bonhoeffer also mit der Verwendung des Gebotsbegriffs zunächst dem traditionellen reformatorischen tertius usus legis, demzufolge das Gesetz für den Glaubenden keine zwingende, sondern befreiende Bedeutung hat und die Liebe als Sinn des Gesetzes verwirklicht135, folgt er auch der sachlichen Vorordnung dieses dritten Gebrauchs vor den beiden anderen, welche Barth aufgrund seines versöhnungstheologischen Ansatzes vertritt136 – und zwar bis 131 Sicherlich ist der Gesetzes- und Gebotsbegriff in dieser Form entstanden durch bzw. aufgrund von Bonhoeffers Verbundenheit mit dem militärischen Widerstand innerhalb der Abwehr / dem Amt Canaris. Er ist aber wohl kaum erst mit der großen Herausforderung des Attentatsversuchs auf Hitler für Bonhoeffer persönlich dringend geworden, um seine Doppelexistenz äußerlich und vor allem innerlich durchhalten zu können. Symptomatisch ist vielmehr eine nur scheinbar kleine Begebenheit schon im Sommer 1940, die auch Bethge in der großen Biographie wegen ihrer theologischen bzw. ethischen Bedeutsamkeit – und der eigenen, beim Lesen deutlich fühlbaren ersten Verunsicherung über Bonhoeffers Verhalten – erzählt (DB 765): es handelt sich um Bonhoeffers völlig selbstverständlichen und spontanen Vollzug des Hitlergrußes bei der öffentlich verkündeten Nachricht der französischen Kapitulation und seine Aufforderung an Bethge, es ihm gleich zu tun. Die öffentliche Demonstration der Ablehnung des Naziregimes, in den 30er Jahre für Bonhoeffer noch ein wichtiges theologisches Anliegen (vgl. DB 305 ff.; Bethge, Freiheit, 348–351), wird nun von ihm verworfen um des in der veränderten Situation, nunc et hic, Gebotenen willen: der geheimen Vorbereitung eines Staatsstreichs. Dass damit der öffentliche kirchliche Widerstand der ersten Jahre vollständig nutzlos oder gar schädlich gewesen wäre, ist folglich keineswegs notwendige Konsequenz des veränderten Umgangs Bonhoeffers mit der Realität im Jahre 1940 und danach – im Unterschied zu der anderen, dass er es nämlich während des Krieges geworden wäre und darum nun zu vermeiden war. 132 Vgl. dazu bes. A.II.5.e. 133 S.o. B.II.2.c. 134 E 55.392 ff.; vgl. DBW 16, 560 f. S. dazu u. C.III.4.a. 135 Dazu ausführlich Wenz, Bekenntnisschriften II, 623 ff. 136 Vgl. EuG 89 ff.[9 ff.]. bes. 93 f.[13 f.]; sowie KD II / 2, §§ 36–39, bes. 37.3.

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ins Sprachliche -, so erweitert er diesen Gebotsbegriff schließlich durch die Bindung an eine nicht bloß situativ, sondern auch inhaltlich und strukturell je schon bestimmte Wirklichkeit. Die das Handeln orientierende Funktion einzelner Gebote, wie sie etwa Luther im Sermon von den guten Werken oder im Großen Katechismus in der Auslegung des Dekalogs entfaltet137, erfolgt bei Bonhoeffer darum vornehmlich in der Explikation der Christuswirklichkeit. ‚Gebot‘ und Wirklichkeit sind hier Entsprechungsbegriffe geworden. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass in der Ethik das Gottesgesetz bei identischem Inhalt zunächst eine zweifache Form aufweist, nämlich diejenige des verpflichtenden Sollens, d. h. als ‚Gesetz‘ im engeren Sinne, und diejenige des ‚Gebots‘, d. h. der Erlaubnis oder Freigabe des wirklichkeitsbezogenen Tuns. Während der Gedanke einer prinzipiellen Einsehbarkeit des Gottesgesetzes in seinem Inhalt, etwa aufgrund einer schöpfungsmäßigen Ordnung oder einer zumindest teilweise vernunftgemäßen Notordnung138 aber bestritten wird, gesteht Bonhoeffer zu, dass zumindest die Erkenntnis der völligen Verfehlung der von Gott gewollten Gestalt der Welt auch abgesehen von der bewussten Christusbegegnung möglich ist. Das ‚Gesetz‘ Bonhoeffers weist so zwar in die Richtung des lutherischen primus usus, restringiert ihn aber auf die Funktion der Negation. Der traditionelle secundus usus ist als bestimmte theologische Funktion dieses allgemeinen primus usus zu deuten. Andererseits lässt sich der Inhalt des Gesetzes, für den der primus usus legis bei Bonhoeffer ja ‚primär‘ steht139, sehr wohl auch positiv und an andere adressiert formulieren. Der Unterschied zum tertius usus, zum Gebot, ist freilich, dass es nicht um das eigene Hören auf den Willen Gottes geht, welches sofort ins Tun weist, also um das eigene Gerufensein zu einem bestimmten verantwortlichen Tun, sondern um die Verständigung mit denjenigen, die – wissentlich oder nicht – faktisch zur Verantwortung berufen sind, also etwa die Funktionsträger in der Staatsführung. Dass hier nur der „Rat christliche[r] Fachmänner“140 möglich ist, nicht aber eine bindende Verkündigung der Kirche, ist nur konsequent und entspricht nahezu wörtlich den Folgerungen, die Bonhoeffer bereits im Gutachten gezogen hat: bindend ist das Gesetz Gottes, d. h. genauer das Gebot, zunächst einmal nur für denjenigen, der es im Glauben empfängt. Zu diesem Rat durch den christlichen Fachmann, dessen Möglichkeit und Wirklichkeit von Bonhoeffer ja vorausgesetzt wird, gehört aber folgerichtig auch die Kenntnis der Wesensgesetze, das ‚Fachwissen‘ oder die Expertise, also ein der Kirche nicht per se verfügbares Spezialwissen. Diese verkündigt demnach wohl die Christuswirklichkeit als Wirklichkeit der Er137

WA 6, 196–276; BSLK 543–733. Vgl. Beyschlag, Dogmengeschichte II.2, 373. 139 DBW 16, 617. 140 E 364. 138

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lösung und Versöhnung der ganzen Welt mit Gott; sie hat aber nicht selbst die Aufgabe der Gestaltung des weltlichen Lebens, und sei es auch mit theoretischen Konzepten oder Vorschriften, sondern sie hat nur indirekt, nämlich über ihre diakonischen Arbeitsbereiche, Anteil an dem dem Fachmann überlassenen weltlichen Beruf141. Die ‚Beratung‘ lässt sich dem Schema des triplex usus legis allerdings nicht mehr ohne Weiteres einfügen. Dies hat seinen Grund nicht darin, dass sie als Amt der Diakonie schon per se keine Verkündigung resp. Wirkung der Predigt des Gesetzes durch das Verkündigungsamt des recht berufenen Predigers142 sein kann; denn auch das konkrete Gebot wird, so erfährt man in diesem Kontext, keineswegs nur von der Kirche verkündigt, sondern ebenso von bestimmten weltlichen Autoritäten. Vielmehr verhält es sich umgekehrt: weil die Kirche nicht über die von ihr verschiedenen Bereiche der Welt verfügt, kann sie deren Gestaltung positiv bzw. material nur in beratender Weise beeinflussen, d. h. also, wenn man einen der traditionellen Terminologie entsprechenden Begriff erfinden möchte, mittels eines usus consiliarius legis, der sich kategorial von den anderen usus unterscheidet. Diese diffizile Theorie eines auf die Weltgestaltung gerichteten doppelten primus usus legis und insbesondere die darin enthaltene, in der Tradition aber nicht vorkommende, Gestalt der lex divina als diakonischer Rat wird plastischer und leichter fassbar, wenn man sich die konkreten Erfahrungen Bonhoeffers mit den Genossen des Widerstands vor Augen führt. Das von Barth beeinflusste christologische System erlaubt in der Theorie ja letztlich, wenn es ganz streng durchgeführt wird, keine Zugeständnisse an die wirklichen Gestaltungsfähigkeiten des Nichtchristen oder zumindest des sich selbst nicht als Christen verstehenden Menschen. Das ‚Gebot‘ müsste dann aber als einzige den wahren Inhalt des Gesetzes zur Geltung bringende Form der ethischen Weisung auf die Kirche und ihre Glieder beschränkt bleiben. Bonhoeffer aber erlebt in der Praxis ganz Anderes, nämlich dass außerhalb der Kirche das rechte Tun geschieht – und zwar häufig auch unter Berufung auf allgemeine humanistische Werte oder ein unbedingtes Sollenserlebnis, das zum aktiven Widerstand trotz existentieller Gefährdung nötigt. Zweifellos ist hier der ‚Sitz im Leben‘ der erst spät ansatzweise explizierten Auffassung Bonhoeffers von Gesetz und Gebot sowie der korrespondierenden Mandatenlehre143 und vor 141

Ähnlich auch in der Studie zum „Personal“- und „Sach“ethos (DBW 16, 558–562). Vgl. zu Bonhoeffers Verständnis des Pfarramts die Ausführungen zum Mandat der Kirche, E 398 ff., besonders 400: „An der Stelle Gottes und Jesu Christi steht vor der Gemeinde der Träger des Predigtamtes mit seiner Verkündigung. Der Prediger ist nicht der Exponent der Gemeinde, sondern – wenn der Ausdruck einmal gebraucht werden darf, – der Exponent Gottes gegenüber der Gemeinde […] Dieses Amt ist unmittelbar von Jesus Christus gesetzt, es empfängt seine Legitimation nicht durch den Willen der Gemeinde, sondern durch den Willen Jesu Christi. Es ist in der Gemeinde, nicht durch die Gemeinde.“ 143 S. dazu u. C.III.4.a. 142

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allem von dem neuen Gedanken eines beratenden Gebrauchs des göttlichen Gesetzes. Welchen Stellenwert gerade der usus consiliarius in der Ethik als Monographie über das ‚Wirklichwerden des Guten‘144 in der Existenz des versöhnten Menschen hat, ist allerdings unklar. Unzweifelhaft von Bedeutung sind hier zunächst nur die beiden Modi des göttlichen Gesetzes, die Bonhoeffer jeweils mit einem eigenen Kapitel zu behandeln trachtete, d. h. das ‚Gesetz‘ und das ‚Gebot‘. Die Beratung als eigene Form der Gesetzeserkenntnis und -wirkung wird dagegen nur in dem Kapitel „Über die Möglichkeit des Wortes der Kirche an die Welt“ thematisiert, von dem ausgesprochen unsicher ist, ob es einmal Teil der Ethik werden sollte145. Der Entdeckungszusammenhang speziell dieses Gedankens dürften jedenfalls die Beratungen des Freiburger Kreises über eine Neuordnung Deutschlands nach dem geplanten Putsch gewesen sein146. Mit der systematischen Gedankenfigur eines beratenden Wortes der Kirche an die Welt als quartus (oder: quintus, wenn man einen noch usus paedagogicus postulieren will) usus legis divinae wird demnach von Bonhoeffer versucht, der Kirche eine indirekt gestalterische Rolle im Prozess der politischen und gesellschaftlichen Neuordnung zuzuweisen, die nach beiden Seiten, der Theologie und den nichttheologischen Disziplinen, vermittelbar ist. Dass eine solche Beratungsfunktion der Kirche einmal wichtiger, wenn nicht unverzichtbarer, Bestandteil der demokratischen Öffentlichkeit Deutschlands werden sollte – z. B. in Gestalt der Denkschriften der EKD  –, konnte Bonhoeffer wohl nicht voraussehen. Er hat hier aber eine interessante Begründungsmöglichkeit dafür angedacht, indem er diesen vom Sollen und Erlauben, von ‚Gesetz‘ und ‚Gebot‘ kategorial verschiedenen Modus des göttlichen Gesetzes eingeführt und damit theoretisch begründet hat, was praktisch bereits vollzogen wurde. Der Kontext der Beratungen 144

Vgl. E 34 ff. S.o. C.III. 146 Vgl. dazu DB 872–874, sowie die 1945 veröffentlichte Denkschrift Stunde Null. Dass die letzten erhaltenen Manuskripte („Kirche und Welt I.“, „Über die Möglichkeit des Wortes der Kirche an die Welt“, „Das Ethische und das Christliche als Thema“, „Das konkrete Gebot und die göttlichen Mandate“) jedenfalls auch unter dem deutlichen Eindruck der Personen und Stellungnahmen dieses Kreises entstanden sind, wenn auch ihr theologisches Fundament großenteils unabhängig von den je aktuellen Begegnungen und Aufgaben Bonhoeffers ist, lässt sich auch an kleinen Indizien festmachen, wie etwa der eigenartigen Identität des Titels des ungefähr parallel, im Herbst 1942, zu Bonhoeffers persönlichen Kontakten mit Constantin von Dietze und anderen Mitgliedern des Freiburger Kreises entstandenen „Kirche und Welt I.“. Aus dem Freiburger Konzil (zu dieser Bezeichnung s. Stunde Null, 7 [Einleitung]) ging 1940 oder 1941 eine Stellungnahme mit dem Titel „Kirche und Welt. Eine notwendige Besinnung auf die Aufgaben des Christen und der Kirche in unserer Zeit“ hervor (vgl. ebd.). Es wäre sicher interessant und reizvoll, Nähe und Differenz der Ethik zu Grundgedanken der Denkschrift, der genannten Stellungnahme und weiteren Äußerungen ihrer Mitglieder zu untersuchen, etwa hinsichtlich des Staatsbegriffs, des Geschichtsbilds und der Bedeutung der Kirche für die Gesellschaft. 145

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im Freiburger Kreis erklärt dann freilich auch das, was dieser Konstruktion zugrunde liegt, nämlich das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit und Rechtmäßigkeit der gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit in der konkreten Gestalt der Mandate, insbesondere des Mandats der Obrigkeit; er erklärt dabei besonders die Annahme, dass die Beratung durch christliche Fachmänner, also die gemeinschaftliche, nicht-autoritativ strukturierte Gestaltung der iustitia civilis durch Christen und Nichtchristen von beiden Seiten erwünscht und ermöglicht wird. Mit anderen Worten: Bonhoeffer setzt hier  –  noch  –  eine christliche Grundlage147 der wieder zu errichtenden Gesellschaft voraus, die im Wesentlichen von den die Entscheidungsträger hervorbringenden Eliten getragen wird, wie er sie in den Widerstandskreisen, besonders im genannten Freiburger Kreis, kennen gelernt hat148. Die für ihn so ermutigende Erkenntnis, dass ein bestimmter, sich selbst ursprünglich als säkular verstehender Humanismus das Christentum für sich wieder entdeckt hat, ist darum gerade für die politische Ethik Bonhoeffers zur Zeit der Ethik von sehr weitreichender Bedeutung. Über eine mögliche Selbstkorrektur, oder besser: Horizonterweiterung hin zur Integration eines Konzeptes pluralistischer, säkular begründeter Demokratie in die theologische Ethik – wie es freilich auch noch nicht von den, teilweise erheblich von der katholischen Naturrechtslehre beeinflussten, Vätern des Grundgesetzes vertreten wurde – müssten von den Aussagen der Ethik und zeitgleich verfasster Texte wie dem Gutachten zum primus usus legis her freilich alle Urteile ganz und gar spekulativ bleiben. Der in der Haft weitergeführte und etwas anders akzentuierte theologische Weltbegriff aus Widerstand und Ergebung eröffnet dagegen neue Perspektiven für die Rezeption auch der Ethik und besonders ihrer politisch-ethischen Aspekte. Denn in den fragmentarischen Überlegungen der Gefängnisbriefe erfolgt eine entscheidende Veränderung der Perspektive Bonhoeffers auf die historisch-gesellschaftliche Entwicklung Westeuropas, die aber wiederum ohne den Vorlauf in der Ethik und besonders den Gedanken des unbewussten Christentums149 wohl nicht möglich gewesen wäre: Nun wird nämlich von Bonhoeffer erstmals der in der Ethik noch festgehaltene Gedanke eines „christlich-abendländischen Raums“150 als theologischer Normbegriff verabschiedet und konsequent ein christologischer Begriff von Welt durchdacht, für den der Abschied von der christlichen Religion, die Entwicklung zu einer säkularen Gestalt, kennzeich147 Dazu: Stunde Null, 55 ff. („Grundzüge einer politischen Gemeintschaftsordnung nach christlichem Verständnis“), sowie die Einleitung von Helmut Thielicke aaO. 5: „Die Kraft zu seinem Widerstand und das Normengerüst für die Konzeption einer neuen Zukunft empfing dieser Kreis aus dem christlichen Glauben.“ 148 Vgl. auch den (kritischen) Rückblick Thielickes: Einleitung zu Stunde Null, 19. 149 S. dazu u. C.III.4.b. 150 E 93.

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nend ist151. Daraus hätte gleichwohl nicht die Revision des zur Zeit der Ethik neu entworfenen Konzepts einer Beratungsfunktion christlicher Fachleute bzw. des diakonischen Amtes der Kirche folgen müssen. Im Gegenteil hätte gerade dieser Gedanke eines fruchtbaren Austausches zwischen christlicher und nichtchristlicher Sicht auf die iustitia civilis wohl noch viel stärker ausgebaut werden können, mit der Einschränkung freilich, dass diese Beratung im Sinne eines spezifischen usus legis divinae nicht die wirksamste und gefragteste Stimme im pluralen Raum sein muss, sondern ihren Platz unter anderen hat.

3. Die Gültigkeit des Gottesgesetzes: Der ‚Grenzfall‘ Bezieht man den in seinen Gestalten und Funktionen erläuterten Gesetzesbegriff Bonhoeffers auf die Ausführungen zum christlich-ethischen Handlungsbegriff und seinen Strukturen und Elementen, die Bonhoeffer in „Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]“ ausgeführt hat, so ergibt sich an einem wichtigen Punkt noch Klärungsbedarf. Es handelt sich um die Frage, welche Bedeutung das ‚Gesetz‘, das unbedingte allgemeine Sollen, für den Glaubenden haben kann  –  oder ob ihm in der Existenz des versöhnten Menschen, sofern er versöhnt ist, gerade keine Bedeutung mehr zukommt. Dabei ist es, auch wenn Bonhoeffer sich mit diesem Aspekt in der Ethik kaum befasst, unstreitig, dass für den Menschen, sofern seine Existenz immer von der Doppeltheit der Versöhnung und des Sünderseins zugleich gekennzeichnet ist, das ‚Gesetz‘ in seinem Sollenscharakter und in seinem usus theologicus eine gültige, die Existenz coram Deo bestimmende Größe ist152. Das sagt aber noch nichts darüber aus, ob auch der Mensch, sofern er versöhnter Mensch ist, das ‚Gesetz‘ als existenzbestimmende allgemeine Forderung erlebt oder nicht. Eben diese neue Existenz des Menschen, das vorletzte Sein und Leben vom Letzten her, ist es aber, was in Bonhoeffers theologischem Denken von Anfang an im Fokus des Interesses steht und dessen Differenz an diesem Punkt zu traditionellen lutherischen Konzeptionen, in welchen der Gedanke 151

S. bes. WE 529–537. S. dazu auch D.II. Das Vorletzte, das Leben bzw. die Wirklichkeit, werden daher von Bonhoeffer immer nur als durch die Dialektik des göttlichen Urteils bestimmt gedeutet, d. h. als dem Gericht verfallen und doch, durch das Gericht hindurch, versöhntes Sein (vgl. E 50–54.137 ff., bes. 150 sowie 249–254 u. ö.). Das im lutherischen simul ausgedrückte Verhältnis von iustus und peccator (vgl. exemplarisch WA.BR 1, 35 f. Nr. 11) ist nach Bonhoeffer also so zu verstehen: der Mensch ist als versöhnter Mensch immer zugleich der gerichtete, er ist aber andererseits als gerichteter Mensch, d. h. als Sünder, nicht mit dem verlorenen, dem verworfenen Menschen ohne Liebe (s. o. die letzte Anm. zu A.II.5.f) gleichzusetzen: „Der Leib Christi, wie er sich uns besonders am Kreuz darstellt, zeigt dem Glauben […] die Gemeinde als die Schar derer, die ihre Sünde erkennen und sich Gottes Liebe gefallen lassen.“ (E 54). Das Sündersein des versöhnten Menschen ist im Vergehen (vgl. I Kor 7,31), und deshalb auch keine eigenständige Reflexionsperspektive einer christlichen Ethik. 152

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des Zugleich, des simul, eine viel dominierendere Bedeutung hat, nicht unterschlagen werden darf153. Wenn das ‚Gebot‘ das Element des Lebens vor Gott ist, wie Bonhoeffer formuliert154, so dürfte für den Menschen, der auf das ‚Gebot‘ hört, der sich im Prüfen und in der Selbstprüfung um die dem Ruf Christi entsprechende existentielle ethische Antwort bemüht und auf Gottes Gnade vertraut, das ‚Gesetz‘ letztlich funktionslos sein. Denn als unbedingt verpflichtendes und damit zugleich abstrakt-allgemeines Sollen ist es ja kein Lebenselement im qualifiziert theologischen Sinne, sondern das Moment der Unterbrechung, welches einen ethischen Konflikt anzeigt, indem nämlich die Welt, die Gesellschaft oder auch nur ein einzelnes menschliches Leben mit seinen ontologischen Grundlagen im Widerstreit liegt; oder anders gesagt: wenn eine Situation eintritt, in welcher die Selbstzerstörung des Einzelnen, eines Kollektivs oder gar der gesamten (Um-)Welt droht155. Daher bezeichnet Bonhoeffer, darauf wurde schon hingewiesen, das ‚Gesetz‘ von dieser elementaren Funktion her als „Grenze“156, nämlich als Grenze des ‚Gebots‘ und folglich als Grenze des Lebens. Daraus ergeben sich aber zwei Konsequenzen die unterschiedliche Wirkweise des ‚Gesetzes‘ betreffend. Wird nämlich das ‚Gesetz‘ 153 S. dazu E 389: „[D]er Mensch vor Gottes Gebot [darf] nun schon einmal wirklich auf dem Wege sein (nicht immer erst am Scheideweg stehen), er darf die rechte Entscheidung einmal wirklich hinter sich haben (nicht immer nur vor sich) […], er darf den Anfang schon gemacht haben und sich auf dem Wege vom Gebot wie von einem guten Engel leiten […] lassen.“ Vom Kontext her lässt sich dies – und soll es offenbar auch – sowohl auf die Entscheidung für die und den Weg in der Nachfolge als auch auf bestimmte einzelne Herausforderungen zum verantwortlichen Tun beziehen. Vgl. zur lutherischen Position WA 11, 229–281 (Von weltlicher Obrigkeit): Der usus civilis bzw. die Autorität des weltlichen Regiments gilt für den Christen einmal, weil er notwendig mit den anderen zusammenlebt, dann weil er selbst noch Sünder ist (simul iustus et peccator), sowie schließlich weil er auch als gerechtfertigter Mensch seine äußere Natur züchtigen muss. Befragt man das Gesamtregister der Werkausgabe (s. v. iustus), wie häufig diese nahezu bekannteste und inhaltlich bedeutsame Luther-Wendung von Bonhoeffer gebraucht wird, so erfährt man, dass dies tatsächlich kaum der Fall ist: Drei Stellen finden sich in der Dissertation (SC 97.143.263), zustimmend, aber ohne weitere Erläuterungen; an drei weiteren Stellen taucht sie dann noch einmal zwischen 1930 und 1936, zweimal zustimmend (DBW 10, 433; 11, 209), einmal verbunden mit einer Frage zur exegetischen Beurteilung (DBW 14, 245). Deutlich wird diese Charakteristik von Bonhoeffers Theologie, die ja schließlich auch die gedankliche Voraussetzung für den späten dialektisch-theologischen Weltbegriff darstellt, an seinem frühen Interesse am Kirchenbegriff und seiner Durchführung. Die existentielle Differenz zwischen dem Menschen ‚vor‘ der alles entscheidenden Begegnung mit Christus und dem versöhnten Menschen, der gleichwohl erst eschatologisch zu seiner Vollendung kommt und daher immer nur im VorLetzten lebt, ist eines der Grundanliegen von Bonhoeffers Theologie, das sich wohl am auffälligsten in seiner Nachfolge manifestiert hat. Vgl. dazu N 45 ff.; Barth, Nachfolge, 22 ff. 154 S.o. C.III.2. 155 Letztere Gefahr besteht nicht nur in Weltkriegen, sondern aktuell besonders auch in ökologischer Hinsicht  –  einer Dimension, die für Bonhoeffer noch kein ethisch-theologisches Thema war. 156 E 390 u. ö. S.o. C.III.2.

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ganz unmittelbar als Sollenserlebnis erfahren, so handelt es sich um die schon beschriebene Wirkweise des ‚Gesetzes‘, die im diametralen Gegensatz zum Leben unter dem ‚Gebot‘, in der Erlaubnis, Mensch vor Gott zu sein, besteht. Insofern aber das ‚Gebot‘ selbst als das Ursprüngliche157 und Übergeordnete – analog dem Ansatz Barths in Evangelium und Gesetz – als ethischer Lebensraum seine eigenen Grenzen bestimmt, hat das ‚Gesetz‘ indirekt eben auch eine Bedeutung für den Menschen unter dem ‚Gebot‘. Welche ist das? Bonhoeffer verbleibt dazu im Andeutenden – wohl auch, weil er zu einer abschließenden Überarbeitung der Ethik, welche vermutlich zu einer Vereinheitlichung gerade der Terminologie zum Gottesgesetz geführt hätte, nicht mehr gekommen ist. Verbindet man aber die hier zugrunde gelegten Ausführungen in „Das Ethische und das Christliche als Thema“ mit denjenigen von „Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]“, so legt es sich nahe, das ‚Gesetz‘ mit dem ‚Grenzfall‘ zusammen zu denken, in den der Christ geraten kann und den Bonhoeffer im Kontext des Wirklichkeitsbegriffs behandelt hat158. Denn tatsächlich ist es ja nicht bloß dieser ethische Grenzfall, welcher das Handeln des Christen zu einem schuldhaften Handeln im bereits erläuterten Sinne macht159; es ist vielmehr jedes Handeln, wie Bonhoeffer explizit feststellt, welches in irgendeiner Hinsicht unvermeidliche, fremde Schuld auf sich lädt, und sei sie auch noch so gering160. Der Grenzfall unterscheidet sich folglich noch einmal von dem Handeln des Christen unter normalen Umständen, also im stetigen, manchmal stärker bewussten, manchmal weniger oder ganz unbewussten Leben als Mensch vor Gott. Dies liegt ja auch schon im Begriff des Grenzfalls, welcher als einzige Handlungsoption eine bestimmte ultima ratio zulässt und als solches irrationales, in keiner Weise verallgemeinerbares extraordinäres Tun die Schuld des Handelnden in besonderer Weise sichtbar macht. Der Mensch unter dem Grenzfall ist nämlich, so muss man schließen, derart vor das konkrete Gebot Gottes gestellt, dass er im freien Gehorsam die fundamentalen Grenzen der Existenz, das ‚Gesetz‘ in seinem eigentlichen inhaltlichen Sinne übertreten muss. Denn das ‚Gesetz‘ hat zuerst, also im Sinne der usus-Lehre als primus usus, ja die Funktion der Herstellung resp. Erhaltung bestimmter Zustände161; es enthält bestimmte Grundnormen als Rahmenordnung des menschlichen Lebens, die der Mensch vor Gott im Normalfall aber gar nicht als Forderung wahrnimmt, weil er innerhalb dieser Grenzen lebt. In der außergewöhnlichen Situation des Grenzfalles aber 157

Ebd. S.o. B.II.4.c. 159 S.o. B.II.4.d. 160 E 276; vgl. auch ZE Nr. 36. 161 Vgl. DBW 16, 617. Vgl. auch WE 30: „Es ist einfach in der Welt so eingerichtet, daß die grundsätzliche Achtung der letzten Gesetze und Rechte des Lebens zugleich der Selbsterhaltung am dienlichsten ist, und daß diese Gesetze sich nur eine ganz kurze, einmalige, im Einzelfall notwendige Überschreitung gefallen lassen […]“. 158

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kann es sein, dass der verantwortlich Handelnde zur „Durchbrechung“ des ‚Gesetzes‘ berufen ist, obwohl mit diesem doch eigentlich „eine unüberschreitbare Grenze“ aufgerichtet ist, deren biblische Gestalt der Dekalog und deren Wirklichkeitsstrukturen die Mandate sind162. Dann aber ist auch das ‚Gesetz‘ eine bestimmte Forderung, die dem Menschen unter bzw. in163 dem Gebot gegenüber tritt, ohne dabei allerdings ihren „ausschließlichen Totalitätsanspruch“164 zu behalten, weil sie von ihrem Ursprung, d. h. von Jesus Christus her, gehört wird. Damit bleibt das ‚Gesetz‘ zwar die Grenze, aber ihre Übertretung ist doch der je situativ und konkret erfolgende freie Gehorsam des Glaubenden, der weiß, dass „[d]ie Suspension des Gesetzes […] nur seiner wahren Erfüllung“ dient165. Nur dieser Mensch, der von Christus her das „Ungeheure“ tut166, beansprucht dann aber für sich selbst gerade nicht auch die Suspension von der mit der Grenzüberschreitung verbundenen Schuld, sondern hofft auf die Gnade Gottes, die ihm in Christus dieses um des oder der Anderen willen167 mit ‚fremder‘ und doch selbst verursachter Schuld beladene Handeln vergibt168. Das Sollenserlebnis des „profane[n]“ Bewusstseins169 wiederum ist daher zunächst nicht per se problematisch; es hat eine inhaltliche Funktion, die sich darin manifestiert, dass sich im Grenzfall die unmittelbare Existenzbedrohung aufgrund der völligen Verkehrung von Wirklichkeitsstrukturen und Wesensgesetzen zur Erkenntnis bringt und folglich ein bestimmtes Tun evoziert170. Indem aber im Anschluss an dieses Sollenserlebnis eine theoreti162

E 297–299. E 385. Vgl. DBW 15, 502. 164 E 368. 165 E 298. 166 E 299. 167 Vgl. E 276: „aus selbstloser Liebe zum wirklichen menschlichen Bruder“. 168 So ist der Grenzfall für Bonhoeffer eingetreten in seiner Teilnahme an der Verschwörung, wobei tatsächlich der Grenzfall aus immer wieder von Neuem grenzüberschreitendem Tun besteht: „Bonhoeffers Schritt in die Verschwörung war also ein ‚Grenzfall‘“ (DB 890). Eine wirkliche Anfechtung war für Bonhoeffer vielmehr auch die beständige Notwendigkeit, die Unwahrheit zu sagen oder wenigstens die Wahrheit oftmals bewusst zu verschleiern, um die Verschwörung und die Mitverschwörer nicht zu gefährden, und damit immer wieder die menschliche Gemeinschaft erst ermöglichende Grenze des Dekalogs zu überschreiten. Das schwierige, immer neu erforderliche Prüfen, welches eigentlich in den zuversichtlichen Akt des Tuns führt, drohte sich ihm darum im Gefängnis zumindest zeitweilig in die acedia bzw. tristitia (dazu vgl. Pieper, Zucht, 191 f.) zu verkehren, bevor er sie endgültig, wie er an Bethge schreibt, überwunden hat (WE 187 f.; vgl. außerdem den fragmentarischen Aufsatz DBW 16, 619–629: Was heißt die Wahrheit sagen?). Zu acedia bzw. tristitia s. Pieper, Zucht, 191 f.; Hoffnung, 278 ff. Bonhoeffer hat sich mit Piepers Auslegung der acedia als Form der intemperantia in den Traktaten über die vierte Kardinaltugend und über die zweite theologische Tugend nachweislich intensiv befasst, vgl. WE 1878; ZE Nr. 50.82.65.64.49.51; E 116.199.216 u. ö. 169 Vgl. E 369. 170 Vgl. E 368 f. u. ö. 163

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sche Abstraktion stattfindet, welche den Grenzfall des unbedingten Sollens in formaler Hinsicht171 zum ethischen Normalfall erklärt, welche also, wie schon erläutert wurde172, in der gedanklichen Tradition Kants und Fichtes das Wesen des Ethischen in seiner allgemeinen Form als kategorischen Imperativ oder moralisches Pflichtbewusstsein173 auffasst, wird eben dieses verfehlt  –  und deshalb auch das Leben selbst, dem das Ethische ja dienen soll und in dem es nach Bonhoeffers Auffassung begründet ist174. Erst die Einsicht in die Begrenztheit des Sollens175 dagegen befreit den Menschen zu einer lebendigen Existenz, wenn er nämlich einsieht, dass das Sollen immer nur situativ und ausnahmsweise – in der unmittelbar existenzbedrohenden Situation – sein Recht hat und eine Pflicht fordert; wenn er zugleich aber auch einsieht, dass es selbst als diese Forderung nicht von der Gnade Gottes gelöst, sondern auf sie bezogen ist, so dass seine Unbedingtheit, also die Unbedingtheit des Dekalogs als von Gott aufgerichteter Existenzrahmen, zwar bestehen bleibt, aber ihren das Selbst des Handelnden in seiner Integrität bedrohenden Charakter verliert – eine paradoxe Erfahrung, die nicht in der subjektivistischen Reflexion176, sondern nur in der Einfalt des Glaubens gemacht werden kann.

4. Systematische Implikationen a) Mandate Im Hintergrund dieser komplexen, mit der traditionellen Begrifflichkeit kaum zureichend erfassbaren177 Gesetzeslehre ist deutlich Bonhoeffers im 171 Darin unterscheidet sich natürlich auch für Bonhoeffer die deontologische Ethik des Idealismus von dem Machtmissbrauch, den etwa ein Hitler betreibt, indem er den Grenzfall in seiner inhaltlichen Hinsicht verallgemeinert, d. h. hier in historisch-politischer Perspektive den Notstand zum Regelfall und das außerordentliche Mittel der Außerkraftsetzung der menschlichen Grundrechte zur grundsätzlichen ratio des staatlichen Handelns macht. Insofern ist Kant auch in Bonhoeffers Lesart vielmehr der Gegenpol zur verhängnisvollen Normalisierung des Unnormalen in der nationalsozialistischen ‚Lebenswelt‘. S. dazu die verdeckte Kritik an der nationalsozialistischen Politikauffassung in „Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]“ (E 273): „Baldwin hat recht, wenn er sagte, daß es nur ein größeres Übel gebe als die Gewalt, nämlich die Gewalt als Prinzip, als Gesetz, als Norm.“ 172 S.o. C.III.2. 173 Vgl. GMS BA 52; Schulz, Fichte, 27, s. auch Hirschberger, Geschichte, 370 f. 174 S.o. B.II.2. 175 E  368: „Die Begrenzung des ethischen Phänomens auf seinen Ort und seine Zeit bedeutet nicht seine Aufhebung, sondern gerade umgekehrt seine Inkraftsetzung.“ 176 Diese muss ja umgekehrt, weil die Integrität des Selbst in dessen sittlicher Autonomie gründet, eben dieses Selbst immer dann existentiell gefährdet sehen, wenn es über sich das Urteil der Übertretung des Sittengesetzes fällen muss. S. dazu Teil A., bes. II.3. und 4., sowie D.I. 177 Die usus-Terminologie kommt schließlich in der Ethik überhaupt nicht vor, was in Anbetracht des etwa zeitgleich mit den drei letzten Abschnitten der Ethik verfassten Gut-

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gleichen Kontext der späten Kapitel der Ethik noch ansatzweise ausgeführte Mandatenlehre erkennbar. Ohne diese Konzeption, deren Ansätze schon viel früher entwickelt worden sind178, bleibt der in sich differenzierte Gesetzesbegriff im Ganzen unvollständig und unverständlich. Denn einerseits wird der primus usus legis als Rat oder Beratung, d. h. als partnerschaftliche Verständigung über die Grundzüge des Inhalts der göttlichen lex im Hinblick auf die Gestaltung der Welt, zwar als aus der Kirche heraus entstehend gedeutet, im Hinblick auf seine Gültigkeit aber dem jeweiligen Lebens- und Handlungsbereich zugeordnet. Ebenso gilt andererseits für das ‚Gebot‘, das als je konkretes an den Einzelnen ergeht, dass es aus dem Wirklichkeitsbereich, auf den es intentional bezogen ist, schon ursprünglich herkommt. Es setzt also in gleicher Weise eine relative Eigenständigkeit der elementaren Lebens- und Handlungsbereiche des Menschen voraus, wie der Rat, der als Wort der Kirche an einen bestimmten gesellschaftlichen Bereich nicht bindend sein kann, sondern von einer anderen, mit der entsprechenden Sachkompetenz ausgestatteten, Autorität als der Kirche geprüft werden muss. Diese autoritativen Strukturen im gesellschaftlich-politischen Leben des Menschen bezeichnet Bonhoeffer als „Mandate“179. In ihnen konkretisiert sich einerseits die oben bereits zitierte frühere Formel Bonhoeffers, wonach die Wirklichkeit das „ethische Sakrament“, d. h. „das Sakrament des Gebots“ sei180. Damit ist ihre Funktion für die theologische Ethik aber noch nicht vollständig beschrieben, wie aus der Erläuterung des Gesetzesbegriffs hervorgeht: die Mandate haben schon formal nämlich nicht den gleichen Stellenwert wie die Wesensgesetze – mit denen sie sich freilich in verschiedener Hinsicht überschneiden181; sie sind vielmehr die übergeordneten und umgreifenden Strukturen der Wirklichkeit, von denen sich das Handeln grundsätzlich, d. h. nicht allein das verantwortliche, sondern jedes menschliche Tun, nicht dispensieren kann. Anders gesagt: es sind unhintergehbare Strukturen eigenen Rechts und eigener Funktion182, die insofern, d. h. genauer hinsichtlich ihres achtens zum primus usus legis ein deutlicher Hinweis auf die von Bonhoeffer auch selbst empfundene Originalität seiner Gesetzes-Lehre ist. 178 S. dazu besonders SF 129.138; DBW 11, 337 ff. 179 Vgl. E 54 u. ö. 180 S.o. C.III.2. 181 Bonhoeffer selbst macht dies deutlich, indem er als Beispiel für die ethische Bedeutung der Wesensgesetze die Staatskunst wählt, welche damit zugleich den ethisch verantwortlichen Umgang mit dem Mandat der Obrigkeit bestimmt. Inwiefern der Staat ein bestimmtes Wesensgesetz hat oder vielleicht doch eine ganze Reihe von Kunstfertigkeiten erfordert, spielt in Bonhoeffers Argumentation keine Rolle. Die Zusammenhänge könnten aber anhand seiner Illustrationen folgendermaßen rekonstruiert werden: das Mandat der Obrigkeit umgreift den gesamten Bereich von Staatslehre, Staatswesen und Politik; diese wiederum werden konkret erfasst und verantwortlich gestaltet allein aufgrund der Kenntnis der ihnen eignenden Wesensgesetze, die damit also eine Unterkategorie der Mandate sind. 182 Vgl. E 56: „relative Rechtfertigung“; 364: „relative Eigengesetzlichkeit“.

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Vorhandenseins, ontologische resp. anthropologische Konstanten darstellen. Weil aber die Wirklichkeit als solche, in ihrem Wesen und ihrer Wahrheit, in Christus begründet ist183, können diese Strukturen eigenen Rechts und eigener Funktion nicht als eigengesetzlich im strengen Sinne verstanden werden. Es sind theologische oder besser christologische184 Kategorien, die ihre theologiegeschichtliche Herkunft in der lutherischen Stände-Lehre haben, worauf Bonhoeffer selbst explizit hinweist185. Dennoch unterscheidet sich die Begründung und Ausgestaltung, welche Bonhoeffer den Mandaten gibt, nicht nur von der neulutherischen schöpfungstheologischen Interpretation der reformatorischen ordo-Vorstellung, die Bonhoeffers ganze Kritik trifft186; auch zu Luther gibt es signifikante Differenzen, so vor allem die Erweiterung, die Bonhoeffer vornimmt, indem er unter Berufung auf die Schrift anstelle von drei vier Mandate nennt, aber eben auch die Verankerung der Mandate in einem christologischen Weltbegriff187. Luther dagegen begründet – jedenfalls stellenweise – von drei Ordnungen zwei schöpfungstheologisch, nämlich den ordo ecclesiasticus und den ordo oeconomicus resp. parentum188. Der ordo 183

Dazu s. ausführlich o. B.II.2. sowie E 31–61. Eben dies trifft die Kritik mancher streng lutherisch denkender Ethiker, wie etwa Martin Honecker, der Bonhoeffer vorwirft (Einleitung, 301), ohne ausreichende exegetische, d. h. biblische Deckung in den lutherischen Ordnungsgedanken eine „Kosmokratorchristologie“ einzutragen. Inwieweit diese Kritik berechtigt ist, müsste am neutestamentlichen Befund überprüft werden. Darauf, dass Honecker dabei die von Bonhoeffer zwar seltener erwähnte, aber gleichwohl bei den Verweisen auf den von Honecker als „spekulativ“ (ebd.) bezeichneten Vers Kol 1,16 zumeist mit gemeinte Stelle aus dem Johannes-Prolog (Joh 1, 4, vgl. ZE  Nr. 30 sowie o. B.II.2.b u. d) übergeht, soll aber auch hier schon hingewiesen werden. Dass Bonhoeffer Luther prinzipiell und nicht nur hinsichtlich des ordo-Begriffs neu deutet, indem er ihn mit neuzeitlicher und moderner Philosophie und Theologie, besonders derjenigen Kierkegaards und Karl Barths, zusammenbringt, scheint mir nicht per se problematisch zu sein, da er dabei ja gerade nicht den Anspruch hat, eine historisch unangreifbare, textgenaue Luther-Exegese zu liefern. 185 Vgl. E 395. 186 Diese leistet nämlich der „göttlichen Sanktionierung aller überhaupt bestehenden Ordnungen und damit ein[em] romantischen Konservativismus“ Vorschub (E  395). Vgl. auch schon den Vortrag Zur theologischen Begründung der Weltbundarbeit von 1932, wo diese Strukturen von Bonhoeffer noch als Erhaltungsordnungen bezeichnet wurden (DBW 11, 337 ff.), womit er sich unmissverständlich von der zeitgenössischen lutherischen Ordnungstheologie absetzt (dazu s. auch in dem Bericht Bonhoeffers über die theologische Konferenz der Mittelstelle für ökumenische Jugendarbeit [1932, Berlin]: DBW 11, 323–325). 187 E 54.392 u. ö., vgl. DBW 16, 561: „Betreffend das Verhältnis der weltlichen Ordnungen zueinander zur Kirche muß meines Erachtens an die Stelle der lutherischen Lehre von den 3 Ständen […] eine – aus der Bibel geschöpfte – Lehre von den 4 göttlichen Mandaten treten: Ehe und Familie, Arbeit, Obrigkeit, Kirche.“ Kennzeichnend ist hier also die der neuzeitlichen Gesellschaft angemessene Trennung des ‚Hauses‘ von der Arbeit – letztere im weiteren Sinne als „mitschöpferisches Tun des Menschen“ (E 57). Inwieweit hier ein romantisierendes Verständnis von Arbeit vorliegt, das mit der bürgerlichen Herkunft Bonhoeffers zusammenhängt, kann hier nicht diskutiert werden. Wenn er später (E 392) den Begriff ‚Arbeit‘ durch ‚Kultur‘ ersetzt, so scheint dies seiner Intention angemessener zu sein. 188 WA 42, 79 f. Vgl. für einen Überblick Honecker, Einleitung, 291–295. 184

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politicus wiederum stellt die von Gott gnädig zur Abwehr der Sünde eingerichtete Erhaltungsordnung dar189. Dass Bonhoeffer diese Bezeichnung, die er früher für das gesamte Konzept, d. h. für alle später Mandate genannten Wirklichkeitsstrukturen, gewählt hat, nun nicht mehr verwendet, ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass sein Weltbegriff und seine wirklichkeitsbezogene Ethik vom Versöhnungsgeschehen aus entworfen sind. Nicht nur ihre konsequent christologische Begründung wird daher betont; ein entscheidender Aspekt ist jetzt ihre daraus abgeleitete (gebrochene bzw. eschatologische, aber doch dominierende) Positivität: die Mandate sind, das zeigt schon der Begriff190 an, dynamische, geschichtlich sich wandelnde und zur Gestaltung durch den Menschen freigegebene Bereiche seiner Existenz. „Wir sprechen von göttlichen Mandaten statt von göttlichen Ordnungen, weil damit der Charakter des göttlichen Auftrags gegenüber dem einer Seinsbestimmung deutlicher heraustritt […] Die[..] echte Verantwortung besteht in der Ausrichtung der konkreten Gestalt der göttlichen Mandate auf ihren Ursprung, ihren Bestand und ihr Ziel in Jesus Christus.“191

Damit gilt für die Mandate aber auch, ganz analog zu den Wesensgesetzen, dass sie als geschichtliche Strukturen, innerhalb deren sich die Existenz des Menschen coram Deo vollzieht192, nicht abstrakt bestimmt werden können und folglich gerade nicht unwandelbar sind, wenn auch ihre faktische Erscheinung keineswegs ihrem je konkreten geschichtlichen bzw. geschichtlich-göttlichen Sinn zu entsprechen braucht. Denn Gottes Willen wird konkret in der Geschichte und zwar in den geschichtlichen Gestalten der Mandate, sofern sie ihrem wesentlichen Christusbezug entsprechen193. Dies ist aber in der nur eschatologisch vollendeten neuen Welt niemals vollständig der Fall. Als vom Menschen faktisch immer schon gestaltete Strukturen unterliegt ihre konkrete Gestalt ebenso dem göttlichen Urteil von Ja und Nein, wie alles Wirkliche194. 189

Vgl. Ebeling, Lutherstudien II.3, 235. S. auch WA 42, 79 f. Zur Herkunft dieses Begriffs bei Bonhoeffer vgl. E  54 f.70. Der Gedanke, die lutherischen Stände oder ordines jetzt als Mandate zu bezeichnen, mag inspiriert worden sein von der Verwendung des Begriffs mandatum bei Luthardt (vgl. ebd.). Sachlich dürfte dies allerdings weniger Bedeutung haben, als es zunächst scheinen mag: Denn schon 1932/33 hat Bonhoeffer explizit den Gedanken einer unhintergehbaren drei- oder vierfachen Struktur der menschlichen Wirklichkeit bejaht. Die formale Präzisierung und inhaltliche Dynamisierung dieser mehrfachen Struktur in der Ethik ergibt sich wiederum aus dem geschichtlichen Lebensbegriff, dürfte also der Sache nach unabhängig von dem Mandatsbegriff sein, der andererseits allerdings sehr gut dazu passt. 191 E 55.56 f. S. auch DBW 16, 561: „Darin sind diese Ordnungen göttlich, daß sie einen konkreten in der Offenbarung begründeten göttlichen Auftrag und eine göttliche Verheißung haben.“ 192 E 54: „Die[…] Beziehung der Welt auf Christus wird konkret in bestimmten Mandaten Gottes in der Welt […] die Arbeit, die Ehe, die Obrigkeit, die Kirche.“ 193 Vgl. E 55. 194 Vgl. dazu E 56. Vgl. auch Wolf, Sozialethik, 171, der gerade die dynamisch-geschichtliche Deutung der Mandate resp. Institutionen bei Bonhoeffer als sinnvolles Modell theo190

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Gerade deshalb aber, weil der Mensch den Auftrag hat, sie verantwortlich, ihrem christologischen Sinn und damit zugleich auch ihrem anthropologischen Sinn entsprechend, zu gestalten, sind die Mandate nicht nur der situative Kontext und der intentionale Rahmen des Gebots, das ‚ethische Sakrament‘; sie sind zugleich auch diejenigen Strukturen, innerhalb derer und durch welche das Gebot verkündigt wird und an die sich darum der nicht verbindliche, diakonische Rat der Kirche richtet. Der lateinische Begriff mandatum hat demnach hier einen doppelten Bezug: es handelt sich einerseits um zur Gestaltung anvertraute Grundformen der menschlichen Existenz. Diese Grundformen aber sind als Verhältnisse strukturierter menschlicher Gemeinschaft zugleich die je konkreten Gestalten des Gebots selbst; sie sind also selbst mit dem Aufrichten des göttlichen Gebots betraut, weil sich in ihnen die Beziehung Christi zur (menschlichen) Welt konkretisiert195. „Gottes in Jesus Christus geoffenbartes Gebot ergeht an uns in der Kirche, in der Familie, in der Arbeit und in der Obrigkeit […]“196.

Erst mit diesem Aspekt aber, der von Menschen in den Mandaten gehorsam übernommenen Verkündigung des konkreten Gebots und dem Hören der unter den Mandaten lebenden – d. h. aller197 – Menschen auf das ihnen in verschiedener Weise198 zuteil werdende konkrete Gebot, ist Bonhoeffers Mandatsbegriff als Ersatz für den alten theologischen Ordnungsbegriff grundsätzlich in seiner Besonderheit und seiner konstitutiven Verbundenheit mit dem Gesetzesbegriff erfasst. Erst darin liegt dann aber auch der tiefste Grund dafür, dass Bonhoeffer in das erste Kapitel, „Christus, die Wirklichkeit und das Gute. Christus, Kirche und Welt“, welches ja gewissermaßen die ontologische Grundlegung der Ethik anhand des Wirklichkeitsbegriffs enthält, zu einem späteren Zeitpunkt den Abschnitt über die Mandate eingefügt hat199. Denn in diesem Begriff sind Ontologie und Ethik in ihrem Bezug auf das logischer Sozialethik herausstellt: „[…] so führt denn in der Sozialethik und Sozialtheorie der Begriff des Mandates sehr deutlich hinüber zum Verständnis der Institutionen als durch konkrete Entscheidungen zu gestaltende Aufgaben. Erst mit diesem Begriff werden sozusagen die Mandate richtig in lebendige Ordnungen eingefügt.“ 195 E 54. 196 E 384. 197 E 55: „[…] es gibt nur ein Einüben des christlichen Lebens unter jenen 4 Mandaten Gottes.“ 198 S. dazu o. den Abschnitt über den Beruf (B.II.4.c), sowie noch grundsätzlicher den über den Personalismus (B.II.3). Das Hören ist, auch wenn es sich innerhalb bestimmter institutionell geordneter Strukturen vollzieht, ein eminent personaler Akt, dessen Voraussetzung ja der an den Einzelnen ergehende Ruf Christi ist. 199 S. dazu E 16 f. Insofern ist de Langes Einschätzung, dass „die Bedeutung der Mandatenlehre während Bonhoeffers Beschäftigung mit ihr sich allmählich verschiebt und vertieft“ (Miteinander, 18), den Arbeitsprozess betreffend richtig. Dem Textbestand entspricht sie dagegen gerade nicht, weil der Einschub in das erste Kapitel nicht nur äußerlich, sondern auch inhaltlich sehr bedeutsam ist.

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Handlungssubjekt unmittelbar miteinander verschränkt; die Mandate sind die das verantwortliche Tun begrenzende und begründende, ihm – ontisch-sachlich200 – vorgegebene Wirklichkeitsstruktur, sie sind die je neu zu gestaltende geschichtlich-menschliche Wirklichkeit und schließlich selbst, vermittelt über Institutionen, Ämter und Beruf201, der konkrete Gestaltungsauftrag. In der Praxis bedeutet dies, dass es die Repräsentanten der Mandate sind, also de facto die Amts- und Funktionsträger der den Mandaten zugeordneten Institutionen, welche den Auftrag der Gestaltung der Mandate vermitteln; das Mandat in seiner konkreten Realität ist damit also in gewisser Weise die Beauftragung der Beauftragung zur Selbstgestaltung. Der Verdacht, der sich leicht aufdrängen könnte, dass nämlich der Mandatsbegriff von Bonhoeffer hier ‚katholisierend‘ konstruiert wird, ist freilich, trotz mancher etwas anstößiger Formulierungen202, unbegründet. Zwar werden mit diesem Konzept bestimmte, faktisch immer schon vorhandene203 soziale und politische Strukturen, nämlich Staat, Ehe, Arbeit und  –  als Sonderfall  –  Kirche, als solche formal legitimiert, ohne dass damit aber ihre jeweilige konkrete Gestalt getroffen wäre. Eben diese ist ja mit dem Mandat erst aufgegeben, indem es von Christus her resp. von der in Christus versöhnten Welt her gesehen und gestaltet wird, indem also diese vier Bereiche überhaupt erst als Mandate begriffen werden statt als statische, durch sich selbst geweihte Ordnungen oder in der Natur der Welt angelegte unvermeidliche Klassenunterschiede oder dergleichen204. Weil es aber um eine gemeinschaftliche, geordnete Gestaltung geht, setzt ein Mandat zwangsläufig auch bestimmte Hierarchien, oder, anders formuliert, bestimmte in Bezug auf Sinn und Gestalt des Mandats funktional strukturierte Verhältnisse der Personen voraus, denen bestimmte Weisungsbefugnisse entsprechen. Deren konkrete Gestalt und Verteilung freilich ist historisch veränderlich und schon deshalb nicht per se heilig, ihr Kriterium aber ist ihre wahre, geschichtliche Wirklichkeit der versöhnten Welt – d. h. gerade 200 Also durch den dem jeweiligen Mandat zugehörigen und im Handeln konkret vorgefundenen Kontext. 201 Im weiteren, oben von Bonhoeffer beschrieben Sinn. Vgl. B.II.4.c. 202 So besonders E 393 f.400 f. 203 Dies ist eine Unterstellung Bonhoeffers, die er nicht offen legt, weil er sie ganz offenbar für korrekt und evident hält. Zugrunde liegen dabei zweifellos sehr weite Begriffe von Staat und Kirche, die funktionale Äquivalente einschließen sollen. 204 Vgl. Bonhoeffers Abgrenzungen von den möglichen Missverständnissen, die auch durch eine unangemessene Begrifflichkeit hervorgerufen werden können (E  393). S. auch E 395: „Vielmehr gehört es zum Wesen des göttlichen Mandates, daß es die irdischen Machtverhältnisse in seiner Weise korrigiert und ordnet […]. Abgesehen von persönlichen Entgleisungen ist der Mißbrauch des Oben- wie des Untenseins zwangsläufig, wenn die Begründung von beidem im Mandate Gottes nicht mehr erkannt wird.“ Allerdings betont Bonhoeffer die grundsätzlich hierarchische Form der Mandate derart stark, dass der Eindruck entsteht, hier sollten über das Funktionale hinaus bestimmte autoritäre Strukturen der ihm bekannten bürgerlich-adligen Elite-Gesellschaft legitimiert werden. Vgl. auch de Lange, Miteinander, 29.

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nicht ihre bloße Faktizität205. Die christologische Begründung der Mandate ist daher ebenso sehr Sanktionierung der Mandate, nämlich hinsichtlich ihrer Vorhandenheit und der formalen Struktur als Weisungsverhältnisse, wie zugleich ihre permanente Kritik, nämlich hinsichtlich ihrer je konkreten, allein aus ihrem konstitutiven Christusbezug heraus verstehbaren geschichtlichen Gestalt. Die Mandate sind daher „die sozial-ethische Konkretisierung einer Theologie des […] Lebens“206, wie sie von Bonhoeffer am Beginn des Kapitels „Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]“ ergänzend zum christologisch begründeten Wirklichkeitsbegriff in ihren Grundzügen ausgeführt wurde207. Schließlich sind die Mandate so konzipiert, dass sie als sich gegenseitig ergänzend und begrenzend verstanden werden; ihnen liegt damit eine dezidiert antitotalitäre Interpretation zugrunde, die als Gegenbild zum zeitgenössischen Totalitarismus fungiert und deren häufig wiederholte Hervorhebung von Bonhoeffer durch diesen historischen Hintergrund leicht zu erklären ist. Die Mandate sind in dieser Deutung aufeinander bezogene, aber voneinander verschiedene und damit auch einander begrenzende Lebensbereiche des Menschen, weil sie nur so der Vielschichtigkeit der menschlichen Existenz wahrhaft entsprechen. Bonhoeffer wählt hierfür die drei Begriffe „miteinander“, „füreinander“ und „gegeneinander“208. Das Miteinander steht dabei für die (formale) Neben- bzw. Gleichordnung der Mandate, das Füreinander für 205 Vgl. z. B. E  383: „Das Gebot Gottes setzt ein unaufhebbares Oben und Unten auf Erden, unabhängig von den faktischen Machtverhältnissen voraus.“ S. dazu auch Bonhoeffers knappe Kritik am Pragmatismus, so wie er ihn deutet ( B.II.2.c und 4.c). 206 De Lange, Miteinander, 32. 207 S.o. B.II.2. Die Gestalt der Mandate ist als je geschichtliche also nicht abstrahiert von der konkreten Situation definierbar. Wie für alle anderen Orientierungen, die Bonhoeffer in der Ethik gibt, gilt aber auch hier, dass wesentliche inhaltliche Aspekte durchaus in allgemeinerer Form erläutert werden können. Zwar ist es Bonhoeffer nicht mehr möglich gewesen, die geplanten Ausführungen zu beenden, so dass lediglich fragmentarische Erläuterungen zum Mandat der Kirche existieren (sowie die verstreuten Aussagen zu den übrigen Mandaten, von denen schon die Rede war); gleichwohl ist erkennbar, dass die ethische Bedeutung der Mandate von Bonhoeffer in ihrem grundsätzlichen Sinn, nicht aber in Bezug auf eine konkrete historische Form entfaltet werden. Wie das Wechselverhältnis von grundsätzlichem Sinn und konkreter historischer Gestalt zu denken ist, müsste anhand einer gründlichen Analyse der vorhandenen Äußerungen Bonhoeffers zu den Mandaten untersucht werden, die hier nicht geleistet werden kann. Sie dürfte aber zu dem Ergebnis kommen, dass nicht alle von Bonhoeffer als unbedingt wesensnotwendig behaupteten Aspekte – die wegen der nur sehr begrenzt möglichen geschichtlichen Abstraktion sowieso sehr allgemein und offen gefasst sind – als direkte Ableitungen aus ihrer christologischen Ausrichtung verstanden werden müssen oder können, dass also manche Elemente nur bedingt überzeugend und einleuchtend sind. Die Gefahr, gerade an dieser Stelle in die christologisch begründeten geschichtlichen Strukturelemente logisch bzw. theologisch nicht-notwendige Eintragungen vorzunehmen – etwa aufgrund eigener historischer und sozialpsychologischer Verortung – ist bei einer solch anspruchsvollen Konstruktion, die einen Ausgleich zwischen klassischer Wesenslehre und geschichtlicher Lebensphilosophie leisten soll, besonders groß. 208 E 397.

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ihre (inhaltliche) Bezogenheit aufeinander, derart dass jedes der vier Mandate auf die übrigen als seine Ergänzungen verweist, das Gegeneinander wiederum dafür, dass jedes Mandat an den übrigen seine Grenze findet.: „[K]eine einzelne der zur Verkündigung des Gebotes ermächtigten Autoritäten [kann] sich selbst absolutsetzen. Nur indem Kirche, Familie, Arbeit und Obrigkeit sich gegenseitig begrenzen, indem sie neben- und miteinander jedes in seiner Weise das Gebot Gottes zur Geltung bringen, sind sie von oben her zur Rede ermächtigt.“209

Diese spannungsvolle Einheit der vier Mandate kann freilich nicht theoretisch bzw. abstrakt postuliert werden, sondern allein im Handeln konkret erfahren und folglich auch verwirklicht (oder: wirklich) werden. Sie ist eine Glaubensund Lebenswirklichkeit im qualifizierten, christologischen Sinne, so wie das echte Tun nur konkret-praktisch zu seiner Einheit von Ja und Nein findet, nicht aber theoretisch, d. h. in allgemeiner Weise bestimmt werden könnte210. Wenn nun diese Wesensmerkmale der Mandate, d. h. ihre spannungsvolle, differenzierte Einheit, nicht beachtet würden, hätte dies zur notwendigen theoretischen und praktischen Folge, dass eine Dimension menschlichen Lebens, etwa der Staat, verabsolutiert, alles übrige aber abgewertet, oder umgekehrt ein Bereich marginalisiert wird, welcher nicht anders als die übrigen drei eine konstitutive Dimension der menschlichen Existenz ist. Mit einer solchen Entstellung der Mandatenlehre wäre aber auch die menschliche Existenz in ihrem wesentlichen Wirklichkeitsbezug entstellt. Theologisch entscheidend ist dabei für Bonhoeffer besonders die von ihm immer wieder kritisierte Diastase von ‚Weltlichem‘ und ‚Geistlichem‘ resp. ‚Religiösem‘ resp. ‚Christlichem‘, bei welcher entweder der eine oder der andere Bereich, also die ‚weltlichen‘ Mandate von Staat, Ehe und Arbeit einerseits und das ‚christliche‘ Mandat der Kirche andererseits211 – absichtlich oder auch nur als notwendige 209 E 384. Vgl. auch DBW 16, 561 („Personal“- und „Sach“ethos); 528 (Staat und Kirche): „Das geistliche Amt selbst ist der Obrigkeit nicht unterworfen. Jedoch hat die Obrigkeit den vollen Gehorsamsanspruch auf die christlichen Gemeindeglieder. Damit stellt sie sich nicht als zweite Autorität neben die Autorität Christi, sondern ihre eigene Autorität ist nur eine Gestalt der Autorität Christi. Im Gehorsam gegen die Obrigkeit gehorcht der Christ Christus. Der Christ hört als Bürger nicht auf Christ zu sein, sondern er dient Christus in anderer Weise […]. Die obrigkeitliche Person wird dem Christen so zum Diener Gottes.“ S. auch E 55, wo Bonhoeffer nachdrücklich darauf hinweist, dass nach dieser Konzeption der Mandate als ontologisch-ethischen Strukturen sich die menschliche Existenz immer nur unter allen vier dieser Mandate vollzieht. 210 Vgl. E  60: „[…] erst und allein in ihm [sc. dem Menschen] und zwar in konkretem Leben und Handeln [wird] die Einheit des ‚an sich‘ Unvereinbaren geschaffen, das aber freilich nicht anders als indem der Mensch sich durch Jesus Christus vor die vollzogene Wirklichkeit der Menschwerdung Gottes, der Versöhnung Gottes mit der Welt in Krippe, Kreuz und Auferstehung Jesu Christi stellen läßt. So dient gerade die Lehre von den göttlichen Mandaten […] dazu, den Menschen vor die eine und ganze Wirklichkeit zu stellen, wie sie uns in Jesus Christus offenbar wird.“ 211 Zu Bonhoeffers Verwendung des – in seiner Auffassung nur scheinbaren – Gegensatzpaares ‚christlich‘ – ‚weltlich‘ s. bes. o. B.II.4.c.

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Folge einer bestimmten Wirklichkeitsdeutung212, dem anderen übergeordnet wird. Die Mandatenlehre dient demgegenüber nicht nur der Konkretion der Ontologie und der Ethik, d. h. der systematischen Verbindung von Gesetz und Wirklichkeit; sie dient außerdem dem theologischen Doppelziel einer, aktuell dringlichen, Delegitimierung des Totalitarismus des Staates und umgekehrt eines grundsätzlichen Abweis theokratischer Ansprüche der Kirche auf die von ihr verschiedenen Lebensbereiche213. Als einander nebengeordnete Ordnungstrukturen haben alle Mandate aber, wie die Wirklichkeit insgesamt, ihre Begründung in Christus, so dass die Kirche als ein Mandat unter anderen letztlich doch in einer bestimmten Weise von den drei übrigen abgehoben wird, ohne dass aber damit zugleich ein Herrschaftsanspruch verbunden wäre. Die Kirche zeichnet sich nämlich dadurch aus, dass in ihr Christus Gestalt gewonnen hat214 und dass sie deshalb trotz der Begrenzungen, denen auch sie, sofern sie ein Mandat ist, unterliegt, das geistliche Zentrum der Wirklichkeit ist, in welchem die Christusverkündigung an die ganze Welt geschieht215. Von der Kirche her erhalten demnach die übrigen Mandate erst ihre ‚relative Eigengesetzlichkeit‘ zugesprochen, weil sich allein aus der Christuspredigt die Wahrheit und Wirklichkeit der Welt und ihrer Strukturen wahrhaft erschließt216. Das einzige echte Ausgreifen der Kirche auf die drei übrigen Mandate aber, die sie als eigene, ihr selbst und einander neben- und zugeordnete Wirklichkeitsstrukturen lehrt, besteht, um es noch einmal zu wiederholen, darin, dass sie den Mandaten ihre Grenze der fundamentalen Selbstverfehlung aufzeigt, indem sie ihnen das ‚Gesetz‘ im engeren Sinne verkündigt, d. h. indem sie in ihrer Verkündigung den nicht überschreitbaren Rahmen ihrer Existenz festsetzt217, und indem sie den Trägern der drei ‚weltlichen‘ Mandate im Hinblick auf deren konkrete Gestaltung den diakonischen Rat erteilt. 212

Dazu s. o. B.II.2. Vgl. E 364: „Von hier aus löst sich das vielverhandelte Problem der Eigengesetzlichkeit der weltlichen Ordnungen. Die Betonung der Eigengesetzlichkeit zum Beispiel des Staates hat ihren Sinn gegenüber einer Heteronomie kirchlicher Theokratie; vor Gott aber gibt es keine Eigengesetzlichkeiten, sondern das Gesetz des in Jesus Christus offenbarten Gottes ist das Gesetz aller irdischen Ordnungen.“ Es könnte darum „von einer relativen Eigengesetzlichkeit gesprochen werden.“ 214 E 84. 215 Dazu s. E 59 f. Da hier Bonhoeffers späte Ekklesiologie nicht selbständiges Thema der Untersuchung ist, wird auf weitere Erläuterungen des Kirchenbegriffs vor dem Hintergrund der Mandatenlehre, wie Bonhoeffer sie vornimmt, verzichtet. Eine wichtige Folgerung aus dem Bisherigen ist aber, dass die Kirche als Mandat auch der Dialektik von Wirklichkeit und Faktizität unterliegt, d. h. dass ihre wahre Wirklichkeit je neu konkrete, geschichtliche Gestalt annimmt, über welche auch immer wieder neu das göttliche Urteil von Nein und Ja gesprochen wird. An dieser Stelle ist die fundamentale Differenz zum katholischen Kirchenbegriff evident. 216 Vgl. dazu auch E 355 ff., bes. 362 f. 217 S. auch schon in: Die Kirche vor der Judenfrage, DBW 12, 352 f. 213

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b) Unbewusstes Christentum Die systematische Prämisse dieser originellen und komplexen Interpretation der lex divina und der ihr zugehörigen Mandatenlehre bildet der in der Ethik nur angedeutete Gedanke eines unbewussten Christentums218. Dabei handelt es sich um eine theologische Denkfigur, die zwar schon in den frühen Grundlegungen von Bonhoeffers Theologie angelegt ist, die aber erst spät von Bonhoeffer selbst als solche entdeckt wird. Zu einer expliziten Integration dieser Figur in die Ethik ist es nicht mehr gekommen; dass es sich gleichwohl um ein für die Konzeption der Ethik (und damit für die Theologie Bonhoeffers überhaupt) wesentliches Element handelt, zeigt sich aber auch daran, dass er sich diesem im Gefängnis wieder zuwendet und nun selbst in Verbindung mit dem in Akt und Sein unter Rückgriff auf die altprotestantische Orthodoxie entwickelten Begriff des Glaubens als fides directa bzw. actus directus bringt219. Für diesen Glaubensbegriff, den Bonhoeffer trotz terminologischer Wandlungen  –  in der Ethik steht dann ja Einfalt statt actus directus220  –  im Wesentlichen beibehalten hat, ist, wie schon ausführlich erläutert wurde221, die nicht-reflexive resp. nicht-subjektivistische Form des Glaubens charakteristisch, der damit als eine (bedingte, weil nicht selbst hergestellte) personale Unmittelbarkeitsbeziehung des Einzelnen auf Christus gefasst wird. Auch wenn der Glauben damit nicht notwendigerweise unbewusst im weiteren Sinne sein muss, d. h. auch wenn Glauben (und Tun) durchaus auch kognitiv erfassbar sein können, so ist dies nun gerade nicht konstitutives Element des Glaubensbegriffs, wie Bonhoeffer häufig erklärt hat und wie es schon aus dem früheren Begriff des Glaubens als actus directus folgt. Denn diesen Glaubensbegriff hat Bonhoeffer samt seines ursprünglichen Kontextes entlehnt, auch wenn er beides auf dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit dem Idealismus und dessen theologischen Rezeptionsmodellen umgedeutet hat. Der Kontext aber, die altprotestantische Tauflehre und ihre Zuordnung der fides directa zum Kind, als „nicht-diskursiver“, „direkter“ Glauben aufgrund der Taufe222, wurde von Bonhoeffer so interpretiert, dass das Kind das Bild 218

Zum Begriff s. E 16295. WE 545 f. Dazu AS 23 f.157 ff. sowie A.II.5.c. Den Akt-Begriff aus Akt und Sein verwendet Bonhoeffer im Unterschied zur orthodoxen Terminologie später nicht mehr, wohl weil die in der Habilitationsschrift zugrunde gelegte Differenz von Denkformen (Transzendentalphilosophie – Ontologie) einerseits kein geistesgeschichtlich aktuelles Problem mehr darstellt und andererseits Bonhoeffers Interesse sich über die fundamentaltheologischen und erkenntnistheoretischen Fragen hinaus und diese einschließend zur konkreten Ethik hin bewegt hat. 220 S. o. A.II.5.d. 221 S. Teil A. 222 Vgl. Bonhoeffers Hollaz-Zitat AS30): habent infantes fidem non reflexam aut discursivam, sed directam et simplicem a Spiritu Sancto, cui malitiose non resistunt per baptismum accensam . S. ausführlicher o. A.II.5.c. 219

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des erst eschatologisch ganz versöhnten und damit in reiner Unmittelbarkeit zu Christus lebenden Menschen ist. Der glaubende Mensch, so muss man daraus nun folgern, ist damit nicht ausschließlich derjenige, der seinen Glauben zum Gegenstand theologischen Nachdenkens, zum actus reflexus macht223; vielmehr eignet dem Glauben oftmals eine kognitive Unbewusstheit, die ihn schließlich auch erst zum ‚Lebenselement‘224 macht, das die Fähigkeiten und Gaben des Einzelnen freisetzt, ohne von ihm stets auch eine reflektierende Unterbrechung des Lebensvollzugs oder einen schwierigen und langwierigen, geistig und psychisch herausfordernden Entscheidungsprozess im Prüfen von Gottes Willen einzuschließen, wie es in den großen ethischen Ausnahmesituationen des Lebens der Fall ist225. Führt man diesen Gedanken konsequent weiter, dann folgt daraus aber auch die Erkenntnis, dass es nicht nur beim Kind einen unreflektierten, d. h. nicht-subjektivistischen, und unbewussten, d. h. nicht kognitiv durchdrungenen und insofern ‚gewussten‘226 resp. bewusst erfahrenen, Glauben geben kann, ebenso nicht nur bei dem bewussten, bekennenden Christen, der sich in seinem ganzen Leben getragen weiß vom Glauben und von Gottes Gebot; vielmehr ist darüber hinaus denkbar, dass es auch beim mündigen Menschen eine völlige Unreflektiertheit des Glaubens gibt, die sich dann freilich von der fides directa des Kindes wohl unterscheiden muss. Denn wenn auch der sich selbst als Christ verstehende und erfahrende Mensch Glauben und Gebot keineswegs immer in dem „grelle[n] und ermüdende[n] Licht dauernder Bewußtheit“227 empfängt, wenn sich sein Leben vielmehr im Freiraum des Gebots vollzieht, ohne dass „das immer ins Bewußtsein erhoben werden müßte“ oder sollte228, dann kann die gedankliche Möglichkeit, dass sich bei einigen Menschen ein Glauben und Hören auf das Gebot finden, die eine vollkommen unreflektierte, unbewusste Tiefendimension ihres Lebens bilden, nicht grundsätzlich bestritten werden. Dass Bonhoeffer diese Ableitung, wenn auch in der Ethik noch nicht explizit, vorgenommen hat, deutet er selbst 1944 im Brief an Eberhard Bethge aus dem Gefängnis heraus an: „Die Frage, wie es eine ‚natürliche‘ Frömmigkeit geben kann, ist zugleich die Frage nach dem ‚unbewußten Christentum‘, die mich mehr und mehr beschäftigt. Die lutherischen Dogmatiker unterschieden eine fides directa von einer fides reflexa. Sie bezogen das auf den sogenannten Kinderglauben bei der Taufe. Ich frage mich, ob hier nicht ein sehr weitreichendes Problem angeschnitten ist.“229

223

Zur Theologie als Reflexionsakt im Dienst der Kirche s. die Einleitung zu dieser Arbeit. Vgl. E 385; C.III.2. 225 Vgl. dazu E 384 ff. S. außerdem o. B.II.4.c u. d; C.III.3. 226 Zu Bonhoeffers Wissensbegriff s. o. A.II.5.b. 227 E 388. 228 E 384. 229 WE 545 f. 224

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Freilich ist dieses unbewusste Christsein dann eben nicht einfach mit dem Kinderglauben aus Akt und Sein, dem Bild der eschatologischen Existenz, identisch, sondern eine Form von Glauben, deren Bestimmung ist, als Glaube erst erfahren zu werden und darin bewusst das Vorletzte als Leben vom Letzten her anzunehmen, um es in seiner Wirklichkeit und in seinen ethischen Herausforderungen wahrhaft verstehen zu können. Die Unbewusstheit des Glaubens müsste also in einen bewussten, bekennenden Glauben verwandelt werden, damit die Verheißung des ungebrochenen heilen Gottesverhältnisses, der fides directa des Kindes, für den Menschen erfahrbar würde230. Gleichwohl ist es umgekehrt diese Verheißung selbst, d. h. die Verheißung einer echten Unmittelbarkeit des Menschen zu Gott, die die von Bonhoeffer seit der Zeit der Ethik vorsichtig postulierte Möglichkeit einer Unbewusstheit des Glaubens aus sich heraus setzt. „Glaube ist eben kein psychologischer, sondern ein theologischer Begriff“231, auch wenn die psychologischen Gestalten des Glaubens als Bekenntnis und Entscheidung ihrerseits zumindest beim mündigen Menschen zuletzt notwendig und damit das Ziel auch des unbewussten Christseins sind232. Konzeptionell wesentlich für die Ethik ist aber zunächst dies, dass nämlich ein solches unbewusstes Christentum überhaupt als möglich und wirklich angenommen wird und seine Bedeutung für die Weltgestaltung, also für die Arbeit an der iustitia civilis unter den drei ‚weltlichen‘ Mandaten, erkannt wird. Denn der total unbewusste Glauben des mündigen Menschen kann sich ja nicht anders manifestieren als im gehorsam-freien Tun, welches trotz seiner Unbewusstheit bzw. Unwissenheit über dieses sein Wesen de facto als christliches, einfältiges Tun anzusprechen ist: „Wir finden heute vor: christl. Ethik – gelöst vom christl. Dogma. Christl. Handeln, das sich seiner Christlichkeit garnicht mehr bewußt ist.“233

Dass Bonhoeffer diese Konsequenz schließlich im Begriff war auch explizit zu ziehen, nachdem sie bereits als Prämisse einem Teil seiner Ausführungen in der Ethik zugrunde liegt, dürfte nicht nur Ergebnis der theologischen Arbeit, sondern zugleich, nicht mehr analytisch davon zu trennendes, Ergebnis seines engen Kontakts zu den Mitgliedern des Widerstandszirkels sein, von denen offenbar manche in Bonhoeffers Auffassung der Tat nach als Christen anzusprechen waren, auch wenn ihnen selbst davon kein Bewusstsein zu eigen war oder ein solches erst mit der Zeit – „wieder“, wie Bonhoeffer urteilt, – zu230 S. dazu etwa ZE  Nr. 71. Vgl. Schmid, Dogmatik, 30414: „Demnach unterscheidet Hollaz […] den Glauben […] in fidem directam […] und in fidem reflexam aut discursivam, qua homo renatus credit et sentit, se credere“. 231 DBW 16, 572 (Theologisches Gutachten zur Tauffrage). 232 Ebd. 233 ZE Nr. 761.

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stande kam234. Entscheidend ist hier gleichwohl weniger der Entdeckungszusammenhang, auch wenn er Bonhoeffers Intention recht gut verdeutlichen kann. In der Ethik schließt die Denkfigur vom unbewussten Christentum eine Argumentationslücke, die dann entsteht, wenn man nach den Voraussetzungen für die Geltung der Mandatenlehre, des in „Das Ethische und das Christliche als Thema“ entwickelten Gesetzesbegriffs und der noch zu erläuternden christologischen Natur- oder Menschenrechte235 fragt. Denn sowohl eine sich in lutherischer Tradition verstehende Mandatenlehre, deren Zweck ja die Verhinderung einer „kirchliche[n] Theokratie“236 durch die Übertragung der Weisungsfunktion auf die Repräsentanten der Mandate und durch die neu eingeführte Form des Gottesgesetzes als Rat ist, als auch die Identifizierung des (engen) Gesetzesbegriffs mit dem philosophischen, d. h. allgemein einsehbaren Sollen, als auch schließlich das Postulat von christologisch begründeten, aber gleichwohl in Grundzügen der Vernunft zugänglichen natürlichen Rechten237 kann folgerichtig nur entweder in einer streng durchgeführten lutherischen Zwei-Regimenten-Lehre samt ihrer Voraussetzung eines, wie rudimentär auch immer zu denkenden, allgemeinen Naturrechts oder in einer den Gedanken eines unbewussten Christentums einschließenden christologischen Wirklichkeitsdeutung begründet sein238. Den Gedanken eines allgemeinen Naturrechts nun lehnt Bonhoeffer auch zur Zeit der Ethik strikt ab239; eine andere Position wäre ihm aber auch von seinem offenbarungstheologischen Ansatz und dem damit verbundenen christologischen Wirklichkeits- resp. Lebensbegriff her gar nicht möglich gewesen. Nur von Christus her erschließen sich ja in Bonhoeffers Auffassung die Wesensgesetze, die Rechte und die Mandate und nur von Christus her ist darum auch die nicht vollmächtige Beratung und Einigung der bekennenden Christen mit anderen Fachleuten möglich; denn diese setzt ein bestimmtes Maß an Wirklichkeitserkenntnis voraus, welche dann zwar nicht ‚sakramental‘ verfasst und vollkommen kon234

S. dazu E 124.342–344: „Rückkehr zum Ursprung“. S.u. C.IV. 236 E 364. 237 E 167. Das Gleiche würde wohl auch für die von Bonhoeffer nicht mehr verfasste, aber geplante Tugendlehre gelten: auch das „Gutsein“ (E  157) wäre dann inhaltlich dem unbewussten Christen durchaus erkennbar und wirklich (z. B. in Form der Kardinaltugenden, deren Auslegung durch Josef Pieper sich Bonhoeffer offenbar in weiten Teilen anzuschließen gedachte [vgl. dazu bes. ZE Nr. 63.64.66.67]), obwohl ihm das wirkliche Wesen des Gutseins, die Ausrichtung der Existenz auf Christus, verschlossen bliebe, so lange sich diese Ausrichtung ohne die gleichzeitige bewusste Erfahrung dessen vollzieht. S.u. C.IV. 238 Jedenfalls dann, wenn man eine katholische Stufenordnung kategorisch ausschließt. Für Bonhoeffer ist dies unhintergehbare Voraussetzung reformatorischer Theologie, was schon daran deutlich wird, dass er sich kaum mit längerer Kritik daran aufhält, sondern zumeist ganz beiläufig das katholische Natur-Gnade-Schema mit unter die als verkehrte Dualismen abgewiesenen Theologien zählt. Vgl. etwa E 140.142.219.247. 239 S. dazu o. C.III.1 u. 2. 235

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kret ist240, weil nicht das unmittelbar dem Hören folgende Tun des Einzelnen ihr Ziel ist, aber auch als solch unbestimmtere Wirklichkeitserfassung allein von Christus als ihrem „Ursprung, Wesen und Ziel“241 her ermöglicht ist. Schließlich muss auch die Erfahrung des Sollens, des Nichtseins elementarster Strukturen und des Nichtgeltens fundamentaler Werte  –  die an sich selbst nichts sind, aber von Christus her Ausdruck seines Willens sein können  –, auf eine ganz rudimentäre, nicht bewusste und zumeist bloß punktuelle Begegnung mit dem göttlichen Willen in Jesus Christus interpretiert werden, der ohne die wirkliche Gegründetheit im Glauben eben als ‚Gesetz‘, d. h. als zwingendes und strafendes, nicht unbedingt aber auch als überführendes und auf Christus hin züchtigendes Gesetz erfahren wird242. Dem entspricht auch die schon viel früher der Kirche zugewiesene Aufgabe der Strafandrohung an verfehltes Handeln in Staat und Gesellschaft243. Das seinerzeit fehlende gedankliche Element, der Begriff eines unbewussten Christentums in Verbindung mit dem dialektisch-positiven Weltbegriff der späten Jahre, hat diese früheren Äußerungen in ihrem eigentlichen Sinn nicht recht deutlich werden lassen, weil sie entweder als ein zu geringer Anspruch an die Weltverantwortung der Kirche oder als ein unerlaubtes Überschreiten der Grenze zwischen Kirche und Welt verstanden werden konnten. Erst der späte Weltbegriff und das in diesem Kontext angedeutete Konzept eines unbe240

S. dazu o. B.II.4.c. E 250 u. ö. 242 Vgl. E 282 f.: „Die richtige Beobachtung, daß das natürliche Gewissen in den Inhalten seines Gesetzes mit denen des in Christus befreiten Gewissens eine auffallende Übereinstimmung aufweist, ist in der Tatsache begründet, daß es im Gewissen eben um den Bestand des Lebens selbst geht und daß es darum Grundzüge des Lebensgesetzes enthält, wenn auch im einzelnen verzerrt und im grundsätzlichen pervertiert. Das Gewissen bleibt als befreites, was es als natürliches war, nämlich der Warner vor der Übertretung des Lebensgesetzes.“ Hier scheint Bonhoeffer sogar eine echt lutherische Position anzunehmen, derzufolge dem Menschen eine zumindest bruchstückhafte natürliche Erkenntnis bestimmter geschöpflicher Strukturen und der diesen entsprechenden sittlichen Grundnormen eignet. Allerdings muss diese Äußerung von den zahlreichen anderen Stellen der Ethik her gelesen werden, welche Leben bzw. Wirklichkeit christologisch begründet sein lassen und von daher jede Form von Naturrecht oder natürlicher Sittlichkeit negieren. Es handelt sich hierbei also wohl um eine der wenigen Andeutungen einer dem Menschen möglichen unbewussten und unvollkommenen Ausrichtung der Existenz auf Christus, zu der dann auch die Bewahrung bestimmter menschlicher Grundrechte gehört (s. u. C.IV). S. auch E 281: „Es ist erstaunlich, in welche Nähe zu diesen Gedanken [sc. zum unvermeidlichen Schuldtragen aus Nächstenliebe] Goethe durch eine rein profane Kenntnis der Wirklichkeit geführt [!] wird […]“; 295: „Nietzsche hat ohne es zu wissen im Geiste des Neuen Testaments gesprochen […]“; 56: „[…] weil sie [sc. das Mandat der Arbeit, Ehe, Obrigkeit, Kirche] geboten ist, darum ist sie, und nur sofern ihr Sein – bewußt oder unbewußt [!] – dem göttlichen Auftrag unterworfen ist, ist es göttliches Mandat.“; 349 (meine Hervorhebung): „So wird der um einer gerechten Sache willen Verfolgte zu Christus geführt, so geschieht es, daß sich ein solcher […] auf Christus beruft und sich als Christ bekennt, weil ihm seine Zugehörigkeit zu Christus erst in diesem Augenblick aufgeht.“; vgl. auch 344. 243 DBW 12, 352 f. 241

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wussten Christentums können demgegenüber das theoretische Fundament für die von Bonhoeffer bereits damals deutlich empfundene Notwendigkeit der Behauptung einer christologisch begründeten relativen Eigenständigkeit von Staat und Gesellschaft liefern, ohne dass zugleich ein Rückfall in das ‚pseudolutherische‘ Raumdenken oder das dazu gegenläufige Schwärmertum geschieht. Diese Einschätzung wird auch indirekt belegt durch den Sprachgebrauch der Nachfolge: denn in dieser, von einem überwiegend negativen Weltverhältnis gekennzeichneten Schrift, fehlen entsprechend auch die Aussagen von einer positiv bewerteten Eigenständigkeit der auf Christus hin und in Christus erhaltenen Welt244. Die Erhaltung der Welt geschieht vielmehr um der von ihr selbst strikt unterschiedenen Kirche willen – was in gewisser Weise natürlich auch später noch gilt, dann aber durch die nun wieder und ausführlicher thematisierten Erhaltungsordnungen resp. Mandate nicht mehr vorwiegend negativ konnotiert ist, sondern als Berufung zur weltlichen Verantwortung des Christen gedeutet wird. Die Formulierung am Ende der im gleichen Jahr wie „Die Geschichte und das Gute“, „Die Liebe Gottes und der Zerfall der Welt“ und „Über die Möglichkeit des Wortes der Kirche an die Welt“ 1942 entstandenen Studie zum „Personal“- und „Sach“ethos bestätigt die Einschätzung zur Funktion des Gedankens vom unbewussten Christentum: „[N]icht zum Absehen von Christus, sondern zur vollen Verkündigung der Gnade der Christusherrschaft, kann die Kirche durch die Erkenntnis geführt (werden), daß hier und da auch ohne gehörte Predigt – aber doch niemals ohne das Dasein Jesu Christi! – weltliche Ordnung möglich ist. Der unbekannte Gott wird nur als der bekannte, weil offenbare, gepredigt.“245

Indem Bonhoeffer mit diesem Konstrukt die lutherische Zwei-RegimentenLehre einschließlich des ordo-Konzepts zwar nominell aufnimmt246, den Gedanken einer begrenzten natürlichen Erkenntnisfähigkeit des Menschen auf dem Gebiet der politischen und gesellschaftlichen Ethik aber wegfallen lässt zugunsten einer Begründung der menschlichen Fähigkeit zur iustitia civilis im unbewussten Christentum, interpretiert er also im Grunde, in Analogie zu seinem vermittelnden Gesetzesbegriff247, Luther durch Barth. Gemäß seiner Maxime, das Gute zu behalten und das weniger Gute oder Schlechte zu eliminieren248, gilt sein Interesse im Falle Luthers besonders dem politischen Rea244

N 110 f.267. DBW 16, 562. 246 So etwa E 124: „[Die Kirche] überläßt es dem Weltregiment Gottes, ob er es den Ordnungsmächten gelingen lässt [ihrer Funktion als ĔƪĞďġģėnachzukommen, vgl. 122 f.] und ob sie, die Kirche – in wohl gewahrter Unterscheidung und doch in aufrichtiger Bundesgenossenschaft mit jenen – der Zukunft das geschichtliche Erbe […] weitergeben darf.“ 247 S.o. C.III.2. 248 Vgl. SC 46. 245

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lismus im alltäglichen Sinne des Begriffs, der eine umfassende Kooperation zwischen Christen und Nichtchristen nicht nur als faktisch gegeben, sondern auch theoretisch-theologisch als möglich und nötig voraussetzt. Andererseits teilt er Barths massive Kritik am Gedanken der Schöpfungsordnungen – der bei Luther mit Einschränkungen, die politische Ordnung ist ja gerade keine Schöpfungs-, sondern eine der ratio begrenzt erschlossene Erhaltungsordnung249, vorhanden ist  –  und dessen damit verbundene Insistenz auf dem theologischen Dreh- und Angelpunkt der auch kosmologisch wirksamen Versöhnung Gottes mit dem Menschen250. Dass in diesem Gedanken das theologische Postulat eines unbewussten Christentums beschlossen liegt, wird auch daran deutlich, dass Barth selbst später zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommt, wenn er schon 1948, unabhängig von Bonhoeffers Überlegungen zur Unbewusstheit eines christlichen Weltumgangs, formuliert: „Sollten wir uns mit naturrechtlich begründeten Thesen im Ergebnis hier wirklich getroffen haben, so würde darin nur eine Bestätigung dessen zu erblicken sein, daß die Polis sich auch da im Reiche Christi befindet, wo ihre Träger diesen Sachverhalt nicht kennen oder nicht wahr haben wollen und darum von der dem Menschen von daher nahe gelegten Erkenntnis ihres Wesens keinen Gebrauch zu machen wissen.“251

Diese unmissverständliche Andeutung des Gedankens eines unbewussten Christentums bleibt hier allerdings noch unausgeführt; die Zurückhaltung gegenüber der ‚natürlichen‘ Erkenntnisfähigkeit des Menschen überwiegt zu 249

WA 42, 79 ff. Dass Barth für Bonhoeffer von besonderer Bedeutung war, muss nicht eigens erörtert werden. Bonhoeffer hat sich später noch ins Gefängnis den gesamten zweiten Band der Kirchlichen Dogmatik bringen lassen, immerhin weit über 600 Druckseiten (vgl. DB 1054). Dass der als Druckfahne ihm schon vorab zugängliche Band KD II/2 sich bis in manche Formulierungen in der Ethik ausgewirkt hat, ist bereits erwähnt worden (s. o. A.II.5.e und C.III.2). Die Wandlungen, die Barths Theologie während der langen Entstehungsgeschichte der Kirchlichen Dogmatik durchlaufen hat, sind hier nicht nur deshalb unerheblich, weil Bonhoeffer sie großenteils nicht mehr zur Kenntnis nehmen konnte; sie hätten sich wohl auch weniger stark ausgewirkt, als es scheinen könnte, weil Bonhoeffer Barth tatsächlich immer sehr eigenständig rezipiert und dabei grundsätzlich mit Luther, aber auch anderen Denkern ins Gespräch gebracht hat. Auch darum konnte in den bisherigen Analysen zur Ethik der Einfluss Barths an keiner Stelle isoliert werden von demjenigen anderer verdeckter oder offen genannter Gesprächspartner Bonhoeffers. Barths Theologie hat, wenn man das recht komplizierte Verhältnis zu Bonhoeffers Theologie einmal auf einen Satz zuspitzen will, dieser bleibend die große Richtung vorgegeben, nämlich in der offenbarungstheologischen Begründung aller Theologoumena und in der versöhnungstheologischen Deutung des Weltbegriffs, in dem Bonhoeffers Theologie kulminiert. Auch manche Einzelaspekte wie etwa besonders den Gebotsbegriff hat Barth zweifellos erheblich beeinflusst; bestimmte Konsequenzen aber, wie den Gedanken vom unbewussten Christentum und die ethische Durchdringung des neben Barth auch durch die Rezeption des Neuthomismus Josef Piepers beeinflussten Wirklichkeitsbegriffs hat Bonhoeffer ganz eigenständig – und dennoch, was schließlich beim gemeinsamen theologischen Ausgangspunkt nicht überraschen kann, teilweise in enger sachlicher Parallele zu Barth – gezogen. 251 CG 73(35). 250

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dieser Zeit noch deutlich252. Die theologische Bedeutung dieses Gedankens ändert sich bei Barth explizit, wie auch bei Bonhoeffer, erst spät, nämlich mit der so genannten „Lichterlehre“ innerhalb der Versöhnungslehre im letzten Band der Kirchlichen Dogmatik253; darauf weisen in der Zusammenschau möglicherweise schon die 28 Jahre zuvor geäußerten Bedenken Barths gegenüber Bonhoeffers früher in Hinsicht auf die Ethik nahezu offenbarungspositivistischer254 Position im Gespräch in Bonn 1931 hin, ohne dass Bonhoeffer diese aber recht zu nehmen gewusst hätte255. Allerdings ist auch Barth selbst zu dieser Zeit noch weit entfernt von der ausdrücklichen Integration natürlicher Erkenntnis in den christologischen Weltbegriff, wie er sie dann 1959 mit dem Gedanken der Welt als theatrum Dei gloriae ausgeführt hat256. Die besondere Nähe, die gerade an diesem Punkt zwischen Barth und Bonhoeffer besteht, hat sich aber schon früh auch beiläufig an einer Begebenheit im gleichen Jahr 1931 gezeigt, ohne dabei wohl gleichzeitig mit weitgehender theologischer Reflexion auf beiden Seiten verbunden zu sein. Demnach hat Bonhoeffer in Barths Seminar die ihm offenbar schon früh sehr wichtige und später von ihm noch häufiger herangezogene Lutheräußerung zitiert: cum tales blasphemie, quia sunt violenter a diabolo hominibus invitis extorte, aliquando gratiores sonent in aure dei quam ipsum Alleluja vel quaecunque laudis iubilatio257; dies aber habe die nähere Bekanntschaft mit Barth erst ausgelöst, weil dieser sich „entzückt“ erkundigt habe, wer das beigetragen habe258. Bonhoeffer wie Barth ziehen daher mit diesem Postulat den Gedanken von der Versöhnung Gottes mit der Welt in Jesus Christus erst bis in ihre letzte Konsequenz aus: auch wenn die Versöhnung der Welt noch nicht zu ihrer Vollendung gekommen ist, auch wenn nicht alle Menschen zum Glauben an die Versöhnung und damit ihrer eigenen Errettung gekommen sind, so gibt es 252

Vgl. etwa CG 72 f.(33 ff.). KD IV / 3, § 69. 254 So in etwa scheint Barth Bonhoeffer hier aufgefasst zu haben, was vor dem Hintergrund der später umgekehrten Kritik Bonhoeffers am Schülerkreis Barths im Hinblick auf die Hermeneutik (WE  404 f.415 f. u. ö.) einen besonderen Tiefsinn erhält. Vgl. Bonhoeffers Bericht an Erwin Sutz im Juli 1931 (DBW 11, 20): „Wir kamen sehr bald auf das ethische Problem und haben lange diskutiert. Er wollte mir nicht zugeben, wovon ich erwartete, er müßte. Es gäbe doch außer dem einen großen Licht in der Nacht auch noch viele kleine Lichterchen, sogenannte ‚relative ethische Kriterien‘, deren Sinn und Recht und Wesen er mir aber doch nicht verständlich machen konnte […]“. Es ist jedenfalls anzunehmen, dass der späte Bonhoeffer und der späte Barth, wenn die Gelegenheit zum theologischen Austausch bestanden hätte, einander gut verstanden hätten, und zwar gerade auch hinsichtlich der gedanklichen Ausweitung der Versöhnungstheologie hin zu einer „nachchristlichen natürlichen Theologie“ (vgl. Bayer, Christus, 273) im Sinne des unbewussten Christentums und der Lichterlehre. 255 Vgl. DBW 11, 20. 256 Vgl. KD IV / 3, 174 u. ö. 257 WA 56, 401, vgl. AS 16031); DBW 11, 293377.209301; E 115 mit Anm. 91. 258 DB 216. 253

IV. Die natürlichen Rechte

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doch Menschen, die schon vor dem bewussten Bekenntnis zu Christus nicht nur von, sondern auch aus der Wirklichkeit Christi leben und ohne es zu wissen gemeinsam mit den Christen die Welt nach der iustitia civilis gestalten, deren Sinn nicht in ihr selbst, sondern in der Wegbereitung für das letztgültige Kommen Christi liegt259.

IV. Die natürlichen Rechte 1. „Menschsein und Gutsein“ Zur Wegbereitung für Christus, der gemeinsamen Arbeit der Menschen an der iustitia civilis, die sich unter den inhaltlich bestimmten Mandaten als Hören auf das Gebot vollzieht, gehören nun allerdings noch weitere Aspekte, die Bonhoeffer teilweise ausgeführt hat, deren Erläuterung aber teilweise auch unterblieben ist, weil sich ihm die Gelegenheit zur Weiterarbeit nicht mehr geboten hat. Der eine Aspekt betrifft die im Verlauf der Analysen schon mehrfach erwähnte geplante Tugendlehre, die Bonhoeffer anhand mehrerer Notizzettel vorbereitet, aber nicht mehr ausgeführt hat. Angekündigt ist sie in dem Kapitel über die Bedeutung des Vorletzten als eschatologisch bestimmtem Lebensraum des Menschen für Gott mit dem Begriff des „Gutsein[s]“260. Es geht dabei um die individuelle Verfasstheit des Menschen im Hinblick auf seine Haltungen und Fähigkeiten zur ethischen Tat, so dass sich hier also gewissermaßen die gegenläufige und ergänzende Perspektive auf das ethische Handeln des Einzelnen zu der Perspektive auf die Mandate als ontologischanthropologische Strukturen der Wirklichkeit findet. Der freie Gehorsam zur verantwortlichen Tat, aus dem heraus die Mandate ihrem konkreten geschichtlichen Sinn entsprechend gestaltet werden, setzt beim Menschen einen seinerseits aus der Christusbeziehung empfangenen Habitus voraus, der von Bonhoeffer auch unter kritischem Rückgriff auf die klassische Tugendlehre und ihre Auslegung im Neothomismus Josef Piepers entfaltet werden sollte261. Insofern mit dem ‚Gutsein‘ also dasjenige thematisiert werden sollte, was man, wenn man dabei das für Bonhoeffers Ansatz wesentliche Element der christologischen Begründung nicht aus dem Blick verliert, als habituelle Sittlichkeit des einzelnen Subjekts bezeichnen könnte, ist damit eine entscheiden259 Vgl. E 152 f. („Wegbereitung“) mit KD IV / 3, 174 („Dienst“ der „Lichter des Kosmos“ an Gottes Selbstoffenbarung in Christus). 260 E 157 ff. 261 Die bedeutenden Traktate Piepers zu den Kardinaltugenden und den theologischen Tugenden waren teilweise bereits erschienen und von Bonhoeffer offenbar sehr intensiv durchgearbeitet worden. Es handelt sich dabei um den Traktat über die Klugheit (1937), um Zucht und Maß (zur vierten Kardinaltugend der ĝģĠěęĝƴėđ bzw. temperantia, 1939) und den Traktat Über die Hoffnung (1935).

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C. Die Formen des Guten

de Dimension der menschlichen Existenz aufgegriffen, ohne welche die Ethik in der Rezeption leicht auf eine reine Institutionenethik reduziert werden könnte, deren sachlicher Konnex mit dem seinerseits oft isoliert betrachteten Verantwortungsbegriff schwer herzustellen wäre. Für den von Bonhoeffer angestrebten ganzheitlichen und im strengen Sinne umfassenden ethischen Ansatz aber ist nicht nur die institutionelle Perspektive kennzeichnend, ebenso wenig ist allein der – freilich zentrale – komplexe, existenzphilosophisch und vom Personalismus beeinflusste Tatbegriff entscheidend, der das Handeln in und unter den Institutionen erst zu einem bedeutungsvollen, subjektiven Freiheitsgeschehen macht. Wirklich umfassend ist dieser ethische Ansatz vielmehr erst dann, wenn auch der Mensch, das handelnde Subjekt, in seiner gesamten Existenz mit allen ihren Dimensionen, in den Fokus der ethischen Betrachtung rückt. Mit dem Gutsein wird daher die Voraussetzung des guten Handelns im Subjekt selbst thematisiert, d. h. das je eigene Gutsein als Element der ethischen Handlung. Sofern nun dieses je eigene Gutsein, die habituelle Sittlichkeit des Subjekts, einerseits etwas ist, was diesem erst aufgegeben ist, indem es sich immer nur konkret im Tun als eine bestimmte Tugendhaftigkeit realisiert – und darin dann doch zugleich eingeübt wird, ohne damit seinen rezeptiven Charakter zu verlieren, weil das Gutsein nicht anders als die Wirklichkeitsgemäßheit und die relationale Freiheit des Tuns von Christus her begründet und inhaltlich bestimmt ist; sofern andererseits dieses Gutsein aber nur eine bestimmte Dimension der Existenz betrifft, nämlich die innerliche Haltung des Handelnden zur Sache, zur Aufgabe, zum Mitmenschen und zu sich selbst262, ist die, die institutionelle Perspektive ergänzende, Betrachtung des handelnden Subjekts noch nicht vollständig. Folgerichtig hat Bonhoeffer die Wegbereitung des Menschen als des gestaltenden Subjekts der durch die Mandate geordneten Wirklichkeit noch in einer weiteren Hinsicht entfaltet, die unter dem Begriff des „Menschseins“ angekündigt wird: 262 Dazu s. die Einträge, die Bonhoeffer auf den mit „Das Gute“ überschriebenen Zetteln vorgenommen hat (ZE  Nr. 65.64.66.67). Es sind eine ganze Reihe von Tugenden aufgelistet, die als „Haltungen“, „Verfaßtheiten“, „Gaben“ und „Erfahrungen“ das „Seinkönnen“ des Menschen als sein „Gutsein“ vor Christus und von Christus her ausmachen. Die von Bonhoeffer genannten Tugenden sind dabei so vielfältig wie das Leben selbst, die christlich-ethische Reflexion kann daher nur Orientierungen anbieten, nicht aber, wie in der aristotelischen Ethik, abstrakt bzw. allgemein eine bestimmte, in eine Rangordnung gebrachte, Anzahl von Tugenden inhaltlich als „natürliche Mitte“ oder ĖďĝƲĞđĜ von zwei Gegenbegriffen setzen (vgl. ZE Nr. 67). Dazu s. Eth. Nic. 1105bff., bes. 1106b: śĝĞēėŅěċ Ş ŁěďĞƭ ŖĘēĜ ĚěęċēěďĞēĔƮ őė ĖďĝƲĞđĞē ęƏĝċ ĞǼ ĚěƱĜ ŞĖǬĜ ƚěēĝĖƬėǹ ĕƲčȣ ĔċƯ Ǟ Ńė ž ĠěƲėēĖęĜžěưĝďēďėĖďĝƲĞđĜĎƫĎƴęĔċĔēȥėĞǻĜĖƫėĔċĒȡƊĚďěČęĕƭėĞǻĜĔċĞȡŕĕĕďēĢēė „Die Tugend ist also ein Verhalten der Entscheidung, begründet in der Mitte in Bezug auf uns, einer Mitte, die durch Vernunft bestimmt wird und danach, wie sie der Verständige bestimmen würde. Die Mitte liegt aber zwischen zwei Schlechtigkeiten, dem Übermaß und dem Mangel.“ (Übersetzung: Gigon).

IV. Die natürlichen Rechte

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„So hat allerdings die Wegbereitung auch ganz bestimmte Zustände im Auge, die herzustellen sind. Bei dem Versuch, dieses Zuständliche, auf das die Wegbereitung hinzielt, positiv auszusprechen, kommen wir zu den beiden Bestimmungen des Menschseins und des Gutseins.“263

Mit dem Menschsein ist nun im Unterschied zum Gutsein nicht etwas Aufgegebenes gemeint, so sehr auch dieses zugleich etwas Seinshaftes, ein „Seinkönnen“264, ist, weil es in der Existenz selbst zur Geltung kommt; vielmehr ist damit das unmittelbar vorgegebene naturhaft-geistige Sein des Menschen bezeichnet, welches je neu konkret zu schützen und zu bewahren ist – und darin dann auch seine Verwirklichung erfährt, ohne die es nur ein leerer Begriff bliebe, weil das Sein des Menschen in Bonhoeffers Auffassung ja ein Tätigsein, ein Existieren resp. Lebendigsein ist265, dessen Recht darum auch nur konkret verwirklicht und gewahrt wird. Das ‚Menschsein‘ als ethischer Grundbegriff bezeichnet also die Rechte des Menschseins, und zwar genauer die Rechte derjenigen Dimension der Existenz, die von Bonhoeffer bisher kaum thematisiert wurde, obwohl sie in seinem Lebensbegriff impliziert ist. Umgekehrt wurde dieser umfassende christologische Lebensbegriff von Bonhoeffer zweifellos auch im Hinblick auf das nun in seinen Grundzügen zu erläuternde chronologisch vorangehende Kapitel am Beginn der zweiten Fassung von „Die Geschichte und das Gute“ neu eingeführt und expliziert: Gegenstand der ethischen Betrachtung ist nun „Das natürliche Leben“266. Die Bedeutung dieses zweiten (bzw. ersten, sofern das Kapitel vom „Guten“ erst danach folgen sollte267) Aspekts der Wegbereitung kann kaum überschätzt werden, da es sich hier zweifellos um den Versuch handelt, aus dem christologischen Ansatz der Ethik fundamentale natürliche Rechte, d. h. Grund- bzw. Menschenrechte, herzuleiten, die faktisch auch als rechtspraktische Sicherung gegenüber dem totalitären Zugriff auf den Einzelnen durch den Staat dienen, darin und darüber hinaus aber eine differenzierte theologische Würdigung des natürlichen Lebens des Menschen enthalten, wie sie, wie Bonhoeffer selbst zu Beginn konstatiert, für den zeitgenössischen Protestantismus ganz und gar untypisch war. „Der Begriff des Natürlichen ist in der evangelischen Ethik in Mißkredit geraten. Bei den einen ging er vollständig im Dunkel der allgemeinen Sündhaftigkeit unter, bei den anderen erhielt er umgekehrt den Glanz der Urgeschöpflichkeit. Beides war ein böser Mißbrauch, der zur Folge hatte, daß man den Begriff des Natürlichen völlig aus dem

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E 157. ZE Nr. 64. Vgl. auch Nr. 63. 265 S.o. B.II.2. S. auch ZE Nr. 63: „Gutsein sein nicht Selbstzweck, sd. haftet am konkreten Handeln, Arbeiten Gutseinwollen widerspruchsvoll […] Gott und s. Wort, Tatwort sonst Qualität, aber nicht Existenz […]“. 266 E 163–217. 267 Vgl. E 162, s. auch 455. 264

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C. Die Formen des Guten

evangelischen Denken ausschied und ihn der katholischen Ethik überließ. Das aber bedeutete einen schweren sachlichen Verlust für das evangelische Denken […]“268.

Hier liegt darum nicht nur ein Gegenentwurf zur neuzeitlichen Begründung der Menschenrechte in der universalen und identischen Vernunft269 vor, sondern zugleich auch ein Gegenentwurf zur katholischen Moraltheologie, die sich nicht zuletzt aufgrund ihrer intensiven und kontinuierlichen Rezeption der Scholastik resp. des Thomismus immer auch mit der natürlichen Existenz und ihren fundamentalen Rechten, dem Naturrecht also, befasst hat. Bonhoeffer hat dabei insbesondere letzteren in seine eigenen Erörterungen in einem überraschend hohen Maße einbezogen; daneben finden sich nun aber auch einige positive Bezugnahmen auf die kantische Vernunftethik und sogar für Bonhoeffer ungewöhnliche Rückgriffe auf antikes Denken. Für diesen – bereits als Fragment recht langen und wohl für eine zentrale Position geplanten270 – Abschnitt ist daher im Hinblick auf die philosophisch-theologische Rezeption ein besonders weiter gedanklicher Horizont und eine, auch im Vergleich mit dem bisher Erläuterten, auffallende Souveränität in der Rezeption anderer Denker und ihrer Systeme kennzeichnend. So wie das Gutsein des Menschen vor Gott keineswegs bedeutungslos ist, auch wenn es nicht heilswirksam sein kann271, sind in analoger Weise „relative Unterschiede“272 zwischen dem Natürlichen und dem Unnatürlichen, d. h. zwischen der bewahrenswerten Gestalt der menschlichen Existenz und ihrer völligen Verkehrung zu machen. Das Vorletzte hat sein eigenes, vom Letzten her gegebenes Recht, denn „[w]as an Menschlichem und Gutem in der gefallenen Welt gefunden wird, […] gehört auf die Seite Jesu Christi“273, und dieses von Christus verliehene relative Recht gilt es nun in Bezug auf die konkrete, leiblich-geistige Existenz des Menschen zu entfalten. Dafür lehnt 268

E 163. Für einen Überblick vgl. Wagner, Naturrecht II, passim. Wagner bestätigt aaO. 176 Bonhoeffers Einschätzung: „[…] übergeht die neuprotestantische Ethik des 19. Jh. naturoder vernunftrechtliche Vorstellungen in der Regel mit Schweigen. In den einschlägigen Ethik-Lehrbüchern findet sich meistens nicht einmal ein Hinweis auf naturrechtliche Vorstellungen. Das Naturrechtsthema ist, wie das Fehlen eines entsprechenden Artikels in der RE1–3 zeigt, aus dem neuprotestantischen Gesichtskreis verschwunden.“ 270 Mit diesem Abschnitt sollten wohl die Konkretionen der Ethik beginnen (vgl. E 455), so dass er vermutlich recht genau in der Mitte der geplanten Ethik zu stehen gekommen wäre. Damit wäre ihm auch abgesehen von seiner Länge, die geschätzt am Ende wohl wenigstens 60 bis 65 Druckseiten (im vorliegenden Format) betragen hätte, eine inhaltlich jedenfalls sehr bedeutsame Stellung zugefallen. 271 Vgl. dazu das unabgeschlossene Kapitel „Kirche und Welt I.“, in dem Bonhoeffer gegen eine Verkehrung der Rechtfertigungslehre in eine „Rechtfertigung des Bösen“ (E 352) polemisiert und die Zusammengehörigkeit von weltlicher bzw. menschlicher Gerechtigkeit und Rechtfertigung proklamiert. 272 E 164. 273 E 161. 269

IV. Die natürlichen Rechte

371

sich Bonhoeffer nun erkennbar an das thomistische Naturrecht an, mit dem er sich im Zuge seiner Pieper-Rezeption und seiner Studien zeitgenössischer katholischer Ethiken, vielleicht aber auch aufgrund eigener Auseinandersetzung mit Thomas von Aquin während seines Aufenthaltes im BenediktinerKloster Ettal befasst hat274. Freilich ist die Begründung der im Folgenden aufgestellten natürlichen Rechte eine ganz andere als bei Thomas, weil sie aus dem christologischen Lebens- bzw. Wirklichkeitsbegriff abgeleitet werden und damit eben keine Naturrechte im Sinne der scholastisch-katholischen Tradition sind. Dennoch reklamiert auch Bonhoeffer ganz dezidiert den mit der philosophisch-theologischen abendländischen Geistesgeschichte aufgeladenen Begriff der „Natur“ für sich und setzt ihn als Attribut zu dem gleichfalls der Tradition entnommenen Rechtsbegriff. Um sie seiner Konzeption einfügen zu können, müssen diese Begriffe freilich in spezifisch anderer Weise bestimmt werden, als es die Tradition vorgibt; diese spezifische Bestimmung besteht in der Begründung sowohl des Naturbegriffs als auch des mit diesem verknüpften Rechtsbegriffs im Christusgeschehen, und zwar insbesondere im Geschehen der Inkarnation. Natur und Naturrecht resp. natürliches Recht sind damit zwar nominell identisch mit dem klassischen Verständnis in der Natur begründeter überpositiver Rechte; tatsächlich aber handelt es sich um eine andere Konzeption, deren signifikanter Unterschied allerdings weniger den Inhalt als vielmehr die Form, d. h. ihr Wesen und ihre Begründung, betrifft275. Dabei zeigt schon dieses von Bonhoeffer verwendete Begriffspaar an, dass er sich sorgfältig mit der hinter dem thomistischen Naturrecht stehenden aristotelisch-platonischen Tradition beschäftigt hat. Denn die Form-Inhalt-Differenz entstammt eben dieser in der Hochscholastik virulenten griechischen Wesenslehre, die – mit für Bonhoeffer nicht bedeutsamen Differenzen – entscheidendes Element platonischen und aristotelischen Denkens ist. Wenn er also zwischen einer ‚formalen‘ und einer ‚inhaltlichen‘ Seite des Natürlichen unterscheidet, übernimmt er damit offenbar die aristotelisch-thomistische Unterscheidung von Form und Materie, d. h. eigentlich genauer von essentia und existentia276 und integriert sie in seine christologische Weltdeutung, wobei es jedoch zu charakteristischen Verschiebungen ihrer Funktion und Bedeutung kommt. 274

Vgl. dazu DB 769 ff.; DBW 16,67 ff. Vgl. E 166, dort führt Bonhoeffer die erkenntnistheoretische Differenz von Form und Inhalt ein. S. dazu ausführlicher das Folgende. 276 Dabei ist die Materie das Gestaltungsprinzips des individuellen Seins, das principium individuationis, aufgrund dessen die allgemeine Wesensform zur konkreten Existenz wird (vgl. dazu von der Heydte, Seinsbegriff, 126, mit Bezug auf STh  III  qu.77  art.2). Bonhoeffers Inhalt ist darum nicht eigentlich die Materie (diese ist als formlose Masse – Ǝĕđ – ja überhaupt nicht erkennbar), sondern ihre je daseiende, gegebene Gestalt, eben die je konkrete Verbindung von Form und Materie. 275

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C. Die Formen des Guten

2. Das thomistische Naturrecht: Adnotationes Dass Bonhoeffer sich mit der katholischen Naturrechtstradition, deren grundlegende Referenz der thomistische Begriff der lex naturalis ist, beschäftigt hat, deutet er selbst an277. Vermutlich ist sein Interesse auch schon vor dem Aufenthalt in Ettal indirekt darauf gelenkt worden, als er die Studie Josef Piepers zur thomistischen Lehre von der Sittlichkeit rezipiert und für das geplante erste Kapitel der Ethik verwendet hat278. Dass er allerdings mehr als die Grundzüge der thomistischen lex naturalis zur Kenntnis genommen habe und sich etwa mit spezifischen Fragen zur Kategorialität der praktischen Vernunft bei Thomas und möglichen Anschlussfragen zur Vermittlung von evidenter Erkenntnis und historischer Situation, der inhaltlichen Begrenzung des Naturgesetzes auf drei Elemente etc. auseinandergesetzt hat, ist äußerst unwahrscheinlich. Es soll daher hier genügen, wenn diejenigen Grundelemente der thomistischen Auffassung der lex naturalis vorgestellt werden, die – sei es in negativer oder sei es in positiver Hinsicht – für Bonhoeffers eigene Konzeption von Belang sind. Grundlage des thomistischen Naturrechts bzw. -gesetzes279 ist die aus der aristotelischen Metaphysik übernommene Teleologie allen Seins: alle Dinge und Geschöpfe sind von Gott auf ein ihnen eigenes Ziel hin angelegt und streben von Natur aus, aufgrund eines ihnen anerschaffenen appetitus naturalis, danach, dieses Ziel resp. diese Wesensform in ihrer individuellen Existenz zu verwirklichen. Insofern darin die Ordnung der Welt zu ihrer Wirklichkeit kommt, ist daher die größtmögliche Aktualisierung des Soseins im Dasein280, d. h. der essentia in der existentia, auch das größtmögliche Gute

277

DBW 16, 114, vgl. auch DBW 15, 297 f. Pieper, Wirklichkeit. S. dazu o. B.II.4.c. 279 Die Übersetzung mit Naturgesetz ist genauer als mit Naturrecht, da Thomas zumeist den lateinischen Begriff lex naturalis verwendet, nur selten und in anderem Kontext aber ius naturale (STh II–II, qu.57, art. 3). Diese sprachliche Differenz ist allerdings nur bedingt auch eine sachliche, weil das Spezifische der thomistischen Konzeption gerade die Begründung des Sollens im Sein ist, so dass das Gesetz ganz unmittelbar als ein zu bewahrendes Recht verstanden werden muss. Ein entscheidender Unterschied dieser Terminologie ist freilich, dass Thomas aus dem Naturgesetz nicht nur Rechte gegenüber dem Anderen, sondern auch Pflichten ableitet, die der Mensch gegenüber sich selbst und seinem zu verwirklichenden Wesen hat (vgl. dazu die Erläuterungen von Pesch in den Anmerkungen zur quaestio 94). Für Bonhoeffer ist dieser feine Unterschied nicht interessant, er deutet Thomas vielmehr anhand des engeren Naturrechts-Begriffs und dessen lateinischer Definition als ius suum cuique (s. u.) und beabsichtigt dabei, den Pflichtbegriff separat zu behandeln, wozu es nicht mehr gekommen ist (vgl. E 174). Zu den folgenden Ausführungen vgl. neben der genannten Studie von Pieper auch Böckenförde, Geschichte, 222 ff.; Groh, Schöpfung, 381 ff.; Ilting, Naturrecht, 263–266. 280 So formuliert Pieper, Wirklichkeit, 84 u. ö. 278

IV. Die natürlichen Rechte

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eines Seienden, so dass summarisch jedes wirklich Seiende (ens in actu)281 als notwendig gut bezeichnet werden kann: Omne igitur, quod est […] inquantum est ens, bonum est282. Wegen der ontologischen Differenz von essentia und existentia – nur in Gott fallen Form und Existenz nämlich unmittelbar zusammen, weil in Gott selbst keine Möglichkeit ist, sondern die Wirklichkeit schlechthin283 – kann Thomas das Gute auch als das beschreiben, wonach alle Dinge und Lebewesen streben284 und als oberstes moralisches und zugleich natürliches Prinzip formulieren: bonum est faciendum et prosequendum et malum vitandum285. Die Ursache für diese Identität des wirklichen (aktuellen) Seins mit dem Guten liegt darin, dass Gott selbst als actus purus zugleich das summum bonum, der erste Beweger und Urheber dieser Zweckordnung der Natur selbst ist; die in allem Sein angelegte gute, d. h. vernünftige, Ordnung ist darum nach Grund und Ziel hin eine göttliche Ordnung. Dem Beweis dieser Auffassung dienen die quinque viae und unter ihnen besonders der so genannte kausale und der so genannte teleologische Gottesbeweis: Gott ist zugleich causa efficiens und gubernator rerum, er hat also die zweckvolle Ordnung der Natur durch seine providentia bzw. seine lex aeterna eingerichtet286; in dieser zweckvollen, vernünftigen Ordnung ist Gott selbst dann aber auch das höchste Ziel, nach welchem der Mensch als das in der Stufenfolge der natürlichen Welt höchste, weil vernünftige, Lebewesen strebt287. Alle Geschöpfe partizipieren an der lex aeterna, indem ihnen zur Verwirklichung ihrer Wesensform natürliche Neigungen, inclinationes naturales, innewohnen, deren konkrete Verwirklichung damit zugleich ihr Gutes ist. Diese Teilhabe am ewigen göttlichen Gesetz ist das Naturgesetz288. 281 Zur Erläuterung vgl. Pieper, Wirklichkeit, 49: „Das ens in actu ist nicht dem ens rationis, sondern dem ens in potentia entgegengesetzt. ‚Wirklichkeit‘ in diesem Sinn ist: das verwirklichte Seinkönnen.“ 282 ScG III, 7, vgl. auch o. B.II.4.c. sowie den schon häufiger genannten Satz E 252: „Gutsein heißt ‚leben‘“, mit dem Bonhoeffer diesen Grundsatz des Thomas in modifzierter Weise aufgreift. 283 Ein grundlegendes Gottesprädikat ist daher eben diese Zuschreibung der reinen Wirklichkeit: Gott ist das ens actualissimum (vgl. Pieper, Wirklichkeit, 50). 284 Vgl. auch Ricken, Naturrecht I, 143; von einem naturalistischen Fehlschluss i. e. S. kann bei Thomas daher nicht gesprochen, wie überhaupt dieses Urteil schwerlich auf Konzeptionen anwendbar ist, die zwischen existentia und essentia, Materie und Form, Erscheinung und Idee etc. differenzieren, da jeweils vorausgesetzt ist, dass das wahre Sein (= ďųĎęĜ, essentia, forma oder wie auch immer es genannt wird) zugleich wesenhaft gut (und intelligibel) ist. Daher auch die Charakterisierung des Bösen als Mangel an Sein in der platonisch-neuplatonischen Tradition, in die Thomas ja einzuordnen ist – trotz allen aristotelischen Einflusses –; vgl. z. B. Augustinus, De civ. Dei XIX 13; Thomas von Aquin, ScG III, 7. 285 STh I–II qu.94 art.2. 286 STh I–II qu.93 art.1: lex aeterna nihil aliud est quam ratio divinae sapientiae, secundum quod est directiva omnium actuum et motuum. 287 Zur Kritik der thomistischen Gottesbeweise s. Groh, Schöpfung, 390. 288 STh  I–II  qu.91  art.2: lex naturalis nihil aliud est quam participatio legis aeternae in rationali creatura.

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C. Die Formen des Guten

[O]mnia illa ad quae homo habet naturalem inclinationem, ratio naturaliter apprehendit ut bona […] Secundum igitur ordinem inclinationum naturalium est ordo praeceptorum legis naturae289.

Die wesentlichen inhaltlichen Elemente des Naturgesetzes erschließen sich dieser Konzeption zufolge aus der Kenntnis der natürlichen Neigungen, d. h. aus bestimmten essentiellen Strukturen der Dinge und Lebewesen, die ihnen aufgrund bzw. mit der ewigen Ordnung Gottes anerschaffen sind. Thomas nennt drei solcher inclinationes, die allerdings nicht in gleicher Weise allem Geschaffenen zukommen: Entsprechend der Stufenfolge allen Seins kennt Thomas nämlich auch Abstufungen des Naturgesetzes. Alle Substanzen streben nach conservatio sui, alle Lebewesen im engeren Sinne nach Arterhaltung290, alle Vernunftwesen, d. h. der Mensch, streben nach Gemeinschaft und nach Gotteserkenntnis. [Q]uaelibet substantia appetit conservationem sui esse secundum suam naturam […] Secundo inest homini inclinatio ad aliqua magis specialia in qua communicat cum ceteris animalibus […] ut est conjunctio maris et feminae, et educatio liberorum, et similia. – Tertio modo inest homini inclinatio ad bonum secundum naturam rationis, quae est sibi propria: sicut homo habet naturalem inclinationem ad hoc quod veritatem cognoscat de Deo, et ad hoc quod in societate vivat.291

In diesem Kontext nun werden von Thomas aus den inclinationes naturales  –  je nach Perspektive  –  bestimmte Rechte und Pflichten des Naturgesetzes abgeleitet und damit das eigentliche Naturrecht formuliert: alles, was zur Selbsterhaltung und zur Arterhaltung gehört, was die Gotteserkenntnis und das Leben in Gemeinschaft befördert, ist Teil des natürlichen Gesetzes und folglich zu bewahrendes Recht. Was dies aber je konkret bedeutet, ist auslegungsbedürfig; die aus den natürlichen Neigungen folgenden Rechte können daher nur in allgemeinster Form formuliert werden: secundum hanc inclinationem [sc. conservationis sui], pertinent ad legem naturalem ea per quae vita hominis conservatur, et contrarium impeditur.292

Mit der lex naturalis werden darum keine konkreten Normen aus der Natur des Menschen abgeleitet, sondern lediglich Grundansprüche und -pflichten im Hinblick auf die Vervollkommnung des im Menschen angelegten Seins be289

STh I–II qu.94 art.2. So nennt Ilting, Naturrecht, 265, mit einem neuzeitlichen Begriff diese zweite inclinatio naturalis. 291 STh I–II qu.94 art.2. Wenn Gotteserkenntnis und Gemeinschaft (societas) die der Vernunftnatur des Menschen eigentümlichen Ziele sind, ist darin impliziert, dass sie an höchster Stelle stehen; demnach könnte man die Erfüllung der untergeordneten Ziele (Selbsterhaltung, Arterhaltung) als Bedingung der Möglichkeit für die Verwirklichung des Wesens des Menschen in Gotteserkenntnis und Gemeinschaft betrachten (vgl. hierzu Groh, Schöpfung, 415–417). 292 STh I–II qu.94 art. 2. 290

IV. Die natürlichen Rechte

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nannt, deren genaue Formulierung und Umsetzung Aufgabe der Praktischen Vernunft des Menschen ist. Durch die Praktische Vernunft partizipiert der Mensch an der lex aeterna (und damit auch an der göttlichen Vernunft oder Weisheit), indem sie die prima principia per se nota bzw. principia communia, also die analytischen Prinzipien des natürlichen Gesetzes, erkennt und im Hinblick auf die gegebenen Situationen durch conclusiones, determinationes und additiones konkretisiert293 und auf diese Weise die lex humana aus der lex naturae ableitet; dabei sind allein die prima principia irrtumsfrei, während die Ableitungen und Näherbestimmungen je konkreter desto fehlbarer werden294. Die Unterscheidung zwischen den ersten Prinzipien und den Folgerungen und Konkretionen entspricht dabei der Differenzierung zwischen Synderesis (Synteresis) als dem Habitus der Praktischen Vernunft, der die prima principia enthält, und conscientia, welche die Grundsätze des Naturgesetzes anwendet295. Ursächlich für die auch von Thomas zugestandene Fehlbarkeit der Urteile der conscientia ist in erster Linie das durch den Sündenfall geschwächte Erkenntnisvermögen des Menschen und seine Versuchlichkeit durch die Sünde (fomes)296. Das Naturgesetz selbst aber, in seiner allgemeinsten Form, ist ewig und wahr.

3. Die Rechte des natürlichen Lebens Mit der Form-Inhalt-Differenz297 stellt Bonhoeffer gezielt eine begriffliche Nähe zwischen der thomistischen Naturrechtskonzeption und seiner eigenen Konzeption des natürlichen Lebens und seine Rechte her. Indem diese Begriffe aber zugleich in entscheidender Weise umgedeutet werden, wird diese Nähe, die auch sachlich durchaus besteht, von einer noch größeren Differenz überboten. Die teleologische Ordnung der Natur nämlich, die Bonhoeffer seinerseits hier voraussetzt, ist  –  das wurde auch schon anhand des Handlungsmerkmals der Wirklichkeitsgemäßheit auseinander gesetzt – eine christologische Ordnung, ein ordo Christi, der sich nicht einer quasi-göttlichen Vernunft, sondern allein im Glauben erschließt. Die ‚Form‘ ist daher zwar

293 STh I–II qu.95 art.2. Zur Hochschätzung der Vernunft als des eigentlichen Wesens des Menschen durch Thomas vgl. STh I qu.76 art.4: Unde dicendum est quod nulla alia forma substantialis est in homine, nisi sola anima intellectiva. 294 STh I–II qu.94 art.4: quanto magis ad propria descenditur, tanto magis invenitur defectus […] licet veritas non apud omnes cognoscatur in conclusionibus, sed solum in principiis, quae dicuntur „communes conceptiones“ [Boethius, vgl. die Anm. des Kommentators H.O. Pesch ad loc.]. 295 STh I–II qu.94 art.1; qu.96 art.4; vgl. Böckenförde, Geschichte, 248–252. 296 STh I–II qu.91 art.6. 297 E 166: „Das Natürliche hat also eine formale und eine inhaltliche Bestimmung.“

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C. Die Formen des Guten

auch in Bonhoeffers Deutung das Wesentliche, der Grund und das Ziel298 des Seienden resp. Lebendigen; weil es aber keine intelligible allgemeine essentia, sondern die konkrete Ausrichtung der Sache oder der Person auf Christus bezeichnet, kommt ihr auch hinsichtlich der natürlichen Rechte ein anderer kategorialer Rang zu. Diese nämlich ergeben sich aus dem Inhalt des Natürlichen, der Inhalt aber ist der Vernunft, die selbst ein Teil des Natürlichen ist, durchaus in Grundzügen zugänglich, auch wenn die Wahrheit und Wirklichkeit von Natur und Vernunft ohne die Christusbeziehung verschlossen bleiben. Die Vernunft als Vermögen und ihre je konkrete Erkenntnistätigkeit werden damit in Bonhoeffers Interpretation gegenläufig zu der thomistischen hinsichtlich des Vorgangs der Erkenntnis des Seienden bzw. Lebendigen von deren formaler Seite auf die inhaltliche verschoben. Die Vernunft ist depotenziert zu einem Vermögen des gefallenen Menschen, zu einer Erhaltungsfunktion innerhalb der gefallenen Welt, der Ursprung, Wesen und Ziel der Wirklichkeit nicht aus sich selbst heraus erkennbar sind. Dies ist nicht nur aufgrund des lutherischen Sündenbegriffs konsequent, an dem die spezifische Differenz zwischen mittelalterlichem Katholizismus und reformatorischem Denken besonders deutlich wird und die Bonhoeffer ganz ausdrücklich bejaht: „[d]urch den Fall wird die ‚Kreatur‘ zur ‚Natur‘“299 und dem Menschen die Möglichkeit entzogen, sich selbst und seine Welt auf ihre Geschöpflichkeit anzusprechen300. Vernunft und Natur sind keine Gott und Welt miteinander verbindenden allgemeinen Strukturen, sondern bloße Gestalten der menschlichen Existenz. „In seiner formalen Seite [sc. der Ausrichtung auf Christus] kann das Natürliche […] nur von Jesus Christus selbst her erkannt werden […]. Die Vernunft ist nicht ein über das Natürliche erhabenes Erkenntnis- und Ordnungsprinzip im Menschen […] Die Angemessenheit der Vernunft für das Erfassen des Natürlichen hat also ihren Grund weder in der Spontaneität der Vernunft, die das Natürliche erst schüfe, noch in der Göttlichkeit der Vernunft, die sich dem Natürlichen anzupassen vermöchte, sondern in der Tatsache des Sündenfalls, in den die Vernunft ebenso hineingezogen ist wie die übrige Welt.“301

Bonhoeffer weist hier auch ganz beiläufig den idealistischen Vernunftbegriff zurück, der in der nachkantischen Deutung wieder die alte Identität von Sein und Denken voraussetzt und nun – nach der subjektivistischen Wende – die Wirklichkeit im sich selbst begründenden Akt des transzendentalen Subjekts, d. h. in seiner Vernunft gründen lässt302. Interessanter ist aber noch die andere, deutlich die Pieper-Rezeption spiegelnde, Abwehr der Deutung des Ver298 Vgl. die im folgenden Kapitel „Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]“ häufig genannte Trias „Ursprung, Wesen und Ziel“ (E 250 ff.), dazu s. o. B.II.2 und 4.c. 299 E 165. S. auch E 1671). 300 Vgl. SF 108. 301 E 167. 302 S.o. A.II.4.

IV. Die natürlichen Rechte

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mögens der Vernunft als intellectus agens303: Die realistische Erkenntnislehre des Thomismus schließt eine wesentliche Aktivität der erkennenden menschlichen Vernunft aufgrund der auch nach dem Fall nicht vollständig verlorenen Teilhabe am göttlichen Intellekt nicht aus, sondern ein, wenn jener nämlich in einem quasi-schöpferischen Akt das „Erkenntnisbild“ formt, in welchem sich „der stoffüberlegene, vom schöpferischen Geist erkennend gestaltete und auf Erkanntwerden durch den geschöpflichen Geist angelegte Washeits-Kern des Wirklichen selbst darstellt. Es ist das eigenste Werk der spontanen, der göttlichen Ur-Spontaneität teilhabend ähnlichen Kraft unseres Geistes (die Thomas als intellectus agens bezeichnet) […]“304.

Diesem anthropologischen und ontologischen Optimismus Piepers resp. Thomas’ muss der Lutheraner Bonhoeffer deutlich widersprechen: Die Totalität des Sündenfalls ist unhintergehbar und nicht aus der eigenen intellektuellen Kraft heraus überwindbar, vielmehr ist umgekehrt der Anspruch der Vernunft auf göttliche Wesensverwandtschaft gerade Signum des Falls. Luthers Bewertung der Vernunft gilt daher auch hier, obgleich Bonhoeffer mit guten Gründen – wie sich noch zeigen wird – in diesem Kontext keine vergleichbar starken Formulierungen wählt: [q]uibus stantibus […] ratio post peccatum relicta sub potestate diaboli […] esse concluditur305. Die prinzipielle Unzulänglichkeit der Vernunft für die Erkenntnis der formalen Bestimmung des Natürlichen folgt aber abgesehen von ihrer Begrenzung durch den Sündenfall bzw. die dialektische Struktur der Wirklichkeit – sie ist ja als erhaltene Wirklichkeit verneint und bejaht – auch aus der vom Dialogismus beeinflussten Deutung der Wirklichkeit. Weil die Wirklichkeit eine personale Struktur aufweist, einen ordo personalis Christi, wie oben formuliert wurde306, ist die Vernunft an sich, als isoliertes intellektuelles Vermögen, nicht der anthropologische Ort der Christusbegegnung und der damit verbundenen Wirklichkeitserkenntnis. So wenig der Glauben von Bonhoeffer als bloße Irrationalität aufgefasst wird, so wenig ist er ein ausschließlicher Akt der ratio; er ist vielmehr eine Existenzbetroffenheit, die alle Vermögen des Menschen einschließt und darin jedes einzelne übersteigt307, d. h. eben eine personale Ausrichtung der gesamten Existenz auf Christus. 303 Ganz explizit bekräftigt Bonhoeffer beide sachlichen Abgrenzungen in der Anmerkung zu dieser Stelle und ihrem Kontext E  1671); es war ihm offenkundig besonders wichtig, die eigene kritische Wendung gegen Aufklärung und Thomismus so klar wie möglich herauszustellen. Das dürfte auch daran liegen, dass er sich einerseits bewusst in eine Nähe zum Thomismus begeben hat und andererseits die aufklärerischen Menschen- bzw. Vernunftrechtskonzeptionen so dominant sind, dass eine wenigstens am Rande erfolgende Auseinandersetzung mit ihnen unvermeidlich ist. 304 Pieper, Wirklichkeit, 59. 305 WA 39,1, 176 (Disputatio de homine). 306 B.II.4.c. 307 S. dazu ausführlich A.II.5.

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C. Die Formen des Guten

Andererseits aber reklamiert Bonhoeffer für die Vernunft – auch darin Luther folgend – nun doch auch eine entscheidende Bedeutung für die menschliche Existenz im Hinblick auf ihre inhaltliche Bestimmung. Diese der formalen gegenüber gestellte inhaltliche Seite expliziert Bonhoeffer nämlich als die “Gestalt des erhaltenen Lebens selbst“, also als die vorgegebene, vorfindliche und erfahrbare Ausprägung des natürlichen Lebens samt seiner Fähigkeiten und Bedürfnisse. Deren Erkenntnis und Bewahrung aber ist Aufgabe der Vernunft; denn sie ist „derjenige Teil [sc. der erhaltenen Lebensgestalt], der dazu geeignet ist, das Ganze und Allgemeine im Wirklichen zu Bewußtsein zu bringen, zu ‚vernehmen‘“308. Damit könnte sich freilich der Gedanke nahe legen, dass Bonhoeffer der Vernunft nun doch einen ganz eigenen Bereich zuschriebe, in welchem sie als gleichsam säkulare Instanz und autonomes Vermögen für die Belange des natürlichen Lebens zuständig wäre, ohne dass ihr dazu die eigene Ausrichtung auf Christus nötig wäre. Dem Anschein nach wird diese Auffassung auch durch die Definition des Natürlichen unterstützt, die Bonhoeffer in diesem Kontext liefert309: „Der Begriff des Natürlichen, der sich von nasci – natura herleitet, enthält im Unterschied vom Kreatürlichen, das sich von creare  –  creatura herleitet, ein Moment der Eigenständigkeit, der Eigenentwicklung […].“

Wenn Bonhoeffer dies tatsächlich im Sinn gehabt hätte, wäre allerdings eine erhebliche Nähe zu der andernorts deutlich kritisierten und dem christologischen Wirklichkeitsbegriff Bonhoeffers grundsätzlich widersprechenden thomistischen Stufung der Welt in Natur und Gnade310 vorhanden: das Christliche wäre dann lediglich der Überbau des Natürlichen, entscheidend allein für die ewige Seligkeit, nicht aber für das gute Leben im Hier und Jetzt. Zweifellos entspricht dies aber nicht Bonhoeffers Intention, so wenig, wie den übrigen Ausführungen der Ethik, „[d]as natürliche Leben darf nicht einfach als Vorstufe für das Leben mit Christus verstanden werden“311. Entscheidend für das Verständnis dieser Sätze und ihrer sachlichen Differenz zum thomistischen Stufenbau ist die Gedankenfigur vom unbewussten Christentum, die schon ausführlich erläutert wurde, und die Bonhoeffer sich am Ende des vorangehenden Kapitels notiert hat. Offenkundig dient diese Notiz der erkenntnistheoretischen Vergewisserung Bonhoeffers über die dann entfaltete hand308

E 166 f. E 165. 310 Üblicherweise wird dies auf die thomistische Formel von der die Natur vollendenden Gnade zugespitzt: gratia naturam non tollit, sed perficit. Vgl. dazu STh  I  qu.8  art.3; I– II qu.109 art.1. Eine Folge dieses Stufenbaus für die Ethik ist die entsprechenden Stufung von praecepta und consilia evangelica (s. dazu auch o. B.II.4.c.). Bei Bonhoeffer wäre allerdings die Trennung zwischen Natürlichem und Christlichem auch noch weitaus größer, da es im thomistischen System immerhin noch das Postulat der Gott, Welt und Mensch verbindenden intelligiblen Seinsstruktur gibt, das von Bonhoeffer ausdrücklich bestritten wird. 311 E 166. 309

IV. Die natürlichen Rechte

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lungsorientierende Bedeutung des „Menschseins“ und „Gutseins“, d. h. über die natürlichen Rechte und die Tugenden als Ziele und Movens des ethischen Tuns. Angewendet auf den Natur- und den korrespondierenden Vernunftbegriff folgt daraus, dass es in Bonhoeffers Auffassung wohl eine vernunftmäßige Erkenntnis des Natürlichen und seiner Rechte gibt, dass diese aber zumindest auch, je nach Subjekt, Ausdruck der unbewussten Ausrichtung des Einzelnen auf Christus ist – so wie auch die außermenschliche Natur selbst, der keinerlei Bewusstheitsformen zukommen312, allein in Christus gründet, der Schöpfungsmittler und Ziel der erhaltenen Schöpfung zugleich ist313. Alles, was von der Vernunft als gut erkannt wird, ist demnach zwar nicht etwas Gutes für sich, sondern das Gute als das Wirkliche, das in Christus gründet und in ihm sein Wesen hat. Andererseits ist es aber hinsichtlich seiner allgemeinen inhaltlich bestimmten Strukturen314 einsehbar, so dass ein ethischer Umgang mit dem Natürlichen, als ein Aspekt der weltgestaltenden und nach Gottes Erhaltungswillen darin miterhaltenden iustitia civilis, schon aus dem Vermögen der Vernunft heraus ermöglicht wird. Die Vernunft erhält damit einen außergewöhnlichen Wert innerhalb der gefallenen Welt, ohne aber den tieferen Grund dafür aus sich heraus benennen zu können; hier besteht darum auch der wesentliche Unterschied zu Thomas von Aquins Konzept des welttranszendierenden Intellekts. Dabei ist freilich die allein den Inhalt vernehmende Vernunft auch immer von der Gefahr des Abfalls, d. h. der falschen Verabsolutierung entweder ihrer selbst oder eines anderen immanenten Dings bedroht315, eben weil ihr das eigene Wesen wie das der natürlichen Wirklichkeit, die formale Seite, verschlossen bleibt. Mit diesem Konzept hält Bonhoeffer die Waage zwischen einer theologischen Kritik der selbstreflexiven, sich verabsolutierenden Vernunft und der theologischen Hochschätzung der sittlichen Fähigkeiten auch der scheinbar säkularen Vernunft: Er kann nun zugleich den Anspruch Christi auf die ganze Welt bekräftigen und doch die Leistungen der weltimmanenten Vernunft 312 Dies ist jedenfalls eine von Bonhoeffer unhinterfragte Prämisse seines Ansatzes. Inwieweit diese Annahme aufgrund neuer verhaltensbiologischer Erkenntnisse bestritten werden muss, kann hier natürlich nicht erörtert werden. Insgesamt ist Bonhoeffers ethischer Ansatz, wie schon mehrfach angemerkt wurde, als ‚anthropozentrisch‘ zu bezeichnen, wobei diese Anthropozentrik von einer Christozentrik getragen ist. 313 E 39 u. ö. 314 Aus der verallgemeinernden, abstrahierenden Tätigkeit der Vernunft folgert Bonhoeffer dann auch, dass sie das von ihr inhaltlich erkannte Natürliche als „allgemein Gesetztes“ (E 167) erkennt. Damit richtet er sich freilich nicht gegen den Idealismus, auch wenn dies auf den ersten Blick wegen des Kontextes so scheinen könnte; diese beinahe emphatische Feststellung („etwas sehr Entscheidendes“, E 168) richtet sich vielmehr gegen den Versuch, entgegen den Erkenntnissen der Vernunft das Natürliche in einer „willkürliche[n] Setzung zu bestimmen“ (E  168), womit dann wohl die nationalsozialistische Rassenlehre gemeint sein dürfte. 315 E 169.

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C. Die Formen des Guten

als „unbewusst“ bzw. unreflektiert christliche würdigen316. Zugleich wird daran, dass hier die Vernunft in Absehung vom bewussten Glauben und bekennenden Christsein das Thema bildet, Bonhoeffers Intention ganz deutlich: Es geht um ein Alternativkonzept resp. ein alternatives Begründungsmodell für die universalen Menschenrechte, deren Begründung sich von der christlichen Theologie in der Neuzeit emanzipiert hat317 – aus Gründen, die Bonhoeffer schließlich am Ende seines theologischen Weges bejaht, die ihn aber dann gerade dazu führen, die in der Ethik grundgelegte christologische Wirklichkeitsdeutung so weiter zu führen, dass sie sogar noch den Säkularismus und den Autonomiegedanken des neuzeitlichen Menschen in sich aufhebt318. Die relative Eigenständigkeit und Freiheit319 der Vernunft und ihre relative Bedeutung für die Erhaltung des natürlichen Lebens entspricht damit durchaus auch der ambivalenten lutherischen Bewertung der Vernunft als der – trotz ihrer Knechtung unter Teufel und Sünde – dem weltlichen Bereich angemessenen, höchsten Erkenntnis- und Leitungsinstanz320. Ihre Bedeutung für Luthers Ethik besteht freilich im Unterschied zu Bonhoeffers Konzeption in der Erschließung eines Naturrechts im eigentlichen Sinne, d. h. ohne eine christologische Begründung, wie sie Bonhoeffer vornimmt321. Dennoch ist die Parallele, die hier sichtbar wird, zweifellos beabsichtigt. Dem entspricht daher auch die ‚nominalistische‘ Deutung der Vernunft (und ihrer Objekte) als desjenigen Erkenntnisorgans, das aus dem Gegebenen die allgemeinen Strukturen ableitet und durch diesen Abstraktionsvorgang das Natürliche inhaltlich erfasst. Bonhoeffer kann hier also dem natürlichen Leben die Vernunft als seine „Bewußtseinsgestalt“322 zuordnen, die sich auf ihr Sein als ihr 316 Vgl. die schon genannte Stelle E 344: „Vernunft, Recht, Bildung, Humanität und wie die Begriffe alle heißen, suchten und fanden in ihrem Ursprung [sc. der christlichen Kirche] neuen Sinn und neue Kraft“. 317 Für einen Überblick vgl. Reuter, Rechtsethik, 230 ff.; Wagner, Naturrecht, 162 ff.; Ilting, Naturrecht, 278 ff. 318 Im hegelschen Sinne: in Widerstand und Ergebung findet ja eine verwandelnde Aufnahme des Autonomie- und des Säkularitätskonzepts statt. Vgl. dazu die Hinweise in dem Exkurs D.II. S. WE 476 ff.352 f.511 f.527 ff.556 ff. 319 Vgl. E 166. 320 Die vierte und fünfte These der Disputatio de homine lauten in beabsichtigtem Gegensatz zu der eben zitierten 24.: Et sane verum est, quod ratio omnium rerum res et caput et prae caeteris rebus huius vitae optimum et divinum quiddam sit. Quae est inventrix et gubernatrix omnium Artium, Medicinarum, Iurium, et quidquid in hac vita sapientiae, potentiae, virtutis et gloriae ab hominibus possidetur. 321 S. dazu auch o. C.III.2. u. 4.a. Für Luther vgl. Reuter, Recht, 228: „Luther setzt nämlich die Schöpfungsgabe der Vernunft als durch die Sünde zwar getrübtes, aber für den menschlichen Weltumgang dennoch hoch zu schätzendes Erkenntnis- und Urteilsvermögen an. Insofern kann Luther von der Vernunft als ‚Meister‘ und Quelle allen positiven Rechts (WA  11,  272;  280) sprechen, ebenso vom Gewissen als Erkenntnisgrund des natürlichen Rechts, das Gott nach Röm 2,15 allen Menschen ins Herz geschrieben hat“. 322 E 167.

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natürliches Objekt richtet, ohne es transzendieren zu können oder müssen: Geist und Natur in ihrer auf Christus hin erhaltenen inhaltlichen Gestalt bilden eine in sich unterschiedene Einheit und Ganzheit323. Dieses Konzept wird nun noch ergänzt durch den von Bonhoeffer so genannten „Grundwillen“ des Natürlichen. Mit Vernunft und Grundwillen sind die von Gott gesetzten Erhaltungsstrukturen des natürlichen Lebens benannt324, welche auch außerhalb des bewussten Christentums wirksam sind, wenngleich sie immer in der Gefahr stehen, dem „Unnatürlichen“ zu verfallen, indem sie sich selbst oder etwas anderes Natürliches absolut setzen und damit vergotten325. Insbesondere der Ausdruck Grundwillen lässt auch hier wieder erkennen, dass Bonhoeffers Begriff des natürlichen Lebens von der Lebensphilosophie beeinflusst ist; die relative Eigenständigkeit bzw. Eigenentwicklung, die dem Natürlichen eignet, äußert sich in dem unbestimmten und allgemeinen Willen zur Verwirklichung seines Lebens. Dieser Grundwille als das dem natürlichen Leben innewohnende Prinzip, von Bonhoeffer z. T. mit dem Leben selbst gleichgesetzt, wobei allerdings nur dessen inhaltliche Gestalt gemeint ist, erscheint damit als eine Art élan vital326 oder Entelechie der Natur, der bzw. die sich in den einzelnen Organismen327 ausprägt und zur Verwirklichung bringt. Die Auffassung einer Tendenz des Lebens zum Natürlichen328, d. h. zu seinen adäquaten Verwirklichungsformen, erinnert nicht zuletzt an die Evolutionstheorie, welche ja wahrscheinlich die Lebensphilosophie beeinflusst hat: Wenn Bonhoeffer das Leben seinen „eigene[n] Arzt“ nennen kann, wenn er die Erhaltung der Gattung der Erhaltung des Einzelnen überordnet und wenn er von den „natürliche[n] Hemmungen“ und der „natürliche[n] Wahl“329 spricht, sind hier zumindest der Sache nach wesentliche 323

Vgl. E 248. Zum Grundwillen und seiner Einbettung in den Sündenfall analog zur Vernunft vgl. E 168 f.170. 325 E 169 f. S.o.A.II.2 et passim zum sicut-Deus-esse. 326 Henri Bergson, vgl. Albert, Lebensphilosophie, 95. Der Begriff stammt wohl von Bonhoeffer selbst, wie ein Vergleich mit ZE Nr. 55 zeigt, wo noch „Lebenswillen“ steht. Ob hier eine vage Nietzsche-Reminiszenz vorliegt oder gar eine Schopenhauer-Rezeption oder tatsächlich eine bestimmte lebensphilosophische Konzeption sich ausgewirkt hat, lässt sich daher nicht einmal vermuten. Im weiteren Sinne aber handelt es sich hier um eine lebensphilosophische Kategorie, die von Bonhoeffer seinem Konzept vom natürlichen Leben anverwandelt wird. 327 Zum ‚Organismus‘ als dem lebensphilosophischen Gegenbegriff zur ‚Organisation‘ vgl. E 169 f.20. 328 E 169: „Es ist letztlich das Leben selbst, das zum Natürlichen tendiert und sich immer wieder gegen das Unnatürliche wendet und es zum Scheitern bringt.“ Vgl. auch WE  30: „Es ist einfach in der Welt so eingerichtet, daß die grundsätzliche Achtung der letzten Gesetze und Rechte des Lebens zugleich der Selbsterhaltung am dienlichsten ist, und daß diese Gesetze sich nur eine ganz kurze, einmalige, im Einzelfall notwendige Überschreitung gefallen lassen […]“. 329 E 169.178.202. 324

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Prinzipien der Darwin’schen Evolutionstheorie angesprochen, nämlich das Prinzip der natürlichen Zuchtwahl und das Prinzip der Arterhaltung, die dann als intrinsische Ordnungsfunktionen des Natürlichen begriffen würden330. Ohne eine solche Referenz mit Sicherheit behaupten zu können, ist daraus aber gleichwohl ersichtlich, dass Bonhoeffer die inhaltliche Seite des Natürlichen in der relativen Eigenentwicklung seiner Organismen sieht, wobei die organischen Gestalten des Lebens von dem Natürlichen vorgegeben sind. Das bedeutet, dass im Leben selbst, dessen Grund ja zuletzt Christus selbst und die Versöhnung Gottes mit der Welt in ihm ist, seine Verwirklichungsformen angelegt sind, und es diese mittels der Konstruktion natürlicher Rechte zu schützen und zu bewahren gilt. Diese in den Strebungen und Tätigkeiten von Grundwillen und Vernunft sich manifestierenden Verwirklichungsformen des Natürlichen aber dürften die unmittelbare Parallele zu den in „Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]“ eingeführten Wesensgesetzen darstellen331. Neben der lebensphilosophischen Beeinflussung ist hier darum auch eine sachliche Parallele zum Thomismus und seinem teleologischen Naturbegriff enthalten, der sich Bonhoeffer fraglos bewusst gewesen ist. Die weitere Präzisierung des christologischen Naturrechts führt Bonhoeffer mittels origineller Verknüpfungen philosophischer und theologischer Kategorien durch. Um das Natürliche, dem bestimmte Rechte zukommen, näher zu bestimmen, bedient er sich der kantischen Selbstzweckformel, nach welcher der Mensch (von Bonhoeffer hier gleichgesetzt mit dem Natürlichen) immer auch Selbstzweck, nicht bloß Mittel zum Zweck sein dürfe332. Bereits im Kontext der Deutung des Verantwortungsbegriffs als ethisch-soziale Stellvertretung hat Bonhoeffer positiv auf die Selbstzweckformel Kants Bezug genommen333, obwohl dieser Bezug sich seiner personalistischen Konzeption nur mit Mühe einfügen ließ und letztlich doch nicht vollständig adaptierbar blieb. Hier verhält es sich etwas anders, weil nun ja von der (unbewussten) abstrahierenden Erkenntnisleistung der Vernunft im Hinblick auf die inhaltliche Gestalt des Natürlichen die Rede ist. Damit kann aber auch eine allgemeine Aussage über die im natürlichen Leben angelegte relative Selbstzwecklichkeit getroffen werden, die das unveräußerliche Recht des einzelnen Menschen auf 330 So könnte der abschließende Satz von Darwins Entstehung der Arten vielleicht so ähnlich auch von Bonhoeffer stammen: „Es ist wahrlich eine grossartige Ansicht, dass der Schöpfer den Keim allen Lebens, das uns umgibt, nur wenigen oder nur einer einzigen Form eingehaucht hat, und dass […] aus so einfachem Anfange sich eine endlose Reihe der schönsten und wundervollsten Formen entwickelt hat und noch immer entwickelt.“ (Darwin, Entstehung, 565). 331 B.II.4.c. 332 E 171–174. Vgl. dazu GMS, BA 66 f. (im Original gesperrt): „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ 333 B.II.4.b.

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eben dieses Menschsein, seine Würde, formal zunächst einfach dadurch zur Geltung bringt, dass eine vollständige Instrumentalisierung des Anderen als Widerspruch gegen dessen Bestimmung, Mensch zu sein, aufgefasst wird. Die abstrahierende Vernunft für sich genommen kann dies allerdings auch nur in dieser den Umgang mit der natürlichen Existenz betreffenden Selbstzweckformel aussagen, ohne den wirklichen Grund dafür zu erkennen. Denn entsprechend seiner Unterscheidung von formaler und inhaltlicher Seite des Natürlichen begründet Bonhoeffer diese Forderung zweifach: vernunftmäßigphilosophisch im Sinne der unbewussten Christusbezogenheit der Vernunft einerseits und theologisch andererseits. Mit der Begrifflichkeit der Lebensphilosophie wehrt er die beiden möglichen Einseitigkeiten, die Verabsolutierung des Lebens als Selbstzweck und die Verabsolutierung des Lebens als Mittel zum Zweck, ab, indem er erstere mit dem Vitalismus – eine Anspielung auf Nietzsches Metaphysik des Willens zur Macht334 – und letztere mit der im 19. Jahrhundert aufkommenden, der technischen Entwicklung geschuldeten, mechanistischen Weltdeutung identifiziert335. Diese sich zwischen Kant und der Lebensphilosophie bewegende Argumentation wird von Bonhoeffer ergänzt durch die eigentliche, nämlich die theologische Begründung: Die Ausrichtung des natürlichen Lebens auf Christus, den Schöpfungsmittler und Erlöser, begründet sowohl das Eigenrecht der menschlichen Person als auch ihre dienstbare Bezogenheit auf den Anderen, oder mit der Terminologie, die Bonhoeffer in der Explikation des Lebensbegriffs am Beginn von „Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]“ verwendet hat, die Dialektik von Selbstbehauptung und die Selbstpreisgabe336. Insofern sich in Christus Gott als Schöpfer und Erhalter offenbart und zugleich das Natürliche mit der Inkarnation in seinem relativen Recht bestätigt wird, muss es als Selbstzweck betrachtet werden; dieser ist in theologischer Begrifflichkeit Ausdruck seiner „Geschöpflichkeit“ und der damit verliehenen Personalität des Menschen, die allerdings nicht in ihrer Ursprünglichkeit, sondern in ihrer in und auf Christus hin restituierten Gestalt erfahren wird337. Da also das menschlichnatürliche Leben als personales Leben eine gottgegebene Gestalt und eine 334

S. dazu o. B.II.2.d. E 172. Mechanisierung ist hier das Synonym zu Organisation (E 169 f.). Mechanisierung – geistesgeschichtlich auch auf das frühe neuzeitliche Denken Descartes und Newtons zurückführbar – bildet insofern den Gegensatz zu einem Vitalismus Nietzschescher Prägung, als das Individuum darin seines natürlichen Rechts beraubt und einem übergeordneten Ganzen funktional eingegliedert wird. 336 E 253. 337 E 173, auch hier wird deutlich, dass Bonhoeffer nicht beabsichtigt, Schöpfung und Erlösung gegeneinander auszuspielen, sondern dass im Gegenteil von der Versöhnung her auch die „Geschöpflichkeit“ des Menschen wieder in den Blick kommt und positiv gewertet werden kann, so lange die vorläufige Dialektik der noch nicht vollendeten Welt nicht ignoriert wird. 335

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begrenzte Selbständigkeit besitzt, ist es notwendig Träger von natürlichen Rechten, die diese Gestalt schützen und fördern. Insofern Christus der Erlöser und Versöhner ist, der das Reich Gottes aufrichtet, kommen dem versöhnten Menschen darüber hinaus und daraus folgend aber auch natürliche, in den Rechten gründende Pflichten zu338. Diese Pflichten, d. h. die Betrachtung des Menschen (auch) als Mittel zum Zweck, müssen mit Blick auf die chronologisch folgenden Erörterungen in „Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]“ als Pflichten der Verantwortlichkeit für den Mitmenschen, d. h. also in Bonhoeffers Terminologie als stellvertretende Verantwortung339 aufgefasst werden. Das Verhältnis zwischen natürlichen Rechten und Pflichten bestimmt Bonhoeffer analog zu der Indikativ-Imperativ-Formel der paulinischen Theologie: die Pflichten sind den Rechten nachgeordnet, sie gründen in den von Gott gesetzten natürlichen Rechten340. Dieses Verhältnis von Rechten und Pflichten widerspricht dann aber ungeachtet des positiven Bezugs auf Kants Selbstzweckformel, anhand welcher Bonhoeffer das Verhältnis von eigenen Rechten und der Berufung zum Dienst am Anderen expliziert, deutlich der kantischen Ethik, die in der sittlichen Autonomie des vernünftigen Willens gründet und daher strikt deontologisch gefasst ist: die Vorordnung des Rechts vor die Pflicht kann darum für diese nur „befremdlich“ klingen341. Sie entspricht aber ihrer theologischen Begründung: die Annahme des Menschen in Jesus Christus, und damit auch die Ins-Recht-Setzung seiner natürlichen Existenz, befreit den Menschen zur wirklichen „stellvertretenden“ Hingabe an den Anderen. Um nun die Rechte des natürlichen Lebens, definiert als Selbstzwecklichkeit bzw. Geschöpflichkeit, konkret formulieren zu können, subsumiert Bonhoeffer sie zunächst unter den antiken Gerechtigkeitsgrundsatz suum cuique342. Mit dieser expliziten Anknüpfung an die philosophische Gerechtigkeitstradition bekräftigt Bonhoeffer noch einmal, dass ein christologisches 338

E 173 f. S.o. B.II.4.b. 340 E 174: „Die Pflichten aber entspringen aus den Rechten selbst, wie die Aufgaben aus den Gaben.“ 341 E 173. 342 In einer Vorform findet sich dieser Grundsatz schon bei Platon, Pol. IV 433b: ĞƱĞƩ ċƊĞęȘĚěƪĞĞďēėĔċƯĖƭĚęĕğĚěċčĖęėďȉėĎēĔċēęĝƴėđ: „dass das seinige tun und sich nicht in vielerlei mischen Gerechtigkeit ist“ (Übersetzung: Schleiermacher); Aristoteles, Rhet.I 9 1366b 9 f.: ŕĝĞēĎƫĎēĔċēęĝƴėđĖƫėŁěďĞƭĎēdzŠėĞƩċƊĞȥėŖĔċĝĞęēŕġęğĝē[…]: „es ist aber Gerechtigkeit eine Tugend, durch die ein jeder das Seine hat“ (meine Übersetzung), vgl. Eth. Nic. V 1134 a 1–7; Ulpian, Dig. I,1,10: iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi, vgl. Inst. I,1,1; übernommen u. a. von Augustinus, z. B. De civ. Dei XIX 4: […] iustitia, cuius munus est, sua cuique tribuere (unde fit in homine ipso quidam iustus ordo naturae, ut anima subdatur Deo et animae caro et per hoc Deo et anima et caro) […], und Thomas von Aquin (STh  II–II  qu.58  art.1: dort nimmt er die zitierte römische Gerechtigkeitsdefinition Ulpians explizit auf). Zu der engen Verbindung dieser Gerechtigkeitsdefinition mit dem Rechts- bzw. Naturrechtsbegriff vgl. Ulpian, Dig. I,1,1: 339

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Naturrecht in seinem Inhalt „Sache der Vernunft“343 ist, dass es also gerade nicht exklusiv theologisch formuliert und eingesehen werden kann, vielmehr in diesem ursprünglich nicht-christlichen Grundsatz seine adäquate Formel gefunden hat: „Das suum cuique ist die höchstmögliche Erkenntnis der Vernunft, die der Wirklichkeit gemäß ist und die innerhalb des natürlichen Lebens das dem Einzelnen von Gott (den sie nicht kennt) gegebene Recht wahrnimmt.“344

Bonhoeffer knüpft mit der Aufnahme des Grundsatzes suum cuique jedoch nicht bloß formal an die philosophische Tradition an, sondern er entfaltet einige für sein christologisches Naturrecht bedeutsame Implikationen. Zunächst setzt ein suum, das einem jeden de iure zuzuerkennen ist, voraus, dass es angeboren ist, um überhaupt ein Maßstab der natürlichen Gerechtigkeit sein zu können; ein suum cuique ist somit die einfachste und allgemeinste Statuierung natürlicher Rechte: „Das ‚Seine‘ […] ist […] ein in dem Natürlich Gegebenen objektiv Begründetes und darum Allgemeines […]“345.

Die Konsequenz hieraus ist das von Bonhoeffer beschriebene komplementäre Verhältnis von „Mannigfaltigkeit“ und „Einheit“ des Naturrechts346; wie es scheint, hebt Bonhoeffer damit auf das traditionell als iustitia distributiva347 bezeichnete Gerechtigkeitsprinzip ab, wenn er einschärft, dass „das Seine“ weder als das im strikten Sinne Gleiche noch als etwas willkürlich Gesetztes verstanden werden darf348, dass es also ein Gleichheit und Ungleichheit – oder, wie Bonhoeffer sagt, Einheit und Mannigfaltigkeit – gleichermaßen berücksichtigendes Recht sein muss349. Damit ist bereits ausgesagt, dass das suum Iuri operam daturum prius nosse opportet, unde nomen iuris descendat. est autem a iustitia appellatum […]. 343 E 177. 344 E 178. 345 E 175. 346 E 174 f. 347 Zum Begriff vgl. exemplarisch Böckenförde, Geschichte, 112–114.246–248 und Arist. Eth. Nic. V 1131 b 10 f.: ŦŅěċĞęȘċƂěęğĞȦčĔċƯŞĞęȘČĞȦĎĝƴĐďğĘēĜĞƲőė ĎēċėęĖǼĎưĔċēƲėőĝĞēĔċƯĖƬĝęėĞƱĎưĔċēęėĞęȘĞȡőĝĞē[…]ĞƱčƩěŁėƪĕęčęėĖƬĝęėĞƱĎƫ ĎưĔċēęėŁėƪĕęčęė „Es liegt also die Gerechtigkeit der Verteilung in der Verknüpfung von A mit C und B mit D, und das Gerechte ist die Mitte […] Denn das Proportionale ist die Mitte, und das Gerechte ist das Proportionale.“ (Übersetzung: Gigon); s. außerdem Thomas von Aquin, STh II–II qu.61 art.2. 348 E 175. 349 Was damit konkret gemeint ist, geht aus dem Text nicht hervor; der mathematische Maßstab einer geometrischen Proportion erscheint hier reichlich abstrakt, zumal er sich zunächst auf die vom Staat zu verteilenden Güter bezieht, während Bonhoeffer die grundlegenden natürlichen Rechte der Person im Blick hat, die allerdings vom Staat geschützt werden müssen; insofern besteht hier wohl in erster Linie eine intentionale Verbindung zum aristotelisch-thomistischen Gerechtigkeitsbegriff, insofern Bonhoeffer offenbar die

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cuique als der Inbegriff der natürlichen Rechte seinen Ort in der Gemeinschaft der Menschen hat, dass es also immer mit einem Verhältnis und Verhalten der Menschen zueinander zu tun hat, wobei das eigene Recht nicht ohne das Recht des anderen besteht350 (und zwar schon vom Begriff her, da Recht und Gerechtigkeit Beziehungsbegriffe sind). Die Bezogenheit auf den anderen, die zum Begriff des suum cuique gehört, entspricht daher recht gut Bonhoeffers relationaler Anthropologie351. Wenn er jedoch ausdrücklich konstatiert, dass der primäre Träger der natürlichen Rechte der von Gott als Einzelner geschaffene Mensch sei, wendet er sich damit ausdrücklich gegen zeitgenössische Strömungen, die die Gemeinschaft absolut setzen und das Individuum ausschließlich als Mittel zum Zweck des – von seinen Teilen abstrahierten – Gemeinwohls352 benutzen. Die Begründung ist auch hier wieder zweifach, nämlich einerseits die schon bekannte vernünftig-allgemeine: der Mensch ist nicht nur Mittel zum Zweck, und andererseits theologisch: Gott hat den Menschen als Person, und d. h. eben auch als Individuum eigenen Rechts, geschaffen, ohne welches es auch keine wirkliche Gemeinschaft geben kann. Mit dieser ausdrücklichen Vorordnung des Einzelnen vor die Gemeinschaft setzt Bonhoeffer andere Akzente als Thomas, der das Gemeinwohl als das übergeordnete, letzte Ziel des Naturgesetzes betrachtet353; die Ursache liegt vordergründig sicherlich in seiner Wendung gegen kollektivistische Strömungen der Zeit, während der tiefere Grund die mit Renaissance und Reformation erfolgte ‚Entdeckung‘ des Individuums – und seiner viel später zum zentralen philosophisch-theologischen Thema gemachten Personalität – sein dürfte354, Verhältnismäßigkeit von angeborener Gleichheit und konkreter, faktischer Ungleichheit anstrebt. 350 E 175: „Es gibt also eigenes natürliches Recht nur unter Beachtung fremden natürlichen Rechtes.“ Vgl. Thomas von Aquin, STh II–II qu.58 art.2: ex sua ratione justitia habet quod sit ad alterum […]; Aristoteles, Eth.Nic. V 1129 b 26 f.: Gerechtigkeit (und Recht) gibt es nur ĚěƱĜŖĞďěęė. 351 S.o. B.II.3.b. u. 4.b. 352 E 176 f. Bonhoeffer bezeichnet die von ihm kritisierte Auffassung als „Sozialeudämonismus“, vermutlich hat er die kollektivistisch-hedonistische Staatslehre des Kommunismus ebenso im Visier wie den nationalsozialistischen Führerstaat. 353 So ist für Thomas alles auf das bonum commune hingeordnet, da der Mensch nur in der Gemeinschaft ganz Mensch ist; daraus folgt aber auch, dass das Gemeinwohl zugleich das Ziel aller Einzelnen ist, insofern es die Voraussetzung zur Erlangung des letzten Ziels, der beatitudo, bildet ([…] lex maxime respiciat ordinem qui est in beatitudinem. [STh  I– II qu.90, art.2]). Dazu Böckenförde, Geschichte, 236: „Es [sc. das Gemeinwohl] ist […] das gemeinsame Gut aller einzelnen, zu ihrem eigenen, in der Natur angelegten Ziel, dem Glück des vollendeten Lebens, zu gelangen. Das Gemeinwohl ist so von dem Gut der einzelnen nicht abgelöst, aber ihm […] übergeordnet.“ 354 Burckhardt, Kultur, 93: „[…] erhebt sich mit voller Macht das Subjektive; der Mensch wird geistiges Individuum und erkennt sich als solches“; vgl. auch den viel zitierten Beginn der Auslegung des ersten Glaubensartikels in Luthers kleinem Katechismus (BSLK 510 f.), der beispielhaft die individuell-persönliche Gottesbeziehung Luthers ausdrückt. Dass allerdings das Recht des Einzelnen tatsächlich immer wieder übergangen wird,

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die auf das menschliche Selbst- und Weltverständnis der Neuzeit als unhintergehbares, prägendes Moment eingewirkt hat. Die gleichwohl konstitutive Verbindung des Einzelnen mit den Anderen bleibt damit immer begrenzt, kann aber andererseits auch nicht zugunsten eines radikalen Individualismus aufgelöst werden: so wie der Mensch im Handeln und Existieren immer stellvertretend-fürsorglich auf den Anderen bezogen ist, so ist er als Individuum zugleich eingebettet in das vorgängige und unmittelbar zugehörige natürliche Leben, dessen bewusster Träger er ist355. Der Optimismus, der sich in Bonhoeffers Verständnis des natürlichen Lebens äußert, wenn er darauf verweist, dass die Relationalität des natürlichen Rechts als Korrektiv für Einseitigkeiten und Verabsolutierungen wirkt356, und wenn er – mit einem wesentlichen Element der Lebensphilosophie und vielleicht auch im Bezug auf evolutionstheoretische Gedanken  –  von den ‚Selbstheilungskräften‘ des Lebens spricht357, bleibt jedoch ein rein immanenter und gebrochener Optimismus358. Theologisch kann es nur ein dialektisches Weltverständnis geben, die Wertschätzung des Natürlichen ist von der Versöhnung – im Glauben – her berechtigt und zugleich in Frage gestellt, da die Welt ambivalent bleibt, Vorletztes und nicht Letztes ist, als gefallene gerichtet und versöhnt. Diese Einschätzung der Welt führt dazu, auch das natürliche Recht ambivalent zu bewerten: „Konflikte zwischen im Natürlichen begründeten Rechten müssen […] auf die Struktur der Welt selbst, wie sie ist, zurückgeführt, also […] in der Sünde, wie sie auch im Natürlichen wirksam ist, begründet gefunden [werden]“359.

Der fundamentale Unterschied der christologischen Naturrechtskonzeption Bonhoeffers und der klassisch-thomistischen, der in den Differenzen der Interpretation des Sündenfalls und der Bewertung der Vernunft gründet, findet darum hier einen prägnanten Ausdruck; Bonhoeffer denkt wie Luther die Totalität des Falls bis in seine letzte Konsequenz, und schließt darin folgerichtig das Naturrecht ein; demgegenüber gilt das klassisch-thomistische Naentsprechend der evolutionsbiologischen Erkenntnis, dass die Gattung resp. Art das Ergebnis der natürlichen Anpassungsvorgänge ist (vgl. E 178), muss auch Bonhoeffer einräumen. Die hieran entstehende gedankliche Schwierigkeit ist klassisch als Theodizee-Frage gefasst worden (ebd.). In der Ethik gibt es dazu kaum Andeutungen, vgl. aber E 303.335 sowie die letzte Anmerkung in Teil A. 355 Vgl. dazu Tödt, Menschenrechte, 141 f., der die Differenz, die damit zwischen der „westlichen“, individualistischen Begründung der Menschenrechte und derjenigen Bonhoeffers im natürlichen Leben, deutlich herausstellt ohne freilich auf Bonhoeffers Abhängigkeit von Thomas einzugehen. 356 E 175: „Das suum cuique […] bewahrt aber das Natürliche vor willkürlich-revolutionären Ausbrüchen, indem es auf das dem Anderen zukommende Recht verweist, das ebenso zum natürlichen Recht gehört, wie mein eigenes“. S. auch E 170. 357 E 169.178.202. 358 E 169 f. 359 E 175 f.

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turrecht ebenso wie das neuzeitliche Vernunftrecht als zwar möglicherweise nicht vollständig und klar erkennbar, in seinen obersten Grundsätzen aber als vollkommen. Die natürlichen Rechte bilden damit in formaler Hinsicht eine Parallele zu den gleichfalls unter kritischer Anverwandlung wichtiger Elemente des Thomismus konzipierten Wesensgesetzen: sowohl zum Rechtsbegriff als auch zum Begriff des Wesensgesetzes gehört wegen der Ambivalenz der Welt ihre situativ mögliche Aufhebbarkeit, d. h. also die dem Schema der noch nicht vollendeten Welt geschuldete Infragestellung ihrer unbedingten Geltung: der Grenzfall360. Das positive Recht erhält daher bei Bonhoeffer eine andere Begründung als bei Thomas: positives Recht, sei es göttliches, sei es menschliches, dient als ergänzendes Korrektiv des Naturrechts, indem es die bestehenden Konflikte zu einem Ausgleich bringt; es darf aber nicht über diese Ausgleichsfunktion hinaus willkürlich die natürlichen Rechte in Frage stellen, da es diesen gegenüber sekundär und von geringerer Verbindlichkeit ist361. Ähnlich wie bei Luther ist das positive Recht auf das ihm gegenüber primäre Naturrecht bezogen, beide gehören in den Bereich der Vernunft und sind im Besitz relativer Wahrheit362; sie sind hochzuschätzen für das Zusammenleben der Menschen in der Welt, für das Heil können und müssen sie jedoch nichts leisten. Bei Thomas hingegen ist die Funktion des positiven Gesetzes die Konkretion des an sich vollkommenen Naturgesetzes, die wegen der Beschädigung der menschlichen Vernunft durch den Fall notwendig wurde363; das Naturgesetz selbst kann in seinem Grundbestand, den der Praktischen Vernunft zugänglichen prima principia, gar nicht fehlbar sein, da es an der göttlichen lex aeterna, d. h. an der göttlichen Weisheit partizipiert364.

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S.o. B.II.4.c. u. C.III.3. E 176: „Dieser vorhandene Widerstreit aber fordert das positiv, das heißt von außerhalb gesetzte Recht und zwar als göttliches und weltliches positives Recht.“; E 175: „Das suum cuique anerkennt die Priorität der im Natürlichen gegebenen Rechte vor allem positiven Recht.“ 362 Vgl. z. B. WA  11,  280: „Darumb sollt man geschriebene recht unter der vernunfft hallten, darauß sie doch gequollen sind als auß dem rechts brunnen, und nit den brunn an seyne floßlin bynden und die vernunfft mitt buchstaben gefangen furen.“; WA 51, 211: „Man hebt itzt an zu rhümen das natürliche recht und natürliche vernunfft, als daraus komen und geflossen sey alles geschrieben recht. Und ist ja wahr und wol gerhümet.“ 363 STh I–II qu.91 art.3.4.6; qu.95 art.2. 364 Wenn Bonhoeffer feststellt, dass Gott allein der Garant der natürlichen, das Leben erhaltenden Rechte ist (E  178), so liegt darin noch nicht der entscheidende Unterschied zum Naturrechtsbegriff von Thomas; das gilt auch für die lex naturalis, sofern sie ja ihren Grund in Gottes ewigem Gesetz hat. Der Unterschied besteht darin, dass Thomas das ewige Gesetz als intelligible Struktur denkt, die als solche dann auch nicht mehr vom Gottesbegriff abstrahiert werden kann, eben weil Gott selbst Inbegriff des vernünftigen guten Seins ist. An dieser Stelle zeigt sich also auch die Differenz zwischen einem wohl von Luther beeinflussten Voluntarismus und dem hochscholastischen Rationalismus (s. dazu auch o. A.II.2.b). 361

IV. Die natürlichen Rechte

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Die inhaltliche Konkretion der natürlichen Rechte, soweit sie von Bonhoeffer vorgenommen wurde, soll an dieser Stelle nicht ausführlich thematisiert werden, es werden lediglich einige kurze Hinweise gegeben. Die Argumentation in den vier Abschnitten über die konkreten natürlichen Rechte folgt dem von Bonhoeffer vorbereiteten Weg: die natürlichen Rechte werden aus der vernünftigen Erkenntnis des natürlichen Lebens, d. h. aus anthropologischen und allgemein biologischen Beobachtungen, abgeleitet365. Eine indirekte Erkenntnishilfe ist dabei auch das aktuelle Unrecht, das bestimmte Rechte dadurch, das sie akut gefährdet sind, unmittelbar zu Bewusstsein bringt, also die Erfahrung des Sollens, die angesichts der Grenzüberschreitung durch Übertretung des ‚Gesetzes‘ entsteht. Denn es sind zwar die natürlichen Rechte nicht unmittelbar identisch mit dem Dekalog, sofern sie jedenfalls zum Teil auch anderes thematisieren bzw. thematisieren sollten, sie überschneiden sich mit jenem aber doch wohl auch inhaltlich, so insbesondere hinsichtlich des Lebensrechts; auch andere Grundrechte könnten aber wohl in eine sachliche Verbindung mit Geboten des Dekalogs gebracht werden, wie etwa die Überlegungen Bonhoeffers zu Sinn und Gestalt von Ehe und Familie oder ein in den Planungen erwähntes Recht auf Eigentum366. In diesen inhaltlichen Überschneidungen entsprechen daher die Grundrechte funktional dem Dekalog als Grenze des Lebens vor Gott. Dass Bonhoeffer zusätzlich zu dem Teil „Die natürlichen Rechte des leiblichen Lebens“ einen weiteren über die „natürlichen Rechte des geistigen Lebens“ verfassen wollte367, ist nicht nur seiner ganzheitlichen Anthropologie geschuldet; es bildet auch eine zweifellos beabsichtigte Analogie zu dem dreistufigen thomistischen Naturrecht, dessen höchste Stufe in der cognitio veritatis und der vita socialis besteht368, wenn auch die inhaltliche Durchführung aufgrund des differenten Vernunftbegriffs ebenso zweifellos verschieden von jenem gewesen wäre369. Die Abschnitte „Das Recht auf das leibliche Leben“ 365 Vgl. den die Konkretionen einleitenden Abschnitt E 179 f.: „Das leibliche Leben, das wir ohne unser Zutun empfangen, trägt in sich das Recht auf seine Erhaltung […] So kommt der Leiblichkeit, […] als Existenzform des Menschen, Selbst-zwecklichkeit zu.“; E 192: Der Mensch ist aufgrund seines Bewusstseins „frei […] zum Tode“; E 201: Die Ehe als anthropologisches Konstituens (vgl. auch E 213) etc. In allen Abschnitten ist vorausgesetzt, dass der Mensch als leib-geistige (bewusste) einzelne Existenz eine selbständige Person mit dem Recht auf Selbstbestimmung ist, die allerdings nicht zu einer willkürlichen Verfügung über das eigene Leben und seine natürlichen Rechte werden darf (vgl. E 182 f.200 f.209 f.214 und das Kapitel über den Selbstmord, das im Ganzen diesen Gesichtspunkt thematisiert). Aus ZE Nr. 52.54.47.49.51 geht zudem hervor, dass Bonhoeffer mit den natürlichen Rechten die gesamte Wirklichkeit des menschlichen Lebens zu erfassen suchte. 366 ZE Nr. 21.22.50.52.49. 367 E 216 f. 368 S.o. C.IV.2. 369 Vgl. zu Bonhoeffers Planungen ZE  Nr. 49.51. Dabei tauchen allerdings auch die sicherlich der Lektüre von Thomas und Pieper entstammenden, auf Augustinus zurückgehenden Unterscheidungen des menschlichen Wissenstriebs auf: curiositas und studiositas.

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C. Die Formen des Guten

und „Fortpflanzung und werdendes Leben“ wiederum entsprechen formal den beiden unteren Stufen des thomistischen Naturrechts (conservatio sui und conjunctio maris et feminae, et educatio liberorum et similia), die inhaltlichen Ausführungen sind aber ungleich ausführlicher und geprägt durch die konkreten Gefährdungen und Unrechtserfahrungen im Nationalsozialismus370. Sachliche Parallelen zu den Abschnitten „Der Selbstmord“ und „Die Freiheit des leiblichen Lebens“371 finden sich freilich nicht im klassischen Naturrecht des Thomas von Aquin, es liegt allerdings die Vermutung sehr nahe, dass ihre recht ausführliche Behandlung vorwiegend aus den spezifischen Problemstellungen im Nationalsozialismus resultiert372. Damit ist auch die unmittelbare Funktion des von Bonhoeffer konzipierten ‚christologischen Naturrechts‘ angezeigt: gegen den totalitären Zugriff und die darin erfolgende Zerstörung des Natürlichen soll es dem Schutz des menschlichen Lebens dienen, indem es auf die der Verfügung des Menschen entzogenen, von Gott begründeten und auf Christus bezogenen menschlichen Grundrechte verweist.

Kategorial wäre daher zwar die Bedeutung von Vernunft, Wissen, Erkenntnis, Bildung etc. als natürliche Rechte des geistigen Lebens von der Deutung bei Thomas verschieden gewesen, das folgt ja aus der Grunddifferenz, die schon ausführlich erläutert wurde; dennoch hätte Bonhoeffer sich aber wohl inspirieren lassen von dem, was er – direkt oder indirekt über Josef Pieper vermittelt – von der Interpretation des natürlichen Wissensstrebens bei Thomas zur Kenntnis genommen hat. Vgl. dazu Pieper, Wirklichkeit, 189 ff., sowie Groh, Schöpfung, 293–299.398–403. 370 So erörtert Bonhoeffer in dem Abschnitt über das Recht auf Selbsterhaltung sehr ausführlich die Frage der Euthanasie; nachdem er unmittelbar vorher mit der Selbstzwecklichkeit des Lebens nicht nur das Recht auf das Leben selbst, sondern auch auf leibliche Freuden begründet hat, kommt er in der Euthanasiefrage zu dem Schluss, dass die Selbstzwecklichkeit des Lebens erst recht nicht einem vermeintlichen „socialen Nutzwert“ (E 188) geopfert werden darf. Konsequent und von aktueller Bedeutung für den militärischen Widerstand, dem er angehörte, ist Bonhoeffers Forderung, dass ein Argument zur Tötung eines Menschen unbedingt sein muss (E 185): wenn das menschliche Leben (auch) Selbstzweck ist und wenn das Recht auf Leben dem Menschen grundsätzlich und unabhängig von seinen Möglichkeiten eignet, dann darf eine vorsätzliche Tötung nur ultima ratio sein und nicht von selbst gesetzten Zwecken abhängen. Der Abschnitt über Ehe und Fortpflanzung enthält verschiedene Aspekte, die die Rechte der Partnerwahl und Eheschließung, der ehelichen Gemeinschaft und der Fortpflanzung betreffen. Bemerkenswert ist hier vor allem die Ablehnung der staatlichen Zwangssterilisation, die um des natürlichen Rechts auf einen unversehrten Körper willen nicht erlaubt sein kann. 371 E 192–199.212–216. 372 Weshalb die leibliche Freiheit von Bonhoeffer in dieser zeitgeschichtlichen Situation zum Thema gemacht wird, ist angesichts des tyrannischen Regimes und der Konzentrationslager offensichtlich; die Frage des Selbstmords ist wohl besonders für die Regimegegner ein drängendes Problem gewesen, da ihnen bekanntermaßen im Falle der Entdeckung die Folter drohte; vgl. die Ausführungen zum Selbstopfer E 197 f.

Rückblick und Ausblick Die Analyse der ethischen Konzeption Bonhoeffers hat neben allen darin gewonnenen inhaltlichen Erkenntnissen auch eines gezeigt: dass der Ethik eine höchst komplexe ethische Theologie zugrunde liegt, deren Freilegung erheblicher Anstrengungen und sehr genauer, das geistige Umfeld Bonhoeffers einbeziehender Lektüre bedarf. Wenn nun am Ende dieser Arbeit der Versuch gemacht werden soll, die ganz wesentlichen, zentralen Elemente der Ethik Bonhoeffers in der größtmöglichen Kürze zusammenzufassen, so kann dies nicht mehr leisten, als das unverzichtbare Grundgerüst eines Gebäudes zu zeichnen, das nur eine sehr grobe Vorstellung vom Ganzen ermöglicht. Gerade weil die in der Arbeit analysierten Diskurse, die Bonhoeffer in der Ethik verdeckt führt, hier nicht noch einmal eingeholt werden können, sind die bloßen systematisierten Ergebnisse dieser Analysen Abstraktionen, denen für das Verstehen von Bonhoeffers ethischer Theologie nur ein begrenzter Wert zukommen kann. Denn anders als meistens ist für die Ethik Kontextualität nicht bloß eine Verstehenshilfe, die nützlich, aber notfalls verzichtbar wäre. Vielmehr gilt für Bonhoeffers unabgeschlossenes Hauptwerk, dass ohne die Kenntnis seines konkreten historischen Bezugsrahmens eine entscheidende Dimension verschlossen bliebe. Denn es ist jedenfalls auch einer bewusst übernommenen und ganz durchlebten Zeitgenossenschaft geschuldet, die für Bonhoeffer überhaupt erst die Notwendigkeit mit sich gebracht hat, eine theologische Ethik der schuldhaften Krise und des wagenden Neuanfangs inmitten der größten gesellschaftlichen, moralischen und geistlichen Katastrophe des christlichen Abendlandes zu konzipieren. Entsprechend sind auch Teilaspekte oder Einzelaussagen der Ethik nur von ihrem historischen Kontext her erschließbar1; Anderes wiederum gewinnt vor dem konkreten biographischgeschichtlichen Hintergrund erst seine Brisanz2; schließlich lassen sich die komplexen ethischen Gedanken gerade im Rückgriff auf Bonhoeffers Leben und Tun teilweise gut illustrieren und damit auch zugänglicher machen3.

1

Vgl. z. B. E 278 sowie E 125 ff. S. bes. B.II.4.c. 3 Etwa Bonhoeffers oben B.II.4.c erwähnte Rückkehr aus den USA 1939. 2

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Rückblick und Ausblick

Darüber hinaus aber gilt in noch weit höherem Maße  –  und deshalb ist das Thema dieser Arbeit so gewählt worden, wie es ist, – das Gleiche für den geistig-intellektuellen Kontext der Ethik: ohne eine Durchdringung der theologischen und besonders der philosophischen Diskurse, die Bonhoeffer in der Ethik indirekt führt, müssten wesentliche Aspekte der Konzeption weitgehend unklar bleiben. Dies zeigt sich rückblickend beispielsweise ganz deutlich an dem Einleitungskapitel „Die Liebe Gottes und der Zerfall der Welt“, das die erkenntnistheoretische Fundierung der Ethik-Konzeption enthält: welche wirkliche Bedeutung Bonhoeffers Rede von der ‚Entzweiung‘ hat und wie die dieser kontrastierte ‚Einfalt‘ zu deuten ist, konnte in der Forschung bisher noch gar nicht erhellt werden, weshalb sich Bezugnahmen auf dieses Kapitel auch in bloßen Wiederholungen oder Paraphrasen erschöpfen und erschöpfen mussten – oder einfach Ratlosigkeit zum Ausdruck bringen. Erst die Analyse der zugrunde liegenden Diskurse mit Hegel, Kierkegaard und Nietzsche konnte dagegen zeigen, dass hier eine sehr geschlossene, sehr subtile und zugleich klar positionierte theologische Anthropologie, einschließlich einer Sündenlehre, entworfen wird, ohne deren Kenntnis die gesamte ethische Konzeption nicht erschlossen werden kann. Hier ist nun der Versuch gemacht worden, die systematischen Implikationen und geistesgeschichtlichen Voraussetzungen für die ethische Erkenntnistheorie, die Begründung und Konstruktion des ethischen Handlungsvollzugs sowie die Fundamente und die kategoriale Bedeutung der nur fragmentarisch erhaltenen inhaltlichen Orientierungen des Handelns zu erhellen und dabei die wesentlichen konzeptionellen Elemente der Ethik zu rekonstruieren. Versucht man nun, die Ergebnisse dieser Analyse in formaler Hinsicht einzuordnen, so zeigt sich deutlich Bonhoeffers hoher theoretischer Anspruch, den er in der Ethik verfolgt. Denn die ethische Konzeption Bonhoeffers lässt sich nicht einem bestimmten ethischen Ansatz zuordnen, d. h. hier wurde keine normativ gebundene Ethik, in Bonhoeffers Terminologie: eine Prinzipienethik, entworfen, noch aber handelt es sich um das Konzept eines strengen existentialistischen Dezisionismus. Vielmehr strebt Bonhoeffer, anders als noch einige Jahre zuvor, danach, beide Grundrichtungen miteinander zu vermitteln. Am Verantwortungsbegriff ist diese Intention deutlich ablesbar: die zugeordneten Strukturelemente Bindung und Freiheit stehen für den Vermittlungsversuch zwischen Dezision und Norm, zwischen situativ-konkreter und inhaltlich ausgerichteter Tat des je einzelnen Subjekts, oder anders: zwischen der Freiheit, neue Dekaloge zu schaffen, und dem Gehorsam gegenüber Gebot Gottes4. Die Polarität dieses von Bonhoeffer entworfenen Begriffs christlich-ethischen Handelns findet sich folgerichtig auch im Erkenntnisbegriff 4

E 288.

Rückblick und Ausblick

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wieder. Zwar wird in diesem zunächst das dezisionistische Element stark gemacht: die Abgrenzung von den subjektivitätstheoretischen Entwürfen des Deutschen Idealismus und seinen theologischen Rezipienten ist das negative gedankliche Fundament, auf dem die Position eines christlichen Existentialismus konstruiert wird. Der in diesen Entwürfen implizierte Gedanke einer transzendentalen praktischen Vernunft, aus welcher das transzendentale Ich das absolut gültige Gesetz seines Handelns bezieht, wird von Bonhoeffer mit Hilfe einer im Rekurs auf Nietzsches Moralkritik geführten phänomenologischen Kritik am moralischen Urteilsakt als Wesen des peccatum originale bestimmt und dem Begriff einer existentiellen Glaubenserkenntnis kontrastiert. Das dezisionistische Element in Bonhoeffers Ethik-Konzeption bleibt damit stark, zumal ja auch alles Folgende von der Einleitung aus zu lesen ist; die Freiheit der je eigenen Entscheidung zum Handeln theologisch-ethisch zu begründen, muss damit als ein Grundanliegen von Bonhoeffers Ethik gewertet werden. Den geistigen Referenzrahmen hierfür bilden positiv daher alle diejenigen nachidealistischen Philosophien, die sich konzeptionell von der abstrahierende Reflexion von Transzendentalphilosophie und Idealismus absetzen, auch wenn sie sich dann je wieder voneinander unterscheiden. So hat Bonhoeffer Nietzsche in diesem Sinn, d. h. in der Kritik an einer allgemeingültigen Urteilsmoral und im Rekurs auf einen schöpferischen Handlungsbegriff des individuellen Subjekts, positiv rezipiert, auch wenn er sich aus anderer Perspektive als scharfer Kritiker Nietzsches zu erkennen gibt. Darin bleibt sich der Bonhoeffer der 40er Jahre der Tendenz nach treu, so dass der Programmbegriff Nietzsches für das schöpferische, urteilsfreie Tun „jenseits von Gut und Böse“ von dem frühen Vortrag zur christlichen Ethik5 bis zur Ethik eben auch – in terminologischer Variation6 – ethischer Leitbegriff bleibt, wenn auch die Begründung und die Zielrichtung letztlich zu einer inhaltlich gegenläufigen Konzeption führen. Daher treffen hier auch die Nietzsche- und die Kierkegaard-Rezeption zusammen; denn das, was Bonhoeffer und Nietzsche trennt, die systematische Begründung eines Begriffs vom existentiellen, nichtprinzipiellen Handeln und der mit ihm untrennbar verbundenen subjektiven7 Erkenntnis resp. Wahrheit, ist Kierkegaards christlicher Existenzdialektik entlehnt, die damit gewissermaßen das epistemologische Fundament legt, auf dem Bonhoeffer Nietzsches Denken verarbeitet. Gerade mit dieser Dezision und Norm verbindenden, dabei aber die Existentialität des Erkennens und Tuns deutlich hervorhebenden Konzeption versteht sich Bonhoeffer nach eigenen Aussagen als gültiger Interpret Martin Luthers unter den Bedingungen der Moderne. Wie Luther scholastischem 5

Grundfragen einer christlichen Ethik (DBW 10, 323–345). „Nichtwissen um Gut und Böse“, vgl. A.II.5.e. 7 Aber eben nicht: transzendental-subjektiven. 6

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Rückblick und Ausblick

und humanistischem Rationalismus das persönliche, von außen zugeeignete Glaubensverhältnis des Einzelnen entgegensetzt, so konstrastiert Bonhoeffer neuzeitlichem Vernunftoptimismus die wiederum von außen begründete Relationalität und Existenzialität des Glaubens. Wenn er nun gerade auch mit dem Begriff eines existentiell-verantwortlichen Handelns als unmittelbaren Ausdruck des Glaubens in unbestreitbarer Nähe zur Dialektischen Theologie Karl Barths und Emil Brunners steht, dürfte für Bonhoeffer diese weniger auf einem Lehrer-Schüler-Verhältnis oder auf einer direkten literarischen Abhängigkeit beruhen als vielmehr darauf, dass in seiner Wahrnehmung insbesondere Karl Barth selbst ein gültiger Ausleger lutherischer reformatorischer Theologie ist, der sich zudem in der gleichen Frontstellung gegen Kantianismus und Idealismus wie Bonhoeffer selbst befunden hat. Auch die personale Zuspitzung des Begriffs eines verantwortlichen Handelns hat Bonhoeffer nicht zuerst bzw. nicht hauptsächlich von der ihm darin eng verwandten Ethik Barths und Brunners übernommen, sondern in selbständiger Interpretation besonders von Eberhard Grisebach entwickelt. Der bei Kierkegaard bereits konstitutive Gedanke, dass die subjektive, existenzbetreffende Wahrheit in einem Beziehungsgeschehen zwischen Gott und Mensch begründet ist, wird damit neu formuliert und zugleich mit dem Grundanliegen des der Existenzphilosophie verwandten Dialogischen Personalismus verbunden, wonach Partner und Adressat8 des je konkreten, verantwortlichen Tuns immer auch der Mitmensch ist. Weshalb dies aber so ist, weshalb also Verantwortung immer gebunden ist an menschliche Interpersonalität, was Bonhoeffer als stellvertretende Verantwortung bezeichnet und in dieser Arbeit zum besseren Verständnis ethisch-soziale Stellvertretung genannt wurde, kann mit den Mitteln des philosophischen Dialogismus nicht mehr erklärt werden. Auch bei Kierkegaard ist allerdings diese Perspektive nicht vorhanden, was in seinem gedanklichen System freilich keine Inkonsistenz darstellt, da jede Reflexion auf den Kontext des Subjekts, seine Wirklichkeit, entfällt. Deshalb ist es gerade der Verantwortungsbegriff, dessen Rezeption aus Dialogphilosophie und politischer Theorie (Max Weber) mit der anschließenden theologischen Deutung selbst schon eine originäre Leistung Bonhoeffers ist, an dem sich sein gewaltiger Anspruch mit der Ethik-Konzeption erweist. Denn die Bestimmung des Menschen als animal sociale ist nur schlüssig, wenn die existentielle Anthropologie eingebettet wird in ein ontologisches Fundament, das im Sinne einer Sein-SollensRelation der je geforderten Dezision eine Richtung anzeigt. Anders gesagt: Dass der Mensch nicht nur mit Gott, sondern auch mit dem Anderen und 8 Bei Grisebach ist der Andere tatsächlich als Grund und Ziel der Verantwortung gedacht. Hier hat Bonhoeffer, wie in B.II.3.a ausführlich erläutert wurde, modifiziert, weil damit der Andere an der Stelle Gottes zu stehen käme.

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darüber hinaus auch mit der ihn umgebenden Wirklichkeit nicht nur situativzufällig oder durch Bedürfnisse, sondern konstitutiv verbunden ist, kann mit der von Bonhoeffer rezipierten Form der Existenzphilosophie nicht gedacht werden – es sei denn, man postulierte einen strikt subjektiven Weltbezug des Daseins, wie ihn Heidegger entwirft. Eben das aber lehnt Bonhoeffer ab, weshalb er mit anderen Mitteln den Zusammenhang von Mensch und Wirklichkeit und damit auch die Einheit von Dezision und Norm denken muss. Angedeutet hatte Bonhoeffer dies bereits im Einleitungskapitel, in dem er die inhaltliche Bindung des existentiellen Erkenntnisakts unter dem Begriff des Prüfens in formaler epistemologischer Hinsicht entfaltet; freilich wurde dort der Akt des Prüfens der je eigenen Entscheidung an bestimmten inhaltlichen Orientierungen als Implikat der ethischen Erkenntnistheorie postuliert, dessen Plausibilität erst noch demonstriert werden musste. Dies leistet der zentrale konzeptionelle Teil „Die Geschichte und das Gute“, in dem Bonhoeffer ausgehend von der Rezeption lebensphilosophischer Gedanken die Wirklichkeit des Menschen als geschichtlich-lebendigen Kontext denkt, der so einerseits die situativ-einmalige, nicht-verallgemeinerbare Gestalt der ethischen Tat garantiert, andererseits aber durch seine christologische Deutung und Begründung den je einmaligen Akt in einem schon inhaltlich bestimmten Kontext verankert, dessen konkrete Gestaltung – „Wirklichwerden“9 – eben Ursprung, Wesen und Ziel10 der ethischen Tat ist. Mit dieser Verankerung von Erkennen und Tun in einem qualifizierten, geschichtlichen Lebensbegriff hat Bonhoeffer in höchst interessanter und vor allem in ganz neuer Weise wichtige zeitgenössische philosophische Strömungen verknüpft und in seine theologische Ethik integriert: denn neben der Lebensphilosophie wirkt sich hier auch der Einfluss Thomas von Aquins resp. des Neuthomismus aus, speziell in der Deutung des Zeitgenossen Josef Pieper, von dem Bonhoeffer nicht nur inhaltlich, sondern auch konzeptionell mehr gelernt hat, als es aus den bis dahin bekannten Gestalten seiner Theologie heraus denkbar erscheinen konnte. Es mag der ‚realistische‘ Zugriff auf die Praxis sein, der Bonhoeffer hier zunächst interessiert hat11 und der ihn dazu geführt hat, seinerseits die ontologische Fundierung, d. h. die konstitutive Realitätsbezogenheit des Handelns  –  im Sinne eines systematisch-theologisch qualifizierten Realitätsbegriffs  –  zum Gegenstand der ethischen Reflexion und darin zu einem entscheidenden Element des christlich-ethischen Handlungsbegriffs zu machen. Dabei ist aber auch der geschichtliche Wirklichkeitsbegriff im Ganzen, wie er im geplanten ersten Kapitel der Ethik im Hinblick auf seine christologische Begründung expliziert ist, wohl erheblich von Josef Piepers Deutung des thomistischen 9

E 34. E 250 ff. 11 DBW 16, 114: „Ich finde die katholischen Ethiken sehr lehrreich und praktischer als die unseren.“ 10

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Rückblick und Ausblick

Begriffs von Wirklichkeit als res einerseits und als actus andererseits beeinflusst; dies zeigt nicht zuletzt auch schon der an Piepers grundlegende Schrift Die Wirklichkeit und das Gute anspielende Titel an, mit dem Bonhoeffer gezielt eine kritische Nähe zum Neuthomismus Josef Piepers herstellt – und bereits auf die christologische Wendung hinweist, die er dem von Thomas von Aquin und Josef Pieper beeinflussten Wirklichkeitsbegriff gibt. Über diesen Gedanken, dass die christologisch bestimmte Wirklichkeit je konkrete geschichtliche Gestalt gewinnt im Handeln des auf Christus personal und existentiell bezogenen Menschen, gelingt es Bonhoeffer daher, zu klären, was in der Einleitung offen bleiben musste: wie nämlich die je konkrete Glaubenserkenntnis als Ausrichtung des Einzelnen auf Christus zugleich schon inhaltliche Orientierungen über die Wirklichkeit von Mensch und Welt für das Tun enthalten kann, ohne dass damit aber die eigene Entscheidung als je neues Prüfen der Situation vorweggenommen wäre; ohne dass also, anders gesagt, der Mensch entweder zum Befehlsempfänger degradiert würde oder eben doch sein Handeln an absoluten Normen messen (lassen) müsste. Über die ontologische Einbettung der verantwortlichen Tat kann Bonhoeffer daher sowohl den Handlungsvollzug als auch die ihn mit bestimmende Wirklichkeit auch inhaltlich näher qualifizieren. Wenn Verantwortung also der freie Gehorsam des Gebots ist, so lässt sich nun diese formale Bestimmung mit einer Konzeption des Guten, d. h. der guten Wirklichkeit in und aus Christus, füllen, die es Bonhoeffer erlaubt, den Normenbestand der Tradition zu verarbeiten und selbst inhaltliche Bestimmungen zu entwickeln. Unter dem Strukturbegriff „Bindung“ wird daher von ihm zunächst die zwar je neu zu konkretisierende, formal betrachtet aber doch prinzipielle Ausrichtung des Tuns auf den oder die Mitmenschen erläutert. Jedes verantwortliche Tun ist, so lässt sich zusammenfassen, wegen der schöpfungsmäßigen, ‚wirklichen‘ Verbundenheit des Menschen mit dem Mitmenschen, ein fürsorgliches Tun unter Personen im qualifizierten Sinne des Dialogismus. Wie sich dieses fürsorgliche Tun je situativ konkretisieren lässt, hängt dann auch von den anderen Bestimmungen der verantwortlichen Tat ab, d. h. insbesondere von der Bindung des Tuns an die Wirklichkeit. Diese Bindung wiederum kommt in unterschiedlichen Aspekten zum Ausdruck, nämlich in der Orientierung des Tuns an den Wesensgesetzen, an den Rechten des Menschseins und in der Bindung des Tuns an die Mandate. Dabei sind die als Neuinterpretation von Luthers ordo-Lehre zu verstehenden Mandate anders als die Wesensgesetze und die natürlichen Rechte freilich nicht nur inhaltliche Orientierungen für das gestaltende Handeln; sie sind zugleich diejenigen Wirklichkeitsstrukturen, in welchen und aufgrund welcher überhaupt gehandelt wird. An welcher Stelle innerhalb dieser Strukturen der Einzelne zu stehen kommt, d. h. in welchen Aufgaben oder Funktionen und in welchen personalen Verhältnissen er existiert, welche situativen Herausforderungen er zu bewältigen hat, dies

Rückblick und Ausblick

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alles zusammen genommen ist wiederum sein jeweiliger Beruf, womit Bonhoeffer einen lutherisch (um-)geprägten biblisch-kirchlichen Begriff mit der politischen Ethik Webers verbindet. Die Wesensgesetze und die natürlichen Rechte dagegen sind aus der Anverwandlung der thomistischen Ontologie und Ethik entstanden: Wesensbegriff und Naturrecht bei Thomas von Aquin hat Bonhoeffer hier, beeinflusst durch Piepers zeitgenössische Erschließung, seinem christologischen Wirklichkeitsbegriff integriert. Das Ergebnis ist ein als Alternative zu klassisch naturrechtlichen Konzeptionen gedachter Entwurf christologisch begründeter Menschenrechte12. Dieses Konzept der natürlichen Rechte ist dabei zugleich eine implizite Abgrenzung vom neuzeitlichen Vernunftrecht und insofern organischer Teil der Gesamtkonzeption. Ebenfalls Konsequenz der ontologischen Fundierung der Ethik ist zudem die nicht mehr ausgeführte, aber noch angedeutete Bestimmung des guten Menschseins im Sinne einer christologisch begründeten Tugendlehre; die Entsprechung von verantwortlichem Tun und je konkreter Verfasstheit des Menschen wäre hier zum Thema geworden. Ob sich Bonhoeffer im Zusammenhang diese Kapitels neben anderen auch mit der aristotelischen Tugendlehre auseinander gesetzt hätte, kann nur gemutmaßt werden13. Mit hoher Wahrscheinlichkeit aber hätte Bonhoeffer auch hier wieder Josef Pieper mit seinen, von Bonhoeffer geschätzten, Traktaten zur thomistischen Tugendlehre14, d. h. also indirekt auch Thomas von Aquin selbst, intensiv kritisch rezipiert. All dies aber, die einer christologischen Ontologie entstammenden inhaltlichen Orientierungen des freien Tuns, ist Ausdruck des Gehorsams gegenüber dem Willen Gottes. Oder anders: die Entscheidung für ein bestimmtes, aus dem Akt des Prüfens hervorgehendes Tun ist, als Glaubenserkenntnis, unmittelbare Folge des Hörens des konkreten Gebots. Es geht hier also, kurz gesagt, um eine Ethik der Nachfolge, den usus legis divinae in renatis; hier dürfte der dezidierte Lutheraner Bonhoeffer sehr vieles von der reformierten Theologie, besonders aber wohl von Karl Barth gelernt haben. Entsprechend fehlen in der Ethik auch kontroverstheologische Positionierungen. Stattdessen wollte Bonhoeffer offenbar den Versuch machen, gerade im Hinblick auf die Nachfolge, also den locus theologicus der Heiligung oder renovatio, die kon12 Wie außergewöhnlich dieses Unterfangen war, hat Bonhoeffer durchaus gewusst (vgl. E 163 f.). Dass einzig Karl Barth mehr als fünf Jahre später (1946) mit Christengemeinde und Bürgergemeinde einen ähnlichen Versuch, wenn auch mit etwas anderem Begründungsweg über den Analogiebegriff, vorlegen und damit nicht einmal Erfolg im Hinblick auf den konstitutionellen Prozess Deutschlands haben würde, hat er vielleicht nicht erwartet. Umso wichtiger ist es, Bonhoeffers zwar fragmentarischen, aber nichtsdestotrotz beachtlichen Menschenrechtsentwurf gerade auch in inhaltlicher Hinsicht einer neuen, die veränderte gesellschaftspolitische Situation einbeziehenden gründlichen Untersuchung und Bewertung zu unterziehen. 13 Vgl. ZE Nr. 67. 14 S. dazu C.IV.1.

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fessionellen Differenzierungen in einer Synthese aufzuheben. So folgt er zwar Barths versöhnungstheologischen Ansatz, in dessen Konsequenz es liegt, anstelle von ‚Gesetz‘ von ‚Gebot‘ zu sprechen und damit zugleich die Vorordnung des Evangeliums vor dem Gesetz zu behaupten. Dennoch sollte auch die spezifisch lutherische Deutung des Gesetzes in seinem ersten, ‚weltlichen‘ oder bürgerlichen Gebrauch expliziert werden. Dass Bonhoeffer sowohl den zwingenden, grenzsetzenden Charakter des Gottesgesetzes resp. des Dekalogs als auch, an anderem systematischen Ort, die Bedeutung des Inhalts des Gesetzes für die Weltgestaltung (als Neuinterpretation des primus usus legis) postuliert, ist darum als nichts anderes, als die Integration der lutherischen Deutung des Gesetzes in die der Rezeption Barths entstammende Konzeption einer versöhnungstheologischen Gebots- bzw. Nachfolge-Ethik. Ähnlich wie der späte Barth in den fünfziger Jahren geht Bonhoeffer dabei hier bereits den Weg zur konsequenten Ausweitung des Versöhnungsgedankens, indem er – noch ansatzweise – den Begriff eines unbewussten Christentums einführt; der unter diesem Begriff zusammengefasste Gedanke einer gemeinsamen Arbeit der bekennenden und der unbewussten resp. nicht expliziten Christen an der Wirklichkeit der mit Gott versöhnten Welt hat sich bei Bonhoeffer offenkundig auch unter dem Eindruck der Begegnung mit humanistisch geprägten Mitgliedern der Konspiration entwickelt. Wenn bisher in diesem zusammen fassenden Rückblick auf die Ergebnisse der Arbeit schon deutlich wurde, dass Bonhoeffers Ethik-Konzeption von dem Willen zu Integration und Synthese, zur Verbindung und Verknüpfung unterschiedlicher Perspektiven und Ansätze bestimmt ist, so soll dies nun noch kurz in einer weiteren Hinsicht erläutert werden. Denn Bonhoeffers Ethik ist auch in theoretischer Hinsicht umfassend resp. integrativ konzipiert; die verschiedenen möglichen Ansätze für eine Ethik als Reflexionstheorie der Moral, d. h. die Begründung der Moral entweder in der Tugend resp. der Haltung des Subjekts, oder in der Pflicht resp. dem richtigen Handlungsvollzug oder im angestrebten Gut resp. der intendierten guten Wirklichkeit, werden hier nämlich zu einem Ganzen verbunden. Das ist konsequent, wenn bedacht wird, dass die angestrebte gute Wirklichkeit auch schon der Grund der guten Tat ist: Die dem guten Handeln entsprechende, ihm sowohl vorausgehende als auch nachfolgende Wirklichkeit des Guten wird so in allen für die menschliche Existenz wesentlichen Dimensionen entfaltet, einschließlich ihrer ontologisch-anthropologischen, in Institutionen sich manifestierenden Strukturen (Mandate). Wenn auch die Zielperspektive, das Gute oder die Güter, zumindest begründungstheoretisch dominierend ist, so gehören eben auch die Perspektiven auf den Vollzug einer Handlung und die Perspektive auf die Verfasstheit des Einzelnen und die Strukturen der Wirklichkeit konstitutiv zu der Ethik-Konzeption hinzu. Gut ist eine Tat dann, wenn alle ihre Elemente von der Wirklichkeit Christi actualiter bestimmt sind.

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Zeigt sich so am Ende, dass Bonhoeffers Ethik von diesem ebenso faszinierenden wie gewaltigen Anspruch zur Integration des Verschiedenen getragen ist, so erscheinen die Formulierungen aus dem ersten Kapitel mit der Überschrift „Christus, die Wirklichkeit und das Gute“ in einem neuen Licht: alle drei Begriffe meinen nämlich nun das Gleiche: die Christuswirklichkeit als das Gute. Wie und worin dieses Gute je neu wirklich wird, ist Thema der Ethik, die damit eben auch eine Beschreibung der Versöhnung des Menschen und seiner Welt mit Gott ist, so dass sich hier noch einmal die Berechtigung des Gebrauchs der anfangs verwendete Formulierung zur Charakterisierung von Bonhoeffers Ethik-Konzeption als „ethische Theologie“15 erweist. Wie im Einzelnen nun die ontologische Fundierung der theologischen Ethik von Bonhoeffer durchgeführt wird, wie also im ersten Kapitel lutherische Rechtfertigungstheologie, Versöhnungslehre im Anschluss an den mittleren Barth, thomistische Ontologie und Hegels Dialektik miteinander zu einem neuen christologischen Begriff von Wirklichkeit verbunden werden, ist hier nicht eingehender untersucht worden, weil es nicht unmittelbar zum Thema gehörte und zudem eine entsprechende Untersuchung in ihrem zu erwartenden Umfang auch das zuträgliche Maß einer Dissertation sprengen würde. An diesem Punkt ist daher noch Bedarf an umfassender Analyse. Auch anderes könnte noch genannt werden, etwa der Begriff der Kirche und das Verhältnis von Kirche und Welt, dem eigenständige Untersuchungen gewidmet werden sollten, die Abgrenzungen der theologischen Anthropologie von Nietzsches Begriff des Übermenschen16 sowie die erhaltenen inhaltlichen Orientierungen zu den natürlichen Rechten und den Mandaten in ihrer konkreten, wiederum vielfältige Traditionen aufnehmenden Ausführung. Mit der Erschließung von Erkennen, Handeln und Formen des Guten, d. h. des wahrhaft wirklichen und guten Lebens vor Gott als Grundelementen von Bonhoeffers Ethik soll dafür ein Fundament gelegt worden sein, auf dem die übrigen Perspektiven und die praktischen Konsequenzen – soweit vorhanden – ihrerseits im Kontext analysiert und in ihrer Funktion für die Ethik dargestellt werden können. Soll am Ende Bonhoeffers Ethik-Konzeption einmal versuchsweise auf einen Begriff gebracht werden, mit dem sich für den Leser, der ja in Bonhoeffers Verständnis auch als Leser in Wirklichkeit immer tätig Existierender und d. h. von Jesus Christus ethisch In-Anspruch-Genommener ist, die persönliche Bedeutung und Herausforderung dieser Ethik-Konzeption erschließt, so handelt es sich um einen Begriff, der in der Ethik selbst gar nicht vorkommt; dennoch ist dieser Begriff ganz besonders geeignet, das Wesen von Bonhoeffers Ethik zu charakterisieren: es ist die dritte der antiken Kardinaltugenden in ihrer bei 15

S. dazu die Einleitung. S. dazu die kritischen Distanzierungen von Nietzsche, die Bonhoeffer in „Ethik als Gestaltung“ in den mit „Ecce homo“ beginnenden Abschnitten vornimmt (E 69 ff.). 16

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Rückblick und Ausblick

Thomas und Pieper als fortitudo purgati animi17 bezeichneten Form, die „im absoluten Sinne donum, ‚Geschenk‘“18 ist und die in sachlicher Nähe und gleichzeitiger Differenz zur scholastischen Interpretation das Leben „auf den höchsten Gipfeln der irdischen Heiligkeit“ beschreibt, welche „schon ein Anfang des Ewigen Lebens“19 im Vorletzten sind: Dieser Mut des von Christus her lebenden Menschen ist es nämlich nicht nur, der alle anderen Formen des Mutes bestimmt, „durchformt und krönt“, wie bei Thomas resp. Pieper20; er ist nicht einfach eine Tugend unter anderen, sondern er ist eine Grundhaltung der Existenz, eine „Hochgemutheit“, magnanimitas, die sich in echter Demut „das Große zumutet“, das ihr von Gott vorgelegt wird21. Er ist das, was das Leben des versöhnten Menschen als befreiender Anspruch Christi im Ganzen bestimmt: der Mut zum Sich-Halten an Gottes Willen, der Mut zur Freiheit und der Mut zum Dasein für Andere mit allen Konsequenzen. Bonhoeffers ethische Theorie und praktische Ethik sind in überragender Weise von diesem Mut zur Existenz als versöhnter Mensch gekennzeichnet.

17 Pieper, Tapferkeit, 131 ff. Bonhoeffer hat auch diesen Traktat gekannt, vgl. ZE Nr. 81.23.65.64. 18 AaO. 132. 19 AaO. 131. 20 AaO. 135. 21 Pieper, Zucht, 181 f., bezogen auf eine Form der temperantia.

Exkurse I. Bonhoeffers Kritik an der liberalen Theologie des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts1 Bonhoeffer folgt in seiner Einschätzung des Protestantismus des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts überwiegend der Kritik Karl Barths, obwohl er – als Glied der Berliner theologischen Fakultät sowie aufgrund familiärer Verbindungen – auch als Schüler jener einflussreichen theologischen Richtungen, die gewöhnlich mit den Schlagworten ‚liberale Theologie‘ und ‚Lutherrenaissance‘2 bezeichnet werden, gelten kann und darüber hinaus nie ein unkritischer Anhänger Barths gewesen ist. Die theologischen ‚Lehrer‘ Bonhoeffers an der Berliner Theologischen Fakultät waren bekanntlich sein Doktorvater Reinhold Seeberg, Karl Holl und Adolf von Harnack; letzterer war außerdem Nachbar der Familie Bonhoeffer3. Als Lehrer im emphatischen Sinn hat Bonhoeffer sie nach eigener Aussage allerdings niemals empfunden, ebenso wenig jedoch auch den von ihm auch persönlich sehr geschätzten Karl Barth4. Es wird zu Recht häufig darauf 1 Ausdrücklich ist darauf hinzuweisen, dass hier nicht beabsichtigt ist, die Bewertungen Bonhoeffers ihrerseits vollständig auf ihre theologiegeschichtliche Richtigkeit oder Falschheit zu überprüfen. Von Interesse ist für die hier untersuchte Fragestellung, was Bonhoeffer als Ausgangspunkt bzw. Hintergrund für seine theologische Konzeption dient. Zu diesem Zweck werden zusätzlich zu den Bonhoeffer-Einschätzungen einige Erläuterungen für die bessere Verständlichkeit gegeben. Ausführliche Werkexegesen der verhandelten Theologen sind nicht am Platz, da sie von dem hier gestellten Thema zu weit ab führten. Dass insbesondere Bonhoeffers frühe Äußerungen noch sehr von der Frontstellung gegen die Berliner Fakultät geprägt sind und deshalb etwas zur Einseitigkeit tendieren, wird man schnell bemerken. Zu der Entwicklung Bonhoeffers hinsichtlich seiner Stellung zur liberalen Theologie vgl. exemplarisch Kaltenborn, Harnack, passim; zur Kritik an Barth vgl. die schon genannte Arbeit von Beintker, Kontingenz, passim, und die – etwas tendenziöse – Arbeit von Pangritz, Barth, passim. 2 Zu diesen Etikettierungen vgl. Jacobs, Liberale Theologie, passim; Wallmann, Holl, 2, der (Anm. 6) auf die gewöhnlich etwas undifferenzierte Verwendung des Begriffs ‚Lutherrenaissance‘ hinweist. Für den hier gesetzten Zweck eines exkursartigen Überblicks sind die exakten kirchenhistorischen Abgrenzungen nicht relevant, da die entscheidende Beeinflussung Bonhoeffers durch die neue lutherische Forschung direkt auf Holl zurückgeführt werden kann (DB 97 f.), der zweifellos einer ihrer bedeutendsten Vertreter war. 3 Dazu ausführlich Kaltenborn, Harnack, 106 f. 4 Vgl. DB 216 f.

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Exkurse

hingewiesen, dass Bonhoeffers Theologie wesentliche Elemente aus beiden Richtungen erhalten hat5, beispielsweise die starke lutherische Prägung von Karl Holl; darüber hinaus stammen die beachtlichen Kenntnisse Bonhoeffers zur Dogmen- und Theologiegeschichte sicherlich von Seeberg6, der wahrscheinlich auch die intensive Auseinandersetzung mit Hegel angeregt hat7, von Harnack wiederum, neben den Kenntnissen in früher Kirchengeschichte, das Insistieren auf intellektueller Redlichkeit und das Interesse an der Konkretion der christlichen Existenz8. Auch mit Ernst Troeltsch und Friedrich Naumann hat sich Bonhoeffer intensiv literarisch befasst, ohne dass es allerdings zu persönlichen Begegnungen gekommen wäre9. Dennoch ist der 5 Bonhoeffer selbst hat dies brieflich geäußert: DBW  16,  344; WE  554–561. Dass er letztlich eine Theologie anstrebte, die beide Richtungen miteinander vermittelt und so die Erkenntnis bewahrt, ohne den Fehler mitzumachen (vgl. SC 46), formuliert er diesbezüglich in WE 482: „Erst damit [sc. der nicht-religiösen Interpretation der theologischen Begriffe] ist meines Erachtens die liberale Theologie (durch welche auch Barth, wenn auch negativ, noch bestimmt ist) überwunden, zugleich aber ist ihre Frage wirklich aufgenommen und beantwortet (was im Offenbarungspositivismus der BK nicht der Fall ist!)“. Vgl. Pangritz, Barth, 37 f., der – teilweise unter Berufung auf H. Müller – bereits für den frühen Bonhoeffer von einer „Vermittlungsposition seiner Theologie“ redet, wobei allerdings im Ganzen seiner Untersuchung Bonhoeffers liberales Erbe stark unterbelichtet wird. Kaltenborns Untersuchung stellt gewissermaßen das Gegenstück zu jener dar, insofern er den Einfluss Harnacks im Gesamtwerk Bonhoeffers herausarbeitet; vgl. 106 ff., bes. 18128, et passim. 6 Eigene Quellenstudien hat Bonhoeffer offenbar nur in geringem Umfang betrieben; seine Restbibliothek weist zwar auch einige vorneuzeitliche Primärliteratur aus, die er allerdings wohl nur in geringem Umfang studiert hat (vgl. insbesondere Meyer, Nachlass, 183); auch die Kommentierungen in der Werkausgabe haben für eigene Lektüren altkirchlicher, mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Literatur (abgesehen natürlich von Luther) fast keine Belege bringen können. Eine Ausnahme dürften die Studien des Thomas von Aquin sein, die Bonhoeffer während seines Aufenthaltes im Kloster Ettal vermutlich getrieben hat, nachdem er sich eingehend mit dem Thomas-Exegeten Josef Pieper auseinandergesetzt hatte. Dazu s. o. B.II.4.b und C.IV. 7 Nachweisbar ist Bonhoeffers Hegel-Rezeption (v. a. der Religionsphilosophie) seit dem Referat über Kirche und Eschatologie bei Seeberg (1926, DBW 9, 336–354) und dann durchgehend bis E, wobei besonders die bei Seeberg geschriebene Dissertation SC von ihr geprägt ist; in Widerstand und Ergebung findet sich nur noch eine sehr sporadische Bezugnahme. S. dazu ausführlich A.II.4.a. 8 Vgl. Kaltenborn, Harnack, 130 ff., s. auch 31: „Harnack geht es darum, daß das Leben in seiner Totalität dem Glauben gelebt wird. […] ‚Ob wir an unsere Rechtfertigung wirklich glauben, das erprobt sich uns doch einzig daran, ob wir unser ganzes Leben, Tun und Lassen in Gottes Vaterhand beschließen‘.“ S. auch aaO. 40. Diese Hinwendung zur konkreten, handelnden Existenz (und damit zur Ethik) kennzeichnet auch Bonhoeffers Theologie, wenn auf diesen Aspekt sicher noch andere, philosophische Einflüsse, wie etwa Kierkegaard und die Existenzphilosophie, sowie Nietzsche und die Lebensphilosophie eingewirkt haben. 9 Bonhoeffer ist erst ein Jahr nach Troeltsch’ Tod 1923, im Juni 1924, zum Studium nach Berlin gekommen, konnte ihn also nicht mehr persönlich erleben. Dennoch dürfte die Präsenz dieses großen Gelehrten in der Berliner Fakultät auch nach dessen Tod für Bonhoeffer noch zu spüren gewesen sein. Troeltsch ist im Gesamtwerk Bonhoeffers präsent, mit deutlichem Schwergewicht auf der Dissertation und der im Folgenden herangezogenen Vorlesung zur Systematischen Theologie; auch in der Ethik nimmt Bonhoeffer mehrfach auf ihn Bezug. Mit Naumann, der bereits 1919 in Berlin gestorben ist, wird die Auseinander-

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Einfluss Barths, obwohl Bonhoeffer bei ihm gar nicht studiert hat, nicht nur eine konstante, sondern auch eine basale Größe in seiner Theologie, insofern sie ihn zu einem offenbarungstheologischen Ansatz geführt hat, von dem er nie wieder abgerückt ist. Die schon erwähnten Barcelona-Vorträge, in denen Bonhoeffers Wendung zur Offenbarungstheologie Barthscher Provenienz längst vollzogen ist und gegen das bürgerliche Christentum seiner Zeit abgesetzt wird, sind ein deutlicher Beleg für die – zu dieser Zeit sogar noch bis ins Sprachliche reichende – Abhängigkeit Bonhoeffers von Barth. Gegen die „unter Berufung auf Kant theologisch begründete und in der bürgerlichen Gesellschaft zelebrierte Identifikation von Christentum und Moral“10 setzt Bonhoeffer die dialektisch-theologische Auffassung, dass die praktizierte sittliche Religion des zeitgenössischen Christentums gerade das wahrhaft Christliche verfehle: „Gott, der der Welt schlechthin Überlegene, der schlechthin transzendente, d. h. der Welt ferne, ganz andere, dem Menschen und seinem Wesen völlig ungleiche, menschlichem Denken und Wollen für immer Unerreichbare, er will vom Menschen nur eines, daß er vor ihm nichts ist […]. Jedes Wissen, jeder moralische Anspruch vor Gott verletzt den Anspruch Gottes auf alleinige Ehre […], der Abstand bleibt vom Menschen aus unüberbrückbar […]. Nicht Wissen, nicht Moral, nicht Religion führt zu Gott […], es gibt schlechterdings keinen Weg des Menschen zu Gott […]“11.

Dieser Wertung liberaler Religiosität und Sittlichkeit als Ausdruck menschlicher „Hybris“ im Verhältnis zu Gott12 stellt Bonhoeffer das Angewiesensein des Menschen auf Gnade diametral gegenüber; das Christliche besteht in dieser Perspektive folglich nur noch in einer – mit Luther und Barth zugleich betonten  –  rezeptiven Passivität13, deren Konsequenz lautet, dass „es […] grundverkehrt [ist], im Christentum eine neue Moral zu suchen“14. setzung vornehmlich in der Ethik, allerdings zuvor auch schon in der genannten Vorlesung geführt; seine erste Lektüre der „Briefe über Religion“ datiert nach Auskunft von Bethge bereits in seine Primanerzeit, fand also mit ungefähr 16 oder 17 Jahren statt, vgl. DB 67. 10 Köster, Antipode, 379.391; DBW 10, 314: „Die Gleichung ‚Ethik ist Religion‘ scheint zu wanken […]“. 11 So im zweiten Vortrag Jesus Christus und vom Wesen des Christentums, DBW 10, 314 f.; s. auch 316: „Ethik und Religion und Kirche liegen in der Richtung des Menschen zu Gott, Christus aber spricht allein, ganz allein von der Richtung Gottes zum Menschen […]“, oder am Beginn des ersten Vortrags Die Tragödie des Prophetentums und ihr bleibender Sinn, DBW 10, 385, wo mehrfach von der gegenwärtigen „Krisis“ die Rede ist; s. außerdem die verstreuten polemischen Bemerkungen über das „verbürgerlichte Christsein“ (Köster, Antipode, 383), DBW 10, 286.302 u. ö. Schon kurz darauf (AS 76 ff.) übt Bonhoeffer auf der Grundlage einer lutherischen Christologie Kritik an dieser Überbetonung, wie er nun meint, der totalen Jenseitigkeit und absoluten Freiheit Gottes, während der Grundgedanke, dass ein Weg vom Menschen zu Gott – sei er religiöser, ethischer oder gar philosophischer Art – keine anthropologische Möglichkeit ist, erhalten bleibt. 12 DBW 10, 315. 13 Vgl. AS 113.118; DBW 11, 207; E 225.339 f. 14 DBW 10, 316; vgl. auch 317: dort wendet sich Bonhoeffer erkennbar (mit Barth)

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In der Vorlesung Die Geschichte der systematischen Theologie der Gegenwart15 wird diese recht schematische Gegenüberstellung anhand eines Durchgangs durch die jüngste Theologiegeschichte, d. h. also die des ausgehenden 19. und beginnenden 20.  Jahrhunderts, in deutlich differenzierterer Weise entfaltet. Zwar handelt es sich bei den von Bonhoeffer behandelten Theologen (u. a. Ernst Troeltsch, Wilhelm Herrmann, Adolf von Harnack, Friedrich Naumann) um Vertreter unterschiedlicher Unterströmungen der liberalen Theologie; seine grundsätzliche Kritik richtet er jedoch auf die allen – mehr oder weniger  –  gemeinsame, indirekt auf Schleiermacher zurückgeführte16, Grundfigur einer als anthropologische Struktur gedachten sittlichen Religiosität des Menschen17. Es ist allerdings zu beachten, dass Bonhoeffer, trotz der unverkennbaren Nähe seiner grundsätzlichen Kritik an der liberalen Theologie zu derjenigen Barths, für den in seinem Urteil erforderlichen grundlegenden Neuansatz der Theologie die Rückbesinnung auf Luther fordert und sich damit ausdrücklich auch konfessionell von Barth absetzt18. Aber das zeitgenössische Luthertum, gegen Harnack, dessen Auffassung vom „unendlichen Wert der Menschenseele“ (Harnack, Wesen, 40 ff.) er in die Nähe der – bekanntlich schon von Luther als unchristlich bzw. unbiblisch verworfenen – Anthropologie der Renaissance rückt, wonach der „sittlichreligiöse Mensch […] gottähnlich“ (DBW 10, 317) sei. Die Berechtigung dieser sehr grob und vereinfachend gezeichneten Entwicklungslinie soll hier nicht im Detail diskutiert werden. Bonhoeffer hat aber fraglos etwas Richtiges erkannt, wenn er die großenteils platonisch geprägte Renaissance-Philosophie samt ihrem optimistischen Impuls für die „Entdeckung des Individuums“ (Burckhard, Kultur, 93) mit der kantischen und neukantianischen Philosophie (bzw. der von ihr beeinflussten Theologie) zusammenbringt, die – nach der kopernikanischen Wende in der Erkenntnistheorie – die Idealität des Subjekts in dessen praktischer Vernunft wiederfand, welche ihrerseits das Vehikel für das Gottesverhältnis wurde. Dass Harnacks Theologie nicht der neukantianischen Schule im engeren Sinn zugerechnet werden kann, ist für Bonhoeffer irrelevant, da die theologische Prämisse, dass von einer religiös-sittlichen anthropologischen Struktur auszugehen sei, als das gemeinsame Erbe eines Harnack wie eines Herrmann oder Troeltsch aus Aufklärung und Renaissance gewertet wird. 15 Nur als Mitschrift erhalten, DBW 11, 140–213. 16 DBW 11, 145.147 ff.152.156.164 u. ö. 17 ‚Möglichkeit‘ als qualifizierter theologischer Begriff, der stellvertretend für die Auswirkungen des Sündenfalls gebraucht wird, durchzieht das Werk Bonhoeffers bis zur Ethik (die einzige Stelle in Widerstand und Ergebung [WE 191] ist wohl nur noch Reflex auf die von Bonhoeffer überwundene Kontroverse zwischen Wort-Gottes- und liberaler Theologie), während der hier als Kampfbegriff verwendete Begriff ‚Humanität‘ in der Ethik gegenteilig, nämlich als Ausdruck christlicher Existenz in der Welt gebraucht werden kann (E 342–344)! 18 Barth wird von Bonhoeffer offenbar grundsätzlich an Luther gemessen. Barths theologischer Ansatz bei der Offenbarung gilt ihm von diesem Maßstab her als richtig und notwendig (vgl. die Bestätigungen der referierten Theologoumena Barths durch LutherVerweise DBW  11,  197.200.204.207); ebenso wird von Luther her aber auch die Kritik an Barth durchgeführt, wie sich besonders an der Christologie zeigen lässt, die von Bonhoeffer dezidiert lutherisch formuliert wird mittels des Axioms finitum capax infiniti (vgl. AS  78.123 und die Präzisierung in der Christologievorlesung DBW  12,  331 f. sowie DBW 11, 211 f.) und am Ende der Vorlesung in die Frage mündet: „Wer zeigt uns Luther!“ (DBW 11, 213).

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repräsentiert durch Karl Holl, liefert nicht den nötigen fundamentalen Neuansatz der Theologie und wird daher von Bonhoeffer gleichfalls scharfer Kritik unterzogen, obgleich durch die ‚Lutherrenaissance‘ auch eine Abkehr von der dominierenden, in der Tradition Kants und Schleiermachers stehenden, liberalen Theologie stattgefunden hat, wie Bonhoeffer selbst wohl bemerkt und in der Vorlesung en passant erwähnt19. Zwar wird von Holl die für die liberale Theologie charakteristische, bedenklich große Nähe von Christentum und Moral auf der Basis neuer, intensiver Lutherstudien zurückgenommen, dennoch postuliert er, darin anderen Lutheranern wie Seeberg20 ähnlich, weiterhin eine anthropologische Offenheit des Menschen für Gott, die wiederum nahezu vollständig in die Innerlichkeit, nämlich das Gewissen21, verlegt wird, während die Welt als schöpfungsmäßig eigengesetzliche freigegeben wird22. Der Ansatz der neuen lutherischen Theologie unterscheidet sich damit für Bonhoeffer nicht wesentlich von demjenigen der liberalen Theologie: wiederum wird die Religion anthropologisch verankert und mit Sittlichkeit und Kultur wesentlich verbunden gedacht23. Programmatisch erscheint diese Kritik bereits am Anfang der Vorlesung innerhalb des zweiten Paragraphen: „Kirche und Theologie der Jahrhundertwende in den allgemeinen geistesgeschichtlichen Zusammenhängen“. Bonhoeffers an dieser Stelle (mit Barth) erhobener Vorwurf an die liberale Theologie von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg lautet in nuce: „Mit dem Anfang des 18. Jahrhunderts [war] das Ende besiegelt. Schleiermacher wurde der Bildner des Tempels der Humanität. Der Individualismus hat den Protestantismus der Reformation zerstört. In der nachkopernikanischen Welt tritt statt ‚Glaube‘ das Wort religio auf […] Es bed[eutet] die letzte, feinste der Möglichkeiten des Menschen. Der Mensch [wird] als Gott verwandt entdeckt.“24 19

DBW 11, 184 f. Seeberg ist nicht ganz einfach einzuordnen, insofern er sich selbst zumindest auch als Lutherforscher und Teil der „Lutherrenaissance“ (Vorwort der 4. Auflage der Dogmengeschichte 4.1, V) versteht und zugleich von Harnacks moderner Theologie abgrenzt (Scheliha, Seeberg, 731). Seine starke idealistische Prägung, insbesondere die Auffassung vom „religiösen Apriori“, rückt ihn für Bonhoeffer dennoch in eine große Nähe zu der inkriminierten liberalen Theologie, vgl. DBW 11, 170 f.; AS 51 f. 21 Zum Gewissensbegriff Bonhoeffers s. A.II.4.c und B.II.4.d. 22 DBW 11, 185 f. 23 Vgl. DBW 11, 185 f. Vgl. auch Wallmann, Holl, 517 f. Bonhoeffers Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Luthertum und seine eigene „Lutherrevision“ werden an anderer Stelle noch ausführlich zur Sprache kommen. Hier interessiert besonders die Grundsatzkritik an jeder Theologie, die nicht rein und ausschließlich in der Offenbarung begründet wird. 24 DBW 11, 145. Allerdings ist es, abgesehen von der nicht besonders differenzierten Darstellung Schleiermachers, der Ehre für ihn und seine Zeitgenossen denn doch etwas zu viel, die ihm Bonhoeffer hier zuteil werden lässt: Keineswegs wird der Mensch erst jetzt als „mit Gott verwandt entdeckt“, wo doch dies schon die grundlegende Einsicht der platonischneuplatonisch beeinflussten Logos-Theologie war. Nicht nur für Schleiermacher aber gilt, dass er sich dieser Herkunft aus der platonischen Tradition sehr bewusst war. 20

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Unter dem Einfluss des Kantianismus und Neukantianismus identifizierten einige liberale Theologen Religion, Sittlichkeit und Kultur nahezu vollständig miteinander, so dass das im „religiösen Apriori“25 begründete religiöse Erleben als auf die Bildung der sittlichen Persönlichkeit und damit auch der Kultur hingeordnet gedeutet wurde: Religion ist demnach sowohl „Produkt“26 des menschlichen Geistes resp. seiner religiösen Struktur als auch Funktion von Sittlichkeit und Kultur. Exemplarisch kann hier das Werk des Neukantianers und Platonforschers Paul Natorp „Die Religion innerhalb der Grenzen der Humanität“27 genannt werden, welches in Bonhoeffers Auffassung als beispielhaft auch für die Verkehrungen der Theologie gelten kann. Bonhoeffer kommentiert diesen Titel mit der knappen Bemerkung: „Natorp zeigt, was aus der Theologie wird, wenn sie sich dem Kantianismus hingibt“, nämlich eine Reflexion auf das unendliche Gefühl des menschlichen Geistes und die davon begleitete und angestrebte Humanität und Kultur als unendliche Aufgabe des Menschen. Der Begriff des „humanum [ist nun die] letzte Einheitsform für alle Inhalte. Das Ding an sich [ist] zur immanenten unendlichen Aufgabe geworden […] des erkennenden, sittlichen und ästhetischen Prozesses“28, dessen Grund und Träger das Subjekt, die sittliche Persönlichkeit ist. Auch Wilhelm Herrmann, mit dem sich Bonhoeffer mehrfach auseinander gesetzt hat29, konzentriert seine überwiegend kantisch beeinflusste Theologie auf diesen Zusammenhang von Religion und notwendig mit ihr verbundener ethischer Personentwicklung: „Die religiöse ‚Erkenntnis‘ […] [ist] individuelles spontanes Erlebnis des Selbstgefühls, Energie […], die unmittelbar ihre eigenen Werte gebiert […]. Da die Religion individualistisch ist, kann man im religiösen Erlebnis des Selbstgefühls – so sehr dieses auch den einzigen ‚realen‘ Fixpunkt der Wirklichkeit ausmacht – weder seine Werte denken noch dies auf eine für jedermann gültige Weise begründen. Die Religion ist auch auf die Ethik angewiesen, deren Begriffe allgemeingültig sind […]. Im religiösen Erlebnis als solchem kann das Individuum nämlich nicht sein Personsein […] verwirklichen […]. Erst in der Idee der ethischen Freiheit [sc. dem Gedanken der Autonomie des Willens] vermag sich das Subjekt als Person, als von der Natur freies Individuum zu denken.“30 25

Troeltsch, Zur Frage des religiösen Apriori. DBW 11, 147. 27 Erschienen 1894. 28 DBW  11,  155. Dass hinter dieser Auffassung eine optimistische Anthropologie und Weltdeutung steht, deren Kern ein umfassender Fortschrittsglaube ist, deutet Bonhoeffer mehrfach an, ohne es aber ausführlich zu thematisieren. 29 Zuletzt noch in der Ethik, vgl. das Literaturverzeichnis a) E 474. 30 Martikainen, Religion, 174. Die zitierte Stelle lautet weiter: „Die Religion braucht nach Herrmann die Ethik, um sich zu verwirklichen, obwohl beide von der transzendentalen Analyse her gesehen ihr eigenes Moment des Bewußtseins bilden. Der Gedanke der engen Verbundenheit von Religion und Ethik wird im ganzen Werk Herrmanns konsequent durchgehalten.“ Entscheidend für Bonhoeffer ist nicht, in welcher Weise präzise das Verhältnis von Religion und Ethik bestimmt wird, ob als nahezu identisch, weil rationalistisch begründet, wie zeitweilig bei Cohen geschehen (vgl. Klein, Grundlegung, 114 ff.), oder als zwei 26

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Die systematischen Probleme erkenntnistheoretischer Art, die v. a. den neukantianischen Ansätzen immanent sind31, versteht Bonhoeffer nun als Hinweis darauf, dass der anthropologische Religionsbegriff grundsätzlich verkehrt ist: statt um „Allgemeingültigkeit, sittliches Wollen, Erleben“ müsse es dem Christen wie dem Theologen um „Gottes Herrschaft, Gnade, Offenbarung“ gehen32. In den liberal-theologischen Ansätzen sei aber im Gefolge Schleiermachers die Religion „in die Notwendigkeiten des Lebens eingeordnet; ob transzendental oder pragmatisch, es bleibt Anthropologie […]“33. Es sei dann aber nicht einzusehen, warum eine sittliche Anweisung, deren letzter Grund notwendig der menschliche Geist, sein Denken oder Fühlen und Erleben, aber nicht der transzendente Gott sei, „Euangelion“ heiße34: „Das Denken vom Menschen [aus] mit seinen Möglichkeiten findet sich […] auch […] bei den Neukantianern. Ethisches und rationales Denken [sind] letztlich identisch […] In ein rationales System läßt sich die Ethik stets einbauen; nur der Glaube läßt sich in keine Ethik einbauen.“35

Beide Aspekte aber hängen in Bonhoeffers Auffassung direkt miteinander zusammen: Wird das „Euangelion“ letztlich im geistigen Vermögen des Menschen verankert, so dass es kein im strikten Sinn transzendentes Wort ist, kann es auch nicht als fundamentale Befreiung, sondern höchstens als relative Selbstbefreiung verstanden werden. Darüber hinaus stellt sich ihm die Frage, aufeinander bezogene unterschiedliche Akte des Bewusstseins, nämlich die Konstituierung des Individuums als Individuum im vorreflexiven religiösen Erlebnis und die praktische Verwirklichung des eigenen Personseins im autonomen Sollen, sondern die Tatsache, dass sie überhaupt im Bewusstsein begründet werden. Näheres zu Herrmann s. bei Martikainen, Religion, 49 ff.83 ff.98 ff. Vgl. für Natorp Klein, Grundlegung, 244 ff. S. zu Bonhoeffers Einschätzung u. a. DBW 11, 159 f. und den von ihm rezipierten Vortrag Barths, Prinzipienlehre, passim. 31 So etwa die Frage, ob die Religion streng als vernunftkonform oder als Erlebnis gefasst wird und wie eng Sittlichkeit und Religion zusammengerückt werden; vgl. z. B. die Kritik an Troeltsch’ und Ottos religiösem Apriori DBW 11, 161.163. Bonhoeffer benennt diese Probleme dort teilweise. 32 DBW 11, 160, bezogen auf Herrmann. 33 DBW 11, 158. 34 DBW 11, 169, bezogen auf Harnack. 35 DBW 11, 170, im Kontext der Harnack-Auseinandersetzung. „Ethik“ repräsentiert hier wie in dem vermutlichen Einleitungskapitel der Ethik alle diejenigen ethischen Theorien, deren fundamentale Kritik die „christliche Ethik“ darstellt. Es macht für Bonhoeffer darum auch keinen Unterschied, ob die religiöse Ethik im Denken oder im (seelischen) Erleben fundiert wird, da in beiden Fällen die menschlichen „Möglichkeiten“, also die Anthropologie das Fundament abgibt, so dass Harnack und Cohen von ihm in einem Atemzug genannt werden können. Vgl. auch aaO. 190: „[…] worin unterscheidet sich [sc. bei Wilhelm Herrmanns Auslegung der Bergpredigt als des formalen unbedingten Sollens] die Bindung an Christus und die an das moralische Vernunftgesetz?“ und aaO. 163: „Transzendentales Denken kann nichts Transzendentes erkennen“, es ist daher ein vergebliches Unterfangen, mittels der Kantischen Philosophie die Religion anthropologisch, also mit dem Postulat eines religiösen Aprioris, verankern zu wollen.

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inwiefern eine sittliche Anweisung überhaupt, sei sie transzendenter oder immanenter Art, als Befreiung verstanden werden kann. Bonhoeffers scheut hier nicht die Ironie, um auf die gewaltige Differenz solcher Theologie zur genuinen lutherischen Rechtfertigungsbotschaft hinzuweisen36. Hierin besteht für Bonhoeffer letztlich das Kernproblem der liberalen Theologie, gleich welcher Provenienz. Aus diesem Grund auch moniert Bonhoeffer bei Harnack, dass die Religion mit ihrem „milden Gedanken der Gemeinschaft von Gott und Seele […] zu genau […] dem christlichen Humanismus“ angepasst sei37. Jesus Christus hat hier die Funktion, die im Menschen angelegte sittliche Persönlichkeit heraus zu bilden und deren Hemmnisse abzubauen. Die Zwei-Naturen-Lehre wird im Schleiermacherschen Sinne umgedeutet, so dass das vorzügliche Gottesbewusstsein Jesu eher als Gipfelpunkt menschlicher Möglichkeiten, denn als Gottheit Jesu Christi im strengen Sinne erscheint38. Ähnlich aber verhält es sich mit der Christologie bei Troeltsch; auch dieser ordnet den Erlösungsgedanken des Christentums dem „sittlichen Ideal“39 unter, das allerdings in seinem Inhalt als überweltlich und daher nur formal an das sittliche Vermögen des Menschen anknüpfend verstanden wird, welches mit kantischen Formulierungen etwa als die Willensrichtung auf den absoluten Zweck, beschrieben wird40. Die im Wesen des Menschen begründete Ethik, um deren Begründung und Bedeutung die liberale Theologie bemüht ist, wird nun sowohl von Harnack als auch von Natorp, Herrmann u. a. als Gesinnungsethik aufgefasst, eine ethische Grundentscheidung, die die grundsätzliche und von Anfang bis Ende seiner theologischen Entwicklung festgehaltene Kritik Bonhoeffers trifft. Bei der liberalen Theologie macht sich besonders an diesem Punkt das kantische 36

Vgl. DBW 11, 168–170.191 f. DBW 11, 169. 38 Vgl. Kaltenborn, Harnack, 46 u. ö. Zu Harnacks Fundierung des Gottesverhältnisses und des sittlichen Lebens im Inneren des Menschen, im Geistigen, vgl. aaO. 50 ff. S. auch Bonhoeffers Urteile über Schleiermacher, Ritschl und Herrmann in DBW 12, 293 f. (Christologievorlesung). Vgl. Rohls, Neuzeit I, 792–794; Neuzeit II, 90 f.; Martikainen, Religion, 136 ff. 39 Troeltsch, Grundprobleme, 645, s. auch 648.653. 40 AaO.  627. Der Autonomiebegriff Kants wird von Troeltsch zu einem konkreten individuellen Gewissensurteil herabgesetzt, entbehrt also letztlich seiner Pointe der Fundierung im transzendentalen Subjekt. Der Einschätzung, dass die Besonderheit des Christentums gerade nicht in seinem Erlösungsgedanken, sondern in dem Inhalt des sittlichen Ideals liege (aaO. 645), so dass das sakramentale Gnadenverständnis der Kirche als „AbsolutheitsApologetik“ diskreditiert wird (aaO. 647), entspricht eine stark reduzierte Christologie, die derjenigen Herrmanns verwandt ist; das Christentum selbst unterscheidet sich folglich von anderen Religionen nur noch in komparativer Weise (aaO.  653). S. dazu die Kritik Bonhoeffers an dieser einerseits religionsgeschichtlich relativierenden und andererseits mit religionsgeschichtlich-historischen Methoden gerade nicht begründbaren relativen Höherwertung des Christentums DBW 10, 320 f.; DBW 11, 172 ff. 37

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Erbe, der im autonomen Willen gründende Pflichtbegriff, bemerkbar, das zusammen mit dem dominanten Begriff der (sittlichen und religiösen) Persönlichkeit zu einer Verinnerlichung nicht nur der Religion, sondern zwangsläufig auch der Ethik führte41. Neben Herrmann hat sich Bonhoeffer diesbezüglich mit Ernst Troeltsch und Friedrich Naumann auch später noch intensiv auseinander gesetzt. Problematisch war ihm dabei nicht allein die Begründung der christlichen Ethik im Wesen des Menschen, etwa im Rückgriff auf den kantischen Autonomie-Gedanken wie bei Troeltsch, sondern auch – vor allem zur Zeit seiner Teilnahme am militärischen Widerstand und der Abfassung der Ethik –, die Konsequenz einer Aufteilung der Wirklichkeit und des damit verbundenen Rückzugs der christlichen Existenz in die Innerlichkeit der persönlichen Gesinnung, wie sie besonders Naumann entwickelt hat. Troeltsch, der anders als z. B. Herrmann noch zwischen subjektiven und objektiven Zwecken differenziert und auf diese Weise die wesentlichen Lebensvollzüge als ethische Güter statt adiaphoristisch deutet, erkennt den absoluten sittlichen Wert letzterer schließlich in ihrer „objektiven Notwendigkeit, vermöge deren auch sie trotz aller inhaltlichen Zwecksetzung Teil haben an dem formalen Charakter des Sittlichen, d. h. des an sich Notwendigen“42. Als solche notwendigen objektiven Zwecke stehen sie darum im Dienst der „Persönlichkeitsbildung“43, die, wie Kant richtig erkannt habe, das Wesen des Sittlichen ausmache und deshalb auch das Ziel der religiösen Sittlichkeit darstelle, wobei allerdings die kantische Autonomie um die inhaltliche Dimension des innigen Gottesverhältnisses der Seele erweitert werden müsse44. Die hier im Hintergrund stehende relativ positive Einschätzung des Verhältnisses von christlicher Sittlichkeit und weltlichen Kulturzwecken zeugt von einem zwar nicht mehr ungebrochenen, aber doch noch dominierenden Kulturoptimismus der Vor41 Vgl. Max Webers (polemische) Charakterisierung der christlichen (!) Ethik als reine Gesinnungsethik im Gegenüber zu einer Verantwortungsethik, Weber, Politik, 257. Dazu o. B.II.4.c. 42 Troeltsch, Grundprobleme, 619. Mit dieser Studie von Troeltsch zur Kritik an Herrmanns Ethik und zur Grundlegung seiner eigenen ethischen Theorie hat sich Bonhoeffer nicht nur für die Vorlesung Die Geschichte der Systematischen Theologie der Gegenwart, sondern auch während der Abfassung der Ethik befasst. Vgl. die Literaturverzeichnisse DBW 11, 518; E 478. 43 Troeltsch, Grundprobleme, 619. 44 Troeltsch, Grundprobleme, 616 f.639.669 ff. Dass das kantische System eine inhaltliche Bestimmung des Willens durch einen „überweltlichen Zweck“ gerade nicht zulässt und für ihn darum nur sehr begrenzt adaptierbar ist, übergeht Troeltsch hier. Er beruft sich denn auch auf Schleiermachers Güterethik, die den praktisch kaum umsetzbaren kategorischen Imperativ Kants durch die Einführung des höchsten Gutes erst zu einer wirklichen, d. h. geschichtlichen und an die Erfahrung anschließenden Ethik auszuformulieren erlaube, wobei allerdings Schleiermachers Geistphilosophie abstrakt und harmonistisch sei, vgl. aaO. 621 ff.

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kriegszeit45, mit welchem das eigentlich Christliche bzw. Religiöse im Sittlichen, das rein überweltlichen Charakter trägt, darum auch nicht in einem diastatischen Verhältnis zu stehen kommt, sondern zu einem – immer wieder neuen, wie der Historiker Troeltsch betont, – Kompromiss geführt werden muss46. Den Kern dieser Ethik, d. h. der Religion überhaupt, bildet dabei das „Prinzip [der] Vereinigung des Psychisch-Historischen mit dem Ewigen“47, an dem auch Bonhoeffers Kritik ansetzt. Durch sein gesamtes Werk zieht sich darum die Ablehnung eines Denkens, das auf absoluten Prinzipien beruht und gewöhnlich den Dualismus von zeitlichen und ewigen Sachverhalten voraussetzt. In der Ethik ist diese Kritik durchgehend präsent, insofern solches ‚idealistisches‘ Denken letztlich, weil ein Kompromiss zwischen weltlichen Zwecken und dem absoluten religiösen Zweck praktisch nicht erreichbar ist, den in ihm enthaltenen Dualismus zu einer doppelten Moral weiterbildet, nämlich einer weltlich-äußeren und einer geistlich-innerlichen. Bei Naumann führt nun – für Bonhoeffer folgerichtig – die pessimistische Einschätzung der Möglichkeit der Einordnung insbesondere der politischen Zwecke in eine höherwertige christliche Ethik der Bergpredigt, anhand derer sich die christliche Gesinnung zu bilden habe, zu einer radikalen Differenzierung zwischen diesen beiden Bereichen, womit die christliche Ethik faktisch aller Bedeutung für das Handeln außerhalb der Sphäre persönlicher, nicht-institutionell vermittelter Beziehungen entkleidet wird48. „Die liberale Theologie (besonders Tröltsch, Naumann) hat das ursprüngliche Evangelium als eine ‚rein religiöse‘, den einzelnen Menschen und seine Gesinnung umwandelnde Macht, aber zugleich als den weltlichen Ordnungen und Zuständen indifferent, abgekehrt gegenüberstehend verstanden. Sie hat sich dabei auf die Betonung des ‚unendlichen Wertes der Menschenseele‘ einerseits und auf die angebliche Indifferenz zum Beispiel der Sklaverei oder der politischen Ordnung andererseits berufen. Aus diesem Mangel des neutestamentlichen Evangeliums ergab sich für Naumann der Satz, er könne nur zu 5 oder 10 % in seinem Leben Christ sein, nämlich soweit er es nicht mit den weltlichen Ordnungen zu tun habe.“49

Nicht nur erkenntnistheoretisch, sondern ebenfalls ethisch hebt sich daher die liberale Theologie Bonhoeffer zufolge selbst auf; ist erst einmal der christliche 45 Die erste Auflage dieses Aufsatzbandes stammt aus dem Jahr 1913. Die Kritik Nietzsches am Christentum wird von Troeltsch wohl wahrgenommen und ihr auch eine „relative[ ] Berechtigung“ zugestanden, die allerdings nicht nicht näher ausgeführt wird, vgl. aaO. 637. 46 AaO. 625.637f–639. S. dazu etwa E 40 f.235 f.243 f. Vgl. dazu Troeltsch, Grundprobleme, 638: „Doppelheit der Forderung als Amtsmoral und Personmoral“ (bezogen auf die reformatorische Ethik); ders. Soziallehren, 491 ff. (wiederum zu Luther) und 979: „Das Jenseits ist die Kraft des Diesseits“. 47 DBW 11, 166. 48 Vgl. insbesondere E 228 f. S. außerdem Feil, Theologie, 231 f., sowie Naumann, Briefe, 55 ff. 49 DBW 16, 551 f. („Personal“- und „Sach“-Ethos). Vgl. ähnlich schon DBW 11, 187–190.

I. Bonhoeffers Kritik an der liberalen Theologie

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Kulturoptimismus an der Wirklichkeit gescheitert50, wird die christliche Gesinnung – wie bei Naumann – zum bloßen Postulat, dem de facto kein Raum in der Wirklichkeit mehr zukommen kann51. Diese (Selbst-)Marginalisierung des Christentums im öffentlichen, gesellschaftlich-politischen Bereich wie auch das offenkundige Versagen der ‚sittlich-religiösen Persönlichkeit‘ vor und besonders während der krisenhaften Umbruchszeit des Ersten Weltkriegs, dürften entscheidendes Movens schon für den jungen Bonhoeffer gewesen sein, die Kritik Nietzsches an der christlichen Moral resp. am Christentum einer theologischen Reflexion zu unterziehen52. Mit der nationalsozialistischen Katastrophe bestätigte sich für ihn die grundsätzliche Verkehrtheit solcher theo50 Dass das Christentum kulturfeindlich sei, gilt Bonhoeffer als richtige Erkenntnis Nietzsches, vgl. DBW 11, 187 und GM I 10, KGW 6.2, 290 f., wobei allerdings zu beachten ist, dass der von Bonhoeffer vorausgesetzte Begriff des Christentums gerade nicht mit dem Nietzsches identisch ist; in der Kritik an der bürgerlichen Kultur sind sich dagegen der junge Bonhoeffer und Nietzsche zunächst einig: sie gilt ihnen als banalisiert, oberflächlich und unwahr. Später – in der Ethik – kann Bonhoeffer dies nicht mehr formulieren; vielmehr ist die mit der früheren Kritik an der liberalen Theologie noch verbundene antibürgerliche Tendenz des jungen Bonhoeffer völlig verschwunden; stattdessen ist eine dezidierte Rückwendung Bonhoeffers zu seinen bürgerlichen Wurzeln, der höheren Kultur und dem humanistischen Impetus, erkennbar, die aber – und das ist entscheidend für seine reife Theologie – gerade nicht zu einem Abrücken von dem offenbarungstheologischen Ansatz führt, sondern in diesen integriert wird. Nietzsches Kritik am moralistischen Christentum behält daher für Bonhoeffer ihre Berechtigung, ja gewinnt sie sogar in noch stärkerem Maße: nur trifft sie jetzt nicht mehr ein verfehltes scheinchristliches Bürgertum als dritten Stand der Gesellschaft bzw. Bourgeoisie (im polemischen Sinne), sondern die Masse der dem Terrorregime gegenüber indifferenten Christen, von der sich gerade das echte Bürgertum, wie es Bonhoeffer – über den familiären Umkreis hinaus – im militärischen Widerstand und im Kreisauer Kreis begegnete, unterscheidet. Vgl. dazu E 342–344; Kaltenborn, Harnack, 116– 122. Kultur und Bürgerlichkeit repräsentieren dann gerade nicht mehr die breite ‚bürgerliche‘ Masse (zwei Begriffe, die Bonhoeffer als einander widersprechend empfindet), sondern nur noch die letzten Reste einer ursprünglich hochkultivierten, im besten Sinne sittlichen und verantwortungsbewussten Elite. 51 DBW 11, 189; vgl. auch WE 537 und DB 982. 52 Vgl. etwa den Barcelona-Vortrag Jesus Christus und vom Wesen des Christentums, DBW 10, 321: „Und nun müssen wir heran an die Frage: was hat das Kreuz uns, heute zu sagen? Vermag es die Ideale des Humanismus zu ersetzen? […] Und nun fragen wir: steht nicht unseren zerrütteten Tagen auf der Stirn geschrieben das Wort von der Vergänglichkeit aller menschlichen Wünsche, vom großen Sterben in der Welt. Tragen wir nicht alle, die wir einen Weltkrieg hinter uns haben, die wir im Zeitalter der furchtbarsten Konkurrenz des Wirtschaftslebens, des Niedergangs der ideellen Werte leben an einer schweren Schuld, die uns zu Boden drücken möchte[?]“; sowie Grundfragen einer christlichen Ethik, DBW 10, 325: „Die Zentralidee, die aus dem gesamten Schrifttum [sc. der Jahre nach dem politischen Umbruch 1918/19] immer wieder hervorbricht, ist die Wahrheitsidee. Man will gegen ein innerlich unwahr gewordenes Kulturganzes sturmlaufen, will die Fesseln der Wahrheit lösen.“ Der Vorwurf der Unwahrhaftigkeit des Christentums bzw. der christlichen Kultur und Moral spielt die zentrale Rolle in Nietzsches Kritik (s. o. A.II.3.b). Bonhoeffer ist wie etliche seiner unmittelbaren Zeitgenossen davon beeindruckt und integriert ihn in die theologische Kritik, missversteht Nietzsche jedoch im Gegensatz zu vielen anderen nicht als heimlichen oder besseren Christen (vgl. DBW 10, 327: der „Christentumsfeind Fr. Nietzsche“; Köster, Nietzsche-Kritik, passim). S. dazu o. A.II.3 ausführlich. Für die Kritik an der bürgerlich-

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logischer Ansätze in dramatischer Weise und entsprechend auch das relative Recht der Kritik Nietzsches an dieser Auffassung des Christentum53.

II. Bonhoeffers Zeit- und Geschichtsbegriff Bei der Konzeption des geschichtlichen Lebensbegriffs, wie er in „Die Geschichte und das Gute [2. Fassung]“ zugrunde liegt, leitet Bonhoeffer offenkundig kein erkenntnistheoretisches Interesse. Zeit, Zeitlichkeit oder Geschichtlichkeit kommt für ihn nur in ihrem Bezug auf die Ethik, also unter der Fragestellung, inwiefern das Gute ein geschichtlich Gutes ist, in den Blick. Welche Auffassung er von Zeit, Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit an sich hat – und ob es eine theoretische Deutung von Zeit und Geschichte in Bonhoeffers Denken überhaupt geben kann –, lässt sich daher aus der Ethik nicht eindeutig erschließen. Aber auch in seinem sonstigen Werk bildet dieses Thema kaum einmal den Gegenstand eingehender Erörterungen. Gleichwohl sind einige Hinweise verstreut, die mit den spärlichen Aussagen in der Ethik in Verbindung gebracht werden können und die Umrisse von Bonhoeffers Begriffen von Zeit und Geschichte sichtbar werden lassen. Deutlich wird dabei, dass der Zeitbegriff, den Bonhoeffer in einigen seiner frühen Schriften voraussetzt, in erheblichem Maße von existenzphilosophischen Denkern beeinflusst ist. Die philosophischen und theologischen Interpretationen von Zeit resp. von Zeit und Ewigkeit, die insbesondere im Anschluss an Augustins Betrachtungen im XI. Buch der Confessiones erfolgt sind, hat Bonhoeffer dagegen offenbar nicht oder nur rudimentär zur Kenntnis genommen54. So grenzt er sich in seinen frühen akademischen Schriften christlichen Kultur vgl. außerdem DBW 10, 285 f.302 f.340 f.; DBW 11, 142.194. S. zu den Vorträgen auch Köster, Antipode, 371–380. 53 Vgl. z. B. E 64–66, wo Bonhoeffer u. a. gegen die Menschen „des Gewissens“, „der Pflicht“ und der „privaten Tugendhaftigkeit“ (alle drei Begriffe im Original kursiv) polemisiert und ihnen „Selbstbetrug“ und Pharisäismus vorwirft. Interessant ist allerdings, dass Bonhoeffer im gleichen Atemzug hinzufügt, dass die von dieser Kritik getroffenen Haltungen ursprünglich und eigentlich hochzuschätzende Werte darstellten, die der Welt „unsere[r] Väter“ (67) zugehörten und schon deswegen nicht per se verachtet werden dürften. Seine eigene Herkunft aus der bürgerlich-liberalen Tradition wird von ihm nun ausdrücklich akzeptiert, wenn auch die veränderten Bedingungen der Zeit die Defizienz dieser Tradition enthüllen und zu neuen Konzeptionen nötigen. Vgl. außerdem Köster, Antipode, 389 und o. A.II.3. 54 Eine Lektüre von Augustins Confessiones, besonders der Passagen zur Zeit im XI. Buch, ist nicht nachweisbar. Schon gar nicht hat er sich mit der die philosophischen und theologischen Interpretationen von Zeit und Ewigkeit grundlegenden Deutung Platons aus dem Timaios und ihrer Rezeption etwa durch Boethius (De Trin. Boet. IV 241 ff. und bes. Cons.  V  6), Thomas von Aquin (STh  I  qu.10  art.2; qu.57  art.3) u. a. befasst. Dies unterscheidet ihn von Karl Barth, dessen Ausführungen zu Zeit und Ewigkeit in KD II/1 (1939) er möglicherweise gekannt hat.

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Sanctorum Communio und Akt und Sein im Gefolge von Eberhard Grisebach und Sören Kierkegaard in erster Linie von Kant und Hegel ab, ohne aber das Problem der Wahrnehmung von Zeit und ihres ontologischen Status55 aufzunehmen. Entscheidend für diesen frühen Zeitbegriff ist, dass anstelle einer Reflexion über die kontinuierlich verfließende Zeit das Herausheben der Gegenwart als eines besonderen, aus der Zukunft auf den Menschen zukommenden Augenblicks vorgeführt wird. Dieser Augenblick einer dem Menschen begegnenden existentiellen bzw. ethischen Herausforderung ist das die Zeit strukturierende und insofern auch begründende Moment. Zeit ist dann primär freilich weder ein objektiver Modus natürlichen Seins noch eine transzendentalsubjektive Anschauungsform, sondern die „konkrete Zeit“ der „Entscheidung“56. Mit 55

D.i. die Frage, inwiefern Zeit objektiv, subjektiv oder beides zugleich ist. Vertritt Kant die Auffassung, dass Zeit als Anschauungsform subjektiv sei, indem sie die Erkenntnis des Objekts nach ihrem sukzessiven Verlauf strukturiere (vgl. KrV B 54 f.: „Die Zeit […] hat also subjektive Realität in Ansehung der inneren Erfahrung […], sie ist nichts als die Form der inneren Anschauung“, vgl. auch 54*), so ist sie bei Platon objektiv, nämlich als eine (defiziente) Seinsweise aufgefasst (Tim.  37d: ĔċĞȡ ŁěēĒĖƱė ŭęȘĝċė ċŭƶėēęė ďŭĔƲėċà 38b: āěƲėęĜĎȡęƏėĖďĞȡęƉěċėęȘčƬčęėďė). Bei Augustinus finden sich sowohl die platonische Interpretation der Zeit als objektive Seinsweise als auch die – vermeintlich neuzeitliche – Interpretation als subjektive Form der Erkenntnis bzw. Wahrnehmung: Obwohl auch für ihn die Zeit der ontologische Modus der empirischen Welt bleibt (Conf. XI 11,13 ff.), wird sie nun eng mit dem menschlichen Bewusstsein verknüpft, insofern sie nur als erfahrene Zeit überhaupt zu ihrer eigentlichen (defizitären) Wirklichkeit kommt: Inde mihi visum est nihil esse aliud tempus quam distentionem: sed cuius rei, nescio, et mirum, si non ipsius animi (Conf. XI 26,33. Vgl. auch Conf. XI 20,26: Die Zeitformen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind in anima tria quaedam et alibi ea non video). Hegel steht in platonischneuplatonischer Tradition, wenn er die Zeit als „die Form der Unruhe, des in sich selbst Negativen, des Nacheinanderseins, des Entstehens und Verschwindens“ der Ewigkeit als „absolute[r] Gegenwart“ gegenüberstellt (Enz. § 447 f. Zusatz). Allerdings setzt er auch Einsichten Kants resp. der Transzendentalphilosophie um (die allerdings von Augustinus bereits vorgedacht wurden), wenn er die spezifischen Zeitformen, Vergangenheit und Zukunft als „subjektive Vorstellung“, also als vom Bewusstsein vorgenommene Strukturierungen bestimmt und von der natürlichen (unbewussten) Zeit als dem bloßen verfließenden Jetztpunkt unterscheidet (ebd.). 56 SC 28. Auch wenn Bonhoeffer in Sanctorum Communio meint, die kantische Deutung der Zeit nicht bestreiten zu können oder dürfen, so wird sie faktisch negiert in der Konstruktion eines ‚ethischen‘, nicht ‚erkenntnistheoretischen‘ Zeitbegriffs (SC  27 f.). In Akt und Sein kritisiert er den kantischen Zugriff auf Mensch und Welt als per se verfehlt und fordert im Anschluss an Grisebach die Begründung einer „eigenartige[n] christliche[n] Zeitphilosophie“ (AS 10837)). Die Gegenüberstellung von abstrakt und konkret, in Sanctorum Communio also abstrakter und konkreter Zeit, vertieft sich im Laufe von Bonhoeffers theologischer Entwicklung zum Antagonismus verfehlten und versöhnten Menschseins. Exemplarisch wird dies am Lebensbegriff deutlich (s. o. B.II.2.a). Der Begriff einer „konkreten Zeit“ in Sanctorum Communio unterscheidet sich darum auch von dem Diltheys, der ebenfalls eine „konkrete“, d. h. „wirkliche Zeit“ (Dilthey VII, 72) kennt. Dessen Zeitbegriff ist ähnlich der augustinischen Analyse von Zeit, derzufolge Vergangenheit, Zukunft und ihr Übergang, Gegenwart, im Bewusstsein als in verschiedener Weise bedeutungsvoll erfahren werden. Bonhoeffer folgt mit dieser Terminologie darum

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dieser Definition steht Bonhoeffer offenkundig in der Tradition existenzphilosophischen Denkens, in Sanctorum Communio vor allem von Eberhard Grisebach57 und Sören Kierkegaard58, später zusätzlich von Martin Heidegger59, sowie zudem in der theologischen Rezeption dieses Denkens durch die Dialektische Theologie. Zeit ist nun verstanden als Zeitlichkeit, d. h. als das wesentliche tätige Bezogensein auf eine die Existenz bestimmende Zukunft hin, die im Augenblick ergriffen und erfahren wird. Der daraus sich ergebende strukturierte Zeitbegriff wird demnach dominiert durch die Zeitdimension der Zukunft, auf die hin der Mensch im existentiellen Augenblick existiert bzw. handelt, während die Vergangenheit als den Menschen von „rücklings“60 bestimmende, wesentliche Dimension seines Lebens dabei zunächst nicht eigenständig in den Blick kommt. Zuerst ist diese Konzeption von Zeitlichkeit von Kierkegaard entwickelt worden. Insbesondere Heidegger knüpft in seiner Fundamentalontologie dann daran an, aber auch Grisebach, der sich in Die Grenzen des Erziehers umständlich von Kierkegaard absetzt61, dürfte in diesem Punkt von ihm beeinflusst sein. Inwieweit Bonhoeffer neben Grisebach (in Sanctorum Communio und Akt und Sein) und Heidegger (Akt und Sein) hier immer auch an Kierkegaard direkt anschließt, kann zwar nicht zweifelsfrei geklärt werden, ist aber recht wahrscheinlich, zumal für Bonhoeffer, im Unterschied zu Grisebach und Heidegger, der ‚entscheidende Augenblick‘ die Begegnung mit der Offenbarung, Kierkegaards „Ewigem“, ist. Dieser steht ihm daher sachlich insgesamt am nächsten, wie auch an der folgenden Zusammenstellung deutlich wird: wohl nicht Dilthey; eher dürfte es sich um eine Abwandlung von Grisebachs „reale[r] Zeit“ (Grenzen, 296 u. ö.) handeln (s. u.). 57 Vgl. SC 21649: „B[onhoeffer] greift im folgenden Abschnitt über das Problem der Zeit […] Einsichten von E. Grisebach […] auf.“ S. dazu Grisebach, Grenzen, 296 f.: „Die[..] reale Zeit ist nicht mehr die Grundform der Anschauung, keine subjektive oder objektive apriorische Gesetzlichkeit, in der sich eine Bewegung messen ließe […]. Das reale Geschehen […] ist die ethische menschliche Wirklichkeit als eine Sphäre der realen Wirkungsmöglichkeit. Sie ist ein Wirklichkeitsgeschehen in dem Augenblick […]. Die Zeitfolge ist keine mechanische Bewegung der Dinge, sondern ein widerspruchsvolles antinomisches Verhältnis einer immer aufgehaltenen Bewegung qualitativer, zufälliger Art, die den gegenwärtigen Augenblick als Präsens bezeichnet“. Zu Bonhoeffers Rezeption Grisebachs und des Dialogischen Personalismus s. ausführlich den Abschnitt B.II.3. 58 Vgl. den von Bonhoeffer schon für Sanctorum Communio gelesenen Aufsatz von Heinrich Barth, Kierkegaard, 199.233; s. außerdem den Begriff Angst, dessen Lektüre nicht zweifelsfrei datiert werden kann, höchstwahrscheinlich aber schon vor 1933 stattgefunden hat (s. o. A.II.5.d; Bonhoeffers Ausgabe stammt von 1923, vielleicht hat er also schon während des Studiums diese wichtige Schrift gelesen). S. BA 82 ff. und die oben zitierte Stelle aus KT 12 f. 59 Vgl. AS 61 ff. 60 BA 90. 61 Grisebach, Grenzen, XII–XXI.

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„Der Augenblick ist jenes Zweideutige, darin Zeit und Ewigkeit einander berühren, und damit ist der Begriff Zeitlichkeit gesetzt, allwo die Zeit fort und fort die Ewigkeit abriegelt und die Ewigkeit fort und fort die Zeit durchdringt. Erst jetzt erhält jene besprochene Einteilung ihre Bedeutung: die gegenwärtige Zeit, die vergangene Zeit, die zukünftige Zeit. Bei dieser Einteilung erregt es sofort die Aufmerksamkeit, daß das Zukünftige in gewissem Sinn mehr bedeutet als das Gegenwärtige und das Vergangene; denn das Zukünftige ist in gewissem Sinne das Ganze, von dem das Vergangene ein Teil ist, und das Zukünftige kann in gewissem Sinne das Ganze bedeuten […] Der Augenblick und das Zukünftige wiederum setzen das Vergangene.“62 „Im Begriff der Kontingenz [sc. der Offenbarung] als des von außen auf uns zukommenden Geschehens ist die Gegenwart durch die Zukunft bestimmt; im System, in dem das prinzipielle ‚vorher‘ des Vernunftzusammenhangs feststeht, ist die Gegenwart bestimmt durch die Vergangenheit. Gegenwart ist je bestimmt durch dies oder jenes oder durch alles beides, sie ist aber nie ‚an sich‘; die Entscheidung aber liegt je beim Menschen.“ Es gilt, „daß die christliche Offenbarung nicht als ‚Geschehenes‘ gedeutet werden darf, sondern daß eben dies einmalig Geschehene qualifiziert ist als Zukunft für den je in Gegenwart lebenden Menschen in der Kirche.“63

Die geschichtliche Kontinuität des Individuums, welcher das Interesse Bonhoeffers gilt und die nun ohne einen überzeitlich gedachten Substanzbegriff, d. h. ohne den Begriff eines in der Zeit und über die Zeit hinaus beharrenden Wesens des Menschen konstruiert werden soll, wird dabei zunächst nicht durch einen allgemeinen geschichtlich-dynamischen Lebensbegriff konstituiert, sondern im Begriff der Kirche gesetzt, d. h. sie wird „überpersön-

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BA 90 f. AS 107 f. S. auch DBW 10, 503.513 f. In Sanctorum Communio folgt Bonhoeffer in seiner Konstruktion einer „ethischen Transzendenz“ (SC 26 f.; AS 125) zwar teilweise Grisebach, den er aber später ausdrücklich kritisiert – verbunden mit einer Profilierung des Gedankens, dass die „Grenze“ des Menschen (SC 26; vgl. DBW 10, 357 ff. [Antrittsvorlesung]) nur sekundär der Andere, primär aber Christus und erst durch ihn hindurch der Andere ist, vgl. SC 26 ff., bes. 33; AS 81–83.124; DBW 10, 367 f.; DBW 12, 281 ff. (Christologievorlesung, dort ist darum statt von der ‚ethischen Transzendenz‘ nur noch von „Transzendenz“ die Rede). Die Nähe zu Kierkegaards Konzept von Zeitlichkeit – und weiteren seiner Grundgedanken – bleibt dagegen bestehen, so wie er an der mit dem altprotestantischen Terminus actus directus bezeichneten Sache, also der unmittelbaren, nicht reflexiven, augenblickshaften Ausrichtung des Glaubenden auf Christus (s. dazu ausführlich o. A.II.5.d) festhält. Vgl. aber auch SuZ  326 f.: „Zukünftig auf sich zurückkommend, bringt sich die Entschlossenheit gegenwärtigend in die Situation. Die Gewesenheit entspringt der Zukunft, so zwar, daß die gewesene (besser: gewesende) Zukunft die Gegenwart aus sich entläßt. Dies dergestalt als gewesend-gegenwärtigende Zukunft einheitliche Phänomen nennen wir die Zeitlichkeit. Nur sofern das Dasein als Zeitlichkeit bestimmt ist, ermöglicht es ihm selbst das gekennzeichnete eigentliche Ganzseinkönnen der vorlaufenden Entschlossenheit […]. Das in der Zukunft gründende Sichentwerfen auf das ‚Umwillen seiner selbst‘ ist ein Wesenscharakter der Existenzialität. Ihr primärer Sinn ist die Zukunft.“ Freilich kommt hier der Mensch im Sichentwerfen auf sich selbst zu statt dass ihm augenblickshaft von außen aus der Zukunft kommend die Offenbarung begegnet. Für die Dominanz der Zukunft im existenzphilosophischen Zeitverständnis vgl. auch den letzten Abschnitt aus Grisebach, Gegenwart, 575–595: III. Am Morgen, bes. 586: „Die Zukunft […] ist die Erfüllung der realen Zeit.“ 63

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lich durch eine Gemeinschaft von Personen gewährleistet.“64 Die Taufe als Eintrittsgeschehen in die Gemeinde ist daher dasjenige Ereignis, das die geschichtliche Kontinuität des Einzelnen begründet, denn sie ist einerseits vergangen und andererseits immer wieder neues, aus der Zukunft gegenwärtig werdendes Glaubensgeschehen; die Vergangenheit der Taufe ist darum ebenso wie die der geschichtlichen Offenbarung selbst eine paradoxe, da es ihre Bestimmung ist, immer wieder (geistlich) auf den Menschen zu zukommen65. Vergangenheit ist in dieser Perspektive allerdings rein als solche nicht relevant, sie ist an sich selbst lediglich die Dimension des christlich reuigen Gewissens, dessen Bestimmung es ist, überwunden zu werden66. Der Mensch erfährt sich daher in seiner Vergangenheit durch die Zukunft „begründet, bestimmt und ‚gerichtet‘“67. Eine wesentliche Bestimmung des Menschen durch die nicht-paradoxe Vergangenheit, nämlich seine individuell-persönliche und die allgemeine weltgeschichtliche, dagegen ist für Bonhoeffer in seiner frühen akademischen Zeit noch kein Thema; das besonders in Akt und Sein zum Ausdruck kommende Interesse an Konkretion und ontologischer Fundiertheit des Glaubens ist daher im Unterschied zu seinen späten theologischen Reflexionen auch noch nicht begleitet von einem Interesse an einer inhaltlichen Durchdringung von Geschichtlichkeit und Geschichte68 – auch wenn er von 64 AS 110. In Sanctorum Communio ist dies mehr implizit mitgesagt in Bonhoeffers Insistieren auf dem empirischen Begriff der Kirche und der zeitlichen Existenz des Glaubenden als Glied der Gemeinde, vgl. etwa SC 87 ff.140 ff. 65 AS 160. Hier fehlt freilich die weitergehende Reflexion der Bedeutung des welt- und individualgeschichtlichenőĠƪĚċĘvon Offenbarung und Taufe. Denn das tatsächliche geschichtliche Geschehensein der Offenbarung und das wirkliche Vollzogensein des Sakraments werden zwar von Bonhoeffer vorausgesetzt, aber nicht in ihrer faktischen Wirkung gewürdigt  –  etwa im Blick auf die Kirchengeschichte oder den persönlichen Lebensweg eines Christen. Diese inhaltlich-geschichtliche Dimension wird Bonhoeffer erst viel später einholen mit den Überlegungen zur Providenz in der Ethik (s. u.) sowie den persönlichen Rückblicken und den geschichtlichen Betrachtungen aus Widerstand und Ergebung. 66 AS 154–157. 67 AS 160. 68 In der Predigt über Röm 12,11c („Dienet der Zeit“) formuliert er unter Rückgriff auf den von ihm häufig verwendeten Satz von Rankes: „‚Jeder Augenblick ist unmittelbar zu Gott‘ hat ein großer Geschichtsforscher gesagt; das heißt in jedem Augenblick ist ein Stück Ewigkeit verborgen, das es nur zu finden gilt, über jedem Augenblick waltet Gott. Der Augenblick, die Gegenwart, das ist das entscheidende Wort […]; es gibt in der ganzen Weltgeschichte immer nur eine wirklich bedeutsame Stunde, – die Gegenwart.“ Der Zukunftsbezug der Gegenwart bzw. des Augenblicks ist hier mitzulesen, sofern die im Augenblick sich vollziehende Entscheidung für Gott von dem auf den Menschen zukommenden Wort evoziert wird. Im Original des Ranke-Satzes heißt es statt Augenblick „Epoche“ (vgl. DBW  10,  5136). Bonhoeffer zitiert ihn in seinen frühen Werken insgesamt dreimal, s. DBW 9, 349 und SC 193, jeweils mit der gleichen sachlichen Ausrichtung. In dem Referat über Kirche und Eschatologie (DBW 9, 336–354) ist die Stoßrichtung, die auch Ranke selbst verfolgt hat, nämlich die Abwehr einer fortschrittsoptimistischen idealistischen Geschichtsphilosophie, offen gelegt (DBW 9, 348). Sehr interessant ist es, dass ganz am Ende seines theologischen Denkwegs, nämlich in Widerstand und Ergebung, dieser Ranke-Satz wieder

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Anfang idealistische und substantialistische, d. h. also in der Terminologie der Ethik ‚statische‘, Anthropologien ablehnt und auf der Kategorie der ‚realen Bewegung‘ beharrt69. Das Einbeziehen der geschichtlichen Dimension des allgemeinen menschlichen Lebens geschieht explizit erst in der Ethik mit der Einführung des geschichtlichen Lebensbegriffs. Damit wird nun aber auch der Inhalt der Geschichte zum theologischen Thema. Das Resultat sind die geschichtstheologischen Überlegungen der Ethik und der Gefängnisbriefe. Dabei dürfte Bonhoeffers Interesse an einer theologischen Geschichtsdeutung wohl aus unterschiedlichen Richtungen angestoßen sein. Neben der geschichtlichen Lebensphilosophie Diltheys könnte sie jedenfalls auch unspezifisches Erbe des virulenten Historismus70 des späten 19. und frühen 20.  Jahrhunderts sein. Denn spätestens seit Hegel, Nietzsche und Dilthey ist die Bedeutung der Geschichte – je verschieden – zum wichtigen Element der Deutung von Welt und Mensch geworden71. In den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende sind in dieser Folge eine große Zahl von sehr unterschiedlichen Geschichtswerken entstanden, die Bonhoeffer mindestens teilweise bekannt waren. So hat er beispielsweise die Vorträge Leopold von Rankes über die Epochen der neueren Geschichte72 besessen, sich mit Oswald Spengler73 und Jakob Burckzitiert wird (verbunden mit einer Kritik an Ranke, nicht aber an dem Satz), dies nun aber im Kontext einer geschichtstheologischen Betrachtung erfolgt (WE 353 f.). 69 Vgl. etwa SC 29, im Kontext des Zeitproblems: „Der Idealismus hat keinen Blick für die Bewegung; die Bewegung der Dialektik des Geistes war eine abstrakt-metaphysische, die der Ethik aber ist eine konkrete; der Idealismus hat weiter kein Verständnis für den Augenblick, in dem die Person sich von der absoluten Forderung bedroht sieht […] Damit sind wir aber dicht an das Problem der Realität […] herangeführt.“ Zur Bedeutung von Bewegung resp. Dynamik / ĎƴėċĖēĜ für die Ethik vgl. ZE  Nr. 29.30. Inwieweit die Beurteilung der idealistischen Kategorie der Bewegung als nicht-real, da „abstrakt-metaphysisch“ diesem gerecht wird, ist mindestens fraglich. Schließlich liegen, etwa bei Hegel, andere Prämissen zugrunde, so unter anderem ein ganz anderer Realitätsbegriff, was von Bonhoeffer nicht explizit gemacht wird. 70 Zum Terminus „Historismus“ vgl. Wittkau, Historismus, passim. 71 Hegels optimistische Geschichtsphilosophie, Nietzsches Forderung eines differenzierten, lebensdienlichen Umgangs mit der Geschichte und Diltheys Bestimmung des menschlichen Lebens und der menschlichen Kultur als im Wesen geschichtliche, deren Erfassung nicht mit logischen Kategorien, sondern nur mittels einer eigenen Hermeneutik des Erlebens möglich sei, haben je unterschiedlich und auch nicht allein für sich gewirkt. Bonhoeffer hat alle drei gekannt – wenn auch speziell die Lektüre von Nietzsches Schrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben nicht nachgewiesen werden kann. Es soll daher nicht behauptet werden, dass diese drei Denker die wichtigsten Protagonisten einer allgemeinen Hinwendung zum Geschichtlichen seien. Sie stehen freilich für die Breite des Umgangs mit dem Thema Geschichte, die folglich auch Bonhoeffers Denken direkt und indirekt geprägt hat. Vgl. für einen Überblick über die Begriffsgeschichte HWP s. v. S. auch Wittkau, Historismus, 11 ff. 72 Ranke, Epochen. Daraus stammt das von ihm gerne verwendete Zitat. 73 S.o. B.II.2.a.

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hardt74 befasst und für die Ethik die auf einem existenzphilosophisch geformten Geschichtsbewusstsein beruhende Zeitanalyse von Japsers studiert75. Nicht zuletzt dürften auch die Liberalen Theologen aus Bonhoeffers Vätergeneration, bei denen und über die er studiert, promoviert und sich habilitiert hat, so etwa Ernst Troeltsch und Adolf von Harnack, daneben Reinhold Seeberg, einen sich zwar spät ausprägenden, aber doch nicht unerheblichen Einfluss auf das Thema Geschichte und Geschichtlichkeit gehabt haben. Allerdings unterscheidet sich Bonhoeffer von diesen in Methode und Anliegen ebenfalls nicht unerheblich, so dass das Verhältnis zu den liberaltheologischen Lehrern Harnack, Troeltsch und Seeberg differenziert bewertet werden muss76. Denn es ist gerade nicht die für den Historismus und seine theologische Rezeption typische distanzierende Beschreibung historischer Ausprägungen des Christentums und seines unwandelbaren geistig-sittlichen Gehalts77, also gerade nicht die Kirchen- und Theologiegeschichte, von der sich Bonhoeffer eine ethische Fundierung erwartet. Nicht die historische Beschäftigung mit Ethik ist es, die ihn interessiert, sondern die systematische Frage nach dem Zusammenhang von Glauben und Leben, zu der dann aber auch die Frage nach der Geschichtlichkeit der Glaubensexistenz gehört. Anstelle einer Geschichte der Ethik verfasst Bonhoeffer als Habilitationsschrift darum seinerzeit Akt und Sein78, wo das Thema Geschichtlichkeit, verknüpft mit existenzphilosophischen Gedanken, freilich nur als Frage nach der Kontinuität der Glaubensexistenz aufgenommen ist und in Opposition zu den so genannten aktphilosophischen Ansätzen, also der kantischen und der idea74 Die Zeit Konstantins des Großen, vgl. Meyer, Nachlass, 181; Die Kultur der Renaissance in Italien (WE 307 u. ö.; vermutlich hat er dieses berühmte Werk aber schon vorher gekannt.); Der Cicerone (DBW 9, 10483; WE 366); Adolf von Martin, Die Religion in Jakob Burckhardts Leben und Denken (E 35342). 75 Situation. 76 S. zu seiner frühen Kritik, die nicht widerrufen, sondern später ergänzt wird durch positive Rückbezüge, den Exkurs über Bonhoeffers Kritik an der liberalen Theologie des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts o. D.I. 77 Vgl. Harnack, Wesen, 61: „Für den Historiker, der das Wertvolle und Bleibende festzustellen hat  –  und das ist seine höchste Aufgabe  –  ergiebt sich aus diesen Verhältnissen die notwendige Forderung, sich nicht an Worte zu klammern, sondern das Wesentliche zu ermitteln […] Es sind hier nur zwei Möglichkeiten: entweder das Evangelium ist in allen Stücken identisch mit seiner ersten Form: dann ist es mit der Zeit gekommen und mit ihr gegangen; oder aber es enthält immer gültiges in geschichtlich wechselnden Formen. Das letzte ist das Richtige.“ Etwas anders ist Troeltsch zum Historismus positioniert, insofern er im Unterschied zu Harnack eine echte Relativität geschichtlicher Erscheinungen behauptet. Andererseits insistiert er darauf, dass die „Persönlichkeitsbildung“ das Ziel der Sittlichkeit darstelle und als solches formal-notwendig, d. h. aber auch letztlich übergeschichtlich sei (vgl. dazu auch D.I). 78 Vgl. DB  167 und DBW  10,  84 f. S. dagegen den Vorschlag Seebergs DBW  10,  105: „Aber die Geschichte der Ethik und noch mehr der Sittlichkeit ist ein Gebiet, auf das ein junger Mann sich heute wohl einstellen könnte, mit dem Ziel etwa einer ethischen Dogmengeschichte von der Bergpredigt bis zu unseren Tagen.“

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listischen Philosophie und ihren theologischen Rezipienten, gebracht wird, denen Bonhoeffer Geschichts- resp. Seinsvergessenheit vorwirft.79. Die Kritik an den großen Geschichtsforschern Ernst Troeltsch und Adolf von Harnack, die Bonhoeffers theologische Entwicklung direkt und indirekt geprägt haben, ist allerdings etwas schematischer als die Kant- und HegelAuseinandersetzung in Akt und Sein; dafür wird sie aber im Laufe der Zeit ergänzt durch eine bewusst positive Rezeption des Interesses an Geschichte, Geschichtlichkeit und Ethik80. Harnacks Verankerung des Wesentlichen am Christentum im Geistig-Innerlichen des Menschen, das sich im Laufe der Geschichte immer klarer und reiner zur Geltung bringe und die Menschheit stetig sich höher entwickeln lasse, trifft jedoch Bonhoeffers ganze, von Barth induzierte Kritik81. Dabei ist es gerade auch der Gedanke des stetigen geschichtlichen Fortschritts, der von ihm als dem christlichen Glauben unangemessen abgewiesen wird. Harnack gilt ihm daher als Vertreter des ‚christlichen Humanismus‘, der im Gefolge Kants und des Idealismus die Religion als sich geschichtlich entfaltendes, dabei im Wesen aber überhistorisch zu denkendes anthropologisches Potential bestimmte82. Troeltsch’ Konzeption der so genannten Kultursynthese83 wiederum ist Bonhoeffer in mehrfacher Hinsicht suspekt84. So liegt ihr einerseits ein Kulturoptimismus zugrunde, den Bonhoeffer – als Angehöriger einer neuen, im Ersten Weltkrieg aufgewachsenen, kulturkritischen Generation – nicht teilt. Andererseits ist bei Troeltsch der optimistische Impetus, der für die Liberale Theologie typisch war, weniger stark ausgeprägt durch den Gedanken, dass sich die weltlichen und die überweltlichen Zwecke bloß in einem Kompromiss vereinbaren lassen85; der Kompromiss aber ist es gerade, den Bonhoeffers schärfste Kritik trifft, da er ein verkehrtes dualistisches Weltbild voraussetze 79

S.o. D.I. Vgl. auch exemplarisch die Kant- und die Barth-Kritik AS 31 f.95. Die Kritik an Hegel wird dagegen in der schon gar nicht mehr explizit gemachten Kontraposition der Ethik (s. o. A.II.4.c) geradezu zementiert. Kant wiederum ist als wichtigster Vertreter des von Bonhoeffer abgelehnten Geist-Natur-Dualismus und als Vertreter einer verfehlten Gesinnungsehtik präsent. Positive Seiten kann Bonhoeffer beiden Denkern praktisch nicht mehr abgewinnen (Ausnahmen: E 171 [Rezeption der Selbstzweckformel], WE 61.92 [Kants Gedanken über das Rauchen]). Nicht umsonst beruft sich Bonhoeffer für die Bedeutung der Aufklärung darum gerade nicht auf Kant, sondern auf Lessing und Lichtenberg (vgl. E 106). 81 S.o. D.I. 82 Vgl. dazu Harnack, Wesen, 95 ff. („Gott der Vater und der unendliche Wert der Menschenseele“) und 216 f. mit DBW 11, 168 f. und DBW 10, 318, im Kontext einer impliziten Auseinandersetzung mit Harnack: „Das Christentum ist nicht kulturselig und fortschrittsgläubig.“ Vgl. zu Harnacks Einfluss auf Bonhoeffers Geschichtsbegriff auch Abromeit, Geheimnis, 278. 83 Dazu ausführlich Claussen, Jesus-Deutung, 219 ff. 84 S.o. D.I. 85 Zu Stellenangaben vgl. ebd. 80

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und fatale praktische Konsequenzen habe86. Die für Troeltsch’ Konzeption wesentlichen Aspekte, die Annahme einer immer neuen, begrenzt möglichen und geschichtlich notwendigen Vermittlung von christlicher Sittlichkeit und weltlicher Humanität, sowie der Gedanke der historischen Relativität aller Erscheinungen von Welt und Religion, werden von Bonhoeffer daher abgelehnt87. Seine eigene Auffassung vom Wesen des Geschichtlichen zur Zeit der Ethik und von Widerstand und Ergebung enthält dagegen weder den Gedanken einer einlinigen Höherentwicklung des inneren Lebens, wie sie etwa Harnack, Herrmann und andere liberale Theologen postulierten, noch aber den einer prinzipiellen historischen Gleichwertigkeit aller Ereignisse und Epochen im Hinblick auf ihre innere Wertigkeit88, wie er bei Troeltsch impliziert, wenn auch nicht strikt durchgeführt ist – obwohl Letzteres auch eine existentialistische Geschichtsauffassung auszeichnet, wie sie Bonhoeffer in den früheren Jahren vertreten hat. Wie so oft bewegt sich Bonhoeffer vielmehr auch hier wieder zwischen zwei einander entgegengesetzten Positionen, nämlich zwischen einem einfachen geschichtsphilosophischen Fortschrittsglauben und einem strengen positivistischen Historismus. Der Gedanke der ‚Wertbezogenheit‘ des Augenblicks und nur des Augenblicks89, findet sich darum später so nicht mehr. An die Stelle einer solchen streng existentialistischen Auffassung ist vielmehr der Gedanke von geschichtlichen Entwicklungsphasen getreten, die freilich nicht eine einfache Stufenfolge oder ein stetiges Fortschreiten bilden  –  dabei gar ungeschichtlichen bzw. überhistorischen Gesetzmäßigkeiten folgend  –, sondern inhaltlich aufeinander bezogen und bewertet werden müssen: „Wo ist diese […] ‚Weltlichkeit‘ [sc. des 13. Jahrhunderts] eigentlich abgebrochen[!]? […] Es wäre so wichtig, hier zu einer guten Ahnenreihe [!] zu kommen […]. Ist die Ranke- bis Delbrück’sche Konzeption der Geschichte als eines Kontinuums, das aus ‚Altertum‘, ‚Mittelalter‘ und ‚Neuzeit‘ besteht, wirklich gültig? oder hat nicht 86

E 144 ff. S. ausführlicher o. D.I. Zu Troeltsch’ Auffassung von der Relativität der Geschichte und dem damit nicht ganz ausgeglichenen geschichtsphilosophischen Anspruch auf aus der Geschichte erhebbare überzeitlich gültige Kulturwerte, deren Vermittlung mit den religiösen Zwecken aber letztlich im Bezug auf den jenseitigen christlichen Endzweck des Reiches Gottes geschieht, vgl. Claussen, Jesus-Deutung, 37 ff.219 ff. S. auch Bonhoeffers Einschätzung von Troeltsch’ „Die Absolutheit des Christentums“, DBW  11,  164–167.173–175 und seine Kritik an der „relativen Frage“, weil die „Frage nach der Absolutheit […] die liberale, verzerrte Frage [ist]“. (DBW 12, 308). 88 Dies ist ja noch etwas anderes als die Wertigkeit nach außen, nämlich in Bezug auf den Rezipienten. Demnach könnte aus der Geschichte gelernt werden, ohne dass der Geschichte in ihrem Verlauf intrinsische Werte zugeschrieben werden. Die pädagogische Funktion der Geschichte würde in jedem einzelnen Fall auf dem Zufall beruhen, der die Geschichte insgesamt bestimmte. 89 SC 28. Vgl. dazu das schon genannte Ranke-Zitat. 87

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Spengler mit der These von den in sich geschlossenen Kulturkreisen mindestens auch recht – wenn er auch die geschichtlichen Vorgänge zu biologisch versteht? Die Auffassung vom geschichtlichen Kontinuum beruht im Grunde auf Hegel, der den Gesamtverlauf der Geschichte in der ‚Neuzeit‘, d. h. in seinem System der Philosophie kulminieren sieht; sie ist also idealistisch (trotz des Ranke’schen Satzes, daß jeder geschichtliche Augenblick ‚unmittelbar zu Gott‘ ist; aus diesem Satz hätte sich eine Korrektur der Grundkonzeption des Entwicklungskontinuums ergeben können; das geschah aber nicht) […]“.90

Doch auch wenn sich Bonhoeffer von seinen liberal-theologischen Lehrern darin bewusst und deutlich distanziert hat, so dürfte gerade deren geschichtswissenschaftlicher Zugang zur Theologie bei ihm das Bewusstsein für die Einmaligkeit der geschichtlichen Situation und ihren Einflusses auf das Sein, Denken und Handeln des Menschen geschärft haben. So hat er vor der später intensivierten Dilthey-Lektüre auch gerne Seebergs Dogmengeschichte91 verwendet, die mit ihrem Detailreichtum und gleichzeitigem souveränen Überblick ihm die nötigen Kenntnisse der theologiegeschichtlichen Positionen und ihre jeweiligen Zusammenhänge vermittelte und ihm so auch Interpretamente für die Positionierung und Bewertung zeitgenössischer Problemstellungen lieferte92. Die Geschichte in ihrem Verlauf und Inhalt erhält so im Denken des späten Bonhoeffers doch noch eine Bedeutung für den Menschen, insofern sie individuell und kollektiv identitätsbildend und zugleich handlungsbegründend wirkt: „Hinter Lessing und Lichtenberg können wir nicht mehr zurück.“93 Er beginnt daher in der Zeit der Ethik auch ausdrücklich, seine so unterschiedlichen Prägungen durch die moderne Philosophie, die existenzphilosophisch beeinflusste Dialektische Theologie, und die der kantischen Philosophie und dem Historismus nahe stehende Liberale Theologie zu verbinden94. Nun wird das geschichtlich existierende Glaubenssubjekt explizit verankert in einer das Individuelle umgreifenden und prägenden allgemeinen Geschichte. Diese Geschichte liefert das Bedingungsgefüge für die ethische Tat, ist zugleich aber ihrerseits Resultat menschlichen Handelns, so dass das geschichtlich existierende Individuum und die allgemeine Geschichte des 90

WE 353 f. So etwa für Sanctorum Communio, Akt und Sein und wohl auch Schöpfung und Fall. 92 Ein Beispiel hierfür ist etwa der im Kontext zunächst überraschende Bezug auf den spätmittelalterlichen Nominalismus resp. Voluntarismus von Johannes Duns Scotus und William von Ockham in AS  75 f. Ähnlich verfährt Bonhoeffer bei der Verwertung von Diltheys geistesgeschichtlichen Studien für seine Überlegungen zu Mündigkeit, Weltlichkeit und Religionslosigkeit in Widerstand und Ergebung (vgl. etwa WE 352 f.511 f.527 ff.556 ff.). 93 E 106. 94 In der Ethik zeigt sich dies an dem positiven Bezug auf Werte und Gesinnung der Vätergeneration (E 67.124.342 ff.). S. auch WE 555: „Ich fühle mich als ein ‚moderner‘ Theologe, der doch noch das Erbe der liberalen Theologie in sich trägt, verpflichtet, diese Fragen [sc. die Bestandsaufnahme und das Wesen des Christentums] anzuschneiden.“ 91

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politisch-sozialen und natürlichen95 Raums als einander wechselseitig bestimmend gedacht werden96. Die Bestimmung der menschlichen Existenz als Exponent eines allgemeinen geschichtlichen Leben ist jedoch nur ein Aspekt für Bonhoeffers zunehmendes Interesse an Geschichte und Geschichtlichkeit, das in ähnlicher Weise ja auch bei Dilthey zu finden ist und noch nicht zur Begründung einer Geschichtstheologie taugt, wie sie Bonhoeffer etwa in der Ethik in „Erbe und Verfall“ entwirft und in Widerstand und Ergebung ergänzt und korrigiert. Dazu tritt vielmehr der schon früher vorhandene, aber noch nicht explizierte Gedanke, dass die Geschichte selbst in ihrer spezifischen Strukturiertheit, ihrem Verlauf und ihrem Ziel im Offenbarungsgeschehen begründet ist. In gewisser Weise handelt es sich hierbei daher um eine ausweitende Übertragung der in der Taufe begründeten individuellen Zeitlichkeit der menschlichen Existenz, wie Bonhoeffer sie in Akt und Sein ausgeführt hat. Bedeutung, Sinn und Ziel erhält die allgemeine Geschichte durch das Offenbarungsgeschehen, das nun als „Wendepunkt der Zeiten“97, „Mitte der Geschichte“98 oder „Fülle der Zeit“99 begriffen wird: „Die Geschichte […] wird durch Leben und Sterben Jesu Christi erst recht zeitlich.“100. Dies ist aber nur denkbar, weil die Geschichte von Bonhoeffer nicht als abstrakte, vom Zufall bestimmte oder gar naturhaft sich vollziehende Schicksalsmacht verstanden wird101, sondern konkret konstituiert wird durch das menschliche Handeln, d. h. genauer durch die existentielle Herausforderung des Augenblicks der Begegnung mit dem anderen Menschen resp. mit Christus, dem handelnd entsprochen wird102. Erst dann aber ist es sinnvoll, auch 95 Der bloßen Natur kommt in Bonhoeffers Ethik wenig Bedeutung zu. Sein Interesse gilt den Fragen des menschlichen Zusammenlebens und ist geprägt von der Erfahrung der Sozialität des menschlichen Daseins. Darum spielen ethische Fragen zur Ökologie, Umgang mit nicht-menschlichem Leben und natürlichem Lebensraum, in seinen Überlegungen keine Rolle. Einzig die Leiblichkeit des Menschen wird thematisiert im Hinblick auf die ihr zukommenden Rechte, also in der politischen Gemeinschaft und dem gesellschaftlichen Leben; s. dazu ausführlicher den Abschnitt C.IV. 96 S. dazu u. den Abschnitt über „Geschichte und Handeln“ B.II.2.c. 97 DBW 10, 514. 98 DBW  12,  307 f.: „[…] daß der Messias die von Gott gesetzte, verborgene Mitte der Geschichte [sc. ist].“ 99 Vgl. BA 92. 100 E 94. S. auch aaO. 95: „Der geschichtliche Jesus Christus ist die Kontinuität unserer Geschichte.“ 101 E 265: „[…] nicht das Schicksal [ist] die letzte Wirklichkeit des Lebens […]“. 102 Vgl. E 219: Unter der „Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins […] soll verstanden werden, daß der Mensch notwendig in einer Begegnung mit anderen Menschen lebt […]“. Diese Begegnung ist der geschichtskonstituierende Moment, die „ethische Transzendenz“ aus Sanctorum Communio (s. auch AS 82). Dabei ist die Begegnung mit dem anderen Menschen ermöglicht und bestimmt von der Begegnung mit Christus (vgl. SC 29 f.). In dieser Verknüpfung von existentieller Tat und Geschichtlichkeit besteht ein entscheidender Unterschied zum späten Nietzsche, der ganz ungeschichtlich stoisch die ewige Wiederkehr des Gleichen

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die Geschichte selbst als in der Offenbarung begründet zu deuten, denn erst dann ist es möglich, ein sich zwischen Mensch und Gott vollziehendes Geschehen als weltgeschichtlich, politisch und sozial bedeutsam zu begreifen. Das allgemeine geschichtliche Leben und das individuelle geschichtliche Leben sind in dieser Konstruktion demnach in mehrfacher Weise miteinander verschränkt: so ist einerseits die Geschichte als reziprokes Verhältnis von individuellem Handeln und vorgegebener geschichtlich gewordener Situation – dem Raum der Begegnung – zu deuten; andererseits ist das individuelle Handeln wesentlich bestimmt von dem geschichtlichen Faktum der Offenbarung, das dadurch sowohl handlungsbegründend im theologisch-ethischen Sinn als auch geschichtsbegründend in einem eminent theologischen Sinn ist103. Ihre theologische Verklammerung aber besteht im Providenzgedanken104: das individuelle Geschichtshandeln gestaltet sich zu einem nicht zufälligen, sinnvollen Geschichtszusammenhang, weil es sich einfügt in Gottes Geschichtshandeln. Die allgemeine Geschichte ist so auf einer höheren Ebene nicht allein Ergebnis der individuellen Tat der Glaubenden, sondern umgekehrt ein dynamisch sich entwickelndes allgemeines Lebensmuster, dessen einzelne Momente  –  das jeweilige Tun des Menschen  –  als diesem Muster folgend resp. es geordnet hervorbringend begriffen werden können105. Dabei ist diese Konstruktion nicht hegelisch misszuverstehen, etwa als sei das providentielle Muster, die göttliche Heilsgeschichte, eine allgemeine, auch in ihrem zukünftigen Verlauf prinzipiell erkennbare Struktur, die das einzelne und einmalige Handeln in sich aufnehme und damit zum bloßen vorgegebenen Baustein degradiere. Schon Bonhoeffers grundsätzliche Hegelkritik steht dem entgegen; der eigentliche Grund aber liegt darin, dass die göttliche Providenz ja gerade mit der menschlichen Freiheit rechnet und also in gewissem Sinne auf ihr beruht. Denn die menschliche Freiheit ist nicht absolute, d. h. in Bonhoeffers Terminologie abstrakte Freiheit, sondern paradoxe resp. konkrete Freiheit im Gebundensein an Christus106. Göttliche Heilsgeschichte und Freiheit des geschichtlichen Handelns sind dann aber zwei Seiten derselben Medaille107. lehrt (Vgl. Za III: „Vom Gesicht und Räthsel“, KGW 6.1, 193 ff.); die selbstschöpferische Tat wird so vereinzelt, eine Geschichte des Einzelnen und seiner Welt kann folglich daraus nicht entstehen. S. dagegen auch BA 90: „Erst im Augenblick hebt die Geschichte an.“ 103 Vgl. DBW 10, 429. 104 Vgl. E 285.123 f. S.auch B.II.4.d. 105 Vgl. dazu ZE  Nr. 27: „Zentrum der Geschichte; Führung Gottes auf ein geheimes Ziel, unbewußt; das Ethische also nicht einfach das Subjektiv- Aktive, sondern das Passive, Gottes Tat“. 106 S.o. B.II.4.d. Vgl. die Überlegungen der Vf.in zu Bonhoeffers Kierkegaard-Rezeption in der Nachfolge, Barth, Nachfolge, 30 ff. 107 Durch die Einbeziehung des geschichtlichen Lebens resp. der Heilsgeschichte in das Fundament der theologischen Ethik ändert sich aber auch die Rolle der Kirche. Die Kontinuität der Glaubensexistenz beruht nun auf ihrer theologisch gedeuteten Geschichtlichkeit,

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Der Negation des neuzeitlichen geschichtsphilosophischen Fortschrittsdenkens einerseits und des positivistischen Historismus andererseits entspricht darum nun die positive Kehrseite einer differenzierten theologischen Geschichtsdeutung. Denn auch wenn es für Bonhoeffer dabei bleiben muss, dass jeder geschichtliche Augenblick unmittelbar zu Gott ist108, weil er der Augenblick der Begegnung mit Gott und der existentiellen resp. ethischen Tat ist, so ist dieser Augenblick nun doch zugleich eingebettet in die Gesamtgeschichte Gottes mit dem Menschen. Deren konkrete, die Existenz orientierende Bedeutung aber ist durch im Glauben begründete deutende Aneignung der Geschichte zu erheben. Die Intention der theologischen Geschichtsdeutung ist darum nicht die Vermehrung abstrakten Wissens mittels der Durchführung historischer Forschung – auch nicht kirchen- oder begriffsgeschichtlicher Art  –, ebenso wenig aber die retrospektive Rechtfertigung des eigenen Tuns, weil dem geschöpflich begrenzten, nämlich selbst bloß geschichtlich existierenden und nur eschatologisch von seinem Sündersein vollständig erlösten Menschen das vollständige Überschauen der geschichtlichen Dynamik und Mannigfaltigkeit unmöglich ist109. Vielmehr dient sie der Selbstbesinnung des Menschen über seinen Lebensort und seine geschichtlich gewordene Identität. Schon deshalb kann es sich dabei nicht um eine positivistische Wissenschaft handeln, sondern um ein Unternehmen, das zum Ziel hat, dass „die Welt [sc. in ihrem geschichtlichen Verlauf] besser verstanden [wird] als sie sich selbst versteht“110. Der Mensch gibt sich in der theologischen Geschichtsdeutung „Rechenschaft von der Gegenwart, wie sie von Gott in Christus angenommen ist“111, weil dies der Kontext seiner sich praktisch vollziehenden Glaubensexistenz ist, in welchem sich der Heilswille Gottes, das „Lebensgesetz der Geschichte“112 manifestiert. Damit dient aber auch113 die geschichtliche Besinnung in Widerstand und Ergebung auf die neuzeitliche Ausprägung des Autonomiegedankens und die historische Bedingtheit der Religion114 der theologischen Ethik: der „Bestand[s]aufnahme

während die Kirche stattdessen als Zentrum, Ursprungsort und Darstellungsform der weltlichen Glaubensexistenzen gefasst wird. 108 WE 353 f. 109 S. dazu o. B.II.2.c; 4.c und d. 110 WE 480. 111 E 94. 112 E 263: Jesus Christus hat „das Wesen der Geschichte in sich getragen und erfüllt“, in ihm ist „das Lebensgesetz der Geschichte verkörpert“. 113 Die geschichtliche Besinnung in Widerstand und Ergebung setzt diejenige aus der Ethik, in dem Kapitel „Erbe und Verfall“, fort und korrigiert sie zugleich teilweise inhaltlich. Vgl. dazu Reuter, Pazifismus, 30 f. 114 So etwa WE 476: „Ich will versuchen, einmal vom Geschichtlichen meinen Standpunkt zu bezeichnen.“; 479; vgl. auch die historische Perspektive und die damit verbundene Kritik am Religionsbegriff WE 352 f.511 f.527 ff.556 ff.

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des Christentums“115 entsprechen notwendig, da es sich ja um die geschichtliche Manifestation der Offenbarung resp. Gottes providentielles Wirken in Christus handelt, theologische Einsichten über die Wahrheit des Glaubens und der Kirche hic et nunc116; diese Wahrheit aber besteht in der „Teilnahme am Sein Jesu“ und damit in einem „Leben im ‚Dasein-für-andere‘“117, dessen das Handeln orientierende Implikationen Gegenstand der Ethik sind118.

115

WE 556, vgl. 576. Vgl. WE  556–561. Dabei bedingen und erläutern sich die theologische Geschichtsdeutung und die dogmatischen Einsichten wechselseitig, da sie jeweils unmittelbar auf der Offenbarung beruhen. 117 WE 558. 118 Die theologische Geschichtsdeutung und die Besinnung auf die ihr entsprechenden dogmatischen Einsichten einschließlich der praktisch-ekklesiologischen Konsequenzen sind darum „gewissermaßen ein Vorspruch und z. T. eine Vorwegnahme der größeren [Arbeit]“, d. h. der Ethik (WE  577). Es wäre unter dieser Voraussetzung besonders interessant, die Geschichtsdeutung aus Widerstand und Ergebung und diejenige aus der Ethik miteinander zu vergleichen. Hätte Bonhoeffer die Gelegenheit gehabt, nach den Tegeler Erfahrungen an der Ethik weiterzuarbeiten, so hätten sich an diesem Punkt wohl die größten Veränderungen gegenüber dem ursprünglichen Konzept ergeben. So ist einerseits evident, dass die Geschichtsdeutung aus „Erbe und Verfall“ durch die Überlegungen der Gefängniszeit eine inhaltliche Korrektur hätten erfahren müssen. Möglicherweise aber hätte Bonhoeffer darüber hinaus diesen Abschnitt der Ethik gar nicht mehr eingefügt und stattdessen die „kleinere“ Arbeit (WE 577) verfasst und der Ethik vorangestellt. 116

Literatur Zeitschriften- und Reihentitel werden abgekürzt nach: Schwertner, Siegfried M.: Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 21994.

1. Textausgaben Brautbriefe Zelle 92. Dietrich Bonhoeffer – Maria von Wedemeyer 1943–1945, edd. Ruth-Alice von Bismarck / Ulrich Kabitz, München 1992. Dietrich Bonhoeffer: Ethik, DBW 6, edd. Ilse Tödt et al., Gütersloh 21998. Dietrich Bonhoeffer: Ethik, ed. Eberhard Bethge, München 11949, 61963. Dietrich Bonhoeffer: Gesammelte Schriften, 6 Bd.e, ed. Eberhard Bethge, München 1958 ff. Dietrich Bonhoeffers Hegel Seminar 1933. Nach den Aufzeichnungen von Ferenc Lehel, IBF 8, ed. Ilse Tödt, München 1988. Dietrich Bonhoeffer: Werke, DBW, edd. Eberhard Bethge et al., 1986 ff. Dietrich Bonhoeffer: Zettelnotizen für eine Ethik, DBW 6.Erg., ed. Ilse Tödt, Gütersloh 1993.

2. Andere Primärliteratur Neben Primärliteratur im üblichen Sinne erscheinen hier auch diejenigen Monographien, Aufsätze etc., die Bonhoeffer nachweislich benutzt hat. Auch wenn es sich dabei teilweise um wissenschaftliche Übersichtsdarstellungen oder Studien, also typische Sekundärliteratur handelt, werden diese hier als Primärtexte behandelt, da sie unter dem Aspekt ihres Einflusses auf Bonhoeffers Theologie betrachtet werden. In diesem Abschnitt des Literaturverzeichnisses wird außerdem um der Einheitlichkeit willen nicht der Nachname vorangestellt, sondern immer der ganze Name aufgeführt. Die Sortierung richtet sich nach dem jeweiligen Nach-, Haupt- oder Ortsnamen, unter dem der Verfasser bekannt ist oder üblicherweise genannt wird (Bsp.: Karl Holl, Johannes Duns Scotus, Thomas von Aquin). In den Anmerkungen werden die Primärtexte, soweit möglich und üblich, lediglich mit Abkürzungen und Seitenzahlen, sowie ggf. Bandnummern, zitiert, um den Lesefluss zu erleichtern. Für eine Aufschlüsselung vgl. das Abkürzungsverzeichnis. Aristoteles: De anima, ed. W.D. Ross, Oxford 1959. Aristoteles: Ars Rhetorica, ed. W.D. Ross, Oxford 1964. Aristoteles: Ethica Nicomachea, ed. I. Bywater, Oxford 1957. Aristoteles: Die Nikomachische Ethik, ed. O. Gigon, München 42000. Aurelius Augustinus: De Trinitate. Libri I–XV, CChr.SL L: Aurelii Augustini Opera Pars XVI, edd. W.J. Mountain / Fr. Glorie, Turnholt 1968.

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Stellenregister Gen 1–3 1,26 1,26 f. 1,28 2,25 3 3,1–24 3,4 f. 3,5 3,7 3,11 3,22

13, 22, 240 226 f. 111, 220 227 74 17, 20, 55, 110 12 41 12 f., 15 74 74 12 f., 15

Dtn 6,4 f.

113

Ps 51 119

224 335

Jer 17,9

69

Mi 6,8

295

I Chr 20,12

8

Mt 5–7 5,8 6,22 23,5

144 97 94 40

Joh 1,1–14 1,3 1,4 11,25 f. 14,6

16 113, 181 f. 158, 181 f. 158, 352 196

Röm 1,1 1,18–21 2,15 5,4 8,19–23 12,1 12,2 12,8 12,11 13 14,23

224 16 380 69 261 324 107, 110, 315 94 416 332 115, 314

I Kor 2,2 7,17–24 7,20 7,31 8,6

22, 84, 112 320 319 f. 346 113

II Kor 1,12 3,18 8,2 9,11 9,13 11,3

94 110 94 94 94 94 199 94 241 241

Mk 12,29–31

253

Eph 1,4 f. 6,5

Lk 10,38–42 11,34

115 94

Phil 1,7 1,16

444

Stellenregister

Kol 1,15–20 1,16 1,16 f. 3,22

213 181, 352 83, 213, 218 94

Jak 1,7 f. 1,8 1,22 1,25 4,8

88 94 113, 116 113 94

II Tim 4,21 4,16

294 241

I Petr 3,15

241

Hebr 1,2 4,15 f.

113 244

Namenregister Althaus, Paul 133, 141, 324 Aristoteles 202, 384–386 Augustinus 68, 225, 373, 384, 389, 413 Barth, Heinrich 414 Barth, Karl 4 f., 10–12, 16 ff., 26 f., 35, 41 f., 45 f., 67, 82, 96, 111, 128, 130, 132, 134, 135, 137, 165 f., 171, 183, 190, 208, 213 f., 216, 219 f., 225, 228, 287, 298, 329 ff., 337 f., 341, 343, 348, 352, 364–366, 394, 397–399, 401 ff., 412, 419 Bergson, Henri 169, 182, 381 Boethius, Anicius Manlius Severinus 375, 412 Brunner, Emil 197–199, 215, 227, 232, 235 f., 254, 266, 394 Buber, Martin 196 f., 199 f., 202, 204 f., 207, 215 f., 219 Bultmann, Rudolf 16, 150, 158 f., 181 f. Burckhardt, Jakob 386, 418 Calvin, Johannes 17, 337 Cohen, Hermann 406 f. Darwin, Charles 32, 166, 382 Delitzsch, Franz 91 Dilschneider, Otto Alexander 133 Dilthey, Wilhelm 90, 148 ff., 163, 169, 171, 173, 177, 413 f., 417, 421 f. Duns Scotus, Johannes 20, 421 Ebner, Ferdinand 197, 215 Elert, Werner 133, 141, 285, 324 Fichte, Johann Gottlieb 53, 65, 69, 101 f., 199, 336, 350 Freud, Siegmund 25 Goethe, Johann Wolfgang von 152, 300 f., 363

Gogarten, Friedrich 196–198, 202, 215, 219, 223, 230 Grisebach, Eberhard 5, 14, 65, 74, 196 ff., 208–210, 214 ff., 223 f., 230 f., 233, 235 f., 242, 394, 413 f., 415 Guardini, Romano 148 f., 150 Harnack, Adolf von 227, 401 ff., 418–420 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 4, 10, 14, 23, 44 ff., 58 ff., 68 f., 70 ff., 81 f., 85, 90, 97 ff., 103, 104, 106, 108 f., 110, 113 f., 117, 119, 128, 135, 143, 145 f., 147, 150, 151 f., 153, 156, 160 f., 166, 169, 171, 182, 185, 195, 199–201, 209, 221, 226, 251, 257, 260, 287 f., 392, 399, 402, 413, 417, 419, 421, 423 Heidegger, Martin 4, 14, 21, 31, 62, 68, 71 f., 74, 98, 104, 146, 151, 156, 177, 201, 203, 208, 232, 307 ff., 395, 414 Heim, Karl 124, 195, 196 Herder, Johann Gottfried 171 Herrmann, Wilhelm 338, 404, 406 ff., 420 Hildebrandt, Franz 47, 98 Hirsch, Emanuel 49, 58, 101, 141, 195, 198, 224, 324 Holl, Karl 72, 141, 148, 307, 318 ff., 401 f., 405 Husserl, Edmund 68, 90, 91, 154, 199 f. Japsers, Karl 27 f., 151, 266 Kant, Immanuel 4, 10, 14, 24, 25, 35, 44, 48 f., 51 f., 55 f., 60, 67 f., 70, 72, 90, 97, 146, 152, 161, 163, 169, 189, 199 f., 202, 256, 282, 288, 289, 293, 295, 302 f., 309 f., 313, 336, 350, 382–384, 403, 405, 408 f., 413, 419 Kierkegaard, Sören 5, 10, 14, 21, 50, 56 f., 64, 66,, 69, 79 ff., 96 ff., 106 ff., 119 ff., 143, 145 f., 147, 152, 156, 173 f.,

446

Namenregister

175 f., 194 f., 198, 202 f., 222, 224, 245, 288, 290,292, 337, 352, 392–394, 402, 413 f., 415, 423 Lessing, Gotthold Ephraim 49, 171, 419, 421 Lichtenberg, Georg Christoph 419, 421 Litt, Theodor 1, 148–150, 196 Luther, Martin 4 f., 10, 13, 17, 18, 19, 20, 23, 28, 43, 55, 65, 69, 74, 82, 86, 92, 98 f., 102, 112, 132 ff., 148, 161, 174 f., 208, 215, 220, 224 f., 226, 281, 295, 298, 302, 307, 313 f., 318 ff., 330 ff., 337, 342, 347, 352, 364 f., 377 f., 380, 386, 387 f., 393, 396, 402, 403 f., 410 Machiavelli, Niccolò 273, 281, 284, 285 Natorp, Paul 406 f., 408 Nietzsche, Friedrich 10, 14, 21, 25 ff., 44, 47 f., 51, 59, 62, 66, 74, , 82, 96 ff., 117, 121 ff., 147 f., 150, 151 ff., 163, , , 165, 169, 173, 176, 182 f., 186 ff., 262, 266 f., 295, 325, 363, 381, 383, 392 f., 399, 402, 410 411 f., 417, 422 Nohl, Herman 11, 77, 148 f., 158, 170, 191, 193, 301 Nygren, Anders 134

Przywara, Erich, S.J. 4, 14, 22, 68, 98, 228 Ranke, Leopold von 416 f., 420 Ritschl, Albrecht 252 f., 302 f., 408 Ritter, Gerhard 275, 285 Rosenzweig, Franz 199 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 48, 97, 128, 152, 163, 182, 384, 404 ff. Scheler, Max 14, 68, 90, 91 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 199, 202 f. Schweitzer, Albert 232 Seeberg, Reinhold 20, 45, 208, 245, 324, 401 f., 405, 418, 421 Seneca, Lucius Annaeus 249 Simmel, Georg 148, 150, 247 Spranger, Eduard 11, 148, 150, 165 Spengler, Oswald 148 f., 167, 271, 417, 421 Thomas von Aquin 28, 62, 68, 150, 161 f., 166, 184, 190 f., 268, 284, 293, 314, 371 ff., 377, 379, 384 f., 386 ff., 395–397, 400, 402, 412 Tönnies, Ferdinand 247 Troeltsch, Ernst 141, 188, 402 ff., 418–420

Ortega y Gasset, José 150, 157 Pieper, Josef 14, 78, 150, 162, 167, 184, 191, 260, 268 f., 274, 277, 314, 349, 362, 365, 367, 371 ff., 389 f., 395–397, 400 Platon 20, 75, 182, 384, 412

Weber, Max 232 f., 273 ff., 291, 299, 301, 317 ff., 394, 397, 409 Windelband, Wilhelm 183 Zwingli, Huldrych 17

Sachregister Abfall (vom Ursprung, Gott, Jesus Christus) 12, 37, 42, 59, 88, 115, 130, 185, 379 Absolute, absolut 19, 23 f., 25, 30 f., 38, 40, 46, 49 f., 52, 53, 56 f., 60, 68, 87, 98, 100 ff., 123, 146, 152, 154, 157, 159 ff., 166 f., 171 f., 204, 209, 207, 216, 221, 254, 282, 296, 324, 336, 396, 400, 403, 408–410, 413, 417, 423 Abstraktum (-e), abstrakt 54, 56 f., 58, 60–62, 72, 88, 92, 100–102, 104 f., 108, 128, 146 f., 153, 156, 166, 168, 170 f., 172, 183, 186, 185, 203, 210, 256, 262, 275 f., 278 ff., 288, 293, 299 f., 309, 316, 339, 347, 353, 357, 368, 385, 409, 413, 417, 422 ff. Abstraktion 56, 58, 145, 157 ff., 171, 178, 180, 186 f., 204, 211, 221, 236, 258, 288, 350, 356, 380, 391 actus 184, 396 actus directus 72, 89 ff., 106, 359, 415 actus purus 184, 373 actus reflexus 89 ff., 106, 243, 360 ad extra 83, 213, 220, 222 Aktivität, aktiv 131, 136, 191, 252, 292, 301 f., 377, 423 allgemeingültig 29, 31, 178, 288, 393, 406 f. analogia entis 22, 213, 227 f. analogia relationis 22 f., 111, 213, 220, 227, 287 Annahme (des Menschen, der Welt) 27, 178, 185, 212, 229, 261, 263, 384 Annahme (des Glaubens) 175, 335 Anspruch (des Du) 88, 204 ff., 215 f., 219, 223, 231, 235–237, 242, 249 Anspruch (Christi, Gottes) 16, 110, 122, 126, 128 f., 214, 217 f., 222, 223, 236–238, 259, 287, 323, 339, 379, 389, 400

Antwort, antwortend 91, 126 f., 132, 135, 196, 216–218, 222–224, 229, 234 ff., 244, 247–249, 253, 257, 265 f., 281, 290 f., 295, 297, 298, 304, 311, 322, 347 Arbeit (Mandat) 213, 352 f.,354 f., 257, 363 Auferstehung 27, 79, 178, 238, 264, 357 Aufklärung 25, 31, 33 f., 48, 66, 202, 377, 404, 405, 419 Augenblick 3, 19, 103, 116, 119, 131, 173 ff., 192, 194, 205 f., 208, 234, 236, 266, 294 f., 314, 336, 338, 339, 363, 413 ff. (von) außen, außerhalb 39, 66, 80, 87, 90, 93, 113, 116, 127, 136, 169, 172, 174, 202 ff., 214 ff., 224, 226, 248, 291, 296, 332 f., 394, 415, 419 Außerordentliche, außerordentlich 133, 272, 282–284, 350 Autonomie, autonom 12, 16, 23 ff., 93, 99 f., 116 f., 172, 186, 208, 288 f., 309 ff., 350, 378, 380, 384, 406 ff., 424 Bergpredigt 1, 89, 94 f., 140 ff., 186, 253, 297, 299, 318 f., 327, 329, 338, 339, 407, 410, 418 Bewusstsein, bewusst 15, 38, 45, 48, 52 ff., 59, 61, 64, 66, 68, 72, 76 f., 84–86, 89 ff., 97 f., 103 ff., 114, 117, 122, 124, 127, 129–131, 153 ff., 173, 175, 200, 220, 243, 269, 279, 288, 293, 308, 310, 336, 338, 341 f., 348 f., 359 ff., 378 ff., 387, 389, 391, 406, 407, 413 Bewusstseinsphilosophie 45, 63 f., 81, 84, 200 concretissimum 195 Dasein für Andere 3, 248, 400, 425 Dasein und Sosein 268, 372

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Sachregister

Dekalog 253, 295–297, 299, 305, 316, 329, 331, 335, 336, 339, 342, 349 f., 389, 392, 398 deontologisch 350, 384 Dezision, Dezisionismus 121 ff., 132, 173, 177, 188, 279, 289, 291, 296, 339, 392 ff. Dialektische Theologie 16, 25, 96 f.,165, 197, 215, 347, 394, 403, 414, 421 dialektisch 108 f., 123, 147, 151, 153, 166, 183, 185, 188 f., 195, 202, 209,, 217, 223, 229, 234, 262 ff., 288, 315, 324, 363, 377, 387 Ehe (Mandat) 213, 352 f., 355, 357, 363 Eigensetzlichkeit 186, 322, 351, 352, 358, 405 Erbsünde 304, 42 Erkenntnis von Gut und Böse 9, 44, 61, 65, 159 Erlaubnis, erlauben 73, 115, 128, 176, 274, 293, 337 f., 342, 344, 348 Erlösung 147, 160, 194, 207, 252, 254, 255, 383 Eschatologie, eschatologisch 43, 91 f., 252, 272, 292, 298, 306 f., 309, 347, 353, 360 f., 367, 424 essentia 69, 91, 107, 174, 177, 184, 221, 258, 269, 371–373, 376 essentialistisch 166 existentia 269, 371–373 Existentialismus, existentialistisch 97, 105, 119, 121, 125, 129, 133, 152, 201, 289, 392 f., 420 Existenzphilosophie, existenzphilosophisch 10, 14, 31, 71, 78, 80, 82, 96, 98, 100, 102, 104, 106, 110, 117, 124, 127 f., 133, 146 f., 150–152, 157, 162, 167, 169, 173, 175 f., 194, 196, 201–203, 231, 240, 313, 337, 368, 394 f., 402, 412, 414 f., 418, 420 Ewigkeit 21, 31, 62, 122, 124, 134, 156, 159, 190, 220 f., 339, 412 ff. Familie (Mandat) 334, 354, 357, 389 Form und Inhalt, formal und inhaltlich 371, 375, 376 ff. Fundamentalontologie 62, 68, 308, 310, 313, 414

Gehorsam 42, 111, 113, 118, 123 f., 125 ff., 234, 243, 252, 286, 290, 292 ff., 299 ff., 312, 329 f., 338, 348 f., 357, 367, 392, 396 f. Gerechtigkeit 29, 33, 135, 224f, 251, 351 f., 370, 384–386 Geschöpflichkeit 82 f., 91, 226, 249, 270, 278, 300, 376, 383 f. Gesinnung 10, 32 f., 36, 176, 189, 232, 280 f., 319, 324, 409–411, 419, 421 Gesinnungsethik 141, 280 f., 295, 318, 408 f. Gestalt 3 f., 92, 107, 110 f., 130, 169, 212 f., 214, 257, 258, 265, 269, 276 f., 285, 291, 297, 316, 324, 333 f., 340, 342, 353, 355 f., 358, 370, 378, 381 ff., 396 Gleichgestaltung, gleichgestaltet 22, 110, 111, 117, 123 Gleichzeitigkeit 128 Gnade 24, 75, 95, 112, 118, 127, 130, 135, 137, 236, 239, 293 f., 305 f., 347, 349 f., 362, 364, 378, 403, 407 Gnadenwahl 16, 17, 19, 21 Gottebenbildlichkeit 22 f., 65, 213, 228, 254 Gottgleichheit 16, 22, 41, 65, 81, 84, 137 Grundrechte 176, 350, 363, 389 f. Grundwille 21, 381 f. Hermeneutik 14, 62, 90, 148, 151, 169, 177, 217, 240, 328, 366, 417 Humanismus 300, 345, 408, 411, 419 Humanität 161, 300, 380, 404, 405 f., 420 Idee 20 f., 24, 61, 146 f., 160, 171, 176, 219, 221, 308, 373, 405 Ideal, ideal 19 f., 23, 29, 30, 33, 62, 100 f., 108, 146, 159–161, 164 f., 170, 191, 193, 195, 200, 207, 329, 408, 411 Idealität 23, 105, 156, 268, 404 Idealismus, idealistisch 4, 14, 21, 23–25, 43, 45, 51, 62, 65, 67 f., 70 f., 77, 88, 90, 95, 97, 98 f., 101 ff., 116 f., 119, 127, 145 ff., 157 ff., 166 f., 170 ff., 177, 180, 186 f., 197 ff., 208, 216, 224, 230, 236, 262, 265–267, 275, 288, 308 f., 312 f., 337, 350, 369, 376, 379, 393 f., 405, 410, 416, 417, 419, 421 Idealismuskritik 66, 80, 82, 97, 104, 202, 209

Sachregister

Individualismus 97, 207, 210, 215, 387, 405 Innerlichkeit 101 f., 104, 113–115, 120, 130, 154, 194, 201, 203, 206 f., 318, 405, 409 Inspiration 28, 42, 120, 125, 132, 277, 279, 291, 339 Kirche 3, 13, 28, 38, 59, 83, 169, 208, 213, 221, 226 f., 247–249, , 254, 257, 279 f., 298 f., 331, 333–335, 337, 342 ff., 351 ff., 361, 363 f., 380, 399, 403, 408, 415 f., 423 f., 425 Kollektivismus, kollektiv 121, 283, 347, 386, 421 Konflikt 11 f., 14, 36, 40, 66, 83, 132 f., 161, 165, 187 f., 204 ff., 215, 230, 273, 278, 284, 293, 335 f., 347, 387 f. Konkretion, konkret 45, 48 f., 51, 53 f., 56 ff., 70 ff., 77, 79 f., 88 f., 95, 98, 100–102, 107 ff., 115 ff., 139, 145, 151, 156 ff., 195 f., 200, 204, 206, 208, 210 f., 214 f., 218 f., 226, 228 ff., 233 ff., 250 ff., 274 ff., 296 ff., 315 ff., 322 ff., 340 ff., 367 ff., 385 ff., 392 ff., 402, 408, 413, 416 f., 422–424 Kontingenz, kontingent 11, 86 f., 171 f., 178, 204 f., 208, 221, 228, 285, 310 f., 401, 415 Kreuz 1, 27, 219, 252, 264, 303, 346, 357, 411 Kultur (Mandat) 352 Lebensgesetz 178, 253, 318, 335, 339, 363, 424 Letztes 195, 292 f., 295, 298, 311, 315, 346, 361, 370, 387 lex 33 f., 252, 270, 296, 326, 331, 334, 343, 351, 359, 372 ff., 386, 388 Liberale Theologie 5, 16, 25, , 33, 35, 41, 141 f., 147, 161, 164, 165, 188 f., 191, 253, 262,279, 318, 401 ff., 419, 421 liberum arbitrium 17, 137, 288 Menschenrechte 132, 273, 362, 369 f., 380, 387, 397 Metaphysik, metaphysisch 30 f., 37, 42, 48, 52, 66, 68, 88, 100, 137, 146, 155, 157, 160, 161, 176, 182, 191, 195, 197, 201, 203, 222, 310, 372, 383, 417

449

metaphysikkritisch 21, 98, 151, 169 Möglichkeit 12, 15 f., 19, 23, 35, 42 44, 56, 59, 62, 77, 86 f., 99, 107, 114, 118 f., 131 f., 146, 174, 221, 260, 307, 373 f., 376, 390, 403 f., 405, 407 f., 410 Nachfolge (Christi) 1, 89, 93, 95, 105 f., 111–113, 118 f., 123, 125 ff., 140, 143, 145, 217, 234, 298, 318, 322, 247, 397 f. natürliche Theologie 250, 263, 366 Natur 49, 56, 57, 76–78, 147, 151, 153–155, 160–162, 174, 177, 186, 209, 212, 214, 219, 227 f., 256, 257, 271, 288, 300, 347, 362, 371 ff., 406, 419, 422 Naturrecht 191, 282, 284, 331, 334, 362 f., 370 ff., 385, 388, 390 necessità 281 ff. Nihilismus 192 Nihilist 122 Nominalismus, nominalistisch 19, 22, 24, 31, 51, 86, 154, 221, 380, 421 Offenbarungstheologie 12, 50, 63, 65, 197, 209, 219, 249, 264, 362, 365, 403, 411 Offenbarungspositivismus 402 offenbarungspositivistisch 366 Ontologie, ontologisch 4, 21, 23, 52 f., 56 f., 65, 87, 162 f., 164 ff., 170, 178, 180 ff., 190, 199 f., 204, 205, 209 ff., 218 f., 226, 258 ff., 287, 292, 309, 339, 347, 352, 354, 357 ff., , 367, 373, 377, 394 ff., 413, 416 ordo 132, 261, 267 ff., 299, 322, 352, 364, 374 f., 377, 384, 396 Passivität, passiv 22, 110, 119, 127, 131 f., 135 f., 175, 209, 227, 252, 257, 259, 278, 301 f., 403, 423 peccatum originale 41 f., 51, 62 f., 78, 209, 306, 393 Pflichtethik 115, 176, 336–338 Phänomenologie, phänomenologisch 14, 37, 68, 74, 89–91, 166, 180, 184, 186, 193, 200, 240, 393 Positivismus, positivistisch 25, 166, 265, 420, 424 Prädestination (praedestinatio) 16 ff., 111 Pragmatismus, pragmatistisch 167, 212 f., 262, 265 ff., 356

450

Sachregister

pro me 102, 112, 226, 245, 302, 305 Providenz (providentia) 130, 179, 373, 416, 423 Prüfen 82, 119 ff., 274, 278 ff., 285 ff., 296 f., 299, 304, 315 f., 318 f., 339, 341, 347, 349, 360, 395–397 Psychologie, psychologisch 25, 29 f., 35, 36 f., 41, 44, 61, 76, 79, 91, 96, 99, 119, 129, 169, 172, 177, 187, 243, 277, 361 Rat 333, 342 f., 351, 354, 358, 362 ratio 20, 34, 69, 91, 156, 161 f., 177, 249, 270, 333, 350, 365, 373 f., 377, 380 Rationalismus 20, 49, 152, 160 ff., 172, 184, 201, 221, 287–289, 388, 394, 406 Realismus 19 f., 24, 67, 107, 153 f., 206, 266, 269, 277, 377, 395 Religion 32, 41, 44, 48 ff., 284, 307, 324, 345, 403 ff., 419 f. Religionslosigkeit 421 res 51, 67, 100 f., 268 f., 333, 380, 396 Sachgemäßheit, sachgemäß 167, 191, 267 ff., 282 f. säkular 141, 144, 186, 254, 275, 332, 345, 378 f. säkularisiert 207 f. Säkularismus 380 Schöpfung 16, 21, 46, 64, 82–84, 91, 110, 236, 270, 278, 379, 383 Schöpfungsmittler 83, 181, 181, 213, 218, 222, 257, 269, 379, 383 Schöpfungsordnung 190, 197, 331, 334, 365 Schöpfungstheologie 250, 334, 352 Schuld 55, 117, 177, 227, 231 f., 241, 252, 253, 255, 257, 296, 298 f., 301 ff., 348 f., 411 Selbstbewusstsein 53, 57, 60, 63, 67 ff., 76, 120, 148, 159, 197, 281 Selbsterhaltung 140 f., 186, 193, 255, 348, 374, 381, 390 Selbstprüfung 126 ff., 290 f., 347 sicut deus (esse) 13, 15 ff., 41, 306, 308, 381 simul iustus et peccator 265, 272, 298, 346, 347 Spekulation, spekulativ 18 f., 44, 48 f., 54, 61, 85, 106, 110, 134, 137, 146, 153 f., 171, 185, 201, 222, 352 Staat (Mandat, auch: Obrigkeit) 213, 345, 351 f., 354 f., 357 f., 363

Subjektivität 49, 52, 56 f., 99, 103 ff., 119, 200, 203, 205, 207, 209, 214, 216, 223 Subjektivitätstheorie 23, 50, 70–72, 127 f., 204 ff., 217, 243, 287, 293 Subjektivismus, subjektivistisch 3, 45, 49, 51, 60 f., 67 f., 93, 97, 101, 103, 112, 129, 201, 216, 275, 293, 313 Substanz, substantiell 22, 51 f., 56, 58, 62 f., 69, 101, 107 f., 110, 126, 146, 154, 160, 175, 177, 211, 220, 225, 374 f., 415, 417 (ius) suum cuique (tribuere) 273, 372, 384 ff. transcendentalia 200 transzendental 51 f., 60, 69, 71, 101, 146, 153, 157, 163, 170, 195, 199 ff., 231, 275 f., 310, 313, 376, 393, 406–408, 413 Transzendentalphilosophie 4, 60, 152, 163, 199 ff., 224, 230, 359, 393, 413 Trinität, trinitarisch 34, 44, 63, 83, 199 f., 213, 219 f., 221 f., 225 Tugendethik 139, 277, 328 f. Übermensch 14, 26, 27 f., 33 f., 39, 43, 121–123, 156, 173, 296, 326, 399 ultima ratio 282, 300, 348, 390 das Unbewusste, unbewusst 25, 35, 79, 155, 172, 175 f., 293, 338, 348, 359 ff., 379 f., 382 f., 398, 413, 423 unbewusstes Christentum 89,276, 316, 345, 359 ff., 378, 398 Unterbewusstsein, unterbewusst 25, 293 usus (legis) 118, 296, 327, 329 ff., 335, 337, 341 ff., 351, 397 f. Utilitarismus, utilitaristisch 32, 213, 265 f., 268 Verantwortungsethik 146, 158, 232 f., 280 f., 302, 319, 409 Vernunftrecht 370, 377, 388, 397 Versöhnungstheologie 97, 137, 194, 341, 365 f., 398 Vitalismus 155, 191 f., 383 Voluntarismus 421 Vorletztes 3, 139, 195, 292 f., 295, 298, 315, 328, 346, 361, 367, 370, 387, 400 Wagnis 162, 173, 237, 257, 285 f., 289, 291–293, 296, 306, 311

Sachregister

Wesensgesetz 268 ff., 291, 325, 340 ff., 388, 396 Zeit 31, 101, 107, 155 f., 169, 190, 201, 205 f., 208, 236, 289, 291 f., 294, 338, 339, 350, 361, 412 ff.

451

Zeitlichkeit 31, 100, 155 f., 159 f., 163, 168 f., 178, 190, 412 ff. Zwei Regimente (-Lehre) 133, 324, 362, 364