Die Wiedergeburt der Wissenschaften im Islam: Konsens und Widerspruch (idschma wa khilaf) 9783839431962

In »The Birth of Science: Panta Rhei« (Velbrück 2011), Manfred Schmutzer investigated the necessary framework which led

176 69 3MB

German Pages 544 Year 2015

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Inhalt
Prolog
Einleitung
Wissenschaft ist Politik – Scientia et Potentia in idem coincidunt
Schulen
Magna Graecia
Das Ganze
Soziomorphismus
Denkzeuge
Das Ende der antiken Wissenschaften
Ausblicke
Happy Birthday
Teil I Erbe und Erben
Kapitel 1. Das vergessene Vermächtnis der Hellenen
Archytas von Tarent
Archytas als Mathematiker
Wissenschaftstheorie und Naturwissenschaft
Harmonienlehre
Zwischenbilanz
Oppositionelle Gastfreunde
Wissenschaft und Politik
Sophia
Archimedes von Syrakus
Theoretiker oder Praktiker?
Schwimmende Körper
Unterschiedliche Beweisverfahren
Die Quadratur der Parabel
Der Zylinderhuf
Eine Vielheit …?
… oder das Ganze?
Kapitel 2. Das unvergessene Erbe
Astronomie
Anfänge
Die Erde im Mittelpunkt des Kosmos
Entstehungsgeschichte des geozentrischen Systems
Die Struktur des Almagest
Evaluation des ptolemäischen Modells
Die Sonne – Zentrum des Kosmos
Die Formel des Kopernikus
Der Kult der »rettenden Götter«
Die antike Medizin – Hippokrates, Galenus und Celsus
Diokles von Karystos
Praxagoras von Kos
Herophilos
Philonos aus Kos
Serapion aus Alexandrien
Erasistratos
Aulus Cornelius Celsus
Galenos von Pergamon
Resümee
Kapitel 3. Unwillige Erben
Einführung
Zwei oder drei Erben?
Rückkehr zu heiliger Herrschaft – Byzanz
Zeitenwende
Der »Nika«-Aufstand
Codex Juris Civilis
Geistesleben
Die germanischen Königreiche
Das Reich der Franken
Christentum und Lehenswesen
Private Gewalt und »Entstaatlichung«
»Verländlichung«
Recht und Gesetz verschwinden
Retter des Abendlands – Islam
Solon und der Prophet
Athen und Mekka
Yathrib
Resümee
Kognitive Voraussetzungen für Existenz und Entwicklung von Wissenschaften
Teil II Unter der Fahne des Propheten
Kapitel 4. Geburt eines Rechtsstaats
Die Charta von Yathrib
Mohammed – Staatsgründer und Prophet
Die Nachfolge
Rückblick
Ahl al Bayt
Haschemiten
Der »Schüler« des Vaters
Der zweite Kalif – ?Umar ibn al-Kha?ab
Bekehrung
Expansion des Reichs
Verwaltung des Reichs
Al-Faruq
'Uthman ibn 'Affan
U?ul Al-Fiqh – Aufbruch zu einer islamischen Wissenschaft
Eine notwendige Bedingung für die Genese von Wissenschaften
Institutionalisierung des Rechts
?adithe
Widersprüche
Herrschaft des Rechts
Die Wissenschaften der ?adithe (Uluumul-?adith)
Malik ibn Anas
Rechtsgelehrte
'Ilm al-fiqh – »dirayah« und »riwayah«
Kufah
Der Träger der Zahnbürste
Malik al Aschtar und der Sturz 'Uthmans
Schi'a
Kapitel V. Protowissenschaften
Imamat
Der Reiz fremden Wissens
Trennung politischer und geistiger Führerschaft
Institutionalisierung der Lehre
Moscheen als Schulen
Waqf – Fromme Stiftungen
Früher Wissenstransfer
Dschabariten und Qadariten
Dschahm bin ?afwan
?asan al-Ba?ri
Mu'tazila
Der ewige Koran
Ist der Kalif ein »kafir«?
Wa?il ibn 'A?a'
»?Ilm al Kalam« – die Wissenschaft vom Wort
Eine Wissenschaft von der Natur
Die Dialektik – eine Untersuchungsmethode
Politik und Religion
Machtübernahme
Wissen ist Macht
»Idschma'« und »khilaf«
Bagdad
»Mi?na«
Weitläufige Übersetzertätigkeit
Die Entdeckung antiker Wissenschaften
Disputation
Die Bedeutung der Dialektik
Kapitel 6. Das goldene Zeitalter des Islam
Herrschaftswissen und Legitimation
Der Zeiten Wind
Al-Kindi
Basis jeder Wissenschaft
Über Strahlen
Astrologie und Optik
Theorie und Praxis
Theorie des Wissens
Platonische Tradition
Bayt al ?ikmah
Die Wirkung von Paradigmen und Institutionen
Dialektik und Astrologie
Indische Erbstücke
Frühe Mitglieder des Bayt al ?ikmah
?unayn ibn Is?aq
Mussa ben Schakir
Ya?ya ibn Abi Man?ur
Banu Mussa: Mo?ammed ibn Mussa
Thabit ibn Qurra
A?mad ibn Mussa ibn Schakir und ?asan ibn Mussa ibn Schakir
Mu?ammad ibn Musa al-Khwarizmî
Gegenwind
Beginn einer »Ent-Hellenisierung«
Schari'a
Al-Asch?ari und al-Ghazali
Zwischenstück Retrospektive und Prospektive
Kapitel 7. Denkstile
Retrospektive
Die Hinterlassenschaft der Hellenen
Arabien
Schwächen des Systems
Legitimationsprobleme
Politische Legitimation
Theologie der Kontroverse
Die Leier des Zeitenwinds
Die Qualität der Zeit
Horoskopie und Astrologie
Atomismus
Denkstil und Denkkollektiv
Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache
Grenzen des Erkenntnisgewinns
Akkulturation eines Denkstils
Die Liebe zur Wahrheit
Folgen der »Ent-Hellenisierung«
Bruch mit Athen
Teil III Der Zeiten Wind
Kapitel 8. Gegen den Wind
Ibn Zakariya ar-Razi
Experimentelle Medizin
Abu Na?r Mo?ammed ibn Mo?ammed al-Farabi
Politik und Philosophie
Glückseligkeit als höchstes Gut
Kritik am Syllogismus
Verzahnung von Politik und Wissenschaft
Eine unvollständige Welt
Was als wahr gelten könne
Abu 'Ali Mohammed ibn al-Hasan ibn al-Haytham
Der Arrestant
Hinterlassenschaft
Astronomie und Optik
Kitab fi al Mana?ir – »Die große Optik«
Das Drehen des Zeitenwinds
Kapitel 9. Schukuk – der Lohn des Zweifels
»… theoretisches Wissen ist nichts …«
Schukuk
Der zweite Lehrer
Exkurs
Menschlicher Wille verändert die Welt
Die Welt in unsren Köpfen
Erfahrung und/oder Lehre
Die Sonderrolle der Mathematik
Grundannahmen der Mathematik
Falsche Wirklichkeiten
Anschauungsbeispiel
Eine bessere Welt herstellen
Wiedergeburt
»Zweifel an Ptolemäus«
»Fi Daw al-Qamar« – »Über das Licht des Mondes«
Al-Haythams Thesen
Al-Haythams Empirie
Das Forschungsergebnis
Akkulturation der Wissenschaft
Evaluation
Erfordernisse technischer Perfektion
Individualisierung
Kapitel 10. Akkulturation
Experimente beweisen wenig
Theoriegeladenheit von Experimenten
Realabstraktionen herstellen
Die Beschaffenheit von Kontinua
Dogmen der Lehre
Phantasmata der Laboratorien
Verschmelzung von Politik und Philosophie
Realabstraktionen
Herstellen von Vorstellung
Aufführungen und Utopien
Vor-Gestell-t
Der tiefe Sinn des Wettbewerbs
Wahrheit
Zur Methode der Abstraktion
Vom Ursprung der Prinzipien – Bildungsprogramme als Kulturträger
Prinzipien der Lehre – Bildung und Schulen
Agoge
Paideia
Das eigentliche Ziel von Bildung: Glückseligkeit
Und Rom?
Der zweite punische Krieg
Kriegsbeute
Kultur des Alltags
Theorie und der Geist der Muße
Kultur und Milieu
Synopsis Band I und Band II
Soziomorphie und soziale Morphologie
Retrospektive
Historische Hintergründe
Islam
Mikroebene
Makroebene
Akkulturation
Wissenschaft, Politik und Kultur
Epilog
»Kastalien« und die »Res Publica«
Neugeburt und Wiedergeburt
Renaissance
Aufklärung
Industrialisierung
Ein neues Paradigma der Forschung
Wahrscheinlichkeit und Statistik
Die École Polytechnique
Gründung einer neuen Wissenschaft an der École Polytechnique
Quantenphysik
Vorwärts zu Aristoteles
Was können wir aus all dem lernen?
Politische und intellektuelle Hegemonie
Von al-Farabi lernen?!
Produktion unwichtiger Güter
Disziplinierung und Standardisierung
Die Realität irrealer Abstraktionen
Der langen Rede kurzer Sinn
Appendix
Beweise des Archimedes
Die Quadratur der Parabel
Der Zylinderhuf
Quadratische Gleichungen
Euklid
Al-Khwarizmi
Literatur
Recommend Papers

Die Wiedergeburt der Wissenschaften im Islam: Konsens und Widerspruch (idschma wa khilaf)
 9783839431962

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Manfred E. A. Schmutzer Die Wiedergeburt der Wissenschaften im Islam

1

Manfred E.A. Schmutzer (Univ.-Prof. em., Dipl.-Ing., Dr. phil., PhD) ist Sozialwissenschaftler im Bereich Wissenschafts- und Technikforschung. Zu seinen Veröffentlichungen zählen »Ingenium und Individuum« (1994) und »Die Geburt der Wissenschaften. Panta Rhei« (2011).

2

Manfred E. A. Schmutzer

Die Wiedergeburt der Wissenschaften im Islam Konsens und Widerspruch (idschma wa khilaf)

3

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © transcript Verlag 2015 Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Satz: Wolfgang Barus, Frankfurt am Main Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3196-8 PDF-ISBN 978-3-8394-3196-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

4

Inhalt Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Wissenschaft ist Politik – Scientia et Potentia in idem coincidunt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Schulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Magna Graecia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Das Ganze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Soziomorphismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Denkzeuge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Das Ende der antiken Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Ausblicke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Happy Birthday . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Teil I Erbe und Erben kapitel i Das vergessene Vermächtnis der Hellenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Archytas von Tarent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Archytas als Mathematiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Wissenschaftstheorie und Naturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . 49 Harmonienlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Oppositionelle Gastfreunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Wissenschaft und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Sophia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Archimedes von Syrakus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Theoretiker oder Praktiker? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Schwimmende Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Unterschiedliche Beweisverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Die Quadratur der Parabel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Der Zylinderhuf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Eine Vielheit …? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 … oder das Ganze? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80

5

kapitel ii Das unvergessene Erbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Astronomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Anfänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Die Erde im Mittelpunkt des Kosmos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Entstehungsgeschichte des geozentrischen Systems . . . . . . . . . . 86 Die Struktur des Almagest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Evaluation des ptolemäischen Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Die Sonne – Zentrum des Kosmos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Die Formel des Kopernikus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Der Kult der »rettenden Götter« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Die antike Medizin – Hippokrates, Galenus und Celsus . . . . . . . . 101 Diokles von Karystos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Praxagoras von Kos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Herophilos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Philonos aus Kos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Serapion aus Alexandrien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Erasistratos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Aulus Cornelius Celsus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Galenos von Pergamon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 kapitel iii Unwillige Erben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Zwei oder drei Erben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Rückkehr zu heiliger Herrschaft – Byzanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Zeitenwende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Der »Nika«-Aufstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Codex Juris Civilis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Geistesleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Die germanischen Königreiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Das Reich der Franken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Christentum und Lehenswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Private Gewalt und »Entstaatlichung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 »Verländlichung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Recht und Gesetz verschwinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Retter des Abendlands – Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Solon und der Prophet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Athen und Mekka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Yathrib . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150

6

Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Kognitive Voraussetzungen für Existenz und Entwicklung von Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Teil II Unter der Fahne des Propheten kapitel iv Geburt eines Rechtsstaats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Die Charta von Yathrib . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Moḥammed – Staatsgründer und Prophet . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Die Nachfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Ahl al Bayt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Haschemiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Der »Schüler« des Vaters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Der zweite Kalif – ʿUmar ibn al-Khaṭab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Bekehrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Expansion des Reichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Verwaltung des Reichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Al-Faruq . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 ʿUthman ibn ʿAffan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Uṣul Al-Fiqh – Aufbruch zu einer islamischen Wissenschaft . . . . . 187 Eine notwendige Bedingung für die Genese von Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Institutionalisierung des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Ḥadithe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Widersprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Herrschaft des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Die Wissenschaften der Ḥadithe (Uluumul-ḥadith) . . . . . . . . . . 197 Malik ibn Anas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Rechtsgelehrte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 ʿIlm al-fiqh – »dirayah« und »riwayah« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Kufah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Der Träger der Zahnbürste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Malik al Aschtar und der Sturz ʿUthmans . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Schiʿa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208

7

kapitel v Protowissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Imamat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Der Reiz fremden Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 Trennung politischer und geistiger Führerschaft . . . . . . . . . . . . 215 Institutionalisierung der Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Moscheen als Schulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Waqf – Fromme Stiftungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Früher Wissenstransfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Dschabariten und Qadariten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Dschahm bin Ṣafwan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Ḥasan al-Baṣri . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Muʿtazila . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Der ewige Koran . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Ist der Kalif ein »kafir«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 Waṣil ibn ʿAṭaʿ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 »ʿIlm al Kalam« – die Wissenschaft vom Wort . . . . . . . . . . . . . 232 Eine Wissenschaft von der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Die Dialektik – eine Untersuchungsmethode . . . . . . . . . . . . . . 233 Politik und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 Machtübernahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Wissen ist Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 »Idschmaʿ« und »khilaf« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Bagdad . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 »Miḥna« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 Weitläufige Übersetzertätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 Die Entdeckung antiker Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Disputation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Die Bedeutung der Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 kapitel vi Das goldene Zeitalter des Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 Herrschaftswissen und Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 Der Zeiten Wind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 Al-Kindi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 Basis jeder Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Über Strahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 Astrologie und Optik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Theorie und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 Theorie des Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Platonische Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

8

Bayt al Ḥikmah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Die Wirkung von Paradigmen und Institutionen . . . . . . . . . . . 279 Dialektik und Astrologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Indische Erbstücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 Frühe Mitglieder des Bayt al Ḥikmah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Ḥunayn ibn Isḥaq . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 Mussa ben Schakir . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 Yaḥya ibn Abi Manṣur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Banu Mussa: Moḥammed ibn Mussa . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 Thabit ibn Qurra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 Aḥmad ibn Mussa ibn Schakir und Ḥasan ibn Mussa ibn Schakir . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Muḥammad ibn Musa al-Khwarizmî . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Gegenwind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Beginn einer »Ent-Hellenisierung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Schariʿa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Al-Aschʿari und al-Ghazali . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Zwischenstück Retrospektive und Prospektive kapitel vii Denkstile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Retrospektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Die Hinterlassenschaft der Hellenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Arabien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 Schwächen des Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 Legitimationsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 Politische Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 Theologie der Kontroverse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Die Leier des Zeitenwinds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Die Qualität der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Horoskopie und Astrologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Atomismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Denkstil und Denkkollektiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 Grenzen des Erkenntnisgewinns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 Akkulturation eines Denkstils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 Die Liebe zur Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 Folgen der »Ent-Hellenisierung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 Bruch mit Athen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 9

Teil III Der Zeiten Wind kapitel viii Gegen den Wind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Ibn Zakariya ar-Razi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Experimentelle Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Abu Naṣr Moḥammed ibn Moḥammed al-Farabi . . . . . . . . . . . . 360 Politik und Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 Glückseligkeit als höchstes Gut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 Kritik am Syllogismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 Verzahnung von Politik und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 370 Eine unvollständige Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 Was als wahr gelten könne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 Abu ʿAli Mohammed ibn al-Hasan ibn al-Haytham . . . . . . . . . . 375 Der Arrestant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Hinterlassenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Astronomie und Optik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 Kitab fi al Manaẓir – »Die große Optik« . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Das Drehen des Zeitenwinds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 kapitel ix Schukuk – der Lohn des Zweifels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 »… theoretisches Wissen ist nichts …« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Schukuk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 Der zweite Lehrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 Exkurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 Menschlicher Wille verändert die Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 Die Welt in unsren Köpfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 Erfahrung und/oder Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Die Sonderrolle der Mathematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Grundannahmen der Mathematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Falsche Wirklichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 Anschauungsbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Eine bessere Welt herstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 Wiedergeburt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 »Zweifel an Ptolemäus« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 »Fi Ḍaw al-Qamar« – »Über das Licht des Mondes« . . . . . . . 414 Al-Haythams Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Al-Haythams Empirie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 Das Forschungsergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 Akkulturation der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 10

Evaluation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Erfordernisse technischer Perfektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Individualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 kapitel x Akkulturation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 Experimente beweisen wenig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 Theoriegeladenheit von Experimenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 Realabstraktionen herstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 Die Beschaffenheit von Kontinua . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 Dogmen der Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 Phantasmata der Laboratorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438 Verschmelzung von Politik und Philosophie . . . . . . . . . . . . . . 439 Realabstraktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442 Herstellen von Vorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 Aufführungen und Utopien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 Vor-Gestell-t . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Der tiefe Sinn des Wettbewerbs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 Zur Methode der Abstraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 Vom Ursprung der Prinzipien – Bildungsprogramme als Kulturträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 Prinzipien der Lehre – Bildung und Schulen . . . . . . . . . . . . . . 452 Agoge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 Paideia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 Das eigentliche Ziel von Bildung: Glückseligkeit . . . . . . . . . . . 458 Und Rom? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Der zweite punische Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 Kriegsbeute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 Kultur des Alltags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Theorie und der Geist der Muße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 Kultur und Milieu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470 Synopsis Band I und Band II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 Soziomorphie und soziale Morphologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 Retrospektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 476 Historische Hintergründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478 Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 Mikroebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480 Makroebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 Akkulturation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484 Wissenschaft, Politik und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486 11

Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 »Kastalien« und die »Res Publica« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 Neugeburt und Wiedergeburt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490 Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492 Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494 Industrialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 Ein neues Paradigma der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 496 Wahrscheinlichkeit und Statistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498 Die École Polytechnique . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500 Gründung einer neuen Wissenschaft an der École Polytechnique . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 Quantenphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504 Vorwärts zu Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 Was können wir aus all dem lernen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508 Politische und intellektuelle Hegemonie . . . . . . . . . . . . . . . . . 508 Von al-Farabi lernen?! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 Produktion unwichtiger Güter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 Disziplinierung und Standardisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516 Die Realität irrealer Abstraktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 Der langen Rede kurzer Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 Appendix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 Beweise des Archimedes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 Die Quadratur der Parabel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 Der Zylinderhuf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526 Quadratische Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528 Euklid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528 Al-Khwarizmi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 530 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531

12

Prolog Wie der Titel dieser Arbeit – genauso wie jener des ersten Bandes, »Die Geburt der Wissenschaften – Panta Rhei« – bereits zum Ausdruck bringt, ist mein zentrales Anliegen weniger eine Kompilation wissenschaftlicher Abhandlungen – die gibt es in ausreichender Zahl –, sondern ein Ausloten derjenigen Randbedingungen, die Wissenschaften entstehen und verschwinden lassen. Ich vermeide es auch, den Begriff »Wissenschaft« zu definieren. Nicht nur in verschiedenen Sprachen, sondern auch zu verschiedenen Zeiten wird darunter Unterschiedliches subsumiert. Diese Differenzen sind zugleich Ausdruck gesellschaftlicher Differenzen, weshalb wir immer wieder feststellen müssen, dass bestimmte Ausprägungen unterdrückt, bekämpft und verdrängt werden und ihnen folglich auch die Bezeichnung »Wissenschaft« versagt bleibt. Auch unsere Zeit ist davor nicht gefeit. Manchmal sind es nur ethnozentrische Vorurteile, die dafür verantwortlich sind. Meistens aber bewirken dies politische und ideo­logisch verbrämte Interessenslagen. Genau diese Problematik untersucht der vorliegende Band. Er endet, so wie der erste Band, daher auch dort, wo sich eine Version von Wissenschaft etabliert hat und zu dem wurde, was T.S. Kuhn als »normale Wissenschaft« bezeichnet hat. Zentrales Thema meiner Untersuchungen ist im vorliegenden Band die Entstehung arabischer Wissenschaften und deren interne Dynamik. Meine eigenen Kenntnisse dieser Sprache sind bescheiden. Ich musste mich daher von detaillierten Arbeiten anderer leiten lassen, wobei ich im Rahmen des Möglichen immer bemüht war, mir bedeutsam erscheinende Aussagen bestmöglich zu überprüfen. Bei diesen Bemühungen beschreitet man schnell Terrain, das quasi »vermint« ist. Die Übertragungen arabischer Begriffe etwa und einer Schrift, die zahllose Eigenheiten aufweist, die europäischen Sprachen fremd sind, lässt immer Deutungsspielräume und Transkriptionsmöglichkeiten offen, die von verschiedenen Autoren unterschiedlich genutzt werden. Gerade bei den notwendigen Transkriptionen zeigen sich schnell solche Schwierigkeiten. Es existiert zwar eine Norm, wie arabische Schriftzeichen in die lateinische Schrift zu übertragen sind. Diese Norm ist für Kenner der Sprache hilfreich, für alle anderen ist sie es nicht, denn es werden dann nur unbekannte Zeichen durch andere unbekannte Zeichen ersetzt. Ich habe daher versucht, hier einen Kompromiss einzugehen. Manche Worte, wie etwa »Koran«, sind in einer bestimmten Schreibweise eingebürgert, obwohl sie nicht jener Systematik entsprechen. Ich habe beschlossen, 13

prolog solche Gepflogenheiten aus Gründen leichter Verständlichkeit beizubehalten. Manche arabische Buchstaben lassen sich auch lautmalerisch wiedergeben, wie etwa »dsch« oder »ch«. Nach der Norm würden sie anders repräsentiert. Ich habe mich für die erste Variante entschieden. Wieder andere Zeichen entsprechen keinem bekannten Phonem. Diese habe ich nach üblichen Regeln transkribiert, etwa »ain« mit »ʿ« oder »hamza« mit »‘«. Ich hoffe dadurch die Lesbarkeit erhöht zu haben, denn die Arbeit will nicht nur einen engen Kreis von Expertinnen und Experten, sondern ein breit interessiertes Publikum ansprechen. Mein Anliegen, die Soziomorphie wissenschaftlicher Erkenntnisse herauszuarbeiten, machte es unvermeidbar, immer wieder theoretische Ansätze aus den Sozialwissenschaften einzuarbeiten, die nicht als Allgemeinwissen vorausgesetzt werden dürfen. Das kann bedeuten, dass sich Fachkollegen dabei etwas langweilen könnten. Meine Intention war aber, nach Möglichkeit auch wissbegierige Studierende anzusprechen, und demnach erschien es notwendig, auch manche Details zu erklären, die einem ausgewiesenen Fachpublikum selbstverständlich erscheinen mögen. Dasselbe Anliegen macht Vergleiche zwischen unterschiedlichen Milieus und ihren Kulturen als Methode notwendig. Daraus ergibt sich, dass Beispiele aus unterschiedlichen historischen Epochen gebracht und besprochen werden müssen. Diese Methode ist einer positivistischen Geschichtswissenschaft suspekt, das ist mir bekannt. Ich darf aber daran erinnern, dass prominente Soziologen wie M. Weber, E. Durkheim oder G. Simmel genauso vorgegangen sind. In Zeiten, wo wissenschaftliche Forschung überwiegend im Kontext wirtschaftlicher Verwertbarkeit gefördert wird, bleibt die aufwändige Arbeit für ein Projekt wie das vorliegende zur Gänze unremuneriert. Dass nicht auch noch die Kosten der Publikation zu Lasten des Autors gehen, verdankt sich einer verständnisvollen Unterstützung meiner Universität, der Technischen Universität Wien, der ich somit meinen aufrichtigen Dank aussprechen möchte. Namentlich möchte ich dafür besonders meinem Kollegen, Vizerektor für Forschung, Univ. Prof. J. Fröhlich, für seinen unermüdlichen Einsatz danken. Dank schulde ich auch meinen Freunden, H.J.H. Hendrich und H. Wegscheider dafür, dass sie geduldig unfertige Manuskripte gelesen haben und mich auf zahlreiche Mängel aufmerksam gemacht haben. Noch aufwändigere Arbeit hat meine Frau, E. Schmutzer-Hollensteiner, geleistet, die ich nicht nur deshalb jederzeit sofort wieder ehelichen würde. Manfred E.A. Schmutzer Bad Fischau, im Februar 2015

14

DER TECHNISCHEN UNIVERSITÄT WIEN ZUM 200-JÄHRIGEN JUBILÄUM GEWIDMET

»Es ist genug, die Wissenschaft als möglichst getreue Anmensch­ lichung der Dinge zu betrachten […]« F. Nietzsche, »Die fröhliche Wissenschaft«(112)

15

16

Einleitung Wissenschaft ist Politik – Scientia et Potentia in idem coincidunt Im ersten Band dieser Arbeit habe ich den Prozess der Entstehung von Wissenschaft in Griechenland als »Geburt« geschildert und die notwendigen und hinreichenden Bedingungen genannt, die für diese Entwicklung den Ausschlag gaben. Zugleich wurde aufgezeigt, dass sich im Laufe dieses Prozesses ein Streit darüber entspann, welcher »Glaubensrichtung« dieses Neugeborene angehören soll. Anhand dieser »frühkindlichen« Auseinandersetzung wurde deutlich, wie wenig Wissenschaft als objektives und neutrales Verfahren der Welterkenntnis zu betrachten ist. Genau diese Vorstellung wird aber von vielen maßgeblichen Vertretern in sämtlichen Forschungs- und Wissensgebieten propagiert. Doch sie dürften irren, wenn sie meinen, der alten Weisheit »veritas filia temporis«1 ein Schnippchen schlagen zu können. Welterklärung und -erkenntnis ist immer auch von Interessen geleitet, und die Ergebnisse hängen stets von jenem Standpunkt ab, von dem aus die Welt betrachtet wird. Dieser Standpunkt ist in einer sozialen Landkarte verortet und schafft eine vergleichbare Voraussetzung wie der berühmte archimedische Punkt, der nötig ist, »um die Welt aus den Angeln zu heben«. Mit Festlegung eines derartigen Standpunktes sind Interessenslagen verknüpft, die manchmal gezielt und bewusst, manchmal nur dumpf erahnt handlungsanweisend wirken. Interessen werden politisch realisiert, da auch sie sich aus diesen unterschiedlichen Standpunkten ergeben und folglich kontrovers sind. Demnach ist z.B. die seit der Gründung der »Royal Society« in England verbreitete These von einer »neutralen und objektiven« Wissenschaft ein Mythos, der selbst, wie sich leicht zeigen lässt, aus politischem Kalkül erfunden wurde2. Im Fall der antiken, besser griechischen Wissenschaften handelt es sich beispielsweise überwiegend um den Interessenskonflikt zwischen 1 Die »Wahrheit ist eine Tochter der Zeit«, ein Ausspruch des frühmittel­ alterlichen Gelehrten Isidor von Sevilla. 2 Die Gründung einer »Royal Society« erfolgte 1662 nach Rückkehr von Charles II. aus dem Exil in Frankreich. Die Erlaubnis dazu erhielten die Propagenten nur unter der Bedingung, dass sie bereit wären, sich jeglicher politischer Tätigkeit zu enthalten. Daraus resultiert obige Vorstellung von »Neutralität« und »Objektivität«.

17

einleitung den alten, lange Zeit politisch dominanten aristokratischen Sippen und – wenn man es zum leichteren Verständnis so bezeichnen will – einer neuen »kleinbürgerlichen Schicht« von Kleinunternehmern und Taglöhnern, den Banausen (βαναυσος) und Thetes (θητοι), die im Unterschied zur Aristokratie ein demokratisches Staatswesen favorisierten. Am deutlichsten lässt sich dieser Konflikt an der Geschichte Athens nachzeichnen, doch er fand auch in zahlreichen anderen Städten statt, insbesondere in den neu gegründeten Kolonien. Dieser Interessenskonflikt reflektierte sich u.a. auch in den damaligen Einstellungen zur Natur. Nicht zufällig werden die ersten Wissenschafter heute als »Naturphilosophen« bezeichnet. Sie waren gleich aus mehreren Gründen an Naturerkenntnis interessiert. Nicht nur, weil Händler und Handwerker aus naheliegenden Gründen an Technischem interessiert waren und daher die Welt mithilfe von empirischen und sinnlichen Erfahrungen zu erklären und – in des Wortes doppelter Bedeutung – zu er-fassen versuchten. Aufgrund solcher Erfahrungen wurde analog dazu die soziale Welt anders als von aristokratischen Zeitgenossen gewünscht, gestaltet und passende gesetzliche Vorgaben entsprechend strukturiert und legitimiert. Aristokraten schätzten hingegen »handgreifliche« Erkenntnisse vergleichsweise gering, weil sie auch die Thetes und Banausen gering schätzten. Sie legten u.a. größeren Wert auf gekonnte und überzeugende sprachliche Darstellungen, weil solche seit je einen wesentlichen Bestandteil ihrer Herrschaftsmittel bildeten3. Dies lässt sich schon in der Ilias erkennen. In politischen Diskursen, bei unterschiedlichsten Entscheidungen und in einer Versammlung, wo Beschlüsse zu treffen sind, so wie bei der praktischen Haushaltsführung im Oikos, war eine treffsichere rhetorische Formulierung stets von hervorragender Bedeutung. Die materielle Umsetzung und Ausführung von sprachlich artikulierten Anweisungen und Befehlen fiel hingegen in den Tätigkeitsbereich der Subalternen. In erkenntnismäßiger Hinsicht produzierte diese aristokratische Grundeinstellung ein dominantes Interesse an Theorie, oder eben an Formulierungen und Begriffen bzw. an Rhetorik. Das heißt nun nicht, dass es nicht auch in Demokratien von Vorteil ist, die Kunst der Rhetorik zu beherrschen. Doch Gewichtung und Kenntnis davon wird anders verteilt 4. Diese basalen Vorgaben aus der Praxis der Lebensumstände fanden ihren konkreten Ausdruck und Widerpart in mannigfacher Weise. Auch das oft zitierte, vorrangige Interesse Platons und seiner Schule an der Geometrie ergab sich beispielsweise daraus. Für Platon und seine Schü3 Nicht zufällig waren daher Priesterämter überwiegend in ihrer Hand. 4 Siehe dazu Kapitel X in diesem Band.

18

wissenschaft ist politik ler hatte einzig eine ideale Welt, unbeeinflusst von Wandel und Empirie, Bestand. Tatsächlich sei, so meint er, nur eine solche unveränderliche Welt wahrer Erkenntnis zugänglich. Deshalb widmeten sich er und seine der Aristokratie nahestehenden Jünger überwiegend jener »ewig gültigen« Wissenschaft, die heute als Geometrie bezeichnet wird. Ihre Erkenntnisobjekte gehören der unveränderlichen Welt der Ideen an. Allein schon deshalb ist sie konservativ und will dies auch aus politischen Überlegungen sein. Anschaulich manifestieren sich diese Grundtendenzen u.a. auch in der aristotelischen Vorstellung einer Ursachenhierarchie. Aristoteles, der unübertreffliche Meister aus Stagira, war ein Anhänger monokratischer Herrschaft, ein »monokratischer Metöke«, wie ihn manche titulieren, und folglich kein Anhänger der Demokratie. Wie ich im vorausgehenden Band gezeigt habe, entwickelte sich das Erklärungskonzept einer »Ursache« aus einem gesetzmäßigen Rechtsverfahren, das »Schuld«, griechisch aitia (αιτια), auf der Basis verfassungsmäßig abzuwickelnder Gerichtsverfahren und nicht aufgrund rätselhafter »Gottesurteile« zuweist. Genau dasselbe Wort »aitia« bezeichnet in der Folge auch den Ursachenbegriff 5. »Schuld ist eine Schuld«. Eine Schuld ist die Ursache, der Ausgangspunkt eines Verfahrens und des Urteils. Einige Zeit nach dieser »Erfindung« von Ursachen6 führte Anaxagoras als Erster7 ein absichtsvoll gestaltendes Prinzip, mit »Logos« bezeichnet, als erste Ursache für alles Werden in der Welt ein. Platon 5 Siehe dazu: M. Schmutzer (2011), Kap. III. 6 E. Schrödinger (1932) würde »[…] hier hinzufügen, dass es nach meinem Dafürhalten [d.h.: seinem, M.S.] mit der Kausalität genau so steht wie mit der Geometrie. Experimentell wird sich niemals entscheiden lassen, ob Kausalität in der Natur »gilt« oder »nicht gilt«. Das Verhältnis der Abhängigkeit von Ursache und Wirkung ist, wie schon Hume erkannt hat, nicht etwas, das wir in der Natur vorfinden, sondern es betrifft die Form unseres Nachdenkens über die Natur. Wir haben volle Freiheit, diese Form beizubehalten oder abzuändern, je nachdem es uns bequem ist, d.h. je nachdem die gesamte Naturbeschreibung einfacher ausfällt.«(m.H., M.S.; S. 50/51). Doch mit dieser Feststellung allein gibt sich der Physiklaureat noch keineswegs zufrieden. Etwas später (ibid.) verweist er nämlich nachdrücklich auf die Bedeutung von kulturbedingten Interessenslagen, die die Entwicklung wissenschaftlicher Forschung und Theoriebildung prägen. Das gilt ganz allgemein. Doch im Fall der frühen griechischen Phase dominierte ein verbreitetes Interesse an der Schaffung von »Harmonia« (αρµονια) und von Ordnung (κοσµος) in der Polis und im Kosmos. 7 Das Wort »logos« wird allerdings bereits von Heraklit verwendet, doch dessen Bedeutungsinhalt unterscheidet sich wesentlich von dem des Anaxagoras.

19

einleitung verwandelte später, auch unter Bezug auf Heraklit, diesen Logos in ein »gottähnliches« Wesen, das Ursache allen Seins und Werdens sein sollte. Dessen Schüler, aber auch Kritiker Aristoteles erfindet später eine Abfolge von Ursachen eines dadurch begründeten Werdens. Dessen letzte Triebkraft ruht in einer Zielvorgabe, Telos genannt, welche Werden und Wandel der Welt bestimmt. Diese »Triebkraft« wird von Aristoteles zur letzten, alles bestimmenden Ursache erhoben, »he aitia ou eneka« (η αιτια ου ενεκα), übersetzt »die Ursache des Weswegen« etwas ist oder wird. In der heute gängigen Diktion wird diese Ursache lateinisch als »causa finalis«, deutsch als »Zweckursache« bezeichnet. Um allerdings einen Zweck realisieren zu können, werden von dem monokratischen Metöken noch drei weitere Ursachen in Dienst gestellt. Sie gliedern sich in eine »causa materialis« am untersten Ende der so entstehenden Pyramide, darüber gestülpt eine »causa formalis«, gefolgt von der »causa efficiens«. Die Bedeutung dieser Bezeichnungen ist selbst erklärend. Die Art des Werdenden wird vom Material verursacht, das Verwendung findet (Holz, Fleisch, Metall etc.), zweitens der Form oder Idee, die es erhalten soll (Becher, Pferd etc.), und schließlich vom Prozess der Produktion bestimmt, etwa dem Schmied, der den Becher gießt oder hämmert. Bei natürlichen Dingen, wie etwa einem Pferd, ist dieser Gestaltungsprozess des Werdens, die causa efficiens, bereits in der Idee oder Form selbst enthalten, es braucht demnach anders als bei dem erwähnten Becher keine menschliche Beihilfe um zu werden, zu reifen und auch zu vergehen. Es ist naheliegend anzunehmen, dass bei menschengemachten Produkten ein Zweck am Beginn des Entstehungsprozesses steht. Doch auch bei naturgegebenen Dingen, jenen, die die »causa efficiens« in sich selbst tragen, wirkt für Aristoteles stets auch eine letztgültige Ursache, eben die »causa finalis«. Der Zweck besteht darin, das höchste Gut – das ist Perfektion – zu erreichen. Diese Perfektion wird griechisch gleichfalls mit »Telos« bezeichnet. Das höchste Ziel, die Perfektion, ist zugleich der Zweck.8 Dieser dominiert als letzte Ursache alles und entspricht mit dieser Zielvorgabe der Rolle eines Befehlshabers oder Auftrag­gebers. Wir finden somit auch hier jene soziale Welt wieder, die nicht selbst Hand anlegend herstellt, sondern davon abstrahiert, aber mittels sprachlicher Anweisungen abstrakt Handlungen setzt bzw. veranlasst, die andere auszuführen haben. 8 Es ist vielsagend und fügt sich in jene Überlegungen, die ich im Epilog ent­ wickeln werde, dass der sich daraus ergebende Perfektionismus heute nicht länger als erstrebenswertes Ziel, sondern als Behinderung von Innovation und persönlicher Freiheit verstanden wird. Siehe dazu: R.M. Bonelli (2014).

20

wissenschaft ist politik Sprachliche Abstraktion war sichtlich für die aristokratische Welt von bestimmendem Interesse. Daher gilt ihr auch die Erzeugung von Begriffen, wie dies besonders im Platonismus betrieben wurde, sowie die Setzung von Definitionen in aristotelischer Manier oder die Formulierung von Theorien und nicht von realen Objekten als höchster Inbegriff wissenschaftlichen Tuns. Da die Rolle eines obersten Befehlshabers oder Königs auch in jener Welt bestehen bleiben musste, wo Tiere, Pflanzen, Menschen aus sich selbst, also ohne menschliches Zutun oder Befehl entstanden, musste eine Instanz gefunden oder geschaffen werden, die auch in diesen Fällen als oberster »Anordner« verursachend wirken konnte. Demnach musste eine neue immaterielle Macht, wie sie Religionen anbieten, geschaffen werden, um die damals im Schwinden begriffene Bedeutung von Religion wieder herzustellen. »Wieder herstellen« deshalb, weil die sophistischen Naturphilosophen der olympischen Religion nicht mehr länger Bedeutung beimessen wollten. Genau diesen politisch wirksamen Schritt in Richtung auf eine monotheistische Religion setzte Platon, indem er ein oberstes Gutes, griechisch »aristeus« (αριστευς), das »Beste«9, als einzige, also monotheistische Gottheit propagierte10. Der sich daraus ergebenden Sichtweise folgte schließlich auch Aristoteles, der der Aristokratie stets nahestand. Indem er ein »telos« (τελος) – ein Ziel oder einen Zweck – als oberste und letzte Ursache an die Spitze seiner Ursachenpyramide stellte, bestimmte er im Telos im Sinne Platons einen neuen Deus11 (lat.; Gott). Dieser Schritt war allerdings nicht seine einzige wegweisende Leistung. Es lag auch im manifesten Interesse seiner Zeit, über jene aristokratische Kunst meisterhaft zu verfügen, die pauschal als Rhetorik bezeichnet wird. Aristoteles entwickelte sie – keinesfalls als Erster – mithilfe seiner syllogistischen Logik und Dialektik zu einer vollendeten Technik. Beide, Logik und Dialektik, wurden damals der Rhetorik als Teildisziplinen zugerechnet. Ohne hier nochmals im Detail auf alle Zusammenhänge einzugehen – auch sie sind im ersten Band nachzuschlagen – wurde diese für die Praxis bedeutende Kunst in den Schulen der Platoniker und im Lyceum des Aristoteles zusätzlich auch als Lehr­ methode verwendet. Heute würde man diese Vorgehensweise als »learning by doing« bezeichnen.

9 Davon leitet sich »Aristo-kratie« her, zugleich bedeutet »aristeus« auch »Fürst«. 10 Die dazu nötige philosophische und politische Evolution wird im ersten Band detailliert dargestellt. 11 »δεος« oder »∆εους« bedeutet »Furcht, Angst«, »∆ευς« bezeichnet Zeus.

21

einleitung Daraus ergab sich schließlich ein didaktisches Verfahren, das im alexandrinischen Museon, der bedeutendsten Nachfolgeinstitution der platonischen Akademie, durch Euklid zum dominierenden Beweisverfahren hochstilisiert wurde. Mit diesem Beweisverfahren erhielt die antike Wissenschaft ein Instrument – sein »Organon«, wie es später genannt wurde –, das den Übergang von der anfänglich »revolutionären Phase«, wenn wir nun die Diktion von Thomas S. Kuhn (1962) hier und im Folgenden bemühen, zur »normalen Wissenschaft« ermöglichte. Nachdem dieser Schritt der »Kanonisierung«12 gesetzt war, wurde über Jahrhunderte der syllogistische Schluss zum Kriterium wissenschaftlichen Beweisens und zum dominanten Legitimationsinstrument wissenschaftlichen Arbeitens. Mit dieser Präferenz manifestiert sich ein eklatanter Unterschied zu den empirisch orientierten Anhängern demokratischer Ordnung im Staat, die von der Partei der Aristokraten in Athen zunächst als »Sophisten«13 und nicht selten als Gottesleugner diskreditiert wurden. Folge solcher Stigmatisierung war, dass sich deren Sichtweise in Athen nicht durchsetzen konnte und ihre mannigfaltigen Beiträge zur Entwicklung der antiken Wissenschaften häufig übersehen und unterschätzt werden14. Wie ich in den folgenden Kapiteln zeige, galt diese Norm nicht überall. Manche Poleis in Magna Graecia beschritten andere Pfade. Ihre weitere Entwicklung wurde allerdings durch Rom beendet. Ich werde daher im Folgenden zeigen, dass in manchen Teilen der hellenistisch-griechischen Welt die rigide Abwertung empirischen Wissens nicht in der gleichen Weise betrieben wurde wie in Athen. Trotzdem wurde spätestens nach dem Untergang der süditalienischen Stadtstaaten der Anspruch auf eine wissenschaftlich begründete Aussage überwiegend auf die aristotelische Argumentationsweise reduziert (s.u.). Selbst eine praxisnahe Disziplin wie Medizin stützte sich auf ein solches Beweisverfahren. Bestes Beispiel dafür liefert Galenus, obwohl er andererseits ein Verehrer des empirisch orientierten Hippokrates von Kos war; selbst Thomas Hobbes berief sich bei seiner Ablehnung empirischer Experimente als wissenschaftliche Beweise nach nahezu zweitausend Jahren noch immer darauf. Dieser historische Pfad soll weiter unten detailreicher dargestellt werden.

12 Siehe dazu M. Schmutzer (2011), Band I. 13 »Nicht der reinen Theorie gilt das Interesse des Sophisten, sondern der Praxis, der angewandten Erkenntnis.« (J. Rohls, 1991, S. 41). 14 Siehe dazu Kapitel I in diesem Band.

22

schulen

Schulen Für die Etablierung wissenschaftlicher und philosophischer Erkenntnisse sind »Schulen« und Lehrbücher von herausragender Bedeutung, darauf hat u.a. T.S. Kuhn (1962) mit Nachdruck hingewiesen. Es ist ein Faktum, dass die mangelnde Durchsetzung von Erkenntnissen, seien es die der vorsokratischen Naturphilosophen und Sophisten oder die der Atomisten in der Tradition Leukipps oder Demokrits, wesentlich davon bestimmt wurde, dass sie kaum jemals etwas schufen, was einer Schule gleichkam. Die erste Schule, die sich selbst weniger als »Schule«, sondern eher als »Bruderschaft« verstand, wurde von Pythagoras begründet. Trotz mancher Verfolgung überlebten dadurch dessen Lehren und schufen zugleich eine bedeutende Grundlage für jenes Lehrgebäude, das wir als Platonismus bezeichnen. Platon war mit hoher Wahrscheinlichkeit in das arkane Wissen der Pythagoreer eingeweiht. Von ihnen dürfte er auch die Wirksamkeit von Vereinigungen »Gleichgesinnter« abgeguckt haben. Nach seiner Rückkehr aus Sizilien und Magna Graecia begründete er folglich jene Institution, die als platonische »Akademie« in die Geschichte einging. Diese wurde eine einflussreiche Institution zur Ausbildung, die scheinbar vorrangig Angehörigen der Aristokratie offen stand. Doch nicht nur Lehre wurde dort gepflegt. Man betrieb auch das, was heute als Forschung bezeichnet würde. Allerdings waren die Forschungsgebiete theoretischer und abstrakter Natur, wie aufgrund des oben bereits Gesagten zu erwarten wäre. Wesentliche Interessensgebiete waren die vier kanonischen Disziplinen, die an europäischen Universitäten im Mittelalter als Fächer des Quadriviums gelehrt wurden. Dabei handelt es sich um Geometrie, Arithmetik, Astronomie und Musik. Alle vier Disziplinen waren bereits seit Pythagoras’ Tagen eng mit dem verknüpft, was heute und bereits auch von Schülern des Aristoteles als »Mathematik« bezeichnet wird. Eine weitere bedeutende Institution wurde von Aristoteles zusätzlich nach seiner Rückkehr nach Athen15 begründet. Aus historischer Perspektive erreichte seine Institution, das »Lyceum«, jedoch keine vergleichbare Wirkung wie die Akademie. Das lag keineswegs daran, dass sie weniger leistungsfähig gewesen wäre, als vielmehr daran, dass Aristoteles kein Bürger Athens war und demnach auch keine einflussreiche »Lobby« besaß. Nach seiner neuerlichen Flucht aus Athen nach dem Tod Alexanders d. Gr. bestand zwar sein »Lyceum« noch einige Zeit weiter, doch konnte es mit der Akademie auf Dauer nicht wetteifern. 15 Bekanntlich verließ er Athen und die Akademie, weil er nach Platons Tod nicht zu deren Leiter ernannt wurde.

23

einleitung Eine vierte bedeutende Institution wurde in Alexandrien vom Diadochen Ptolemäus Soter gegründet. Die Bedeutung dieses »Musentempels«, der griechisch »Museon« hieß, überragt die genannten drei bei weitem. Nicht nur überdauerte diese Institution trotz harter Schicksalsschläge, wie dem Brand ihrer gewaltigen Bibliothek im Zug der Einnahme Ägyptens durch Julius Cäsar, nahezu sechs Jahrhunderte, sondern sie wurde auch zum zentralen Zentrum der Gelehrsamkeit der Antike, bis sie von christlichen Eiferern geschlossen wurde und die Bücher verbrannt wurden. Das Museon zeichnete sich durch Eigenschaften aus, die den Vorgängern fehlten. Beispielsweise wurde es von den hellenistischen Diadochen, die sich bald als »Pharaonen« bezeichnen ließen, materiell bestens ausgestattet und gefördert. Im Museon koexistierten praxis- und empirieorientierte Zweige wissenschaftlichen Arbeitens zu gegenseitigem Nutzen. Es wirkten dort u.a. auch gefeierte »Ingenieure« wie Ktesibios, Ärzte wie Erasistratos neben Theoretikern wie Euklid. Dieser kooperative Geist blieb erhalten, auch wenn sich in Hinblick auf Beweisverfahren die aristotelische Methode durchsetzte, wie sie in Euklids »Elementen« anschaulich demonstriert wird, und in der gesamten Antike zum alles beherrschenden Kanon aufstieg. Das wird weiter unten an verschiedenen Beispielen gezeigt. Neben den anfänglichen, oben genannten Wissenschaftsdisziplinen wurden zusätzlich auch jene gepflegt, die schon in Athen von Isokrates begonnen und von Aristoteles perfektioniert wurden. Diese Disziplinen bildeten das später von römischen Pädagogen so bezeichnete Trivium, bestehend aus Rhetorik, Dialektik und Logik. Alle drei zusammen bildeten das Fundament damaliger wissenschaftlicher Beweisfahren. Der wissenschaftliche Ort, wo sich die beiden Fachgruppen des Quadriviums und Triviums trafen, war die Geometrie des Euklid. Er setzte die in der Logik des Aristoteles gebündelten Beweisfahren16, dem Vorbild des Meisters folgend, zum alles beherrschenden Instrument in seinen Lehrbüchern, der »Stoicheia«, ein. Er verschmolz damit Trivium und Quadrivium und schlug so einen Weg ein, der zwar empirische Erkenntnisse in Alexandrien auf Betreiben des fördernden Diadochen nicht diskriminierte, trotz allem aber zweitrangig werden ließ. Theorie wurde dadurch vorherrschend, ein Umstand, der nicht selten dazu verleitet hat, dass dem »griechischen Geist« allgemein, doch fälschlich, eine Theorielastigkeit unterstellt wird, die es in dieser Form im hellenistischen Alexandrien nicht, jedoch im Athen des vierten Jahrhunderts sehr wohl gab.

16 Damit wird deutlich, dass in der platonischen Akademie die Fächer der Rhetorik sehr genau studiert wurden. Ihre Erkenntnisse sollten aber Geheimwissen der Herrschenden bleiben, blieben also »Herrschaftswissen«.

24

schulen Selbst Aristoteles, der einige Jahre vor der Gründung des Museon starb, unterschied schon Wissenschaftsarten nach anderen Kriterien als jenen Platons. Er differenzierte zwischen handelnden, bewirkenden und betrachtenden Disziplinen17. Das lässt zwar deutlich werden, dass er anwendungsorientierte Erkenntnisse nicht einfach ignorierte, doch sie standen in seiner hierarchischen Ordnung weit unten und beschränkten sich auf politisches Handeln. Andererseits setzte er in Hinblick auf empirische Forschung selbst neue Maßstäbe. So wird er vielfach als Begründer einer empirisch ausgerichteten Biologie bezeichnet. Auch in seinen staats- oder politikwissenschaftlichen Studien ging er empirisch vor. Bei solchen empirischen Erhebungen wurden seine Studenten mit einbezogen und leisteten bedeutende Beiträge. Trotz solcher Hinwendung zu empirischen Unter­ suchungen ordnet Aristoteles die Naturwissenschaften den betrachtenden Wissenschaften zu (Metaphysik). Das bedeutete, dass distanzierte Beobachtung nicht abgelehnt wurde. Doch eingreifendes Experimentieren sollte ein ernstzunehmender Wissenschafter als unwissenschaftlich ablehnen. Denn die Kunst, »Distanz zu wahren« – zu allem und jedem –, ist ein charakteristisches Merkmal aristokratischen Verhaltens, das nicht nur in der Antike Geltung beanspruchte. Durch solche Vorgaben wurde nun Wissenschaft selbst »geadelt«. Aristoteles stellte somit einen Verhaltenskodex auf, der eine anhaltende Wirkung entwickelte, welcher sich niemand straflos entziehen konnte18. Damit deklarierte er sich indirekt auch selbst als jemand, der absichtlich anderen Wissenschaftstypen fern stand. Hierin unterscheidet er sich von jener in Alexandrien neuerlich entstehenden manipulativ-empirischen Forschung markant. Denn in Alexandrien wurden auf Wunsch der ptolemäischen Gönner bereits komplexe pneumatische, hydraulische und mechanische Geräte entwickelt, welche auch zum Einsatz kamen. Man führte dort bereits systematische Serienversuche durch, um etwa Katapulte zu kalibrieren, oder in der Medizin Sektionen an Tieren, wie unten noch genauer dargestellt wird. Dies liefert Zeugnis für eine zunächst grundlegend andere Auffassung von Wissenschaft als jener, die in Athen vorherrschte. Allerdings schwand diese Auffassung im Laufe der Zeit, wie in den folgenden Kapiteln deutlich werden wird. Wir werden dann auch sehen, dass der nämliche Zwiespalt auch das Handeln eines bedeutenden Gelehrten bestimmte, der u.a. auch Absolvent des Museon war und heute noch als einer der herausragenden Gelehrten und Erfinder der Antike gilt – Archimedes. 17 Siehe dazu: Aristoteles, Metaphysik, Bücher C und E. 18 Anschaulich wird dies am Beispiel des Archimedes von Syrakus (siehe dazu Kapitel I in diesem Band).

25

einleitung Doch bevor wir uns diesem faszinierenden Mann zuwenden, scheint es angebracht zu zeigen, dass die Geistestradition Athens nicht die einzige war, die sich im hellenischen Denken entfaltete.

Magna Graecia Erwähnenswert erscheint dies, weil damit verdeutlicht werden kann, dass die griechischen Städte in Italien wesentliche Beiträge zur Entwicklung griechischer Wissenschaften leisteten und nicht alle bedeutenden Entwicklungen nur aus der athenischen Geistesküche kamen. Wir müssen mit Pythagoras beginnen, der aus Samos stammte und aus Protest gegenüber dem dort herrschenden Tyrannen Polykrates nach Süditalien auswanderte. Er übte in der gesamten Region einen anhaltenden politischen und intellektuellen Einfluss aus. Er war auch derjenige, der als Erster eine »Schule« gründete, auch wenn diese vermutlich eher einer Sekte glich als dem, was wir uns heute unter »Schule« vorstellen. Im vorigen Band habe ich darauf hingewiesen, dass der Politiker Pythagoras offenbar nachdrücklich Wert darauf legte, eine innere »Harmonie« zwischen Bürgern einer Polis zu entwickeln und zu pflegen und in Konfliktfällen zu erhalten. »Harmonia« (αρµονια) bedeutet nämlich nicht nur »Ebenmaß« oder »Einklang«, sondern vordergründig »Zusammenfügung«, »Vertrag« und »Übereinstimmung«. Und: »Harmonie«, wie W. Jäger (1933) schreibt, »drückt sich im Verhältnis der Teile zum Ganzen aus« (S. 224), weshalb ihm auch Verteilungsverhältnisse ein Anliegen sein mussten. Und folglich erschien es lohnenswert, Demonstrationsbeispiele zu finden, die solche Verhältnisse naturgegeben erscheinen ließen. Mit solchen Beispielen im Hintergrund, die er in der Musik und am Firmament gefunden zu haben dachte, konnten Verteilungsverhältnisse in der Öffentlichkeit auch politisch überzeugend vertreten werden. Gerechtigkeit und innerer Friede waren ja in der griechischen Welt immer zentrale Themen, weswegen auch die Verteilung von Gütern und Lasten auf Bürger und Haushalte nachvollziehbar legitimiert werden musste19. Pythagoras beschäftigte sich vermutlich aus diesem Grund mit diversen Arten von Proportionen, weil sie untermauern sollten, welche Portionen wem zuteil werden sollten.

19 Das scheint den zentralen Unterschied zu den Entwicklungen in Rom auszumachen. Dort wurde vorwiegend über die Mittel der Gewaltver­fügung innerer Friede geschaffen. Siehe dazu M. Schmutzer (2011), Band I, Kap. XI.

26

magna graecia

Das Ganze Zwei Denk- und Argumentationsmuster, die in vielen Zusammenhängen bemüht wurden, ergaben sich daraus und waren zu dieser Zeit von herausragender Bedeutung: Eines erforderte die Bestimmung eines »Ganzen« oder – wie das auch genannt wurde – der »Eins«. Das »Ganze« ist eine Chiffre für jenes politische Gebilde20, das in Harmonie zusammenlebt und zusammenhält. Um das zu erreichen, war Streit zu vermeiden. Folglich sollte Gerechtigkeit herrschen, die sich auch in Verteilungsverhältnissen manifestiert. Wer dazugehörte, wurde auch beteilt. Innerhalb dieses Musters bemühte man sich folgerichtig darum, proportionale Verhältnisse zu entdecken, die derartige Rückschlüsse erlauben sollten. Man wollte also Proportionen erkennen, wie sie etwa zwischen ähnlichen Dreiecken etc. herrschen, die Vorbildcharakter bekommen könnten. Uns sind solche Verhältnisse durchaus noch geläufig, umgekehrt haben wir aber den Sinn für »das Ganze« verloren. Denn aus unserer Sicht unterscheidet sich das Ganze nicht von der Summe seiner Teile. Aristoteles widmete in Abhebung dazu noch zwei Jahrhunderte später einige Kapitel in der Metaphysik diesen beiden, heute wenig beachteten Begriffen der »Eins« und des »Ganzen« (Buch D). Darin bestimmt er die Eins als »[…] diejenigen Dinge, die keine Zerlegung erlauben […]« (s.u.)

und meint einige Zeilen weiter, dass es sich dabei um Dinge handelt, »[…] deren Wesen eines ist – eines entweder der Kontinuität oder der Art oder dem Begriff nach. Denn wir zählen als mehrere Dinge das, das nicht eine Kontinuität (M.S.: also kein Kontinuum21) bildet, eine Art oder einen Begriff.«22 (Metaphysik, Buch V/10) 20 Dieser schillernde Begriff wird uns im Zug der Darstellungen noch öfters begegnen. Ich gebe daher hier ein anschauliches Beispiel für das, was er meint. Entstanden dürfte er aus dem Konzept des alten »oikos« sein, das ist das »ganze Haus«. Dieses beschreibt O. Brunner bündig in folgender Weise: »Das Haus (oikos) ist also ein Ganzes, das auf der Ungleich­ artigkeit seiner Glieder beruht, die durch den leitenden Geist des Herrn zu einer Einheit zusammengefügt werden.« (m.H., M.S.; O. Brunner 1968, S. 112). Anzumerken ist, dass dieser leitende Geist in egalitärer und nicht in hierarchischer Weise in dieses Haus integriert ist. 21 Daran sollten wir uns bei der Lektüre von Kapitel X dieses Bandes erinnern. 22 Vorwegnehmend verweise ich hier bereits auf die Ansätze von al-Farabi, der aus ähnlichen Überlegungen zwischen Zahl und Größe unterscheidet.

27

einleitung In einem weiteren Kapitel über »das Ganze« bezieht er sich wieder auf das vorhergehende und meint »[…] das Allgemeine und das, was allgemein als ein Ganzes aus­ gesagt wird, ist in diesem Sinne allgemein, dass es vieles dadurch umfasst, dass es von jedem Einzelnen ausgesagt wird und alles Einzelne Eines ist … In anderer Bedeutung ist ein Ganzes das Kontinuum und Begrenzte, wenn aus mehreren in ihm befindlichen Teilen eine Art Eines geworden ist, und zwar besonders, wenn diese Teile dem Vermögen nach, doch auch, wenn sie der Verwirklichung nach bestehen.« (ibid., V/25;V/30)

Solche Bestimmungen dürften heute eher überflüssig und unnötig erscheinen. Wollen wir aber wissenschaftliche Beweise aus dieser Frühzeit verstehen, ohne in die Fallen anachronistischer Übertragungen zu fallen, so müssen wir diese Denkmodi kennen und akzeptieren.23 Aristoteles betont bei diesen Bestimmungen mehrere Male, dass er die Sicht- oder Sprechweisen seiner Zeitgenossen und Vorgänger wiederholt, sodass man annehmen kann, dass diese Denkweisen damals weitflächig gängig waren. Diese Beobachtung wird uns im Folgenden nützlich sein, wenn der Versuch unternommen wird, Argumentationsund Beweisverfahren zu verstehen, die seine Vorgänger einsetzten und die uns heute nicht mehr leicht verständlich sind24. Dafür werden in der Folge Anschauungsbeispiele geliefert. Den Griechen wird gerne attestiert, dass sie theorielastig gewesen wären. Ebenso wären sie anders als die Römer – die zwischen »pax«, einem Friedensdiktat, und »concordia25«, einem verhandelten Frieden, unterschieden – generell einem verhandelten Ausgleich, also »harmonia«, zugeneigt gewesen26. 23 Daran sollten wir uns erinnern, wenn im ersten Kapitel der Abschnitt über die Quadratur der Parabel und jener über den Zylinderhuf behandelt wird. 24 Ein mögliches Ergebnis solcher Schwierigkeiten kann sein, dass man in derartigen griechischen Demonstrationen Frühformen unseres eigenen Denkens vermutet. Beispiel dafür wären etwa öfter zu findende Aus­sagen, dass die antiken Mathematiker die Infinitesimalrechnung gedanklich vorweg genommen hätten. Fakt ist, dass ihnen aber sogar entsprechende Worte für das Unendliche fehlten. 25 Einer der bedeutendsten erhalten Tempel in Sizilien steht in Agrigento. Er ist »Concordia« geweiht, was nur die latinisierte Form von »harmonia« ist. Erbaut wurde er Mitte des fünften Jahrhunderts, zeitgleich mit dem Parthenon in Athen, als auch Akragas (griech. Name von Agrigento) am Höhepunkt seiner Macht stand. 26 Siehe dazu: E. Nelson (2004).

28

magna graecia Dies stellt einen gern übersehenen Zusammenhang zwischen Theorie und Politik her, weil eben jede Theorie eine sprachliche Kreation ist und Verhandlungen, die zum Ausgleich zwischen unterschiedlichen Theorien führen sollen, ebenfalls sprachlich geführt werden müssen. Sie sind ebenfalls Politik, wie in den folgenden Kapiteln an vielen Stellen deutlich wird. Eine Spielart griechischer Wissenschaft war auch deshalb in ihrer Grundorientierung auf sprachlich artikulierte Erkenntnisse ausgerichtet und nicht vorrangig auf das Herstellen von materiellen Objekten. Ihre dominanten Anliegen waren auf »Handeln« ausgerichtet und nicht auf »Herstellen«27. Daraus erklärt sich u.a. die markante Bevorzugung von Mathematik, einer Wissenschaft, der die Römer wenig abgewinnen konnten. Dass solcherart Mathematik eine politische Wissenschaft wurde, wobei aufgrund dieser Ausgangslage auch der Charakter dieser Wissenschaft nachdrücklich geprägt wurde, soll in der Folge anhand jüngerer Studien der überlieferten Texte des berühmten Politikers und Mathematikers Archytas von Tarent gezeigt werden. Doch das anschließende Beispiel des Archimedes von Syrakus zeigt zusätzlich, dass ein auf Praxis ausgerichteter Erkenntnisgewinn anderenorts ebenso kultiviert wurde. Die gerade erwähnte Theorielastigkeit trifft somit nur für jene spezifische Richtung zu, die in Athen dominant wurde und von dort aus ihre Verbreitung fand. Diese attische Variante wird allerdings gerne als alleinige Repräsentantin griechischen Geistes gefeiert.

Soziomorphismus In einer »tour de force« wird in den ersten zwei Kapiteln der Versuch unternommen, das wissenschaftliche »Erbe« der Antike umfassend in groben Linien darzustellen. Dieses Bemühen war von der Absicht getragen, auf Probleme, die in diesem Erbe wie unbeglichene Schulden in einem Nachlass mitgeliefert wurden, ebenfalls hinzuweisen. Das bedeutet nicht, dass ich darum bemüht gewesen wäre, offene Türen einzustoßen, indem ich z.B. bekannte Schwächen des ptolemäischen Geozentrismus wiederkäuend aufzeige. Im Gegenteil war ich darum bemüht, seine Stärken deutlich zu machen. Was vielleicht als unnütze Übung erscheinen mag, verfolgt nicht die Absicht, den Geozentrismus wieder hoffähig zu machen, sondern die Relativität aller Erkenntnis bewusst werden zu lassen. Denn die weitverbreitete, selbstgefällige 27 Ich bemühe hier die von H. Arendt (1958) verwendete Unterscheidung von menschlichen Tätigkeiten: Arbeiten, Herstellen, Handeln. Diese übernahm sie allerdings gleichfalls von den Griechen.

29

einleitung Überheblichkeit, die mit Äußerungen wie »wir sind Zwerge, aber wir stehen auf den Schultern von Riesen und sehen daher weiter« kaschiert wird28, bedrückt mich. An Offenbarungen zu glauben, fällt mir gleichfalls schwer, auch wenn sie in undurchsichtige Hüllen mathematischer Modelle verkleidet erscheinen – oder gerade dann. Ich habe mich daher in den ersten zwei Kapiteln bemüht, die Vor­ aussetzungen wissenschaftlichen Arbeitens nochmals darzustellen. Sie bestehen darin, dass Erkenntnis ursprünglich zweckdienlich sein soll. Aber solche Zwecke entspringen nicht vorrangig kommerziellen, sondern soziopolitischen Bedürfnissen des »Überzeugen-könnens«. So entwickeln sich Problemstellungen, die, solange der Einsatz von Gewalt nicht gangbar erscheint, nur mit sprachlichen Mitteln und auch nicht mit materiellen Werkzeugen gelöst werden können. Diese Ausgangsposition bietet ein kraftvolles Sprungbrett und lässt das, was ich als »Soziomorphismus« bezeichne, wieder ins Blickfeld kommen. Unter derartigen Vorgaben werden Erklärungsmodelle nach vorhandenen oder angestrebten Vorstellungen geschneidert. Sie liefern demnach Bilder davon, wie gesellschaftliches Zusammenleben beschaffen ist oder sein soll. Solche Erklärungsmodelle werden besonders dann benötigt, wenn Zusammenleben konsensual gestaltet werden soll – oder aufgrund von notwendig gewordenen, egalitären Ausgangsbedingungen so gestaltet werden muss29. Diese Art des Zusammenlebens bezeichnet man landläufig als Demokratie. Die Griechen nannten dies anfänglich »Isonomie«, was Gleichheit vor dem Gesetz meinte. In anderen Worten brauchen Systeme, die durch Einsatz von Gewalt ein gedeihliches Zusammenleben erzwingen können, keine derartigen Erklärungsmodelle. Das ist vermutlich der wahre und tiefere Grund, warum Rom, ebenso wie Sparta, keine Wissenschaft brauchte. Sie setzten auf apodiktische Wahrheiten religiösen Ursprungs und in der Praxis überwiegend auf das, was als »Pax Romana«30 bezeichnet wird. 28 Siehe dazu den Titel des von St. Hawking (2002) herausgegebenen Buchs von N. Kopernikus über die »Kreisbewegungen der Himmelsbahnen«. Der gefeierte Physiker scheint zu meinen, dass die »Zwerge« notwendig auch die Blickrichtung der »Riesen« übernehmen müssen, was bezweifelt werden darf. 29 Siehe dazu M. Schmutzer (2011), Band I, Kap. III, und Kap. IV in diesem Band. 30 Es ist eine vielsagende Sprechfigur, wenn wir heute in Anlehnung an diese historische Vorgabe auch von einer »Pax Americana« reden. »Pax« leitet sich von dem Verb »paco« her, welches »unterwerfen« heißt. Ein anderes lateinisches Wort für »Friede« lautet »concordia« und bedeutet etwa das Gleiche wie das griechische Wort »harmonia«, nämlich »Zusammen-

30

magna graecia Das bedeutet konkret, dass innerer wie äußerer Friede durch Diktat erzwungen wurde. Die politischen und kulturellen Usancen, die unter solchen Vorgaben entstehen, zielen notwendig in andere Richtungen als demokratisch auf Gleichheit ausgerichtete Erkenntnisse. Der hellenistische Arzt Galenos beschreibt diesen Zusammenhang für Rom mit anschaulichen Worten: »Am wichtigsten von ihnen allen ist, dass man sich der Gefahr aussetzt, umsonst zu schreiben, da von den jetzt lebenden Menschen sozusagen kein einziger an der Wahrheit interessiert ist, sondern man in solchem Ausmaß dem Geld, politischen Machtpositionen und dem unersättlichen Genuss von Vergnügungen nachjagt, dass man, falls es jemand geben sollte, der auch irgendeine Wissenschaft betreibt, ihn für wahnsinnig hält.«(Galen, Die therapeutische Methode, S. 63)

Dem scheint kaum noch etwas hinzuzufügen zu sein, außer vielleicht, dass die griechische Einschätzung der Römer, wie sie Cato auf den Punkt brachte31, nachvollziehbar erscheint. Spreche ich also von »Soziomorphismus«, so werden auch derartige Konditionen mitgedacht. Dort, wo Wissenschaft erst gar nicht entsteht oder verkümmert, auch dort bestimmen soziale Vorgaben diesen Zustand.

Denkzeuge Kehren wir aber zu jenen Situationen zurück, wo Wissenschaft als Argumentationsmittel, als »Denkzeug« – »une chose à penser«32 – ein­gesetzt wird und wurde, so behaupte ich, dass soziale Vorgaben in die Natur projiziert und dann als Modell in die Gesellschaft rücktrans­feriert werden. Meistens wird der erste Teil dieser Sichtweise nicht einmal von deklarierten Vertretern sogenannter »harter« Wissenschaftsauffassung bestritten. Nur meinen diese, dass diese kindlichen »Anfangssünden« im Laufe eines Reifungsprozesses abgelegt würden. Und abgelegt werden könnten sie deshalb – so deren Meinung – weil im Prozess der »Akkreditierung« durch »Falsifikation«33 oder vergleichbare Anforderungen auf Unzulänglichkeiten verwiesen wird, und so Anfangsfehler ausgemerzt werden können. Solcherart nähert sich dann Erkenntnis schrittweise der Wahrheit an. Soziomorphismus herrscht aus dieser klang, Konsens«. Den Römern war diese Möglichkeit also keineswegs unbekannt. Sie bevorzugten aber die gewalttätigen Lösungen. 31 Siehe dazu Kapitel X in diesem Band. 32 Siehe dazu: C. Lèvi- Strauss (1962), E. Leach (1970). 33 Siehe dazu: K.R. Popper (1963, 1935).

31

einleitung Sicht also nur im infantilen Zustand beginnender Wissenschaft vor (E. Topitsch, 1966)34. Man könnte diese Positionen in die Terminologie von T.S. Kuhn (1962) übertragen, was bedeuten würde, dass dann, wenn der Entfaltungsprozess in das Stadium »normaler Wissenschaft« eintritt, die Wahrheit erkannt wird und die infantilen Denkmuster abgestoßen werden. Ungeklärt bliebe dann allerdings, weshalb »wissenschaftliche Revolutionen« immer wieder auftreten35. Derartige Ereignisse sind keine evolutionären Adaptionen, sondern, wie der Begriff ja bereits vermittelt, innovative Umstürze. Woher aber nehmen diese Revolutionäre ihre Denkmodelle? Sie extra­hieren sie wieder aus neuen soziomorphen Vorbildern. Was hat also der angebliche Purifikationsprozess gebracht? Ich werde mich daher bemühen zu zeigen, dass die Sicht, dass »reife« Wissenschaft »wahre Erkenntnisse« produziert, zu vereinfachend ist. Der gesamte Prozess der Akkreditierung ist und bleibt nämlich weiterhin an gesellschaftliche Vorgaben gebunden. Nachfolgende Beispiele aus der Geschichte untermauern diese Auffassung ausführlich, doch möchte ich sie der Einfachheit wegen vorweg zusammenfassen: Der im ersten Kapitel dargestellte Disput zwischen Platon und Archytas von Tarent war in seinen Grundfesten ein politischer Diskurs. Doch genau dieser bestimmte die Methoden ihrer Beweisführung und Argumentation. Platon forderte geometrische Beweise ein, wo Archytas mit empirischen Daten argumentierte. Weder der eine noch der andere wollte die Beweisverfahren des anderen akzeptieren. Archimedes, bereits Adept der alexandrinischen Schule, kämpfte mit sich selbst und mit seiner Kollegenschaft. Er wusste genau, dass diese Kollegen andere Beweisverfahren einforderten, als er sie in der Tradition von Magna Graecia anwendete. Deshalb bezeichnete er seine 34 Es sollte die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass damals die Arbeiten von T.S. Kuhn den Vertretern dieser Wissenschaftsauffassung im deutschen Sprachraum noch nicht bekannt waren. Auch ich wurde zu jener Zeit überwiegend mit K.R. Popper (1935) und W. Stegmüller (1958) »geplagt« und hörte von T.S. Kuhn erst wesentlich später. 35 T.S. Kuhn und seine Darstellung der Entwicklung wird von den Aposteln »harter Wissenschaftsauffassung« auch heute noch gerne als »Minderheiten-Programm« von »Konstruktivisten« qualifiziert. Ich darf daran erinnern, dass W. Stegmüller, seines Zeichens kein Konstruktivist, folgendes Urteil bereits 1974 sprach. Es lautet: »Die Geschichte hat sich bereits entschieden, und zwar zugunsten von Kuhn und gegen Popper. Denn bisher scheint kein Physiker bereit gewesen zu sein, das Falsifikationsrisiko einzugehen, welches mit der genauen Angabe notwendiger und hinreichender Bedingungen verknüpft ist […]«(W. Stegmüller, 1974, S. 193).

32

magna graecia Beweise als »Heuristiken« und entwickelte zusätzlich solche Beweise, die auch seiner Kollegenschaft akzeptabel erscheinen mussten. Seine Erkenntnisse wurden dadurch nicht verbessert. Eine vergleichbare Position vertritt H. Poincaré (1902). Auch er meinte, dass mathematische Beweise nur post hoc vermitteln, was man aufgrund von anderen Einsichten schon erkannt hat. Aristoteles entwarf andererseits Beweisverfahren mit dem explizit genannten Anspruch, Gegner im Diskurs, in der Politik und vor Gericht zu besiegen36. Dafür entwickelte er seine Prädikatenlogik, die zugleich als didaktische Methode37 zu Trainingszwecken eingesetzt wurde. Und er erzielte damit einen durchschlagenden Erfolg. Seine Beweismethode wurde zum Standard der Beweisführung zunächst vor allem athenischer Studiosi. Doch damit ist das logistische Verfahren des Überzeugens oder Beweisens eines Archytas nicht widerlegt. Es wurde Schülern nicht länger mit derselben Verve eingetrichtert und geriet so ins Hintertreffen. Andererseits konnte mit aristotelischen Beweisverfahren das geozentrische System nicht widerlegt werden, denn beide – seine Logik und seine Physik – ruhten ineinander und ergänzten sich. Daher blieb sein geozentrisches System bestehen, obwohl es in verschiedener Weise durch empirische Beobachtungen von Claudius Ptolemäus »verbessert« wurde. Denn Ptolemäus war sich mancher Unzulänglichkeiten auch bewusst, allerdings unter bemühter Beibehaltung aristotelischer Dogmen. Dagegen traten erst die Araber auf, wie in den nachfolgenden Kapiteln gezeigt wird. Dogmen sind mächtig. So ist zu verstehen, dass sogar N. Kopernikus sich nach nahezu zweitausend Jahren noch immer verleitet sah, wesentliche Aspekte davon beizubehalten. Allerdings hatte der polnische Prälat trotzdem andere gesellschaftliche Anliegen im Kopf als der Meister aus Stagira. Erst dadurch gelang es ihm, die Grenzen einer inzwischen zu normaler Wissenschaft degenerierten Disziplin zu überspringen. Kopernikus’ andere Interessen stimmten mit jenen des Aristarch von Samos besser überein – ergo bevorzugte er den Heliozentrismus eines Aristarch38. Die Quintessenz aus solchen Beispielen wäre demnach, dass nicht nur die Ausgangsmodelle soziomorphen Ursprungs sind, sondern wesentlich wichtiger als diese sind jene Beweisverfahren, mit deren Unterstützung neue Erkenntnisse akkreditiert werden. 36 Siehe dazu: Aristoteles, Topik I, Metaphysik etc. Ausgangsbasis für die Dialektik und die Weiterentwicklung der Disputation bildeten beide »Analytiken«, die »Topik« und die »Sophistischen Widerlegungen« von Aristoteles. Siehe dazu: M. Schmutzer (2011), Band I, Kapitel IX. 37 Man könnte das als antikes »learning by doing« qualifizieren. 38 Siehe dazu Kapitel II in diesem Band.

33

einleitung Denn gerade Beweisverfahren haben ihren Ursprung in gesellschaft­ lichen und kulturellen Grunddispositionen. Sie werden so wie aristotelische Enthymeme als offensichtliche Wahrheiten oder Vorgehensweisen akzeptiert. Ob pythagoreische Psephoi, tarentinische Logistik, aristotelische Rhetorik, sophistischer Empirismus oder – wie wir später noch sehen werden – religiöse Dogmen dabei zum Einsatz kommen, wird nämlich nicht von den Propagatoren neuer Erkenntnisse entschieden, sondern von jener Zuhörerschaft, die überzeugt werden soll, zum Beispiel: Kardinäle im Vatikan, Scholaren im Museon oder gläubige Muslime in Bagdad. Gelingt dies nicht, so werden die scheinbar »offenkundigsten Wahrheiten« abgelehnt und geraten in Vergessenheit. Treten aber irgendwann in der Historie vergleichbare Situationen wieder auf, so können diese längst Begrabenen durchaus wieder auferstehen. Genau das wird gegen Ende dieses Bandes gezeigt. Wir werden sehen, dass die empirische Beweismethode der Sophisten oder des Archytas von Tarent Wiederauferstehung feierte. Um der defensiven Kritik »harter Wissenschaften« am Soziomorphismus zum Abschluss pointierter zu begegnen, sei festgestellt: Obwohl die soziomorphen Ausgangsmodelle und ihre ursprüngliche Bedeutung und Sinnhaftigkeit manchmal im Zuge der Kanonisierung der Methoden in Vergessenheit geraten, so verschwinden sie nicht. Sie bleiben in ihre ureigenen Beweisverfahren eingebettet, die erst das legi­ timieren, was legitimiert werden soll. Wenn es Galenus nötig findet, ähnlich wie Archimedes seine empirischen Ergebnisse in gelegentlich durchaus seltsam anmutenden theoretischen Kleidern zu präsentieren, dann nötigten ihn die sozialen Vorgaben dazu – ganz analog zu Archi­ medes. Ob dabei solche Verhaltensweisen durch merkbaren äußeren Druck zustande kommen – wie es bei Archimedes der Fall zu sein scheint – oder ob sie durch Erziehung bereits voll internalisiert und folglich nicht weiter reflektiert werden – wie dies bei Galenus geschehen sein könnte –, braucht uns jetzt nicht weiter zu beschäftigen. Gegen Ende der Arbeit komme ich allerdings wieder darauf zu sprechen. Und wenn, wie wir sehen werden, heutige Wissenschafter meinen, sie müssten die archimedischen Argumentationen bei der Quadratur der Parabel oder der Berechnung des Zylinderhufs, die dem damaligen Verständnis vom »Ganzen« entsprangen, als Vorwegnahme der Infinitesimalrechnung deuten, dann unterliegen sie vergleichbaren Zwängen. Es bleibt dabei Nebensache, ob diese Zwänge internalisiert wurden oder, wie bei Archimedes zu vermuten ist, doch eher durch äußeren, wenn auch subtilen Zwang wirkten. Mit dieser Feststellung soll nochmals der tiefere Grund verdeutlicht werden, der mich bewegte, oben ausführlicher über das »Ganze« zu sprechen. 34

das ende der antiken wissenschaften Vielleicht sollte ich auch an dieser Stelle betonen, dass ich weiß, dass meine Ausführungen manchmal holzschnittartigen Charakter aufweisen. Das ist mir nicht nur bewusst, sondern beabsichtigt. Doch letztlich hoffe ich, dass eines Tages diese heute vielleicht revolutionär erscheinenden und deshalb bekämpften Positionen auch in die ruhigeren Gewässer »normaler Wissenschaften« gelangen. Wenn dies eintritt, so fühle ich, ist hinlänglich Zeit gegeben, die groben Konturen abzuschleifen, die weißen Flächen mit Farbe zu füllen und so das Gesamtbild »hübscher« werden zu lassen. Dies selbst zu vollbringen, fürchte ich, ist mir kaum gegönnt, und folglich kann ich mich darauf freuen, wenn auch diese »scientia nuova« in einer neuerlichen Revolution abgesetzt wird. Statt indessen den Münchhausen’schen Versuch39 zu machen, mich selbst zu widerlegen, möchte ich im Folgenden untersuchen, was mit dem solcherart belasteten Erbe der Hellenen weiter geschah, in wessen Hände es warum geriet und wie es dort unter anderen gesellschaftlichen Vorgaben wirkte. Oder, wäre es gar denkbar, dass diese Vorgaben keineswegs so unterschiedlich waren? Sollte es möglicherweise so sein, dass der Schatz der Hellenen wie ein Same nur jenen geeigneten, spezifischen Nährboden brauchte, der sich charakteristisch von jenem der lernunwilligen, gewalttätigen Römer abhob?

Das Ende der antiken Wissenschaften Wird vom Erbe der Antike in Hinblick auf die Entwicklung der Wissenschaften gesprochen, so stellt sich die Frage nach der Erbmasse. Was hat die Antike hinterlassen? Zunächst sei vorausgeschickt, dass nachfolgende, zusammenfassende Darstellung antiker wissenschaftlicher Werke fachübergreifend keine Vollständigkeit beansprucht. Es ließen sich Gebiete wie Geografie, Geschichte, Sprachwissenschaften etc. anfügen, die unsere Kenntnisse von der damaligen Welt sehr bereichert haben. Das sei unbestritten, trotzdem waren für den weiteren Weg der Entwicklung der Wissenschaften ca. ein halbes Dutzend Lehrbücher ausschlaggebend. Diese Feststellung untermauert einmal mehr die Position von T.S. Kuhn (1962), der nachdrücklich auf die Bedeutung von Lehrbüchern für die Weitergabe und Akzeptanz von Paradigmen hinweist. Auf einige, die in den folgenden Kapiteln nicht mehr im Detail behandelt werden, wurde schon im ersten Band ausführlich Bezug genommen. Zu ihnen zählen die »Politeia« Platons, das »Organon« und die »Physik« des Aristoteles und die »Stoichea« (»Elemente«), die Euklid zuge39 Siehe dazu: F. Nietzsche (1885), H. Albert (1968).

35

einleitung schrieben wird. Nicht unerwähnt dürfen der »Codex Justinianus« bzw. die daraus abgeleiteten »Digesten« und »Pandekten« bleiben. Feststeht jedenfalls, dass sich die wissenschaftliche Überlieferung nicht nur auf zwei Werke, die »Elemente« des Euklid und den »Almagest« beschränken lässt, wie manch überzeugter Naturwissenschafter zu glauben scheint. Denn den »Methodi medendi« Galens kommt ein vergleichbarer Stellenwert zu wie dem »Almagest« des Claudius Ptolemäus, der »Stoichea«, dem »Organon« oder den »Digesten (Pandekten)« und »Institutiones« zum »Corpus Justinianus Juris Civilis«. Sie alle waren als Lehrbücher angelegt. Erst dadurch erlangten sie ihre anscheinend zeitlose Bedeutung. Sie vermittelten die Paradigmen, die die Denkweisen von ungezählten Generationen prägten. Doch sie waren durchdrungen von einem hegemonischen Denkstil, der gleichfalls vorhandene Alternativen in Vergessenheit geraten ließ. Uns davon zu befreien, wäre das wahrhaft große Werk, das von Riesen zu leisten wäre. Erste Schritte in diese Richtung setzten, wie ich noch zeigen werde, die Araber. Sehen wir von den rechtswissenschaftlichen Büchern40 ab, so ist mit Erstaunen festzustellen, dass alle diese großartigen Erbstücke in einem relativ engen Zeitraum von maximal 500 Jahren entstanden sind. Sie bilden zudem jeweils den Abschluss einer geistesgeschichtlichen Epoche, nach der kaum mehr weitere herausragende wissenschaftliche Leistungen auszumachen sind. Sie waren sozusagen die »Summen« normalisierter Wissenschaften, und diese versteinerten danach. Gegen Ende des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts – also lange vor der Völkerwanderung – kam die wissenschaftliche Entwicklung insgesamt zum Stillstand. Nichts Nennenswertes passiert mehr 41 danach. Nicht einmal in den römischen Rechtswissenschaften geschah mehr Berichtenswertes, da sie – mit Ausnahme der erwähnten Kompilation des Codex Justinianus – ab dem zweiten Jahrhundert gleichfalls in einen Tiefschlaf 42 versanken. Auffällig ist außerdem, dass sämtliche nennenswerte wissenschaftliche Leistungen in diesen sieben bis acht Jahrhunderten seit der Geburt der Wissenschaften von Griechen43 erbracht wurden. 40 Anzumerken sei, dass auch die Pandekten federführend unter der Leitung eines Griechen namens Tribonian verfasst wurden. 41 Diese Situation beschreibt z.B. D.R. Hill (1993) mit folgenden Worten: »Although Greek retained its pre-eminence in the eastern empire, from the third century there were very few scientists of real originality. Academic effort was largely confined to editing and writing commentaries upon works of the great Hellenistic scientists.« (S. 4). 42 Siehe dazu: M. Schmutzer (2011), Band I, Kap. XI. 43 Anlass zu weiterer Reflexion bietet Sparta, das sich in dieser Hinsicht kaum von Rom unterscheidet.

36

das ende der antiken wissenschaften Anders ausgedrückt heißt das, dass die Römer nicht nur wenig – Ausnahmen wie Plinius d. Ä. oder Sallust bestätigen die Regel – zur Entwicklung der Wissenschaften beigetragen haben44, sondern dass sie außerdem nie bereit waren, jenes Wissen aufzunehmen, geschweige denn weiter zu entwickeln, das ihnen bei ihren Eroberungen in Magna Graecia, Griechenland, Ägypten oder in den anderen Diadochenstaaten kostenlos in die Hände gefallen ist. Ich nehme, um dieses Spezifikum anschaulich zu machen, ein markantes Gegenbeispiel dazu vorweg: als die Araber unter der Fahne des Islam vergleichbare Eroberungen in Syrien oder Ägypten machten, sogen sie, wie ein trockener Schwamm Wasser, dieses überlieferte und zum Teil schon verstümmelte Wissen auf. Sie gaben sich damit nicht zufrieden, sondern arbeiteten daran und damit und reichten es schließlich über diverse Stationen an uns Abendländer weiter. Die Phase der Verkümmerung der antiken Wissenschaften ab dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert zeigt auch, dass »Dogmatisierung« oder »Kanonisierung« innerhalb der Wissenschaften wesentlich zur unleugbaren Erschöpfung der Möglichkeiten eines originellen Denkens beiträgt. Wird innovatives Denken in »span’sche Stiefel« eingeschnürt, so wird es nach einer gewissen Zeit notwendig absterben. Dies würde ich gerne jenen heutigen Gremien ins »Stammbuch« schreiben, die für die Förderung der Wissenschaften verantwortlich zeichnen und dazu nicht unbeträchtliche Steuermittel zur Verfügung gestellt bekommen – scheinbar ohne zu wissen, wie sie optimal einzusetzen wären. Diese Beobachtungen, über die ich zum Teil schon im ersten Band geschrieben habe, scheinen mir ein weiterer Beleg dafür zu sein, dass die Entwicklung – und wie wir heute sagen würden Förderung – der Wissenschaften keine Frage der Anzahl von Genies in einer Gesellschaft ist, sondern eine von kulturspezifischen und gesellschaftspolitischen Konstellationen. Sowohl das Austrocknen der Gedankenflüsse wie auch deren Stimulierung geschieht im Wesentlichen von außen. Dieser Hintergrund bringt erst jene »Genies« hervor, die so gerne ins Zentrum öffentlicher Betrachtungen gerückt werden, und er lässt sie unter aversiven Bedingungen genauso verkümmern. Womit ein weiterer wesentlicher Grund für das »Absterben« von Wissenschaften genannt wurde. Nur wenn eine adäquate Förderung

44 Eine vergleichbare Einschätzung macht Vitruv in der Einleitung zum siebenten Buch (160): »[…] quod animadverti in ea re ab Graecis volumina plura edita, ab nostris oppido quam pauca.« (»[…] weil ich bemerkt habe, dass auf diesem Gebiet von den Griechen mehr Werke herausgegeben sind, von unseren Landsleuten nur wenige.«), Vitruv (1964), S. 310, 311.

37

einleitung mit materiellen Nährstoffen gewährleistet wird, kann originelle 45 Forschung wachsen und sich entwickeln. Werden solche Förderungen aber ausschließlich in die Bereiche dogmatisierter und kanonisierter, »normaler Wissenschaften« gepumpt, die von den eigennützigen Interessen der Denkhegemonen dominiert werden, dann helfen auch die großartigsten Unterstützungen wenig. Auch dann stirbt Wissenschaft und Forschung an multipler Sklerose.

Ausblicke In diesem Buch werden die somit angerissenen Themen ausführlicher geschildert. Zuerst werden die oben genannten Diskurse zwischen Platon und seinem tarentinischen Lebensretter detailliert dargestellt. Daraus ergibt sich erneut, dass ihre wissenschaftlichen Zugänge zu Problemen in vergleichbarer Weise von politischen Prädispositionen geprägt sind, genauso wie jene der Dramaturgen Sophokles und Euripides, die im Band I geschildert wurden. Derartige unterschiedliche politische Orientierungen definieren auch die Akzeptanz von Beweisverfahren, die sich eben aus konkreten Lebensumständen herleiten. Pointiert formuliert gelten für Handwerker, griechisch »Banausen«, und Händler andere Beweisregeln als für Aristokraten. Sind jene Empiriker, so sind diese Theoretiker, oder um dasselbe mit anderen Worten zu beschreiben, die einen sind »Macher«, wogegen die anderen »Rhetoriker« sind. Beide Zugänge waren in der griechischen Kultur vorhanden, doch letztere setzte sich im vierten vorchristlichen Jahrhundert durch und nahm eine hegemonische Rolle ein. Die Gründe dafür wurden bereits in Band I dargelegt, werden aber in Kapitel zwei nochmals anschaulich gemacht. Ergebnis dieser Entwicklung war, dass diese dominante Variante wissenschaftlichen Denkens und Handelns die intellektuelle Erbmasse bildete, die am Ende der Antike zur Disposition stand. Die andere Seite wurde hingegen der Vergessenheit überantwortet. Zweierlei ist dieser Darstellung noch hinzuzufügen: Das Ende der Antike, wie immer es bestimmt wird, ist nicht ident mit dem Versiegen des heraklit’schen Stroms intellektueller Entwicklung, das schon wesentlich früher einsetzte. Diese Beobachtung bildet den Abschluss des zweiten Kapitels, in dem die bedeutendsten Erbstücke aus dem Nachlass anschaulich geschildert werden. In Kapitel drei wird die Frage nach den potentiellen und den tatsächlichen Erben gestellt und deren Bereitschaft, das Erbe anzutreten, behandelt. Es erweist sich, dass die naheliegenden Anwärter dafür sich dem Zuschlag verweigerten. Die Gründe dafür werden dort ebenfalls dargelegt. Sie liegen, auf den Punkt gebracht, im Zusammenbruch der 45 T.S. Kuhn würde »revolutionäre« Wissenschaft sagen.

38

ausblicke Rechtsstaatlichkeit bei zwei der potentiellen Erben. Ein dritter Anwärter existierte zunächst nicht. Allerdings fand sich wider Erwarten letztlich in den Weiten der Wüste Arabiens nach geraumer Zeit doch eine Gesellschaftsform, die die notwendige Bedingung von Rechtsstaatlichkeit erfüllte, um in der Lage zu sein, das Erbe der Antike anzutreten. Dieser dritte Anwärter fand sich im Islam. Da die historische Entwicklung des Islam wenig bekannt ist, schien es nötig, hier in viele Details zu gehen, um die komplexen Entwicklungen zu verstehen, die langfristig durchaus konträre Resultate hervorbrachten. Kapitel vier unterzieht sich dieser keineswegs einfachen Aufgabe. Zentral ist dabei, dass der Gründer des Islam, Moḥammed, entgegen geläufigen Vorstellungen zwar auch ein Religionsgründer war, doch für die gesamte Entwicklung war der Umstand wesentlich bedeutender, dass er zugleich auch ein Staatsgründer war. Diesen Staat begründete er auf der Basis einer Verfassung. Damit war, wie bereits in Band I dargelegt, die Vor­ aussetzung für die Entwicklung von Wissenschaft geschaffen. Kapitel fünf zeigt im Anschluss daran, dass sich zunächst eine eigenständige Wissenschaft zu entfalten beginnt, die ich als »Protowissenschaft« bezeichne. Anlass dafür bilden Rechtsfragen. Im Zuge der Auseinandersetzung damit bilden sich institutionalisierte Schulen, die in mancher Hinsicht wieder den Entwicklungen in Griechenland ähnlich sind. Auf den Punkt gebracht ergibt sich daraus u.a. ein erstes Interesse an griechischer Philosophie, deren Spuren in verstreuter Weise in den neu eroberten Gebieten des ehemaligen römischen Reichs auf aramäisch zu finden waren. Erstes Interesse der Muslime galt folglich den Schriften des Aristoteles zur Logik und zur Rhetorik. An dieser Stelle drängt sich ein Vergleich mit analogen Vorgängen in Rom auf, wo ja im Zuge der Entwicklung römischen Rechts ein spät erwachendes Interesse an griechischer Wissenschaft, vorrangig an Logik, Dialektik und Rhetorik, Platz griff. Die soweit vergleichbare Situation beginnt sich im Islam im Zuge eines politischen Umsturzes grundlegend zu verändern. Die Folgen dieses Umbruchs schildert Kapitel sechs. Dort sehen wir, wie die neue Herrscherdynastie der Abbasiden der politischen Notwendigkeit ausgesetzt war, ihre Herrschaftsansprüche dadurch zu festigen, dass sie mit den unterworfenen persischen Aristokratien paktierte. In deren Kultur bestand seit Zarathustra eine markante Orientierung des Denkens an astrologischen Modellen. Der Kalif al-Manṣur nahm diese Linie auf und widmete sich entgegen den Lehren des Islam nachdrücklich der Astrologie, um seine Herrschaft zu legitimieren. Die uns geläufige Unterscheidung von Astrologie und Astronomie wurde damals nicht getroffen. Hand in Hand ging daher parallel damit ein gesteigertes Interesse an Astronomie, das vor allem durch die Schriften des Ptolemäus Claudius 39

einleitung bereichert werden konnte46. Der Umstand, dass sich Ptolemäus auch mit Astrologie befasste, förderte das Interesse an griechischer Naturwissenschaft und Geometrie zusätzlich zu jenem an griechisch-hellenistischer Philosophie. Dadurch wird eine intellektuelle Entwicklung losgetreten, die sich in zweifacher Weise äußert. Einerseits werden von nun an griechische Texte systematisch gesammelt und ins Arabische übersetzt. Dieser Prozess nimmt unvorstellbare Ausmaße an. Andererseits wird aber zugleich der Wissenschaftsbetrieb institutionalisiert. Es kommt zur Gründung einer Forschungsinstitution, die den Vergleich mit dem alexandrinischen Museon nicht zu scheuen brauchte. Das so bezeichnete »Haus der Weisheit« gewinnt Vorbildcharakter für spätere Herrscher. Kapitel sechs widmet sich diesen Entwicklungen. Damit ist allerdings die Komplexität der Entwicklung noch nicht vollständig erfasst. Das Legitimierungsbedürfnis der abbasidischen Herrscher ist ja selbst Ergebnis eines nicht unbeträchtlichen Widerstands innerhalb der muslimischen Gemeinschaft gegen die Abbasiden. Das war von Anfang an der Fall, doch die Abbasiden haben in ihrem Bemühen, Herrschaft durch »fremde« Wissenschaften zu legitimieren, den Bogen in einem inquisitionsartigen Prozess, der als »Miḥna« bezeichnet wird, gewaltig überspannt. Bereits in Kapitel fünf wird diese Entwicklung angesprochen. Doch erst im nächsten Kapitel werden die Folgen daraus für die weitere Entwicklung der Wissenschaften im Islam dargestellt. Kapitel sechs endet, nachdem der Aneignungsprozess fremden Wissens und dessen kulturelle Adaption beschrieben wurden, damit zu zeigen, wie aufgrund eines erstarkenden Widerstandes gegen die »fremden Wissenschaften« Anpassungsprozesse an vorhandene kulturelle Vorgaben innerhalb der ererbten Disziplinen einsetzten. Wiederum auf den Punkt gebracht bedeutet dies, dass ein allmählicher »Ent-Hellenisierungsprozess« einsetzte. Dessen Ergebnis besteht darin, dass die den Lebensumständen der städtischen Muslime wesentlich näherstehende »verdrängte Tradition« der griechischen Empiriker erneut Auferstehung feierte. Ob oder wie weit dabei auch eine griechische Überlieferung beteiligt war, ist schwer zu sagen. Aufgrund der dortigen, oben bereits angedeuteten Entwicklungen war dieses Erbe allerdings ohnehin mager. Ein Indikator dafür ist etwa der Umstand, dass z.B. die alte, praxisbezogene Alchemie eines Abu Musa al Dschabir ibn Hayyan (ca. 721 – 815 n. Chr.), der im Mittelalter in Europa unter dem Namen »Geber« bekannt war, Eingang in die muslimisch-gallenische Medizin 46 Nicht vergessen darf man, dass beachtenswerte Kenntnisse der Astronomie in den Gebieten des persischen Reichs bereits seit Jahrhunderten vorlagen.

40

ausblicke findet. Dies geschieht dann auf Kosten jener theorielastigen, alexandrinisch-athenischen Wissenschaft, wie sie seit Gallenos tradiert wurde. Eine neue Medizin entsteht nun in den islamischen Ländern in Einklang mit klinischen Studien. Angetrieben wird die gesamte Entwicklung im Tandem von einem Milieu, in dem, genauso wie etwa in Tarent, Handwerk und Handel gediehen, und wo parallel dazu eine konservativ-religiöse Theologie und Rechtswissenschaft erstarken konnten. Beide kritisierten bereits damals die griechische »Theorielastigkeit«. Die sich daraus ergebenden »Denkstile« sind Thema von Kapitel acht, doch zuvor resümiert Kapitel sieben die Hauptlinien der komplexen Entwicklungen und leitet zugleich mit einer kurzen Einführung in die Arbeiten von L. Fleck zu einer sozio-politischen Analyse von Entwicklungen über, die im Folgenden an unterschiedlichen Stellen aufgezeigt und schließlich in Kapitel zehn zu Ende geführt werden. Kapitel acht zeigt zunächst, wie der öffentliche Widerstand gegen die »fremden Wissenschaften« eine neue Ausformung des antiken Erbes hervorbringt. Der neue Trend wird an charakteristischen Beispielen aus Medizin, Philosophie und Physik illustriert. Die Ergebnisse dieser neuen Vorgehensweisen zeitigten zum Teil, trotz – aus unserer Sicht – bewundernswerter empirischer Methoden, zugleich für uns höchst überraschende Ergebnisse. Darüber wird in Kapitel neun berichtet. Solche Ergebnisse fordern dazu auf, in Kapitel zehn auf prinzipielle Fragen wissenschaftlichen Denkens und Handelns einzugehen, wobei Bezüge zu unserer eigenen Gegenwart hergestellt werden, um die Anschaulichkeit der erörterten Probleme zu erhöhen. Die in den vorausgehenden Kapiteln geschilderten Entwicklungen im Islam und in der römischen wie auch griechischen Antike dienen nun als Vergleichsobjekte, um derartig prinzipielle Fragestellungen zu analysieren. Ergebnis solcher Reflexionen ist die Feststellung, dass Wissenschaften kulturspezifische Veranstaltungen sind, deren Basis bereits in den jeweiligen dominanten Erziehungsmethoden gelegt wird. Unterschiedliche Erziehungsprogramme wie in Athen und Sparta oder in Rom und bei den Haschemiten erzeugen oder erwürgen jene Neugierde, die das Salz jeglicher Forschung ist. Das bedeutet, dass auch wissenschaftliche Erkenntnisse als ideologiegeladen verstanden werden sollten, denn sie wachsen aus einem kulturspezifisch generierten Bedarf, der in den Bildungsinstitutionen gepflegt wird. Dass das Buch mit einem Appendix abgeschlossen wird, in den einige mathematische Ausführungen ausgelagert wurden, soll als Versuch gewertet werden, meine Leser nicht über Gebühr zu beanspruchen. Im selben Geist möchte ich auch einer möglichen Erwartung begegnen, nämlich der, dass hier eine umfassend erschöpfende Schilderung 41

einleitung islamischer Wissenschaft versucht worden wäre. Ähnlich wie bereits im ersten Band breche ich die Schilderung an jener Stelle ab, wo ich meine, in meinen Ausführungen einen Punkt der Entwicklungen erreicht zu haben, von dem aus sich der weitere Verlauf verstehen lässt, wo also ein eigenständiger wissenschaftlicher Kanon die Formung einer »normalen Wissenschaft« ermöglicht. Dass äußere Umstände diese vielversprechende Entwicklung beeinträchtigten, kann nicht unerwähnt bleiben. Wer also erwartet haben sollte, dass hier über bekannte Größen wie Ibn Ruschd (Averroes), Ibn Sina (Avicenna), al-Biruni u.a. berichtet wird, muss sich bis zum Erscheinen eines weiteren Bandes gedulden.

Happy Birthday Obige Überlegungen, die in weiten Bereichen schon von einem der bedeutendsten islamischen Wissenschafter, nämlich al-Farabi, in ähnlicher Weise angestellt wurden, verlocken schließlich dazu, einen intensivierten Blick auf unsere eigene Gegenwart zu werfen. Fragestellungen, die zweifellos nicht der gängigen Orthodoxie zuzurechnen sind, werden folglich im Epilog aufgeworfen. Dort wird deutlich gemacht, dass auch unsere derzeitigen Wissenschaften vergleichbare Entwicklungen durchgemacht haben, wie sie in den historischen Vergleichen zu entdecken waren. Die soziomorphe Basis vergangener und gegenwärtiger Paradigmen wird aufgrund solch zeitloser Vergleiche offensichtlich. Doch nicht nur das: die möglicherweise »abgehoben« erscheinenden philosophischen Überlegungen eines al-Farabi erhalten höchste Aktualität. Seine ausführlich beschriebene und debattierte Suche nach »Glückseligkeit« sollte auch heute keinesfalls nur als schwacher Widerhall eines Strebens aus längst vergangenen Zeiten betrachtet werden. Der Umstand, dass internationale Konzerne, wie beispielsweise Google, inzwischen »Chief Happiness Officer« beschäftigen47, demonstriert die Aktualität, obgleich deren spezifischer Zugang zur Problematik ein »Holzweg« sein dürfte. Da dieser Band meiner Universität, der Technischen Universität Wien, anlässlich ihres 200-jährigen Jubiläums gewidmet ist, habe ich in diesem Epilog versucht, auf potentielle soziale Innovationen hinzuweisen, die ihr vielleicht für die nächsten hundert Jahre als Wegweiser abseits von »Holzwegen« dienen könnten.

47 Siehe dazu: DER STANDARD, 28.2.2015, S. K1 und S. 25.

42

Teil I Erbe und Erben

»[…] it is not men in general who think, or even isolated individuals who do the thinking, but men in certain groups who have developed a particular style of thought in an endless series of responses to certain typical situations characterizing their common position.« (m.H., M.S.; K. Mannheim, 1929/1936, S. 3)

43

44

kapitel i

Das vergessene Vermächtnis der Hellenen Häufig wird über »die Griechen« so gesprochen, als würde es sich dabei um eine einzige, einheitliche Kultur handeln. Schon die doch oft beachteten Unterschiede zwischen Athen und Sparta1 demonstrieren hingegen, dass dem nicht so ist. Doch auch zwischen Athen und anderen Poleis, wie Korinth, Theben oder den griechischen Städten in Süditalien, bestanden charakteristische Unterschiede, die meistens übersehen werden. Und wenn der englische Wissenschafter und Philosoph A.N. Whitehead einmal meinte, dass die abendländische Philosophie hauptsächlich aus Fußnoten zu Platon bestünde, so erweckt er damit zugleich den falschen Eindruck, dass Athen und der Rest der griechischen Poleis ident gewesen wären. Doch es finden sich beachtenswerte Unterschiede. Und das griechische Denken bestand nicht nur aus Platon und dessen Schülern. Auswirkungen unterschiedlicher griechischer Kulturen auf die Entwicklungen von Wissenschaft aufzuzeigen, ist demnach Anliegen dieses ersten Kapitels.

Archytas von Tarent Diogenes Laertios bezeichnet im achten Buch seines Werks über »Leben und Meinungen berühmter Philosophen« Archytas als Pythagoreer und schreibt weiters: »Er war es, der durch einen Brief an Dionysos den Platon vor dem ihm drohenden Tod rettete. Seine vielseitige und hervorragende Tüchtigkeit fand bei den meisten bewundernde Anerkennung. So wurde er denn siebenmal von seinen Mitbürgern zum Strategen ernannt, während die anderen der gesetzlichen Bestimmung gemäß nicht länger als ein Jahr dies Amt verwalten durften. […] [Aristoxenes sagt …], er sei als Heerführer niemals überwunden worden; er habe einmal, der Missgunst weichend, das Feldherrnamt niedergelegt, und gleich sei das Heer in Gefangenschaft geraten. Er behandelte zuerst die Mechanik methodisch unter Anwendung von mathematischen Prinzipien und verband zuerst die organische Bewegung mit der geometrischen Zeichnung; er suchte nämlich durch den Schnitt des Halbzylinders zwei mittlere Proportionale zu gewin1 Siehe dazu: M. Dreher (2001).

45

das vergessene vermächtnis der hellenen nen zum Zwecke der Verdopplung des Würfels. Und in der Geometrie fand er zuerst den Würfel, wie Platon sagt.«2

Von anderen wird er als äußerst beherrscht, kontrolliert und rational denkend beschrieben und als jemand, der körperlichem Genuss prinzipiell misstraute. Über Jahrhunderte genoss er hohen Ruhm als Mathematiker, Astronom und Geometer. Vitruv3 bezeichnet ihn sogar als »Mechaniker«. Damals stand Tarent am Beginn seines Aufstiegs in Süditalien, und Archytas war noch keine maßgebliche Persönlichkeit. Er wurde erst nach Platons Besuch zu einer prominenten Führungsfigur. Unter seiner Führung als Stratege wurde nie eine Schlacht verloren. Aus den erhaltenen Dokumenten und Berichten lässt sich aber schließen, dass Platon und Archytas in wesentlichen Dingen grundsätzlich gegenteiliger Auffassung waren, obwohl beide starke Inklinationen zu den Pythagoreern zeigten. Diese Differenzen waren offenbar politisch fundiert, denn Archytas war demokratischen Ideen der Gleichheit zugeneigt, wogegen Platon einem tradierten, aristokratischen Elitedenken anhing4. Platon war allerdings trotzdem stets an den Ideen der Pythagoreer interessiert, was sich in seiner Philosophie unübersehbar zeigt. Daher war Archytas, vermutlich Schüler des Philolaos, trotz unterschiedlicher »Ideologien« eine potentielle Auskunftsperson und ein bedeutender Gesprächspartner für Platon. Die grundsätzlich andere politische Ausrichtung des Tarentiners zeitigte u.a. interessante Auswirkungen auf seine Wissenschaftsauffassungen. Im Unterschied zu Platon, der bekanntlich die Geometrie als Leitwissenschaft propagierte und die Arithmetik als Kunst der Händler und Handwerker geringschätzte5, betonte Archytas die Bedeutung jener Rechenkunst und begründete dies politisch damit, dass sie gerechter sei. C.A. Huffman (2005), dessen Ausführungen und Übersetzungen ich im Folgenden extensiv benutzen werde, stellt fest, dass die biografischen Daten seines Lebens nicht mit Sicherheit auszumachen sind. Die besten Schätzungen meinen, dass er irgendwann zwischen 435 und 410 v.Chr. 2 Siehe dazu: Diogenes Laertius (S. 140/141). 3 Vitruv nennt ihn in den »zehn Büchern über Architektur« mehrmals (Buch I, VII, IX). 4 Nachdem Archytas Platon die Abreise aus Syrakus durch Entsendung eines Schiffes ermöglichte, wurden sie offiziell 388/387 v. Chr. sogar Gastfreunde, was zu gegenseitiger, immer währender Hilfe verpflichtete. Das mag ein Grund dafür sein, dass ihn Platon trotz inhaltlicher Differenzen niemals namentlich kritisierte, sondern stets nur andeutungsweise anonym. 5 Siehe dazu: M. Schmutzer (2011), Band I, Kapitel VIII.

46

archytas von tarent geboren wurde und zwischen 360 und 350 v.Chr. gestorben sein muss. Strabo verbindet den Namen mit der Blütezeit Tarents zwischen 379 und 360 v. Chr. In der »Politik« (1303a, 1320b) beschreibt Aristoteles das politische System in Tarent als Demokratie, das nach einer Revolte, bei der eine große Zahl von Aristokraten getötet wurde, etabliert wurde. Diese Beschreibung ist zeitgeschichtlich ident mit der Zeit, in der Archytas Stratege war. Strabo beschreibt Tarent als sehr mächtig, solange es demokratisch regiert wurde, und meint, dass nach Archytas’ Regentschaft der Abstieg begann. Anders als der philosophische Theoretiker des Staatswesens aus Athen war Archytas ein aktiver Politiker und erwarb sich durch seine umsichtige Politik großen Ruhm, der weit über Tarent hinausging. Daraus sollte im Umkehrschluss nicht fälschlich gefolgert werden, dass Archytas eben nur Staatsmann, wie vergleichsweise Perikles, gewesen sei6. In Unterschied zu jenem war er zugleich auch ein berühmter Wissenschafter und Mathematiker. C.A. Huffman bezeichnet ihn als eine zentrale Figur der griechischen Welt in der ersten Hälfte des vierten Jahrhunderts. Er genoss hohes Ansehen unter seinen Zeitgenossen, weshalb ihm neben Aristoteles7 gleich mehrere bedeutende Autoren diverse Schriften und große Aufmerksamkeit widmeten. Eudoxus (390 – 340 v.Chr.), der eine allgemeine Theorie über Proportionen verfasst hat, welche später in Euklids »Stoicheia« als Buch V aufscheint, war vermutlich einer von Archytas’ Schülern. Auch daran wird deutlich, wie schon im ersten Band ausgeführt wurde, dass Euklid nicht der alleinige Verfasser dieses Werkes war und umgekehrt, dass die süditalienische Tradition auch ohne eigene, institutionalisierte Schule wesentliche Beiträge zur Entwicklung der Wissenschaften geleistet hat. Wie dieser Hinweis deutlich macht, hat zu deren Entwicklung der Tarentiner einen wesentlichen Beitrag geleistet.

Archytas als Mathematiker Über die Beschaffenheit der griechischen Mathematik zu dieser Zeit existieren nur mangelhafte Kenntnisse8. Ein oft genannter Mathematiker

6 Ein Vergleich, der öfter gezogen wird (C.A. Huffman, 2005). 7 Aristoteles hat eine dreibändige Arbeit über ihn verfasst, die verloren ging. 8 Eudemos von Rhodos, ein Schüler von Aristoteles, erstellte allerdings ein Verzeichnis von Mathematikern vor seiner Lebenszeit. Dazu zählte er Anaxagoras von Kalzomene und dessen Zeitgenossen Oinopides von Chios,

47

das vergessene vermächtnis der hellenen vor Archytas ist Hippokrates von Chios9 (ca. 460 – 370 v. Chr.). Er wurde durch seine Untersuchung über die »Möndchen10« bekannt. Diese Arbeit lässt zugleich Rückschlüsse auf damalige Argumentationsstandards zu. Eudemos berichtet auch, dass Hippokrates – also lange vor Euklid – bereits ein Lehrbuch zur Mathematik verfasst haben soll. In Zusammenhang mit Archytas wird er deshalb gebracht, weil er bereits vor diesem einen Weg zur Lösung des »delischen Problems« vorschlug, der in der Bestimmung einer mittleren Proportion lag. Das »delische Problem« ergab sich aus einer Weissagung des delphischen Orakels an eine Delegation aus Delos. Dieses besagte, dass der in Delos bestehende würfelförmige Altar des Apoll verdoppelt werden müsse, damit eine angeblich dort herrschende Pest beendet würde. Die Frage, die sich so ergab, war nach der Seitenlänge des neuen Würfels. Aus heutiger Sicht ein einfaches Problem, das sich auf die Bestimmung der Kubikwurzel aus 2 reduzieren lässt. Nun waren die damaligen Mathematiker durchaus in der Lage, mit Hilfe der Gnomonmethode die Kubikwurzel iterativ zu berechnen11. Die Näherung war erstaunlich gut, doch es fehlte der Beweis. Um diesen zu finden, entwickelte Hippokrates von Chios die Idee einer fortlaufenden Proportion, a/x = x/y = y/b. Leider konnte er die Korrektheit des Verfahrens gleichfalls nicht beweisen. An dieser Stelle tritt Archytas auf den Plan. Archytas Arbeit über die Verdoppelung des Würfels zeigt einen vergleichbaren Standard und ein hohes Niveau an logischer Argumenta­ tion. Die Art, wie er dabei vorging, ist von Interesse, wird doch deutlich, dass er allein mithilfe der pythagoreischen Proportionenlehre imstande war, ein derartig komplexes Problem zu lösen. Dieses erfordert die Auffindung von zwei mittleren Proportionalen, x und y. Archytas nutzte dazu die Bestimmung des Schnittpunktes zweier Kurven, die durch Rotation eines Halbkreises (Halbtorus) und einer Geraden (Kegel) auf der Oberfläche eines Halbzylinders entstehen. Dabei verwendete er bereits Ansätze, die später im zehnten Buch des Euklid wieder erscheinen. Manchmal wird deshalb vermutet, dass Archytas bereits vor Euklid ein Werk zu den Grundlagen der Geometrie und der Arithmetik verfasst Demokrit von Abdera, Hippias von Elis, Hippokrates von Chios und Theodoros von Kyrene, der der Mathematiklehrer von Platon gewesen sein soll. 9 Nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Arzt aus Kos! 10 »Möndchen« (griech.: Meniskoi, µενισκοι, lat. »lunulae«) entstehen, wenn man über den Sehnen eines Halbkreises weitere Halbkreise zieht (Radius gleich halber Sehnenlänge). Die Flächen zwischen dem ersten Kreis und den jeweiligen zweiten Kreisen haben die Form einer Mond­ sichel, deren Flächeninhalt Hippokrates bestimmte. 11 Siehe dazu: D. Lelgemann (2010).

48

archytas von tarent hätte, doch lässt sich auch diese Vermutung nicht beweisen. Sicher ist, dass er großes Interesse an Definitionen hatte, was Aristoteles attestiert und Teile aus den erhaltenen Fragmenten (Fragment I) bestätigen. Zumindest unterscheidet er zwischen ersten Annahmen in der Mathematik und mehr oder weniger bedeutenden Grundannahmen, die nicht zu beweisen seien und die Aristoteles als Axiome bezeichnet. Über seine Vorgehensweisen lernen wir mehr aus seiner Schrift zur Harmonien­ lehre, die am besten erhalten ist. Archytas hatte große Sympathien für die Bemühungen seiner pythagoreischen Vorgänger, natürliche Phänomene mithilfe von Zahlen zu beschreiben, meinte aber, dass Verhältnisse und Proportionen ein besserer Ansatz wären, die numerische Struktur der Welt zu erfassen, als sie nur mit einfachen Zahlen zu identifizieren. Konsequent verfuhr er anders als die früheren Pythagoreer, die sich damit zufrieden gaben, Zahlen irgendwelchen Gegenständen, Formen oder Ereignissen wie z.B. Hochzeiten zuzuordnen. Daher war für ihn die Wissenschaft von den Zahlen, die er nicht als »Arithmetik«, sondern als »Logistik« bezeichnete, die bedeutsamste. Auch darin unterscheidet er sich wesentlich von Platon, der ja die Geometrie und letztlich die Dialektik als höchste Stufe der Wissenschaften verstand. Anschaulich wird die von Archytas behauptete Überlegenheit der Logistik, wenn man auf den gefeierten Bildhauer des 4. Jahrhunderts, Polyklet, Bezug nimmt. Archytas wollte, ähnlich wie es von Polyklet kanonisch gefordert wurde, die Welt mithilfe von Proportionen und Verhältnissen beschreiben. Polyklet war älter als Archytas und Zeitgenosse von Phidias und Demokrit12. Er hat in einem nicht erhaltenen Werk kanonische Proportionen angegeben, die bei der Formgebung von Statuen zu beachten seien. In seinen Schriften soll er verbindliche Regeln – also einen »Kanon« – zur Gestaltung von Skulpturen festgelegt haben. Dort meinte er etwa, dass die Schönheit einer Statue nur aufgrund einer Vielzahl von Proportionen und Maßzahlen und nicht durch zahlreiche geometrische Formen zustande käme.

Wissenschaftstheorie und Naturwissenschaft In Fragment III entwickelt Archytas eine eigene Epistemologie: »Es sei, um Dinge zu verstehen, die man nicht weiß, notwendig, sie entweder 12 Beide wurden von der aristokratischen Partei in Athen verfolgt. Phidias starb angeblich im Gefängnis, Demokrit wurde von Platon wiederholt diffamiert und bereits zu Lebzeiten zum deklarierten Feind der platonischen Denkschule erklärt.

49

das vergessene vermächtnis der hellenen von anderen zu lernen oder sie selbst zu entdecken«13. Anders aber als viele andere Pythagoreer, die sich hauptsächlich auf die Lehren des Meisters beriefen, wenn sie Behauptungen aufstellten, betont er die herausragende Bedeutung eigener Entdeckungen. Etwas zu entdecken sei das Ergebnis unserer eigenen Fähigkeit, vernünftige Schlussfolgerungen zu ziehen. Es wird daher nicht überraschen, dass er die Bedeutung von Beweisen und Argumenten mit viel größerem Nachdruck betont als Philolaos, Schüler von Pythagoras und vermutlicher Lehrer von Archytas. Archytas kannte bereits vor Aristoteles die Voraussetzungen, die zu erfüllen sind, um einen deduktiven Beweis durchzuführen. Es brauche nicht mehr als eine klare Formulierung dessen, was zu beweisen sei, und dessen, was als gegeben anzunehmen ist. Sein Beweis geht in logischen Schrittfolgen vor, in einem Fall nutzt er sogar die »reductio ad absurdum«. In allen Fällen demonstriert er ein beträchtliches mathematisches Wissen. Außer der »reductio ad absurdum« benutzte er auch Gedankenexpe­ rimente, wenn er etwas beweisen wollte; so zeigte er mithilfe eines solchen Gedankenexperiments, dass das Universum schrankenlos14 sein müsse. Im Unterschied zu seinen vorsokratischen Vorgängern legte er keinen gesteigerten Wert auf Widerlegung seiner Vorgänger, sondern ent­ wickelte deren Ergebnisse systematisch in eigenen Ansätzen weiter. Er nahm somit die Position Aristoteles’ vorweg, der die Auffassung vertrat, dass jeder Denker etwas über die wahre Natur der Dinge zu sagen hätte. Eine vergleichbare Grundeinstellung findet sich bereits in den frühen, medizinisch-hippokratischen Schriften aus Kos, wo gleichfalls großer Wert darauf gelegt wird, all das von Vorgängern zu übernehmen, was sie korrekt verstanden haben, doch sie auch zu korrigieren, wo sie fehlgeleitet waren. Es scheint daher nicht unwahrscheinlich, dass Archytas in Hinblick auf Erkenntnisfortschritt von den medizinischen Schriften der Hippokratiker beeinflusst worden war15. Was an Archytas’ Darstellung der Wissenschaften im Fragment I überrascht, ist sein erkenntnistheoretisches (epistemo­logisches) Vokabular. Archytas verwendet das Wort »diagignoskein« (διαγιγνοσκειν) und das dazu gehörige Substantiv »diagnosis« (διαγνοσις), um die Tätigkeit jener zu charakterisieren, die mit Wissenschaft zu tun haben. Archytas’ 13 C.A. Huffman, op. cit., S. 188 (meine Übersetzung). 14 »Schrankenlos« ist nicht bedeutungsgleich mit »unendlich«. 15 W. Jäger (1933/1944/1947) meint ja in ähnlicher Weise, dass Sokrates und sein Schüler Platon einem ähnlichen Einfluss unterworfen gewesen wären.

50

archytas von tarent emphatischer Gebrauch dieser Begriffe hat in anderen philosophischen Texten keine Parallele. Sie drücken anschaulich aus, was er unter Wissenschaft versteht. Das Verbum διαγιγνωσκειν (diagignoskein) bedeutete ursprünglich »etwas von etwas anderem unterscheiden; gerichtlich entscheiden; beurteilen«16. Das Verb wie auch das dazugehörende Substantiv wird typischerweise genutzt, um etwas auszudrücken, das von seinem Gegenteil zu unterscheiden sei, etwa ein wahrer Freund von einem falschen. In diesem Sinn spricht Archytas in den ersten Zeilen von Fragment I von Menschen, die sich mit Wissenschaft beschäftigen, als jenen, die derartige Unterscheidungen gut zu treffen imstande wären (καλως διαγνωµεν). Es ist indikativ, dass Aristoteles noch in seinen biologischen Schriften dasselbe Verb διαγιγνωσκειν (diagignoskein) benutzt, um etwa die Unterscheidung zwischen männlichen und weiblichen, alten oder jungen Tieren zu beschreiben. Andererseits hebt der platonische Sokrates in Buch VII der »Politeia« hervor, dass durch Wissenschaften Objekte erfahren werden, welche nicht angemessen durch Sinneserfahrung wahrgenommen werden können. Aber sie werden durch ihre Gegensätze den Sinnen bewusst. Sie werden folglich nur mithilfe des eigenen Verstandes unterscheidbar. Sokrates spricht in diesem Kontext von Dingen, die gleichzeitig einmal groß, ein anderes Mal klein, leicht oder schwer erscheinen. Anschaulicher wird es, wenn wir einen anderen Vergleich heranziehen. Bekanntlich wird die Temperatur eines mit Wasser gefüllten Topfes von beiden Händen unterschiedlich empfunden, wenn die eine davor in einem kalten, die andere in einem heißen Wasser badete. Der mittlere Topf erscheint gleichzeitig warm und kalt. Auf genau solche Eindrücke bezieht sich das Gespräch in der »Politeia«. In derartigen Fällen muss sich der Verstand gegen seine eigenen Sinneseindrücke entscheiden, um festzustellen, was tatsächlich der Fall ist. Und es seien eben solche »Verstandesdinge«, die zu Gegenständen wissenschaftlicher Unter­suchungen gemacht werden müssten. Archytas weigert sich mit Bestimmtheit, die daraus abgeleitete metaphysische These Platons anzunehmen, dass solche, nur durch Verstand erfassbare Objekte ausschließlich in der Welt der Ideen existierten. Trotzdem stimmt er aber der Forderung zu, dass Geometer zwischen geraden und gekrümmten Linien, Arithmetiker zwischen geraden und ungeraden Zahlen unterscheiden müssten. Man kann daher die Position Archytas’ so zusammenfassen: er fordert, dass alle, die mit Wissenschaften befasst sind, fähig sein müssten, wesentliche Unterscheidungen zu 16 Einmal mehr manifestiert sich hier der in Band I geschilderte ursprüngliche Zusammenhang mit der Entstehung von Rechtssystemen, Verfassungen und darauf beruhenden Gerichtsverfahren bei der Geburt von Wissenschaft.

51

das vergessene vermächtnis der hellenen treffen, denn die zentrale Tätigkeit der Wissenschaften sei eben, solche Differenzen17 bestimmen zu können. Archytas formuliert eine weitere Anforderung an die Arbeitsweisen von Wissenschaftern. Er meint nämlich, dass jene Personen, die solche Unterscheidungen gut treffen und die imstande sind, »die Natur von Ganzheiten« zu erfassen, auch messerscharf feststellen können müssen, wie solche Dinge in ihren Teilen beschaffen sind.18 Nicht völlig klar wird, was Archytas mit den Begriffen »Ganzes« und »Teil« meint. Er spricht von »Ganzen« im Plural, woraus man schließen muss, dass er nicht das Universum als Ganzes meint. Hingegen scheint er zu fordern, dass in jeder Wissenschaft ein Ganzes oder eine Menge von Ganz(heit)en existiere, die sich Wissenschafter zu unterscheiden bemühen müssten. Aufgrund dieser Unterscheidungsfähigkeit seien sie erst in der Lage zu erkennen, wie diese Dinge in ihren Teilen, also im Inneren beschaffen seien. C.A. Huffman interpretiert folglich Archytas so: Archytas scheint zu meinen, dass Wissenschafter ihre Arbeit damit beginnen müssten, sorgfältig die allgemeinen Begriffe einer wissenschaftlichen Disziplin zu unterscheiden und zu definieren. Aufgrund dessen würden sie befähigt, vorliegende Objekte oder Typen von Objekten zu verstehen, die als Teile eines Ganzen zu betrachten wären. Ein instruktives Beispiel für das, was er meint, wenn er von einer klaren wissenschaftlichen Sichtweise der Dinge in Hinblick auf ihre Teile spricht, lässt sich finden. So meint z. B. der Tarentiner, dass der Planet Venus vom Planeten Jupiter deshalb unterschieden werden könne, weil beide unterschiedliche Umlaufperioden haben, und dass folglich die beiden Himmelskörper aufgrund unterschiedlicher Muster ihres Aufgangs und Untergangs am nächtlichen Himmel voneinander unterschieden werden könnten. Seine Sichtweise lässt sich jedoch mithilfe seiner Harmonienlehre am besten darstellen, die Gegenstand jenes Buches ist, dem Fragment I entstammt, und das am besten erhalten ist.

Harmonienlehre Das Fragment beginnt genau bei der Thematik, die gerade besprochen wurde, nämlich der Bestimmung eines relevanten »Ganzen« und der universellen Begriffe der Disziplin. Das grundlegende Konzept (das »Ganze«) in der Harmonik sei der Laut, d.h. Schall. Dafür wird keine 17 An dieser Stelle scheint es angebracht, an einen modernen Denker zu erinnern, nämlich J. Derrida (1967). 18 Siehe dazu den Umkehrschluss des Archimedes in diesem Band, S. 82.

52

archytas von tarent Definition geliefert, aber die Umstände, unter denen Schall entsteht, werden klar bestimmt. Diese Umstände erfordern ein weiteres, zweites Konzept, nämlich das eines Anschlags oder Stoßes. Ohne An- oder Aufschlag (Impakt) gäbe es keinen Schall. Als nächstes beruft er sich auf seine Vorgänger, die betonten, dass es ohne Kollision zweier Körper in Bewegung keinen Aufschlag oder Stoß geben könne. Zwei verschiedene Arten des Zusammenpralls sind möglich: entweder ein Körper holt einen anderen ein, der sich auf derselben Bahn mit geringerer Geschwindigkeit befindet, oder sie treffen aus entgegensetzten Richtungen aufeinander. Weitere Unterscheidungen, die noch von den Vorgängern von Archy­ tas getroffen wurden, waren: Schall, den wir hören können, und Schall, den wir nicht wahrnehmen – wir bezeichnen diesen als »Ultraschall«. Auch in unhörbaren Fällen entstehe Schall durch Zusammenprall. Anschließend werden Umstände bestimmt, unter denen kein Schall wahrzunehmen ist. Das geschehe, wenn ein Stoß entweder zu schwach oder aber zu stark sei. Unsere Ohren könnten solche Ereignisse, wie etwa die von Pythagoreern behauptete kosmische Sphärenmusik, nicht registrieren. Archytas wendet sich daher lieber hörbaren Lauten zu und trifft hier eigene Unterscheidungen. Er differenziert zunächst zwischen hohen und niedrigen Tönen. Hohe Töne entfernen sich mit höherer Geschwindigkeit vom Ort des Zusammenstoßes als die tiefen, die langsamer seien. Beispiele vervollkommnen dann die Darstellungen von Fragment I. Diese Darstellung liefert somit ein anschauliches Beispiel seiner Vorgehensweise: Zunächst wird ein zentrales Konzept des Ganzen in der Harmonienlehre offeriert, nämlich Schall. Dann folgen weitere Unterscheidungen innerhalb dieses Ganzen, wie hörbar, unhörbar etc., die dann nach weiteren Bestimmungen, wie etwa nach einem »Impakt«, also einem Zusammenstoß verlangen. Zusammen illustriert dieses Verfahren, was gemeint war, wenn – wie oben – von »guten Unterscheidungen« gesprochen wurde, die Wissenschaft auszeichnen. Letztgültiges Ziel einer solchen Wissenschaft sei demnach weniger die Kenntnis der Unterteilungen des Schalls, als vielmehr die Kenntnis der wahren Natur jedes individuellen Lauts. In den folgenden Seiten unterscheidet Archytas zwischen konsonanten und dissonaten Intervallen. Damit verschiebt er die Diskussion von allgemeinen Erörterungen über die Natur des Schalls hin zu musikalischen Tönen. Zunächst stellt er trocken fest, dass bei konsonanten Akkorden das Ohr den Eindruck einer einzigen Tonhöhe oder Note empfinde. Weiters beobachtet er dann, dass Tonintervalle durch Zahlenverhältnisse repräsentiert werden können. Die Zahlen in diesen Proportionen wären jedoch nur Größen, die die schnellen oder langsamen Bewegungen von hohen bzw. tiefen Tönen widerspiegeln. Der Rest sei53

das vergessene vermächtnis der hellenen ner Ausführungen fehlt, doch dürfte er anschließend die Verhältnisse der drei wichtigsten Akkorde angegeben haben: die Quart (4:3,) die Quint (3:2) und die Oktave mit (2:1). Es gibt Gründe zu vermuten, dass er sich dann der Untersuchung der inneren Struktur der Oktave gewidmet hat. Die nötigen Textstellen fehlen. In der »Harmonik« betont er jedoch an anderer Stelle die Bedeutung der drei Mittelwerte (arithmetischer, geometrischer, harmonischer Mittelwert), mit deren Hilfe die Pythagoreer die verschiedenen musikalischen Akkorde nach Graden des Zusammenklangs ordneten. Woher sie diese Mittelwerte nahmen, ist nicht bekannt, aber es erscheint plausibel, dass sie der frühe Pythagoreer Hippasus in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts bereits kannte. Auch Philolaus, vermuteter Lehrer von Archytas, wird mit Arbeiten über Mittelwerte in Zusammenhang gebracht und im Kontext von Experimenten genannt, die den Zusammenhang zwischen den grundlegenden Akkorden (Oktave, Quint, Quart) und ganzzahligen Verhältnissen empirisch nachweisen sollten. Anders als bei ähnlichen überlieferten Berichten über Experimente des Pythagoras dürften diese Versuche tatsächlich erfolgreich absolviert worden sein. Daraus lässt sich schließen, dass von Anfang an nicht alle Griechen Experimenten in ähnlich abweisender Art gegenüberstanden wie Platon und seine Jünger. Archytas unterscheidet in Fragment II die drei für Musik relevanten Mittelwerte: den geometrischen, den arithmetischen und den harmonischen, und führt zunächst das arithmetische Mittel in die Oktave ein. Damit erhält man eine Aufteilung der Oktave in Quart und Quint. Ist die Oktave z.B. durch das Verhältnis 12/6 definiert, so ist das arithmetische Mittel 9 und das Verhältnis von Oberton zum Mittelwert 12/9, also 4/3. Das ist genau die Quart. Ferner ist das Verhältnis vom Mittelwert zum Unterton 9/6, also 3/2, was die Quint ergibt. Verwendet man hingegen den harmonischen Mittelwert, der 8 beträgt, wird die Reihenfolge umgekehrt. 12/8 ist 3/2 und 8/6 ergibt 4/3. Betrachtet man die Proportionen von Oktave, Quint und Quart, so stellen sie eine Folge dar, die aus 2/1, 3/2, 4/3 besteht, die also der Formel (n+1)/n Genüge leistet. Zugleich aber bilden die Zähler genauso wie die Nenner der Brüche eine arithmetische Folge, wo jedes Element aus dem vorhergehenden durch Addition von 1 hervorgeht. Es gilt aber, dass sich in diesen Fällen kein geometrisches Mittel bestimmen lässt und folglich nur die beiden anderen Mittelwerte maß­ gebend sind, um Quint und Quart zu bestimmen. Es scheint zwar naheliegend, die Oktave zu halbieren19, die Quart, Quint oder den Ganzton (9/8) zu halbieren, doch das erweist sich als 19 Das bedeutet, sie als geometrische Reihe mit Faktor 2 darzustellen.

54

archytas von tarent unmöglich. Diese Erkenntnis hatten auch schon Archytas’ Vorgänger, doch jener geht einen Schritt weiter und zeigt mit mathematischer Rigorosität, dass ganz allgemein ein geometrisches Mittel für Verhältnisse der Art (n+1)/n nicht so zu bestimmen ist, dass daraus ganzzahlige Vielfache resultieren. Im obigen Beispiel würde das geometrische Mittel die Wurzel aus 72 sein, was eine irrationale Zahl ergibt, also eine Größe, mit der die Griechen nicht vertraut waren. Der Ganztonschritt bestimmt sich bei ihm vielmehr aus dem Verhältnis des arithmetischen zum harmonischen Mittelwert. Offen bleibt bei dieser Vorgehensweise insgesamt, wie die anderen Töne innerhalb einer Oktave zu bestimmen sind. Philolaos verwendete dafür die gleiche Vorgehensweise wie zur Bestimmung von Quart und Quint, und Platon folgte diesem Beispiel. Das Ergebnis aber war, dass die so ermittelten Tonfolgen von keinem Musiker verwendet wurden. Archytas geht daher umgekehrt vor. Seinen oben bereits angeführten Grundeinstellungen folgend, wendet er sich der Empirie zu und studiert die Gebräuche der Musikanten. Aufgrund dieser Beobachtungen unterscheidet er drei Tonleitern, die diachronische, die chromatische und die enharmonische. Jede von diesen teilt die Quart in unterschiedlicher Weise auf, wobei die Quart deshalb bestimmend ist, weil eine Oktave sich als aus zwei Quarten und einem Ganzton zusammengesetzt verstehen lässt. Die resultierenden neun unterschiedlichen Proportionen für die drei Tonfolgen brauchen wir nicht mehr weiter zu diskutieren, denn für unsere Argumentation ist der unterschiedliche Zugang von Archytas im Vergleich zum theoretisierenden Platon wesentlich. Der Unterschied besteht darin, dass es Archytas um die spezifischen Intervalle geht, die von Musikern verwendet wurden. Diese will er mathematisch exakt determinieren, ohne allerdings selbst in der Lage zu sein, sie auch durch exakte Messungen zu überprüfen. Die Griechen waren nämlich damals noch nicht in der Lage, Proportionen einer Sequenz von beispielsweise 243/224, wie sie in der chromatischen Tonleiter Verwendung fanden, genau zu messen. Es erscheint mir auch nicht notwendig anzugeben, durch welche Rechenvorgänge Archytas zu derartigen Ergebnissen gelangte. Bedeutsam bleibt für uns, dass er die Gepflogenheiten der Musiker als Ausgangsbasis nahm, um jene Zahlenwerte zu bestimmen, wogegen Platon und Philolaos idealisierte Verhältnisse fortschrieben, ohne die gegebenen Fakten zu beachten. Trotzdem oder gerade deshalb gelangte Archytas zu einem Verständnis des Tetrachord. Dies gelang ihm aufgrund einer stringenten Anwendung des harmonischen und arithmetischen Mittelwerts (9; 8; beziehungsweise 9/8 für den Ganzton). Archytas’ Behandlung des Tetra­chord ruhte einerseits in einer klaren Theorie der Harmonienlehre und stützte sich gleichzeitig auf die Praxis des Musizierens seiner Zeit. 55

das vergessene vermächtnis der hellenen Platon betrachtete hingegen diesen Bezug zur »Welt der Erscheinungen« als unverzeihlichen Fehler.

Zwischenbilanz In der Mathematik des tarentinischen Strategen waren Einheit (das Ganze) und Zahl grundlegend. Weitere Unterteilungen folgten zum Teil aus überlieferten Konzepten wie z.B. gerade und ungerade Zahlen. Doch auch hier fokussierte sich sein Interesse auf Verhältnisse und unterschiedliche Arten von Proportionen. Seine Zielvorstellung war, Objekte in der physikalischen Welt in unterschiedlicher Weise zu quantifizieren. Unter dieser Vorgabe fällt der Logistik eine spezifische Rolle zu, sich nämlich nicht nur mit ihren ureigenen Objekten, den Zahlen und Verhältnissen, zu beschäftigen, sondern darüber hinaus auch in anderen Wissenschaften wirkmächtig mitzuspielen. Denn auch deren Forschungsobjekte sollen gleichfalls in Form von Zahlen, Verhältnissen und Proportionen beschrieben werden. Anschaulich exemplifizieren lässt sich dieser Anspruch wie demonstriert in der Harmonienlehre, die ja letztlich mit der quantitativen Bestimmung der Verhältnisse der Harmonien endet. Aus wissenschaftshistorischer Sicht interessiert, in welcher Weise sein Ansatz auf die Schaffung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse wirkte. Seine Nutzung von Verhältnissen und Proportionen schuf zahlreiche neue Ergebnisse. Das illustrieren nicht nur die Beispiele aus der Harmonienlehre, sondern auch der exakte Beweis, der zur Lösung des delischen Problems der Verdoppelung eines Würfels führte. Dieses viel diskutierte Problem seiner Zeit löste er damit, dass er zwei Mittelwerte20 zueinander proportional setzte, die er durch Verschnitt eines Halbzylinders mit einem Halbtorus und einem Kegel bestimmen konnte. Archytas nutzte eine ähnliche Methode in der Astronomie. Die astronomischen Überlieferungen seiner Vorgänger bestanden in der Bestimmung der Geschwindigkeiten der Sterne, ihres Auf- und Untergangs. Archytas bemühte sich darum, Planetenperioden wie jene von Sonne und Mond zu bestimmen. Leider sind diesbezüglich außer in Fragment 20 Die Erkenntnis, dass zur Lösung des Würfelproblems die Bestimmung einer mittleren Proportion nötig sei, wird bereits Hippokrates von Chios zugeschrieben. Archytas lieferte den dafür nötigen Beweis. Die Bestimmung der Kubikwurzel aus 2 war dadurch allerdings nicht gegeben. Sie war aber auch nicht vonnöten, denn sehr exakte Näherungen des Werts ließen sich schon damals problemlos mit der Gnomonmethode erreichen. Sie wurde mit 63/50 bestimmt, was einen Fehler von 0,00007895 bedeutet. Siehe dazu: D. Lelgemann (2010).

56

archytas von tarent I keine Dokumente erhalten. Er scheint sich aber bei diesen Arbeiten auf Quellen aus den Jahren 430 bis 400 v. Chr. zu stützen, also der Zeit seiner Jugend. Damals herrschte großes Interesse an derartig exakten Bestimmungen, was Archytas beeindruckt haben dürfte. So wurde von Oenopides ein 59-jähriger Zyklus der Mond- und Sonnenkonstellationen entdeckt; Meton und Euctemon aus Athen wiederum stellten einen 19-jährigen Zyklus fest. Über Planeten und andere Himmelsphänomene arbeiteten auch der von Platon geschmähte Demokrit 21 und Philolaus, was zeigt, dass Archytas in diesem Bereich auf der Höhe der Zeit stand. Auch in einem anderen Konnex setzte Archytas Proportionen als heuristische Instrumente ein. Aristoteles verfasste mehrere Schriften über Archytas, die leider ebenfalls nicht erhalten sind. Wir wissen aber aus der Überlieferung, dass Archytas Proportionen benutzte, um zu neuen Definitionen zu gelangen. Bei Aristoteles spielt in diesem Zusammenhang der Begriff der »Ähnlichkeit« eine bedeutende Rolle. Genau diese Ähnlichkeit setzt er in Bezug zu der Vorgehensweise des Archytas, weil ja Proportionen Ähnlichkeiten in quantifizierter Form zum Ausdruck bringen. In der »Rhetorik« hebt Aristoteles die Fähigkeit der Methode des Archytas hervor, Ähnlichkeiten von manchmal sehr verschiedenen Dingen zu bestimmen. Man darf wohl daraus schließen, dass er derartige Leistungen nur aufgrund einer verallgemeinerten Methode, Proportionen und Verhältnisse aufzustellen, vollbringen konnte. Indirekt wird diese Sicht auch durch die schon erwähnte Publikation seines Schülers Eudemos bestätigt. Die Bedeutung hingegen, die er selbst Verhältnissen beimaß, wird in den Texten aus Fragment III offenbar. Dort unterscheidet er wie erwähnt zwischen zwei Methoden, die helfen, Wissen zu erlangen. Eine davon sei durch Lernen von anderen, doch die wichtigere sei durch eigene Entdeckungen. Allerdings fragt sich, wie man solche Entdeckungen machen kann. Wie findet man auf sein eigenes Irritiert-sein eine Antwort? Dazu brauche man – so schreibt er – bereits ein bestimmtes Wissen, doch solches Wissen sei eben erst aus Kalkulationen (λογισµος, logismos) zu gewinnen. Für den Strategen aus Tarent waren Proportionen offenbar nicht nur ein nützliches Instrument, um neue Definitionen zu finden, sondern ganz allgemein der »Generalschlüssel« zur Entdeckung neuer Wissensinhalte.

21 Diogenes Laertius berichtet im neunten Buch, dass Platon die Absicht geäußert hätte, alle Bücher des Demokrit zu verbrennen. Doch zwei Pythagoreer hätten ihn letztlich davon abgehalten, mit dem Argument, dass diese Schriften bereits zu weit verbreitet wären.

57

das vergessene vermächtnis der hellenen Dieser Bereich war weit gespannt. Oben wurde bereits ausführlich das überragende Interesse dieses Wissenschafters aus Magna Graecia an Akustik und Harmonik beschrieben; auch jenes an Astronomie und Politik blieb nicht unerwähnt. Damit erschöpfte sich sein Wissensdrang aber noch lange nicht. Ph. Krafft (1970) meint etwa, dass Archytas der Erfinder des Hebelgesetzes sei, das ja ebenfalls durch Proportionalitäten ausgedrückt wird. Diese Behauptung Kraffts wird heute manchmal bezweifelt, doch konnte sie bis jetzt auch nicht überzeugend widerlegt werden. C.A. Huffman (2005, S. 76) bezeichnet Archytas zumindest als starken Kandidaten für eine derartige Auszeichnung und betrachtet ihn als potentiellen Begründer der Mechanik, trotz fehlender Evidenz. Offenbar setzte er seine Methode bei der Beschäftigung mit Gesetz­ mäßigkeiten der Bewegung von Körpern gezielt ein. Diogenes Laertius bezeichnet ihn jedenfalls als jemand, der als Erster mathematische Prinzipien zur Systematisierung der Mechanik anwendete. Um das Bild dieses Mannes aus Tarent zu vervollständigen, soll nicht unerwähnt bleiben, dass er sich auch mit Fragestellungen aus der Optik und der Physik des Spiegels beschäftigte, einem Gebiet, von dem wir wissen, dass Archimedes im nicht weit entfernten Syrakus ein gutes Jahrhundert später ebenfalls Herausragendes darin leistete. Archytas betrachtete optische Phänomene bereits aus rein geometrischer Sicht und leistete auch hier bedeutende Beiträge zu deren Verwissenschaftlichung. Archytas’ Darstellung von Wissenschaft lässt immer wieder Zusammenhänge mit dem hippokratischen »Corpus« erkennen. Ähnlich wie auch bei Platon22 könnte sein empirischer Ansatz aus der hippokratischen Medizin stammen oder zumindest angeregt worden sein, was nicht überraschen sollte. Denn Philolaos, der – wie Cicero behauptet – Lehrer von Archytas, soll selbst auch medizinische Schriften in diesem Geist verfasst haben. Erstaunen könnte allerdings erregen, dass Platon diese Vorgaben aus Kos nicht aufgreifen wollte.

22 »Es wird später zu zeigen sein, dass Platon sich mit sicherem Instinkt gerade an die Medizin von Anfang an aufs engste angeschlossen hat. […] Es ist kein Zufall, dass Platon, als er seine ›ethisch-politische‹ Wissenschaft begründete, zunächst weder an die mathematische Form des Wissens noch an die spekulative Naturphilosophie anknüpfte, sondern, wie er im ›Gorgias‹ und an vielen anderen Stellen ausspricht, die ärztliche Kunst zum Vorbild nahm.« (W. Jäger, 1947, S. 548). Allerdings orientiert Platon sich dann mehr an dem von den Hippokratikern entwickelten Artenbegriff (eide, ειδη), woraus sich die platonischen »Ideen« herleiten, und weniger an ihrer empirischen Ausrichtung.

58

archytas von tarent

Oppositionelle Gastfreunde Archytas unterscheidet vier Wissenschaften: Astronomie, Geometrie, Logistik und Musik. Die Differenzen zwischen Archytas und Platon lassen sich nicht allein auf ihre unterschiedliche Meinung über die Zahl der Wissenschaften reduzieren. Wesentlich größere Differenzen bestehen in Hinblick auf die Natur dieser Wissenschaften und darüber, welchen Wert die Erforschung dieser Wissensgebiete hat. Platon schätzt die Wissenschaften aufgrund ihrer angeblichen Fähigkeiten, die Augen der Seele vom Erfahrungsmäßigen ab- und dem Erkenntnismäßigen allein zuzuwenden. Seine Hervorhebung des Geistigen zu Gunsten des Erfahrbaren veranlasste ihn folglich, Astronomie und Harmonienlehre so zu definieren, dass sie nicht länger auf die sichtbaren Himmelssphären und die hörbaren Akkorde ausgerichtet waren. Astronomie sollte vielmehr die Wissenschaft der »wahren Bewegung, Geschwindigkeit und Langsamkeit« und die Harmonik eine Wissenschaft harmonischer Zahlen werden. Platon betrachtete aber nicht einmal diese »gereinigten« Wissenschaften als Gipfel der Forschung, sondern nur als Vorbereitung für das Studium der höchsten Disziplin, der Dialektik. Archytas seinerseits sucht die konkreten Phänomene wie Auf- und Untergang der Himmelskörper, ihre Umlaufgeschwindigkeit etc. zu erklären. Platon behauptet hingegen in der »Politeia«, dass die wahre Aufgabe der Astronomie darin bestehe, »das wesenhaft Vernünftige in unserer Seele« (Politeia, 530c) zu erkennen. Aus dieser seiner Sichtweise lässt sich auch Platons Kritik an der sogenannten »pythagoreischen« Harmonienlehre in der »Politeia« verstehen23. Er kritisiert ja dort, dass sich die »Pythagoreer«, mit denen er vermutlich Archytas meinte, eben der sinnlichen Welt, den gehörten Tönen zuwenden anstatt der ideellen. Archytas’ Wissenschaftsverständnis verlangt im Gegensatz dazu, gehörte Akkorde (Zusammenklänge, d.h. Symphonien) zu studieren und nicht irgendwelche idealisierte Extrapolationen. Dieselbe Differenz zwischen Platon und Archytas manifestiert sich anschaulich, wenn auch nur indirekt in anderen Schriften Platons. Im »Timaios«, dem platonischen Schöpfungsmythos, beschreibt Platon die mathematische Struktur der Weltseele (35a ff.), welche genau jenen abstrakten Vorstellungen des Philolaos entspricht, die er in seiner diatonischen Tonleiter entwickelt hat. Die Unterteilungsweise der Quart durch Archytas findet dort keine Korrespondenz, denn dessen Anliegen war eben, das sinnlich Wahrnehmbare zu erfassen und nicht die Struktur einer verstandesmäßig entworfenen, abstrakten Welt. 23 Siehe dazu: Politeia, Buch VII/531b.

59

das vergessene vermächtnis der hellenen Eine detaillierte Beschäftigung mit der Harmonienlehre erlaubt uns, durch Vergleiche mit seinen Auffassungen über das Ziel der Astronomie Rückschlüsse auf Archytas’ grundlegendes Verständnis von Wissenschaft zu machen. Der zu Platon so unterschiedliche Ansatz bestimmt auch seine sonstigen Vorgehensweisen. In jeder Wissenschaft seien, so wie er es in der Harmonienlehre vorpraktiziert, zunächst die relevanten »Ganzheiten« zu unterscheiden und anschließend durch weitere Differenzierungen genauer zu bestimmen. Das letztgültige Ziel dieses Vorgehens liegt weniger in der Bestimmung solcher Differenzierungen, sondern darin, konkretes Wissen über die spezifischen Teile zu erlangen. So war eben in der Musik das signifikante Ganze der Schall, und das Ziel bestand darin, Verständnis von den musikalischen Intervallen, die wir tatsächlich in der Musik hören, zu erlangen. In der Astronomie war das grundlegende Ganze Bewegung, und das letztgültige Ziel war, die Perioden der Planeten und damit ihren Auf- und Untergang nach Möglichkeit mithilfe mathematischer Beziehungen zu bestimmen. Dieser Hinweis auf die Astronomie darf nicht überinterpretiert werden. Archytas hat noch keine Winkelmessungen vorgenommen oder Phänomene wie rückläufige Planetenbewegungen der äußeren Planeten zu erklären versucht. Er bemühte sich vielmehr darum, die verschiedenen Perioden von Sonne, Mond und anderen Planeten aufeinander zu beziehen bzw. Auf- und Untergang von Sternkonstellationen in Abhängigkeit von Kalenderdaten zu bestimmen. Seine mathematischen Ansätze in der Astronomie können aber für die frühesten Versuche ausschlagendgebend gewesen sein, Planetenbewegungen zu erklären, wie es von Eudoxus, dem vermutlichen Schüler von Archytas, versucht wurde. In der Geometrie dürfte Archytas ähnlich wie in der Harmonik vorgegangen sein. Er betrachtete Punkt, Gerade, Flächen und Volumina als grundlegend und verfolgte damit das Ziel, physikalische Objekte, die unsere reale Welt bevölkern, zu beschreiben. Man könnte klassifizierend sagen, dass Wissenschafter und Künstler wie Archytas, Demokrit, Anaxagoras und viele andere bereits damals deshalb bekämpft wurden, weil sie deklarierte »Materialisten«24 – wenn man diesen anachronistischen Begriff zum besseren Verständnis verwenden darf – waren. Sie haben sich dezidiert von den idealistischen Ansätzen platonischer Denktradition abgehoben und waren überzeugte und praktizierende Demokraten. Womit einmal mehr anschaulich wird, dass Wissenschaft und Politik eng verwoben sind. Die Lehre, die sich daraus ziehen ließe, hätte auch für unsere Zeit große Bedeutung. Doch heute wird mit einem vergleichbaren Idealismus, wie er bei den Plato24 Siehe dazu: F.A. Lange (1866). In dessen »Geschichte des Materialismus« bezeichnet er die Empiriker auf diese Weise.

60

archytas von tarent nikern vorherrschte, lieber behauptet, dass Wissenschaft und Politik miteinander nichts zu tun hätten. Aus derartig grundsätzlichen Anschauungsdifferenzen ergibt sich für den Tarentiner konsequent, dass jene Wissenschaft, die sich mit Proportionen und Verhältnissen befasst, der Geometrie überlegen sei. Die Wissenschaft der Verhältnisse ist in der Terminologie des Archytas von Tarent die Logistik. Sie vervollständigt nach seiner Auffassung Beweise dort, wo die Geometrie nichts mehr ausrichten kann. In anderen Worten erlaubt Logistik etwas in die Welt zu setzen, was ursprünglich nur in Gedanken, Worten oder Plänen, also im Kopf vorhanden war. Doch genau dieser Umsetzungsprozess war den Platonikern kulturbedingt ein ideologischer Gräuel. Sie forderten stattdessen Handlungsweisen und Tätigkeitsbereiche ein, die den gesellschaftlich inferioren »Banausen25« bzw. Thetes vorbehalten waren. Wie bereits oben veranschaulicht, lehnte der Tarentiner Platons Wissenschaftsauffassung kategorisch ab. Das bestätigt sich u.a. auch in der Tatsache, dass er einer – von Platon ebenfalls bekämpften – atomistischen Weltsicht zuneigte, wie sie von Demokrit und später von Epikur vertreten wurde. Es überrascht wenig, dass er sich auch mit der Ansicht der meisten Präsokratiker, dass das Universum unendlich sei, in Übereinstimmung fand. Diese Sicht untermauerte er mit einem originellen Gedankenexperiment. Er fragte nämlich, ob es möglich sei, wenn man an den Rand des Universum gelangt sei, den Arm oder einen Stab darüber hinaus auszustrecken. Da dieses kaum zu verneinen wäre, wäre damit erwiesen, dass es jenseits dieser Grenze weitergehen müsste bzw. dass eine solche erst gar nicht existiere. In gleicher Weise verweigerte er sich teleologischen Argumenten, wie sie von Platon und Aristoteles vertreten wurden. Er bestritt, dass jeg­ liche Entwicklung stets nur in Richtung auf Verwirklichung eines »Besten« gerichtet sei, wie das das teleologische Argument suggeriert. Anders als Platon forderte allerdings Aristoteles, genauso wie der Tarentiner, Prinzipien ein, die ihrerseits der physikalischen Welt zu entnehmen seien, wenn man diese Welt erklären wolle. Niemals dürfe man, meint der Stagirit, wie Platon Prinzipien allein aus der Mathematik übernehmen. Diesbezüglich lässt sich zwischen Archytas und Aristoteles trotz anderer Widersprüchlichkeiten Übereinstimmung finden. In diesem Kontext sollte vielleicht nochmals betont werden, dass der Stagirit schon aufgrund des Altersunterschieds vom pythagoreischen Tarentiner lernte und nicht umgekehrt.

25 Banausia (βαναυσια), griechisch: Handwerk.

61

das vergessene vermächtnis der hellenen

Wissenschaft und Politik Für Archytas war es höchstes Ziel jeder Wissenschaft, die wahrnehm­ bare Welt mithilfe von Zahlen zu beschreiben. Folglich sollte der Wissenschaft von den Zahlen eine überragende Bedeutung zugedacht werden. Archytas propagierte daher auch die Überlegenheit seiner Logistik gegenüber der Geometrie. Er zögerte nicht, die Geometrie – in krassem Widerspruch zu Platon – sogar in Bereichen, wo es sich um rein geometrische Formen handelte, als mangelhaft darzustellen. Für die Wissenschaft der Zahlen verwendet Platon in der »Politeia« die Bezeichnung »Arithmetik«. Diese unterschiedlichen Bezeichnungen sind nicht zufällig. Die beiden Wissenschaften von den Zahlen – »Arithmetik« und »Logistik« – unterscheiden sich nämlich nicht unwesentlich26. Arithmetik beschäftigt sich vor allem mit unterschiedlichen Arten von Zahlen, wie geraden und ungeraden, Primzahlen und dergleichen. Heute würden wir dabei von »Zahlentheorie« sprechen. Logistik beschäftigte sich hingegen mit Proportionen, also relativen Größen. Anschauliche Beispiele dafür liefern die bereits genannten, verschiedenen Mittelwerte. Aus Archytas Sicht beschreibt der Begriff »Logistik« den Sachverhalt der Relationen. Ihr Wert liegt darin, dass sie uns etwas über Größenverhältnisse berichten. Die von Archytas behauptete Überlegenheit der »Logistik« gegenüber sämtlichen anderen Wissenschaften, inklusive der Geometrie, die ja auch von seinem mutmaßlichen Lehrer Philolaos als erste Wissenschaft bezeichnet wurde, ergibt sich für ihn aus der Tatsache, dass Logistik »konkreter« bleibe und auch dort Beweise liefere, wo die Geometrie versage27. Für »konkret« verwendet er das Wort »enargestero« (εναργεστερω) bzw. εναργησ (enarges), was »sichtbar, handhabbar, greifbar« meint. Er sagt somit, dass Logistik greifbar werden lasse, was die Geometrie unbestimmt lasse, da diese auf einem zu hohen Niveau der Abstraktion arbeite28. 26 Es scheint erwähnenswert, dass »arithmos« (αριϑµος), woraus sich »Arithmetik« ableitet, »Zahl, Reihe«, auch »Zwischenraum« bedeutet. »Logos« (λογος) kann hingegen sowohl »Wort, Rede« als auch »Zahl« bedeuten. 27 »Logismos« (λογισµος), woraus sich die »Logistik« herleitet, bedeutet »Rechnung, Berechnung, Überlegung« und auch »Plan«. Man könnte daher »Logistik« als »Planungstechnik« übersetzen. Es kommt somit dem »Nous« (νους) des Anaxagoras sehr nahe (siehe dazu: M. Schmutzer (2011), Band I). 28 Diese Begrifflichkeit betont einen wesentlichen Unterschied präferierter Erkenntnisweisen. Die banausische Lebensweise ankert im hapti-

62

archytas von tarent Aber zusätzlich hebt Archytas anschließend hervor, dass Logistik vor allem deshalb überlegen sei, weil sie über rein wissenschaftliche Anliegen hinausgehe und damit unser Verständnis der bedeutendsten Dinge fördere. Das bedeute, dass sie auch lehre, wie wir leben sollten. Logistik trage zur Formung jener umfassenden Weisheit, die die Wächter in Platons »Politeia« pflegen sollen, mehr bei als die Geometrie, weil sie durch eindeutige Offenlegung von Verhältnissen helfe, einen Staat gut zu regieren. In Fragment IV wird diese Annahme mit Nachdruck vertreten. Dort sagt er, dass »Logistik«, wie er diese Wissenschaft von den Zahlen bezeichnet, »in Hinblick auf ›Weisheit‹ (sophia, σοϕια) allen anderen Künsten weit überlegen scheint«. In seiner detailreichen Diskussion der Texte und deren Interpreta­ tionsmöglichkeiten bestimmt C.A. Huffman (op. cit., S. 245) die Bedeutung des mehrdeutigen Begriffs »sophia«, in Abstimmung mit Texten von Platon und Aristoteles, als Mischung aus dem anaxagoreischen »Nous« (νουσ) und der aristotelischen »Episteme« (επιστηµη). Was aber meinte der »Mathematiker« aus Tarent damit tatsächlich? Auch bei Platon hat der Begriff »Sophia« mit Dingen zu tun, die auf das Leben der Polis nach außen und innen optimal einwirken. Diese eindeutige Bezugnahme auf eine »weise« Politik stellt Huffman nicht zufällig her. Für beide Griechen bildete ja Politik das Zentrum ihrer Überlegungen. Trotzdem klafften die Vorstellungen davon, wie jene intellektuellen Voraussetzungen für eine optimale Politik beschaffen seien bzw. zu gestalten wären, bei Platon und Archytas weit auseinander. Archytas scheint »Sophia« exakt am entgegengesetzten Ende jener Interpretationsspannweite anzusiedeln, wo sie Platon platzierte. Im Verständnis des Tarentiners hat Weisheit, »Sophia«, im Gegensatz zu Platon wenig mit einer unsichtbaren, nur verstandesmäßig fassbaren Welt zu tun. Im Gegenteil hat sie sich mit der sichtbaren, konkreten, gegenständlichen und handhabbaren Welt zu befassen. Diese Differenz zwischen den beiden ist mehr als nur bemerkenswert. Sie bringt vielmehr eine grundlegend andere Disposition auf den Punkt, wie ich dies bereits im vorhergehenden Band dargestellt habe. Diese andere Disposition ruht im Bereich des Politischen, wirkt aber schen »Be-greifen«, die aristokratische in der distanziert-abgehobenen Wahrnehmung durch das »Schauen« (Betonung des Fernsinns und der Distanz). Es steht für ein »Wahr-nehmen« eines »Aus-sehens« (griech.: ειδος), das dann in Worten seinen Ausdruck findet. Die Kunst der Überzeugung ruht daher bei den einen in ihrer »empeira« (εµπειρα), d.h. der »empirisch« ge-machten Erfahrung. Die der anderen ruht in der »Technik des Wortes« (Logik), eben der »Technik des Logos«. (»-ik« leitet sich von -tik, »techne« (τεχνη), her).

63

das vergessene vermächtnis der hellenen mit Nachdruck auf das Verständnis der Wissenschaften zurück, die wir Heutigen allerdings gerne als politisch neutral und objektiv bestimmen möchten. Die Folge dieser unleugbaren Interdependenz war in Athen, dass jene sowohl von Archytas wie auch von vielen sogenannten »Sophisten« vertretene empirische Orientierung29� von den Platonikern unterdrückt und geschmäht wurde – wie in der »Politeia« anschaulich nachzulesen ist. Zu dieser Entwicklung hat auch Aristoteles, trotz seiner gelegentlich kritischen Auseinandersetzung mit seinem Lehrer Platon und trotz seiner zahlreichen empirischen Beobachtungen in der Biologie, sein Teil beigetragen. Nämliche Differenz hat die weitere Entwicklung der Wissenschaften nachdrücklich geprägt, wie im Folgenden zu sehen sein wird. Das ist auch der Grund dafür, dass ich hier diese Thematik nochmals ausführlich abgehandelt habe. Sie hat nämlich das intellektuelle Erbe der Antike grundlegend beinflusst und darüber hinaus historisch betrachtet ein verzerrtes Bild vom griechischen Wissenschaftsverständnis hinterlassen. Einmal mehr wird somit jener anhaltende Konflikt deutlich, der seit Anaximander und Heraklit bereits zu Beginn der griechischen Wissenschaften ausgetragen wurde. Es handelte sich grundsätzlich um einen politischen Konflikt, einen Kampf um die Macht in der Polis. Dieser Kampf wurde ideologisch zwischen den theorieorientierten Aristokraten und den auf manuelle Fertigung und empirische Kenntnisse, demokratisch auf Gleichberechtigung ausgerichteten unteren Schichten geführt 30. Der Konflikt währte über lange Zeit, doch letztlich sollte, wie ich schon früher gezeigt habe, die abstrahierende Position der Aristokratie den Sieg davon tragen. Das hat die weitere Entwicklung der Wissenschaften in der Antike ausschlaggebend geprägt.

Sophia Eine letzte Anmerkung sei zu der von Archytas vehement vertretenen Position der nicht-aristokratischen »Unterschicht« gemacht. Das Bild vervollständigt sich nämlich erst, wenn Archytas’ Verständnis von Weisheit, »Sophia«, nochmals betrachtet wird. Seine »Sophia« inkorporiert quasi eine politische Ethik, d.h. eine Lehre des friedvollen und 29 »Die ›Mathemata‹ stellten in der Bildung der Sophisten das reale, Grammatik, Rhetorik und Dialektik das formale Element dar.« (W. Jäger, 1944, S. 401) 30 Dieser Darstellung tut auch die Tatsache keinen Abbruch, dass manche bedeutende Vertreter der demokratischen Partei Aristokraten waren, wie z.B. Perikles.

64

archytas von tarent harmonischen Zusammenlebens. Insofern ähnelt seine Position durchaus der des platonischen Sokrates31. Dies lässt zugleich sein gesteigertes Interesse an einer Harmonienlehre in neuem und anderem Licht erscheinen. »Harmonia« (αρµονια) bedeutet nämlich nicht nur »Ebenmaß« oder »Einklang«, sondern vordergründig »Zusammenfügung«, »Vertrag« und »Übereinstimmung«. Und »Harmonie«, wie W. Jäger (1933, S. 224) schreibt, »drückt sich im Verhältnis der Teile zum Ganzen aus«, was zusätzlich auf obige Theorieansprüche des Tarentiners ein neues Schlaglicht wirft. Daraus ergibt sich nahezu zwangsläufig: Es existiert eine zweite Dimension, in der die »Logistik« eine überragende Wirkung zeitigt. Weil Zahlen imstande sind, Ordnung zwischen konkreten Objekten zu schaffen, besitzen sie in der Form von Größenverhältnissen und Proportionen aufgrund ihrer Anschaulichkeit auch hohe Überzeugungskraft 32. Damit reicht Logistik inhaltlich weit über andere Wissenschaften hinaus. Ihre Überzeugungskraft 33 wird nicht allein zur Interpreta­tion und Darstellung der physischen Welt benötigt. Sie spielt gerade im menschlichen Verhalten und in Hinblick auf das Zusammenleben in der Polis eine bedeutende Rolle. Im Fragment III singt Archytas wahrlich eine Hymne auf diese bedeutende Rolle, welche die Rechenkunst (logismos, λογισµος) bei der Errichtung und Erhaltung eines Staates spielen kann. Mit λογισµος meinte er allerdings weniger jene Wissenschaft selbst als vielmehr eine allgemeine, praktische Fähigkeit, numerische Berechnungen zu verstehen und anzustellen. Diese betreffen nicht nur Additionen und ähnliche grundlegende Rechenarten, sondern eben auch Proportionen und Verhältnisse. Die Fähigkeit zu solchen Kalkülen würden aber alle Menschen miteinander teilen, genauso wie z.B. die Fähigkeit zu lesen. Sie bilde daher die wesentliche Voraussetzung, auf der ein gerechter Staat ruhe, der dadurch zugleich friedvoller und harmonischer würde. Wenn aber diese Voraussetzung erst einmal erfüllt wäre, so stelle sich als zusätzlicher Effekt Gleichheit unter den Bürgern ein. Deshalb unterstützt Archytas 31 Zieht man die »Erinnerungen« an Sokrates, wie sie von Xenophon hinterlassen wurden, in unsere Betrachtungen ein, so darf man sogar vermuten, dass Archytas auch dem wirklichen, nicht dem von Platon vereinnahmten Sokrates, nicht unähnlich gewesen sein könnte. 32 Proportionen erfüllen hier eine ähnliche Aufgabe wie Enthymeme (vereinfachte Schlussfolgerungen) in der aristotelischen Logik. 33 Die Kunst des Überzeugenkönnens spielte auch in Athen eine heraus­ ragende Rolle bei der Entwicklung der Wissenschaften. Dort wurde aber dieses Ziel nicht durch »Logistik« zu erreichen versucht, sondern durch Rhetorik, Dialektik und schließlich, bei Aristoteles, durch syllogistische Logik.

65

das vergessene vermächtnis der hellenen eine viel demokratischere Verfassung als jene elitäre, die Platon entwirft. Aufgrund seiner eigenen Erfahrungen als maßgeblicher und sehr erfolgreicher Politiker in Tarent weist er anschaulich nach, dass sein Zugang sich als leichter umsetzbar erweist als die Bemühungen Platons, seine Ideen in Syrakus umzusetzen. Unbenommen der Tatsache, dass Rechenkunst selbst in der Wissenschaft der Logistik begründet ist, erweist sich die Kenntnis der Wissenschaft der Logistik trotzdem nicht als unabdingbare Voraussetzung, um Kalkulationen anstellen und grundlegende Verhältnisse verstehen zu können. Niemand brauche daher zu fordern, dass jedermann die gesamte Wissenschaft beherrsche. Im Gegensatz zu Platon vertritt demnach Archytas auch nicht jene Position, die das Expertenwissen einiger weniger zur notwendigen Vor­ aussetzung für einen guten Staat machte. Der »Mathematiker-König« vertritt in Abhebung zum »Philosophenkönig Platon« die Position, dass es die Klarheit proportionaler Verhältnisse allein wäre, die sogar Reiche dazu motivieren könne, den Armen zu geben, und zusätzlich noch beide Seiten davon überzeugen könne, dass das erzielte Ergebnis fair sei und folglich Verträglichkeit und Harmonie schaffe. Um solcherart Übereinstimmung finden zu können, müssten beide Seiten nur die Fähigkeit besitzen zu rechnen. Diese von ihm angestrebte Klarheit der Verhältnisse schaffe zusätzlich eine bedeutende Kraft, die sogar das permanente »Streben nach Mehr« (pleonexia, πλεονεξια) unterbinden könne. Das zu erreichen sei vorrangig deshalb bedeutend, weil »Pleonexia« – heute würden wir dazu »Gier« sagen – unerwünschte, gefährliche Spannungen in der Polis produziere und folglich eine solche Entwicklung abzulehnen sei. Im selben Fragment vertritt Archytas dann auch die Auffassung, dass erst Proportionen ein Rechtssystem fundieren könnten. Proportionen könnten dazu beitragen, Verbrechen vorzubeugen, weil sie die Ungerechtigkeit einer Strafhandlung und zugleich die Gerechtigkeit einer Strafe in ein Verhältnis setzen würden34. Denn Unterschiede im Strafausmaß für zwar ähnliche, aber doch sehr verschiedene gesetzwidrige Handlungen lassen auch den Unterschied zwischen den Straftaten deutlich werden. 34 Straftat und Strafe müssen zueinander in einem gerechten Verhältnis stehen, also proportional sein. Es handelt sich offensichtlich um den Ausgleich eines Schadens, der zugefügt wurde. Deshalb sprach Solon auch von »ausgleichender Gerechtigkeit«. Ist jedoch die Strafe im Verhältnis zum Schaden »unverhältnismäßig«, dann ist sie auch wirkungslos. Ein illustratives Beispiel aus der damaligen Zeit wären die Strafen Drakons in Athen. Er verhängte etwa die Todesstrafe für den Diebstahl von Feldfrüchten, ein Delikt, das bei einer hungernden Bevölkerung keine Seltenheit war. Dieses Gesetz blieb aufgrund seiner »Un-Verhältnismäßigkeit« nahezu wirkungslos.

66

archytas von tarent Anschaulich wird dieser Gedanke am Beispiel von Totschlag und Mord. In beiden Fällen handelt es sich um ein Tötungsdelikt. Trotzdem wird Totschlag milder geahndet als Mord, womit zugleich auch die Differenz zwischen den beiden Straftaten deutlich gemacht wird. Für uns belegen diese Originalaussagen des Archytas, dass die zwei solonischen Hauptformen der Gerechtigkeit (ausgleichende und verteilende) – wie ich gleichfalls bereits im ersten Band dargelegt habe – wesentliche Auslöser für die Entwicklung der pythagoreischen Mathematik waren, denn ähnliche Anliegen vertrat auch der alte Meister aus Kroton. Zahlen, so argumentiert Archytas, lügen nicht, das sei eine allgemein anerkannte Erkenntnis. Zahlen und Proportionen seien vielmehr grundlegend, um in einer Polis Übereinstimmung (omonoia, οµονοια) zu erreichen, und bildeten folglich eine wesentliche Voraussetzung für einen stabilen Staat. Doch nicht nur das Wohlergehen einer ganzen Kommune, sondern auch jenes der einzelnen Individuen würde so gefördert. Mithilfe von Kalkulation und Vernunft ließe sich auch der Weg zu einem guten und glücklichen persönlichen Leben finden. Hiermit nimmt Archytas bereits wesentliche Überlegungen, die heute Epikur zugeschrieben werden, vorweg. Ungeachtet dieser Tatsache bleibt aber eines für uns als Erkenntnis vorrangig: Im aristokratisch dominierten Athen des 4. Jahrhunderts v. Chr. wurden Dialektik, Rhetorik und Logik zu dominanten Werkzeugen einer Überzeugungskunst, dem »Organon«, wie es später genannt wurde. Als Methode des Beweisens – was ja gleichbedeutend ist mit Überzeugen – wurde vor allem der Syllogismus zum bestimmenden Instrument wissenschaftlichen Arbeitens, wobei die andere Form des proportionalen und von Empirie geleiteten Argumentierens zunehmend verdrängt wurde und zu verschwinden begann. Archimedes, von dem man sagen kann, dass er der letzte Vertreter der süditalienischen Wissenschaftstradition war, befleißigte sich noch beider Methoden des Überzeugens, doch auch für ihn wird die platonisch-aristotelische Argumentationsweise35 unumgänglich und schließlich dominant. Das geschah nicht, weil die eine Methode der anderen überlegen gewesen wäre, wie ich gleich demonstrieren werde, sondern weil aufgrund einer Bildungspolitik am Museon in Alexandrien die 35 Plutarch, selbst ein eingefleischter Platoniker, bemühte sich mit Nachdruck darum, die empirischen und praktisch-technischen Ergebnisse des Archimedes als vom Tyrannen in Syrakus erzwungen darzustellen. Das u.a. deshalb, weil empirische Beweisführung von dieser Gruppe eben als nicht akzeptabel, ja als unwissenschaftlich betrachtet wurde (Plutarch, Das Leben des Marcellus); siehe dazu auch weiter unten den Abschnitt über die galenische Medizin.

67

das vergessene vermächtnis der hellenen theoretisierende Methode zum allgemein gültigen Standard erhoben wurde, dem alle zu entsprechen hatten, wenn sie Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben wollten.

Archimedes von Syrakus Das ptolemäische Ägypten war damals das bedeutendste Zentrum griechischer Wissenschaften, aber keineswegs das einzige. Wie wir bereits gesehen haben, war auch Tarent ein bedeutendes Zentrum wissenschaftlicher Tätigkeit, doch Syrakus in Sizilien war es ebenso. Diese Entwicklung begann bereits zu einer Zeit, als Athen noch durch die Perserkriege beeinträchtigt war. 480 v.Chr. besiegte der syrakusanische Tyrann Gelon die Karthager bei Himera, worauf er und sein brüderlicher Nachfolger Hieron I. Syrakus zu einem Zentrum hellenischer Kultur machten. Er förderte z.B. Aischylos und Pindar, die beide nach Sizilien auswanderten. Mit Gelons Tod schwächte sich dieses Mäzenatentum ab, doch Syrakus blieb weiterhin ein wichtiges Zentrum der Gelehrsamkeit und politischer Macht. Die Potenz der Stadt lässt sich auch am gescheiterten Versuch der Athener erkennen, die Stadt während des peloponnesischen Krieges einzunehmen. Karthago blieb allerdings während der gesamten Periode ein mächtiger Widersacher, solange bis Rom im Verlauf des zweiten punischen Krieges Syrakus 212 v.Chr. einnahm und damit die Rolle dieser Stadt gegenüber Karthago übernahm. Archimedes war Bürger dieser Stadt und zweifellos der bedeutendste Gelehrte, den sie hervorgebracht hat. Doch auch vor ihm lebten dort anerkannte Astronomen (z.B. Hicetas und Ekphantos) sowie Poeten von Namen. Es ist also festzuhalten, dass Archimedes keineswegs eine solitäre Erscheinung am intellektuellen Himmel dieser Stadt war. Über die genauen Lebensdaten des Archimedes wissen wir ähnlich wenig Bescheid wie über jene von Euklid. Im Unterschied zu diesem kennen wir aber immerhin sein Todesjahr, er starb nämlich durch das Schwert eines römischen Soldaten bei der Eroberung von Syrakus 212 v.Chr. Wir wissen auch, dass er Sohn eines Astronomen war und mit dem damaligen Tyrannen Hieron II. befreundet, möglicherweise sogar verwandt war. Die Schätzungen über seine Lebensdauer gehen weit auseinander, sie bewegen sich zwischen sechzig und etwa fünfundsiebzig Jahren. Mit Bestimmtheit weiß man hingegen, dass Archimedes einige Zeit am Museon in Alexandrien studiert hat. Wieder kennen wir die genauen Daten nicht, doch kann mit einiger Sicherheit angenommen werden, dass damals Euklid kaum mehr am Leben war. Man darf andererseits vermuten, dass zu jener Zeit Apollonius von Rhodos bereits Leiter der Bibliothek war. Offenbar war Erathosthenes, der spätere Vor68

archimedes von syrakus stand des Museon, schon in Alexandrien, denn beide dürften sich aus dieser Zeit gekannt haben.

Theoretiker oder Praktiker? Es ist bezeichnend, dass Archimedes, jung wie er gewesen sein muss, vermutlich schon damals die sogenannte »Archimedische Schraube« erfunden hat. Diese ist ein Gerät, das ähnlich wie eine Schneckenwelle in einem Fleischwolf dazu dient, Wasser zu heben. Man mag argwöhnen, dass diese Erfindung durch die im Museon niemals vernachlässigte Pflege praxisorientierten Wissens angeregt wurde. Da die süditalienischen Griechen36 in Abhebung zu Athen stets ein lebhaftes Interesse an derartigen Erfindungen hatten, erscheint es genauso gut möglich, dass Archimedes diesen musealen Stimulus nicht benötigt hat. Jedenfalls darf man vermuten, dass die oft zitierte Äußerung Plutarchs, dass Archimedes kein persönliches Interesse an derartigen Erfindungen gehabt hätte, vorrangig der platonischen Überheblichkeit des Autors zuzuschreiben ist, der den Namen eines bekannten Mathematikers nicht mit derartig »inferioren Tätigkeiten« befleckt sehen wollte. Faktum bleibt, dass sein Name trotz Plutarch mit einer Vielzahl technischer Entwicklungen in Verbindung gebracht wird. Zur Illustration seien einige genannt, um die Weite seiner Betätigungen zu demonstrieren. Damit ist keinesfalls gesagt, dass diese kurzen Erwähnungen schon erschöpfend sind: Archimedes wird als Hauptverantwortlicher für die Entwicklung und Verbesserung diverser Kriegsmaschinen genannt, die es den Römern während der jahrelangen Belagerung von Syrakus unmöglich gemacht haben sollen, die Stadt einzunehmen37. Zu den von Archimedes ent­ wickelten Maschinen gehörten Katapulte und Onager, die anders als ältere Maschinen genau kalibriert waren, sodass sie Geschosse unterschiedlich weit schleudern konnten. Berühmt ist auch die »Archimedische Kralle«, ein Kran mit Greifarm, der angeblich Schiffe ausheben und versenken konnte. Auch Hohlspiegel, die mit Sonnenlicht die Segel der Schiffe entzünden konnten, werden ihm nachgesagt, obwohl berechtigte Zweifel bestehen, ob derartige Spiegel damals in der notwendigen Größe machbar waren. Der Bau oder zumindest der Stapellauf eines für damalige Verhältnisse gewaltigen Schiffes, der »Syrakusia«, 36 Archytas bestätigt diese süditalienische Tradition. 37 Eingenommen wurde Syrakus nur aufgrund einer List und einer gewaltigen Unvorsichtigkeit der Syrakusaner, die anlässlich eines Festes zu Ehren der Artemis einen Großteil der Wachen abzogen. Das erlaubte einer kleinen Truppe römischer Soldaten einzudringen und die Tore zu öffnen.

69

das vergessene vermächtnis der hellenen die ca. 2.000 Tonnen Ladekapazität gehabt haben soll und auf der sich bewässerte Gärten, eine Bibliothek, ein Gymnasion und acht Verteidigungstürme befunden haben sollen, wird auch mit seinem Namen in Verbindung gebracht. Aus wissenschaftlicher Sicht aber dürfte ein Astrolabium, das Cicero erwähnt, seine größte diesbezügliche Leistung gewesen sein. Mithilfe dieses Instruments konnten Planetenbewegungen exakt simuliert und sogar Sonnen- und Mondesfinsternisse bestimmt werden. Der sogenannte »Antikythera-Mechanismus«, der heute im Nationalmuseum in Athen zu sehen ist, könnte, so meinen manche, ein Exemplar dieses Geräts sein. Manche vermuten sogar, dass es sich dabei um jenes Astrolab handelt, das Cicero besessen haben soll, das aber bei einem Schiffbruch vor Antikythera verloren gegangen ist. Offen bleibt allerdings, ob es tatsächlich von Archimedes entworfen wurde. Aber selbst wenn nur ein Teil dieser Überlieferungen den Tatsachen entsprechen sollte, so kann man daraus kaum den Schluss ziehen, dass dieser Mann aus Syrakus die praxisorientierte Seite seiner Forschungen nur unter Zwang betrieben hat, wie es Plutarch nahezulegen versucht. Dass dem nicht so sein kann, legen sogar die überlieferten theoretischen Schriften nahe. Bedenkt man ihren Inhalt, so wird schnell klar, dass sie durch praktische Fragestellungen inspiriert wurden. Dies verdeutlicht z.B. seine Schrift »Über schwimmende Körper«. Anhand dieser Abhandlung lässt sich zeigen, dass die theoretischen Arbeiten des Archimedes vorwiegend von praktischen Überlegungen bestimmt waren.

Schwimmende Körper Die Arbeit über »schwimmende Körper« ist in zwei Teile untergliedert. Buch I befasst sich in allgemeiner Weise mit einem Thema, das heute als »Hydromechanik« bezeichnet würde. Es macht etwa 20 Prozent der gesamten Arbeit aus. Im ersten Teil benutzt der Erfinder aus Syrakus zur Illustration seiner Vorgehensweise einfache geometrische Körper wie Kugeln. Das zweite Buch, welches ca. 80 Prozent der Arbeit ausmacht, widmet sich dann aber ausschließlich Rotationsparaboloiden. Ein Schnitt durch einen derartigen Körper ergibt eine Parabel, und spätestens dann sollte klar werden, dass es sich dabei um Schnitte durch einen Schiffskörper handelt, das heißt um einen idealisierten »Spantenriss«. Dass das die dahinterstehende Intention ist, wird schnell ersichtlich. In der weiteren Untersuchung beschäftigt er sich nämlich intensiv mit Fragen des Gleichgewichts von solchen schwimmenden Körpern. Wann richtet sich ein Schiff etwa von selbst wieder auf, wenn es durch irgendwelche Störungen schräg gestellt wurde? Noch wesentlich bedeutungs70

archimedes von syrakus voller ist die Frage, wann neigt sich dieser Körper so weit, dass die »Grundfläche«, also das Deck, die Oberfläche der Flüssigkeit berührt? Das ist gleichbedeutend mit einer Situation, wo Wasser in ein Schiff eindringen kann. Um derartige Fragen beantworten zu können, müssen bestimmte Vor­aussetzungen erfüllt sein. So muss man zunächst in der Lage sein, den Rauminhalt eines Paraboloids bestimmen zu können bzw. den Flächeninhalt seines parabelförmigen Querschnitts. Damit nicht genug, braucht es auch die fiktive Kenntnis von etwas, was wir als Schwerpunkt eines Körpers bezeichnen. Damit lässt sich nämlich erst abstrahierend bestimmen, wie Kräfte angreifen und welche »Drehmomente«, d.h. Hebel­wirkungen, sie erzeugen. Um nun aber das alles bestimmen zu können, muss nicht nur der Flächeninhalt von Parabelsegmenten berechnet werden, sondern zusätzlich auch deren Schwerpunkt. Allen derartigen Fragen sind unterschiedliche Bücher gewidmet, wobei es Archimedes mit Geschick versteht, Zusammenhänge zwischen Flächen mit gekrümmten Begrenzungen – wie eben Parabeln oder Ellipsen – und solchen mit geradliniger Begrenzung aufzuzeigen. Dies ist deshalb nötig, weil die etablierten Verfahren der Proportionenlehre der pythagoreischen Mathematik – die in Magna Graecia Tradition hatte – vorrangig mit Dreieckssätzen arbeiteten. In einer dieser Schriften zeigt er deshalb, dass sich jede geradlinig begrenzte Figur in eine Menge von Dreiecken zerlegen lässt. Allerdings sollte man eines nicht übersehen: Schiffsplanken werden gebogen und nicht zu Polygonen zusammen gefügt, weshalb es wünschenswert erscheint, Figuren mit gekrümmten Begrenzungslinien durch Dreiecke zu approximieren. Ein derartiges Verfahren entwickelte der Mathematiker aus Syrakus zur Bestimmung des Flächeninhalts eines Parabelsegments. Anfänglich verwendet er zur Bestimmung dieses Flächeninhalts ein Näherungsverfahren. Den Inhalt des Parabelsegments bestimmt er beispielsweise dadurch, dass er ihn als das 4/3-fache jenes Dreiecks definiert, das dem Parabelsegment so eingeschrieben wird, dass seine Grundkante mit der Schnittgeraden der Parabel und die gegenüberliegende Spitze mit dem Scheitelpunkt des Parabelsegments zusammenfällt. Den Beweis dafür liefert er auf unterschiedliche Weisen gleich mehrere Male, was unsere Aufmerksamkeit erregt, wenn wir uns an obige Ausführungen zurückerinnern.

Unterschiedliche Beweisverfahren Vorgeblicher Anlass für die Verdoppelung seines Beweisverfahrens ist der Umstand, dass Archimedes behauptet, zuerst aufgrund mechani­ 71

das vergessene vermächtnis der hellenen scher Überlegungen zu seinen Erkenntnissen gelangt zu sein. Solche Überlegungen wurden aber in der alexandrinischen Gelehrtenwelt nicht als Beweis akzeptiert, weil Beweise eben in geometrischer Form vorzulegen waren. Das bedeutete, dass sie sich dem Argumentationsmodus Euklids bzw. der aristotelischen Logik anzupassen hatten. In seiner Schrift über »Die Quadratur der Parabel«, welche er in Briefform seinem Kollegen Dositheos übermittelte, kündigte er an, die Richtigkeit der Bestimmung des Flächeninhalts eines Parabelsegments in zweifacher Weise nachzuweisen, wobei angeblich jedes Mal dasselbe Ergebnis zustande käme. Sein zweiter Beweis wurde allerdings erst in einem anderen Brief erbracht, der an Eratosthenes, den damaligen Leiter des Museon, adressiert war. Aus dieser Duplizierung seines Beweises lässt sich vorweg schon unschwer erkennen, dass in Alexandrien seit der Stiftung des Museons unter der Leitung Euklids der nämliche Geist gepflegt wurde, der bereits die oben geschilderten Differenzen zwischen Archytas und Platon bestimmte. Beweise aufgrund mechanischer Argumente orientieren sich zwangsläufig an empirischen Erfahrungen, genauso wie die proportionale Beschreibung musikalischer Akkorde durch Archytas auf den Praktiken der Musiker aufbaute. Oben haben wir aber bereits gesehen, dass diese Vorgehensweise von Platon abgelehnt und diskreditiert wurde und demgemäß auch von den Eleven der Akademie. Platons intellektueller Enkel Euklid richtete sich aber nicht nur nach solchen Traditionen, sondern erhob diesen Denk- und Argumenta­ tionsmodus zur alles beherrschenden Doxa in Alexandrien. Die Folgen dieser Dominanz bleiben nicht aus, und wir werden ihnen noch öfter begegnen. Kehren wir zunächst zum Brief an Dositheos zurück. Zuerst müssen wir feststellen, dass Archimedes darin zwar den geometrischen Nachweis liefert, der sich eines Exhaustationsverfahrens des Parabelsegments mithilfe von Dreiecken und Argumenten über geometrische Reihen bedient. Den zweiten Beweis, den er mithilfe erstaunlicher mechanischer Gedankenexperimente führte, liefert er nicht mit. Wir erinnern uns, dass Gedankenexperimente schon von Archytas als Argumentationshilfen eingesetzt wurden, weshalb man vermuten darf, dass sie in Magna Graecia als Argumentationsmittel verbreitet waren. Glücklicherweise schickte aber Archimedes einen Brief an Eratosthenes, von dem Abschriften erhalten blieben. Eine von diesen Kopien erregte in jüngster Zeit Aufsehen. In diesem Palimpsest, das zwar bereits von J.L. Heiberg 1906 entdeckt wurde, aber erst unlängst mittels neuester Technologien zur Gänze dechiffriert werden konnte, werden mehrere höchst erstaunliche Beweisverfahren dokumentiert: eines davon betrifft die Berechnung des Flächeninhalts eines Parabelsegments, ein weiteres die Berechnung 72

archimedes von syrakus des Volumens eines »Zylinderhufs« (ein Körper, der entsteht, wenn ein Halbzylinder mit einer Ebene geschnitten wird, die durch den Mittelpunkt seiner Grundfläche geht), und schließlich die Lösung eines »Puzzles«, bei dem die Anzahl möglicher Kombinationen der Teile ermittelt werden soll. Diese letztgenannte Untersuchung – als »Stomachion« bezeichnet – existierte bislang nur bruchstückhaft in Form von Rückübersetzungen aus dem Arabischen. Trotz interessanter Aspekte, die allein deshalb diskussionswürdig wären, weil manche Forscher das »Stomachion« als eine Vorwegnahme der abendländischen Kombinatorik sehen, werden wir sie im Folgenden nicht besprechen. Wir kehren hingegen zum Parabelsegment zurück. Denn es wird vermutlich interessieren, wie Archimedes mittels mechanischer Überlegungen nachweisen konnte, dass der gesuchte Flächeninhalt 4/3 des eingeschriebenen Dreiecks beträgt? Dieser Nachweis ist ungewöhnlich und beschreibt zugleich eine Denkweise, die uns heute abhanden gekommen ist. Deshalb soll der Versuch gemacht werden, diesen Beweis nachzuzeichnen.

Die Quadratur der Parabel Seine Argumentation war komplex. Deshalb wurden Details seiner Beweisführung in den Appendix ausgelagert. Hier nur in groben Zügen skizziert, handelt es sich aber um folgende Argumentation: Nachzuweisen gilt es, dass der Flächeninhalt eines Parabelsegments 4/3 der Fläche eines eingeschriebenen Dreiecks ausmacht. Nachdem dieses Dreieck im Parabelsegment eingetragen ist, folgen einige Überlegungen auf Basis der Proportionenlehre bei Dreiecken. Ergebnis dieser Überlegungen ist, dass diese Proportionen für jede beliebige Parabel Geltung haben. Soweit bleibt die Vorgehensweise im Rahmen einer tradierten Beweistechnik pythagoreischer Mathematik. Das Folgende liegt allerdings außerhalb der überlieferten griechischen Usancen. Im erwähnten Brief an Dositheos stellt Archimedes plötzlich Überlegungen über Gleichgewichtsverhältnisse auf einer Balkenwaage an. Er setzt dabei dem Inhalt eines gegebenen Rechtecks denjenigen eines Dreiecks gegenüber, das er oberhalb seines Schwerpunkts am Balken aufgehängt denkt. Wenn sich beide Gewichte im Gleichgewicht befinden, verhalten sich die Abstände der Aufhängepunkte vom Lager am Balken zu den Flächen umgekehrt proportional, G1 : G2 = a2: a1. Diese Proportion ist nichts anderes als das Hebelgesetz, allerdings sind die Gewichte rein immaterielle Größen, wie in diesem Fall Flächen, in anderen Zusammenhängen auch Volumina oder Strecken. Handelt es sich z.B. bei G1 um ein Rechteck, dessen Schwerpunkt mit dem Schnittpunkt der Diagonalen zusammen fällt, und bei G2 um ein Dreieck, 73

das vergessene vermächtnis der hellenen dessen Schwerpunkt mit dem Schnittpunkt der mittleren Transversalen übereinstimmt, d.h. der Strecken, die vom Mittelpunkt einer Seite zum gegenüberliegenden Eckpunkt gezogen werden können, so verhalten sich die Längen der Waagebalken auf jeder Seite zueinander wie 3:1. Das ergibt sich daraus, dass sich die mittleren Transversalen des Dreiecks im Verhältnis 2:1 schneiden. Demnach ist in diesem Fall die Fläche des Dreiecks dreimal so groß wie jene des Rechtecks, da der Hebelarm nur ein Drittel des Hebelarms auf der Seite des Rechtecks ist. Im Brief an Eratosthenes werden diese Überlegungen allerdings nicht wiederholt, doch benutzt. Das Erstaunliche an dieser Vorgehensweise ist, dass der Gelehrte aus Syrakus vorschlägt, geometrische Objekte abzuwägen. Bekanntlich sind ja solche Figuren masselos und können folglich auch kein Gewicht und genau genommen auch keinen Schwerpunkt haben. Es handelt sich also um ein Gedankenexperiment, bei dem einem masselosen Objekt trotz allem Gewicht zugeschrieben wird. Dieser Schritt war nicht gänzlich neu, denn Archimedes hatte sich mit der Bestimmung des Schwerpunktes in Dreiecken schon früher, nämlich in einer Schrift mit dem Titel »Über das Gleichgewicht ebener Flächen oder über den Schwerpunkt ebener Flächen« befasst38. Darauf kommen wir noch zurück. Im Brief an Dositheos stellt Archimedes weitere systematische Überlegungen an, wie ein Dreieck in Trapeze geteilt werden kann bzw. solche angefügt werden können, und welche Folgen das für den Gleich­gewichtszustand nach sich zieht. Nachdem diese Überlegungen durchexerziert wurden, kehrt er zum Parabelsegment zurück. In der Folge wird nun auch hier ein rechtwinkeliges Dreieck, das sich aus einer Tangente an die Parabel, der Basis des eingeschriebenen Dreiecks und einer Vertikalen darauf ergibt (in Abb. 1 im Appendix das Dreieck AZC), in Trapeze zerlegt. Die Summe der so erzeugten Trapezflächen, die das ganze Dreieck AZC abdecken, wird nun einer Summe von Rechtecken auf der anderen Seite eines Waagbalkens gegenübergestellt. Nachdem aber die »Gewichte der Rechtecke«, d.h. also die Flächen, bekannt sind und die Länge der Waagarme detto, lässt sich nun daraus der Inhalt des Parabelsegments ableiten. 38 Dieser Beweis könnte als Paradebeispiel für die vorherrschende Methode der alexandrinischen Schule genommen werden. Archimedes behauptet, dass der Schwerpunkt auf einer mittleren Transversale liegen muss. Dies beweist er mithilfe eines indirekten Beweisverfahrens: Er nimmt der Argumentation wegen an, dass der Punkt woanders liegt und zeigt dann, dass diese Annahme zu Widersprüchen führt. Damit ist auch die Richtigkeit der ursprünglichen Annahme erwiesen, weil dann, wenn sich eine Behauptung als falsch erweist, ihr Gegenteil wahr sein muss.

74

archimedes von syrakus In dem erst unlängst vollständig entschlüsselten Palimpsest des Archimedes über die »Methodenlehre von mechanischen Lehrsätzen« – kurz auch »Ephodikon« (εϕοδικον) genannt – geht er nicht länger auf solche Details ein. In diesem Ephodikon wird die grafische Konstruktion genauso wie oben durchgeführt, aber die daraus gezogenen Schlüsse und Argumente unterscheiden sich, ohne das Ergebnis selbst zu verändern. In diesem Dokument verschiebt er eine Strecke (in Abb. 1: OX) scheinbar willkürlich an das Ende einer anderen Strecke (in Abb. 1: TC) und befestigt sie am Schwerpunkt, der natürlich in der Mitte der Strecke (in Abb. 1: T) liegt. Er kümmert sich dabei wenig darum, dass die verschobene Strecke (in Abb. 1: OX) kein materielles Objekt, sondern ein geometrisches Objekt ist. Er vermischt also Mathematik, Physik und Mechanik nach Belieben. Ähnlich verfuhr auch Archytas, als er die Proportionen von Tonfolgen bestimmen wollte. Beide wurden deshalb von den Platonikern nicht akzeptiert. Die Vorgehensweise von Archimedes legt einmal mehr nahe, dass er praxisnahe dachte und keine derartigen »platonischen« Berührungsängste kannte. Was aber in der weiteren Argumentation folgt, ist für Menschen unserer Zeit noch schwerer nachzuvollziehen als die an und für sich schon sehr originellen Argumente davor. Aufgrund seiner Ergebnisse über Verhältnisse zwischen Geraden macht Archimedes Rückschlüsse auf die Ganzheit. Er nimmt dazu einen beliebigen Repräsentanten (die Gerade XO in Abb. 1) als Indikator für Gegebenheiten im Ganzen. Weil ja das aus Tangente und Vertikale gebildete Dreieck (in Abb.1: CZA) aus sämtlichen Geraden in diesem Dreieck besteht, erlaubt er sich, Rückschlüsse auf die Verhältnisse im Ganzen zu machen. Man könnte das mit einem Schluss der Art vergleichen: Wenn ein Schwan weiß ist, sind alle Schwäne weiß. Die detaillierte Argumentation dazu findet sich im Appendix. Das Resultat ist, dass sich aus derartigen Gleichgewichts­ überlegungen ergibt, dass dieses Dreieck mit dem Parabelsegment bezüglich des Lagerpunkts des Waagarms im Gleichgewicht sein muss und sich folglich die Flächen umgekehrt proportional wie die Hebelarme verhalten müssen. Was uns überrascht, ist, dass trotz dieser schwer nachvollziehbaren Argumentation das Ergebnis stimmt. Die Fläche des Parabelsegments ist tatsächlich 4 /3 mal so groß wie jene des eingeschriebenen Dreiecks. Abschließend meint dann Archimedes, dass es sich bei diesem Vor­ gehen um keinen Beweis handeln könne, sondern nur um ein hilfreiches heuristisches Verfahren, dem ein entsprechender geometrischer Beweis folgen müsse. Den hat er in dem Schreiben an Dositheos geliefert. Warum diese Methode kein Beweisverfahren darstellt, wird nicht diskutiert. Er weiß offenbar aus eigener Erfahrung, dass Beweise stets 75

das vergessene vermächtnis der hellenen Ergebnis von kulturellen Gepflogenheiten eines bestimmten »Denkkollektivs«39 sind, die unhinterfragt zu akzeptieren sind, wenn man dessen Anerkennung sucht. Die Frage, warum dies kein Beweis sein soll, stellt sich allerdings für uns. In den Augen der platonischen Gelehrten aus Alexandrien kann es deshalb keiner sein, weil Archimedes im Grunde einen zwar abstrahierten, doch trotzdem empirischen Beweis erbringt, wenn er beginnt, immaterielle Strecken wie materielle Objekte hin und her zu schieben. Eine solche Vorgehensweise ist Idealisten suspekt. Das schien u.a. auch Plutarch bewegt zu haben, zur »Ehrenrettung« des Syrakusaners anzutreten und zu behaupten, dass seine zahllosen praktischen Erfindungen nur aus Nötigung vonseiten des Tyrannen gemacht worden wären. Man darf allerdings daran Zweifel hegen, dass derartig komplexe Überlegungen, wie wir sie gerade kennengelernt haben, sich durch Nötigung allein einstellen würden. Im Gegenteil scheint es naheliegender zu sein anzunehmen, dass die komplexen Berechnungen eben aufgrund jener Notwendigkeiten gemacht wurden, die sich aus Alltagsproblemen wie dem Entwurf großer Schiffe ergaben. Archimedes verfährt jedenfalls an der Stelle, wo die theoretischen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, ähnlich wie Archytas. Als dieser Tonleitern aufstellen, d.h. die Gesamtheit aller verwendeten Töne in einem Musikstück beschreiben wollte, griff er zur Empirie. Archytas beobachtete die Praktiken der Musiker. Archimedes, so behaupte ich verein­ fachend, beobachtete die Praktiken von Kaufleuten, die den Wert ihrer Waren mithilfe von Waagen bestimmen. Dort, wo geometrische Regeln nichts mehr liefern konnten, benutzte er jene der Mechanik, die aber in den Augen der Gelehrten keine theoretische Wissenschaft war.

Der Zylinderhuf Wie bereits angedeutet, wurde das Archimedes-Palimpsest von J.L. Heiberg entdeckt und von ihm, so weit wie damals möglich, übertragen und übersetzt. Allerdings fanden sich weite Strecken, wo damals der ursprüngliche Text nicht rekonstruiert werden konnte oder wo Teile fehlten. Das war insbesondere dort der Fall, wo es um die Rekonstruktion der Berechnung des Zylinderhufs ging. In der Ausgabe von Archimedes’ Werken von A. Czwalina (1986) ist demnach diesem Teil nur geringer Raum gegeben, weil damals eben nicht mehr zur Verfügung stand. Inzwischen haben sich R. Netz und W. Noel um zusätzliche Verfahren bemüht, den Text jener mittelalterlichen Handschrift weiter zu vervoll39 Ich benutze hier einen Begriff von L. Fleck (1935). Siehe dazu auch Kapitel VII in diesem Band.

76

archimedes von syrakus ständigen. Ihre Mühen wurden belohnt, sodass nun weitere Einsichten in das überlieferte Material möglich wurden. Einen erstaunlichen Einblick gewann man dabei bei der Rekonstruktion obiger Fragestellung. Im Folgenden halte ich mich daher an diese Veröffentlichung (R. Netz, W. Noel, 2007). Im Rahmen meiner Arbeit ist es unmöglich und auch nicht beabsichtigt, sämtliche Details von Archimedes’ Werken darzustellen. Ich konzentriere mich hingegen auf solche Stellen, die im Zentrum unseres unmittelbaren Interesses, d.h. im Aufzeigen soziomorpher Begleitumstände, liegen. Dafür liefert die Vorgehensweise des antiken Meisters ein anschauliches Beispiel. Doch nicht nur dessen ungewohnte Denkweise liefert uns reiches Anschauungsmaterial, sondern sogar auch jene Schlussfolgerungen, die z.B. Netz, Noel und ihr Team bei der Aus­legung und Wertung ihrer neuen Einsichten ziehen. Auch diese lassen soziomorphe Leitbilder erkennen und unterstützen somit zusätzlich meine Position. Zum besseren Verständnis ist es auch hier unumgänglich, die Fragestellung und die Vorgehensweise des Syrakusaners nachzuzeichnen. Da aber die Argumentationskette nicht weniger komplex verläuft als bei der Quadratur des Parabelsegments, habe ich diese ebenfalls in den Appendix ausgelagert. Die Fragestellung lautet: Wie groß ist das Volumen eines aus einem Zylinder herausgeschnittenen Stücks, das annähernd die Form eines Pferdehufs hat? Dieser Huf ergibt sich, wenn ein Kreiszylinder in einen Würfel eingeschrieben wird, dessen Seitenlänge dem Durchmesser der Grundfläche des Zylinders gleich ist. Demnach ist auch die Höhe des Zylinders gleich diesem Durchmesser. Nun wird eine Ebene durch den Mittelpunkt des Kreises gelegt, die parallel zu einer Würfelkante den Zylinder und den Würfel so schneidet, dass diese Ebene E1 durch die obere Kante des Würfels geht. Archimedes behauptet nun, dass dieses Volumen genau ein 1/6 des Volumens des Würfels sei. Schon einer der ersten Schritte des griechischen Mathematikers überrascht. Er zeichnet nämlich in der Grundfläche des Prismas bzw. Halbzylinders ein Parabelsegment ein, dessen Sehne gleich der Würfelkante und dessen Scheitel den Halbkreis der Zylindergrundfläche berührt. Die Szene ist damit gesetzt. Archimedes beginnt mit seinen Kunststücken, die darin bestehen, Verhältnisse von Verhältnissen zu bestimmen. Er bestimmt nun drei rechtwinkelige Dreiecke, die sich durch einen weiteren vertikalen Schnitt zur Grundfläche mit Parabel, Halbkreis und Würfelkante ergeben. Dann demonstriert er, dass sich die Flächen dieser Dreiecke zueinander so verhalten, wie sich die Grundlinien dieser Dreiecke zueinander verhalten. Flächen verhalten sich zueinander wie Strecken. 77

das vergessene vermächtnis der hellenen Das ist schon ziemlich ungewöhnlich, doch nachvollziehbar, da es sich um ähnliche Dreiecke handelt. Doch daraus wird nun geschlossen, dass sich auch das Volumen des Prismas zum Volumen des Zylinderhufs so verhält wie die Fläche des Rechtecks (Grundfläche des Prismas) zur Fläche des Parabelsegments. Diese Fläche ist 4/3 des eingeschriebenen Dreiecks, wie wir bereits wissen. Das ist aber halb so groß wie die Fläche des Rechtecks. Demnach ist die Fläche des Parabelsegments 2/3 der Fläche des Rechtecks oder der halben Würfelgrundfläche. An dieser Stelle fehlt im Fragment der darauf folgende Teil. Aber im nachfolgend vorhandenen Teil stellt Archimedes fest, dass sich das Volumen des Prismas zum Volumen des Zylinderhufs so wie die Fläche des Rechtecks (Basis des Prismas) zur Fläche des genannten Parabelsegments verhält. Nun verhalten sich Volumina zueinander wie Flächen, das überrascht erneut. Die Beweisführung, die zu dieser Aussage führte, fehlt allerdings im Originalmanuskript wieder. Da aber das Prisma ein Viertel des Volumens des Würfels einnimmt, verhält sich also das Volumen des Zylinderhufs zu dem des Würfels wie 1: 6, so wie anfänglich behauptet wurde.

Eine Vielheit …? Diese Folgerungen des antiken Meisters erregten die Gemüter unserer Zeitgenossen nicht wenig, die nun wissen wollten, wie jener zu seiner Schlussfolgerung kam. An dieser Stelle öffnet sich erfreulicherweise ein schon dringend benötigter Freiraum für Interpretationen – und damit für einen ungehinderten Soziomorphismus40. Denn nicht nur die alten alexandrinischen Platoniker oder ihre zeit­genössischen süditalienischen Empiriker entkommen solchen Vor­gaben nicht. Auch unsere eigenen Zeitgenossen sind davor nicht gefeit, wenn sie genötigt sind, neue Daten kreativ zu interpretieren. Das Problem, das zu klären war, bestand also darin, wie der antike Magier den »[…] Übergang von zufälligen Schnitten zu den ganzen Objekten […]« (R. Netz, W. Noel, op. cit., S. 199)

schaffte. Sein Ergebnis hatte scheinbar etwas mit der Addition von Verhältnissen zu tun. Jedenfalls ergab sich das elegante Resultat nicht aus der Physik, wie bei der Bestimmung des Parabelsegments mittels einer Waage. 40 »Soziomorphismus« deshalb, weil im Unterschied zu den griechischen Städten, wo in Kollektiven gedacht wurde, in unseren individualistischen Gesellschaften Summen von Einzelnen das Ganze bilden (s.u.).

78

archimedes von syrakus Die Dreiecke und Linien wurden diesmal auf keine imaginäre Waage gelegt, sondern – so behaupten Netz und Noel – sie wurden einfach addiert. »Unendlich viele Verhältnisse werden zu einem einzigen Verhältnis aufaddiert.« (ibid., S. 198)

Allerdings – so folgern Netz und Noel in den folgenden Seiten – würde dieser Ansatz bedeuten, dass die unendlich vielen Größen addiert eine Summe ergeben, die unendlich würde. Demnach wäre ein solches Vorgehen auszuschließen, denn schon in seiner Schrift »Über Konoide und Sphäroide« schließt der sizilianische Jongleur selbst die Summation von unendlich vielen Größen als unsinnig aus. In moderner Diktion würde dies darüber hinausgehend zugleich bedeuten, dass Archimedes bereits das Konzept eines »aktual Unendlichen« (ibid., S. 200) gedacht, gekannt und verwendet hätte. Doch zu dieser Zeit haben die Griechen solche Annahmen nicht gemacht.41 Eine Möglichkeit als Alternative zu diesem Dilemma wäre es zu beweisen, dass Archimedes auch diesen gewaltigen Gedankensprung bereits gemacht haben könnte. Das würde mehr oder weniger zugleich bedeuten, dass der Hexenmeister aus Syrakus die Infinitesimalrechnung, die im 17. Jahrhundert n.Chr. von I. Newton und G.W. Leibniz ent­wickelt wurde, ebenfalls bereits vorweg genommen hätte. Eine Vorstellung dieser Art muss das Herz jedes Mathematikers höher schlagen lassen. Umgekehrt sollten selbst unter solchen Auspizien nicht noch einmal vergleichbare Fehler gemacht werden, wie sie uns durch Plutarchs platonische Voreingenommenheit bereits präsentiert wurden. Das ist jedoch zu befürchten, wenn man bewusst oder unbewusst versucht, das Denken der Neuzeit in antike Köpfe zu projizieren. Aus diesem Grund werde ich der Argumentation von Netz und Noel ausführlicher folgen und dabei »[…] hartnäckig darauf bestehen, das Denken der Griechen grie­ chisch zu denken« (m.H., M.S.),

wie dies M. Heidegger42 empfiehlt. Aufgrund der schwer ramponierten Textstellen war deren Dechiffrie­ rung keineswegs ein Kinderspiel. Netz und Noel beschreiben die Probleme ausführlich, die sich ihnen stellten. An dem zur Debatte stehenden Teil der Handschrift arbeiteten die Forscher lange und intensiv und 41 Dabei bleibt anzumerken, dass sich spätantike Neoplatoniker durchaus darauf einigen konnten, dieses »aktual Unendliche« im Angesicht eines allgegenwärtigen, allmächtigen und ewigen Gottes zu akzeptierten. Das war allerdings Jahrhunderte nach Archimedes’ Tod. 42 Siehe dazu: M. Heidegger (1935/1936, S. 336).

79

das vergessene vermächtnis der hellenen schildern ausführlich, wie sie nach und nach das Rätsel lösen konnten. Mit Akribie, Erfahrung und Witz gelang es ihnen schließlich, zwei Worte in dem desolaten Pergament zu erkennen, sie lauteten: »isos plethei« (ισος πληϑηι). Dieses Wortpaar wurde als »gutes mathematisches Griechisch« erkannt und seine Bedeutung mit »gleich in ihrer Vielheit« (ibid., S. 202) übersetzt. Diese Übersetzung und Deutung legt eine mengentheoretische Sichtweise nahe. Dass »gleich in ihrer Vielheit« auch so verstanden werden könnte, dass »Eins-zu-eins-Beziehungen« zwischen zwei Mengen existieren, soll nicht bestritten werden. Die Frage stellt sich aber, ob auch Archimedes eine vergleichbare Überlegung angestellt hat, und ob er beweisen wollte, dass die Gleichheit zweier Mengen von unendlich vielen einzelnen Elementen durch eine Eins-zu-eins-Beziehung zu begründen wäre. Man darf in Anbetracht obiger Überlegungen daran zweifeln.

… oder das Ganze? Die Bedeutung dessen, was »gutes mathematisches Griechisch« meint, kann nicht unabhängig davon sein, aus welcher Geistesschule die Autoren kommen. Schon oben wurde ja ausführlich dargelegt, dass es zwischen den Denktraditionen der Griechen in Magna Graecia und jener in Athen in der Akademie und später in deren intellektueller »Pflanztochter«, dem Museon in Alexandrien, beträchtliche Unterschiede gab. Der Umstand allein, dass es Archimedes nötig fand, seine Erkenntnisse auf verschiedene Arten zu beweisen, und dass vom Syrakusaner selbst betont wurde, dies sei nötig, damit sie auch von den Alexandrinern akzeptiert würden, weist darauf hin, dass »gutes mathematisches Griechisch« nicht immer dasselbe meinen muss. Ich erinnere daran, dass schon Archytas, der ein, zwei Generationen vor Archimedes lebte, betonte, dass die Welt am besten mithilfe von Proportionen und Verhältnissen zu beschreiben sei, so wie es von dem gefeierten Bildhauer Polyklet kanonisch gefordert und von Archimedes beispielhaft vorexerziert wurde. Ich erinnere auch daran, dass nach Meinung des Tarentiners in jeder Wissenschaft zunächst die relevanten »Ganzheiten« zu unterscheiden seien und anschließend durch Differenzierungen innerhalb einer Ganzheit diese genauer zu bestimmen wären. Diese Ganzheiten sind in unseren Fall der Würfel, der Halbzylinder und vielleicht auch die Schnittebenen. Erst aufgrund solcher Bestimmungen seien laut Archytas Wissenschafter fähig, vorliegende Objekte oder Typen von Objekten, welche als Teile eines Ganzen zu betrachten sind, zu verstehen. Wie schon weiter vorne erwähnt, meint Archytas verallgemeinernd weiter, dass Personen, die Unterscheidungen, »was die Natur von Ganz80

archimedes von syrakus heiten« betrifft, gut zu treffen imstande sind, messerscharf feststellen könnten, wie Dinge in ihren Teilen beschaffen sind. Und wenn solche Erkenntnisse erst einmal gewonnen worden wären, dann ließe sich schließlich auch das Ganze verstehen. Ich illustriere dies nochmals am oben gebrachten Beispiel: Wenn ein Schwan weiß ist, dann sind alle Schwäne weiß, sonst wären es keine Schwäne. Wenn aber alle Schwäne weiß sind, dann ist es auch ein Schwarm von Schwänen. Was wir detailreich an den oben vorgestellten Beweisverfahren beim Syrakusaner erkennen, ist genau dieselbe Vorgehensweise, die der Tarentiner eingefordert hat. Zugleich wäre nochmals daran zu erinnern, dass sich die athenische Denktradition wesentlich von jener der süditalienischen Griechen unterschied. Folglich darf man bezweifeln, ob das »gute mathematische Griechisch«, das Netz und Noel dem Syrakusaner unterstellen, auch wirklich aus ein und derselben »Sprachfamilie« stammt? Es mag in der athenisch-alexandrinischen Tradition und noch mehr in der abendländischen angemessen sein, »isos plethei« mit »gleich in ihrer Vielheit« zu übersetzen. Diese Übertragung allein legt aber schon ein mengentheoretisches Vorverständnis nahe, bei dem »Ganzheiten« als Anhäufung von einzelnen Elementen begriffen werden und so das Ganze zur Summe seiner Teile wird. Von da ist es dann nur ein kleiner Schritt, wenn man die beliebigen, repräsentativen Schnitte, die Archimedes legt und in ihrer Gesamtheit betrachtet, auch als Summe von Teilen versteht, wie dies oben deutlich zum Ausdruck kam. Da diese beliebigen Schnitte zahllos sind43, werden sie konsequent als unendlich viele verstanden. In der Tradition Newtons oder Leibnizs wird daraus ein Integral, die Summation unendlich vieler, unendlich kleiner Teile.44 Allerdings hat Archimedes die Unendlichkeit nicht bemüht, und schon gar nicht jene »aktuale«, die die Anhänger Platons und platonischer Christlichkeit gerne einfordern. Der Gedankenexperimentator aus Syrakus spricht, wie wir gehört haben, nur von »isos plethei« und von sonst nichts. Was könnte ισος πληϑηι aber sonst bedeuten, wenn wir die »Vielheit« in dieser Weise nicht annehmen wollten? Im griechisch-deutschen, großen Schul-und Handwörterbuch von W. Gemoll und K. Vretska (2006) wird »ισο−πληϑης« schlicht mit »an Zahl gleich« übersetzt. Schon diese Übersetzung macht einen wesentlichen Unterschied aus, denn anders als eine Vielheit ist eine Zahl abzählbar. Es kann sich bei ισος πληϑηι um keine unendliche Vielheit handeln. 43 Es liegt nahe, an dieser Stelle bereits auf die von al-Farabi angestellten Überlegungen im Kapitel IX hinzuweisen. 44 Ob dies sinnvoll ist oder war, bezweifelt z.B. E. Schrödinger (1932, S. 2024) explizit.

81

das vergessene vermächtnis der hellenen Denn »viel« ist ja bekanntlich ein unbestimmtes Zahlwort 45, das entgegen anderer Behauptungen prinzipiell Nicht-Abzählbares bezeichnet. Was im Rahmen der von Archimedes angestellten Argumentation geschehen sein dürfte, ist, dass er in der Tradition des Archytas von der Kenntnis des oder der Teile die »Natur der Ganzheit« erschließt. Ohne mit folgender Aussage Emphase transportieren zu wollen, steht in diesem Denken »Einer für alle und alle für einen«, vor allem, wenn bei der archimedischen Untersuchung sichergestellt und betont wurde, dass es sich stets um beliebig gewählte Teile, seien sie Strecken oder Flächen, handelt. Um dies unserer Denkweise näher zu bringen, könnte man die Vorgehensweise des griechischen Meisters mit dem Ziehen eines Zufallssamples in einer statistischen Fehlerrechnung vergleichen46, wo gleichfalls von wenigen Teilen auf die Qualität des Ganzen geschlossen wird. Es ist nun zusätzlich lehrreich, sich auch die Grundbedeutungen dieser beiden Schlüsselworte anzusehen, denn der behauptete mathematische »Jargon« muss nicht notwendig auch von Archimedes so gemeint gewesen sein. Naheliegender scheint es für jemand gewesen zu sein, der wie Archimedes oder Archytas der Praxis nahestand, die beiden Begriffe auch in ihrer gängigen Bedeutung zu verwenden. »ισος« bedeutet ursprünglich »gleich, ähnlich, derselbe«, aber es bedeutet auch »sich nicht über andere erhebend, gerecht, unparteiisch«. »πληϑος« heißt die »Fülle, Menge, Masse, Versammlung, Volk«. Demnach hat ισος πληϑηι auch die Bedeutung einer »sich nicht über andere erhebenden Versammlung«. In beiden Worten schwingt somit stets auch ein Akzent mit, der den Griechen jeder Herkunft wichtig war, nämlich der Bezug auf die Polis, die Gemeinschaft der Stadt, die zugleich auch das Ganze47 repräsentierte. Dieser Konnex hatte im ptolemäischen Alexandrien schon seine Bedeutung verloren, denn dort war die alte Polis schon tot, so wie in jenem Griechenland, das von Philipp von Mazedonien erobert und unterworfen wurde. In Italien ist umgekehrt dieser Stadtstaat erst von den Römern eliminiert worden – bekanntlich starb Archimedes durch das Schwert eines Römers. 45 »Unbestimmte Zahlwörter« geben keine Auskunft über die konkrete Anzahl. 46 Keineswegs will ich damit unterstellen, dass Archimedes nun vielleicht auch schon die statistische Fehlerrechnung vorweggenommen hätte. 47 Dieses Verständnis wird etwa in Thukydides’ erstem Buch »Der peloponnesische Krieg« dort anschaulich, wo die korinthische Delegation einer Versammlung in Sparta die Athener und Athen beschreibt. Hier wird handgreiflich demonstriert, wie von den Teilen auf das Ganze geschlossen wird. Sie, die Athener, sind draufgängerisch, wagemutig, in die Ferne schweifend, etc. Und solcher Art ist die Polis, die den Spartanern gegenübersteht.

82

archimedes von syrakus Die Wissenschafter in Alexandrien waren ihrerseits bereits entwurzelte Individualisten, die mit der Milch aristotelischer Logik großgezogen worden waren. Ihnen waren die soziomorphen Hintergründe der Logistik des Archytas so fremd geworden wie jenes pythagoreische Beweisverfahren, das mithilfe des Platzierens von ψηϕοι (Psephoi, Rechensteine) argumentierte. Vermutlich kannten sie diese Beweisverfahren kaum mehr und benützten sie daher auch nicht. Was ihnen blieb, war dann eben jene andere Argumentationsweise, die der monokratische, mazedonische Metöke Aristoteles48 in dem von den Mazedoniern bereits unterworfenen Athen entwickelt hatte. Einen derartigen Bezug zur Historie herzustellen und mit Denk­ gepflogenheiten und akzeptablen Beweisverfahren der Wissenschaften in Verbindung zu bringen, wird bei vielen, ganz besonders aber bei der Mehrheit jener noch heute am Platonismus ausgerichteten Kollegen auf Widerstand und Protest stoßen. Platoniker lieben es nämlich, an eine einzige Wahrheit, die noch dazu erkennbar sein soll, und folglich auch an eine Doxa zu glauben. Diesen Glauben kann ich und will ich nicht teilen. Daher möchte ich mir zum Schluss dieses Kapitels bei einem anerkannten Wissenschaftshistoriker Unterstützung holen. G. Sarton meint z.B., obwohl es unmöglich wäre, sämtliche politische und kriegerische Begleitumstände darzustellen, »[…] gehört es doch zu den Pflichten eines Wissenschaftshistorikers zu schildern, warum bedeutende Wissenschafter gerade an bestimmten Orten ihre Arbeit durchführten und warum sich Wissenschaft gerade in einer bestimmten Umgebung auf die Art und Weise entwi­ ckelte, wie es eben geschah. Niemals entwickelt sich Wissenschaft in einem Vakuum – das darf nicht übersehen werden.«49 (m.H., M.S.)

Deshalb kann nicht unerwähnt bleiben, dass im weiteren Verlauf der Geschichte auch in Magna Graecia die Polis unterging. Dass damit auch deren Denkweise ausstarb, kann kaum überraschen. Dass umgekehrt die athenisch-alexandrinische Form von Wissenschaft als Institution einige Zeit überlebte, und welche Folgen dies zeitigte, soll noch an anderen Zweigen der Wissenschaft demonstriert werden, nämlich der Astronomie und der Medizin. Auch diese passten sich den in Alexandrien vorherrschenden Beweisverfahren an, was gleichfalls nicht ohne Konsequenzen blieb. Warum letztlich aber Wissenschaft fast gänzlich aus dem abendländischen Denken verschwand, wird im übernächsten Kapitel dargestellt. 48 Siehe dazu Kapitel X in diesem Band. 49 Meine Übersetzung aus dem englischen Original: G. Sarton (1959), Band II, S. 68.

83

kapitel ii

Das unvergessene Erbe Astronomie Anfänge Eingefleischte Naturwissenschafter meinen oft, dass die moderne Welt vom antiken Griechenland nur zwei nennenswerte wissenschaftliche Abhandlungen erbte. Die erste wäre Euklids »Elemente«. Die darin enthaltenen Theoreme wurden zwar nicht alle von ihm entdeckt, sondern waren Ergebnisse der Arbeiten von früheren Mathematikern wie z.B. Eudoxus von Knidos oder Theaetetus von Athen. Euklid aber ordnete diese Ergebnisse in einen logischen Aufbau und zeigte, dass alle letztlich von nur fünf einfachen Axiomen hergeleitet werden können. Die »Elemente« werden daher auch als das erste erfolgreiche Verfahren gesehen, ein axiomatisches mathematisches System1 zu entwickeln. Die Grund­ lage dafür hat allerdings bereits Aristoteles geschaffen2. Das zweite »Erbstück« ruht im »Almagest« des Astronomen und Wissenschafters Claudius Ptolemäus, der gleichfalls auf den fundierten Arbeiten vieler Vorgänger aufbaute. Ptolemäus kann als intellektueller Erbe von Apollonius von Perge und Archimedes von Syrakus betrachtet werden, die ihm ein beträchtliches mathematisches Wissen hinterließen. Andere bedeutende Astronomen vor Ptolemäus waren Meton von Athen, (5. Jahrhundert v. Chr.), Eudoxos von Knidos (5/4. Jahrhundert v. Chr.), Kallippos von Kyzikos (4. Jahrhundert v. Chr.), Aristarchos von Samos (4./3. Jahrhundert v. Chr.), der bereits ein heliozentrisches System vorschlug, Eratosthenes von Kyrene (3./2. Jahrhundert v. Chr.) und Menelaos von Alexandrien (1. Jahrhundert v. Chr.). Ptolemäus stellt vermutlich als Erster den Versuch an, einfache geometrische Erklärungen für alle augenscheinlichen Bewegungen der Sonne, des Mondes und der fünf anderen Planeten am nächtlichen Himmel zu geben. Fünf Pla1 Siehe dazu: M. Schmutzer, Band I, Kapitel X. 2 Siehe dazu: M. Schmutzer, Band I, Kapitel IX und XI. Bei dieser sehr vereinfachten Sicht der Naturwissenschafter bleibt außer Betracht, dass das aristotelische »Organon« nicht nur damals, sondern bis in die beginnende Neuzeit maßgebende Richtschnur war. Genauso übersehen die heutigen Jünger von Euklid und Ptolemäus oft, dass auch der Codex Justinianus eine wissenschaftliche Großleistung war. Auch dieser übte – wenn auch ähnlich lange wie Euklid und Ptolemäus im Abendland vergessen – mehr als ein Jahrtausend später dort nachhaltigen Einfluss aus.

84

astronomie neten deshalb, weil Uranus, Neptun und Pluto mit freiem Auge nicht zu erkennen sind und folglich nicht bekannt waren. Es ist bezeichnend, dass dieses Werk offenbar einen arabischen Namen trägt, obwohl es ja der Grieche Ptolemäus rund ein halbes Jahrtausend vor der Gründung des Islam verfasst hat. Scheinbar »arabisch« deshalb, weil der ursprüngliche griechische Titel »Mathematike Syntaxis« (Μαϑηµατικη Συνταξις)3 lautete. Später wurde das Werk mit dem Titel »Die umfassendste Ordnung« (Η Μεγαλε Συνταξις)4 ausgezeichnet. Die Arbeit erreichte uns, wie viele andere auch und wie die heute gängige Bezeichnung des Werks schon vermuten lässt, nur auf dem Umweg über die Araber. Da diese keine e und o kennen, wurde aus »megale« ein »magasti«, und aus dem griechischen Artikel »H (e)« der arabische Artikel »al«. Somit bezeichnen wir die griechische Arbeit auch heute noch mit ihrem griechisch-arabischen Namen.

Die Erde im Mittelpunkt des Kosmos Ptolemäus offeriert in diesem Werk ein Modell des Sonnensystems, in dem die Erde den Mittelpunkt dieses Systems bildet. In ihm bewegt sich die Erde nicht, sondern sie ist stationär. Dafür bewegt sich die Sonne, so wie es die tägliche Erfahrung vermittelt, auf einer kreisförmigen Bahn um die Erde. Der Neigungswinkel dieser Bahn zum terrestischen Äquator beträgt 23o. Im Fachjargon wird diese Bahn als »Ekliptik« bezeichnet. Außerdem bewegen sich die Planeten entlang kleinerer Kreise, die als Epizyklen bezeichnet werden. Die Mittelpunkte dieser kleineren Kreise rotieren selbst jeweils auf einer exzentrischen, großen Kreisbahn um die Erde. Diese Bahnen der Mittelpunkte werden »Deferenten« genannt. Deferenten und Epizyklen haben gleichfalls zum terrestischen Äquator eine konstante Neigung von etwa 23o. Diese exakten Angaben machte Ptolemäus aufgrund eigener Beobachtungen, die er ohne optische Hilfsmittel anstellte. Zugleich stützte er sich auf Arbeiten früherer Astronomen, und zwar insbesondere auf jene des Hipparchos von Nicaea, deren Ergebnisse er systematisch mit den eigenen verglich, ein Vorgehen, das auch Hipparchos bereits anwendete. Hipparchos (ca. 190 – 120 v.Chr.), der etwa eine Generation nach Archimedes lebte, ist einer der Wenigen seiner Zeit, die anscheinend nie nach Alexandrien gingen. Er lebte auf Rhodos. Insofern scheint er 3 »Eine mathematische Raumordnung«. 4 Da »syntaxis« eigentlich die Bezeichnung für eine räumliche Ordnung ist und »megale« das Größtmögliche bezeichnet, was offenbar der Kosmos ist, so ließe sich der Titel auch als »Die kosmische Raumordnung« oder als »Die Ordnung des Universums« deuten.

85

das unvergessene erbe den platonisch-aristotelischen Einflüssen weniger ausgesetzt gewesen zu sein und mehr den präsokratisch-süditalienischen Sichtweisen (s.o.) nahegestanden zu haben. Das zeigt sich z.B. daran, dass er ähnlich wie Archimedes Messgeräte und materielle Modelle wie die Armillarsphäre entwickelt und benutzt hat. Er wird wird mit der Entdeckung der terrestischen »Präzession« in Verbindung gebracht, das ist die dritte Rotationsbewegung der Erde. Diese Entdeckung soll und kann er nur aufgrund von Vergleichen seiner Beobachtungsdaten von Planeten und Sternkonstellationen mit jenen seiner Vorgänger gemacht haben. Bei diesen Vergleichen stellte er fest, dass die alten Daten im Vergleich zu seinen eigenen Beobachtungen systematische Abweichungen zeigten, woraus er folgerte, dass sich die Erdachse selbst entlang einer Kegelfläche bewegen müsse. Er bestimmte diese Rotation mit der Winkelgeschwindigkeit von ca. 1o pro hundert Jahren5. Heute wird mit 72 Jahren gerechnet. Ermöglicht wurde ihm die Entdeckung durch seine Sammlung astronomischer Beobachtungen, ein Schatz, der zum Teil bereits in babylonische Zeiten zurückreichte. J.D. North (1994) beurteilt seine Bedeutung allerdings in Hinblick darauf, dass er angeblich als Erster6 die griechische Astronomie auf einen neuen Weg gebracht habe, nämlich weg von der gängigen, qualitativ geometrischen Beschreibung hin zu einer empirischen Wissenschaft.

Entstehungsgeschichte des geozentrischen Systems Claudius Ptolemäus lebte im 2. nachchristlichen Jahrhundert und arbeitete, so wie die meisten anderen bedeutenden Wissenschafter der Epoche, in Alexandrien. Zur Zeit der flavischen Imperatoren war es bereits nur mehr Hauptstadt einer römischen Provinz. Auch er konnte auf ein beträchtliches Beobachtungsmaterial und reiche astronomische Kenntnisse zurückgreifen. Der bedeutendste Astronom war der genannte Hipparchos von Nicaea. Dieser hatte bereits eine Theorie der Bewegung der Sonne um die Erde entwickelt, die Ptolemäus benutzte. Ptolemäus beabsichtigte mit dem Almagest ein »kinematisches Modell« des Sonnensystems zu entwerfen, das die Bewegungen, wie sie von der Erde gesehen werden, wiedergeben sollte. Er entwarf ein vergleichsweise einfaches geometrisches Modell, das die scheinbaren Bewegungen von Sonne, Mond und den anderen Planeten relativ zur Erde beschreiben, aber keineswegs erklären wollte. So gesehen ist der Umstand, dass 5 Eine Geschwindigkeit, deren Folgen eben nur durch historische Abgleichung zu fassen sind. 6 Diese Einschätzung teile ich nicht, wie der kurze Exkurs über Aristarch verdeutlicht.

86

astronomie es sich bei dieser Darstellung um ein geozentrisches Modell handelt, selbst erklärend. Es war diese dahinterstehende Absicht, die ihn veranlasste, die Erde als stationäres System zu nehmen. Letztlich sollten die Bewegungen von diesem Standpunkt aus dargestellt werden. Kopernikus, der sich ca. siebzehn Jahrhunderte später ebenfalls mit den Planetenbewegungen auseinandersetze, hatte hingegen andere Anliegen. Er wollte u.a. auch die relativen Entfernungen oder mittleren Radien der Planetenbahnen im Sonnensystem bestimmen – was ihm auch aufgrund des von ihm vertretenen Heliozentrismus gelang. Doch war dies auch schon das einzige Motiv, das ihn veranlasste, das geozentrische Modell zu verlassen? Entsprach vielleicht das geozentrische Modell nicht länger den gesellschaftlichen Strukturen, deren Ebenbild es möglicherweise sein sollte? Um eine Beantwortung dieser Fragen werde ich mich gleich noch bemühen.

Die Struktur des Almagest Das Werk besteht, so wie Euklids »Elemente«, vermutlich nicht ganz zufällig aus dreizehn Büchern7. Gleich im ersten Buch präsentiert Ptolemäus die aristotelische Kosmologie. In dieser liegt die Erde bewegungslos im Zentrum des aus Kristallschalen bestehenden Universums. Fixsterne und Planeten bewegen sich auf diesen Schalen um die Erde. Dieses erste Buch des Almagest wird mit einer Tabelle von Winkelsekanten abgeschlossen, die im Prinzip dem entsprechen, was wir heute mithilfe trigonometrischer Winkelfunktionen darstellen. Auch die Ekliptik und deren Neigung wird besprochen. Das zweite Buch behandelt die tägliche Rotation der himmlischen Sphären, Auf- und Untergang der Himmelskörper, Länge des Tages, die Bestimmung der geografischen Breiten mit dem Gnomon, Tag- und Nachtgleiche und die Winter- und Sommersonnenwende. Auch die Folgen von Standpunktänderungen und die Parallaxe werden hier behandelt. Das dritte Buch widmet sich der Diskussion der Länge des Sonnen­ jahres und der Rotation der Sonne. Es erklärt die hipparchische Präzession und beginnt nach diesen Einführungen mit der Theorie der Epizyklen. In den zwei folgenden Büchern IV und V werden die Bewegung des Mondes sowie die Größen und Entfernungen von Mond und Sonne in

7 Es sollte darauf hingewiesen werden, dass ein »Buch« etwa einem Kapitel in diesem Band entspricht. Dreizehn Bücher entsprechen demnach in unserer Diktion ca. dreizehn Kapiteln in einem Buch.

87

das unvergessene erbe Relation zur Erde behandelt. Buch V bespricht auch die Konstruktion eines Astrolabs. Buch sechs behandelt Sonnen- und Mondesfinsternisse. Die nächsten zwei Bücher (VII, VIII) beschäftigen sich mit den Fixsternen. Sie enthalten auch einen Katalog von 1022 Sternen, geordnet nach Helligkeit und Position. Man darf annehmen, dass es sich dabei um denselben oder zumindest einen sehr ähnlichen Katalog handelt, wie ihn bereits Hipparchos aufgestellt hat. Buch IX behandelt allgemeine Probleme, wie sie bei der Aufstellung von Planetenmodellen entstehen, wobei dem Merkur besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Dieser innerste Planet machte Ptolemäus auch die größten Probleme, u.a. weil er wegen seiner großen Sonnen­ nähe sehr schwer zu beobachten ist und außerdem noch eine vergleichsweise große Exzentrizität besitzt. Die beiden folgenden Bücher X und XI beschäftigen sich zuerst mit den erdnahen Planeten Venus und Mars und danach mit den äußeren, Jupiter und Saturn. Das vorletzte Buch (XII) behandelt Fragen, die auch noch J. Kepler beschäftigten, nämlich den Stillstand und die beobachtbaren rückläufigen Bewegungen der Planeten. Das letzte der dreizehn Bücher untersucht die beobachteten Abweichungen der Planetenbahnen von der Ekliptik. Fassen wir die Hauptargumente des Almagest zusammen, so lassen sich nach G.J. Toomer (1998) fünf zentrale Annahmen ableiten: 1. Das Universum ist kugelförmig und rotiert wie eine Kugel. 2. Die Erde ist eine Kugel. 3. Die Erde bildet das Zentrum des Kosmos. 4. Im Verhältnis zu den Entfernungen der Fixsterne hat die Erde keine zu berücksichtigende Größe. Sie kann daher wie ein mathematischer Punkt behandelt werden. 5. Die Erde bewegt sich nicht.

Evaluation des ptolemäischen Modells Bereits Apollonius von Perge (ca. 262 – 190 v.Chr.) hatte Deferenten­ zyklen und Epizyklen eingeführt. Demnach bestanden die – wenn man so will – »Erkenntnisfortschritte«8 des ptolemäischen System gegenüber 8 Dass ich mich der Vorstellung von möglichen »Erkenntnisfortschritten« nicht anschließe, dürfte wohl bereits deutlich geworden sein. Dazu ein Zitat: »Dass die Geschichte der Wissenschaft stets die Geschichte eines Fortschritts darstellen muss, der sich langsam, aber unaufhaltsam gegen eine Vielzahl von Irrtümern durchgesetzt hat, gerät damit [m.E.: »damit« bezieht sich auf die »These von der Theoriegeladenheit von Beobachtung«] ins Wanken.«

88

astronomie früheren Ansätzen in der »Erfindung« des Äquanten, dessen Funktion weiter unten besprochen wird. Dadurch wurde nämlich erst eine Kontrolle der Messdaten mithilfe eines hypothetischen Konzepts möglich. Folglich konnten von Ptolemäus nun empirische Daten theoretischen gegenübergestellt und so evaluiert werden9. Der durchschlagende Erfolg seines Systems ergab sich aber aus einem vergleichbar ähnlichen Umstand wie bei Euklid, nämlich daraus, dass es zu einem weitverbreiteten Lehrbuch der mathematischen Astronomie wurde. Hier scheint es angebracht, an T.S. Kuhn (1962) zu erinnern, der ja nicht nur zwischen »normalen« und »revolutionären Wissenschaften« unterschied, sondern seine Analysen der Entstehung von »Paradigmen« durch das Studium von Lehrbüchern vervollständigte. Die weite Verbreitung eines Textbuchs erzeugt erst diese paradigmatische Sonderstellung, und sie ließ die »Elemente« des Euklid so wie den »Almagest« zu jenen Standardwerken werden, welche sukzessive die meisten anderen Texte zum Verschwinden brachten. In deutlicher Abhebung zu Hipparchos wird heute unter Wissenschaftern die Auffassung vertreten, dass Ptolemäus zu sehr an wesent­ lichen Vorgaben der aristotelischen Philosophie hing. Er würde sich darin markant von Hipparch unterscheiden, der ja nie nach Alexandrien ging und demnach auch nie einem entsprechenden kollegialen Druck aus­gesetzt war. Diese Sicht wird nur teilweise den Umständen gerecht. Es stimmt zwar, dass etwa die Vorstellung, dass sich die Erde selbst nicht bewege und dass sich alle Himmelskörper in Kreisen bewegen, weil Kreise und Kugeln perfekte geometrische Figuren wären, der aristotelischen Physik entstammt. Daraus wird geschlossen, dass aus solchen philosophischen Voreingenommenheiten sich erst die komplexen, nicht praktikablen Vorstellungen der Planetenbewegungen ergeben hätten10. Umgekehrt (U. Felt, et al., 1995). Zu entscheiden ist ja nun, welche Daten angepasst werden sollen: die theoretischen an die empirischen, oder umgekehrt die empirischen an die theoretischen. Siehe dazu auch Kapitel X in diesem Band. 9 Zweierlei wird hier kursorisch angesprochen: Zunächst bedeutet dies nämlich, dass empirische Daten allein nichts besagen und nichts beweisen können. Erst im Kontext einer Theorie oder zumindest einer Hypo­ these sind sie interpretierbar und kommt ihnen Aussagekraft zu. Zweitens wird zumindest indirekt klar, dass Datenerhebung nicht unbefangen von Theorie vor sich gehen kann. Erst wenn man annimmt, dass es sich um eine gleichmäßige Bewegung handeln soll, wird eine Methode entwickelt, dies auch zu untermauern. Im gegenwärtigen Beispiel geschieht das durch »Findung« (ich erspare mir das »Er«-) des »Äquanten«. Siehe dazu: T.S. Kuhn (1961). 10 Demnach habe sich auch für Kopernikus die Notwendigkeit ergeben, ein

89

das unvergessene erbe – und darauf werde ich gleich zurückkommen – ist gerade eine geozentrische Sicht für Empiriker mehr als naheliegend, und außerdem im Prinzip auch nicht mehr oder weniger korrekt als die heliozentrische, was ich gleich zeigen werde. Man sollte daher die Frage anders stellen: Was hat Astronomen bestimmt, das eine oder andere Modell zu präferieren? Zur Beantwortung dieser Frage komme ich weiter unten auf sie zurück. Zunächst eine prinzipielle Feststellung: Üblicherweise kommt die Evaluation früherer Thesen, Modelle oder Theorien durch Vergleich mit heute gängigen Ansätzen zustande. Damit soll u.a. auch der augenscheinliche Erkenntnisfortschritt demonstriert werden, mit dem sich unsere eigene Wissenschaft legitimieren möchte. Das auch heute noch anerkannte Modell unseres Sonnensystems wurde von J. Kepler (1618, 1621) entwickelt. Kepler hat die Planetenbahnen als Ellipsen mit der Sonne in einem der beiden Brennpunkte dargestellt. Dieser Ansatz wurde von Newton übernommen und wird auch heute noch als repräsentative Darstellung des Sonnensystems akzeptiert. Das bedeutet in anderen Worten, dass das konzentrische Sys­tem, das Aristoteles aus philosophischen Erwägung entworfen hat und Kopernikus aus ähnlichen Perfektionsannahmen gleichfalls vertrat, mit Kepler endgültig aufgegeben wurde. Die Kepler’schen Umlaufbahnen werden durch eine Größe charakterisiert, die »Exzentrizität« heißt und mit »e« bezeichnet wird. Sie gibt an, in welcher relativen Entfernung sich die Brennpunkte vom Mittelpunkt der Ellipse befinden. Die Größe dieser Exzentrik ist vergleichsweise klein, sie ist kleiner gleich 0,2111. Das bedeutet, dass die Ellipsenbahnen einem Kreis sehr ähnlich sind und problemlos in erster Näherung einem exzentrischen Kreisumlauf gleichgestellt werden können. Man kann demnach die elliptischen Bahnen sehr gut durch exzentrische Kreisbewegungen annähern. Genau diese Strategie hat schon Ptolemäus verfolgt, womit nicht unterstellt wird, dass er seine Vor­ gehensweise als Annäherung an elliptische Bahnen verstanden hat. Das zweite Kepler’sche Gesetz verlangt, dass der Radiusvektor, der den Planeten mit der Sonne verbindet, in gleichen Zeiten gleiche Flächen überstreicht. Das bedeutet, dass der Planet im Aphel, wenn er also von der Sonne am weitesten entfernt ist, kleinere Strecken zurücklegt bzw. seine Winkelgeschwindigkeit kleiner ist als im sonnennächsten Punkt. Die Umlaufgeschwindigkeit ist also nicht konstant.

heliozentrisches Modell zu entwickeln, in dem die Planeten auf Kreisbahnen um die Sonne rotieren. 11 Bei einer Ellipse kann »e« nur Werte zwischen 0 und 1 annehmen. Umso kleiner e ist, umso ähnlicher ist sie einem Kreis.

90

astronomie Dieser Sachverhalt bewirkt aber zugleich, dass ein anderer Punkt bestimmt werden kann, der als »Äquant« bezeichnet wird (s.o.), von dem aus der Radiusvektor des Planeten auf einer Kreisbahn eine konstante Winkelgeschwindigkeit hat. Ptolemäus erkannte diese Möglichkeit bereits auf Basis seiner empirischen Daten und benutzte diesen Sachverhalt, um damit den wechselhaften Rotationsvorgang eines Planeten zu überprüfen. Man darf aus diesen Überlegungen also ableiten, dass das geozentrische Modell einem heliozentrischen Modell äquivalent ist, in dem die diversen Planetenbahnen als exzentrische Kreise erscheinen und wo der Radiusvektor eines Planeten vom Äquanten ausgehend mit konstanter Winkelgeschwindigkeit rotiert. Beim ptolemäischen Modell rotiert die Sonne um die Erde in Form einer einfachen Umkreisung, die Planeten folgen hingegen einer doppelten Rotationsbewegung. Diese Darstellung entspricht den wirklichen Gegebenheiten, weil es keinen Unterschied macht, ob die Sonne um die Erde oder umgekehrt die Erde um die Sonne kreist. Die doppelte Kreisbewegung der anderen Planeten repräsentiert nichts anderes als die korrekte, relative Bewegung zweier Himmelskörper – nämlich jene der Erde und jene des beobachteten Planeten. Im Fall der äußeren Planeten (aus heliozentrischer Sicht sind das Mars, Jupiter, Saturn – die anderen waren damals noch nicht bekannt) beschreiben die Epizyklen des Ptolemäus die Erdbewegung, die Deferenten hingegen jene des betreffenden Planeten. Für den Fall der zwei inneren Planeten (Venus und Merkur) dreht sich die Situation um. Hier beschreiben die Deferenten die Rotation der Erde um die Sonne, mit der gleichen Konsequenz, wie sie gerade für die äußeren Epizyklen festgestellt wurde. Folglich sind nun die Bahnen der Planeten Venus bzw. Merkur die Epizyklen relativ zur rotierenden Erde. Daraus ergibt sich u.a., dass die Deferenten der äußeren Planeten und die Epizyklen der inneren dieselbe Größe wie die Umlaufbahn der Erde haben müssen. So betrachtet handelt es sich also beim ptolemäischen System um eine gelungene, einfache Beschreibung der empirischen, durch Beobachtung geschaffenen Fakten. Die gängige Behauptung, dass dieses System hoffnungslos kompliziert sei, und dass unzählige Rotationsbewegungen nötig wären, um das Planetensystem zu beschreiben, stimmt so nicht.12 Tatsächlich benötigte Ptolemäus nicht mehr als zwölf Kreisbewegungen für die Planeten außer der Sonne, und eine für diese. Noch einmal in Erinnerung zu rufen ist, dass damals Mond und Sonne als Planeten betrachtet wurden, weil ja in einem geozentrischen System alle beweglichen Sterne als Trabanten der Erde erscheinen. 12 Manchmal wird behauptet, dass bis zu achtzig Zyklen benötigt würden. Es gilt allerdings ganz allgemein, dass die Komplexität der Modelle von der Messgenauigkeit abhängt.

91

das unvergessene erbe Ein anderer Vorwurf, der Ptolemäus häufig gemacht wird, ist, dass er sich zu sehr von der aristotelischen Philosophie leiten ließ. Dies ist zum Teil korrekt. Unbestritten ist, dass bei Aristoteles die Erde das Zentrum des Universums bildet, um das die anderen Himmelskörper rotieren. Doch Ptolemäus modifizierte auch schon diesen Ansatz, indem er die Erde nicht mehr exakt im Mittelpunkt der Zyklen positioniert, sondern sie verschiebt. Von der Erde aus betrachtet handelt es sich demnach um exzentrische Rotationen, bei denen das geometrische Zentrum der Umlaufbahnen selbst nicht für alle Himmelskörper ident bleibt. Die Annahme des Stagiriten, dass sich die Planeten auf konzentrischen Kreisbahnen bewegen, wird somit auch nicht länger beibehalten, denn im ptolemäischen Ansatz bewegen sich die Planeten auf zwei Kreisbahnen (außer der Sonne). Diese Korrekturen erfolgten alle aufgrund empirischer Beobachtungen, wie Ptolemäus selbst betont. Er tendierte demnach in dieser Hinsicht in eine ähnliche Richtung, wie wir sie bereits bei Archimedes und Archytas, aber auch bei Hippasos und Aristarch kennengelernt haben. Trotz dieser empirischen Ausrichtung weist das ptolemäische System im Vergleich zu unseren heutigen Kenntnissen diverse Mängel und Defizite auf. Besonders markant sind sie, wenn es um die Beschreibung der Bahnen von Mond und Merkur geht. Diese Fehler kamen zum Teil aufgrund der – an unseren Standards gemessen – mangelhaften Beobachtungsinstrumente und Messgeräte zustande, zum Teil sind sie aber zweifellos Ergebnis jenes markanten philosophischen Einflusses, der von Platon und Aristoteles herrührte13. Das manifestiert sich augenscheinlich in den komplexen geometrischen Beweisverfahren, die er für zahllose Beobachtungen und Ableitungen glaubt erbringen zu müssen. Hier zeigt sich ein vergleichbares Muster, wie wir es schon bei Archimedes kennengelernt haben. Um wissenschaftlich akzeptabel zu erscheinen, mussten sich – und müssen sich auch noch heute – Forscher einem Codex unterwerfen, der damals nahezu ausschließlich aus jenen Vorgaben bestand, die Euklid unter unausgesprochener Bezugnahme auf Aristoteles zusammengestellt hat. Derselbe Zwang erweist sich auch an jenem, über lange historische Perioden gepflegten Bild einer »perfekten« Welt, die sich u.a. eben in solchen Dingen wie einer gleichförmigen Bewegung, perfekten Kreisen oder Kugelgestalten u.ä. manifestiert. Nämliche Vorstellungen wurden von Platon entwickelt, Aristoteles hat sie als durchgängiges Erklärungsprinzip in seinen teleologischen Argumenten übernommen, und das Christentum hat keinen Anlass gesehen, diese aristo-kratischen 13 »[…] one can evaluate Ptolemaic cosmology as a dual theoretical scheme mixing the principles of ›Platonic mathematics‹ with those of ›Aristotelian physics‹« (M. Nugayev Rinat, 2013).

92

astronomie (»aristo« = bestens) Denkfiguren von Vollkommenheit zu verändern. Ähnliche Zusammenhänge zeigten sich selbst dann noch, als das geozentrische Modell im 16. Jahrhundert n.Chr. durch den Polen Kopernikus entthront wurde. Zum Abschluss dieses Abschnitts möchte ich zur oben aufgeworfenen Frage zurückkehren: Was hat die Astronomen bestimmt, das eine oder andere Modell zu präferieren?

Die Sonne – Zentrum des Kosmos Bekanntlich hat Aristarchos von Samos (ca. 310 – 230 v. Chr.), der zu seiner Zeit mit dem Namen »der Mathematiker« bedacht wurde, bereits ein heliozentrisches System vorgeschlagen, welches in Alexandrien, wo auch er lebte, bekannt war, diskutiert und schließlich verworfen oder nur vergessen wurde. Die einzige von ihm erhaltene Schrift14 mit dem Titel »Von der Größe und den Entfernungen der Sonne und des Mondes« beweist, dass auch er mit empirischen Daten und klugen mathematischen Argumenten arbeitete. Selbst Archimedes bezieht sich in seiner Schrift »Der Sandrechner« auf dessen Arbeiten zur Größe des Kosmos und der kosmischen Entfernungen. Das lässt die Vermutung begründet erscheinen, dass Aristarch jener Gruppe von antiken Wissenschaftern zuzurechnen ist, die von der durchsetzungskräftigen15 athenischen Schule nicht goutiert wurde. Somit wird die Antwort auf obige Frage nach den Präferenzen der Astronomen in jener Richtung liegen, die ich mit Soziomorphismus charakterisiert habe. Diese soziomorphe Sichtweise wird von einem meiner jesuitischen Kritiker und von anderen Predigern einer einzigen, strengen Doxa abgelehnt, ähnlich wie das heliozentrische System des Aristarch von den Verfechtern platonisch-aristotelischer Weltsicht diskriminiert wurde. Derartige Voreingenommenheiten ändern aber nichts an den sozialen Tatsachen, auch dann nicht, wenn diese Kritiker davon wenig Kenntnis haben16 oder haben wollen. 14 Es drängt sich sofort eine andere Frage auf: Erging es seinen Schriften ähnlich wie jenen Demokrits, die von den Platonikern abgelehnt und manchmal vernichtet wurden? 15 »Durchsetzungskräftig« wird in der heute gängigen Interpretation immer mit »wahr« und »richtig« verwechselt. 16 Für solche autoritätsgläubige Personen ein Zitat von einer Autorität. K. Mannheim schreibt: »[…] the sociology of knowledge comprehends […] thought in the concrete setting of a historical-social situation out of which individually differentiated thought only very gradually emerges. Thus it is not men in general who think, or even isolated individuals who do the thinking, but men in certain groups who have developed a particular

93

das unvergessene erbe Das von Aristarch entwickelte Modell eines heliozentrischen Systems konnte, wie wir heute zu wissen glauben, aufgrund von empirischen Fakten nicht widerlegt werden. Trotzdem wurde es vom ptolemäischgeozentrischen Modell verdrängt und schließlich für lange Zeit vergessen. Erst zur Zeit Kopernikus’ fand es wieder Beachtung. Umgekehrt war der polnische Prälat mit den Vorgaben des geozentrisch orientierten Alexandriners Ptolemäus, die empirisch gut fundiert waren, ebenfalls unzufrieden. Er wollte nämlich nur die Position der Sonne mit jener der Erde vertauschen, ansonsten aber die vollkommenen aristotelischen Kreise und Sphären beibehalten. Es scheint demnach empfehlenswert, eine Art von Genealogie zu entwickeln, wobei von intellektuellen »Enkeln« auf deren Vorfahren geschlossen werden kann.

Die Formel des Kopernikus In der Einleitung von Kopernikus’ »De Revolutionibus Orbium Coelestium« nennt der Verfasser dieser Einleitung und Widmung an den Papst17 Gründe, warum der Autor des Werks mit der Darstellung des Ptolemäus unzufrieden gewesen sei. Vorrangig und korrekterweise kritisiere er die Mängel, die sich zeigen, wenn das System auf die Bewegungen des Mondes und der Sonne angewendet würde. Ferner kritisiere er auch den Umstand, dass das Modell das Prinzip einer gleichmäßigen Bewegung im Kosmos verletze. Dieses Prinzip war schon von Aristoteles formuliert worden, doch wurde es bereits von Ptolemäus mittels dessen Exzentrik der Kreisbahnen umgangen. Tatsächlich beabsichtigte Kopernikus also zu einem ähnlichen wie dem aristotelischen Ordnungsprinzip zurückzukehren18, style of thought in an endless series of responses to certain typical situations characterizing their common position.« (m.H., M.S.; K. Mannheim, 1929/1936, S. 3). 17 Der Verfasser dieser Einleitung und der Widmung des gesamten Werks an den Papst war nicht Kopernikus selbst, sondern sein Herausgeber, Mitarbeiter und Schüler Osiander. Kopernikus selbst zögerte die Veröffentlichung seiner Schrift bis zu seinem Tod hinaus. Angeblich gab er erst am Totenbett die Erlaubnis zur Publikation, denn nun konnte sie ihm auch nicht länger gefährlich werden. 18 Im Unterschied zur Situation im antiken Alexandrien war nun das aristotelische Konzept in Misskredit geraten. Aristoteles geht ja davon aus, dass der Kosmos nicht erschaffen, sondern permanent sei. Solche Vorstellungen gefielen den Katholiken wenig, die ja damals wie heute einem Schöpfungsmythos huldigen. Die Zurückweisung des geozentrischen Systems, selbst in der ptolemäisch-exzentrischen Variante, war demnach

94

astronomie was von den obersten Ideologen im Vatikan auch nicht gerne gesehen worden wäre. Diese Rückkehr war allerdings nicht ohne weiteres möglich, weil die bekannten Beobachtungsdaten, wie sie seit Hipparch, Ptolemäus, den alfonsinischen Tabellen und aufgrund seiner eigenen Messungen vorlagen, die Annahmen einer gleichförmigen Bewegung nicht stützten. Somit sah sich auch Kopernikus genötigt, Epizyklen einzuführen. Wesentlicher Unterschied zu Ptolemäus war daher einzig die Deplatzierung der Erde aus dem Zentrum und ihr dortiger Ersatz durch die Sonne. Zur Legitimation dieses Schritts berief er sich auf Aristarch, Philolaos und einige andere – vorwiegend Pythagoreer, die ähnliche Vorschläge bereits gemacht haben. Die frühen Pythagoreer positionierten allerdings nicht die Sonne im Zentrum, sondern ein ewiges Herdfeuer, um das Erde, Sonne und Planeten kreisen sollten. Die Frage scheint daher berechtigt, warum er Erde oder Herdfeuer durch die Sonne ersetzen wollte? Um diese Frage zu beantworten, ist es nötig, etwas auszuholen. In jungen Jahren, die er als Student in Italien verbrachte, beschäftigte sich Nikolaus Kopernikus mit Fragen, die weitab von der Astronomie zu liegen scheinen. Drei veröffentlichte Schriften (1517, 1519, 1526) bemühten sich darum, ein höchst virulentes Problem seiner Zeit zu lösen, nämlich das der galoppierenden Inflation. Verursacht wurde diese durch eine schleichende Entwertung der Münzen, die von privaten Bankiers geprägt wurden. Diese verschlechterten die für die Münzen verwendeten Legierungen dadurch, dass sie den Goldanteil sukzessive reduzierten. Da diese Strategie in der Öffentlichkeit nicht unbemerkt blieb, reduzierte sich dadurch der Wert der Münzen oder – was dasselbe heißt – es erhöhte sich der Preis der damit zu bezahlenden Waren. »Schlechtes Geld vertreibt gutes Geld« hieß die Formel, auf die er seine Beobachtungen brachte19. Kopernikus’ Lösungsvorschlag für dieses Problem war, einen fixen Goldstandard einzuführen, der durch eine zentrale Macht, die er dem König übertrug, gewährleistet werden sollte. Kopernikus antizipiert damit eine andere Art von König- oder Kaisertum, als es damals in den christlichen Ländern üblich war. Die bald darauf folgenden Ereignisse in England, Frankreich und dem Hl. Römischen Reich bestätigen Kopernikus’ Ahnungen. Der Weg zur absoluten Herrschaft war unnicht unerwünscht. Zugleich entstand damit jedoch eine andere Problematik. Die Entfernung der Erde aus dem Zentrum des Universums drohte nämlich die Jahrhunderte alte »Heilsgeschichte der Erlösung« zu rela­ tivieren. 19 Heute wird diese Formel einem zeitgenössischen englischen Politiker und Kaufmann, Sir Gresham, zugeschrieben. Doch Kopernikus erkannte diese Zusammenhänge einige Jahrzehnte vor ihm.

95

das unvergessene erbe vermeidbar, und Kopernikus nahm eine solche als eine unabdingbare Notwendigkeit vorweg. Er verfuhr analog zu dem, was schon die alten Griechen seit Anaximander machten. Innovative Vorschläge brauchen Legitima­tion, und diese erreicht man am ehesten durch Verweise auf natürliche, am besten auf kosmische Parallelen. In seinem kosmischen Modell nimmt die Sonne genau jene zentrale Stellung ein, die er auch dem Fürsten zuschreibt. Es wird kein Zufall sein, dass er in seinem ersten Kapitel die Position der Sonne im Planetensystem mit jener zentralen Funktion eines Herrschers vergleicht. In den einführenden Absätzen, die in modernen Ausgaben von »De Revolutionibus« gerne ausgelassen werden, weil sie Physikern überflüssig erscheinen (z.B. St. Hawking, 2002), tituliert Nikolaus Kopernikus die Sonne explizit als »König«. Nun darf man auch die damals gängigen sonstigen Assoziationen nicht außer Betracht lassen. Bekanntlich wurde damals zwischen Astronomie und Astrologie nicht scharf unterschieden, und folglich wurden den Planeten zahlreiche Eigenschaften und Dinge zugeordnet, u.a. auch Metalle. So wird Saturn mit Blei, Mars mit Eisen oder Venus mit Kupfer in Zusammenhang gebracht, und die Sonne, wie wohl kaum anders erwartet werden kann, mit Gold. Der König, der den Gold­standard kontrollieren soll, steht im Zentrum und sorgt von dort für eine entsprechende Ordnung im Umlauf des Universums und des Geldes. Dass genau zur gleichen Zeit ein italienischer Philosoph und Politiker (N. Machiavelli) eine berühmte Schrift mit dem Titel »Il Principe« (Der Fürst, 1514) verfasste, bestätigt den damaligen »Geist der Zeit«. Berechtigt stellt sich demnach die Frage, welche Leitbilder wohl die antiken Modelle beflügelt haben mögen? Im ersten Band meiner Arbeit habe ich den Versuch unternommen, das aristotelische System aus solcher Perspektive zu begreifen. Aristoteles setzte in Abhebung von den pythagoreischen Vorstellungen die Erde an jenen zentralen Ort, der von den Pythagoreern für das kosmische Herdfeuer reserviert worden war. Zur Erinnerung20 sei gesagt, dass in diesem Modell zehn kosmische Schalen um ein zentrales Feuer kreisten, wobei die zehnte einer stets unsichtbaren Gegenerde vorbehalten war. Das zentrale Feuer wurde in der Physik des Aristoteles durch die unbewegliche Erde im Zentrum ersetzt, die Gegenerde wurde abgeschafft. Doch die symbolische Bedeutung des Zentrums, das vorher vom Herdfeuer eingenommen wurde, blieb erhalten. Die Rolle des Feuers wurde allerdings nun der Erde zugewiesen. Ohne nun die gesamte Argumentation von Band I zu wiederholen, erinnere ich daran, dass ich dort die griechische Polis als Modell für die Positionierung der Erde im aristotelischen System vorgeschlagen habe. 20 Siehe dazu: M. Schmutzer (2011), Band I, Kap. IV.

96

astronomie Aristoteles verfasste die Schrift »Zur Physik« ungefähr um 350 v.Chr. Damals existierten die griechischen Poleis noch, und Philipp der Große wurde noch nicht als deren Bedrohung und schon gar nicht als deren zukünftiger Henker wahrgenommen.

Der Kult der »rettenden Götter« Die Lage änderte sich dramatisch in den zwanzig Jahren nach der Veröffentlichung von Aristoteles »Physik«. Betrachten wir, wie schon oben gesagt, die Entwicklung in Magna Graecia separat von jener Griechenlands auf der Balkanhalbinsel. Häufig wird trocken festgestellt, dass die Polis ein Jahr nach der Schlacht von Chaironea (338 v. Chr.) ihr Ende mit dem korinthischen Bund fand. Auch Aristoteles, Privatlehrer von Philipps Sohn, kehrte damals nach Athen zurück und gründete sein Lyceum, doch kurz nach dem Tod des Alexander verließ er es wieder fluchtartig. Das Lyceum hinterließ er seinem langjährigen Begleiter Theophrast. Nachdem dieser um 288 v.Chr. starb, übernahm Straton von Lampsakos (ca. 340 – 268 v. Chr.) dessen Position im Lyceum. Einer seiner Schüler war Aristarch, der auch den Pythagoreern zugezählt wird. Die Polis als Zentrum einer Gemeinschaft hatte im damaligen Athen nun so wenig Bedeutung wie das Herdfeuer der Alten. Alle Bedeutung verlagerte sich in die Zentren der Diadochenstaaten, und unter diesen glänzte Ägypten mit seiner Hauptstadt Alexandrien. Es wird nicht nur Zufall sein, dass Straton Lehrer des jungen Pharao Ptolemäus II. (308 – 246 v.Chr.) war und Aristarch, sein Schüler, nach Alexandrien ging. Bereits der Vater von Ptolemäus II., der ursprünglich mazedonische General und spätere Diadoche Ptolemäus I. Soter 21, verfolgte eine konsequent dynastische Politik, die zugleich auch aus einer klugen Mischung von Hellenisierung der ägyptischen Oberschicht und »Ägyptisierung« der griechischen bestand. Ptolemäus II. wurde in diesem Sinn bereits zu Lebzeiten seines Vaters zum Mitregenten designiert und vermutlich 285 v.Chr. mit der traditionellen ägyptischen Doppelkrone gekrönt. Er wurde demnach als neuer Pharao präsentiert. Offenbar fiel es ihm nicht sonderlich schwer, ägyptische Gebräuche anzunehmen, so heiratete er u.a. seine eigene Schwester. Das brachte ihm auch den Titel »Philodelphos« ein, was übersetzt als »Schwesterliebhaber« auszulegen ist. Ab 282 v. Chr. war er Alleinherrscher und begründete als solcher einen neuen religiösen Kult, den Kult der »rettenden Götter«(Θεοι 21 Es ist nicht unwesentlich zu wissen, dass »Ptolemäus Soter« »Ptolemäus der Retter« bedeutet.

97

das unvergessene erbe Σωτηρες, theoi soteres) zur göttlichen Verehrung seiner Eltern. Diesen Kult verknüpfte er geschickt mit einem anderen um den vergöttlichten Alexander den Großen. Da seine Schwestergemahlin vor ihm das Zeitliche verließ, wurde auch sie vergöttlicht, was bereits damals nahelegte, dass auch er spätestens nach seinem Tod und seiner danach zu erfolgenden Reise zu Re, dem Sonnengott, Anspruch auf Vergöttlichung als eine Art »Sonnenkönig« erhob. Zieht man die altägyptische Mythologie ebenfalls in unsere Überlegungen mit ein, so scheint es nicht uninteressant festzuhalten, dass nach diesen Mythen »Re« anfänglich ein irdischer König war, unter dessen Herrschaft angeblich das »Paradies« auf Erden herrschte. Wenn wir nun den Zirkel unserer Argumente schließen, so ergibt sich folgender Zusammenhang: Aristarch war ein Schüler des Straton, der seinerseits Lehrer von Ptolemäus II war. Dieser wurde trotz seiner mazedonischen Herkunft Pharao und mit der Doppelkrone beider Ägypten bedacht. Zur Stabilisierung der neuen Dynastie wurden religiöse Kulte gegründet, wobei in Ägypten eben der Sonnenkult von alters her der bedeutendste war. Es ist somit keineswegs abwegig zu behaupten, dass das heliozentrische System des Aristarch einen Aspekt einer derartigen Legitimationsstrategie der neuen Herrscher in Ägypten ausmachte22. Denn die Strategie der Legitimierung neuer gesellschaftspolitischer Strukturen durch Verweise auf analoge Gegebenheiten in der Natur war seit Anaximander eine bewährte Strategie, und blieb es vermutlich bis zum heutigen Tag23. Es wird demnach nicht wirklich überraschen, dass die griechischen Gelehrten in Alexandrien, die die Vergöttlichung und umgrei22 D.R. Hill (1993) betont die Bedeutung »königlicher Patronanz« für die Entwicklung der hellenistischen Wissenschaften und rätselt über die Beweggründe dafür. Er betrachtet dabei vorrangig – wie es für einen ausgebildeten Ingenieur naheliegend ist – diverse sich aus der Praxis ergebende Kenntnisse, womit Architekten, Mediziner und andere Forscher und Praktiker zur Erhaltung der Herrschaft beitragen können. Er übersieht auch nicht, dass allein die Anwesenheit von Forschern, Künstlern und anderen herausragenden Persönlichkeiten am Hof diesem zusätzliches Prestige verleiht. Die von mir im ersten Band angesprochene ideologische und resozialisierende Dimension nimmt er allerdings nicht wahr. (In unserer Zeit liefen vergleichbare Programme nach dem zweiten Weltkrieg in Deutschland vor allem unter der Ägide der Vereinigten Staaten von Amerika und dann nochmals nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten nach 1989.) 23 Heute wird z.B. von maßgeblichen Politikern behauptet, dass sich Gesellschaft und Politik an den Regeln des Marktes orientieren müssten. Der damit unvermeidbar verknüpfte Gedanke an ein »survival of the fittest« stammt von Ch. Darwin, der ihn seinerseits von A. Smith entliehen hat.

98

astronomie fende Ägyptisierung ertrugen24, aber nicht unbedingt schätzten, auch das heliozentrische System des Aristarch nicht unbedingt übernehmen wollten25. Aristarch hatte im Unterschied zu Kopernikus gleich ein doppeltes wissenschaftliches Legitimierungsproblem: Er schloss sich nicht dem aristotelischen Denkmodus von einer zentralen, ruhenden Erde an, der damals quasi verpflichtend war. Außerdem konnte er seine These bestenfalls nur mit empirischen Daten untermauern. Doch solche galten damals nicht als Beweismittel. In seiner einzigen erhaltenen Schrift »Von den Größen und Entfernungen der Sonne und des Mondes« (um ca. 260 v.Chr.) bemüht sich Aristarch ähnlich wie Archimedes, Beweise im Stil euklidischer Geometrie für drei Behauptungen auf der Basis von sechs Hypothesen26 zu erbringen. In vieler Hinsicht argumentiert hier Aristarch ähnlich wie Archimedes, teilweise mit geometrischen Proportionen, teilweise mit indirekten Beweisen. Doch wesentliche Voraussetzungen für seine Argumente sind eben Annahmen, die er empirisch gewonnen hat, wie etwa, dass sich der 24 Wer damals den Pharao und seine Gepflogenheiten, wie etwa die Geschwisterehe, öffentlich kritisierte, hatte eine radikal verkürzte Lebenserwartung in Kauf zu nehmen. 25 Der einzige Astronom, der den heliozentrischen Ansatz von Aristarch weiter verfolgte, war Seleucos, ein Chaldäer aus Seleucia am Tigris. Es scheint in diesem Kontext erwähnenswert, dass Hipparch (s.o.), dessen detaillierte empirische Studien einen wesentlichen Impetus für Ptolemäus’ System lieferten, seinerseits seine Vergleichsdaten aus diesem regionalen Umfeld bezog. 26 Für diejenigen, die diese Annahmen kennenlernen möchten, seien sie hier angegeben: 1)  Der Mond erhält sein Licht von der Sonne. 2)  Die Erde steht im Verhältnis eines Mittelpunktes zu der Kugel, in der sich der Mond bewegt. 3)  Wenn uns der Mond halbiert erscheint, liegt der Großkreis, der die dunkle und die helle Seite des Mondes unterteilt, in Richtung unseres Auges. 4)  Wenn uns der Mond halbiert erscheint, ist der Abstand von der Sonne um ein Dreißigstel eines Quadranten kleiner als ein Quadrant. 5)  Die Schattenbreite der Erde ist die von zwei Monden. 6)  Der Mond erstreckt sich über ein Fünfzehntel eines Tierkreiszeichens. Folgende Behauptungen werden dann in sieben Schritten bewiesen: 1)  Die Entfernung der Sonne von der Erde ist größer als achtzehn mal, aber geringer als zwanzigmal die Entfernung des Mondes (von der Erde); dies ergibt sich aus der Hypothese über den Halbmond. 2)  Der Durchmesser der Sonne hat dasselbe Verhältnis zum Durchmesser des Mondes. 3)  Der Durchmesser der Sonne hat zum Durchmesser der Erde ein größeres Verhältnis als 19 zu 3, aber ein kleineres als 43 zu 6; dies ergibt sich aus dem so entdeckten Verhältnis zwischen der Entfernung, der Hypothese über den Schatten und der Hypothese, dass der Mond sich über ein Fünfzehntel eines Sternkreiszeichens erstreckt.

99

das unvergessene erbe Mond über ein Fünfzehntel eines Tierkreiszeichens erstreckt 27, oder die Schattenbreite der Erde die von zwei Monddurchmessern ist. Auf derartigen Annahmen baut er seine Argumentationen auf und gelangt schließlich zu dem so bewiesenen Ergebnis, dass die Entfernung der Sonne mehr als das 18-fache jener des Mondes, aber weniger als das Zwanzigfache 28 sei. Wenn wir die hier skizzierten Zusammenhänge mit dem gesellschaftlichen Umfeld unbeachtet lassen würden, ließen wir auch den Wissenschaftern jener Zeiten nicht unbedingt Gerechtigkeit widerfahren. Denn im Dunstkreis unserer Fortschrittsgläubigkeit meinen wir meistens, dass wir klüger wären und besser als sie wüssten, was »Sache« war. Die Voreingenommenheiten unserer eigenen Paradigmen werden dabei meist nicht beachtet bzw. werden sie verdrängt. So betrachtet war das ptolemäische, geozentrische System eine zeitgemäße Antwort auf die Entwicklungen jener Epoche. Das Zentrum blieb leer, die Polis hatte ihre zentrale Bedeutung schon lange eingebüßt, und Alexandrien war nur mehr eine Provinzhauptstadt. Die Sonne rotierte um einen masselosen Punkt, um ein leeres Zentrum, dem allerdings die Erde nach wie vor am nächsten blieb. Was sie nun verkörpert, blieb offen, denn genau genommen ist auch sie zur Bedeutungslosigkeit geschrumpft. Sie wurde – wie Alexandrien – nur ein Punkt in dem gigantischen Universum (des römischen Imperiums), ein Punkt, dessen Masse bei allen kosmischen Beobachtungen negiert und ignoriert werden darf, wie obige Hypothesen veranschaulichen. Wenn damit auch das aristotelische System des Kosmos außer Kraft gesetzt wurde, so blieb doch der Methodenkanon des Stagiriten, wie er von Euklid präsentiert wurde, trotzdem dominant und degradierte nach wie vor die alternativen Ansätze der Empiriker zur Zweitklassigkeit. Dieser Kanon bildete aber das Rückgrat der Beweisverfahren, denen die Kraft des Überzeugens verliehen wurde. Wie im nächsten Abschnitt zu sehen sein wird, kamen die damit etablierten Denk- und Beweismuster nicht nur im Bereich der himmlischen Sphären der Astronomen zur Anwendung, sondern sie bildeten einen umfassenden, verbindlichen Kanon all dessen, was T.S. Kuhn (1962) als »normale Wissenschaften« bezeichnet. Das findet auch in einer vermeintlich so praxisnahen Wissenschaft wie der Medizin bzw. der Erforschung der menschlichen Physiologie nachhaltigen Niederschlag.

27 Das sind 20. 28 Nach heutigem Wissen kann man sie ca. als das Fünfhundertfache ansetzen.

100

die antike medizin – hippokrates, galenos und celsus

Die antike Medizin – Hippokrates, Galenos und Celsus Bekanntlich wurde die Stadt Alexanders des Großen, Alexandrien, dank der Aktivitäten des ersten hellenistischen Herrschers in Ägypten, Ptolemäus I. Soter, zum maßgeblichen geistigen und intellektuellen Zentrum der Antike. Das von diesem ersten mazedonischen Herrscher gegründete »Museon« bildete über Jahrhunderte das herausragende Zentrum intellektuellen Lebens im Mittelmeerraum und war ein Hort für Forschung und Lehre. Ende des vierten vorchristlichen Jahrhunderts gegründet, nahm es diese Rolle selbst dann noch wahr, nachdem, wie Plutarch meint, seine gigantische Bibliothek bei der Eroberung durch die Römer in Brand (48 v.Chr.) aufgegangen war29. Viele der dort gesammelten Schriften, die mehrere hunderttausend Exemplare umfassten, wurden aus Kopien reproduziert und die eigenständigen Forschungen, die am Museon üblich waren, trotzdem weiter betrieben. Und selbst dann, als christliche Eiferer die Bibliothek ein zweites Mal in Brand setzten (391 n.Chr.30) und letztlich auch die Schließung dieser bedeutenden Institution bewirkten, ließ sich der in Alexandrien vorherrschende Geist nicht unterjochen. Es wurde weiter geforscht und gelehrt, wenn auch nicht mit der gleichen Potenz, wie es davor noch möglich war. Oben habe ich in Anlehnung an den ersten Band dieser Arbeit gezeigt, dass am Museon eine spezifische Geisteshaltung nicht nur gepflegt wurde, sondern vorherrschend war. Diese Attitude muss als Fortführung der spätathenischen Tradition, wie sie an Platons Akademie und im aristotelischen Lyceum entwickelt wurde, charakterisiert werden. Am Beispiel der euklidischen Geometrie habe ich schon im ersten Band die damit einhergehende theoretisierende Tendenz aufgezeigt und dargelegt, dass damals die Methode von deduktiven und von indirekten Beweisen zum wissenschaftlichen Kanon erhoben wurde. Mag sein, dass diese Methode ursprünglich nur als Lehrmethode gedacht war und überwiegend auch so verwendet wurde. Vermutlich hat aber gerade deshalb dieses Verfahren die Denkweisen der dort ausgebildeten und forschenden Jünger so nachhaltig geprägt, dass es in Hinkunft überall angewandt wurde, auch dort, wo es zumindest aus heutiger Sicht depla29 Die Überlieferungen zu diesem Thema sind nicht konsistent. Manche meinen, dass nur ein Lager von Kopien in Brand aufgegangen sei, die sowieso zum Export bestimmt gewesen wären. Aulus Gellius spricht davon, dass 700.000 Rollen vernichtet worden wären, Strabon, der ca. zwanzig Jahre nach Cäsars Eroberung in Alexandrien war, erwähnt den Brand überhaupt nicht, und Seneca meint, dass ca. 40.000 Bücher den Flammen zum Opfer fielen. 30 Auch hier gibt es keine einheitliche Datierung. Manchmal wird auch das Jahr 398 genannt.

101

das unvergessene erbe ziert war, nämlich etwa in der Medizin. Die griechische Medizin, die zu Lebzeiten des Arztes Hippokrates von Kos ebendort eine Schule etabliert hatte und durch diese Bündelung der Kräfte gewaltige Fortschritte erzielte, stagnierte nach dem Tod ihres Begründers um ca. 375 v.Chr. Erst mit Gründung des Museon etablierte sich neuerlich eine Schule, die u.a. auch die überlieferten Schriften der Schule von Kos sichtete, kompilierte und damit zugleich kanonisierte. An diesem Prozess waren vier Männer hervorragend beteiligt, die sich besonders dem Studium der Anatomie widmeten. Diese vier waren: Diokles von Karystos (genaue Daten sind nicht bekannt), Herophilos (ca. 335–280 v.Chr.), Erasistratos (ca. 304–250 v.Chr.) und Praxagoras (ca. 340 v.Chr.–?), der der Lehrer von Herophilos war. Diese Beschäf­ tigung mit Anatomie geht allerdings auf den massiven Einfluss der aristotelischen Denkschule zurück. Daher muss in Kürze nochmals auf diesen einflussreichen Gelehrten Bezug genommen werden. Aristoteles begann, nachdem er nach Platons Tod Athen verlassen hatte, in der zweiten Hälfte seines Lebens empirisch zu arbeiten und machte dabei zahllose bedeutende Beobachtungen, die sich vor allem im Bereich des Lebendigen abspielten. Er wird daher auch manchmal als Begründer der Biologie betrachtet. Sein begabter Schüler und treuer Wegbegleiter während der Emigration aus Athen war Theophrast. In Lesbos, der Heimat Theophrasts und der ersten Station des Aristoteles nach Athen, studierte er Lebewesen des Meeres; Theophrast hingegen widmete sich dem Studium der Pflanzenwelt. Seiner Art entsprechend begnügte sich aber der Begründer der Logik und Kategorienlehre nicht damit, Krabben und Mollusken zu sezieren. Er widmete sich bald auch anderen Tierarten, um so Kategorien von Lebewesen mittels Vergleich zu entwickeln. Ergebnis dieser Forschungen war letztlich nicht nur eine systematische Einteilung der Tiere, sondern auch eine Klassifizierung der Anatomien dieser Tiere. Damit wurde der Stagirit auch für die medizinischen Wissenschaften bedeutsam. Denn wie es seiner Art entsprach, verglich der Sohn eines Arztes die Anatomien der Tiere auch mit jener der Menschen und schuf damit die Basis für eine Humananatomie. Anders als die Hippokratiker, die ja von Anfang an als Ärzte tätig waren, befasste sich Aristoteles aber keineswegs mit Heilpraktiken oder der Diagnose von Krankheiten. Den Gelehrten von Alexandrien waren die alten hippokratischen Texte und Praktiken wohl bekannt31, und so bemühten sie sich u.a. um Verschmelzung von aristotelisch-theoretischen mit praxisnahen hippokratischen Erkenntnissen. Das lag umso näher, als einige der in Alexandrien tätigen Ärzte Absolventen der athenischen Schulen waren. 31 Der sogenannte »Corpus Hippokraticus« wurde ja erst im Museon geschaffen.

102

die antike medizin – hippokrates, galenos und celsus In diesen athenischen Schulen herrschte ein Geist vor, der im Sinne von Platon und Aristoteles zu theoretisierenden Annahmen und Darstellungen tendierte. Nicht nur Theophrast, auch die anderen oben Genannten wurden von diesen Vorgaben nachhaltig geprägt.

Diokles von Karystos Einer von diesen war selbst ein Schüler des Meisters aus Stagira, nämlich Diokles von Karystos. Ähnlich wie sein Lehrer und der spätere Leiter des Lyceums, Theophrast, war auch Diokles um Systematisierung des Wissens bemüht, wobei er Kenntnisse, die er bei einem anderen seiner früheren Lehrer, dem Arzt Praxagoras aus Kos, gewonnen hatte, mit einer aristotelischen Systematik zu vereinen suchte. Er verfasste mehrere Bücher, in denen er sowohl eine systematische Klassifikation von Heilpflanzen entwickelte, als auch sich mit Fragen der Diätetik in der Tradition der Hippokratiker auseinandersetzte. Vor allem soll er aber ein anatomisches Werk verfasst haben, das den Beginn einer wesentlichen Entwicklung markierte: die Trennung spezifischer Naturwissenschaften von der Philosophie (J. Kollesch, D. Nickel, 1994, S. 13). Ob dabei die aristotelische Klassifikation der Wissenschaften, in der drei wesentliche Typen von Wissenschaften unterschieden werden32, für diesen Schritt ausschlaggebend war, lässt sich heute nicht mehr entscheiden. Mit Bestimmtheit lässt sich nur sagen, dass diese frühe Trennung der Fachrichtungen in Alexandrien wirkungsmächtig wurde. Dort wurden nämlich neben den vorherrschenden theoretischen Arbeiten – angeblich auf Wunsch des Stifters des Museon Ptolämeus I. – auch Studien gepflegt, die auf empirischen Beobachtungen fußten. Allerdings wurden diese Forschungen im Sinn des tonangebenden Begründers des Lyceums stets nur als zweitrangig betrachtet. Und wie kaum anders zu erwarten ist, ging auch diese Art von medizinischer Forschung gleichfalls in aristotelischer Manier vor. Sie systematisierte so weit wie möglich, blieb aber immerhin der Praxis um einiges näher, als dies Platons Vorgaben entsprechen würde.

32 Aristoteles unterscheidet drei Hauptgattungen von Wissenschaften: Theoretische Wissenschaften, praktische Wissenschaften und poietische Wissenschaften. Zu den ersten zählen etwa die Metaphysik und die Physik, zu den zweiten Politik und Ethik, zu den letzten Rhetorik und Poetik. Die methodischen Schriften, die heute unter dem Namen »Organon« (Topik, Analytik etc.) bekannt sind, haben diese Bezeichnung erst wesentlich später erhalten. Sie sind dem letztgenannten Typus zuzurechnen.

103

das unvergessene erbe

Praxagoras von Kos Praxagoras unterwies Diokles und Herophilos in den Erklärungsansätzen und Praktiken der hippokratischen Schule, was u.a. bedeutete, dass er in der Theorie der maßgeblichen Körpersäfte und deren gegenseitigen Beziehungen ausgebildet war. Praxagoras, selbst ein Abkömmling aus dem Geschlecht der Asklepiaden – wie schon der Name andeutet, seit Generationen mit der Heilkunst beschäftigt –, veränderte allerdings die hippokratische »Vier-Säfte-Theorie« und erweiterte deren Zahl auf elf maßgebliche Humore. Diese sogenannte »Humoralpathologie« stand seit je im Zentrum der hippokratischen Medizin, die ihrerseits von Anbeginn stark empirisch ausgerichtet war. Aus einer derartig grundsätzlichen Orientierung ergab sich wohl ein Bezug zu den aristotelischen Ansichten über Anatomie. Praxagoras widmete sich in seiner Forschungstätigkeit ebenfalls vorrangig diesem Gebiet. Er legte auf die Tätigkeit des Herzens besonderes Augenmerk, sein Hauptinteresse galt allerdings der Funktion des Gehirns, der Nerven und des Rückenmarks. Dementsprechend unterschied er bereits zwischen Arterien und Venen und erkannte die diagnostischen Möglichkeiten der Pulsmessung bei Herzerkrankungen. Einige seiner innovativen Einsichten dürfte er bereits durch Sektionen am menschlichen Körper gewonnen haben. Man vermutet, dass auch er einige Zeit in Alexandrien verbracht haben könnte.

Herophilos Praxagoras gab jedenfalls seine Kenntnisse an Diokles und insbesondere an Herophilos weiter, der als der größte Anatom des Altertums bezeichnet wird. Zugleich war Herophilos einer der bedeutendsten praktischen Ärzte der Zeit. Auch er scheute sich nicht, die damaligen Vorbehalte gegenüber Sektionen an Toten zu ignorieren, und führte solche sogar öffentlich durch. Darüber hinaus dürfte er sogar Vivisektionen durchgeführt haben, wobei sicher ist, dass er sie an Tieren, aber vermutlich auch am Menschen praktizierte. Überraschend ist, dass derartige Praktiken von den herrschenden Ptolemäern nicht nur nicht verhindert, sondern sogar gefördert wurden. Im Geiste seines Lehrers aus Kos war auch Herophilos der aristotelischen Sichtweise zugeneigt, woraus sich u.a. ergab, dass er eine neue Terminologie entwickelte, die zum Teil noch heute in Gebrauch ist. Wie sein Lehrer benutzte er den Puls als diagnostischen Indikator und führte den Gebrauch von Wasseruhren in die Pulsmessung ein. Er befasste sich mit den Funktionen des Gehirns, der Nerven, der Leber und der Milz, mit dem Auge und mit dem Zwölffingerdarm, dessen Bezeich104

die antike medizin – hippokrates, galenos und celsus nung von ihm stammt. In Abhebung zur aristotelischen Vermutung, dass das Herz Sitz des Geistes und des Denkens wäre, vertrat er bereits die Position, dass das Herz das Blut bewege und das Gehirn für das Denken zuständig sei. Die wahre Bedeutung des Herzens als Motor für den Blutkreislauf wird heute zwar dem Engländer William Harvey zugeschrieben, doch Herophilos war dieser Erkenntnis zumindest bereits sehr nahe gekommen. Von seinen zahlreichen Publikationen sind keine erhalten und die Kenntnis darüber nur aus zweiter Hand gegeben. Ihnen zugerechnet werden Schriften über Anatomie und über den Puls, über Geburtshilfe, Diätetik, Therapeutik und weiters eine Schrift »Gegen verbreitete Vorstellungen«.

Philonos aus Kos Als bedeutender Schüler des Herophilos gilt Philonos, ebenfalls aus Kos. Er wird als Begründer einer Medizinschule in Alexandrien betrachtet, die sich in Abhebung von den theoretisierenden Vorgängern und unter dem Einfluss einer neuen, skeptisch-philosophischen Richtung33 vorrangig empirischen Forschungen verschrieb. Das Hauptaugenmerk dieser Lehrrichtung galt zunächst der Pharmakologie. Ein detailliertes Wissen und Studium der eingesetzten Medikamente sowie deren Wirkungen gilt als Wesensmerkmal dieser Schule.

Serapion aus Alexandrien Die Weiterführung dieses Zweigs der Forschung und Lehre verdankte sie einem anderen berühmten Namen, dem Arzt Serapion (2. Jahrhundert v. Chr.) aus Alexandrien. Vorrangig bekannt wurde er durch einen Regelkanon, der bei medizinischen Experimenten zu beachten sei. Aus unserer Sicht erwähnenswert scheint, dass er sich dezidiert von der im 4. Jahrhundert in Mode gekommenen theoretisierenden medizinischen Wissenschaft distanzierte und seine Arbeit auf praktische Anwendungen und empirische Erfahrung stützte. Seinem Beispiel folgten, aufgrund der oben bereits geschilderten Entwicklungen wenig überraschend, andere Ärzte aus Tarent (Glaukias, Herakleides) und Antiochia (Apollonius). Naheliegend bezeichneten sich diese Männer selbst als »Empiriker«, womit der alte Konflikt im 2. Jahrhundert v. Chr. erneut ein Betätigungsfeld und beredten Ausdruck fand. Beachtet werden sollte, dass es sich bei diesen Vertretern 33 Diese Philosophie wurde von Phyrron von Elis (360 – 270 v.Chr.) begründet.

105

das unvergessene erbe einer empirischen Auffassung wieder um Menschen handelte, die nicht durch die athenischen Mühlen gegangen waren.

Erasistratos Parallel zu den bisher genannten Medizinern trat zeitgleich oder kurz nach Herophilos eine weitere Größe mit dem Namen Erasistratos (305 – ca. 250 v.Chr.) auf. Er entstammte so wie Aristoteles einer Ärzte­ familie und studierte wie Diokles ebenfalls in Athen Medizin. Dieser Ort allein legt schon ein Naheverhältnis zu den dortigen Schulen Platons oder Aristoteles nahe, jedenfalls muss man annehmen, dass er mit den Arbeiten Theophrasts vertraut gewesen sein dürfte. Das scheint umso naheliegender zu sein, als ihn Plinius d.Ä.34 als Sohn (filius) der Tochter des Aristoteles bezeichnet. Im Anschluss an seine erste Studienzeit in Athen ging er nach Kos und studierte dort gleichfalls bei Praxagoras. Schließlich ließ er sich auch in Alexandrien nieder. Erasistratos führte angeblich als Erster Bauchoperationen, Obduk­ tionen und Vivisektionen, zumindest an Tieren, durch, wenn nicht auch an verurteilten Verbrechern. Sein Hauptinteresse galt dem Nerven- und dem Kreislaufsystem. Er erkannte bald in Abhebung zu seinem Großvater Aristoteles, dass Nerven letztlich vom Gehirn ausgehen. Korrekt unterschied er zwischen Klein- und Großhirn, sowie zwischen sensiblen und motorischen Nerven. Ebenso wusste er, dass das Kleinhirn für Bewegungskoordination zuständig ist. Er vermutete auch bereits, dass die Hirnstruktur die individuelle Intelligenz beeinflusst. Der damals gängigen Ansicht, dass Nerven hohl wären, widersprach er. Vermutlich dachte man bis zu diesem Zeitpunkt, dass Bewegungskoordination ähnlich wie bei den damals in Alexandrien populären pneumatischen Maschinen erfolge. Erasistratos unterschied bereits zwischen kleinem und großem Blutkreislauf und beschrieb die Herzklappen, die Bauchspeicheldrüse und die Luftröhre korrekt. Er hat auch bereits die Funktion des Herzens als Pumpe erkannt und dürfte annäherungsweise korrekte Vorstellungen vom Blutkreislauf gehabt haben. Seine Schriften gingen wahrscheinlich bei einem der Brände der Bibliothek verloren. Sie sind uns folglich wiederum nur durch Zitationen späterer Ärztegenerationen bekannt. Aristoteles’ Enkel genießt für seine anatomischen Arbeiten hohe Reputation, was wohl auch auf seine athenische, aristotelische Herkunft zurückzuführen sein dürfte. Er gilt jedenfalls als Begründer der pathologischen und der vergleichenden Anatomie. Ebenfalls gerühmt wird er dafür, dass er die hippokratische Humoralpathologie, d.h. die Lehre 34 Siehe dazu: Naturalis Historia, 29, 1-13.

106

die antike medizin – hippokrates, galenos und celsus von vier miteinander in Konflikt liegenden Säften oder Humoren, ablehnte und bekämpfte. In markanter Abhebung von seinen athenischen Lehrern verfocht er allerdings Demokrits Atomtheorie, eine Lehre, die vor allem von Platon vehement abgelehnt wurde. In der Therapie empfahl er ähnlich den alten Hippokratikern die Einhaltung von Diät und verordnete Bäder. Daraus lässt sich indirekt folgern, dass der Zuwachs an Kenntnissen eher in der Diagnostik als in der Therapie erfolgt zu sein scheint. Dieses Ergebnis ist mit Bestimmtheit wieder auf den verstärkten Einfluss der platonischen und aristotelischen Philosophie im 4. Jahrhundert zurückzuführen. Dieser permanente Einfluss veranlasste die meisten Ärzte, ihre Kenntnisse methodisch zu fassen und zu systematisieren. Der in der hippokratischen Medizin bislang angestrebte Ausgleich zwischen Empirie und Theorie verschob sich nun markant zugunsten der Theorie35, ähnlich wie das auch in anderen Disziplinen der Fall war.36

Aulus Cornelius Celsus Dieser soweit grob skizzierte Wissenstand wurde schließlich von einem Römer, Aulus Cornelius Celsus (25 v.Chr. – 50 n.Chr.), gesammelt und in Form von Lehrbüchern publiziert. Celsus hat in seinem Leben Werke zu sehr unterschiedlichen Themen verfasst, wie zur Rechtslehre, zur Philosophie, zum Militär, zur Agrikultur und eben auch zur Medizin. Von seinen Büchern sind aber nur jene über die Medizin erhalten geblieben. Diese übten jedoch, da sie im Stil der damals populären Enzyklopädisten verfasst und als Lehrbücher gedacht waren, bis tief ins Mittelalter nachhaltigen Einfluss aus. Sein medizinisches Œuvre umfasst acht Bände, die sich jeweils mit »Geschichte der Medizin«, »Allgemeiner Pathologie«, »Einzelnen Krankheiten«, den »Körperteilen«, »Pharmakologie«, »Chirurgie« und der »Behandlung von Knochen« beschäftigen. Celsus wird der Schule von Alexandrien zugezählt, obwohl oder vielleicht gerade weil er selbst kein praktizierender Arzt gewesen sein dürfte, sondern eben Pädagoge. Für uns ist seine Darstellung der Entstehung und Entwicklung der Medizin von ihren Frühformen bis zu seiner Zeit von einigem Interesse, weshalb ich im Folgenden reichlich zitiere.

35 Siehe dazu: J. Kollesch, D. Nickel, 1994, S. 12. 36 Siehe dazu die Ausführungen zu Archytas.

107

das unvergessene erbe Ziemlich am Beginn des ersten Buchs stellt er z.B. fest, dass »[…] die Krankheiten damals [zur Zeit Homers, M.S.] auf den Zorn der unsterblichen Götter zurückgeführt [wurden], und dass man von eben diesen Hilfe zu erbitten pflegte.«37 (Celsus, in: J. Kollesch, D. Nikel, 1994, S. 51/52)

Da die Menschen damals eben keine Mittel zur Bekämpfung der Krankheiten kannten, war es seiner Meinung nach auch »[…] wahrscheinlich, dass bei fehlenden Mitteln gegen Krankheiten dennoch meistens den Menschen Gesundheit zuteil wurde.« (ibid.)

Diese Aussage mag auf den ersten Blick erstaunen, doch entspricht sie tradierten römischen Vorstellungen, die meinten, dass gute Sitten, die weder Müßiggang noch Luxus verdorben hatten, eben Gesundheit bewirken, »[…] denn Müßiggang und Luxus hätten die Körper zunächst in Griechenland und dann bei den Römern angegriffen, und deshalb ließe diese vielfältige Medizin, die weder ehemals erforderlich war noch bei anderen Völkern notwendig ist, kaum jemanden von uns [Römern] bis an die Schwelle des Greisenalters gelangen.« (ibid.)

Celsus fährt in folgender Weise fort: »[…] zunächst wurde die Heilkunde als ein Teil der Philosophie betrachtet, so dass sowohl die Behandlung der Krankheiten als auch die Betrachtung der Natur der Dinge unter der Ägide derselben Autoritäten entstanden sind, da ja sie, die die Kräfte ihrer Körper durch ruhiges Nachdenken und nächtliches Wachen geschwächt hatten, am meisten nach ihr verlangten. Und deshalb nehmen wir an, dass viele von den Lehrern der Philosophie auf diesem Gebiet bewandert gewesen sind, dass aber Pythagoras, Empedokles und Demokrit unter ihnen die berühmtesten waren. Dessen Schüler aber, wie manche glauben, Hippokrates von Kos, der als erster von allen Erwähnung verdient, eine in seiner Kunst und ihrer Ausdruckskraft hervor­ 37 Aus diesen Sätzen ergibt sich zunächst ein Aspekt, der im vorigen Band (Kap.V) schon angesprochen wurde: Wissenschaft entsteht in Griechenland zunächst dort, wo der Glaube an Götter und an ein von diesen verhängtes Schicksal, das über die Dauer und die Qualität des Lebens entscheidet, zerfällt. An dessen Stelle treten Rechtsgrundsätze und Gerichtsverfahren, die Ursachen und Folgen von Ereignissen bestimmen und zugleich verständlich werden lassen. Daraus resultieren Erklärungsmuster, die an Stelle von willkürlich schicksalhaften nun ursächliche Zusammenhänge setzen. Aus der Notwendigkeit, derartige Rechtsgrundsätze auch zu legitimieren, werden nun auch Naturereignisse nach derartigen Prinzipien erklärt und dabei nach solchen Prinzipien gesucht.

108

die antike medizin – hippokrates, galenos und celsus ragende Persönlichkeit, hat diese Disziplin von der Philosophie getrennt. Nach ihm haben Diokles von Karystos, dann Praxagoras und Chrysippos, danach Herophilos und Erasistratos die Heilkunst so intensiv betrieben, dass sie sogar auf verschiedenen Wegen der Behandlung vorangeschritten sind. Zu eben diesen Zeiten ist daher die Medizin in drei Teile aufgespalten worden, so dass es einen gab, der durch die Regelung der Lebensweise, einen zweiten, der mit Heilmitteln, und einen dritten, der unter Betätigung der Hände heilte. Den ersten nannten die Griechen Diätetik (διαιτητικη, diaitetike), den zweiten Pharmakotherapie (φαρµακευτικη, pharmakeutike), den dritten Chirurgie (χειρουργια, cheirurgia). Die weitaus berühmtesten Vertreter des Fachgebiets, das die Krankheiten durch Regelung der Lebensweisen behandelt, nahmen, indem sie versuchten, gewisse Dinge noch tiefer zu ergründen, für sich auch die Erforschung der Natur der Dinge in Anspruch, so als ob die Medizin ohne diese verstümmelt und unzureichend wäre. Nach ihnen hat Serapion, der als erster von allen offen bekannte, dass diese theoretisierende Richtung mit der Medizin nichts zu tun habe, diese allein auf Praxis und Erfahrung begründet. Diesem folgten Apollonius und Glaukias […] sie nann­ ten sich aufgrund ihrer eigenen Berufsauffassung Empiriker. So ist auch die Medizin, die durch Regelung der Lebensweise behandelt, in zwei Teile aufgespalten worden, wobei die einen nur die theoretisierende Heilkunst, die anderen nur die Praxis für sich in Anspruch nahmen[…]« (m.H., M.S.; J. Kollesch, D. Nickel, 1994, S. 51-53)38

Damit ist der Stand des medizinischen Wissen umrissen, den Plinius d.Ä. vorfand, einer der wenigen römischen Naturforscher, der leider bei dem katastrophalen Ausbruch des Vesuvs 79 n.Chr. ums Leben kam. Zum Stand der römischen Medizin äußerte sich Plinius in seiner »Naturalis Historia« allerdings folgend: »Die Medizin ist die einzige unter den von den Griechen kommenden Künsten, welche die Römer in ihrer ernsthaften Art noch nicht zu ihrem Übungsfeld gemacht haben. Trotz der Aussicht auf reichen Gewinn haben sich nur äußerst wenige Römer damit befasst. Und selbst diese sind sogleich zu den Griechen übergelaufen: Man kommt einfach nicht anders zu Ansehen, als wenn man die Heilkunst auf Griechisch betreibt.« (Plinius, Naturalis Historia, 29/16-18).

Und einige Absätze später fasst Plinius die Gesamtlage folgend zusammen: 38 Ich hebe die obigen Begriffe deshalb hervor, weil sie die Differenz, die ich wiederholte Male betont habe, quasi im »Originalton« noch einmal zum Ausdruck bringen.

109

das unvergessene erbe »[…] wir verdienen es ja gar nicht besser, solange niemand von uns wissen will, was für unsere Gesundheit und unser Wohlergehen wirklich nötig ist. […] Wir leben auch auf Kosten fremder Mühen; die Dinge der Natur haben für uns ihren Wert verloren, und damit auch die Grundlagen des Lebens. Nichts anderes haben wir mehr im Sinn als Vergnügungen.«

An diesen Tatsachen hat sich nicht mehr viel geändert. Auch Galen beschreibt im ersten Buch über »Die therapeutische Methode« diese vergnügungssüchtige und flache Lebensweise der Römer ausführlich. Der Konservatismus der römischen Aristokratie, die an den traditionellen Praktiken ihrer Hausmedizin (medicina domestica) festhielt, konnte allerdings nicht verhindern, dass unter der Ägide eines weiteren Griechen, des soeben genannten Galenos, der Höhepunkt und Abschluss der antiken Medizin in Rom gefunden wurde. Dieser Arzt, der durch seine enzyklopädische Kompilation der Medizin bis zu seiner Zeit und auch durch vielfältige eigene Arbeiten seinen Ruf begründete, sollte bis zum Beginn der europäischen Neuzeit zur Leitfigur der Ärzte im Morgen- wie im Abendland werden. Erst Theophrast von Hohenheim, der sich selbst als »Para-Celsus« bezeichnete, begann diese unsterbliche Vaterfigur in Frage zu stellen.

Galenos von Pergamon Galenos, der um 130 n.Chr. in Pergamon geboren wurde, war ein hellenistischer Grieche. Pergamon selbst war ursprünglich Hauptstadt des Diadochenreichs der Attaliden. Zur Zeit Galens war diese Stadt allerdings bereits Hauptstadt der römischen Provinz Asia Minor39. Die Stadt war zwar nicht so berühmt wie Alexandrien, doch auch sie erfreute sich eines weitreichenden Ruhms. Ähnlich wie Alexandrien besaß auch Pergamon eine riesige Bibliothek von Weltruhm und war gleichfalls ein Zentrum der Gelehrsamkeit. Und nicht unähnlich dem ägyptischen Vorbild wurde auch dort die Tradition der griechischen Philosophie gepflegt. Platon, Aristoteles, Epikur und die Stoiker wurden im Studium vermittelt. Auch Asklepios war ein berühmter Tempel geweiht, an dem ärztliche Priester die Praktiken dieser uralten Tradition pflegten. Der Vater Galenos’ war Architekt, und so wurde dem jungen Mann früh eine Erziehung geboten, die die Möglichkeiten des Ortes zur Gänze auszuschöpfen bemüht war. Ihm waren demnach die Lehren Platons und Aristoteles’ von Jugend an geläufig. Früh schon begann er sich zusätzlich für Medizin zu interessieren, ohne deshalb seine philosophischen Interessen zu vergessen. Mit ca. zwanzig Jahren verlor er seinen 39 Exakt seit 133 v.Chr.

110

resümee Vater. Darauf begab er sich auf Studienreisen, verweilte bei mehreren bekannten Ärzten seiner Zeit und ging schließlich nach Alexandrien, wo er lange blieb und sich in Anatomie die bestmögliche Ausbildung aneignete. Dort führte er bereits Sektionen zumindest an Tieren, Affen und Schweinen durch. Nach achtjähriger Abwesenheit kehrte er nach Pergamon zurück und übernahm am Äskulapeum die Stellung eines Arztes für Gladiatoren. Diese Tätigkeit eröffnete ihm die Möglichkeit, an den manchmal schwer verwundeten Gladiatoren seine chirurgischen Kenntnisse in der Praxis zu vervollkommnen. Daneben betrieb er eine blühende Privatpraxis, die ihn weit über die Grenzen des Landes bekannt machte. 161 n.Chr. reiste Galenos nach Rom. Es brauchte nicht lange, bis es ihm auch dort gelang, aufgrund spektakulärer Heilerfolge einen hervorragenden Ruf aufzubauen. Er wurde dadurch bald einer der gefragtesten Modeärzte. Doch seine Berühmtheit hielt ihn nicht davon ab, weiterhin zu publizieren und als Forscher tätig zu sein. Eine Flut von Schriften, die er in dieser Zeit verfasste, beschäftigte sich mit verschiedenen Themen: neben der Medizin mit Philosophie, Philologie, Politik und, selbstredend, Anatomie. Nach fünfjährigem Aufenthalt in Rom kehrte er nach Pergamon zurück. Zu dieser Zeit herrschte in Rom der bedachtsame und philosophisch orientierte Kaiser Mark Aurel. Als diesen ein Feldzug gegen die Markomannen ins heutige Österreich führte, brach unter den Soldaten eine Pestseuche aus. Das war der Anlass dafür, dass der Kaiser den berühmten Arzt nach Aquileia rief, um diese Seuche unter Kontrolle zu bringen. Galens Einsatz scheint nicht erfolglos gewesen zu sein, sodass Mark Aurel den Wunsch äußerte, Galen möge ihn auf dem gesamten Feldzug begleiten. Entgegen diesen Wünschen kehrte Galen allerdings nach Rom zurück und wurde dort kaiserlicher Leibarzt des zukünftigen, damals noch jugendlichen Kaisers Commodus. Als nach dem Tod Mark Aurels Commodus selbst Kaiser wurde, behielt Galen diese Stellung einige Zeit bei. Allerdings wissen wir über diese Zeit wenig. Er scheint weiter publiziert und gelehrt zu haben und sich abwechselnd in Rom wie auch in Pergamon aufgehalten zu haben. Sein Todesjahr ist nicht bekannt, dürfte aber um ca. 200 n.Chr. anzusetzen sein.

Resümee Resumieren wir die Entwicklung der Medizin durch Galenos, so bleibt folgendes festzuhalten: Mit Galenos findet die Weiterentwicklung der antiken Medizin nicht nur ihren Kulminationspunkt, sondern zugleich ihr Ende. Unbenommen seiner zahlreichen eigenen Entdeckungen in 111

das unvergessene erbe Anatomie, Diagnostik und Therapeutik erwarb Galenos für die Nachwelt vorrangig dadurch besondere Bedeutung und hohen Ruhm, dass er in seinem umfangreichen Oeuvre die Erkenntnisse der antiken Medizin zusammenfasste und so der Nachwelt überlieferte. Diese schriftstellerische Leistung, die mehr als tausend Titel40 umfasst haben dürfte, war nur möglich, weil Galen, so wie andere bekannte Persönlichkeiten der Geschichte auch, einen Stab von Schreibern beschäftigte, die seine sämtlichen Vorträge und sonstigen Äußerungen aufzeichneten. Seine Schriften umfassen zwar überwiegend medizinische Traktate, doch Arbeiten über Philosophie, Psychologie oder Linguistik befinden sich auch darunter. In der wissenschaftlichen Medizin selbst wird ein weites Spektrum abgedeckt, das von Therapeutik, Anatomie, Physiologie, Embryologie41, allgemeinen und populärwissenschaftlichen Schriften, einigen wenigen zur Chirurgie bis zu Darstellungen der hippokratischen Medizin reicht. Galen war vehementer Anhänger hippokratischer Sichtweisen und stellte diesen Zugang zur Heilkunst im Vergleich zu den zeitgenössischen Erkenntnissen über alles. Obwohl er ein weites Spektrum an therapeutischen Maßnahmen kannte, legte er doch besonderen Wert auf medikamentöse Behandlungen mithilfe von pflanzlichen Produkten. 40 Siehe dazu: G. Fischer (1994). 41 Galenos übernimmt in diesem Kontext auch die Lehren der Hippokratiker, die behaupteten, dass sowohl der weibliche als auch der männliche Körper Samen produziere. In beiden Geschlechtern existierten aber zwei unterschiedliche Arten von Samen, nämlich weibliche und männliche. In der Vereinigung setzten sich dann die jeweils stärkeren oder zahlenmäßig überlegenen durch und produzierten auf diese Weise männliche oder weibliche Embryonen, wobei nicht extra betont werden muss, dass die stärkeren Samen Männer machen. Galen bleibt aber auch bei der alten pythagoreischen Vorstellung der wesentlichen Gegensatzpaare (siehe dazu: M. Schmutzer 2011, Band I, Kap. IV). Zu diesen zählt neben warm und kalt u.a. auch männlich und weiblich bzw. rechts und links. Warm, männlich und rechts bilden dann eine zusammengehörende Gruppe, und kalt, weiblich und links eine andere, entgegengesetzte. Aufgrund solcher Annahmen behauptete Galen, dass die Samen, die männliche Nachkommen zeugen, aus dem rechten Hoden des Mannes stammen und im rechten »Horn des Uterus« ausgetragen würden. Die Vorstellung eines »uterus bicornis«, also einer zweihörnigen Gebärmutter, dürfte aus der inkorrekten Übertragung von tierischen Sektionen auf Menschen kommen. Wie dem auch sei, sie passte glänzend in die Vorstellungen der pythagoreischhippokratischen Welt der Gegensätze, die Galen in seiner Anhänglichkeit an die Lehren der Hippokratiker unhinterfragt übernahm. Scheinbar hat er nur männliche menschliche Leichen seziert. Siehe dazu: Ch. Schubert, U. Huttner (Hg., 1999).

112

resümee Damit unterschied er sich nicht markant von den überlieferten Praktiken der »medicina domestica« eines römischen »Pater familias«. Das bedeutendste Werk »Methodi medendi« ist sein Spätwerk, das die gesamte »Heilkunst« darzustellen bemüht ist. Darin erkennt man zugleich das ihm zugrundeliegende aristotelische Denken. Es zeigt sich wiederkehrend, wenn er etwa für seine Therapien Kausalzusammenhänge annimmt, die sich gegen die Ursachen der Krankheit richten (causa efficiens). Dieser Ansatz leitet sich aus den schon besprochenen vier Ursachen42 aristotelischen Denkens her. Ähnlich wie bei Aristoteles43 wurden auch viele seiner Schriften als Unterrichtsmaterial konzipiert und sind daher in ihrem Stil ebenso didaktisch angelegt wie die Schriften Euklids oder eben jene des großen Meisters aus Stagira. Hinter der unglaublichen Menge von Schriften steht erwartungsgemäß ein System. Ohne ein solches wäre vermutlich ein derartiges Œuvre nicht denkbar. Galens System fußt nicht nur in hippokratischen Denkmodellen, wie man gerne annehmen möchte, sondern zentral in Vorstellungen, die die beiden bekanntesten Philosophen der griechischen Antike entwickelt haben und die eben in Alexandrien kanonisiert worden waren. Galens Denken ist also ähnlich wie bei Ptolemäus zutiefst von aristotelischen, teleologischen Vorstellungen geprägt, weshalb er beispielsweise in der Anatomie immer davon ausgeht, dass Organe zweckmäßig gestaltet wären, so wie das Aristoteles behauptet und eingefordert hat. Er war, ohne dem christlichen Glauben anzuhängen, überzeugter Monotheist44. Es kann somit kaum überraschen, dass für Galenos »der« Mensch geplantes Produkt eines Gottes sein muss45, welcher damit nicht nur einen einzigen, bestimmten Zweck verfolgt, sondern der darüber hinaus jedes einzelne Organ eines Menschen mit dieser Grundeinstellung geschaffen – um nicht zu sagen »entworfen« – hat. In diesem durchgängigen Zweckmäßigkeitsdenken manifestiert sich das aristotelische Gedankenkonstrukt von »Entelechie«46, das heißt, 42 Causa materialis, causa formalis, causa efficiens, causa finalis. 43 Die sogenannten »akromatischen« Schriften, die etwa mit unseren Vor­ lesungsskripten zu vergleichen sind. 44 Wie schon im vorigen Buch festgestellt wurde, ist diese Einstellung weniger aus der judeo-christlichen Religion entstanden, sondern war vielmehr Quintessenz platonischen Denkens. 45 Ich verweise auf den platonischen Schöpfungsmythos in »Timaios« (siehe dazu: M. Schmutzer, 2011, Band I). 46 In seiner Schrift »Über die Verfahrensweisen beim Sezieren« (Buch II, Kap. II) meint Galenos: »[…] denn einen ganz bestimmten Nutzen hat die anatomische Theorie für den naturwissenschaftlich interessierten Menschen, der die Wissenschaft um ihrer selbst willen liebt; einen anderen aber für den, der sie nicht um ihrer selbst willen betreibt, sondern um zu

113

das unvergessene erbe eines innewohnenden Ziels (telos), das Ziel und Zweck eines Schöpfers zum Ausdruck bringt. Wenig überraschen kann daher, dass gerade diese Sicht wesentlich dazu beigetragen hat, dass die galenische Medizin sowohl im Islam wie auch später im hohen Mittelalter in Europa großen Anklang gefunden hat. Ähnlich pointiert aristotelisch ist auch sein Hang zu systematischen Kategorisierungen. Von dieser Position ausgehend, teilt er in der Anatomie sämtliche Organe nach ihren beob­ achtbaren oder angenommenen Funktionen ein. Er unterscheidet folglich zwischen Organen, die für die Zubereitung von Blut oder die Verdauung zuständig sind, oder solchen, die das Pneuma aufnehmen und weitergeben sollen. Solche Sichtweisen hinderten ihn allerdings nicht, sich wenn nötig auch gegen verschiedene Behauptungen Aristoteles zu stellen. Dieser behauptete etwa, dass das Herz drei Kammern hätte und für das Denken zuständig sei. Galen schrieb dagegen diese Funktion dem Gehirn und den Nerven zu. Aus der Tradition der alexandrinischen Schule heraus war auch für Galen der Puls ein wesentlicher Indikator der Diagnose. Hierdurch unterscheidet er sich z.B. von Hippokrates, der dessen Bedeutung noch nicht erkannt zu haben scheint. In Abhebung zu Herophilos unterscheidet Galen allerdings mehr als zwanzig verschiedene Arten von Pulskategorien. In treuer Anlehnung an Hippokrates betrachtet auch er Krankheit als Folge eines gestörten Gleichgewichts der vier Säfte, der »Humore«. Diese Humore werden durch ein »Pneuma«47 und andere Körper­ bestandteile ergänzt. Doch das Gleichgewicht der Humore bleibt ein anzustrebender Naturzustand, es kennzeichnet einen gesunden Menschen. Es ist demnach oberstes Ziel und Gebot eines jeden Arztes, beweisen, dass von der Natur nichts aufs Geratewohl geschaffen worden ist; wieder einen anderen für den, der sich für die Kenntnis einer bestimmten Funktion, sei es einer natürlichen, sei es einer seelischen, aus der Anatomie Anhaltspunkte verschafft.« (m.H., M.S.; J. Kollesch, D. Nickel, 1994, S.106/107). Der kursiv geschriebene Teil des Zitats illustriert in doppelter Hinsicht diese aristotelische Sichtweise, denn für Aristoteles ist wissenschaftliches Wissen eben »bewiesenes Wissen«, wobei ein Beweis eine logische Begründung haben muss. Diese Logik ergibt sich oft durch die Annahme eines »Telos«, d.h. eines Ziels oder Zwecks, was gleich­ bedeutend ist mit obiger Aussage. Diese Betrachtungsweise zeigt sich am deutlichsten in der Schrift »Über den Nutzen der Körperteile«. 47 Das Pneuma wird als luftartige, feine Substanz gedacht. Es wohnt einerseits bereits dem Körper bei Geburt inne, andererseits wird es aber auch beim Atmen durch die Luft aufgenommen. Es werden verschiedene Arten von Pneuma unterschieden. Diese sollen für die verschiedenen Prozesse im Körper verantwortlich sein. Der Sitz des Seelenpneuma befindet sich etwa im Gehirn, der des Lebenspneuma im Vorhof des Herzens.

114

resümee diesen Naturzustand therapeutisch wiederherzustellen. Denn erst die mangelnde Balance zwischen den Humoren führt zur Erkrankung des Körpers48 und der Ausgleich zur gelungenen Lösung in einer »Krisis«49. Allerdings unterscheidet Galenos bereits zwischen unterschiedlichen Krankheiten als Folgen bestimmter Disharmonien. Die jeweilige individuelle Komposition der Humore und anderer Teile eines Menschen prägt nach seiner Theorie letztlich die psychische Konstitution eines Menschen. Daraus entwickelte sich später die auch heute noch manchmal angesprochene Disposition eines Menschen nach Temperamenten. Die noch immer gängigen Bezeichnungen »Choleriker« (χολη, chole, Galle, Zorn), »Sanguiniker« (lat. sanguis, Blut), »Melancholiker« (µελανχολος, melancholos, mit schwarzer Galle bestrichen) und »Phlegmatiker« (φλεγµα, phlegma, Schleim) stammen aus dieser Tradition. Wertet man die Tätigkeiten Galens im Kontext, so ist er überwiegend als Aristoteliker einzustufen. Anders als Platon hat sich Aristoteles zumindest in der zweiten Hälfte seiner Laufbahn intensiv mit empirischen Studien beschäftigt. Dem Verfasser des »Organon«, der wissenschaftlichen Werkzeugkiste, wie seine Methodik später bezeichnet wurde, wäre es allerdings nicht in den Sinn gekommen, wie Galenus Experimente anzustellen. Dieser sezierte ja nicht nur tote Schweine und Affen50, sondern führte auch Vivisektionen durch, die ihn z.B. zu der Erkenntnis führten, dass Rückenmarkläsionen Querschnittslähmungen, die Durchtrennung des »nervus recurrens« Stimmverlust und jene der »medulla oblongata«51 Atemstillstand verursachen. 48 In der Tradition der vier Elemente-Lehre komponierte Galen auch seine Pharmaka. Er differenzierte nach ihren Haupteigenschaften, d.h. ob sie Wärme, Kälte, Trockenheit oder Feuchtigkeit hervorrufen sollen. Diese Haupteigenschaften unterteilte er in mehrere Grade. In Übereinstimmung mit diesem Ansatz unterschied er auch »kalte« oder »heiße Krankheiten« und entsprechend dazu auch Organe und Sinne. So wird der Gehörsinn der Luft, der Tastsinn der Erde, der Geschmacksinn dem Wasser und der Gesichtssinn dem Feuer bzw. dem Licht zugeordnet. In diesem Sinn ist es naheliegend, dass z.B. bei »feuchten Krankheiten«, etwa Fäulnis, ein trocknendes Medikament verordnet wird. 49 Siehe dazu: M. Schmutzer (2011), Band I, Kap. V 50 Wie bereits festgestellt, publizierte Galen vor allem Lehrmaterial. In seiner Schrift »Über die Verfahrensweisen beim Sezieren« schreibt er in Buch III, Kap. V: »[…] ich möchte, dass du dich zuvor oft an Affen geübt hast, damit du, wenn du auch einmal zum Sezieren eines menschlichen Körpers kommst, leicht jeden einzelnen Körperteil freilegen kannst […] Derjenige aber, der sich zuvor an den übrigen Lebewesen und besonders am Affen geübt hat, legt sehr leicht jeden einzelnen der zu sezierenden Teile frei.« (Zitiert nach: J. Kollesch, D. Nickel, 1994, S. 107) 51 Verlängertes Mark.

115

das unvergessene erbe Somit kann behauptet werden, dass Galenos neue Erkenntnisse sowohl aus Experimenten als auch über alte und neue Theorien gewann. Die Theorie überwog allerdings bei weitem. Dieser Umstand verleitete ihn auch öfter als nur einmal zu falschen Schlussfolgerungen und Aussagen (s.o.). Bemerkenswert scheint in diesem Kontext möglicherweise auch der Umstand, dass er Astrologie und Traumdeutung52 hohe Bedeutung zubilligte. Ziel dieser skizzenhaften Darstellungen der Entwicklung des medizinischen Wissens in der Antike ist es genauso wenig wie bei den anderen angesprochenen Wissensgebieten, einen erschöpfenden Bericht zu liefern. Das erscheint in Anbetracht der bereits zahllosen Bücher überflüssig. Vielmehr soll verdeutlicht und in Erinnerung gerufen werden, dass die Kenntnisse der Hellenen auch in der Medizin beachtlich waren, auch wenn sie gelegentlich merkwürdig oder gar falsch waren. Durch Galen wurden diese Kenntnisse zum Kanon eines medizinischen Wissens erhoben. Sie blieben dies bis ins 16. Jahrhundert, in manchen Bereichen sogar noch länger.

52 Damit könnte er sich als fortschrittlicher erweisen als mancher Mediziner heute.

116

kapitel iii

Unwillige Erben Einführung Der bekannte französische Historiker Henri Pirenne (1936) machte die einprägsame Feststellung, dass die Antike drei Erben gehabt hätte: Byzanz, die Araber und die westlichen Königreiche. Alle drei machten unterschiedliche Entwicklungen durch, doch verschmolzen sie letztlich in einem Amalgam der europäischen Kultur, in dem jedes der drei Ingredienzien eine wesentliche Rolle zu spielen hatte. Als allerdings die antike Welt zusammenbrach, wurde ein fast vergessenes Phänomen zusätzlich bestimmend: wieder wurde Religion die maßgebliche Größe zur Legitimation von Herrschaft. Das bedeutete, in anderen Worten ausgedrückt, die Rückkehr des Heiligen. Denn eine der grundlegenden Bedeutungen des lateinischen Wortes »religio« meint genau das, das Heilige1. Die Wiederkunft des Heiligen brachte neuerlich die Trennung von Raumsegmenten mit sich, heilige Räume gegen profane Räume. Die Vorstellung von einer »christlichen Oikumene«, also der eines »christlichen Hauses«, entstand. Und innerhalb dieses Hauses herrschte Brüderlichkeit und Friede. Konkret entwickelte sich dieses Bild als Reak­ tion auf die islamische Expansion im 7. Jahrhundert. Die Expansion des Islam schuf demnach die Grundlage für ein neues Identifikationsmuster, das noch heute in weiten Kreisen Europas Bestand hat. Dieses Bild positionierte auf der einen Seite ein »wir«, die Christen, auf der anderen ein »sie«, die Heiden. Das so geschaffene christliche Dominium (oikos) findet dann bald seinen markantesten Ausdruck in der Gründung des »Heiligen römischen Reichs deutscher Nation« unter Karl dem Großen. Es wird jedoch schwerlich Zufall sein, dass das islamische »Dar al Islam«, das »Haus des Islam«, oder wie es auch genannt wurde, das »Dar as-salam«, das »Haus des Friedens«, als Denkfigur schon davor bei den Arabern erfunden wurde. Beide Begriffe (dar, oikos) bezeichnen einen in sich geschlossenen Raum, ein Haus, und meinen folglich ein Herrschaftsgebiet oder Territorium, innerhalb dessen eine Religion rechtsbestimmend, d.h. Legitimationsbasis war. Das besagt, dass innerhalb dieses Bereichs Friede herrschte bzw. zumindest herrschen sollte. Deshalb steht auch in der islamischen Tradition ausdrucksstark dem »Dar as-salam« ein »Dar al-harb«, das »Haus des Krieges«, gegenüber, 1 Siehe dazu: M. Schmutzer (2011), Band I, Kap. I und II.

117

unwillige erben ein anderer Raum, der nicht nach den Regeln des Islam geordnet und folglich nach ihrem Verständnis friedlos war. Auch dieses Konzept wurde auf der christlichen Seite schnell kopiert, wie die späteren Kreuzzüge anschaulich belegen. Die Zweiteilung der Welt in eine des Friedens und eine des Krieges erscheint bereits im Koran als gängige Denkfigur. Sie leitete die inneren Probleme und Händel nach außen ab und kam der Tradition der Beduinen entgegen, die ihren kärglichen Lebensunterhalt gewohnheitsmäßig durch größere oder kleinere Beutezüge in angrenzende Gebiete aufbesserten. Doch wie sich zeigen lässt, war diese Tradition auch dem Abendland nicht fremd. Auch dort wurden solche Raubzüge in Notzeiten unternommen, und schon unter Karl dem Großen wurden innere Differenzen dadurch pazifiziert, dass sie nach außen umgepolt wurden. Kriege gegen die heidnischen Sachsen oder die Sarazenen jenseits der Pyrenäen fanden so ihre Rechtfertigung2. Religion verknüpfte demnach in beiden Fällen Politik, Kultur und Gesellschaft in ein einziges System und hob die uns heute so selbstverständlich scheinende Eigenständigkeit dieser gesellschaftlichen Segmente auf. Dennoch zeigt sich trotz dieser Parallelen, dass beide »Friedenshäuser« sehr unterschiedliche Gebäude waren und das Leben in ihnen gegensätzliche Qualitäten annahm. Die von H. Pirenne entworfene Vorstellung von den drei Erben der Antike wird von J. Herrin (1989) mit einer Alternative konfrontiert und bedarf zusätzlich mancher Klarstellungen. Denn es ist weder klar, wer diese drei Erben tatsächlich sind, noch was sie konkret geerbt haben. Würde man sich nur auf die Weitergabe von Territorien als Erbschaft beziehen, so treten mehr als drei Erben in Erscheinung. Diese mehrfache räumliche Aufsplitterung wird schon bei Pirenne deutlich, spricht er doch selbst von den westlichen Königreichen, also von einer Pluralität. So stellte sich die Frage, ob es die West- oder Ostgoten unter Theo­ derich, die Merowinger oder die Karolinger, die Langobarden oder die Vandalen waren, die das Erbe antraten, oder doch alle zusammen? Was lässt uns aber alle diese Königreiche in einem Atemzug nennen? Am ehesten wohl der Umstand, dass sie alle irgendwie dazu tendierten, das Christentum als Staatsreligion zu forcieren, wenngleich auch dieses Christentum keineswegs einheitlich war. Man hing ja bekanntlich unterschiedlichen Interpretationsrichtungen oder Glaubenssätzen an. Die Westgoten waren Arianer, die von den Katholiken als Häretiker betrachtet wurden, die Karolinger grenzten sich zu Byzanz durch das

2 Im 11. Jahrhundert verfolgte der römische Papst dieselbe Strategie, indem er zuerst die »Reconquista« propagierte, und dann die unter der Bezeichnung »Kreuzzug« firmierenden Beutezüge in das sogenannte »Heilige Land«.

118

einführung Verbot der Bilderverehrung ab3, wogegen Byzanz diese Völker samt ihren Königen als Barbaren abtat. Gemeinsam war diesen Reichen einzig der Umstand, dass sie heute als germanisch bezeichnet werden, was seinerseits nicht viel bedeutet. Waren doch die Unterschiede zwischen den einzelnen germanischen Stämmen ebenfalls beträchtlich. Ähnliche Überlegungen lassen sich auch in Bezug auf den dritten Erben, »den Islam« anstellen, denn nicht nur spaltete sich auch dieser bald in zwei Glaubensrichtungen, Schiiten und Sunniten, sondern zusätzlich noch – ähnlich wie die germanischen Königreiche – in verschiedene getrennte politische Reiche, die jeweils von verschiedenen Kalifen regiert wurden. Versteht man hingegen die antike Kultur als Erbgut, dann zeigt sich, dass zwar die christlichen Erben eklektisch Elemente von Platonismus, Stoizismus und römischen Rechtsideen4 in ihre Theologie inkorporierten, doch dass der weitaus größte Teil der antiken Kultur und Wissenschaften ignoriert, unterdrückt oder vergessen wurde. Das kulturelle Erbe wurde von diesem angeblichen Erben nicht angetreten, sondern erst Generationen später auf unterschiedlichen Wegen akquiriert. Die von Pirenne genannten »Erben« lösen sich also schon bei näherem Hinsehen in mehrere räumliche Einheiten auf. In kultureller Hinsicht scheint es überhaupt gänzlich ungerechtfertigt, von drei Erben zu sprechen, es sei denn, man streckt die Zeit über zahllose Generationen und subsumiert Erben von Erben von Erben unter einem einzigen Begriff. Einzig Byzanz lässt sich als kompakte Einheit, sowohl als politischer Erbe des Imperiums als auch als jener der griechischen Kultur verstehen. Doch auch diese Vorstellung eines einzig wahren, eigenständigen Erben ist mit Vorsicht zu genießen. Zwar scheint es vielsagend, dass sich die Byzantiner selbst als »Römer« bezeichneten und auch von ihren Nachbarn so bezeichnet wurden. Das erstaunt vielleicht, sprachen sie doch Griechisch und pflegten in gewisser Weise auch den Geist des Hellenismus weiter. Diese Pflege gilt sogar dann, wenn man in Rechnung stellt, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil des griechischen Kulturguts unter den zensurierenden Augen christlicher Fanatiker eliminiert und unterdrückt wurde5. Trotz derartiger kämpferischer Maßnahmen, die durchaus als »Heidenverfolgung« bezeichnet werden dürfen, blieb 3 Die Trennung von griechischer und römischer Kirche nahm in dieser Phase ihren Anfang und kulminierte, als die Verehrung von Bildern in der Synode von Frankfurt 794 untersagt, im Osten aber anerkannt wurde. 4 Siehe dazu: M. Schmutzer (2011), Band I, Kap. XII. 5 391 wurde die Bibliothek von Alexandrien, die bereits unter Kleopatra wieder aufgebaut und neu bestückt wurde, auf Betreiben des alexandrinischen Patriarchen Theophilos zusammen mit der dort ansässigen Akademie »Serapeion« zerstört und niedergebrannt (S. Hunke, 1960, S.198). Die spätere Schließung der platonischen Akademie in Athen, die auf Betreiben Kaiser

119

unwillige erben aber Byzanz lange einziger Hort klassischer Bildung, ohne allerdings selbst noch wesentliche Beiträge zu deren Weiterentwicklung geleistet zu haben. Der Islam übernahm zunächst wesentliche Vorstellungen seiner geistigen Fundamente aus dem altjüdischen Gedankengut, das seiner Herkunft nach nicht der klassischen Antike zugerechnet werden kann. Allerdings fand der Islam sehr rasch Gefallen und Zugang zu den Quellen der hellenistischen Kultur und trat gerne jenes Erbe an, das die christlichen Nachfolger verschmähten. Betrachten wir nun diesen Pirenne’schen Erben im Detail, so zerfiel zwar auch dieser, so wie die germanischen Königreiche, bald in verschiedene politisch-territoriale Einheiten und in diverse religiöse Untergruppen. Doch bevor dies passierte, war eine gegenteilige, eine »zentripetale« Kraft am Werk. Diese vereinende Idee, die mit den üblichen, traditionellen Gesellschaftsverbänden brach und die alte Stammeszugehörigkeit und Clanbindungen zersetzte, ersetzte diese durch die Vorstellung von einer andersartigen Gemeinschaft, der »Ummah«. Diese »Ummah« wurde gezielt vom Propheten geschaffen, also lange bevor die Vorstellung einer christlichen Oikumene entstanden ist. Diesbezüglich könnte, wer möchte, den Islam auf den ersten Blick mit den Anfängen des Christentums vergleichen, das, im Sinn des Apostel Paulus, ebenfalls auf eine neue Identität pochte und der alten, im jüdischen Glauben wurzelnden Stammesidentität eine Absage erteilte. Islam und Christentum begründeten somit anfänglich neue Sozialgefüge u.a. auf der Basis neuer Rechtsvorstellungen, die zwar vieles von den alten, bislang vorherrschenden übernahmen, doch trotzdem einen neuen Verhaltenskodex in die Welt setzten und neue Regeln von und für Gerechtigkeit schufen. Als jedoch das Christentum zur Staatsreligion mutierte, wurde es bald korrumpiert, vergaß die eigenen Werte und verlor so vorwiegend aus ideologischen Gründen seine zentripetale Kraft. Bei neuerlichem, genauerem Hinsehen unterscheidet sich der Schritt, den Moḥammed setzte, wiederum wesentlich von jenem des Apostel Paulus. Und es scheint, unter der Lupe betrachtet, sinnvoller, den Propheten mit einer anderen Größe der Antike zu vergleichen, die wesentlich zum Wandel der Zeiten und Sitten beitrug, nämlich Solon.

Zwei oder drei Erben? Es scheint somit auf den ersten Blick nicht falsch, nicht wie H. Pirenne von drei Erben der Antike, sondern wie J. Herrin (1987) von nur Justinians des Großen 529 n.Chr. erfolgte, kann als weitere Illustration desselben »Geistes« betrachtet werden.

120

einführung zwei Erben zu sprechen. Herrin meint nämlich, dass es nicht die barbarischen Königreiche waren, die das Erbe des römischen Reichs antraten, sondern der christliche Glaube. Die Novität dieses Christentums lag in seinem garantierten Versprechen einer zukünftigen Belohnung in einem anderen Leben.6 Dieser christliche Glaube hätte erst die Voraussetzungen zur Bildung von neuen staatlichen Einheiten in Form von Königsreichen geschaffen, genauso wie erst der Glaube der Muslime das Gleiche ermöglichte. Dieser Sicht lässt sich manches abgewinnen. Die Erben der Antike wären demnach auf diesen ersten Blick keine politischen, sondern religiöse Einrichtungen mit distinkten Rechtsvorstellungen, die sich ideologisch auf göttliche Herkunft berufen und daraus ihre Legitimation schöpfen. Wenn dem aber so wäre, so stellt sich die Frage, was haben diese zwei Erben eigentlich von der Antike geerbt? Wie schon weiter oben erwähnt wurde, gingen zwar einige bedeutende Konzepte aus der platonischen Philosophie und dem römischen Recht in die kirchliche Lehre ein. Das auch deshalb, weil in der Jahrhunderte anhaltenden Auseinandersetzung mit dem intellektuell weit überlegenen Heidentum Kirchenlehrer vom Schlage eines Origines, Clemens oder Augustinus notwendig Methoden als Legitimationsinstrumente der neuen, christlichen Herrschaft übernahmen, die zum überwiegenden Teil in jenen der antiken Philosophie und Rhetorik wurzelten. Diese Techniken wurden auch in der Folgezeit in Byzanz weiter vermittelt und gepflegt. Nicht übersehen werden darf, dass auch diese Methoden im Laufe der Zeit verloren gingen, die aristotelische Dialektik erst im 11. Jahrhundert erneut Aufnahme im Abendland fand und das römische Recht über denselben Zeitraum unbekannt war. Unter »Antreten eines Erbes der Antike« von dieser unübersehbaren Größe und Bedeutung darf aber wohl anderes erwartet werden als nur die Weitergabe von vereinzelten Brosamen, deren Herkunft nicht einmal wahrgenommen wurde, weil sie verfälscht und verzerrt wurden. Damit scheint es auch fraglich, ob das Christentum dieser Zeit überhaupt als einer von zwei Erben bezeichnet werden sollte. Anders verhielt sich die Situation im Islam. Der trat nicht das Erbe römischen Rechts an, sondern schuf ein Recht, dessen Ausgangspunkt zwar zum größeren Teil alttestamentarisch jüdischen, zum geringeren Teil altchristlichen Traditionen entliehen war. Genauso wurden jedoch auch Teile von anderen semitisch-arabischen Stammestraditionen übernommen, die schlussendlich konzentriert in der Sunnah gesammelt und über diese vermittelt wurden. Auch aus dieser Perspektive gesehen erinnert Moḥammed an Solon, dessen Verfassung gleichfalls wesentliche Anregungen aus anderen Kulturen, vor allem dem pharaonischen Ägyp6 Siehe dazu: J. Herrin (1987), S. 126.

121

unwillige erben ten erhielt. Wir wollen im Folgenden zeigen, dass tatsächlich die Araber und nicht die Christen das intellektuelle Erbe der Antike antraten. Doch um dies leisten zu können, hatten sie zuvor »Hausaufgaben« zu leisten, die weder von den Christen noch von Byzanz erbracht wurden. Somit bildet – trotz aller Vorbehalte – die Vorstellung von »drei Erben« keinen üblen Ausgangspunkt, um zu einem eigenständigen Bild zu gelangen. Genau genommen trat allerdings Byzanz bzw. das oströmische Reich gar kein Erbe an, sondern existierte schlicht als Fortsetzung des geschrumpften römischen Imperiums weiter. Es spielte somit weniger die Rolle eines Rechtsnachfolgers, sondern eher die eines vergreisten »Erblassers zu Lebzeiten«, wie zu sehen sein wird. Aber gleichfalls wird gezeigt, dass sogar die scheinbare Identität dieses Erblassers mit dem antiken Rom in Frage gestellt werden muss. Um einige dieser komplexen Zusammenhänge zu klären, beginnen wir mit unseren Betrachtungen, einem Senioritätsprinzip folgend, beim Erblasser »Byzanz«. Denn dort hat sich im Zuge der Vergreisung ein tiefgreifender Wandel vollzogen, der vielleicht sogar als allmähliche Rückkehr in ein Embryonalstadium interpretiert werden könnte.

Rückkehr zu heiliger Herrschaft – Byzanz Anders als es im westeuropäischen Raum gängig ist, wurden im östlichen Teil des römischen Imperiums die dramatischen Veränderungen der politischen Landschaft im 5. Jahrhundert, die heute im Westen als das Ende des römischen Reichs bezeichnet werden, nicht in derselben Weise verstanden. Weder die wechselvollen und lang währenden Veränderungen, die durch Völkerwanderungen bewirkt wurden, noch die Einnahme Roms, sei es durch den Westgoten Alarich (410 n. Chr.) oder den Skiren Odoaker (476 n. Chr. Absetzung des »Kinderkaisers« Romulus Augustulus) wurden im Osten als Zusammenbruch, sondern nur als vorübergehende Verluste von Reichsteilen erachtet. Dort wurde vielmehr die Position vertreten, dass trotz des aus westlicher Sicht vorgeblichen Untergangs des weströmischen Reichs das römische Reich de jure jedenfalls weiterbestand (J.J. Norwich, 1997, S. 97). Das lässt sich schon allein aus der Tatsache ersehen, dass germanische Könige, die sich auf Reichsgebiet niederließen – wie Odoaker oder Theoderich – bis zur Kaiserkrönung Karl des Großen die Oberherrschaft des Kaisers in Konstantinopel anerkannten. Der Umstand, dass größere Teile des weströmischen Imperiums, die damals unter germanischer Vorherrschaft standen, durch Justinian, wenn auch nur für kurze Zeit, zurückerobert wurden, unterstützt jene Sichtweise, die sich in der damals gängigen Phrase einer »Restitutio Imperii Romani« (Wiederherstellung des römischen Imperiums) ausdrückte. Im Zuge die122

rückkehr zu heiliger herrschaft – byzanz ser Wiederherstellung verlor Italien am Ende des von Kaiser Justinian geführten zweiten gotischen Kriegs sogar seinen tradierten Sonderstatus als selbstständiger weströmischer Teil des Imperiums. Lediglich der Stadt Rom gestand der Kaiser noch spezielle Privilegien zu. Weshalb genau genommen nicht einmal vom Untergang des weströmischen Reiches gesprochen werden kann, weil der Westen schlicht an den einzigen Kaiser in Konstantinopel zurückfiel. Schon gar nicht sollte demnach vom Ende des römischen Imperiums die Rede sein. Sieht man aber von den permanenten territorialen Veränderungen des römischen Staates in der damals schon tausenddreihundertjährigen Geschichte ab, so gibt es gute Gründe, warum das 6. Jahrhundert trotz allem als Ende einer alten oder als Beginn einer neuen Zeit verstanden werden sollte.

Zeitenwende Ausschlaggebend dafür, dass die Regentschaft Justinians als »Zeitenwende« gesehen werden sollte, ist das Faktum, dass das gesamte Herrschaftsgefüge unter seiner Regentschaft grundlegend verändert wurde und bereits mittelalterliche Strukturen annahm. Dieser Umbruch ist in seiner Bedeutung etwa jenem gleichzusetzen, der das Ende der römischen Republik durch Cäsar brachte. Wurden nämlich vor Justinian sämtliche römische Herrscher stets durch das Volk bestätigt und der Princeps durch den römischen Senat als »Primus inter pares«7 in seiner Herrschaft legitimiert, so änderte sich das unter Justinian. Justinian bringt nicht nur den Senat im Osten, sondern nach dem zweiten Gotenkrieg auch jenen im Westen des Reichs zum Verschwinden. Als nächstes schaffte er 542 n. Chr. das altrömische Amt des Konsuls8 faktisch ab. Justinian und spätere Potentaten legitimierten ihren Herrschaftsanspruch in der Folge nicht mehr durch Verweis auf eine pseudodemokratische Berufung durch das Volk, sondern ausschließlich dadurch, dass sie sich auf eine weltliche Stellvertreterrolle Gottes beriefen. Ihre Macht (auctoritas), behaupteten sie demnach, wäre ihnen ausschließlich von Gott übertragen worden. Dass eine derartige Legitimation nur dann möglich wird, wenn im Hintergrund ein monotheistischer Glaube steht – und nicht wie im Heidentum ein Glaube an eine Vielzahl sich gegenseitig widersprechender und bekämpfender Götter – bedarf keiner ausführlicheren Erläuterung. Diese damit im Geist der Frühantike erreichte, neuerliche Sakralisierung der Herrschaft, nun in Form eines monarchischen Herrschers, zerstörte die letzten verbleibenden Reste jener im Prinzipat geschaffe7 Woraus sich die Bezeichnung »Prinzeps« bzw. »Prinz« herleitet. 8 Möglicherweise aus Kostengründen, doch erscheint diese Erklärung mager.

123

unwillige erben nen Illusion, dass der Kaiser, »Cäsar« oder »Augustus« nur »Primus inter pares« sei. Damit wurde eine Jahrhunderte alte Legitimationsbasis entthront. Die neue Vorstellung von einem »Gottesgnadentum«, das als Legitimationsinstrument bis tief in den europäischen Absolutismus bestimmend blieb, hatte in dieser Form in der griechisch-römischen Gedankenwelt nicht existiert. So betrachtet stellt also die Herrschaft Justinians tatsächlich einen tiefgreifenden Einschnitt in der politischen Geschichte dar. Weder in Rom noch in den hellenistischen Staaten existierte eine vergleichbare Vorstellung von staatlicher Macht. Herrschaft wurde zur göttlichen Repräsentanz, die der jeweilige Machthaber als Gottes Stellvertreter in dessen Auftrag ausübte. Das Vorbild dafür ergab sich aus der Vertreterrolle Christi als Sohn Gottes und als letzter Richter nach seiner neuerlichen Wiederkunft am jüngsten Tag. Diese altrömische Praxis, die Stellvertretung des »pater familias« durch den Sohn als Vorbild für einen weltlichen Stellvertreter Gottvaters zu nehmen, wurde erst unter Kaiser Justinian, also im 6. Jahrhundert, entwickelt und artikuliert. Aus diesem Grund betrachte ich die Regierungszeit von Kaiser Justinian I. als jenen ausschlaggebenden Wendepunkt, der die Antike vom Mittelalter trennt. Allerdings stellte dieser Schritt aus heutiger Sicht einen Rückschritt hinter jene Errungenschaften dar, die bereits durch Solon in die Welt gesetzt worden waren9. Denn es kehrte damit jene Situation zurück, in der jegliches Recht und jede Vorstellung von Gerechtigkeit in Hinblick auf ein Gesetz oder eine Verfassung hinfällig wurden. Sämtliche Entscheidungen ließen sich nun erneut als Ausdruck eines göttlichen Wunsches oder Willens legitimieren, auch wenn sie noch so unverständlich, grausam oder widersprüchlich erscheinen sollten. In vielen Fällen verstand es Justinian geschickt, die öffentliche Meinung in seinem Sinn zu manipulieren. Folgender Vorfall kann als mustergültiges Lehrbeispiel für die politische Bedeutung eines göttlichen Stellvertretertums und zugleich für Justinians Manipulationskünste genommen werden: In den Jahren, in denen der junge Justinian noch von seinem Onkel und kaiserlichem Vorgänger, Justin I., gefördert und als Nachfolger aufgebaut wurde, erwarb er sich allgemeine Beliebtheit bei der Bevölkerung durch die Veranstaltung aufwendiger Spiele im Hippodrom. Bezahlt wurden diese durch Griff in die Staatskasse. Nach dem Tod Justins wurde aber der junge Kaiser schnell mit den Folgen dieses Handelns konfrontiert. Denn, wie kaum anders zu erwarten, musste der neue Regent die systematisch geplünderten Staatskassen irgendwann wieder nachfüllen. Diese Aufgabe erledigte er durch unterschiedlichste Praktiken, deren simpelste darin bestand, exzessiv Steuern einzuheben. Um aber auf diese Weise an Geld, das nicht freiwillig abgeliefert wurde, 9 Siehe dazu: M. Schmutzer (2011), Band I.

124

rückkehr zu heiliger herrschaft – byzanz heranzukommen, bediente er sich skrupelloser Steuereintreiber. Diese ließen einen nicht unwesentlichen Teil der Abgaben in ihre eigenen Taschen fließen10. Durch derartige Praktiken schwand die anfängliche Popularität des jungen Kaisers schnell und schlug in ihr Gegenteil um.

Der »Nika«-Aufstand 11 So kam es im Jahr 532 n. Chr. zu einem Aufstand im Hippodrom, dem Zirkus, der seit langem von zwei sich gegenseitig bekämpfenden Parteien beherrscht wurde. Die Arena war damals zugleich auch der Ort, wo sich der Kaiser dem Volk präsentieren musste12 und sich massenpsychologisch Unterstützung holen konnte. Die Frustration der Bevölkerung war damals aber so außerordentlich, dass sich die beiden ansonsten unverträglichen Parteien eines Tages im Hippodrom verbündeten, Justinian ausbuhten und Hypatios, einen Neffen des vorvorigen Kaisers Anastasius, zum neuen Kaiser ausriefen. Justinian und seine Gattin Theodora flohen in den Palast und waren zunächst ratlos. Doch angeblich soll es Kaiserin Theodora gewesen sein, die zum Einsatz von Militär drängte und dies auch durchsetzte. Es entwickelte sich daraus ein entsetzliches Massaker. 30.000 Menschen sollen, wie Prokopius berichtet, getötet worden sein. Die Hagia Sophia und andere bedeutende Gebäude brannten nieder, und die Stadt lag in Trümmern. Der Aufstand war damit niedergeschlagen, der »Gegenkaiser« wurde auf Betreiben Theodoras gehängt. Die Niederschlagung dieses sogenannten »Nika-Aufstandes« machte über allem Zweifel klar, dass Justinian nicht mit sich spaßen ließ. Um aber umgekehrt auch dieses Massaker in ein für ihn positives Ereignis zu verwandeln, ließ er nicht nur die Stadt und vor allem die Hagia Sophia in neuer Pracht erstehen, sondern auch eine Deutung des Ereignisses verbreiten, die die brutale Niederschlagung des Aufstandes als Strafe Gottes und somit als gottgefällige Tat erscheinen ließ. Der militärische Schlag sei, so ließ er verbreiten, die gerechte Strafe Gottes für die sündhaften Bestrebungen und Handlungen seiner Bewohner 10 Ein berüchtigtes Beispiel ist Johannes von Kappadozien, ein enger Vertrauter des Kaisers, verhasster Steuereintreiber und zugleich wesentlich an der Formulierung des Codex Justinianus beteiligt. 11 Die Bezeichnung »Nika«-Aufstand leitet sich von »Nike«, der griechischen Siegesgöttin, her. »Nika« bedeutet demnach »Siege« und war der Schlachtruf der Zuseher, wenn sie ihre Favoriten anfeuerten. 12 Man mag fragen, ob er tatsächlich »musste«? Tatsächlich hatte er kaum eine andere Wahl, als den diesbezüglichen Erwartungen der Bevölkerung Folge zu leisten.

125

unwillige erben gewesen. Justinian fungierte demnach bei dieser Züchtigung der Bevölkerung einzig als ausführendes Organ Gottes, der ihn ja zu diesen und vergleichbaren Zwecken in sein Amt gerufen habe13. Derartige »Entschuldigungen« standen etwa einem Caligula, Nero oder Domitian noch nicht zur Verfügung. Da außerdem vor und während der Regierungszeit Justinians das östliche Reich einer unwahrscheinlichen Dichte von Katastrophen ausgesetzt war, die von zahlreichen verheerenden Erdbeben, Heuschrecken­ schwärmen, Überschwemmungen, Hungersnöten, neuerlichen Einfällen der Perser und anderer Völker bis zu mehreren ausgedehnten Pestepidemien reichten14, wird es niemand überraschen, dass sich unter diesen Vorgaben in weiten Kreisen eine bedrückende Endzeitstimmung ausbreitete. Diese Grundstimmung wurde durch Nordlichter und Sonnenfinsternisse bestärkt, die damals als böse Vorzeichen für weitere Katastrophen verstanden wurden und demnach Angst verbreiteten. Die Pest von 542 machte weder vor Konstantinopel noch vor dem Kaiserpalast Halt. Justinian selbst erkrankte. Nach seiner unwahrscheinlichen Genesung war er jedoch ein verwandelter Mensch. Tief gläubig wie er war, dürfte er diese Krankheit, die ihn am eigenen Leib traf, als ernstes Mahnzeichen Gottes verstanden haben. Von da an kümmerte er sich fast nur mehr um die Lösung theologischer Fragen und trat prominent als Veranstalter religiöser Prozessionen und anderer gottgefälliger Veranstaltungen in Erscheinung15. 13 Diese Auffassung eines »Gottesgerichtes« fand damals offene Ohren. Nicht nur hielt sich seit langem die Vorstellung, dass das Ende der Welt und die Wiederkehr Christi vor der Tür standen, sondern sie wurde zugleich von der alten Vorstellung genährt, dass die Sünden des Herrschers am gesamten Volk durch Gott gerächt würden. Verständlicherweise wurde diese Sicht nicht öffentlich kolportiert, doch die zahllosen Feinde, die das Kaiserpaar hatte, pflegten diese Darstellung nicht ohne Grund. Zeugnis für diese gängige Sichtweise liefert die von Prokopius verfasste sogenannte »Geheime Geschichte«, auch »Anekdota« bezeichnet, in der der antike Geschichtsschreiber ein Bild vom Herrscher und seiner Gattin malt, das heute allerdings von manchen Historikern als »hasserfüllt« beurteilt wird. In dieser Geschichte zeichnet Prokopius Justinian als jenen Dämon und Antichrist, der vor der Parusie Christi, also dem »Jüngsten Gericht«, die Herrschaft an sich reißen würde. Und er begründete diese Position damit, dass das Reich unter seiner Herrschaft in tiefe Armut gestürzt worden sei, wobei er u.a. die zügellose Geldgier des Herrscherpaares dafür verantwortlich machte. 14 Siehe dazu: M. Meier (2003). 15 Nicht zufällig werden daher er – und auch Theodora! – in der orthodoxen Kirche als Heilige verehrt.

126

rückkehr zu heiliger herrschaft – byzanz In einigen Fragen, die seit dem Konzil von Nicaea 325 n. Chr. anhaltende Auseinandersetzungen und innerkirchliche Häresien provozierten, scheiterten allerdings Justinians Taktiken; seine opportunistische Verurteilung der monophysitischen (miaphysitischen) Lehre etwa, der sogar die Gattin Justinians, Kaiserin Theodora, anhing, deren Rat er sonst häufig annahm, verschärfte z.B. die schon existierenden Spannungen zwischen den monophysitisch orientierten Kirchen Syriens und Ägyptens und der antimonophysitisch bzw. chalcedonensisch eingestellten römischen und konstantinopolitanischen Kirche16. Dieser Umstand blieb nicht ohne Folgen, als sich der Islam auszubreiten begann. Die Fokussierung auf Religion wurde u.a. von verschiedenen Gewaltmaßnahmen begleitet, die dem Kaiser weitere Mittel der Machtausübung lieferten. So wurde von ihm die zwangsweise Kindstaufe eingeführt, wobei die Nichtbeachtung dieser Regel mit dem Verlust von Eigentum und Bürgerrecht der Eltern bestraft wurde. Festhalten am so bezeichneten »hellenischen« Glauben bzw. auch Apostasie, der Austritt aus der Glaubensgemeinschaft nach der Taufe, wurde mit der Todesstrafe geahndet. Dies war für die Verbreitung des Christentums ein entscheidender Schritt, da nun praktisch jeder Reichsbewohner bereits als Kind getauft wurde und ein Abfall vom Christentum als grundsätzlich todeswürdiges Verbrechen galt. Eine derartig intolerante Haltung hatte in späteren Jahren zur Folge, dass die Massen scharenweise zum Islam übertraten, längerfristig gesehen also das Gegenteil von dem eintrat, was beabsichtigt wurde.

Codex Juris Civilis Justinian war zeitlebens ein geschickter Stratege. Seine innenpolitischen Vorgehensweisen waren von Anfang an wohl durchdacht. Er verschaffte sich nicht nur, wie bereits angemerkt, durch großzügige Spiele in der Manier früherer Imperatoren die Gunst des Volkes17. Darüber hinaus musste er die ihm nicht wohlgesinnte Aristokratie unter Kontrolle bringen. Diese verfügte über zwei wichtige Ressourcen – Geld und Rechtsprechung. Es wird nicht überraschen, dass folglich die meisten wichtigen gerichtlichen Entscheidungen ihren Interessen gemäß getroffen wurden. Um diese somit nicht zu unterschätzende Gruppe zu entmachten und zugleich auch deren materielle Ressourcen in die Hand zu bekommen, war es nötig, den Senat auszuspielen und nach Möglichkeit die gesamte Rechtsprechung unter Kontrolle zu bekommen. 16 Siehe dazu: M. Schmutzer (2011), Band I, Kap. XIII. 17 Das war nötig, denn mit seinem Hintergrund aus niedrigster Herkunft und einer Kaiserin, die de facto »aus der Gosse« kam, konnte er niemals auf die Unterstützung der Patrizier und des Adels zählen.

127

unwillige erben Das römische Recht der damaligen Zeit war bereits seit langem ein unüberblickbarer Wust von Edikten und Erlässen der Kaiser der letzten fünf Jahrhunderte sowie von zusätzlichen republikanischen Relikten, wie etwa dem Zwölftafelgesetz. Unter diesen Vorgaben stand jeglicher Rechtsauslegung ein weiter Spielraum offen, den jene überwiegend aus aristokratischen Familien stammenden Richter in ihrem Sinn zu nutzen wussten. Um diese Macht zu brechen, war es nötig, den undurchschaubaren Dschungel zu roden. Das schier undurchführbar scheinende Projekt wurde von Justinian mit Verve angegangen und gelang trotz großer Widerstände. Er setzte bereits zwei Jahre nach seiner Krönung eine Kommission aus Juristen unter der Leitung des befähigten, doch bekannt korrupten Tribonian ein, den er schon zuvor zum Quästor bestellt hatte. Auch dieser Mann bediente sich fragwürdiger Praktiken bei der Steuereintreibung und war daher im Volk verhasst. Trotzdem schaffte er es mit Unterstützung von berühmten Rechtsschulen in Rom und Beirut, eine Kommission zusammenzustellen, die sämtliche Gesetze der Kaiserzeit kompilierte, sortierte und in ein konsistentes System brachte. Diese Arbeit wurde in der erstaunlich kurzen Zeit von 14 Monaten fertig gestellt. Im selben Geist war es möglich, dass der sogenannte »Codex Juris Civilis« bereits eine Woche nach Fertigstellung in Kraft (April 529) treten konnte. Dieses Gesetzeswerk musste nun von jedem Gericht im gesamten Reich als maßgebliche Rechtsgrundlage verwendet werden. Die alte Selbstherrlichkeit der Richter wurde damit drastisch eingeschränkt. Ein Jahr darauf, 530 n. Chr., begann dann eine zweite Kommission unter demselben Vorsitz mit der Kodifizierung der Hauptwerke aller früheren römischen Rechtsgelehrten. Diese Werke wurden in den sogenannten Digesten (Pandekten) erstmalig methodisch erfasst. 533 erschien schließlich ein weiteres Handbuch zum Gebrauch für Studienzwecke in allen Rechtsschulen des Reichs. In diesem, den so genannten »Institutiones«, wurden die wesentlichen Inhalte aus den beiden Hauptwerken kompiliert und als Lehrstoff zum verbindlichen Kanon erhoben18. Für Justinian war die Fertigstellung des Codex ein gewaltiger Triumph, dessen Bedeutung für seine eigene Machtausübung ihm sehr klar war19. Denn damit etablierte er sich als alleiniger Herrscher im gesam18 Es klingt heute wie ein Witz der Geschichte, dass die Erstellung dieses noch heute maßgeblichen Gesetzeswerkes, des »Corpus Justinianus Juris Civilis«, ausgerechnet von Tribonian, einem der korruptesten Beamten des Kaisers, federführend betrieben und geleistet wurde. Es war folglich 532 beim Nika-Aufstand eine der ersten Forderungen der aufständischen Massen im Hippodrom, Tribonian und weitere seiner Kollegen abzusetzen. Dieser Forderung kam Justinian damals nach, doch machte er sie, Opportunist der er war, bald wieder rückgängig. 19 Dieser gesetzgeberische Erfolg wurde zugleich von militärischen und au-

128

rückkehr zu heiliger herrschaft – byzanz ten Reich und schuf so die Basis für die von ihm später begründete Legitimation gottgewollter Herrschaftsausübung. Die Gerichte wurden nun streng hierarchisch geordnet und offerierten vielfältige Berufungsmöglichkeiten. An deren Spitze stand allerdings stets der Kaiser als oberster Richter bzw. in dessen Vertretung ein kaiserlicher Gerichtshof. Die Richter waren aber gleichzeitig Verwaltungsbeamte, also in keiner Weise eine unabhängige Instanz. Und es wird nicht überraschen, dass sie, so wie der Kaiser selbst20, bestechlich waren21. Vorausblickend untersagte der Kaiser jeglichen Kommentar zu seiner Gesetzgebung, was sicherstellte, dass seine letztgültigen Entscheidungen nicht weiter hinterfragt werden konnten. Er gestattete allerdings eine wörtliche Übersetzung des lateinischen Textes ins Griechische, was in Anbetracht der Tatsache unumgänglich war, dass Latein im byzantinischen Reich zu einer aussterbenden Sprache und zunehmend durch Griechisch ersetzt wurde. Fassen wir diese Fakten zusammen, so kann es nicht überraschen, dass dem Codex als Instrument objektiver Rechtsfindung keine allzu große Bedeutung zukam und er vor allem im Westen des ehemaligen Imperiums bald in Vergessenheit geriet. Doch auch im Osten wurde er um ca. 900 n. Chr. durch die griechisch abgefassten sogenannten »Königsbücher« ersetzt. Diese fußten zwar nach wie vor auf dem Codex Justinianus, doch waren sie nur mehr ein Auszug des Gesamtwerks. Man kann daher festhalten, dass auch im verbliebenen Rest des alten römischen Reichs die praktische Bedeutung dieses monumentalen Werks im Lauf der Geschichte radikal zurückging, bis es schließlich in Italien zu einer erstaunlichen Wiedergeburt kam22. Die legistische Fundierung der Macht Justinians war von größter Bedeutung in Anbetracht dessen, dass es im weströmischen Teil des Reichs seit Odoakers Einnahme von Rom und der durch ihn erfolgten Absetzung des letzten weströmischen Kaisers keinen zweiten Augustus mehr gab.23 Justinian bekam mit dieser Arbeit nicht nur ein scharfes Instrument in die Hand, um die Aristokratie zu kontrollieren und deren ßenpolitischen Erfolgen begleitet. Mit den ständig das Reich bedrohenden Persern wurde ein, wie er es nannte, »ewiger Friede« geschlossen, der allerdings mit der Zahlung eines gewaltigen Tributs erkauft war. Zugleich wurde durch Justinians Feldherrn Belisar das Vandalenreich in Nordafrika zurückerobert, Sizilien und schließlich auch Italien von den Goten befreit. Man kann zusammenfassend feststellen, dass Justinian das alte Imperium Romanum für kurze Zeit wieder auferstehen ließ und damals am Höhepunkt seiner Macht stand. 20 Siehe dazu: Prokopius, Anekdota. 21 Siehe dazu: U. Wesel (2006), S. 257 ff. 22 Darüber wird in einem Nachfolgeband berichtet. 23 Seit der Eliminierung des jugendlichen Romulus Augustulus übten in

129

unwillige erben Einfluss auszuschalten, sondern erhob und schuf damit zusätzlich den Anspruch auf eine monokratische Herrschaft im gesamten Imperium. Das war insofern eine Novität, weil seit Theodosius I. – also seit mehr als einem Jahrhundert – das Reich nominell wieder 24 von zwei Kaisern regiert wurde. Der Anspruch blieb selbst dann aufrecht, wenn ein Thron zeitweise verwaist sein sollte. Summarisch lässt sich folglich die Regierungszeit Justinians des Großen als Angelpunkt einer Zeitwende begreifen. Nach ihm herrschten grundlegend andere Verhältnisse als davor. »Als Justinian starb (565 n. Chr.), hinterließ er ein Imperium, das mit erdrückenden Steuern belastet war und keine weitere Anstrengung vertrug; doch dieses Imperium hatte andererseits seine Aufgabe nicht vollendet, denn es konnte sich die Herrschaft im Mittelländischen Meer nur sichern, wenn es den einzigen unabhängigen Staat niederkämpfte, der an die Ufer des Meeres grenzte: das fränkische Königsreich.« (H. Pirenne,1936, S.35). Doch wie hätte Justinus II. (565–578), Nachfolger und Neffe Justinians, daran denken können? Seine Finanzen waren ungeordnet, und neue Feinde, Awaren und Slawen, erschienen aus den Steppen an der Donau, der damaligen Reichsgrenze. Diese Aufgabe anzugehen war ihm unmöglich. Das fränkische Reich entwickelte sich daher ungestört nach eigenen Regeln. Kehren wir an diesem Punkt zur eingangs konstatierten »Zeitenwende« zurück und resümieren die Entwicklungen in Byzanz unter Justinian, so sehen wir Folgendes: Es änderte sich nicht nur der Legitimationshintergrund weltlicher Macht, die nun auf einer Frühform des »Gottesgnadentums« begründet wurde, sondern es wurde auch für die Kirche im Osten der Grundstein für eine so bezeichnete »Symphonia« gelegt, d.h. für ein harmonisches Zusammenspiel von spätantikem Staat und christlicher Kirche durch Formung einer Staatskirche. In dieser hatte der Kaiser als letzte und oberste Instanz auch in Glaubensfragen verbindlich zu entscheiden. Kirche und Staat, das Heilige und das Profane, wurden zu einer ununterscheidbaren Einheit verwoben, wobei sich beide gegenseitig Rückhalt boten. Damit wurde zeitgleich jener anhaltende, für die Zukunft bedeutsame Konflikt zwischen Ost und West geschaffen, der den weiteren Verlauf der Geschichte wesentlich prägen sollte. Er ergab sich daraus, dass in Ermangelung eines westlichen Kaisers der römische Patriarch nach und nach die Rolle jenes fehlenden Kaisers übernahm, wogegen der byzantinische Kaiser jene eines »römischen« Papstes für sich requirierte. Rom kein Augustus (Kaiser), sondern germanische Könige, die offiziell dem byzantinischen Kaiser unterstanden, die Herrschaft aus. 24 Die Doppelregentschaft wurde durch Konstantin den Großen zwischenzeitlich abgeschafft.

130

rückkehr zu heiliger herrschaft – byzanz Mit den Entwicklungen des justinianischen Zeitalters wurden demnach Weichen gestellt, die bereits in den folgenden Jahrzehnten die weitere Entwicklung im Osten wie im Westen bestimmen sollten. Die in Bälde darauf erfolgende Expansion des Islam in die von Byzanz beherrschten Gebiete unterstützte diese bereits angelegten Tendenzen, denn dadurch wurde der spärliche Rest römischer Herrschaft im Osten eines wesentlichen Charakteristikums beraubt. Wurde nämlich die gesamte Antike von einer umgreifenden Verstädterung geprägt, die mit der Gründung der griechischen Poleis begann und in der Gründung Roms, Alexandriens und zahlloser anderer römischer Städte in den Provinzen ihre Fortsetzung fand, so beginnt nun eine historische Umkehr dieser Tendenz. Im Osten wie im Westen, wie wir noch sehen werden, beginnen die Städte entweder zu verfallen oder aber unter den Einfluss des Islam zu geraten. Im gesamten christlichen Einflussbereich beginnen nun stattdessen das Land und das dörfliche Leben, Großgrundbesitz und Leibeigenschaft dominant zu werden.

Geistesleben Diese Entwicklungen blieben nicht ohne Wirkung auf das Geistesleben, zumal die christlichen Ängste vor dem intellektuell überlegenen Heidentum den Erwerb von anderem Wissen als jenem, das in den religiösen Texten verbreitet wurde, nach Möglichkeit unterbanden. Mit den Städten verfielen auch die Schulen im Westen bzw. gelangten im Osten nach und nach in den Einflussbereich des Islam und prägten diesen wiederum ihrerseits. Erstes Opfer dieser engen Politik Justinians wurde 529 die »Platonische Akademie« in Athen. Diese war nach wie vor ein Hort heidnischer, neuplatonischer Philosophie, und sie wurde daher geschlossen. Doch auch ihre Güter, die die materielle Basis der Lehrenden waren, stellten für den geldgierigen Kaiser eine Herausforderung dar. Sie wurden konfisziert. Dies führte zunächst zu einem Exodus der dort tätig gewesenen Gelehrten nach Persien. Allerdings kehrten manche von diesen nach ein paar Jahren reumütig zurück und bekehrten sich zum Christentum. Zwei dieser Heimkehrer sollen hier namentliche Erwähnung finden. Einer von ihnen war Simplikios (lat. Simplicius), der angeblich auf seinem Rückweg in Carrhae25, einer Stadt im Grenzgebiet zwischen Persien und Byzanz, eine neuplatonische Philosophenschule begründete, die über ein halbes Jahrtausend Bestand haben sollte und vermutlich nicht ohne Einfluss auf die intellektuellen Entwicklungen im 25 Später wurde Carrhae »Harran« bezeichnet und kommt unter diesem Namen weiter hinten noch öfter vor.

131

unwillige erben Islam blieb. Der zweite bedeutende Name ist der Mathematiker Isidor von Milet, der von Justinian beauftragt wurde, die im Nika-Aufstand zerstörte Hagia Sophia wiederaufzubauen. Dieser erste wissenschaftsfeindliche Schritt des noch jungen Kaisers, die Auflösung der Platonischen Akademie, könnte schon das mögliche Ende antiker Wissenschaft bedeutet haben, wurde doch das andere bedeutende Zentrum der Gelehrsamkeit, die Bibliothek von Alexandrien, bereits 391 im christlichen Eifer auf Betreiben des dortigen Patriarchen Theophilos zusammen mit der berühmten »Serapeion«-Akademie zerstört und niedergebrannt (S. Hunke, 1960, S.198). Dass mit derartigen Gewaltakten der Fanatiker das intellektuelle Erbe der Antike trotzdem nicht gänzlich ausgerottet wurde, ist u.a. einer Frau zu verdanken. Bereits Konstantin der Große hatte in Konstantinopel eine Bildungsstätte gegründet, die zwar wissenschaftlich unbedeutend blieb, aber die Rettung dieses antiken Wissens ermöglichte. Dieses zunächst unbedeutende Institut wurde von Athenais, der hochgebildeten Frau26 von Theodosius II, seit 421 großzügig ausgebaut. Dadurch konnte es in ein christliches Pendant zur Akademie in Athen verwandelt werden und wurde so zu einem Bildungszentrum von internationalem Rang. Historisch nicht ganz korrekt wird diese Einrichtung daher manchmal auch als »erste Universität«27 bezeichnet. So gelang es auch, dass Konstantinopel trotz der von Justinian 545/46 verordneten Verfolgung28 nichtchristlicher Grammatiker, Rhetoren, Ärzte und Juristen und trotz der von ihm im Jahre 562 gleichfalls befohlenen öffentlichen Verbrennung heidnischer Bücher wesentliche Teile des geistigen Erbes der Antike bewahren konnte. Wie sich dieses dadurch konservierte Wissen in der Folge verbreitete, ist Gegenstand nachfolgender Kapitel. 26 Athenais war die Tochter von Leontios, einem bekannten Lehrer der Rhetorik an der platonischen Akademie in Athen. Sie war wie ihr Vater Heidin, doch erhielt sie eine hervorragende Ausbildung. Es ranken sich zahllose Legenden um diese offenbar sehr anmutige und attraktive junge Frau. Nachdem sich Theodosius unsterblich in sie verliebte und sie ehelichen wollte, nahm sie den christlichen Glauben an und ließ sich taufen. Bei diesem Anlass nahm sie den Namen Athenais an. Ihr früherer lautete Eudoxia, die »Wohlgebildete«. 27 Historisch deshalb nicht korrekt, weil sich diese Bezeichnung von »universitas« herleitet, was ursprünglich die Bezeichnung für eine mittelalterliche Zunft, d.h. die Gemeinschaft der Lehrenden und Studierenden, war. So eine Vereinigung gab es aber in Byzanz noch nicht. 28 Schon der Vorwurf des heimlichen Heidentums entwickelte sich zu einem beliebten Instrument, um unliebsame Angehörige der Oberschicht, die meistens im Sinne der platonischen »Paideia« gebildet waren, zu belasten und zu verfolgen.

132

die germanischen königreiche Abschließend sollte betont werden, dass diese Leistung von Byzanz vermutlich auch der bedeutendste Beitrag dieses sogenannten Erben war. Denn nicht einmal in den Rechtswissenschaften, zu deren Entwicklung und Erhaltung der Codex Justinianus Wesentliches beigetragen hat, blieb das Niveau der ersten Kodifikation des römischen Rechts erhalten. Auch diese Wissenschaft verkümmerte zu einer »Buchstabenwissenschaft«. Medizin, Physik, Philosophie oder Mathematik hatten auf die Leistungen einer anderen Kultur zu warten, die aber ihren ersten Impetus ebenfalls aus dem Wissen der Antike bezog.

Die germanischen Königreiche H. Pirenne (s.o.) weist nicht grundlos auf jene bedeutende politische Schwachstelle hin, die Justinian hinterließ: das fränkische Reich. Was beim Tod Justinians zwar noch nicht absehbar war, sollte im Lauf der nächsten Jahrhunderte tatsächlich zum Erben des weströmischen Imperiums mutieren. Allerdings verstrich bis zu jenem Zeitpunkt, wo ein neuer weströmischer Kaiser gekrönt wurde, eine Spanne von nahezu 250 Jahren, also ein Vierteljahrtausend. Es ist daher nicht verwunderlich, dass der genannte Historiker von mehreren Königreichen unter germanischer Herrschaft spricht. Denn wenn wir einer Gepflogenheit folgend das Ende des weströmischen Reichs mit der Absetzung des letzten Kaisers, Romulus Augustulus, im Jahr 476 n. Chr. datieren, so herrschten in Italien Odoaker, nach ihm der Ostgote Theoderich, in Spanien und Südfrankreich die Westgoten, im Rhonetal die Burgunder, in Nordafrika die Vandalen und im äußersten Norden der römischen Provinz Gallien die Franken. Mit dieser Aufzählung ist die Liste noch nicht erschöpft, doch würden weitere Details keine zusätzlichen Einsichten bringen. Ein Aspekt ist jedoch für unsere Überlegungen nicht unwesentlich. Die bunte Vielfalt, die aufgrund der germanischen Wanderungen und der Gründung von Königreichen auf dem Territorium des weströmischen Reiches zu finden war, wurde nicht länger durch ein gemeinsames Gesetz zusammengeschnürt. Jedes Volk bewahrte sein »nationales«, ursprüngliches Recht und seine tradierten Sitten. Das galt insbesondere auch in Hinblick auf Eigentum, Familie und Erbfolge – alles Themen, die gerade für die Römer von vorrangiger Bedeutung29 waren. Entscheidend war für jeden das Recht, das sich als Verpflichtung aus seiner Abstammung ergab. Ein gemeinsames, für alle gleichermaßen geltendes Recht des Landes, in dem eine Bevölkerung lebte, kam erstmalig wieder im 9. Jahrhundert auf und konnte sich auch dann noch nicht wirklich 29 Siehe dazu: M. Schmutzer (2011), Band I, Kapitel XI.

133

unwillige erben durchsetzen. Dieses erste Wiederaufflackern eines umfassenden Rechts geschah im Zusammenhang mit der Neubegründung des Kaisertums im Westen. Davor wurden jedoch die germanischen Reiche von Königen regiert. Dabei gilt, dass diese Könige ursprünglich keineswegs erbliche Positionen einnahmen, sondern von der Versammlung des ganzen Volkes gewählt wurden. Nachdem aber diese Völker innerhalb des römischen Imperiums sesshaft wurden, änderte sich diese Gepflogenheit. Der König war bald nicht mehr Gleicher unter Gleichen, wie Attila der Hunne oder auch Odoaker. Denn die gesamte alte Rechtsordnung entwickelte sich in Richtung auf eine persönliche Herrschaft des Königs, sodass dieser eher den römischen Kaisern glich als seinen germanischen Vorgängern30.

Das Reich der Franken Betrachten wir die Entwicklung am Beispiel der Franken im Detail, die nicht ohne Grund bereits von H. Pirenne erwähnt wurden. Sie sickerten bereits Mitte des 3. Jahrhunderts im nordöstlichen Gallien ein und richteten sich, obwohl es römisches Hoheitsgebiet war, dort auf Dauer ein. Trotz diverser militärischer Auseinandersetzungen mit den Römern blieben sie in diesem Gebiet. Nachdem das weströmische Reich nach dem Hunnensturm und Odoakers Einfall in Rom endgültig implodiert war, begannen die Franken, ähnlich wie auch die Westgoten, die Gunst der Stunde zu nutzen. Sie expandierten unter Chlodwig I. in einen angrenzenden Teil des römischen Reichs, der damals, vom Rest des Imperiums bereits abgeschnitten, leichte Beute war. Auf diese Weise konnten sie ihr Gebiet bis ins Loiretal ausweiten. Der Erfolg ermunterte den siegreichen König und veranlasste ihn zu weiteren Eroberungszügen. Erwähnenswert scheint, dass nun auch die im heutigen Südfrankreich ansässigen Westgoten erfolgreich attackiert wurden und dass deren Reich auf Gebiete jenseits der Pyrenäen reduziert wurde (Schlacht von Voulon, 507 n. Chr.). Auch die damalige westgotische Hauptstadt Toulouse fiel an die Franken. Folge war, dass nun das Frankenreich bis an die erwähnte Küste des Mittelmeers reichte. Als Gründer eines neuen fränkischen Reichs bemühte sich 30 Der König beanspruchte und erwirkte bald absolute Macht, die höchstens nur noch formal durch den oströmischen Kaiser überboten wurde. Gerne präsentierten sich deshalb diese Könige als Vertreter jenes fernen Kaisers und suchten dessen Anerkennung. Das ließ sie in römischen Augen oft nur als römische Feldherrn erscheinen, obwohl sie in ihrem eigenen Stamm als Könige auftraten und entsprechend handelten.

134

die germanischen königreiche Chlodwig notgedrungen auch um die Schaffung eines einheitlich verbindlichen Rechts31. Diese Bemühungen erzielten aber keine durchschlagende Wirkung, weil eine dazu passende Verwaltungsstruktur fehlte.

Christentum und Lehenswesen Diese beispiellose Ausdehnung hätte zugleich eine Verwaltungsreform erfordert, zu der Chlodwig aber mangels hinlänglich ausgebildeten Personals nicht fähig war. Er übernahm daher teilweise alte römische Verwaltungsstrukturen, die vor allem im Süden seines Reichs in urbanen Zentren verankert waren. Daneben – oder darüber – baute er allerdings zusätzlich ein neues System auf, das heute als »Lehenswesen« bezeichnet wird. In den städtischen Zentren waren bei den Römern gewählte Bischöfe meistens die lokalen Machthaber. Sie übten ihr doppeltes Amt als gewählte Oberhäupter der Ecclesia und als staatliche Funktionäre innerhalb einer in den Städten dominant römischen Population aus. Sollten diese Zentren nicht zu Widerstandsnestern gegen die neuen fränkischen Machthaber werden, galt es, die Loyalität dieser Kirchenmänner zu gewinnen. Das erreichte Chlodwig, indem er sich durch einen nicht allzu schweren Schritt der Verbundenheit der Bischöfe vergewisserte: Er trat zum Christentum über und ließ sich zusammen mit ca. dreihundert Gefolgsleuten öffentlich taufen. Nicht ohne Bedeutung war das diesen Schritt begleitende Ritual. Chlodwig wurde nämlich in Anlehnung an das Vorbild des biblischen Salomon gesalbt und so nach alttestamentarischer Tradition zum augenscheinlichen Stellvertreter Gottes auf Erden. Es manifestieren sich also auch hier, in dieser Handlung, analoge Tendenzen wie in Byzanz. Aufgrund dieser neuen Stellvertreterrolle beginnt sich das Bild des Königs in der Öffentlichkeit zu ändern. Denn als Vertreter Gottes auf Erden schlüpft auch er in jene Vaterrolle, die dem jüdisch-christlichen Gott seit je zugeschrieben wurde. Diese neue Sichtweise blieb nicht ohne nachhaltige Folgen. Um sich auch gegenüber den Bischöfen in klerikal-kirchlichen Belangen den nötigen Einfluss zu sichern, setzte nämlich Chlodwig auf der ersten Reichssynode (511 n. Chr.) durch, dass dem König ein maßgeblicher Einfluss bei der Wahl der Bischöfe zugesichert werden müsse. Dieses Ergebnis ist in Hinsicht auf wesentlich spätere 31 Er ließ die tradierten fränkischen Rechtsgepflogenheiten sammeln und schriftlich niederlegen. Die damit geschaffene Lex Salica – »Salier« war ein anderer Name für »Franken« – entfaltete aber in der Praxis nur eine geringe Wirkung. Es blieb ein nichtstaatliches, schriftloses Stammesrecht, auch nach dessen Fixierung in der Lex Salica (U. Wesel, 2006).

135

unwillige erben Entwicklungen von Interesse: Es zeigt sich nämlich an diesem Beispiel einmal mehr, welch weitreichende Folgen manche anfänglich eher unwesentlich scheinende Entscheidungen haben können. Mehr als ein halbes Jahrtausend später führten nämlich diese Entscheidungen letztlich zum Investiturstreit. Seine zweite soziale Innovation, die Schaffung des Lehenswesens, begann hingegen eine vielleicht unerwartete Eigendynamik zu entfalten. Das Lehenswesen wurzelte in zwei Traditionen, einer römischen und einer germanischen. Nach alter germanischer Tradition wurde ein Erbe auf alle Söhne aufgeteilt – wie etwa auch das Reich nach dem Tod Chlodwigs 511. Diese Tradition der Aufteilung des väterlichen Erbes unter den Söhnen blieb über viele Generationen erhalten. Absehbare Folge war, dass jedes Erbe in kurzer Zeit zerstückelt wurde und damit die materielle Machtbasis sukzessive erodierte32. Damit wird ein bedeutsamer Aspekt dieses Systems sichtbar. Die Macht der Herrscher lag in Ermangelung anderer Ressourcen im persönlichen Eigentum des Herrschers begründet. Dieses Eigentum wurde aufgrund ungleicher Beuteverteilung bei Kriegszügen erworben. Da es schon damals kaum ein funktionierendes Geldsystem gab, bildete materieller Besitz die wichtigste Basis für Macht. Der Transfer von Macht von unten nach oben geschah in diesem hierarchischen Verband mithilfe abzuliefernder Sachleistungen. Um solche Leistungen zu ermöglichen, war Verfügung über Land als Produktionsmittel ausschlagend. Land bildete nun wieder die wahre und einzige Quelle von Reichtum und folglich Macht. Der König brauchte somit zur Erhaltung seiner Macht weitgestreuten Landbesitz, und zwar in einem Umfang, den er keinesfalls mehr selbst unter Kontrolle halten konnte. Die Unmöglichkeit, ländliches Eigentum selbst zu kontrollieren und zu verwalten, ergab sich zusätzlich aus dem Umstand, dass Könige grundsätzlich mobil sein mussten, um durch ihre wiederkehrende Präsenz in sämtlichen Regionen des Reichs die benötigte Loyalität zu erhalten und die staatstragenden Aufgaben, wie etwa Rechtsprechung, zu erfüllen. Chlodwig betraute daher vertrauenswürdige Adelige mit Ländereien aus seinen ihm eigenen Besitztümern. Dies erfolgte in Form einer Belehnung33, und zwar auf der Basis von Verträgen. Diese wurden per 32 Zwar gelang es, die Einheit des fränkischen Reichs trotz dieser wiederkehrenden Aufspaltungen zu erhalten, aber Kontinuität war auf diese Weise nicht zu erreichen. So verlagerte sich schrittweise die wahre Macht in die Hände des obersten Verwalters der Besitztümer des Königs, Major Domus genannt. 33 Es ist vielleicht hilfreich, daran zu erinnern, dass sich dieses Wort von »leihen, verleihen« herleitet.

136

die germanischen königreiche Eid abgesichert. Der Belehnte ging damit die Verpflichtung ein, vereinbarte Sachleistungen zu erbringen, d.h. Kriegsdienst zu leisten und Kriegsmaterial – vor allem Rösser – sowie Krieger zu stellen. Durch den Eid wurden Lehensgeber und Belehnte zu gegenseitiger Treue, der sprichwörtlichen »Vasallentreue«, verpflichtet. Betonung sollte dabei auf das Wort »gegenseitig« gelegt werden. Denn nicht nur der Vasall, auch der Lehensherr oder Lehensgeber war zu Treue und Hilfeleistung verpflichtet. Starb ein Vasall, so fiel anfänglich das Land automatisch an den Lehensherrn zurück, denn der hatte es ja nur »verliehen«. Es blieb also auch nach der Belehnung sein Eigentum. Diese Regel änderte sich allerdings im Laufe der Zeit grundlegend, wie wir noch sehen werden. Das gesamte Belehnungsmodell ähnelte andererseits auch den alten römischen Verhältnissen von »Patron« und »Klient«. Ähnlich wie ein römischer Klient begab sich auch ein Vasall unter den Rechtsschutz seines Herrn, sprich »Patron«. »Patron« bedeutet »Vater«. Dieser hatte in Gerichtsfällen die Interessen seines Klienten zu vertreten, der ja selbst nicht rechtsfähig war. Auch zu solcher Interessensvertretung war nun der neue Lehensherr aufgrund des gegenseitigen Lehensverhältnisses per Eid und dadurch verpflichtet, dass der Vasall ja zu einem Mitglied des Haushalts (domus oder oikos) wurde. Er bearbeitete oder verwaltete ja nur die Güter, die dadurch nicht zu seinem Eigentum wurden. Auch diese Sichtweise änderte sich allerdings nach und nach, doch auf dem Weg dorthin veränderte sich zunächst das Rechtswesen. Der König war nun gleichzeitig oberster Lehensgeber und zugleich auch höchster Richter. Zusätzlich war er als »Vater« nach antiker Tradition in allen Belangen, die seinen »oikos oder domus« betrafen, sowieso oberste Rechtsinstanz und Herr über Leben und Tod innerhalb seiner Güter. Als Folge dieser Verschränkungen ergab sich, dass die alte Trennung von öffentlichem und privatem Bereich und der dazu gehörigen Rechtsprechung kaum länger möglich war. Eine objektive, neutrale Gerichtsbarkeit auf Basis allgemeiner Gesetze ließ sich unter diesen Bedingungen nicht länger aufrecht halten, u.a. weil eben die Interessen der durch Eid gegenseitig gebundenen Vasallen und Lehensherrn nach außen stets zugunsten eines Vasallen in Rechnung zu stellen waren. Von neutralen Richtern konnte so keine Rede mehr sein.

Private Gewalt und »Entstaatlichung« Der französische Historiker G. Duby (1985) beschreibt die gesamte Situation in folgender Weise: »Die öffentliche Autorität wurde auf diese Weise zerstückelt. Diese Fragmentierung bewirkte eine breite Streuung der Herrschafts-

137

unwillige erben rechte; jeder große Haushalt wurde quasi sein eigener souveräner Kleinstaat, in dem die vom Hausherrn ausgeübte, eigentlich private Gewalt, mochte sie noch so begrenzt sein, den ursprünglichen Charakter zwar bewahrte, aber zugleich in der Feudalisierung öffentlich wurde.« (G. Duby, S.24).

Die Häuser begannen dem archaischen, griechischen Oikos immer ähnlicher zu werden. Das ergab sich eben daraus, dass zwar das Lehen im Eigentum des Lehensherrn blieb, womit der Vasall zum Bediensteten und zugleich zu einem Mitglied des Hauses wurde, nicht anders als Sklaven oder Gesinde, allerdings mit anderen Rechten und auf der Basis eines beeideten Vertrags. Die alte Tradition einer »res familiaris« der Römer bildete somit wieder den Eckpfeiler von Zusammengehörigkeit und einer Gemeinschaft, die sich vom Rest der Anderen, der Gesamtheit aller nicht Zugehörigen unterschied. Diese Zugehörigkeit bestimmte sich vorrangig aus dem Aufenthaltsraum, dem Lebensraum, der durch Grenzen eingefasst und kenntlich gemacht war. Alles, was sich innerhalb der Grenzen dieses Raumes befand, war dazugehörig, war »hörig«34. Die Menschen innerhalb dieses Raums unterlagen, zumindest solange sie sich innerhalb dieser Begrenzung bewegten, einem anderen Recht als dem öffentlichen, nämlich dem des Pater Familias. Dadurch wird verständlich, dass selbst Verbände wie Klöster, die nach unserem Verständnis mit einer »Familie« nichts gemeinsam haben, ebenfalls eigenständige Rechtskörper bildeten. Auch sie definierten sich über die räumliche Zugehörigkeit. Öffentliches Recht regelt die Ordnung in und über Zeit und Raum. Solcherart definierten sich im Umkehrschluss dann auch jene Bereiche, wo ein öffentlicher Magistrat keine Macht mehr besaß. »Privaträume« und deren Grenzen werden mit markanten Zeichen markiert. Diese sind Marken und fungieren als Mark, als Grenze. Das, was sich innerhalb solcher Grenzen befindet, die eben den Privatbereich vom öffentlichen Raum trennen, wurde lateinisch als »cortis« (Einhegung) bezeichnet. Ins Vulgärlatein jener Zeit übertragen, wurde daraus der »cour« (englisch: court), der Hof, der bald nicht nur jenen Bereich benannte, wo sich das Vieh tummelte, sondern wo sich auch Gesinde und Klienten aufhielten, insbesondere wenn »Hof« gehalten wurde. Das Wort bezeichnet demnach auch jenen Bereich, wo das Privatrecht der hier ansässigen Familie Gültigkeit beanspruchte und öffentliches Recht zu schweigen hatte. Es grenzte also den Bereich der häuslichen Gewaltausübung des Dominus ab, der in diesem Hof auch zu Gericht saß35. 34 Das Wort leitet sich von »hören« her und bedeutet »ge-horchen«. 35 Auch dieser soziale Zustand blieb in der englischen Sprache erhalten. »To go to court« heißt »vor Gericht gehen«.

138

die germanischen königreiche Ans Licht traten die Konsequenzen dieser durch den Feudaleid geschaffenen neuen Gegebenheiten allerdings erst nach und nach. Es brauchte einige Zeit, bis sie voll zur Wirkung kamen und offensichtlich wurden. Doch um die Jahrtausendwende war es soweit. Zwischen 980 und 1020 n. Chr. brach, wie G. Duby meint, die durch private Gewalten zerrüttete Fassade des Staates zusammen. Die unter Chlodwig begonnene Feudalisierung hatte eine durchgängige Privatisierung der Macht in allen Bereichen der Gesellschaft zur Folge. Die Rechte der öffentlichen Gewalt wurden aufgrund der damit geschaffenen Ununterscheidbarkeit von privatem Eigentum, der »res privata« und der »res publica«, zum Gegenstand von privaten Geschäften. Das Rad der Geschichte stand wieder dort, wo es bereits vor Solons Tagen war. Die gesamte Entwicklung hielt bis ins 12. Jahrhundert an, als dann ein wieder erstarkter Kaiser begann, einige der alten Regalien, der königlichen Hoheitsrechte, zurück zu erobern. Dabei sollte bereits jetzt nicht übersehen werden, dass diese Entwicklung zeitlich mit der Wiederentdeckung und Einführung des römischen Rechts im Westen, des justinianischen Codex Juris Civilis zusammenfällt, und – wie gezeigt werden wird – mit der Wiederentdeckung der antiken Wissenschaften und deren neuerlicher Institutionalisierung einhergeht. Über diese Entwicklungen werden wir allerdings erst in einem nachfolgenden Band berichten können.

»Verländlichung« Höfe waren am Ende der alten, antiken Ordnung Inseln im öffentlichen Recht. Doch spätestens im 10. Jahrhundert waren diese Grenzen völlig verwischt, das weite Meer der öffentlichen Rechtsausübung versandete, die Grenze zwischen öffentlichem36 und privatem Leben verschwand. Ein Grund dafür war eine zunehmende »Verländlichung«37 (als Gegenteil von »Verstädterung«) des Lebens, oder anders gesagt, der drastische Niedergang der Städte38 am Ende der Antike. Die Stadt wur36 »Öffentlich« steht hier für lat. »publicus«, d.h. dem Volk (populus) in seiner Gemeinschaft zugeordnet. Diese Öffentlichkeit tritt in öffentlichen Räumen anschaulich in Erscheinung, etwa dem Forum, das zugleich auch der Ort war, wo jene Rechtshändel öffentlich abgehandelt werden, die die Grenzen des privaten »domus« überschritten haben. Sie überforderten demnach die Schlichtungsfähigkeit eines einzelnen »pater familias«. 37 Wir konstatieren hier eine analoge Entwicklung zu der im byzantinischen Reich. 38 L. Mumford (1961) schildert in seiner Geschichte der Stadt den Verfall bedeutender römischer Provinzstädte anschaulich. So sind Städte wie Arles oder Nîmes so geschrumpft, dass sie sich in ihre alten, römischen

139

unwillige erben de vom Land überwältigt, weshalb sich auch die städtischen Magistrate zunehmend auf die großen Häuser am Land, die Höfe, verteilten. Auch in die entgegengesetzte Richtung wirkte die geschilderte Dynamik. Nicht nur verloren die Städte an Bedeutung und Attraktivität, umgekehrt gewann das Land an Bedeutung. Der Hof löste die Stadt als Modell gesellschaftlichen Zusammenlebens ab. Da aber die Höfe Privateigentum waren, auch oder gerade wenn sie Königen gehörten, begannen die königlichen Machtbefugnisse als privates, patrimoniales, erbliches Eigentum zu erscheinen. Die Könige damaliger Zeit waren aber zugleich auch Garanten von Recht und Frieden im ganzen Land. Da im Laufe der Zeit das Reich der Franken eine riesige Ausdehnung erreichte, waren alle germanischen Könige von Beginn bis etwa ins 16. Jahrhundert vagant. Karl V. war der letzte dieser »Handelsreisenden« der Macht. Sie unterhielten Höfe an verschiedenen Orten und reisten mit ihrem Hofstaat von einer »Pfalz«39 zur anderen. Während ihrer Abwesenheit, die manchmal lange dauern konnte, verwaltete ein »Hausmeister«, ein sogenannten »Major Domus«, das Anwesen. Dieser Major Domus war ohne Unterbrechung anwesend, und so ergab es sich von selbst, dass er innerhalb eines solchen, von ihm verwalteten Anwesens großen Einfluss erhielt, da er ja auch in Vertretung des Dominus zu Gericht saß, zumindest dann, wenn es sich um kleinere Problemfälle handelte. Diese höfischen Verwalter wurden auch »Schreiber« bezeichnet, denn sie hatten ihren Herren u.a. auch schriftliche Berichte und Protokolle zu erstellen. Lateinisch bezeichnete man »Schreiber« als »graphius«. Bereits im 9. Jahrhundert besaßen aber diese »Grafen« in ihrem jeweiligen Verwaltungsbezirk so große Macht, dass die Unterordnung unter den König nur mehr formal existierte. Sie kontrollierten de facto die Pfalzen, die Stationen der mobilen Könige, welche, wenn sie gelegentlich vorbei kamen, auch nur wenig Ahnung von den lokalen Gegebenheiten hatten. Nach den überlieferten Regeln sollten diese Verwalter königlicher Güter regelmäßig zum Zweck neuer Belehnung beim König vorstellig werden. Besonders im Todesfall eines jeden Vasallen sollte eine neuerliche Belehnung die Regel sein. Im Laufe der Zeit änderte sich diese Gepflogenheit, weil die gräflichen Vasallen ganz im Sinn des alten römischen Haushalts das Lehen als ihren gewohnheitsrechtlichen Besitz betrachteten40. Das war in der alltäglichen politischen Praxis vor allem Arenen aus Sicherheitsgründen zurückzogen und dort auch hinreichend Platz fanden. 39 »Pfalz« leitet sich von »Palast«, das ist das römische »palatium«, her. 40 Siehe dazu die wesentliche Unterscheidung zwischen »Eigentum« und »Besitz« in: M. Schmutzer (2011), Band I, Kap. XI.

140

die germanischen königreiche auch deshalb möglich, weil sich die einzelnen Grafen mit den an ihre Güter angrenzenden Grafen absprachen und sogenannte »Freundschaften« schlossen, die eigentlich Beistandspakte waren. So geschah es, dass am Ende der König mittellos dastand, konfrontiert mit einer Gruppe selbsternannter »Monarchen«. Im lokalen Bereich sorgten nun unabhängige Fürsten für Frieden und Gerechtigkeit – und das nach Regeln, die sie selbst »erfanden«. Beispielsweise verfügte das Haus der französischen Könige, die im 10. Jahrhundert an die Macht gekommenen Karpetinger, bereits nach nur etwa hundert Jahren über keine verlässlichen Verbündeten mehr. Einzig auf jene, mit denen sie verwandtschaftliche Bande verbanden, konnte aufgrund des Erbrechts noch verlässlich gezählt werden. Da andererseits auch die Gebiete der neuen Fürsten ausgedehnt waren und verteidigt werden mussten, teilten auch sie das Gebiet auf Untervasallen auf, die in Burgen lebten und zur Verteidigung des Landes verpflichtet wurden. Auf diese Weise entstand eine gewaltige Hierarchie41, deren verwickelte Strukturen vorrangig auf einer Heiratspolitik begründet waren. Das wurde deshalb bevorzugt, weil das germanische Erbrecht solche Bindungen bevorzugte und durch Heirat die Macht zwischen einzelnen Bereichen am ehesten auf eine verlässliche Basis gestellt werden konnte42. Eine Methode, diesen Entwicklungen irgendwie entgegenzuwirken, bestand darin, nachgeordnete Vasallen auf einige Zeit an den Hof des übergeordneten Lehensherrn zu verpflichten, um dort »Hofdienst« – etwa als »Mundschenk« oder Marschall – zu machen. Auch deren Söhne wurden zu ähnlichen Leistungen verpflichtet und zum Zweck höfischer Erziehung für mehrere Jahre an den herrschaftlichen Hof geholt. Solcherart wurden affektive Bindungen geknüpft, wie sie eben innerhalb eines Hauses häufig sind, die jedoch darüber hinaus zur Stärkung der Loyalität beitragen sollten. Dass damit auch negative Affekte verbunden waren, sei nur mehr am Rande erwähnt. Zahllose Palastintrigen, ja Morde ließen sich zur Illustration anführen. Fasst man zusammen, so ergibt sich ein Bild, das wieder jenem der archaischen Antike vor Solon und auch den oben geschilderten Entwicklungen im byzantinischen Reich zum Verwechseln ähnlich sieht. Das Land übernimmt die Stadt. Damit verschwindet auch die charak41 Makroskopisch betrachtet, entstand auf diese Weise eine vierstufige Hierarchie: An der Spitze stand der königliche Haushalt, dann folgte der fürstliche der Grafen, darunter jener der Burgherrn und schließlich wurden diese alle vom einfachen Volk getragen. 42 Der Umstand, dass nicht wenige der Grafen zugleich Bischöfe waren und dem Klerus angehörten, zwang schließlich die Kirche zu neuen Schritten, die noch zu besprechen sein werden.

141

unwillige erben teristische städtische Produktion, die handwerklich aufgestellt und u.a. auch auf die Herstellung von Luxusgütern ausgerichtet war. So ist es nicht erstaunlich, dass unter derartig neuen Lebensverhältnissen weder Bedarf, Interesse noch die Chance bestand, einen urbanen Lebensstil zu pflegen, der u.a. auch eine Pflege der Wissenschaften mit sich gebracht hätte. Dass die schon erwähnte christliche Geringschätzung solchen Wissens einen nicht zu unterschätzenden zusätzlichen Beitrag leistete, sei gleichfalls nur mehr erwähnt, weil wir darauf später noch zurückkommen werden.

Recht und Gesetz verschwinden Ergebnis ist: Recht und Gesetz verschwinden mit der Öffentlichkeit, der »res publica«, aus dem öffentlichen und dem vorherrschenden Denken. An dessen Stelle treten autokratische Entscheide und die Implementierung enger Interessenspolitik. Die alte Vorstellung eines auf einem Grundgesetz bzw. einer Verfassung ruhenden Staates löst sich auf. Antike Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz, die griechische »Isonomie«, wird erneut von einer unübersehbaren Ungleichheit vor dem Gesetz abgelöst. Damit gehen auch die in diesem Kontext entstandenen Vorstellungen von kausalen Zusammenhängen verloren, weil sie ja nun auch nicht mehr erlebt werden können43. Die offene, mobile Welt vorchristlicher Zeiten wird eingehegt, ein Zaun wird gesetzt, der Blick beschränkt. Die Welt wurde stattdessen neuerlich der Willkür eines unbestimmten Zufalls44 übergeben. Das Wunder 45 trat wieder an die Stelle rationaler Erkenntnis. Diese Entwicklung lässt sich anschaulich am Beispiel der Heilkunst illustrieren. Städte wie das erwähnte Arles verfügten in der Antike über »Stadtärzte«, die die damalige hochstehende hippokratisch-galenische Medizin praktizierten. Das bedeutet: Sie waren empirisch-naturwissenschaftlich orientiert. Im Zuge der Übernahme der städtischen Verwaltung durch Bischöfe wurden diese Positionen zwar nicht abgeschafft, doch durch andere Heilpraktiken ergänzt, bis jene dann letztlich zum dominanten Instrument wurden – vermutlich auch deshalb, weil kaum noch jemand Medizin studieren konnte, wollte oder durfte. Unter diesen alternativen Heilpraktiken sind Verfahren wie Handauflegung, Berühren von Reliquien, Pilger- und Wallfahrten und Prozessionen zu 43 Siehe dazu: M. Schmutzer (2011), Band I, Kap. III. 44 Wahrscheinlichkeitsrechnung oder Statistik war damals unbekannt, so wie die dazu führenden frühen Überlegungen eines Archimedes. Diese blieben bis in unsere Tage verloren (R. Netz, W. Noel, 2010). 45 Siehe dazu: M. Schmutzer (2011), Band I, Kap. I bis III.

142

retter des abendlands – islam verstehen. So verordnete der damals designierte Bischof von Rom, der spätere Papst Gregor, anlässlich der Pestepidemie im Jahr 590 n. Chr. in Rom eine große Bußprozession zu Ehren der Gottesmutter. Gregor der Große hat damit ein neues – allerdings aus Konstantinopel abgegucktes – Bewältigungsinstrument für eine Epidemie in Rom eingeführt. Diese Praxis wurde in der Folge zum jährlich wiederkehrenden Ritual, weil – so die Legende – während der Prozession der Erzengel Michael über der danach benannten »Engelsburg« erschienen sei, sein Schwert in die Scheide gesteckt hätte und somit das Ende der göttlichen Bestrafungsaktion angekündigt hätte (M. Meier, 2004). F. Gregorovius (1929) klassifiziert dieses Ereignis als einen derartig markanten Einschnitt, dass er ihn als Marke für den Beginn des Mittelalters in Rom vorschlägt. Analoge Berichte kennen wir aus Marseille, Auxerre, Lyon, Trier, Mailand etc. (G. Kirchner, 2004). Meistens geht es dabei darum, die Überlegenheit eines kirchlichen Vertreters, eines »vir Dei«, d.h. Gottesmannes, zu demonstrieren, der die Ärzte als weniger »mächtige Heiler« deklassieren konnte und so die Überlegenheit des christlichen Glaubens über die antike Wissenschaft manifest machte. Auch diese Entwicklung charakterisiert einen Schritt zurück in die Archaik, d.h. in diesem Fall in die Zeit Äskulaps und in die Praktiken vor Hippokrates und seiner Schule46.

Retter des Abendlands – Islam Als dritter Erbe der Antike wird von H. Pirenne der Islam genannt. Seine Reihung als Dritter lässt sich historisch begründen, entstand der Islam doch erst im 7. Jahrhundert, also ein bis zwei Jahrhunderte nach der Gründung der ersten germanischen Königreiche. So wie das Christentum erscheint uns auch der Islam als nichts anderes als ein religiöses Bekenntnis. Das scheint schon der Name »Islam« zum Ausdruck zu bringen, der als »Unterwerfung unter Gott« zu übersetzen ist. Den Islam ausschließlich als religiöses Bekenntnis zu betrachten, scheint aber aus historischer Sicht einseitig. Denn das Wirken des Propheten Moḥammed, den manche als die bedeutendste Persönlichkeit der Weltgeschichte bezeichnen47, beschränkte sich keineswegs nur auf religiöse Tätigkeiten.

46 Siehe dazu: M. Schmutzer (2011), Band I, Kap. V. 47 Siehe dazu: M. H. Hart (2000).

143

unwillige erben

Solon und der Prophet Im Gegensatz zu einer häufig vertretenen Sicht mit Fokus auf religiöse Aspekte scheint mir ein Vergleich mit einer anderen historischen Persönlichkeit angemessener. Diese trat nicht als Religionsgründer in Erscheinung, sondern als Begründer der athenischen Demokratie. Es handelt sich um Solon. Im ersten Band dieser Arbeit habe ich diese historisch bedeutende Persönlichkeit und deren bahnbrechende Leistungen vorgestellt und auf die Bedeutung seines Werkes für die Geburt der Wissenschaften hingewiesen. Seine politische Leistung und interessanterweise auch sein Lebenslauf lassen sich zumindest bis zu einem bestimmten Punkt mit jenen Moḥammeds vergleichen. Diese Parallele mag manchen Lesern unglaubwürdig erscheinen. Daher soll im Folgenden ein Vergleich der zwei Persönlichkeiten im Detail angestellt werden. Solon48 entstammte einer angesehenen Familie. Trotzdem wuchs Solon in für seine Herkunft ärmlichen Verhältnissen auf. Sein Vater war ein engagierter Philanthrop und verlor durch seine großzügigen karitativen Hilfsleistungen das Familienvermögen. Sein Sohn, nun selbst verarmt, betätigte sich daher früh und entgegen herrschender aristokratischer Gepflogenheit als »internationaler« Händler. Offenbar gelangte er damit wieder zu einigem Vermögen; doch wesentlicher ist, dass er im Zuge dieser Tätigkeiten zahlreiche neue Erfahrungen sammeln konnte, die ihn für spätere Aufgaben in seiner Heimat prädestinierten. In seiner Vaterstadt Athen herrschte zu seiner Zeit weit verbreitete Armut, die zu wiederholten sozialen Unruhen führte. Trotz diverser politischer Bemühungen unter Drakon ließen sich diese nicht unter Kontrolle bringen. Die Armut war zu groß und die Vermögensunterschiede waren zu gravierend. Da die Gründe für diese Gegebenheiten in Athen offenbar systemischer Natur waren, lag die Gefahr einer anhaltenden sozialen Spaltung und eines lang dauernden Bürgerkriegs in der Luft. Folglich beschloss die herrschende Schicht, mithilfe neuer Gesetze wieder sozialen Frieden herzustellen. Solche Gesetze, die breite Akzeptanz finden, einen weitgehenden Interessensausgleich ermöglichen und wieder inneren Frieden schaffen sollten, konnte nur ein hochgeachteter, von allen als unparteiisch geschätzter Mann erarbeiten. Solon verfügte offenbar über diese Eigenschaften. Ein weiterer Grund, warum gerade er diesen Auftrag erhielt, darf in den früher von ihm veröffentlichten Elegien gesehen werden. In diesen forderte er u.a. Gleichheit aller vor dem Gesetz – »Isonomie« – als 48 Der Werdegang Solons ist historisch wesentlich besser dokumentiert als etwa der von frühchristlichen, namentlich bekannten Personen, wie Jesus von Nazareth oder den Evangelisten Matthäus und Johannes.

144

retter des abendlands – islam Mittel zur Wiedergewinnung inneren Friedens. Solche Gleichheit war damals in einer von Aristokraten dominierten Gesellschaft keineswegs ein selbstverständliches Rechtsgut. Diese Forderung auch in der politischen Praxis durchzusetzen, verlangte von der herrschenden Schicht Verzicht auf einige politische Vorrechte. Zu diesen zählte u.a. das Recht auf Versklavung von säumigen Schuldnern, eine verbreitete Usance, die Solons Verfassung aufhob. Er verbot aber nicht allein Schuldsklaverei, sondern überschrieb das Ackerland an jene, die es tatsächlich bearbeiteten. Er setzte also u.a. in seiner Verfassung die Enteignung aristokratischen Landes durch. Dieser Schritt Solons war für den Adel ein harter Schlag. Im Zuge der damit begonnenen »Verrechtlichung« sozialen Lebens wurden noch zahlreiche andere, den sozialen Zusammenhalt gefährdende Rechtstraditionen aufgehoben. Zu erwähnen wäre die bis dahin gängige Praxis, Blutrache zu üben. Diese uralte Tradition birgt in sich sozial zerstörerische Folgen, die kaum unter Kontrolle zu bringen sind. Die Kettenreaktionen ähnlichen Auswirkungen müssen vermieden werden, weshalb das Recht auf Vergeltung von Solon einer unabhängigen Rechtsfindung unterworfen wurde. Ebenso bekämpfte er die grassierende Armut gleich mit verschiedenen Mitteln und mit großem Erfolg49, wobei die Umverteilung des Ackerbodens nur eine Variante war. Solon führte zahlreiche andere Neuerungen ein, die in Band I nachzulesen sind. Summarisch betrachtet, schuf er eine neue, schriftlich fixierte Verfassung, die weitreichende Veränderungen in Athen bewirkte. Beurteilt man diesen schöpferischen Akt im Sinn von H. Kelsen (1934/1960), dann wurde erst durch seine Verfassung ein athenischer Staat geschaffen. Denn ein Staat kann nach H. Kelsen nur auf einer wirksamen Rechtsordnung beruhen, die der nämliche Staat selbst zu gewährleisten hat. Die Folge der Solon’schen Neuerungen war ein markanter wirtschaftlicher Aufschwung in Athen und die Befriedung der lang anhaltenden sozialen Spannungen – zumindest für einige Zeit. Jedenfalls wurde durch ihn der erste Schritt gesetzt, um Athen in späterer Folge zu dem werden zu lassen, wofür wir es kennen: ein intellektuelles Zentrum sowie Wiege einer neuen Denkweise und demokratischer Staatsführung. Die Biografie des Propheten Moḥammed weist erstaunliche Übereinstimmungen mit jener Solons auf. Auch Moḥammed stammte aus einem einflussreichen Clan, dem der Haschemiten in Mekka, und auch sein Vater verbrauchte sein Vermögen im Dienste für die Armen. Zusätzlich starb der Vater noch vor seiner Geburt. Die Mutter verstarb, als Moḥammed ca. sechs Jahre zählte, sodass er schließlich als Vollwaise im Hause seines väterlichen Onkels mit dessen Söhnen aufwuchs. Auf49 Siehe dazu: M. Schmutzer (2011), Band I, Kap. III.

145

unwillige erben grund dieser Umstände hatte er früh für seinen eigenen Lebensunterhalt zu sorgen. Er verdiente sich diesen anfänglich als Schafhirte und später damit, dass er mit Handelskarawanen mitzog, für die Mekka stets ein bedeutender Ausgangs- und Zielpunkt war. Ähnlich also wie Solon, der auf solchen Handelsreisen per Schiff Ionien und vermutlich auch Ägypten kennenlernte, lernte der Knabe aus dem heidnischen Wallfahrtsort Mekka auf dem Rücken der Wüstenschiffe andere Kulturen kennen. Verbürgt sind zwei solche Reisen nach Syrien, das damals zum christlich geprägten byzantinischen Reich gehörte. So wie Solon bei der Gestaltung seiner Verfassung von ägyptischen Rechtsauffassungen wesentlich beeinfluss wurde, so lernte Moḥammed offenbar viel bei seinen Aufenthalten im christlich-byzantinischen Syrien. Dort übten auch Diasporajuden einen maßgeblichen Einfluss aus, wodurch er offenbar die alttestamentarische Religion kennengelernt haben muss. Aufgrund dieser Lebensumstände lernte der in arabisch-heidnischen Gepflogenheiten Aufgewachsene die zwei damals etablierten abrahamitischen, monotheistischen Religionen kennen. Ein markanter Wendepunkt ergab sich in seinem Leben, als ihm seine bedeutend ältere Arbeitgeberin, die verwitwete Khadidschah bint Khuwailid, ein Heiratsangebot machte. Moḥammed dürfte damals um die 25 Jahre gezählt haben. Die Ehe mit der wohlhabenden und aus angesehener Familie stammenden Kaufmannsfrau bewirkte im sozialen Status des jungen Mannes einen radikalen Wandel. Er erlangte finanzielle Unabhängigkeit und ein gewisses Ansehen, was ihm in der Folge Freiheiten gestattete, die ihm sonst kaum offen gestanden wären.

Athen und Mekka Ähnlich wie in Solons Athen herrschten auch innerhalb von Mekka beachtliche, armutsbedingte soziale Spannungen. Es ist nachvollziehbar, dass er, angeregt durch die Erfahrungen seiner Jugendjahre, begann, mit reformerischen Aussagen an die Öffentlichkeit zu treten. Dass derartige Aktivitäten von der Oberschicht nicht goutiert wurden, liegt in der Natur der Sache. Diese Ablehnung seiner wohlmeinenden Ideen war dann offenbar auch Anlass zur Formulierung seiner ersten Offenbarung. Deren Inhalt geht aus der ersten Sure des Koran hervor. Dabei ist mit dem Attribut »erste Sure« Folgendes gemeint: Anders als im Abendland wurden im Islam die einzelnen Offenbarungen des Propheten bei ihrer Niederschrift im Koran nicht in zeitlicher Hinsicht geordnet, sondern nach deren Textlänge. Das bedeutet, dass die im Koran als »zweite Sure« bezeichnete die längste von allen ist. Die dort als erste geführte Sure nimmt aber eine Ausnahmestellung ein. Sie ist nicht nur nicht länger als die 146

retter des abendlands – islam zweite, sondern wesentlich kürzer als alle unmittelbar nachfolgenden. Ihre Aufgabe ist die eines kurzgefassten Glaubensbekenntnisses, das gleich am Anfang des Heiligen Buches zu finden ist. Aufgrund dieser Ordnungssystematik findet sich die zeitlich erste Offenbarung in Sure 9650, auf die wir gleich zurückkommen. Für das Verständnis der Tätigkeiten Moḥammeds scheint es aber zur Einführung hilfreicher zu sein, zuerst zu zeigen, wie sich der Prophet in der Öffentlichkeit selbst darstellte. Dieses Selbstverständnis lässt sich aus einer zeitlich späteren Sure (Sure 38) rekonstruieren. In dieser Sure bezeichnet sich Moḥammed als »nadhir«51, als »Warner« oder »Vorbote« (38/70, wird manchmal auch unter 38/72 zitiert)52. Unmissverständlich spricht er deshalb in dieser Sure aus, worin der von ihm bzw. Allah geforderte Wandel bestehen soll: Die Reichen sollen den Armen nicht ihr letztes Stück Vieh wegnehmen, sondern sollen sich von ihrer Habgier lösen und sollen nicht andere übervorteilen. Sie, die Mekkaner, sollen darüber hinaus ihre kleinlichen Streitigkeiten beilegen, denn damit verbrächten nur Ungläubige ihre Zeit. Stattdessen sollten sie sich endlich von ihren heidnischen Göttern lossagen, denn es gäbe nur einen Gott, das sei der Gott Abrahams. Dass sich dieser Aufforderung vor allem die wohlhabenden Mekkaner widersetzten, ist in derselben Sure zu lesen. Und dieser Widerstand entstand nicht zufällig. Denn Mekka war seit langem ein bedeutender Wallfahrtsort heidnischer Götterverehrung, und die Kaʿbah bereits vor dem Islam Ziel zahlloser Pilger. Wie zu anderen Zeiten und an anderen Orten auch, waren diese Pilgerströme eine reiche Einnahmequelle, deren Versiegen die Bürger befürchten mussten, wenn ihnen die zahllosen Götter, die dort Verehrung fanden, genommen würden. Ähnliches spricht die zeitlich zweite Sure (74) direkt aus. Sie fügt aber bereits eine kurze Liste der Vergehen an, die am Tag des (letzten) Gerichts göttliche Verdammnis bewirken werden. Dazu gehört das Unterlassen der täglichen Gebete und des Almosenspendens. Außerdem bewirke Leugnung und Ignorierung eines letzten Gerichts und der Umgang mit »besserwisserischen Eitelkeitskrämern« ebenfalls ewige Verdammnis im Feuer der Hölle. 50 Manchmal wird auch die 74. Sure als zeitlich erste bezeichnet. 51 Die arabische Sprache kennt viele Laute, für die das lateinische Alphabet keine Zeichen kennt. Daher ist jeder Versuch, die Worte mit unseren Buchstaben wiederzugeben, problembeladen. 52 Manchmal wird der arabische Begriff auch mit »öffentlicher Prediger« übersetzt. Diese Übersetzung gibt zwar den göttlichen Auftrag zur Lehre wieder, unterdrückt aber das Anliegen, das eben darin besteht, die Menschen von Mekka - und hier vor allem die Wohlhabenden - zu einem anderen Lebensstil zu bekehren.

147

unwillige erben Es ist nicht schwer nachzuvollziehen, dass in dem Augenblick, wo der Prophet gängige religiöse Praktiken zusammen mit dem geschäftstüchtigen und aufwendigen Lebensstil der Oberschicht zu verurteilen begann, Widerstand gegen diesen Emporkömmling entstehen musste. Diese Ablehnung wird, wie oben angedeutet, bereits in der zeitlich ersten Sure (96) dokumentiert. Darin wendet sich Moḥammed gezielt gegen einen einzelnen Mann – wie wir wissen, Abu Dschahl, ohne ihn namentlich zu nennen –, der ihn bereits früh öffentlich desavouierte. Diesem Mann teilte er auf diese Weise mit, dass er sich ob seines Reichtums frevelhaft benehme, auch weil er versuche, ihn, den Diener Gottes, vom Beten abzuhalten. Allerdings bleibt es nicht bei diesem einzigen Vorwurf. Sondern er bezichtigt im weiteren Text den Ungenannten der Ungläubigkeit, weil er die Reden Moḥammeds als Verse des Betrugs und der Lüge verunglimpfe. Als Strafe für dieses höchst verwerfliche Handeln droht er ihm die Qualen des ewigen Höllenfeuers an. Zweierlei lässt sich aus dieser ersten, in Mekka verkündeten Offenbarung entnehmen: nämlich, dass sich der Prophet einer unüblichen Sprache befleißigte, in Form von Versen, welche in anderen Suren schließlich als Beweis dafür genommen wurden, dass es sich eben um göttliche Botschaften handelte. Zusätzlich wird deutlich, was in vielen anderen, so auch in der oben erwähnten 74. Sure ausführlicher gesagt wird: es liege in der Verantwortung jedes Einzelnen, welche Lebensweise er wähle. Folglich treffe am Ende die göttliche Strafe jeden gezielt und gerecht, und diese sei daher nicht schicksalsbestimmt, obwohl Allah im Voraus wisse, wie eine bestimmte Entscheidung getroffen werden wird. Auch hier sind markante Parallelen zu Solon zu erkennen, der ja genau dieselbe, selbstverantwortliche Grundeinstellung vertrat und die individuelle Verantwortung betonte. Das hieß aber auch bei Solon nicht, dass Armut immer selbstverschuldet sei, weshalb gegenseitige Verantwortlichkeit und Hilfe gefordert werden müsse. Auch in anderer Hinsicht wird eine überraschende Übereinstimmung mit Solon erkennbar. Solon hat ja, bevor er die athenische Verfassung schrieb, den Zustand der Gesellschaft in Form poetischer Elegien beschrieben53. Und sogar die Verfassung wurde in Versen niedergelegt. Daraus lässt sich die Bedeutung von Sprachformen ersehen. Verse, welcher Art immer, waren und blieben eine Ausdrucksform, die das Außerordentliche aufzeigen sollte und folglich dem Bereich des Göttlichen nahekam. Hier wie auch sonst handelt es sich um »Sakralsprachen«. Jene Suren, die schon in Mekka offenbart wurden, zeichnen sich erwartungsgemäß durch eine ähnliche stilistische Gepflogenheit aus. 53 Allerdings nahm Solon als Archont bereits damals eine der wichtigsten politischen Funktionen in Athen ein, was vermutlich dazu beitrug, dass er keiner offenen Kritik ausgesetzt war.

148

retter des abendlands – islam Moḥammed musste sich in Ermanglung einer höheren sozialen Stellung auf andere Autoritäten berufen, um seine Glaubhaftigkeit zu begründen. Und diese Autorität, auf die er sich berief, war die höchste – ein einzig herrschender Gott, als dessen Sprachrohr und wohlmeinender Warner er erwählt worden war. Daher bezeichnete er sich selbst immer nur als »Gesandten« Gottes, der oft genug behauptete, keine eigene Meinung zu haben und eine solche auch gar nicht haben sollte. Solche Auserwähltheit eines sozial »inferioren« Menschen wurde, wie kaum anders zu erwarten ist, von den einflussreichen Bevölkerungsschichten in Mekka nicht akzeptiert. Begreiflicherweise erhoben sie daher auch bald die zynische Forderung, dass sich Allah bei ihnen direkt melden solle. Auf die sozialgeschichtlich durchaus vielsagenden Einzelereignisse näher einzugehen, würde nun freilich zu weit in Bereiche führen, die unser Thema nicht unmittelbar betreffen. Daher halten wir als Ergebnis dieser kommunalen Entwicklungen fest, dass die kleine Gruppe von Unterschichtgläubigen, die der Prophet um sich sammeln konnte, zusammen mit Moḥammed massiv attackiert wurde. Moḥammed ordnete folglich 614 n.Chr. seiner ersten Gemeinde den Auszug aus Mekka nach Abessinien54 an, der auch von einigen befolgt wurde. Sein späterer Schwiegervater und Nachfolger, Abu Bakr, gehörte als Einziger unter ihnen der Oberschicht an und war von Anfang an ein getreuer Anhänger des neuen Glaubens. Der Auszug der frühen Anhängerschaft verhinderte nicht, dass die Anfeindungen vonseiten der Oberschicht intensiver wurden, obwohl Moḥammed demselben Stamm der Quraisch angehörte. Folglich musste er sogar auf einige Zeit im Haus eines angesehenen Bürgers Zuflucht nehmen und seine öffentlichen Auftritte reduzieren. Doch auch das erwies sich langfristig als keine erfolgreiche Lösung. Die Jahre zwischen der ersten Auswanderung einiger seiner Anhänger 614 n.Chr. und der 622 erfolgten Hidschrah, die ich nicht wie üblich als »Flucht« bezeichnen möchte, bleiben etwas dunkel. Fest steht, dass 619 seine erste Frau Khadidschah starb, und etwa zur selben Zeit auch einer der wichtigsten Beschützer des Propheten in Mekka. Zugleich scheint sich Moḥammed auf der Halbinsel bereits zu dieser Zeit einen gewissen Ruf erworben zu haben, zu dem Auswanderer und Pilger, die die heiligen Stätten in Mekka aufsuchten, beigetragen haben dürften. Einige von diesen Pilgern traten sogar dem Islam bei. Seine Reputation als »Warner« hatte zur Folge, dass um 618 eine Delegation aus Yathrib, dem späteren »madinat an-nabiy«, der »Stadt des Hochangesehenen«, in Mekka eintraf. Sie unterbreiteten ihm ein Angebot, das ihm Schutz, Aufenthalt und Gastfreundschaft nach den 54 Abessinien war bereits christlich und folglich monotheistisch. Der damals regierende Negus nahm daher die Einwanderer freundlich auf.

149

unwillige erben gängigen Stammesregeln für einen Gegendienst anbot. Der Anlass, der dazu geführt hat, darf nicht unerwähnt bleiben, da ansonsten die Darstellung Moḥammeds als Religionsgründer in ihrer Einseitigkeit unwidersprochen bleibt.

Yathrib Eine Stadt »Yathrib« existierte damals nicht. Yathrib war zwar ein bekannter Ort, der ein Umschlagsplatz für Waren aus dem Yemen war, aber keine Stadt. Die Waren wurden dort auf Karawanen verladen, um auf der »Weihrauchstraße« ihren Weg nach Norden zu nehmen. Aus dieser Handelsposition ergab sich auch ein spannungsgeladenes Konkurrenzverhältnis zu Mekka, was dem in seiner Heimatstadt bedrängten Propheten zu Hilfe kam. Bewohnt wurde der Ort Yathrib von mehreren arabischen Stämmen, wobei jene der »Aus« und »Khazradsch« eine besondere Rolle spielten. Auch Christen sowie jüdische Clans lebten dort, die alle zueinander in einem Jahrhunderte alten, spannungsgeladenen Verhältnis standen. Ursache dafür war nicht nur die anhaltende ökonomische Konkurrenz untereinander, sondern auch nicht zu beendende Fehden, die sich aus dem Prinzip der Blutrache ergaben. Diese sich vererbenden Differenzen eskalierten zu jener Zeit derartig, dass im Jahr 617 n.Chr. bei Buʿath eine veritable Schlacht zwischen den Stämmen geschlagen wurde. Die beiden Stämme der Aus und der Khazradsch bekämpften einander als Hauptgegner, doch beide Seiten erhielten Unterstützung von jüdischen Clans und Beduinen aus umliegenden Oasen. Die Schlacht wurde zwar nach längerem Hin und Her letztlich von den Aus für sich entschieden. Das Ergebnis war allerdings nicht so eindeutig, dass die Machtlage dadurch langfristig entschieden gewesen wäre. Tiefen Eindruck dürfte aber der Umstand hinterlassen haben, dass in dieser Schlacht die Führer beider Parteien den Tod fanden. Trotzdem gingen die alten Feindseligkeiten weiter, ohne zu irgendwelchen abschließenden Ergebnissen zu gelangen. Um 620 scheint sich jedoch die Einsicht auf allen Seiten durchgesetzt zu haben, dass die Zeiten und Traditionen der Blutrache endgültig überholt waren und dass Bedarf an einer Autorität bestand, die neutral und objektiv Streitigkeiten und Differenzen zwischen den Stämmen zu schlichten imstande war. Das traditionelle Stammesrecht kannte die Einrichtung eines »ḥakam«, eines »Schiedsrichters«, der zwischen Streitparteien vermitteln sollte. Dieser hatte allerdings keine Gewalt­ befugnisse, was bedeutete, dass die Anerkennung seiner Entscheidungen vonseiten der Streitparteien freiwillig war. Sein Schiedsspruch konnte folglich nicht mit Gewalt durchgesetzt werden. 150

retter des abendlands – islam Im vorliegenden Fall einigte man sich auf Basis dieser Tradition darauf, eine Gesandtschaft bestehend aus Vertretern der bedeutendsten zwölf Clans nach Mekka zu schicken, um Moḥammed einzuladen, die Rolle dieses obersten Streitschlichters zu übernehmen. Nach längeren Verhandlungen zwischen ihm und der Delegation kam es schließlich zu einem Bündnisvertrag, und ein Jahr später zu einem Treuegelöbnis von ca. siebzig Männern aus Yathrib. Erst aufgrund dieses Vertrags und des Gelöbnisses kam es im Jahr 622 zur sogenannten Hidschrah, die folglich nicht wirklich als Flucht, sondern besser als »Berufung« bezeichnet werden sollte. Diese Beurteilung gilt auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Moḥammeds Lage in Mekka zu dieser Zeit als »prekär« bezeichnet werden könnte. Er verließ seine Heimatstadt heimlich und nur in Begleitung von Abu Bakr, seinem treuen Gefolgsmann. Trotzdem wanderten auch damals weitere Bewohner Mekkas mit Moḥammed aus. Sie mussten aber ihre gesamte Habe zurücklassen. In Yathrib wurden auch diese Menschen gleichfalls freundlich und unterstützend aufgenommen. Das überrascht, denn dadurch wurden die ohnehin schon schwierigen Beziehungen zwischen den Bewohnern dieser Gegend noch komplizierter55. Umgekehrt zeigt sich daran auch, dass Moḥammed offenbar in der Lage war, die spannungsreichen Beziehungen zu beruhigen und Frieden zu schaffen. Die beachtenswerte politische Pazifizierung eines konfliktträchtigen Gebiets gelang ihm aufgrund eines Gesetzeswerks, das gemeinhin als »Verfassung von Medina« (Dastur al Madina) bezeichnet wird. Mit Hilfe dieser Verfassung schuf er eine Konföderation zwischen den acht Stämmen und den mekkanensischen Auswanderern. Doch nicht genug damit, regelte er auch die Beziehungen zu jenen Gruppen, die nicht den arabischen Stämmen zugerechnet wurden, wie etwa den ansässigen jüdischen Clans. Das ist von herausragendem Interesse, weil zwar die politischen Beziehungen zwischen diesen Gruppen geregelt wurden, aber der Ausgleich dadurch erreicht wurde, dass gleichzeitig jeder Gruppe die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Religionen zugestanden wurde. Einzige Voraussetzung für diese große religiöse Toleranz war, dass keine dieser Gruppen irgendeinem Götzendienst anhing. Nur die sogenannten »Religionen des Buches«, also Anhänger einer monotheistischen Offenbarung, wurden als gleichwertig anerkannt und geduldet. Die Schilderung der Zustände in Yathrib ist von nicht geringer Bedeutung für das Verständnis der weiteren Entwicklungen. Moḥammed, bekannt durch seine auf Ausgleich und inneren Frieden abzielenden mekkanensischen Reden, wurde nun eine Rolle zuteil, die der von G. 55 Manifest wurden diese Spannungen in dem Augenblick, als nach dem Tod des Propheten ein Nachfolger gefunden werden sollte (siehe dazu das folgende Kapitel).

151

unwillige erben Simmel (1908) beschriebenen Rolle des »Fremden« entspricht. Dieser Rolle kam er offenbar mit großem Geschick nach. Denn es gelang ihm, sowohl die beiden verfeindeten Stämme der Aus und Khazradsch miteinander zu versöhnen, als auch die jüdischen Gemeinden zumindest teilweise zu gewinnen und zusätzlich noch die mitgezogenen Mekkaner in einer »Ummah« (Gemeinschaft, Verwaltungseinheit) zu integrieren. Auffallendes Merkmal dieser Ummah ist, dass die Bande, die die Menschen zusammenhielten, nicht länger verwandtschaftlicher Art waren, sondern ausschließlich in der Gemeinsamkeit ihres monotheistischen Glaubens bestanden. Dadurch entwickelte sich eine Kommune, die zwar noch immer aus verschiedenen Stämmen bestand, aber unter dem Schirm eines einzigen Gottes stand, ohne dabei eine Konvertierung der Nicht-Muslime zum Islam zu fordern. Ausgeschlossen wurden daraus nur die »Götzendiener«, also jene, die polytheistischen Religionen anhingen. Die Schaffung eines derartigen Bündnisses war ein beachtlicher Erfolg mit weitreichenden historischen Konsequenzen. Es wurde nämlich damit zugleich die Basis für die späteren Kalifate gelegt.

Resümee Kehren wir zum Anfang dieses Kapitels zurück, dort, wo festgestellt wurde, dass die Antike drei Erben hätte. Erinnern wir uns daran, dass gelegentlich die Meinung vertreten wurde, dass in Wirklichkeit nur zwei gesellschaftliche Institutionen dieses Erbe angetreten hätten, und zwar die zwei monotheistischen Religionen. Nach unseren Ausführungen erscheinen beide Sichtweisen verkürzt. Allerdings hängt für diese Beurteilung viel davon ab, was als Erbschaft betrachtet wird: Sprechen wir von Territorien, so stimmt die Zahl drei nicht, denn das römische Imperium zerfiel in mehrere Teile, die sich noch dazu im Lauf der Geschichte ständig änderten. Sprechen wir aber vom intellektuellen Erbe, so kann bestenfalls nur von einem Erben gesprochen werden, der selbst schon vergreist war – Byzanz. Dort passierte in intellektueller Hinsicht wenig mehr, als das intellektuelle Erbe mehr schlecht als recht zu bewahren, ohne es wirklich zu nützen oder zu mehren. Die Bedeutung dieses konservierenden Erben darf nicht unterbewertet werden, doch sollte sie auch nicht überschätzt werden. Denn selbst der Codex Justinianus verlor schnell seine Bedeutung in einem monokratischen Staatswesen, wo kaiserliche Willkür in allen Belangen, in rechtlichen wie religiösen, vorherrschend wurde. Der Umstand, dass der Rest des Römerreichs in räumlicher Hinsicht sehr rasch auf einen Bruchteil seiner ursprünglichen Größe reduziert wurde, schmälert die Bedeutung dieser rechtlichen Erbschaft noch weiter. 152

resümee Die germanischen Königreiche, allen voran die Franken, übernahmen zwar das Christentum und damit Rudimente platonischen Denkens, doch in rechtlicher Hinsicht fielen sie zurück in eine Zeit vorantiker Gepflogenheiten. Werden die Byzantiner als erbende Greise eingestuft, so könnte man andererseits die germanischen Reiche als noch nicht mündige Erben in ihren »Flegeljahren« titulieren. Somit bleibt der Islam. Wie dargestellt, wäre es unklug, den Islam nur als erbende Religion zu verstehen. Tatsächlich lässt sich in diesem Fall die gefällige Trennung von Religion und Staat, die wir seit der Aufklärung gern als selbstverständlich hinnehmen, nicht durchhalten. Aus unserem Verständnis wird die staatsgründende Funktion des Propheten zu gerne übersehen und folglich unterbewertet. Ähnlich wie Solon begründete Moḥammed mit seiner Dastur al Madina einen Staat im Sinn von H. Kelsen. Seine Legitimationsbasis für diese Verfassung schuf er sich allerdings unter Berufung auf einen allmächtigen Gott, wobei er diesen Glauben unter Verweis auf Abraham historisch abstützte.

Kognitive Voraussetzungen für Existenz und Entwicklung von Wissenschaften Im ersten Band dieser Arbeit wurde darauf hingewiesen, dass zur Entstehung von Wissenschaft die Existenz eines allgemein gültigen Rechts eine notwendige Voraussetzung bildet. Es bleibt festzuhalten, dass diese »notwendige Bedingung« einzig im Einflussbereich des Islam durch seinen Propheten geschaffen wurde, wogegen in den germanischen Reichen unter christlichem Einfluss, so wie auch in Byzanz, diese notwendige Bedingung abgeschafft wurde. In diesen Ländern begann wieder eine archaische Rechts- und Gerechtigkeitsauffassung Fuß zu fassen, die nicht in gesatztem Recht gründete, sondern in steter wundersamer, göttlicher Willkür, deren vorgeblicher Arm der jeweilige Monarch war. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass sich Moḥammed als oberster Richter stets auf eine durch Konsens erzeugte Verfassung stützte, wogegen seit Justinian der oberste Richter in Byzanz eben wieder als Erfüllungsgehilfe eines willkürlichen Gottesurteils handelte. Unter diesen Bedingungen gingen in den christlichen Reichen die kognitiven Voraussetzungen für die Existenz und Entwicklung von Wissenschaften verloren, im Gegenzug wurden aber diese notwendigen Vor­ aussetzungen für Wissenschaft im islamischen Bereich neu geschaffen. Im antiken Athen waren die gesatzten Gesetze eines Solon noch nicht der Beginn einer wissenschaftlichen Entwicklung, sondern lieferten erst die notwenigen kognitiven Voraussetzungen. Ähnliches geschah auch im Islam. Im Vertrauen auf eine in Buchform veröffentlichte allgemeine Verfassung konnte auch die Welt als eine Welt verstanden werden, die 153

unwillige erben gleichfalls Gesetzen unterlag. Dieser Grundeinstellung war dafür verantwortlich, dass nicht lange danach – es dauerte ähnlich lange wie im antiken Griechenland, also ca. ein Jahrhundert – im islamischen Bereich ernstzunehmende Schritte in Richtung Wissenschaft gesetzt wurden, denen wir es zu verdanken haben, dass wir das intellektuelle Erbe der Antike antreten konnten. Dieses Erbe wurde nicht in seiner ursprünglichen Form überliefert. Nicht nur wurden Teile, die auf dem Weg über den Islam zu uns gelangten, von muslimischen Gelehrten in mannigfacher Weise überarbeitet, ergänzt und weiterentwickelt. Zusätzlich gelangten auch manche Teile auf anderen Wegen in den Westen, ohne allerdings dort auch gewürdigt zu werden. Viele dieser in Schriften vergrabenen Wissensbestände ruhten jahrhundertelang unbeachtet und verstreut in klösterlichen Bibliotheken oder wurden oft auch von ahnungslosen Skriptoren zerstört. Ein nennenswertes Beispiel liefert dafür das erst im 20. Jahrhundert wieder gefundene Palimpsest des Archimedes, dem wir schon in Kapitel I unsere Aufmerksamkeit geschenkt haben. Eine Aufgabe, die sich nun stellt, ist, nach jenen »hinreichenden Bedingungen« zu suchen, die es einerseits ermöglichten, dass das Wissen der Antike – egal, ob aus unserer heutigen Sicht falsch oder richtig – überwiegend auf dem Umweg über den Islam zu uns gelangen konnte. Zugleich haben wir auch die Frage zu stellen, warum diese Erkenntnisse nicht auf direktem Weg und nicht schon wesentlich früher übernommen wurden. Schließlich wurde ein wesentlicher Teil Europas als ein Nachkomme des römischen Imperiums betrachtet und über Jahrhunderte auch als »heilig römisches Reich« bezeichnet. Das römische Reich usurpierte und okkupierte im Laufe seiner langen Geschichte alle Städte und Gebiete, die sich bei der Entwicklung antiker Wissenschaften einen Namen gemacht hatten. Das begann mit der Eroberung von Magna Graecia und Sizilien und wurde mit jener Griechenlands, Ägyptens und der restlichen hellenistischen Diadochenstaaten abgeschlossen. Rom hätte alle Möglichkeiten besessen, diesen Fundus zu nutzen und in ähnlicher Weise zu kultivieren, wie es Jahrhunderte später die Muslime machten. Allein Rom hatte an solchen Dingen kein erkennbares Interesse, wie im vorigen Kapitel gezeigt wurde. Häufig wird diese »phobosophische56« Einstellung allein auf das Christentum zurückgeführt. Wie es scheint, war aber diese abweisende Haltung bereits durch die römische Kultur vorgeprägt und fand bei den frühen lateinischen Kirchenmännern nur einen entsprechenden Widerhall. Ihre weltferne Grundeinstellung diskriminierte viele anti56 Ich präge diesen Begriff in Abhebung zu »philosophisch«, was ja bedeutet, der Weisheit freundschaftlich gegenüber zu stehen. »Phobisch« bedeutet hingegen, ihr feindlich gesinnt zu sein.

154

resümee ke Erkenntnisse auch, um eigene Mängel ihrer irrationalen Dogmatik durch deren Ansiedlung im Wunder jeder rationalen Konfrontation zu entziehen. Schon Tertullian (ca. 150- 230 n.Chr.) meinte bezeichnender Weise: »[…] für uns ist Wissensbegier keine Notwendigkeit seit Jesus Christus, Forschung kein Bedürfnis seit dem Evangelium. Indem wir glauben, verlangen wir nichts darüber hinaus zu glauben. Dies nämlich glauben wir zunächst: dass es nichts gibt, was wir darüber hinaus glauben müssen.« (Tertullian, 2003)

Der Kirchenvater Augustinus (354 – 430 n.Chr.) vertrat etwas später eine ähnliche Position, wenn er sagte, dass es für Christen genüge, den Grund alles Geschaffenen in gläubiger Gesinnung in der Güte des Schöpfers zu erkennen und zu wissen, dass alles einzig von ihm komme57. Im vorigen Kapitel wurde diese römische Phobie bereits von Galen »diagnostiziert«, ohne therapiert werden zu können. Deshalb konzentrierte sich dieses Kapitel auf das griechische Erbe und überging die vergleichsweise minimalen römischen Beiträge. Denn letztlich handelt es sich vor allem um ein griechisches, wenn vom intellektuellen und wissenschaftlichen Erbe der Antike gesprochen wird. Zu fragen bleibt demnach, warum gerade die Muslime begierig aufsaugten, was den Römern kaum verlockend schien. Im Westen lief die Entwicklung also genau in die entgegengesetzte Richtung. Obwohl dort im Vergleich zum hellenistischen Osten wesentlich weniger unmittelbare Überlieferungen angeboten wurden, Griechisch und andere Sprachen unbekannt waren, wurden selbst die – vergleichsweise bescheidenen – vorhandenen Möglichkeiten nicht genutzt, und von einer »Übersetzerbewegung« war bis tief ins 12. Jahrhundert nichts zu bemerken. Vorhandene Kopien von Euklid, Vitruv u.a. verstaubten in den Regalen mancher Klöster Jahrhunderte lang, wenn solche Abschriften nicht gar zerstört wurden, um das wertvolle Pergament für die Wiedergabe mystischer Texte zu verwenden. Wir wollen also im Folgenden versuchen, hinreichende Bedingungen durch Vergleich zu ermitteln, die erfüllt sein müssen, damit es zur Wahrnehmung gegebener Chancen kommen konnte, die in Ost und West in gleichem Maß vorlagen. Zur allgemeinen Überraschung werden wir feststellen, dass bei den Griechen und im Islam dieselben soziopolitischen Voraussetzungen wirksam waren, die schließlich zur Entwicklung einer eigenen Art von Naturwissenschaft führten.

57 Siehe dazu: J. Freely (2009), S. 87; Aurelius Augustinus (1925).

155

156

Teil II Unter der Fahne des Propheten

»Islam is, first and foremost, a nomocracy. The highest expression of its genius is to be found in law; and in its law is the source of legitimacy or other expressions of its genius […]« (m.H., M.S.; G. Makdisi, 1981, S. 8)

157

158

kapitel iv

Geburt eines Rechtsstaats Wie bereits im vorherigen Kapitel beschrieben, begab sich Moḥammed aufgrund einer Einladung nach Yathrib, nachdem er eine Übereinkunft mit einer Delegation aus Yathrib geschlossen hatte. Dieser Vertrag machte ihn zu einem »ḥakam«, einem unparteiischen Schiedsrichter, der die geschilderten ruinösen Konflikte kalmieren sollte. Schon kurze Zeit nach seiner Ankunft in Yathrib entwickelte er eine Verfassung, die »Dastur von Medina«, die die Voraussetzung für ein friedvolles Zusammenleben schuf. Aus dieser »Dastur« entwickelte sich eine gänzlich neue Art des Zusammenlebens der Menschen. Dieser neue Zusammenhalt wurde als »Ummah« bezeichnet1. Es war eine Gemeinschaft von Gleichberechtigten, die nicht länger in der traditionellen Stammeszugehörigkeit wurzelte. Der soziale Zusammenhalt wurde keineswegs nur auf einer rein religiösen Basis erreicht, sondern beruhte anfänglich ausschließlich auf der Basis jener Verfassung, die heute »Charta von Medina« genannt wird. Konkret bedeutete das u.a., dass Juden von Medina nicht nur die gleichen »staatsbürgerlichen« Rechte zugestanden wurden, sondern darüber hinaus auch das Recht auf ungestörte Pflege und Ausübung ihrer Religion. Erwähnenswert scheint in diesem Kontext auch, dass die jüdische Bevölkerung von Medina anscheinend etwa doppelt so groß war wie die der arabischen Medinenser (6000 : 3000)2. Summarisch muss man allein schon deshalb dem Verhandlungsgeschick Moḥammeds großen Respekt zollen. Der Prophet schuf mit dieser Charta eine Gemeinde bestehend aus unterschiedlichen Stämmen und Religionen, die unter dem hoheitlichen Schirm eines einzigen, gemeinsamen Gottes, aber vor allem eines einzigen rechtlichen Codex stand. Dieser Codex fand seine Legitimation in den verschiedenen Suren des Koran und der Person des Propheten 1 Nicht übersehen sollte man, dass »umm« »Mutter« bedeutet. Die Pluralform von »umm« ist »ummah«. Bemerkenswert ist, dass diese »ummah« die jüdischen Stämme von Yathrib miteinbezog. Es handelte sich also anfänglich um eine rein politische und keine religiöse »Vergemeinschaftung« – wie M. Weber (1922) diesen Prozess aufgrund seiner dominant affektiven mutterbezogenen (umm) Bindungen bezeichnen würde. 2 Das ließe sich u.U. daraus erklären, dass Yathrib vermutlich von jüdischen Emigranten gegründet wurde, die nach der Zerstörung des Tempels durch die Römer in nicht-römisches Gebiet aussiedelten. Angeblich handelte es sich um mehrere »Banus«, die untereinander zerstritten waren und daher den Schutz einheimischer Nomaden suchten.

159

geburt eines rechtsstaats Gottes. Sie musste folglich nach dem Tod des Propheten erst mühsam herausdestilliert werden. In Anbetracht dieser sozio-politischen Leistung überrascht es nicht, dass heutige islamische Wissenschafter diese Verfassung auch als jenes Dokument betrachten, das von Beginn an die prinzipiell demokratische Einstellung des Islam dokumentiert, und das in einer Zeit, wo in keinem anderen Teil der Nachfolgestaaten der Antike auch nur annähernd Ähnliches zu finden war. Diese grunddemokratische Einstellung im Islam wird in vielen Details deutlich3. Sie zeigt sich etwa in den in der Charta enthaltenen Regeln für die Behandlung und rechtliche Stellung von Kriegsgefangenen4, Sklaven, Frauen oder Waisen, denen allen – im Vergleich zu traditionellen Stammesgepflogenheiten – wichtige, neue Rechte zugebilligt wurden.5

Die Charta von Yathrib Die Charta, die als genuine Verfassung zu bewerten ist, bildete somit den Grundstein eines neuen Staates, der einige Ähnlichkeit mit den frühgriechischen Poleis hatte. Nicht unähnlich wie in den Tagen Solons in Athen, war sie zugleich Ausgangspunkt für einen erstaunlichen Aufstieg dieser Stadt bzw. dieses neuen Staates. Sie lieferte das Fundament zur Bildung einer politischen Allianz, welche in der detaillierten und schriftlichen Spezifikation der Rechte und Pflichten aller Bürger und der Beziehungen und Verpflichtungen zwischen den unterschiedlichen Gruppen zueinander begründet war. Demnach schuf sie zugleich auch den Ausgangspunkt, um richterlicher Willkür zu begegnen oder, wenn nötig, solche Willkür erfolgreich zu bekämpfen. Dass eine derartig auf Gleichheit ausgerichtete Verfassung das Ergebnis der politisch vorgefundenen, schwierigen Vorgaben war, ist unbenommen. Dass aber der Prophet die Gabe besaß, diese Vorgaben in Rechnung zu stellen und mittels seiner Gesetze den notwendigen politischen Ausgleich zu schaffen, zeugt von einem überragenden diplomatischen Geschick. 3 Dass diese Prinzipien nicht immer gelebt werden und gelebt wurden, bleibe dahingestellt. Allerdings werden auch in den zeitgenössischen westlichen Demokratien viele derartige Prinzipien umgangen und nach Bedarf adaptiert. 4 Der Umgang mit Kriegsgefangenen ist allerdings nicht einheitlich geregelt. Waren solche am Anfang zu töten, so wurde ihnen im Lauf der Zeit mehr Milde zuteil, besonders dann, wenn sie sich zum Islam bekehrten. 5 Hier in die Details zu gehen, würde aber zu sehr von den zugrundeliegenden Anliegen dieser Arbeit ablenken. Trotzdem finden sich weiter unten einige charakteristische Punkte zur Illustration.

160

die charta von yathrib Heute gilt als außer Streit gestellt, dass Moḥammed diese Verfassung bereits in den ersten Monaten nach seiner Ankunft in Yathrib verfasst hat. Dadurch wurde er aus unserer modernen Sicht zum Begründer eines Staates bzw. Stadtstaates. Folglich wird es kaum überraschen, dass Yathrib seitdem auch als »Madina«, Stadt des Propheten (madinat an-nabiy), bezeichnet wird. Dieser Name überlebte bis in die Gegenwart. Es wird auch kaum überraschen, dass Moḥammed in der Folge die Position eines obersten Richters für Moslems und Nicht-Moslems einnahm, war doch die Suche nach einem unparteiischen Mediator der Grund, ihn nach Yathrib einzuladen. Eine derartig bedeutende Rolle bedarf auch einer Legitimation, die über die ursprüngliche Einladung hinausgehen muss. Sie wurde auf zweifache Weise geschaffen: nämlich sowohl aufgrund seiner vom ihm selbst propagierten Rolle als Gesandter Gottes, als auch aufgrund der von ihm geschaffenen politischen Verfassung, die ja auch für Nicht-Muslime Geltung hatte. Nach seinem Tod wurde diese Aufgabe des obersten Schiedsrichters seinen Nachfolgern, den Kalifen, übertragen, wobei die das Wort »Kalif« eben nichts anderes als »Nachfolger« bedeutet. In Anbetracht dieser Leistung und weitreichenden Bedeutung möchte ich in Kürze nur einige wesentliche Aspekte der Verfassung aufzählen: vorrangig ist, dass der Schutz Gottes allen, die an ihn glauben, in gleicher Weise zuteilwird. Außerdem werden Nicht-Muslimen dieselben Rechte und Pflichten politischer und kultureller Art wie Muslimen garantiert, also Autonomie und Freiheit der Religionsausübung. Muslime und Nicht-Muslime werden gleichermaßen dazu verpflichtet, an Kämpfen teilzunehmen, die gegen die Ummah gerichtet sind, nicht aber an Kämpfen, die nur gegen Muslime oder den Islam gerichtet waren. In solchen Fällen dürfe es allerdings nicht zur Kollaboration mit den Feinden (s.u.) der Muslime kommen. Derartiges Handeln wäre als Verrat6 an der Ummah zu betrachten und schwer zu bestrafen, wie bald zu sehen sein wird. Krieg zwischen Moslems wurde nicht nur geächtet, sondern darüber hinaus die generelle Regel aufgestellt, dass Muslime zu gegenseitiger Hilfe und Unterstützung verpflichtet seien. Aus diesen Vorgaben ergab sich, dass die unter Nomadenvölkern üblichen Beutezüge (Ghazwat) auf ungläubige Stämme eingeschränkt wurden und sich diese traditionell üblichen Unternehmen nun automatisch gegen Nicht-Muslime richten mussten. Sie durften also nur mehr im oben erwähnten »Dar al-ḥarb« stattfinden. Aus dem Geist der Brüderlichkeit unter Gläubigen, im »Dar as-Salam«, ergab sich andererseits, dass auch das alttesta6 Heute würde das vermutlich sogar als »Hochverrat« qualifiziert. Damit wird deutlich, dass nicht wie in Byzanz der Religionsaustritt, sondern die Schädigung der Ummah geahndet wurde.

161

geburt eines rechtsstaats mentarische Prinzip von Rache und Vergeltung im Sinn von »Auge um Auge, Zahn um Zahn« aufgehoben wurde. Besonders bedrohlich für den inneren Frieden war in diesem Zusammenhang die Blutrache, welche ja zu den oben geschilderten unlösbaren Konflikten geführt hatte. Auch diese Tradition wurde nun abgeschafft und durch Zahlung eines »Blutgeldes« ersetzt. Die Inhalte der neuen Verfassung korrespondierten, wie bereits angedeutet, mit entsprechenden Aussagen im Koran. Bereits in Sure 2, welche zugleich die erste der in Medina offenbarten und bezeichnenderweise die längste aller Suren ist, werden alle wesentlichen Punkte der Verfassung wiederholt und dadurch für Muslime zusätzlich zu einem göttlichen Gebot, dessen Nichtbeachtung doppelt geahndet wird – in dieser und in der anderen Welt. Somit finden sich im Koran bereits im dritten Vers der zweiten Sure folgende erwähnenswerte Aussagen: nämlich, dass es sich beim Koran um eine Richtschnur handle, die dem Frommen den Weg zu einem gottgefälligen Leben weise und ihn so auf den Weg ins Paradies leite. Zugleich betont der nächste Vers nachdrücklich, dass es sich bei diesen Anleitungen um geheimnisvoll Unbeweisbares handeln kann, was folglich schlicht zu glauben und hinzunehmen sei. Diejenigen, die Gebete leisteten, Almosen an Arme verteilten und auf ein Leben im Jenseits vertrauten, denen werde es wohlergehen, und sie hätten das Weltgericht nicht zu fürchten. Bedacht werden müsse aber vor allem, dass Allah keine Götzen neben sich dulde. Bald wendet sich dieselbe Schrift direkt an die »Kinder Israels« mit der Aufforderung (2:41 ff.), sich der zahllosen Wohltaten zu erinnern, die ihnen Allah im Laufe der Geschichte erwiesen habe, wobei nicht vergessen wird zu erwähnen, dass sie ein auserwähltes Volk seien. Ausführlich stellt der Prophet einzelne dieser Wohltaten dar, wie etwa die Befreiung aus der ägyptischen Gefangenschaft. So überraschend solch eine Ansprache sein dürfte, wenn man die historischen Gegebenheiten in Medina nicht kennt, so verständlich wird dieser Rede Sinn unter Berücksichtigung der oben genannten politischen Konstellationen. Trotzdem spart der Prophet nicht mit Rügen, etwa der, dass die Juden die heilige Schrift, die ihnen anvertraut wurde, verfälscht hätten, weshalb eben eine neuerliche Offenbarung notwendig geworden wäre. Leider allerdings würden sich viele weigern, diese als neuerliche Offenbarung Gottes anzuerkennen. Etwa ab dem letzten Drittel dieser umfangreichen Sure wird der Prophet konkret und spricht Ge- und Verbote aus. Diese leitet er damit ein, dass er zunächst alle Gläubigen auffordert, das Gute zu genießen. Das erscheint im Vergleich zu den christlichen, Entsagung predigenden Lehren als ein markanter Unterschied. Jeder Genuss sollte aber nie grenzenlos sein, sondern weiser Beschränkung folgen. Im Fall leiblicher Er162

die charta von yathrib nährung zählen etwa Schweinefleisch und Fleisch von verendeten Tieren bzw. solchen, die nicht im Namen Allahs geschlachtet wurden, zu jenen Speisen, deren Genuss verboten wird. Doch – und auch das verdient Erwähnung – bestünde Rechtschaffenheit nicht darin, Formalismen zu befolgen, wie etwa dem, beim Gebet in die richtige Richtung zu blicken. Gerecht sei jener, der an Allah, den jüngsten Tag und die Engel glaube, sowie Almosen reichlich und freizügig gebe, Gefangene auslöse und sich an geschlossene Verträge halte. Auch alle, die die Schrecken eines Krieges standhaft ertrügen, zählten zu diesen löblich Rechtschaffenen. Im Fall von Totschlag solle, wie schon erwähnt, nicht länger die gängige Vergeltungsregel praktiziert werden, die Gleiches mit Gleichem vergelte. Stattdessen solle der angerichtete Schaden durch freiwillige Schadens- und Sühnezahlungen ausgeglichen werden. Dieser Gedanke einer Schadensbehebung entspricht genau dem Geist solonischer Regeln7, sodass hier wie schon dort von der Pflege und Etablierung einer »ausgleichenden Gerechtigkeit« gesprochen werden kann. Auch der zweite Aspekt Solon’scher Gerechtigkeit, die von ihm so genannte »verteilende« Gerechtigkeit, kommt zum Tragen. Denn es werden u.a. Erbschaftsregeln entwickelt, wobei es zur Verpflichtung gemacht wird, Anverwandte, Eltern, Kinder und Frauen zu bedenken. Testamentsfälschung und falsches Zeugnis wird unter Strafe gestellt. In einer eigenen Sure (Sure 8), die bezeichnenderweise gleichfalls in Medina offenbart wurde und aussagekräftig mit dem Titel »Beute« (Al-Anfal) überschrieben wird8, wurde gleich eingangs festgestellt, dass die Verteilung von Beute Sache Allahs und seines Gesandten sei. Bezeichnend für den Verfassungscharakter seiner Gebote scheint auch, dass im Vers 42 konkret festgehalten wird, dass ein Fünftel der Beute Allah dessen Gesandten Moḥammed sowie dessen Verwandten gehöre, aber für die Waisen, die Armen und Wanderer bestimmt sei. In späteren Versen derselben Sure wird festgelegt, dass Schaden, der den einzelnen Gläubigen durch Rüstungs- und Verteidigungsausgaben in Glaubenskriegen entstanden sei, auszugleichen sei. Durch solch gemeinsamen Einsatz materieller Mittel, die nicht verloren gehen können, wird eine Schutzgemeinschaft begründet, die rechtlich jedem tradierten Verwandtschaftsverhältnis gleichgestellt wurde. Ausdrücklich wird nochmals allen Gläubigen das Recht zugestanden, alles, was sie auf erlaubte Weise erbeutet hätten, auch zu genießen. In derartigen Sätzen äußert sich eine lebensbejahende Einstellung, die sich signifikant von zeitgenössischen christlichen Vorstellungen unterscheidet und auch dazu beigetragen haben dürfte, dass im Lauf der Geschichte dem Islam zahllose Anhänger aus freien Stücken zuströmten. 7 Siehe dazu: M. Schmutzer (2011), Band I, Kap. III. 8 Jede Sure besitzt eine derartige Überschrift.

163

geburt eines rechtsstaats Doch kehren wir nochmals zur zweiten Sure zurück. Hier findet man u.a. bereits klare Normen für gottgefälliges Verhalten in der Fastenzeit. Bezeichnend ist in diesem Kontext wiederum, dass auch hier Ausnahmen von den Regeln formuliert werden, etwa für Personen auf Reisen. Es erscheint eine bemerkenswerte Eigenschaft des Koran – im Vergleich zu früheren Reglements -, dass immer wieder derartige Ausnahmeregelungen definiert werden. Gebote werden nicht länger jener Rigidität unterworfen, die sich oft in anderen, ähnlichen religiösen Kontexten findet. Stattdessen werden zahlreiche andere Gebote ausführlich und im Detail besprochen, wie etwa die »große« und die »kleine Pilgerfahrt« zu Allahs erstem Haus, der Kaʿbah in Mekka9. Zu solchen genauer gemachten Vorgaben zählen u.a. auch jene, die die sexuellen Beziehungen zwischen Mann und Frau betreffen. Ebenso, was vielleicht weniger überrascht, wird eine Verpflichtung zum Kampf gegen Angreifer und Glaubensfeinde ausgesprochen, aber es werden auch Zeiten und Regeln aufgestellt, wann und mit wem Kämpfe zu unterlassen sind, was doch erstaunt. Klare Vorschriften finden sich auch betreffend Wein und Spiel, andere über den Umgang mit Waisen, die Wahl von Ehepartnern – die keine Götzendiener sein sollen – , Ehescheidung und Menstruation, die Beziehung von geschiedenen Müttern zu ihren Kindern, sowie die Verleihung von Macht und Herrschaft. Besonders beim letzten Thema vergisst der Prophet aus leicht einsichtigen Gründen nicht zu betonen, dass Allah Herrschaft verleiht, an wen er will, Armen sowie Reichen. In unserer Zeit scheint es nicht unbedeutend zu betonen, dass im Koran ausdrücklich untersagt wird, irgendjemand zum Glauben oder zur »wahren Lehre« zu zwingen. Auch dadurch unterschied sich der ursprüngliche Islam signifikant von Praktiken, die bald nach der Erhebung des Christentum zur Staatsreligion weit verbreitet waren10. Die generelle Einsicht, dass sozialer Friede das höchste Gut ist und nur erhalten werden kann, wenn Unrecht vermieden wird und die Stärkeren und Begüterten Benachteiligten Hilfe und Nachsicht gewähren, äußert sich in zahlreichen Belangen. So meint der Prophet etwa, dass Personen, denen es schwer falle, Schulden zu begleichen, Zahlungsaufschub zu gewähren sei, und dass im Übrigen Wucher und das Nehmen von Zinseszins verboten11 seien. Die konkreten Anweisungen gehen 9 Durch dieses Gebot gelang es Mohammed – trotz der jahrelangen Feindschaft der Mekkaner, die u.a. auch in einem für die Mekkaner nicht günstig verlaufenden Feldzug gegen das moḥammedanische Medina kulminierte – , Mekka 630 kampflos dem Islam zuzuführen, die Kaʿbah zu einem Wallfahrtsziel für viele Tausende zu machen und so auch die wirtschaftlichen Interessen dieser Stadt zu befriedigen. 10 Siehe z.B. die bereits erwähnten justinianischen Verordnungen zur christlichen Taufe. 11 Dieses Verbot kannten auch die Christen der damaligen Zeit. Allerdings

164

die charta von yathrib auch in diesen Belangen wieder in erstaunliche Details. So wird etwa festgelegt, dass Schuldgeschäfte schriftlich niedergelegt werden sollen, wobei die schriftliche Ausführung von einem Dritten durchgeführt werden solle. Diesem komme dadurch auch eine Zeugenrolle zu. In Fällen aber, wo ein Schuldner zu einfältig sei, die Tragweite der Abmachungen zu verstehen, sollen zwei Zeugen der Vertragsabschließung beiwohnen. Nicht genug damit, regelt die heilige Schrift des Islam auch, welche Personen überhaupt als Zeugen akzeptabel erscheinen. So wird z.B. betont, dass auch Frauen als Zeugen zuzulassen seien, wobei aber deren Zahl verdoppelt wurde. Das gleiche Thema wird übrigens öfters, so z.B. auch in der fünften Sure, angesprochen. In der dritten Sure, ebenfalls in Medina geoffenbart, wendet er sich einmal mehr an die Kinder Israels und an Christen. Wieder wird die Richtigkeit der jüdischen Thora betont, wobei allerdings auch von Gott verfügte Änderungen dieser ersten Offenbarung Erwähnung finden12. In diesem Zusammenhang wird ein weiterer, geschickter diplomatischer Schachzug gesetzt. In den Versen 95 bis 100 der dritten Sure steht geschrieben, dass das erste Gotteshaus Allahs von Abraham errichtet worden und dass dies die Kaʿbah in Mekka sei. Dieses Gotteshaus sei zwar im Laufe der Zeit entehrt und für Götzendienste verwendet worden, doch derartiger Missbrauch sei abstellbar. Das bedeutete, dass Mekka, wenn es dort keine Götzenverehrung mehr geben sollte, weiterhin Wallfahrtsstätte bleiben konnte und bleiben sollte. Nun kann es nicht im Sinn dieser Arbeit liegen, alle durchaus beachtenswerten Aspekte des Koran oder gar des Islam detailliert zu präsentieren. Doch abschließend soll darauf hingewiesen werden, dass die Suren des Koran, die vor der Hidschrah und jene, die danach formuliert wurden, sich sowohl sprachlich als auch inhaltlich merklich unterscheiden. Waren jene, die davor artikuliert wurden, »poetisch« gestaltet und wenig konkret, so werden sie nach der Abfassung der »Charta von Medina« inhaltlich stringenter und sprachlich weniger elaboriert. Dieser Wandel muss darauf zurückzuführen sein, dass die Aufgaben, die danach zu lösen waren, selbst konkreter wurden, aber auch darauf, dass wurde es im Mittelalter durch Thomas von Aquins schlaue Argumente aufgeweicht und schließlich aufgehoben. 12 Die Auseinandersetzung mit der jüdischen Religion setzt sich in weiteren Suren fort. In der fünften Sure wird u.a. nochmals auf die Thora der Juden Bezug genommen. Dort wird erklärt, dass die alttestamentarische Regel der Vergeltung von Leben für Leben, Auge um Auge etc. auf göttliches Geheiß abgeändert werde und nun diese Vergeltung durch angemessenes Almosengeben ersetzt werden kann. Aus diesem Verfahren zögen beide Parteien Gewinn. Denn dem Geschädigten werde sein Verzicht auf sühnende Rache im letzten Gericht hoch angerechnet, und der Täter könne sich durch tätige Reue von der verdienten göttlichen Strafe befreien.

165

geburt eines rechtsstaats eine Führungsrolle, wie sie Moḥammed in Medina zuteilwurde, eine unzweideutige Ausdrucksweise verlangt, wie sie für »Befehlssprachen« charakteristisch ist. Die Rolle eines Anführers machte es notwendig, gelegentlich auch zu demonstrieren, dass nicht alles nach Belieben verhandelt werden könne. So erklärt sich unter anderem wohl eine öfters beanstandete, harte Vorgehensweise des Propheten, die in markantem Gegensatz zu seiner sonstigen Verbindlichkeit stand. Gemeint ist das historisch verbürgte Massaker an einem Teil der jüdischen Gemeinde, der der Kollaboration mit den feindlichen Mekkanern beschuldigt wurde. Diese Juden ließ der Prophet gnadenlos, doch wie in der Verfassung festgelegt, zu Hunderten über die »Klinge springen«, denn es handelte sich dabei offenbar um Hochverrat.

Moḥammed – Staatsgründer und Prophet Wenn M.H. Hart (1978) – wie im vorigen Kapitel bereits erwähnt – Moḥammed als die einflussreichste Persönlichkeit der Geschichte darstellt, so begründet er diese Reihung13 damit, dass Moḥammed in zweifacher Hinsicht überwältigende und dauerhafte Erfolge erzielt hat. Diese beiden Gebiete decken einerseits den religiösen Bereich ab, doch fügt er diesem Bereich auch noch die unleugbaren Erfolge im weltlichen Bereich hinzu. In der heute gängigen Sicht des Propheten dominiert allerdings der erste Bereich, wogegen der zweite kaum mehr wahrgenommen wird. Die Einseitigkeit dieser dominanten Betrachtungsweise dürfte mit ein Grund dafür sein, dass der Islam heute in der westlichen Welt wenig und außerdem einseitig verstanden wird. Moḥammed kam nach Yathrib als »ḥakam«, als Schiedsrichter14, der zwischen den lang verfeindeten Stämmen vermitteln sollte. Diese Vermittlung gelang ihm aufgrund eines Vertrags, den er kurz nach seiner Ankunft entworfen und den Stämmen und sonstigen Bewohnern des Gebiets vorgelegt hatte. Die sogenannte »Charta von Medina« ist demnach älter als der Koran, der in seiner schriftlichen Fassung erst nach Moḥammeds Tod, d.h. ca. zwanzig Jahre danach niedergeschrieben 13 Es wird vielleicht interessieren, welche Persönlichkeiten in der Liste folgen: An zweite Stelle setzt der Astrophysiker Hart Isaac Newton, gefolgt von Jesus, Buddha und weiteren Religionsgründern. Erst an siebenter Stelle folgen »Techniker« wie Ts’ai Lun, der angebliche Erfinder des Papiers, und Johannes Gutenberg, der gleichfalls angebliche Erfinder des Buchdrucks. Die Positionierung Newtons verleitet somit zu fragen, ob die Newton’sche Physik nicht auch als eine Art von Religion zu werten sei. 14 »Ḥakam« kann neben »Richter« auch »Herrscher« bedeuten.

166

moḤammed – staatsgründer und prophet wurde. Die islamische Überlieferung behauptet in diesem Kontext, dass die Offenbarungen des Propheten, der angeblich Analphabet15 war, von seinen Anhängern festgehalten oder aber auswendig gelernt worden wären. Die Charta – darüber besteht heute weitgehender Konsens unter den Forschern – wurde hingegen im Beisein des Propheten schriftlich fixiert16 und nahm aus unserer Sicht ungefähr den Rang einer Verfassung ein. Ihr kommt demnach eine wesentlich höhere Verbindlichkeit zu als selbst dem »Heiligen Buch«17. Diese Verfassung legte Rechte und Pflichten aller Bürger von Yathrib im Detail fest und fixierte auch die Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, wie den jüdischen Gemeinden und anderen »Besitzern des Buches«, womit christliche Gemeinden gemeint waren. Damit wurde eine neue, bislang unbekannte Rechtsbasis geschaffen, die dem Zwölftafelgesetz in Rom oder der Verfassung Athens gleichzustellen ist. Die weitere Entwicklung des Islam in den Kalifaten wäre ohne diese Basis nicht zu verstehen. Obwohl der Prophet bereits in Mekka Offenbarungen in seiner selbst gewählten Rolle als »Warner« aussprach, die ja auch im Koran erhalten sind, beginnt die Religion in Medina nun eine gänzlich neue Rolle zu spielen. Hier tritt nicht länger ein »Warner« auf, sondern jemand, der eine neue Gemeinschaft, die Ummah, auf der Basis eines gemeinsamen Glaubens und gemeinsamen Rechts begründet. Folglich sind auch die Regeln so gestaltet, dass es nicht allzu schwer fällt, sie einzuhalten. So schreibt etwa L.W. Winter: »Nicht allzu viel wird vom gläubigen Gottergebenen, vom Moslem, in den religiösen Vorschriften verlangt. Zuoberst steht der ›binomische Glaubenssatz‹: Allah ist ein einziger Gott, und Moḥammed ist sein Prophet.« (L.W. Winter, 1964, S.11).

Damit wird formal eine unantastbare Legitimität des Propheten begründet, der sich niemand ohne Strafe entgegenstellen darf. Moḥammed mutierte so vom »ḥakam« zu einem von Gott eingesetzten Gesetzgeber. Damit ist er eben nicht länger nur Richter, sondern übernimmt ein weiteres Amt, das ihn in die königsähnliche Position eines Herrschers18 versetzt.

15 Diese Einschätzung erscheint allerdings nicht sonderlich überzeugend. 16 Ein Original ist nicht erhalten, doch existieren einige Kopien dieses Dokuments aus der nämlichen Zeit, z.B. das »Kitab al-Amwal«. 17 Verse in der dritten Sure (104-111), die in Medina offenbart wurde, nehmen nach der Auffassung vieler Gelehrter auf diesen Einigungsprozess zwischen den verfeindeten Stämmen in Yathrib Bezug. 18 Siehe Fußnote 2.

167

geburt eines rechtsstaats Im ersten Band dieser Arbeit wurde bereits bemerkt, dass die Verbindung der heute getrennten Rollen eines obersten Richters, eines höchsten Priesters und eines ersten Heerführers19 das Aufgabengebiet eines Königs umreißt. Wie wir gleich sehen werden, verkörperte Moḥammed innerhalb kurzer Zeit genau diese Zusammenballung von wesentlichen Aufgaben. Wenn auch der Islam »Priester« wie in der Tradition des Christentums nicht kennt, sondern nur »Vorbeter« (»Imame«), so tritt Moḥammed als »Gesandter« Gottes doch als Vermittler zwischen dem Heiligen und Profanen auf. Er unterscheidet sich allerdings in anderer Hinsicht von früheren königlichen Vorgängern dadurch, dass in seinem Hintergrund eine Verfassung steht. Diese ist aufgrund ihrer Schriftlichkeit und eines konsensualen Entstehungsaktes überprüfbar. Das Ende eines Königtums fällt in Rom wie in Griechenland stets mit der Konzipierung einer Verfassung zusammen. Das bedeutet umgekehrt, dass die alten Herrscher eben ohne Verfassung regierten. Man mag daher auch deshalb den Propheten lieber als »Gesandten Gottes« und nicht als König titulieren. Die Rolle, die ihm jedoch zukam, ist die gleiche. In unserer heutigen Terminologie ließe sich dieses politische System am ehesten als »konstitutionelle Monarchie« charakterisieren. Betrachtet man die politische Weiterentwicklung in Yathrib, so zeigt sich bald, dass der neue Staat mit inneren und äußeren Feinden konfrontiert war. Seine einflussreichen Feinde in Mekka wollten die Tatsache, dass sich Moḥammed ihrer Verfolgung durch die Hidschrah entzogen hatte, nicht einfach hinnehmen. Alte Zwistigkeiten zwischen den zwei Orten wurden nun durch die Aufnahme des Propheten in Yathrib weiter angeheizt. Wiederholte Scharmützel, bei denen die nach Yathrib ausgewanderten Mekkaner Handelskarawanen ihrer Vaterstadt überfielen und plünderten, standen auf der Tagesordnung. Verständlicherweise versuchten umgekehrt die Mekkaner ihre Karawanen durch entsprechende kriegerische Aktionen zu schützen. So kam es, dass 624 im Verlauf eines derartigen Überfalls die Muslime in einen Hinterhalt gerieten, der in eine veritable Schlacht ausartete. In dieser Auseinandersetzung, der sogenannten »Schlacht bei Badr«, errangen die Muslime, trotz anfänglicher Benachteiligung und zahlenmäßiger Unterlegenheit einen unerwarteten Sieg. Der Schlacht von Badr folgten weitere, die zum Teil für die Medinenser weniger günstig verliefen. In der im folgenden Jahr verlorenen Schlacht bei Ohod (Uhud) standen sie eindeutig auf der Verliererseite. Im Koran wird diese Situation in der dritten Sure ausführlich behandelt und der negative Ausgang darauf zurückgeführt, dass Allah damit jene bestrafen wollte, die sich dem Kampf feige entzogen hätten. 19 Arabisch: Emir.

168

moḤammed – staatsgründer und prophet An diesem konkreten Beispiel wird erstmals deutlich, dass innerhalb des neuen Staates keine allgemeine Zustimmung zu Moḥammeds Herrschaft existierte, sondern die Stadt gerade deshalb in sich gespalten blieb. Der Versuch, die alten Differenzen durch seine Berufung zum »ḥakam« zu beenden, war nicht durchgehend von Erfolg gekrönt. Diese delikat gewordene politische Situation kulminierte 627, als die Mekkaner einen Feldzug unternahmen und Medina in eine Verteidigungsposition drängten. Allerdings verlief der Feldzug diesmal für die Mekkaner nicht erfolgreich, weil die Belagerten eine kluge, innovative Verteidigungsstrategie entwickelten. Sie hoben dort, wo die Stadt bislang unbefestigt war, einen Verteidigungsgraben aus. Mit diesem Hindernis hatten die Mekkaner nicht gerechnet und waren dadurch auch nicht in der Lage, die Stadt einzunehmen. Der Feldzug verlief somit im wahrsten Sinn des Wortes im Sand. Daraus ergab sich, wie oben bereits angesprochen, ein unvergessliches Nachspiel für Teile der jüdischen Gemeinde. Diese spielte – zumindest aus Sicht der Muslime und Moḥammeds – ein doppeltes Spiel: Sie unterstützten zwar die Muslime beim Bau des Grabens, indem sie Schaufeln zur Verfügung stellten, aber sie lieferten zugleich den Mekkanern während der Belagerung Nahrungsmittel. Nach Artikel 19 und 26 der Verfassung war aber Hilfeleistung an die Koreischiten20, die herrschende Schicht in Mekka, untersagt. Sie mit Nahrungsmittel auszustatten, kam folglich in unserer Terminologie einem Hochverrat gleich. Angeblich plante dieselbe Gruppe zusätzlich einen inneren Aufstand gegen die Muslime und bedrohte so die nach wie vor auf schwachen Füssen stehende »Ummah«. Der potentiellen Revolte kam Moḥammed zuvor, indem er eine große Zahl der Banu Quraiza hinrichten bzw. verbannen ließ. Solche Erfolge, die er nach und nach errang, stärkten seine Position nicht nur in Yathrib. Er fand Anerkennung und Achtung auf der ganzen arabischen Halbinsel, sodass es letztlich sogar möglich wurde, mit Mekka den Vertrag von Ḥudaibiyiah zu schließen. Dieser Vertrag brachte den Muslimen einige neue Vorrechte. Dazu zählte u.a. das Recht, die 20 Quraisch, oder auch Koreischiten genannt, sind ein mächtiger arabischer Volksstamm aus Mekka bestehend aus den rivalisierenden, genealogischen Hauptlinien der Haschim und der Abd Schams. Den ›Haschim‹ (Haschimiten) entstammen der Prophet Moḥammed, die schiitischen Imame und die Kalifendynastie der Abbasiden; auf die ›Abd Schams‹ geht die Dynastie der Umayyaden-Kalifen zurück. Die Quraisch waren schon in vor­islamischer Zeit auf der arabischen Halbinsel, im Hidschaz, zu Reichtum und Ansehen gekommen. Im Bewusstsein, die edelsten Nachkommen Abrahams und Ismails zu vereinen, waren die Quraisch der »Stamm Gottes« und die »Hüter eines alten Heiligtums«, der Kaʿbah (s.u.).

169

geburt eines rechtsstaats Kaʿbah in Mekka im Rahmen einer Wallfahrt zu besuchen. Zugleich wurde ein Waffenstillstand auf einige Jahre geschlossen21, aber auch Sicherheit für die mekkanensischen Handelskarawanen vereinbart. Wenig Anerkennung erhielt Moḥammed allerdings für einen Passus in diesem Vertrag, der die Auslieferung von aus Mekka flüchtigen Muslimen an ihre alten Herren vorsah. In der Retrospektive blieben aber diese Unstimmigkeiten von geringer Bedeutung. Vielmehr trat Moḥammed – wie in diesem Vertrag vereinbart – im folgenden Jahr in Begleitung von ca. 2.000 Muslimen eine Pilgerreise nach Mekka an. Gewichtiges Ergebnis dieser Reise war, dass sich in Mekka einige einflussreiche Familien zum Islam bekehrten. Damit schien das Los endgültig zu Gunsten des Islam gefallen zu sein. Im darauf folgenden Jahr, 630, hielten sich zwar die Mekkaner nicht an diese Vereinbarungen, weshalb Moḥammed dies zum Anlass nehmen konnte, erneut nach Mekka aufzubrechen. Aber dieser Feldzug war wohl organisiert, und die Muslime zogen ohne nennenswerten Widerstand in die Stadt ein. Dort zerstörten sie die polytheistischen Denkmäler, und der Prophet selbst reinigte die Kaʿbah von götzendienerischen Relikten. Da er zuvor allen Mekkanern, die sich an Kämpfen nicht beteiligen würden, volle Amnestie garantierte, gelang es, die Stadt fast kampflos zu übernehmen. Jene Teile der Bevölkerung, die sich nicht unterwerfen wollten, verließen den Ort. Sie wurden bald in nachfolgenden Schlachten besiegt. Bereits ein Jahr davor war eine Kriegerschar unter Führung des Propheten gegen Tarbuk, eine »römische« Grenzstadt am südlichen Ende des byzantinischen Reichs, gezogen. Dieser Feldzug war zwar nicht sonderlich erfolgreich verlaufen, trotzdem war er aber von großer Bedeutung. Denn auf dem Weg nach Norden gründete der Prophet zahlreiche Moscheen22 und dehnte somit das Einflussgebiet des Islam bis an die Grenze des byzantinischen Reiches aus. Damit sandte er zugleich ein markantes Signal an den damaligen byzantinischen Herrscher. Dies wurde kurz darauf in der neunten Sure konkretisiert, indem im Vers 41 ein Aufruf an alle Gläubigen erging, mit Gut und Blut für die Religion Allahs zu kämpfen. Mit dieser Aufforderung wurde indirekt eine Kriegserklärung ausgesprochen, die sich vor allem gegen jene »Schriftbesitzer«, also Christen und Juden, richten sollte, die den ursprünglichen Geboten Allahs im Laufe der Zeiten untreu geworden waren. Somit ist ein unübersehbarer Konnex zwischen 21 Die genaue Zahl der Jahre ist umstritten. 22 Moscheen dienten einem doppelten Zweck: sie waren ein Versammlungsort und trugen somit dazu bei, eine gemeinschaftliche Identität zu schaffen. Sie dienten aber darüber hinaus als Schulen, in denen unterrichtet wurde. Dieser Rolle wächst historisch noch große Bedeutung zu.

170

die nachfolge weltlicher Herrschaft, auf Basis der Charta von Medina, und jener Religion, die in den Offenbarungen des Koran begründet war, hergestellt. Die im vorigen Kapitel angesprochene Aufteilung der Welt in ein »Haus des Friedens« und eines »des Krieges«, die im Verbot, gegen Muslime Krieg zu führen, begründet wurde, lieferte den stets auch auf Raubzüge angewiesenen Wüstenbewohnern jene nötige Legitimation und Motivation, weit über ihr ursprüngliches Territorium hinaus zu expandieren. Angefeuert wurde diese Einstellung durch die im Feldzug gegen Tarbuk gemachte Erfahrung, reiche Beute machen zu können. Solche Perspektiven förderten zusammen mit den oben genannten geringen Anforderungen, die der Islam an die Lebensführung der Muslime machte, auch die Bereitschaft der Wüstenbewohner zu konvertierten.

Die Nachfolge Als Moḥammed im Jahr 632 starb, hinterließ er eine große Lücke unter den Gläubigen, die in keiner Weise mit jener beim Abgang früherer Propheten zu vergleichen ist. Die Muslime hatten mit ihm nicht nur einen Propheten, sondern einen ungekrönten König verloren, was dreierlei bedeutete: Zunächst hinterließ er einen jungen, noch ungefestigten Staat ohne Gesetzgeber23 und obersten Richter, sowie ohne einen höchsten Feldherrn, und außerdem eine Religion ohne Vermittler zum einzigen Gott. Doch was er hinterließ, war ein Gesetz. Auch das war keineswegs vollständig, doch umfassend genug, um auch nach seinem Ableben Recht und Gerechtigkeit und somit inneren Frieden zu gewährleisten, vorausgesetzt, dass die oben genannten Vakanzen beseitigt werden konnten. Und sie wurden durch die Gründung des später so bezeichneten »Kalifats« beseitigt, wobei »Kalif« nichts anderes als »Nachfolger« bedeutet. Zunächst hieß allerdings dieser »Nachfolger« nicht »Nachfolger«, sondern »amir al-mu’mini«, was »Befehlshaber« oder »Heerführer der Gläubigen« bedeutet. Diese Bezeichnung entsprach einer Tradition, die jedes Oberhaupt einer Gemeinschaft als »Emir« bezeichnete24. Erst 23 Diesen Sachverhalt beschreibt G. Makdisi folgend: »[…] Islam is a religion based on a system of law whose legislator is God alone. It has no ecclesiastical hierarchy. The doctors of law are its sole interpreters. The ultimate object of Islamic education is to educate in God’s law […]« (G. Makdisi, 1981, S. 282). 24 Dazu ist Folgendes anzumerken: Das Arabische kennt nur drei Vokale: a, i, und u. A wird in manchen Regionen wie unser »e« ausgesprochen, daher kann aus »amir« leicht ein »Emir« werden. Später wird im Zuge der

171

geburt eines rechtsstaats später wurde ein Nachfolger des Propheten auch offiziell als »Kalif« bezeichnet, weil »Kalif« (Nachfolger) ein Begriff war, der im Koran Verwendung fand – doch ein Gesandter Gottes war der Kalif nicht. Er übernahm zunächst und vorrangig nur die weltlichen Aufgaben des Propheten als Heerführer oder Richter, göttliche Gesetze konnte er nicht länger offenbaren. Daraus entstand ein neuer und dringender Bedarf, den die Muslime erst auf ihre Weise zu befriedigen lernen mussten.

Rückblick Blicken wir nochmals kurz auf die Jahre knapp vor dem Tode Moḥammeds 632 zurück. In dieser Zeit hatte sich der Einfluss des Islam bereits auf die ganze arabische Halbinsel ausgeweitet. Mit den verschiedenen Stammesführern waren unterschiedliche Verträge geschlossen worden, die teils nur Tributpflicht, teils die Anerkennung Moḥammeds als Propheten einforderten. Die letzte große Pilgerreise des Propheten nach Mekka, einige Monate vor seinem Dahinscheiden, demonstrierte bereits die Bedeutung dieser Bündnisse und lieferte ein letztes, imposantes Monument, das die Tatsache eines einheitlichen Staates der Nachwelt gegenüber mit Nachdruck verdeutlichte. Trotzdem wollten viele der Stämme der arabischen Halbinsel nach seinem Tod die Nachfolgerschaft des Propheten nicht akzeptieren. Sie erachteten daher die alten Verträge als nichtig und erklärten sich in Anbetracht der nicht unbestrittenen Tatsache, dass der Prophet selbst keinen Nachfolger bestimmt hatte, erneut als unabhängig. Es stellte sich also für die Muslime in Yathrib mit Nachdruck die Frage, ob es überhaupt einen Nachfolger geben sollte, und erst in zweiter Linie, wer das sein sollte. Doch schon damals zeigte sich gerade bei dieser Frage ein innerhalb der Ummah schwellender Konflikt. Er trat zwischen den frühesten Gefährten Moḥammeds, den zum Islam konvertierten Medinensern, und den erst seit Kurzem konvertierten einflussreichen Zuwanderern aus Mekka zu Tage. Die Frage der Nachfolge war folglich nicht leicht zu lösen. Sie wurde angeblich dadurch gelöst, dass sich ʿUmar, später zweiter Kalif, zusammen mit dem ältesten Gefährten des Propheten, Abu Bakr, der als Einziger den Propheten bereits auf der Hidschrah begleitet hatte, uneingeladen zu einem Geheimtreffen der Medinenser begab. Manche meinen auch, dass die beiden eine »schura« (Ratsversammlung) einberiefen, islamischen Expansion aus dieser eher informellen Rolle als Heerführer ein »Fürst« mit einem »Emirat«, was die heute meist gültige Bedeutung ist (siehe dazu: F.M. Donner, 1999, S. 14/15).

172

die nachfolge an der ʿAli ibn Abi Talib, der Schwiegersohn, Neffe und Adoptivsohn Moḥammeds, nicht teilnahm25. Ob es sich nun um »Geheimtreffen« oder um eine »schura« handelte, bleibt ungeklärt. Jedenfalls gelang es dem großen Verhandlungsgeschick ʿUmars, die den Mekkanern gegenüber ablehnende Front der Ortsansässigen aufzubrechen und sie auf Abu Bakr aus dem mekkanensischen Banu Taim als Nachfolger oder »amir« einzuschwören. ʿUmars herausragendem Geschick war es auch zu verdanken, dass man sich schließlich auch innerhalb der Ummah auf diese Übereinkunft einigte. Das hatte zur Folge, dass ʿAli, der Mann der einzigen überlebenden Tochter Moḥammeds, übergangen wurde – was nicht ohne Folgen bleiben sollte. Stattdessen wurde ʿAbdallah ibn Abi Quhafah aṣ-Ṣiddiq Abu Bakr (ca. 573–634), der Mann der ersten Stunde, zum ersten Kalifen gewählt. Dessen Tochter ʿAischah war zugleich auch Moḥammeds Lieblingsfrau, die bald einige politische Bedeutung erlangen sollte. Begründet wurde die Wahl Abu Bakrs damit, dass er schon zu Lebzeiten den Propheten als Leiter des öffentlichen Gebets vertreten hatte, dass er also auch Imam war. Seine militärischen und politischen Fähigkeiten sowie die Abwesenheit ʿAlis bei diesem Treffen dürften allerdings den gewichtigeren Ausschlag gegeben haben. Die kurze Herrschaft Abu Bakrs zeichnete sich im Wesentlichen durch eine politische Konsolidierung des jungen islamischen Staates aus. Abu Bakr unterwarf die nach dem Tod des Propheten aufständisch gewordenen Stämme der Beduinen erneut und band sie dauerhaft in das junge Reich ein. Allerdings starb auch er bald (634). Die Frage der ersten Nachfolge des Propheten und besonders die Art und Weise, wie sie gelöst wurde, war folgenschwer. Denn sie führte letztlich zu einem bis heute nicht reparierten Schisma der Gläubigen. Lange dachte ich, dass dies eine Angelegenheit wäre, die für unsere Thematik peripher wäre. Doch im Zuge meiner Studien musste ich erkennen, dass dieses Schisma nicht zu übergehen ist, weil durch diese Spaltung in Hinblick auf Übernahme und Entwicklung der Wissenschaften unterschiedliche Entwicklungskanäle geöffnet wurden. Es scheint mir daher unausweichlich, im Folgenden beide Seiten im Blick zu behalten, also auch die Anhänger ʿAlis zu Wort kommen zu lassen. Das bedeutet auch, deren anders lautende Narrative zur Bestimmung eines Nachfolgers des Propheten zumindest in groben Linien zu skizzieren.

25 Angeblich nahm ʿAli deshalb nicht daran teil, weil er mit den Vorbereitungen für das Begräbnis beschäftigt war.

173

geburt eines rechtsstaats

Ahl al Bayt Die oben vorgetragene Darstellung der Ereignisse entspricht nur der Überlieferung der »ahl as-sunnah«, den heute so benannten, siegreichen »Sunniten«26. Die nun folgende gibt die Darstellung der Schiiten wieder, wobei »Schiʿa« nichts anderes bedeutet als »Anhängerschaft, Partei«, und zwar jene des damals übergangenen Schwiegersohns ʿAli ibn Abi Ṭalib. Im Gegensatz zur sunnitischen Darstellung vertraten und vertreten die Anhänger ʿAlis auch heute noch die These, dass bereits anlässlich seiner Pilgerfahrt nach Mekka der Gesandte Allahs ʿAli zu seinem Nachfolger bestimmt hätte. Während einer Rast in der Oase Khadir al Dschumm soll das Thema der Nachfolge angesprochen worden sein. Der Prophet soll damals nicht nur verlautet haben, dass »Allen, denen ich (der Prophet) gebiete, auch ʿAli gebieten soll.«,

sondern er soll auch von den anwesenden Getreuen per Eid verlangt haben, dem »Ahl al Bayt«, das ist das Haus des Propheten bzw. seiner Anverwandten, Treue zu halten. Allah habe nämlich den Angehörigen dieses Hauses, dem Haus der »Haschemiten«, Autorität und – wie die Anhänger ʿAlis meinen – zusätzlich ein arkanes Wissen anvertraut. Auf dieses Wissen berufen sich die Anhänger ʿAlis heute noch so wie damals. Einen ähnlichen Eid soll der Prophet auch von neun Anführern der diversen Clans eingefordert haben. Diesen neun werden auch Abu Bakr, ʿUmar27, Miqdad bin al-Aswad al Kindi u.a. zugerechnet. Von diesen soll er verlangt haben, ʿAli als »amir al-mu’minin« anzuerkennen. Diese Überlieferungen fehlen in den offiziellen Ḥadithen28 der Sunniten und werden folglich auch heute nicht als Überlieferung anerkannt. Trotzdem ist bemerkenswert, dass auch in dieser Darstellung die Rolle ʿAlis in alter Tradition mit »Emir« bezeichnet wird. Üblicherweise benutzte und benützt nämlich die Schi‘a zur Bezeichnung ihrer anerkannten Nachfolger stets das Wort »Imam«. »Imam« war und ist aber ein religiöser Begriff. Er meinte ursprünglich nur den Vorbeter beim Freitagsgebet. Man kann aus dieser anfänglichen Wortwahl einen unterschiedlichen Anspruch der Parteien ableiten, der allerdings erst einige 26 »Sunniten« sind jene Muslime, die die »Sunnah« als wesentliche Überlieferung neben dem Koran anerkennen. »Sunnah« wird jene Schrift bezeichnet, in der die verschiedenen Taten, Sprüche und Entscheidungen des Propheten zusammengefasst und gesammelt wurden. Sie ist folglich neben dem Koran die zweite Quelle islamischen Rechts. Allerdings ist diese Sammlung aus der Sicht der anderen Partei (ʿAlis Schiiten) unvollständig und »frisiert«. 27 Abu Bakr und ʿUmar wären demnach eidbrüchig geworden. 28 Ḥadithe sind eine überprüfte Sammlung mündlicher Überlieferungen.

174

die nachfolge Zeit später Bedeutung erlangte. Zuerst erhoben offenbar beide Lager vordergründig Anspruch auf einen »amir«, d.h. einen weltlichen Nachfolger. Wir sehen in diesen unterschiedlichen Bezeichnungen noch einmal den Ausdruck der doppelten Rolle des Propheten. Der Gesandte Gottes hatte ja, wie bereits gesagt, seinen erstaunlichen Erfolg trotz widriger Umstände in zweifacher Weise abgestützt. Er fungierte einerseits als Staats- und andererseits als Religionsgründer und konnte so seine Anhängerschaft aus säkularen Interessensgruppierungen genauso gewinnen wie aus spirituellen und geistig-intellektuellen Kreisen. Indem er beide Gruppen in einem Verband, der Ummah, zusammenschloss und so beide durch die Anhänger aus dem jeweils anderen Lager stärkte, gewann er für sich und die Ummah Macht. Dieser Verbund überstand allerdings sein Ableben nicht, sondern desintegrierte danach nach außen wie nach innen. Die seit alters her materiell ausgerichteten Koreischiten29 und ihre Vertreter waren keine Idealisten, sondern Machtpolitiker mit klaren weltlichen Zielen und Anliegen. Das galt besonders für ʿUthman, den dritten Kalifen aus dem Banu Umayyah, zum Teil auch für Abu Bakr und selbst für ʿUmar aus dem Banu Adi trotz seiner demonstrativen Abkehr vom materiellen Wohlergehen. Besonders augenfällig verkörperte sich diese praxisnahe, weltliche Grundeinstellung bei Muʿawiya I. vom Banu Umayyah, der Protegè und Statthalter ʿUthmans in Syrien wurde. Diesem Machtpolitiker werden wir weiter unten noch mehrmals begegnen. Nun darf man nicht meinen, dass die Partei der Schiʿa ʿAlis frei von weltlichen Gelüsten gewesen wäre, doch scheint diese Gruppe zusätzlich noch auf etwas gesetzt zu haben, was P. Bourdieu (1979) vermutlich als »geistiges oder symbolisches Kapital« bezeichnet hätte30. Das wurde bereits in dem angesprochenen Terminus des »ahl al bayt« 29 Arabisch transkribiert heißen sie: Quraisch. 30 Der französische Soziologe P. Bourdieu unterscheidet drei Arten von Kapital, die für den Erfolg von Personen oder Gruppen ausschlaggebend sind. Diese Kapitalien sind unterschiedlich verteilt. Sie werden in Tauschverfahren benutzt, um die fehlenden Arten von Kapital zu requirieren. Moḥammed liefert ein gutes Beispiel dieses Prozesses. Seine Offenbarungen bildeten die Ausgangsbasis. Sie bestand zunächst nur aus »symbolischem Kapital«. Damit schuf er sich in Form von Anhängern »politisches Kapital«. Sobald er davon hinreichend besaß, konnte er »materielles Kapital« requirieren, wie etwa Waffen, Pferde oder auch nur genug Schaufeln, um einen Verteidigungsgraben auszuheben. Aufgrund einer Bestimmung im Koran, dass ihm 20% der Beute zustünden, konnte er dann eine komplexe Heiratspolitik betreiben. Er hatte vierzehn Frauen, die ihm weiteres »politisches Kapital« eintrugen.

175

geburt eines rechtsstaats deutlich. Da wurde ja behauptet, dass Allah diesem »Haus« besonderes Wissen verliehen hätte. Dieses »Haus« wurde durch den Banu Haschim vertreten.

Haschemiten Der Clan der Haschemiten im Stamm der Koreischiten, denen Moḥammed angehörte, wurde von dessen Urgroßvater Hashim ibn ʿAbd Manaf (464–497) begründet. Der »Banu«31 erlangte große Bedeutung in Mekka, verwahrte er doch die Schlüssel zur Kaʿbah und kontrollierte so den Zugang dazu. Diese Ehre bedeutete auch, dass er mit Unterstützung seines »Banu« für Ruhe und Gewaltfreiheit innerhalb des geheiligten Bezirks zu sorgen hatte. Hashim, dessen ursprünglicher Name ‘Amr alUla war, pflegte weitreichende Kontakte, die vom Kaiser in Byzanz bis zu Abessiniens Negus reichten. Den Beinamen »Hashim« erhielt er aufgrund der Tatsache, dass er während einer Hungersnot die Bedürftigen von Mekka auf eigene Kosten mit Suppe und Brot speiste, aber auch deshalb, weil er für die Verpflegung der Pilger zuständig war. Wesentlich in unserem Kontext sind zwei Tatsachen: Hashim ibn ʿAbd Manaf war mit fünf Frauen verheiratet, von denen eine einem sehr einflussreichen Clan in Yathrib angehörte. Das war u.a. ausschlaggebend dafür, dass die allgemeine wohlwollende Aufnahme des Propheten in Yathrib überhaupt möglich war. Erwähnenswert scheint zweitens, dass dieser Clan seine Herkunft von Abraham bzw. dessen Sohn Ismail ableitete. Erinnern wir uns daran, dass in der islamischen Tradition die Kaʿbah als Haus Gottes von Abraham und dessen Sohn errichtet wurde, so werden hier Zusammenhänge deutlich, die Moḥammeds Offenbarungen und Ansprüche in einem zusammenhängenden Narrativ erscheinen lassen. Zusätzlich erscheint der Prophet auf diese Weise in einer genealogische Reihe, die von Adam über Noah, Abraham, Ismail, ja Maria, Mutter von Jesus von Nazareth, bis zu ihm reicht und seinen Anspruch, Gesandter Gottes zu sein, auch genealogisch legitimiert. Dieser Umstand war in der arabischen Tradition komplexer polygamer Verwandtschaftsbeziehungen mit dazugehörigen gegenseitigen Verpflichtungen von großer Bedeutung. In derartigen Netzwerken spielen allerdings nicht nur positive, sondern auch negative Beziehungen über Generationen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Daher sei hier auch in Kürze erwähnt, dass die bedeutende Rolle, die sich Haschim in Mekka erwarb, erst in Folge eines nur mühsam befriedeten Konflikts zwischen ihm und seinem Bru31 »Banu« bedeutet wörtlich etwa »Sohnschaft«, ich verwende dafür »Clan«. Es leitet sich vom selben Wortstamm wie »ibn« her.

176

die nachfolge der ʿAbd Schams erreicht wurde. Dieser Kompromiss wurde allerdings von einem Sohn ʿAbd Schams namens »Ummayyah« nicht anerkannt. Nachdem dieser seine Positionen nicht durchzusetzen vermochte, verließ er Mekka und ging nach Syrien. Es wird nicht nur Zufall sein, dass Jahre später die Gruppe jener Muslime, die ʿAli nicht als vierten Kalifen anerkennen wollten, gerade in Syrien agitierte32. Von dort bekamen sie die notwendige Unterstützung und begründeten schließlich als »Umayyaden« die erste Dynastie der Kalifen. Doch dies ist ein Vorgriff in der Historie. Der Clan ging aus der Ehe von Haschim und seiner medinensischen Gemahlin hervor, die u.a. einem Knaben mit dem Namen Schaiba ibn Haschim (ca. 497- 578) das Leben schenkte. Da dieser nur bis zu seinem achten Lebensjahr bei seiner Mutter in Yathrib lebte, wurde er aufgrund der Tatsache, dass sein Vater Haschim verstorben war, von seinem Onkel Muṭṭalib in Mekka aufgezogen. Deshalb erhielt er auch den Namen ʿAbd al-Muṭṭalib. Nach dem Tod dieses Onkels wurde Schaiba ʿAbd al-Muṭṭalib Oberhaupt des Banu der Haschimiten. Er hatte fünf Frauen. Eine davon, Faṭimah bint ʿAmr gebar ihm drei Söhne, ʿAbd Allah ibn ʿAbd al-Muṭṭalib, der Vater Moḥammeds, Abi Talib ibn ʿAbd al-Muṭṭalib, Vater von ʿAli ibn Abi Talib und As-Subayr ibn ʿAbd al-Muṭṭalib. Schaiba ʿAbd al-Muṭṭalib war somit zugleich Großvater des Propheten und des ersten (schiitischen) Imams ʿAli. Damit wird offensichtlich, dass die zwei Väter, jener von Moḥammed ibn ʿAbd Allah ibn ʿAbd al-Muṭṭalib ibn Haschim ibn ʿAbd Manaf al-Quraschi, wie der volle Name des Propheten lautet, und jener von ʿAli ibn ʿAbu Talib ibn ʿAbd al-Muṭṭalib ibn Haschim ibn ʿAbd Manaf al-Quraschi, dem vierten Kalifen und ersten Imam der Schiiten, beide Söhne von ʿAbd al-Muṭṭalib waren. Die beiden waren somit nach unserem Verständnis Cousins, wobei die seit Kindheit bestehenden Bande durch die Verehelichung von ʿAli mit Faṭimah bint Muḥammed, der einzig überlebenden Tochter des Propheten, weiter verstärkt wurden. Diese Bande wurden zusätzlich dadurch gefestigt, dass ʿAli seit seinem neunten Lebensjahr Moḥammeds Adoptivsohn33 war und daher vom Leben des Propheten und seinen Sichtweisen langjährige Kenntnisse hatte. Diese Genealogie vermittelt einen ersten Eindruck von der Bedeutung »symbolischen Kapitals«, das aus einer entsprechenden Abstammung gewonnen wurde. Wäre dem nicht so, so würden wir diese aufgrund der Polygamie sehr komplexen Stammbäume nach mehr als tausendfünf32 Die ursprüngliche Bezeichnung für Syrien lautet ebenfalls »asch-Scham«. Wie weit dies mit dem Namen zusammenhängt ist mir nicht klar. 33 Umgekehrt wurde Moḥammed nach dem Tod seiner Mutter Adoptivsohn von ʿAlis Vater, Abi Talib.

177

geburt eines rechtsstaats hundert Jahren nicht mehr kennen. Allerdings haben sich die Haschemiten mit dieser Art symbolischen Kapitals allein nicht zufrieden gegeben. Sie behaupteten und bestanden ja darauf, im Besitz eines speziellen und geheimen Wissens zu sein, das anderen nicht zugänglich gewesen sei. Wann dieser Anspruch erstmals erhoben wurde, lässt sich nicht sagen, doch scheint der Schluss nicht unberechtigt, dass der Anspruch bereits vor dem Auftreten Moḥammeds erhoben wurde. Ich schließe dies u.a. aus der Namensgebung des Onkels des Propheten und seiner Söhne.

Der »Schüler« des Vaters Der Vater ʿAlis hieß ursprünglich ʿAbd Manaf ibn ʿAbd al Muṭṭalib34. Bekannt ist er allerdings unter einem anderen Namen, der in der arabischen Tradition eher ungewöhnlich ist. Er lautet ’Abi Talib ibn ʿAbd al Muṭṭalib, was »Talib des Vaters, Diener35 des Muṭṭalib« bedeutet. Talib war auch der Name einer seiner drei Söhne, über dessen Biografie wenig bekannt ist. Ein »talib« ist ein Student, ein Schüler oder ein »Suchender«, und da es damals keineswegs die Regel war, dass Söhne ein Studium, welcher Art immer, absolvierten, so lieferte diese Ausnahmesituation offenbar Anlass genug, um darauf hinzuweisen – und es wird im Folgenden noch zu sehen sein, dass diese Ausnahme innerhalb des Clans über Generationen hinweg zur Regel wurde. Offenbar war diese Suche nach Wissen und Weitergabe von väter­ lichem Wissen auch anderen Söhnen des ’Abi Talib ein Anliegen, welches sich besonders bei ʿAli bemerkbar gemacht haben dürfte und zu seiner späteren Rolle und seinen politischen Entscheidungen nicht unwesentlich beigetragen hat. Seine Suche nach Wissen und das Wissen um ethische und moralische Verpflichtungen haben ʿAli offenbar Zeit seines Lebens begleitet und sein Handeln bestimmt, wie wir weiter unten noch sehen werden. Diese »Wissbegier« wurde scheinbar innerhalb dieser Familie gepflegt und von Generation zu Generation weitergereicht. Das mag auch der tiefere Grund dafür sein, dass die Haschemiten stets behaupteten über »geheimes Wissen« zu verfügen. Ich stehe folglich nicht an zu sagen, dass diese Einstellungen ʿAli nicht nur aus dem Bund der ersten Nachfolger des Propheten ausgeschlossen haben, weil ihm vermutlich aufgrund dieses »Suchens« die notwendig 34 Bemerkenswert erscheint, dass ’Abi Talib nicht einmal auf seinem Totenbett bereit war, zum Islam überzutreten, obwohl Moḥammed ihn dazu zu drängen versuchte. Schiiten meinen hingegen, dass er Muslim war. 35 Eigentlich bedeutet dies »Stiefsohn«, doch wurden solche Kinder öffentlich als Bedienstete des Hauses betrachtet.

178

der zweite kalif – ʿumar ibn al-khaṬab rücksichtslosen Entscheidungs– und damit Führerqualitäten fehlten36. Letztlich dürfte ihm seine reflektierende Art sogar das Leben gekostet haben, worüber noch ausführlich berichtet wird. Im Augenblick sei betont, dass diese Zusammenhänge für die weiteren Entwicklungen nicht ohne Bedeutung blieben.

Der zweite Kalif – ʿUmar ibn al-Khaṭab Auf Abu Bakr folgte aufgrund seiner vor seinem Tod erfolgten expliziten Nachfolgeregelung ʿUmar ibn al-Khaṭab, was einmal mehr bedeutete, dass auch in diesem Fall ʿAli ibn Abi Talib umgangen bzw. ausgeschlossen wurde. Dieser zweite Kalif war eine höchst ungewöhnliche und bemerkenswerte Persönlichkeit, die nicht nur den islamischen Herrschaftsbereich mit militärischen Mitteln machtvoll ausweitete und das islamische Weltreich begründete, sondern auch die dafür nötige Infrastruktur und die für ein Imperium nötigen rechtlichen Voraussetzungen schuf. Ohne diesen Kalifen wäre vermutlich niemals jenes islamische Weltreich entstanden, das alle bisherigen Imperien, wie das Alexanders des Großen oder Rom, an Größe noch übertraf. Doch weniger deshalb als vielmehr, weil ʿUmar ibn al-Khaṭab wesentliche Weichen für das stellte, was unser eigentliches Anliegen ist, erscheint es auch hier angebracht, seine Laufbahn und seine unleugbaren Erfolge detaillierter darzustellen. Schon seine Herkunft ist ungewöhnlich, gehörte er doch dem Banu Adi der Koreischiten in Mekka an, die ursprünglich erbitterte Feinde der Muslime in Mekka waren. In seinen jungen Jahren tat er sich durch Verfolgung der Muslime in Mekka hervor und wollte angeblich auch den Propheten selbst ermorden. Dass es dazu nicht kam, wird einem spontanen Erleuchtungserlebnis zugeschrieben, das in seiner Außergewöhnlichkeit mit dem zu vergleichen ist, das angeblich aus Saulus einen Paulus werden ließ.

Bekehrung Dieses Erlebnis wurde im Detail kolportiert. Es soll hier nur in Hinblick auf einen vielsagenden Aspekt behandelt werden. Wiederholte Male wird nämlich in der Literatur, die sich mit dem erstaunlichen Aufstieg des Wüstenvolks beschäftigt, auf den Umstand hingewiesen, dass er mit dem Aufkommen einer eigenen Schrift und einer ausgeprägten Liebe der 36 Die Römer hätten ihn deshalb vermutlich »Cunctator«, »Zauderer« genannt.

179

geburt eines rechtsstaats Araber zur Poesie zusammenfällt. ʿUmar war einer der wenigen seiner Generation, die des Lesens und Schreibens fähig waren, ein Umstand, der ihn auch später zu einem der wichtigsten Berater des Propheten wie auch von Abu Bakr werden ließ. Auch seine plötzliche Konversion zum Islam verdankt sich dieser Fähigkeit. Berichtet wird nämlich, dass er im Zuge einer heftigen Auseinandersetzung mit seiner Schwester und deren Mann, die heimlich zum Islam übergetreten waren, den heute als zwanzigste Sure geführten Vers »Ṭa Ha«, las. Tief beeindruckt von der Schönheit dieses Textes, der die durch Gott erfolgte Beauftragung Moses, dem Pharao gegenüberzutreten, sowie den Sündenfall von Adam und Eva schildert, lief er stehenden Fußes zu Moḥammed – doch nicht um ihn zu töten, sondern um sich zum Islam zu bekehren. Diese Spontaneität seiner Handlung scheint auch für den späteren Kalifen charakteristisch. Sie zeichnet sich u.a. dadurch aus, dass sie trotz dieser Blitzhaftigkeit kein Strohfeuer blieb. Im Gegenteil ließ er eine einmal gefällte Entscheidung für den Rest seines Lebens zur Maxime werden. ʿUmar war von Jugend an ein ungewöhnlicher Mensch. Er stammte aus einer Familie, in deren Tradition es lag, die Aufgaben eines »ḥakam«, eines Streitschlichters, in Mekka zu übernehmen. Sein Vater verfügte in diesem Zusammenhang über einen ausgezeichneten Ruf, was den Schluss nahelegt, dass dem Jungen schon früh politische Klugheit und Rechtsbewusstsein vermittelt wurden. Zusätzlich nahm der Jüngling auch an Handelsreisen seines Vaters teil und lernte so sowohl das römische – d.h. zu dieser Zeit byzantinische – als auch das persische Reich sowie deren Kulturen und Religionen kennen. Angeblich pflegte er in diesen Ländern Umgang mit bekannten Gelehrten. Körperlich verfügte er ebenso über herausragende Qualitäten – so war er ein erfolgreicher Ringkämpfer und Reiter und wusste mit dem Schwert gut umzugehen. Letztlich zeichnete ihn auch eine hervorragende Sprachbegabung aus, was sich in seiner Fähigkeit ausdrückte, überzeugende Ansprachen zu halten, und ihn bald in die Fußstapfen seines Vaters als Schiedsrichter treten ließ. Dass dieser junge Mann selbst durch einen Sermon zu überzeugen war, vervollkommnet das Bild eines emotionalen und zugleich ehrlichen und intelligenten Menschen. Nachdem er zum Islam übergetreten war, bekannte er sich dazu öffentlich, was damals in Mekka nicht ungefährlich war. Er betete öffentlich in der späteren großen Moschee in Mekka (Masdschid al-Haram), ohne dass es jemand gewagt hätte, ihn daran zu hindern. Genauso kompromisslos gestaltete er 622 seine Auswanderung nach Medina. Entgegen den damaligen Gepflogenheiten, diesen Schritt heimlich und in der Nacht zu setzen, brach er am helllichten Tag auf und kündigte jedem den sofortigen Tod an, der ihn daran hindern wollte. Es kann nicht verwundern, dass ein Mann wie ʿUmar für die junge Gemeinde 180

der zweite kalif – ʿumar ibn al-khaṬab der Muslime in Mekka wie auch in Medina einen großen Gewinn darstellte. Bei dem hier angedeuteten Charakter wird es auch kaum überraschen, dass ʿUmar an den diversen Schlachten, die die medinensischen Muslime gegen die Koreischiten führten, wesentlich beteiligt war. Seine Bedeutung für die muslimische Gemeinde versinnbildlicht sich in dem Umstand, dass Moḥammed den Wunsch äußerte, Hafṣah, die verwitwete achtzehnjährige Tochter ʿUmars zu ehelichen. Dadurch wurde ʿUmar zum Schwiegervater des Propheten37, was aufgrund der Tradition eine weitere, starke Bindung zwischen den beiden Männern erzeugte und die Stellung ʿUmars gegenüber der Ummah wesentlich verbesserte. Dass auch Hafṣah im Lauf der Geschichte eine bedeutende Rolle zukam, ergab sich aus ihrer Fähigkeit, die Offenbarungen ihres Gatten in vollem Umfang in Erinnerung zu behalten. Sie wurde damit nach dem Tod des Propheten bei der späteren schriftlichen Niederlegung des Koran durch ʿUthman und ʿUmar eine wesentliche Informationsquelle. Auch dieses Projekt der schriftlichen Dokumentation wurde auf Betreiben dieses Schwiegervaters des Propheten initiiert, als er nämlich feststellte, dass kurz nach dessen Tod bei einer einzigen Schlacht gegen aufständische Apostaten (Yamamah, 632) mehr als 300 Gefährten des Propheten und damit Zeitzeugen ihr Leben gelassen hatten. Allerdings darf keinesfalls übersehen werden, dass auch der Schwiegersohn ʿAli bereits früher eine schriftliche Fassung der Offenbarungen angelegt haben soll. Da diese Tatsache kein Geheimnis war, wird ʿUmar wohl zusätzliche Gründe gehabt haben, eine »eigene Fassung« des Koran zu schaffen. Darauf müssen wir weiter unten wieder zurückkommen. Die bedeutende Rolle des Vaters von Hafṣah zu Lebzeiten des Propheten ergab sich vor allem aus der erwähnten Tatsache, dass er neben ʿAli einer der wenigen war, die des Schreibens kundig waren. Schon deshalb wurde er ein wichtiger Berater des Propheten, besonders immer dann, wenn es zu Verhandlungen und zur Formulierung von Verträgen kam. So wirkte er etwa bei dem bereits erwähnten Vertrag von Hudaybiyyah mit. Dieser Fähigkeiten wegen wurde er auch zu einem engen Vertrauten des ersten Kalifen, Abu Bakr, dem er ja auch, wie bereits dargestellt, vorrangig dazu verhalf, Nachfolger Moḥammeds zu werden. Allerdings beschränkten sich ʿUmars Talente nicht nur auf seine literarischen und rechtlichen Fähigkeiten. Er leistete dem ersten Kalifen auch als Militärberater wertvolle Dienste. Das brachte ihm einen anhaltenden Wettstreit mit dem begabten und vielfach siegreichen Be37 Zur besseren Übersichtlichkeit sei hier festgehalten, dass Moḥammed Schwiegersohn sowohl von Abu Bakr durchʿAischah, wie auch von ʿUmar durch Hafṣah war. ʿAli war hingegen der Adoptiv- und Schwiegersohn des Propheten durch die Heirat mit dessen Tochter Faṭimah.

181

geburt eines rechtsstaats fehlshaber Khalid ibn Walid ein. ʿUmars anhaltende, doch erfolglose Bemühungen, Abu Bakr dazu zu bewegen, diesen Feldherrn zu entmachten, dessen Popularität mit jedem neuerlichen Sieg kometenhaft zunahm, erklärt sich wohl auch daraus. Dieser schwelende Konflikt blieb solange ungelöst, bis ʿUmar als nächster Kalif selbst in die Lage versetzt wurde, das Problem zu lösen. Dieser Augenblick trat früher ein als erwartet. 634 starb Abu Bakr und bestimmte ʿUmar als seinen Nachfolger zum Kalifen, und zwar mit der Begründung, den Besten ausgewählt zu haben. Das Argument Abu Bakrs hatte seine Berechtigung. Liest man nämlich die Biografie ʿUmars, so meint man gelegentlich in eine der Erzählungen aus »Tausend und eine Nacht« gefallen zu sein. In diesen Schilderungen wandelt ein Kalif 170 Jahre vor Harun-ar-Raschid nächtens durch die Straßen der Stadt Medina, um sich über das Wohlergehen seiner Bürger zu informieren und dafür zu sorgen, dass niemand hungrig schlafen müsse. Den Auftrag des Propheten, Almosen zu geben, nahm ʿUmar sehr ernst. Nicht nur speiste er täglich Tausende von Obdachlosen in Medina, sondern er stellte auch in diesen Belangen sein organisatorisches Talent unter Beweis. Als zum Beispiel im Jahr 638 eine große Dürre eine verheerende Hungersnot auf der ganzen arabischen Halbinsel zur Folge hatte, beauftragte er den Statthalter von Syrien, Lebensmittel in großem Umfang nach Arabien zu schicken. Diese Lebensmittel wurden zuerst in Medina und in der Folge auch an die Wüstennomaden gratis verteilt. Man behauptet, dass er auf diese Weise Hunderttausenden das Leben gerettet haben soll. In normalen Zeiten begab er sich aber untertags mit einer Peitsche bewaffnet auf den Markt, um dafür zu sorgen, dass Betrüger augenblicklich, und zwar von ihm persönlich, durch Züchtigung bestraft wurden38. In dieser märchenhaften Welt fehlt allerdings eine Scheherazade genauso wie die persische Lust an Luxus und Überfluss. Im Gegenteil kolportiert man, dass sich der Kalif mit wenigen, geflickten Kleidern begnügte, er dieselben Speisen wie das restliche Volk verzehrte und seine Nächte in Gesellschaft von Obdachlosen auf den Stufen der Moschee, auf ein paar Palmblättern ruhend, verbrachte. Dieses mönchische Leben unterschied sich trotzdem wesentlich von jenem Leben zeitgenössischer Eremiten im Katharinenkloster auf dem Sinai oder in der ägyptischen Wüste. Denn ʿUmar stand mit beiden Beinen im gesellschaftlichen und politischen Leben und gestaltete dieses mit Weitblick und starkem Willen. 38 Die Legende berichtet, dass er einmal jemanden ungerechtfertigt gepeitscht hätte. Nachdem er dieses Unrecht erkannt hatte, soll er darauf bestanden haben, von jenem gleichfalls ausgepeitscht zu werden. Allerdings hat dieser Mann angeblich dieses Vorgehen abgelehnt.

182

der zweite kalif – ʿumar ibn al-khaṬab

Expansion des Reichs 634, also bereits im ersten Jahr des Kalifats von ʿUmar, fielen fast zeitgleich arabische Armeen sowohl in das byzantinische (oströmische) Palästina und Syrien als auch in das sassanidische (persische) Mesopotamien ein. Genau besehen handelte es sich dabei noch um die Ausführung eines Auftrags, den Abu Bakr seinem Nachfolger auf den Weg mitgegeben hatte. Oberster Feldherr war auch hier wieder der alte Widersacher Khalid ibn Walid. Nach einigen kleineren Gefechten entschied sich 636 das Schicksal des christlichen, Vorderen Orients in der Schlacht am Jarmuk im heutigen Jordanien. Die Truppen des byzantinischen Kaisers Herakleios wurden vernichtend geschlagen, Jerusalem fiel darauf 638 an die Muslime. Die Byzantiner räumten nun ganz Syrien – wie sie meinten nur aus taktischen Erwägungen – wie sich zeigte, für immer. Zwar konzentrierten die »Römer« statt in Syrien ihre Kräfte klug auf die Verteidigung Ägyptens, dieses wurde jedoch trotz aller Bemühungen 639/40 ebenfalls von den Muslimen überrannt. 642 fiel Alexandria. Doch davor ging schon das persische Sassanidenreich im islamischen Reich vollständig auf. Im Südirak kam es (wahrscheinlich 636) bei Qadisiya zu einer bedeutsamen Schlacht. Nach der dortigen Niederlage zogen sich die sassanidischen Truppen ins persische Herzland zurück. Sogar die Hauptstadt Ktesiphon musste von ihnen aufgegeben werden, der persische Widerstand war jedoch deshalb noch nicht gebrochen. 642 kam es allerdings bei Nehawend zum »Sieg aller Siege«. Das persische Heer wurde endgültig aufgerieben. Trotzdem blieben weite Teile der eroberten Gebiete, ʿUmars kluger Politik gemäß, noch längere Zeit christlich bzw. zoroastrisch. In diesem Konnex zeigt sich die weitreichende Toleranz der Eroberer gegenüber religiösen Minderheiten in der Praxis. Diese nichtmissionarische Duldung wurde ja bereits von Moḥammed gefordert und im Koran festgeschrieben. Sie war kein Lippenbekenntnis, sondern wurde in der alltäglichen Praxis gelebt. Diese frühen, sogenannten »rechtschaffenen« Kalifen verstanden sich nämlich tatsächlich als Nachfolger ihres Propheten, wie schon der Name besagt. Sie genossen religiöse Autorität und amtierten als Leiter des Gebets und als Schiedsrichter. Anfänglich waren sie keine Alleinherrscher, wie die Märchen aus »Tausend und einer Nacht« nahelegen, sondern ihre Herrschaft war von Vorstellungen und Traditionen der vorislamischen Stammesgesellschaft und dem Ideal der Ummah geprägt. In diesem Sinn handelte offenbar auch ʿUmar.

183

geburt eines rechtsstaats

Verwaltung des Reichs Allerdings brachte ʿUmar ibn al-Khaṭab neue bedeutsame Talente ein, die für das Bestehen des neugeschaffenen Reiches wesentlich waren. Er führte neue Organisationsformen und gesellschaftliche Institutionen ein, die erst den Bestand der eroberten Gebiete gewährleisten konnten. Sein überragendes politisches Talent ist u.a. auch daran zu erkennen, dass er die verschiedenen Feldzüge nicht selbst als Kriegsherr anführte, sondern sich von Medina aus vorrangig der Konsolidierung des neuen Staates widmete. Er teilte die neu eroberten Gebiete in Verwaltungsprovinzen und unabhängige Territorien ein, die alle von einem »Wali«, einer Art Statthalter, kontrolliert wurden. Diesem unterstanden in untergeordneten Bezirken deputierte Verwalter. Zusätzlich zu diesen wurden andere Verwaltungsstellen geschaffen, die von einem »Katib« besetzt wurden. Derartige »Sekretäre« gab es für unterschiedliche Bereiche wie das Militär, Steuereinhebung, Finanzverwaltung und Polizei, und darüber hinausgehend bestellte er für jeden Bezirk einen eigenen, selbstständig entscheidenden Qadi (Richter). Die Bestellung eines Wali erfolgte durch ʿUmar persönlich. Sie wurde auf zwei Jahren beschränkt, um mögliche Korruption zu unterbinden. Aus dem gleichen Grund wurden alle Stellen mit einem hohen Salär bedacht. Die Bestellung zum Wali erfolgte durchgängig mittels eines Dekrets, das zugleich einen detaillierten Auftrag enthielt, den der neue Verwalter in der Provinz zu erfüllen hatte. Außerdem musste dieser Auftrag beim Amtsantritt in der Moschee der Region öffentlich vorgetragen werden, damit die breite Bevölkerung vom Regierungsprogramm Kenntnis erhielt. Auch hierin zeigt sich ein im Prinzip demokratisch angelegtes Staatswesen. Folglich fanden sich in derartigen Dekreten Passagen wie z.B. die Feststellung, dass Statthalter nicht als Tyrannen agieren dürfen, sondern als »Führer«, denen die Bevölkerung gerne und freiwillig Folge leisten möge. Diese Statthalter wurden weiters zur »Hadsch« nach Mekka verpflichtet, wo sie Bericht erstatten mussten und öffentlich zur Verantwortung gezogen werden konnten, sollte es vonseiten der Bevölkerung zu Beschwerden gekommen sein. Damit nicht genug, richtete ʿUmar erstmalig ein eigenes Amt ein, das am besten als »Verwaltungsgerichtshof« bezeichnet werden könnte. Dort konnten Beschwerden gegen Beamte und Statthalter vorgebracht werden, wobei diese Verhandlungen von ʿUmar selbst geleitet wurden. Der Gerichtshof hatte seinen Sitz in Medina. Belangte Personen hatten dort zu erscheinen. Um aber auch in solchen Fällen zu einem objektiven Urteil zu gelangen, richtete der Kalif ein Nachrichtennetz ein, das ihn 184

der zweite kalif – ʿumar ibn al-khaṬab über die Vorgänge und Entwicklungen im gesamten Reich am Laufenden hielt. Betrachtet man diese Entscheide und zahllose andere Institutionen, wie etwa das von ihm ebenfalls geschaffene »Bayt al-Mal«, eine Art »Schatzamt«, so drängt sich zwangsläufig die Frage auf, woher ʿUmar alle diese Ideen und Konzepte nahm. Vielleicht sollte man sich jetzt daran erinnern, dass er in seinen jungen Jahren die angrenzenden Länder bereist und in »Ar-rum«, d.h. Byzanz, sogar den Umgang mit Gelehrten gepflegt hatte. Zweifellos hatte ein so lebendiger Geist, der noch dazu in kaufmännischen Angelegenheiten unterwegs war, auch die römischen Verwaltungsinstitutionen und die damit verbundenen gesetzlichen Prozeduren kennengelernt und deren Bedeutung verstanden. Sprechen wir demnach von Erben der Antike, so darf angenommen werden, dass einiges von ʿUmars Projekten der Staatsverwaltung und Rechtspflege von dort übernommen wurde. Das muss umso mehr der Fall gewesen sein, umso größer das Reich wurde und weite Teile des römischen Imperiums nach und nach einverleibt wurden. Die Araber alleine wären nie dazu imstande gewesen, diese weiten Gebiete erfolgreich zu verwalten. Doch ihre politische Klugheit, wie sie auch im Koran eingefordert wird, veranlasste sie, viele von den vorgefundenen regionalen und örtlichen Strukturen beizubehalten. Sie verhielten sich ähnlich wie einige Jahrhunderte später die Normannen in Sizilien oder die Mon­ golen in China, und das begründete ihren andauernden Erfolg. Was allerdings darüber hinaus zu leisten war, war, die übernommenen Institutionen und Einrichtungen mit dem Geist des Islam zu füllen bzw. die diversen christlichen, zoroastrischen und sonstigen Traditionen, insbesondere im Bereich der Rechtsprechung, zu verdrängen.

Al-Faruq ʿUmar wird manchmal mit dem Titel »al-Faruq« bezeichnet, ein Wort, das sich von »taf‘riq« herleitet und »Trennung, Unterschied« bedeutet. Diese Bezeichnung signalisiert, dass es ʿUmar in herausragender Weise verstand, Recht von Unrecht zu trennen. In anderen Worten kamen ihm seine frühen, in Mekka gesammelten Erfahrungen als Sohn eines »ʿakam« zugute. Die Fähigkeit eines gerechten Richters brachte ihm nicht nur diesen Ehrentitel ein, der später zu einem beliebten moḥammedanischen Vornamen wurde, sondern in jüngerer Zeit, gemäß neuer islamischer Forschungsergebnisse, auch einen weiteren Titel: »Faqih«, die Bezeichnung für einen herausragenden Rechtsgelehrten. Aus Sicht der Sunniten wird er als Begründer von »al-fiqh39«, der islamischen Rechtswissenschaft, betrachtet (H. Motzki, 1991). 39 »Fiqh« und »faqih« leiten sich vom selben Wortstamm her.

185

geburt eines rechtsstaats An diesem Punkt der Darstellung von ʿUmars Lebensweg soll die biografische Schilderung mit wenigen kurzen Anmerkungen abgeschlossen werden: ʿUmar erwarb sich durch seine Politik zahllose Freunde und Unterstützer. Trotzdem starb er 644 an den Folgen eines Attentats, das von Persern geplant und von einem persischen Sklaven in Medina ausgeführt wurde. In den drei Tagen, die ihm nach diesem Attentat zum Leben blieben, regelte er seine Nachfolge in folgender Weise: Er bestimmte eine Gruppe von sechs Männern, aus denen einer zum Kalifen gewählt werden sollte. Die Wahl fiel auf ʿUthman ibn ʿAffan – womit der einzige Schwiegersohn Moḥammeds wiederum übergangen wurde.

ʿUthman ibn ʿAffan Aus der folgenden zwölfjährigen Herrschaft des dritten »rechtmäßigen« Kalifen lassen sich gleichfalls einige markante und für uns wesentliche Tatsachen herauslesen. Auch er stammte aus einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie, dem Banu der Umayyaden aus Mekka, also ursprünglichen Feinden des Islam. Ähnlich wie ʿUmar hatte auch er eine gute Erziehung, was ihn befähigte, bereits als »Sekretär« Abu Bakrs und ʿUmars tätig zu sein. Aus dieser Tätigkeit ergab sich wohl auch, dass er dafür sorgte und dazu beauftragt war, die schriftliche Aufzeichnung des Koran abzuschließen. Politisch klug, weitblickend und – wie gleich zu sehen sein wird – berechnend, unterdrückte und verbrannte er andere schriftliche Versionen des Koran. Man behauptet, dies geschah, um Fehlinterpretationen, die sich aus anderen arabischen Dialekten ergeben hätten können, zu unterbinden. Man geht allerdings nicht fehl zu meinen, dass dies auch mit der verhinderten Nachfolge ʿAlis in Zusammenhang stand. Vordergründig entstand aufgrund dieser sehr konsequenten Vorgehensweise eine einzige verbindliche Offenbarung. Das vergrößerte die Rechtssicherheit und schuf zugleich erstmalig eine einzige arabische »Hochsprache«. ʿUthman war außerdem ein wohlhabender und erfahrener Kaufmann. Auch dieser Umstand fand Berücksichtigung in seinen Reformen. Er führte z.B. den Dirham, die persische Goldmünze, mit dem Vermerk »Im Namen Allahs« als allgemeines Zahlungsmittel ein. Die ersten eigenen Prägungen entstanden allerdings erst 695, also lange nach seinem Tod. Die riesigen territorialen Eroberungen spülten durch Steuern und Abgaben reichlich Geld in die Staatskasse, die schon unter ʿUmar im Dar al-Mal eingerichtet worden war. Mit diesen reichen Mitteln finanzierte er weitläufige Bauprojekte unterschiedlichster Art. Nicht nur wurden mehrere tausend Moscheen im ganzen Reich errichtet, die zugleich die Aufgaben von Schulen unterschiedlichster Fähigkeiten übernahmen. 186

uṣul al-fiqh – aufbruch zu einer islamischen wissenschaft Auch bedeutende wirtschaftliche Projekte wie der Bau von Kanälen, Brunnen, Häfen, Kasernen, Polizeistationen und Markthallen wurde mit staatlichen Mitteln beauftragt und finanziert. Die Märkte wurden von einer eigenen Marktpolizei beaufsichtigt, die den Handel von Händeln frei zu halten hatte. Bedeutsam ist auch der Umstand, dass ʿUthman in Fortsetzung der Politik seines Vorgängers in den eroberten Gebieten Landenteignungen durch das Militär untersagte. Damit unterstütze er die »Dhimmis«, die unterworfenen »Ungläubigen«, und versicherte sich so ihrer Unterstützung. Trotz einer derartigen restriktiven Politik bei der Akquisition von Ländereien wuchs der Wohlstand unter den Muslimen so beträchtlich, dass auch von privater Seite eine rege Bautätigkeit begann. Man geht nicht fehl festzustellen, dass im Islam in dieser Zeit die antiken griechischen Vorstellungen von Verteilungsgerechtigkeit, wenn auch in abgeänderter Weise, beachtet wurden. Das alles konstituierte einen wesentlichen Unterschied zu Rom selbst dann noch, als unter ʿUthman das ʿUmar’sche Verbot des Landverkaufs und des Handels mit Grundstücken aufgehoben wurde. Andererseits betrieb ʿUthman in Abhebung zu seinen Vorgängern eine nepotistische Politik bei der Einsetzung und Vergabe von Statthalterposten in den Provinzen. Diese opportunistische Politik sollte ihm letztlich zum Verhängnis werden. Er wurde anlässlich eines aufgrund von parteiischer Postenvergabe entfachten Streits in Ägypten so wie sein Vorgänger ermordet. Diese neuartige, nicht-islamische Politik ʿUthmans schuf zugleich die Ausgangsbasis zur Etablierung einer ersten Dynastie von Kalifen, der Umayyaden. Muʿawiya I., der erste Vertreter dieser Herrscher, verlegte bereits die Hauptstadt des Reiches nach Damaskus, also in ein ehemaliges Kernland von Byzanz, und entmachtete damit Medina, das in Hinkunft nur mehr ein geistig-religiöses Zentrum sein sollte. Auch dieser Schritt blieb nicht folgenlos. Auf diese Ereignisse werden wir weiter unten nochmals ausführlicher zurückkommen.

Uṣul Al-Fiqh – Aufbruch zu einer islamischen Wissenschaft Kehren wir nun, nachdem die groben Entwicklungslinien der Zeit nach Moḥammeds Tod zum besseren Verständnis grob nachgezeichnet wurden, an jenen Punkt zurück, der für unsere Anliegen von herausragender Bedeutung ist. Aus unserem Interessenskontext besehen, besteht die wesentliche Leistung ʿUmars und seines Nachfolgers im Schaffen grundlegender Voraussetzungen für eine eigene islamische Rechtswissenschaft. Mit deren Etablierung setzt ähnlich wie in Rom eine Entwick187

geburt eines rechtsstaats lung ein, die mithilfe meiner im ersten Band40 angestellten Analysen als vorhersehbar eingestuft werden könnte. In Rom wurde ja anders als bei den Griechen anstelle von Naturwissenschaft, Mathematik, Logik und Rhetorik eine Rechtswissenschaft geboren, die – umgekehrt – in dieser Form den Griechen unbekannt41 gewesen sein dürfte. Zwei Ursachen habe ich für diese Entwicklung angeführt: einerseits lieferte in Rom – anders als bei den Griechen – nach wie vor die Religion die Legitimationsbasis zur Formulierung und Anwendung von Recht. Das hatte zur Folge, dass im Laufe der Zeit aus den religiösen, rituellen Formeln auch ein ritueller rechtlicher Formalismus entstand. Andererseits waren für die Römer, d.h. für die dort herrschenden Patrizier, Fragen gerechter Verteilung nur von nachrangiger Bedeutung. Daher ergab sich dort auch kein unmittelbares Interesse an Mathematik42, dafür aber eines an einer Wissenschaft der juristischen Hermeneutik. Die sollte die als unveränderbar betrachteten Verfahrensregeln und das ursprüngliche Zwölftafelgesetz deuten und interpretieren helfen und Gesetze den jeweils vorliegenden Gegebenheiten anpassen. Der sunnitische Islam positionierte sich von Anfang an zwischen Griechen und Römern, indem er einerseits so wie die Römer auf einer göttlichen Legitimation seiner Rechtsgrundlagen beharrte und bis heute beharrt. Andererseits wurde aber so wie bei den Griechen großer Wert auf Verteilungsgerechtigkeit gelegt, wie die zahlreichen Bemühungen ʿUmars und ʿUthmans verdeutlichen und wiederkehrende Passagen im Koran außer Zweifel stellen. Anders allerdings als im frühen republikanischen Rom kannte der Islam keine gesetzgebende Körperschaft, die etwa dem römischen Senat vergleichbar gewesen wäre. Einzige legitime Quelle islamischen Rechts waren – und sind es auch heute noch – die heilige Schrift des Koran und zusätzliche, mündliche Überlieferungen, die sogenannten »Ḥadithe«. In diesen »Erzählungen von Ereignissen« 43 wurden überprüfte Aussagen des Gesandten Gottes gesammelt und konserviert. Da der Koran ursprünglich nicht schriftlich fixiert war – damit begann erst ʿUmar, und sein Nachfolger ʿUthman vollendete diesen Prozess44 – waren die zahlreichen mündlichen Überlieferungen von unterschiedlicher Qualität, so wie viele weitere Aussagen Moḥammeds, die nicht als göttliche Offenbarungen gewertet wurden. 40 Siehe dazu: M. Schmutzer (2011), Band I, Kapitel XI. 41 Jüngste Forschungsergebnisse von H. Barta stellen diese Darstellung bereits in Frage. (H. Barta, 2010). 42 Siehe dazu: M. Schmutzer (2011), Band I, Kapitel XI. 43 »Ḥadith« heißt: Erzählung, Bericht, Tradition. 44 Dass die Partei ʿAlis, die Schiʿa, eine andere Auffassung vertritt, sei hier nur kurz gesagt. Wir werden uns dieser weiter unten widmen.

188

uṣul al-fiqh – aufbruch zu einer islamischen wissenschaft Zwangsläufig entstand aus solchen Vorgaben ein neuer Bedarf, der sich in zweifacher Weise manifestierte: Einerseits entstand Nachfrage nach und Bedarf an Mitteln, die die Authentizität der Überlieferungen festzustellen erlaubten. Dieser als Notwendigkeit empfundene Umstand musste zu eigenständigen Methoden der Quellenforschung und zu einer eigenen Geschichtsschreibung führen. Andererseits lieferten die etwa fünfhundert Stellen des Koran, die sich als göttlich vermittelte Rechtsgrundlagen anboten, und die etwa dreitausend überlieferten Sprüche Moḥammeds, die innerhalb der Sunnah45 als Ḥadithe anerkannt werden, nicht annähernd hinreichend rechtliche Grundlagen, um den Ansprüchen des wirklichen Lebens in einem kulturell heterogenen Reich nachkommen zu können. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, durch verschiedene akzeptierte Methoden überzeugender Argumentation – »überzeugende Argumentation« heißt offensichtliche Widersprüche ausschließende Darlegungen (s.o.) – zu rechtsgemäßen Problemlösungen zu gelangen, die sich im Rahmen der durch den Islam vorgegebenen Legitimität bewegten. »Widersprüche ausschließen« bedeutet allerdings nicht notwendig, dass derartige widerspruchsfreie Aussagen ähnlich wie ein euklidischer Beweis abgefasst sein müssen. Im islamischen Recht ist damit gemeint, dass keine andersartigen Meinungen artikuliert und keine weiteren berücksichtigungswürdigen »Einsprüche« mehr erhoben wurden. Das bedeutet in anderen Worten, dass nötige Argumente fehlten. Wie das erreicht wurde, werden wir gleich ausführlicher zeigen. Angemerkt werden soll, dass dies ein gängiges Verfahren in allen solidarischen Gemeinschaften46 darstellt. Die muslimische Ummah bildete, so wie die frühen Poleis in Griechenland, eine solche Gemeinschaft von »Gleichen«. Dieser Bedarf an überzeugenden Argumenten konnte aus politischen Gründen nicht ignoriert werden, weil in dieser Anfangsphase des Islam die Erzeugung von umfassendem Konsens in der Ummah eine Grund­ voraussetzung47 für Entstehen und Verbreiten der neuen Religion und 45 »Sunnah« bedeutet allgemein: Brauch, Sitte, Gesetz. In diesem Kontext bezeichnet es die Sammlung anerkannter Berichte über Aussagen und beispielhafte Handlungen des Propheten. Darüber, was anerkannt werden soll, gibt es allerdings geteilte Meinungen zwischen Schiiten und Sunniten. 46 Damit ist das gemeint, was E. Durkheim (1893) als »organische Solidarität«, die »Cultural Theory« nach M. Douglas (1966) als »Clan« bezeichnet. 47 Allerdings schuf der Umstand, dass der Islam und seine Kalifen ihr Reich in der Folge in einem Gebiet ausbauten, das seit ungefähr tausend Jahren unter griechischem Einfluss stand, einen wesentlichen Unterschied zu den Entwicklungen in der Antike. Denn hier konnte auf Erkenntnisse zurückgegriffen werden, die die alten Römer und antiken Griechen erst selbst

189

geburt eines rechtsstaats Gemeinschaft bildete. Analog konnte ein anhaltendes Bestehen der frühen griechischen Poleis48 auch nur durch Konsens gewährleistet werden. Fälle, wo das nicht gelang, lösten sich in kurzer Zeit wieder auf.

Eine notwendige Bedingung für die Genese von Wissenschaften In anderen Worten entwickelte sich aufgrund der Tatsache, dass es im Koran Gesetzesvorgaben gab, ein neuartiger Bedarf nach Beweisverfahren. Das bezeichnen wir als notwendige Bedingung für die Genese von Wissenschaften. Unter »Wissenschaft« verstehen wir demnach zu allererst ein Ver­ fahren, das Aussagen – also sprachliche Objekte – auf ihre Akzeptanz­ fähigkeit überprüft 49, wobei unterschiedliche Vorgehensweisen zum Einsatz kommen können. Derartig überprüfte Aussagen dürfen50 nicht, noch können sie nach Gutdünken eines monokratischen Herrschers verändert oder aufgehoben werden. Sie wurden – und sie werden es noch heute, wenn sie als »wissenschaftliche Aussagen« akzeptiert werden sollen – willkürlicher Einmaligkeit entzogen und stattdessen einer geregelten Ordnung, d.h. einem höheren »Gesetz« unterworfen51. In Kapitel II haben wir bereits beispielhaft gesehen, dass etwa im Byzanz des 6. Jahrhunderts ein derartiger Bedarf nach Beweisverfahren infolge des wieder etablierten monokratischen Herrschaftsgefüges nicht mehr befriedigt wurde und zunehmend verschwand. Dieses Herrschaftsgefüge sorgte stattdessen dafür, dass das drohende Auseinanderbrechen der Gemeinschaft bzw. des Staates mittels Gewaltanwendung verhindert wurde. Man kann demnach die Entwicklung im Islam auch so darstellen: die wundersame, zeitlich begrenzte Einmaligkeit eines göttlichen Ge­ sandten als letzten Propheten bewirkte und verlangte nach etwas, was durch die permanente, zeitlich unbegrenzte Anwesenheit eines kaiser­ entwickeln mussten. Bei solchen Vorgaben muss umgekehrt auch betont werden, dass ein derartiger Vererbungsprozess auch auf eine Bereitschaft der Erben, ihn anzutreten, stoßen muss. Wir werden sehen, dass diese Bereitschaft innerhalb des Islam nicht überall in gleichem Maß gegeben war. Daraus entstanden interne Glaubenskämpfe, die letztlich in einer »islamischen Inquisition«, »Miḥna«, gipfelten. 48 Siehe dazu M. Schmutzer (2011), Band I, Kapitel III. 49 Aristoteles spricht in diesem Zusammenhang von »bewiesenen Sätzen« (Zweite Analytik, das ist die Analytica Posteriora, 1. Buch, Kap. II). 50 Es gab Versuche dieser Art, die jedoch nicht den erwarteten Erfolg brachten und daher scheiterten. Beispiele dafür finden sich im Folgenden. 51 Dabei handelt es sich um die in Kapitel I dieses Bandes angesprochene Akkreditierung der Beweisverfahren und -mittel.

190

uṣul al-fiqh – aufbruch zu einer islamischen wissenschaft lichen Stellvertreters Gottes auf Erden im christlichen Reich nicht mehr erforderlich schien. Dieses eingeforderte »Etwas« war der Nach- oder Beweis der Rechtmäßigkeit und Legitimität. Wie in sämtlichen schriftlich fixierten Rechtssystemen wurde auch im Islam nach Methoden gesucht, die auf der Basis von Konsens aus vorgegebenem Material neue akzeptable Rechtserkenntnisse gewinnen lassen. Dieser Bedarf schafft dort die Ausgangsbasis und die Notwendigkeit von Rechtswissenschaft, wo Rechtsschöpfung über irgendeine Legislative verunmöglicht ist. Damit ist aber nicht gesagt, dass ein derartiger Bedarf an Rechtswissenschaften nur in solchen Gesellschaftssystemen besteht52. Die Erzeugung von Konsens –»idschma« – geschah damals auf der Basis folgender Möglichkeiten, die nicht alle gleichzeitig entwickelt und schon gar nicht zugleich verwendet wurden: 1) Konsens konnte etwa dadurch zustande kommen, dass Aussagen deshalb als unbestreitbar betrachtet wurden, weil sie göttlichen Ursprungs, also unangreifbar waren und noch sind53. In anderen Worten: das sind apodiktische Feststellungen, die unhinterfragt bleiben und allgemein akzeptiert werden. Aristoteles verwendete solche in seinen Syllogismen und bezeichnet sie als »Prämissen« oder »Axiome«. Wie K.F. Gödel (1931) bewiesen hat, sind solche Annahmen selbst in der Mathematik unverzichtbar. 2) Zeugen, deren Glaubwürdigkeit durch verschiedene Verfahren außer Frage gestellt wurde, können ebenfalls zur Schaffung von Konsens beitragen. Als R. Boyle im 17. Jahrhundert experimentelle Beweise einführte, verwendete er genau dieses Verfahren. Er berief sich auf glaubwürdige Zeugen, die die Richtigkeit seiner Versuchsergebnisse bestätigten mussten54. 3) Analogien oder »rationale« Argumente können gleichfalls als Instrumente dienen, um Konsens zu erreichen55. Anzumerken bleibt, dass das, was etwa im Morgenland als »rational« bezeichnet wird, Vorstellungen unterworfen sein kann, die sich nicht mit unseren eigenen decken müssen.

52 Siehe dazu: M. Schmutzer (2011), Band I, Appendix. 53 Siehe dazu: M. Schmutzer (2011), Band I, Kapitel I und II. 54 Siehe dazu: St. Shapin (1994). 55 Ich verweise nochmals auf Aristoteles bzw. M. Schmutzer (2011), Band I, Kapitel IX und X.

191

geburt eines rechtsstaats

Institutionalisierung des Rechts Wie die Biografie des zweiten Kalifen schon deutlich machte, existierte in den vorislamischen, arabischen Gesellschaften ein Gewohnheitsrecht, das sich der Institution eines »ḥakam«, eines unparteiischen Schiedsrichters, zur Schlichtung von interfamiliären Streitigkeiten bediente. Moḥammed, so erinnern wir uns ebenfalls, trat aufgrund einer Einladung, diese Rolle zu übernehmen, seine zukunftsschwangere Reise nach Yathrib, dem späteren Medina, an. ʿUmar ibn al-Khaṭab, der zweite Kalif, stammte seinerseits aus einer Familie, die traditionellerweise mit diesen heiklen Aufgaben betraut wurde. Daraus lässt sich ersehen, dass in der präislamischen Stammeskultur nicht nur die Institution des Schiedsrichters existierte, sondern auch ein entsprechender Fundus an diesbezüglichem Wissen, das innerhalb bestimmter Familien erhalten und weitergereicht wurde. Möglicherweise wäre es vorschnell, daraus zu folgern, dass es bereits damals eine zumindest rudimentäre Rechtswissenschaft gegeben hätte, doch der Umstand, dass sogar heutige Islamexperten ʿUmar als »faqih«, d.h. als Rechtswissenschafter bezeichnen, lässt diese Deutung zu. Zweifelsfrei steht jedenfalls fest, dass es tradiertes Rechtswissen gegeben hat, wenngleich auch eigenständige Institutionen, die diese Wissensweitergabe zu ihrer zentralen Aufgabe gemacht hätten, fehlten. Wie wir gleichfalls zur Kenntnis nehmen müssen, waren jene frühislamischen Rechtsvorgaben nicht ausreichend, sondern mussten stetig entwickelt werden. Selbst viele Urteilssprüche Moḥammeds fußten zumindest solange in derartigen Traditionen, solange sie nicht in eklatantem Widerspruch zur muslimischen Lehre standen. Betrachten wir dieselbe Entwicklung aus einer institutionengeschichtlichen Perspektive, so hat sich im Islam eine Rechtswissenschaft, die mit »fiqh« bezeichnet wird, erst in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts (christl. Zeitrechnung), also etwas mehr als hundert Jahre nach dem Tod des Propheten, entwickelt. Allerdings entstand diese keineswegs aus dem Nichts. Die Voraussetzungen für eine solche Institutionalisierung wurden wesentlich früher geschaffen, nämlich bereits von den Gefährten, den »aṣ-ṣaḥaba«, und den unmittelbaren Nachfolgern des Propheten. Einen markanten Schritt in diese Richtung stellte bereits die schriftliche Aufzeichnung des Koran dar. Ein zweiter und gerade in Hinblick auf die Entwicklung einer eigenständigen Wissenschaft bedeutungsvoller Schritt wurde durch die Aufzeichnung der sogenannten Ḥadithe gesetzt. Für diesen Bereich lagen offiziell die Verhältnisse anders als bei der Überlieferung der Offenbarungen Gottes durch den Mund des Propheten, die stets vor einer größeren Öffentlichkeit stattfanden. Das 192

uṣul al-fiqh – aufbruch zu einer islamischen wissenschaft bedeutete u.a., dass in diesen Fällen stets mehrere Zeugen gegeben waren, was im Fall der Ḥadithe nicht immer zutraf.

Ḥadithe Was verstehen Muslime unter »Ḥadithen«? Ähnlich wie in der christlichen Glaubenslehre wurde auch im Islam der weitaus überwiegende Teil der Lehre aufgrund mündlicher Überlieferung weitergegeben, was in einer dominant analphabetischen Gesellschaft nicht überraschen kann. Erwähnt sollte in diesem Zusammenhang werden, dass in solchen Gesellschaften Kulturtechniken existieren, die uns, seit wir lesen und schreiben lernten, nicht mehr zur Verfügung stehen. Diese Techniken ermöglichen das langfristige, exakte Memorieren von umfangreichen Aussagen. In der arabischen Alltagssprache sind Ḥadithe zunächst nichts anderes als mündliche Überlieferungen. Im Kontext des Islam wird der Begriff auf Überlieferungen eingeengt, die mit Aussagen, Handlungen und wertenden Urteilen des Propheten in Zusammenhang stehen. Ḥadithe unterscheiden sich aber von den Suren im Koran, und zwar dahingehend, dass der gesamte Koran als unmittelbares Wort Gottes verstanden wird. Diese Offenbarungen Gottes wurden dem Propheten durch den Erzengel Gabriel wörtlich in den Mund oder ins Herz gelegt. Er war somit nur Sprachrohr und hatte nicht die geringste Verantwortung für die so übermittelten Inhalte. Ḥadithe sind hingegen Aussagen, deren Formulierung dem freien Willen des Propheten zugeschrieben wird. Für deren Inhalte trägt er dann Verantwortung, wenn sie seiner eigenen Urteilsfindung, Idschtihad, entspringen, hingegen keine Verantwortung, wenn sie wie die Inhalte des Koran direkt al-waḥy, d.h. göttlicher Eingebung oder Inspiration, entstammen. An diesem Punkt drängt sich unmittelbar die Frage auf, wie göttliche Eingebung festgestellt werden kann. Die Antwort, die Islamgelehrte darauf geben, ist naheliegend, sie lautet nämlich, dass es sich dabei um eine Glaubensfrage handelt, die wissenschaftlich nicht zu entscheiden ist (A.M.A. Zaidan, 2010, S. 207). Anders verhält es sich aber bereits in Hinblick auf die Überlieferung von Texten. Hier hat Wissenschaft bereits ein gewichtiges Wort mitzureden – und genau das geschah auch im Islam zu sehr früher Stunde. Bei den Muslimen entwickelte sich bald die Einsicht, dass die Glaubwürdigkeit dieser Überlieferungen nachzuweisen sei. Die Methode, wie derartige Nachweise zu erbringen sind, wurde – wie zu erwarten war – der Rechtsprechung entliehen, die ja in ihrer Rechtsfindung ebenfalls auf Zeugen angewiesen ist. Dass in manchen 193

geburt eines rechtsstaats Fällen nicht jedem Zeugen, selbst wenn er unter Eid seine Aussagen machen sollte, zu trauen ist, ist dort gängiges Wissen. Es sind demnach auch Zeugen auf ihre jeweilige Glaubwürdigkeit zu überprüfen. Genau dieses Verfahren wurde von Beginn an in den jungen Ḥadith-Wissenschaften, den »usuul al-Ḥadith«, eingesetzt und zu hoher Perfektion entwickelt. In den Ḥadith-Wissenschaften wurden zwei Sachgebiete unterschieden: »sanad« und »matn«. Sanad (manchmal auch mit »isnad« transkripiert) untersuchte die Abfolge der Berichterstatter eines Ḥadith und fragte, ob diese Abfolge lückenlos bis auf den Propheten zurückgeführt werden konnte. Sie testete auch die Glaubwürdigkeit dieser Personen in unterschiedlicher Weise: Manchmal wurde quasi ein »Leumund« gesucht, der die charakterlichen Eigenschaften von Zeugen erheben sollte. Andere Male wurden historische Zusammenhänge und die Möglichkeiten für ein Zusammentreffen zweier Referenzpersonen studiert, sodass auf diese Weise eine lückenlose Transmission annehmbar wurde. Ebenso wurde etwa gefragt, ob in einer längeren Kette der Weiter­gabe am Ende nur eine einzige Quelle, von der das fragliche Ḥadith kam, zu finden sei, oder ob unterschiedliche Personen am Ende einer solchen Kette von Überlieferungen standen, die alle letztlich dieselben Aussagen machten. Wo das der Fall war, wurde einem Ḥadith eine wesentlich höhere Wertigkeit zuteil als einem, das nur eine einzige Referenzperson als Quelle eines Spruches vorzuweisen hatte. Es wird damit schon deutlich, dass aufgrund solcher Untersuchungen eine Bewertungsskala entwickelt wurde, die die Überlieferungen zu reihen erlaubte. Bei »matn« wird über diese erste Stufe der Forschung hinausgegangen. Eine inhaltsmäßige Untersuchung der Ḥadithe folgte. Nun wurden auch Vergleiche zwischen verschiedenen Ḥadithen angestellt und gefragt, ob ähnliche Inhaltsaussagen auch in anderen Ḥadithen zu finden waren, die sich dadurch gegenseitig stützten und damit die Glaubhaftigkeit der Inhalte bestärkten. Inhaltsanalysen sind aber dann kaum durchzuführen, wenn nicht zugleich grammatikalische, syntaktische und semantische Analysen angestellt werden. Folglich wurde bald auch in diesen Bereichen eine intensive Forschung betrieben. Trotzdem fanden sich immer auch Fälle, wo trotz akribischer Nachforschungen am Ende Aussagen des Propheten standen, die sich gegenseitig widersprachen.

Widersprüche Ein Beispiel dafür findet sich etwa in der Beantwortung einer nicht unbedeutenden Frage für eine Religion, die sich nachdrücklich auf »das Buch« stützt, d.h. also die schriftliche Übermittlung der Worte Gottes 194

uṣul al-fiqh – aufbruch zu einer islamischen wissenschaft und des Propheten. Die Frage etwa, ob die Niederschrift der Ḥadithe und auch der Suren des Koran erlaubt sei (A.M.A. Zaidan, 2010, S. 123 ff.), beantwortete der Prophet zu verschiedenen Gelegenheiten widersprüchlich. Manchmal wurden ablehnende Antworten auf direkt an ihn gerichtete Bitten, seine Worte niederschreiben zu dürfen, übermittelt, manchmal aber forderte er sogar dazu auf. Was lässt sich aus solchen Widersprüchlichkeiten ableiten, wenn man voraussetzt, dass die Herkunft der entsprechenden Sätze makellos nachgewiesen und die Bedeutung der Worte Moḥammeds eindeutig ist? Fälle dieser Art verlangen, vor allem wenn daraus verbindliche Verhaltensanweisungen für die Gläubigen abgeleitet werden sollen, Interpretations- und Deutungsverfahren, die weder den Gesandten Gottes diskriminieren, weil er Widersprüchliches sagte, noch die sorgsam überprüfte Kette der Narratoren oder einen von ihnen in Zweifel ziehen. In solchen Fällen muss zur Kenntnis genommen werden, dass eine säuberliche Trennung in »ja« oder »nein« den Gegebenheiten der wirklichen Welt nicht immer gerecht wird. Die zahlreichen Gelehrten der Ḥadith-Wissenschaften fanden für dieses und ähnliche Dilemmata sehr unterschiedliche Antworten. Ich werde sie hier nicht detailliert aufzählen, sondern verweise einmal mehr auf das Lehrbuch von A.M.A. Zaidan (2010). Von höherem Interesse erscheint im Augenblick die Problematik des Umgangs mit Widersprüchen aus einer verallgemeinerten Sicht. Das arabische Wort für »Widerspruch« lautet »khilaf«. Dieselbe Fragestellung nach dem Umgang mit Widersprüchen war auch in der Antike, sowohl in Rom wie auch bei den Griechen, ein wiederkehrendes Thema, das bei Aristoteles überzeugende Antworten fand56. Wie gleich gezeigt wird, hat der Umgang mit solchen Problemen zur Institutionalisierung der Wissensvermittlung in Form von Schulen im Islam und damit zur Begründung einer Rechtswissenschaft, der »usuul alfiqh«, wesentlich beigetragen. An dieser Stelle steht fest, dass die Muslime aufgrund der geschilderten Entwicklungen nun begonnen hatten, ihre eigene Wissenschaft zu entwickeln. Diese islamische Wissenschaft formte sich an Fragen aus dem Bereich des Rechts. Doch andere Gebiete, die heute den Sprachwissenschaften oder der Geschichtsforschung zugezählt werden, waren ein integraler Bestandteil dieser »islamischen Wissenschaften«. Die spätere, dogmatisch bedeutende Unterscheidung zwischen diesen und den dann als »fremde Wissenschaften« bezeichneten erklärt sich daraus.

56 Siehe dazu: M. Schmutzer (2011), Band I, Kap. IX.

195

geburt eines rechtsstaats

Herrschaft des Rechts »Islam is, first and foremost, a nomocracy. The highest expression of its genius is to be found in law; and in its law is the source of legitimacy or other expressions of its genius […]«.

schreibt G. Makdisi (1981, S. 8). Ich übersetze den Term »nomocracy« mit »Herrschaft des Rechts«. Dieses Recht ist ein göttliches Recht, das, wie schon gesagt, nicht durch gesellschaftliche Instanzen gemünzt wurde. Allerdings ist es keinesfalls umfassend genug, um für alle möglichen Rechtsfälle auch befriedigende Antworten bereitzustellen. Andererseits gibt es keine legitime Instanz, die dazu berufen wäre, neue Gesetze zu erlassen. Jeder Rechtsakt muss sich aus den offenbarten Grundsätzen ableiten lassen. Auch die frühen, die sogenannten »rechtmäßigen Kalifen« von Abu Bakr bis ʿAli, waren aus dieser Sicht nichts anderes als Schiedsrichter, hukkaam, die durch ihre Autorität Streitfragen schlichteten, ohne dass sie über ein hinreichendes Gewaltmonopol verfügten, ihre Urteile auch durchzusetzen. Solange der islamische Staat territorial klein war und wenige Städte umfasste, war dies eine Möglichkeit, inneren Frieden zu erhalten. Doch sobald das Gebiet expandierte und, wie es heißt, in diesem Gebiet mehr als 4.000 Städte lagen, war diese Vorgehensweise nicht mehr praktikabel. Schon ʿUthman setzte »Qadis«, Richter, ein, weil Rechtsprechung auf andere Art nicht mehr möglich gewesen wäre. Diese Qadis begründeten ihre Urteile durch Verweise auf die »Sunnah«, die Sammlung der überlieferten und überprüften Ḥadithe und den Koran. Welche Ḥadithe sie dabei verwendeten, blieb ihrem Ermessen anheimgestellt, was in Anbetracht der Tatsache, dass es darunter auch sich gegenseitig widersprechende gab, die Rechtssprechung zu einem Lotteriespiel machte. So schreibt etwa Ibn Muqaffaʿ(gest. 759) in seiner überlieferten Arbeit über die Ṣaḥaba, das sind die »Gefährten des Propheten«, dass selbst innerhalb größerer Städte des Reiches widersprüchliche Urteile und Rechtsauffassungen existierten, was verständlicherweise zu sozialen Spannungen führen konnte. Das war sogar dann noch der Fall, als es bereits etablierte Rechtsschulen gab. Auch diese konnten unterschiedliche Auslegungen vertreten, die von den jeweiligen Rechtslehrern nach Gutdünken eingesetzt wurden. So wurde es spätestens in dem Augenblick klar, in dem das Reich eine so gewaltige Größe erreichte, wie wir sie kennen, dass die Notwendigkeit gegeben war, auch Konsens zwischen verschiedenen Rechtsauffassungen herzustellen. Wie weiter unten gezeigt wird, entstand in diesem Zusammenhang, ähnlich wie im spätrepublikanischen Rom und in der früher Kaiserzeit, bald auch ein gesteigertes Interesse 196

herrschaft des rechts an manchen philosophischen Arbeiten der Griechen. Doch bevor es so weit war, wurde selbstständig nach anderen Wegen gesucht und solche auch beschritten.

Die Wissenschaften der Ḥadithe (Uluumul-ḥadith) Der erste Weg aus den Dilemmata bestand darin, systematisch und akribisch arbeitende »Wissenschaften der Ḥadithe« (Uluumul-hadith57) zu entwickeln. Diese eigenständige Leistung war zunächst vorrangig dem Quellenstudium gewidmet. Man untersuchte sowohl die Transmissionslinien der Texte (arab. »isnad«), also wer von wem ein Ḥadith überliefert bekommen hat, als auch die sprachliche Korrektheit und die Übereinstimmung der Inhalte mit anderen Texten. Diese Art der Forschungsarbeit wurde im Westen noch kaum wahrgenommen, obwohl oder gerade weil dort Vergleichbares fehlte.58 Das Ergebnis dieser Arbeiten war die »Sunnah«, worunter alles verstanden wird, »[…] was durch den Gesandten Muhammed (salla-laahu’ alaihi wa sallam59) außer dem Quraan geboten und eingeführt wurde, da der Quraan von ihm ausschließlich weitergegeben wurde, ohne dass er mit seiner Hinabsendung, seinem Inhalt, seiner Ordnung oder seiner Ausformulierung etc. etwas zu tun hatte.« (A.M.A. Zaidan, 2010, S.35)60.

Es ergibt sich also aus dem bisher Gesagten von selbst, dass sich aufgrund jener »nomokratischen« Struktur im Islam früh die Erkenntnis breit machte, dass zumindest die Qadis eine bestimmte Ausbildung be57 In diesem Fall übernehme ich ausnahmsweise die Umschrift, wie sie im Lehrbuch von A.M.A. Zaidan (2010) verwendet wird, die sich von der von mir gewählten unterscheidet. 58 Obwohl dies gerade in der christlichen Lehre dringend benötigt worden wäre. Allerdings haben dies die »lateinischen« Christen – etwa Tertullian oder Augustinus – im Unterschied zu den »griechischen« – etwa Origines von Alexandrien – als unnötig betrachtet, weil sie einer göttlichen Autorität und ihrem festen Glauben zur Gänze vertrauten. Auch an diesem Beispiel wird einmal mehr der markante Unterschied zwischen Rom und Hellas deutlich, der schon in Kapitel I thematisiert wurde. 59 Diese Formel wird von Muslimen stets in Zusammenhang mit der Nennung des Namens des Propheten verwendet. Sie bedeutet »Allah möge ihm Gnade und Frieden gewähren«. 60 Dieses ausführliche Zitat soll u.a. auch zeigen, dass die Transkription arabischer Worte in die lateinische Schrift sehr unterschiedlichen Gepflogenheiten folgt. So wird hier z.B. »Koran« mit »Quraan« transkribiert.

197

geburt eines rechtsstaats nötigten. Diese Forderung blieb nicht nur auf die Gruppe der Richter beschränkt. In der Folge haben sich in Medina schon zu Zeiten ʿUmar ibn al-Khaṭabs erste Schulen gebildet, die aber kaum dokumentiert sind. Diese pädagogische Tendenz ergab sich nahezu von selbst, pflegte doch der Gesandte Gottes selbst in den Moscheen eine missionarische Lehrtätigkeit auszuüben. Seine Handlungsweisen hatten aber stets Vorbildcharakter für die eigenen Tätigkeiten der Muslime. Indirekt lässt sich allerdings ein Rückschluss auf die Existenz solcher frühen Schulen ziehen, wenn man zeitgenössische Berichte in Betracht zieht: So wird z.B. das Jahr 94 (712/713 n. Chr.) nach der Hidschrah als das »Jahr der Rechtsgelehrten« bezeichnet, und zwar deshalb, weil in diesem Jahr gleich mehrere Gelehrte verstarben. Diese Männer waren »ṣaḥaba«, d.h. sie zählten zu den »Gefährten« des Propheten und waren Bürger von Medina. Sie veröffentlichten aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungen und Erinnerungen an den Propheten Rechtsmeinungen – arabisch »fatwa« genannt – , und zwar nicht nur auf der Basis von akkreditierten Ḥadithen. Diese Gelehrten wurden, so wie bereits ʿUmar ibn al-Khaṭab, als »Fuqaha61«, also als »Rechtsgelehrte«, bezeichnet. Ihre Aussagen berücksichtigten die Sunnah, aber sie bemühten sich ebenso um Abstimmung zwischen dieser und den Regeln, die sie aus der medinensischen, vorislamischen Rechtstradition ableiteten. Ihre »fatawa«62 waren demnach Ergebnis ihrer »ra’y« (arab. Ansicht), ihrer individuellen Rechtsmeinung, die sie aufgrund vernünftiger Überlegungen erarbeitet hatten. Solche Rechtsmeinungen kamen durch Disputation im Kreise ihrer »ḥalqa«, also ihrer Schüler und Anhänger, zustande. Eine »fatwa« wurde aber in Abhebung zu dieser Gruppendiskussion stets allein im Namen eines individuellen Rechtsgelehrten veröffentlicht. Das hatte u.a. zur Folge, dass es öfter als einmal geschah, dass selbst solche in einem Diskurs erarbeiteten Rechtsmeinungen von unterschiedlichen Gelehrten, insbesondere aus unterschiedlichen Städten und Provinzen, zu gegensätzlichen Ergebnissen kommen konnten.

Malik ibn Anas Malik ibn Anas lebte in Medina (ca. 715–795) und war etwas jünger als Abu Ḥanifa aus Kufah, auf den wir noch zu sprechen kommen werden. Malik war nur einer jener Rechtsgelehrten, die dem Prinzip des Ra’y unter Einbindung der Sunnah anhingen63. Von seinen zeit­genössischen 61 Plural von »Faqih«. 62 Plural von »fatwa«. 63 Wir werden noch sehen, dass dieses Prinzip nicht überall vorherrschte.

198

rechtsgelehrte Kollegen in Medina unterschied er sich dadurch, dass »seine Schule« die Zeiten überdauerte. Ein Grund dafür war vermutlich auch die große Anzahl von Schülern, die er um sich sammeln konnte. Viele von diesen wanderten später in die nordafrikanischen, ägyptischen und andalusischen Gebiete aus und verbreiteten, ähnlich wie die Studiosi des Museon in Alexandrien, nur eine bestimmte Rechtsauffassung, die dann in diesen Gebieten dominant wurde. Ein mindestens gleich wichtiger Grund für seine nachhaltige Berühmtheit ist in seiner umfangreichen Publikation mit dem Namen »Muwaṭṭa« zu finden, die zur Grundlage der malikitischen Rechtsschule64 wurde. Dieses Werk war nicht das erste juristische Opus, das in Medina geschrieben wurde, doch es ist jenes, das am längsten erhalten blieb. Was seine Arbeit besonders auszeichnet, ist sein auf Konsens – idschma – ausgerichteter Zugang zu all den spannungsreichen Beziehungen zwischen der überlieferten Tradition der Ḥadithforschung einerseits und dem medinensischen Gewohnheitsrecht andererseits. Falls es ihm unvermeidbar schien, ignorierte er manche Überlieferungen der Ḥadithe, sodass letztlich die überlieferten Ḥadithensammlungen aus Medina nicht immer mit jenen anderer Städte übereinstimmten. Auch das blieb nicht ohne Folgen. Überliefert ist auch seine kluge und diplomatische Vorgehensweise, die vermutlich selbst vom Propheten gebilligt worden wäre, wenn er dies erlebt hätte. Malik setzte diese diplomatische Art aber nicht nur in Einzelfällen bei der inhaltlichen Auslegung und Auseinandersetzung mit den Materialen und anstehenden Fällen ein, sondern er erzeugte in ähnlicher Weise auch zwischen verschiedenen Rechtsgelehrten in Medina einen übereinstimmenden Konsens, wenn Streitfragen entstanden.

Rechtsgelehrte Damit beginnt der Begriff eines »Rechtsgelehrten« in den Blickpunkt zu rücken. Wann war jemand ein solcher? Abu Isaq asch-Schirazi, der im 11. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung lebte (gestorben ca. 1083), verfasste ein Buch mit dem Titel »Tabaqat al-Fuqahaʿ«, in dem die Biografien rechtmäßiger Rechtsgelehrter aufgelistet wurden. Einer der frühesten Namen, die darin aufscheinen, ist jener von Ibn ʿAbbas, der im Jahr 68 der Hidschrah, also 687 n. Chr., verstorben ist. Er ist demnach noch als Zeitgenosse den ṣaḥaba, den Weggefährten des Propheten, zuzurechnen. Seine Berechtigung, als Rechtsgelehrter aufzutreten, leitete 64 Nach Malik benannt.

199

geburt eines rechtsstaats sich aus derselben Argumentationsweise her wie jene, die die Korrektheit der Ḥadithe feststellte. Wenn sich irgendein Bezug zum Gesandten Gottes herleiten ließ, dann war die gewünschte Legitimation gegeben. War dieser Bezug einmal bestätigt, so wurde daraus eine intellektuelle Genealogie. Es wurde dann dokumentiert, dass etwa Ibn ʿAbbas seinen Schüler Ikrimah in Koran und den Ḥadithen unterwies. Wenn Ibn ʿAbbas irgendwann meinte, dass dessen Kenntnisse umfassend genug wären, so ermächtigte er ihn, Rechtsgutachten zu artikulieren und als Lehrer tätig zu sein. Damit wurde ein gangbarer Weg aufgezeigt, der in der weiteren Entwicklung ausschlaggebend werden sollte. Der Titel von Maliks Werk »al-Muwaṭṭa« deutet dies bereits an, denn er heißt nichts anderes als »geebneter Pfad«. Man könnte Malik ibn Anas daher als Begründer und Erfinder des »idschtihad« bezeichnen, jener Vorgehensweise, die in den meisten Fällen Konsens zwischen unterschiedlichen Rechtsmeinungen zu schaffen imstande war – und es auch noch heute ist. Muḥammed ibn Idris asch-Schafiʿi (gestorben 820), einer der herausragenden Rechtsgelehrten des Islam, hat später diese Vorgehensweise des »idschtihad« kanonisiert und sie nach Koran und Sunnah zur dritten akzeptablen Quelle des Rechts erhoben. Wie man solchen Konsens selbst erreichen kann, ist letztlich Ergebnis einer Methode, die weiter unten besprochen wird, weil sie mit dem Nachlass aus der Antike in auffälligem Einklang steht. Die Biografie Maliks ist nicht allein in den sogenannten »Klassen­ büchern« (»kutub al-ṭabaqat«) von Muḥammad ibn Saʿd aus Basra, der 845 in Bagdad starb, erhalten, sondern auch in den Gelehrtenbiografien von Ibn ʿAsakir aus Damaskus. Dieser schildert darin Begegnungen von Malik mit den abbasidischen Kalifen al-Manṣur, Harun-ar-Raschid und al-Mahdi. Ob diese tatsächlich stattgefunden haben, wird heute bezweifelt. Allerdings sind allein die Vermutungen, dass solche Begegnungen tatsächlich stattgefunden hätten, erwähnenswert, verweisen sie doch auf ein gesteigertes Interesse der abbasidischen Kalifen insbesondere an Rechtswissenschaften sowie an Wissenschaften im allgemeinen. Auch auf diesen Punkt werden wir in Kürze zurückkommen müssen. Kehren wir nun nochmals zur obigen Titulierung früher Rechtsgelehrter als »faqih, pl. fuqaha« zurück, so sehen wir, dass diese Bezeichnung schon bald auf Kritik vonseiten der oben genannten Gelehrten (asch-Schafiʿi und Ibn Saʿd aus Basra) stieß. Diese verstanden nämlich unter »Rechtswissenschaft« etwas gänzlich Anderes als nur die Veröffentlichung einer persönlichen Rechtsmeinung. Dieses neue Verständnis entwickelte sich aus der alltäglichen Rechtspraxis. Dort zeigte sich nämlich bald, dass die korrekte Zitation von Ḥadithen samt Nachweis ihrer Überlieferung noch nicht reichte, um rechtliche Urteile autoritativ zu legitimieren. Recht war in ihrer Wahrnehmung ein wesentlich kom200

rechtsgelehrte plexeres Gebiet als Ḥadithenforschung. Ḥadithe reichten nicht immer als mögliche Legitimationsquelle aus. Folglich wurden zusätzliche Quellen und Methoden als jene benötigt, die zur Autorisierung der Sunnah gebräuchlich waren. Korrektes Erinnern allein reichte in den Ḥadithwissenschaften ja schon nicht mehr aus. Einer zusätzlichen Fähigkeit, auch die Aussageninhalte zu verstehen, sie zu interpretieren und sinnvoll bei der Formulierung von einer »fatwa« (Rechtsgutachten) einzusetzen, musste bald eine wesentlich größere Bedeutung zugemessen werden als bisher.

ʿIlm al-fiqh – »dirayah« und »riwayah« Die neue qualitative Unterscheidung der Tätigkeiten von frühen Rechtsgelehrten äußerte sich in zwei Begriffspaaren, »riwayah« und »dirayah« bzw. »taqlid« und »idschtihad«. »Riwayah« bezeichnet die korrekte Übertragung oder Überlieferung, der zweite Term dieses Paares »dirayah« hingegen meint den überlegten und klugen Gebrauch dieses Materials. Dirayah wurde im Lauf der Zeit zu einem Synonym für »fiqh«, was »Recht« oder »Gesetz«, aber auch »Intelligenz« bedeutet. Usuul al-fiqh, oder auch ’ilm al-fiqh, bezeichnete dann eine neue Rechtswissenschaft, die in diesen Jahren allmählich entstand. Denn die Entwicklung hin zu einer eigenständigen Wissenschaft begann, wie wir schon gesehen haben, bereits früh, obwohl es letztlich dann doch geraume Zeit benötigte, bis die Frucht voll ausgereift war (G. Makdisi, 1981, S. 144 ff.). Neben dem erstgenannten Begriffspaar bürgerten sich zusätzlich zwei andere Unterscheidungen ein: »idschtihad« und »taqlid«. Sie differenzieren in analoger Weise zwischen einer selbstständigen Auslegung und Ableitung von Rechtsmeinungen einerseits, wogegen »taqlid« andererseits – so ähnlich wie riwayah – als »blinde Nachfolge« oder Überlie­ ferung verstanden werden könnte. Rückblickend erkennt man also im ersten islamischen Jahrhundert – vergleichbar mit analogen Entwicklungen im Athen des 5. vorchristlichen Jahrhunderts –, dass zuerst vereinzelt Schulen um eine bestimmte Persönlichkeit entstanden. Diese Männer folgten schlicht dem Beispiel65 des Propheten, der in der Moschee belehrende Unterweisungen nach den Gebeten gab. Seinem Vorbild gemäß wurden somit Moscheen zu den ersten islamischen Schulungseinrichtungen. Diese Rolle behielten die Bethäuser über weitere Jahrhunderte bei. Bedeutsame Unterscheidungen zwischen den »großen« Freitagsmoscheen, »dschami«, und 65 Ein solches Vorbild hatten allerdings die hellenischen Philosophen und Wissenschafter nicht!

201

geburt eines rechtsstaats den kleineren Alltagsmoscheen »masdschid« ergaben sich daraus. Eine »dschami« wurde regelmäßig von »ḥalqas«, Lehr-und Lerngruppen, besucht, die im Namen ihres Lehrers auch »fatawa66« veröffentlichen konnten. Unterrichtet wurden in den »dschawami‘67 allerdings – auch später – nur die sogenannten »islamischen Wissenschaften«. Recht (fiqh) – manchmal auch »fremde Wissenschaften« – wurde in eigenen, angeschlossenen »madaris68« (Madrasen) gelehrt. Wir sehen einmal mehr, dass sich ähnlich wie damals in Athen auch im Islam anfänglich einzelne Zirkel um »Privatlehrer« bildeten, welche aber nur selten zu ständigen institutionalisierten Einrichtungen aushärteten. Der Schritt zu etablierten Institutionen, den »Madaris«, erfolgte jedoch im Islam auf andere Art als in Athen. Eine der ersten Schulen, die sich sogar bis heute behauptete, war jene von Abu Ḥanifa (699–767). Sie ist als älteste muslimische Rechtsschule bekannt. Offenbar hat sie bereits im ersten muslimischen Jahrhundert ihren Anfang genommen. Abu Ḥanifa lebte allerdings nicht in Medina, sondern in Kufah, einer um 638 unter ʿUmar ibn al-Khaṭab gegründeten islamischen Garnisonsstadt, im heutigen Irak gelegen, die bald große Bedeutung erlangte.

Kufah Mehrere neue Städte, wie etwa Fusṭaṭ, das im Lauf der Zeit zu dem wurde, was heute Kairo ist, spielten in vielfältiger Weise eine hervorragende Rolle. Doch Kufah nahm früh eine außergewöhnliche Position ein, weil es unter ʿAli, dem vierten Kalifen, als erste Stadt zur neuen Hauptstadt des entstehenden Reiches wurde und so Medina entthronte. Doch zusätzlich kam Kufah auch deshalb eine große Bedeutung zu, weil diese Stadt von Anfang an ein Ort des Widerstandes gegen die Kalifen war. Die Frage liegt nahe, was die Gründe für diese rebellische Einstellung waren. Wie in vielen ähnlichen Fällen auch, ist eine Antwort auf diese Frage nicht einfach. Auch wenn die Muslime das Perserreich in kurzer Zeit militärisch erobert hatten, so bedeutete das noch nicht, dass deshalb auch die Bevölkerung schon unterworfen und zur Anerkennung der neuen Herrschaft bereit war. Die alte persische Nobilität verstand es zwar, sich geschickt mit den neuen Herren zu arrangieren, doch bedeutete dies noch nicht, sie auch zu akzeptieren. Kufah lag in der Nähe der alten persischen Hauptstadt 66 Pluralform von »fatwa«. 67 Pluralform von »dschami«. 68 Pluralform von »madrasah«.

202

kufah Ktesiphon, die zwar von den Muslimen eingenommen worden war, doch versteht sich von selbst, dass gerade in und um die alte Hauptstadt zahlreiche Familien lebten, die subkutan Widerstand leisteten. Die wiederkehrenden Aufstände in und um Kufah bestätigten diese Zusammenhänge zumindest indirekt. Diese Widerstände wurden einerseits dadurch verstärkt, dass in diesem Umfeld keine traditionellen arabischen Familien verwurzelt waren. Es gab dort niemanden, der sich seiner Herkunft nach auf Abraham berief. Andererseits drängte eine große Zahl von Entwurzelten aus den neu eroberten Gebieten im Osten und Norden in dieses neue, dominante Verwaltungszentrum. Mit anderen Worten brodelte eine bunte Vielfalt von Menschen und Glücksrittern in dieser Stadt, die dadurch schwer zu kontrollieren und zu beherrschen war. Kufah war von Anfang an als Ausgangspunkt für das weitere Vordringen der Muslime nach Osten und Norden geplant, denn Medina lag für Unternehmungen dieser Art allzu weit im Abseits. Kufah diente daher auch als Kondensationspunkt für die notwendige neue Verwaltung der eroberten Gebiete. Es war demnach ein Ort, an dem sich mannigfaltige Interessen trafen, überlagerten und gegenseitig bekämpften, aber zugleich auch ein Platz, der zahllose neue Möglichkeiten offerierte. Es wird nicht erstaunen, dass ein besonders fähiger Statthalter für dieses lebendige Gebilde benötigt wurde, den ʿUmar in der Person von Saʿd gefunden zu haben glaubte. ʿUmar stellte ihm einen alten, getreuen Gefährten des Propheten, ʿAbd Allah ibn Masʿūd, mit dem Auftrag zur Seite, das dort zu errichtende Bayt al Mal zu verwalten. Dieses hatte die Aufgabe eines Schatz- und Finanzamtes zu erfüllen. Zusätzlich aber hatte ʿAbd Allah ibn Masʿūd auch noch den Auftrag, die dortigen Menschen zu erziehen, was damals bedeutete, ihnen den Islam nahe­ zubringen.

Der Träger der Zahnbürste Für beide Aufgaben war ʿAbd Allah ibn Masʿūd hervorragend geeignet. Er pflegte nicht nur einen ähnlichen Lebensstil wie ʿUmar, was bedeutete, dass er keinen Wert auf weltliche Besitztümer legte und demnach weder korrumpierbar noch bestechlich war. Zusätzlich verfügte er auch über beste Kenntnisse des Korans. Er galt damals wie heute als einer der versiertesten Rechtsgelehrten des Fiqh. Seine fatawa wurden stets anerkannt, und angeblich wagte es niemand, ihnen etwas entgegen zu setzen. Sein herausragendes Wissen hatte er sich aufgrund des Umstandes erworben, dass er – so könnte man heute sagen – Kammerdiener des Propheten war. Das trug ihm u.a. die Bezeichnung »Ṣaḥib-as-Siwak«, 203

geburt eines rechtsstaats Träger der Zahnbürste, ein. Ibn Masʿūd nahm seine Aufgaben ernst und unterrichtete in Kufah zahllose Zuhörer im neuen Glauben. Daher kamen auch aus seiner Schule nicht wenige Rechtsgelehrte, die zur Entwicklung von Fiqh wesentliche Beiträge lieferten. Es bahnte sich also früh ein Konkurrenzverhältnis zu Medina an. Ibn Masʿūd diente dem Glauben unter den ersten drei Kalifen, doch auch er hatte einen Makel, wenn man ihn aus der Perspektive des dritten Kalifen und seiner Banu betrachtet. Als enger Gefährte des Gesandten Gottes verfügte er über ein riesiges Detailwissen über einzelne Offenbarungen des Koran, wie auch über das Leben des Propheten und seine sonstigen Aussagen und Gepflogenheiten, die in den Ḥadithen gesammelt wurden. Diese Kenntnisse flossen auch in seinen Unterricht ein, obwohl sie nicht immer mit dem in Übereinstimmung standen, was als offizielle, letztgültige Version des Koran vom dritten Kalifen ʿUthman verbreitet wurde. Ich habe bereits oben angedeutet, dass der Kalif ʿUthman ibn ʿAffan auf der Grundlage von Aufzeichnungen aus der Feder von Zayd ibn Thabit, einem »Sekretär« Moḥammeds und Hafṣahs69, eine verbindliche Fassung der heiligen Schrift beauftragt hatte. Ebenso habe ich erwähnt, dass ʿUthman umsichtig dafür gesorgt hat, dass abweichende Varianten verbrannt wurden. Scheinbar war es aber dem Kalifen trotz allem nicht möglich gewesen, alle Exemplare mit alternativen Fassungen des Koran zu eliminieren. Ibn Masʿūd in Kufah weigerte sich z.B., dies zu tun. Er verbreitete seine Sicht der Lehre weiterhin mündlich nach seinem eigenen Verständnis oder Gedächtnis in der Moschee. Und Ibn Masʿūd war in Kufah offenbar nicht der Einzige, der dafür bekannt war. Es gibt Ḥadithe, in denen ein halbes Dutzend prominenter Rechtsgelehrter genannt wird, die alle in Kufah weilten und die nicht mit der offiziellen, sunnitischen Version übereinstimmten. Unter diesen Namen finden sich der bereits genannte Malik ibn Anas, oder Ḥudhayfah, beide prominente futaqah70 und ṣaḥaba 71.

Malik al Aschtar und der Sturz ʿUthmans Ein weiterer bedeutender Vertreter dieser Gruppe von Lehrern und Gelehrten war Malik al Aschtar, der gleichfalls in Kufah unterrichtete. Über diesen engen Vertrauten des Propheten und Kenner des Koran, der zusätzlich ein bedeutender Feldherr war, wird eine Erzählung kolpor69 Hafṣah war, wie erwähnt, eine der Frauen Moḥammeds und zugleich eine Tochter Umars. 70 Plural von »Faqih«. 71 Plural von»ṣaḥib«.

204

kufah tiert, die die damaligen politischen Zusammenhänge besser verstehen lässt: Angeblich führte Malik einmal eine Delegation von Kufah nach Medina, die sich über den damaligen, von ʿUthman eingesetzten neuen Statthalter Kufahs, Walid ibn ʿUqba72, beschweren und dessen Absetzung fordern sollte. Walid ibn ʿUqba war Halbbruder ʿUthmans und angeblich nicht nur ungerecht und besitzgierig, sondern auch ein Säufer – eine Schwäche, die der Islam nicht toleriert. Der Kalif, der sämtliche bedeutende Posten im expandierenden Reich mit Männern seines Clans besetzte, lehnte allerdings die Bitte um Absetzung zunächst ab. Die Delegation wandte sich daher an ʿAli, den bislang übergangenen Schwiegersohn des Propheten, der als Imam und Vorstand des Ahl al Bayt über eine bedeutende Anhängerschaft in Medina und politisches sowie religiöses Gewicht verfügte. ʿAli konnte zunächst den Kalifen dazu bewegen, die Abberufung seines Halbbruders zu versprechen. Doch an diesem Punkt tritt ein anderer Umayyade73 auf den Plan, Marwan ibn al Ḥakam, der Sekretär des Kalifen. Dieser war ein Neffe ʿUthmans und Sohn eines Mannes, den der Gesandte Gottes wegen zersetzender Tätigkeiten innerhalb der Ummah aus Medina nach Ṭa’if verbannt hat. Weder Abu Bakr noch ʿUmar wagten es, dieses Verdikt des Propheten rückgängig zu machen, doch ʿUthman zögerte nicht. Er holte den verbannten Vater von Marwan ibn al Hakam zurück nach Medina, verheiratete dessen Sohn Marwan mit einer seiner Töchter und setzte diesen schließlich als Statthalter des Hidschaz ein, das ist die Region von Medina. Marwan, der ähnlich aggressive Revanchegelüste wie sein Vater gehabt haben dürfte, überzeugte ʿUthman davon, den berüchtigten Statthalter von Kufah nicht abzusetzen, sondern stattdessen seine diesbezügliche Zusage zu annullieren. Spätestens an dieser Stelle wurde das durch die permanente Ausgrenzung ʿAlis von der Nachfolge ohnehin angespannte Verhältnis zu einem offenen Zerwürfnis zwischen dem Clan der Umayyaden und dem Ahlal-Bayt unter der Führung ʿAlis. Dieses Zerwürfnis spaltete schließlich auch das Madinat74 in Anhänger des Ahl-al-Bayt und in die Anhängerschaft jener Kalifen, die seit Abu Bakr die Herrschaft ausgeübt hatten75. 72 Walid ibn ʿUqba wurde bereits im ersten Jahr des Kalifats von ʿUthman, 645 n. Chr., als Statthalter eingesetzt. 650 wurde er von Zayd ibn al Aʿas abgelöst. Diesem folgte 654 Abu Musa al Aschʿari, der also in der bedeutsamen Umbruchszeit nach der Ermordung ʿUthmans ausübender Statthalter in Kufah war. 73 Zur Erinnerung: Der Clan ʿUthmans. 74 Die Gemeinde von Medina. 75 Es scheint vielleicht von Interesse zu erwähnen, dass ʿUthman selbst auf merkwürdige Weise zur Herrschaft kam. Angeblich verlief die Wahl des Nachfolgers von ʿUmar in folgender Weise: Das vom sterbenden Vorgän-

205

geburt eines rechtsstaats Angemerkt werden muss an dieser Stelle, dass ʿAli eben mit Faṭimah, einer Tochter Khadidschahs, der ersten Frau des Propheten, verheiratet war. Die Unzufriedenheit mit den Statthaltern ʿUthmans blieb nicht nur auf Kufah beschränkt. Auch in Basra und vor allem in Ägypten mehrte sich der Unmut. 654 sah sich daher der Kalif genötigt, seine Vertreter in den Provinzen nach Medina zu beordern. Ein Beschluss dieser Versammlung lautete, dass unabhängige, doch loyale Emissäre die Zustände in den Provinzen erheben sollten. ʿUthman schickte Vertrauensleute nach Basra, Kufah, Scham (Syrien) und Ägypten. Mit Ausnahme eines dieser Emissäre brachten alle positive Berichte nach Medina, nur der ägyptische Gesandte ʿAmmar ibn Yasir erschien nicht wieder. Er war nämlich ein Freund ʿAlis und schloss sich daher in Ägypten den Rebellen an, die von den Gefolgsleuten ʿAlis unterstützt wurden. Bemühungen des ägyptischen Statthalters, gegen die Anhänger ʿAlis vorzugehen, wurden anscheinend von ʿUthman nicht gebilligt. Da sich damit die Lage für ʿUthman nicht verbesserte, berief er im darauf folgenden Jahr anlässlich der Hadsch eine große Versammlung nach Mekka ein. Dort hielt er vor der Gemeinde eine ausführliche Rede und lud in Anschluss daran jeden ein, seine Beschwerden vorzubringen. Es zeigte sich aber, dass die Mehrheit den Ausführungen ʿUthmans Glauben schenkte, weshalb die Anhänger ʿAlis wenig Gegenliebe fanden. Für einige Zeit beruhigte sich die Situation, allerdings beschloss einer der Anhänger ʿAlis, Moḥammed ibn Abi Bakr, ein Pflegesohn ʿAlis, aus Ägypten zurück nach Medina zu kommen. Dieser verstärkte nun auch in Medina die Agitationen gegen ʿUthman, sodass die Stadt noch mehr gespalten wurde. In Anbetracht der sich zusehends verschlechternden Lage in Medina berief ʿUthman den Statthalter Ägyptens nach Medina, um mit ihm die Lage zu beraten. Seine Abwesenheit in Ägypten benutzten allerger bestimmte Gremium von sechs Männern, aus deren Mitte der Kalif gewählt werden sollte, bestand zunächst nur mehr aus fünf Wahlmännern, weil einer nicht in der Stadt anwesend war. Von diesen erklärte ein anderer, am Kalifenamt kein Interesse zu haben, doch als unparteiischer Schiedsrichter zu agieren. Er stand damit nicht länger zur Wahl. ʿAli, der dieser Gruppe angehörte, enthielt sich der Stimme. ʿUthman stimmte angeblich für ʿAli, einer für ʿUthman. Einer enthielt sich der Stimme bzw. erklärte, dass ihm beide recht wären. Folglich war Stimmengleichheit gegeben. Um dieses Patt aufzulösen, beriet sich der Schiedsrichter mit führenden Personen außerhalb dieses Gremiums. Wer und wie viele das waren, ist unbekannt. Aufgrund dieser Konsultationen wurde schließlich ʿUthman zum Kalifen ausgerufen (Siehe dazu: Al-Bukharî, XCIII; 43; XXIII, 96. Bei der Reclam-Ausgabe der Hadithe bitte Konkordanz beachten.). ʿAli verweigerte daraufhin angeblich den Treueid.

206

kufah dings die Gegner ʿUthmans unter Moḥammed bin Abi Ḥudhaifa76 zu einen Staatsstreich. Sie konnten dort die Macht übernehmen. Die Bemühungen des abgesetzten Statthalters, die Entwicklungen rückgängig zu machen, blieben mangels Mittel erfolglos. Diese Neuigkeiten aus Ägypten blieben nicht geheim. In Basra machte daraufhin der dortige Regent einen ähnlichen Fehler wie sein ägyptischer Kollege. Er verließ die Stadt, um sich auf Pilgerfahrt nach Mekka zu begeben. So begann auch dort ein Zersetzungsprozess, der bald auf Kufah übergriff. Abu Musa al Aschʿari, dortiger Statthalter, war ebenfalls nicht in der Lage, die Entwicklung in den Griff zu bekommen, da inzwischen Malik al-Aschtar auf Anordnung ʿAlis aus Medina nach Kufah zurückgekehrt war. Malik al-Aschtar, der in Kufah stets einen guten Ruf hatte, predigte in den Moscheen, und es gelang ihm, eine große Anhängerschar für ʿAli zu gewinnen. Die drei aufständischen Provinzen Ägypten, Basra und Kufah sandten nun Delegationen in der Stärke von etwa tausend Mann nach Medina, wobei zumindest die ägyptische mit dem Auftrag ausgestattet war, ʿUthman zu ermorden. Alle drei Delegationen nahmen dort Gespräche mit potentiellen Anwärtern auf das Kalifat auf, die aber keinen Erfolg zeitigten, da die angesprochenen Personen das angebotene Kalifat ablehnten. Die Bevölkerung Medinas wurde durch diese Gespräche noch tiefer gespalten und noch mehr verunsichert. Daher schmolz die Anhängerschaft ʿUthmans im Madinat, die schließlich nur mehr aus den Umayyaden bestand. Deshalb konnten die Rebellen in einem nächsten Schritt damit beginnen, das Haus ʿUthmans abzuriegeln und zu belagern. Während eines Moscheebesuchs ʿUthmans kam es nach einer Ansprache des Kalifen zu Handgreiflichkeiten. ʿUthman wurde verletzt. Durch diesen kleinen Erfolg scheinbar bestärkt, steigerten die Aufsässigen ihre Belagerung und schnitten das Haus ʿUthmans von jeglicher Versorgung ab. Der Eingang ins Haus wurde zwar von Leuten und sogar den Söhnen ʿAlis bewacht, doch irgendwann überstiegen einige der Belagerer die rückwärtigen Mauern und drangen ins Innere der Residenz vor. Nachdem sie den Raum erreichten, in dem sich ʿUthman befand, töteten sie ihn ungehindert. Damit war der Rache noch nicht genug getan. Man unterband nun auch die Abhaltung von Begräbnisfeierlichkeiten, sodass schließlich der Kalif erst nach drei Tagen und nur heimlich in der Nacht im jüdischen Friedhof ohne die üblichen rituellen Handlungen begraben wurde.

76 Moḥammed bin Abi Hudhaifa war ein Adoptivsohn ʿUthmans, den er allerdings nicht zum Statthalter ernennen wollte. Folglich schloss er sich den Gegnern ʿUthmans an.

207

geburt eines rechtsstaats

Schi‘a Nach diesem Attentat stellte sich erneut die ungeregelte Frage der Nachfolge. In Anbetracht der Umstände seines Todes hinterließ ʿUthman keine Anweisungen, wie seine Nachfolge zu bestimmen sei. Diesmal ergriff ʿAli, der Schwiegersohn des Propheten, die Chance und erklärte sich zum legitimen Nachfolger, u.a. auch unter Berufung auf ʿAbd Allah ibn Masʿud, der berichtete, dass ihm in der Nacht des Dschinn (siehe 72. Sure) der Gesandte Gottes mitgeteilt hätte, dass ʿAli sein Nachfolger, d.h. Kalif, werden solle. Dieses Ḥadith wird allerdings von Sunniten als »schwach« bewertet, weil weitere Zeugen fehlen. Von der Schiʿa wird es hingegen voll anerkannt. ʿAli nahm nun den Ältesten der Häuser den Treueid ab und wurde damit als vierter Kalif bestätigt. Vor allem Muʿawiya, der Statthalter von Syrien und treuer Gefährte ʿUthmans, weigerte sich jedoch, diesen Eid zu leisten. Er bestand darauf, dass zuvor ʿAli eine Verurteilung der Attentäter erwirken solle. Da sich aber offenbar Anhänger ʿAlis unter diesen befanden, konnte ʿAli daran kein Interesse haben. Er zögerte die Untersuchungen hinaus. Damit war aber Muʿawiya Zeit gegeben, die Gegner ʿAlis zu sammeln und einen Krieg gegen den neuen Kalifen zu planen. Wertvolle Unterstützung fand er in Medina in der Person vonʿAischah, der Tochter Abu Bakrs und der angeblichen Lieblingsfrau des Propheten. Zwischen ihr und ʿAli bzw. dessen Frau Faṭimah, einer Tochter Moḥammeds und Khadidschas, müssen kaum überbrückbare Differenzen bestanden haben. Tatkräftig und emotional wieʿAischah77 gewesen sein dürfte, begann sie den Widerstand gegen ʿAli in Medina zu organisieren und sich u.a. mit Marwan, dem erklärten Erbfeind der Haschemiten, zu verbinden. Die Situation innerhalb von Medina wurde noch angespannter. Aggressive Akte gegen ʿAlis Haus waren nun nicht auszuschließen, eine Möglichkeit, die ja schon einige Jahre davor Malik al Aschtar bewogen 77 Wie ein zeitlich späteres Ereignis verdeutlicht, muss ʿAischah, der Liebling des Propheten, unsagbare Eifersucht gegen Khadidscha, die erste Frau des Propheten, empfunden haben. Diese war zwar bereits lange vor der Heirat mit ʿAischah verstorben, doch Moḥammeds Zuneigung und Hochschätzung für Khadidscha scheint jene zu ʿAischah weit übertroffen zu haben. Deutlich erkennbar wurde die Ursache dieses Hasses auf das Haus ʿAlis, als Ḥasan, ein Sohn ʿAlis und folglich Enkel Khadidschas verstarb und neben Moḥammed bestattet werden sollte. ʿAischah verweigerte dies mit der Begründung, dass sie es nie zulassen werde, dass ein Enkel Khadidschas in ihrem Haus (wo sich das Grab des Propheten befand) bestattet werde.

208

schi‘a hatte, zum Schutz ʿAlis weiter in Medina zu verweilen. Gleichzeitig blieb die Lage in Kufah ähnlich schwierig und aggressiv wie zuvor. ʿAli beschloss daher, seinen Herrschaftssitz nach Kufah zu verlegen, wo er sich offenbar größere Unterstützung erwartete. Um diese Annahme zu festigen, schickte er zuerst seinen ältesten Sohn Ḥasan mit Gefolgschaft nach Kufah und bald darauf Malik al Aschtar. Dieser war in Kufah hoch angesehen, und so schaffte er es, gegen den amtierenden Statthalter Abu Musa al Aschʿari aufzutreten und eine große Gefolgschaft für ʿAlis Kalifat zustande zu bringen. ʿAli verließ darauf Medina und machte nun Kufah zu seiner Residenzstadt. Das bedeutete eine nicht unbeträchtliche Entwertung Medinas. Er entzog sich damit zugleich auch einer drohenden Auseinandersetzung mit ʿAischah und dem von ihm abgesetzten Statthalter von Medina, Marwan ibn al-Ḥakam. Tatendurstig und leidenschaftlich, wieʿAischah gewesen sein muss, zieht sie aber bald darauf als Anführerin eines Heers nach Kufah. So kommt es zur berühmten »Kamelschlacht« (656 n. Chr.) und somit zum offenen Bürgerkrieg, dem ersten »Fitnah«.ʿAischah verlor die Schlacht und wurde gefangen genommen. Doch ʿAli, der strikt gläubige Moslem und »Philosoph«, schickte sie mit Geleit wieder zurück nach Medina. Dieser Akt war hochherzig – ob er politisch klug war, ist fraglich. Und wie wir gleich sehen werden, machte ʿAli noch mehr vergleichbare taktisch-strategische, doch aus islamischer Sicht ethisch-moralisch wohl begründete Fehler, die ihm letztlich auch das Leben kosten sollten. Mit dem Sieg gegen ʿAischah war die Lage keineswegs geklärt. Muʿawiya, der ja nie den geforderten Treueid geleistet hatte, rüstete zu einem neuerlichen Kampf, nachdem ihn ʿAli als Statthalter von Scham, d.h. Syrien, abgesetzt hatte. Eine weitere Schlacht war scheinbar unvermeidbar, die Heere beider Seiten zogen entlang des Euphrat aufeinander zu. Sie trafen (657) in der Nähe von Ṣiffin aufeinander und wurden in eine hitzige Auseinandersetzung verwickelt, die kein Ergebnis brachte. Am folgenden Tag zogen die Heere erneut gegeneinander. Doch viele der Soldaten Muʿawiyas hefteten Suren des Koran auf ihre Lanzen, was ihren muslimischen Glauben unter Beweis stellen sollte. Da der Koran die Tötung von Muslimen durch andere Muslime strikt untersagt, gebot der streng gläubige Kalif ʿAli den Kampf einzustellen und bot stattdessen an, mit Muʿawiya in Verhandlungen einzutreten. Dieser durch die Religion begründete Beschluss erwies sich als fatal, zumal ʿAli auch noch den Fehler beging, Abu Musa al Aschʿari, den früheren Statthalter von Kufah, als Verhandlungsführer einzusetzen. Eine Folge seines idealistischen Entscheids war, dass sich Teile seines Heeres von ihm absetzten und eine eigene radikale »Sekte«, die Kharidschiten, gründeten. Diese bezichtigten nun ʿAli der Ungläubigkeit, weil sie jedes Ergebnis der nicht stattgefundenen Schlacht als Gottesurteil verstanden 209

geburt eines rechtsstaats wissen wollten, dem sich ʿAli durch die Verhandlungslösung angeblich entzogen hätte. Wie die weitere Entwicklung zeigen sollte, hatten die Kharidschiten in einer gewissen Weise nicht unrecht. Die Verhandlungen zogen sich – wie die Schiʿa meint, durch Verrat aufseiten Abu Musas – ohne Ergebnis über Jahre hin. ʿAli war jedoch nun in seinem eigenen Lager extrem geschwächt, musste er sich doch permanent mit den aufständischen Kharidschiten auseinandersetzen. Das Ende der Entwicklung wurde erst 661 gesetzt, als einer der Aufständischen ʿAli in der Moschee ermordete. Offizieller Nachfolger sollte nun sein Sohn Ḥasan sein, doch Muʿawiya versäumte die Chance nicht, sich selbst zum Kalifen auszurufen. Mit dem gewaltsamen Tod ʿAlis war allerdings der anhaltende Nachfolgestreit der Kalifen keineswegs beendet.

210

kapitel v

Protowissenschaften Imamat Die komplexe politische Geschichte des Islam im Detail nachzuerzählen kann hier nicht das zentrale Anliegen sein, allerdings müssen wesent­ liche Teile daraus dargestellt werden, um jene intellektuelle Entwicklung zu verstehen, die zur Pflege und Entfaltung islamischer Wissenschaften führte. Aus den vorausgehenden Schilderungen lässt sich bereits erkennen, dass die Konsequenzen der doppelten Rolle, die der Prophet als Religions- und Staatsgründer spielte, aufgrund der gewaltigen Expansion des Staates von niemandem vorhergesehen werden konnten. Schon im innersten Zirkel der Gefährten, der »ṣaḥaba« des Gesandten Gottes, koexistierten zwei unterschiedliche Orientierungen, die der Prophet noch zusammenzuhalten verstand. Auf der einen Seite standen die Machtpolitiker und Kämpfer, die in naivem Glauben, mit Vertrauen und sippenhafter Treue dem anerkannten Oberhaupt folgten. Die meisten davon stammten aus wohlhabenden Familien und waren herrschaftliches Denken und nutzenorientiertes, oft risikobehaftetes Handeln gewöhnt. Auf der anderen Seite standen die Abkömmlinge eines Abi Ṭalib, die auf Worte vertrauten, dem »Buch« – das ist in diesem Fall nicht nur der Koran, sondern meint auch andere schriftliche Überlieferungen – verschrieben waren und offenbar auch eigene Schriften verfassten. Sie pflegten Spiritualität und setzten auf Moral und Ethik. Es kann nicht überraschen, dass die »Macher« auf der einen Seite den »Denkern« auf der anderen Seite misstrauten und sich ihnen und ihren komplexen Entscheidungen nicht gerne unterordnen wollten. Genauso wenig wird die kontemplative Seite allzu großes Vertrauen in jene Machtpolitiker gehabt haben, die immer, wenn es sich nötig erweisen sollte, das »Wort« gering schätzten und abstrakte Prinzipien als hinderlich für ihre Interessen betrachteten. Das überlegende und zutiefst unpolitische Denken ʿAlis zeigte sich bereits im Vorangehenden. Es wurden Prinzipien gelebt, Schlachten abgebrochen, Verträge angestrebt, das Ritual eines Begräbnisses über die augenblicklichen politischen Bedürfnisse gestellt, die entschlossenes Handeln erfordert hätten. So benötigte ʿAli vierundzwanzig Jahre, bis er seinen (vermutlich legitimen) Anspruch auf die Nachfolgeschaft des Propheten stellte. Das war eine lange Zeit, und die Machtverhältnisse veränderten sich inzwischen grundlegend. Die Ummah war nicht mehr 211

protowissenschaften in derselben Weise solidarisch, wie sie es früher einmal war. Doch ʿAli entwickelte und pflegte mit seinem Ahl al Bayt, mit Leuten wie Abdullah ibn Masʿud oder Malik al-Aschtar lieber das »intellektuelle Kapital«, das er seinen Söhnen Ḥasan und Ḥusain und anderen Anhängern mitgeben wollte. Er störte damit die Bestrebungen der Emire, d.h. der Kalifen, die auch im religiösen Bereich mit der Kanonisierung des heiligen Buchs Macht ausüben wollten. Vor allem die Hadithe, die in der Sunnah kompiliert und kodifiziert wurden, wurden nicht nur mithilfe von wissenschaftlichen Argumenten selektiert, sondern auch mit politischen Hintergedanken. Sie stimmten daher nicht immer mit den Ansichten des Ahl al Bayt überein1, und umgekehrt bei den alternativen Sammlungen nicht mit den politischen Ansichten der Emire. Da sich offenbar in der Zeit des geduldigen Wartens und Reflektierens ʿAlis die Machtverhältnisse in Medina sehr zu seinen Ungunsten entfalteten, verließ er die Stadt und trug sein Wissen und seine kontemplative Einstellung mit sich nach Kufa. Sein gewaltsamer Tod dort änderte allerdings kaum etwas an der Gesamtsituation. Wie wir bereits wissen; erhob nach dessen Tod der Umayyade Muʿawiya Anspruch auf das Kalifat, und Gleiches machte auch der älteste Sohn ʿAlis, Ḥasan, dessen Anspruch auf das Kalifat von den Bewohnern Kufahs unterstützt wurde. Eine Auseinandersetzung zwischen den Lagern war damit erneut vorprogrammiert. Beide Seiten stellten beachtliche Armeen auf und marschierten gegeneinander. Sie trafen in der Nähe von Sabat an den Ufern des Euphrat aufeinander – und nun scheint sich die Geschichte zu wiederholen. Nach verschiedenen unergiebigen Scharmützeln kam es wieder einmal zu Verhandlungen, die tatsächlich einen Vertrag zustande brachten. Ḥasan verzichtete auf das Kalifat unter der wichtigen Bedingung, dass es nach Muʿawiyas Tod an Ḥasan oder an dessen Bruder Ḥusain weitergegeben würde. Diese schiitische Darstellung wird allerdings von den Sunniten anders überliefert. Letztere behaupten, dass vereinbart wurde, dass nach dem Tod Muʿawiyas im Rahmen einer »schura«, einer Versammlung der Ummah, ein neuer Kalif als Nachfolger gewählt werden sollte. Welche Version den tatsächlichen Verhandlungsergebnissen entspricht, bleibt bis heute unentschieden, doch klingt die sunnitische Variante weniger überzeugend, denn dann hätte es ja gar keines Vertrags bedurft. 1 Damit soll nichts darüber gesagt sein, welche Versionen nun die korrekten wären. Ein Beispiel: Der Begriff des »Ahl al Kisa«, die »Angehörigen des Mantels«, den Moḥammed nach der Überlieferung in einem Hadith über Fatimah, Ali und deren Söhne breitete, wird von der Sunnah nicht anerkannt, weil er als Legitimation für die Nachfolge gewertet wird.

212

imamat Als Folge dieser Übereinkunft zieht sich Ḥasan zusammen mit seinem jüngeren Bruder und Angehörigen nach Medina zurück. Ḥasan fand allerdings aufgrund seines Verzichts auf das Kalifat keine erfreulichen Lebensumstände in Medina vor. Er wurde mehrfach, auch noch nach seinem Tod, gedemütigt. Trotzdem verschenkte er sein Vermögen großzügig an die Armen der Stadt. Dies bestätigt einmal mehr die idealistische Grundeinstellung der Angehörigen des Ahl al Bayt und demonstriert zugleich auch ihre politische Realitätsverweigerung. Denn wegen der anhaltenden Bedrohung seiner Nachfolge im Kalifat durch Ḥasan schaffte es Muʿawiya, eine der Ehefrauen Ḥasans mit dem Versprechen zu locken, sie zur Gemahlin seines Sohnes Yazids zu machen, wenn es ihr gelänge, Ḥasan zu vergiften. Die einfältige Frau fiel auf seine Versprechungen herein und vergiftete Ḥasan. Doch auch sie erhielt nicht, was ihr zugesagt wurde: Sie wurde mit einem anderen Mann verheiratet. Wie kaum anders zu erwarten, brach Muʿawiya ohne Zögern den ursprünglichen Vertrag, indem er seinen Sohn Yazid zu Lebzeiten zu seinem Nachfolger erklärte. Dieser Vertragsbruch sollte nicht ohne Folgen bleiben. Es kam zu wiederkehrenden Unruhen in Kufah und an anderen Orten. Nach Muʿawiyas Tod (680 n.Chr.) trat Yazid erwartungsgemäß und entgegen dem ursprünglichen Vertrag das Kalifat in Damaskus an, das inzwischen zur Hauptstadt gemacht wurde. Ḥusain, der jüngere Bruder Ḥasans, der der vertraglich verbriefte Nachfolger Muʿawiyas sein sollte und der seit dem Tod Ḥasans die Rolle des Imam in Medina übernommen hatte, wurde von Aufständischen in Kufah eingeladen, dort als Imam auch das Kalifat anzutreten. Al-Ḥusain vertraute offenbar dem Angebot, ohne zu prüfen, ob es auch realisierbar wäre, und zog mit einer Gefolgschaft von etwa 70 Personen, Frauen und Kindern gegen Kufah. Noch am Weg dorthin traf er eine angeblich tausend Mann umfassende Militäreinheit des Statthalters von Kufah. Diese zwang ihn, statt nach Kufah nach Karbala zu ziehen und ein Lager aufzuschlagen. Dort wurden sie hingehalten, bis ihre Vorräte zu Ende gingen. Anschließend wurden sie in ein Gefecht verwickelt, das mit seinem und dem Tod sämtlicher Anhänger Ḥusains (680 n.Chr.) endete. Nicht genug damit: Al-Ḥusains Leiche wurde enthauptet und der Kopf als Trophäe nach Damaskus geschickt. In dieser »Schlacht«, die vielleicht wegen der Ungleichheit der Kräfte nicht als solche bezeichnet werden sollte, wurde nahezu die gesamte Familie der »ʿAliden« ausgerottet. Nur ein Sohn Ḥusains, ʿAli Zain al-ʿAbadin, nahm an dem Gemetzel nicht teil und entkam so dem Schicksal seiner anderen Verwandten.

213

protowissenschaften ʿAli Zain al-ʿAbadin konnte daher der vierte Imam2 aus dem Haus ʿAlis werden. Auch er widmete sich vorrangig dem Studium und wurde eine herausragende Autorität in den islamischen Wissenschaften und in der Schariʿa. Er wird als Verfasser eines der bedeutendsten Bücher der Schiʿa genannt, dem »Buch der Psalmen« aus dem Haus des Propheten. Obwohl er keine politischen Ambitionen gehabt haben dürfte, entging auch er dem Geschick seiner Familie nicht. Er wurde auf Betreiben des umayyadischen Statthalters von Medina um ca. 712 n.Chr. vergiftet. Dessen Sohn Muḥammad ibn ʿAli al Baqir folgte in des Vaters Fußstapfen. Er gilt heute unter den Schiiten als fünfter Imam. Der Ehrenname »al Baqir al ʿUlum«, bedeutet »Verkünder der Weisheit« (des Wissens) und signalisiert bereits, dass er wie seine Vorfahren den Gelehrten des Hauses ʿAlis zuzurechnen ist. Er wird für seine Kenntnisse in Recht und Religion wie auch für seine unermüdliche Lehrtätigkeit gepriesen. Angeblich soll er mehr als 2.500 Studenten unterwiesen haben. Aufgrund seines Wissens war er in Medina ein hochgeachteter Mann und wurde nahezu zwangsläufig von den Umayyaden als Gefahr eingeschätzt. Das reichte, dass auch er dasselbe Schicksal teilte wie seine Vorgänger. Auch er wurde 743 n.Chr. vergiftet.

Der Reiz fremden Wissens Der sechste Imam, Dschaʿfar aṣ-Ṣadiq (699–765 n.Chr.), war ein Sprössling ʿAli al Baqirs. Es wird kolportiert, dass er bereits im Kindesalter an den Lehrveranstaltungen seines Großvaters ʿAli Zain al Abadin teilgenommen haben soll. Nach dessen Tod wurde er Jünger seines Vaters, sodass man annehmen kann, dass er das Wissen beider in sich vereinigte. Er unterrichtete bis zum Tod seines Vaters zusammen mit diesem und danach unabhängig. Wodurch sich der vielstudierte junge Mann besonders auszuzeichnen schien, war der Umstand, dass er nicht nur die »islamischen Wissenschaften« vollendet beherrschte, sondern darüber hinaus auch die sogenannten »fremden Wissenschaften«3 kannte und vermittelte. Es findet sich z.B. eine Schilderung, die behauptet, dass der Kalif Marwan II. (744–750 n.Chr.) eines Tages unerwartet eine seiner Vorlesungen besucht hätte. Angeblich soll Dschaʿfar bei dieser Gelegenheit gerade über das geozentrische System des Claudius Ptolemäus gesprochen haben, was die besondere Aufmerksamkeit des Herrschers erregt haben soll. Wie wahr diese Erzählung ist, lässt sich schwer überprüfen, doch besteht Konsens, dass Dschaʿfar antike Mathematik, Astronomie, 2 Der erste Imam war ʿAli selbst, der zweite Ḥasan, der dritte Husain. 3 So wurden die von den Griechen überlieferten Wissenschaften bezeichnet.

214

imamat Anatomie, Alchemie und Philosophie unterrichtet haben soll. Woher Dschaʿfar seine Kenntnisse nahm, bleibt eine offene Frage. Schiiten meinen, dass sie Teil des geheimen Wissens des Ahl al Bayt, also ihrer Meinung nach göttlichen Ursprungs gewesen wären. Doch da sich das ptolemäische System als unrichtig erwiesen hat, kann das ja wohl kaum der Fall sein. Der Umstand hingegen, dass Abu Musa al Dschabir ibn Ḥayyan (ca. 721–815 n.Chr.), der im Mittelalter in Europa unter dem Namen »Geber« Berühmtheit als Pharmazeut und Alchemist erlangte, zu seinen Schülern zählte, belegt zumindest indirekt, dass an diesen die Naturwissenschaften betreffenden Überlieferungen Wahres haftete. Es scheint daher vernünftig anzunehmen, dass es früh Transmissionskanäle gab, die antike, hellenistische Wissensinhalte weit in den Osten und Süden überlieferten. Darauf kommen wir weiter unten noch im Detail zurück. Auch andere Schüler von hoher Reputation sind aus der Schule von Dschaʿfar aṣ-Ṣadiq hervorgegangen: Dazu zählen Abu Ḥanifa, Malik ibn Anas, beide Begründer bedeutender Rechtsschulen, und Waṣil ibn ʿAṭaʿ, der als Gründer der Muʿtazila-Schule einen besonderen Ruf genießt. Besonders mit dieser Denkrichtung werden wir uns noch eingehender beschäftigen müssen, führte sie doch direkt dorthin, wo unser ursprüngliches Interesse liegt, zur Pflege und weiteren Entwicklung der antiken Wissenschaften.

Trennung politischer und geistiger Führerschaft Das Hauptinteresse der Zeitgenossen von Dschaʿfar aṣ-Ṣadiq dürfte aber in anderen Bereichen gelegen haben. In Dschaʿfars Lebenszeit fällt der bereits erwähnte politische Umsturz, der die Herrschaft der Umayyaden im Nahen Osten beendete4 und die Abbasiden an die Macht brachte. Wie andere Usurpatoren hatten auch sie Probleme, die Legitimität ihrer Herrschaft zu begründen, wobei ihr Versuch, diese durch die Abstammung vom Onkel des Propheten, Abbas ibn Abd al-Muṭṭalib5, zu belegen, nicht hinlänglich überzeugte. Die Abbasiden stellten sich daher anfänglich mit jenen Nachfolgern ʿAlis auf guten Fuß, die nicht, so wie Ibrahim und Muhammed ibn Abd Allah, gegen sie rebellierten. Es ist daher verständlich, dass der kluge Dschaʿfar den Anspruch der »ʿAliden«, der Nachfahren ʿAlis, auf das Kalifat auf die spirituelle Führerschaft einschränkte.

4 Ein Angehöriger entkam dem Massaker und gründete später das Kalifat von Cordoba in Spanien. 5 Daher rührt die Bezeichnung »Abbasiden«.

215

protowissenschaften Spätestens seit damals wird seitens der Schi‘a nur ein Imam als religiöser Führer betrachtet und die politische Herrschaft davon getrennt. Damit unterschieden sich nun die Schiiten prinzipiell von den dogmatischen Vorstellungen der Sunniten. Dschaʿfar vertrat daher auch eine Position, die als »taqqiya« bezeichnet wird. Sie legt es nahe, eigene Meinungen nicht öffentlich auszusprechen, wenn dadurch andere oder man selbst gefährdet würde. Diese Einsicht in die politischen Gegebenheiten zusammen mit den geschilderten Misserfolgen der Nachfolger ʿAlis haben wohl insgesamt dazu geführt, dass eine religiöse Grundhaltung bei den Schiiten entstand, die G. Kettermann (2001) als eine »Lehre vom Leiden und seiner Heilswirkung« beschreibt, wo Sünde, Reue und Buße wesentliche Glaubensinhalte ausmachen und Märtyrertum zum Ideal erhoben wird. Obwohl kaum anzunehmen ist, dass Dschaʿfar bewusst das Schicksal eines Märtyrers angestrebt hat, blieb es auch ihm nicht erspart. Auch er wurde Opfer eines Giftanschlags (765 n.Chr.), hinter dem wieder ein bedeutender Kalif der neuen Dynastie, al-Manṣur, steckte. Der Umstand, dass auch ein im Unterschied zu seinen Vorgängern politisch klug und diplomatisch handelnder Kopf wie Dschaʿfar nicht dem Los seiner Vorgänger entging, zeigt, wie wichtig religiöse Bindungen und Kontakte innerhalb der Ummah selbst für machtvolle und skrupellose Kalifen noch immer waren. An dieser Stelle denke ich, die Schilderung der Abfolge der Imame verlassen zu können, weil sich spätestens mit Dschaʿfar eine neue Genealogie des Wissens auftut, die zwar noch immer mit der Religion des Propheten in engem Zusammenhang steht, jedoch nicht länger nur in der Weitergabe eines »geheimen Wissens« besteht, das innerhalb des Ahl al Bayt, des Hauses des Propheten, gepflegt und bewahrt wurde. An dessen Stelle kommt ein neues Lehrer-Schüler-Verhältnis zum Tragen, das auf leibliche Verwandtschaft nicht länger Wert zu legen scheint.

Institutionalisierung der Lehre Bevor das Thema der Überlieferung aus der Antike angesprochen werden kann, sind einige Randfragen zu klären: Wenn Gelehrte wie Dschaʿfar kontinuierlich eigene Lehrveranstaltungen hielten, die von zahlreichen Schülern besucht wurden, so stellt sich zunächst die Frage, in welchem institutionellen Rahmen eine solche Vorlesungstätigkeit möglich war.

216

institutionalisierung der lehre

Moscheen als Schulen Wie schon erwähnt, war die Moschee die erste Institution, in der unterrichtet wurde. Der Prophet selbst lieferte dafür das maßgebliche Beispiel. Allerdings wurden und werden noch immer zwei verschiedene Arten von Moscheen unterschieden die einerseits mit »Dschami«, andererseits als »Masdschid« bezeichnet werden – eine Differenzierung, die von uns üblicherweise nicht gemacht wird. Eine Dschami war eine große Moschee, in der das gemeinsame Freitagsgebet abgehalten wurde. Idealerweise sollte es in jeder Stadt nur eine solche Dschami geben, eine Vorgabe, die aber bald – schon aufgrund der Größe mancher Städte – nicht eingehalten werden konnte. Die Masdschid diente hingegen den alltäglichen Kongregationen aus der unmittelbaren Umgebung der Moschee. Allerdings entwickelte sich eine diesbezügliche sprachliche Unterscheidung zwischen Dschami und Masdschid auch erst im Lauf der Geschichte. Am Anfang wurden beide Begriffe austauschbar verwendet. Masdschid, so teilt uns G. Makdisi (1981) mit, dem ich in diesen Ausführungen folge, leitet sich von »masdschlis« her, was eine schlichte Ortsbezeichnung war. Das Wort benannte ursprünglich nur den Platz, wo man saß. »Masdschlis al ʿilm« oder »masdschlis an nazar« meinte demnach einen Ort, wo Scholaren zusammen saßen und sich zur Diskussion einfanden. Besprochen wurden Hadithe wie auch aktuelle Fragen aus der Medizin oder dem Recht. Es brauchte nicht lange, bis sich die Orte solcher Zusammenkünfte nach Lehrinhalten unterschieden, so wie die Ortsbezeichnung allmählich auch für die Inhalte, die vermittelt wurden, gebraucht wurde. Heute würden wir diese Aktivitäten als »Vorlesungen« bezeichnen. Obwohl heute kaum mehr vorgelesen wird, ist der inadäquate Name erhalten geblieben. Ähnliches passierte auch in den arabischen Ländern, wo »masdschlisan« bald auch die Lehrtätigkeit selbst bezeichnete. Wenig überraschend wurde die Dschami, auch wenn mehrere Moscheen in einer Stadt existierten, der bevorzugte Platz für Unterweisungen, war doch vermutlich die Nachfrage nach solchem Unterricht in der engeren Umgebung einer lokalen Masdschid nicht ausreichend. Doch im größeren Kontext einer Stadt fanden sich offenbar genug Lernbegierige, sodass der Unterricht nicht nur nach dem Freitagsgebet, sondern regelmäßig, vermutlich täglich, abgehalten wurde. So wurde also die Dschami der Ort, an dem »masdschlisan« stattfand.

217

protowissenschaften

»Waqf« – Fromme Stiftungen In diesem Stadium ergab sich eine neue, wesentliche Frage: wie sollte dieser wertvolle Beitrag der Lehrer finanziert werden? Die Antwort lag nahe und im Sinn des Islam, nämlich durch wohltätige Spenden. Nicht nur Almosen an Bedürftige zu verteilen, sondern auch eine Förderung zur Verbreitung der Lehre wurde bald als eine Tat gewertet, die den Zugang ins Paradies erleichterte. Zum Lehrinhalt zählten Unterweisungen in den Hadithen und im Recht, aber auch die Vermittlung anderer Kenntnisse wie etwa Grammatik, soweit sie dem Verständnis und der Praxis eines gottgefälligen Lebens nützlich waren. Diese Förderung des Wissens und seiner Verbreitung nahm bald beachtliche Dimensionen an. Heute könnte man dies am besten mit karitativen Stiftungen vergleichen. Die arabische Bezeichnung dafür ist »waqf«. Nicht wenige Spender stellten größere Summen bereit, die nicht nur den Bau von Dschamis ermöglichten, die zugleich als Lehrsäle dienten, sondern auch den Lebensunterhalt der Lehrenden sicherstellten, sodass die Zuhörer den Unterricht umsonst genießen konnten. Solche Freistellung der Lehrer von Unterhaltssorgen förderte die Professionalisierung der Lehre und ermöglichte so einen zusätzlichen Wachstumseffekt an Wissen. In Anbetracht derartiger Vorbedingungen und aufgrund der klugen Einsicht vieler Herrscher, dass Wissen einen bedeutenden Machtfaktor darstellt, wird es nicht überraschen, dass auch die Kalifen hinter den normalen wohlhabenden Gläubigen nicht nachstehen konnten und folglich selbst das Unterrichtswesen großzügig förderten. Bald nahmen diese Förderungen einen Umfang an, der als beispielgebend für unsere Zeit genommen werden könnte. Denn es wurde nicht nur dafür Sorge getragen, dass die »Professoren« sich ihrer Tätigkeit uneingeschränkt widmen konnten, sondern desgleichen auch die Studenten. Deshalb wurden schon früh in der Nähe solcher Unterrichtsinstitutionen zusätzliche »Khans«, das sind Herbergen, errichtet, in denen die Studenten umsonst wohnen konnten und auch ihre Mahlzeiten erhielten. Daraus entwickelten sich in der Folge die sogenannten Madrasas oder Medressen – Koranschulen, die man am besten mit den angelsächsischen »Colleges« vergleicht 6. Mit der Errichtung solcher Madrasas wurde u.a. zusätzlich sichergestellt, dass nicht nur lokale Einheimische in den Genuss von Lehre und Bildung kamen, sondern 6 Dieser Vergleich erfolgt nicht zufällig, denn die Einrichtungen wurden in der Zeit der Kreuzzüge nicht nur bewundert, sondern bald in Paris und auch Oxford kopiert. Sie bildeten eben die beispielgebende Grundlage für die angelsächsischen »Colleges« bzw. für die Fundierung der Sorbonne in Paris.

218

institutionalisierung der lehre eben auch Personen aus entfernt liegenden Gebieten. Derartige Stiftungen konnten außerdem nicht widerrufen werden. Das heißt, man konnte nicht einfach einmal zur Verfügung gestellte Mittel wieder zurücknehmen. Das bedeutete, dass sowohl für Lehrer als auch Studenten eine sichere Existenzgrundlage geschaffen wurde, was dem System die notwendige Stabilität verlieh. Es kann kaum erstaunen, dass in einem derartig florierenden Ambiente auch dafür Sorge getragen wurde, dass bereits Kinder jene Ausbildung erhielten, die die Voraussetzung schuf, auch in höhere Studien aufgenommen zu werden. Diese Schulen wurden als »maktab« bezeichnet. Angaben über das Alter des Schuleintritts variieren, sie pendeln zwischen fünf und zehn. Vermutlich dürften diese Variationen auch regional verschieden gewesen sein. Fest steht allerdings, dass in diesen Schulen Schreiben, Lesen, Dichtung und der Koran unterrichtet wurden. Kehren wir zum Bereich der höheren Bildung zurück so erinnern wir uns, dass bereits Dschaʿfar aṣ-Ṣadiq nachgesagt wurde, dass er außer den islamischen Wissenschaften auch Gebiete unterrichtete, die aus der Überlieferung der Antike stammten und im Islam als »nicht-islamische« oder »fremde Wissenschaften« bezeichnet wurden. Hier stellt sich erneut die bereits öfter gestellte Frage: woher bezogen diese Männer ihre Kenntnisse in den sogenannten »fremden Wissenschaften«? Es wird oft davon ausgegangen, dass alle wesentlichen, griechischen Schriften erst im 9. Jahrhundert übersetzt wurden, und erst unter Kalif al-Ma’mun Übersetzungstätigkeit die nötige Förderung erfuhr. Diese Sicht entspricht aber in Details nicht mehr den jüngeren Forschungsergebnissen, wie weiter unten gezeigt wird. Anders als in der christlichen westlichen Welt wurde im Islam stets hoher Wert auf Bildung gelegt. Das hängt vermutlich damit zusammen, dass dort sowohl eine hohe räumliche Mobilität herrschte und Städte in großer Zahl gegründet wurden. Bestimmend war aber auch, dass in diesem riesigen Reich ein weitläufiger Handel gepflegt wurde. Im Unterschied dazu verschwanden im Westen die Städte und verfielen die Landstraßen, sodass Handel überwiegend auf ein regionales Tausch­ geschäft reduziert wurde. In einem derartig fluiden Milieu, wie es im Osten herrschte, das zusätzlich durch die verpflichtenden Pilgerreisen zu den heiligen Stätten in Mekka und Medina gefördert wurde, reisen aber nicht nur Waren, sondern mit den Menschen auch Informationen und Wissen. Jedes endemisch existierende Wissen bekommt auf diese Weise die Chance, an andere Orte zu gelangen. Und so wurden andere Wissenskulturen nicht nur bekannt, sondern – wie das bei allem Unbekannten stets der Fall ist – auch geprüft und wenn nötig angepasst. 219

protowissenschaften

Früher Wissenstransfer Die Eroberungen des Sassanidenreichs im Osten und jene Ägyptens im Westen öffneten Pandora-Büchsen, mit deren Inhalten die Söhne Arabiens, viele von ihnen bereits gewiefte Händler, umzugehen lernen mussten. M. Fakhry (1999) erinnert uns daran, dass Alexandrien bereits seit Jahrhunderten Drehpunkt wissenschaftlichen, medizinischen und philosophischen Denkens war und zugleich auch ein zentraler Marktplatz für den Tausch nicht nur materieller Waren, sondern auch immaterieller Güter griechischen Denkens und nahöstlicher Religionen. Zugleich vermerkt er, dass viele der dort tätigen Gelehrten Syrer waren, die ihre Kontakte mit ihrer alten Heimat nicht verloren hatten. Als nun die Araber Ägypten 641 eroberten, blühte in Alexandrien griechische Philosophie und Wissenschaft noch immer, obwohl der alte Musentempel, das Museon, nicht mehr existierte und die Bibliothek seit mehr als zwei Jahrhunderten geschlossen war. Die von der christlichen Orthodoxie verurteilten religiösen Absplitterungen wie Nestorianer, Jakobiten etc. wurden zwar in Byzanz nicht geduldet, sie fanden aber in den römischen Provinzen Ägyptens und Syriens zahlreiche Anhänger. Schon diese Situation bewirkte, dass zahlreiche religiöse Texte der Christen aus dem Griechischen ins Syrische übertragen wurden – allerdings mit Abänderungen an dogmatisch bedeutsamen Stellen. Da eine Ablehnung bzw. Verteidigung solcher Texte auf Griechisch erfolgte und diesbezügliche Argumentationsweisen überwiegend griechischer Philosophie entlehnt waren, wurden theologischen Texten oft philosophisch-logische Schriften aus der griechischen Antike übersetzt beigegeben. Aristoteles’ Kategorienlehre, die erste Analytik, Hermeneutik sowie Porpyphrios’ »Isagoge« waren auf Syrisch erhältlich. Angemerkt sei, dass die »Isagoge« eine grundlegende Einführung in die aristotelische Kategorienlehre und Logik darstellt. Deren Kompilation war für Syrer vermutlich folgenreicher als die Kenntnis der griechischen Originale. Auch sollte nicht übersehen werden, dass Syrisch eine semitische Sprache ist und demnach dem Arabischen nahe verwandt ist. Allerdings gibt es keinen greifbaren Nachweis dafür, dass auch die zweite Analytik, also die Lehre des Aristoteles vom Beweis, damals bereits übersetzt worden wäre. Das würde folglich auch die Kenntnis der »Sophistischen Widerlegungen« ausschließen. Nicht vergessen darf man auch, dass die wohlkalkulierte Tat von Kaiser Justinian I., die platonische Akademie in Athen 529 zu schließen und zu enteignen, bewirkte, dass einige ihrer Gelehrten – man spricht von sieben – nach Persien auswanderten. Sie wurden vom dortigen Potentaten Khosrow I., beständiger Widersacher des römischen Impera220

früher wissenstransfer tors, freundlich aufgenommen und bei ihrer Lehrtätigkeit unterstützt. Obwohl diese Sieben bald wieder nach Byzanz zurückkehrten, hinterließen sie nachhaltige Spuren im persischen Reich. Khosrow I. gründete 555 in Gundischapur eine Schule, die ähnlich wie jene in Alexandrien unter Ptolemäus I. zu einem Zentrum griechischer Gelehrsamkeit in Persien wurde, insbesondere in Medizin und anderen Wissenschaften. Diese Rolle behielt jene Schule auch nach der Eroberung Persiens durch die Muslime bei. Als dann Bagdad zur Hauptstadt der Abbasiden wurde, konnte diese Schule schon allein durch die räumliche Nähe nachhaltigen Einfluss auf die Kalifen ausüben. So wurde zum Beispiel das erste Spital Bagdads wie auch das erste astronomische Observatorium von Harun-ar-Raschid unter Anleitung dortiger Ärzte errichtet. Im Augenblick reicht es festzustellen, dass mit der Eroberung des persischen und weiter Teile des byzantinischen Reichs den Arabern auch andere bedeutende Zentren der Gelehrsamkeit in die Hände fielen. Außer den zwei bereits genannten herausragenden Städten wären noch Antiochia, Edessa, Nuysabin, Harran und Beirut zu nennen. Manche von diesen – wie etwa Beirut, das eine berühmte Rechtsschule besaß, deren Anlage allerdings 551 bei einem Erdbeben teilweise zerstört und nicht wieder errichtet wurde – besaßen keine Lehrsäle mehr, an denen unterrichtet werden konnte. Trotzdem wäre es verfrüht, daraus den Schluss zu ziehen, dass deshalb auch schon die Wissenschaften zerstört worden wären. Alexandrien liefert dafür ein anschauliches Beispiel. Die Pflege der Gelehrsamkeit ging dort auch dann noch rege weiter, nachdem die materiell-institutionellen Grundlagen vernichtet waren. Das gesammelte Wissen war vielleicht nicht länger in der gleichen Konzentration zu erlangen, wie es davor möglich war, doch verschwunden war es deshalb noch nicht. Bedenkt man außerdem, dass nach der Ankunft der Araber und mit dem Bau von Moscheen neue Stätten entstanden, an denen Lehre abgehalten werden konnte, so darf man vermuten, dass die etwas mehr als hundert Jahre, die zwischen der Schließung der platonischen Akademie und der Eroberung der genannten Gebiete und Städte liegen, nicht hinreichend sein konnten, um das Wissen der Antike gänzlich verschwinden zu lassen. Das gilt umso mehr, als wir ja auch wissen, dass manche der Gelehrten auswanderten und anderswo neue Institute begründeten. Trotzdem ließe sich nach wie vor so argumentieren, dass die ererbten Kenntnisse in Sprachen vorlagen – Griechisch und im Fall der Rechtswissenschaften auch Latein7 –, die den Arabern fremd waren. Oben wurde allerdings schon festgestellt, dass viele der antiken Bücher bereits 7 Nicht vergessen sollte man, dass der Codex Justinianus und die Digesten und Pandekten gleichfalls auf Griechisch vorlagen.

221

protowissenschaften ins Syrische übersetzt worden waren, weil eine Mehrzahl der christlichen Sektierer eben kein Griechisch sprach. Umgekehrt sollte man nicht vergessen, dass ein wesentlicher Teil der expandierenden Araber und vor allem deren Eliten keine, wie gerne behauptet wird, Schaf- und Kamelzüchter waren, sondern aus bedeutenden Handelsfamilien stammten. Ich erinnere an die verwandtschaftliche Herkunft der ersten Kalifen und der Umayyaden. Deren weitreichende Kontakte wären unvorstellbar, hätten diese Männer nur Arabisch beherrscht. Man darf im Gegenteil davon ausgehen, dass sie polyglott waren und viele von ihnen neben Syrisch auch Griechisch und möglicherweise sogar Ägyptisch beherrscht haben mussten. Ansonsten wären erfolgreiche Handelsexpeditionen großen Umfangs kaum vorstellbar gewesen. Denn Handeln bedeutet immer auch Verhandeln, und das gelingt nur bei entsprechender Sprachgewandtheit. Es kann somit nicht überraschen, dass T.J. Debroer (1901) bereits Ende des 19. Jahrhunderts darauf Wert legte zu betonen, dass eine Übersetzertätigkeit wesentlich früher einsetzte als meistens behauptet wird. Debroer bezeichnet Probus aus Antiochia als jenen ersten Übersetzer, der in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts logische Schriften von Aristoteles und die »Isagoge« des Porphyrus ins Syrische übertrug. Probus selbst war nicht nur Priester, sondern, wie zu diesen Zeiten für Priester nicht unüblich, auch Arzt. Das legt u.a. nahe, dass er auch medizinische Schriften der Hippokratiker kannte und übersetzte. Debroer meint auch, dass Sergius von Reschaina, ein mesopotamischer Mönch, der lange Jahre in Alexandrien studierte und um 536 in Konstantinopel starb, zahllose Schriften des Aristoteles übersetzt hatte, unter denen sich auch die Bücher zur Physik, Medizin und Philosophie befunden haben sollen. Dabei betont er nachdrücklich, dass diese Schriften zur Logik und den Naturwissenschaften eine hohe Verlässlichkeit in der Übertragung zeigten. Im Gegensatz dazu waren jene, wo es um ethische und metaphysische Fragen ging, weniger akkurat, zumal sie häufig heidnische Themen durch christliche Sichtweisen ersetzten. Jakob von Edessa, der zwischen 640 und 708 n.Chr. lebte, also bereits zur Zeit der islamischen Eroberungen, übertrug gleichfalls theologische und philosophische Schriften aus dem Griechischen ins Syrische. Debroer verweist dabei auch auf eine Passage, die für uns von gesteigertem Interesse ist. Die an Jakob von Edessa gerichtete heikle Frage, ob es christlichen Kirchenmännern gestattet sei, Kinder muslimischer Eltern in den »höheren Wissensgebieten« zu unterweisen, beantwortete er positiv. Und Debroer schließt daraus, dass diese muslimischen Eltern die Notwendigkeit und Bedeutung solcher Erziehung bereits in den ersten Jahrzehnten islamischer Herrschaft erkannt haben müssen, sonst hätte sich diese Frage gar nicht gestellt. 222

dschabariten und qadariten Daraus lässt sich umgekehrt schließen, dass derartige Einsichten älter als der Islam waren. Das bestätigen zumindest indirekt die weiter oben geäußerten Vermutungen, dass in der Familie ʿAlis und dessen Bruders Ṭalib ibn Abi Ṭalib auch solche Überlieferungen tradiert wurden und Bestandteil des öfter behaupteten »geheimen Wissens« waren. ʿAli, so kolportiert zumindest Debroer (ibid., S. 22), wird u.a. auch der bekannte sokratische Satz »Erkenne dich selbst« zugeschrieben, andere behaupten wieder, dass er die aristotelische Einteilung der Methoden der Rhetorik, nämlich in Ethik, Logik und Pathos gekannt hätte. Wie dem auch sei, man muss annehmen, dass spätestens mit der Eroberung der alten griechischen Einflussgebiete durch den Islam den Muslimen der gebildeten Oberschicht viele Kenntnisse aus der hellenistischen Kultur vertraut wurden, selbst wenn ein beträchtlicher Teil davon nur mündlich weitergegeben wurde8 oder, wie wir mit Sicherheit wissen, nur in Bruchstücken vorlag. Ihr Problem war, so darf man vermuten, weniger die angebliche Sprachbarriere, sondern eher die Frage, wie sich dieses Wissen mit den muslimischen Glaubenslehren vereinen ließ.

Dschabariten und Qadariten Dass es in dieser Hinsicht zu grundlegenden Differenzen kam, die nicht von den politischen Entwicklungen zu trennen waren, zeigte sich bereits im Kontext des ersten Bürgerkriegs (arab. Fitnah) und noch ausgeprägter beim zweiten Bürgerkrieg, der nach dem Tod Muʿawiyas innerhalb der Umayyaden-Dynastie einsetzte. Der von Muʿawiya als Nachfolger eingesetzte Sohn Yazid I. lebte nur drei Jahre. Aber schon in dieser kurzen Zeit stieß der junge Kalif aufgrund der vorangegangenen Kämpfe und Übereinkünfte auf beträchtlichen Widerstand. Nach seinem unerwarteten Tod begann einmal mehr ein anhaltender Streit um die Nachfolge. Diese Auseinandersetzung wird als zweite Fitnah bezeichnet. Im Lauf dieses Konflikts etablierten sich »Gegen-Kalifen« – wenn man das in Analogie zu Byzanz oder den europäischen Entwicklungen im Mittelalter so benennen will – in Kufah und in Mekka, die mit militärischer Gewalt abgesetzt wurden. Dass bei der Austragung dieser Kämpfe dieser heilige Ort belagert und sogar die Kaʿbah in Brand gesetzt wurde, waren Ereignisse, die den Umayyaden noch lange Ablehnung und Feindschaft eintrugen. Dieser interne Machtkampf dauerte zwölf Jahre und endete erst 692 n.Chr. Letztlich etablierte sich ʿAbd al-Malik als fünfter Kalif aus dem Clan der Umayyaden. Er verstarb 705. 8 »Not much was learned in the East at that time out of books, any more than it is today: more was learned from the lips of the teacher.« (T.J. Debroer, op. cit., S. 42).

223

protowissenschaften Die Zweifel an der Legitimität der Kalifen reflektierten sich aber nicht nur politisch in den Auseinandersetzungen zwischen der Schiʿa, diversen anderen Sektierern und den Kalifen, sondern auch in den intellektuellen Disputen über die korrekten Interpretationen des Koran und der Hadithe. Wie die genannten Beispiele, etwa die Liquidierung der Söhne ʿAlis oder die kriegerische Einnahme der heiligen Stadt Mekka, zeigten, kannten die Umayyaden keine Skrupel, wenn es um die Erhaltung ihrer Macht ging. Die Tötung von Muslimen durch Muslime ist aber eine der schlimmsten Sünden im Islam. Mit derartigen Vergehen hatten die Kalifen ihre Legitimität als Nachfolger des Propheten, unabhängig von den seit dem Tod des Propheten schwellenden Differenzen, schwer beschädigt. In irgendeiner Weise musste daher ihr Handeln auch theologisch legitimiert werden. Das geschah, indem die Umayyaden und ihre theologischen Proponenten, die Dschabariten (arab. dschabr, Einrenkung9, Zwang, Gewalt), aus der heiligen Schrift des Koran ableiteten, dass Menschen nur Werkzeuge Gottes seien, keinen freien Willen besäßen und folglich auch für ihre Handlungen nicht verantwortlich zu machen wären. Ich vermute, dass die Muslime aus Damaskus diese Sichtweise schlicht von der justinianischen Legitimationsstrategie nach der teilweisen Zerstörung von Byzanz und der Hagia Sophia (532 n.Chr.) übernommen haben10. Nicht überraschen wird, dass die Vertreter dieser Sicht auch gut dotierte Staatsposten erhielten, weshalb sich vermutlich das Wort für »Steuereinhebung« (dschabayah) auch aus diesem Wortstamm herleitet. Auch das erinnert an die erwähnten byzantinischen Vorbilder. Die zahlreichen Gegner der Umayyaden interpretierten den Koran gegenteilig. Diese werden als Qadariten bezeichnet, ein Wort, das sich von »qadar« herleitet11. Naheliegend waren sie erklärte Gegner der Dschabariten. Sie vertraten die Doktrin eines »freien Willens« der Individuen und begründeten dies damit, dass ohne solchen eine Bestrafung im Jenseits für Sünden und sonstige Untaten ungerecht wäre. Da Allah aber zugleich höchste Gerechtigkeit »verkörpert« (ein Terminus, 9 Es ist möglicherweise nicht ganz uninteressant darauf hinzuweisen, dass sich davon auch »Algebra« herleitet, die also auch als eine Form von Zwangsmechanismus verstanden wird. 10 Siehe Kapitel I, dieser Band. 11 »Qadar« kann »Schicksal« heißen und auch »Bestimmung«. Der Begriff ist verwirrend, suggeriert er doch eher fatalistische »Fremdbestimmung« und nicht »Selbstbestimmung«, die aber gemeint ist. Der Wortstamm selbst meint aber »etwas vermögen« oder auch zu etwas »befähigt sein«; »qadar« bezeichnet demnach vor allem die »menschliche Befähigung zu selbstbestimmtem Handeln« oder auch die Fähigkeit, »das eigene Schicksal in die Hand zu nehmen«.

224

dschabariten und qadariten der für Gott natürlich nicht adäquat ist), ist »Prädestination«, die sich aus der Leugnung des freien Willens ergeben müsste, unmöglich. Allein aus dieser Gegenüberstellung wird deutlich, dass die Dschabariten die Umayyaden von ihren frevelhaften Vergehen freisprechen wollten, die Qadariten hingegen diese Legitimation des Machtanspruchs bestritten. Wie kaum anders zu erwarten, wurden letztere verfolgt12 und namhafte Vertreter von ihnen in Damaskus hingerichtet.

Dschahm bin Ṣafwan Als Begründer der Doktrin des »freien Willens« gilt Dschahm bin Ṣaf­ wan aus Kufah, der auch lange in Khorasan lebte und sich dort Aufständischen anschloss. In seiner Jugend studierte er bei al-Dschaʿd bin Dirham aus Harran, welcher angeblich ein »zindiq«, ein Freidenker, war. Solchen »zindiq« wurde nachgesagt, dass sie nicht an Allah glaubten und die Natur verehrten, was eine äußerst gefährliche Stigmatisierung bedeutete. Al-Dschaʿd war bezeichnender Weise trotzdem Lehrer von Marwan II., dem letzten der umayyadischen Kalifen13. Die Stadt Harran14, am nördlichen Rand Mesopotamiens, war ihrerseits stets eine Hochburg klassisch-hellenistischer Bildung. Sie besaß seit undenklichen Zeiten einen Tempel, in dem der Mondgott Sin15 verehrt 12 »The Qadariyya were declared heretic and persecuted when they tried to fill this gap (between Hellenistic rationalism and ‘Medinian piety) during the Umayyad Caliphate.« (M. Atta, 2012, S. 1037). 13 Der Umstand, dass sogar Kinder von Kalifen durch Lehrer unterrichtet wurden, die die griechische Wissenschaft gekannt haben müssen, unterstützt die Sicht, dass diese Kenntnisse lange vor der oft zitierten Übersetzungswelle zumindest in der Oberschicht verbreitet waren. 14 Wie bereits in Kapitel III angemerkt, handelt es sich um das antike Carrhae. 15 Der männliche Gott Sin wurde ursprünglich in Ur etwa zweieinhalbtausend Jahre früher verehrt. Erst später wurde er durch eine weibliche Gottheit, die Mondgöttin Selene, ersetzt. Das Heiligtum war eine bedeutende Pilgerstätte noch bis tief in die christliche Zeit. Simplikios, der griechische Gelehrte, der nach der Schließung der Akademie in Athen nach Persien ging, begründete dort 532 eine Philosophenschule, die angeblich bis tief ins 7. Jahrhundert bestand, also auch noch zur Zeit der arabischen Eroberung. Der letzte Umayyaden-Kalif Marwan II. wählte Harran als seine Residenzstadt und gründete dort eine Moschee mit anschließender Madrasa. Es wird angenommen, dass diese Madrasa nur die Fortsetzung einer islamisierten Akademie war. Es fügt sich in das Bild, dass vermutlich auch der schon genannte Abu Musa al Dschabir ibn Ḥayyan (in Europa »Geber« genannt), ein bedeutender Alchemist, aus dieser Stadt stammte.

225

protowissenschaften wurde. Sie war daher auch ein gesuchter heidnischer Wallfahrtsort mit entsprechender Ausstrahlung. Der Umstand, dass Dschahm bin Ṣafwan gerade dort oder bei einem dortigen Lehrer studiert haben soll, erklärt zugleich auch, warum er den Koran – oder allgemeiner das Wort Gottes – als »erschaffen« verstanden hat. Diese Sicht stand zwar in einem gewissen Gegensatz zur christlich-augustinischen Lehre vom Logos, entsprach aber neuplatonischen Vorstellungen vom Logos als einem Welt erschaffenden Demiurgen, der auch als Pantokrator versinnbildlicht wurde. Dschahm bin Ṣafwan leugnete, dass Allah irgendwelche Attribute außer zweien, die im Koran aufscheinen, zukommen könnten. Diese zwei Ausnahmen wären die göttliche Schöpfungsmacht und seine Allmacht – Logos und Pantokrator. Weder die göttliche Schöpfungsmacht noch Allmacht kämen umgekehrt irgendwelchen Menschen zu. Diese Gaben wären in Bezug auf Menschen höchstens nur metaphorisch zu verstehen. Viele seiner Überlegungen, von denen es keine schriftlichen Überlieferungen gibt, wurden von den Qadariten und später von den Vertretern der Muʿtazila übernommen. Ṣafwans Annahmen hinderten ihn zugleich – im Gegensatz zu den späteren Qadariten – nicht, auch die Lehre von der Prädestination allen menschlichen Handelns zu vertreten, weil Allah allein schöpferisch tätig sein könne und folglich Menschen nur als sein Werkzeug handeln könnten. Eine solche Sicht stünde allerdings in krassem Widerspruch zur griechischen Philosophie, deren er sich offenbar ausgiebig bediente, sowie zu zahllosen Aussagen des Propheten und zu vielen Stellen im Koran. Denkbar wäre auch, dass seine Vieldeutigkeit opportunistisch bestimmt war. Trotzdem wurde Dschahm bin Safwan 745 n. Chr. auf Anordnung des letzten Umayyaden-Kalifen Marwan II. hingerichtet.

Ḥasan al-Baṣri Ein wesentlich erfolgreicherer Vertreter einer ähnlichen Denkrichtung lebte in Basra, nicht weit von Kufah. Er hieß Ḥasan al-Baṣri (gest. 728 n.Chr.). Damit wird allein schon über den angesprochenen räumlichen Konnex zwar indirekt, aber doch eine ideologische oder philosophische Richtung erkennbar. Denn wir wissen ja inzwischen, dass diese Gegend stets eine Hochburg der ʿAliden und Schiiten war – und es noch immer ist. Ḥasan al-Baṣri hatte zahlreiche Schüler, unter denen sich solche befanden, die wir schon weiter oben kennengelernt haben, weil sie auch Schüler von Dschaʿfar aṣ-Ṣadiq waren. Die beiden, auf die wir hier Bezug nehmen, waren Waṣil ibn ʿAṭaʿ (700–748 n.Chr.) und ʿAmr ibn ʿUbayd (gest.762 n.Chr.). Die drei Männer zusammen gelten im All­ 226

muʿtazila gemeinen als Begründer einer philosophisch-theologischen Richtung, die mit »Muʿtazilismus« bezeichnet wird.

Muʿtazila Die Muʿtazila16 gewannen bald bedeutenden Einfluss, über dessen Hintergründe noch zu sprechen sein wird. Zunächst halten wir fest, dass wir die Muʿtazila als Nachfolger der Qadariten betrachten, die ja auf der Freiheit des menschlichen Willens bestanden. Dieselbe Position vertraten auch die Muʿtaziliten. Ein wichtiges Argument war wie erwähnt, dass ein gerechter Gott nur dann strafen oder belohnen könne, wenn den Menschen auch Handlungsfreiheit gegeben sei. Auch das kann als weiteres Beispiel für Soziomorphismus verstanden werden, wobei eben Rechtsprinzipien17 verallgemeinert und auf Gott übertragen werden. Die späteren Gegner dieser Denkrichtung argumentieren dann durchaus ähnlich. Ein derartig selbstbestimmtes, freies Individuum, das in Eigenverantwortung handelt, benötigt aber auch die Fähigkeit, selbstständig zu beurteilen, was gut oder falsch ist. Um solche Urteile fällen zu können, braucht es Vernunft und Rationalität, welche ihm daher vom Schöpfer verliehen werden mussten und wodurch es sich vom Tier unterscheidet. Diesen Verstand sollte ein Mensch pflegen und gebrauchen, u.a. auch, um durch Erkenntnis der Welt und der Natur 18indirekt auch deren Schöpfer, seine Macht und Herrlichkeit zu erkennen. 16 »As the oft-quoted remark of Ahmad Amin (uha al-Islam, Cairo, iii, t04) puts it, the Mu‘tazilis were ›firstly men of religion and secondarily philosophers‹. It is not (pace D. B. Macdonald in EI1, s.v. Kalam) the atomic theory (nor that of the ›modes‹) which characterizes the mu’takalimun, but their primary concern to engage in disputation and argument to defend the faith against the zanadiqa of the period, the ›free-thinkers‹ inspired by Mazdeism (i.e. Zoroasthrismus) or Manicheism, and later by pure Greek rationalism. Although nuances of doctrine, sometimes important, divided them, they were inspired by one and the same spirit: respect for reason (ʿaql) in the defence of religious tenets (ʿaql becoming even the criterion (mizan) of the Law), the concern to purge the notion of God of all ›multiplicity‹ and anthropomorphism, the desire to proclaim and justify the absolute divine perfection. The Mu‘tazilis themselves defined themselves as ›the people of Justice and Unity‹.« (Encyclopedia of Islam, Ilm al-Kalam, 1999, Koninklijke Brill NV, Leiden, The Netherlands). 17 Eine alternative Sicht wäre die von manchen griechischen Sophisten vertretene Meinung, dass das Recht des Stärkeren Geltung haben müsste. 18 Hier begegnen wir derselben Argumentation, wie sie von den Pythagoreern und den Prä-Sokratikern verwendet wurde.

227

protowissenschaften Erst der Verstand lässt die Menschen unterscheiden, welche Handlungen gut oder böse (ʿaql) sind und was in welchen Situationen richtig ist. Allerdings räumen die Muʿtaziliten ein, dass es Umstände geben kann, wo diese Unterscheidung nicht oder nicht leicht möglich ist. Für eben jene Fälle aber hat Allah den Menschen den Koran offenbart. Durch diesen heiligen Text wurde ihnen eine Leitlinie zur Seite gegeben, die ihre Erkenntnis stützen und fördern soll. Allerdings zeigte sich bald, dass auch der Koran nicht in allen Fällen eindeutige Hilfestellung gibt, weil – wie wir schon weiter oben gesehen haben – manche Stellen der Offenbarung in sich selbst widersprüchlich sind und daher keine klaren Vorgaben enthalten. Um mit diesem Problem angemessen umgehen zu können, ist wiederum der Verstand gefragt, denn Gott lügt nicht. Er kann sich folglich auch nicht widersprechen. Widersprüche sind Rätsel, die die Menschen zu lösen haben. Die Muʿtaziliten entwickelten daher ein Interpretationssystem, mit dessen Hilfe auch solche Rätsel behandelt und gelöst werden konnten. Sie gingen davon aus, dass derartige Textstellen allegorisch und metaphorisch zu verstehen seien. Widersinnig erscheinende Passagen wären manchmal nötig, um schwierige Sachverhalte anschaulich und damit auch einfachen Menschen begreiflich zu machen. Wenn etwa im Koran von »Händen« Gottes gesprochen wird, so kann das nicht konkret gemeint sein, denn Gott besitzt als transzendentes Wesen keinen Körper und folglich auch keine Hände. Wäre dem so, so handelte es sich eben um einen Widerspruch, der aber aufgrund der göttlichen Wahrhaftigkeit unzulässig ist. Ebenso wenig kann Gott gesehen werden, auch nicht von den Seelen der Verstorbenen im Jenseits, noch braucht er selbst zum Sehen Augen. Als transzendentes Wesen ist Allah vollkommen. Und seine Vollkommenheit ist einmalig und allumfassend. Es kann nichts hinzugefügt werden. Demnach hat Allah auch keine Teile und kann folglich auch nicht aus mehreren Personen bestehen, wie die Christen behaupten.

Der ewige Koran Doch gerade aus dieser Überzeugung ergab sich ein schwieriges Problem. Traditionellerweise wurde der Koran als Wort Gottes verstanden. Das heißt, dass er nie geschaffen wurde, sondern ewig existierte und dass dieses ewige »Wort« dem Gesandten stückweise auf Arabisch über den Erzengel Gabriel mitgeteilt wurde. Das Wort Gottes wäre folglich genauso ewig und unveränderlich wie Gott. Damit erhält es neben Allah eine eigenständige Existenz. Dieses Wort existierte ja aus dieser Sicht

228

muʿtazila seit unendlichen Zeiten und wird neben Gott auch in alle Ewigkeit genauso weiter bestehen19. Mit einer derartigen Vorstellung näherte sich der Islam Vorstellungen an, die Christen vom »Logos«, dem Wort Gottes, entwickelten20. Dieses »Wort« soll nämlich zugleich als zweite Person Gottes in Christus Fleisch geworden sein. Damit entstand die offenbar immer wiederkehrende Gefahr eines latenten Polytheismus, den auch die Christen bereits in Nicaea durch ihre Dreifaltigkeitsdoktrin zu bannen suchten. Rein theologisch betrachtet durfte der Koran daher nicht als eigenständiges Etwas betrachtet werden, sondern muss auch als Kreation, als Schöpfung Allahs verstanden werden21. Das hätte zur Folge, dass diese Schrift nicht ewig ist und folglich nur zeitlich beschränkt Gültigkeit besitzt. Und somit wurde die Frage legitim, ob der dem Gesandten offenbarte Koran auch Jahrhunderte später noch uneingeschränkte Verbindlichkeit hat. Es wird kaum überraschen, dass innerhalb der Religionsgemeinschaft manche Gruppierungen, wie z.B. die Anhänger von Abu Ḥanbal, die Sicht einer zeitlich beschränkten Gültigkeit vehement ablehnten. Eine andere Gruppe begrüßte hingegen genau diese Sichtweise und die sich daraus ergebenden Perspektiven. Weiter oben wurde schon Folgendes angesprochen: der auf göttlicher Offenbarung begründete Staat des Propheten verfügte aus genannten Gründen über keine Legislative, so wie das die Griechen oder Römer kannten. In Anbetracht der durchschlagenden Veränderungen des politischen Gefüges wie auch durch die territoriale Expansion wäre aber manche Adaptierung des Textes wünschenswert und notwendig gewesen. Eine Flexibilisierung der Rechtsgegebenheiten wäre aus legitimatorischen wie auch aus praktischen Gründen erstrebenswert gewesen. Durch die Usurpation der Macht durch die Umayyaden entstand früh ein autokratisches Herrschaftssystem, das grundsätzlich in Konflikt mit dem ursprünglich solidarischen Gemeinwesen der Ummah stand. In jenem verfügten die Kalifen über die Rechtsprechung nach Gutdünken und Opportunität, was gleichfalls in krassem Widerspruch zur egalitär angelegten Glaubenslehre und zur göttlichen, ewigen »Verfassung« 19 T.J. Debroer meint, dass die Annahme, dass der Koran ewig sei, unmittelbar aus der gängigen christlichen Doktrin vom Logos übernommen worden sei (T.J. Debroer, 1901, S. 48). 20 Dieses vorgeblich »christliche« Denken ist nichts anderes als platonisches Denken. Siehe dazu: F. Nietzsche (1885), und mit der nötigen Bescheidenheit auch: M. Schmutzer (2011), Band I, Kap. XII. 21 Das steht angeblich in Widerspruch zu bestimmten Stellen im Koran (z.B.: 85/22), wo von einem »Urkoran« gesprochen wird, der auf einer Tafel im Himmel verwahrt wird und ewig ist. Ich kann daraus allerdings nicht entnehmen, dass er nicht doch geschaffen wurde. Er könnte ja ähnlich wie die griechischen Götter nur »unsterblich«, aber nicht ewig sein.

229

protowissenschaften stand. Ein derartiger Widerspruch unterminierte die ohnehin schon schwache Legitimität der Herrscher in bedrohlicher Weise weiter.

Ist der Kalif ein »kafir«? Die Umayyaden begegneten dem, indem sie eine vordergründige Legitimierung ihrer reichlich gottlosen Handlungen mithilfe der Prädestination zu erreichen suchten. Sie hätten unter solchen theologischen Voraussetzungen keine zusätzliche weltliche Einflussnahme auf oder gar Schaffung von Gesetzen benötigt, sondern hätten sich auf die ihnen angeblich zugewiesene Rolle als Werkzeuge Gottes berufen können. Nicht einmal die geringste Einflussnahme auf die Rechtsetzung wäre somit notwendig gewesen. Umgekehrt erstaunt es nicht, dass Wege für eine potentielle Beeinflussung der Rechtsetzung von den potentiellen und tatsächlichen Gegnern der Umayyaden mit Geschick anstrebt und gesucht wurden. Daher befürwortete auch die nachfolgende Dynastie der Abbasiden zumindest anfänglich eine Interpretation der heiligen Schrift, die erlauben sollte, das göttliche Gesetz den politischen Umständen anzupassen. Ein Tor in solche Interpretationsräume öffnete jene Debatte um die Erschaffung des Koran. Die Opponenten der herrschenden umayyadischen Mächte gaben sich jedoch mit diesen Ansätzen allein noch nicht zufrieden. Der Koran verbietet u.a. die Tötung von Gläubigen. Daraus ergab sich für beide Seiten die Frage, wer eigentlich ein Gläubiger sei? In anderen Worten hieß das auch, wer dürfe zu Recht und ohne zu sündigen Muslime ins Jenseits und damit vielleicht sogar in die Hölle befördern? Diese Frage bekam in dem Augenblick besondere politische Bedeutung, als nicht nur ein einzelner Mord zu verantworten war, sondern als Hunderte und Tausende niedergemacht wurden, und zwar auf Geheiß des deklarierten Nachfolgers des Gesandten Gottes22, wie dies etwa in der Schlacht von Karbala23 geschehen war. Als Folge daraus ergab sich eine politisch wesentliche Frage: Kann und darf ein derartig sündhafter Nachfolger des Propheten die Einhaltung des Treueids einfordern? Bleibt er Anführer, oder ist er gar kein Muslim? Diese Frage beschäftigte die Theologen massiv. Da es sich um eine hochpolitische Frage handelte, war nicht zu erwarten, dass es zu übereinstimmenden Antworten kommen würde. Das Problem spitzte 22 Dieses Problem beschäftigte schon ʿAli bei den diversen Schlachten gegen Muʿawiya, wie wir bereits gesehen haben. 23 Zur Erinnerung: dort wurde der ganze Clan des zweiten Sohns ʿAlis, Ḥusein, abgeschlachtet.

230

muʿtazila sich in den Diskursen auf die Frage zu, ob ein Mensch, der ein schweres Verbrechen begangen hat, noch als Muslim oder schon als »kafir«, als Abtrünniger, zu betrachten sei. Wie in binären Denksystemen, die stets einer Logik des »entweder-oder«24 folgen, nicht anders zu erwarten ist, waren auch die Antworten entsprechend polarisierend.

Waṣil ibn ʿAṭaʿ Den Berichten zufolge spaltete sich im Laufe einer derartigen Disputation unter der Leitung von Ḥasan al Basri eine Gruppe um Waṣil ibn ʿAṭaʿ (700–748 n.Chr.) und ʿAmr ibn ʿUbayd (gest. 762 n.Chr.) ab, die einen dritten Lösungsvorschlag anbot. Dieser lautete, dass auch Verbrecher Muslime bleiben, weil sie dem wahren Glauben nicht abgeschworen hätten. Sie wären aber keine guten Muslime, sondern gehörten einer dritten Kategorie an, die zwischen »kafir« und Muslim anzusiedeln wäre. Die Entscheidung, ob sie letztlich in der Hölle oder im Paradies landeten, hinge davon ab, ob sie ihre Taten vor dem Tod noch bereuten. Wäre das der Fall, so kämen sie nicht auf ewig in die Hölle, sondern verbüßten ihre Strafe zeitlich begrenzt in einem Zwischenbereich – der vermutlich viel Ähnlichkeit mit dem christlichen Fegefeuer25 hat. In anderen Worten: Waṣil ibn ʿAṭaʿ und sein Gefährte ʿAmr ibn ʿUbayd schlossen die Kluft zwischen den Gegensätzen und befleißig­ ten sich demnach einer »sowohl-als-auch«-Logik. Sie verließen damit nicht nur die tradierten Denkweisen, sondern auch die Gruppe um ihren Lehrer Ḥasan al Basri und begründeten eine eigene, die bald als »Muʿtazila26« bezeichnet wurde. Dieser Schritt Waṣil ibn ʿAṭaʿs kann auch anders betrachtet werden. Die Behauptung eines graduellen Übergangs von einem Ende eines 24 Das heißt, dass sie immer nur zwischen Himmel oder Hölle, gut oder böse etc. wählen können. 25 Anzumerken ist, dass die Christen damals das Fegefeuer, als Ausweg aus dem Dilemma, auch noch nicht kannten. Es wurde erst 1215 beim vierten Laterankonzil erfunden. (J. LeGoff, 1986) 26 Die Bedeutung dieses Wortes wird unterschiedlich interpretiert. Manche betonen, dass es sich auf »iʿtizal« zurückführen ließe. Das bedeutet »Einnahme eines neutralen Standpunktes zwischen zwei Parteien«, konkret soll sich das auf den Konflikt zwischen den ʿAliden und Muʿawiya beziehen. Andere wieder führen ihn auf »iʿtazala« zurück, was »zurückziehen, abspalten« bedeutet. Angeblich soll Ḥasan al Basri diese Bedeutung gebraucht haben, nachdem Waṣil ibn ʿAṭaʿ die Gruppe um seinen Lehrer verlassen hat. Die Vertreter der Muʿtazila bezeichneten sich selbst allerdings als »Leute der Gerechtigkeit und der Einheit Gottes« (Ahl al-ʿAdl wa Tawhid).

231

protowissenschaften Gegensatzpaars zum gegenüberliegenden ist eine notwendige Voraussetzung für dialektisches Argumentieren, wie dies von den Griechen, besonders aber von Aristoteles entwickelt wurde. Mit dem Aufkommen dieser Denkrichtung, die bald einen überragenden Einfluss in den politischen Entwicklungen gewinnen sollte, hat die lange Geschichte des diffusen, wissensbezogenen Erbes aus der Antike bei den Muslimen einen festen Ankerpunkt bekommen. Nicht zufällig werden daher die Muʿtazila meistens als »Dialektiker« bezeichnet.

»ʿIlm al Kalam«, die Wissenschaft vom Wort Mit der Feststellung, dass der Koran bzw. das Wort Gottes endlich und folglich veränderlich sei, entsteht die Wissenschaft von »kalam«, die Wissenschaft vom Wort – »ʿilm al kalam«27. Eine wichtige Schlussfolgerung daraus war, dass das Wort Gottes der rationalen Vernunft zugänglich sein müsse, denn die menschliche Vernunft sei eine notwendige Gottesgabe, ohne die die Offenbarungen Allahs unverständlich blieben. Die Erkenntnis, ob es sich bei bestimmten Handlungen um eine gute oder schlechte Tat handle, komme nur durch den Gebrauch des menschlichen Verstandes zustande. Er sei somit eine wesentliche Voraussetzung für ein gottgefälliges Leben und folglich für die Interpretationen des göttlichen Wortes. Würde diese Vorbedingung nicht erfüllt, so gäbe es auch keine Veranlassung für göttliche Strafen oder Belohnungen. Ein gerechter Gott könne ungerechte Handlungen, die nicht ausschließlich aufgrund des eigenen Willens zustande gekommen, sondern auf sein Geheiß gesetzt worden wären, nicht bestrafen, sondern müsste sie, wenn schon, sogar noch belohnen.

27 »Al-Farabi regards ʿilm al-kalam as ›a science which enables a man to procure the victory of the dogmas and actions laid down by the legislator of the religion, and to refute all opinions contradicting them‹. The doctors of kalam (mutakallimun) themselves were to take a very similar view: this is one of many well-known definitions: ›kalam is the science which is concerned with firmly establishing religious beliefs by adducing proofs and with banishing doubts‹ (from the Mawaqif of al-dhi, 8th/14th cent.). Similar definitions are to be found in Ibn Khaldun, and again in Muhammad ʿAbduh: they summarize a long elaboration, but add nothing new. ʿIlm al-kalam is the discipline which brings to the service of religious beliefs (ʿaqaʿid) discursive arguments; which thus provides a place for reflexion and meditation, and hence for reason.« (Encyclopedia of Islam, Ilm al-Kalam, 1999, Koninklijke Brill NV, Leiden, The Netherlands).

232

muʿtazila

Eine Wissenschaft von der Natur Diese Argumentationslinie führte noch wesentlich weiter. Der gottgegebene Verstand mache es möglich, aus der Beobachtung der Schöpfung, der Natur und des Firmaments zu erkennen, dass es einen allmächtigen Schöpfer geben müsse28, der diese Welt geschaffen habe und am Leben erhalte. Erst durch diese grundlegende Erkenntnis bekämen göttliche Offenbarungen ihren Sinn, denn solange man nicht von der Existenz Gottes überzeugt sei, sei man auch nicht in der Lage, das Wort Gottes als Gottes Wort anzunehmen. Als unmittelbare Folge aus dieser Sichtweise ergibt sich Naturbeobachtung und letztlich, wie bei den Griechen, eine Wissenschaft von der Natur. Das darf nun nicht so missinterpretiert werden, dass erst dadurch Wissenschaft entstanden wäre. Denn, wie weiter vorne dargelegt wurde, existierten die sogenannten »islamischen Wissenschaften« schon früher. Genau genommen existierte wissenschaftliches Forschen seit der Gründung des Islam durch den Propheten, auch wenn diese Art von Wissenschaft zunächst überwiegend hermeneutisch orientiert war. Unter dem Einfluss der Muʿtazila setzte sich nur eine bereits am Anfang des Islam existierende Tendenz durch und wurde vorübergehend zur ausschließlichen Doktrin erhoben, welche menschliche Vernunft zum alleinigen Richter in jedweder Situation machte.

Die Dialektik – eine Untersuchungsmethode Oben wurde bereits auf zwei unterschiedliche Vorgehensweisen der frühen Rechtsgelehrten hingewiesen, die mit »riwayah« und »dirayah« bezeichnet wurden. »Dirayah« bezeichnet den überlegten, intelligenten Gebrauch von Überlieferungen aus den Hadithen. Dasselbe Wort bezeichnete in der Folge nicht nur »Recht« und »Gesetz«, sondern allgemein »Intelligenz«. Solche war vor allem dort nachgefragt, wo es sich um einen klugen Umgang mit offensichtlichen Widersprüchen in belegten Überlieferungen handelte. Die Notwendigkeit für solche um- und vorsichtigen Vorgehensweisen steigerte sich in dem Augenblick, als das Wort Gottes selbst als variabel und fließend verstanden werden konnte. Ein Verfahren, das Regeln aufstellte, wie mit Behauptungen und Hypothesen umzugehen sei, wurde demnach dringend benötigt. Solche Hypothesen bezeichnet das Arabische als »kalam«, ein Begriff, der dem griechischen »logos« entspricht. Im Griechischen meint »dia-logos« () ja ein »Gespräch« bzw. präziser eine »Unter­ 28 Diese Sicht findet sich bereits bei Philo von Alexandrien sieben Jahrhunderte davor. Siehe dazu: M. Schmutzer (2011), Band I, Kap. XII.

233

protowissenschaften suchung«. Die Technik, solche Untersuchungen gekonnt durchzuführen, heißt »Dialektik« (). Es handelt sich demnach bei Dia­ lektik um eine Untersuchungs- oder Forschungstechnik, ähnlich der Technik, ein Verhör durchzuführen. Diese Technik war, wie schon im ersten Band betont wurde, die Königin der Wissenschaften bei Platon und dort eine Geheimwissenschaft. Menschen, die diese Technik beherrschten, wurden von den Arabern als »Mu’takalimun« bezeichnet. In diesem Wort versteckt sich das bereits genannte »kalam«, das bald nicht mehr nur ein »Wort«, sondern die gesamte Kunst bezeichnete, ein »kalam« (Behauptung oder These) zu formulieren und im Rahmen eines untersuchenden Gesprächs zu vertreten. Solche Gespräche waren allerdings keine Kaffeehausunterhaltungen, sondern ernste und häufig folgenschwere Dispute. Annähernd ähnliche Diskurse gab es schon zur Zeit der späteren Umayyaden. Doch in jener Übergangsphase, wo diese entmachtet wurden und ihre Nachfolger, die Abbasiden, noch nicht fest etabliert waren, intensivierte sich die Praxis solcher Disputationen rasch. Zur selben Zeit, d.h. Mitte des 8. Jahrhunderts, erhoben die Traditionalisten mit zunehmendem Nachdruck den Anspruch, dass nur überlieferte Texte, die mittels »dirayah« validiert worden waren, Anspruch auf Gültigkeit durch den Nachweis einer ungebrochenen Überlieferungskette von anerkannter Autorität erheben könnten. Dagegen verfeinerten die Muʿtazila ihr rationalistisches System und stellten dies jener Tradition entgegen. Sie beriefen sich eben auf ihre individuelle Vernunft und die sich daraus notwendig ergebenden Auslegungen durch »riwayah«29. Die Anhängerschaft der Muʿtazila wuchs und verbreitete sich besonders stark dort, wo politischer Widerstand gegen die Umayyaden seit den Tagen der Kamelschlacht oder dem Massaker von Karbala endemisch war. Das bedeutete zugleich, dass die Schiiten im Zweistromland diese Ausrichtung besonders stark unterstützten, wogegen das Ursprungsland der Umayyaden, also die Hidschaz, Medina und Damaskus, der traditionellen Auffassung und der Hadithwissenschaft verbunden waren.

Politik und Religion Politik und Religion sind im Islam seit seiner Gründung durch Mohammed und wegen der besonderen Umstände dieser Gründung kaum zu trennen. Dass zugleich diese beiden Sektoren aber nur schwer zu vereinen sind, zeigt die gesamte politische Geschichte des Islam seit dem 29 Siehe dazu: H. Abdul-Raof (2013).

234

muʿtazila Tod des Propheten. Die Entwicklungen in Europa seit Konstantin dem Großen bestätigen diese Sicht. Die religiös-philosophisch orientierten ʿAliden und die lange Reihe der Imame, die sie hervorbrachten, waren keine erfolgsverwöhnten Politiker. Genauso wenig waren die politisch erfolgreichen Umayyaden akzeptierte Religionsführer. Trotzdem waren beide Sektoren aufeinander angewiesen. Die Machthaber konnten sich nicht allein aufgrund der Ausübung ihres Gewaltmonopols halten, sie benötigten zusätzlich die Legitimation der Religion. Umgekehrt waren auch die religiösen Führer, wie sie sich seit Dschaʿfar aṣ-Ṣadiq positioniert hatten, alleine nicht in der Lage, ihre Glaubensauffassungen widerspruchslos durchzusetzen und gegen allseits auftretende Abspaltungstendenzen zu verteidigen. Beide benötigten einander. Daher waren die neuen abbasidischen Herrscher, die ihren Anspruch aus der Abstammung vom Haus des Propheten herleiteten, auch darauf angewiesen, religiöse Unterstützung zu requirieren. Sie suchten und fanden sie zunächst dort, wo es ihnen am dienlichsten war, nämlich bei jener Gruppe, die die Umayyaden schon seit geraumer Zeit verurteilt hatten und die durch ihre These der Erschaffenheit des Koran auch noch die Chance auf eigenständige Rechtschöpfung eröffnete. Diese Gruppe waren Rationalisten, sie waren Könner der Dialektik und wurden als Muʿtazila bezeichnet. Für sie als Rationalisten, die bereits damals mit zahlreichen Überlieferungen aus dem Fundus des Hellenismus vertraut waren, war es nahezu ein Gebot, ein Argumentationssystem aufzubauen, das sich an den Vorgaben der euklidischen »Elemente« und der aristotelischen Doktrin orientierte. In anderen Worten bedeutete das, Axiome bzw. Postulate zu formulieren, von denen sich deduktiv Schlussfolgerungen ableiten ließen. Mithilfe solcher Postulate ließen sich, ähnlich wie bei Euklid, Propositionen – das sind Thesen – schlüssig beweisen. Die ausschlaggebenden Thesen der Muʿtazila lauteten demnach wie folgt: 1) Es gibt nur einen Gott, und dieser Gott ist Eins30 (al tawhid), d.h. eine ungeteilte Einheit. 2) Gott ist gerecht (al-ʿadl). Er befiehlt oder wünscht nie Schlechtes. Es ist der Mensch, der mit seinem freien Willen solches bewirkt. Der Mensch ist Schöpfer seiner Taten, daher auch dafür verantwortlich. Daraus folgt, dass Allah ihn auch für seine Handlungen belohnt oder bestraft, denn Gott will nur das Gute31.

30 Schon das erinnert heftig an griechische Begrifflichkeiten (siehe Kapitel I in diesem Band). 31 Auch das ist teleologischer Aristotelismus pur.

235

protowissenschaften 3) Weil Gott bestraft und belohnt, barmherzig und gerecht ist, verspricht er und warnt (al-waʿd wa’l-waʿid) durch seine Offenbarung. Wer ohne Reue eine große Sünde begeht, wird auf ewig zur Hölle verdammt. 4) Sünder befinden sich in einem Zwischenstadium. Sie sind weder Gläubige noch Ungläubige (al-manzilah bayn al-manzilatayn). 5) Für Gläubige besteht die Pflicht, bei der Verwirklichung des Guten mitzuwirken bzw. Schlechtes zu verhindern, sei es, wenn nötig, mit dem Schwert (amr bil maʿruf wa nahy an al munkar). Das besagte u.a., dass schuldige Anführer abgesetzt werden müssen und Gegner gezwungen werden sollen, den wahren Glauben anzunehmen32. Diese These hatte im 9. Jahrhundert n.Chr. besondere Bedeutung, als Personen, die die Erschaffenheit des Korans leugneten, vor Gericht gebracht und hart bestraft wurden33. Später verlor sie an Bedeutung.

Machtübernahme An dieser Stelle scheint es für das bessere Verständnis hilfreich, die politischen Entwicklungen wieder zusammenzufassen: Bald nach dem Tod Waṣil ibn ʿAṭaʿs (gest. 748 n.Chr.), doch noch zu Lebzeiten von ʿAmr ibn ʿUbayd (gest.762 n. Chr.), Abu Ḥanifas (gest. 767 n.Chr.) und Malik ibn Anas (gest. 795 n. Chr.) fand ein gewaltiger politischer Umsturz im islamischen Machtbereich statt. Verkürzt gesagt könnte man diesen Umbruch auch als »persische Revolution« bezeichnen, brachte sie doch das über viele Jahrhunderte regierende Geschlecht der Abbasiden als Kalifen an die Macht. Deren Machtpotential wurzelte allerdings in alten persischen Familien, vor allem der mächtigen Familie der Barmakiden34. Trotzdem fühlten sich auch die Abbasiden verpflichtet, den von ihnen erhobenen Anspruch auf das Kalifat auf die Abstammung von einem nahen Verwandten Mohammeds, den oben genannten Abbas ibn ʿAbd al-Muṭṭalib, zurückzuführen. Sie wagten nicht, ihre Herrschaft anders zu legitimieren, da ihre politische Unterstützung auf der arabischen Seite zu gutem Teil von der von ʿAli gegründeten Partei, der Schiʿa, kam. Aus nachvollziehbaren historischen Gründen betonten die Anhänger dieser Richtung, dass sich die rechtmäßige Nachfolge des Propheten stets aus der Herkunft aus dem Banu der 32 Das steht in blankem Widerspruch zu den Lehren des Propheten (s.o.). 33 Miḥna (s.u.) 34 Dieser Clan stellte seit Anfang der Abbasidenherrschaft über mehrere Generationen die Wesire der Kalifen, die vielleicht mit Premierministern verglichen werden könnten.

236

machtübernahme Haschemiten ergebe. Die ersten drei »rechtmäßigen Kalifen« von Abu Bakr bis ʿUthman leiteten hingegen ihre Funktion stets aus einem Konsensverfahren innerhalb der Ummah ab. Die Abbasiden eroberten das Kalifat, indem sich ein Nachkomme von Abbas ibn ʿAbd al-Muṭṭalib, Abu’l Abbas (der später den Beinamen as-Saffah erhielt) zum Anführer Aufständischer im Osten des Reichs machte. Im Khorasan, einem Gebiet, das stark persisch beeinflusst war und wo folglich Widerstandsnester seit der Eroberung des Gebiets durch die Muslime weiter existierten, erfolgten mehrere Aufstände, die von den Umayyaden nicht unter Kontrolle gebracht werden konnten. Nachdem sie im Osten bereits mehrere Gefechte verloren hatten, kam es 750 n.Chr. unter der Führung von Abu Muslim35 zur entscheidenden Schlacht, die die Umayyaden verloren. Abu’l Abbas ließ sich unmittelbar darauf, wie der Historiker aṭ-Ṭabari (839–923 n.Chr.) schildert, von seinem Bruder Dawud in der großen Moschee zu Kufah zum neuen Kalifen ausrufen. Da die Umayyaden ihre Hauptstadt in Damaskus hatten, blieben sie eine andauernde Bedrohung für den neuen Kalifen al-Abbas (gest. 754 n.Chr.). Er begegnete ihr durch eine minutiös geplante Abschlachtung 36 der gesamten Umayyaden-Dynastie anlässlich eines »Versöhnungsgastmahls« in Damaskus. Diese Gewalttat lässt sich durchaus mit der Abschlachtung der Anhänger Ḥusains bei Karbala vergleichen. Ein einziger Vertreter der Umayyaden entging dem Morden, weil er zufällig bei dem Fest nicht anwesend war. Diesem einzig überlebenden jungen Prinzen gelang eine abenteuerliche Flucht nach Spanien, wo er schließlich ein eigenes Emirat37 begründete. Der radikale politische Umbruch blieb für die Entwicklung der Wissenschaften im Islam nicht ohne Folgen. Da Abu ’l Abbas diesen Umsturz langfristig und umsichtig plante, versicherte er sich weitblickend früh der Unterstützung aufsässiger Theologen und Juristen, die er problemlos in Kufah und in den Reihen der Schi‘a bzw. der Kharidschiten fand. Dort hatten auch die Qadariten und folglich auch die Muʿtazila eine starke Anhängerschaft38. Deren aufsässige Lehren stärkten die Um35 Dieser wurde bald nach dem Tod von Abbas auf Betreiben von al-Manṣur ermordet, weil er zu mächtig wurde. 36 Abu’l Abbas as-Saffaḥ, der diese »Schlächterei« veranlasste, wurde deshalb auch »as-Saffaḥ« genannt, es bedeutet nämlich »der Schlächter«. 37 Ein »Emir« ist ein militärischer Oberbefehlshaber. Ein Emirat ist demnach das Gebiet, das von einem solchen regiert wird. Das Emirat »Al Andalus« wurde erst im 10. Jahrhundert n.Chr. in ein Kalifat umgewandelt. 38 »In the case of the Muʿtazila, most of them were not Arabs. They were Persian mawali. These Persians when accepted Islam, were accused of not accepting Islam from their heart so they were accused of heresy.« (M. Atta, 2012, S. 1037).

237

protowissenschaften sturzpläne von Abu’l Abbas. Klug scheint er die Schiiten in der Hoffnung gewogen zu haben, dass die ʿAliden nach einem derartigen Umsturz endlich wieder an die Macht kommen würden. Sobald der Coup gelungen war, wurden diese Erwartungen allerdings prompt enttäuscht. Trotzdem blieben die positiven Kontakte zu den Muʿtazila weiter bestehen. Schließlich befürworteten sie ja nicht nur die Eliminierung der Umayyaden, sondern konnten mit ihren Thesen von der Erschaffung des Koran auch in Hinblick auf Rechts- und Gesetzesauslegung von Nutzen sein. Abu‘l-Abbas erfreute sich seiner neuen Würde nicht allzu lange. Er übte das Amt nur ca. drei Jahre aus. 754 starb er an Pocken. Diese Todesart gab ihm aber offenbar noch genug Zeit, um seinen Nachfolger selbst zu bestimmen. Erwählt wurde sein jüngerer Bruder Abu Dschaʿfar al-Manṣur39 (714–775 n.Chr.), der für die Pflege der jungen Wissenschaften eine bedeutende Rolle zu spielen begann.

Wissen ist Macht Nun ist der Zeitpunkt gekommen, wo die Frage, warum die damaligen Machthaber Wert auf die Pflege oder Kontrolle von Wissen mittels Förderung – Förderung bedeutet ja immer zugleich Abhängigkeit und Kontrolle – legten. Die Einsicht, dass »Wissen Macht ist«, wurde nicht erst von Francis Bacon geboren, dem obiger Satz zugeschrieben wird. Wenn auch diese präzise Formulierung von ihm stammt, so war der Inhalt dieser Aussage schon den alten Griechen40 bekannt, wobei sich problemlos auch frühere Quellen finden lassen würden. Wissen ist das, was sich in den Köpfen der Leute befindet, Wissenschaft hingegen ist jene Institution, die solches Wissen akkreditiert, manchmal auch produziert, jedenfalls aber legitimiert. Sie trennt angeblich die Streu vom Weizen, doch ob der »Weizen« tatsächlich Weizen und obendrein verdaulich ist, bestimmt wiederum sie bzw. ihre Sponsoren. Diese gedrängte Aussage gilt allgemein. Sie gilt für juristisches Wissen und medizinisches Wissen, für theologisches wie auch für Produktionswissen41. 39 »Al-Manṣur« ist ein Beiname, den er sich vermutlich selbst zugesprochen hat. Er bedeutet »derjenige, den Gott zum Sieg bestimmt hat«. Daraus lässt sich einmal mehr schließen, wie sehr er um Legitimation bemüht war. Im gleichen Geist nannte er auch seinen Sohn »Mahdi«, was vor allem für die Schiiten ein Signal sein sollte. Die Bedeutung dieses Namens ist »Erlöser« und bezeichnet den mystischen zwölften Imam. 40 Siehe dazu: M. Schmutzer (2011), Band I, inbesondere Kapitel acht. 41 So berichtet etwa Sueton, dass der römische Kaiser Vespasian einen Erfin-

238

wissen ist macht Es steht außer Debatte, dass sich politische Macht nicht allein durch Ausübung von Gewalt erhalten oder vergrößern lässt. Die Umayyaden verfügten darüber schrankenlos. Sie wurden trotzdem abgesetzt und hingeschlachtet. Was ihnen fehlte, war ausreichende Legitimation ihrer Herrschaft, die letztlich im Glauben begründet ist. »Glauben« bedeutet hier nicht nur religiöses Bekenntnis, sondern eine Überzeugung, die bestimmte Handlungen oder Aussagen zu letztgültigen Wahrheiten werden lässt, die keine Alternativen und keinen Widerspruch offen lassen. Solche unüberprüfbaren, letzten Wahrheiten sind Voraussetzung für alle Erklärungssysteme, egal ob es sich dabei um mathematische Sätze oder politische Herrschaftslegitimierung handelt. Jede sprachliche Äußerung ruht, immer wenn zwischen Individuen Kommunikation stattfinden soll, in solchen Voraussetzungen. Da Ausübung von Macht nicht nur im Handeln besteht, sondern auch im Überzeugen durch Reden, das Gefolgschaft und Folgsamkeit schafft und Widerstände verringert, stellen die Fähigkeit des »Sprechen-könnens« und Sprache schlechthin ein unumgehbares Mittel zur Ausübung von Herrschaft42 dar. Heute bezeichnen wir solche Instrumente als »Medien«, doch auch ohne die heute gängige Technisierung dieser Instrumente war die Kunst des »Mitteilens« und »Überzeugens« schon in den frühesten Überlieferungen ein bekanntes Herrschaftsmittel. Nicht umsonst schreibt Homer schon in der Ilias, dass das, was einen hervorragenden Mann auszeichnet, die Fähigkeit ist, »Redner von Worten zu sein sowie Vollbringer von Taten« (Homer, Ilias, IX, 443). Gesetze sind gesetzte Sätze. Solche Sätze bewirken Handlungen oder unterbinden sie. Die Formulierung solcher Sätze erzeugt und vermittelt Macht, weil damit Handlungen in ein vorgegebenes Bett kanalisiert werden und dadurch genutzt oder eben verhindert werden können. Nun kann und muss nicht jeder gesprochene Satz aus dem Mund eines Potentaten kommen. Es reicht, wenn er sicherstellt, dass gewisse Sätze nicht artikuliert werden, andere schon. Nicht umsonst stellt daher G. Makdisi (1981) fest: »The governing power has always sought to bring the ulama [Wissenschaften] within its orbit, the better to control and make use of their influence with the community of believers.« (G. Makdisi, op. cit., S.291). der reich belohnte, der ihm ein neues Verfahren vortrug, das eine billigere und schnellere Errichtung von Bauwerken ermöglicht haben soll. Allerdings verbot er ihm zugleich auch, dieses Wissen zu veröffentlichen, weil er die dadurch entstehende Arbeitslosigkeit vermeiden wollte. 42 Poesie und Kunst der Rede sind folglich auch aus der Perspektive der Herrschaftsausübung zu betrachten. Es ist kein Zufall, dass gerade diese Kunst von den Arabern hoch geschätzt und gepflegt wurde.

239

protowissenschaften Er sagt weiter: »The doctors of Islam gave the juridico-theological reasons, and the sovereign power applied the penalty in matters involving power.« (G. Makdisi, ibid., S. 279/280).

Und Makdisi stellt zusätzlich fest, dass von Anfang an die Herrscher (Kalifen, Emire, Sultane) und auch wohlhabende Kaufleute den Scholaren in unterschiedlichen Weisen materielle Unterstützung angedeihen ließen. Sie leisteten dies oft mit offiziell religiösen Begründungen, doch darf man annehmen, dass solche Gaben auch durch Gegenleistungen bedankt wurden. Asma Hilali (2012) hat in einer historischen Studie anschaulich demonstriert, wie bereits bei der Auswahl von Hadithen derartige Überlegungen eine Rolle spielten. Manche wurden nur mit dem Argument unterdrückt, dass ihre Abstammung, das heißt die Linie der Übertragungen (sanad bzw. riwaya) zweifelhaft wäre und folglich keine Argumentationsgrundlage böte. Asma Hilali zeigt, wie unterschiedliche Herrscher unterschiedliche Standards einforderten und damit nicht nur ihre Herrschaftsansprüche absichern, sondern auch strafwürdiges Verhalten definieren konnten. Die Abbasiden, deren Herrschaftsanspruch als Nachfolger des Propheten nicht wesentlich besser legitimiert war als jener der Umayyaden – auch sie beriefen sich auf ihre Abstammung aus dem Haus der Haschemiten – hatten schon allein deshalb alles Interesse daran, Rechtsprechung und Rechtschöpfung unter ihre Kontrolle zu bekommen. Das zu erreichen, war aber keinesfalls leicht, weil damals – mehr als hundertzwanzig Jahre nach dem Tod des Propheten – bereits verbindliche und weit verbreitete Rechtsinterpretationen auf der Basis von Koran, Sirah43 und Hadithen existierten, die zusammen als Sunnah bezeichnet und durch den oben genannten Argumentationsprozess des »Idschtihad« abgesichert wurden. Sollte hingegen die Akzeptanz von irgendwelchen Rechtsmeinungen untergraben werden, so mussten andere Mittel zur Anwendung kommen, als nur den Konsens zwischen einigen Rechtsgelehrten in Frage zu stellen. Dazu wurden schlagkräftigere Argumente benötigt. Voraussetzung für alle Dispute bildete nach wie vor das Gewicht göttlicher Offenbarungen, wie sie im Koran festgeschrieben waren. Diese musste man daher zumindest relativieren können. Dies konnte u.a. dadurch geleistet werden, dass offenkundige Widersprüche im heiligen Buch als metaphorische oder allegorische Aussagen bewertet wurden, oder allgemeiner dadurch, dass der Koran selbst nicht länger als ewiges Wort verstanden wurde, sondern als von Allah geschaffen. Damit wur43 Das ist die verbürgte Darstellung des Lebens des Propheten.

240

wissen ist macht de auch das heilige Buch dem Regime der Zeit und der Vergänglichkeit unterworfen. Eine derartige These grenzte zwar damals an Häresie und wäre nicht vertretbar gewesen, wenn nicht der starke Arm der Machthaber schützend seine Hand über die Vertreter solcher Thesen gehalten hätte. Die Vertreter solcher Thesen waren aber vorwiegend die intellektuellen Abkömmlinge der Qadariten, der Feinde der Umayyaden. Und jene waren mit den argumentativen Methoden der alten Griechen zumindest teilweise bereits vertraut. Ihr Wissen bezogen sie teils aus eigenen Studien, teils aus den Überlieferungen christlicher Theologen. Denn schon die frühen Kirchenväter in Alexandrien hatten wenig andere Wahl, als sich dieser hoch entwickelten intellektuellen Waffen zu bedienen, wenn sie sich gegen die Vorbehalte heidnischer griechischer Gelehrter behaupten wollten. Sie beherrschten daher diese Methoden, und einige von ihnen überlieferten – wie beispielhaft schon oben gezeigt wurde – solche Kenntnisse als Lehrer auch an Muslime. Diese ersten Anstrengungen, politisch-religiöse Behauptungen mithilfe von rationalen Argumenten zu untermauern, wirkten sich auf die Nachfolger der Qadariten befruchtend aus. Die intellektuellen Erben der Qadariten waren die Vertreter der Muʿtazila44. Diese waren – wie wir bereits wissen – stark von den Ideen der griechischen Logiker beeinflusst. Wesentliche Kenntnisse davon dürften schon vor dem Auftreten des Islam verbreitet gewesen sein, da christliche Sekten, wie etwa die Nestorianer, nach ihrer Verurteilung sich in vom römischen Staat weniger gut kontrollierte Gebiete zurückzogen. Solche Orte waren Edessa oder das persische Nisibis. Insbesondere Städte nahe dem oder gleich im persischen Reich gestatteten den Emigranten hinreichend Freiheit, sodass sie dort eigene Schulen gründen konnten, die bald Bedeutung erlangten. Die Bevölkerung im nördlichen Mesopotamien sprach nicht Griechisch, sondern Syrisch, eine semitische Sprache und dem Arabisch verwandt. Die Emigranten übersetzten folglich griechische Werke für den Unterricht ins Syrische, wobei wiederum manche Arbeiten des Aristoteles zur Logik bevorzugt übertragen wurden. Nachdem der römische Kaiser die Schule in Edessa eines Tages nicht weiter duldete und deren Auflösung anordnete45, überschritten die dortigen Lehrer ebenfalls die persische Grenze und kamen nicht nur nach 44 »But in these very first efforts to support politico-religious attitudes by means of rational argument the main lines of later discussions are already drawn. With greater or less success, the qadariyya anticipate some of the main theses of the Mu‘tazila […]« (Encyclopedia of Islam, Ilm al-Kalam, 1999, Koninklijke Brill NV, Leiden, The Netherlands). 45 Im Jahre 489 n.Chr. befahl der oströmische Kaiser Zeno die Schließung

241

protowissenschaften Nisibis, sondern direkt in die persische Hauptstadt Gondischapur. In Gondischapur existierte seit mindestens zweihundert Jahren eine Medizinschule von Bedeutung, und an dieser wurden die Emigranten mit offenen Armen aufgenommen. Sie unterrichteten nun auch dort hellenistische Philosophie, Medizin und Naturwissenschaften auf Syrisch. Vermutlich ist es diesem Umstand zuzuschreiben, dass Gondischapur zu einem bedeutenden Zentrum wurde, an dem zahlreiche Werke von Aristoteles über Philosophie, Medizin, Kosmologie und die Naturwissenschaften, Astronomie, Physik oder Biologie übersetzt wurden, und zwar gleich in mehrere Sprachen, wie Pahlavi, Sanskrit und Syrisch. Sogar arabische Übersetzungen wurden angefertigt, wobei dies wohl erst nach der Eroberung stattgefunden haben dürfte. Auch in Alexandrien war man diesbezüglich nicht untätig geblieben. Sergius von Reschaina (gest. 536 n.Chr.) war ein Arzt und monophysitischer Priester, der in Alexandrien studierte und einige Werke des Aristoteles ins Syrische übertrug. Zusätzlich schrieb er Bücher über Astronomie, die gleichfalls stark von griechischen Vorbildern geprägt waren. Doch auch Sergius blieb keine Einzelerscheinung, die sich der Übersetzung griechischer Texte widmete. Doch soll an dieser Stelle keine detaillierte Geschichte der syrischen Übersetzungen angeboten, sondern nur gezeigt werden, dass selbst dann, wenn wissensbegierige Araber kein Griechisch beherrscht hätten, sie zweifellos Syrisch verstanden und von dort Kenntnisse über einschlägige Arbeiten erwerben konnten, insbesondere über das aristotelische »Organon«, d.h. die »Topik«, »Dialektik« und »Logik«. Soviel als Nachweis dafür, dass die frühen Muʿtaziliten schon vor dem Einsetzen der sogenannten Übersetzungsbewegung Kenntnisse von griechischen Publikationen haben konnten. Man kann aus diesen Anmerkungen fraglos erkennen, dass die expandierenden Araber in ein intellektuelles Milieu vorstießen, das geschwängert war von einschlägigen Kenntnissen und sich dadurch wesentlich von den Gegebenheiten im Frankenreich oder in anderen abendländischen Regionen unterschied. Trotzdem sollte nicht übersehen werden, dass die Römer während ihrer Eroberungen von Magna Graecia und wesentlichen Teilen des hellenistischen Kulturraums vergleichbare Möglichkeiten vorgefunden haben, ohne sie allerdings zu nutzen. Im westlichen Christentum herrschte vielmehr schon vor dem Zusammenbruch des römischen Reichs eine ausgeprägte wissenschaftsfeindliche Einstellung vor. Diese trug nicht wenig dazu bei, dass sich im Abendland im Unterschied zum islamischen Osten und Süden intellektuelle Finsternis

der Schule wegen ihrer nestorianischen Tendenzen. Die Schule wurde deshalb nach Nisibis verlagert.

242

wissen ist macht ausbreitete, wogegen im Morgenland die Sonne schien46. Diese Tendenz betraf nicht nur Wissenschaften und Philosophie, sondern auch das Rechtswesen, wie schon im zweiten Kapitel gezeigt wurde. Registrierten wir dabei im Westen eine wachsende Abkehr von kodifiziertem Recht und eine Rückkehr zur göttlichen Willkür, so verhielt es sich auch in dieser Hinsicht bei den Söhnen der Wüste anders.

»Idschmaʿ« und »khilaf« Es wurde bereits über die zahlreichen Bemühungen berichtet, aus dem diffusen Nachlass des Propheten ein verbindliches Rechtssystem zu bauen. Bei diesem Prozess taten sich verschiedene Rechtsgelehrte hervor und bemühten sich, Übereinstimmung bei der Auslegung der Sunnah zu erreichen bzw. verbindliche Rechtsansichten zu schaffen. Bereits unter den Umayyaden hatte ein Rechtsgelehrter (Ibn Muqaffa, gest. 759 n.Chr.) dem damaligen Kalifen vorgeschlagen, die sich rapide auseinander entwickelnden Rechtsmeinungen zu sammeln und ihre Argumente zu untersuchen, um sie schließlich zu kodifizieren und dadurch Rechtssicherheit und Einheitlichkeit herzustellen. ʿUmar II. (717 – 720 n.Chr.) hatte aber knapp davor dekretiert, dass Rechtssicherheit in den einzelnen Regionen von den Rechtsgelehrten selbst herzustellen sei. Folglich kam es damals noch zu keiner Vereinheitlichung der Rechtspraxis innerhalb des gesamten weitläufigen Reichs. Den Abbasiden war hingegen bald klar, dass es im Interesse ihres eigenen Machterhalts läge, wenn ein Zustand erreicht würde, der in einem einheitlichen und anpassungsfähigen Recht begründet wäre. Bislang galt die tradierte, auf dem Prinzip der Gleichheit fußende Formel, dass der Koran als ewiges Wort für alle offenbart worden wäre. In rechtlicher Hinsicht galt der heilige Koran gleichfalls als unhinterfragbare Norm. Seine Aussagen bildeten die Quelle aller »Wahrheiten«, die nicht bezweifelt werden konnten und denen somit eine analoge Bedeutung zukam wie den Enthymemen und Axiomen der aristotelischen Logik. Allerdings sollte der Koran, weil er göttliche Offenbarung und eine Botschaft Allahs an alle Menschen war, auch von allen verstanden und von allen ausgelegt werden können. Daraus ergab sich eine grundsätzlich positive Einstellung zu individuellen Auslegungen der heiligen 46 Diese Sicht vertritt R. Bergmeier (2012) mit großem Nachdruck. Er übersieht allerdings, dass diese ablehnende Einstellung bereits vor dem Christentum in Rom vorherrschend war und man vermuten darf, dass sich die Christen an Rom orientierten und nicht umgekehrt, sobald sie in eine entsprechende staatstragende Rolle wechselten.

243

protowissenschaften Texte. Diese Sicht vertraten auch die Muʿtazila. Sie meinten, dass nur jene, die sich dabei nicht zurechtfinden würden, den Rat eines Rechtsgelehrten einholen könnten und sollten. Derartige Berater entschieden aber stets nur Einzelfälle, und das nach ihrem jeweiligen Gutdünken. Vergleichbarkeit und Kontinuität der Entscheidungen waren ihnen zunächst kein vorrangiges Anliegen, da jeder Gelehrte überzeugt war, nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt zu haben. Diese anfängliche Betrachtungsweise änderte sich allmählich. Eine gewisse Systematik erwies sich als Notwendigkeit, wenn die Einheit des Glaubens und des Rechts nicht gefährdet werden sollte. Malik ibn Anas entwickelte aus solchen Erwägungen heraus ein Konsensverfahren unter Rechtsgelehrten. Von nun an wurden wichtige Rechtsentscheide, (fatawa, pl. von fatwa), aufgrund eines »idschmaʿ«47 erreicht, d.h. aufgrund eines unter Gelehrten gefundenen Konsenses. Solcher Konsens wurde nicht, wie es bei uns Brauch wäre, durch positiv und negativ abgegebene Stimmzettel erzielt. Eine dazu notwendige Auszählung der Stimmzettel hätte damals kaum stattfinden können. Stattdessen wurde Konsens dadurch erreicht, dass man festzustellen suchte, ob jemals autoritative Einwände von anerkannten Rechtsgelehrten gegen eine bestimmte Doktrin erhoben wurden. (G. Makdisi, 1981, S. 106) Diese Vorgehensweise erforderte die Archivierung und das Studium veröffentlichter Rechtsgutachten, was deren Kodifizierung gleich kam. Selbst dieses Verfahren führte allerdings trotz allem, wie bereits angemerkt, zwischen einzelnen Schulen zu Divergenzen. Aber es bildete zugleich auch den Anlass dafür, dass die sich rapide auseinander entwickelnden Rechtsmeinungen gesammelt und ihre Argumente untersucht wurden. Wir betrachten diesen Schritt in der Entwicklung als maßgeblichen Angelpunkt für die Entstehung islamischer Wissenschaften und die bald darauf erfolgende, intensive Auseinandersetzung mit der antiken Überlieferung. Es ergab sich nämlich aus diesen Sammlungen nicht nur ein allen Kontrahenten bekannter Verhandlungsspielraum zwischen Thesen und Antithesen, »idschmaʿ« (Konsens) und »khilaf« (Einspruch, Wider­spruch), sondern auch eine ausgeprägte Affinität zur aristotelischen Topik, die zumindest einigen aus der nestorianischen Lehrtätigkeit nicht gänzlich unbekannt war. Sich in diesem neuen diskursiven Raum bestmöglich zu platzieren, lag im Interesse aller Streitparteien. Und um hier erfolgreich zu sein, brauchte es nicht nur Übung in der Gesprächsführung, sondern zusätz47 Es besteht allerdings kein Konsens darüber, wann dieser Konsens erreicht wird. Oft wird die Auffassung vertreten, dass das dann der Fall wäre, wenn niemand eine gegenteilige Meinung artikuliert. Wer schweigt, stimmt zu!

244

wissen ist macht lich auch eine durchdachte Technik. So wird verständlich, warum eine der ersten Übersetzungen ins Arabische aus dem Syrischen, in das sie bereits früher von Nestorianern übersetzt worden war, die »Topik« des Aristoteles war. Diese erste Übertragung entstand bereits im Auftrag al-Mahdis (reg. 775–785 n. Chr.), Sohn und Nachfolger von al-Manṣur. Und es ist kein Zufall, dass der Kalif al-Mahdi ein gefürchteter Gegner in solchen Auseinandersetzungen war. Darauf, wie auch auf die Bedeutung der Disputation, komme ich in Kürze zurück, denn auch diese Entwicklungen erfolgten nicht unabhängig vom gleichzeitig stattfindenden politischen Wandel.

Bagdad Abu‘l-Abbas hatte nach seiner Ausrufung zum neuen Kalifen alle Hände voll zu tun, um seinen Anspruch auch in der Realität durchzusetzen. Offenbar scheint ihn daher die Frage, wo er seine Residenz errichten sollte, noch nicht beschäftigt zu haben. Sein Nachfolger war wie erwähnt sein Bruder, der Kalif al-Manṣur (754–775 n.Chr.). Diesem stand für solche Fragen mehr Zeit zur Verfügung, wobei die Möglichkeit, Damaskus als Hauptstadt des Reichs beizubehalten, aus mehreren Gründen nicht weiter zu erwägen war. Nicht nur verfügten dort die Umayyaden über eine starke Anhängerschaft, sondern umgekehrt konzentrierte sich auch jene der Abbasiden in der Region des heutigen Irak, einem Gebiet, das sich seit je als aufständisch profiliert hatte. Kufah und Basra hatten sich durch eigenständige Wege schon früh ausgezeichnet, ein Sachverhalt, der durch die vorsichtig widerständige Unterstützung der persischen Aristokratie gefördert wurde. Letztlich war ja auch die Entmachtung der Umayyaden erst dadurch möglich geworden. Andererseits war Kufah gleichfalls kein Ort, wo nicht auch über zahllose Kanäle Druck auf Herrscher ausgeübt worden wäre. Somit entschied al-Manṣur weitblickend, dass die vermutlich beste Lösung eine neue Hauptstadt wäre. Zahlreiche Legenden ranken sich um den Suchvorgang nach einem geeigneten Platz für die neue Hauptstadt. Laut einiger Berichte soll die Entscheidung sogar auf Prophezeiungen christlicher Mönche zurückzuführen sein, die angeblich die Gründung einer riesigen Stadt in der Nähe ihres eigenen Klosters vorhergesagt hatten. Geschichtsschreiber bestätigen jedenfalls, dass sich al-Manṣur ausführlich beraten ließ, wozu auch astrologische Gutachten gehörten. Dies ist deshalb erwähnenswert, weil damit eine grundsätzliche Einstellung veranschaulicht wird: nämlich die, dass diese neue Dynastie ihre Entscheidungen auf einer soweit wie möglich rationalen Basis begrün245

protowissenschaften den wollte, wobei damals eben auch Astrologie als Wissenschaft solche Entscheidungsgrundlagen zur Verfügung stellen konnte. Am 30. Juli 762 n.Chr. soll aufgrund eines derartigen Gutachtens al-Manṣur den Auftrag zur Gründung eines »Madinat as-Salam«, einer »Stadt des Friedens«, erteilt und selbst den ersten Grundstein dazu gesetzt haben. Schon die Architektur dieser Stadt mit Namen Bagdad verrät bereits einige interessante Charakteristika. Sie wurde kreisrund mit einem Durchmesser von etwa 2 km gebaut. Das entspricht dem überlieferten Muster persischer Stadtplanung48, wie es auch in anderen Städten der Zeit und der Region gefunden werden kann. Eine Stadtmauer, die später verdoppelt wurde, schloss die bedeutenden Gebäude der Verwaltung, die Moschee und die Residenz ein. Strahlenförmig liefen aus dem Zentrum die Hauptstraßen zu den bedeutendsten Toren, die die Wege nach den Handelsstraßen des Ostens, nach Kufah und zur heiligen Stadt Mekka öffneten. Von Tigris und Euphrat flankiert, war nicht nur die Wasserversorgung gewährleistet, sondern auch die Möglichkeit weitreichender Bewässerung der umliegenden Felder gegeben. Märkte und Wohnhäuser lagen außerhalb der Mauern. Von Anbeginn war die Stadt auch als Militärzentrum und Arsenal gedacht, was u.a. eine gewaltige Nachfrage nach allen denkbaren Gütern, von Waffen und anderem Rüstzeug über Verpflegung und Textilien bis zu Luxusartikeln, mit sich brachte, die auch der Hof benötigte. Somit wurde diese neue Stadt schnell ein wichtiges Handelszentrum und Umschlagplatz. Das Bemühen der Abbasiden, ihre Herrschaftsansprüche rational zu legitimieren, förderte zugleich die Nachfrage und Produktion von Literatur unterschiedlichster Art. Diese wurde bereits unter al-Manṣur durch die Kalifen selbst mit hohen Einsätzen gefördert und stimulierte zugleich eine Papierindustrie, ein Produkt, das von chinesischen Kriegsgefangenen erzeugt wurde. In dieser quirligen, expansiven Stadt herrschte demnach auch ein ausgeprägter Bedarf nach Wissen jeder Art. Und so überrascht es nicht, dass in demselben Umfeld auch Institutionen entstanden, die diesen Bedarf zu befriedigen trachteten. Dass dabei Herrschern, die bestrebt waren, ihrer Herrschaftsausübung eine rationale Basis zu verleihen, eine bedeutende Rolle als Förderer zufiel, der sie gerne gerecht wurden, sollte niemand überraschen. So kam es, dass Bagdad in der damaligen Welt zu einem Zentrum der Gelehrsamkeit wurde, wie es davor im Vergleich nur Alexandrien war. J. Al-Khalili (2010) meint, dass dies das Resultat des dominanten persischen Einflusses gewesen sei, u.a. auch deshalb, weil unter den 48 Die zwei beauftragten Stadtplaner waren ein zoroastrischer Perser und ein Jude aus Khorasan.

246

wissen ist macht Umayyaden keine vergleichbaren Entwicklungen stattgefunden hätten. Ob dies ein ethnozentrisches Urteil ist, lasse ich dahingestellt. Denn schon al-Manṣur wird nachgesagt, dass er eine große Biblio­ thek besaß, ein Bayt al Kutub (Haus der Bücher). Der muslimische Historiker al-Masʿudi (gest. 956 n.Chr.) bezeichnet al-Manṣur als den »ersten Kalifen, der Bücher aus einer fremden Sprache ins Arabische übersetzen ließ, darunter Bücher von Aristoteles zur Logik und anderen Themen, sowie andere antike Bücher aus dem klassischen Griechisch, dem byzantinischen Griechisch, Pahlavi, Neupersisch und Syrisch«49. Jedenfalls beschäftigte er auch an seinem Hof bereits drei Astronomen, die selbstverständlich auch an der Erstellung astrologischer Gutachten arbeiteten. Man sollte aber deshalb nicht meinen, dass sie nur astronomische »Kurpfuscher« gewesen seien. Immerhin benutzten sie zu ihren Untersuchungen bereits ein Astrolab, ähnlich wie ihre hellenistischen Vorgänger, und dürften daher auch in deren empirischen Methoden bewandert gewesen sein. Einer von den Dreien, Maschʿallah, der schon genannte jüdische Stadtplaner Bagdads, diente in jener Funktion al-Manṣur und sechs nachfolgenden Kalifen, was vermuten lässt, dass seine Dienste Qualität gehabt haben müssen. Solche Details sind erwähnenswert, zeigen sie doch, dass die wissenschafts- und forschungsfreundliche Atmosphäre bereits von Beginn an mit der Herrschaft der Abbasiden eingesetzt hatte. Die nachfolgende Gründung des oft genannten »Hauses der Weisheit« unter dem Kalifen al-Maʿmun setzte dieser Entwicklung offenbar nur die Krone auf. Die Voraussetzungen dafür wurden jedoch bereits durch die ersten Abbasiden, insbesondere von al-Manṣur selbst, durch die Einbindung persischer Familien und durch eine positive Einstellung zur Muʿtazila geschaffen. Da diese persische Oberschicht zugleich auch wesentliche Positionen in der Verwaltung erhielt und innehatte, blieb es nicht aus, dass sich auch die überlieferte persische Kultur und Lebensweise rapide auszubreiten begann. Ergebnis all dieser Entwicklungsstränge war letztlich eine expandierende Großstadt, die in ihrer Entwicklungsgeschichte in keiner Weise dem ptolemäischen Alexandrien an Bedeutung nachstand. In Bagdad lebten innerhalb von weniger als einem Jahrhundert zwischen 1,5 und 2 Millionen Menschen unterschiedlichster Herkunft, Sprachen und Glaubensbekenntnisse. Obwohl im Gegensatz zu den Umayyaden, die aus Steuergründen den Übertritt von Andersgläubigen zum Islam nicht gefördert hatten, die Abbasiden eine gegenteilige Politik verfolgten, waren damals bestenfalls 15 Prozent dieser Bevölkerung Muslime.

49 Zitiert nach J. Freely (2009), S.100.

247

protowissenschaften

»Miḥna« Als die Muʿtazila neue Interpretationsregeln rationaler Argumentation eingeführt hatten, erkannten die Machthaber schnell, dass dies ein Verfahren darstellte, das ihren Interessen entgegenkam. Zutiefst von ihren eigenen Argumenten und Methoden überzeugt, proklamierten die Muʿtazila deren Durchsetzung mit jedem erdenklichen Mittel, wenn nötig auch mit Waffengewalt und Zwang jeglicher Art.50 Diese Grundeinstellung fand bereits bei al-Manṣur Gehör und äußerte sich in entsprechenden Akten. Verschiedene Quellen berichten, dass er den Begründer der konservativen Ḥanifa-Rechtsschule, Imam Abu Ḥanifa an-Nuʿman, einkerkern und Imam Malik ibn Anas, den Stifter der ältesten Schule in Medina, öffentlich auspeitschen ließ. Andere Quellen bestreiten dies zwar teilweise oder berichten, dass al-Manṣur zumindest Malik rehabilitierte51. Die Argumentation der rationalen Muʿtazila war aber offensichtlich erfolgreicher und wurde von den Nachfolgern al-Manṣurs nicht nur beibehalten, sondern intensiviert. So erklärte um 827 der Kalif al-Maʿmun52 (813–833 n.Chr.) die Sicht, dass der Koran nicht ewig sei, zur offiziellen Staatsdoktrin. 833 sicherte er sich nur wenige Monate vor seinem Tod durch ein Dekret, die »Miḥna«, die oberste Autorität in sämtlichen Glaubensfragen. Das bedeutete, dass in Hinkunft jeder Qadi (Richter) nach Befragung durch ein Gremium einen Eid darauf ablegen sollte, dass der Koran durch Allah erschaffen, also nicht ewig sei. Diese neue Richtung sollte u.a. die Vereinheitlichung der Rechtsauffassungen sicherstellen und so mithelfen, die legislative und judikative Macht 53 vereint in die Hände der Kalifen zu legen. Al-Maʿmun ver50 »[…] the Mu‘tazilis advocated direct intervention, if necessary with the sword. One may and should depose guilty leaders, one may and should compel opponents, on pain of death, to profess the true doctrine (cf. alAsh‘ari, Maqalat, ed. Cairo, ii, 466). This was the attitude of the Muʿtazilis, in their days of triumph under al-Maʿmun, when they denounced to the courts the supporters of the doctrine of the uncreated qurʿan.« (Encyclopedia of Islam, Ilm al-Kalam, 1999, Koninklijke Brill NV, Leiden, The Netherlands). 51 Yaʿqubi, Vol. III, S. 86; Murudsch al-dhahab, Vol.III, S. 268-270. 52 Berichtet wird, dass Aristoteles al-Maʿmun im Traum erschienen sei. Auf al-Maʿmuns Frage, wie das »Gute« zu bestimmen sei, soll Aristoteles geantwortet haben, durch ein rationales Vernunfturteil. 53 Zu betonen ist, dass damals die uns so geläufige Trennung der Macht­ bereiche in Legislative, Exekutive und Jurisdiktion unbekannt war. Daher stellt es eigentlich einen Anachronismus dar, wenn ich wie oben von »legislativer Macht« spreche. Trotzdem meine ich, dass mit dieser Diktion

248

»miḤna« suchte damit erneut, die Doppelrolle des Propheten zu übernehmen, der ja sowohl weltliches wie auch religiöses Oberhaupt gewesen war 54. Aufgrund der geschilderten Nachfolgeprobleme wurde ja diese doppelte Rolle aufgespalten. Sie wurde einerseits vom »Emir«, wie Abu Bakr noch bezeichnet wurde, andererseits vom Imam55, wie sich ʿAli und seine Nachfolger bezeichneten, übernommen. Mithilfe der von den Muʿtazila hoch entwickelten Dialektik und mittels logischer Argumente im Verhör sollten nun alle jene »Traditionalisten« bekämpft werden, die sich bei ihren Auslegungen ausschließlich auf Deutung der Hadithe und der heiligen Schrift sowie bestenfalls auf »ra’y« (individuelle Rechtsmeinung) und »qiyas« (Analogieschluss) stützten. Die Muʿtazila beherrschten die Kunst der aristotelischen Beweisführung – im Unterschied zu den »Mu’takalimun« traditioneller Rechtsfindung56. Ihre Fähigkeiten brachten ihnen nicht nur untereinander, sondern vor allem vonseiten der neuen Machthaber hohe Anerkennung. Gestärkt durch die politische Unterstützung seitens der neuen Dynastie von Kalifen, schafften es die Muʿtazila für einige Zeit, zur alles bestimmenden Größe in Rechts- und Glaubensfragen zu avancieren. Begleitet wurde die Strategie von einem Erziehungsprogramm der Gläubigen, das in den Moscheen verwirklicht werden sollte. Es zeigte sich allerdings zum Erstaunen der Machthaber und der Muʿtazila, dass viele Richter und Gelehrte auch unter Zwang nicht bereit waren, die geforderten Eide zu leisten. Da aber ein absoluter Herrscher Ungehorsam vonseiten seiner beamteten Untertanen nicht akzeptieren konnte, wurden widerborstige Gelehrte ins Gefängnis gesteckt, manchmal gefoltert und öffentlich ausgepeitscht (M. Fakhry, 1999), ohne dass sich der Kalif nun, wie noch im Fall Malik ibn Anas, dafür entschuldigen hätte müssen. Resultat dieser Entwicklungen war, dass auf Basis einer auf Vernunft begründeten Methode ein Zustand geschaffen wurde, der als »Inquisition« zu werten ist und auch von manchen so bezeichnet wird. Arabisch wird dies mit »al-Miḥna«, bezeichnet. Insgesamt darf man feststellen, dass die damals praktizierten Methoden kaum dem nachstanden, was die Entwicklung ganz gut beschrieben und vor allem auch leichter verständlich wird. 54 B. Jokisch (2007) spricht sogar von dem Bestreben dieser Herrscher, ihre Macht absolutistisch zu vervollkommnen und etwas zu verwirklichen, was als »Caesaropaptismus« zu qualifizieren wäre. Diese Tendenz war nach Jokisch sowohl in Bagdad als auch in Byzanz zeitgleich gegeben. 55 Es ist bezeichnend, dass al-Maʿmun bereits bei seinem Amtsantritt als Kalif auch den Titel eines »Imam« beanspruchte. 56 »The Mutazila tried to fill the gap between Hellenistic rationalism and Medinian piety, which was the Traditionalists’ approach to the religion.« (Atta Muhammad, 2012, S. 1037).

249

protowissenschaften die katholische Kirche Jahrhunderte später in Spanien ebenfalls zur gängigen Praxis machte. Mit zwiespältigen Gefühlen57 bleibt festzuhalten, dass dieses Verfahren, das weniger als zwanzig Jahre praktiziert wurde, nicht zum gewünschten Ergebnis führte. Trotz der vergleichsweise58 kurzen Dauer dieser Inquisition begründete und förderte diese radikal-rationalistische Bewegung allerdings ein anhaltendes Interesse an der Pflege und Überlieferung der antiken Wissenschaften und Philosophie in breiten Bevölkerungskreisen und vor allem auch an den Höfen der Kalifen59 – selbst nach Beendigung der »Miḥna« im Jahr 849.

Weitläufige Übersetzertätigkeit Zunächst äußerte sich diese fördernde Tendenz, dem Beispiel al-Manṣurs folgend, in einer weitläufigen Übersetzertätigkeit, in deren Verlauf alle bedeutenden Werke60 der Antike ins Arabische übertragen wurden. Sie ersetzten damit die älteren, teils unvollständigen, teils inkorrekt ins Syrische und ins Persische übertragenen Vorläufer. Häufig werden diese Übersetzungen als der alles bestimmende Beginn der arabischen wissenschaftlichen Renaissance betrachtet. Das geschieht vor allem deshalb, weil sie am leichtesten als jene historischen Dokumente verwendet werden können, die für einen wissenschaftlichen Nachweis benötigt werden. Diese Übersetzer und ihre Produkte wurden daher in den einschlägigen Kreisen intensiv studiert und in zahlreichen Publikationen besprochen. Zweierlei scheint aber durch die Fokussierung auf diese »handgreiflichen« Quellen aus dem Blick geraten zu sein: gerne wird jener lang57 »Zwiespältig« deshalb, weil einerseits ein derartiges Vorgehen nicht gut geheißen werden kann, andererseits der später erreichte Erfolg der Gegner einer rationalistischen Sichtweise auch nicht begrüßt werden kann. Das umso mehr, als sich zeigen wird, dass mit diesem Pyrrhussieg zugleich auch der Islam auf eine konservative Bahn gelenkt wurde, die noch heute unübersehbare Folgen hat. 58 »Kurz« im Vergleich etwa zum katholischen Spanien. 59 Das gilt nicht in vollem Umfang für Mutawikkil, der ja Leute wie al-Kindi verstieß, sich aber die eher praxisnahen Banu Musa weiter hielt. 60 Welche Werke als bedeutend betrachtet wurden, ist für diese Kultur gleichfalls aussagekräftig. Zuerst übersetzt wurde das aristotelische »Organon«. Bald folgten auch naturwissenschaftliche und mathematische Schriften. Kaum Beachtung fanden die belletristischen Schriften, also Tragödien, Komödien u.ä. B. Jokisch (2007) zeigt, dass bereits zur Zeit Harun ar-Raschids die griechische Version der »Digesten« des justinianischen »Codex Juris Civilis« auch übersetzt wurde.

250

die entdeckung antiker wissenschaften wierige Prozess übergangen, der bereits anfänglich zur Entwicklung einer eigenständigen Form arabischer Wissenschaft in Form der Hadithforschung, der Sprach- und Grammatikwissenschaften etc. geführt hat. Genauso wenig wird über die gesellschaftlichen Hintergründe und Ursachen gesprochen, die am Werk waren und schließlich zu dem geschilderten Interesse an den Erkenntnissen der Antike geführt haben. Ebenso wird kaum je danach gefragt, woher das Wissen darüber kam, dass überhaupt übersetzenswerte Schriften existierten, oder woher der Bedarf nach solchen Übersetzungen kam. Diese Fragen hoffe ich im Vorhergehenden schlüssig beantwortet zu haben.

Die Entdeckung antiker Wissenschaften Nachdem die sozio-politischen Gegebenheiten ausführlich geschildert wurden, scheint es nun an der Zeit, die vielen Fäden, die zur Renaissance antiken Wissens im Islam führten, in einen kohärenten Strang zusammenzuführen. Zu diesem Zweck folgt zunächst eine gedrängte Zusammenfassung der verschränkten Entwicklungen. Den Ausgangspunkt bildet jene Zwillingsgeburt des Islam, die in ihrer Zweiheit nicht nur den Erfolg einer neuen Religion, sondern zugleich die Begründung eines Staates ermöglichte. Im gleichen Zug wurden dadurch aber auch jene Problemlagen und internen Spannungen geschaffen, mit denen der Islam seit dem Tod des Propheten konfrontiert war. Religionen befassen sich mit Vorstellungen, die im Wunderbaren wurzeln und folglich stets in Opposition zu täglichen Erfahrungen und zu rationalen Erklärungen stehen. Sie vertreten zugleich ethische Grundsätze, die ihrerseits wieder in Konflikt mit den Notwendigkeiten politischen Handelns geraten. Beispiele dafür haben wir anhand von diversen Entscheidungen, die von ʿAli und seinen Nachfolgern getroffen wurden, bereits kennengelernt. Viele Entscheidungen der ʿAliden waren politisch unklug. Diese haben den langfristigen, politischen Misserfolg der Schiiten begründet. ʿAli und die nachfolgenden Imame wurden zwar religiöse Vorbilder und Leitfiguren, sie waren aber keine begabten politischen Herrscher, die ja zumindest gelegentlich auch opportunistisch denken und handeln müssen. Die im Rahmen dieser Janusköpfigkeit geschaffene religiöse Fundierung eines neuen Staates legitimierte anfänglich dessen Verfassung und damit das Rechtssystem, auf dem der innere Friede errichtet werden sollte. Zugleich aber unterband dieselbe religiöse Fundierung des Rechts die Entwicklung einer Legislative, weil alles Recht göttliches war – und es auch in der heute noch gültigen Schariʿa ist. Basis allen 251

protowissenschaften Rechts lieferte der Koran und die mündliche Überlieferung in Form der Hadithe. Diesen Anspruch wollten die Muʿtazila unterlaufen. Voraussetzung und notwendige Bedingung für das Funktionieren eines Staates ist stets jener innere Friede, der unter heterogenen Voraussetzungen durch Schöpfung von allgemeingültigem und anerkanntem Recht geschaffen wird. Dies erfordert auf Dauer gesehen u.a. Institutionen permanenter Genese von Recht. Solche Institutionen ließen sich wegen der ursprünglichen göttlichen Rechtssetzung nicht so wie etwa in Griechenland verwirklichen. Die Bedeutung der olympischen Religion hat ja damals bereits merklich abgenommen, was u.a. weltliche Verfassungen notwendig machte. Unter derartigen Vorgaben konnte sich im Islam innovative Rechtsschöpfung, ähnlich wie bei den »prätorischen Edikten«61 in Rom, nur in Form neuer, interpretativer Deutungen und Auslegungen abspielen. Aus diesen Voraussetzungen ergab sich die Notwendigkeit einer überprüfbaren Rechtsauslegung, die niemals den Anschein von Willkürlichkeit und von Anlassbezogenheit erwecken durfte. Willkür war und ist ein göttliches Prärogativ, das selbst Tyrannen nicht für sich usurpieren sollten. Willkür kann und darf nur von Gottgesandten praktiziert werden, wobei sie gleichfalls vorgeben, ausschließlich göttliche Willkür umzusetzen. Außer dem Propheten wurden im Islam keine weiteren Gesandten akzeptiert62. Bei der Frage der Nachfolge des Gesandten Gottes dominierte im sunnitischen Islam die Vorstellung, dass ein quasi-demokratisches Organ, die Schura, als Repräsentantin der Ummah – und nicht Allah selbst – einen Nachfolger des Gesandten, also den Kalif, bestimmen sollte. Das ergab sich aus dem anfänglichen Grundsatz der Gleichheit aller Muslime. Die Schiiten, die Partei ʿAlis und seiner Nachfolger, vertraten hingegen eine Vorstellung, die sich auf die göttliche Auserwähltheit der Ahl al Bayt – der »Leute aus dem Haus des Propheten« – berief und die daraus ihren Nachfolgeanspruch ableiteten. Die sich aus diesen unterschiedlichen Auffassungen ergebenden Entwicklungen wurden hinlänglich besprochen. Im Fokus unseres augenblicklichen Interesses liegen aber die Folgen dieser Differenzen für den Wissensbereich. Wie gleichfalls weiter oben gezeigt wurde, ergab sich unmittelbar nach dem Tod des Propheten u.a. auch die zwingende Notwendigkeit, seine Rolle als Richter, als »hakam«, von anderen, nicht göttlich legitimierten Personen ausfüllen zu 61 Siehe dazu: M. Schmutzer (2011), Band I, Kap. XI. 62 Hierin unterscheidet sich der Islam grundlegend von den Entwicklungen im Judentum oder im byzantinischen Reich, wo bereits Justinian der Große eine Art von »Gottesgnadentum« einführte und somit den römischen Kaiser quasi zum Vollzugsorgan göttlichen Willens machte.

252

die entdeckung antiker wissenschaften lassen. Prinzipiell hätte dies zwar von seinen Nachfolgern, den Kalifen, geleistet werden können. Doch die Fülle der Fälle und die Beschränktheit der Rechtsvorgaben durch Koran und Hadithe erforderten, dass zusätzlich »professionelle« Rechtsinterpreten als Richter auftraten. Diese bezogen nun ihre anfängliche Legitimation dazu aus dem Umstand, dass sie ehemalige »Gefährten« (ṣaḥaba) des Propheten waren und deshalb genug Autorität besaßen, über anstehende Fälle im Sinn des Propheten zu urteilen. Da jedoch deren Meinungen wie auch ihre Urteile untereinander nicht immer in Übereinstimmung waren, wurden für Fälle konträrer Sichtweisen Kriterien benötigt, die es ermöglichen sollten, zu übereinstimmenden Ergebnissen zu gelangen. Der erste Schritt in diese Richtung bestand darin, Quellenstudien zu betreiben, die divergierende Entscheide aufgrund höherer oder geringerer Glaubwürdigkeit der zur Begründung zu Hilfe genommenen Textstellen aus Koran und Sunnah untersuchten. In diesem Kontext wurden akribische Nachforschungen angestellt. Ihre Ergebnisse wurden gesammelt und schufen die Basis für verbindliche Auslegungen. Dass auch dabei nicht für jeden Fall umfassende Übereinstimmung erzielt werden konnte, wurde bereits betont. Die Ursachen für derartige Diskrepanzen waren überwiegend politischer Natur und weniger Ergebnis mangelhafter Recherchen. Zusätzlich zeigte sich bald, dass weder Koran noch Hadithe die gesamte Fülle von möglichen Rechtsfällen abdecken konnten. Selbst der Prophet traf viele seiner Rechtsentscheide aufgrund von traditionellen Rechtsvorstellungen, wie sie in Medina seit ehedem gepflegt wurden. Das islamische Recht war demnach von Anfang an ein Konglomerat aus überlieferten Traditionen und religiösen Neuerungen durch die Sunnah. Nicht übersehen werden darf, dass das byzantinisch-römische Recht in den neuen Teilen des islamischen Herrschaftsgebietes seit Generationen die Basis für Rechtsentscheide bildete63 und auch nach der Eroberung durch die Araber ähnlich wie in Yathrib weiter nachhaltigen Einfluss ausübte. Folglich bedienten sich auch die frühen »fuqaha« (Rechtsgelehrten) wenn nötig mancher Regeln, die sie je nachdem aus der medinensischen vorislamischen Rechtstradition oder aus anderen Quellen herleiteten. Ihre Rechtsgutachten waren demnach Ergebnis ihrer »ra’y« (arab.: Ansicht)64, ihrer individuellen Rechtsmeinung, die aufgrund vernünftiger Überlegungen und meistens durch Disputation im Kreise ihrer »ḥalqa«, also ihrer Schüler und Anhänger, zustande kam. 63 Siehe dazu: B. Jokisch (2007) 64 »Kalam referred at first to discursive arguments, and the mutakallimun (›loquentes‹) were ›reasoners‹. This was the case as early as the time of Ma‘bad al-Dhuhani (d. 80/699–700).« (Encyclopedia of Islam, Ilm alKalam, 1999, Koninklijke Brill NV, Leiden, The Netherlands).

253

protowissenschaften Unvermeidlich förderten diese Umstände erst recht wieder eine gewisse Willkür. Daraus ergab sich zunächst vor allem in Medina eine Gegenbewegung. Ihre Vertreter räumten der Sunnah in jedem Zweifelsfall absoluten Vorrang ein. Einer ihrer »Apostel« war Malik ibn Anas, ein anderer Abu Ḥanifa. Im Gegensatz dazu versteiften sich die Ahl al Ra’y, die »Leute der Vernunft«, die vorwiegend in Kufah und Umgebung beheimatet waren, verstärkt auf den vorrangigen Gebrauch ihrer Vernunft. Sie setzten vermehrt ein neues Interpretationsinstrument, »qiyas« bezeichnet, ein, was so viel wie »Analogieschluss« bedeutet. »Qiyas« wurde anfänglich nur zur Lösung von grammatikalischen Fragestellungen verwendet, die sich aus Textinterpretationen ergaben, und erst später in Rechtsfragen und auch in der Theologie65. Ihre Argumentation erfolgte aufgrund von Vergleichen mehrerer Einzelfälle, also letztlich durch einen induktiven Schluss. Das heißt, aus der Beobachtung ähnlicher Fälle wurde auf ein dahinterliegendes allgemeines Prinzip geschlossen. Somit wurden gemeinsame Merkmale einzelner Vorkommnisse festgestellt, die unterschiedliche Einzelfälle unter einem einzigen Dach zu sammeln erlaubten. Von solchen dadurch geschaffenen Abstraktionen konnte man in einem weiteren Schritt Prämissen gewinnen, die erlauben sollten, syllogistisch Schlüsse auf einen speziellen Fall abzuleiten. Dieses Verfahren erinnert nicht nur an bekannte Vorgehensweisen der Griechen, besonders an jene von Aristoteles, sondern wurde tatsächlich von dort übernommen. Die schon mehrmals genannten, unsystematischen Kenntnisse antiken Wissens, die durch die erwähnten, meist christlichen Lehrer und Übersetzungen ins Syrische möglich waren, fanden hier bereits folgenträchtige Auswirkungen. T.J. Debroer (1901) betont allerdings, dass »qiyas«, welches die individuelle Willkür von Entscheiden einschränken sollte, im Lauf der späteren Entwicklung keine bedeutende Rolle mehr zukam. Es existierten zwar insgesamt vier anerkannte Quellen, die die Leitlinien zur Rechtsfindung vorgaben, und »qiyas« war eine davon, aber der Koran, die Sunnah und der Konsens (idschmaʿ) erfuhren höhere Bewertung. Das war der Fall, bis die Muʿtazila hinreichenden Einfluss gewannen.

65 »Kalam became a regular discipline when these arguments and discussions dealt with the content of the faith. It is this character of discursive and reasoned apologia which was to attract the attacks both of the traditionalists and of the falasifa [d.h. Philosophen, M.S.].« (Encyclopedia of Islam, Ilm al-Kalam, 1999, Koninklijke Brill NV, Leiden, The Netherlands).

254

die entdeckung antiker wissenschaften

Disputation Damit kehren wir zu dem bereits zuvor angesprochenen Schlüsselbegriff »Disputation« zurück, der die weitere Entwicklung erst voll verstehen lässt. Dispute können nur sinnvoll und zielführend geführt werden, wenn Regeln existieren, die den Ablauf der Gespräche strukturieren und so helfen, zu einer von allen akzeptierten Deutung zu gelangen. Das vorrangige Ziel in einer solchen Disputation, nämlich die eigene Sicht als allgemeine Deutung durchzusetzen, erforderte nicht nur Gewandtheit und Erfahrung in der Disputation, sondern einen beträchtlichen zusätzlichen Wissensstock. Dieser sollte befähigen, einmal getätigte Einwände sofort zu erkennen oder nach Möglichkeit sogar vorwegzunehmen66. Aus diesem Grund wurden ja die schon oben erwähnten Sammlungen von Einwänden zu Rechtsentscheiden (fatawa) angelegt. Die damit unvermeidbar gewordene archivarische Praxis schuf schließlich den Kern islamischer Religions- und Rechtsgeschichte. Ergebnis dieser Praktiken war zunächst eine umfangreiche Sammlung von Gegenüberstellungen67 und von Konsenslösungen, die innerhalb einer »halqa« (Schule) erreicht wurden, sowie bald auch von Einsprüchen, die aus anderen Schulen kamen. Der augenscheinlich gemachte Gegensatz zwischen »idschmaʿ« (Konsens) und »khilaf« (Widerspruch) wurde somit unübersehbar. »Khilaf« bezeichnete die Meinungsdifferenzen zwischen Rechtsgelehrten, sowohl innerhalb einer spezifischen Schule wie auch zwischen den Schulen. Alle diese Differenzen wurden im Detail studiert, und die Kenntnis davon sollte jedem Rechtsgelehrten oder Theologen jederzeit zur Verfügung stehen. Das bedeutete u.a., sie am besten auswendig zu wissen. Daraus entstand eine solide Basis, die für die weitere Entwicklung des Islam und der Wissenschaften ausschlaggebend wurde. Zwischen »idschmaʿ« und »khilaf« existiert eine antithetische Beziehung. Das heißt, sie bedingen sich gegenseitig. Das bedeutet u.a., dass ohne Widerspruch auch kein Konsens erreicht werden kann – Konsens in widerspruchslosen Fällen zu schaffen erübrigt sich ja. Dort, wo Bedarf nach Konsens besteht, muss dieser erst erarbeitet werden. »Wahrheiten« sind andererseits in den genannten religiösen Quellen bereits

66 Einmal mehr lässt Aristoteles grüßen. 67 »Idschmaʿ, der Konsens der Rechtsgelehrten, hatte ja ein entsprechendes Gegenstück in »khilaf«, dem Widerspruch bzw. einer gegenteiligen Auffassung. Dieser Sachverhalt bewirkte im Islam, dass sehr früh die Notwendigkeit entstand, alle Rechtsmeinungen, durch die unterschiedliche Auffassungen geäußert wurden, zu sammeln und zu kodifizieren«. (G. Makdisi, 1981, S. 106, meine Übersetzung, M.S.)

255

protowissenschaften vorgegeben und nicht hinterfragbar. Sie stellen quasi das Analogon zu den Axiomen der aristotelischen Logik dar (s.o.). Nun sollte man in Erinnerung behalten, dass Rechtsdispute stets einen Praxisbezug hatten. In anderen Worten handelte es sich nicht nur um hübsche, gelehrte Spielereien zum Zeitvertreib, sondern um Spiele mit manchmal sehr hohen Einsätzen. Der Einsatz bei diesen »Spielen« bestand aus Reputation, Ansehen und Ämtern, und manchmal riskierte man auch harte Strafen. Letzteres war vor allem während der »Miḥna«, der Inquisition, der Fall, wo den »Verlierern« Todesurteile, Gefängnis etc. drohten. Dementsprechend lag auch ein fundamentales Interesse vor, solche Dispute für sich entscheiden zu können, und damit auch ein Wille, die dazu nötigen Techniken zu beherrschen. In anderen Worten handelte es sich zweifelsfrei um echte Kämpfe, die auf diesem Terrain ausgetragen wurden. Das hatte u.a. zur Folge, dass potentielle Kontrahenten langes Training benötigten. Deshalb entstanden, so wie damals in Athen, Schulen, wo die Fähigkeiten zur regelgerechten Disputation erworben werden konnten. Kontrollierter Disput mauserte sich unter diesen Voraussetzungen zum Herzstück islamischer Rechtswissenschaften. Die Kunst der Dialektik wurde für die Entwicklung von Recht und Rechtswissenschaften so bedeutungsvoll, dass sie in den Rechtsschulen der Masdschid wie auch in Madrasas zur Grundvoraussetzung dieser Studien avancierte. Nun wird verständlich, warum spätestens in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts ein massives Interesse an Übersetzungen griechischer Texte entstand und derartige Übersetzungen von den Machthabern aus ureigenem Interesse gefördert wurden. Dort fand man nämlich die benötigten Techniken detailliert beschrieben, Techniken, die als Waffen im andauernden Kampf um Macht und Einfluss eingesetzt werden konnten. Damit wird auch klar, warum an den Höfen der Kalifen gelehrte Dispute letztlich sogar zum täglichen Unterhaltungsprogramm gehörten. Sie wurden zu »ritterlichen« Turnieren, bei denen sich Talente üben und erweisen konnten. Nicht übersehen werden sollte, dass die griechische Philosophie ein weites Gebiet abdeckte. Zu ihr zählten, wie etwa das aristotelische Werk anschaulich macht, auch Physik, Astronomie und ähnliche Wissensgebiete, die heute den Naturwissenschaften und nicht der Philosophie zugerechnet werden. Selbst wenn es an diesen Wissensgebieten kein eigenständiges Interesse gegeben hätte – was aber ohnehin nicht der Fall war – wäre daher eine Beschäftigung mit diesen Fächern kaum zu vermeiden gewesen. Wie oben schon festgestellt wurde, wurde aufgrund dieser Zusammenhänge Aristoteles’ »Topik« sehr früh, zuerst aus dem Syrischen, dann noch einmal aus dem Griechischen ins Arabische übersetzt. Die »Topik« weckte genau deshalb so ein gesteigertes Interesse, weil darin 256

die entdeckung antiker wissenschaften eben jene begehrte Kunst der systematischen Argumentation gelehrt wird. Es handelt sich also um eine »politische Technik«, deren Beherrschung im Diskurs mit Gelehrten eigener und anderer Glaubensrichtungen unerlässlich war. Ihre Verfahren zeigten sich für die Bekehrung von Ungläubigen zum Islam, der unter den Abbasiden Staatsreligion geworden war, genauso hilfreich wie in den religionsinternen Disputen68. Dieselbe Entdeckung, dass die Kenntnis der Topik äußerst vorteilhaft ist, haben ja auch bereits die frühen Christen gemacht (J. Freely, 2009, S.105), und ich werde ein anderes Mal zeigen, dass diese beiden Fälle nicht die einzigen blieben. G. Makdisi (op. cit.) betrachtet dieselbe Situation von innen, wenn er schreibt, dass die sogenannten »fremden Wissenschaften« vor allem den rationalistischen Theologen während der Inquisition (»Miḥna«) als Waffe gegen die Anhänger des Traditionalismus dienten. Sie meinten, damit die Mu’takalimun, die Traditionalisten, zur Annahme ihrer rationalistischen Doktrin von der »Erschaffung des Koran« zwingen zu können. Ihre Bemühungen endeten jedoch mit einer folgenschweren Niederlage (G. Makdisi, S. 80), wie wir noch sehen werden. Allerdings wurden auch andere griechische Werke aufgrund von etwas anderen Kalkülen ins Arabische übersetzt. Einer war, dass die Verwaltung des Abbasidenreichs kompetente Staatsbeamte und Richter brauchte, die entsprechend ausgebildet werden mussten69. Die dafür erforderlichen Lehrbücher hielt auch die griechische Wissenschaft bereit. Aber es wäre damals eine weltfremde, vermessene Annahme gewesen zu meinen, dass die Studenten diese Schriften im Original würden lesen können. Diesbezüglich dürften sich die frühen Rechtsgelehrten, Theologen und Philosophen von den Schülern, die Staatsdiener werden sollten, prinzipiell unterschieden haben. 68 »Already at this early period – the age of the Umayyads and the early Abbasids – the essential themes which were to constitute ʿilm al-kalam had arisen. Whatever may have been the effect of external influences – discussions with Mazdean zanadiqa on good and evil in human actions or with the Christian theologians of Damascus on the Word of God, and the discovery of Greek science and philosophy – kalam tended at first to take shape over specifically Muslim problems.« (m.H., M.S., Encyclopedia of Islam, Ilm al-Kalam, 1999, Koninklijke Brill NV, Leiden, The Netherlands). 69 Man findet z.B. in einer Schrift mit dem Titel »Adab al-Katib« (»Über die Ausbildung von Helfern«) von Ibn Qutaibas (gest. 889) eine Zusammenstellung der Fächer, in denen Staatsbedienstete ausgebildet werden sollten. In dieser Liste scheinen Fächer wie Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Landvermessung, Maß- bzw. Gewichtskunde und Bauingenieurwesen auf (siehe dazu: J. Freely, 2009, S. 102).

257

protowissenschaften

Die Bedeutung der Dialektik Die zahlreichen Übersetzungen wurden daher von den Kalifen aus verschiedenen Gründen massiv gefördert. Sie sollten aber auch als Lehrund Lernmaterial benutzt werden können. Al-Manṣur (754–775 n.Chr.) hatte bereits damit begonnen70, seine Nachfolger standen ihm in nichts nach. Sie dehnten vielmehr diese Aktivitäten weiter aus und förderten sie auch finanziell massiv. Die Kulmination dieser Übersetzungsbewegung wurde allerdings unter al-Maʿmun (813–833 n.Chr.) erreicht71. Feststeht somit, dass in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts, in der Zeit, als die Karolinger gerade das neue »heilig-römische Reich« unter sich aufgeteilt hatten, sämtliche wichtige Werke ins Arabische übersetzt und akzeptiert waren. Darunter eben auch jene, die die Ausgangsbasis für die Dialektik und die Weiterentwicklung der Disputation bildeten, nämlich beide »Analytiken72«, die »Topik« und die »Sophistischen Widerlegungen« von Aristoteles, aber genauso solche, die sich mit aus heutiger Sicht naturwissenschaftlichen Themen und der Mathematik befassten. Doch bleiben wir noch bei der Dialektik. Sie erscheint mir ja als jene Schlüsseldisziplin, die den Impetus für die genannten, umfangreichen Aktivitäten lieferte. Dialektik wurde zu allererst von Philosophen vertreten, eingesetzt und weiter ausgebaut. Aus obiger Sicht überrascht nicht, dass gerade jener arabische Philosoph, al-Farabi (gest. ca. 950), mit dem wir uns weiter hinten noch ausführlich beschäftigen, eigene Kommentare zu Buch II, III und VIII der »Topik« verfasste, also ausgerechnet zu jenen Teilen, die für die Praxis der Disputationsführung von herausragender Bedeutung73 sind. Diese drei Bücher behandeln die 70 Übersetzungen erfolgten unter al-Manṣurs Regentschaft nicht nur aus dem Griechischen, sondern auch aus Pahlavi, Neupersisch und Syrisch. Da die Abbasiden ihre Herrschaft in engem Kontakt mit mächtigen persischen Clans ausübten, förderten sie nicht nur Übersetzungen aus dem Persischen, sondern übernahmen auch deren Glauben an die Astrologie. Sie versuchten auch auf diese Weise ihren Herrschaftsanspruch zu legitimieren. Das lässt u.a. wiederum ihr Interesse an naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, besonders an solchen aus der Astronomie verständlich werden, die sie auch mit Nachdruck förderten. 71 »Interest in foreign sciences occurred early in Islam, before Harun ar-Raschid (786–809) and Maʿmun«, betont auch G. Makdisi (op. cit., S. 79). 72 Die »Erste Analytik« oder »Analytica Priora« entwickelt die »Lehre vom Schluss«, die zweite (Analytica Posteriora«) die »Lehre von Beweis«. 73 Zur Illustration seien einige Angaben aus dem Inhaltsverzeichnis der Topik gemacht. Im ersten Buch finden sich Kapitel, die nicht nur bestimmen, was Dialektik ist, sondern auch deren Nutzen illustrieren. Im zweiten Kapitel bezeichnet Aristoteles die Dialektik als »die Kunst der Erfindung«,

258

die entdeckung antiker wissenschaften Art und Weise, wie Fragen sinnvoll gestellt bzw. Antworten in einer Auseinandersetzung klug und umsichtig formuliert werden sollten. Das zeigt noch einmal, dass besonders den Methoden der Argumentation allergrößte Bedeutung zugemessen wurde. Gerade die Mu’takalimun, d.h. die philosophisch orientierten Theologen der Kalam-Wissenschaften, folgten diesen Vorgaben prompt. Trotzdem gilt, dass die »scholastische« Methode samt der dafür notwendigen Ausbildung weder Produkt der Philosophen noch der Theologen, sondern Produkt der Rechtsgelehrten war. Die Schulen, die genau diese scholastische74 Methode propagierten, weiter entwickelten und überlieferten, waren die Madrasas und die Masdschid-Khan Einrichtungen, die von Anfang an stets den Rechtsstudien verschrieben waren und nicht, wie man meinen könnte, der Philosophie (falafa) oder der philosophischen Theologie (kalam). Daher beschreibt in dem bereits genannten Werk asch-Schirazi die antiken, logisch-dialektischen Schriften als jene Arbeiten, die von keinem Rechtsgelehrten ignoriert werden dürfen75. Die Kenntnis aller einschlägigen autoritativen Rechtsauffassungen bildeten eine Grundvoraussetzung, um Konsens (idschmaʿ) zu erreichen, doch widersprechende Einsprüche mussten nicht nur vorausgesehen, sondern gleichfalls zufriedenstellend abgehandelt werden können. Bei diesem Unterfangen half die griechische Dialektik wesentlich.

die daher auch den »Weg zu den Prinzipien aller Wissenschaften« aufzeigt. In der Inhaltsangabe zum ersten Kapitel im achten Buch wird der Meister über alle Maßen deutlich. Dort steht zu lesen: »Nachdem gezeigt worden, wie der Disputierende die nötigen Sätze gewinnt, um sachlich seinen Standpunkt zu begründen, gilt es, das Erforderliche über die Technik beim Disputieren zu sagen. Der Dialektiker will nicht nur das Wahre oder Wahrscheinliche dartun, sondern auch in der Disputation den Sieg über den Gegner davontragen. Dementsprechend muss er beim Fragen und Antworten eine gewisse Weise und eine gewisse Ordnung beobachten.« (m.H., M.S.; Aristoteles, Topik). Aus dieser kurzen Beschreibung wird wohl klar, warum gerade dieses achte Buch von al-Farabi kommentiert wurde. 74 Diese Bezeichnung wird nicht zufällig gewählt. Ich werde in einem nachfolgenden Band nämlich zeigen, dass im abendländischen Mittelalter eine analoge Entwicklung stattfand, die zur oft unrechtmäßig verpönten Scholastik führte. 75 Abu Ishaq asch-Schirazi (1003–1083 n.Chr.) war ein bedeutender Rechtsgelehrter und Schüler von Abu aṭ-Ṭabari. Sein bedeutendstes Werk war »Muhadhdhab«. Hier beziehen wir uns aber auf seine Sammlung von Rechtsgelehrten mit dem Titel »Tabaqat-al-fuqaha«.

259

protowissenschaften G. Makdisi meint folglich: »It was natural that dialectic should take hold of the imagination of Islamic intellectuals who saw its value for the development of disputation and therefore for the system of advocacy which could lead to solutions for the pro and con opinions of the khilaf. The importance of this method to Islam was most fundamental: the process of Islamic orthodoxy depended on it […]« (G. Makdisi, op.cit., S. 264).

Und er setzt fort: »Islamic interest in dialectic was dictated by its application to khilaf. While Muslim philosophers pursued the philosophy of Aristotle, Muslim jurisconsults, as such, were attracted by dialectic as if by a magnet because of its role in advancing and perfecting the process of idschmaʿ- khilaf, sic et non.«76 (ibid., S. 265).

An dieser Stelle können wir als erstes Ergebnis unserer langwierigen Argumentation festhalten: im Gegensatz zu unseren weitverbreiteten Vorstellungen, dass Interessen an naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und »Fortschritten« den Anstoß zu wissenschaftlichen Untersuchungen gaben, lieferten auch im Islam, genauso wie in Griechenland, politische und rechtswissenschaftliche Interessen die Initialanstöße. Ursache dafür ist, dass das Interesse an naturwissenschaftlichen Erkenntnissen anwendungsorientiert war und folglich nicht unbedingt sprachlich codiert werden musste. Die didaktische Transmission solchen Wissens kann auch anschaulich und empirisch erfolgen, wie das ja auch K. Mannheim (1929/1936) bereits feststellte. Sprachliche Formulierungen von »Naturgesetzen«, das heißt Gesetzen, die sich eigentümlich aus der Natur ergeben sollen, werden erst in dem Augenblick nachgefragt, wo sie herrschaftlichen Legitimationsbedürfnissen dienen sollen, weil Herrschaft eng mit sprachlicher Artikulation im Recht verknüpft ist. Dieselbe Notwendigkeit und das Bestreben, inneren Frieden – die griechische »harmonia« () – ohne äußere Zwangsmittel zu schaffen und zu erhalten, ließ die Nachkommen Mohammeds die »fremden Wissenschaften« studieren. Denn Widersprüche sind stets auch Ursache für soziale Auseinandersetzungen, genauso wie sie umgekehrt auch Ergebnisse unterschiedlicher gesellschaftlicher Ausgangs- oder Standpunkte sind. Diese durch das Studium der »fremden Wissenschaften« erworbenen neuen Kenntnisse, die schon in der internen Entwicklung der islamischen Rechtswissenschaften und Theologie durch die beiden Begründungs- und Beweisverfahren von »ra’y« und »qiyas« angelegt 76 Das »etiam« bedeutet, dass eine Aussage sowohl-als-auch richtig (sic) und falsch (non) sein kann. Es handelt sich also um jenes »dialektische Kontinuum«, das weiter hinten noch ausführlich besprochen wird.

260

die entdeckung antiker wissenschaften waren, konnten nicht einmal von den Traditionalisten, die von allen diesen Dingen lieber nichts wissen wollten, ignoriert werden. Auch sie mussten sich Kenntnisse aus jenen »fremden Wissenschaften« aneignen und in ihren eigenen Arbeiten nutzen77, selbst dann noch, als die Muʿtazila in Misskredit geraten waren und als »Häretiker« eingestuft wurden. Die weitere Entwicklung der erfolgreichen vier islamischen Rechtsschulen nach der »Miḥna« wäre ohne diesen Einfluss voraussichtlich grundlegend anders verlaufen. Alle vier Rechtsschulen78, die sich im Laufe der Zeit herausbildeten und die über die Zeiten Bestand hatten, wurden von dem grundlegenden, antithetischen Prinzip von »idschmaʿ und khilaf« geprägt. Dieses Paar entspricht punktgenau dem griechischen Paar von » und « (symfronema – dicha fronema, übereinstimmende und gegensätzliche Meinung.) und dem lateinischen »sic et non«. Dieses wird dann auch im Hochmittelalter im Westen zu jenem Schlüssel, der den Zugang zum Wissen der Antike öffnen wird. Man mag unter den genannten Voraussetzungen zwar spekulieren, ob die islamischen Rechtswissenschaften irgendwann selbst ein »Organon« ähnlich jenem vom Aristoteles entwickelt hätten – was ich für nicht unwahrscheinlich halte. Faktum bleibt aber, dass es nicht nötig war. Die gelehrten Muslime nutzten gezielt die Vorgaben anderer zu ihrem eigenen Vorteil. In einem nachfolgenden Band zu diesem Buch beabsichtige ich zu zeigen, dass mehr oder weniger der gleiche Verlauf der Entwicklung auch im Westen stattfand. In Italien und Frankreich, jenen Ländern, die den Arabern am nächsten lagen, wurde dieses Erbe der Araber, das jene selbst aus antiken hellenischen Quellen überliefert bekommen hatten, einige Jahrhunderte später angetreten, u.zw. unter vergleichbaren sozialen und politischen Voraussetzungen. Somit bestätigen die hier skizzierten Entwicklungen im Islam, dass die Grundvoraussetzung zur Entwicklung von Wissenschaften – auch von Naturwissenschaften – die Existenz von gesatztem Recht ist. Selbst dort, wo dieses Recht zunächst ähnlich wie im antiken Rom als göttliches Recht gefasst ist, verlangte die tägliche Rechtspraxis die Entwick77 »[…] traditionalism did not escape being influenced by its adversaries, the rationalists. The weapons of dialectics were gradually absorbed into law. For excellence in law was achieved through disputation built on expertise in two essential fields: khilaf, disputed questions, and jadal, dialectic.« (m.H., M.S.; G. Makdisi, op.cit., S. 80). 78 Diese Schulen werden nach ihren Begründern benannt: Ḥanbaliten (Abu Ḥanbal, 780–855 n.Chr.), Schafiiten (Muhammad ibn Idris asch-Schafiʿi, 767–820 n.Chr.), Malikiten (Malik ibn Anas, 715–795 n.Chr.), Ḥanafiten (Abu Ḥanifa, 699–767 n.Chr.).

261

protowissenschaften lung logischer Argumentationsregeln und bewirkte damit die Genese einer Rechtswissenschaft. Die »Araber«, so wie die europäischen Wissenschafter im Mittelalter, »stolperten« quasi auf diesem »Umweg« zusätzlich über oder in andere Wissensgebiete, wie Medizin, Mathematik, Astronomie oder Physik. Alle diese Wissensgebiete hatten schon in der Zeit des Hellenismus und danach in Alexandrien begonnen, sich eben genau jene Regeln der Disputation, der Argumentation, des Beweisens und des Unterrichtens zu eigenzumachen (wie im ersten Kapitel gezeigt wurde). Allerdings war dieses »Stolpern« keineswegs ein zufälliges Ereignis. Wie wir weiter hinten noch sehen werden, wurden die Muslime eher in die Beschäftigung mit der antiken, aristotelischen Physik gestoßen, da sie in einem eklatanten Widerspruch zum muslimischen Schöpfungsgedanken stand. Die legitimatorische Rolle der Astrologie für die abbasidischen Herrscher wurde schon angesprochen. Astrologie lässt sich aber ohne Astronomie und Geometrie kaum betreiben. Auch hier waren es also politische Motive, die zur Beschäftigung mit Claudius Ptolemäus und auf diesem Weg zur aristotelischen Physik etc. führten. Die Aristotelische Logik und die Dialektik wurden zwar anfänglich als Waffen für politische und rechtliche Auseinandersetzungen geschmiedet. Doch diese politische »Kunst des Überzeugen-Könnens« in ihren verschiedenen Ausprägungen von Logik, Dialektik und Rhetorik wurde nicht nur unter solch engen Vorgaben benötigt, nachgefragt und eingesetzt: Sie wurde und wird mindestens ebenso dringend in allen jenen Fällen benötigt, wo Unterricht und Lehre überwiegend auf sprachlicher Basis erfolgen und nicht länger nur durch anschauliches Vorexerzieren, wie das im Handwerk oder in der Kriegskunst üblich war79. Besonders Schüler müssen, solange sie nicht zum Lernen gezwungen werden, mit plausiblen Argumenten überzeugt werden. Diese Kunst des Überzeugens ist aber genau das, was Dialektik, Rhetorik und Logik offerieren. Es kann nicht länger überraschen, dass – wie wir schon in Kapitel II gesehen haben – sogar eine so praxisnahe Wissenschaft wie die Medizin die Notwendigkeit empfunden haben soll, ihre Wissensinhalte mithilfe von dialektischen Instrumenten zu organisieren und zu vermitteln. Wie wir wissen, ist genau das lange vor den islamischen Eroberungen in Alexandrien geschehen. Daran lässt sich erkennen, wie sehr kulturelle Vorgaben sogar in Bereichen prägend wirken, die oberflächlich betrachtet davon nicht berührt werden sollten. Diese von den Griechen entwickelten Verfahren wurden im Zuge der Übersetzungsbewegung von den Erben der Antike, den Arabern, zunächst übernommen, um in der Folge weiterentwickelt 79 Im Unterschied zu manuell-handwerklichen Tätigkeiten werden hier abstrakte, theoretische und sprachlich ausformulierte Kenntnisse vermittelt.

262

die entdeckung antiker wissenschaften zu werden. Sie reichten ihr Wissen später an die Abendländer weiter, die etwas verspätet aufgrund der »Reconquista« in Al-Andalus und während der Kreuzzüge im Nahen Osten ein »Erweckungserlebnis« hatten.

263

kapitel vi

Das Goldene Zeitalter des Islam Herrschaftswissen und Legitimation Auch die Abbasiden bemühten sich, ihren Herrschaftsanspruch so wie die ʿAliden dynastisch zu legitimieren. Zwar konnten sie sich nicht als direkte Nachkommen des Propheten, aber immerhin als solche des Großvaters des Gesandten, ʿAbd al-Muṭṭalib, präsentieren. Dieser dynastische Aspekt war in den Glaubensgrundsätzen des Islam nicht vorgesehen, er entsprach aber damaligen Traditionen. Die Ummah, auf deren Entscheidungen die Legitimation der »rechtmäßigen« Nachfolger des Propheten und der ersten Umayyaden ruhte, war hingegen keine in der Tradition verwurzelte, doch vom Propheten selbst geschaffene Institution und damit hinlänglich legitimiert. Die Ahl al Bayt, die Leute des Hauses des Propheten, beriefen sich bei ihren Ansprüchen auf die Nachfolgerschaft auf Ḥadithe, die von den Sunniten nicht anerkannt wurden. Zusätzlich beriefen sie sich noch auf geheimes Wissen, das nur den Angehörigen des Hauses zugänglich gewesen sein soll. Weiter oben wurde dieser Umstand bereits thematisiert und Beispiele dafür gebracht, dass die schiitischen Imame über ein vergleichsweise weit gestreutes Wissen verfügten. Dieses Wissen dürfte zumindest Bezüge zum klassischen griechischen Gedankengut gehabt haben, wie dies ein Verweis auf den sechsten Imam, Dschaʿfar aṣ-Ṣadiq, illustrierte. Über das Ausmaß solcher Kenntnisse haben wir keine Quellen – schließlich handelte es sich ja um »geheimes Wissen«. Man darf aber vermuten, dass derartiges Wissen nicht allein an die ʿAliden weitergegeben wurde, sondern innerhalb des Banu der Haschemiten1 auch anderen Söhnen von ʿAbd al-Muṭṭalib – und somit nicht nur dem Vater des Propheten – zur Verfügung stand. Die Umayyaden beriefen sich hingegen kaum auf vergleichbare Kenntnisse. Sie waren ihnen vermutlich auch nicht wichtig. Dafür legitimierten sie ihren Anspruch auf Herrschaft durch Verweise auf einen Beschluss der Ummah – ein Argument, das allerdings dem vierten und deshalb auch »rechtmäßigen« Kalifen ʿAli in gleicher Weise zur Verfügung stand. Es erübrigt sich, auf die komplexen Details nochmals einzugehen, wurden sie doch bereits oben besprochen. 1 Anzumerken wäre, dass die heutige jordanische Königsdynastie, die ebenfalls ihre Herrschaft mit einem Stammbaum legitimiert, der auf die Haschemiten zurückgeführt wird, gelegentlich gleichfalls behauptet, über »geheimes Wissen« zu verfügen.

264

herrschaftswissen und legitimation Betrachtet man nun die bereits von al-Manṣur verfolgte Politik der Abbasiden, Herrschaft nicht allein durch Abstammung, sondern zusätzlich wissenschaftlich unter Bezug auf Kenntnisse und Wissensbestände der Muʿtazila und persischer Astrologen abzusichern, dann stellt sich die Frage, woher die abbasidischen Potentaten wussten, dass solche nützliche Kenntnisse überhaupt existierten. Man wird folglich kaum in der Annahme fehlgehen, dass die Haschemiten über Generationen ein Erziehungsprogramm verfolgten, das in der Weitergabe von Wissen bestand, das traditionsgemäß nur wenigen zugänglich war2. Das bedeutet nun nicht, dass nicht auch die Umayyaden ausgewählte Lehrer, von denen viele Griechen waren, für ihre Söhne eingekauft hätten. Trotzdem verfolgten die Kalifen in Damaskus keine Politik vergleichbar mit der, die bereits am Beginn der Abbasidenherrschaft Kontur annahm. Nicht nur al-Manṣur besaß selbst eine Bibliothek, deren Umfang unbekannt ist, sondern auch seine Nachfolger. Dabei dürften sie sich an persischen Herrschergepflogenheiten orientiert haben. Das ausgeprägte Interesse von al-Mansur an antiker Wissenschaft manifestierte sich jedoch noch nachdrücklicher darin, dass er systematisch begann, griechische Werke ins Arabische übertragen zu lassen, wobei er keine Kosten scheute. Über die Gründe, die ihn dazu veranlasst haben, wurde oben bereits gesprochen. Darüberhinausgehend umgab er sich auch mit Menschen, die ihm derartige Aktivitäten nahelegten. Einer von diesen war u.a. Leiter des Krankenhauses und – wenn man so will – der medizinischen »Fakultät« von Gondischapur. Giwargis ibn Bukhtischuʿ war ein nestorianischer Christ, der den Kalifen selbst erfolgreich behandelt hatte und deshalb zu dessen Leibarzt avancierte. Offenbar stimuliert durch dessen medizinisches Wissen, forderte ihn der Kalif auf, griechische Werke ins Arabische übersetzen zu lassen. Doch damit nicht genug, ließ er in der Folge die gesamte Fakultät von Gondischapur nach Bagdad übersiedeln. So wurde dort u.a. auch das erste Krankenhaus mit freiem Zugang für alle Hilfesuchenden gegründet. Innerhalb der islamischen Welt wurde dies ein Vorbildprojekt, dem in anderen Städten ähnliche Einrichtungen folgten. Al-Manṣur war für damalige Verhältnisse ein gebildeter Mann3, dem sein Sohn und Nachfolger al-Mahdi (er regierte von 775–785 n.Chr.) in nichts nachstand. Dies manifestierte sich etwa an dem Umstand, 2 Dass auch in Europa Familien, die herrschaftliche Ansprüche oder Ambitionen hatten, stets auch auf eine besondere, nicht allen zugängliche Erziehung ihrer Sprösslinge Wert legten, belegen z.B. die sogenannten »Prinzenspiegel«. Auch in unserer Zeit ist eine vergleichbare Einstellung noch nicht ausgestorben. Die vielversprechenden Erben werden allerdings heute nach Harvard oder an ähnliche Institutionen geschickt. 3 Behauptet wird, dass er die Stoichea des Euklid studiert hätte.

265

das goldene zeitalter des islam dass al-Mahdi ausgerechnet die »Topik« des Aristoteles ins Arabische übertragen ließ. In diesem Werk, das später noch mehrmals direkt aus dem Griechischen übersetzt wurde, wird bekanntlich die Kunst systematischer Argumentation gelehrt. Das herrschaftliche Interesse dafür ist vielsagend, unterstützt doch dieser Schritt des Kalifen die hier vertretene These, dass sich das anhaltende Interesse an griechischen Werken aus der Notwendigkeit ergab, Dialektik, Logik und auch Rhetorik zur Klärung von Rechtsdisputen zu beherrschen. Doch zusätzlich leistete diese Kunst auch in Auseinandersetzungen mit Andersgläubigen beste Dienste. Die somit vermittelte Technik des Beweises von Behauptungen lieferte eine wichtige Basis für das, was heute im engeren Sinn als »Herrschaftswissen« bezeichnet würde. Die »Physik« desselben Autors d.h. Aristoteles wurde hingegen erst von einem Nachfolger al-Mahdis, Harun ar-Raschid (786–809 n.Chr.) zur Übersetzung beauftragt, was – wie noch gezeigt wird – nicht nur als indirekter Beleg für wissenschaftliche Präferenzordnungen und Wertschätzungen genommen werden sollte. Zu den nützlichen Instrumenten von Herrschaftsausübung zählen auch diverse technische Kenntnisse, die den Bau von Kanälen, Befestigungsanlagen etc. erleichtern. Doch werden wir weiter unten noch sehen, dass dieses Wissen wesentlich weniger bekannt und verbreitet war als die Dialektik, sodass selbst angesehenen Wissenschaftern dieser Zeit, wie z.B. den Banu Mussa, grobe Fehler bei der Planung solcher Projekte unterliefen. Außerdem sollte nicht übersehen werden, dass auch der Astronomie eine wesentliche Rolle als Herrschaftswissenschaft zufällt. Diese erweist sich nämlich nicht nur dann hilfreich, wenn es sich um Navigationsvermögen handelt, wobei egal ist, ob solches Wissen in den Weiten der Wüsten oder der Meere erforderlich ist.

Der Zeiten Wind Nicht nur in jenen vergangenen Zeiten der Abbasidenherrschaft, sondern noch tief in die europäische Neuzeit hinein herrschte bekanntlich der Glaube vor, dass die Qualitäten der Zeitläufe mithilfe astrologischer Prognosen zu antizipieren und dadurch besser unter Kontrolle zu bringen seien. Die Frage, woher der Zeitenwind weht, beschäftigt die Herrscher damals wie heute. Nur die Methoden, die Windrichtung zu bestimmen, änderten sich. Daher entspricht es den damaligen Anliegen wesentlich besser, wenn in diesem Kontext von »Horoskopie« gesprochen wird, was am besten mit »Zeitbeschau« und weniger mit »Stundenbeschau« übersetzt werden sollte. Die zu ermittelnden Qualitäten der Zeit ließen sich nach damaliger Auffassung aus unterschiedlichen 266

herrschaftswissen und legitimation Indikatoren ableiten, wobei die Analyse der astralen Konstellationen nur eine Methode war, um sich schon heute auf die Zukunft einzurichten. Sogar Johannes Kepler, Tycho de Brahe und Isaac Newton übten sich in derartigen Vorhersagen, und genauso ließen sich auch die Kalifen diesbezüglich gerne von kundigen Männern beraten. Doch nicht nur für zukünftige Ereignisse kann eine kosmische Schau nützlich sein, sondern auch zur Deutung vergangener Ereignisse. Auch diese Möglichkeit wurde von den ersten Abbasiden zur Legitimation ihrer Herrschaft weidlich genutzt. Es wird leicht übersehen, dass zur Ausübung von Herrschaft nicht nur Kontrolle über Raum, sondern auch über Zeit erforderlich ist und dass solche Kontrolle bewusst zum Einsatz kommt. So unscheinbar sie aussehen mögen, sind Kalender trotz allem ein bedeutendes Instrument der Herrschaftsausübung. Und dieses Kontrollinstrument kann nach Bedarf verfeinert werden – ein Umstand, der den Muslimen mit ihren strengen Gebetsvorschriften bewusst war. Somit überrascht es nicht, dass der Lauf der Gestirne damals mit großem Engagement studiert wurde und dass die Kalifen der Abbasidendynastie dafür beträchtliche Mittel locker machten. Sie ließen Observatorien errichten, bauten Astrolabs von beträchtlicher Größe und ließen auch deshalb den Almagest4 des Ptolemäus ins Arabische übertragen. Bei allen diesen Unternehmungen gaben sie sich keineswegs mit schlichten Übersetzungen zufrieden, sondern sie ließen auch die daraus gewonnenen, zahlreichen Beobachtungsdaten durch eigene Messungen überprüfen. Die Abbasiden waren kluge Herrscher und setzten um, was den ʿAliden als Verwaltern geheimen Wissens aufgrund politischer Unklugheit nie gelang. Erst unter ihrer Herrschaft wurde, zumindest für eine Weile, das dogmatische Korsett der Rechtsgelehrten von Medina abgestreift und die Kenntnisse der »fremden«, also nicht-arabischen Wissenschaften zum bestimmenden Teil des Herrschaftswissens gemacht. Sie investierten in Pflege und Ausweitung dieses Wissens beträchtliche Mittel und schufen dadurch ein Milieu, das eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf investigative Geister ausübte, die unter anderen Vorgaben zum Schweigen verdammt gewesen wären. Die Folge daraus ist, dass wir gehäuft mit Namen aus dieser Ära konfrontiert werden, die ähnlich wie in der Antike schriftliche Nachlässe hinterließen. Wie schon bei den »Elementen« Euklids, muss allerdings auch bei diesen schriftlichen Überlieferungen nicht alles, was heute unter deren Namen kursiert, auch aus deren eigenen Federn geflossen sein.

4 Siehe dazu Kapitel II in diesem Band.

267

das goldene zeitalter des islam Die prinzipiell wissenschaftsfreundliche Grundeinstellung, die die Kalifen über Generationen weitergaben, schuf einen Zeitgeist 5, der Resonanz in den oberen Schichten der Bevölkerung, besonders in der persischen Aristokratie fand, wo bereits vor dem Islam eine vergleichbare Grundgesinnung vorgeherrscht haben dürfte. Der paradigmatische Charakter des Herrscherhauses bewirkte, dass Übersetzungen aus Pahlevi, Hindi oder Griechisch in die neue Kultursprache zu fördern auch in den Kreisen der persischen Oberschicht ein Anliegen wurde. Auch sie investierten beträchtliche Mittel in derartige Aktivitäten, sodass in wenigen Jahrzehnten ein Stock an wissenschaftlicher wie auch anderer Literatur entstand, der den Vergleich mit den Bibliotheken des Altertums in Alexandria oder Antiochia nicht zu scheuen brauchte. Es dauerte demnach nicht lange, bis die »Auslieferung« bestimmter antiker Texte sogar Teil von Friedensverhandlungen mit dem byzantinischen Kaiser wurde. Bildung wurde, ähnlich wie damals in Athen, in einem derartigen Klima ein nachgefragtes Gut, und so kann es nicht überraschen, dass auch aus den Provinzen gebildete junge Menschen in großer Zahl in Bagdad eintrafen, um am Hof der Kalifen Karriere zu machen. Einer von diesen war al-Kindi.

Al-Kindi6 Abu Yaʿqub ibn Isḥaq al-Kindi wird auch als der erste »Philosoph der Araber« (al Faylasuf al-Arab) bezeichnet und lebte von ca. 800 bis 873 n.Chr. Er war ein »Polymath«, ein Universalgelehrter, der Jahrhunderte später beträchtlichen Einfluss auf die Entwicklung der Wissenschaften in Europa ausüben sollte. In ihm vollendete sich jener Zeitgeist7, der 5 Vor mehr als fünfzig Jahren haben D. Bobrow und K.P. Adler (1956) zwischen zwei charakteristischen Grundhaltungen in einer Bevölkerung unterschieden: Sie nannten sie »Cosmopolitans« und »Locals«. Die einen beschreiben sie als offen für Neues und Fremdes, die anderen verkörpern das Gegenteil. Welche Variante das Spielfeld besetzt und zum »Zeitgeist« mutiert, ist eine Frage der Verteilung der Macht. In der Phase, die wir im Augenblick betrachten, waren offenbar die »Kosmopoliten« am Hebel der Macht. Doch das kann sich ändern, wie wir sehen werden. K. Marx (1845/46), der stets für griffige Formulierungen gut ist, prägte den Merksatz: »Das herrschende Denken ist das Denken der herrschenden Klasse«. 6 In diesem Abschnitt folge ich im Wesentlichen den Arbeiten von P. Adamson, Kings College London, dem ich dafür auch danken möchte. 7 Die Bedeutung solch zeitgeistiger Strömungen für die Entwicklung von Wissenschaften hat P. L. Forman (1971) in Auseinandersetzung mit seinem Lehrer T.S. Kuhn, wie mir scheint, erstmalig gezeigt.

268

al-kindi nicht nur Aufgeschlossenheit und Offenheit für neue Gedanken aus anderen Kulturen und Traditionen einforderte, sondern auch ein angestrengtes Bemühen schuf, diese Grundhaltung auch anderen zu vermitteln. Im Rahmen dieser Intention lag es, die Heterogenität der Sichtweisen zu harmonisieren, Brücken zu schlagen und Gräben zuzuschütten. Al-Kindi verkörperte dieses Bemühen beispielhaft, weswegen ich seine Hinterlassenschaft ausführlicher behandle. Als Sohn des Statthalters von Kufah, dem bekannten Zentrum schiitischer Gelehrsamkeit und gesellschaftlicher Unruhen, wuchs er in einer stimulierenden Umgebung auf. Seine Familie stammte aus einem königlichen Geschlecht im Süden der arabischen Halbinsel, war aber bereits seit langer Zeit im Irak ansässig. Seine Lebensumstände waren folglich materiell bestens abgesichert, was ihm u.a. eine hervorragende Erziehung ermöglichte. Er wird heute den Muʿtazila zugerechnet, wobei seine Denkweise stark von neoplatonischen und neopythagoreischen Einflüssen geprägt war. Sein Leitbild, das er in seinem Leben zu verwirklichen suchte, war Sokrates. Über Sokrates verfasste er demnach auch verschiedene Arbeiten. Die damit einhergehende, prinzipiell platonische Orientierung hinderte ihn nicht, die Sichtweisen von Aristoteles mit jenen Platons zu verknüpfen. Obwohl in Kufah aufgewachsen, zog es ihn früh, so wie viele andere auch, nach Bagdad, dem damaligen Zentrum der Gelehrsamkeit. Das genaue Datum seiner Übersiedlung ist nicht bekannt, doch war zu dieser Zeit die vierte Fitnah, der Bruderkrieg zwischen den zwei Söhnen Harun ar-Raschids, bereits zugunsten al-Maʿmuns entschieden. Die von al-Manṣur eingeleitete Übersetzungsbewegung8 wurde von dessen Nachfolgern weitergetragen und dürfte zu der Zeit, als al-Kindi nach Bagdad kam, in voller Blüte gestanden sein. Al-Kindi konnte kein Griechisch, doch war er in der griechischen Philosophie derart bewandert, dass er auch in Bagdad Anerkennung fand und Aufsehen erregte. Das war angeblich auch Grund genug dafür, dass ihn der Kalif zum Leiter einer von zwei »Übersetzergruppen«9 ernannte. Dieser Beschluss mag zunächst merkwürdig erscheinen, doch zeigt sich in der Praxis, dass gerade bei komplexen Texten die Beherrschung einer oder zweier Sprachen allein nicht ausreicht. Man benötigt zusätzlich fundiertes Sachwissen, um 8 Siehe dazu: G. Endress (1987, 1992) und D. Gutas (1998). 9 Die zweite Gruppe wurde von Ḥunayn ibn Isḥaq (gest. 873 n.Chr.) geleitet, der ebenfalls ein renommierter Mann war. In Hinblick auf das, was weiter oben einige Male betont wurde, sei hier nochmals darauf aufmerksam gemacht, dass die Gruppe um al-Kindi vor allem aus syrischen, nestorianischen Christen bestand, genauso wie Ḥunayn ibn Isḥaq und sein Sohn Isḥaq ibn Ḥunayn (gest. 910 n.Chr.) selbst nestorianische Christen waren.

269

das goldene zeitalter des islam sinnvolle Übersetzungen anfertigen zu können10. Genau dieses Wissen konnte der hochgebildete al-Kindi einbringen. Damit nicht genug, schuf er im Lauf der Jahre ein umfangreiches Verzeichnis philosophischer Begriffe mit an Aristoteles erinnernden Definitionen, das wegweisend für spätere Generationen wurde. Aus dieser Veröffentlichung »Über Definitionen« entstand eine arabische philosophische Terminologie in Abgleichung mit griechischen Termini. Diese neue »technische Sprache« trug wesentlich zur Fundierung einer eigenen arabischen Philosophie bei11. Dass der Kalif dieses profunde Wissen kannte und zu schätzen wusste, demonstriert der Umstand, dass er al-Kindi zum Erzieher seines Sohnes und Nachfolgers, al-Muʿtaṣim (reg. 833–842 n.Chr.) ernannte. Diesem widmete al-Kindi auch einige seiner Werke. Angeblich um 827 (andere Quellen sagen 832) stiftete der Kalif das berühmte »Haus der Weisheit« in Bagdad12, das in vieler Hinsicht dem alexandrinischen Museon ähnlich war. Es sollte nicht nur eine riesige Bibliothek beherbergen, sondern darüber hinaus auch in eigenen Forschungsfeldern tätig werden. Al-Kindi scheint, ähnlich wie damals Euklid, der erste Leiter dieser Institution geworden zu sein13. Das bedeutete u.a. auch, dass er in dieser Institution weitere bedeutende Gelehrte versammeln konnte, was nicht nur ein stimulierendes intellektuelles Umfeld schuf, sondern auch in der Zukunft zu einem Leitbild für ähnliche Institutionen an anderen Orten14 wurde. Allein dadurch wurde es möglich, dass das dadurch aus dem Vergessen gerettete Wissen der Hellenen selbst dann noch weiter existierte, nachdem die Mongolen im 13. Jahrhundert Bagdad und damit auch das »Bayt al Ḥikmah« dem Erdboden gleich gemacht hatten.

10 Ein derartiges Wissen mangelt bedauerlicherweise auch heute noch manchen Übersetzern. 11 Siehe dazu: M.A.H. Abu Rida (1950), S. 165-179; F. Klein-Franke (1982). 12 Nochmals andere Quellen meinen, dass das »Dar al Ḥikmah« bereits unter Harun-ar-Raschid gestiftet worden wäre. Festzuhalten wäre, dass sich beide Optionen nicht notwendig ausschließen müssen, denn alle Kalifen der Abbasiden hatten beträchtliche Bibliotheken, wobei deren Benennung (»bayt«, »dar« etc.) noch keinem strikten Code folgte. 13 Es werden allerdings auch andere genannt, wie wir gleich sehen werden. 14 Solche »Dar al-ʿIlm« – wie sie auch genannt wurden – von Bedeutung entstanden im 9. und 10. Jahrhundert in Mosul, Basra, Schiraz, Rayy, Kairo, Aleppo und ca. siebzig weitere in Al-Andalus, in Fez etc.

270

al-kindi

Basis jeder Wissenschaft Die Arbeiten und Veröffentlichungen al-Kindis umfassen ein weites Spektrum und zählen ähnlich wie bei Aristoteles mehr als zweihundert Bände. Allerdings blieben von al-Kindis Werken wesentlich weniger erhalten, man schätzt vielleicht zehn Prozent. Thematisch umfassen sie ein breites Gebiet, das von Abhandlungen über Musik, Mathematik und Philosophie bis zu Anweisungen zur Herstellung von Pharmazeutika und zu astrologischen Traktaten reicht (F. Rosenthal, 1942). Im Geist Platons war auch al-Kindi davon überzeugt, dass Mathematik die Basis jeder Wissenschaft bilde15. Mit dieser Einstellung schuf er nicht nur die Grundlage für spätere arabische, sondern auch für abendländische Philosophen und Naturforscher, die ja unsere heutige Trennung der Disziplinen auch noch nicht kannten. Bei einer derartigen Orientierung überrascht es nicht weiter, dass er u.a. auch Arbeiten zu mathematischen Themen verfasste. Dazu zählen solche über das indische Zahlensystem, das später bei uns als »arabische Ziffern«16 bezeichnet wurde. In denselben Themenbereich fallen auch Schriften über Harmonien in der Musik, über Proportionen u.ä. mehr. Er verfasste auch einen Kommentar zur Methode der archimedischen Kreismessung (R. Rashed, 1993) sowie über Raum- und Zeitmessung, wobei er beide Dimensionen in Abhebung von Aristoteles als endlich betrachtete. Sein bekanntestes Werk trägt den Titel »Über die erste Philosophie«. Darin setzt er sich mit der Metaphysik des Aristoteles auseinander. Als Metaphysik versteht er jene Wissenschaft, die sich mit Gott beschäftigt, weil sich alle Philosophie um das Erkennen der Wahrheit bemühe. Gott sei jedoch die erste Wahrheit und Ursache aller Wahrheit. Folglich müsse sich die Metaphysik als »erste Philosophie« auch mit der Erkenntnis Gottes befassen. Doch abgesehen davon scheint die Arbeit ein großangelegtes Plädoyer gegen die konservativen Rechtsgelehrten zu sein, die »fremde« Ideen im Allgemeinen und griechisches Denken im Besonderen radikal ablehnten und zurückwiesen. Hier trat al-Kindi als leidenschaftlicher Verfechter dieses fremden Gedankenguts auf und 15 Dazu meint R. Rashed (1993): »Perhaps this was not simply to follow the bias of a particular tradition, but also to develop a method which was all his own, where the mathematical model was at one and the same time a paradigm to be respected and an ideal to be attained.« (m.H., M.S.; S. 31). Einige Seiten davor schreibt er: »For al-Kindi a proposition in theoretical philosophy required a proof as tightly argued as a mathematical one.« (ibid., S.8). 16 Es ist vielsagend, dass sich »Ziffer« vom arabischen Wort »ṣifr« herleitet, was Null bedeutet.

271

das goldene zeitalter des islam begründete seine Einstellung damit, dass Wahrheit unabhängig davon, woher sie stammt, bewundert und anerkannt werden muss. In vielen anderen Arbeiten propagierte er ähnliche Positionen, sodass man ihn als diejenige Persönlichkeit betrachten sollte, die durch ihren persönlichen Einsatz wesentlich zum Erhalt des hellenischen Erbes beigetragen hat. Auch in anderen Schriften versuchte er immer wieder, die Lehren des Islam mit seinen philosophischen Ideen in Einklang zu bringen und sie verständlich zu machen. Seiner Überzeugung gemäß bemühte er sich u.a. auch darum, Medizin und Mathematik zu vereinen. Dabei schlägt er vor, die Portionierung von Heilmitteln im Sinn geometrischer Proportionen zu gestalten. In derselben Tradition vertritt er eine konsequente Ursachen-Folgen-Logik, wobei er darauf besteht, dass Folgen keine Rückwirkungen auf Ursachen haben können17.

Über Strahlen Daraus schließt er u.a., dass es aufgrund durchgängiger Kausalität möglich sein muss, die Zukunft vorherzusehen. Als nützliches Beispiel dienen ihm dazu die Himmelskörper, deren Positionen ja vorhersehbar sind. In seiner umfangreichen Schrift »Über Strahlen« (nur lat. erhalten: »De Radiis«) versucht er einen generell systematisierenden Ansatz, mit dessen Hilfe alle physikalischen Vorgänge wie Wärme, Licht, der Einfluss der Sterne oder auch Wirkungen von magischen Handlungen geometrisch erklärt werden sollen. Er beschreibt die Wirkung von Sternen und Planeten auf die sublunare Welt als von Strahlen verursacht. Diese könnten ihrerseits wieder mittels geometrischer Gesetze beschrieben und antizipiert werden. Diese von Sternen und Planeten emittierten Strahlen würden durch Reibung die Erde aufheizen. Mithilfe dieser Theorie begründete er auch die Wirkungen astrologischer Einflüsse. In seiner dazugehörenden Kosmologie besteht der Kosmos aus vier konzentrischen Sphären18, auf die die äußere Sphäre der Fixsterne durch Emission von Strahlen einwirkt. Die vier Elemente werden dadurch untereinander verwirbelt. Daraus entstehen neue Verbindungen wie Minerale, Pflanzen oder Tiere19. Diese himmlischen Sphären sind 17 Der Gedanke von Rückkopplung ist ihm fremd. Er wurde ja auch in Europa erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelt und technisch zuerst im »Fliehkraftregler« der Dampfmaschine umgesetzt. Allerdings haben bereits die Banu Mussa Brüder zur Lebzeit al-Kindis vergleichbare Regelmechanismen verwendet. 18  (sphaira) heißt »Ball« oder »Kugel«. 19 Das alles erinnert entfernt an Demokrit.

272

al-kindi Werkzeuge Gottes, der damit durch seine Vorsehung auf die materielle, sublunare Welt einwirkt.

Astrologie und Optik Jeder Teil des Universums war für al-Kindi Ausdruck einer göttlichen Ordnung, die gerade aufgrund ihres göttlichen Ursprungs erkennbar wurde. Die himmlische Harmonie lieferte ihm zugleich eine Fundierung für Horoskope und astrologische Gutachten. Aber sie verleitete ihn auch dazu, das Licht der Sterne als Emanation Gottes zu verstehen, was ihn u.a. dazu veranlasste, optische Studien zu betreiben20. In einer nur in lateinischer Übersetzung erhaltenen Arbeit mit dem Titel »De Aspectibus« (Über Spiegel) studierte al-Kindi detailliert die Bahnen von Lichtstrahlen und die Wirkung eines Spiegels auf deren Verlauf. Wie nach obigen Schilderungen zu erwarten ist, arbeitete er auch in der Optik mit geradlinigen Strahlen, die dann mithilfe der Geometrie untersucht und beschrieben werden konnten. Diese bereits auf Euklid und Ptolemäus zurückgehende Methode erlaubte ihm bereits, Phänomene wie Schatten21, Brechung, Reflexion und Brennspiegel zu erklären. Überraschend vertrat er allerdings noch die Ansicht, dass beim Sehen die Strahlen vom Auge ausgehen, ohne allerdings zu übersehen, dass leuchtende Objekte ihrerseits auch solche Emissionen tätigen. Diese Mängel seines Ansatzes werden allerdings schon eine Generation später durch einen anderen bedeutenden arabischen Physiker behoben. Sein Name ist Ibn al-Haytham, mit dem wir uns später noch ausgiebig beschäftigen werden. In einer weiteren Publikation zur Optik untersucht der Meister des Bayt al Ḥikmah, auch die Folgen von Staub und Wasserdampf bzw. Nebel auf die Radiation und auf die Bildung von Farben am Himmel und im Regenbogen. Man sieht, dass bei aller scheinbarer »Skurrilität« mancher Überlegungen auch sehr wertvolle Ansätze und Ergebnisse zu finden sind, die sich u.a. daraus ergaben, dass er die dafür einschlägigen griechischen Arbeiten genau kannte. Dieses detailreiche Wissen gestattete ihm auch, manche der überlieferten Arbeiten zu kritisieren, z.B. jene von Anthemius von Tralles (474–534 n.Chr.) – eines byzantinischen Architekten –, der behauptete, mit Spiegeln Schiffe in 20 Genau dieselbe Vorstellung wurde ca. vier Jahrhunderte später von R. Grosseteste in Oxford wieder aufgegriffen und verleitete diesen dazu, erstmalig in Europa empirische Forschung zu betreiben. Grosseteste kannte die Schriften al-Kindis. 21 Das war allerdings auch der Ansatz, den bereits Aristarch zur Erklärung von Sonnen- und Mondfinsternissen verwendete.

273

das goldene zeitalter des islam Brand gesetzt zu haben. Konkret bemängelt al-Kindi, dass jener keine detaillierten Angaben darüber machen würde, wie so ein Spiegel, der 24 Strahlen in einer vorgegebenen Entfernung in einem einzigen Punkt bündeln könne, beschaffen sein müsse. Im Gegensatz dazu hätten sich er und seine Gruppe bemüht, diese fehlenden Details so gut wie möglich zu erfassen.

Theorie und Praxis Man sieht in al-Kindis Arbeiten deutlich, wie gut er Ergebnisse und Methoden von Euklid22, Ptolemäus und anderen nicht nur kannte, sondern auch selbst einzusetzen wusste. Zugleich liefert dies auch ein Zeugnis dafür, dass die muslimischen Philosophen ähnlich wie Archimedes oder Archytas in ihren Anliegen stets auch praxisorientiert und empirisch dachten. Daraus lässt sich einmal mehr ein Widerspruch zu gängigen Darstellungen ableiten: häufig wird ihm ja eine für Platoniker charakteristische Empirie-Ferne nachgesagt. Doch seine gerade erwähnten Untersuchungen zu Brennspiegeln oder auch jene von pharmazeutischen Mitteln zeigen ein gegenteiliges Bild und wären einem Platon kaum in den Sinn gekommen. Mit Recht stellt sich folglich wieder einmal die Frage, ob es nicht auch al-Kindi ähnlich wie Archimedes erging, der sich auch genötigt sah, seine Beweise in aristotelischer Manier zu formulieren, damit sie seinen Zeitgenossen schmackhaft wurden. Deshalb hatte ja auch der Syrakusaner seine eigenen originären Verfahren als »Heuristiken« unterbewertet, obwohl ihm selbst klar war, dass sie zu besseren und schnelleren Ergebnissen führten. Diese prinzipielle, spannungsgeladene Koexistenz zwischen »normalen« und »revolutionären« Wissenschaften zieht sich offensichtlich zeitlos durch den gesamten wissenschaftlichen Betrieb23. Das Feld, auf dem dieses »Spiel« ausgetragen wird, ist das der Beweisführung. Dort zeigt sich anschaulich, wer über hinreichend Definitionsmacht verfügt, um festzulegen, was als Beweis angenommen wird. Und um auf Folgewirkungen dieses Konfliktfeldes im Rahmen eines anderen Beispiels hinzuweisen, sei auch kurz der »Theorie der magischen Künste« des ersten arabischen Philosophen gedacht. In dieser Arbeit führte, wie zu erwarten ist, al-Kindi die pythagoreisch-aristotelische kosmische Harmonie in gekonnt neuplatonischer Manier auf eine Ausstrahlung Gottes zurück, die sich im Licht manifestiert24. Warum? Weil offensichtlich 22 Siehe dazu: R. Rashed (1997). 23 Siehe dazu Kapitel IX, X und Epilog in diesem Band. 24 In der 24. Sure des Koran mit der Bezeichnung »Das Licht« (an-Nur)

274

al-kindi die ausschlaggebende Definitionsmacht trotz aristotelischer Logik noch immer bei den Hütern des muslimischen Glaubens lag. Wie in einem nächsten Band gezeigt und von Kennern der Materie auch gelegentlich betont wird, übten gerade diese Arbeiten zur Optik auf den ersten Rektor der Universität Oxford (1215) Robert Grosseteste und dessen Schüler Roger Bacon großen Einfluss aus. Nachdem sich diese beiden Gelehrten als jene Europäer verstehen lassen, die den Anfang zu naturwissenschaftlichen Studien in England und am Kontinent mit qualitativ-empirischen optischen Untersuchungen setzten, darf man schon allein deshalb die Bedeutung von al-Kindi nicht gering achten. Immerhin half er, die theoretisierende Dominanz der Platoniker ansatzweise zu unterlaufen.

Theorie des Wissens Im selben optischen Kontext studierte al-Kindi auch das Sehvermögen und den menschlichen Intellekt und entwickelte eine eigenwillige Theorie des Wissens. Er unterscheidet zwischen zwei Arten, Wissen zu erwerben: entweder durch Aneignung über die Sinne oder durch den Einsatz des eigenen Verstandes25. Zwischen diesen beiden Polen liegen weitere Fähigkeiten, nämlich Phantasie und Vorstellungskraft. Die Sinne erfassen das Konkrete und die materielle Form, der Verstand hingegen das Allgemeine, im aristotelischen Diktus Gattung und Art bzw. deren geistig abstrahierte Form. Daraus ergab sich eine Ausgangsbasis für eine breit angelegte Diskussion innerhalb der muslimischen Gelehrtenschaft über Beschaffenheit und Funktion des Verstandes. Griechisch wurde diese Fakultät in der Überlieferung von Anaxagoras, Platon und Aristoteles mit »nous« (, arabisch mit »ʿaql« bezeichnet. Al-Kindi unterscheidet dann im Zuge seiner Überlegungen zwischen vier Formen des Geistes. In seiner Schrift »Über den Intellekt«, die als sein bedeutendstes Werk gilt und von vielen Seiten mit Interesse rezipiert wurde, bedient er sich als erster Araber griechischer Taxonomie. Er entlehnte von Aristoteles die Unterscheidung zwischen »aktivem« und »passivem« Intellekt. Der »aktive« Teil spiele als bewirkende Ursache eine universal vorhandene Rolle und äußere sich in einem ruhelosen Drang nach spontanem Denken. steht etwa: »Allah ist das Licht von Himmel und Erde. Sein Licht ist einer Nische zu vergleichen mit einer Lampe darin […]und Allah leitet mit seinem Licht, wen er will.« 25 Weiter unten lernen wir bei al-Farabi eine andere zweigliedrige Unterscheidung des Wissenserwerbs kennen.

275

das goldene zeitalter des islam Zuerst und an oberster Stelle steht für ihn der »Geist«, der ewig besteht und Ursache von allem ist, was in dieser vergeistigten Welt vorkommt. Offenbar handelt es sich dabei um Gott. In guter griechischer Tradition finden wir auch die antike »Eins« oder das »Ganze« wieder, das schon in Kapitel I angesprochen wurde. Dieses »Eine« besitzt bei ihm allerdings weder Form und Qualität noch Materie. So wie die Muʿtazila lehnt auch er jede Zuschreibung von Eigenschaften an das göttliche Wesen ab, denn, so könnte man sagen, Gott ist in sich und durch und durch »homogen«. Dieses oberste Wesen ist alleinige Ursache allen Seins. Es »fungiert« folglich – anders als bei den Platonikern – auch als »causa efficiens«, eben als Schöpfer, der selbst etwas erschafft und daher auch auf einen platonischen Demiurgen verzichten kann. Seine göttliche Energie wirkt, wie oben angedeutet, auf die Astralschale, welche durch die Einwirkung von Strahlen die unteren Sphären des Kosmos und das gesamte, in sich geschlossene Universum ordnet. Dieser »herstellende Geist« vereint in sich demnach zwei Arten von Ursachen, die »causa finalis« mit der gerade genannten »causa efficiens«26, weil er eben einerseits fähig ist, aus dem Nichts Dinge entstehen zu lassen, andererseits allein weiß, was Ziel27 und Anlass für seine Schöpfung ist. Aus dieser Position ergibt sich in Abhebung zu Aristoteles, dass nichts ewig sein kann, womit er einmal mehr die Position der Muʿtazila stützt, die ja auch deswegen dem Koran Ewigkeit absprachen, weil er von Allah »hergestellt« worden wäre. Das »Denken«28 sei bei Menschen, denen die oberste, göttliche Stufe unzugänglich ist, in drei weiteren Stufen aufgebaut: An zweiter Stelle steht »Geist« als eine Fähigkeit zu vernünftigem Denken, welche bereits der menschlichen Seele zukommt; sie ermöglicht der Seele, geistige Formen (platonisch: Ideen) zu erkennen. Dieses Vermögen des Menschen wird als »potentieller Intellekt« bezeichnet. In gut platonischer Tradition vertritt al-Kindi die Meinung, dass diese Erkenntnisse keinesfalls erworben werden könnten, sondern, wie schon Platon in »Menon« oder in »Phaidon«29 suggerierte, das Ergebnis einer dumpfen Erinnerung der 26 »efficere«, lat. »herstellen«. 27 »finis«, lat. »Ende, Ziel, Zweck, Absicht«. 28 Die Terminologien machen in den Übersetzungen gewisse Schwierigkeiten. Eine Feststellung, die ich bestätigen kann. Debroer (1901) betont z.B. in einer Fußnote (S. 103), dass der arabische Begriff »ʿaql« () im Englischen gerne mit »reason« oder »intelligence« übersetzt wird. Debroer hingegen meint, dass selbst im Englischen der deutsche Begriff »Geist« angemessener wäre. Und tatsächlich findet man in englischen Texten auch Bezeichnungen wie »spirit«, »mind« u.ä. Auch »Denken« scheint den Begriff nicht wirklich angemessen wiederzugeben. 29 Rätselhaft bleibt, woher al-Kindi diese Schriften gekannt haben kann, da sie damals noch nicht übersetzt gewesen sein dürften. Dies mag ein wei-

276

al-kindi Seele an ihr pränatales »Wissen« seien. Sobald dies Vermögen »wieder« erreicht oder vage bewusst gemacht wird, setzt »Denken« ein und wird zum »aktiven« Geist, der dann über diese wiedererkannten Formen frei zu verfügen beginnt. Diese Befähigung führt zum dritten Typus, den er als »erworbenen Intellekt« bezeichnet. Es handelt sich dabei um eine gewohnheitsmäßige Fähigkeit der Seele, Gebrauch vom aktiven Intellekt zu machen. Diese Befähigung steht zwar jederzeit zur Verfügung, sie wird trotzdem aber erst in einem eigenen Prozess erworben – deshalb wird sie arabisch als »ʿaqil mustafad« (lat. intellectus adeptus30 sive adquisitus) bezeichnet. Allerdings wird sie nicht, wie wir meinen könnten, in einem Prozess der Sozialisation angeeignet, sondern in guter, neuplatonischer Tradition von »oben« gewährt. An vierter Stelle steht schließlich die Fähigkeit zu aktivem Handeln. Durch sie wird erst die seelische Befähigung zum Handeln in die unbeseelte Welt übertragen. Deshalb wird diese vierte Art des Denkens auch als »sichtbarer Intellekt« bezeichnet, der erworbenes Wissen anzuwenden ermöglicht31. Naheliegender Weise bezeichnet man dies auch als »demonstrativen« Intellekt.

Platonische Tradition Diese seine synoptische Denkweise zieht sich von da an durch die gesamte islamische Tradition und wurde, wie kaum überraschen kann, auch gerne von christlichen Philosophen übernommen. Mit seiner hierarchisierenden Tradition wird auch der ursprünglich platonische Gedanke, dass »Wissen« und »Denken« einen höheren Stellenwert haben als praktisches Tun und Handeln, in die jüngeren monotheistischen Religionen32 übertragbar, obwohl er dort in dieser Art ursprünglich nicht gegeben war. Die Araber wenden sich daher bald, spätestens nach der Miḥna, von derartigen Werthaltungen ab. Das Christentum hingegen blieb dieser Einstellung bis zu den protestantischen Aufständen treu, der Katholizismus noch wesentlich länger33. terer Indikator dafür sein, dass den Arabern schon viele antike Schriften bekannt waren, bevor die große Übersetzungswelle anrollte. 30 »adeptus«, lat. »eingeweiht«. 31 Es erübrigt sich vielleicht doch nicht, nochmals auf diese seine unübersehbare Praxisbezogenheit aufmerksam zu machen, die ihn von griechischen Platonikern grundlegend unterscheidet. 32 Gemeint sind hier Christentum und Islam, die sich ja beide aus der bronze­zeitlichen, jüdischen Religion herleiten. 33 Ein neuzeitliches Beispiel dafür liefert P. Duhem (1908), der etwas abschätzig schreibt: »The same bias which led Thabit ibn Qurra to ›realize‹

277

das goldene zeitalter des islam Dieser dadurch erzeugte, dominant antiempirische Eindruck, der durch manche seiner Schriften zieht, schlägt sich allerdings markant mit der Tatsache, dass al-Kindi in einigen Bereichen der Wissenschaften wie in der Physik, der Optik, der Medizin und besonders in der Pharmakologie mit großem Aufwand empirische Untersuchungen anstellte. Unbestritten gilt jedenfalls, dass al-Kindi auch um eine Verknüpfung dieser Wissensgebiete mit mathematischen und geometrischen Methoden und Beschreibungen bemüht war. Es wäre daher vorschnell, ihn als jemand zu titulieren, der nur die hellenisch-theoretische Tradition fortführte und bewahrte. Unbenommen dieser lang anhaltende Wirkung zeigenden Tatsache, für die al-Farabi oder Averroes Zeugnis ablegen, leistete al-Kindi zahlreiche selbstständige Beiträge, und zwar vor allem auch deshalb, weil er Mathematik, Empirie und zum Teil widersprüchliche Theorien zu integrieren verstand. Ein anschauliches Beispiel für diese Fähigkeit zur Synthese liefern gerade seine astrologischen Schriften. In diesen verknüpft er aristote­ lische Ansätze mit anderen griechischen Autoren wie Ptolemäus sowie mit eigenen Beobachtungen und demonstriert damit, dass im Gegensatz zu den Positionen der traditionellen arabischen Gelehrten die Verknüpfung und Auseinandersetzung mit »fremden Wissenschaften« auch dem Islam großen Nutzen bringen kann. Obwohl der spätere Kalif al-Mutawakkil (reg. 847–861 n.Chr.), der nicht nur die Miḥna beendete, sondern, da er selbst den konservativen Auffassungen von Rechtsgelehrten wie Abu Ḥanbal zuneigte, al-Kindi von seinem Hof verstieß34, blieb sein Einfluss – und damit der der griechischen Überlieferung – für die Nachwelt erhalten. Erstaunlicherweise waren es weniger die muslimischen Nachfolger, die ihn besonders würdigten, sondern die wesentlich später tätigen christlichen Gelehrten, die ihn hoch schätzten und seine Ideen weiter entwickelten. Ungeachtet seiner eigenen wissenschaftlichen Leistungen ist ihm schon allein deshalb hohe Anerkennung zu zollen, weil er wesentlich dazu beitrug, dass das Erbe der hellenischen Antike nicht verloren ging. Die Übersetzungen, die in seinem Arbeitskreis unter seiner fachkundigen Leitung geschafthe Ptolemaic hypotheses materially, to divest them of their purely geometric, abstract, character by ›incarnating‹ them in rigid or yielding bodies, continued to dominate the scientific efforts of the Moslem thinkers.« (m.H., M.S.; S. 26). Anzufügen bleibt, dass P. Duhem ein betont konservativer Katholik war. Unbenommen dessen hat er bedeutende Einsichten in die Entwicklung wissenschaftlichen Denkens geliefert. 34 Einen beträchtlichen Einfluss auf diese Verbannung haben angeblich die drei Söhne (s.u.) des vormaligen »Straßenräubers« Mussa ibn Schakir ausgeübt, die sich damit die begehrte Bibliothek al-Kindis »ergaunerten«. Allerdings wurden sie später von einem Freund al-Kindis gezwungen, diese Sammlung zurückzugeben.

278

bayt al Ḥikmah fen wurden, wurden zu Standardtexten, an denen sich alle späteren zu messen hatten. Obwohl al-Kindi nicht zu den berühmtesten islamischen Philosophen gezählt wird, initiierte er mit diesen Verschmelzungen von aristotelischem mit neuplatonischem Gedankengut eine Denkrichtung von größter Tragweite für Ost und West35 und half damit zugleich, auch später einmal jenes überbordende Paradigma überwinden zu können.

Bayt al Ḥikmah Der »erste arabische Philosoph« al-Kindi war ein Vorkämpfer für die Übernahme griechischen Wissens in die arabische Kultur. Wie wir aber im Zug der gesamten bisherigen Darstellung immer wieder betont haben, war diese bedeutende Leistung keineswegs nur sein alleiniges Verdienst, sonst hätte er ja sein eigenes, profundes Wissen gar nicht erwerben können. Entgegen der überwiegenden Mehrzahl wissenschaftshistorischer Darstellungen, die immer wieder den Eindruck erzeugen, dass wissenschaftliche Leistungen das Ergebnis einzelner, genialer Vorkämpfer und begabter Genies seien, versuche ich, so wie dies u.a. G. Sarton fordert, den notwendigen gesellschaftlichen und kulturellen Rahmen als Vorbedingung für bemerkenswerte individuelle Leistungen miteinzubeziehen. Derartige Rahmenvorgaben sind vielfältig. Sie inkludieren ein institutionelles Gefüge, wie z.B. das Bayt al Ḥikmah oder die Schulen Athens, aber auch Paradigmen, die eine bestimmte Weltsicht schaffen, von der zu befreien selbst renommierten Wissenschaftern selten gelingt und wenn, dann nur unter großem, psychisch belastendem Einsatz.

Die Wirkung von Paradigmen und Institutionen Das Weltbild, das Aristoteles perfektioniert hat, wirkte prägend bis in das 16. Jahrhundert und bestimmte z.B. nach wie vor das Denken eines Kopernikus, wie ich weiter oben schon angedeutet habe. Später werde ich zeigen36, wie dieses nämliche Weltbild selbst die Arbeiten eines Mannes geprägt hat, der sich nachweislich von überlieferten, aristotelischen Vorgaben schrittweise getrennt hat. Al-Haytham, von dem hier die Rede ist, demonstrierte zwar experimentell deren Unhaltbarkeit, trotzdem gelangte er gerade dadurch zu Aussagen, die aus heutiger Sicht falsch sind. Das deshalb, weil er sich von anderen Vorgaben seiner 35 Siehe dazu: Butterworth C. (1992) 36 Siehe dazu: Kapitel X, dieser Band

279

das goldene zeitalter des islam Altvorderen nicht zu lösen vermochte, die aus derselben »Paradigmenküche« stammten. Diese Überzeugungskraft einer bestimmten Sichtweise oder Deutung von beobachtbaren Phänomenen wird über Lehre und dazugehörige Lehrbücher vermittelt. Doch Lehrbücher selbst sind die Resultate von wissenschaftsinternen Diskursen, die die zu übermittelnden Inhalte dogmatisierend festlegen und akkreditieren. Wenn daher von großen individuellen Leistungen die Rede ist, dann bestehen diese vorrangig darin, sich von prägenden Denkmustern zu befreien. Dass dies keineswegs ein leichtes Unterfangen darstellt, weil allerorts »Wächter« eine Grenzüberschreitung pönalisieren und zensurieren, ist Teil derartiger gesellschaftlicher und kultureller Rahmen. Am Beispiel von Archimedes oder Aristarch wurde dies bereits deutlich gemacht. Zugleich wurde die Wirkungsmacht von Institutionen am Beispiel des alexandrinischen Museon dargestellt. Institutionen wirken in zweifacher Hinsicht: einerseits sammeln sie wie eine optische Linse die mannigfachen Lichtbündel individueller Erkenntnisse und fokussieren sie auf einen bestimmten Bereich. Um im optischen Vergleich zu bleiben, muss aber zweitens festgehalten werden, dass diese Linsen – anders als in der üblichen Praxis optischer Experimente – zusätzlich das Licht polarisieren, das heißt, dass sie eben nur Licht durchlassen, das bereits in einer vorgegebenen Ebene schwingt. Andere Oszillationsrichtungen werden ausgesondert37. Es scheint quasi geophysikalischer Umwälzungen zu bedürfen, solche kulturelle Muster zu entthronen. Richten wir aktuell unser eigenes Brennglas auf das Bayt al Ḥikmah, so sehen wir, dass dieses »Haus der Weisheit« ein derartiger Ort war, wo die Leuchtphänomene der Vergangenheiten gebündelt wurden. Dabei soll nochmals betont werden, dass das dort gesammelte Licht der Erkenntnisse von Anfang an, das heißt seit der Machtübernahme der Abbasiden mit al-Manṣur, aus unterschiedlichsten geografischen Richtungen kam. Es waren nicht allein die Griechen, denen dort große Aufmerksamkeit geschenkt wurde, sondern auch dem Erbe der Sassaniden, die stets Wissen aus anderen Regionen wie China und Indien gesammelt und verwahrt hatten38. Dieses »persische Erbe« einer positiven Grundeinstellung zu Quellen der Überlieferung unterschiedlichster Art war jener Auslöser, der die ersten abbasidischen Kalifen dazu veranlasste, selbst in dieser Richtung zu wirken. 37 Weiter unten bezeichnen wir diesen erkenntnismäßig höchst bedeutungsvollen Prozess in der Diktion von al-Farabi schlicht als »abstrahieren«. 38 A. Hourani (1991) meint dazu, dass »[…] zum ersten Mal in der Geschichte […] Wissenschaft in internationalem Rahmen betrieben wurde.« (S.109).

280

bayt al Ḥikmah Unabhängig davon waren allerdings zugleich politische Erwägungen nicht weniger bedeutsam. Sie ließen u.a. diese Kalifen an den Lehren der Muʿtazila Gefallen finden. Resultat aller Vorgaben war, dass nicht nur griechische oder aramäische (syrische) wissenschaftliche Arbeiten ins Arabische übersetzt wurden, sondern auch solche aus China oder aus dem Sanskrit. Dies bewirkte eine äußerst anregende, gegenseitige Befruchtung. Beispielsweise sickerten so indische Zahlen durch – welche später im Abendland wie erwähnt als »arabische Ziffern« bezeichnet wurden. Trotz all dieser zusätzlichen Einflüsse war anscheinend aber das Reservoir griechischer Literatur umfangreicher und begann im Lauf der Zeit allmählich, anderes Erbgut zu dominieren.

Dialektik und Astrologie Eine Antwort auf die Frage, was diese griechischen Quellen gegenüber anderen auszeichnete, lässt sich im vorangehenden Kapitel bereits finden. Es dürfte das ausgeprägte politische Interesse an der aristotelischen Schlussfolgerungs- und Beweistheorie gewesen sein, wie sie in den beiden »Topiken« entwickelt wurde. Zusätzlich bewirkte das massive, gleichfalls politisch motivierte Interesse an Astrologie, dass auch Physik und Astronomie die nötige Aufmerksamkeit fanden, um auch derartige Arbeiten aus dem Griechisch übersetzen zu lassen. Auch das schon angesprochene Thema der Kontrolle und Strukturierung von Zeit als Herrschaftsinstrument blieb weiterhin bedeutungsvoll. Beweise als Begründung und Legitimation von Behauptungen zu erfinden bestimmt zwar das Interesse an Logik, Dialektik und Rhetorik. Den Lauf der Zeiten zu erfassen und Entscheidungen damit zu begründen, verleitet hingegen dazu, den Kosmos zu beobachten, zu studieren und nach Möglichkeit seine Konstellationen zu antizipieren39. Die Abbasiden fanden sich bereits am Beginn ihrer gewalttätigen Machtübernahme in einem problembeladenen, politischen Milieu. Um ihre Position zu festigen, mussten sie nicht nur einen Ausgleich zwischen Persern, Arabern und anderen Völkerschaften herstellen, sondern auch die zwischen Schiiten und Sunniten schwellenden Konflikte sowie 39 Kontrolle der Zeit kann auch in anderer Weise dienlich sein. Wie schon betont, waren die Abbasiden genötigt, ihre Herrschaftsübernahme zu legitimieren. Der Hofastrologe Abu Sahl ibn Nawbacht verfasste ein Buch, das »Kitab an Nahmutan«, in dem er eine Theorie zyklischer Zeiträume entwickelte, die aus den Sternen abzulesen seien. In diesen Epochen würde auch ein jeweils andersartiges Wissen geschaffen, das der jeweiligen Ära entspreche. Es seien nun die Abbasiden, die dazu bestimmt worden wären, dieses Wissen zu erneuern.

281

das goldene zeitalter des islam die abspalterischen regionalen Tendenzen in Ägypten und im Westen unter Kontrolle bringen. Demnach war es für sie unumgänglich, alle nur möglichen Mittel einzusetzen, die ihnen einen derartigen Ausgleich erleichtern konnten. Unbenommen der Tatsache, dass al-Manṣur und seine Nachfolger auch persönliche Interessen an Philosophie und Wissenschaften haben mochten – der gewaltige Einsatz von Mitteln, der zur Entwicklung der sogenannten »Übersetzungsbewegung« nötig war, ist rational nur aufgrund zusätzlicher Interessen zu verstehen. Einzig eine persönliche Verliebtheit in Erkenntnisgewinn40 reicht zur Erklärung des gewaltigen Einsatzes nicht. Hilfreicher für das Verständnis scheint eine bereits von I. Kant (1798) gemachte Beobachtung zu sein. Kant betont, dass es letztlich ein Herrschaftsinteresse an der körperlichen, geistigen und sozialen Verfasstheit der Untergebenen gibt. Ein Volk von Kranken ist für Herrscher so wenig attraktiv wie eine Armee ohne Nahrungsmittel. Kant bezeichnete daher die Kontrolle von drei Wissenschaftsgebieten, nämlich Jurisprudenz, Medizin und Theologie, als Grundbedingung für Herrschaftsausübung. Mit deren Hilfe verschaffe sich der Staat als Definitionsmacht Einfluss auf Leib, Seele und soziale Interaktionen seiner Bürger. Diese Wissensgebiete würden die Grundlagen zur Kontrolle des praktischen Handelns der Bürger liefern. Dem scheint nichts mehr hinzuzufügen zu sein. Dieser bedeutsamen Thematik werden wir uns weiter unten im Detail – und zwar im Vergleich mit Entwicklungen im römischen Imperium – noch einmal zuwenden. Im Augenblick wollen wir aber auf jenen wirkträchtigen Schritt der Institutionalisierung von Wissenschaft und deren Folgewirkung zurückkommen. Das Bayt al Ḥikmah erwarb sich als Zentrum anspruchsvoller Lehre41 rasch unvergleichlichen Ruhm, obwohl die Wissensweitergabe 40 Siehe dazu: D. Gutas (1998). 41 In diesem Kontext macht A. Hourani (1991) eine bedeutsame Anmerkung: »Praktisch die gesamte, noch durch die Schulen überlieferte griechische Kultur wurde in diese erweitere Sprache aufgenommen. In vieler Hinsicht war es allerdings eine bereits stark geschrumpfte Kultur. Rheto­ rik, Poetik, Drama und Geschichte wurden nicht mehr gelehrt oder kaum noch studiert. Zu den üblichen Studien gehörten Philosophie (das meiste von Aristoteles, einige Dialoge von Platon und einige neuplatonische Werke), Medizin, die exakten Wissenschaften Mathematik und Astronomie und die okkulten Wissenschaften Astrologie, Alchemie und Magie. Philosophie, Wissenschaften und okkulte Studien waren natürlich noch nicht so klar voneinander getrennt.« (m.H., M.S.; S. 108). Hinzuzufügen bleibt, dass die Muslime in Poetik, Rhetorik und Geschichte eigene Wege beschritten. Diese Beobachtung Houranis untermauert unsere Argumentation, dass erst konkrete Interessenslagen Übersetzungen einforderten. Dort, wo keine solchen Interessen vorlagen, geschah eben nichts.

282

bayt al Ḥikmah damals noch auf einer unmittelbaren Beziehung zwischen Lehrer und Student beruhte. Dies erforderte großen Personalaufwand und wäre vermutlich am besten mit dem zu vergleichen, was an englischen Universitäten als »Tutorium«42 bezeichnet wird. Ausschlaggebend für die große Reputation dieser »Schule« war der Umstand, dass dortige »Professoren« das gesamte Wissen der damaligen Welt zusammengetragen hatten, weitergaben und auch selbst verarbeiteten. Kern dieser Entwicklung war die von al-Manṣur begonnene Bibliothek, die er nach dem Vorbild der sassanidischen Palastbibliothek einrichten und organisieren ließ. Diese Bibliothek verfügte bereits über einen Katalog, der ähnlich wie auch heute nach Fachgebieten geordnet war. Zur Regierungszeit von al-Maʿmun stand diese Bibliothek unter der Leitung des Dichters und Astrologen Sahl ibn Harun (gest. 830 n.Chr.) und danach unter jener des berühmten Übersetzers Ḥunayn ibn Isḥaq (809 -873 n.Chr.). Die beispiellose Anhäufung von Büchern, Übersetzern, Forschern und deshalb auch Studenten in Bagdad bewirkte u.a., dass der Buchhandel und damit auch die gesamte Übersetzungsbewegung einen weiteren, unvergleichlichen Aufschwung nahm. Angeblich wurden in Bagdads bedeutendster Buchhandlung von al-Nakim täglich tausende Bücher gehandelt. Das war u.a. wieder nur möglich, weil die Papierproduktion dazu imstande war, bereits die dafür nötigen Mengen an Papier bereitzustellen. Zu einer Zeit, wo in Europa noch altes Pergament abgekratzt wurde, um darauf erneut schreiben zu können, war das nicht selbstverständlich. Es scheint unnötig darauf hinzuweisen, dass umgekehrt diese Industrie selbst durch diese eminente Nachfrage in ihrer Existenz entsprechend gefördert wurde. Das Bayt al Ḥikmah entwickelte sich somit schnell zu einem Zentrum, in dem ähnlich wie an heutigen Universitäten sämtliche Wissenschaftsdisziplinen studiert wurden. So wurden u. a. auch Medizin und Astronomie, Astrologie, Alchemie und Chemie gelehrt. Diese hier gemachten Unterscheidungen existierten zumindest in dieser Rigidität damals noch nicht. Dass Astronomie und Mathematik sich etwa gegenseitig ergänzende Fachbereiche sind und folglich beide zusammen studiert wurden, scheint naheliegend. Doch Astronomie ist zugleich ein bedeutendes Instrument zur Erstellung geografischer Karten und für die physikalische Geografie insgesamt. Dieses Gebiet überlappt seinerseits mit Botanik und Zoologie, so wie beide sich über Pharmokologie oder Physiologie wieder mit der Medizin treffen. Die Übergänge sind also fließend. Doch sollte man nicht übersehen, dass alle diese Wissensgebiete stets auch in 42 Anzumerken wäre hier, dass englische Colleges, so wie auch die Sorbonne in Paris, Nachahmungen islamischer Institutionen sind. Siehe dazu: G. Makdisi (1983).

283

das goldene zeitalter des islam engem Zusammenhang mit Fragen aus der Erkenntnistheorie und somit auch mit Philosophie und letztlich Theologie stehen. Dieser Zusammenhang ergab sich allerdings fast automatisch, weil Ausgangsbasis für alle diese Entwicklungen letztlich der Islam war. Aus solcher Perspektive betrachtet überrascht es nicht, dass im Zuge der Übersetzungsbewegung die Werke von Pythagoras, Euklid, Platon, Aristoteles, Hippokrates oder Galenos übersetzt wurden. Doch wie schon angedeutet, beschränkten sich diese Aktivitäten nicht allein auf das griechische Erbe.

Indische Erbstücke Weil hierorts häufig die nicht zutreffende Meinung vorherrscht, dass der Quell allen Wissens einzig im europäischen Raum gelegen sei, möchte ich in Kürze auf bedeutende Werke hinweisen, die damals im Zug dieser Bewegung übersetzt und so dem Abendland zugänglich wurden. Das »Kitab-i-Susrud« wurde im 8. Jahrhundert ins Arabische übertragen. Es ist die Übersetzung eines Sanskrittextes, des »Susruta Samhita«, einer Arbeit über Chirurgie, und ist zusammen mit »Charaka Samhita« noch heute ein Basiswerk der Ayurveda-Medizin. Im »Susruta« werden über 1.000 verschiedene Krankheiten und deren Behandlung, an die 700 Heilpflanzen und ca. 100 Rezepturen auf Basis von Mineralien43 und tierischen Produkten beschrieben. Doch darüber hinaus werden chirurgische Eingriffe unterschiedlichster Art beschrieben. Sie reichen von Kaiserschnitt, Zahnextraktionen, Hernien, Entfernung der Prostatadrüse, Behandlung diverser Darmerkrankungen bis zur Behandlung von Frakturen und Wunden, wobei auch Rehabilitationspraktiken nicht unerwähnt bleiben. Das »Charaka« ist ein etwas älterer Text zu ähnlichen Themen. Die Datierung der Texte ist ungewiss, doch dürften sie zu einer ähnlichen Zeit entstanden sein wie die Kompendien von Galenos. Der Einfluss Indiens auf Mathematik und Astronomie ist vermutlich besser bekannt als jener in der Medizin. Allgemeinwissen dürfte sein, dass wir unser derzeitiges Zahlensystem von dort auf dem Umweg über den Islam erhalten haben. Aryabhata (476–550 n.Chr.) war der Erste aus einer Reihe berühmter Mathematiker aus der klassischen Zeit. Seine bekannteste Arbeit trägt den Titel »Arya-siddhanta«. Sie deckt Algebra, Trigonometrie und sphärische Trigonometrie, quadratische Gleichungen, Reihen und die Aufstellung von Sinustabellen ab. Wie zu erwarten, fanden derartige 43 Um die Anerkennung solcher Heilmittel musste noch im 16. Jahrhundert Paracelsus vehement mit seiner Kollegenschaft kämpfen.

284

bayt al Ḥikmah mathematische Instrumente vor allem in der Astronomie Anwendung. Erwähnenswert scheint auch, dass Aryabhata auch der Erste gewesen zu sein scheint, der darauf hinwies, dass sich Tag und Nacht aus der Rotation der Erde um die eigene Achse ergeben. Damit war auch die damals dominante Vorstellung, dass das Firmament um die Erde rotiere, in Frage gestellt. Brahmagupta (597–668 n.Chr.) repräsentiert dieselbe Epoche. Auch seine Schriften wurden damals in Bagdad übersetzt. Er hat angeblich die Null ins indische Zahlensystem eingeführt und damit unser heutiges System perfektioniert. »Brahmasphutasiddhanta« ist sein bekanntest Werk. Diese Schrift wurde angeblich al-Maʿmun, der in Indien bereits eine diplomatische Vertretung unterhielt, von seinen Emissären überbracht und von ihm zur Übersetzung beauftragt. Der arabische Titel dieser Schrift lautet »Sindhind«. In dieser wird die Anwendung der Null mit praktischen Regeln dargestellt, wobei sich diese nicht nur auf positive, sondern bereits auch auf negative Zahlen erstrecken. Brahmagupta soll angeblich auch die maßgebliche Quelle sein, aus der die Araber ihre Kenntnisse über Astronomie bezogen, scheinbar bereits bevor sie sich mit Ptolemäus beschäftigten. Es war vermutlich bereits al-Manṣur, der einen indischen Astronomen namens Kankah um 770 nach Bagdad holte, der dann die Muslime mit der Astronomie von Brahmagupta bekannt machte. Im »Brahmasphutasiddhanta« beschäftigte sich der indische Autor ausführlich mit den Mondbewegungen und behauptete u.a. auch, dass der Mond sein Licht von der Sonne erhalte und der Erde wesentlich näher als diese sei. Damit konnte er nun die Mondphasen erklären. Im Folgenden werden wir noch sehen, dass diese Einsicht von dem bedeutendsten arabischen Astronomen und Physiker al-Haytham experimentell (!) widerlegt wurde. Wieder stellt sich die Frage des Warum. Ihrer Beantwortung widmen wir uns in Kapitel IX. In der Arbeit des Inders finden sich außerdem detaillierte Angaben zur Berechnung der Ephemeriden, von planetarischen Konjunktionen und der Bestimmung von Sonnen- und Mondfinsternissen. Unter derartigen Vorgaben kann es nicht länger überraschen, dass das Haus der Weisheit zusätzlich zur Bibliothek unter al-Maʿmun auch mit einem Observatorium ausgestattet wurde, an dem bedeutende Forschungen betrieben wurden.

Frühe Mitglieder des Bayt al Ḥikmah Wenn wir davon ausgehen, dass »al Bayt al Ḥikmah« trotz verschiedener Vorgängerinstitutionen seine größte Bedeutung erst unter dem Kalifat von al-Maʿmun erreichte, so waren die ersten Mitglieder dieser 285

das goldene zeitalter des islam »Gelehrtenrepublik« der schon genannte al-Kindi und dessen Übersetzerkollege Ḥunayn ibn Isḥaq (809–873 n.Chr.) sowie der Astronom Sahl ibn Harun (gest. 830 n.Chr.). Ḥunayn ibn Isḥaq Man sollte nicht irrtümlich meinen, dass Ḥunayn nur »irgendein Übersetzer« gewesen wäre. Nicht nur beherrschte er Griechisch, Latein, Arabisch, Palehvi und Aramäisch, sondern er entwickelte auch einen Stil des Übersetzens, der beispielhaft war und lange Zeit Nachahmung fand. Er löste sich von der sklavischen Übertragung von Sätzen in eine andere Sprache und gab die Inhalte nicht nur frei in eigenen Abhandlungen44 wieder, sondern korrigierte auch Fehler, die sich öfter als einmal in den Originaltexten fanden. Nicht genug damit, verfasste er zahlreiche eigene wissenschaftliche Arbeiten, besonders auf dem Gebiet der Medizin. Er wird deshalb manchmal auch als Begründer der arabischen Medizin betrachtet. Herausragend waren seine Kenntnisse in Ophthalmologie. Sein bahnbrechendes Werk auf diesem Gebiet mit dem Titel »Zehn Abhandlungen über die Ophthalmologie« beschreibt nicht nur detailliert die Anatomie des Auges, sondern auch Erkrankungssymptome und deren Therapien. Dazu zählen chirurgische Eingriffe bei Zysten und Tumoren, die Entfernung von Katarakten u.ä. Seine Kenntnisse gab er an seinen Sohn Isḥaq ibn Ḥunayn und seinen Neffen Hubaysch weiter, die beide ebenfalls anerkannte Wissenschafter wurden. An der Seite solcher Männer lebte auch ein weiterer Astronom und Astrologe, Mussa ben Schakir, der mehr wegen seiner abenteuerlichen Biografie als wegen seiner herausragenden wissenschaftlichen Leistungen genannt werden sollte. Er befand sich im Gefolge al-Maʿmuns schon während seiner Zeit in Merw, wohin ihn sein Vater als Statthalter beordert hatte. Mussa ben Schakir Sigrid Hunke (1960) beschreibt das Doppelleben des Mussa ben Schakir45 in so anschaulicher Weise, dass ich mich veranlasst sehe, diese

44 Mithilfe dieser Methode wurden in weniger als hundert Jahren nahezu alle bekannten Texte aus der griechischen Medizin gesammelt und übersetzt. Anzufügen wäre vielleicht, dass Isḥaq selbst auch nach Byzanz reiste, um dort antike Texte zu finden und zu erwerben. 45 »Schakir« heißt der »Dankbare«.

286

bayt al Ḥikmah märchenhafte Geschichte in ihrem Volltext zu zitieren. Betonen möchte ich aber, so wie es S. Hunke selbst macht, dass trotz aller Märchenhaftigkeit der Inhalt der Geschichte nicht erfunden wurde46. »Nacht für Nacht, wenn das letzte Gebet in der Moschee verstummt ist, trabt der Geisterreiter von Khorasan durch die Wüste. Sein Pferd ist rot wie das Henna in den Schminktöpfen der Frauen. Die Hufe sind mit weißen Tüchern umwickelt. Überall, wo der vermummte Reiter lautlos zwischen den niedrigen Hügeln hervortaucht, sind Ruhe der Nacht und Sicherheit dahin. Dort sind die Waffen und der Beutel mit dem Erlös der von den Märkten zu ihren Zelten zurückkehrenden Beduinen seine blitzschnelle und sichere Beute. Mussa ben Schakir geht seit Jahr und Tag im Palast des Kalifen ein und aus. Er ist ein Geachteter unter den Astronomen und Geometern des großen Maʿmun und ein Freund des Herrschers. Aber sobald er sich vom Nachtgebet in der großen Moschee erhoben hat, wird Mussa ben Schakir zum Räuber. In den goldenen Fesseln des Hofes, die ihn fest an die Stelle binden – eine Stellung sogar in der Gunst des Kalifen –, kann er nicht vergessen, dass seine Eltern und seine Voreltern, die früher einmal, Allah allein weiß wann, aus der Wüste bei Kufah hierher in den Osten des Reichs verweht sind, zu den Beduinen, den Schweifenden, gehört haben, dass er selbst noch als freier Sohn der Wüste geboren ist […]. In der Nacht kehrt Mussa in die Wüste zurück. In der Nacht lebt er wieder nach ihren uralten Gesetzen, die den ›gashwa‹47 [daraus leitet sich unser Wort ›Razzia‹ ab], den Raubzug nach festen ritterlichen Regeln, als ehrenhafte Tat des Tapferen, des Kühnen und Umsichtigen adeln. Und Stunde um Stunde seiner Nacht, in der er echolos durch die Finsternis reitet, sind nur die Sterne seine Freunde und Führer, wie sie seit Jahrtausenden seinem Volk die Zeit und die Richtung im unendlichen Raume gewiesen haben. Denn sobald die Nacht vorbei ist, muss der namenlose Geisterreiter sich wieder in den Mann zurückverwandeln, den in der Residenz jeder kennt. Sobald das Auge einen weißen Faden von einem schwarzen unterscheiden und der Muezzin zum Frühgebet ruft, wirft sich Mussa ben Schakir neben seinen Nachbarn in der Moschee nieder und neigt seine Stirn vor Allah, der ihm die Schar der Reiter in den Weg sandte, auf dass die Beute sein sei. 46 Ich habe diese Erzählung in der »Encyclopdia of Islam« überprüft und dort, zwar in weniger schönen Worten, bestätigt gefunden. 47 In meiner Umschrift: »Ghazwa«

287

das goldene zeitalter des islam Ahnt al-Maʿmun, dass der Mann, dem er unter seinen Gelehrten einen bevorzugten Platz am Hof und an seinem Herzen eingeräumt hat, ein Doppelleben führt? Als die Überfälle auf den Straßen sich mehren und die Klagen der Ausgeraubten eine Untersuchung fordern, fällt der Verdacht auf Mussa ben Schakir, den Astronomen. Doch die Gemeinde bezeugt, dass er seit je zu Beginn und Ende der Nacht wie jeder der Gläubigen in der Moschee sein Gebet verrichtet hat. Und der Kalif schweigt. Dass Mussa nicht nur kühn, sondern auch umsichtig ist, hat er auf zahllosen Raubzügen bewiesen. Bevor noch die Rache der Beraubten ihn eines Tages an der Sorge für seine unmündigen Söhne hindern kann, übergibt er seinem Freund, dem Kalifen selbst, die Vormundschaft. Und al-Maʿmun verwaltet die Rechte der Banu Mussa, die später zu den ausgezeichnetsten Astronomen und Wissenschaftler am Kalifenhof von Bagdad zählen werden.«48 (S. Hunke, 1960, S. 69/70).

Wie weit die Vorahnungen des Mussa ben Schakir sich verwirklicht haben, ist unklar. Die »Islamic Encyclopedia« berichtet jedenfalls, dass der Brigant irgendwann scheinbar seinen Lebensstil geändert hat und mutmaßt, dass dies auf den Einfluss des Kalifen zurückzuführen sei. Nach dem Tod von Mussa ben Schakir, so liest man in der »Encyclopdia of Islam«, sorgte wie vereinbart der Kalif für das Wohlergehen der jungen Söhne. Er erkannte auch, dass diese Drei hochbegabte Knaben waren, weshalb er sie zur Ausbildung ins Haus der Weisheit schickte, wo sie unter der Obhut von Yaḥya ibn Abi Manṣur (gest. ca. 830 n.Chr.) u.a. bereits früh bei den Übersetzungstätigkeiten alter griechischer Werke beteiligt waren. Dieser Beschäftigung blieben sie ein Leben lang treu. Als Erwachsene investierten sie große Summen Geldes in die Übersetzer und auch in den Erwerb antiker Schriften. Sie bauten solcherart eine beachtliche eigene Bibliothek auf, die angeblich unter den Kollegen des Hauses nur von jener al-Kindis überboten wurde. 48 Diese Geschichte ist »wahr«, schreibt S. Hunke, die sie vom »Firhist« des Ibn an-Nadin u.a. übernommen hat. Der »Firhist« oder »Kitab al-fehrest« ist ein gerühmtes, vielbändiges Werk, teils Katalog, teils Enzyklopädie arabischer Literatur, das 987 n.Chr. herausgegeben wurde. Ich habe die Erzählung von S. Hunke deshalb übernommen, weil sie außerdem auch schön ist und den märchenhaften Geist jener Zeit anschaulich macht. Zum Ausdruck bringt sie, welche tiefgreifenden kulturellen Umbrüche in jener Zeit stattgefunden haben. Nicht verschweigen sollte man aber, dass in jenem Teil des »Firhist« (eigentlich ein persisches Wort: fehrest), wo Belletristik im weitesten Sinn besprochen wird, auch die Erzählungen von »Tausend und eine Nacht« einen bedeutenden Platz einnehmen. Der Anfang und das Ende der Erzählung über Mussa ben Schakir und »Ali Baba und die vierzig Räuber« zeigen eine gewisse Übereinstimmung.

288

bayt al Ḥikmah Und dies sollte auch ein Grund dafür werden, dass sich die Drei in einer späteren Zeit gegen al-Kindi verbündeten und dafür sorgten, dass er den Hof des Kalifen verlassen musste und sie sich seine Bibliothek aneignen konnten. Man mag vermuten, dass sich hier eine Einstellung zeigte, die sie vielleicht von ihrem Vater ererbt haben mögen. Dabei könnte die Hinterlassenschaft des Vaters nicht nur auf solche Einstellungen gewirkt haben. Manche fragen sich nämlich, was mit dem erbeuteten Schatz des Briganten geschehen ist. Niemand weiß darüber Bescheid, doch manche denken, dass die Söhne al-Schakirs über den Verbleib der Schätze informiert waren und zumindest ein Teil davon in den Erwerb antiker Schriften geflossen sein könnte. Yaḥya ibn Abi Manṣur Niemand wird heute über diese Mutmaßungen befinden können, doch darüber, dass die drei Brüder von Yaḥya ibn Abi Manṣur (gest. ca. 830 n.Chr.) unterrichtet wurden, besteht Gewissheit. Yaḥya war ein bedeutender Astronom, dessen Vater bereits unter al-Manṣur am Hof als Astrologe diente. Er selbst stand zuerst im Dienst des mächtigen Wesirs al-Faḍl ibn Sahl und wechselte erst nach dessen Ermordung in den Dienst des Kalifen. 828/829 regte der Kalif astronomische Beobachtungsreihen in Bagdad an in der Absicht, die Daten und Ergebnisse des Ptolemäus auf ihre Genauigkeit zu überprüfen. Diese Beobachtungen dauerten etwa eineinhalb Jahre. In der vergleichsweise kurzen Zeit wurden vor allem Messungen an den Sonnen- und Mondbahnen gemacht, u.a. wurde die Neigung der Ekliptik mit 230 33‘ bestimmt oder die Präzession von Tag- und Nachtgleiche mit 10 in 66 persischen Jahren. Diese Angaben waren bedeutende Verbesserungen in Hinblick auf Ptolemäus’ überholte Daten. Yaḥya war dann auch bei der Abfassung eines astronomischen Handbuchs maßgeblich beteiligt, das unter dem Namen »alzîdsch al-mumtaḥan« (d.h. »Die überprüften Tabellen«, lat. »tabulae probatae«) lange Zeit Referenzcharakter hatte. Abgesehen von diversen anderen Publikationen erreichte ein anderer Forschungsauftrag des Kalifen, an dem Yaḥya und auch bereits einer seiner Zöglinge teilnahmen, große Aufmerksamkeit. Es handelte sich um die Bestimmung des Erdumfangs bzw. des Erdradius. Zu diesem Zweck begab sich eine Gruppe von Forschern in die Sinschar-Ebene im nördlichen Irak. Dort teilten sie sich in zwei Gruppen, die entlang des Meridians exakt nach Norden bzw. Süden marschierten, solange bis sich der Winkel zum Polarstern um ein Grad verändert hatte. Aus der dabei zurückgelegten Entfernung, die sie in Schritten abzählten (!),

289

das goldene zeitalter des islam errechneten sie dann den Radius bzw. den Umfang der hypostasierten Erdkugel49. Er wurde mit 8.000 Farsakh50 angegeben. Banu Mussa: Moḥammed ibn Mussa Unter der Obhut Yaḥyas entwickelten sich die drei Brüder prächtig. Sie wurden aus heutiger Sicht Fachleute in unterschiedlichen Wissensgebieten, deren Schriften soweit sie erhalten sind, auch noch heute Interesse wecken. Moḥammed ibn Mussa (gest. 873 n.Chr.) ist der Älteste und der Bedeutendste der drei Brüder. Er war ein gewiegter Politiker und Vertrauter des Kalifen. Er erhielt vom Kalifen eine eigene Sternwarte in Bagdad, an der auch die genannten Observationen stattfanden. Moḥammed verfasste verschiedene Bücher zur Astrologie, in denen er sich u.a. kritisch mit Ptolemäus auseinandersetzte, und befasste sich mit der Konstruktion von Astrolabs und dem Beginn der Welt. Er vertrat vermutlich als Erster die Position, dass Mond und Planeten den gleichen Gesetzen unterworfen sind wie Körper auf der Erde. Damit löste er sich von den idealistischen, aristotelischen Sichtweisen, die ja behaupten, dass im translunaren Bereich des fünften Elements (Quintessenz) ideale, also platonische Zustände herrschen. In einer Schrift mit dem Titel »Buch über die Bewegung der Himmelskörper (und die Kraft der Anziehung51)« (»Kitab Ḥarakat al-aflak«) deuten sich Vorstellungen an, die bereits an Newton erinnern könnten. Immerhin war die Gleichsetzung der irdischen Welt mit der translunaren ein Schritt, den auch Newton tat, als er, wie kolportiert wird, vom fallenden Apfel auf die Mondbewegung schloss. Thabit ibn Qurra Moḥammed ibn Mussa lernte auf einer seiner Reisen auch einen jungen Mann aus Harran kennen, Thabit ibn Qurra, der ebenfalls mehrere Sprachen beherrschte. Er lud ihn nach Bagdad ein, wodurch in der Folge der forschungsfreudige Geist der Sabier52 auch in der Metropole Einzug hielt. Thabit verfasste einige Bücher zur Physik, u.a. einen Kom49 Für weitere Details über Yaḥya und dessen Arbeiten siehe: E.S. Kennedy et al. (1983). 50 Manche meinen, die Differenz zum heutigen Wert würde nur 118 km betragen. Diesen Befund kann ich leider nicht nachvollziehen. 51 J. al-Kahlili (2010) fügt diesen Zusatz dem Titel bei (S.132). 52 Die »Sabier« waren Anhänger einer alten mesopotamischen Religion, die die Gestirne, insbesondere den Mond, als Götter betrachteten und entsprechend verehrten. Ein Zentrum dieses Glaubens bildete Harran.

290

bayt al Ḥikmah mentar zur »Physik« des Aristoteles. Er übersetzte Euklid, Archimedes, Apollonius von Perge und auch den Almagest. Seine eigenen Werke beschäftigten sich mit Mechanik, Optik, Dynamik und Mathematik. Von ihm stammt auch der Satz von den »befreundeten Zahlen«. »Befreundete Zahlen« sind Zahlenpaare, bei denen jede Zahl des Paares die Summe der echten, ganzzahligen Teiler der anderen ist. Aḥmad ibn Mussa ibn Schakir und Ḥasan ibn Mussa ibn Schakir Vom zweiten Sohn Aḥmad ibn Mussa ibn Schakir (gest. im 9. Jahrhundert n.Chr.) kennen wir eine Übersetzung aus dem Chinesischen, das »Kitab al-Daradsch«, wo es um die Unterteilung des Zodiak geht. Der dritte Sohn, Ḥasan ibn Mussa ibn Schakir (gest. im 9. Jahrhundert n.Chr.), beschäftigte sich ganz im Geist der Griechen mit Musiktheorie und setzte sie in archimedischer Manier auch in die Praxis um. Obwohl manche ihrer Schriften dem einzelnen Verfasser zugeordnet werden können, ist es bei anderen schwer, die Autorenschaft genau zu bestimmen. Tatsache ist jedenfalls, dass unter ihrer Autorenschaft auch einige wichtige Abhandlungen zur Mathematik zu finden sind, wie etwa ein Buch über die »Messung von ebenen und sphärischen Figuren« oder eines über »Kegelschnitte«, das sich an den Arbeiten des Apollonius von Perge orientiert. Doch am bekanntesten wurden die Bücher von den raffinierten mechanischen Gerätschaften, die sie offenbar kollektiv entworfen haben dürften. Sie wurden von den Brüdern im Buch »Kitab al Ḥijal« beschrieben. Der Titel dieses Buchs wird auf Deutsch meist mit »Buch von den sinnreichen Anordnungen« wiedergegeben.53 In dem Buch werden hundert originelle Erfindungen beschrieben, die allerdings überwiegend Unterhaltungscharakter haben, wie dies im Rahmen einer höfischen Gesellschaft zu erwarten ist. Allerdings ist deren Raffinesse und Ingenuität erstaunlich und bewundernswert. Die Geräte übertreffen die alten alexandrinischen Automaten bei weitem. Allerdings waren den Brüdern die alexandrinischen Methoden bekannt und wurden auch zum Teil von dort übernommen. Die meisten der beschriebenen Mechanismen arbeiteten mittels Wasserdruck, doch finden sich genauso wie bei den hellenistischen Automaten welche, die mit Pneumatik arbeiteten.54 Als exemplarisch dafür kann man einen 53 Mir scheint dies eine reichlich farblose Bezeichnung für ein derartig originelles Buch zu sein. »Ḥijal« hat mehrere Bedeutungen, die schwer mit einem einzigen deutschen Begriff zu fassen sind. Es bedeutet u.a. »List«, aber auch »Behelf« und »Ausweg«, »Trick«. Ich würde es daher als »Buch listiger Erfindungen« bezeichnen, was meines Erachtens auch dem Inhalt des Buches besser gerecht würde. 54 In Anbetracht dieser Automaten muss wohl eine weiter oben kolportierte

291

das goldene zeitalter des islam Flötenspieler bezeichnen, der auf seiner Flöte unterschiedliche Melodien mithilfe minimaler Druckänderungen hervorbringt. Die Druckänderungen wurden durch Kegelventile automatisch reguliert. Dazu wird sogar ein mechanisches »Gedächtnis« eingeführt, das, ähnlich wie bei frühen abendländischen Webstühlen, über Walzen mit Stiften arbeitete. Mit deren Hilfe wurden über kleine Hebel Löcher der Flöte geöffnet, die parallel zur Trommel angeordnet waren. Der Luftstrom für die Musik wurde durch Wasser erzeugt, das in ein Speichergerät floss und von dort die Luft verdrängte. Angetrieben wurde das Ganze durch ein Wasserrad55. Dass man diese Prinzipien ausweiten konnte und so ganze Wasserorgeln herstellte, wird kaum mehr überraschen. Keineswegs begnügten sich aber Kalif und Banu Mussa allein damit, hübsches Spielzeug zu erfinden. Sie entwickelten Greifbagger, Gasmasken für Brunnenarbeiter und Saugbälge, die aus Brunnenschächten giftige Gase absaugen konnten. Wasserhebevorrichtungen unterschiedlichster Bauart gehörten genauso zu ihrem Tätigkeitsbereich wie Wasserräder als Antriebe. Beachtenswert erscheint ferner der Umstand, dass sie bereits Wasserräder mit axialem Durchfluss entwarfen, was zumindest einer Frühform heutiger Turbinen gleichkommt56. Ähnlich ungewöhnlich ist auch der Gedanke, dass sie bereits Kurbelwellen verwendet haben dürften57. Die Verwendung von bronzenen Kegelventilen im Kontext von Rückkopplungsmechanismen ist eine Errungenschaft, die Archimedes zugeschrieben wird. Seitdem scheinen sie aber keine weitere Beachtung gefunden zu haben. Der Umstand, dass Thabit bin Qurra, der ja gleichfalls im Bayt al Ḥikmah tätig war, Schriften des Syrakusaners übersetzt hat, legt nahe, dass die Brüder diese technischen Entwicklungen des genialen Ingenieurs aus Sizilien nicht nur kannten, sondern auch selbst herzustellen wussten. Die erforderliche Präzision, die zum Erreichen einer zufriedenstellenden Dichte bei der Absperrung des Wassers nötig ist, erfordert nämlich höchst ausgeklügelte Produktionsverfahren. Ähnlich ausgeklügelte Wassersysteme versorgten Städte nicht nur mit dem notwendigen Nass, sondern schmückten mit unterschiedlichen Fontänen Paläste und Gärten. Auch in Hinblick auf die Beleuchtung von Minen und Straßen, Gärten und Palästen entwickelten die Drei originelle Lösungen, zu denen etwa Sturmlampen zu zählen wären oder Lampen, die sich selbst putzen. Behauptung, dass »Rückkopplungsmechanismen« erst von J. Watt erfunden worden wären, zumindest relativiert werden. 55 Siehe dazu: T. Koetsier (2001). 56 Siehe dazu: D. R. Hill (1993). 57 »Ungewöhnlich« gilt nur in Hinblick auf das mittelalterliche Europa. Den Griechen waren Kurbelwellen zumindest bekannt.

292

bayt al Ḥikmah Muḥammad ibn Musa al-Khwarizmi Kehren wir von den eher technischen Aspekten einer faszinierenden Entwicklung zu den ureigensten Gebieten wissenschaftlicher Tätigkeiten zurück, so treffen wir noch auf einen anderen Namen, der eng mit dem Haus der Weisheit verbunden war, nämlich Muḥammad ibn Musa al-Khwarizmi (ca. 780–850 n.Chr.). Über das Leben von al-Khwarizmi weiß man wenig. Sein Name lässt sogar die Vermutung zu, dass es sich bei ihm in Wirklichkeit um den älteren der drei Mussa-Brüder handelt. Ibn an-Nadim, auf den ich weiter vorne in einer Fußnote bereits als Verfasser des »Firhist« hingewiesen habe, gibt einige Daten zu seinem Leben an, woraus hervorgeht, dass er aus Khorasan stammt, was auch sein Beiname unterstreicht. Da der Vater der drei Brüder ebenfalls aus dieser Gegend kam, erhält diese Vermutung damit zusätzlichen Auftrieb. Im Folgenden wollen wir aber der gängigen Annahme von R. Rashed (1994) folgen, der meint, dass es sich um zwei unterschiedliche Personen handelt. Die Haupttätigkeit von Khwarizmi fällt in die Zeit der Gründung des Bayt al Ḥikmah. Wie die meisten der dort tätigen Forscher war auch er polyglott und beherrschte neben Griechisch58 und Arabisch auch Sanskrit, was ihn eben befähigte, indische Arbeiten zu übersetzen. Er trug demnach schon allein deshalb wesentlich zur Einführung des indischen Zahlensystems bei. Auch sein Tätigkeitsbereich spannte sich über mehrere, damals eng verknüpfte Wissensbereiche, also neben Mathematik auch Astronomie, Geografie und Kartografie. Berühmt wurde er aber durch ein Buch, das offenbar im Auftrag des Kalifen al-Maʿmun als Lehrbuch59 gedacht war, nämlich das »Kitab al-mukhtaṣar fî ḥisab al-dschabr wa-ʾl-muqabala«. Das Wort »aldschabr« im Buchtitel, das so viel wie »das Einrenken« bedeutet, machte Karriere in seiner latinisierten Form: Es ist uns nämlich als »Algebra« völlig geläufig und bezeichnet auch das, was wir heute darunter verstehen. Doch nicht nur »Algebra« – die Kunst, Gleichungen »einzurenken« – sollte uns an al-Khwarizmi erinnern. Sein Name selbst wurde zu »Al-gorithmus« verballhornt und hat im Computerzeitalter höhere Bekanntheit als etwa ein Krater am Mond, der Ptolemäus oder Al-Hazen ehren soll. Dieses Lehrbuch, das ihn ähnlich unsterblich machte wie die »Stoicheia« Euklid, ist aufgrund seiner Intention, Lehrbuch zu sein, ein Buch voll mit Rechen- und Anwendungsbeispielen. Es unterscheidet sich dadurch nachdrücklich von der »Stoicheia«, die im Geiste Platons 58 Hier gehen die offiziellen Meinungen auseinander. D.R. Hill (op. cit.) meint, dass er kein Griechisch konnte. 59 Siehe dazu: Al-Khwarizmi, Algebra (übersetzt von F. Rosen), London, 1831.

293

das goldene zeitalter des islam jeden Bezug zu praktischen Anwendungen als Entehrung der hehren Wissenschaft empfand und folglich geflissentlich mied. In eklatantem Unterschied zu Euklid enthält dieses Buch auch keine Beweise, sondern präsentiert nur eine verallgemeinerte Vorgehensweise, den »Algorithmus« eben, der zur Lösung eines gegebenen Problems führt. Inhaltlich stellt diese Arbeit ähnlich wie die »Stoicheia« eine Sammlung dar, in diesem Fall eine Sammlung von unterschiedlichen polynominalen Gleichungen, die bis zu solchen zweiter Ordnung, also quadratischen Gleichungen, reicht. Die heute gängigen Praktiken, dass man etwa Terme einer Gleichungsseite mit umgekehrten Vorzeichen auf die andere Seite verschiebt, also eine Gleichung mit nur positiven Termen erhält, ist der Vorgang, den er als »dschabr« bezeichnet. Terme gleicher Potenz aufzuaddieren bzw. zu subtrahieren, sodass am Ende nur mehr ein einziger gegeben ist, ist jene Praxis, die mit »muqabala« bezeichnet wird. Dass man beide Seiten durch denselben Teiler dividieren kann oder denselben Term hinzufügen oder abziehen kann, ist gleichfalls Teil des von ihm entwickelten Kanons. Er formt beliebig gegebene Fragestellungen im Laufe seines Verfahrens in sechs mögliche, kanonische Typen60 um. Bei quadratischen Angaben bringt er prinzipiell den Koeffizienten des quadratischen Terms durch Division zum Verschwinden. Das »Einrenken« geschieht dann dadurch, dass gleiche Terme auf eine Gleichungsseite gebracht werden61. Um die Wurzeln quadratischer Gleichungen zu lösen, entwickelt er die allen Schülern bekannte Lösungsformel, ohne sie zu beweisen. Er illustriert aber die Vorgehensweise anhand von Beispielen. Seine Vorgehensweise ist demnach eher induktiv und nicht, wie es unsere Schulen bevorzugen, deduktiv. Sein Lehrbuch besteht aus zwei Teilen, wobei im ersten Teil die Regeln der Algebra und die Abfolgen von Schritten – das sind die »Algorithmen« –, die zur Lösung verschiedener linearer und quadratischer Gleichungen benötigt werden, formuliert werden. Diese »Gleichungen« bestanden aus Quadraten, aus einfachen Unbekannten, die er als »Wurzel« bezeichnet, und aus Zahlen. 60 Diese sind: ax2 = bx; ax2= c; ax = c; ax2 + bx = c; ax2 + c = bx; bx + c = ax2. 61 Es muss betont werden, dass al-Khwarizmi keine Gleichungen mithilfe von Symbolen, wie wir sie benutzen, aufstellte. Er benutzt eine »rhetorische Algebra«, d.h. seine Lösungen und Fragen werden in der alltäglichen Sprache formuliert, wobei er allerdings bestimmte Begrifflichkeiten wie »schay« oder »mal« durchgängig verwendet (s.u.). Dass er keine »symbolische Algebra« benutzt, wie dies die Inder bereits praktizierten und was ihm vermutlich nicht unbekannt war, mag daran liegen, dass er eben im Auftrag des Kalifen ein Lehrbuch für Praktiker verfasste.

294

bayt al Ḥikmah Trotz des Mangels an Beweisen wird seine Arbeit als eine der bedeutendsten für die weitere Entwicklung der Mathematik betrachtet, weil sie von der dominant geometrischen Sicht der Griechen62 auf »revolutionäre Weise« (J.J. O’Connor, E.F. Robertson, 1999) abweicht und einen völlig neuen, rein mathematischen, ausschließlich auf Zahlen beruhenden Zugang eröffnete. Im Unterschied dazu bestanden ja die maßgebenden Griechen darauf, derartige Problemstellungen als geometrische Aufgaben zu betrachten. Anschauungsbeispiel liefert das Verfahren, eine quadratische Gleichung zu lösen. Den Griechen ging es etwa darum, die Seite eines Quadrates so in zwei Teile zu teilen, dass die Rechtecke über diesen Teilen zusammen dieselbe Fläche wie das Quadrat über der ursprünglichen Strecke haben. Die Argumentation dazu findet sich in Euklids »Elementen« im zweiten Buch in den ersten zwei Theoremen. Noch deutlicher wird der Unterschied, wenn die Seitenlänge eines beliebigen Quadrats mit unbekannter Fläche ermittelt werden soll, sodass es zusammen gleich der Fläche eines gegebenen Quadrats minus zweier Rechtecke ist. In heutiger Notation würde die Angabe lauten: x2+ px = q, wobei in dieser Notation p und q Konstante sind und x die gesuchte Seitenlänge. »p« bezeichnet die Breite beider Rechtecke. Diese Darstellung findet sich im Appendix, Abb.3, mit der dazugehörigen Beschreibung des Vorgangs. Eine andere Vorgehensweise wurde von Brahmagupta und al-Khwarizmi gewählt. Sie teilten diese zwei Rechtecke auf vier gleich große Rechtecke und vier Quadrate auf. Auch hier findet sich eine genaue Darstellung dessen im Appendix, Abb. 4. Al Khwarizmi verwendete noch nicht die bei uns gebräuchlichen und oben benutzten Notationen für Gleichungen, die aus Buchstaben und Ziffern bestehen. Er gab seine Anweisungen vielmehr wörtlich63, wobei er ein standardisiertes Vokabular verwendete. Die Unbekannte, die bei uns mit »x« gekennzeichnet wird, benannte er z.B. mit »schay«, das Quadrat der Unbekannten mit »mal«, die Wurzel mit »dschidr«64. Sei62 Ich erinnere daran, dass auch bei den Griechen schon manche von dieser dominanten Sichtweise abgewichen sind. Siehe dazu Kapitel I in diesem Band. 63 Für uns interessant ist, dass auch Heron von Alexandrien im ersten nachchristlichen Jahrhundert sprachlich Verfahren zur Lösung von quadratischen Gleichungen formulierte. Insofern wäre er mit al-Khwarizmi durchaus zu vergleichen. Wesentlicher Unterschied ist, dass auch er sich so wie vor ihm Archimedes genötigt sah, einen geometrischen Beweis nachzureichen. Damit unterscheidet er sich wieder grundlegend von jenem Mann aus Khorasan. 64 Zur Illustration eine englischen Übersetzung solcher Angaben aus Muḥammad ibn Musa Al- Khawarizmi (Übersetzung: F. Rosen, 1831): »[…] a square and 10 roots are equal to 39 units. The question therefore

295

das goldene zeitalter des islam ne Vorgehensweisen illustriert er allerdings »nur« mit konkreten Zahlenbeispielen. Eine Illustration dafür findet sich ebenfalls im Appendix. In unserer Schreibweise würde etwa das Beispiel von al-Khwarizmi folgendermaßen lauten: x2 +10x =39 Nach diversen regelkonformen Umformungen kommt er schließlich zur Feststellung, dass x= -5 + √ (39+25), also x=3 ist. In unserer Tradition wäre demnach p =10 und q = 39. Zur besseren Veranschaulichung benutzte al-Khwarizmi – ähnlich wie Euklid – zwar auch gelegentlich geometrische Darstellungen�, doch in markantem Unterschied zu diesem verwendete er weder Propositionen noch Theoreme oder Axiome, wie sie in der Stoicheia strikt verlangt würden. Die neue Algebra des al-Khwarizmi erlaubte, mit rationalen und irrationalen65 Zahlen genauso zu arbeiten wie mit geometrischen Größen, die nun alle als algebraische Untersuchungsobjekte verstanden werden konnten. Auch dadurch unterscheidet sich der Ansatz von al-Khwarizmi grundsätzlich von jenem der alten Griechen. Genauso bleibt er im Unterschied zu diesen konsequent anschaulich. Das mag vielleicht sogar daher rühren, dass er die Methode Euklids möglicherweise gar nicht kannte, und noch weniger die Schriften Diophants66. Wahrscheinlich dürfte aber diese Annahme nicht korrekt sein. in this type of equation is about as follows: what is the square which combined with ten of its roots will give a sum total of 39? The manner of solving this type of equation is to take one-half of the roots just mentioned. Now the roots in the problem before us are 10. Therefore take 5, which multiplied by itself gives 25, an amount which you add to 39 giving 64. Having taken then the square root of this which is 8, subtract from it half the roots, 5 leaving 3. The number three therefore represents one root of this square, which itself, of course is 9. Nine therefore gives the square.« 65 Auch hier gibt es unterschiedliche Auffassungen. Manche meinen nämlich, dass diese grafischen Darstellungen Euklid entnommen oder zumindest nachempfunden wären. Andere wieder beharren darauf, dass er Euklid nicht gekannt haben kann, weil die erste Übersetzung erst nach der Publikation seines Buches erschienen wäre. Ich meine, dass in einer Umgebung wie dem Bayt al Ḥikmah der griechische Text wohl bekannt war. Schließlich saßen dort ja die prominenten Übersetzer, wie etwa AlḤaddschadsch ibn Yusuf, der angeblich die »Elemente« ins Arabische übersetzte und 833 starb (nicht mit gleichnamigen Feldherrn ident, der 714 starb). Manche meinen allerdings, dass Thabit ibn Qurra der Übersetzer gewesen sei. Vermutlich war es aber eine kollektive Leistung. 66 Bekanntlich hatten ja die Griechen damit Probleme.

296

bayt al Ḥikmah Manche Mathematiker streiten darüber, ob al-Khwarizmi tatsächlich als »Erfinder« der Algebra zu bezeichnen sei, denn der griechische Mathematiker Diophant hätte schon wesentlich früher ähnliche Lösungsansätze unterbreitet. Was aber den Muslim von der griechischen Art, solche Themen abzuhandeln, wesentlich unterscheidet, ist der Umstand, dass er – ähnlich wie die Inder die Null – nun auch die Unbekannte »schay« als eigenständiges Objekt und nicht mehr nur als Platzhalter behandelt. Demnach kann man mit Vielfachen einer Unbekannten ähnliche Operationen ausführen wie mit Zahlen. Und erst deshalb können seine Umformungsregeln pauschal eingesetzt werden. Ohne nun in die oben angesprochene Debatte über den Primat der Erfindung der Algebra – die manchmal mit Emphase geführt wird – eintreten zu wollen, sei festgehalten, dass Diophant mit seiner »Arithmetica« tatsächlich die Algebra schon begründet haben könnte. Immerhin verwendete er bereits, ähnlich wie wir, für Unbekannte und auch für bestimmte arithmetische Operationen wie die Subtraktion – erstaunlicherweise nicht für die Addition – Symbole. Er zeigte auch, wie Potenzen von Unbekannten multipliziert und Komplexe von mathematischen Größen vereinfacht werden können. Insofern kann man ihn mit al-Khwarizmi vergleichen. Doch die Null und die indischen Zahlen kannte er nicht. Man darf vermuten, dass ein Grund dafür, dass Diophant damals und noch heute wenig bekannt war und ist, darin liegen mag, dass sich Diophant so wie Archytas möglicherweise weniger um die Ton angebende Geometrie und mehr um die tarentinische »Logistik67« bemüht haben dürfte68, und es ihm folglich ähnlich erging wie Archytas oder Aristarch. Sie alle wurden ignoriert und übergangen, weil sie den Vorgaben des Denkhegemons in Athen und Alexandrien nicht entsprachen. R. Rashed (1994) fasst die Bedeutung des Werks von al-Khwarizmi in folgenden Worten zusammen: »For the first time in history, algebra is seen in this work as an autonomous discipline and in full possession of its name. We shall show that this early ninth-century work, though technically weak compared with the great Hellenistic compositions, remains nonetheless irreducible to those of Antiquity or late Antiquity. We shall therefore seek to isolate the very idea of this new discipline contained in it, as the herald of an entire current of later research. And it is precisely this posterity that will give al-Khwarizmi’s work its full historical dimension.« (R. Rashed, 1994, S. 3). 67 Über Diophant weiß man auch heute nicht mehr, als dass er irgendwann zwischen 150 v.Chr. und 350 n.Chr. in Alexandrien gelebt haben dürfte. 68 In Abhebung zu Archytas bezeichnet er sie allerdings eben als »Arithmetik«, eine Bezeichnung, die Platon vorwiegend pejorativ verwendet.

297

das goldene zeitalter des islam Die Entwicklung, die dadurch angestoßen wurde, bezeichnet R. Rashed als »arithmetization«, womit er die Übertragung und Erweiterung der grundlegenden arithmetischen Operationen – insbesondere auf Polynome – meint, die erlauben, mit Unbekannten genauso wie mit Zahlen zu rechnen (ibid., S. 340). Allerdings vermute ich, dass R. Rashed die Arbeiten und Beiträge eines Archytas nicht bekannt waren69, der – wie in Kapitel I dargestellt wurde – sich auch einem ähnlichen Programm der »Arithmetisierung« verschrieben hat. Zurück zu unserem Mathematiker aus Khorasan, der im Unterschied zu seinen Kollegen im Bayt al Ḥikmah angeblich, wie manche meinen, kein Griechisch sprach (s.o.). Er hat nicht nur ein bedeutendes Lehrbuch zur Algebra verfasst, sondern so wie die anderen in seiner Umgebung auch, tatkräftig an den gemeinsamen Projekten mitgewirkt. So hat er sich mit einer Abhandlung, die die Bezeichnung »Das Bild der Erde« trägt, auch einen Namen als bedeutender Geograf geschaffen. In dieser Schrift katalogisierte er die Koordinaten von hunderten von Städten für unsere Begriffe ziemlich exakt und schuf damit eine Grundlage für eine neue Weltkarte, die sogar aufgrund seiner Daten nachgezeichnet werden konnte. Wie kaum erstaunen wird, war er u.a. auch als Astronom tätig und trug zur Erstellung der »Zidsch«, der Positionstabellen der Planeten und Fixsterne, Wesentliches bei. Für uns ist er vor allem deshalb von besonderem Interesse, weil er sich von seiner Zunft dadurch abhebt, dass er den Kanon der Beweismittel, wie er seit den Tagen Euklids festgeschrieben war, entweder nicht kannte oder sich diesem nicht untergeordnet hat70. Seine Veröffentlichung zur Algebra, die Jahrhunderte später von Robert von Chester (1145 n.Chr.) unter dem Titel »Algebrae et almucabala«71 und Gerard von Cremona (1114–1187 n.Chr.) ins Lateinische übersetzt wurde, sollte die Entwicklung der abendländischen Mathematik maßgebend prägen. Diese auffallende Loslösung von der platonisch-aristotelischen Geometrie als Leitwissenschaft, deren Anspruch auf die Führungsrolle allerdings bereits von Archytas von Tarent abgelehnt72 wurde, konnte im späteren Europa erst durch seine Arbeit und die oben genannten Übersetzungen erreicht werden. Das heißt nicht, dass dadurch die euklidische Geometrie widerlegt worden wäre, noch, dass 69 Siehe dazu Kapitel I in diesem Band. 70 Das ist mehr als naheliegend, da die bedeutendste Arbeit (C.A. Huffman, op.cit.) dazu erst 2005 erschienen ist. 71 Es herrschen auch unterschiedliche Meinungen darüber, ob er Euklid gekannt hat oder nicht. Beides ist denkbar, da die Stoichea angeblich gerade zu dieser Zeit übersetzt wurde. Andere Quellen sagen, dass sie bereits unter al-Manṣur übersetzt worden sei. 72 Daher stammt die Bezeichnung »Algebra«.

298

gegenwind sie in Vergessenheit geraten wäre. Es heißt aber, dass durch den Beitrag von al-Khwarizmi die analytische Geometrie, wie sie R. Descartes begründet hat, erst denkbar wurde.

Gegenwind Nach dem Tod des Kalifen al-Maʿmun 833 n.Chr. folgten zwei weitere Herrscher, die eine ähnliche Einstellung wie ihr Vorgänger vertraten. Allerdings sah sich bereits der erste Nachfolger von al-Maʿmun, alMuʿtaṣim (833–842 n. Chr.), veranlasst, seinen Regierungssitz von Bagdad nach Samarra, einer neu gegründeten Stadt nördlich von Bagdad, zu verlegen. Samarra blieb ca. 50 Jahre Hauptstadt, was nicht gänzlich ohne Folgen für das Bayt al Ḥikmah blieb. Nicht unwesentlicher Anlass für diesen Schritt war, dass das Militär schon lange nicht mehr von Arabern, sondern von türkischen Söldnern, Freigelassenen und anderen turksprachigen Nomaden dominiert wurde. Die Ausübung der Macht hing zunehmend von der Kontrolle über diese militärische Ressource ab. Folglich schien es opportun, die widerspenstigen Bewohner Bagdads, die sich nicht nur aus religiösen, sondern auch aus steuerlichen Gründen der Regierung widersetzten, und die fremdländischen Soldaten räumlich getrennt zu halten, um das persönliche Abhängigkeitsverhältnis zwischen diesen und dem Kalifen nicht zu gefährden. Auch die Macht der Kalifen selbst blieb von diesem Schritt nicht unberührt. Sie entzogen sich zwar auf diese Weise dem Druck der Straße Bagdads, jedoch um den Preis, dass sie zunehmend auf die Unterstützung der türkischen Militärs angewiesen waren und von diesen abhängig wurden. Dazu kam, dass die gigantischen Entfernungen zwischen den einzelnen Regionen des muslimischen Reichs eine straffe Kontrolle der entfernten Provinzen verunmöglichten. Das hatte u.a. zur Folge, dass sich in den weiter entfernten Gebieten die dortigen Statthalter zunehmend unabhängig machten. Innere Unruhen und Aufstände konnten aber nicht einmal innerhalb des Irak verhindert werden. Auch der alte, anfänglich oberflächlich beigelegte Nachfolgekonflikt zwischen der Schiʿa und den Abbasiden gewann wieder an Bedeutung, auch weil die Abbasiden ihre ursprünglichen Zusagen an diese Gruppe nicht einlösten. Trotz allem förderten die Kalifen das Haus der Weisheit, die Übersetzungsbewegung und die Philosophie der Muʿtazila weiter und pflegten so wie al-Maʿmun eine Hofhaltung, die eine ausgeprägt intellektuelle und kunstliebende Orientierung zeigte. Mit dieser Interessensorientierung schufen sie auch Vorbilder, die Nachahmung in der Oberschicht der Bevölkerung fanden. Das trug nicht unwesentlich dazu bei, dass diese spezifische Haltung kaum leicht zu reversieren war. Sie war in den 299

das goldene zeitalter des islam tonangebenden Schichten wohl verankert – auch weil sie den überlieferten, persischen Gepflogenheiten entsprach, die im Gebiet des heutigen Irak noch immer dominant waren. Das alles war für die zukünftige Entwicklung von maßgeblicher Bedeutung. Denn unter diesen politischen Vorgaben blieb Mutawikkil (847–861 n.Chr.), dem dritten Nachfolger von al-Maʿmun, wenig anderes übrig, als sich Loyalität neuerlich dadurch zu verschaffen, dass er irgendwie dem Druck der Straße Rechnung trug und zusätzlich zum Militär seine Machtbasis auch ideologisch, doch nun mit umgekehrtem Vorzeichen, zu begründen suchte. Wesentliche Bedeutung kam dabei jener Variante des Islam zu, die durch sunnitische Rechtsgelehrte in der anfänglichen Tradition über Koran und Sunnah überliefert wurde. Beide, der Koran und die in den Ḥadithen schriftlich fixierte Überlieferung, waren zugleich jene Rechtsgrundlagen, nach denen traditionalistische Rechtsgelehrte ihre Entscheidungen trafen, ohne sich um solche logische und dialektische Interpretationen zu kümmern, wie sie von der »fremden« griechischen Wissenschaft nahegelegt wurden. Anzumerken wäre an dieser Stelle, dass jüngere Forschungen (B. Jokisch, 2007) auch zeigen, dass es sich nicht nur um Auslegungsdifferenzen handelte. Bereits Harun ar-Raschid ließ nämlich den Codex Justinianus de Juris Civilis übersetzen und scheint Anstalten gemacht zu haben, römisches Recht einzuführen, welches – wie wir ja bereits wissen – auch in griechischer Sprache73 vorlag. Gleichzeitig gewann auch in den ehemaligen persischen Gebieten sassanidisches Recht wieder zunehmend an Bedeutung. Diese Entwicklungen hätten, wenn sie sich durchgesetzt hätten, die Bedeutung der islamischen Rechtsgelehrten wesentlich geschwächt. Das lässt daher den entschlossenen Widerstand von Ibn Ḥanbal und seiner Schule in einem neuen Licht erscheinen. Es handelte sich offenbar dabei nicht nur um eine Ablehnung der »fremden Wissenschaften«, sondern zugleich auch um die Ablehnung der kodifizierten Übernahme von »fremdem« Recht74. Die langwährende günstige Situation für die Entwicklung der Wissenschaften und die Weitergabe des hellenischen Erbes änderte sich folglich im Zuge dieser Entwicklungen unter Mutawakkil. Während seiner Regentschaft fand die »Miḥna«, also die Inquisition, ihr Ende. Ursache für diese Entwicklung war, dass angeblich eine Mehrheit der Bevölkerung mit den aus ihrer Sicht »abgehobenen« Ideen der Muʿtazila und der Übertragung von fremdem Recht in die Religion nichts anzufangen wusste. Im Osten behielt sowieso altes sassanidisches Recht seine angestammte Bedeutung. 73 Siehe dazu Kapitel I in diesem Band. 74 Latein beherrschte ja in den ehemaligen byzantinischen Gebieten kaum jemand.

300

gegenwind Von diesem Richtungswechsel des »Zeitenwinds« war nicht nur das Haus der Weisheit betroffen.

Beginn einer »Ent-Hellenisierung« Die »fremden Wissenschaften«, wie sie offiziell bezeichnet wurden, waren den Durchschnittsbürgern fremd geblieben. Und nicht nur diesen, sondern auch jenen Rechtsgelehrten, die sich, sei es aus Unkenntnis oder gläubiger Überzeugung, nicht dazu hergeben wollten, den Koran als »geschaffen« zu verstehen. Das hätte ja zugleich auch bedeutet, dass auch die Rechtsbasis hätte verändert werden können. Resultat aller dieser politischen Vorgaben war jedenfalls, dass Mutawikkil von jenem Dekret al-Maʿmuns Abstand nahm, das von allen Qadis unter Eid forderte, den Koran als Schöpfung Gottes und nicht als ewiges Wort zu verstehen. Der revisionistische Schritt Mutawikkils öffnete Schleusen75, durch die nicht nur die weitere Entwicklung der Wissenschaften im Islam geformt wurde. R. Reilly (2010) bezeichnet diesen Prozess in Anlehnung an eine Redensweise des früheren Papstes Benedikt XVI. als »Ent-Hellenisierung«. Sie bedeutete eine um sich greifende Verunglimpfung und Distanzierung von jenen Prinzipien der Vernunft, wie sie von den Griechen hinterlassen wurden. Dieser Prozess fasste vorrangig in der Rechtssprechung und der Theologie Fuß, doch wie sich im Verlauf der nächsten Jahrhunderte erweisen sollte, breitete sich diese Einstellung allmählich über das gesamte Gebiet der muslimischen Kultur aus. Auch wenn es damals den Muslimen genauso wenig bewusst war wie heute der Mehrheit der Europäer oder Christen: philosophische und metaphysische Positionen beeinflussen das alltägliche Leben nachhaltiger, als meistens vermutet wird. Ihre Wirkung wird dabei nicht nur über Rechtsinstitutionen erzeugt, die sich letztlich immer auch auf metaphysische und theologische Fundamente stützen, sondern ganz allgemein über jene Vorstellungen, die man sich von der Art, dem Ausmaß und der Vielfalt von dem macht, was »Vernunft« ist, abdeckt und wie sie funktioniert. Die Frage etwa, ob Gottes Handeln mit Kriterien der Vernunft zu fassen ist, hat weitreichende Resonanzen auf die Art, wie eine Regierung legitimiert werden kann, und nach welchen Prinzipien Recht gesprochen werden kann. Ohne zu weit in Details zu gehen, erinnere ich an jene Passagen im Kapitel III, die sich mit den Entwicklungen 75 Dass sich das so verhält, bestätigt auch die Tatsache, dass bereits im 10. Jahrhundert in den Rechtsschulen sogar wieder Dialektik gelehrt wurde, was vermuten lässt, dass der ursprüngliche Widerstand auch aus anderen Richtungen kam.

301

das goldene zeitalter des islam im justinianischen Byzanz befassten. Ähnliches passierte nun auch im Kalifat. Sobald in unserem Fall der prominente Aḥmad ibn Ḥanbal aus dem Gefängnis entlassen war und seine Tätigkeit als ungebrochener Rechtsgelehrter wieder aufnahm76, wurden im Gegenzug dazu die Vertreter der »fremden Wissenschaften« verfolgt und diskriminiert. Die Anhänger der Muʿtazila mussten den Hof des Kalifen und alle Positionen in der Regierung räumen. Ihre Schriften wurden teilweise vernichtet und sie selbst mit der Todesstrafe bedroht. Es kann kaum überraschen, dass in dieser Situation auch die reichlichen Fördermittel des Kalifen für Forschung eingeschränkt wurden. Das Haus der Weisheit selbst wurde zumindest für einige Zeit geschlossen. Nun wurde al-Kindi öffentlich ausgepeitscht. Diese Entwicklung legte an Fahrt zu. Einer der Nachfolger von Mutawikkil, al-Muʿtadid (892–902 n.Chr.), der die Residenz wieder nach Bagdad zurückverlegt hatte, verlangte nun beispielsweise von den Buchhändlern der Stadt per Eid, dass sie keine Bücher über Philosophie, Dialektik oder Kalam-Theologie verkaufen durften. Jahre davor wurde Kopisten bereits untersagt, solche Schriften zu vervielfältigen. Dass nun die Traditionalisten auch die Lehrinhalte an den Rechtsschulen verbindlich festlegten, wird in dem Kontext kaum weiter überraschen. Die Restriktionen umfassten allerdings nicht nur theologische und philosophische Bereiche, sondern auch sämtliche andere, wie Mathematik, Astronomie, Physik etc. Analoge beschränkende Anweisungen galten auch für die erwähnten karitativen Stiftungen (»waqf«), die ein kostenloses Studium erst ermöglichten. Man muss allerdings anmerken, dass – wie oben schon festgestellt – eben deshalb, weil die rationale Lebenseinstellung trotz allem noch immer eine potente Anhängerschaft hatte, die Pflege der »fremden« Wissenschaften nicht völlig verschwand. Sie wurden aber aus dem öffentlichen Bereich verdrängt und entwickelten sich mehr unter dem Patronat privater Mäzene oder in den vom Kalifen weiter entfernten Regionen, wie z.B. in Ägypten, in Marokko, im al-Andalus oder Khorasan und besonders in solchen Gebieten, die überwiegend von Schiiten dominiert wurden. Diese waren ja traditionell gegenüber rationalen und wissenschaftlichen Ideen aufgeschlossener. Im Heimatland des Propheten, das von konservativen Anhängern der Sunnah dominiert war, und im Herzland des Kalifats erlebte hingegen die traditionalistische Richtung eine neuerliche Blüte. Wenn diese Entwicklung zunächst auch nur langsam an Boden gewann, so verstärkte sie sich zusehends. Gegen Ende des 9. Jahrhunderts geschah Ähnliches wie damals in Basra, als Waṣil ibn ʿAṭaʿdie 76 Siehe dazu: R. Reilly (2010).

302

gegenwind Muʿtazila gründete. Diesmal löste sich jedoch umgekehrt ein ehemaliger Anhänger dieser Schule namens al- Aschʿari (873–935 n.Chr.) von der Bewegung los und gründete eine neue Richtung, die zwar etwas weniger konservativ als die Ḥanbaliten war, aber trotzdem ziemlich radikal-konservative Ansichten vertrat. Diese Gruppierung wurde im 11. Jahrhundert unter Führung eines der bekanntesten Theologen des Islam, al-Ghazali (1058–1111 n.Chr.), zum bestimmenden Faktor der Sunnah-Anhänger. Mit diesen beiden Fahnenträgern der Reaktion wurde den rationalistischen und hellenophilen Tendenzen im Islam ein unaufhaltsamer Niedergang beschert, der schließlich von den Seldschuken-Sultanen begrüßt und massiv gefördert wurde. Wie jedoch die Jahreszahlen deutlich machen, blieb doch noch genug Zeit, die es einigen herausragend widerständigen Personen erlaubte, Leistungen zu erbringen, die ihrerseits eine neuerliche, demnach eine zweite Wiedergeburt der Wissenschaften im Abendland möglich machten. Diesem Thema kann ich mich aber erst in einem nächsten Band widmen. Trotz allem fand die begonnene Übersetzerbewegung zunächst keinen abrupten Abschluss. Sie hielt noch bis etwa gegen Ende des 10. Jahrhunderts an und fand dann u.a. auch deshalb ihren Abschluss, weil es nicht länger Werke von Interesse gab, die noch nicht übersetzt worden wären.

Schariʿa Wir können nun dorthin zurückkehren, wo wir die Entwicklung des Rechts und der bedeutenden Rechtswissenschaften verlassen haben. Es wurde ja bereits festgehalten, dass sich schon früh in Medina sogenannte Rechtsschulen, etwa unter Leitung von Abu Ḥanifa und Malik Ibn Anas, gebildet hatten. Wie sich allein daraus ableiten lässt, waren sie traditionell orientiert. Diese Schulen bestanden trotz Verfolgung auch während der »Miḥna« weiter, doch mit Ende der »Miḥna« florierten sie erneut. Zusätzlich entstanden, wie kaum anders zu erwarten ist, wenn man die frühe und grundlegende Spaltung durch die Schiʿa mitbedenkt, schon damals weitere Schulen. So wurde vor allem durch den sechsten Imam, Dschaʿfar aṣ-Ṣadiq, eine eigene Rechtsschule gegründet, die bis heute dort, wo die Schiʿa vertreten ist, Anerkennung findet.77 77 Ibn Ḥanbal wird meistens als der konservativste Rechtsgelehrte betrachtet. Seine Lehre verlangte kompromisslose Akzeptanz des Korans und der Sunnah, ungeachtet der enthaltenen Widersprüche. Offenbarung geht für Ḥanbal über den menschlichen Verstand. Zweifel aufgrund solch offensichtlicher Widersprüche waren für ihn schlicht Häresie.

303

das goldene zeitalter des islam Dass nach dem Ende der »Miḥna« zusätzliche Schulen entstanden, die mäßig auf Ausgleich bedacht waren, wird nicht überraschen. Einflussreich wurde die Schule von Abu al-Ḥasan al-Aschʿari, der die Positionen der Muʿtazila zurückwies und die unübertreffbare Bedeutung göttlicher Offenbarung gegenüber Logik und Verstand betonte. Diese Schule bestand, wie zu erwarten ist, darauf, dass der Koran ewig, also nicht geschaffen sei, und dass Gottes Allmacht auch den freien Willen der Menschen bei weitem übertrumpfe. Letztlich setzten sich aber innerhalb der »Ahl as-Sunnah«78 nur vier Schulen durch, deren Bedeutung regional verschieden war. Diese vier Schulen werden nach ihren Gründern benannt: Ḥanifiten, Malikiten, Schafiʿiten und die bereits genannten Ḥanbaliten. Über die beiden ersten, Abu Ḥanifa und Malik ibn Anas, wurde weiter oben bereits gesprochen. Auf asch-Schafiʿi (787–820 n.Chr.) wurde allerdings noch nicht hinreichend eingegangen. Er war ein Schüler von Malik ibn Anas und wird oft schlechthin als Begründer der Rechtswissenschaften betrachtet. In seiner Schrift »Al-Risala« entwickelte er Grundzüge einer Jurisdiktion. Er griff, wie bei seinem intellektuellen Erbe zu erwarten ist, auf das Buch »Al-Muwaṭa« seines ersten Lehrers Malik zurück und vereinte die Sunnah mit den damals gebräuchlichsten rationalen Interpretationsmethoden des »qiyas« und des »idschma« (s.o.). Wegen seiner Ansichten – er betrachtete u.a. die Gelehrten als die wahren Erben des Propheten – wird er bereits unter Harun-ar-Raschid, also noch vor der »Miḥna«, vor ein Gericht zitiert, aber nicht verurteilt. Um 820 stirbt er in Kairo, er erlebt also die »Miḥna« nicht mehr, die ja erst 829 dekretiert wurde. Häufig wird asch-Schafiʿi auch als Begründer oder zumindest als der Rechtsgelehrte betrachtet, der die Basis für die Schariʿa schuf. In den genannten vier Schulen wurden Ḥadithe und der Koran als Grundlage aller Rechtsentscheide gewertet, doch zusätzlich wurden auch regionale Besonderheiten berücksichtigt, sodass letztlich ihre Rechtsansichten in einigen nicht unwesentlichen Punkten voneinander abwichen. Gemeinsam allerdings betrachteten sie die genannten religiösen Vorgaben als verbindlich, selbst wenn es über bestimmte Inhalte und die Zulassung mancher Verse in den Ḥadithen Meinungsdifferenzen gab. Den ganzen Konglomerat bezeichnete man aber überall mit demselben Wort: Schariʿa79.

78 Dass diese Richtung von den sunnitischen Traditionalisten, und unter diesen von den sehr konservativen Wahabiten nicht anerkannt wird, versteht sich fast von selbst. 79 »Ahl as-Sunnah« heißt »Anhänger der Sunnah«, wobei der Begriff »sunnah« selbst so etwas wie »Tradition« oder »Gewohnheit« bedeutet.

304

gegenwind Eine Folge dieser Entwicklungen war, dass nicht nur eine konservative und dogmatische Entwicklung einsetzte, sondern diese spätestens ab dem 11. Jahrhundert selbst versteinerte. Diese Stagnation, die heute in manchen Gegenden, allerdings nicht sehr erfolgreich, zur Diskussion gestellt wird, wurde von al-Ghazali, dem einflussreichsten Vertreter dieser Richtung, als »Schließung der Tore des Idschtihad« bezeichnet. Das bedeutete eine Petrifizierung des Rechts und – wie noch gezeigt wird – ab ca. dem 11. Jahrhundert eine unübersehbare Beeinträchtigung des islamischen Geisteslebens schlechthin. Parallel dazu erfolgte zusätzlich, um das riesige Imperium auch nur halbwegs unter Kontrolle zu halten, eine weitreichende bürokratische Zentralisierung der Verwaltung. Trotz solcher vereinheitlichender Bemühungen machten sich nicht wenige militärische Statthalter zunehmend unabhängig. Sie etablierten ähnlich wie später in Europa Grafschaften, Sultanate und Emirate, deren Herrschaft überwiegend auf Gewaltausübung ruhte.

Al-Aschʿari und al-Ghazali Der alte Streit, ob Gottes Gerechtigkeit zugleich auch einen freien Willen der Menschen erforderlich macht, bricht mit Ende der »Miḥna« erneut los. Die Forderung der Muʿtazila, die darin begründet war, dass ein gerechter Gott nicht strafen kann, wenn seine Diener Unrecht aufgrund seines Befehls tun, wird von Al- Aschʿari (873–935 n.Chr) mit dem Argument weggewischt, dass die Allmacht Gottes alles vermag und daher auch keiner rationalen oder gerechten menschlichen Argumentation unterworfen sein kann. Gott ist reiner Wille. Er steht über jeder Vernunft und Gerechtigkeit. Diese Position wurde unter dem bereits genannten geistigen Nachfolger von al- Aschʿari, al-Ghazali (1058–1111 n.Chr) dogmatisiert und hatte unübersehbare Folgen für die weitere intellektuelle Entwicklung im Islam. Trotz der Radikalität dieser Posi­ tion wurde der damit eingeschlagene Weg, der von al-Aschʿari gewiesen wurde, als Mittelweg zwischen den noch radikaleren Ḥanbaliten und den drei anderen Schulen betrachtet und folglich bei den Sunniten zur dominanten Ideologie. An und für sich könnte uns diese Entwicklung in der Religion nebensächlich erscheinen. Doch sie hat profunde Auswirkungen auf die langfristige Entwicklung der Wissenschaften im Islam. Die Vorstellung uneingeschränkter Allmacht und Willkür untergräbt nämlich systematisch jede Grundlage naturwissenschaftlicher Erkenntnis, da sie die Möglichkeit einer durch verbindliche Gesetze geregelten Natur in Frage stellt. Da dies häufig die Vorstellungskraft heutiger Menschen übersteigt, sollen die dahinterliegenden Gedanken kurz skizziert werden: 305

das goldene zeitalter des islam Ein Vers in der 14. Sure lautet: »Allah tut, was Er will« (14,28) und in der 85. Sure liest man: »Der Herr des glorreichen Throns bewirkt, was er will« (85,15). Die in monotheistischen Religionen weit verbreitete Vorstellung von göttlicher Allmacht wird bei den Aschʿariiten zur alleinigen Bestimmungsgröße. Eine unbeschränkte Macht, die von jeder Fessel, die durch Moral oder Vernunft auferlegt werden könnte, frei ist, wird zur alles erklärenden Qualität göttlichen Handelns. Wenn Allah will, so zerstört er seine Schöpfung und errichtet sie im nächsten Augenblick wieder. Einen Grund für solch offenbar sinnloses Handeln braucht er nicht. Denn er ist reiner Wille, der bedingungslos umgesetzt wird. Jeder Augenblick ist das Produkt eines göttlichen Wunders, das nicht erklärt werden kann. Notwendig ergibt sich aus dieser Vorstellung, dass Gott allein erste Ursache von allem ist. Weitere Ursachen braucht es nicht. Daher sind Erklärungen von Erscheinungen, die man als Folge von Naturgesetzen verstehen könnte, illusorisch. Wiederkehrende Abfolgen von Ereignissen und Phänomenen, die wir als naturgesetzlich bedingt verstehen würden, sind bestenfalls göttliche Gewohnheiten, die aber der Allmächtige jederzeit ändern oder ignorieren kann. Die Natur ist nichts anderes als ein Instrument Gottes. Sonne, Mond und Sterne und alles, was sonst noch existiert, sind quasi nur die Melodie, die der Schöpfer auf seinem Instrument erklingen lässt. Diese Sicht wurde in den ca. 150 Jahren, die zwischen al- Aschʿari und dessen herausragendem Epigonen al-Ghazali liegen, von diesem so vervollkommnet, dass im Denken der sunnitischen Muslime der Unterschied zwischen Wunder und Natur nicht länger wahrgenommen werden konnte und auch nicht mehr wahrgenommen werden kann. Denn jedes Naturereignis, und sei es noch so trivial wie das Fallen eines Apfels vom Baum, ist ein göttlicher Akt. Damit geht zugleich jede Logik verloren. Im Unterschied zu den Muʿtazila, die Gott als Inbegriff von Vernunft und Gerechtigkeit verstanden haben wollten und ihn damit »bändigten«, wird Gott nun als Konzentrat von Macht und Willkür betrachtet. Dieser Gott eines reinen Willens wird unbegreifbar und unverständlich, denn nichts gleicht ihm, dem Unvergleichlichen. Sobald eine derartige Position bezogen wurde, löste sich zugleich – wie Averroes80 später in Zurückweisung al-Ghazalis schreibt – alle Ordnung auf. Doch, so kann man annehmen, war auch diese Vorstellung nicht zufällig. Sie entstand in einem vergleichbaren Milieu wie dem damaligen, als die Umayyaden herrschten. Zu Lebzeiten al-Ghazalis herrschten zwar offiziell nach wie vor die Abbasiden, doch die wahre Macht lag inzwischen schon lange in den Händen ihrer türkischen Feld-

80 Das Wort leitet sich von »scharaʿa« her. Es bedeutet den »Weg weisen«.

306

gegenwind herrn, der Mameluken, oder wurde vom chaotischen Treiben christlicher Kreuzfahrer konterkariert81. Die Position der Aschʿariiten nötigte nicht nur dazu, alle Bemühungen um eine kausale Welterklärung aufzugeben, sondern forderte zugleich dazu auf, ethische oder moralische Überlegungen im Auftrag Gottes zu vergessen. So wie damals der Kaiser im Byzanz des 6. Jahrhunderts mit vergleichbaren Begründungen aller Schuld enthoben werden konnte, so wurde dies nun auch bei den Muslimen möglich. Die Herrscher wurden, wie das ja schon die Umayyaden anstrebten, zum schlichten Vollzugsorgan Gottes, dessen Wille unergründlich ist. Und damit war, so wie am Beginn des europäischen Mittelalters, auch beim einzigen Erben der Antike das Ende der Wissenschaften dekretiert. Allerdings verstrichen vom Ende der »Miḥna« und dem damit erfolgten Sieg der Sunniten bis zum Ende der ersten Reinkarnation der Wissenschaften noch ca. zwei Jahrhunderte. Diese wurden trotz vielfältigen und wachsenden Widerstandes genutzt, um das angetretene Erbe der Antike nicht nur zu erhalten, sondern auch kritisch hinterfragend zu verbessern. Die Phase, die mit den Arbeiten al-Kindis, al-Khwarizmis und den Banu Mussa begann, wurde durch eine Reihe bemerkenswerter Arbeiten ausgebaut und mündete in einen neuen Kanon, der den der euklidisch-aristotelisch-platonischen Denkschule ergänzte oder gar ersetzte. Ich bin versucht zu sagen, dass ein anderer Kanon, der älter war und von Leuten wie Archytas von Tarent, Archimedes von Syrakus, Demokrit, Hipparch oder möglicherweise Diophant vertreten wurde, unwissentlich wieder aufgegriffen und verbessert wurde.

81 Vorwegnehmend, was erst im folgenden Band dargelegt werden wird, sei hier festgestellt, dass Ibn Rushd (1126–1198 n. Chr.), im Abendland als Averroes bekannt, die dogmatisch wichtige Schrift al-Ghazalis »Tahafut al-Falasifa« (»Die Inkohärenz der Philosophen«) mit seiner Gegenpublikation »Tahafut at-Tahafut« (»Die Inkohärenz der Inkohärenz«) bekämpfte. Angeblich wurde diese Schrift aber öffentlich verbrannt. Erhalten ist sie trotzdem geblieben, und zwar diesmal dank christlicher Übersetzer in Spanien.

307

308

Zwischenstück Retrospektive und Prospektive

»Für die Soziologie der Wissenschaft ist wichtig festzustellen, dass große Denkstilumwandlungen, also bedeutsame Entdeckungen sehr oft in Epochen allgemeiner sozialer Wirrnis entstehen. Solche ›unruhige Zeiten‹ zeigen den Streit der Meinungen, Differenzen der Standpunkte, Widersprüche, Unklarheit, Unmöglichkeit, eine Gestalt, einen Sinn unmittelbar wahrzunehmen - und aus diesem Zustande entsteht ein neuer Denkstil.« (m.H., M.S.; L. Fleck, 1935, S. 123).

309

310

kapitel vii

Denkstile Dieser Band wurde mit einem Aufriss des Erbes antiker Wissenschaften begonnen, die, pointiert gesagt, ihren Lebensgeist etwa gegen Ende des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts ausgehaucht haben. Das Erbe bestand aus einem ansehnlichen Schatz voluminöser Schriften, die zwar zunächst in entsprechenden Bibliotheken gesammelt waren, doch da diese Schätze nicht in Tresoren gelagert wurden, wurden viele der Schriften Beute von indoktrinierten Eiferern oder die der Flammen. Allerdings bewirkte auch bereits nur die Nutzung der Erbmasse Abnutzung und manchmal Veränderungen an den Materialen. Sie wurden den jeweiligen Umständen angepasst. Das gilt für materielle Artefakte genauso wie für immaterielle. Der verschlungene Pfad, auf dem dieses Erbe eine neue Heimstätte fand, wurde in den vorausgehenden Kapiteln geschildert. Das weitere Schicksal, dem es dann unterworfen war, bildet den Stoff der drei folgenden. Kapitel VII erfüllt somit eine Brückenfunktion zwischen den drei vorgehenden und den drei nachfolgenden Kapiteln. Der Weg, der zur Übernahme des Erbes zurückzulegen war, wurde in den Kapiteln IV, V und VI beschrieben, der weitere, der zu einer Art Kanonisierung arabischer Wissenschaft führte, wird in den nachfolgenden dargestellt. Gerafft wird daher der erste Teil des Weges in einer Retrospektive nochmals präsentiert. Für das leichtere Verständnis des dritten Teils dieses Bandes offeriere ich anschließend als Orientierungshilfe und Brückenpfeiler eine Kompilation der richtungsweisenden Arbeit von L. Fleck zur Entstehung von »Denkstilen« und »Denkkollektiven«. Damit wird auch dieser Band, so wie Band eins, mit der Darstellung der Entwicklungen dort beendet werden, wo ein charakteristischer und für die weitere Entwicklung der »arabischen«1 Wissenschaften bedeutender Punkt erreicht wurde. Die Darstellung des weiteren Wegs bis zu jenem Punkt, wo auch die arabische Wissenschaft ihren Lebensgeist ausgehaucht hat, sowie die Präsentation von deren Hinterlassenschaft, bleibt einem Nachfolgeband vorbehalten.

1 Die Anführungszeichen sollen andeuten, dass die intellektuellen Leistungen keineswegs nur aus Arabien, sondern von diversen Kulturen stammen. Sie wurden allerdings alle in der Sprache der Araber überliefert, weshalb sie auch als »arabisch« bezeichnet werden.

311

denkstile

Retrospektive Die Hinterlassenschaft der Hellenen Die Bezeichnung »Hinterlassenschaft« benennt ein Destillat, von dem bereits einige nicht unwesentliche ätherische Ingredienzien verloren gingen. Erhalten blieben vorrangig jene Dokumente, die Eingang in die mächtigen Sammlungen der Bibliotheken und die meist daran angeschlossenen Schulen fanden. Jene, die das nicht schafften, erlitten eine massive Verkürzung ihrer Lebenserwartung. Ihre Chancen des Überlebens wurden in weit höherem Maß von den Unwägbarkeiten des Zufalls bestimmt, als dies bei denen, die den Eingang in die heiligen Hallen gefunden hatten, der Fall war. Diesen Umstand aufzuzeigen, der zwar auf den ersten Blick trivial erscheinen mag, war das Anliegen des ersten Kapitels dieses Bandes. Die vordergründige Trivialität verflüchtigt sich, wenn man sie aus obiger Perspektive betrachtet. Die Schriften eines Archytas von Tarent, eines Aristarch von Samos, eines Demokrit oder Leukipp, aber auch solche von Archimedes von Syrakus fanden wenig Verbreitung und dürften in den einschlägigen Bibliotheken des Altertums selten gesammelt und kaum kopiert worden sein2. Grund dafür war, dass sie nicht dem damals vorherrschenden »Zeitgeist« entsprachen, wobei mit Zeitgeist das herrschende Denken gemeint ist. Das herrschende Denken ist ein »Hegemon«. Dieses Wort leitet sich vom griechischen  (hegemon) her und bedeutet »Oberbefehlshaber, Leittier, Ratgeber«3. Als  (to hegemonikon) bezeichnet man folglich ein »leitendes Prinzip« oder eine »führende Denkweise«. T.S. Kuhn (1962) zog es vor, dies als »Paradigma« zu bezeichnen. Auch wenn es letztlich auf das Gleiche hinausläuft, so wurden mit dieser anderen Bezeichnung den Gegebenheiten die »Zähne gezogen«4. Im Fall der großen Bibliothek von Alexandrien wissen wir ziemlich genau, wer dort das herrschende Denken dominierte – es waren 2 Ich erinnere auch an die zehn Bücher Vitruvs, die damals gleichfalls wenig Aufmerksamkeit fanden (siehe dazu: M. Schmutzer, 2011, Band I). 3 Es mag denkanregend wirken zu wissen, dass Hermes dann den Beinamen  (hegemonikos) erhielt, wenn er als Führer in die Unterwelt figurierte. 4 T.S. Kuhn (1962) liebt es, die Wissenschaft als einen in sich geschlossenen Betrieb darzustellen, der vom sprichwörtlichen »Elfenbeinturm« kaum zu unterscheiden ist. Dieser Sicht kann ich mich nicht anschließen, weshalb ich die andere Bezeichnung präferiere, besonders wenn auf solche Einflüsse Nachdruck gelegt werden muss.

312

retrospektive die Schüler aus der Akademie von Athen und auch manche Peripatetiker aus dem Lyceum. Wie im ersten Kapitel gezeigt wurde, waren die süditalienischen Griechen keine kompromisslosen Parteigänger der athenischen Hegemonen. Trotzdem nahm Athen selbst dann noch, als es seine hegemoniale Stellung im attischen Bund längst eingebüßt hatte, nach wie vor die Rolle des dominierenden »Denkhegemon« im hellenistischen Raum ein. Diese Tatsache wirkte noch lange nach, und so scheint es nötig, noch einmal zu betonen, dass das antike Erbe vorwiegend ein athenisches Erbe war und andere Erbstücke, die es durchaus gab, deshalb nur geringe Beachtung fanden. Der attische Denkhegemon gab die Richtung vor, in die die bedeutenden Erblasser der Spätzeit marschierten. Wir nannten als solche, außer den beiden Koryphäen Platon und Aristoteles, noch Ptolemäus5, Euklid und Galenos. Ihre Hinterlassenschaften bildeten den Kern des Erbes, das allerdings selbst über lange Perioden von vielen nicht angetreten werden wollte. Diesem Thema ist das dritte Kapitel dieses Bandes gewidmet. Der tatsächliche Antritt des antiken Erbes erfolgte, wie ich bereits im selben Kapitel dargestellt habe, durch die Araber. Das stellt ein durchaus überraschendes Faktum dar, wären doch etwa die Römer, in deren Imperium die griechische Intelligenzija der Spätzeit agierte, wesentlich wahrscheinlichere Erben gewesen. Die Frage, warum die Römer diese Chance nicht wahrnahmen, wurde im ersten Band behandelt und dort auch eine zumindest teilweise Antwort auf diese Merkwürdigkeit gegeben. In Kapitel X des vorliegenden Bandes wird darauf nochmals Bezug genommen, und es werden zusätzliche Erklärungen für dieses Phänomen angeboten. Deutlich wird, dass Wissenschaft in vielen Kul5 Als Beleg für diese Beobachtung mag ein Zitat aus dem Vorwort des ersten Buches »Des Claudius Ptolemäus Handbuch der Astronomie« (das ist der »Almagest«) dienen: »Aristoteles scheidet den theoretischen Teil sehr angemessen wieder in drei Hauptgattungen: in Physik, Mathematik und Theologie. Davon ausgehend, dass die Existenz alles Seienden derart auf Materie, Form und Bewegung beruhe, dass von diesen Teilen keiner für sich, d.h. ohne die anderen, an dem Objekt geschaut, sondern nur gedacht werden könne, möchte er als die erste Ursache der ersten Bewegung des Weltganzen, rein für sich herausgehoben, einen unsichtbaren und unbewegten Gott erkennen und das Wissensgebiet, dem die Forschung nach diesem Wesen zufällt, als Theologie bezeichnen, wobei nur oben irgendwo in den erhabensten Höhen der Welt eine so gewaltig sich äußernde Kraft, ein für allemal geschieden von den sinnlich wahrnehmbaren Dingen, gedacht werden könne.« (Zit. nach K. Manitius, Hg., 1912, S. 1-2). Wie dies mit der aristotelischen Vorstellung eines ewigen, ungeschaffenen Kosmos zu vereinen ist, bleibt ungeklärt. Al-Farabi bestreitet daher und auch aus anderen Gründen, dass Aristoteles keine Schöpfung zulassen wollte.

313

denkstile turen nicht nachgefragt wird und Lösungen für anstehende Probleme auf andere Weisen gesucht werden6.

Arabien Im Kapitel IV habe ich jene Entwicklungen im arabischen Raum zu skizzieren versucht, die letztlich dazu führten, dass die Muslime bereit waren, das von anderen verschmähte Erbe anzutreten. Ich möchte hier die wesentlichen Linien dieser Entwicklung nochmals nachzeichnen: Die arabische Halbinsel, die zum größten Teil von Wüsten bedeckt wird, kannte zwei hauptsächliche Quellen des Lebensunterhalts: Nomadentum und Handel. Die gesellschaftliche Organisation der Bevölkerung beruhte auf Stammeszugehörigkeit, wobei zwischen den Stämmen überwiegend feindschaftliche Beziehungen vorherrschten. Dieser Umstand beruhte u.a. auch darauf, dass unter gegebenen Lebensbedingungen Notzeiten keine Ausnahmefälle bildeten und folglich Raub und Überfälle zu den üblichen Mitteln gehörten, um Mangel auszugleichen. Der Handel fußte vorrangig auf Fernhandel, der mithilfe von Karawanen durchgeführt wurde. Solche Karawanen wurden in Abhängigkeit von den Jahreszeiten organisiert. Sie erforderten einen beträchtlichen Kapitaleinsatz und wurden daher fast ausschließlich von einer städtischen, in diverse Clans aufgesplitterten Plutokratie aus Mekka – weniger aus Medina – und dem südarabischen Sanaa betrieben. Dass solche Karawanen zugleich ein wiederkehrendes Ziel der Begierde waren, versteht sich von selbst. Diese soziale Struktur begünstigte Entwicklungen, wie sie etwa auch im mittelalterlichen Italien zu finden waren. Die Clans waren in den Städten da wie dort untereinander ähnlich verfeindet wie die Stämme der Nomaden. Je nach Vermögen gab es zugleich eine Rangordnung zwischen den einzelnen Familienclans. Streitigkeiten und Konflikte wurden nach Möglichkeit durch Schiedsrichter geregelt, die aber über keinerlei Gewaltmonopol zur Durchsetzung ihrer Urteile verfügten. Blieb ein solcher Ausgleich ohne Erfolg, so hielten die Konflikte an, führten häufig zu Mord oder Totschlag, die ihrerseits Anlass für langwierige Racheaktionen wurden. Soviel, um die Ausgangssituation in Erinnerung zu rufen, die Moḥammed vorfand, als er nach Yathrib, dem späteren Medina, zum Schiedsrichter von lange anhaltenden, schweren Konflikten berufen wurde. Moḥammed, selbst aus Mekka stammend, verließ seine Heimatstadt aus mindestens zwei Gründen: Erstens wurde er dort wegen seiner Ablehnung und Kritik am Götzendienst, der Mekka zum Wallfahrtsort machte und beste Einkünfte brachte, verfolgt. So betrachtet stimmt die 6 Ich erinnere an Beispiele in Kapitel III.

314

retrospektive Darstellung seiner Übersiedlung nach Medina als Flucht. Doch zweitens wurde er von namhaften Vertretern Yathribs dorthin eingeladen, um die Aufgabe eines »ḥakam«, eines Streitschlichters, zu übernehmen7. Seine Reise war demnach nicht allein Ergebnis erlittener Verfolgung in Mekka. Nur aufgrund einer derartigen Einladung ist sein erstaunlicher Erfolg in der neuen Umgebung zu verstehen. Ein Flüchtling aus Mekka allein hätte mit Gewissheit keine Verfassung zustande gebracht und durchgesetzt, die nicht nur Frieden in der gespaltenen Stadt schuf, sondern zugleich das Fundament für ein wesentlich umfangreicheres Staatsgebilde abgab. Diese Verfassung konnte die Stadt deshalb befrieden, weil sie erstens egalitär konzipiert war und zweitens ihre Legitimation aus einer göttlichen Offenbarung ableitete, die zugleich als Religion mit der Verfassung vermittelt wurde. Ein wesentlicher Aspekt dieser Verfassung bestand somit darin, dass Muslime »Brüder« wurden, quasi einen neuen »Banu« (eine »Sohnschaft«) bildeten8, innerhalb dessen absolute Gleichheit zu herrschen hatte und etwaige Feindseligkeiten auf der Basis eines Rechtsspruchs des »ḥakam« zu lösen waren. Damit wurde zwischen allen Gläubigen eine neuartige Identifikation geschaffenen, die, wie sich weisen sollte, fähig war, die alte, auf Clanzugehörigkeit beruhende zumindest für einige Zeit zu überwinden. Dass sich im Laufe der Geschichte auch diesbezüglich bald Rückschläge einstellten, sollte nicht überraschen. Doch wie die Geschichte gleichfalls zeigt, wurde langfristig diese Tendenz mit der Machtübernahme der Abbasiden überwunden. Fassen wir die Errungenschaften unter der »Regentschaft« des Propheten zusammen, so scheint aus weltlicher Sicht die Schöpfung eines Rechtsstaates die bedeutendste zu sein. Dass Moḥammed alten Tradi­ tionen und Überlieferungen dabei gleichfalls Raum ließ, ist verständlich. 7 Wie beobachtet, wurde diese Rolle häufig, auch in anderen Kulturen, »Fremden« zugedacht, weil sie unparteiisch urteilen konnten. So betont G. Simmel (1908), dass diese Rolle im mittelalterlichen Europa gerne Juden zuteilwurde, was u.a. deren oft beobachtete Inklination zum Studium der Rechtswissenschaften in einem anderen Licht erscheinen lässt. 8 Der bedeutende islamische Gelehrte Ibn Khaldun (1332–1406) bezeichnete diesen Zusammenhalt der »Sohnschaften« als »aṣabiya«, als »Wir-Gefühl«, das innerhalb einer solchen Gruppe geschaffen und gepflegt wurde. Es ist nicht unwesentlich zu betonen, dass der Prophet in manchen Hadithen dagegen Stellung bezieht. Die »aṣabiya« stellte ja eine offensichtliche Bedrohung des neuen »Wir-Gefühls« dar, das sich in der Ummah (die politische Gemeinschaft der Muslime; siehe dazu die Kapitel III und IV) entfalten sollte. Die berechtigten Bedenken des Propheten wurden durch die Entwicklungen im und nach dem Kalifat ʿUthmans voll bestätigt.

315

denkstile Seine diesbezügliche Politik ermöglichte es ihm, den Zusammenhalt nicht unnötig durch überbordende Reglementierungen zu gefährden, zugleich aber auch die alte Nomadentradition des Kriegs gegen NichtStammeszugehörige in veränderter Form beizubehalten. Von nun an wurde eben nicht mehr zwischen Stammeszugehörigkeiten, sondern nach Religionszugehörigkeit unterschieden, ohne dass deshalb eine wesentliche Lebens- und Einkommensgrundlage gefährdet worden wäre. Im Gegenteil trug diese neue Differenzierung dazu bei, dass das Gebiet der Muslime geografisch rasch ausgeweitet werden konnte.

Schwächen des Systems Die Schwächen des Systems offenbarten sich allerdings bereits in dem Augenblick, als der Prophet verstarb. Die Verfassung von Yathrib regelte keine Nachfolge. Sie wurde, wenn man der Überlieferung der Schiiten Glauben schenkt, mündlich geregelt, wobei nach dieser Darstellung ʿAli, der Schwiegersohn des Propheten, die Nachfolge antreten sollte. Glaubt man allerdings den Darstellungen einer anderen Seite, so war die Nachfolge nicht geregelt und hätte durch einen Beschluss der Ummah, der Versammlung der Gläubigen, erfolgen müssen. Derartige Fragen der Nachfolge können sich nur im Kontext einer Staatsgründung ergeben haben, keinesfalls im Hinblick auf das Prophetentum. Es wäre immerhin seltsam, hätte eine Ummah oder sonst irgendjemand die Nachfolge eines Propheten bestimmt. Dieser war Auserwählter Gottes und konnte demnach nur von diesem allein eingesetzt worden sein. Schon daraus ergibt sich, dass es bei der Nachfolge nur um die Ausübung der weltlichen Gewalt gegangen sein kann9. In anderen Worten handelte es sich um die Frage, wer oberster Richter, Heerführer und »Zeremonienmeister«10 sein soll, was zu den klassischen Aufgaben eines Königs gehörte. Tatsächlich wurde aber weder der schiitische noch der zweite Weg über die Ummah beschritten, auch wenn im Nachhinein von der erfolgreichen Seite behauptet wurde, dass eine Ummah den Nachfolger bestimmt hätte11. Daher ist es für das Verständnis der geschichtlichen Zusammenhänge wichtig, nicht nur auf die religiöse Hinterlassenschaft 9 Dies verdeutlicht auch die Bezeichnung des ersten Nachfolgers, Abu Bakr, als »Emir«, was »Heerführer« meint. 10 Der Islam kennt keine Priester, sondern nur Vorbeter, die als »Imame« bezeichnet werden. 11 Die Frühzeit der islamischen Entwicklung wird heute von einigen Historikern hinterfragt. Sie berufen sich auf Mängel der schriftlichen Überlieferung und deuten diese Überlieferungen als Mystifizierungen. Eine gute Zusammenfassung dieser Argumente findet sich bei K. Wulff (2014). Wulffs Urteil (ibid., S. 42), dass er trotz dieser Einwände keinen Grund

316

retrospektive des Propheten zu blicken, sondern auch seine Doppelrolle in Erinnerung zu behalten. Die Nachfolgefrage zeigte erstmalig eine gravierende Schwäche des hinterlassenen Systems auf. Die Problematik ließ sich bei den beiden ersten Nachfolgern (Kalifen) noch halbwegs konsensual lösen. Doch spätestens mit dem dritten wurden die Differenzen so stark, dass sie letztlich in einen Bürgerkrieg ausarteten. Die Details dieser Entwicklung sind im vierten Kapitel nachzulesen. Für unsere Überlegungen sind in diesem Konnex zwei Ergebnisse herauszustreichen: Mit ʿUthman, dem dritten »rechtmäßigen« Kalifen, setzte eine Entwicklung ein, deren Ergebnis die Gründung einer Dynastie war. In anderen Worten setzte sich der alte Clangeist, die »aṣabiya« von Ibn Khaldun, erneut durch und hievte die Umayyaden an die Macht. Ein Resultat dieser politischen Entwicklung war dann die erfolgreiche Verdrängung der ʿAliden, der Angehörigen des Propheten, von der staatlichen Macht. Das bewirkte einerseits eine anhaltende Spaltung der Anhängerschaft der Muslime, die zur Folge hatte, dass die regierenden Kalifen lange mit Legitimationsproblemen bei ihrer Herrschaftsausübung konfrontiert wurden. Andererseits erfolgte ein zusätzlicher Bruch auch entlang jener Linie, die durch die Doppelrolle des Propheten geschaffen, durch dessen Charisma zwar überdeckt, aber nie zum Verschwinden gebracht wurde. Diese Linie trennt die weltliche Herrschaft von der spirituellen Macht. Die Umayyaden usurpierten zwar auch die Aufgabe eines Imam, doch durch ihre gewalttätige Machtpolitik beraubten sie sich selbst jeder konfessionellen Glaubwürdigkeit und somit eines überzeugenden Anspruchs auf eine spirituelle Führungsrolle. Die in der Schiʿa versammelten Anhänger der ʿAliden hingegen beanspruchten vorrangig jene geistige Führerschaft für sich, die sie allerdings auch nicht von der weltlichen trennen wollten. Begründet wurde dieser Anspruch mit dem Verweis auf ein geheimes Wissen, das den »Ahl alBayt«, dem Clan der Haschemiten, übertragen worden wäre. Fakt ist, dass sich, wie ich in Kapitel IV zeigte, diese Familie durch traditionelle Pflege geistiger Güter auszeichnete, die sich nicht nur auf religiöse Inhalte beschränkte. Ähnliches konnten die Umayyaden nicht aufbieten. Umgekehrt waren die ʿAliden oder Haschemiten – wie mir scheint – gerade aufgrund ihrer spirituellen und intellektuellen Orientierung schlecht in der Lage, mit der manchmal unvermeidbaren Rücksichtslosigkeit Politik zu betreiben. Ihre eher reflektierende und zögerliche Grundausrichtung blieb den Anhängern der Schiʿa bis zum heutigen Tag erhalten und unterscheidet sie charakteristisch von den heute als Sunniten bezeichneten Gruppen. erkennen könne, die tradierte Sicht westlicher Gelehrter nicht beizubehalten, kann ich mich nur vollinhaltlich anschließen.

317

denkstile Ergebnis dieser Trennung war u.a. eine unterschiedliche Ausrichtung in der Entwicklung der Wissenschaften. Womit wir bei einem zweiten, uns allerdings vorrangig interessierenden, markanten Punkt angelangt sind.

Legitimationsprobleme Neben der ungeregelten Nachfolge hinterließ der Prophet eine weitere Lücke, die gleichfalls machtpolitisch gefärbt war, auch wenn sie sich erst im Laufe der Geschichte als solche offenbaren sollte. Der Staat der Muslime versteht sich als Rechtsstaat, doch er verfügt aufgrund der Offenbarungen nicht über eine Legislative. Rechtsetzung erfolgte ursprünglich auf dieser religiösen Basis durch den Propheten. Nach seinem Ableben konnte demnach kein neues Recht geschaffen, sondern nur noch das vorgefundene ausgelegt und interpretiert werden. Wie ich in Kapitel IV ausführlich beschrieben habe, war dieser Umstand zugleich Ansporn und Herausforderung. Die rechtlichen Vorgaben, die sich aus dem Koran ableiten ließen, waren zusammengezählt etwas mehr als fünfhundert. Dass diese vergleichsweise geringe Zahl, die überdies thematisch sehr heterogen und unausgewogen war, nicht die Fülle von Rechtsfragen, die sich in einem expandierenden Staat mit sehr unterschiedlichen Traditionen ergeben, abdecken kann, scheint evident. Daraus ergab sich die Notwendigkeit nach ergänzenden Bestimmungen. Sie ließen sich teilweise aus einer mündlichen Überlieferung der Entscheide, Handlungen, Anweisungen und Anordnungen des Propheten synthetisieren. Da derartige Überlieferungen zwangsläufig uneinheitlich sind, erforderten sie als unabweisbare Notwendigkeit, sämtliche Aussagen des Gesandten zunächst zu sammeln und dann auf ihre Glaubwürdigkeit zu überprüfen. Heute würde dieses Vorgehen als Quellenforschung bezeichnet. Doch damit etablierten sich Beweisverfahren, die man als erste Stufe wissenschaftlicher Betätigung begreifen sollte. Kurz gefasst, entstanden daraus die »Hadithwissenschaften« (»uluumul-hadiith«). Das Verständnis sprachlicher Überlieferungen erschöpft sich noch nicht darin, Quellennachweise (»isnad«, auch als »sanad« transkripiert) zu erbringen, wie dies von den Hadithgelehrten vorrangig praktiziert wurde. Da Arabisch zu jener Zeit mehr oder weniger eine rein idiomatische Alltagssprache war, waren auch Bedeutungsinhalte keineswegs allgemein verbindlich, besonders wenn es sich um relativ abstrakte Inhalte handelte. Deshalb wurde es notwendig, sowohl für die schriftliche Fixierung des Koran als auch für die Hadithe eine Hochsprache zu schaffen, die solche Allgemeinverbindlichkeit herstellen konnte. Dieser 318

legitimationsprobleme Bedarf fand seine Befriedigung zusammen mit der Entwicklung einer eigenen Schrift. Wir sehen in diesem Kontext die Entstehung einer eigenständigen hermeneutischen Wissenschaft – »matn« bzw. »matan« – die später in Abhebung von den »fremden Wissenschaften« als arabische Wissenschaft bezeichnet wird. Ergebnis aller dieser Arbeiten war die »Sunnah«, die akkreditierte Überlieferung der Sprüche, Taten und Handlungen des Gesandten Gottes. Diese ersten Schritte waren bedeutende Errungenschaften, die allerdings die anstehenden Probleme, die sich aus der Interpretation der heiligen Texte ergaben, noch lange nicht zur Gänze lösen konnten. Denn selbst die Einbeziehung der mündlichen Überlieferungen reichte nicht aus, um alle möglichen Rechtsfälle einer heterogenen Population abzudecken. Auch die Nachfolger des ersten muslimischen Richters mussten so wie dieser lokale Traditionen berücksichtigen und integrieren. Ihre »fatawa« (Rechtsgutachten) waren demnach Ergebnis ihrer »ra’y« (dt.: Ansicht), ihrer individuellen Rechtsmeinung, die sie aufgrund vernünftiger Überlegungen erarbeiteten. Es war Malik ibn Anas (ca. 715–795 n.Chr.), der schlussendlich ein Verfahren12 vorschlug, das erlauben sollte, solche individuelle Rechtsmeinungen von Rechtsgelehrten neben der Sunnah als dritte Quelle des Rechts zu akzeptieren. Damit waren die Voraussetzungen für eine eigenständige Rechtswissenschaft (»ʿilm al fiqh«) geschaffen. Selbst höchst entwickelte Texttreue konnte aber unpräzise Formulierungen oder gar aufgedeckte Widersprüche in den heiligen Schriften nicht zum Verschwinden bringen. Vermutlich war sogar das genaue Gegenteil der Fall. Umso präziser die Aussagen einer Stelle formuliert wurden, umso deutlicher traten auch Widersprüche ans Licht. Daraus ergab sich eine weitere Notwendigkeit. Man war genötigt, eine Interpretationstechnik zu entwickeln, die erlauben sollte, zu einem einvernehmlichen Ergebnis zu gelangen. Die entsprechende Methode, die sich für eine Weile weiter Anerkennung erfreute, wurde als »qiyas« bezeichnet. Im Grunde ging es dabei darum, auf der Basis von Vergleichen und Analogien mittels eines induktiven Schlusses zu einem akzeptablen Ergebnis zu gelangen. Wir sehen darin einen weiteren bedeutenden Schritt hin zu einer eigenständigen, wissenschaftlichen Methodologie. Beachtenswert ist vielleicht, dass sich diese Methode – wie es unsere Entwicklungslogik nahelegt – ursprünglich im Zuge von Textinterpretationen aus grammatikalischen Fragestellungen ergab. Angestrebt wurde mit dieser Vorgangsweise »idschma«, d.h. einen Konsens unter den Gelehrten einer Schule – später auch einen übergreifenden Konsens – zu erreichen. Der 12 Es wurde als »idschtihad« bezeichnet.

319

denkstile Koran, die Hadithe, »qiyas« und »idschma« bildeten nun den Grundstock zur Rechtsfindung, wobei die Methode des »qiyas« nachrangig war. Sie wurde erst durch die spätere Muʿtazila weiter kultiviert und zur vorherrschenden Technik.

Politische Legitimation Die beiden Lücken, die sich nach dem Ableben des Propheten auftaten – das Fehlen einer Regelung der Nachfolge und einer Legislative –, erwiesen sich schon im ersten Jahrhundert islamischer Zeitrechnung als Ursache zahlreicher Probleme, aber zugleich auch als Quelle intellektueller Inspirationen. Die ungeklärten Nachfolgebestimmungen verlangten nach rechtlicher Klärung, die jedoch von der Sunnah nicht geleistet werden konnte. Folglich verschob sich die Debatte über die Rechtmäßigkeit der Umayyadenherrschaft in Richtung auf rechtlichtheologische Fragestellungen. Da die Frage nach der Ausübung von Herrschaft keine positive Antwort erhalten konnte, verkehrte sie sich ins Negative. Nicht länger galt es zu bestimmen, wer Nachfolger sein konnte, sondern zumindest herauszufinden, wer keinesfalls als Nachfolger in Frage kam. Naheliegenderweise konnte kein Ungläubiger Nachfolger des Propheten werden. Gelang es demnach, Kriterien zu finden, die eine solche Unterscheidung möglich machten, so konnte zumindest auf diese Weise eine negative Auswahl vermieden werden. Eindeutig galt, dass Götzendiener, Christen, Zoroastrier und Juden keine Muslime sind. Doch wann und wie lange ist ein Muslim ein Muslim? Reicht es, die fünf grundlegenden Praktiken auszuüben, oder gibt es Ausschließungskriterien? Auch bei dieser Fragestellung hüllte sich die Sunnah in Schweigen. Historisch eindeutig war, dass Apostaten (Abtrünnige) nicht länger als Muslime zu betrachten waren, sondern im Gegenteil mit einer Todesstrafe zu rechnen hatten. Darauf spitzte sich letztlich die Frage zu. Ihre Antwort war allerdings wieder einmal nicht eindeutig. Die absichtliche Tötung eines Muslim galt als schweres Verbrechen13. Hatte sich jemand, der einer derartigen Tat überführt war, von einem Gläubigen in einen Ungläubigen verwandelt? Würde diese Frage positiv beantwortet werden, dann hätten sich die meisten Umayyaden als Ungläubige erwiesen. Sie könnten nun nicht nur nicht länger Nachfolger des Propheten sein, sondern auch ungestraft getötet werden. Damit ließe sich die leidige Frage der rechtmäßigen Nachfolgerschaft einfach lösen und die Umayyaden kämen nicht länger als Kalifen in Betracht. 13 Ich erinnere an die Gründe für die zögerliche Haltung ʿAlis bei der Schlacht von Ṣiffin (siehe dazu Kapitel IV).

320

legitimationsprobleme Wissend, dass diese Gefahr bestand, entwickelten die Anhänger dieser Herrscher die These der Prädestination14. Kalifen und andere Muslime dienten demnach nur als Werkzeuge Allahs. Ihre Handlungen erfolgten in höherem, göttlichem Auftrag. Sie seien daher auch nicht auf dieser Welt zur Verantwortung zu ziehen. Die Gegner dieser Philosophie und des Herrscherhauses antworteten mit der Doktrin vom freien Willen, welcher arabisch mit »qadar« bezeichnet wird. Anhänger dieser Doktrin wurden daher »Qadariten« genannt. Wie zu erwarten ist, konzentrierten sich diese geografisch in jenem Gebiet, das von Anfang an aufsässig war und häufig die Gruppen der Schiʿa unterstützte. Diese lebten also überwiegend im Irak, insbesondere in Kufah und Basra. Unter ihren frühen Anhängern fanden sich auch »Zanadiqa«, Freidenker aus Harran mit zoroastrischen Wurzeln, denen u.a. auch Naturverehrung nachgesagt wurde. Wie in Kapitel V dargelegt, entstand in diesem Gebiet aus den Anhängern der Qadariten eine neue Schule: die Muʿtazila. Deren Vertreter lösten den Konflikt zwischen den beiden Lagern dialektisch, indem sie Sünder als Gläubige betrachteten, die solange eine Zwischenposition zwischen diesen und den Ungläubigen einnahmen, solange sie nicht bereuten. Das letzte Wort blieb erwartungsgemäß Allah vorbehalten, der im letzten Gericht die Sünder verwirft und die Gläubigen ins Paradies entlässt.

Theologie der Kontroverse Für unsere Anliegen ist diese Entwicklung von nachhaltiger Bedeutung. Es entstand daraus nämlich eine eigene, raffinierte Diskussionskultur, eine »Theologie der Kontroverse«, wie J. van Ess (1991)15 diese Entwicklung bezeichnet. Die in dieser Form kanonisierten Auseinandersetzungen waren, wie nicht anders behauptet werden kann, das Ergebnis der skizzierten gesellschaftspolitischen Entwicklungen, die in Kapitel V detailliert beschrieben wurden. Sie waren also »soziomorph«, präsentierten sich in und ergaben sich aus der Gestalt der gesellschaftlichen »Morphe«16. Nicht aus dem Blick geraten sollte dabei, dass analoge Auseinandersetzungen sehr früh auch mit anderen Religionen, insbesondere mit den diversen christlichen Abspaltern stattfanden. Die hier angesprochenen Diskurse nötigten die Muslime, ähnlich wie Jahrhunderte davor die 14 Denkbar, doch nicht erwiesen ist, dass man diese Möglichkeit einfach von den Byzantinern übernahm. B. Jokisch (2007) legt dies jedenfalls nahe. 15 Siehe dazu: J. van Ess (1991–1997). 16 Morphe (), dt.: Form

321

denkstile frühen Christen in Alexandrien, sich mit der Philosophie und der Methode der Diskussionsführung ihrer damals heidnischen Gegenspieler auseinander zu setzen. Im Islam war also diese Entwicklung ähnlich wie im frühen Christentum. Unklare, widersprüchliche und dem gesunden Menschenverstand schwer zumutbare Textstellen forderten Klärung ein. Solche wurde über »idschma« erzielt, doch davor lagen raffinierte Dispute. Der individuelle Verstand allein reichte nicht länger, um sich durchzusetzen, es bedurfte ausgefeilter Methoden, diese Auseinandersetzungen zu entscheiden. Diese Methoden fanden sich in der »Topik« des Aristoteles, welche, wie oben auch bereits gezeigt wurde, teilweise auf Syrisch oder Pahlavi und kompiliert in der »Isagoge« des Porphyrios zugänglich war. Doch alle diese Quellen waren unvollständig und fehlerhaft. Folglich bestand ein vielseitiges Interesse an vollständigen und fehlerlosen Übersetzungen. Ein derartiger Wunsch allein reicht allerdings noch nicht, um die notwendigen, aufwändigen Arbeiten leisten zu können. Die Situation veränderte sich im Gefolge der manchmal so bezeichneten »persischen Revolution«, als die Abbasiden die Macht übernahmen. Die Abschlachtung des gesamten Clans der Umayyaden durch Abu l-ʿAbbas as-Saffah schuf zwar politischen Freiraum, doch der Verweis auf Abstammung aus dem Haus des Propheten allein genügte noch nicht, die nötige Legitimation für das neue Kalifat zu schaffen. Abu ʿAbbas war daher in der relativ kurzen Zeit seiner Herrschaft vorrangig damit beschäftigt, kriegerisch seinen Anspruch abzusichern. Anfänglich bemühte er sich in diesem Unterfangen auch um die Unterstützung der Schiiten, denen er Hoffnungen auf das Kalifat gemacht haben dürfte. Doch Abu ʿAbbas war nicht in der Lage und vermutlich auch nicht willens, solche Ankündigungen zu realisieren, was begreif­ licherweise auf der anderen Seite zumindest Skepsis gegenüber den neuen Machthabern erzeugte. Al-Manṣur war sein Nachfolger. Er verfolgte eine etwas andere Strategie und ließ demnach den gefährlichsten Rivalen aus dem Kreis der schiitischen Imame, Dschaʿfar aṣ-Ṣadiq, vergiften. Umgekehrt bemühte er sich, Verbündete unter der einflussreichen und bislang vernachlässigten persischen Aristokratie zu gewinnen. Diese waren allerdings zu einem guten Teil nach wie vor Anhänger der zoroastrischen Religion. Geografisch konzentrierten sich diese Familien im ehemaligen Perserreich und der Umgebung der alten Hauptstadt, d.h. im heutigen Irak. Um die Unterstützung dieser Gruppen zu gewinnen, die ja auch am Umsturz mitbeteiligt gewesen waren, gründete al-Manṣur seine neue Hauptstadt in diesen Gegenden, wie oben ausführlich besprochen wurde. Der Schachzug war klug, entzog sich doch der neue Kalif dadurch auch dem Druck der alten Gefolgschaften der Umayyaden. 322

die leier des zeitenwinds Um allerdings die ungeteilte Loyalität der Perser zu gewinnen, musste er ihnen Anreize bieten. Das geschah, indem er diesen Familien Zugang zu den bedeutendsten Ämtern des Reiches schuf. Ein notwendiger Preis, der dafür zu entrichten war, war die Konversion zum Islam. Mit der Konversion einiger weniger war aber das Ziel noch lange nicht erreicht. Es brauchte, um dauernden Erfolg zu haben, zusätzlich eine analoge, massenhafte Bewegung in weiten Kreisen der Bevölkerung, die al-Manṣur anstrebte und vorantrieb. Auch diesbezüglich verhielt er sich anders als die Umayyaden, die den Übertritt zum Islam aus anderen Religionen aus dem einfachen Grund beschränkt hatten, weil sie dadurch nicht auf die hohen Steuern verzichten mussten, denen Ungläubige unterworfen waren. Al-Manṣur setzte mit seiner neuen Strategie zugleich eines der Grundprinzipien der mohammedanischen Gebote um: die universelle Gleichheit aller Gläubigen. Um dies zu erreichen, hatte er allerdings ebenfalls einen Preis zu entrichten. Dieser bestand darin, dass er für Konvertiten massive Steuererleichterungen schuf, aber zusätzlich auch darin, dass er selbst viele Gepflogenheiten der alten, persischen Kultur übernahm. Damit wurde zugleich die Vorherrschaft der Araber unterlaufen, was von deren Seite wiederum wenig goutiert wurde.

Die Leier des Zeitenwinds17 Um die unterschiedlichen Widerstände, die den Abbasiden anfänglich entgegenschlugen, zu mildern, war dem neuen Kalifen offenbar jedes Mittel willkommen. So eignete er sich den Namen »al-Manṣur« an, was nicht weniger bedeutet als »der von Gott zum Sieger Bestimmte«. Behauptet wird auch hier eine göttliche Vorsehung, die sich u.a. aus den Sternen ablesen lasse. Noch viel unverblümter verfuhr er bei seinem Sohn und Nachfolger, der den Namen »al-Mahdi« erhielt. Dieser bedeutet so viel wie »Messias«. Damit wurde vermutlich weniger den Christen oder Juden signalisiert, welche Rolle »al-Mahdi« spielen würde, sondern vor allem den Schiiten mitgeteilt, dass dieser Kalif bereits der von ihnen erwartete, verborgene Imam sei. Da im zoroastrischen Mazdaismus ähnliche Endzeitvorstellungen existierten, war diese Na17 Die Metapher des »Windes«, die sich weiter hinten noch wiederholte Male findet, habe ich von Ibn Khaldun übernommen. Dieser schreibt z.B.: »Als sich dann der Wind der Kultur im Maghrib und Spanien gelegt hatte, wurden die Wissenschaften mit deren Rückgang [d.h. der Kultur, M.S.] weniger und schwanden dahin, bis auf wenige Spuren, die man vereinzelt bei den Menschen beobachten kann und die sich unter Kontrolle der sunnitischen Gelehrten befinden.« (Ibn Khaldun, 2011, S. 452).

323

denkstile mensgebung zusätzlich auch ein Signal an die meistumworbene Gruppe persischer Aristokraten. Die neue Hauptstadt Bagdad, in der Araber, Perser, Konvertiten und Gläubige, aber auch Andersgläubige zusammen mit vielen anderen Völkern lebten, schuf eine Situation ähnlich wie damals in Alexandrien, als Ptolemäus Soter I. sein Reich nach dem Tod Alexanders gründete. Die Durchmischung der Bevölkerung und die gleichzeitige Durchsetzung des Glaubens mit Proselyten schuf nicht nur eine neuartige Diskussionskultur, welche sich gerne der peripatetischen Techniken bediente, sondern sie inkubierte zugleich das herrschende Denken mit Inhalten aus der persisch-dualistischen Tradition. Um die peripatetischen Techniken so vollkommen wie nur möglich zu erlernen und zu beherrschen, veranlasste al-Mahdi eine neue Übersetzung der aristotelischen »Topik« aus dem Griechischen18. Somit war die »Topik« das erste wesentliche Werk, das direkt aus der Originalsprache ins Arabische übertragen wurde19. Mit diesem Schritt wurde unter der Patronanz der Kalifen eine Entwicklung in die Welt gesetzt, die heute als »Übersetzungsbewegung« bezeichnet wird. Genau dieser politisch motivierten Entscheidung verdankt das Abendland die Mehrzahl der Kenntnisse aus der griechischen Antike.

Die Qualität der Zeit Ein nicht zu übersehender Teil der griechischen Tradition beschäftigte sich u.a. auch mit Horoskopie. Das Interesse daran wird auch aus dem ursprünglichen Bedürfnis herrühren, die Qualität der Zeit zu erfassen, was die Bezeichnung Horoskopie bereits nahelegt. Dies wurde nahezu überall – jedoch mit sehr unterschiedlichen Mitteln – praktiziert20. Die Qualität der Zeit zu erkunden, hängt eng mit einem praktischen wie auch rituellen Bedürfnis zusammen, Kalender zu bestimmen. Solche Kalender dienen nicht nur dazu, das Zusammenleben der Menschen zu 18 Es mag von Interesse sein, dass al-Mahdi nicht nur die Übersetzung veranlasste, sondern die »Topik« auch selbst sorgfältig studiert haben muss. Es ist z.B. überliefert, dass er mit christlichen Patriarchen intensive religiöse Diskussionen führte, die er angeblich auch siegreich bestand. 19 D. Gutas (1998) weist darauf hin, dass eine syrische Übersetzung von Anasthasius von Balad (685 n.Chr.) existierte, die den Auslöser für die neuerliche Übersetzung im Auftrag al-Mahdis lieferte. Manchmal wird auch behauptet, dass Euklids »Stoicheia« bereits im Auftrag von al-Manṣur, also noch früher, ins Arabische übersetzt worden wäre. Diese Darstellung ist zweifelhaft. 20 Beispiele dafür finden sich etwa in Rom in der Eingeweidebeschau, der Deutung des Vogelflugs etc.

324

die leier des zeitenwinds regeln, sondern zugleich auch dazu die wiederkehrenden Tätigkeiten in der Landwirtschaft, aber auch im internationalen Handel zum richtigen Zeitpunkt zu beginnen. Anfänge von bedeutsamen Handlungsabläufen wurden und werden stets mit Ritualen markiert, die nicht nur den Segen höherer Mächte gewährleisten sollten, sondern zugleich Symbole waren, die den Anbruch eines neuen Zeitabschnitts und neuer Verhaltensregeln signalisierten21. Das erst im 10. Jahrhundert neu kompilierte »Denkard« ist eine alte, überlieferte, zusammenfassende kanonische Schrift des Zoroastrismus. Es liefert reichlich Anschauungsmaterial für positive und negative Einflüsse der Gestirne. Krankheiten des menschlichen Körpers werden dort beispielsweise durch negative Einflüsse der nördlichen Sterne, Gesundheit als Wirkung der Planeten und des Mondes beschrieben. Wenig überraschen wird, dass auch Wärme, der Zustand des Wassers und der Vegetation von den nördlichen Sternen negativ beeinflusst wird. Aufgrund solcher Wirkungen ist die Kenntnis des Kalenders für jedermann von großer Bedeutung. Daher werden im Denkard u.a. auch das Sonnenjahr und das Mondjahr genauestens beschrieben. Die Dauer des Sonnenjahrs wird mit 360 Tagen angegeben, die in zwölf Monaten von dreißig Tagen zusammengefasst sind. Ergänzt werden diese Monate durch zusätzliche fünf Tage, die am Jahresende zwischen diesem und dem Beginn eines neuen Jahres eingefügt werden. Damit nicht genug, wird festgehalten, dass noch immer sechs Stunden fehlen. Diese sechs Stunden akkumulieren sich zu einem Tag innerhalb von vier Jahren und zu einem Monat binnen einhundertzwanzig Jahren. Demnach wird alle 120 Jahre ein zusätzliches Monat eingefügt. Diese Ergänzung der Zeitzählung ist Bedingung, um die Zeremonien zu Nuruz, Mihragan und Dschaschn Mehr – den bedeutendsten Festen der Perser – wiederkehrend korrekt durchführen zu können. Nuruz, den Neujahrstag, schreibt das Denkard als wichtigsten Feiertag vor, an dem niemand Arbeit verrichten soll. Er wurde vor Urzeiten durch gute Könige bestimmt und wird jeweils neu berechnet. Mit den einmonatigen Festlichkeiten während des »Schaltmonats« wird, so heißt es, alle sechshundert Jahre der gesamte Staat erneuert und ein neuer Anfang gesetzt, der dem allmählichen Verfall Einhalt gebietet. Weil die Segnungen des Lebens eng mit dem Lauf der Sterne verknüpft sind, wiederholt sich so der Zeitenlauf. Das Sonnenjahr wird in vier Jahreszeiten eingeteilt, die ihrerseits wieder durch astronomische Beobachtungen bestimmt werden, das heißt durch den Stand der Sonne in den zwölf Tierkreiszeichen. Die genaue Festlegung von Beginn und Ende dieser Jahreszeiten wird gleichfalls von 21 Man könnte sie als »Zeitweiser« – in Analogie zu »Wegweisern« – bezeichnen.

325

denkstile eingeweihten Männern berechnet. Ihre fehlerlose Bestimmung garantiert dann die makellose Durchführung der Gebete und Opfer und liefert damit zugleich auch die Gewähr für gutes Wachstum der Pflanzen, reiche Ernte, aber z.B. auch das erfolgreiche Abwickeln von See- und anderen Fernreisen oder von Kriegen. In analoger Weise wird auch das Mondjahr exakt bestimmt und der Unterschied zwischen Sonnenmonat und Mondumlauf mit zehn Stunden angegeben. Auch hier werden genaue Vorschriften aufgestellt, wie diese Differenz auszugleichen wäre. Die Details können wir aber überspringen. Mit diesen Beispielen wird das hohe Ausmaß an Wissen und zugleich auch an ritueller Bedeutung anschaulich, das die »Mazda«-Verehrer der korrekten Bestimmung des Kalenders und damit der Qualität der Zeit zumaßen. Dieser kulturellen Bedeutung Rechnung zu tragen, diente zugleich auch dem Legitimationsbedürfnis der Abbasiden.

Horoskopie und Astrologie Wenn wir nun zu al-Manṣur zurückkehren, so kann aus diesem Anschauungsmaterial geschlossen werden, dass sich dieser umsichtige Kalif, der auf gute Kooperation mit den unterworfenen Persern angewiesen war, davor gehütet haben wird, ähnliche Fehler zu wiederholen, wie sie Alexander der Große begangen hat22. Demnach war er vermutlich bestrebt, die beiden Religionen so weit wie möglich zu assimilieren. Die an sich schon mit Konflikten und inneren Disputen geschwängerte Religion des Islam wurde allerdings dadurch mit zusätzlichen Problemfeldern konfrontiert. Finden sich schon im Koran hinlänglich Stellen, wo der Prophet die Pracht und überwältigende Schönheit des nächtlichen Firmaments als Zeugen für die Allmacht Gottes anruft, so wird nun der persische Bezug zur Astrologie in der weiter köchelnden Debatte um Prädestination und Herrschaftslegitimation zum Ausgangspunkt und Anlass, sich auch mit Vorgängen im Kosmos intensiver auseinander zu setzen. Den geringsten Kulturkonflikt scheint al-Manṣur in der Übernahme der Astrologie23 geortet zu haben. Dies ist nun seinerseits für unser 22 Erwähnenswert wäre, dass im »Denkard« auch der Eroberung des Landes durch den »teuflischen« König Alexander den Großen ausdrücklich gedacht wird. Dieser soll die heiligen Schriften verbrannt haben und andere ins Griechische übersetzen haben lassen. Aus solchen Anmerkungen darf man schließen, dass der Eroberer nicht willkommen geheißen wurde, und diesbezüglich unsere eigenen Darstellungen der alexandrinischen Eroberungen ergänzungsbedürftig sind. 23 Die Konvertiten – offiziell Muslime, in ihrem Denken jedoch noch immer

326

die leier des zeitenwinds ureigenes Interessensgebiet, die Renaissance der hellenischen Wissenschaften im Islam, nicht unbedeutend. Wie die weiter oben geschilderte Bestimmung des Ortes und Zeitpunktes der Gründung Bagdads schon illustrierte, vergewisserte sich al-Manṣur der Zustimmung der Zoroastrier – und offiziell der Zustimmung Gottes – durch eine sorgfältige Ermittlung des richtigen Zeitpunkts und Platzes durch Horoskope. Kurz davor war bezeichnenderweise bereits das angeblich von Zoroaster (d.h. Zarathustra) selbst verfasste »Buch der Geburtshoroskope«24 erneut ins Arabische übersetzt worden. Auch das sollte als Indikator dafür gewertet werden, dass mächtige Interessensgruppen daran arbeiteten, die alten Kulturtraditionen der Perser auch unter dem neuen Regime zu festigen und zu erneuern. Diese alten Kulturtraditionen waren offensichtlich eng mit Horoskopie und Astrologie verwoben. Somit kann es auch nicht erstaunen, wenn wir hören, dass das bedeutendste griechische Buch, das sich gleichfalls mit Astrologie beschäftigte, ebenfalls etwa zur selben Zeit auch ins Arabische übersetzt wurde25. Dabei handelte es sich um ein in unseren Breiten kaum genanntes Werk des Claudius Ptolemäus, Verfasser des Almagest. Der Titel dieses Werks war »Tetrabiblos«, ein vierbändiges Kompendium, wie schon der Name sagt. Es fällt schwer zu entscheiden, ob dieses Werk oder der Almagest damals mehr zur Bekanntheit des Ptolemäus beigetragen haben. Tatsache bleibt jedenfalls, dass sich die beiden Kompendien bestens ergänzen. So kam es, dass nicht nur der Almagest ins Arabische übertragen wurde, sondern mit ihm auch eine Grundeinstellung transportiert wurde, die David Pengree in seiner Schrift »Masha’allah« treffend mit »Peripateticism tailored for the astrologer« (D. Pengree, 1975, S. 10) charakterisiert. Vielleicht werden manche unter den Lesern nun etwas abschätzig die Nase rümpfen. Denn Astrologie wird seit geraumer Zeit als jene Praxis verstanden, anhand derer man nach weitverbreiteter Ansicht den gravierenden Unterschied zwischen echter Wissenschaft und Pseudowissenschaft manifest machen könne. Ich empfehle mit derartigen Urteilen vorsichtig zu sein. In jenen Tagen, von denen hier die Rede ist, war Astrologie in den Worten des »Chefastrologen« von al-Mahdi, den tradierten Überlieferungen verbunden – sorgten dafür, dass diese Themen in der Öffentlichkeit am Leben erhalten wurden. 24 In der heutigen Terminologie werden solche Horoskope als »Radexhoroskope« bezeichnet. 25 »[…] the earliest translations of Greek works that we have are indeed made not directly from Greek but through Pahlavi intermediaries, and the texts translated are overwhelmingly astrological in nature.« schreibt D. Gutas (1998, S. 50).

327

denkstile Theophilos von Edessa, die »Königin der Wissenschaften«, und sie gab die Melodie vor, die zu anderen Studien Anreize schuf, weil sie den Interessen der herrschenden Schicht entgegen kamen. Es war nämlich u.a. genau diese Wissenschaft der Sterndeuter und deren Interesse an den »Tetrabiblos«, die neuerlich einen Anlass lieferte, dass nicht nur die »Topik« des Aristoteles unter Harun-ar-Raschid nochmals ins Arabische übersetzt wurde. Sie trug zugleich dazu bei, dass auch der Almagest und die »Stoicheia« Euklids – wie schon in Kapitel I betont wurde – erneut übersetzt wurden, weil sie metaphysische und methodische Grundvoraussetzungen für ihre Kunst lieferten. Damit wird zugleich obiges Zitat von D. Pengree erläutert. Eine andere mögliche Reaktion mancher Leser auf diese Feststellung könnte auch sein, dass das geozentrische System des Ptolemäus widerlegt und somit irrelevant sei, und folglich dessen Überlieferung nicht von Bedeutung wäre. Nicht vergessen sollte man dabei, dass die zahllosen Beobachtungen des Ptolemäus und seiner Nachfolger allerdings erst jene Grundlagen lieferten, auf denen unsere eigene Kosmologie aufgebaut wurde. Zu erinnern ist vielleicht daran, dass selbst Kopernikus eifrig darum bemüht war, das aristotelisch-platonische Postulat aus dem Almagest zu erhalten, dass sämtliche Himmelsbewegungen mit vollkommenen, gleichförmigen Kreisbewegungen erklärt werden müssten. Genau diese Forderung – das sollte einmal mehr in Erinnerung gerufen werden – ist ihrerseits jener »aristokratischen« Vorstellung Platons entsprungen, dass Vorgänge in der idealen Natur der supralunaren Welt den proklamierten Vorstellungen der aristokratischen Schicht gerecht werden. Diese gipfelten aber darin, dass der Beste oder die Besten (aristoi!) das letztgültige »Telos« (, telos: die Vollendung, der Höhepunkt26) vorgeben. Die Verwirklichung solcher Vollkommenheit oder Perfektionsansprüche in der Natur manifestiert sich nach diesen Vorstellungen aber anschaulich im supralunaren Bereich – also oberhalb des Mondes – in der Kugelgestalt der »Sphären« und in den damit verbundenen Kreisbewegungen. Bewegung – oder heraklithisch ausgedrückt »Wandel« – war ja für die griechische Aristokratie an sich eher verwerflich und minderwertig27. Wenn es also schon Bewegung ganz oben in der Hierarchie, d.h. 26 Diese Bedeutung von »Vollendung, Perfektion« findet sich auch im lat. »finis« wieder, was vorrangig »Grenze« bedeutet und gelegentlich auch nur »Ziel«. Die gängige Interpretation aristotelischer Teleologie als »Zielgerichtetheit« ist ein bemühter Versuch, die ursprünglich damit transportierten Werte zum Verschwinden zu bringen und Objektivität bzw. Wertfreiheit vorzutäuschen. 27 Anschaulich lässt sich das belegen, wenn man bei Thukydides jene Stelle nachliest, wo eine Delegation aus Korinth die Spartaner auffordert, in den Krieg mit Athen einzutreten. Die lesenswerte Passage kulminiert in

328

die leier des zeitenwinds am Firmament gebe, so könne es nur eine sein, die nichts bewegt, indem sie sich selbst im Kreise dreht28. Deutlich wird hiermit eine weitere Form von »Soziomorphie«, die sich nun nicht mehr nur in einer hierarchischen Ordnung manifestiert, sondern eben auch im mußevollen Verweilen an einem Ort oder dem kreisenden Herumwandeln (, peripatein: herumgehen, wandeln) der diskutierenden Peripatetiker.

Atomismus Die Muʿtazila entwickelten auch eine atomistische Theorie. Waṣil ibn ʿAṭâʿ (699–748 n.Chr.), der uns bereits bekannte Begründer der Muʿtazila, hat z.B. bezüglich der Entstehung der Welt mit folgenden Sätzen einen partiellen Atomismus vertreten: Er vertrat die Meinung, dass 1) Gott Körper schaffe, die aus Atomen zusammengesetzt seien29, 2) dass diese Körper von sich aus bewegungslos seien, 3) Allah jedoch Kräfte in diese Dinge lege, sodass Akzidentien, Qualitäten und Handlungen entsprechend den Gesetzen der Kausalität stattfinden können, 4) dass auch einige der Akzidentien länger bestünden als nur einen Augenblick, und einer Beschreibung der athenischen Lebensart zur Zeit der Herrschaft des Perikles, also der Hochblüte der Demokraten. Diese etwas längere Passage gipfelt in folgender Aussage: »Das alles betreiben sie [die Athener, M.S.] unter Mühen und Gefahren ihr ganzes Leben lang, genießen kaum ihren Besitz, weil sie immer auf neuen Erwerb aus sind, kennen kein anderes Fest, als die Pflicht zu erfüllen, und halten tatenlose Muße für kein geringeres Unglück als mühselige Arbeit. Wenn daher jemand zusammenfassend behauptete, sie seien dazu geschaffen, weder selbst Ruhe zu halten noch die anderen Menschen in Ruhe zu lassen, so hätte er vollkommenen recht.« (m.H., M.S.; Thukydides, Der peloponnesische Krieg, Erstes Buch: Rede der Korinther) Aus einer solch ablehnenden, uraristokratischen Einstellung leitet sich ein Gutteil platonischer Philosophie und aristotelischer Kosmologie her. 28 Konkret gesprochen: Der Adel entwickelte seine eigene Form der Bewegung, z.B. das Schreiten, das sich vom geschäftigen Hin-und-Her der Diener, Taglöhner und Thetes grundlegend unterschieden hat. 29 Theorien, wonach die Welt aus Atomen, also kleinsten, unteilbaren Partikeln aufgebaut sei, waren in der griechischen und römischen Philosophie (Leukipp, Demokrit, Epikur und Lukrez) zu finden, auch wenn sie von der Majorität abgelehnt wurden. Auch in den indischen Schulen des Vaisesika und Jainismus wurden solche Thesen entwickelt. Wie weit von dort Einflüsse auf mu‘tazilitische Diskurse vorliegen, ist ungeklärt.

329

denkstile 5) dass dasselbe zumindest auch für einige Körper30 gelte. Im Gegensatz zu Waṣil ibn ʿAṭâʿ vertrat Nuʿman, ein Dualist, der von al-Mahdi zum Tod verurteilt wurde, die Ansicht, dass sich alle Körper in kleinste Teile, die dann nicht mehr weiter teilbar seien, zerlegen ließen. Diese Atome seien Körper, die zwar Ausdehnung hätten, deren Substanz jedoch in zoroastrischer Manier entweder aus Licht oder aus Dunkelheit bestehen würde. Da eine Variante des Atomismus u.a. behauptete, dass Gott ständig in die Welt, die nur aus vergänglichen Atomen bestehe31, eingreift, wurden die Postulate 4) und 5) nötig. Die fünf Postulate von Waṣil ibn ʿAṭâʿ sind somit deutliche Kampfansagen an jene, die den freien Willen genauso wie Kausalität und Naturgesetze bestreiten und die Position wiederkehrender, ständiger Schöpfung vertreten. Alle diese Theorien hingen u.a. mit Spekulationen zusammen, ob es überhaupt Bewegung gebe oder nicht. Manche vertraten nämlich auch die Ansicht, dass es keine Bewegung gebe, sondern jede Veränderung ein spontaner Schöpfungsakt Gottes sei. Andere wieder meinten, dass es – ähnlich wie in den Wärmetheorien des 18. Jahrhunderts in Europa – kleine unzerstörbare Substanzen gebe, die in den Körpern enthalten seien und je nachdem Bewegung oder wie im Fall der europäischen Physiker Wärme32 erzeugten. Offenbar sollten derartige Ansichten im Islam nahelegen, dass es keinen freien Willen gebe, der – wie bereits erwähnt – unerwünschte Folgen für die umayyadischen Herrscher haben konnte. Die Herkunft solcher Theorien ist heute umstritten. Manche meinen, dass sie aus der Stoa übernommen worden wären, die die Position vertrat, dass es nur materielle Körper gebe, andere wiederum sehen den Ursprung in dualistischen Positionen, wie sie von Manichäern und Zoroastriern vertreten werden. A. Dhanani33 beschreitet bei diesen Zuordnungen einen diplomatischen Pfad, indem er sich für keine der Varianten entscheidet, sondern betont, dass die Kenntnis stoischer, epikureischer oder früher naturphilosophischer Schriften zu jener Zeit nur sehr ungenau und unvollständig gegeben war. Mit Bestimmtheit vertritt er deshalb die Position, dass die diversen Positionen aus einer oder auch aus beiden Quellen inspiriert waren. Dabei dürfte die Weitergabe dieser Ideen vor allem durch mündliche Überlieferung erfolgt sein. 30 Siehe dazu: J. Plott (1980), S. 380 ff. 31 Manche gingen dabei so weit, dass sie auch einen räumlichen und zeitlichen Atomismus vertraten, d.h. dass Raum und Zeit gleichfalls aus diskreten Atomen bestünden. Das erinnert an Zenon von Elea. Wie weit allerdings derartige, vorsokratische Autoren den Muslimen schon bekannt waren, ist unbekannt. 32 Diese »Wärmeatome« wurden »Kalor« benannt. 33 A. Dhanani (1994).

330

denkstil und denkkollektiv Offensichtlich hängen derartige Theorien auch mit der Frage zusammen, ob es ein leeres Vakuum geben könne. Bekanntlich bestritten Aristoteles und die Peripatetiker dies, genauso wie sie die Existenz von kleinsten, nicht weiter teilbaren Entitäten leugneten. Doch gerade deshalb lieferten diese Lehren der Hellenen wichtige Argumentationshilfen und argumentative Akzeptanz und folglich auch Anreiz genug, um deren Schriften zu übersetzen. Alle diese Vorstellungen widersprachen jedenfalls den zentralen Lehren von der Freiheit des menschlichen Willens der Muʿtazila, weil sie wiederkehrende Interventionen des Schöpfers suggerierten. Deutlich dürfte anhand dieser kurzen Darstellungen werden, dass alle diese Fragestellungen zumindest indirekt grundlegende Prinzipien der Herrschaftslegitimation berührten. Dualistische Konzepte wie Atome und Vakuum, welche sich gegenseitig bedingen, wurden unmittelbar mit einer dualistischen Religion, dem Zoroastrismus, in Verbindung gesetzt. Dieser widersprach allerdings den islamischen, monotheistischen Vorgaben und konnte demnach nicht toleriert werden. Wie angedeutet stehen auch Vorstellungen permanenter Schöpfung, wie sie im Kontext der Leugnung von Bewegung vertreten wurden, in Widerspruch zum Postulat des freien Willens. Ähnliche Problemfelder ließen sich noch mannigfach aufzeigen, doch überschreitet diese Thematik unsere unmittelbaren Anliegen. Denn gezeigt werden sollte ja nur, dass auch das Interesse an den physikalischen Schriften der Antike, besonders aber an der »Physik« des Aristoteles, die gegen Atomisten in Stellung gebracht wurde, gleichfalls gesellschaftspolitischen Interessenslagen entsprang.

Denkstil und Denkkollektiv Bereits unter al-Manṣur war den Abbasiden bewusst, dass ihre Herrschaft nicht allein auf Gewaltausübung und einem Glaubensdogma zu begründen war. Sie verfolgten daher umsichtig eine Politik zur Schaffung einer ideologischen Basis, die sich nicht nur auf Dogmen der Religions- und Rechtsgelehrten stützen durfte, wenn der Zusammenhalt des Imperiums erhalten bleiben sollte. Al-Manṣur und seine Nachfolger inkorporierten folglich so weit wie möglich andere Sichtweisen und entwickelten eine Strategie der Konfliktaustragung, die diskursiv war und nicht zu neuerlichen Gewaltakten führte. Hilfe fanden sie dabei im Aristotelismus, der – um dies nochmals zu betonen – in allen bedeutenden wissenschaftlichen Überlieferungen eingebettet war. Ich erinnere an die Schriften aus der Medizin, der Astronomie, der Geometrie und schließlich auch der Philosophie, die im ersten Kapitel besprochen wurden. 331

denkstile Diese Grundtendenz der Abbasiden kulminierte in der Schaffung eines »Forschungszentrums«, dem Bayt al-Hikmah. Doch spätestens damit wurde etwas geschaffen, was, in Analogie zum Museon, einen »Denkhegemon« kreierte, der so wenig wie jener im dritten vorchristlichen Jahrhundert frei von kulturellen Vorgaben war. Diesen Denkhegemon wollen wir nun aus der Nähe betrachten. Dazu benutze ich als Ausgangsbasis die Arbeiten von L. Fleck34, der im Gegensatz zu dem, was schlecht informierte Kritiker gelegentlich unterstellen, kein Marxist war35.

Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache L. Fleck arbeitete in seiner detailreichen Untersuchung mit obigem Titel jene zwei in der Überschrift genannten, bedeutenden Aspekte heraus, die von Wissenschaftsforschern später genutzt und zugleich teilweise verschwiegen wurden. Prominent figuriert unter diesen Wissenschaftsforschern T.S. Kuhn (1962), auf dessen Arbeiten ich oft genug verwiesen habe, der selbst aber gerne verschweigt, dass er im Wesentlichen auf L. Flecks Arbeiten zurückgriff. Zugleich unterschlägt T.S. Kuhn einen für L. Fleck bedeutenden Aspekt: nämlich die große Bedeutung von wissenschaftsexternen Faktoren für die Entwicklung bzw. Präsentation »wissenschaftlicher Tatsachen«. Stattdessen betont Kuhn die wissenschaftsinternen Säuberungsarbeiten, die im Zug wissenschaftlicher Revolutionen notwendig werden. L. Fleck entwickelte sein theoretisches Konzept aufgrund umfangreicher empirischer und historischer Studien zur Diagnostik und Thera­ peutik der Syphilis. Zentral für seinen Ansatz ist, so wie für alle inno­ vativen Forscher, der Zweifel – bei den Arabern »al schukuk«. Ludwik Fleck bezweifelte allerdings – im Gegensatz zu arabischen Zweiflern wie z.B. al-Haytham – die Existenz von objektiven Tatsachen. Das Erkennen von Tatsachen sei nämlich, wie am Beispiel von al-Haytham zu sehen sein wird, grundsätzlich vom Standpunkt abhängig. Da Standpunkte sozial und kulturell bestimmt sind, ändert sich eine Tatsache mit der Zeit und mit dem jeweiligen sozialen Milieu, in dem die Forscher ihren Standpunkt haben. Ändert sich das Milieu oder jener Standpunkt, so verändert sich auch die Tatsache. Dreierlei soziale Faktoren wirken demnach nach L. Fleck auf jede Erkenntnistätigkeit: Erziehung, Tradition und die Reihenfolge des Erkennens – früher gemachte Erkenntnisse wirken auf spätere prägend ein. 34 Siehe dazu: L. Fleck (1935). 35 Ich betone dies auch deshalb, weil auch mir ähnlich vorurteilsbehaftete Kritiker manchmal mangels besserer Argumente dasselbe unterstellen.

332

denkstil und denkkollektiv Erst wenn soziale und kulturelle Bedingungen eines Milieus, in dem Forscher agieren, Berücksichtigung finden, wird die von Fleck konstatierte Existenz von »konkurrierenden Wirklichkeiten« verständlich. Im folgenden Kapitel lernen wir solche unterschiedliche Milieus und deren Folgen in Detail kennen. Wir werden die Unterschiede durch Vergleich von Arbeiten von ar-Razi mit jenen Galens bzw. von Claudius Ptolemäus und al-Haytham in den nächsten Kapiteln deutlich machen. Denn jede soziale Gruppe verfügt über eine eigene, ihr spezifische gesellschaftliche Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit reflektiert sich in den »Denkstilen« der Wissenschafter. Das geschieht zum Teil unbewusst, weil sie in einem bestimmten Idiom denkend gefangen sind, zu einem anderen Teil wissentlich, weil sie in demselben Idiom kommunizieren wollen und müssen. »Erkennen« ist notwendig eine soziale Tätigkeit, weil jede individuelle Erkenntnis Anerkennung aus ihrer Umwelt braucht und folglich auch sucht. Daher und aufgrund der oben genannten Faktoren ist jede Erkenntnis an die sozialen Voraussetzungen der sie ausführenden Individuen gebunden. Niemand kann sich derartigen Einflüssen entziehen. Jedes »Wissen« bildet folglich seinen ureigenen »Gedankenstil« aus. Gegen diesen Hintergrund werden u.a. auch erst Probleme als Probleme erfasst und definiert und somit Interesse erzeugt, das auf jeweilige Zwecke ausgerichtet ist. Diese Problemdefinition determiniert dann bereits eine ihr spezifische Sichtweise, u.zw. schon bei der Beobachtung des Gegenstandes36, der aus einer spezifischen Perspektive gegen einen charakteristischen Interessenshintergrund studiert wird. Die erkannte »Wahrheit« verhält sich demnach relativ zum beabsichtigten Zweck des Wissens. Derartige spezifische Sichtweisen haben wir anschaulich kennengelernt: bei den aristokratischen und den demokratischen Griechen, genauso wie bei den ersten Rechtsgelehrten in Arabien, sowie bei den Umayyaden oder schließlich bei den zu den Persern neigenden Abbasiden. Aber nicht nur das Erkennen ist an kulturelle und soziale Voraussetzungen gebunden. Es wirkt umgekehrt auch auf die soziale Wirklichkeit zurück. Erkennen folgt als Produkt einer an langlebende Gruppen gebundenen Tätigkeit eigenen Regeln, genauso wie die dazu gehörende soziale Organisation. Dadurch setzt es den beteiligten Menschen und zugleich der weiteren Erkenntnistätigkeit Grenzen. Wissenschaftliche Betätigung kann folglich auch dadurch untergraben werden, dass eine entsprechende Organisation zerstört wird, so wie das die Schließung der platonischen Akademie in Athen durch Justinian den Großen oder des Museons anschaulich demonstrierte.

36 Zur Illustration siehe das nächste Kapitel.

333

denkstile Erreichen einer »absoluten Wirklichkeit«, auch annäherungsweise, kann es daher nicht geben: In dem Maße, in dem nämlich das Erkennen fortschreitet, formt es selbst auch die Wirklichkeit um37. Wesentliche Ergebnisse aus L. Flecks Forschungen sind, dass jede interagierende Population jeweils unterschiedlichen Bedingungen des Erkennens unterworfen ist38. In anderen Worten ausgedrückt heißt das, dass die Gesamtheit aller Informationen, die auf einen oder mehrere Beobachter einströmen, niemals erfasst werden kann. Sie werden daher selektiert, gefiltert und geordnet. Al-Farabi bezeichnete diesen Prozess als »Abstraktion«, wie wir in den folgenden Kapitel noch sehen werden. Jedes Wissen formt somit seinen eigenen »Denkstil« aus. Denn das, was durch so ein »Denksieb« fällt, was drinnen bleibt und wie es geordnet wird, ist höchst unterschiedlich. Der gesamte Prozess ist somit sozialen und kulturellen Vorgaben unterworfen. Doch diese »Randbedingungen« äußern sich auch in den zum Einsatz kommenden technischen Instrumenten, die ebenfalls Produkte spezifischer, charakteristischer Denkstile sind. Demnach entstehen aus diesen charakteristischen Anfangsbedingungen manifeste unterschiedliche Wirklichkeiten, die eben sozialen und kulturellen Bedingungen des Erkennens unterworfen sind. Eine breite Akzeptanz solcher spezifischer Wirklichkeiten wird in den jeweiligen Populationen gerade durch dieses Eingebundensein der Denkstile und der Instrumentarien geschaffen. Als Beispiel für einen Fall, wo keine Akzeptanz zustande kam, erinnere ich an das heliozentrische System des Aristarch, das im ersten Kapitel besprochen wurde. Von herausragender Bedeutung ist die anfängliche Fragestellung, das Ausgangsproblem, das überhaupt erst den Anlass zur Beobachtung und zur Schaffung von »Tatsachen« liefert. Dieses Ausgangsproblem und Vorstellungen von der benötigten Lösung determinieren von Anbeginn die Sichtweise bei den Beobachtungen. In vielen Fällen ist aber dieses Ausgangsproblem sozio-politisch geprägt. Erst dann, wenn eine Krankheit zur »Seuche«39 wird, oder etwa – aus welchen Gründen immer – die Notwendigkeit besteht, die Legitimität von Verfassungen (wie im frühen Griechenland) oder von politischer Herrschaft (wie im abbasi37 Aktuell wird das heute im Kontext vieler verschiedener Umweltprobleme anschaulich. 38 Diese Position vertrat zeitgleich auch K. Mannheim (1929/1936) im Rahmen seiner Wissenssoziologie (siehe dazu auch Kapitel II). 39 Die naheliegende Frage, wann denn eine Krankheit zur Seuche wird, beantworte ich mit einem Zitat: »Epidemien gleichen großen Warnungstafeln, an denen der Staatsmann von großem Stil lesen kann, dass in dem Entwicklungsgange seines Volkes eine Störung eingetreten ist, welche selbst eine sorglose Politik nicht länger übersehen darf.« (R. Virchow, zit. nach R. Reichert, 1997).

334

denkstil und denkkollektiv dischen Bagdad) über beobachtbare Naturvorgänge zu schaffen, wird Natur auch beobachtet und erforscht. Und sie wird so beobachtet und erforscht, dass sie die gesuchten Antworten liefert. Wer »Vollkommenheit«, ein »Telos«, am Firmament sucht, stellt nämlich andere Beobachtungen an als jemand, der dort das Chaos entdecken will. Jede so entdeckte »Wahrheit« steht demnach in einem Beziehungs­ gefüge relativ zum dahinterliegenden Forschungszweck. Daraus entstehen je nach vorausgesetztem »Telos« konkurrierende Wirklichkeiten, die letztlich von den einschlägigen Institutionen akkreditiert oder verworfen werden. In diesem Kontext prägte L. Fleck einen Begriff, den ich als Merksatz gerne kolportiere: Er spricht an dieser Stelle von »Harmonien der Täuschungen«, welche gebrochen werden müssten, um zu neuen Sichtweisen und Denkstilen zu gelangen. Dieses Brechen angeblicher Täuschungen haben wir im vorigen Kapitel an verschiedenen Beispielen kennengelernt. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass L. Fleck diese Entwicklungen nicht als akkumulative »Fortschritte«, sondern als Anpassungsprozesse an andere Umwelten versteht. Wir bezeichnen dies mit »Akkulturation«40. Die oben angesprochenen Ausgangsprobleme werden allerdings nicht nur innerhalb der Wissenschaften geschaffen, sondern, wie obige Beispiele deutlich machen, zumindest im selben Ausmaß von außen an Wissenschafter herangetragen41. Schon aus Überlebensgründen können sich diese meistens solchen Anfragen schwerlich entziehen. Wer das dennoch versucht, denke an die Biografie von Ibn al-Haytham. Doch auch dann, wenn dies möglich ist, sind Forscher stets dem Druck des Zeitenwinds ausgesetzt 42. Diesem können sie sich nicht entziehen. Wissenschaft wird kooperativ veranstaltet, und zwar wiederum nicht nur innerhalb eines »unsichtbaren College«43, sondern über die Vernetzungen von Wissenschaftern und deren Auftraggebern. Aus rein interner Sicht ergibt sich daraus die Notwendigkeit, den Denk- und Beweisgepflogenheiten der Kollegen Rechnung zu tragen, wie das oben im Fall des Archimedes, Archytas oder Aristarch bereits geschildert wurde. Es müssen also stets die gängigen und tradierten Überzeugungen der anderen Wissenschafter berücksichtigt werden, auch wenn diese bereits in einem »Elfenbeinturm« eine »abgehobene Existenz« führen44. 40 Siehe dazu Kapitel IX und X. 41 Diesen Aspekt übergeht T.S. Kuhn mit Nonchalance. 42 E. Schrödinger (1932) bezeichnet diesen Sachverhalt schlicht als »Mode«. 43 Das »invisible college« ist ein gern gebrauchter Begriff, wenn die Entstehung der Wissenschaften in England im 16. und 17. Jahrhundert analysiert wird. 44 A. Koyré (1968) schildert einen derartigen Vorgang mit folgenden Worten

335

denkstile Diese »Versippung« bringt Vor- und Nachteile: Einerseits werden dadurch sogenannte unangepasste »Spinner« rasch eliminiert45. Andererseits aber schafft dieser Prozess eine konservativ - reaktionäre Grundstimmung, die neue Ansätze zielgerichtet unterbindet. In versippten Wissenschaften innovativ zu sein, wird in den überwiegenden Fällen pönalisiert. Aus diesen Interaktionen entstehen eigene, soziale Einheiten von Wissenschaftern, die L. Fleck als »Denkkollektive« bezeichnet. Solche Kollektive schaffen die denkmäßigen Voraussetzungen, auf denen sie ihre Wissensgebäude aufbauen. Fundamental wirken letztlich epistemologische Konzepte, wie etwa die Festlegung, was als wissenschaftlicher Beweis Geltung hat oder in welchem Idiom man kommunizieren soll. Diese grundlegenden Konzepte zementieren das Fundament und bestimmen folglich, welches Wissen darauf aufgebaut werden kann. Häufig zeigt sich allerdings, dass der Forschungsprozess die anfänglichen Zielvorgaben gar nicht erfüllen kann. In solchen Fällen verändern Kollektive allmählich ihre Grundlagen unter der Hand. Und sie verändern sich dabei selbst so, dass sie oft nicht länger in der Lage sind, ihre früheren Ansätze nachvollziehen zu können. Manchmal stoßen sie in solchen Fällen auch auf neue, unvorhergesehene Phänomene, die anschaulich: »Galileo is well aware of the tremendous difficulty of his task. He knows perfectly well that he has to deal with powerful enemies: authority, tradition, and – worst of them all – common sense. It is useless to present proofs to minds not able to grasp their value. Useless, for instance, to explain the difference between linear and radial velocity (the confusion between which is the whole basis of the first of the Aristotelian and Ptolemaic objections) to people not accustomed to mathematical thinking. You must begin by educating them. You must proceed slowly, step by step, discussing and rediscussing the old and the new arguments; you must present them in various forms; you must multiply examples, invent new and striking ones.« (m.H., M.S.; S. 12) Wir werden im Epilog sehen, dass die späteren Quantenmechaniker (Heisenberg, Schrödinger etc.) sich nicht nur in genau derselben Situation befanden, sondern sich auch genauso verhielten wie A. Koyre am Beispiel von Galileo Galilei zeigt (siehe dazu: Galileo Galilei Linceo, 1638). 45 Das ist an heutigen Universitäten eine gängige Bezeichnung für Leute, die neue und seltsam anmutende Ansätze vortragen. Nach allem, was bisher gesagt wurde, erübrigt es sich hoffentlich, extra zu betonen, dass solche »Spinner« durchaus ernst genommen werden sollten. Dass das meistens nicht geschieht, verdankt sich u.a. der Evaluierung von Forschungsanträgen und eingereichten Publikationen durch »peer-groups«. Dieses Verfahren schafft ein konservatives, sich selbst reproduzierendes Milieu und ist eindeutig »fortschrittsfeindlich«. Das gilt selbst dann, wenn man so wie L. Fleck den Glauben an wissenschaftlichen Fortschritt nicht teilt.

336

denkstil und denkkollektiv dann als Ergebnis ihrer Arbeit präsentiert werden. Beispiele aus der jüngsten Zeit gäbe es en masse. Ich nenne nur zwei: die Entdeckung der Radioaktivität und die Entdeckung der Halbleitereffekte46. Wissen existiert folglich nie an oder für sich, sondern immer nur unter der Bedingung inhaltlicher Vorannahmen über den Gegenstand. Die gesamte Situation verhält sich analog zu solchen Urteilen, die aufgrund von Schlüssen aus unhinterfragt akzeptierten Prämissen gewonnen werden. Darauf komme ich weiter unten im Kontext von al-Farabis kritischen Ansätzen noch einmal zurück. Vorannahmen sind andererseits ein kollektives, historisch gewachsenes Produkt, das von einzelnen Teilnehmern am Spiel nur minimal beeinflusst werden kann. Es kommen somit bei der Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache Faktoren ins Spiel, die nicht primär im Denken eines einzelnen Wissenschafters verankert sind. Vielmehr handelt es sich um Vorstellungen, die an eine bestimmte Gesellschaft, an eine geschichtliche Situation und eben an eine Kultur gebunden sind. Solche Vorgaben scheinen L. Fleck genauso wichtig oder noch wichtiger als das, was ein einzelner Forscher intendiert oder an Überprüfungsmöglichkeiten erfindet. Auch hier darf an das erste Kapitel erinnert und auf nachfolgende Kapitel verwiesen werden. Richtig spannend wird aber die Arbeit Flecks in dem Augenblick, wo er zwischen zwei verschiedenen Typen von Beobachten unterscheidet. Den ersten Typus bezeichnet er als naives »Schauen«. Dieses Schauen ist unklar und wenig zielgerichtet. Der zweite Typus erkennt im Unterschied dazu ganz bestimmte »Gestalten« auf den ersten Blick. Das ist etwa so, wie wenn jemand den Sternenhimmel beobachtet und zunächst darin nur eine Anhäufung von Lichtern sieht. Ein geübter Beobachter erfasst aber sofort zumindest alle jene Sternbilder, die ihm bereits vertraut sind. Doch damit ist noch nicht alles gesagt. Für diesen Beobachter wird es sehr schwierig, z.B. den Orion nicht zu erkennen. Ähnlich wie bei sogenannten »Kippbildern« braucht es zuerst einige Zeit, die Konfiguration zu erfassen. Handelt es sich etwa um eine in das Blatt Papier hineinragende Stiege oder umgekehrt? Ist das aber erst einmal fest­ gelegt, so wird es noch schwieriger zu erkennen, dass es auch genauso eine herausragende Stiege sein könnte, oder dass der Orion nicht ein einziges Sternbild sein muss, sondern aus zwei oder drei unabhängigen Sternbildern bestehen könnte. Das dadurch entstandene Beobachten ist nun nicht länger jenes ursprüngliche »naive Beobachten«. Hand in Hand mit der Steigerung dieser Fähigkeit, etwas zu erkennen, geht allerdings auch ein Verlust, nämlich der Verlust der Fähigkeit, etwas wahrnehmen zu können, was 46 Siehe dazu: M. Schmutzer (1994).

337

denkstile den einmal erlernten Vorlagen widerspricht. Die beschriebene Disposition für gerichtetes Wahrnehmen wird um den Preis, Heterogenes nicht wahrnehmen zu können, erkauft. Diese zugleich mit einer Unfähigkeit gepaarte Fähigkeit wird in einem spezifischen Sozialisationsprozess erworben47. Diese Sozialisation findet in einer wissenschaftlichen Kommune statt, etwa dem alexandrinischen Museon. An der Wurzel jedes Denkstils liegt somit die erworbene Fähigkeit, eine ganz bestimmte Gestalt zu erkennen. »Gestalt-sehen« – und damit ist nicht nur optisches Sehen gemeint –, ist das Herzstück eines jeden »Denkstils«. Al-Farabi bezeichnete dieses Ergebnis mit »Prinzipien der Lehre«. Das anfänglich unklare Sehen ist stillos, das heißt unorientiert und chaotisch. Es fehlt etwas Fixes in diesem Stadium, und zwar eine »Tatsache«48. Tatsachen bzw. die sogenannte Realität sind damit nicht etwas, was sich schlicht und unmittelbar darbietet. Vielmehr muss zuerst einmal eine spezielle Beziehung des Wahrgenommenen zum Denkkollektiv entstanden und »mit-teil-bar«49 werden. Das Wahrgenommene muss in einem Denkkollektiv als ein markanter Widerstand gegen das ursprüngliche Schauen erfahren und erlebt werden. Es muss sich also einem quasi »initiierten« Kollektivmitglied als »unmittelbar zu erlebende Gestalt« oder als sensorische Erfahrung darbieten. Gleichzeitig wird damit auch eine gewisse Intoleranz gegen Alternativen gezüchtet, die ihrerseits das Kollektiv weiter zusammenschweißt. An diesem »Gestalt-sehen« verdeutlicht L. Fleck die ausschlaggebende, kollektive Verfasstheit von Forschung schlechthin. Und damit untergräbt er zugleich die gängige, individualistische Auffassung der Forschungstätigkeit und den Mythos vom einsamen Genie.

Grenzen des Erkenntnisgewinns Erkennen ist an kulturelle und soziale Voraussetzungen gebunden. Allerdings handelt es sich dabei um keine Einbahnstraße. Erkenntnis wirkt auf die soziale Wirklichkeit zurück. Als Produkt einer an langle47 Diese Regel scheint ziemlich allgemein zu gelten. Wer etwa die Fähigkeit des Schreibens und Lesens erworben hat, erwirbt dies um den Preis, orale Überlieferung weder leicht noch lange in Erinnerung zu behalten. 48 Es ist mir nicht bekannt, ob L. Fleck L. Wittgensteins »Traktat« (1921/22) gelesen hat, oder umkehrt Wittgenstein L. Fleck vor oder während der Abfassung seiner Sprachphilosophie (siehe dazu: L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1958). Sollten sie voneinander nichts gewusst haben, so wäre dies ein Beispiel von ungefähr zeitgleichen Ent­deckungen. 49 Wie der Ausdruck schon andeutet, muss es mit anderen geteilt werden können.

338

denkstil und denkkollektiv bende Gruppen gebundenen Tätigkeit, wie etwa das Museon eine war, folgt dieses Erkennen – so wie die soziale Organisation selbst – eigenen Gesetzlichkeiten. Akkreditierte Erkenntnisse setzen den an ihnen beteiligten Menschen Grenzen ihrer weiteren Erkenntnistätigkeit. Sie schaffen damit zugleich die Ausgangsbedingungen für unvermeidbare wissenschaftliche Revolutionen. Solche Institutionen werden zu dem, was ich bereits mehrmals als »Denkhegemon« bezeichnet habe, der irgendwann unter seiner eigenen Last oder seinen Beschränkungen zusammenbrechen muss. Weder einem Subjekt noch einem Objekt kommt folglich eigenständige Realität zu; denn jede Existenz beruht auf Wechselwirkungen und ist demnach relativ und rückbezüglich. Kenntnis einer »absoluten Wirklichkeit« kann folglich nicht einmal annäherungsweise erlangt werden. Indem das Erkennen fortschreitet, formt es nämlich zugleich auch die erkannte Wirklichkeit um, weil es selbst Teil dieser Wirklichkeit ist. Als Konsequenz daraus ergibt sich, dass dies notwendig jeden Anspruch auf letzte Erkenntnisse, Gesetze oder Ähnliches zerstört, dafür aber die Voraussetzungen für völlig neue Wissenschaftlichkeit schafft. Es handelt sich auch hier um »Inkommensurabilitäten« – ein Begriff, mit dem wir uns im Kontext von al-Farabis Philosophie in den folgenden Kapiteln noch ausführlich auseinandersetzen werden. Inkommensurabilitäten ergeben sich nicht länger nur – wie bei T.S. Kuhn – aus wissenschaftsinternen Widersprüchen, sondern aus Widersprüchen zwischen wissenschaftlich dogmatisierten Erkenntnissen und einer Trägerkultur. Diesen Prozess werden wir im Folgenden näher betrachten. Doch zuvor mag es nützlich sein, den schillernden Begriff »Kultur«50 etwas einzugrenzen und näher zu bestimmen51. Im gegenständlichen Verständnis bezeichnet »Kultur« eine Lebensweise, die sämtliche traditionelle Handlungsweisen, Ausdrucksformen und Denkmuster beinhaltet und diese mit signifikanten Anderen teilt. Dadurch ergeben sich sowohl Unterscheidungen zwischen Gruppen von Menschen, die andere Lebensweisen praktizieren, als zugleich auch Identifikationsmöglichen mit solchen, die dieselben oder doch zumindest ähnliche Praktiken befolgen. Auch so entsteht ein »Wir-Gefühl«. 50 K.A. Soudijn, G.J.M. Hutschemaekers, F.J.R. van der Vijvers (1990), listen z.B. 128 verschiedene Definitionen von Kultur auf. 51 Mit seiner Bestimmung beabsichtige ich keinesfalls eine weitere, allgemein verbindliche Interpretation dieses Begriffs zu liefern. Dessen Vieldeutigkeit ist mir bewusst. Aber die im Folgenden vorgeschlagene Definition soll zumindest eines bewirken, nämlich die gängige Vorstellung auszuschalten, dass »Kultur« sich ausschließlich in illustren Schauspielhäusern, Konzerthallen oder auf den Kulturseiten der Presse wiederfindet.

339

denkstile Ergebnis solcher Übereinstimmungen ist ein »Milieu« und die Fähigkeit miteinander zu kommunizieren und zu interagieren. Ein hilfreiches Instrumentarium liefert dabei der angesprochene Denkstil.

Akkulturation eines Denkstils Blicken wir nun gegen obigen Hintergrund auf jene Phase der Entwicklung zurück, die mit der Schaffung des Bayt al Ḥikmah einsetzte, und betrachten nochmals die Beiträge, die von dieser Adresse kamen. Unbestritten gilt, dass die Übernahme der antiken Schriften zugleich eine Auseinandersetzung mit einer fremden Kultur bedeutete52. Die Wider­stände gegen »fremde Wissenschaften«, die bald unter Muslimen einsetzten und während bzw. nach der Miḥna offensichtlich wurden, zeigen allerdings das Gegenteil. Die Bereitschaft, sich damit zu konfrontieren, war ungleich verteilt. Nicht unabhängig von diesen Widerständen wurden daher die »fremden Wissenschaften« nach Beendigung der Miḥna »akkulturiert«53 und den endogenen Vorgaben angepasst, analog zu den geschilderten Beobachtungen von L. Fleck. Es lässt sich somit die Frage nachreichen, aus welchen Gründen in manchen Kreisen innerhalb der muslimischen Kommune genau diese Entwicklung positiv beurteilt und die Förderung der fremden Wissenschaften betrieben wurde. Dass sich dahinter mächtige politische Interessen und einflussreiche Gruppen fanden, dürfte nach allem bisher Gesagten klar sein. Doch warum waren auch Personen, die nicht am Machtapparat teilhatten, wie etwa junge Wissenschafter, daran beteiligt? Was motivierte sie?

Die Liebe zur Wahrheit Eine gängige Antwort auf diese Frage ist: die Liebe zur Wahrheit und zur Erkenntnis. Doch Wahrheit ist stets ein soziales Konstrukt. Kulturen, die etwa an Parthenogenese glauben, halten Behauptungen dieser Art für wahr. Sie werden sogar verschiedene Beweisverfahren entwickeln, um dies 52 Bestreiten würde dies nur, wer dem Dogma reiner, objektiver Erkenntnis und einziger Wahrheiten anhängt. Für so jemand existieren kulturunabhängige »Tatsachen«, und folglich würde es genügen, darauf zu hinzuweisen, dass es sich bei der Übernahme antiken Wissens wieder nur um einen Schritt in Richtung auf letztgültige Wahrheiten handelt, deren Erkenntnis aus sich heraus überzeugen muss. 53 Siehe dazu: J.L. Berggren (1996).

340

akkulturation eines denkstils nachzuweisen. Kulturen, die davon überzeugt sind, dass alle Dreiecke eine Winkelsumme von 180º haben, weisen dies ebenfalls nach, vergessen allerdings meist darauf hinzuweisen, dass diese Feststellung nur unter der Bedingung gilt, dass diese Dreiecke in einer Ebene liegen, also »plan« sind. Kulturen, die davon überzeugt sind, dass eine Krankheit eine »Lustseuche« sei54, eine göttliche Strafe für sexuelle Vergehen, entwickeln »Therapien«, um diese Strafen abzuwenden und Körperbilder, die solche göttlichen Interventionen wahrscheinlich erscheinen lassen. Wahrheiten gibt es also viele verschiedene. Was veranlasst, sie irgendwann zu hinterfragen? Wiederum wäre die gängige Antwort darauf: ein Nachweis ihrer Unrichtigkeit. Im Band I habe ich dieselbe Problematik am Beispiel irrationaler Proportionen abgehandelt und mich auf S. Krämer (1991) berufen, die meint, dass damals die Entdeckung der Pythagoreer, dass die Länge der Diagonale eines Quadrates mit den Seiten des Quadrats inkommen­ surabel ist – also nicht mit rationalen Proportionen erfasst werden kann –, einen Gestaltsprung bewirkte. Ich kann mich ihrer Sicht nicht anschließen und meine hingegen, dass soziale Konflikte sowohl innerhalb der Gemeinde der Pythagoreer wie auch zwischen diesen und der jeweiligen Polis Zweifel nährten und Argumente suchen ließen, die Pythagoreer zu widerlegen55. Damals fiel es auch nicht leicht, den notwendigen Nachweis für die Unrichtigkeit des Glaubens an ein rationales Verhältnis zu erbringen. Erst Euklid brachte gute zwei Jahrhunderte später einen Beweis, dass inkommensurable Größenverhältnisse tatsächlich existieren müssen. Erst damit wurde diese neue Einsicht zu einem erwiesenen Allgemeinplatz und die Position der Pythagoreer angreifbar. Euklids Beweis ist allerdings ein »indirekter Beweis«, der auf der Behauptung beruht, dass der Nachweis von Widersprüchlichkeit zugleich den Nachweis dafür liefert, dass die gegenteilige Annahme richtig und demnach wahr sein muss. Überzeugen konnte er folglich auch nur jene, die schon davon überzeugt waren, dass erstens solch eine Inkommensurabilität besteht und zweitens, dass indirekten Beweisen Beweiskraft zukommt. In anderen Worten blieb die Wahrhaftigkeit der Aussage letztlich wieder an bestimmte Glaubensgrundsätze geknüpft. Allerdings gilt, dass auch der Glaube an eine letztgültige Wahrheit eben ein »Glaube« ist. Demnach sollte obige Vermutung, dass ein derartiger Glaube an eine 54 L. Fleck (1935) zeigt, dass Syphilis anfänglich so bezeichnet wurde. 55 Ich erinnere daran, dass Pythagoras selbst seine Wahlheimat Kroton fluchtartig verließ und sich letztlich in Metaponton niederließ. Auch andere Anhänger des Meisters wurden verfolgt und flohen, wie etwa Philolaos.

341

denkstile Wahrheit auch die ersten Wissenschafter in der muslimischen Welt beseelte und Anreiz genug lieferte, um sich mit den fremdem Wissenschaften auseinanderzusetzen, zumindest als Erklärungshypothese akzeptiert werden. Der Glaube an die Möglichkeit einer neuen Wahrheit, die den neuen sozialen Standpunkten entsprach, motivierte dazu, die fremden Wissenschaften ernst zu nehmen. Dass ein Glaube in trivialster Weise zusätzlich auch nützlich sein kann, benötigt kaum noch besondere Erwähnung.56

Folgen der »Ent-Hellenisierung« Uns interessiert nun der oben angedeutete Akkulturationsprozess57, also weniger jener, mit dem etwa al-Kindi durch seine Begriffsbestimmungen die arabische Sprache und das arabische Denken in umgekehrter Richtung verändert hat. Uns fasziniert jetzt der gegenläufige Prozess, das heißt, wie im Gegenzug die griechische Überlieferung an das dominante Denken der Araber, Perser und Türken assimiliert wurde. Dieser Prozess wird allerdings nicht selten von überzeugten ethnozentrischen Europäern, wie etwa P. Duhem, geleugnet.58 Kehren wir deshalb zu jenen Tagen zurück als das Bayt al Ḥikmah gegründet wurde. Wie in Kapitel VI geschildert, war al-Kindi eine der maßgeblichen Gründerpersönlichkeiten. Er stammte aus einer südarabischen Familie, die seit langem im aufmüpfigen Basra lebte. Zur Zeit der Regentschaft von Harun-ar-Raschid geboren, verbrachte er dort seine Jugend und genoss eine hervorragende Erziehung. Sie war kosmopolitisch orientiert, sonst wäre ihm die Gedankenwelt der Griechen fremd geblieben. Diese Ausrichtung war für Basra nicht ungewöhnlich, auch wenn sich dort wie auch in Bagdad, in das er früh übersiedelte, schon beträchtliche Ressentiments gegen die »fremden« Ideen sammelten. Früh machte er sich zum leidenschaftlichen Verfechter solch fremder Ideen und begründete dies mit der Suche nach Wahrheit (s.o.), die überall die gleiche wäre, egal, woher sie stamme. Nun stammten aber die »fremden« Wahrheiten aus dem heidnischen Altertum, wo »Götzen« verehrt wurden und Polytheismus herrschte. Dies verstieß gegen einen 56 Damit unterscheidet sich mein Ansatz von der von D. Kaldewey (2014) unlängst getroffenen Differenzierung insofern, als ich auch hier für ein »dialektisches Kontinuum« an Stelle einer binären Kodierung plädiere. 57 »Akkulturation« wird in der üblichen Deutung als Anpassungsprozess von einzelnen Individuen an eine fremde Kultur verstanden. Dieser Prozess wird zweifellos auch damals stattgefunden haben, als al-Kindi die antiken Überlieferungen übersetzte und kommentierte. Zweifellos muss er sich an die Denkweisen der Griechen angepasst haben. 58 Siehe dazu: R. Rashed (1984).

342

akkulturation eines denkstils der wichtigsten fünf Grundsätze des Islam, deren Missachtung generell als todeswürdig betrachtet wurde. Wollte man in Bagdad in öffentlicher Position überleben, so musste man solche Verdächtigungen vermeiden. Al-Kindi begegnete dieser Gefahr durch Veröffentlichung seines berühmten Werks »Über die erste Philosophie«. Inhaltlich stellt die »erste Philosophie« eine Auseinandersetzung mit Aristoteles »Metaphysik« dar. Doch diese Metaphysik wandelte sich unter seiner Feder zu einem theologischen Traktat, das sich vorgeblich mit der Erkenntnis Gottes auseinander setzte, wobei Gott eben zur »ersten Wahrheit« und zur Ursache aller Wahrheit wurde. Die Stoßrichtung seiner Schrift zielte gegen die konservativen Rechtsgelehrten, was während der Regentschaft von al-Maʿmun zugleich im dominanten Interesse des Kalifen lag. Die Erkenntnis der Wahrheit – und somit auch Gottes – könne nicht allein aus den »gelehrten« Interpretationen der Hadithe folgen, war sein Argument. Sie brauche zusätzliche Instrumente – solche, wie sie schon zum Einsatz kamen, um ein »idschma« zu erreichen. Zusätzliche Instrumente, dieses Ziel zu erreichen, fänden sich in der fremden Logik, die Ursachen und Folgen unterscheide und diese Unterscheidung zielgerecht einsetze. Solche Kausalität sei durchgängig. Damit ließ sich zugleich Astrologie und die exakte Erforschung der Himmelsphänomene begründen, denn selbst kleine Fehler multiplizierten sich und machten demnach Prognosen unsicher oder gar falsch. Die Lehre von den vier Ursachen der Peripatetiker gewann somit eine neue Dimension. Bezieht man aber diese Praxis der Argumentation auf die Lehren des Propheten, so wisse man, dass Allah Schöpfer der Welt ist und in seiner Allmacht weder einen »Sohn« als beisitzenden Richter noch einen Demiurgen brauche, der bei Platon die materielle Welt erst zusammenbastelt. Als Folge ergab sich daraus allerdings, dass die etablierte aristotelische Unterscheidung zwischen vier Ursachen hinfällig wurde. Denn Allah selbst sei »causa finalis« und zugleich auch »causa efficiens«. Sein Wille genüge, um ex nihilo die Welt erstehen zu lassen. Damit verblieben aber nur zwei Ursachen, die zur Erklärung der Welt heranzuziehen seien, eine »causa materialis« und eine »causa formalis«. Schon anhand dieses einen Beispiels wird der früh einsetzende Akkulturationsprozess anschaulich. Aristoteles, Platon und alle anderen »Größen« der Antike werden nach und nach adaptiert und an die spezifischen Bedürfnisse der muselmannischen Welt angepasst. Doch kehren wir zurück: wie erzeugt diese göttliche »causa efficiens« Wirkungen auf die materiale Welt? Sie wirkt nach al-Kindi über Strahlen, die von den Sternen ausgehen und so den Gang der Welt bestimmen. Strahlen sind die »Werkzeuge« Gottes. Damit wären wir einmal mehr bei der Astrologie, die, wie schon oben dargelegt, einen wesentlichen Bestandteil abbasidischer Ideologie ausmachte. Licht wird in die343

denkstile sem Kontext zur Emanation Gottes, und das Studium der optischen Phänomene, das heidnische Wissenschafter wie Euklid, Ptolemäus u.a. betrieben haben, kann nun genauso als Dienst zur Erkenntnis einer durch Gottes Willen geschaffenen Ordnung verstanden werden. Die fremden Wissenschaften zu studieren stehe somit in Einklang mit dem Islam. Allerdings müsse man sie stets hinterfragen und auf ihre Konsistenz überprüfen. Was dann derartigen Untersuchungen standhalte, werde übernommen, was nicht, werde ausgesondert. Um die notwendigen Unterscheidungen treffen zu können, erinnern wir uns, entwickelte al-Kindi eine eigene Theorie des Wissens. In dieser unterschied er zwischen zwei Arten des Wissenserwerbs. Wissen erwerbe man einerseits über die Sinne oder mittels des eigenen Verstandes. Mithilfe der Sinne werde das Konkrete, also die materielle Form, erkannt, mithilfe des Verstandes das Allgemeine, also Gattung und Art, um in der aristotelischen Redeweise zu bleiben. Doch das Konkrete werde nicht allein passiv über Sinneserfahrung erkannt. Selbst Gott setze Werkzeuge zur Gestaltung der Welt ein, etwa Strahlen. Ähnlich benutze auch der menschliche Intellekt Werkzeuge, um einerseits das Allgemeine zu erkennen oder das Konkrete zu fassen und zu formen. Solche Werkzeuge liefere die euklidische Geometrie, doch darüber hinaus ließen sich damit auch brauchbare Werkzeuge herstellen, wie etwa Brennspiegel, mit deren Hilfe feindliche Schiffe in Brand gesetzt werden könnten. Da andererseits aber die antiken Angaben zum Bau solcher Spiegel nicht konkret genug wären, müssten diese überarbeitet werden. Daher stelle er selbst empirische Versuche an, um solche Spiegel zu entwerfen. Dieses Beispiel verdeutlicht jenen grundlegenden Unterschied zu den Überlieferungen aus der platonisch-aristotelischen Tradition. Nicht theoretisierend wie die beiden Philosophenfürsten und ihre Epigonen verfuhren, sondern ähnlich wie der Gott der Muslime, legte al-Kindi selbst Hand an und bemühte sich, eine neue Welt zu schaffen. Diese praxisorientierte Einstellung, die er in seiner Theorie des Wissens als »aktiven Geist« bezeichnete, stellt ihn in die unmittelbare Nachbarschaft griechischer Denker wie etwa Archimedes, dessen Schriften ihm nicht unbekannt waren. Aus solcher Sicht scheint es naheliegend, dass ein derartig aktiver Geist nicht nur den Kosmos, sondern auch den Koran herstellt, was erinnerlich eine grundlegende Annahme der Muʿtazila war. Ich betone nochmals: In dieser spezifischen Attitude lässt sich ein signifikanter Unterschied zur dominanten Haltung der hellenistischen Wissenschafter erkennen. Dies sei schon einmal festgehalten, denn analoge Prinzipien finden sich nicht nur bei al-Kindi, sondern auch bei vielen anderen Forschern in der Frühzeit des Islam. Die al-Kindi gelegent344

akkulturation eines denkstils lich unterstellte Empirieferne entspricht nicht den Tatsachen. Al-Kindi war im Gegenteil mit großem Aufwand bemüht, in unterschiedlichsten Bereichen empirische Untersuchungen durchzuführen und seine Erkenntnisse mittels Mathematik zu systematisieren. Unser augenblickliches Anliegen ist allerdings weniger, ein Plädoyer dafür zu erbringen, dass ein konkreter Wissenschafter wie al-Kindi nicht mit falschen Markenzeichen stigmatisiert wird, sondern auf jenen kulturspezifischen Trend aufmerksam zu machen, der sich in den Arbeiten unterschiedlicher Forscher konsistent wiederholt: Ähnlich wie es in der späten Antike zum unabdingbaren Erscheinungsbild gehörte, eine aristotelische oder platonische oder eine aristotelisch-platonische Geisteshaltung zu zeigen, so entwickelte sich unter dem Einfluss des Islam ein anderer Denkstil oder Zeitgeist59. Den Beginn dieser Entwicklung kann man bereits bei al-Kindi feststellen. Noch ausgeprägter zeigt es sich aber bei den oben schon beschriebenen »Kollegen« al-Kindis im Bayt al Ḥikmah, den Banu Mussa-Brüdern und al-Khwarizmi. Ich verweise noch einmal auf das bekannteste Werk der drei Brüder, das »Kitab al Ḥijal«. Man mag dieses Werk als ingenieurhaft und weniger als wissenschaftlich bezeichnen. Diese Bewertung ist allerdings im Augenblick irrelevant. Das »Kitab al Ḥijal« legt jedenfalls Zeugnis davon ab, dass die Mitglieder des Hauses der Weisheit praxisnahe dachten und arbeiteten. Auch ihre aufwändigen astronomischen Untersuchungen müssen vorrangig aus dieser Sicht betrachtet werden, wie obige Ausführungen zur Rolle der Astrologie deutlich machen. In diesem Umfeld gewinnen dann auch mathematische Publikationen – nicht nur jene von al-Khwarizmi, sondern genauso jene von anderen Mathematikern – einen gänzlichen anderen Charakter und Stellenwert als den, der von der Stoicheia vorgegeben wurde. Al-Khwarizmi, dies sei nochmals betont, verzichtete auf deduktive Beweise in seinem »Kitab al mukhtaṣar« und zog es vor, Sinn und Anwendung seiner Methode anhand von Beispielen aus der Praxis darzustellen. Anders als Euklid vorgab, argumentierte er nicht deduktiv, sondern induktiv, was bedeutete, dass er von empirisch gewonnenen Erfahrungen ausging. In dieser Hinsicht bin ich keinesfalls der Einzige, der diese Vorgehensweise als »revolutionär« im Sinn von T.S. Kuhn betrachtet. 59 Es ist unvermeidbar, vorwegnehmend schon einmal auf die vergleich­ baren, auf Herstellung und Produktion ausgerichteten Entwicklungen im Europa des 18. Jahrhunderts hinzuweisen. Der Kürze wegen nenne ich nur ein paar Namen: Diderot, d’Alembert, Voltaire, Condorcet, also die Enzyklopädisten (siehe dazu: Ph. Blom, 2004). Diese Bezüge werden abschließend im Epilog weiterentwickelt.

345

denkstile Allerdings möchte ich diesen revolutionären Durch- oder Umbruch weder als ein einmaliges Ereignis gesehen wissen, noch als Geniestreich eines Einzelnen. Es handelte sich um einen markanten Bruch mit den dominanten Paradigmen aus hellenistischer Zeit, der quasi im unvermeidbaren Prozess der Akkulturation vorprogrammiert war. Berggren (1996) beschreibt die Situation in folgenden Worten: »[…] the mutakallim regarded mathematics as a deficient science because it was limited to deductive arguments and its language was restricted by the requirement that each word have but one meaning with no possibility of modification according to new relationships that might be discovered between one thing and another. Moreover, a charge the mathematician was evidently forced to admit, mathematics left many of the basic concepts unexplained. Kalam, on the other hand, tries to go beyond the mere juggling of definitions, to start with the very basics and to form new and more appropriate concepts whenever necessary and useful.« (S. 279)

Solche Schritte wurden augenscheinlich nicht von einer Person allein gesetzt. So wurden z.B. auch die idealisierten Vorstellungen von einer supralunaren Welt der Vollkommenheit und ohne Wandel bereits von Moḥammed bin Mussa zurückgewiesen. Dieser setzte eine neue, zwar nicht bewiesene, doch vernünftige Proposition durch, nämlich dass in beiden Welten die gleichen Naturgesetze Gültigkeit haben müssten60. Die alten aristotelischen Paradigmen wurden, wie gleichfalls schon im ersten Kapitel betont wurde, von jener Kultur bestimmt, die erst im vierten Jahrhundert v.Chr. mit der hilfreichen Unterstützung Alexanders des Großen und seiner Generäle zum Markenzeichen griechischer Kultur avancierte: es handelte sich um den Denkstil der Aristokraten aus Athen.

Bruch mit Athen Dieser nun offensichtlich in Bagdad einsetzende »Bruch mit Athen«, den Ch. Colmo (2005) in seinem äußerst lesenswerten Buch mit gleichlautendem Titel61 al-Farabi zuschreibt, manifestierte sich bereits wesentlich früher. Ich meine damit eben bereits beim manchmal so bezeichneten »ersten Philosophen der Araber«, al-Kindi. Doch in den Tagen al-Farabis erwies es sich als zeitgemäßer und sinnreicher, einen plakativen Schritt der Loslösung zu setzen, als dies 60 A. Koyré (1957) meint im Unterschied dazu fälschlich, dass dieser Gedanke erst im Europa eines Giordano Bruno erstmals geäußert worden wäre. 61 Das ist meine Übersetzung des englischen Titels: »Breaking with Athens«.

346

akkulturation eines denkstils zur Zeit al-Kindis der Fall gewesen wäre. Zu dessen Lebzeiten wurden ja erst die ersten bedeutenden Schritte gesetzt, um den Muslimen die Denkweise der Alten aus Athen und Alexandrien auf breiter Front zu vermitteln. Strategisch wäre es folglich nicht besonders geschickt gewesen, zugleich auch deren Nachteile und Schattenseiten prominent herauszustreichen. Außerdem mussten sich die potentiellen Mängel solch neuer Denkweisen, wie etwa ihre Praxisferne, erst im Zuge einer intensiven Auseinandersetzung mit diesem überlieferten Denkstil erweisen. Al-Kindi war zweifellos ein äußerst kompetenter und belesener Propagent dieser Überlieferungen. Trotzdem konnten seine frühen, kritischen Anmerkungen zu diesen Überlieferungen nicht allein aus jener kurzen Erfahrung stammen, die er oder andere beim Studium dieser Schriften gemacht hatten. Seine Kritik wurde auch nicht vorrangig von den inneren Widersprüchen griechischer Texte genährt, sondern von Differenzen, die einerseits zwischen dem pragmatischen Geist einer alteingesessenen Kultur im Reich der Abbasiden herrschten und andererseits jenen, Praxis und Empirie ablehnenden Grundhaltungen der athenischen Aristokratie62, die in der Akademie und im Lyceum ihre Weihen erhalten hatten. Wir erinnern uns daran, dass al-Kindi selbst bei den überlieferten Berichten über Brennspiegel den Mangel an konkreten Realisierungsschritten bemängelte und deshalb bemüht war, dem Manko experimentell Abhilfe zu schaffen63. Analoge Schritte setzte er in anderen Bereichen der Optik und der Pharmakologie. Einmal mehr möchte ich auch daran erinnern, dass die »museale« Basiseinstellung keineswegs Ausdruck einer allgemein verbindlichen griechischen Kultur gewesen wäre. Ich wiederhole, zum Zweck einer leichteren Synopsis, was im ersten Kapitel dieses Bandes schon ausführlich dargestellt und belegt wurde: die griechischen Städte von Magna Graecia pflegten andere Orientierungen. Diese anderen, süditalienischen Orientierungen stimmten im Großen und Ganzen mit dem empirisch orientierten, induktiv vorgehenden Denken der Nachfolger des Xenophanes überein, der nach seiner Emigration aus Jonien in Sizilien lebte. Seine geistigen Erben, die es später nach Athen gezogen hatte, wurden seinetwegen »Sophisten«64 bezeichnet und von ihren 62 Eine analoge Situation herrschte auch zwischen den französischen Enzyklopädisten und der von römischer Kirche und Aristokratie beherrschten französischen Geisteswelt im 18. Jahrhundert vor. 63 »The optical books by Diocles, Anthemius of Tralles, and Didymus were translated into Arabic as a result of the practical interests of scholars and rulers in burning mirrors.« (D. Gutas, 1998, S. 117; m.H., M.S.). 64 Die ursprüngliche Bedeutung von »Sophist« war daher »Lehrer einer praktischen Lebenskunst«. »Sophia« wurde als Begriff von Xenophanes geprägt.

347

denkstile Kontrahenten, den »Philosophen« aus den aristokratischen Schulen, erfolgreich bekämpft und diskreditiert. Der »Ur-Grund« für diese lang andauernde Auseinandersetzung dürfte bereits von Xenophanes selbst geschaffen worden sein. Dieser war als beißender Spötter und Götterleugner bekannt. Unter anderem machte er sich nicht nur über den unhinterfragten Götterglauben seiner Zeitgenossen lustig, sondern darüber hinaus zusätzlich auch über die kriegerischen Wertmuster der Aristokratie. Deren andauernde Verherrlichung von heroischem Kampf, Sieg, Helden- und Athletentum, wie sie im aristokratischen Wertekanon der »arete« () gepflegt und weitergegeben wurde, erschien ihm lächerlich. Folglich propagierte er ein gänzlich anderes Wertemuster, das er mit dem Begriff »Sophia« belegte. Des Wortes Bedeutung ist weniger »Weisheit«, wie meistens insinuiert wird, sondern »Klugheit, Schläue, Wissen, Erfahrung«. Mit seiner Kritik am Wertekanon wurde allerdings die Aristokratie in ihrem tiefsten Innern getroffen und ihre Existenzberechtigung bereits lange vor der Seeschlacht bei Salamis65 in Frage gestellt. Zwangsläufig wurde sie dadurch auch herausgefordert, ihre Grundeinstellungen mit Nachdruck zu verteidigen. Das geschah zunächst vorrangig durch gezielte Wiederbelebung alter Mythen im Theater66. Doch Platon, Sprössling einer königlichen Familie, verabsolutierte diese Verteidigungsposition in seinem, von ihm nachdrücklich vertretenen Programm eines letztgültigen »Telos«67, inkarniert im Leitbild eines philosophierenden68 »Aristeus« ( Fürst, König). Diese Auseinandersetzungen habe ich im ersten Band ausführlich nachgezeichnet. Ich erspare mir daher weitere Details. Quintessenz dieser Ausführung soll ja die Illustration dessen sein, dass es sich dabei um einen veritablen Kulturkonflikt handelte, der auch die Ausrichtung der Wissenschaften durchgängig prägte. Arabern und Persern waren die archaisch-homerischen Werthaltungen nicht weniger fremd als den griechischen Demokraten vom Schlag eines Ephialtes, Perikles69, Archytas oder Anaxagoras. Ähnlich wie bei diesen bildeten auch bei ihnen Handel und Handwerkskunst ihre signifikante Lebensbasis. Und folglich waren auch ihre Interessen 65 Die siegreiche Seeschlacht war für die Aristokratie eher eine Niederlage. Dadurch wurde nämlich ihre militärische Bedeutungslosigkeit als Landstreitmacht gegenüber den handwerklichen Schiffern offensichtlich. 66 Siehe dazu meine Ausführungen in Kapitel VII des ersten Bandes (M. Schmutzer, 2011). 67 »Telos« bedeutet wie bereits erwähnt u.a. auch »Vollendung«. 68 Zur klaren Unterscheidung bezeichneten sich die Gegner der »Sophia« als »Freunde der Weisheit«, was griechisch »Philo-soph« heißt. 69 Perikles stammte allerdings – so wie Solon – selbst aus einer alten aristokratischen Familie in Athen. Fremd war ihm folglich diese Welt nicht.

348

akkulturation eines denkstils anders orientiert. Das fand seinen nachvollziehbaren Niederschlag im Umgang und in der Produktion von Wissen, was an sich das zugrundeliegende Anliegen wissenschaftlicher Tätigkeiten ist. Ein Beispiel, um den Unterschied zwischen diesen konkurrierenden Zugängen zu illustrieren, liefert wieder ein Vergleich. Al-Khwarizmis Algebra sollte man einerseits analog zu Archytas’ Bevorzugung einer praktischen »Logistik« sehen, andererseits sollten beide in Abhebung zur dominanten, akademischen Geometrie betrachtet werden70. Die Auseinandersetzung zwischen den beiden griechischen Politikern Archytas und Platon71 wurde oben bereits geschildert. Sie gipfelte schließlich in der Feststellung von Archytas, dass die Zahlenkunde (Arithmetik) der Geometrie überlegen sei, und zwar deshalb, weil sie mehr praktischen Nutzen in der Politik wie auch im alltäglichen Handeln der Bürger brächte – ein Argument, das Platon wenig beeindruckt haben dürfte. Der tiefgreifende Unterschied zwischen der athenischen Aristokratie und gleich zwei72 Handwerker-/Handelskulturen unterschiedlicher Völker und Religionen ist bemerkenswert. Dass sich nach der Miḥna die teilweise »Ent-Hellenisierung« der Traditionen bei den Arabern weiter verstärkte, kann daher nicht wirklich überraschen. Tatsächlich handelte es sich nämlich um eine – wenn man dies so benennen will – »Ent-Aristokratisierung«. Der Druck von außen, der vonseiten der muslimischen, nicht-adeligen Bevölkerung kam, gewann nun an Bedeutung. Das zeigt sich ausnehmend deutlich an den Arbeiten von al-Farabi, der aus einer wenig wohlhabenden Familie stammte, wie Ibn Khaldun (2011) behauptet. Al-Farabi machte den Unterschied zur »fremden« Wissenschaft klar und deutlich und praktizierte mit Nachdruck eine wohlkalkulierte Kompromissbereitschaft. Denn für ihn war es jedenfalls ratsam, Übereinstimmungen mit Vorgaben aus der eigenen Kultur- und Religionsgeschichte zu betonen und, innerem oder äußeren Antrieb folgend, deren praxisbezogener Orientierung anschaulich und greifbar Rechnung zu tragen. Diese andere Orientierung ergab sich aus den Lebensumständen der Völker, aus deren Kultur er selbst stammte. Dort waren Handelsvölker und Handwerker tonangebend und nicht – wie nach Chaironea in Athen – eine an Bedeutung wieder zunehmende Aristokratie.

70 Ich verweise einmal mehr auf Kapitel I in diesem Band. 71 Wie gleichfalls bereits in Band I gezeigt, war Platon Politiker, im Gegensatz zu der Mehrzahl der Sophisten in Athen, obwohl er sich weigerte, öffentliche Ämter zu bekleiden. 72 Gemeint sind das vorrömische Süditalien und die Araber.

349

350

Teil III Der Zeiten Wind

»Die Wahrheit der Aussage und die Kompetenz des Aussagenden sind also der Billigung durch die Gemeinschaft der an Kompetenz Gleichen unterworfen. Man muss also Gleiche ausbilden. Die Didaktik sichert die Reproduktion.« (m.H., M.S.; J.F. Lyotard, 1979, S. 78/79).

351

352

kapitel viii

Gegen den Wind Zur Politik von al-Manṣur gehörte, die Herrschaft der Abbasiden dadurch zu legitimieren, dass er sich einerseits den rationalistischen Interpretationen der Muʿtazila anschloss, andererseits aber auch die Unterstützung der persischen Aristokratie suchte. Er betraute deshalb nicht nur bedeutende Familien mit wichtigen Regierungsämtern, sondern bediente sich auch ihrer traditionellen astrologischen Argumente. Das veranlasste ihn, beide Wissenschaftstraditionen – die persische und die hellenistische – zu fördern. Daraus ergab sich ein stimulierendes Gemisch, wobei allerdings die alten Disziplinen der Griechen tonangebend blieben. Denn Aristoteles, Euklid, Ptolemäus und Galen hinterließen ein derartig reiches intellektuelles Erbe, wie es in dieser geballten Form nicht einmal in den umfangreichen Bibliotheken persischer Herrscher zu finden war. Diese politische Vorgabe leitete auch die Nachfolger al-Manṣurs und führte schließlich, wie bereits ausführlich geschildert, zur Gründung des Bayt al-Ḥikmah in Bagdad, das in Hinblick auf seine Bedeutung mit dem Museon in Alexandrien verglichen werden kann. Ich betone aber nochmals, dass nicht nur das intellektuelle Milieu, das damit geschaffen wurde, oder die Existenz einiger bekannter Wissenschafter Scholaren aus dem gesamten Imperium dorthin zog, und auch nicht die alleinige Tatsache, dass sich dort wie da hunderttausende Bücher in der Bibliothek fanden, sondern dass diese Entwicklung politischen Legitimationskalkülen folgte. Die ungeheure Förderung, die die Wissenschaften in Alexandrien wie in Bagdad seitens der Herrscher und ihrer Gefolgsleute erhielten, gab zwar den Ausschlag für eine derartig rapide Entwicklung, erfolgte aber, wie bereits in den vorigen Kapiteln gezeigt wurde, überwiegend aus eigennützigen Motiven und politischen Interessen. Ich vertrete somit auch hier, so wie im ersten Band, die Position, dass eben einsame Genialität einzelner Individuen nicht ausreicht, um Wissenschaft zu generieren. Wissenschaften verschwinden auch wieder samt ihrem Wissen, wenn ihnen nicht ein adäquates Umfeld geboten wird. Dies wurde im Kontext der auslaufenden Antike bereits geschildert. Ein derartiges Absterben des Interesses kann nicht damit erklärt werden, dass plötzlich keine »Genies« geboren würden. Wenn wir annehmen wollen, dass die Verteilung von Intelligenz in jeder Bevölkerung normalverteilt ist, dann müssten die hervorragenden Wissenschafter historisch etwa in gleicher Dichte zu finden sein. Das ist aber nicht der 353

gegen den wind Fall, woraus sich eben ergibt, dass es das jeweilige soziale, kulturelle und vor allem politische Milieu ist, das Wissenschafter hervorbringt. Dieses Milieu wird jedoch über Machtverhältnisse geprägt. Und wenn dem so ist, so werden auch die Problemstellungen, mit denen sich Wissenschafter auseinandersetzen, davon mitbestimmt. Das vorherrschende Interesse der Muslime an Philosophie, an Astronomie, Mathematik und Medizin wurde durch die Herrschaftsinteressen der Kalifen bestimmt. Und von dem Augenblick an, wo Herrschaft im Sinne der Aschʿariten oder später im Sinne al-Ghazalis durch göttliche Fügung legitimiert werden konnte, begann auch das Interesse an Wissenschaft zu schwinden. Sie zog sich zunächst, wie in Alexandrien auch, in den Privatbereich zurück oder wurde manchmal am Hof der Kalifen, Emire und Sultane zu einem abwechslungsreichen Freizeitvergnügen – ein Prozess, der später analog an den europäischen Renaissancehöfen wiederzufinden ist1. Allerdings ist der Unterhaltungswert von Mathematik oder Philosophie beschränkt und nur jenen zugänglich, die bereits eine adäquate Ausbildung genossen haben. Es überrascht somit nicht weiter, dass bedeutende und eigenständige wissenschaftliche Leistungen nach Aufhebung der Miḥna nicht länger in Bagdad, sondern vorrangig in Gegenden zustande kamen, wo ein eigenständiges Herrschaftsgebiet und -interesse entwickelt wurde, eben im Osten des Reichs, im Khorasan und Iran, oder in Ägypten, der Türkei und in Spanien, d.h. im al-Andalus. Umgekehrt wurde Bagdad zunehmend zu einem Hort klerikaler Tradition. Diese Tendenz kulminierte schließlich in der Stiftung einer Madrasa, deren Orientierung ausschließlich ascharitisch und schafiitisch war. Benannt wurde die Madrasa nach ihrem Stifter Niẓam alMulk (1018–1092 n. Chr.), dem Wesir der nun bereits seldschukischen Machthaber. Zur selben Zeit wurden auch ḥanafitische Madrasas errichtet, wobei jene am Grab Abu Ḥanifas allein wegen des Ortes besondere Bedeutung erlangte. Bildung unterliegt eben auch den Kräften des Zeitenwinds. Wissenschaft und ihre Vertreter zogen sich zunehmend aus dem anfänglichen Zentrum der Macht zurück und verstreuten sich in den Weiten des Imperiums, aus denen sie gekommen waren. Schließlich war die Konzentration derartig verdünnt, dass sie nicht länger als »kritische Masse« wirksam werden konnte. Diese Entwicklung findet wiederum ihre historische Parallele in Athen, wo durch einen vergleichbaren Ausdünnungsprozess die empirisch-sophistische Richtung der Bildung und Wissenschaft eliminiert wurde. Im Folgenden werden einige herausragende Wissenschafter dieser intellektuellen Diaspora und ihre Leistungen vorgestellt. Zu sehen ist, wie sie unter dem Regiment des Zeitenwinds genötigt wurden, ähnlich 1 Siehe dazu: G. Böhme (1985).

354

ibn zakariya ar-razi wie Segelboote gegen den Wind hin und her zu kreuzen. Sie hatten zwar ein Ziel vor Augen, aber der Kurs war nicht länger geradlinig und offensichtlich. Meine Auswahl – und um eine solche muss es sich handeln – bestimmt sich aus der Novität ihrer Arbeiten und einem Bestreben, über die Lehren der antiken Meister – ihrer Lehrer und Vorbilder – hinauszuwachsen. Nolens volens kehren wir damit zu jenen Fragestellungen zurück, die uns bereits im Zusammenhang mit den Entwicklungen im griechischen Zeitalter beschäftigt haben: nämlich zu der Frage nach den Paradigmen, die die Auswahl und Pflege bestimmter Interessensgebiete definierten, und – nicht davon zu trennen – auch zur Frage nach den Beweisverfahren, die erst die Akzeptanz wissenschaftlicher Erklärungen und Theorien begründen.

Ibn Zakariya ar-Razi Ibn Zakariya ar-Razi (854–925 n.Chr.) gehörte bereits der Generation an, die die Miḥna nicht mehr selbst erlebt hatte. Ar-Razi erwarb sich als Arzt einen hervorragenden Ruf, der über die Zeiten auch durch seine zahlreichen Publikationen erhalten blieb. In Rayy, seiner Geburtsstadt, die in der Nähe des heutigen Teheran lag, wurde er aufgrund seiner Kenntnisse von Manṣur ibn Isḥaq, dem damaligen Statthalter und zweiten Emir der sich etablierenden Dynastie der Samanier, zum Leiter eines Krankenhauses ernannt. Er schuf sich dort eine so herausragende Reputation, dass er später nach Bagdad berufen wurde und dort ebenfalls mehrere Krankenhäuser leitete. In diesem Kontext sollte nochmals daran erinnert werden, dass seit der Entstehung des Islam eine Tradition bestand, karitative Leistungen zu erbringen. Solche Spenden umfassten nicht nur Almosen, sondern auch ganze Spitäler, Schulen und Gebetshäuser. Die Mäzene schufen sich dadurch Ansehen, und im Fall von Herrschern erhöhten sie damit ihre Legitimität. Solche Handlungen konnten auch nicht der Kritik der Kleriker anheimfallen, egal wie sie inhaltlich orientiert waren. Die weitere Entwicklung der Medizin, auch jener, die von den Griechen übernommen wurde, wurde daher durch den sich ausbreitenden Konservativismus kaum beeinträchtigt. Trotzdem mag es unter Umständen der Reputation eines Arztes zuträglich gewesen sein, Mängel und Schwächen der »fremden« galenischen Medizin aufzuzeigen und deren Diagnosen und Therapien zu verbessern2. Ar-Razi vereinigte in seinen Publikationen einerseits die 2 »The mutakallim’s criticism of the scientists was not over the scientist’s use of such Greek texts but their canonization of them. Thus al-Jahiz criticizes

355

gegen den wind Traditionen der Hippokratiker und Galens, aber zugleich setzte er insoferne neue Maßstäbe, als er sich nachdrücklich immer wieder auch auf seine empirische Erfahrung und auf seine praktischen Erfolge berief. Nach dem Tod des Kalifen al-Muktafi (907 n. Chr.) kehrte der Mann aus Rayy von Bagdad in seine Heimatstadt zurück und widmet sich dort der Lehre, was ihm den Titel eines »Scheik« eintrug. Er hatte die Reputation eines selbstlosen Heilers, der für seine ärztliche Hilfe weder eine Bezahlung verlangte noch sonstige Remunerationen annahm. Diesem Geist entsprach es, im Sinn eines hippokratischen Eides zu fordern, dass Ärzte unter Eid keine tödlichen Substanzen verordnen oder andere Handlungen setzen dürfen, die den Tod eines ihnen Anvertrauten bewirken können. Ar-Razi befolgte nicht nur selbst diese Vorgaben, sondern forderte sie nachdrücklich von seinen Studenten und Kollegen ein. Fachlich bekannt ist er u.a. noch heute dafür, dass er als Erster eine klinisch gestützte Beschreibung von Pocken und Masern lieferte, die erst erlaubte, die beiden Infektionen zu unterscheiden und angemessen zu behandeln. Erwähnenswert scheint in diesem Kontext auch, dass er auf die schwere Ansteckungsgefahr in den Anfangsstadien der Erkrankungen hinwies und deshalb eine vorübergehende Isolation der Erkrankten empfahl, um so das Ausbrechen von Epidemien zu vermeiden. Seine Fachgebiete in der Medizin waren insbesondere Augenheilkunde und Pädiatrie, weshalb er oft als Begründer der Kinderheilkunde bezeichnet wird. Wie andere seiner Zeitgenossen war auch er ein weitläufig gebildeter »Polymath« – heute würde man ihn wohl als »Allround-Wissenschafter« bezeichnen –, der darauf bestand, dass auch »fremdes Wissen« studiert werden sollte, um das vorhandene Wissen zu erweitern. Dabei betonte er aber, dass dieses Wissen nie kritiklos übernommen werden dürfe, sondern überprüft werden müsse, um womöglich die überlieferten Erkenntnisse auch noch zu verbessern. Man kann daran klar erkennen, dass die Idee eines Erkenntnisfortschritts keineswegs erst in der europäischen Renaissance entstanden ist 3, sondern schon wesentlich früher anderswo vertreten wurde.

physicians for being overtly reliant on ancient authority and too little used to employing their own observations.« (J.L. Berggren, 1996, S. 279). 3 Nicht wenige ethnozentrisch orientierte Wissenschafter meinen ja, dass Wissenschaft erst in der europäischen Renaissance entstanden sei, und behaupten, dass ein markantes Kriterium, das den wesentlichen Unterschied zu früheren Versuchen und Bemühungen in diese Richtung ausmacht, eben der Gedanke eines Erkenntnisfortschritts durch Wissensakkumulation sei (siehe dazu: R. Rashed, 1984, Appendix I).

356

ibn zakariya ar-razi

Experimentelle Medizin Aus unserer Sicht ist ar-Razi deshalb von Interesse, weil er als einer der ersten Vertreter einer experimentellen Medizin bezeichnet wird und außerdem, weil er sich in seiner neunbändigen Enzyklopädie mit dem Titel »al-Ḥawi« (lateinisch »Continens Liber«) in konstruktiv kritischer Weise mit Galen, Aristoteles und Plato auseinandersetzte. Besonders in solchen kritischen Auseinandersetzungen beruft er sich stets auf seine eigenen Erfahrungen in den Kliniken und zeigt z.B., dass sich Galen in vielen Fällen auf nur einige wenige Fälle beruft und folglich zu übereilten und inkorrekten Diagnosen kommt. Erwähnenswert erscheint, dass sich eines seiner Bücher mit »Spiritueller Physik« auseinandersetzt. Darin befasste er sich bereits mit Krankheitsformen, die heute als »psychosomatische« Erkrankungen bezeichnet werden. Ein Beispiel dafür, das für eine muslimische Gesellschaft überraschend scheint, wären in diesem Kontext seine Untersuchungen zur Trunksucht. Charakteristisch scheint auch, dass ar-Razi ein Handbuch verfasste, das für die Allgemeinheit gedacht war und allen jenen Hilfe anbot, die aus Gründen wie Armut, Reisen oder sonstigen Umständen keine ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen konnten. In mehr als dreißig Kapiteln beschreibt er in diesem Werk Diäten und Medikamente, die jedermann problemlos mit Mitteln, die am Markt, in Küchen oder Feldlagern zu erhalten seien, selbst herstellen könne. Kritisch beurteilte er Galens dominant theoretische Orientierung, die u.a. aus einer restlosen Übernahme der Vier-Säfte-Lehre4 bestand. Da dieselbe Theorie auch in etwas veränderter Form als Vier-Elemente-Lehre5 bei Aristoteles eine wesentliche Rolle spielte, wurde damit nicht nur Galens, sondern gleichzeitig auch Aristoteles’ Weltentwurf hinterfragt. Aus dieser geistigen Offenheit ergab sich ein gesteigertes Interesse an Alchemie. Auf diesem Gebiet erwarb sich ar-Razi ebenfalls einen weithin bekannten Namen. Dieser überdauerte die Zeiten u.a. dadurch, dass zahlreiche vom ihm entwickelte Instrumente, zu denen z.B. Retorten oder Destillationsapparate gehören, auch noch heute in Labors Verwendung finden. Man schreibt ihm außerdem die Erfindung der Alkoholdestillation aus Wein zu – ein Mittel, das zu Desinfektionszwecken verwendet wurde und zur Entwicklung von Narkosemitteln bei chirurgischen Eingriffen führte. Auch Kerosin (arabisch »naft«), also hochgradig reines Benzin, kannte er bereits und setzte es vermutlich für ähnliche Zwecke ein.

4 Siehe dazu Kapitel I, dieser Band. 5 Diese Theorie wird allerdings auf Empedokles von Akragas zurückgeführt.

357

gegen den wind Er wandte seine Kenntnisse aus der Alchemie u.a. gezielt zur Erzeugung und Entwicklung neuer Heilmittel an, z.B. entwickelte er quecksilberhaltige Salben. Manche seiner Zeitgenossen vermuteten, dass er Gold herstellen könne, doch solche Vermutungen wies er kategorisch zurück. Allerdings kannte er Verfahren, die es erlaubten, Silber so zu behandeln, dass es Gold gleichsah. Heute rümpft mancher schon die Nase, wenn nur das Wort »Alchemie« verwendet wird. Doch es waren gerade Erfahrungen, die er im Kontext solcher Experimente sammelte, die ar-Razi veranlassten, die seit Empedokles und Hippokrates vorherrschende und auch von Galen vertretene Vier-Säfte-Theorie zu bezweifeln. An Stelle solcher, auch von Aristoteles propagierten Grundeigenschaften wie »warm – kalt« und »trocken – feucht« bringt er andere Merkmale ein, wie etwa Öligkeit, Entflammbarkeit oder Salzhaltigkeit, die sich aus seinen alchemistischen Erfahrungen herleiten ließen. Seine diesbezüglichen Kenntnisse publizierte er ebenso wie die medizinischen. Zwei Bücher scheinen erwähnenswert: das erste trägt den Titel »Al-Asrar« (»Die Geheimnisse«), das zweite den noch viel mehr versprechenden Titel »Sirr al-Asrar«, was mit »Das Geheimnis der Geheimnisse« zu übersetzen wäre. In diesen Schriften berichtet er über Verfahren im Umgang mit Mineralien und führt ein Klassifikationssystem für Mineralien ein. Dabei unterscheidet er bereits zwischen Salzen, Vitriolen, Boraten, sieben Metallen, aber auch »geistähnlichen Substanzen«, wie etwa Quecksilber, Ammoniak, Schwefel und Sulfaten. In »Rezepten« gibt er exakte Anweisungen zur Herstellung von Schwefelsäure und Salzsäure genauso wie von Kohlen- und Salpetersäure, Natronlauge, Soda, Seifen, Alaun oder Pottasche. Auch organische Säuren wie Essigsäure waren ihm nicht unbekannt. Mit einer derartigen Fülle von neuen Konzepten und kritischen Ansätzen machte er sich aber wenig Freunde, dafür viele Feinde. Darin unterscheidet sich die damalige Zeit von der heutigen offensichtlich nicht. Es finden sich daher zahlreiche Schriften, die sich in kritischer Weise von ihm distanzieren. Allerdings handelt es sich dabei häufig um Kritik an seinen philosophischen Konzepten, die sich weitgehend von den damals dominanten Vorstellungen aus Platons und Aristoteles Schatztruhen emanzipiert hatten. Solche Aspekte erscheinen für unsere augenblicklichen Interessen nachrangig. Daher erwähne ich nur, dass er sich u.a. dadurch von den griechischen Lehrmeistern unterschied, dass er einer Atomtheorie anhing, die von Demokrit beeinflusst sein könnte. Als Konsequenz daraus war er auch von der möglichen Existenz eines Vakuums überzeugt. Aus derartigen Annahmen ergaben sich Vorstellungen über Raum und Zeit, die gleichfalls nicht mit jenen der meisten Muslime in Übereinstimmung standen. 358

ibn zakariya ar-razi Spätere Gelehrte im Islam meinen, dass ar-Razi zumindest zwei häretische Bücher zur Theologie verfasst hätte (»Machariq al anbiya« und »Aʿlam al-Nubuwah«), die verloren sind. Das eine befasste sich vorrangig mit »Prophezeiungen« und das zweite mit den »Methoden falscher Propheten«. Das erste, so behauptet al-Biruni6, sei gezielt gegen jede Art von Religion gerichtet gewesen, das andere bestreitet angeblich die Notwendigkeit von Propheten und Offenbarungen. Wenn diese Beurteilungen korrekt sind, so kann es nicht überraschen, dass er sich zwangsläufig die Feindschaft der traditionellen Rechtsgelehrten zugezogen haben muss. Denn ohne notwendige Existenz eines Propheten als Vermittler wäre auch der Koran nur eines jener als »irreführend« bezeichneten Verfahren falscher Propheten. Seine Frage, weshalb sich Gott überhaupt eines oder mehrerer Propheten bedienen müsse, wenn er doch allmächtig sei, wäre berechtigt. Auffallend ist allerdings, dass er die Notwendigkeit von Propheten aus anderen Überlegungen hinterfragte. Er meinte, dass die Benutzung solcher Gesandter Ungleichheit zwischen Menschen schaffe, die bei einem gerechten und gütigen Gott gleichfalls schwer zu begreifen sei. Daraus ergibt sich unsererseits eine Einschätzung seiner Person, die ihn als jemand begreifen lässt, der ähnliche Positionen vertrat, wie sie bereits bei Archytas von Tarent zu finden sind. Es ist demnach naheliegend, dass er u.a. von al-Biruni des Manichäismus bezichtigt wurde: eine Beurteilung allerdings, die ihm nicht länger schaden konnte, weil er zu jener Zeit bereits die schmale Brücke ins Jenseits überschritten haben muss. Welche Zwecke hingegen al-Biruni mit seiner Taxierung verfolgte, wäre interessant zu wissen. In seiner Anklageschrift kritisiert nämlich al-Biruni den Arzt aus Rayy nicht nur wegen seines angeblichen Manichäertums, sondern auch dafür, dass er sich aktiv einer Mathematisierung der Physik widersetzt haben soll und allgemein zur Mathematik eine oppositionelle Meinung vertrat. Mit dieser Kritik könnte man den tieferen Gründen der Ablehnung näher kommen, denn hierin stimmte er u.a. mit den Kalam-Gelehrten überein, wie ich auch schon weiter vorne gezeigt habe. Doch diese Vermutung bleibt Spekulation. Fakt bleibt hingegen das, was G. Sarton zusammenfassend so ausdrückt: »Rhazes was the greatest physician of Islam and the Medieval Ages.« (G. Sarton, 1927–1948, Vol. I, S.609). 6 Al-Biruni war ein Universalgelehrter aus Khorasan. Er lebte von 973 bis 1048 n.Chr. Besondere Berühmtheit erlangte er mit seinen historischen und geografischen Arbeiten über Indien. Das bedeutet aber nicht, dass seine Arbeiten zur Astrologie, Pharmazie, Mathematik etc. nicht nennenswert wären.

359

gegen den wind

Abu Naṣr Moḥammad ibn Moḥammed al-Farabi Allein die Tatsache, dass die Lebensdaten von Abu Naṣr Moḥammed ibn Moḥammed al-Farabi – ca. 872 bis 950 n.Chr. – nicht genau zu bestimmen sind, verrät, dass dieser Jünger der Wissenschaft nicht denselben Status hatte und hat wie ein Euklid und Aristoteles oder Averroes und Avicenna. Dieser Umstand ist nicht darin begründet, dass seine innovativen Leistungen geringer zu schätzen wären, sondern vermutlich im Gegenteil darin, dass sie so ungewöhnlich waren, dass sie deshalb von vielen seiner Zeitgenossen übergangen wurden bzw. ihn der »Denkhegemon« mit Missachtung strafte. Er gehörte offenbar ja auch keiner Schule an, denn das Bayt al Ḥikmah in Bagdad konnte diese Rolle nicht länger spielen. Trotzdem basieren viele der grundlegenden Arbeiten des späteren großen Lehrmeisters islamischer Wissenschafter und Philosophen, Averroes, auf der intellektueller Hinterlassenschaft al-Farabis7. Die große Bedeutung, die al-Farabi zukommt, zeigt sich in einem ihm von einem berühmten jüdischen Philosophen, Maimonides, posthum zugeeigneten Titel, der ihn als »den zweiten Lehrmeister« auszeichnet. Dies besagt, dass er Aristoteles gleichgestellt wurde. Al-Farabis Herkunft ist nicht klar. Manche meinen, er käme aus der Stadt Faryab im heutigen Afghanistan, andere vermuten, dass er aus Kasachstan stammte. Seine Muttersprache war nicht Arabisch, sondern vermutlich »Sogdian«, eine Sprache, die den Altai-Sprachen zugezählt wird. Wie es scheint, entstammte al-Farabi einer Familie, die militärischen Geschäften nachging8. Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass sie türkischstämmig waren, wie ein muslimischer Historiker des 13. Jahrhunderts behauptet. Dieser Konnex würde verständlich machen, warum er irgendwann nach Bagdad kam, wo türkische Soldatensklaven (Mameluken) nicht nur gehandelt, sondern von »Condottieri« ausgebildet und als Truppen an den Kalifen verkauft wurden. Al-Farabi war ein jüngerer Zeitgenosse von al-Aschʿari. Das bedeutet, dass er in der Phase des Wiedererstarkens der traditionellen Rechtsgelehrten und der nun in religiösen Kreisen gängigen Zurückweisung antiker, fremder Wissenschaften aufwuchs. 7 Anzumerken wäre hier, dass auch Averroes um die Rehabilitierung der antiken Philosophie gegenüber dem Islam bemüht war. Das lässt sich aus den bereits erwähnten Auseinandersetzungen zwischen ihm und al-Ghazali leicht ersehen. 8 Ibn Khaldun, selbst Sprössling einer sehr begüterten Familie, bezeichnete al-Farabi als jemand, der zu den »armen Leute« gehörte, und meint, dass er sich auch deshalb für Alchemie interessiert hätte, um schnell reich zu werden (Ibn Khaldun, 2011, S. 481).

360

abu nasr muḤammad ibn muḤammad al-farabi Al-Farabi studierte zunächst, und das ist bereits aussagekräftig, in Bagdad bei einem nestorianischen Lehrer, Yuhannan ben Haylan, was unter den vorherrschenden Umständen verstehen lässt, weshalb er trotz herrschender Aversionen die Isagoge des Porphyrius, die Topik des Aristoteles und auch Platons Schriften, besonders die »Politeia«, studierte. In den Jahren zwischen 905 bis ca. 910 n.Chr. verließ er irgendwann Bagdad und hielt sich – nach Ch. E. Butterworth (2001), einem der einschlägigen Übersetzer von dessen Schriften – angeblich im byzantinischen Reich auf. Dort soll er ca. acht Jahre lang gleichfalls griechische Wissenschaften und Philosophie studiert haben, wobei er möglicherweise sogar bis nach Konstantinopel gelangte. Daraus wird man wohl den Schluss zu ziehen haben, dass er entgegen anders lautender Meinungen Griechisch beherrschte. Aus einigen Anmerkungen in den noch erhaltenen Manuskripten lässt sich folgern, dass er dann bis ca. 942 n.Chr. wieder in Bagdad lebte. Siebzigjährig verließ er es aufgrund politischer Unruhen und floh angeblich in Richtung Damaskus und Aleppo, wo er auch unterrichtete. Aus ähnlichen Gründen reiste er zwei, drei Jahre später nach Ägypten, wo er gleichfalls einige Zeit verbrachte, um schließlich doch wieder nach Syrien zurückzukehren. Vom dortigen Hamadaniden-Machthaber wurde er mäzenatenhaft gefördert, bis er gegen Ende des Jahres 950 unter ungeklärten Umständen verstarb. Manche vermuten, dass er wie al-Kindi kein Griechisch sprach, was unter der Voraussetzung, dass obige biografische Angaben stimmen, mehr als unwahrscheinlich ist. Seine Veröffentlichungen zeigen zudem eine außergewöhnliche Vielseitigkeit, die ebenfalls nahelegt, dass er die griechischen Werke im Original gekannt hat. Sie umfassen alle Teildisziplinen der Philosophie, sowie Kommentare über die Werke Euklids, Ptolemäus, die Schriften Aristoteles und Platons. Er kommentierte das gesamte Organon, die Traktate zur Physik und Biologie und schließlich die Metaphysik, die Ethik und die »Politik« des Aristoteles. Platons wesentliche Schriften waren ihm ebenso geläufig, und die »Politeia« wurde zu seinem Vorbild bei der Abfassung eines seiner bedeutendsten Werke, dem »Mabadi‘ ‘ara‘ Ahl al Madina al-Faḍila« (»Die Prinzipien des Dekrets9 der Bewohner der ersten Stadt«). Wie dieser Verweis bereits verdeutlicht, wurden seine Bemühungen von einem klaren politischen Interesse geleitet, das darin bestand, politische Empfehlungen zu geben, die Bürgern einer Stadt hohes Lebensglück gewährleisten sollten. Er gab sich bei dieser Arbeit keineswegs mit der bloßen Wiedergabe der Inhalte aus der »Politeia« zufrieden, sondern schälte mit großem Sachverstand und Bemühen die Themen heraus, die die Offenbarungen 9 Ich denke, dass es legitim wäre, den Titel so zu übersetzen: »Die Verfassungsprinzipien der Bewohner der ersten Stadt«.

361

gegen den wind des Islam mit der alten heidnischen Philosophie teilen. Berechtigt kann man daher vermuten, dass der neue Gegenwind, der den Anhängern der »fremden« Wissenschaft entgegen blies, diese motivierte und nötigte, sich in neuer Weise mit der Überlieferung der Antike auseinanderzusetzen. Fakt ist jedenfalls, dass al-Farabi darum bemüht war, die Philosophie der Hellenen mit den Vorgaben des Islam zu vereinen.

Politik und Philosophie Ein erster und bedeutender Schritt in diese Richtung war zu zeigen, dass sich die beiden großen Repräsentanten der Antike, Platon und Aristoteles, trotz zahlreicher Unterschiede in vielen Fragen und Details nicht nur ähnlich sind, sondern in Übereinstimmung befinden. Diesen Nachweis zu erbringen, war damals unvermeidbar. Denn die Kritiker der »fremden« Wissenschaften versuchten aus den diversen Widersprüchen und Unstimmigkeiten zwischen den griechischen Philosophen den Nachweis abzuleiten, dass die gesamte griechische Wissenschaft nichts als »Gewäsch« sei. Die überragende Gemeinsamkeit zwischen beiden griechischen Leitfiguren ortete al-Farabi darin, dass beide dieselbe Auffassung von Philosophie und von deren vorrangiger Aufgabe vertraten. Das erforderte zunächst festzustellen, dass die Tätigkeit von Philosophen zweckfrei, also eine müßige Beschäftigung oder eben eine Tätigkeit von Müßiggängern sein sollte. Diese absolut freie Beschäftigung, die nicht um des Lebensunterhalts oder anderer Gründe wegen erfolgt, genoss bei Platonikern und Aristotelikern einen nahezu göttlichen Status. Ihr dominantes Bestreben bestand überwiegend darin, das Wesen der Erscheinungen zu erkennen. Dieses Erkennen wuchs seinerseits aus einer philosophischen Betrachtungsweise, die eines nicht durfte: eingreifen. Andere, nicht geringfügige Unterschiede zwischen dem Peripatetiker und dem Begründer der Akademie reduzierte al-Farabi in seiner Arbeit mit dem Titel »Kitab al-Dschamʿbayn ra’yay al-hakimayn ‘Aflaṭun al-’ilahi wa ‘Arisṭuṭalis«10 auf methodische Differenzen und unterschiedliche Einstellungen zum praktischen Leben, dem Platon wesentlich distanzierter gegenüberstand als sein Jünger Aristoteles. Al-Farabi ortete aber zugleich die Notwendigkeit, deren Philosophie zu überdenken, unbeschadet der Tatsache, dass die beiden Meisterphilosophen für ihn trotz allem die höchsten Autoritäten, die »Imame« der 10 Ich kenne keine deutsche Übersetzung dieses Buches, daher hier der englische Titel »The Harmonization of the Two Opinions of the Two Sages, Plato, the Divine, and Aristotle«. Deutsch würde ich allerdings »Zusammenführung« statt »Harmonisierung« vorziehen.

362

abu nasr muḤammad ibn muḤammad al-farabi Philosophie, blieben. Der Umstand allein, dass sie beide gleiche Sichtweisen vertreten, erhob sie nach dem Urteil al-Farabis sogar über die Glaubenslehren der Muslime. Diese würden ja ausschließlich nur auf die Überlieferung eines einzigen Propheten11 vertrauen. Angesichts der übermäßigen Theorielastigkeit dieser Leitfiguren erachtete es al-Farabi allerdings als notwendig, die Rolle der Philosophie neu zu bestimmen. Al-Farabi bestand darauf, Philosophie auch auf praktische Inhalte auszurichten12, und folgte somit dem schon erwähnten Trend der Zeit. Deshalb behauptete er auch, dass er, im Unterschied zu den beiden Größen aus Athen, als Einziger die Frage beantworten könne, wozu Philosophie gut sei. Diese Frage, wie auch die Antwort darauf, muss man wohl wieder in den Kontext der Zeit stellen. Weiter oben habe ich bereits auf die missionarischen Tätigkeiten der Aschʿariten und Ḥanbaliten hingewiesen. Es waren die Vertreter dieser traditionellen Glaubenslehre, die die Frage aufwarfen: wozu ist Philosophie gut? Die durch die ruhmlose Beendigung der Miḥna geschwächten Anhänger des Rationalismus, der Muʿtazila und der »fremden« Wissenschaften schlechthin konnten sich dieser Frage und ihrer Beantwortung nicht länger entziehen. Al-Farabi offerierte nun jene gesuchte Brücke, die es möglich machen sollte, die griechische Philosophie mit dem Islam zu verbinden und auszusöhnen. Um dies zu schaffen, musste er die augenscheinlichen Gegensätze zwischen den beiden mächtigsten Proponenten dieses Denkens zum Verschwinden bringen. Zusätzlich musste er zeigen, dass auch die »falsafa«(arabische Bezeichnung für »Philosophie«) für etwas nützlich sei, obwohl es ja nun jene einzige, verbindliche und richtungsweisende Offenbarung im Koran gäbe. Der dominante Geist dieser Kultur forderte eine derartig utilitaristische Begründung ein, wenn das Projekt Erfolg für die »fremden Lehren« zeitigen wollte. Darauf werde ich im nächsten Kapitel ausführlich eingehen. Wenn also al-Farabi jene Kluft – die im vorigen Band mit »cultural gap« bezeichnet wurde – zwischen den zwei Welten überbrücken wollte, dann musste er jene vorgeblich »zweckfreie« Philosophie der Athener13 so umgestalten, dass sie über den Koran hinausgehend Sinn machte. »Sinn machen« heißt aber hier, in der ursprünglichsten Bedeutung des 11 Siehe dazu: T.J. Debroer (1901), S. 111. 12 Man könnte ihn daher auch als »Begründer« einer »Praxeologie« bezeichnen, die nach unserer Meinung erst Ende des 19. bzw. Beginn des 20. Jahrhunderts von A. Espinas (1844–1922) begründet wurde. 13 »Vorgeblich« deshalb, weil, wie ich mehrmals betont habe, diese Philo­ sophie sehr wohl den politischen Interessen einer vorherrschenden Schicht diente.

363

gegen den wind Wortes, etwas »machen« und nicht nur »betrachten«. Wo können sich also diese beiden oppositionellen Auffassungen treffen?

Glückseligkeit als höchstes Gut Sowohl Aristoteles wie Platon stimmen – so behauptet al-Farabi – mit dem Koran in einer Weise konkret überein. Sie unterscheiden sich darin wesentlich von den misanthropischen Positionen des augustinischen Christentums. Dieser gemeinsame Punkt, wo sich beide finden, sei: Leben soll bereits in dieser Welt – sowohl nach den antiken Griechen als auch nach den Aussagen des Koran – »glücklich-machend« sein14. Glückseligkeit – der arabische Begriff lautet »saʿada« – sei, so meinen sie in Übereinstimung, das höchste erstrebenswerte Gut15. An dieser Stelle lässt sich eine Frage unmittelbar nachreichen. Sie lautet: wie kann das erreicht werden? Die Beantwortung dieser prag­ matischen Frage sei, nach M. Mahdi (2001), al-Farabis zentrales Anliegen. Er will zeigen, wie man diesen erstrebenswerten Zustand verwirklichen kann. Hierin trifft sich al-Farabi bereits mit modernen Denkern wie N. Machiavelli oder R. Descartes, was u.a. Ch. Colmo (2005) nachdrücklich betont16. Anfügen ließe sich dieser Beurteilung, dass gerade auch im 16. und 17. Jahrhundert eine vergleichbare Abkehr und kritische Ausein­andersetzung mit den antiken Geistesheroen, besonders 14 Als hinlänglichen Beleg dafür erwähne ich nur die »Nikomachische Ethik«. 15 »Happiness to Alfarabi is the absolute good. It is the good that is desired for its own sake where there is nothing greater to achieve. Achieving happiness is the purpose of life. Alfarabi makes happiness the reason for human existence. He expressly states that God created us to achieve happiness, the ultimate perfection. To Alfarabi, anything that helps a person achieve happiness is good and anything that obstructs a person from achieving happiness is evil. Happiness is achieved when the soul of the person reaches perfection, in which it needs no material substance to exist. One need not only comprehend and be conscious about happiness; one must also desire happiness and make it the purpose of life. If one’s desire for happiness is weak and one has a different purpose in life, the result will be evil.« (S. Elhajibrahim, 2006). 16 Eine Konsequenz aus diesem Vergleichsergebnis ist für Ch. Colmo (2005), dass man sich von der Vorstellung kontinuierlichen Fortschritts verabschieden müsse – eine Sicht, die ich voll teile. An deren Platz tritt das Konzept einer gesellschaftlichen Bedingtheit des Erkennens, gepaart mit jener, dass sich gesellschaftliche Konfigurationen oder Konstellationen wiederholen können.

364

abu nasr muḤammad ibn muḤammad al-farabi mit Aristoteles stattfand, nachdem dieser ein paar Jahrhunderte davor – im 11., 12. und 13. Jahrhundert – wiederentdeckt und nahezu vergöttlicht wurde. Wie nähert sich nun al-Farabi der Verwirklichung dieses Ziels, der Verwirklichung des Glücks, an? Als Grundvoraussetzung, diesen erstrebenswerten Zustand zu erreichen, sei anzuerkennen, dass Menschen das sind, was Aristoteles als »Zoon politicon« bezeichnet hat, »Gesellschaftstiere«. Glück und Unglück ergibt sich demnach wesentlich aus der Art und Qualität des Zusammenlebens dieser Gesellschaftstiere. Unser muslimischer Philosoph entwirft folglich ähnlich wie Platon und Aristoteles politische Systeme, die die Voraussetzung für diesen erstrebenswerten Zustand liefern sollen. Ähnlich wie Platon in der »Politeia« und Aristoteles in der »Nikomachischen Ethik« stellt er ein ideales Staatswesen vor, und setzt diesem dann weniger wünschenswerte Systeme entgegen. Sein idealer Staat sieht dem in der »Politeia« ähnlich. Dort wie da herrscht ein idealisierter, absoluter Monarch, sei er nun »Prinz«, »König«, »Prophet« oder »Imam« genannt. Dieser Herrscher zeichnet sich durch außergewöhnliche Charaktereigenschaften aus. Sie gleichen jenen des platonischen Philosophenkönigs aufs Haar. Er ist ein Mann, der kontinuierlich an seiner eigenen Perfektion und Vollendung gearbeitet hat, der die natürlichen Voraussetzungen wie physische Kraft und gutes Gedächtnis mitbringt, ein ausgezeichneter Redner ist und das Studium und die Erkenntnis von Wahrheit liebt. Er steht über allen materiellen Versuchungen und kann daher nicht korrumpiert werden. Dieser Mensch erhält absolute Macht, wobei ihm folglich alle anderen, weniger erfolgreichen Bürger in einer hierarchischen Ordnung unterworfen sind17. Denn alle Bürger dieses idealen Staates werden in Hinblick auf Macht, Pflichten und Rechte – wie bei Aristoteles – nach ihren jeweiligen Kapazitäten unterschieden. Da diese Ordnung offensichtlich stark von natürlichen Begabungen bestimmt wird, wobei das Streben nach Selbstperfektion18 auch auf einer entsprechenden Veranlagung beruht, ist der Herrscher jemand, der seinen Platz an der Spitze der Hierarchie auch durch die Natur zugewiesen erhält und keinesfalls aufgrund seines persönlichen Machtstrebens19. Analog dazu nehmen alle anderen Staatsbürger ihre jeweiligen Positionen im Staat ein. 17 Das schadet allerdings aufgrund seiner Selbstlosigkeit niemandem. 18 Dieses Streben nach »Perfektion« bzw. danach das Beste zu erreichen, ist zweifellos Teil seines griechisch-aristokratischen Erbes. 19 Für Platon ist es charakteristisch, dass Glück, Ansehen etc. nicht um ihrer selbst willen angestrebt werden dürfen, sondern sich nur als unintendierte Konsequenz aus dem Streben nach Vollendung und Perfektion ergeben sollen.

365

gegen den wind Al-Farabi weiß allerdings auch, dass dieser ideale Staat in der Realität nur einmal existierte, nämlich damals in Yathrib, als Moḥammed nicht nur Prophet sondern zugleich auch jener weise und erleuchtete Herrscher war. Unter der weisen Führung dieses Gesandten Allahs entstand damals ein Staat, der quasi beides realisierte: Eine Demokratie auf der Basis der »Ummah« unter der gleichzeitigen, selbstlosen Leitung ihres charismatischen Begründers. Diese Vorgaben lassen sich aber nicht wiederholen, daher trennen sich an dieser Stelle die Leitgedanken des Muslims von jenen seiner griechischen Lehrer. Von diesem Punkt an entwickelt er eigene Alterna­ tiven. Meinte Aristoteles in seiner Ethik explizit, dass die beste Form des Staates eine benevolente Herrschaft eines Einzelnen, also eine Monarchie sei, so propagierte Platon für seinen Wächterstaat in vergleichbarer Manier einen Philosophenkönig an der Spitze des Staates. Al-Farabi stellt hingegen genau jenen Staatstypus, den Aristoteles und Platon als schlechteste Variante20 ablehnten, nämlich eine Demokratie, als realistisches Ideal vor. Ein demokratisches Staatswesen – und es mag hier die ursprünglich mohammedanische Idee der »Ummah« Leitbild gewesen sein – sei jenes, das die Verwirklichung der größten Glückseligkeit für die meisten Bürger ermögliche. Weil für al-Farabi Demokratie das Optimum darstellte, konnte diese politische Grundidee auch jene Orientierung liefern, die staatliches wie auch individuelles Handeln bestimmen soll. Mithilfe dieses Kompasses konnte al-Farabi »Philosophie« als Gesamtheit jenes erforderlichen Wissens bestimmen, das die Bedingungen menschlicher Erkenntnis freilegt. Seine Festlegung lässt folglich Philosophie als das erscheinen, was unmittelbar im Dienst der Menschen steht und deren Fähigkeit zu richtigem Handeln schärft, um das gemeinsame Ziel allgemeinen Glücks zu erreichen. Al-Farabi weiß, dass in der Realität ein derartiger Idealzustand nie erreicht werden kann, doch als Leitbild solle er zumindest stets Orientierungshilfe in den Köpfen der Weisen und der Ratgeber bieten. Er beginnt das Buch »Kitab Taḥṣil al-Saʿada21« folglich damit, dass er vier Ziele vorgibt, die auf dieser Welt erreicht werden müssen, um Glückseligkeit zu erlangen: theoretisches Wissen, Besonnenheit22, mo20 Um Missverständnisse zu vermeiden, sei daran erinnert, dass Aristoteles in seiner Hierarchie von Staatssystemen stets zwischen idealen Ausprägungen und deren Verfallsformen unterscheidet. So ist z.B. die schlechte Variante der Monarchie eine Tyrannei. 21 The »Attainment of Happiness« 22 M.S. Mahdi (2001, S. 183) bezeichnet diese Tugend mit »prudence«.

366

abu nasr muḤammad ibn muḤammad al-farabi ralische Vollkommenheit und die Beherrschung praktischer Künste23. »Theoretisches Wissen« umfasst zwar wissenschaftliche Erkenntnis, doch geht er über die Vorstellungen seiner zwei antiken Lehrer hinaus, indem er fordert, dass mit diesem Wissen auch gearbeitet werden müsse, es also angewendet werden sollte. Rein intellektuelles Verständnis solcher Inhalte allein genüge nicht. Diesem Aspekt kommt weiter hinten noch größere Bedeutung zu. Die Hindernisse, die sich bei der Umsetzung solcher Konzepte in die Wirklichkeit auftun, ignorierte der muslimische Philosoph – anders als Platon24 – keineswegs. Er ist Pragmatiker und muss als solcher auftreten, wenn in seiner Kultur seine Positionen öffentlich anerkannt werden sollen. Um die oben genannten Ziele zu erreichen, bietet al-Farabi zwei Vorgehensweisen an. Beide sind Varianten dessen, was wir als »Bildung« bezeichnen. Die auch uns geläufige Unterscheidung betrifft einerseits die Übermittlung von Wissen durch Lehre, andererseits Charakterformung. In der Lehre werden die theoretischen »Tugenden« vermittelt, Charakterbildung aber instruiert die moralische Orientierung und die Beherrschung praktischer Künste durch Habitualisierung, d.h. Gewöhnung an bestimmte Handlungsweisen. Er unterscheidet sich von Platon, der nur seine »Wächter« erziehen wollte, dadurch, dass er eben die gesamte Population in diesen Bildungsprozess einbezieht. Allerdings stimmt er mit Aristoteles überein, der betonte, dass nicht alle Menschen gleich seien. Daraus folgt u.a. auch, dass unterschiedliche Ausprägungen von Glückseligkeit existierten und nicht alle am Weg dorthin dieselben Pfade beschreiten müssten oder beschreiten könnten. Al-Farabi vergaß über seine Vorschläge keineswegs, dass der ideale Staat des Propheten in Medina nicht einmal nach dessen Tod weiter bestand. In anderen Worten, diese Variante bleibt in unserer Welt »Utopie«. Folglich setzte er dem idealen Staat andere Formen der Gemeinschaft gegenüber, die er schon vorweg als »fehlgeleitete« Gesellschaften bezeichnet. Solche »unwissende« oder »ignorante« Gebilde erfassen – aus nicht näher genannten Gründen – nicht den Sinn menschlicher Existenz. Sie ersetzen das Ziel der Glückseligkeit durch inferiore Ziele wie Reichtum, sinnliche Befriedigung und Macht. Bemerkenswert ist, dass er auch die Demokratie, die er ja nach dem Idealstaat als beste Staatsform erachtet, diesen »ignoranten« Gesellschaften zuordnet, weil sie nicht länger über ein bestimmendes Leitprinzip verfügen würden25. Allerdings, so kommentiert dies M. Mahdi 23 Meine Übersetzung der englischen Begriffe: »theoretical virtue, deliberative virtue, moral virtue, practical arts«. 24 Erst in der späten Schrift »Nomoi« resignierte der Philosophenkönig und schlug zweitbeste Lösungen vor. 25 A »[…] second best arrangement had been considered by Alfarabi on two

367

gegen den wind (2001), gewährten diese Regierungen zumindest noch jene Freiheit, die nötig ist, um zu philosophieren. Vergleichsweise wären demnach diese Staaten noch immer jenen vorzuziehen, die der Muslim entweder als »bösartige« oder »verirrte« Gesellschaften bezeichnete. »Bösartige« Gesellschaften würden nämlich von ihren Galionsfiguren absichtlich von der Verfolgung der wahren Ziele abgebracht, »verirrte« Gesellschaften hätten sich hingegen so wie verlorene Schafe einfach verlaufen und fänden nicht länger den rechten Weg. Ein bedeutendes Hindernis auf dem Weg zur allgemeinen Glückseligkeit stelle neben Unwissenheit die Ungewissheit dar – deren Verringerung daher ein anzustrebendes Ziel sei. Gewinn an Sicherheit bedeute zugleich Zunahme an Wahrheit. Da Wahrheit Sicherheit gewähre, stelle ihre Erkenntnis und ihr Erwerb einen möglichen Weg zum Gewinn von Glückseligkeit dar. Glückseligkeit kann – wie schon angedeutet - demnach auch durch Pflege der Wissenschaften und der Philosophie erreicht werden. Denn Philosophie sei schlechthin jene Wissenschaft, die die Bedingungen menschlicher Erkenntnis und menschlichen Handelns offenlege. Philosophie schaffe nämlich erst die für erfolgreiches Handeln und Wahrheit notwendigen Voraussetzungen. Schon darin zeige sich also die versprochene Nützlichkeit der Philosophie.

Kritik am Syllogismus Um sich aber einem derartigen Ideal auch nur nähern zu können, gelte es laut al-Farabi, sich von der Brauchbarkeit gängiger Beweismethoden zu überzeugen. Eine zu seiner Zeit verbreitete Methode, die besonders gerne von den »Mutakalimun«, den dialektisch argumentierenden Theologen und Rechtsgelehrten gebraucht wurde, war der aristotelische Syllogismus. In einer seiner Schriften, die schon im Original mehrere Titel trug und daher auch in den Übersetzungen unterschiedlich zitiert 26 wird, setzt sich al-Farabi daher in origineller Weise mit den Voraussetzungen des syllogistischen Schlusses auseinander. In dieser Publikation earlier occasions. But in both cases he had concluded that it would be sufficient if the ruler in this case were a jurist-king rather than a philosopher-king – that is, a king who rules according to the law rather than a king who makes the law. Such a doctrine corresponds to the notion that the learned jurists are the true successors of the Prophet in the Islamic community or that kings should rule jointly with them.« (M. Mahdi, 2001, S.166). 26 Eine Variante wäre: »A Short Commentary on the Syllogism« bzw. »[…] on Aristotles’ Prior Analytics«. Siehe dazu: Ch.A. Colmo (2005), sowie Kapitel IV in diesem Band.

368

abu nasr muḤammad ibn muḤammad al-farabi weist er schonungslos darauf hin, dass die Wahrheit der notwendigen Prämissen, die zu einem Schluss führen sollen, meistens unüberprüft bleibt. In den meisten Fällen handle es sich bei den eingesetzten Prämissen um Herleitungen von anderen Schlussfolgerungen aus irgendwelchen, meist wieder nicht überprüften Prämissen, die wieder von anderen abgeleitet wurden. Damit lande man aber in einem unendlichen Regress. Nur in wenigen, seltenen Fällen nähmen Prämissen auf Sinneswahrnehmungen oder andere Naturvorgaben Bezug. Selbst hier ergebe sich aber die Notwendigkeit einer Überprüfung. Eine derartige Überprüfung könne aber nur aufgrund von induktiven Beweisen erfolgen. Induktive Beweise haben es allerdings an sich, immer nur unvollständig zu sein, weil sie niemals alle möglichen Fälle berücksichtigen können. Da aber viele erste Prämissen auf »All-Aussagen« beruhen (z.B. alle Bewegung erfolgt in der Zeit, Laufen ist eine Bewegung, daher erfolgt Laufen in der Zeit), müsse man bereits die Schlussfolgerung selbst, wie alle anderen auch (im Fall obigen Beispiels etwa, ob sie in der Zeit erfolge) empirisch untersucht haben. Denn nur dann sei man zu der Feststellung berechtigt, dass die Aussage für alle (was »Laufen« einschließt) Beispiele (die in der Zeit erfolgen) Geltung habe. Daraus ergibt sich, dass entweder der Schluss irrelevant oder zirkulär ist. Er beweist nichts, was nicht schon davor bewiesen werden musste, bzw. liefert ein solcher Schluss keine sichere Wahrheit, weil die Induktion unvollständig war. Es lässt sich daher in den meisten Fällen die Einsicht nicht vermeiden, dass Prämissen erst gebildet werden, nachdem man weiß, welche Schlussfolgerung angestrebt wird27. Diese Einsicht war allerdings keineswegs ganz neu, denn schon Aristoteles hat in der Topik selbst darauf hingewiesen. Syllogismen waren nämlich gerade für Aristoteles kein Mittel zur Findung letztgültiger Wahrheiten, sondern Techniken des Überzeugens28 oder, um es mit Aristoteles noch deutlicher zu sagen, um Gegner in politischen und anderen Auseinandersetzungen zu besiegen. Al-Farabi untergrub mit dieser, vermutlich nur wenig bekannten Demonstration nicht nur das Fundament der »Mutakalimun«. Er radikalisierte zugleich den schon seit geraumer Zeit einsetzenden Prozess der Loslösung von den Vorgaben der Griechen. Das konnten wir sogar ansatzweise schon bei al-Kindi konstatieren. Allerdings nur ansatzweise, 27 Damit sind wir wieder bei der schon in Band I vorgetragenen Arbeit von E. Kapp (1942). 28 Das müsste auch bei mathematischen Beweisverfahren bedacht werden. Schlüsse, besonders wenn es sich um indirekte Schlussfolgerungen handelt, weisen keine letztgültigen Wahrheiten nach, sondern schaffen sie nur.

369

gegen den wind denn al-Kindi hatte ein »Forschungsprogramm« entworfen, dessen Ziel es war, ganz allgemein Wissen zu vermehren29. Dahinter stand aber das Ideal eines unangreifbaren Beweisverfahrens, denn Wissen braucht, wie schon öfter festgestellt, ein »Akkreditierungsverfahren«. Als ein derartiges unangreifbares Beweisverfahren betrachtete al-Kindi die von Euklid in den »Elementen« propagierte Methode. Diese Grundeinstellung al-Kindis war im 9. Jahrhundert in der arabischen Welt weit verbreitet. Die »Stoichea« lieferte das dominante Argumentations- und Beweismodell in den Diskussionen innerhalb der Wissenschaften. Al-Kindi ging sogar darüber hinaus, indem er sich darum bemühte dasselbe Verfahren auch in den theologischen Disputen zur Norm zu machen. Nach der Miḥna änderte sich offensichtlich diese Orientierung allmählich. So ist es nicht wirklich erstaunlich, wenn al-Farabi in diesem Vorgang eine zwiegesichtige Ausrichtung einnimmt. Al-Farabi wollte ja genauso wie al-Kindi eine positive Aufnahme griechischer Wissenschaften erreichen. Um aber dieses Ziel anzusteuern, war es nun offenbar notwendig, eine kritische und objektiv erscheinende Position einzunehmen.

Verzahnung von Politik und Wissenschaft Al-Farabis Suche nach umfassender Sicherheit und Wahrheit stellte sich nicht allein als philosophische Übung dar, sondern, wie ich bereits andeutete, vorrangig als eine politische Aufgabe. Damit berühren wir einmal mehr jenen Punkt, der bereits angesprochen wurde: die Verzahnung von Politik und Wissenschaft. Mit dem Verweis auf derartige Zusammenhänge durchbrach al-Farabi eine weitere alte, aristotelische Barriere, die die praktischen Wissenschaften von den rein erkenntnismäßig-theoretischen trennte. Den praktischen Wissenschaften rechnete Aristoteles bekanntlich Ethik und Politik zu, wogegen er den theoretischen nicht nur die Metaphysik, sondern auch die Physik zuzählte. Diese uns heute merkwürdig erscheinende Differenzierung traf er, weil dem Stagiriten zufolge die Kenntnis der Physik keinen praktischen Nutzensüberlegungen unterworfen sein solle, wohingegen Politik Handlungsauf- und -anforderungen stelle. Auch hiermit wird einmal mehr Aristoteles’ aristokratische Grunddisposition manifest. Denn Handeln ist für ihn definitionsgemäß politisches Handeln, es ist dies die tägliche »Praxis« der Oberschicht, zu der keinesfalls die produktive Tätigkeit des Herstellens von Gütern30 zählt. Dieses Herstellen machte hingegen die tägliche Praxis der Unter29 Siehe dazu: D. Gutas (1998), S.120. 30 Siehe dazu: H. Arendt (1958).

370

abu nasr muḤammad ibn muḤammad al-farabi schicht aus, die »wissenschaftsfern« oder, wie wir heute sagen würden, »bildungsfern« agierte. Al-Farabi öffnete hingegen für seine Zeitgenossen eine Tür, Philosophie und Wissenschaften als Betätigungen zu verstehen, die die öffentliche Wohlfahrt, das heißt das Streben nach dem größten Glück für die größte Zahl, fördern könne. Zugleich unterlief er mit seiner Auffassung die überlieferten Positionen der alten Meister. Die neue Darstellung wissenschaftlicher Aufgabenverteilung sollte die, nach der Miḥna in weiten Kreisen in Misskredit geratene Rolle der Philosophie31 für ihre nach wie vor existierenden, aufgeklärten Anhänger auf eine neuen akzeptable Basis stellen. Diese Anhänger setzten sich allerdings überwiegend aus der herrschenden Schicht zusammen, die aber nicht länger so wie im alten Hellas aus einer kriegführenden Herrenschicht, sondern aus einer Mischung von höfischen Beamten, wohlhabenden Vertretern der Handelshäuser sowie einigen Großgrundbesitzern bestand.32 Darüber hinaus waren diese Gruppen im mittleren Osten ethnisch höchst heterogen: Perser, Syrer, Araber, Turkvölker, Ägypter u.a. Vereint wurden sie durch eine »Lingua Franca«, zu der Arabisch inzwischen aufgestiegen war, und durch eine gemeinsame Religion. Al-Farabis Ziel war es, den eminent praktisch-politischen Nutzen von Wissenschaft aufzuzeigen, der ähnlich wie bei Solon33 im friedvollen und glücklichen Zusammenleben aller Menschen manifest wird. Wie die historische Entwicklung allerdings zeigt, lieferten zersplitternde Staatsgebilde im islamischen Imperium keine ideale Voraussetzung für die Verwirklichung des als Ideal verstandenen »Dar as-Salam« (»Haus des Friedens«), in dem alle Zugang zur Glückseligkeit erhalten sollten. In diesem muslimischen »Haus des Friedens« waren unterschiedlichste Völker und Kulturen vereinigt. Dieses Gemisch barg in sich die permanente Gefahr neuerlicher Zersplitterung und Desintegration, wie sie ja auch stückweise stattfand. Al-Farabi sah hingegen gerade in Zusammenhalt und Integrität ein wichtiges Teilstück zur Verwirklichung von Glück. Daraus ergab sich für ihn u.a., dass Wissenschaft und Politik wesentlich voneinander 31 Es scheint erwähnenswert, dass ca. zweihundert Jahre später Ibn Rushd (Averroes, 1126–1198) in seiner Verteidigung der Philosophie (in »Tahafut at-Tahafut«, deutsch »Die Inkohärenz der Inkohärenz«) ausführlich auf al-Farabi Bezug nimmt. 32 Ein ähnlich explosives Pulver findet sich viele Jahrhunderte später in Italien in der Renaissance wieder. 33 Daraus sollte nicht der Schluss gezogen werden, dass er sich auf diesen berufen würde. Al-Farabi ignoriert in seinen diesbezüglichen Schriften sämtliche griechische Philosophen, außer den beiden großen Weisen Platon und Aristoteles.

371

gegen den wind abhängen, dass sich also beide gegenseitig durchdringen sollten und durchdringen müssten. Sie hätten einander zu stimulieren, wenngleich sie sich zugleich auch gegenseitig im Weg stehen würden34. Somit wird im Ansatz von al-Farabi einmal mehr jene problemgefüllte Büchse aufgetan, die Zeus dem Bruder des Prometheus, dem verträumten Epimetheus, schickte. Zwar wird von al-Farabi die große Bedeutung von Wissenschaft für das Gemeinwohl betont, doch zugleich macht er auch auf jene potentiellen Gefahren aufmerksam, die in der Verschmelzung von Theorie und Praxis ruhen. Würde Wissenschaft zur »Magd« des Staates, so sei das sich daraus ergebende Resultat keineswegs jenem vorzuziehen, das sich aus der Umkehrung der Beziehung ergeben würde, wie dies Platon vorschwebte. Anzupeilen wäre somit ein mittlerer Pfad. Daraus ergibt sich die Frage nach dem »wie«: Wie lässt sich die Welt so verbessern, dass sie dem Ziel größeren Glücks näherkommt? Mit dieser Fragestellung hebt sich al-Farabi nicht nur von den Griechen ab, sondern auch von seinen gläubigen Zeitgenossen, die davon ausgingen, dass die Schöpfung Allahs vollständig und gut sei. Al-Farabi versteht sie hingegen als grundsätzlich verbesserungsfähig und verbesserungswürdig.

Eine unvollständige Welt Aus dieser Forderung entwickelte sich ein neuer Aspekt in seinem Denken. Für ihn beinhaltete diese Unvollständigkeit sowohl der existierenden, menschlichen Gesellschaften als auch der Natur und der Menschen35 einen göttlichen Auftrag. Die Vorstellung einer unvollkommenen materiellen Welt mag er aus den platonischen Vorstellungen eines unvollkommenen Schöpfergottes, des Demiurgen, übernommen haben. Was den Muslim aber wesentlich vom Griechen unterscheidet, ist sein permanentes Bestehen auf einer aktiven Gestaltung und Umgestaltung von objektiven Gegebenheiten durch tatkräftiges »Herstellen« und Handeln36. 34 An diese problematische, immanente Wechselbeziehung erinnert M. Mahdi (2001), wenn er fordert, dass eine unbestechliche Vertrauenswürdigkeit der Wissenschaft zu wahren sei, auch wenn sie zugleich dazu diene und dazu beitrage, die Meinungen der Staatsbürger so zu beeinflussen, dass die Gefahr der Desintegration gebannt werde. 35 Er versteht den »Menschen« ähnlich wie A. Gehlen (1940) als »Mängelwesen«, auch wenn dieser Begriff so nicht aufscheint. 36 »At the beginning men prefer to labor and to labor in deed rather than to labor in speech. This means that initially a human beings’ unquestioned preference is to do things, to labor in deed, rather than to think about

372

abu nasr muḤammad ibn muḤammad al-farabi Sein Kernanliegen scheint da zu liegen, wo er immer wieder das Ziel vor Augen hat, dass eine unvollständige Welt, sei sie in der Natur oder in der Gesellschaft, durch tatkräftiges Handeln verbessert werden könne und solle. Dadurch unterscheidet er sich charakteristisch von den griechischen Lehrern, die davon ausgingen, dass die Natur selbst in gut aristokratischer Manier37 – teleologisch dazu tendiere, stets das Beste, das Vollkommene zu realisieren. Aus dieser kritischen Position heraus interessierte sich der Araber in seinen zahlreichen Arbeiten nicht nur für Politik und Psychologie, sondern schlechthin für alle Wissenschaften. Insbesondere Sozialpsychologie interessierte ihn aus einer pragmatischen Sicht. Er wollte nämlich auf diese Art ergründen, wie man aus vereinzelten, egozentrischen Individuen verantwortungsbewusste Menschen bilden könne, die zusammen eine politische, friktionsfreie Einheit verkörpern könnten38. Erwähnenswert scheint, dass er deshalb sogar Untersuchungen über den Einfluss von Musik auf das Verhalten von Tieren anstellte (!). Man weiß auch, dass er, so wie viele andere Wissenschafter seiner Zeit, ausgebildeter Arzt war und zu Themen aus diesem Fach Publikationen verfasste. Trotzdem dürfte er mit der praktischen Arbeit von Ärzten wenig Zeit verbracht haben. Doch das Bild eines funktionstüchtigen, gesunden Körpers lieferte ihm das maßgebende Paradigma für ein gesellschaftlich gesundes System. Dieser weite Horizont hat in zahlreichen anderen Arbeiten seinen Niederschlag gefunden, die auch Erwähnung finden sollen: Er schrieb u.a. auch bedeutende Arbeiten über Musik, von denen manche noch heute den Grundstock arabischer Musiklehre bilden. Auch Mathematik und die ptolemäische Astronomie waren ihm kein unbekanntes Terrain, sondern eines, in dem er sich gerne bewegte. Sein Wissen über das gesamte Terrain der Wissenschaften kompilierte er in zwei Büchern, die arabisch »Kitab al-Ihsa al ʿUlum« und lateinisch als »De Scientis« tituliert sind. Darin entwickelte er wiederum ein von Aristoteles unterschiedliches Klassifikationssystem der Wissenschaften und stellte grundlegende Prinzipien wissenschaftlichen Arbeitens auf. In diesen tiefschürfenden Arbeiten positionierte er die Philosophie an der obersten Stelle der Wissenschaften und begründete dies damit, dass sie nicht nur einen umfassenden Zugang und Blick auf das Universum erlaube, sondern wesentlich bestimme, was als wahr gelten könne. Und what ought to be preferred or avoided. The useful-necessary labor does not require reflection or consideration.« (m.H., M.S.; M. Mahdi, 2001, S. 204). 37 Denn Aristokratie versteht sich selbst, wie schon öfter betont wurde, als die Herrschaft der Besten. 38 Darin ist al-Farabi zweifellos von der griechischen »Paideia« inspiriert.

373

gegen den wind »Wahrheit« liefere, so erinnern wir uns, Sicherheit, welche eine Bedingung zum Erreichen von Glückseligkeit sei.

Was als wahr gelten könne Um dafür Kriterien zu entwickeln, was als wahr gelten könne, greift Alpharabius, wie ihn die Lateiner nannten, u.a. auf das aristotelische Organon zurück. Allerdings beschritt er auch hier neue Wege, die weit über Aristoteles hinausführten39. Ähnlich wie die späteren Stoiker befasste er sich mit Analogieschlüssen, konditionalen Syllogismen und induktiven Schlüssen. Er entwickelte eine Beweistheorie, die sich nicht damit begnügte, notwendige Folgerungen zu ziehen, sondern sich zusätzlich mit Möglichkeiten (Potentialitäten) und Wahrscheinlichkeiten befasste. Er vereinte die »Topik« des Aristoteles mit einer Dialektik des Möglichen (T.J. Debroer, 1901, S. 113) und folgerte, dass wahre Wissenschaft zwar ausschließlich auf Vorgaben der zweiten Analytik fußen könne, dass aber Wahrscheinlichkeiten selbst dann nicht übersehen werden dürften, wenn ihre Folgerungen ganz allmählich zu einem Phantom von Wahrheit verblassen würden40. Konsequenterweise ergab sich daraus eine philosophische Auseinandersetzung, die sich um die Existenz von »Universalien« drehte. Die­ selbe Thematik bewegte einige Jahrhunderte später im sogenannten »Universalienstreit« auch das Abendland. Man sollte nun nicht meinen, dass sich der »zweite Lehrer« des Maimonides allein theoretisch betätigt hätte, wie das die wiederholten Hinweise auf diverse Publikationen rasch suggerieren könnten. Er war z.B. »Atomist« und als solcher zwangsläufig am Konzept des Vakuums interessiert41. Um diesem kontroversiellen Konzept näher zu kommen, stellte er Experimente an, wobei er u.a. feststellte, dass sich Luft im Raum ausdehnen würde und dieser Vorgang möglicherweise die Existenz eines Vakuums in Frage stelle. Für derartige Experimente benutzte er Tauchgeräte42. Wir meinen heute, wie in ähnlichen Fällen auch, dass 39 Damit beschäftigen wir uns noch ausführlicher im nächsten Kapitel. 40 Vergleichbare Überlegungen tauchen im abendländischen Westen erst im 20. Jahrhundert im Rahmen der Quantentheorie auf, wie wir im Epilog noch sehen werden. 41 Siehe dazu: Al-Farabi (1951). 42 »He begins by considering an experiment that might lead one to conclude that a void exists. The experiment involves sucking air out of a vial and then placing one’s finger on the mouth of the vial. One next inverts the vial into a bowl of water and then removes the finger from the mouth of the vial. A certain amount of water will be attracted into the vial, and so one might conclude that a void space proportional to the amount of water

374

abu ʿali mohammed ibn al-hasan ibn al-haytham solche Versuche erstmals in der Neuzeit, in diesem Fall eben von R. Descartes angestellt worden wären. Auch an diesem Beispiel zeigt sich einmal mehr unsere eigene ethnozentrische Voreingenommenheit sowie auch, dass die Muslime damals wissenschaftlich »heller« waren als wir Abendländer – »ex oriente lux«. Allein aus diesen sporadischen Anmerkungen, die noch lange nicht den gesamten Bogen seiner Arbeiten umspannen, lässt sich die Radikalität seiner Gedanken erkennen. Er war u.a. auch der erste islamische Philosoph, der etwas vertrat, was noch heute die Welt der Muslime in Atem hält, nämlich eine radikale Trennung von Philosophie und Religion. Er hinterfragte bereits die Interdependenzen von Staat und Religion, weil nach seinem Konzept der Staat von der Philosophie und nicht von der Religion seine Zielvorgaben erhalten sollte. Da Vernunft, die auf intellektuellen Wahrnehmungen fußt, seiner Meinung nach auf jeden Fall über jede Art von Offenbarung zu stellen sei, sei auch Philosophie als Quelle von Wahrheit und als Leitstern für praktisches Handeln jeder anderen vorzuziehen. Trotzdem bemühte er sich taktisch klug um einen Ausgleich zwischen Religion und dem, was Philosophie zu bieten hatte. Aus unserer Sicht ist Alpharabius noch dezitierter als ar-Razi Vorreiter einer neuen Entwicklung im Nahen Osten. Er wahrte nicht nur das Erbe der Antike, sondern entwickelte dieses in eigenständiger Anstrengung grundlegend weiter. Dass er trotzdem vergleichsweise unbekannt blieb und etwa Ibn Ruschd (lateinisch Averroes genannt) heute ein wesentlich höheres Prestige genießt, bezeugt nicht etwa seine vergleichsweise Inferiorität, sondern eher die Beschränktheit unserer historischen Wahrnehmungen.

Abu ʿAli Moḥammed ibn al-Ḥasan ibn al-Haytham Bereits zu Lebzeiten al-Farabis und noch mehr gegen Ende des 10. Jahrhunderts entstand eine islamische Welt, die von einer gemeinsamen religiösen Kultur in arabischer Sprache sowie durch komplexe, menschliche Beziehungen zusammengehalten wurde. Diese Vernetzungen ergaben sich aus einem weitläufigen Handel43, durch lange Pilgerreisen zu drawn into the vial was present while one’s finger was over the mouth of the vial.« (J. McGinnis, 2013). Erinnert werden sollte daran, dass Galileos Sekretär E. Toricelli im 17. Jahrhundert die gleichen Versuche anstellte und damit in Europa heftige Debatten zum selben Thema auslöste. 43 In diesem Milieu gedeihen jene »kosmopolitischen« Einstellungen bestens, die im vorigen Kapitel angesprochen wurden. K. Mannheim (1929/1936)

375

gegen den wind den heiligen Stätten44 und durch individuelle, wie auch großräumig geplante Umsiedlungen. Handel und Gewerbe spielten neben der Landwirtschaft in dieser »Freihandelszone« von mehr als 40.000 Städten eine bedeutende Rolle. Ihre ungeheure Vielfalt wurde durch eine »Lingua Franca« zusammengehalten und ermöglicht: Arabisch. Andererseits bildete diese Welt schon lange keine politische Einheit45 mehr. Drei Herrscher – in Bagdad, Kairo und Cordoba – beanspruchten den Kalifentitel, und es gab weitere Potentaten, die de facto über unabhängige Staaten regierten. Seit diesem Jahrhundert wurden die Länder, in denen größtenteils Muslime lebten, von machthabenden Dynastien beherrscht, die zwar nicht alle den Kalifentitel beanspruchten, aber dafür die wahre Macht in ihren Gebieten in Händen hielten. Solche Herrscher wurden »Sultane« oder »Emire« genannt. Drei Herrschaftsgebiete lassen sich in jener Zeit durch ihre Größe und Macht besonders herausheben: Das erste umfasste den Iran und die Gebiete östlich davon, die heute zu Afghanistan, Kasachstan und Turkmenistan gehören, sowie den südlichen Irak. Sein Machtzentrum war nach wie vor Bagdad – die Stadt, die Zentrum eines weitgespannten Handelsnetzes war und zugleich in einem landwirtschaftlich reichen Gebiet lag. Das zweite Gebiet schloss Ägypten, Syrien und die westlichen Teile Arabiens zusammen. Sein Machtzentrum war Kairo, eine von den Fatimiden neu gegründete Stadt unweit des alten Fustat. Auch diese Stadt lag inmitten einer äußerst fruchtbaren Landschaft und war zugleich ein bedeutendes Handelszentrum, wo sich die Transporte aus Indien und jene aus dem Mittelmeerraum kreuzten. Der dritte Raum bestand aus al-Andalus – dem muslimischen Spanien –, und dem Maghreb. Anders als in den beiden anderen Fällen existierte dort kein ausgeprägtes Zentrum, sondern mehrere Zentren, die die Handelsrouten ins westliche Afrika mit jenen Westeuropas verknüpften. Diese dezentrale Situation war zugleich Ursache für einen allmählichen, politischen Zerfall des Gebietes und langfristig jene Schwachstelle, die den christlichen Staaten die Rückeroberung Spaniens ermöglichte. Rebellierende Gruppen eroberten schon am Beginn des 10. Jahrhunderts Ägypten. Ihr Anführer bezeichnete sich als Abkömmling ʿAlis und Faṭimahs, der einzig überlebenden Tochter des Propheten46. Daher rührt auch der Name »Fatimiden«. Wie bei solcher Abstammung naheliegend ist, waren die Fatimiden Schiiten und als solche auch wissbegierig47. bezeichnet solche Gegebenheiten als Auslöser für die Entwicklung abstrakter Denkweisen (siehe dazu Kapitel X in diesem Band). 44 Hier sind eher die »Locals« vertreten. 45 Siehe dazu: A. Hourani (1991). 46 Andere Kinder Mohammeds starben bereits im Kindesalter. 47 Siehe dazu Kapitel VI in diesem Band.

376

abu ʿali mohammed ibn al-hasan ibn al-haytham Dem Beispiel al-Manṣurs folgend, gründeten sie 969 n.Chr. nicht nur eine neue Hauptstadt, sondern platzierten dort auch, so wie jener, ein »Bayt al Ḥikmah«, das sie allerdings als »Dar al ʿIlm« bezeichneten. Der andere Name ist nicht zufällig gewählt, meint »Ḥikmah« ja etwas ähnliches wie »Weisheit« und entspricht damit ungefähr dem griechischen »sophia«. »ʿIlm« hingegen meint hauptsächlich die islamischen Rechtswissenschaften und die religiösen Wissenschaften. Damit kommt auch die Differenz zwischen den »fremden« und islamischen Wissenschaften zumindest andeutungsweise zum Ausdruck48. Wie sehr diese Benennung auf den Einfluss der Aschʿariten, die gerade in Ägypten maßgebend waren, zurückgeht, entzieht sich meiner Kenntnis. Es ist jedoch nicht unbegründet, dies anzunehmen. Erwähnenswert erscheint der Umstand deshalb, weil Abu Mohammed ibn al-Hasan ibn al-Haytham (ca. 965 bis 1040 n.Chr.), der Protagonist unserer augenblicklichen Geschichte, zwar anfänglich diesem Haus der Wissenschaften angehörte, aber bald vom Kalifen zu einem andauernden Hausarrest verurteilt wurde, der erst nach dem Tod des Herrschers sein Ende fand.

Der Arrestant Damit hatte es angeblich folgende Bewandtnis: Al-Hazen, wie al-Haythams latinisierter Name lautet, war ein Kind wohlhabender Eltern aus Basra, dem alten Hort schiitischen Denkens. Er studierte dort und in Bagdad und arbeitete danach als Staatsbeamter und vermutlich als das, was heute als »Ingenieur« bezeichnet wird. Angeblich wurde er irgendwann vom ägyptischen Kalifen nach Kairo eingeladen, um den Nil zu regulieren. Wie behauptet wird, hätte er sich nach einer Reise nach Assuan und eingehendem Studium der Überschwemmungen außerstande gefühlt, dieses Projekt zu verwirklichen. Denn erst nachdem er die tatsächlichen Gegebenheiten erforscht hatte, habe er das Ausmaß dieser Fluten erkannt und resigniert. Da der dortige Kalif Ibn al-Ḥakim ein unberechenbarer Tyrann gewesen sein soll, habe al-Haytham, um eine ärgere Strafe zu vermeiden, eine Geisteskrankheit vorgetäuscht. Die Folge daraus war der lebenslange, vom Kalifen verordnete Hausarrest. Zehn Jahre währte dieser Zustand, genauer bis zum Tod des Kalifen im Jahr 1021. In diesem Augenblick sei er – so sagt man – wunderbarerweise von seiner Krankheit geheilt worden. Ich meine, dass die Erzählungen von seiner vorgeblichen Geisteskrankheit nicht glaubwürdig erscheinen. Sie fügen sich allerdings treff48 Das ließe sich wieder in die Differenz zwischen »Cosmopolitans« und »Locals« übersetzen, und – so scheint mir – auch in die Kuhn’sche Unterscheidung zwischen »normaler« und »revolutionärer« Wissenschaft.

377

gegen den wind lich in die zahllosen Legenden49, die um das Leben al-Hazens gewoben wurden. Zieht man hingegen die radikalen Ansichten al-Hazens in Betracht, der ein überzeugter Anhänger griechischer Wissenschaften und Philosophie war, so darf man vermuten, dass der Kalif ihn aus der Öffentlichkeit verbannte, um entweder ihn selbst vor den Gläubigen oder die Gläubigen vor ihm zu schützen. Ibn al-Haytham wird u.a. in einem zeitgenössischen biografischen Werk über Ärzte diesen zugerechnet. Der Grund dafür ist vermutlich weniger der Umstand, dass er besondere therapeutische Erfolge vorzuweisen hatte – vermutlich war er kaum als praktizierender Arzt tätig. Vielmehr dürften seine herausragenden Untersuchungen zur Funktionsweise des menschlichen Auges Anlass gegeben haben, ihn der Zunft der Mediziner zuzuordnen. Heute wird er hingegen als der vermutlich bedeutendste Physiker betrachtet, der in den ca. zweitausend Jahren zwischen Aristoteles und Newton wirkte. In der genannten biografischen Sammlung wurde al-Hazen durch eine Autobiografie repräsentiert. Dezidiert hält al-Haytham in dieser Selbstdarstellung u.a. fest, dass er einen absoluten Primat der Wissenschaft gegenüber der Religion vertritt. Charakteristisch für dieses Selbstzeugnis ist auch, dass er wenig über seine äußeren Lebensumstände, dafür sehr ausführlich über den Weg berichtet, den er als Wissenschafter eingeschlagen hat. Deutlich wird dabei sein kompromissloses Suchen nach Wahrheit, worunter er das Verhältnis eines Gegenstandes sinnlicher Wahrnehmung zu den über ihn gefällten Urteilen versteht. Diese Definition von Wahrheit ist selbst schon äußerst bemerkenswert. Sinneswahrnehmungen und nicht kontemplatives Erkennen, wie bei den griechischen Vordenkern, sind demnach für ihn die Grundlage von Erfahrung und Wissen. Erfahrung liefert ihm das Material, das, nachdem es im Forschungsprozess geschaffen wurde, durch den Intellekt geordnet werden soll und so Erkenntnis schafft. Ein derartiges Bekenntnis lässt jenseits aller Zweifel verstehen, warum dieser Mensch mit Offenbarungen wenig anzufangen wusste. Das zeigte sich u.a. auch in einer kritischen Arbeit al-Hazens über Propheten, die dazu dienen sollte, falsche von echten Propheten zu unterscheiden50. Was können dann wohl die wirklichen Gründe seines langjährigen Hausarrests gewesen sein? Es wird zwar behauptet, dass er gläubiger Muslim gewesen sei, doch lässt er sich keiner der damals bedeutenden Richtungen zuordnen. Manche bezeichnen ihn als Aschʿariten, andere als Muʿtaziliten und wieder andere als Schiiten. Da diese Orientierungen zum Teil höchst widersprüchlich sind, schließe ich daraus, 49 Siehe dazu: J. al-Khalili (2010). 50 Diese Thematik erinnert sofort an ar-Razi oder an al-Farabi, die sich auch damit beschäftigt haben.

378

abu ʿali mohammed ibn al-hasan ibn al-haytham dass er sich keiner zugehörig fühlte, sondern schlicht in einem Milieu zu überleben suchte, das zunehmend dogmatisch dominiert wurde. Er kreuzte gegen den herrschenden Wind. Man kolportiert sogar, dass al-Hazen bei seiner »Suche nach Wahrheit« anfänglich Theologie studiert haben soll, doch letztlich zur Erkenntnis gekommen sei, dass ihn dies seinem Ziel nicht näher bringen würde. Deshalb hätte er sich anschließend dem Studium der fremden »falsafa« zugewandt, wobei er sich vor allem Aristoteles, Ptolemäus und Galen gewidmet habe. Auch dieser Entschluss konnte ihn den damaligen Dogmatikern nur suspekt gemacht haben. Daher ist obige, alternative Vermutung über die Gründe für seinen langjährigen Arrest zwar nicht bewiesen, doch zumindest genauso einleuchtend wie die angeblich vorgetäuschte, doch plötzlich wundersam endende Geisteskrankheit. Was immer letztlich der Wahrheitsgehalt dieser Erzählungen sein mag, für die Nachkommen war der Hausarrest ein großes Glück, denn in dieser Zeit verfasste er seine bedeutendsten Schriften, die die weitere Entwicklung der Wissenschaften nachhaltig beeinflussten. Nach seiner »wunderbaren Genesung« schrieb er allerdings noch zahlreiche andere Abhandlungen zu unterschiedlichsten Themen, arbeitete sogar aktiv im Dar al-ʿIlm mit, reiste nach al-Andalus und möglicherweise auch wieder nach Syrien und Bagdad. Er starb ca. zehn Jahre nach dem Tod des Kalifen in Kairo, wobei diese Zeitangabe fragwürdig ist.

Hinterlassenschaft Seine wissenschaftliche Hinterlassenschaft ist bedeutend. Sie beeinflusste die weitere Entwicklung nachhaltig, weshalb es angebracht ist, sich diesen Arbeiten detaillierter zu widmen. Wie angedeutet, setzte er sich intensiv mit den Überlieferungen der Griechen auseinander. Er kommentierte die Arbeiten von Aristoteles, Euklid, Archimedes, Galen und Ptolemäus. Bemerkenswert und typisch für diesen Wahrheitssucher ist, dass er sich u.a. bemühte, das Parallelenaxiom51 Euklids mittels eines indirekten Beweises zu beweisen. Da ihm dies ebenso wenig wie seinen ca. tausend Jahre später tätigen Kollegen52 gelang, ersann er als Erster die Möglichkeit einer nicht-euklidischen Geometrie. Die 51 In der »Stoicheia« Euklids wird es allerdings als »Postulat« und nicht als »Axiom« eingeführt. Das ordnet ihm einen etwas geringeren Wahrheitswert zu als einem Axiom. 52 Der erste, der sich im Abendland wieder dieser Frage widmete war Wi­telo, ein eifriger »Student« der Schriften al-Hazens. Erasmus Witelo (1237 – ca. 1280) wird auch manchmal als Begründer der Optik in Euro-

379

gegen den wind bis vor kurzem J.H. Lambert (1728–1777) zugeschriebene Konzeption von Vierecken, die drei rechte und einen nicht-rechten Winkel besitzen, wird deshalb heute bereits als »Ibn Haytham-Lambert’sches Viereck« bezeichnet. Diese Gebilde waren der Grundstein zur Entwicklung einer nicht-euklidischen, hyperbolischen, bzw. elliptischen Geometrie. Weitere Ibn al-Haytham zugeschriebene Erfolge in der Mathematik betreffen Bereiche, die schon vor ihm begonnen wurden, wie das Bemühen, Geometrie und Arithmetik zu verbinden und quasi eine »analytische Algebra« zu entwickeln. Er berechnete Volumina von Rotationsparaboloiden und löste zu diesem Zweck Gleichungen vierten Grades. Dazu entwickelte er u.a. einen Formalismus zur Berechnung von Summen vierter Potenzen53. Diese Vorgehensweise öffnete erste Wege zur Integralrechnung54. Insgesamt verfasste al-Hazen an die 200 Schriften, von denen mindestens die Hälfte wissenschaftliche Arbeiten waren. Davon sind ca. 50 zumindest noch teilweise erhalten. Die Hälfte davon beschäftigt sich mit Astronomie, vierzehn mit Optik.

Astronomie und Optik Astronomie und Optik sind naheliegender Weise eng miteinander verknüpft. Doch Optik konnte in jenen Zeiten auch von Medizin nicht losgelöst betrieben werden, denn visuelle Eindrücke sind zahlreichen Täuschungen unterworfen. Zusätzlich sind auch nicht alle Visionen ausschließlich als Ergebnis optischer Impressionen zu werten. pa betrachtet, weil er einige Zeit vor J. Kepler und I. Newton das Brechungsgesetz korrekt aufstellte. 53 Das Problem stellte sich im Zusammenhang mit der Lösung des sogenannten »Problem des Alhazen«, eine Fragestellung, der sich bereits Ptolemäus widmete. Es handelt sich darum, jenen Punkt auf einem Kreis zu bestimmen von dem ein Strahl von einer gegebenen Lichtquelle auf einen gewünschten Punkt gelenkt werden kann. Genau genommen handelt es sich einmal mehr um die Beschaffenheit von Brennspiegeln, wie sie angeblich Archimedes gebaut hat, und deren genaue Funktionsweise al-Kindi bereits zu enträtseln versuchte. 54 Auch hier klaffen diverse Beurteilungen diametral auseinander: »In mathematics, Ibn al-Haytham’s interests obviously leaned more toward geometry and number theory than algebra and practical arithmetic. So, here again, he was, logically and philosophically, more involved with concepts of ›the knowns‹ (III.54: al-ma’lûmât) than with ›approximations‹, and with ›analysis and synthesis‹ (III.53: alta lîl wa l-tarkîb) than with calculation […].« (Complete Dictionary of Scientific Biography, 2008).

380

abu ʿali mohammed ibn al-hasan ibn al-haytham Allein der Umstand, dass wir von optischen »Impressionen« sprechen, war in der Antike eher ungewöhnlich und auch später keineswegs eine allgemein akzeptierte Auffassung. Euklid dachte beispielsweise, dass umgekehrt das Auge Sehstrahlen aussendet. Diese als »Emissionstheorie« bezeichnete Vorstellung war weit verbreitet und musste zunächst erst widerlegt werden. Ptolemäus und Galen behaupteten vorsichtig, dass beides der Fall wäre, nämlich, dass sowohl leuchtende Körper Strahlen aussenden würden, wie umgekehrt das Auge auch Sehstrahlen emittiere, mit deren Hilfe gesichtete Objekte abgetastet würden. Diese kombinierte Intromissions-/Emissionstheorie wurde auch von den muslimischen Vorgängern al-Hazens, al-Kindi oder Ḥunayn ibn Isḥaq vertreten. Aristoteles befand sich in diesem Fall näher an unseren Auffassungen und meinte, dass es lächerlich sei zu behaupten, dass wir Himmelskörper deshalb sehen würden, weil wir zu ihnen Strahlen senden würden. Allerdings dachte auch er, dass Objekte dem Auge bereits ihre ihnen eigene Form übermitteln. Al-Haytham schloss sich seiner Sichtweise an, doch nicht deshalb, weil er gläubiger Anhänger des Stagiriten war, sondern, weil er akribisch den Aufbau des Auges studiert hatte.

Kitab fi al Manaẓir – »Die große Optik« In Buch I seines berühmten Werks zur Optik, »Kitab fi al-Manaẓir«, entwickelte al-Haytham eine allgemeine Theorie des Lichts und des Sehens. Diese beruht auf der Annahme, dass Lichtstrahlen geradlinig von jedem Punkt der Oberfläche eines leuchtenden Körpers auf einen entsprechenden Punkt der Pupillen projiziert werden. Die Pupillen fungieren wie Linsen, von denen Sehnerven die unverwechselbare Form des gesichteten Gegenstandes an das Gehirn weiterleiten. Erst das Gehirn formt daraus ein Bild. Seine Arbeit lehnte sich teilweise noch an Galen an, doch korrigierte er ihn bereits dort, wo dies notwendig schien. Daran lässt sich eine vergleichsweise achtungsvolle, doch kritisch distanzierte Einstellung gegenüber den Klassikern erkennen, ähnlich wie sie bereits ar-Razi einnahm. Al-Haytham studierte während seines Hausarrests die organische Struktur des Auges, die Bildformation im Auge und das gesamte Sehsystem genau. Von Galen unterschied er sich etwa durch Kritik an dessen Thesen über binokulares Sehen. Seine Kritik kam heutigen Kenntnissen bereits sehr nahe, allerdings scheint ihm die Rolle und Bedeutung der Retina nicht bewusst gewesen zu sein. Genauso wenig konnte er sich die paradoxe Gegebenheit erklären, wie ein im Auge auf dem Kopf stehendes Bild letztlich doch korrekt 381

gegen den wind interpretiert werden kann. Anatomisch erfasste er die Funktionsweisen und das gesamte optische System korrekt. Da er aber aufgrund seiner physikalischen Experimente mit einer »Camera obscura«55 die Bildumkehr, die bei der Transmission von Licht durch eine nadelgroße Blende zustande kommt, kannte, war ihm klar, dass nach dem Durchgang durch die Pupille ein kopfstehendes Bild entstehen müsse. Da diese Erwartung in direktem Widerspruch zu den allgemeinen Erfahrungen stand, und er den dahinterstehenden Vorgang nicht zufriedenstellend erklären konnte, vermied er weitere Explikationen. Er betrachtete ähnlich wie auch Galen die Linse als maßgebliches Seh­ organ, scheint aber bereits vermutet zu haben, dass die Retina irgend­wie an diesem Prozess beteiligt sein müsse. Insgesamt befassen sich die drei ersten Bücher der »Optik« mit dem Prozess menschlichen Sehens, wobei er öfter als einmal Auffassungen Galens kritisiert und korrigiert. Seine gesamte Vorgehensweise schafft eine beachtenswerte Methodologie, die sich durchgehend durch ihre Skepsis auszeichnet. Aus dieser Grundeinstellung zieht er empirische Untersuchungen bloß kontemplativer Erkenntnis vor. Folglich formuliert er, um selbst nicht Täuschungen der Sinnesein­ drücke unterworfen zu sein, u.a. vier Bedingungen für »korrektes« Sehen: 1. Ein betrachtetes Objekt muss auf einer geraden Linie liegen, die sich von der Oberfläche des Objekts zur »Oberfläche des Sehenden« ziehen lassen muss. 2. Das Objekt muss Licht aussenden. Dabei kann es selbstleuchtend sein, oder, wenn es dunkel ist, kann es auch von externen Lichtquellen beleuchtet sein. Licht kann den Beobachter auch durch Reflexion von polierten Oberflächen erreichen oder durch Brechung im Fall von dazwischen liegenden Medien unterschiedlicher Dichte. 3. Das betrachtete Objekt muss eine bestimmte Mindestgröße haben, wobei diese in Abhängigkeit von der Sehstärke des Beobachters variieren kann. 4. Letztlich muss sich das Objekt in einer bestimmten Entfernung vom Auge befinden. Diese Entfernung kann in Abhängigkeit von Größe, Leuchtkraft und anderen Eigenschaften des Objekts und des Auges variieren.

55 Die »Camera obscura« wurde nicht, wie oft behauptet wird, erst im neuzeitlichen Europa »erfunden«. Die alten Chinesen kannten sie genauso wie Aristoteles. Ibn Haytham ist allerdings der Erste, der ihre Phänomene exakt beschreibt und ihre Funktionsweise mithilfe geometrischer Modelle analysiert.

382

abu ʿali mohammed ibn al-hasan ibn al-haytham Ibn Haytham war klar, dass es nicht selbstverständlich ist, dass diese Voraussetzungen voneinander unabhängig sein müssen. Ergo studierte er u.a. die Geradlinigkeit der Lichtausbreitung durch rigorose Experimente, die sich wesentlich von jenen unterschieden, die Ptolemäus anstellte. Am deutlichsten wird der Unterschied zwischen beiden, wenn die Schlussfolgerungen, die Ibn al-Haytham zog, mit jenen verglichen werden, die Ptolemäus bei entsprechenden Versuchen zog. Im Unterschied zum griechischen Meisterastronomen verwarf al-Hazen Hypothesen gnadenlos, wenn sie nicht mit seinen experimentellen Resultaten übereinstimmten. Ptolemäus behauptete im Gegensatz dazu, Beobachtungen gemacht zu haben, für die er keine experimentelle Evidenz vorlegen konnte. Beispiel dafür wäre die angebliche Existenz des Äquanten56. Die Behauptung, dass es einen solchen gäbe, war einzig und allein Folge seiner geometrischen Spekulationen. In weiteren drei Büchern der »Optik« setzt sich der ägyptische »Arres­ tant« mit Spiegeleffekten auseinander. Auch dabei stützte sich al-Haytham auf entsprechende Arbeiten von Ptolemäus. Und er verfährt auch hier nicht anders als bei Galen. Er übernimmt, was ihm nachweisbar und haltbar erscheint, scheut sich aber nicht, auch Kritik und Korrekturen anzubringen. Das letzte Buch der Optik behandelte die Dioptrik d.h. Phänomene der Lichtbrechung. Bei diesen Arbeiten verbesserte er die von Ptolemäus verwendeten Instrumente zur Messung der Brechung und erweiterte das Forschungsgebiet auf Untersuchungen über Brechungserscheinungen auf Kugeloberflächen, auf Übergänge von Licht in verschiedene Medien, wie von Luft in Wasser oder von Wasser in Glas57. Er formulierte im Zuge dessen acht Regeln über das Verhältnis von einfallendem und gebrochenem Strahl zum Lot. Die Beobachtung, dass in einem dichteren Medium das Licht zum Einfallslot hin gebrochen wird, in einem dünneren vom Lot weg, erklärte er damit, dass die Lichtgeschwindigkeit in dünneren Medien größer würde. Spannend ist bei dieser Argumentation, dass er die Lichtgeschwindigkeit bereits in zwei Komponenten aufspaltete. Die eine wirkt entlang dem Einfallslot, die andere steht dazu im rechten Winkel. Heute würden wir ein derartiges Verfahren als Vektoraddition bezeichnen. Aus Brechungsstudien und astronomischen Untersuchungen ergab sich u.a. die forschungsrelevante Notwendigkeit Lichtbrechung, wie 56 Siehe dazu Kapitel I in diesem Band. 57 Der Vollständigkeit wegen sollte auch einmal betont werden, dass Ibn Haytham bei seinen Experimenten nicht nur Spiegel benutzte, sondern bereits mit Linsen arbeitete, die schon im frühen 9. Jahrhundert von ʿAbbas ibn Firnas (810–887 n.Chr.) in Andalusien entwickelt und zumindest als Vergrößerungsgläser verwendet wurden.

383

gegen den wind sie durch den Eintritt kosmischen Lichts in die Erdatmosphäre zustande kommen muss, auch aus dieser Perspektive zu untersuchen (»Mizan al-Ḥikmah«, zu deutsch »Gleichgewicht der Weisheit«). Um hier brauchbare Ergebnisse zu erhalten, benötigte er eine zufriedenstellende Kenntnis über Luftdichte und Höhe der Atmosphäre. Beide überschätzte er beachtlich, trotzdem waren auf dieser Basis seine Resultate wesentlich besser als jene, die derartige Ablenkungen nicht berücksichtigten. Nicht unerwähnt darf bleiben, dass er in derselben Abhandlung bereits eine Theorie gegenseitiger Massenanziehung58 vertrat. Als richtungsweisendes Programm der gesamten Arbeit wird schon am Anfang der »großen Optik« (»Kitab fi ’l-Manaẓir«) die Zusammenführung aristotelischer Physik mit angewandter Mathematik proklamiert59; dort heißt es: »Der Weg zur Erkenntnis der wahren Beschaffenheit des Lichts setzt sich aus den physikalischen Wissenschaften und den mathematischen Wissenschaften zusammen.«60 Grundlegender Ausgangspunkt für alle seine Überlegungen zur Optik bildete die bereits von Euklid übernommene Annahme, dass sich Licht strahlenförmig und geradlinig ausbreitet 61. Mit diesem Postulat folgte er auch der Überlieferung von al-Kindi, allerdings nicht ohne zuvor den experimentellen Nachweis erbracht zu haben, dass diese Annahme »tat-sächlich« den Gegebenheiten entspricht. Auch damit unterscheidet er sich in charakteristischer Weise vom alexandrinischen Kanon. Im nächsten Kapitel werden wir allerdings sehen, dass ihn seine konsequente Methodologie trotzdem nicht davor schützen kann, zu – ich füge zur Vorsicht an, aus unserer Sicht – grundlegend falschen Ergebnissen 58 Ich erinnere daran, dass bereits die Banu Mussa-Brüder davon sprachen (siehe dazu Kapitel VI in diesem Band). 59 »At this stage mathematics were introduced into physical optics by means of analogies established between the movements of patterns of a heavy body and those of reflection and refraction. In other words, mathematics were introduced into physical optics through the intermediary of the dynamic patterns of the movement of heavy bodies, themselves supposed already mathematized. This earlier mathematical treatment of physical notions was what enabled them to be transferred to the experimental plane.« (m. H., M.S.; R. Rashed, 1984, S.346). 60 Zitiert nach M. Schramm (1963), S.5. 61 In seiner »Optik« machte er folgende prinzipielle Feststellung: »Normally light shines from a luminous point in a transparent matter, say water or air, along every single straight line passing through that point, but when a minimal thickness of the matter is reached, the light vanishes. Ibn al-Haytham called the light extending along the thinnest possible width of matter ›the least light‹ (aqallu l-qalîl min al-daw’) – a concept for which Isaac Newton found a role in his Opticks, namely as a suitable definition of ›ray‹.« (Complete Dictionary of Scientific Biography, 2008).

384

abu ʿali mohammed ibn al-hasan ibn al-haytham zu gelangen. Die Ursache dafür wird uns ausgiebig beschäftigen, weshalb das Thema in das nächste Kapitel verpackt wurde62. Das monumentale Werk der »Großen Optik«, das bereits im 12. Jahrhundert von einem unbekannten Scholaren ins Lateinische übersetzt wurde, übte im Abendland eine nachhaltige Wirkung aus und stimulierte dort die Forschung nachhaltig. Anders als gerne behauptet wird, bemühten sich aufgrund dieser Vorlagen bereits damals Forscher, wie etwa R. Grosseteste oder dessen Schüler R. Bacon, um experimentelle Nachweise 63. Diese waren allerdings qualitativ und nicht quantitativ konzipiert. Anlass für solche Untersuchungsgegenstände waren wieder einmal theologische Überlegungen. Optik galt nämlich bereits im christlichen Abendland des Hochmittelalters deshalb als spannendes Forschungs­ gebiet, weil - so wie bei den Arabern – Licht auch als göttliche Emanation betrachtet wurde64. In anderen Arbeiten, wie zum Beispiel dem »Risala fi l-daw‘« (»Abhandlung über das Licht«) wurden von Ibn al-Haytham weitere Themen der Optik, wie der »Halo« des Mondes, der Regenbogen, Schatten, die Form der Mondes- und Sonnenfinsternisse, Brennspiegel etc. behandelt. Genau die gleichen Naturphänomene erregten auch das Interesse der genannten Gelehrten in Oxford und lenkten eben deren Aufmerksamkeit auf Ibn Haythams »Große Optik«. Ähnlich wie bei den grie­ chischen Schriften im Morgenland, so wurden nun auch in Oxford weitere Schriften al-Haythams entdeckt, für interessant befunden und studiert. Wie aus Gesagtem hervorgehen müsste, baute Ibn Haytham seine Untersuchungen systematisch auf allen ihm bekannten wissenschaftlichen Erkenntnissen auf. Ihm waren die Überlieferungen aus der Antike genauso vertraut wie jene aus seiner jüngsten Vergangenheit. Al-Kindi, ar-Razes, al-Farabi waren ihm bekannte Autoren. Somit waren ihm auch die Arbeiten von Ibn Sahl (ca. 940–1000) vertraut. Dieser war wie er Arzt und Mathematiker in Bagdad. Er beschäftigte sich gleichfalls mit dem Phänomen der Lichtbrechung und formulierte bereits jenes 62 Wie ich dort zeige, handelt es sich dabei um das Licht des Mondes, das wir als reflektiertes Sonnenlicht betrachten. Ich schließe als überzeugter Skeptiker nicht aus, dass al-Hazens andere Interpretation vielleicht eines Tages wieder als korrekt betrachtet werden könnte. 63 Das betont z.B. auch A.C. Crombie (1953) mit Nachdruck. Übersehen dürfte er in seinem Eifer die Bedeutung angelsächsischer Wissenschaften hervorzustreichen, dass al-Haytham nicht nur lange vor R. Grosseteste die experimentelle Forschung initiiert hat, sondern auch maßgeblicher Auslöser für jene angelsächsischen Experimente war. 64 Die Vermutung, dass auch diese Sichtweise von den Arabern übernommen wurde, könnte nicht unberechtigt sein.

385

gegen den wind Brechungsgesetz, das Snellius angeblich ca. 600 Jahre später entdeckt haben soll.

Das Drehen des Zeitenwinds Alle genannten Wissenschafter waren, wie bereits gezeigt wurde, kritisch eingestellte Geister. Diese urskeptische Einstellung verbreitete sich spätestens seit Ende der Miḥna, obgleich – und auch hier ist ein Zusatz angebracht, der lauten könnte: gerade weil – einflussreiche Gegenkräfte zeitgleich tätig waren. Daraus kann man folgern, dass die Darstellung von T.S. Kuhn (1962) über die Hintergründe von revolutionären Umbrüchen in den Wissenschaften zumindest ergänzungsbedürftig ist. T.S. Kuhn besteht ja darauf, dass es ausschließlich interne Problemlagen und Widersprüche seien, die wissenschaftliche Revolutionen bewirken. Die Geschichte in der arabischen Welt legt nahe, dass die Behauptung von P. Duhem (1908), dass auch externe Widerstände solche Umbrüche bewirken können, nicht von der Hand zu weisen ist65. Ich habe diesen Vorgang als Wechsel der Windrichtung des Zeitenwinds bezeichnet. Doch diese Benennung macht keinen wesentlichen Unterschied. Zusammenfassend wird aus den Schriften von Ibn al-Haytham nicht nur eine persönliche, kritische Einstellung offenkundig. Er geht darüber hinaus und macht diese Position zu einem neuen kanonischen Grund­ satz wissenschaftlichen Denkens und Handelns. Hiermit erhebt er sich über die überlieferten Standards seiner Zeit und weist in eine Richtung, die erst Jahrhunderte später zum weitverbreiteten, neuen Kanon wurde. Was I. Kant in seinen Schriften elaborierte und zum Leitprinzip wissenschaftlichen Handelns erhoben hat, wurde von al-Haytham schon im 10. Jahrhundert vorweggenommen.

65 Die These P. Duhems (1908), dass sich die Naturwissenschaften aufgrund der Verurteilung der aristotelischen Physik durch den Pariser Bischof E. Tempier (1277 n. Chr.) in eine neue, nämlich eine experimentelle Richtung entwickelt hätten, ist umstritten. Federführend war bei dieser Zurückweisung A. Koyré (1957). Mir geht es dabei allerdings weniger um die Akzeptanz dieser Behauptung, als darum, dass – wie es auch L. Fleck (1935) zeigte – eben externe Einflüsse die Entwicklung der Wissenschaft wesentlich mitbestimmen.

386

kapitel ix

Schukuk – der Lohn des Zweifels »… theoretisches Wissen ist nichts …« Hellenistischen Intellektuellen war, das haben wir schon an verschiedenen Stellen feststellen können, praktische Anwendung ihres Wissens ein Gräuel. Sie feierten ihre theoretischen Einsichten und vermieden es nach Möglichkeit, sich über die so gezogenen Grenzen hinaus zu begeben. Konkreter gesprochen waren es nicht alle griechischen Intellektuellen, die sich so verhielten. Doch jene, die eine andere Einstellung vertraten, wurden aus dem Olymp der Zelebritäten ausgeschlossen. Davon handelte das erste Kapitel. Zu Zeiten des Gegenwinds wurde diese im hellenistischen Erbe verpackte Prädisposition bei den Muslimen in Frage gestellt und schrittweise aufgegeben1. Das blieb nicht ohne Konsequenzen für die weitere Entwicklung der Wissenschaften. Auch sie hatten ihren Kurs neu zu bestimmen. Erstaunlicherweise zeigte dieser neue Kurs beachtliche Übereinstimmung mit jenem, der bereits von den »Vergessenen« propagiert worden war2. Eine Konsequenz dieser Richtungsänderung war, dass zum Nachweis wahrer Aussagen die Beweismethoden Schritt für Schritt zu adaptieren waren bzw. die alten, eingeübten Beweisverfahren schlicht vergessen wurden. D. Gutas (1998) zitiert in seiner aufschlussreichen Arbeit an einer Stelle Ibn Qutayba (gestorben 889), einen Zeitgenossen al-Farabis und Verfasser einer wichtigen Abhandlung zur »Ausbildung von Sekretären« (»Adab al-Katib«). Darin betonte dieser die Notwendigkeit einer umfassenden philologischen Ausbildung, um der übermäßigen Verblendung durch »fremde Wissenschaften« zu begegnen. In der damals vielgelesenen Schrift legte Ibn Qutayba allerdings auch Wert auf die Pflege des Studiums der Geometrie. Man könnte diese Anweisung als im Geiste Platons verfasst interpretieren. Im Unterschied zu diesem versah Ibn Qutayba seine Empfehlungen allerdings mit dem unübersehbaren Vermerk, dass diese Kenntnisse in den Kontext der Landvermessung gestellt werden sollten. Diese Anmerkung allein demonstriert in einer Nussschale den wesentlichen Unterschied zu Platon und zur euklidischen Geometrie. Denn Platon mokierte sich in der »Politeia« hemmungslos über eine Art von Geometrie, wie sie von Praktikern in Athen betrieben wurde. 1 Siehe dazu Kapitel VIII in diesem Band. 2 Siehe dazu Kapitel I in diesem Band.

387

schukuk – der lohn des zweifels Schon bei al-Khwarizmi wurde anwendungsnahes Wissen angeboten und genauso präferiert wie bei Ibn Qutayba. Unübersehbar weht nun der Wind aus einer anderen Richtung. Die Begründung für diese klare Ausrichtung lautete: »…theoretisches Wissen ist nichts im Vergleich zu praktischer Erfahrung«3. Zu dieser Erfahrung gehörte u.a. die Fähigkeit, auch mit Instrumenten umgehen zu können, wie sie von Handwerkern und Künstlern gebraucht wurden. Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass Platon oder der platonische Sokrates solche Anforderungen an die Wächter der »Politeia« gestellt hätten. Jedenfalls findet sich in dieser platonischen Schrift, wo ziemlich ausführlich über die Erziehung der Staatsdiener geschrieben wird, keine Passage vergleichbaren Inhalts. Nun waren aber gerade jene abbasidischen Sekretäre überwiegend staatliche Beamte. Ihre Ausbildungsbedürfnisse wurden folglich hauptsächlich durch die Regierung des Kalifen definiert. Daraus lässt sich zumindest indirekt folgern, dass auch in den obersten Rängen der Regierungsmacht durchaus analoge Vorstellungen vorherrschten. Praxisnähe kann sich allerdings in verschiedenen Dimensionen abspielen. Auch die aristotelische Kunst des Beweisens, die Rhetorik und auch die Dialektik waren praxisnahe. Diese »politische« Praxisnähe einschlägiger Wissenschaften im Islam haben wir bereits im vorigen Kapitel kennengelernt, als wir z.B. erfuhren, dass Astronomie, engstens verquickt mit Astrologie, als Herrschaftsinstrument zum Einsatz kam und deshalb entsprechend gefördert wurde. Dass Geometrie in der Erforschung des Himmels ein bedeutendes Instrumentarium zur Verfügung stellt, ist evident. Doch im Reich der Abbasiden wurde nun die Geometrie auf die Erde zurückgeholt, wo sie, wie schon der Name verrät, ursprünglich in Ägypten, Babylon oder bei den Pythagoreern zu Hause war. Die »Stoicheia« des Euklid, der sich nachweislich über Studenten lustig machte, die nach dem praktischen Nutzen seiner Vorlesungen fragten4, wurde entgegen dieser Attitude wegen ihrer praktischen Bedeutung ins Arabische übersetzt. Landvermessung und Bewässerungskanälen, Bogenbrücken und Wasserrädern wurde dort eine höhere Wertigkeit zugemessen als makellosen Ableitungen mathematischer Sätze aus Propositionen. Dieselbe Bedeutung praktischer Anwendung lässt sich in den Arbeiten zur Alchemie wiederfinden. Dabei möchte ich nochmals betonen, dass die häufig vorurteilsbehaftete Ablehnung dieser Wissenschaft vor3 Zit. nach Ibn Qutayba. Siehe dazu: D. Gutas (1998), S.111. 4 Siehe dazu: M. Schmutzer (2011), Band I, Kapitel X. Interessant zu wissen wäre, welche Studenten solche Fragen stellten. Doch darüber schweigt die Chronik.

388

»… theoretisches wissen ist nichts …« eilig ist. Wir wissen zwar heute, dass sich Kupfer oder Blei nicht in Gold verwandeln lassen, doch dieses Wissen musste erst einmal erarbeitet werden. Das geschah auch im Rahmen der Alchemie. Allerdings zu meinen, dass diese erträumte Verwandlungskunst das einzige Anliegen der Alchemisten gewesen wäre, würde von großer Unkenntnis der tatsächlichen Gegebenheiten zeugen. Unübersehbar manifestiert sich auch darin ein Wandel, der nicht ohne Wirkung für den weiteren Verlauf der Wissenschaftsgeschichte blieb. Dieser Wandel ist das Ergebnis einer grundsätzlich anderen Ausrichtung der gesellschaftlichen Struktur und der Interessen. Die Griechen, deren prachtvolle Kunstwerke und Architektur wir nicht müde werden zu bewundern, hätten derartige Leistungen genauso wenig zustande bringen können wie die Araber – die nicht weniger Beeindruckendes hinterlassen haben –, wenn sie nicht so wie die »Orientalen« praxisnahe Messverfahren und Experimentalanordnung entwickelt hätten, die die Ausübung dieser Künste erst ermöglichten. Doch darüber wurde wenig berichtet, weil das tonangebende Milieu in Hellas alle banausischen Tätigkeiten als minderwertig einstufte. Hier bezogen die Muslime eine gänzlich andere Position. Diese vorwiegend politisch begründete Kluft in der Kultur der Griechen wurde von den Arabern geschlossen und veranlasste sie, nicht nur begründete Zweifel an der griechischen Orientierung zu artikulieren, sondern darüber hinaus eigene Verfahren zu entwickeln, die vermutlich – wie das seltene Beispiel von Archimedes deutlich macht – den Griechen auch nicht gänzlich unbekannt waren. Doch eben jene politisch-ideologische Vorgefasstheit der aristokratischen Sichtweise gestattete dies nicht, und sie verhinderte zumindest indirekt, dass dieses Wissen in derselben Fülle wie die Theorien überliefert wurde5. Die Araber verschmolzen Kunst und Wissenschaft in einer neuen und originellen Weise; was eben nicht ohne Folgen für die Wissenschaften blieb. Wir können also festhalten, dass nun andere Paradigmen vorherrschten, die sich zunächst in Form kritischer Auseinandersetzung mit dem Vermächtnis der Hellenen Ausdruck verschafften6. 5 »One fact stands out. Whether Muslim traditionalists, rationalist theologians, scholars of different fields or even philosophers of the Hellenistic tradition, such as al-Kindi or al-Farabi, they all somehow contributed toward a weakening of the traditional differentiation between science and art. […] It is a fact that this new connection between science and art removed all obstacles from the introduction of the rules of Art, including its instruments, as objects of science and even more so of deductive reasoning. From now on knowledge may be accepted as scientific without conforming to either the Aristotelian or Euclidian pattern.« (m.H., M.S.; R. Rashed 1984, S.344). 6 Siehe dazu: K. Wulff (2014).

389

schukuk – der lohn des zweifels

Schukuk Bereits bei den Arbeiten des berühmten Arztes ar-Razi sahen wir, dass sich dieser ebenfalls intensiv mit Alchemie beschäftigte. Im Zuge seiner Arbeiten entwickelte er nicht nur zahlreiche Instrumente und Geräte, die noch heute in chemischen Labors Anwendung finden, sondern widmete sich auch der Erforschung von Medikamenten. So war er einer der Ersten, die sich mit Anästhetika befassten, auch wenn der etwas später lebende Ibn-Sina (latinisiert: Avicenna) auf diesem Gebiet vermutlich die umfangreichsten Erfolge erzielte7. Ar-Razi hinterließ ein umfangreiches Werk mit dem Titel »al-Ḥawi« (»Continens Liber«), das aufgrund seines Umfangs zum Ausgangpunkt einer medizinischen Enzyklopädie wurde. Diese Kompilation mit dem Namen »Kitab Kamil as-sina’ah at-Tibbiyah« wurde von al-Madschusi (gestorben 994), einem Arzt aus Bagdad, verfasst. Al-Madschusi leitete wie ar-Razi dort ebenfalls ein Spital und erlangte gleichfalls dauerhaften Ruhm. Sein Kompendium wurde mit dem Titel »Liber Regius« (nach der Widmung an dessen königlichen Förderer) unter dem latinisierten Autorennamen »Haly Abbas« übersetzt. Die Arbeit erlangte paradigmatischen Status. Sie wurde zum Fundament für die fachliche Gliederung und Systematisierung der Medizin. Zusätzlich erwähnenswert scheint, dass es sich bei den zahlreichen Arbeiten von al-Madschusi nicht nur um herkömmliche Medizin handelte, sondern auch Gebiete besprochen wurden, die heute als grundlegende Schriften zur Psychologie, Psychosomatik und Neurologie verstanden werden. In diesem Zusammenhang verwies al-Madschusi u.a. darauf, dass ein glückliches und zufriedenes Leben wesentlich zur Gesundheit eines Menschen beiträgt.8 Solche Ausführungen legen Wechselwirkungen zwischen al-Madschusi und al-Farabi nahe, der, wie oben gezeigt, ein glückliches Leben zur obersten Maxime seiner politischen Programme machte. Doch kehren wir nach diesem kurzen Exkurs zu den weiteren Entwicklungen der islamischen Medizin bei ar-Razi zurück, der die ersten, wesentlichen Schritte in Richtung auf eine neue, eigenständige Medizin setzte. Aus unserem augenblicklich vordergründigen Interesse scheint nicht nur die Tatsache nochmals erwähnenswert, dass ar-Razi ein Handbuch verfasste, das als Vademecum für medizinische Laien gedacht war und 7 In dem bekannten Kompendium »Kitab al-Qanun fi al-tibb« (»Der Kanon der Medizin«) beschreibt Ibn-Sina (980–1037 n.Chr.) ausführlich diverse Mittel der Schmerzmilderung und -unterbindung. Sein Ruhm und seine Bedeutung wird oft dem Galens gleichgesetzt. 8 An diese Stelle sollte sich der Leser noch bei der Lektüre des Epilogs erinnern.

390

schukuk folglich in Richtung Popularisierung dieser Wissenschaft angelegt war9. Eine ähnlich weltoffene Einstellung zeigte ar-Razi bei der Veröffentlichung von zwei weiteren Werken, »Al-Asrar« und »Sirr al-Asrar«, die, wie schon der Titel sagt (s.o.), ausdrücklich Geheimnisse preisgeben wollen. Eine vergleichbare Zielsetzung wäre für Platon nicht selbstverständlich10 gewesen, und so wurde in treuer Nachahmung auch in Europa derartiges Wissen über Jahrhunderte geheim gehalten. Schritte in Richtung auf eine eigenständige Medizin, die sich nach und nach von Vorgaben der Antike löste, manifestierten sich in einem weiteren Werk ar-Razis mit dem Titel »Asch-Schukuk‘ al Galinus«, zu deutsch »Zweifel an Galen«. Darin kritisierte ar-Razi die mangelhafte empirische Begründung vieler Behauptungen und die daraus folgenden inkorrekten Schlussfolgerungen des griechischen »Oberarztes«. Im Gegenzug verweist er auf seine eigenen umfangreichen Erfahrungen im klinischen Betrieb. Solches Material war umgekehrt für Galen, der sich ja nur als »Privatarzt« betätigte, unerreichbar, denn Spitäler kannte man zu seinen Lebzeiten nicht. Der Schritt von ar-Razi, sich gegenüber einer derartigen Koryphäe kritisch zu positionieren, muss Bewunderung verlangen. Fällt Ähnliches doch auch heute noch der großen Mehrheit der Mediziner in den akademisierten Krankenanstalten und medizinischen Fakultäten schwer. Diese Nähe zur Praxis auf Basis von eingreifendem, tätigem Herstellen durchzieht den gesamten Bereich muslimischer Wissenschaften. Man findet dieselbe Einstellung nicht nur in der Medizin, wo es naheliegend zu sein scheint11, sondern genauso in der Mathematik und Philosophie. Vergleicht man diese Positionierung mit den Einstellungen der großen griechischen Lehrmeister, so markiert dies einen augenschein­ lichen Unterschied. Mir ist beispielsweise nicht bekannt, dass sich etwa Galen oder andere antike Mediziner ernsthaft darum bemüht hätten, Anästhetika zu entwickeln. Das ist in zweifacher Weise aussagekräftig: erstens erkennt man daran indirekt ein mangelndes Interesse an Erfahrungen aus der alltäglichen medizinischen Praxis, die notwendig mit Schmerzen und Leiden konfrontieren würde; zweitens manifestiert sich darin auch eine grundsätzlich andere Einstellung zu Schmerzen – den eigenen wie auch 9 Nicht selten wird behauptet, dass die Mitglieder der »Royal Academy« erstmalig eine ähnliche Publikationspolitik verfolgten. Wie sich zeigt, waren auch auf diesem Gebiet die »Araber« den Europäern um Jahrhunderte voraus. 10 Siehe dazu: M. Schmutzer (2011), Band I, Kapitel VI. 11 Tatsache ist, dass diese Bereitschaft nicht allgewärtig ist. Die Römer pflegten hier eine andere Tradition, und auch die Griechen vor Hippokrates und seiner Schule unterschieden sich davon nicht wesentlich.

391

schukuk – der lohn des zweifels jenen von anderen12. Schmerzen waren in der Antike eben natur- oder gottgegeben, und man hatte sie schlicht schicksalhaft zu ertragen. Diese schicksalsergebene Einstellung ergab sich u.a. aus dem archaischen Wertekanon der »arete«, über den sich ja bereits Xenophanes mokierte. Muslimische Zweifel an den Überlieferungen aus der griechischen Medizin dürften somit nicht nur sachlich begründet gewesen sein. Sie wurzelten zusätzlich in einem grundverschiedenen kulturellen Verständnis. Die »spartanische« Lebensweise13, die Platon u.a. seinen Wächtern verordnet hatte, entsprach nicht den Lebensauffassungen der Muslime, wo selbst der Prophet betonte, dass das Leben zu genießen sei und nicht aus Kasteiung bestehe14. Angesichts dieses Zeitgeists ist es naheliegend, dass selbst al-Farabi, der engagierte Verteidiger des antiken Erbes, nicht nur alternative Lebensentwürfe propagierte, sondern selbst Zweifel (schukuk) an wesentlichen Teilen dieser Überlieferungen empfand. Diese äußerte er klug und in raffinierter Weise. Ich werde mich daher nochmals ausführlich mit al-Farabi beschäftigen.

Der zweite Lehrer Vorweg möchte ich das Augenmerk auf die komplexen Vorgehensweisen des »zweiten Lehrers«15 richten. Wie in Kapitel VIII betont wurde, hat sich al-Farabi nach dem Ende der Miḥna mit Nachdruck darum bemüht, die griechische Philosophie gegen die Muʿtakalimun zu verteidigen. Eine seiner bedeutendsten Schriften zielte darauf, gern zitierte Widersprüche zwischen Platon und Aristoteles als irrelevant darzustellen. Unter den geschilderten Voraussetzungen wäre es für ihn schwierig und unklug gewesen, die beiden »Weisen« zu kritisieren oder gar Fehler und Ungereimtheiten aufzuzeigen. Vorrangig waren deren Übereinstimmungen und Überlegenheit gegenüber konservativen Rechtsgelehrten glaubhaft zu machen. Al-Farabi vertrat zwar die Meinung, dass Demokratie das beste politische System sei. Trotzdem lieferte er den 12 Zur generellen Kulturabhängigkeit von Schmerzerlebnissen erschien unlängst ein gut lesbares Buch: H. Albrecht (2015). 13 Siehe dazu auch das nächste Kapitel (Kapitel X). 14 Zu diesem Thema äußert sich Platon in den »Nomoi« (Gesetze) ausführlich. Dort meint er, dass zur Tapferkeit auch das Ankämpfen gegen Lust und das Ertragen von Schmerzen gehöre. Tapferkeit ist aber ein wesentlicher Bestandteil der »arete«. 15 Aristoteles wurde der »erste Lehrer« genannt. Al-Farabi wurde von Maimonides als der »zweite Lehrer« bezeichnet.

392

der zweite lehrer monokratischen Herrschern seiner Zeit alle denkbaren Argumente, um sich gegenüber den von Vertretern der Religion erhobenen Ansprüchen behaupten zu können. Seine Lebensbedingungen waren komplex und folglich voll von Widersprüchen. Al-Farabi argumentierte subtil und nicht selten so, dass man zwischen den Zeilen lesen muss. Diese Kunst, zwischen seinen Zeilen zu lesen, hat meines Erachtens Ch.A. Colmo perfektioniert. Ich beziehe mich daher im Folgenden überwiegend auf seine Arbeit16. Im vorigen Kapitel wurde schon auf einige charakteristische Grundeinstellungen al-Farabis hingewiesen. Den verbreiteten damaligen kulturellen Vorgaben gemäß bemühte er sich intensiv, die attische Theorielastigkeit zu überwinden. Das zeigt sich allein schon in seinem Bemühen nachzuweisen, dass Philosophie nützlich sei. Die skizzierten kulturellen Vorgaben erforderten, den Nutzen in der Praxis einer alltäglichen Lebenswelt anzusiedeln und nicht in den abgehobenen Idealen der platonischen »Arete«, die schon lange nicht mehr zeitgemäß waren. Philosophie solle, so forderte er, die Bedingungen menschlichen Handelns offenlegen. Zu diesem Handeln gehörten u.a. auch Vorgaben, die von der Natur gesetzt würden. Diese Natur aber ist, genauso wie die Menschen, aus der Sicht des Arabers unvollständig. Sie strebe, anders als Aristoteles meinte, nicht nach Vollkommenheit und sei folglich verbesserungsfähig. Bei einer unvollständigen Welt mit unvollkommenen Menschen gebe es keine andere Wahl als tätig einzugreifen, sie zu gestalten und um­ zugestalten. Das gelte zugleich auch für diese unvollkommenen Menschen selbst. Auch sie müssen gestaltet und gebildet werden. Um allerdings in eine derartige Tätigkeit eintreten zu können, brauche es Vorstellungen, Entwürfe, Pläne. Solche Vorstellungen versteht al-Farabi als mentale Wesenheiten. Anders als bei Platon befinden sie sich aber in den »Köpfen« der Menschen – in einem Geist, Intellekt oder wie sonst man das bezeichnen möchte. Die Welt der Ideen liege also nicht fern ab in einem unnahbaren, unveränderlichen Himmel, sondern sei Teil dieser Welt, weil Entwürfe Teile der menschlichen Existenz seien. Die »natürliche Welt« koexistiere folglich mit einer »ideellen, erwünschten Welt« in ein und demselben »Universum«. Diese Koexistenz bringt zugleich die alte, aristotelische Unterscheidung zwischen theoretischen und praktischen Wissenschaften zum Verschwinden. Denn die Umgestaltung von natürlichen Gegebenheiten sei das Produkt eines gestaltenden Willens, der zwangsläufig im Menschen selbst residiere. Dieser tatkräftige Wille forme nicht nur die Natur, sondern bilde sich zugleich selbst. Um derartige Projekte bewerkstelligen 16 Siehe dazu: Ch.A. Colmo (2005).

393

schukuk – der lohn des zweifels zu können, würden Menschen Werkzeuge und Instrumente einsetzen und damit manches schaffen, was jene unvollkommene Natur nicht vorgesehen habe. Mit diesem Ansatz untergräbt al-Farabi die platonisch-aristotelische Unterscheidung zwischen »Wesen« und existierenden Erscheinungen. In einem netten Wortspiel kann man dies auch als Aushöhlung der Differenz zwischen »Existenz und Essenz« bezeichnen. Existenz und Essenz wurden bei ihm eins. Unbenommen bleibt trotzdem die Existenz von Erscheinungen, die nicht durch menschliches Handeln hervorgebracht werden. Das sind alle jene natürlichen Vorgaben, die eben außerhalb des menschlichen Verstandes existieren und in der materiellen Welt vorkommen. Ihre »Wesen« erhalten sie allerdings erst innerhalb des menschlichen Verstandes. Deren »Essenzen« werden folglich auch durch einen menschlichen Willen geschaffen, sie sind Abstraktionen.

Exkurs Eine Illustration mag an dieser Stelle hilfreich sein. »Wesen« bezeichnet das »Essentielle« – nicht umsonst wird »Wesen« auf Englisch mit »essence« übersetzt. Das Wesen eines Hundes ist somit das, was allen Hunden gemeinsam ist und, wie es scheint, auch z.B. Hunde veranlasst, sich – selbst bei sehr unterschiedlichen Erscheinungsweisen – als Artgenossen zu erkennen. Ob das tatsächlich in allen Fällen zutrifft, entzieht sich meiner Kenntnis, dazu wäre nämlich eine vollständige Induktion nötig, die nicht durchführbar ist. Umgekehrt weiß ich allerdings, dass nicht alle Menschen alle Hunde als Hunde erkennen. Alte chinesische Tierkategorisierungen etwa waren anders organisiert als unsere eigenen. Z.B. wurden bestimmte Hunde, die nur der chinesische Kaiser besitzen durfte, nicht als Hunde betrachtet. Sie gehörten zu einer anderen Kategorie, der Kategorie »kaiserliche Tiere«. Man mag nun argumentieren, dass Hunde untereinander diese Unterscheidung nicht getroffen hätten, sondern sich, wenn möglich, etwa gepaart hätten. Das mag der Fall sein. Umgekehrt wissen wir aber z.B. von bestimmten Singvögeln, dass sich Singvögel derselben Art, etwa Grasmücken, nicht immer miteinander paaren wollen. Sie erkennen sich nicht als ein und dieselbe Art. Ihr Paarungsverhalten hängt nämlich von regional sehr unterschiedlichen Singmelodien ab. Es sei ähnlich unwahrscheinlich, dass sich Braunbären mit amerikanischen Grizzlies paaren würden, versicherte mir der bekannte Verhaltensforscher M. Wuketits. Auch sie würden sich nicht als zur selben Art zugehörig verstehen. Was aber selbst für Bären gilt, gilt auch für viele Menschen. 394

der zweite lehrer In anderen Worten: Selbst in den Köpfen der Tiere scheinen unterschiedliche Vorstellungen vom »Wesen« ihrer eigenen Art zu existieren. Solche Unterschiede sind noch wesentlich markanter, wenn wir verschiedene menschliche Kulturen betrachten, die z.B. Vögel, die wir mit Bestimmtheit als solche zu erkennen glauben, eben nicht als Vögel bezeichnen17. Zu dieser Thematik existieren inzwischen zahlreiche Studien18.

Menschlicher Wille verändert die Welt Das »Wesen« ist demnach – nicht nur bei al-Farabi – Ergebnis von Abstraktionen, die ein menschlicher Wille setzt. Wovon in einem Anlassfall abstrahiert wird, ist niemals allgemein verbindlich festzulegen, sondern gleichfalls kulturbedingt. Für unsere augenblickliche Diskussion ist ein weiterer Aspekt von noch größerer Bedeutung. In aristotelischer Manier19 kann das Wesen einer Sache nur erkannt werden, wenn diese Sache bereits in der materiellen Welt existiert. Al-Farabi argumentiert in Abhebung dazu vom Standpunkt des Herstellens und verweist darauf, dass Dinge bereits abstrakt in den Köpfen existierten, bevor sie hergestellt und handgreiflich würden. Sie kämen daher erst durch einen Akt menschlichen Willens in die Welt. In anderen Worten: Menschlicher Wille verändert die Welt20. Natur und Wille sind somit zwei Grundprinzipien des Seins. Darauf kommen wir noch zurück. Solcherart wird ein markanter Unterschied zwischen den »Athenern« und al-Farabi offensichtlich. Der von den griechischen Philosophen – ich zähle aus oben dargelegten Gründen die Sophisten nicht dazu – bedauerte heraklit‘sche Wandel der Welt wird bei al-Farabi zu einem erstrebenswerten Ideal. Die Welt wird verwandelt, um sie zu verbessern. Das ist grundverschieden zu jener vollkommenen platonischen Ideenwelt, in der ja nicht nur ein Sokrates als Idee, sondern auch Betten und anderes herumstehen. Somit sind wir einmal mehr bei einem alten Konflikt angelangt, wie er zwischen Sokrates, Platon, Aristoteles auf der einen Seite und vor allem Anaxagoras auf der anderen bestand und den ich gleichfalls in Band I dargestellt habe. 17 Siehe dazu: R. Bulmer R. (1967), S.5-25. 18 Siehe dazu: M. Douglas (1996 ). 19 Siehe dazu Aristoteles, Analytica Posteriora (1995). 20 Ich möchte diese Aussage mit einem Zitat von Ch.A. Colmo (2005) unterlegen: »He is laying the foundation for an understanding of the world in which intelligible things that exist for the first time inside the human mind can by will, that is, human will, exist outside the mind in a way that transforms the natural world.« (S. 149).

395

schukuk – der lohn des zweifels Deutlicher als durch den Vergleich von al-Farabi mit den griechischen Weisen kann der Unterschied und damit der Einfluss von Kultur wohl kaum werden. Der kulturell ausschlaggebende Unterschied, von dem alFarabi allerdings nicht spricht, besteht in der Art, wie der jeweilige Lebensunterhalt geschaffen wird oder woraus das täglich wiederkehrende Handeln und Sorgen21 besteht. Es ist dieser Aspekt, den die griechischen Sophisten mit den Muslimen im Abbasidenreich teilen und der beide von den athenischen Philosophen trennt.

Die Welt in unsren Köpfen Oben wurde behauptet, dass manche Dinge abstrakt »in den Köpfen«22 existieren, bevor sie durch einen Akt des Willens in die materielle Welt eintreten. Doch wie gelangen sie in die Köpfe? Sie entstehen dort gleichfalls durch einen willentlichen Akt, eine absichtsvolle Handlung des Willens und zugleich durch eine Methode. Bereits in Kapitel VIII wurde darauf hingewiesen, dass al-Farabi induktive Schlüsse und Kategorien oder Beweisführungen, wie sie Aristoteles vorexerzierte, begründet ablehnte. Platonische Ideen und Universalien werden allerdings nach den Rezepten der Lehrer aus Athen genau durch diese Methode gewonnen. Notwendig lehnte al-Farabi diese Vorgehensweise gleichfalls ab und bestritt deren Sinnhaftigkeit. Nicht durch Induktion, ausgehend von bereits existierenden Erscheinungen, sondern durch Abstraktion von den jeweiligen, unzählbaren Eigentümlichkeiten, den »Akzidenzien« eines Gegenstandes werden jene Wesenheiten gewonnen, oder präziser: geschaffen. Die platonischen Ideen im »Himmel« verlieren somit ihren gottähnlichen, unwandelbaren Status. Sie werden Schöpfungen einer menschlichen Vorgehensweise, d.h. der Methode willentlicher Abstraktion. Ideelle Dinge existieren – das bestreitet al-Farabi keineswegs. Doch sie existieren in den Köpfen der Menschen, und zwar deshalb, weil sie durch einen Willensakt geschaffen wurden. Der alte Dualismus zwischen Sein und Wesen wird damit aufgehoben. Beide werden im menschlichen Willen und in dessen Absichten oder Vorhaben eins. Damit wird das Wissen und Erkennen der theoretischen Philosophie einer neuen Philosophie praktischen Wissens untergeordnet. Philosophie versteht sich selbst neu. Nun kann al-Farabi die Frage beantworten, wozu Philosophie gut sei. Sie steht bei ihm im Dienst einer Praxis des Herstellens, wird zur 21 Damit mache ich eine Anleihe bei M. Heidegger (1927). 22 Meistens würde dafür der Begriff »Geist« oder »Verstand« benutzt. Ich bevorzuge es, von »Köpfen« zu sprechen.

396

der zweite lehrer »Magd« der Politik im umfassendsten Sinn. Damit erhält aber Wissen oder Erkenntnis selbst einen neuen Stellenwert23. Unsere Suche nach Erkenntnis betreffe nun nicht länger ideale Dinge, die so und nicht anders beschaffen sein könnten, wie dies Aristoteles etwa von den himmlischen Sphären oder der Ausstattung des menschlichen Körpers24 behauptete und teleologisch begründete. Da unsere Vorstellungen Ergebnisse von Abstraktionen seien, die Welt aber eine unermessliche Vielfalt aufweise, ließe sich diese Vielfalt nicht auf eine einzig mögliche Abstraktion reduzieren. Es wären zahllose Abstraktionen möglich. Unsere Kenntnisse und unser Wissen seien folglich beide vorläufig, immerwährend veränderlich und situationsbedingt. Al-Farabi wird deshalb mit Recht als »Pluralist« bezeichnet, als jemand, der von der möglichen Existenz vieler unterschiedlicher Welten überzeugt ist. Diese kurze Skizze eines nicht unwesentlichen Aspekts in al-Farabis Philosophie macht zweierlei zugleich deutlich: den unübersehbaren Graben, den er zwischen sich und den athenischen Lehrern zieht, und außerdem das große Gewicht, das er auf praktisches Herstellen im Unterschied zum theoretischen Argumentieren legt. Damit wäre der genannte Akkulturationsprozess im Zuge der Überlieferung nochmals anschaulich aufgezeigt. Die Resultate dieses Prozesses zeitigten Wirkungen, die auch für uns bedeutsam werden sollten, ohne dass sie aber von der großen Zahl heutiger Philosophen und Wissenschafter als solche wahrgenommen werden. Ich kann daher nicht umhin, darauf noch ausführlicher einzugehen.

Erfahrung und/oder Lehre Nach al-Farabi ist »Methode« der einzige Weg, der sichere Erkenntnis ermöglicht. Nach sorgfältiger Inspektion unterschiedlicher Methoden kommt er – was nach oben Gesagten kaum überrascht– zu dem Ergebnis, dass die Suche nach sicherem Wissen zugunsten der Suche nach menschenmöglichem Wissen aufgegeben werden müsse. Für diesen Schritt hat er gute Argumente. Die platonische Vorstellung, dass Wissen eine Art pränataler Erinnerung25 sei, lehnt er rundweg ab. Doch auch der Vorstellung, dass Wissen irgendwo außerhalb des Menschen zu entdecken sei, gewinnt er nichts ab. Es gibt kein absolutes oder unqualifiziertes Wissen. Es gibt aber 23 Eine Bedeutung, von der oft behauptet wird, dass sie erst F. Bacon formuliert hätte. Siehe dazu den Epilog in diesem Band. 24 Siehe dazu: M. Schmutzer (2011), Band I, Kapitel VI. 25 Platon: Menon

397

schukuk – der lohn des zweifels grundlegende Einsichten (Prinzipien) – doch diese sind mannigfaltig und nicht aufeinander reduzierbar. Sie sind inkommensurabel, sie ergeben zusammen nie ein kohärentes, theoretisches Ganzes. Grundlegende Einsichten bezeichnet er als Grundwissen. Alles andere Wissen kommt durch Schlussfolgerungen, Untersuchungen, Instruktion und Studium zustande, wobei diese verschiedenen Vorgehensweisen stets vom Grundwissen ausgehen müssen. Es gibt demnach zwei wesentliche Grundeinsichten: Einsichten, die aus der Erfahrung im Umgang mit der Natur oder schlechthin dem »Seienden« gewonnen werden, und Einsichten, die durch Bildung vermittelt und gewonnen wurden. Grundsätzlich unterscheidet er demnach zwischen zwei verschiedenen Arten von Wissenserwerb: eigene Untersuchungen, oder Unterricht und Instruktion durch Andere. Beide Verfahren des Wissenserwerbs würden zu ihrer Vorgehensweise auch eine Methode brauchen. Eine möglicherweise angeborene Fähigkeit allein sei nicht hinreichend, um Untersuchungen auf eigene Faust anzustellen. Erst Kenntnis einer Methode gestatte, jene Folgerungen zu machen, die Wissen entweder als sicheres Wissen qualifizieren oder nur als Glaubensätze ausweisen würden26. Hier klingt die zentrale Auseinandersetzung mit den Muʿtakalimun indirekt wieder an. Wie lässt sich allerdings eine geeignete Methode erkennen, wenn man noch gar keine Vorstellung davon hat, was wahr ist? Natürliche Begabung allein reicht nicht, um festzustellen, dass eine verwendete, angelernte Methode richtig ist. Jedermann ist daher genötigt, zunächst mit ungewissen Annahmen zu beginnen, das gilt auch für irgendwelche zur Anwendung kommende, unüberprüfte Methoden. Al-Farabi behauptet aber nun erstaunlicherweise, dass Grundannahmen, die durch Unterweisung erworben wurden, zu sicherem Wissen führen würden27. Das ist in dieser Form schwer zu akzeptieren. Er begründet damit genau genommen neuerlich einen Zirkelschluss. Denn das bedeutet, dass unsere Schlussfolgerungen aus unseren eigenen Untersuchungen dann sicheres Wissen sind, wenn sie mit den Grundannahmen der Lehre übereinstimmen. Grundannahmen der Unterweisung bilden die Basis für unser Wissen28. Sie geben grundlegende Einsichten in die Wirklichkeit vor. Doch dieselben grundlegenden Einsichten sind zugleich auch die Grundannahmen der Lehre. Wir befinden uns also offenbar in einem 26 Damit spricht auch al-Farabi die Frage an, was bei wem als Beweis Geltung beanspruchen kann. 27 Genau genommen vertritt auch T.S. Kuhn mit seinen »Paradigmen« eine ähnliche Position. 28 Hier zeigt sich erneut der »Denkhegemon« in etwas veränderter Form.

398

der zweite lehrer Zirkel. Doch diesem Zirkel können wir entkommen, wenn wir jene Ausgangsbasis finden, wo beide Grundeinsichten tatsächlich ident sind.

Die Sonderrolle der Mathematik Das einzige Gebiet, wo dies der Fall ist, ist nach al-Farabi die Mathematik. Dort sind die Grundannahmen der Wirklichkeit zugleich auch jene der Lehre. Denn die Untersuchungsobjekte der Mathematik sind Objekte, die erst in der Vorstellung erzeugt wurden, indem von ihrer materiellen, tatsächlichen Existenz abstrahiert wurde. Sie existieren so betrachtet nur im Kopf, doch dort existieren sie. Umgekehrt existieren sie, mit Materie behaftet, irgendwie auch in der Wirklichkeit. Mathematische Objekte existieren demnach in zweifacher Weise29. Ohne auf ewige Ideen zurückgreifen zu müssen, demonstrieren sie diese doppelte Existenz in der wirklichen Natur und in den Köpfen. Wir entdecken sie nicht, sondern erzeugen sie30 mithilfe der Methode der Abstraktion. Diese Vorgehensweise ist ein Akt des schöpferischen menschlichen Willens. Mathematische Objekte sind demnach »Wesen«, und man liegt nicht gänzlich falsch, wenn man sie mit platonischen Ideen vergleicht. Grundlegender Unterschied ist allerdings, dass diese Wesen in dieser Welt existieren, weil sie ja durch Abstraktion erst in den Köpfen erzeugt wurden. Sie existieren somit zugleich in der natürlichen Welt wie auch im Verstand. Und zwar können sie in der natürlichen Welt von Natur aus vorgefunden werden, so wie sie dort auch durch einen schöpferischen menschlichen Willensakt hergestellt und erzeugt werden können. Demnach können mathematische Objekte zugleich gewissen Grundannahmen der Wirklichkeit wie auch den Grundannahmen der Unterweisung gerecht werden. Die Grundregeln der Unterweisung in der Mathematik sind zugleich Grundregeln ihrer (abstrakten) Existenz. Ein Nachweis, dass sie existie29 Die Welt besteht, nach al-Farabi, aus allen Dingen und zugleich auch aus allen jenen, die in den Dingen sind, wie etwa abstrakte Ideen in den Köpfen. Sie existieren durch einen schöpferischen Willensakt der Abstraktion. 30 So schreibt z.B. der Nobelpreisträger für Physik E. Schrödinger (1932): »[…] vielleicht ist der mathematische Grenzübergang [M.S.: Limes-Bildung] – den Newton erst eigens für die Zwecke der Mechanik erfunden hat! – doch nicht zulässig. Vielleicht ist der von Newton erfundene mathematische Denkapparat der Natur nicht genügend angepasst.« (S.9). Im selben Atemzug thematisiert er damit, wenn auch mit anderen Worten, die Diskrepanz zwischen »Prinzipien des Seienden« und jenen »der Lehre«, die so entstehen kann und in diesem Fall für die Physik Folgen zeitigte, welche erst Jahrhunderte später wahrgenommen wurden.

399

schukuk – der lohn des zweifels ren, kann folglich zugleich den Nachweis liefern, warum sie existieren. Sie existieren, weil sie mittels Abstraktion erzeugt wurden und mög­ licherweise auch in der natürlichen Welt durch einen Akt des schöpfe­ rischen Willens erzeugt werden können. Damit wird die rigide Unterscheidung zwischen natürlichen und künstlichen Dingen, wie sie die »Athener« pflegten, durchbrochen. Menschlicher Wille schafft die immateriellen Wesenheiten der Mathematik, indem er sie von materiellen Bezügen mittels Abstraktion befreit, und stellt sie, wenn er will, nach Wunsch genauso wieder in eine materielle Existenz zurück. Mathematische Objekte können, das sollte betont werden, sowohl als natürliche, materielle Objekte in Erscheinung treten wie auch als davon befreite, immaterielle Dinge in der Welt der Vorstellung in den Köpfen31. So wie der schöpferische Wille mathematische Objekte schafft, so schafft er auch Universalbegriffe und »Allaussagen«. Diese können, wie oben dargelegt wurde, nicht durch die Methode der Induktion erkannt werden, sondern ausschließlich durch einen willentlichen Akt der Abstraktion. Indem man von einer beliebigen Zahl von Fällen die Zahl abstrahiert, wird die Behauptung geschaffen, dass »alle«32 dies oder jenes seien. »Allaussagen« sind so wie die mathematischen Objekte unsere eigene Schöpfung. Auch sie existieren einzig nur in dieser Welt, und zwar im Verstand und in den Köpfen. Weil mathematische Objekte unsere Schöpfungen sind, sind sie deshalb nicht völlig beliebig. Mathematik vermittelt, was etwas ist, ohne allerdings auch nur andeutungsweise zu sagen, dass es ist. Al-Farabi betont daher, dass mathematische Objekte, sobald sie ihrer materiellen Existenz beraubt werden, trotz ihrer Notwendigkeit nur mögliche Wesenheiten sind, denn es gibt für ihn keine verabsolutierte Notwendigkeit. Verallgemeinert bedeutet das, dass nicht jede Logik einer korrespondierenden »Wirklichkeit« entspricht. Es ist diese Erkenntnis, die sich manche unserer zeitgenössischen Naturwissenschafter ins »Stammbuch« schreiben sollten33, wie das auch Schrödingers Zitat von oben 31 Wer etwa zeigt, dass 1+1=2 ist, und dabei einen und dann einen zweiten Finger vorstreckt, verfährt nach dieser Vorgabe. An dieser Stelle ist vielleicht auch die Anmerkung angebracht, dass dieses sogenannte »Fingerrechnen« kein selbstverständliches, naheliegendes Handeln darstellt. Angeblich wurde es erst von Ibn Sina (latinisiert: Avicenna, 980–1037 n.Chr.) zusammen mit der Verbreitung des indisch-arabischen Zahlensystems eingeführt. Siehe dazu: G. Strohmeier (1999). 32 Ich erinnere an Kapitel I und die Debatte um die Beweisführung des Archimedes. 33 Nur allzu oft wird angenommen, dass die Lösungen, die mithilfe von mathematischen Modellen gewonnen werden, auch natürlichen Phänomenen entsprechen müssten. Die alte Frage, ob Mathematik die Sprache

400

der zweite lehrer nahelegt. Es gilt zwar, dass rationale Notwendigkeiten den menschlichen Willen bestimmen, doch von Materie zu abstrahieren ist ein Akt der Imagination und nicht der rationalen Vernunft.

Grundannahmen der Mathematik Nun sind die wesentlichen Grundannahmen der Mathematik34 zweifach. Sie sind »Zahl« und »Größe«, und zwar sowohl in der Wirklichkeit als auch »de-materialisiert« durch Abstraktion im Verstand. Sie weisen Maß, Proportion, Komposition und Symmetrie unabhängig voneinander auf. Doch Zahl und Größe sind inkommensurabel. Zwar weisen Größen gemeinsame Charakteristika mit Zahlen auf, doch manche Größen können nicht durch Zahlen repräsentiert werden. Wir bezeichnen solche Inkommensurabilitäten als »irrational« und ordnen ihnen nicht existente Zahlen zu, so wie etwa 35 oder die Wurzel aus 2. Damit kaschieren wir, dass diese Größen nicht auf Zahlen reduziert werden können. Kontinua und diskrete Objekte können nicht einfach auf eine einzige gemeinsame Grundannahme reduziert werden36. Es muss folglich von zwei wesentlichen Grundannahmen gesprochen werden. Derartig inkommensurable Verhältnisse spielen schon in al-Farabis Überlegungen eine bedeutende Rolle. Das Diskrete und das Kontinuierliche sind verschiedene mathematische Grundannahmen, die nicht kommensurabel sind. Sie sind, so würde ich sagen, nicht mit demselder Natur sei, wird allzu oft im Geiste Galileis positiv beantwortet. Doch wie vor einiger Zeit in einer Spezialausgabe von Spektrum der Wissen­ schaften (2/08) unumwunden festgestellt wurde, kann diese Frage nicht beantwortet werden. 34 Diese Gedanken entwickelt al-Farabi vor allem in seiner Schrift »Attainment of Happiness«. 35 Maimonides, der große jüdische Bewunderer von al-Farabi schreibt: »You ought to know that the ratio of the diameter of a circle to its circumference is unknown, nor will it ever be possible to express it precisely. This is not due to a shortcoming of knowledge on our part, as the ignorant think. Rather, this matter is unknown due to its nature, and its discovery will never be attained.« (zitiert nach: T. Langermann, 1996, S.165). 36 Diese Position vertrat auch der berühmte Mathematiker L. Kronecker (1823–1891; siehe dazu: L. Kronecker, 1887), der nichts weniger als die Abschaffung des Irrationalen forderte und keinen anderen Infinitesimalbegriff zulassen wollte als den aus einfachen, abzählbar unendlich vielen Gliedern einer Größenreihe bestehenden. In diesem Kontext ist vielleicht auch zu erwähnen, dass angeblich der Erste, der positive, irrationale Zahlen vorschlug, Umar Khayyam war (siehe dazu: J.L. Berggren, 2003).

401

schukuk – der lohn des zweifels ben Idiom beschreibbar bzw. nicht mit dem gleichen Maß messbar37. Folglich können sie auch nicht auf ein einziges Grundprinzip reduziert werden. Bei dem Versuch, sie trotzdem aufeinander zu reduzieren, erhält man bestenfalls unklare, zweideutige Resultate, die wir Heutigen allerdings wenn möglich gerne in einer phantasierten Unendlichkeit38 verschwinden lassen. Da es trotz allem, wie oben festgestellt, auch weite Bereiche an Übereinstimmung gibt, wird von Denkhegemonen verfügt, dass Zahl und Größe aufeinander zu reduzieren wären. Die Ergebnisse sind beachtenswert und figurieren prominent unter Bezeichnungen wie »analytische Geometrie« etc. Solche Vermischungen von inkommensurablen Prinzipien haben ihren Preis, doch bieten sie zugleich auch neue Einsichten und Möglichkeiten. Al-Farabi lehnt sie daher nicht prinzipiell ab, sondern weist darauf hin, dass sich schon vor seinen Tagen neue Fachbereiche wie Optik, Astronomie oder Mechanik daraus ergeben haben. Demnach verschließt sich der »zweite größte Lehrer« solchen Ansätzen keineswegs, sondern stellt dezidiert fest, dass unter der Voraussetzung, dass ihre Wesensdifferenz durch korrekte Trennung der Prinzipien des Seins und des Wissens erkannt wird, Menschen frei sind, auch nicht-kommensurable Grundannahmen miteinander zu vermischen – wie dies beispielsweise die Descartes’sche »analytische Geometrie« vorexerziert. 37 Es ist ja bekannt, dass viele Gedanken sich nur in einer bestimmten Sprache angemessen artikulieren lassen. Die Übertragung in eine andere Sprache ist mit inhaltlichen Verlusten und Verzerrungen verknüpft. Das gilt sogar für viele Übersetzungen von so nahe verwandten Sprachen wie Deutsch und Englisch. 38 Ein anschauliches Beispiel für diese phantasierte Unendlichkeit liefert die Bestimmung objektiver Wahrscheinlichkeiten. Man nimmt beispielsweise an, dass die Wahrscheinlichkeit, dass bei einem Münzwurf »Kopf« oder »Adler« fällt, 1/2 ist. Der Nachweis würde allerdings wieder einmal unendlich viele Würfe erforderlich machen, so wie bei jedem induktiven Beweis. Die Frage, ob nach unendlich vielen Würfen die Münze noch dieselbe wie am Anfang wäre, wird erst gar nicht thematisiert oder mit der fiktiven Behauptung, dass alles andere gleich bleibt, abgetan. Diese fiktive Annahme wird als »ceteris paribus«-Klausel bezeichnet. Sie wird uns noch begegnen. Obige Wahrscheinlichkeitsauffassung wurde daher von Th. Bayes (1701– 1761) abgeändert. Die nach ihm benannte »Bayes‘ianische Wahrscheinlichkeit« stellt nur mehr ein Maß für den subjektiven Glauben dar, dass ein Ereignis mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auftritt. Diese neue Deutung bleibt auch nicht ohne Folgen für die moderne Quantenmechanik.

402

der zweite lehrer Diese klare Trennung wird allerdings zumindest in unseren Tagen nicht wirklich befolgt39. Daher herrscht vielerorts der Glaube vor, dass irgendwelche fantastischen Ergebnisse mathematischer Gleichungen auch mit der physikalischen Wirklichkeit übereinstimmen müssen40. Und siehe da, es finden sich tatsächlich unter Billiarden von empirischen Messergebnissen41 einige hunderte, die man als korrespondierende Phänomene in der materiell-energetischen Welt deuten kann42. Man kann diese Ausführungen in der Feststellung zusammenfassen, dass Mathematik für al-Farabi ein absichtsvoller, willentlicher Akt menschlicher Abstraktionsfähigkeit sei. Mathematik existiere daher nicht irgendwo in einem Ideenhimmel und auch nicht in einer komplexen Wirklichkeit, sondern ausschließlich in den Köpfen der Menschen. Diese sind allerdings ein wesentlicher Bestandteil der natürlichen Welt und folglich so vielfältig gestaltet wie jene. Es finden sich demnach auch Köpfe ohne Mathematik. Die menschliche Fähigkeit zur Abstraktion ermögliche es, betont alFarabi, sowohl die unvollständige Natur des Menschen selbst als auch seine Umwelt zu verändern43, was – in klarer Unterscheidung zu den beiden berühmten Athenern – für al-Farabi ein erstrebenswertes Projekt darstellt. Nach al-Farabi wirken in der Natur Ursachen, die erkannt werden können, in der menschlichen Gesellschaft wirken hingegen rationale Prinzipien. Um die Welt zu verändern, würden Menschen Kenntnis von beiden Prinzipien brauchen. Der Verstand abstrahiere und isoliere Teile der Natur, um sie in gänzlich neuer Weise wieder zu kombinieren. Derartige Kombinationen seien dabei keineswegs auf etwas beschränkt, was die Natur bereits zufällig zusammengestellt hat.

39 Ich erinnere an obige Bemerkung von E. Schrödinger. 40 Ich zitiere dazu Ch.A. Colmo: »Alfarabi might as well have said that all of the demonstrations in mathematics tell us what is without in any way telling us that it is.« (Ch.A. Colmo, 2005, S. 148). 41 Gleichfalls übergangen wird, dass diese Messergebnisse selbst Deutungsergebnisse sind, die mithilfe von fiktionalen Modellen erzeugt wurden. 42 Hier denke ich an die jüngsten, angeblich bahnbrechenden Forschungsergebnisse des CERN, die sich allerdings nach neuerlicher Inbetriebnahme des Beschleunigers bislang (Aug. 2015) nicht wiederholen ließen. 43 Wie weiter unten gezeigt wird, ist die Veränderung der Welt eine Angleichung an mental vollzogene Abstraktionen. Es werden störende Akzidenzien in der materiellen Welt und nicht nur im Verstand systematisch eliminiert, wodurch erst die Verwirklichung der Abstraktionen ermöglicht wird.

403

schukuk – der lohn des zweifels

Falsche Wirklichkeiten Al-Farabi vergaß nicht, dass auch Menschen Natur sind und von Natur her soziale und politische Wesen sind. Sie müssen und können deshalb nicht nur natürliche Gegebenheiten verändern, sondern müssen und können genauso an der Gesellschaft arbeiten. Wer sich dieser Aufgabe entziehe, so meinte er, würde über kurz oder lang ein verzerrtes und falsches Verständnis der Wirklichkeit entwickeln.44 Theoretische Wissenschaften würden einzig Grundannahmen kennen, die unveränderlich seien, was hypothetisch möglich sei. Sie würden aber nichts darüber berichten, was außerhalb des Verstandes und außerhalb der Köpfe im Bereich der natürlichen Vorgänge tatsächlich vor sich gehe. Auch diese Aussagen al-Farabis bedürfen wohl einer Erläuterung: In den Wissenschaften herrscht der verbreitete Glaube vor, dass empirische Untersuchungen genau dieses Manko ausgleichen. Faktum ist allerdings, dass im sozial- und im naturwissenschaftlichen Bereich mittels Stichproben und mit statistischen Erhebungen gearbeitet wird, die im naturwissenschaftlichen Bereich noch zusätzlich meistens in irgendwelchen Labors stattfinden. Moderne Laboratorien sind aber, vor allem von Louis Pasteur45, genau deshalb erfunden worden, um die Vielzahl der äußeren Einflüsse auszuschließen. Labors sind steril und haben somit mit der Wirklichkeit wenig mehr gemein als das, was davon isoliert und übrig gelassen wurde. Laboratorien stellen demnach einen Versuch dar, die schon erwähnte »ceteris paribus«-Klausel zu materialisieren46. In sozialwissenschaftlichen Untersuchungen geschieht Ähnliches durch das Aufstellen von Indikatoren, die notwendig eine Auswahl aus der Fülle potentiell möglicher relevanter Daten treffen. Der zu erwartende Einwand, dass in einer nachfolgenden Phase die Ergebnisse in die Natur zurückgeführt würden, wird von B. Latour47 mit dem Argument zurückgewiesen, dass sie nicht in eine natürliche 44 Auch das scheint eine Einsicht zu sein, die man als Merkzettel nicht nur vielen Naturwissenschaftern über ihren Schreibtisch hängen sollte, sondern auch solchen Sozialwissenschaftern, die etwa meinen, Ökonomie und deren abstrakte mathematische Modelle könnten alles erklären. 45 Siehe dazu: B. Latour (1988). 46 Es »[…] lässt sich die sogenannte Ceteris-paribus-Klausel manipulieren. Man kann mit ihrer Hilfe jede Theorie gegen eine Entkräftigung durch die empirischen Fakten immun machen, indem man erklärt, dass die Aussagen der betreffenden Theorie nur unter ansonsten gleichen Umständen Geltung hätten; erweisen sich die Aussagen als falsch, so behauptet man, dass die Theorie zwar richtig sei, aber die Umstände seien nicht die gleichen gewesen.« ( m.H., M.S.; E. Topitsch, 1966, S.26). 47 Siehe dazu: B. Latour (1987); B. Latour, St. Woolgar (1979).

404

der zweite lehrer Wirklichkeit zurückgebracht würden, sondern dass umgekehrt diese Wirklichkeit den Laborbedingungen bestmöglich angepasst würde. Beredtes Beispiel liefern dafür klinisch saubere Operationssäle moderner Spitäler, die Produktionsräume mikroelektronischer Komponenten, Intensivstationen etc. Verallgemeinernd lässt sich dieses Vorgehen als Schaffung von »black boxes« bezeichnen, d.h. der Herstellung eigener in sich abgeschlossener Mikrouniversen. Man könnte diese auch als »industrialisierte« Variante der »ceteris paribus-Klausel« verstehen. E. Schrödinger (1932) stellt in diesem Zusammenhang folgende Frage: »Die Frage war: kann man bei vollkommen genauer Kenntnis des Zustandes eines isolierten Systems sein künftiges Verhalten scharf und eindeutig voraussagen? Ist die Natur so beschaffen, dass dies wenigstens theoretisch möglich wäre, wenn wir auch praktisch nicht imstande sind, die nötigen Daten zu erlangen? […] Wenn die Natur etwas Komplizierteres ist als ein Schachspiel – und das wird man glauben wollen – dann ist ein physisches System durch eine endliche Zahl von Beobachtungen jedenfalls nicht determiniert. Wirklich ausführen lässt sich nur eine endliche Zahl von Beobachtungen. Dem Determinismus bleibt immer noch übrig zu glauben, dass es durch eine unendliche Häufung der Beobachtungen prinzipiell möglich sein würde, das System völlig zu determinieren. […] […] der gegenwärtige Standpunkt ist […] - man muss nicht annehmen, dass eine unendliche gehäufte Beobachtung, die in Wahrheit nicht durchführbar ist, absolut determinieren würde.« (S. 22, 23, 24).

Diese Sichtweise eines führenden Physikers unserer Zeit korrespondiert in auffallender Weise mit den Argumenten al-Farabis, die im vorhergehenden Kapitel im Kontext seiner Kritik am Syllogismus skizziert wurden. Al-Farabi belässt es allerdings nicht dabei, denn nach al-Farabi bedarf es nämlich auch völlig anderer Fähigkeiten und Fertigkeiten, um jene Dinge wirklich zu erfassen, die sich verändern. Diesen Bedarf illustrieren heute anschaulich die wenig überzeugenden Strategien theoretisierender Ökonomen im Rahmen sogenannter Rettungsaktionen des Euro, genauso wie die mühseligen Bemühungen von Klimaforschern, Vorgänge in diesem Bereich zu erfassen, oder jene peinlich falschen Vorstellungen von zu erwartenden Vorgängen im Fall eines Tsunami, die in Fukushima augenfällig wurden, obwohl diese Möglichkeit in Modellen durchaus berücksichtigt wurde.

Anschauungsbeispiel Ein nahezu unterhaltsames Anschauungsbeispiel zu diesem Thema liefert die folgende Kurzgeschichte: 405

schukuk – der lohn des zweifels Im November 2008 berichtete die britische Zeitung »The Telegraph« über einen offiziellen Besuch von Königin Elisabeth II. an der weltweit hochangesehenen London School of Economics. Nachdem sie vom dortigen Leiter der Forschungsabteilung in die Ursachen und Wirkungen der Finanzkrise eingeführt worden war, stellte die Königin entgegen sonstigen königlichen Usancen an ihn die Frage, wie es möglich war, dass ein derartig gigantisches und »schreckliches« Problem von niemandem rechtzeitig wahrgenommen wurde. Die Antwort des Experten fiel so dürftig aus, dass sich die gesamte Gilde der Ökonomen veranlasst sah, der Königin im Nachhinein ein Antwortschreiben zu übermitteln. Um dieses abzufassen, wurde von der Britischen Akademie der Wissenschaften im Juni des folgenden Jahres ein Seminar organisiert, an dem viele hervorragende britische und internationale Experten teilnahmen. Das dreiseitige Schreiben an die Majestät hatte ebenfalls wenig Erklärungen anzubieten. THE OBSERVER vom 26. Juli 2009 fasste die Ergebnisse etwa so zusammen: Die Ursache für das offensichtliche Versagen der Wissenschafter hätte viele Gründe, doch herrschte, so meinten die Fachleute, bei zahlreichen hervorragenden Forschern vor allem ein Mangel an kollektiver Vorstellungskraft (»collective imagination«), die Risiken des globalen Systems in seiner Gesamtheit zu erfassen (»to understand the risks to the system as a whole«). Man hätte angeblich die kombinierten Wirkungen der weltweiten finanziellen Ungleichgewichte nicht erfasst. Dabei blieb auch nicht unerwähnt, dass das Wunschdenken diverser finanzieller »Hexenmeister« (»wizzards«) es geschafft hätte, sich selbst und die Politiker der gesamten Welt von der Korrektheit ihrer Strategien der Risikostreuung zu überzeugen. Der Generalsekretär der Britischen Akademie der Wissenschaften meinte in dem Schreiben an die Königin außerdem, dass eben die Komplexität der globalen Rezession so gewaltig sei, dass man die Zusammenhänge nicht wirklich durchschauen könne und folglich auch nicht auszuschließen sei, dass Ähnliches wieder passieren könne. Anlässlich eines späteren Besuchs der Königin bei der »Bank of England« im Dezember 2012 wollte einer der dortigen leitenden Finanzexperten die Gelegenheit wahrnehmen, der Königin nach weiteren fünf Jahren noch eine abschließende Erklärung zu ihrer ursprünglichen Frage anzubieten. Diese bestand darin, die Finanzkrise mit einem Erdbeben oder einer Grippepandemie zu vergleichen. Sie wären alle nicht vorhersehbar, weil sie äußerst selten auftreten würden.48 Wir begnügen uns für den Augenblick mit der Aussage jenes prominenten »Experten«, dass die Komplexität der Vorgänge undurchschaubar ist. Um damit aber doch irgendwie zurande kommen zu können, 48 Siehe dazu: THE GUARDIAN, 13. Dezember 2012.

406

der zweite lehrer wird eben abstrahiert, was zugleich bedeutet, dass man sich von den tatsächlichen Vorgängen verabschiedet und stattdessen lieber stark vereinfachte Modelle studiert.49 Nach al-Farabi werden demnach heute wie damals zwei verschiedene Arten von Wissen benötigt. Theoretiker, meinte er bereits vor tausend Jahren, die sich darum nicht bemühen würden, büßten deshalb ihre Fähigkeit ein, tatsächlich stattfindende Veränderungen auch nur wahrzunehmen.

Eine bessere Welt herstellen Der oben genannte schöpferische Wille zur Veränderung ist keine Naturgegebenheit. Natur und Wille sind vergleichbar inkommensurabel wie das rationale Tier im Menschen und der politische Mensch. Hinter dieser Feststellung al-Farabis macht sich allerdings nun doch der alte Philosophenkönig aus Athen wieder bemerkbar. Doch in den Schriften, die im vorigen Kapitel besprochen wurden, zeigte der muslimische Denker bereits, dass sich auch in diesem Bereich seine politische Philosophie mit seiner Rationalität kombinieren lässt. Der platonische Eros50, der in Athen dafür sorgen sollte, dass sich Menschen verbünden und ein »Wir-Gefühl« entwickeln, wird bei al-Farabi durch den menschlichen Willen und ein Bewusstsein ersetzt, dass sich durch Kombination von Theorie mit Praxis und von Natürlichem mit Künstlichem eine neue, eine bessere Welt herstellen lässt51. Dazu passt die Anmerkung, dass sich aus seiner Sicht Natur überhaupt nur in Gegenübersetzung zum Künstlichen fassen lässt. Auch hier mel49 Darauf verweist u.a. der australische Ökonom St. Keen, wenn er schreibt: »It may astonish non-economists to learn that conventionally trained economists ignore the role of credit and private debt in the economy – and frankly, it is astonishing. But it is the truth. Even today, only a handful of most rebellious of mainstream ›neoclassical‹ economists – people like Joe Stiglitz and Paul Krugman – pay attention to the role of private debt in the economy, and even they do so from the perspective of an economic theory in which money and debt play no intrinsic role. An economic theory that ignores the role of money and debt in a market economy cannot possibly make sense of the complex, monetary, credit-based economy in which we live.« (m.H., M.S.; St. Keen, 2011, S.6). 50 Siehe dazu: Platon, Symposion. 51 Diese Sicht entspricht einer heute zum Dogma hochstilisierten Grundeinstellung. Sie wurde dort, wo sie am meisten gepflegt wird, nämlich jenseits des Atlantik, als »technological fix« bezeichnet. Diese Nähe al-Farabis zu vielen heutigen Denkmustern veranlasst mich auch in den folgenden Kapiteln wiederholt, Bezüge zu unserer Zeit herzustellen.

407

schukuk – der lohn des zweifels den sich die beiden alten Philosophenkönige gewissermaßen wieder zurück. Allerdings ist diese Feststellung nur teilweise korrekt. Es stimmt zwar, dass sich al-Farabi in seinen Schriften ausschließlich mit den zwei Koryphäen athenischer Philosophie, nämlich Platon und Aristoteles, auseinandersetzte. Doch das heißt nicht, dass ihm nicht auch andere Vertreter griechischer Wissenschaften bekannt gewesen wären. Detaillierte Kenntnisse der Schriften des Aristoteles allein liefern bereits hinreichend Material, um zumindest Wissen aus zweiter Hand über jene alternativen Denkansätze zu vermitteln, die etwa von den gegnerischen Sophisten vertreten wurden. Ich erinnere deshalb in diesem Kontext daran, dass beispielsweise auf die alte, kosmologische Frage nach dem Ursprung der Welt oder nach ersten Prinzipien oder Elementen Antworten bereits von Naturphilosophen vorgelegt worden waren. Jene von Anaximander schlug einen zufälligen Prozess der »Selbstorganisation«52 von im Chaos frei herum schwirrenden Elementen vor. Diese These53 behagte allerdings späteren Generationen wenig, und schon gar nicht den platonischen Philosophen. Anaxagoras, ein bedeutender Zeitgenosse und persönlicher Freund des Perikles, versuchte, diesen Prozess der »Selbstorganisation« seiner Spontanität zu berauben. Er schlug daher die Existenz eines neuen Prinzips im Chaos vor, welches er mit »Nous« () bezeichnete. Sein Gedanke wurde von den beiden Philosophenkönigen aufgegriffen, kritisiert und umgedeutet, weil er in seiner ursprünglichen Form nicht den von ihnen vertretenen metaphysischen und teleologischen Idealen entsprach54. Das, was den Philosophenfürsten nicht gefiel, war der darin zum Ausdruck kommende Gedanke, dass ein Wille zur Herstellung einen Plan55 voraussetzt, der im »Nous« des Anaxagoras seinen Ausdruck fand. Ich habe bereits oben und vor allem im ersten Band darauf verwiesen, dass Vertreter der Sophisten – und Anaxagoras mit ihnen – einen empirisch orientierten Zugang zur Erkenntnis entwickelt hatten, der eben die Lebenspraxis56 von genau jenen Kreisen Athens 52 »Selbstorganisation« ist meine vereinfachende Interpretation und nicht jene Anaximanders. 53 Diese These ist die ziemlich genaue Wiedergabe der sozialen Umstände, die zur Gründung zahlreicher Poleis innerhalb der griechischen Kolonisationsbewegung führten. Anaximander war ein prominenter Akteur in diesem Prozess. Siehe dazu: M. Schmutzer (2011), Band I, Kapitel III. 54 Siehe dazu: M. Schmutzer (2011), Band I, Kapitel VI. 55 Platon hat diese Notwendigkeit in »seine ewigen Ideen« umgedeutet und verabsolutiert. 56 »Man muss der Praxis eine Logik zuerkennen, die anders ist als die Logik der Logik, damit man der Praxis nicht mehr Logik abverlangt, als sie zu

408

der zweite lehrer widerspiegelte, die nicht zu den aristokratischen Gruppen zählten. Die zuletzt Genannten hatten eine andere Lebenspraxis, folglich auch andere Interessen, und haben daher auch eine andere Logik und eine andere Wissenschaft entwickelt. Im ersten Kapitel dieses Bandes habe ich bereits auf diese grundsätzlich anderen Denkgepflogenheiten hingewiesen, wie sie etwa in Magna Graecia vorherrschten und vor allem von Archytas von Tarent vertreten wurden. Sie illustrieren die gleichen Zusammenhänge. Alle diese Zugänge wurden durch die expansive Politik der Platoniker der Akademie ins Abseits gedrängt.

Wiedergeburt Doch wie sich zeigte, feierten diese Ansätze eine Wiedergeburt im Reich der muslimischen Abbasiden, obwohl sie bestenfalls nur bruchstückhaft weitergereicht wurden. Man könnte sich dazu verleitet sehen, der weit verbreiteten Auffassung zuzustimmen, dass sich »die Wahrheit« eben durchsetze. Allerdings glaube ich nicht an die Existenz einer einzigen Wahrheit. Mit dieser Aussage könnte ich mich nun als Anhänger al-Farabis deklarieren, was mir genauso fern liegt. Ich würde zwar auch in Einklang mit diesem »zweiten Lehrer« – wie Maimonides al-Farabi nannte – davor zurückschrecken, die Erkenntnisse eines Aristoteles oder Platons in Bausch und Bogen abzulehnen. Alle Genannten stimmen mit der von al-Farabi vertretenen Doktrin überein, dass die Welt eine irreduzible Vielfalt aufweist. Diese Vielfalt lässt sich allerdings selbst durch Abstraktion nie so weit reduzieren, dass sie mithilfe eines einzigen Erklärungsmodells erfasst werden könnte. Die oben genannten Beispiele von Finanzkrisen und Pandemien legen allerdings den Schluss nahe, dass selbst viele unterschiedliche Modelle das nicht bewerkstelligen können. Denn jedes Modell beruht auf Abstraktionen, die nicht nur nicht mehr in der Lage sind, die Vielfalt beschreibend zu erfassen, sondern zusätzlich Gesetzmäßigkeiten unterstellen, die nur in den bieten hat.« Die Analyse der »[…] Theoretisierungseffekte […]« [wie] »[…] (erzwungene Synchronisierung der Aufeinanderfolge und künstlichen Totalisierung, Neutralisierung der Funktionen und Ersetzen des Systems der Erzeugungsgrundlagen durch das System der Erzeugnisse), lässt im Umkehrbild gewisse Eigenschaften der Logik der Praxis hervortreten, die sich definitionsgemäß einer theoretischen Erfassung entziehen. Diese im doppelten Wortsinn praktische Logik kann alle Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen […] als praktisch integriertes Ganzes eng miteinander verknüpfter Erzeugungsprinzipien ordnen […]« (m.H., M.S.; P.Bourdieu,1980, S.157).

409

schukuk – der lohn des zweifels Köpfen aufgrund von Abstraktionen allgemeine und immerwährende Gültigkeit haben können. Es wird allerdings gerne versucht – ähnlich wie die »böse Schwester« von Aschenputtel verzweifelt versuchte, ihren verunstalteten Fuß in einen zu kleinen Schuh zu zwängen – diese Mannigfaltigkeit in ähnlicher Weise zu misshandeln. Maßgeblicher Grund dafür dürfte sein, dass wir aus vordergründig wirtschaftspolitischen Interessen verleitet werden, an einen kumulativen Fortschritt zu glauben. Diesem Glauben abzuschwören wäre an der Zeit, denn nur dann könnten die zahllosen Inkommensurabitäten zeitgleich ans Licht des Tages treten und damit die Chance für ein neues politisches System eröffnen, in dem manche humanitären Postulate der Aufklärung eher realisierbar scheinen als im gegenwärtigen Modus. Denn, so wie al-Farabi bereits vor mehr als tausend Jahren feststellte: Philosophie und Politik sind miteinander untrennbar verbunden. Das, was wir heute als Wissenschaft bezeichnen und glauben, von Philosophie abgrenzen zu können, ist eben integraler Bestandteil von zwei Welten, von Politik und Philosophie. Das heute gängige Dogma behauptet das Gegenteil, nämlich eine objektive, politische Neutralität der Wissenschaften57. Der Zusammenhang wird vor allem deshalb bestritten, weil dann die vorgebliche Automatik (d.h. Selbstbewegtheit) der Forschung bezweifelt und folglich alternative Entwürfe entwickelt werden könnten, die den herrschenden Denkhegemonen und der Politik nicht dienlich wären. Die Maschinerie des Fortschritts gäbe es nicht länger, weil sich Geschichte als Bericht über soziale Entwicklungen durchaus auch wiederholen könnte. Das heißt nicht, dass Kaiser Barbarossa irgendwann wiederkäme. Er kommt so wenig wieder wie die griechischen Thetes oder deren intellektuelle Protagonisten. Auch nicht in jenem heraklit‘ischen Sinn, dass nach Vollendung eines »großen Jahres«58 alles noch einmal in derselben Façon wiederkomme. Doch soziale Konfrontationslinien zeigen auffällig wiederkehrende Ähnlichkeiten und reproduzieren analoge Abstraktionen in den Köpfen der Verständigen. Das lässt sich bereits aus unseren bisherigen Untersuchungen als ein Zwischenergebnis ableiten.

57 Auch an dieser Stelle ist ein weiterer Verweis auf die Arbeiten von B. Latour angebracht (siehe oben). 58 Das sind bei ihm 10.800 Erdenjahre.

410

»zweifel an ptolemäus«

»Zweifel an Ptolemäus« Ähnlich wie manche seiner Vorgänger (al-Khwarizmi, al-Farabi etc.) publizierte auch al-Hazen (zur Erinnerung: das ist der latinisierte Name von al-Haytham) Bücher, die darauf ausgelegt waren, eine breite Leserschaft anzusprechen. Dabei fällt auf, dass – so wie bei al-Khwarizmi auch – in seinem umfangreichen Werk über den »Aufbau der Welt« (»Kitab fi Hay’at al-ʿAlam«) jede mathematische Deduktion fehlt; genau genommen fehlt überhaupt jede Spur eines Beweises. Auch diese voluminöse Schrift ist rein deskriptiv darstellend. Die Absicht dahinter hält er selbst mit folgenden Worten fest: »Unser Ziel ist die Vermittlung (»nakl«) dessen, was wir von diesen Wissenschaften (d.h. mathematischen Wissenschaften) verstanden haben, an das Verständnis derer, die ohne Forschen (»baḥth«) zum Erfassen von ihnen (diesen Wissenschaften) gelangen wollen.«59 Unweigerlich fühlt man sich bei solchen Worten an Archytas von Tarent 60 erinnert. In ähnlichem Geist verfasste Ibn al-Haytham sogar eine »popularisierte« Version des Almagest, die von jedmöglichen technischen Erläuterungen frei gehalten wurde. Diese Arbeit wurde im 13. Jahrhundert ins Lateinische und ins Hebräische übersetzt und übte so nachhaltigen Einfluss aus. Wie nicht anders zu erwarten ist, übernahm und propagierte Ibn al-Haytham damit aber auch die aristotelisch-ptolemäische Auffassung von der Erde als Kugel, die sich unbewegt im Mittelpunkt des Universums befindet. Trotzdem hinderte ihn diese Popularisierung in der Folge keineswegs daran, ein weiteres Buch mit dem Titel »Maqala fi ’l-Schukuk ʿala Baṭlamyus« (»Abhandlung über Zweifel an Ptolemäus«) zu verfassen. Im »Schukuk« weist al-Haytham auf verschiedene Unstimmigkeiten hin. Ptolemäus, der stellenweise selbst Diskrepanzen zwischen beobachteten Planetenkonstellationen und seinen theoretischen Prognosen eingesteht, meinte allerdings, dass derartige Abweichungen tolerabel seien, solange sie keine groben Unstimmigkeiten enthielten. Al-Haytham gibt sich im Unterschied dazu mit solchen Eingeständnissen nicht zufrieden, sondern zeigt bedenkenlos zahlreiche Widersprüche in den Schriften des Starastronomen aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert auf. Er geißelt u.a. dessen Behauptung als Absurdität, dass es einen »Äquanten« gebe. Diese »Annahme« betitelt er als unakzeptable Verwechslung von empirischen Fakten mit imaginären, mathematischen Abstraktionen. Al-Haythams Haupteinwand gegen den Äquanten ist, dass diese Annahme nur deshalb getroffen wurde, um zu verschleiern, dass sich in Ptolemäus’ Modell der Planetenbewegungen die Planeten 59 Siehe dazu: F. Schramm (1963), S. 65. 60 Siehe dazu Kapitel I in diesem Band.

411

schukuk – der lohn des zweifels nicht mit gleichförmiger Geschwindigkeit um die Erde bewegen. Tatsächliche Planetenbewegungen könnten, so betont er, niemals Ergebnis von eingebildeten Kreisen sein. Denn Imaginationen allein seien keinesfalls dazu imstande, die Bewegung eines Planeten zu beeinflussen. In entschlossener Abhebung zu derartig imaginierten Idealen forderte er daher in einer weiteren Schrift (»Abriss der Astronomie«), dass das ptolemäische System als System realer, physikalischer Objekte und nicht als System abstrakter Hypothesen verstanden werden müsse. Es existiere tatsächlich als Planetenkonfiguration, die beschrieben werden könne. Deshalb sollte es auch möglich sein, materielle Modelle zu bauen, in denen kein Himmelskörper mit einem anderen kollidiere. Sein Vorschlag, mechanische Modelle für das ptolemäische, geozentrische System herzustellen, wich meilenweit von allen Praktiken ab, die die peripatetische Schule kanonisiert hatte. Sein Vorschlag wurde später tatsächlich realisiert. Damit stabilisierte sich allerdings zugleich auch die verbreitete Überzeugung, dass der geozentrische Ansatz korrekt sei. Diese Kritik macht zugleich auch den grundlegenden Unterschied zwischen der arabischen und der hellenistischen Wissenschaft deutlich. P. Duhem fasst diese Differenz mit folgenden Worten zusammen, die allerdings in ihrer unübersehbaren Wertung zugleich seine eigenen platonischen Vorurteile zum Ausdruck bringen: »It would appear then that the Arabs unanimously endorsed the axiom that astronomical hypotheses must conform to the nature of things. Some of them took this to mean that astronomical hypotheses must be deduced from a physics regarded as certain; others took it as referring to the condition that astronomical hypotheses be capable of representation by means of ingeniously sculptured and arranged rigid bodies. Not one of them seems to have risen to the doctrine that the Greek thinkers had enunciated; namely, that astronomical hypotheses are not judgements bearing on the nature of things; that it is not necessary that they be deducible from the principles of physics, nor even that they be in harmony with the principles; that it is not necessary that they allow of representations by means of suitably arranged rigid bodies revolving on one another, because, as geometric fictions they have no function except that of saving the appearances.« (P. Duhem, 1908a, S. 32/33)61.

61 P. Duhems Formulierungen geben zugleich Einblick in seine chauvinistische, frankophile Grundeinstellung. Ähnlich wie nicht wenige Kollegen aus der angelsächsischen Welt meint er immer, dass gerade die eigene Kultur die tiefsten Einsichten und Wahrheiten bereit hält.

412

»zweifel an ptolemäus« Aus unserer Sicht ist der mechanistische Vorschlag von Ibn al-Haytham jedoch aus anderen Gründen bedeutsam: er untergrub nämlich damit die alte aristotelische Auffassung von der prinzipiell anderen Beschaffenheit einer »perfekten«, kosmischen Welt. Aufgegeben wurde somit die Konzeption eines Kosmos, wo ideale Körper – sphärische Schalen und ein ideales Element, die Quintessenz – existieren und wirken. An Stelle solcher aristotelischer Abstraktionen positionierte al-Haytham den supralunaren Kosmos analytisch im selben Bereich, wo die materielle Welt der vier Elemente angesiedelt war, und unterwarf damit den Kosmos denselben physikalischen Vorgaben, wie sie in der sublunaren Welt herrschen. Im Vergleich zu seinen Vorgängern bildete seine Insistenz, mit der er die Herstellung einer »Tat-sache«62 einforderte, ein charakteristisches Unterscheidungsmerkmal seiner Arbeiten. Seine kompromisslose Einstellung nötigte ihn auch, jene überlieferte aristotelische Methode abzulehnen, die einsichtige Selbstverständlichkeiten als Postulate zum Ausgang ihrer Argumentationen machte63. Diese Überlieferung verleitete deren Vertreter immer wieder dazu, Experimente – wenn sie überhaupt angestellt wurden – so zu gestalten, dass sie beispielhaft Axiome und Propositionen belegten und nicht – wie der heutige Kanon erwarten lassen würde – sie zu falsifizieren. Al-Haytham war hingegen bemüht, zuerst deren Ursprung und Richtigkeit zu untersuchen. Er betrachtete seine skeptischen Hinterfragungen als unabdingbare Voraussetzung für jede ernsthafte wissenschaftliche Untersuchung. Zugleich war ihm jedoch die Unzuverlässigkeit von Sinneseindrücken wohl bewusst. Diese grundlegende Skepsis bildete den Antrieb zur Entwicklung einer systematischen Methode sowie seiner präzisen experimentellen Verfahren. Seine Vorgehensweise soll folglich nun auch im Detail betrachtet werden.

62 Ich erinnere an das vorige Kapitel (Kapitel VIII) und an die Formulierung von M.S. Mahdi »… to labor in deed« (M.S. Mahdi, 2001, S. 204). 63 Wie ich bereits im ersten Band gezeigt habe, resultiert diese »Leichtgläubigkeit« aus dem Entstehungszusammenhang. Aristoteles geht es ja gar nicht darum, eine Behauptung zu beweisen, sondern es geht ihm ausschließlich darum, seine Zuhörer und Kontrahenten zu überzeugen. »Überzeugen« heißt aber u.a. einen Beweis vorlegen, der unwidersprochen bleibt. Daher wählte er allgemein akzeptierte Annahmen, die zumindest im Kontext der Debatten nicht widerlegbar waren und den Propagenten der Behauptungen zum »Sieg« führen sollten. Ich verweise hier nochmals auf die wichtige Arbeit von E. Kapp (1942), die u.a. auch von M. Schramm (op.cit.) zitiert und für seine Argumentation herangezogen wurde.

413

schukuk – der lohn des zweifels

»Fi Ḍaw al-Qamar« – »Über das Licht des Mondes« Ibn al-Haytham zollte bei seinen Studien u.a. dem Licht des Mondes ein besonderes Augenmerk. Er verfasste zu dieser Thematik eine eigene Schrift, »Fi Ḍaw al-Qamar«, die zugleich detaillierte Einblicke in seine Arbeitsweise und eine Analyse seiner Methoden erlaubt. M. Schramm (1963), an dessen äußerst detaillierter Analyse ich mich im Folgenden orientiere, beurteilt die Bedeutung dieser Abhandlung damit, dass ihr eine Schlüsselstellung unter den zahlreichen Publikationen dieses großen Physikers zukomme. Sie behandelt zwar augenscheinlich nur die Frage nach der Herkunft des Mondlichts, doch widmet sie sich aus gutem Grund zugleich vielen anderen, wesentlichen Fragen optischer Untersuchungen. Nicht zufällig schreibt daher M. Schramm zu den einleitenden Sätzen dieser Abhandlung Folgendes: »Die im engeren Sinn naturwissenschaftlichen Schriften des Ibn alHaytham bieten in ihrer Methodik einen neuen Zug, der sie grund­ sätzlich von den großen Leistungen der Griechen trennt. Dieser Zug beruht nicht auf zufälliger Übereinstimmung, sondern stellt eine programmatische Tendenz seiner wissenschaftlichen Bemühungen dar. Typisch für sein Vorgehen in dieser Beziehung ist die Schrift über das Licht des Mondes (Fi Ḍaw‘ al-Qamar). Ibn al-Haytham beginnt dort [d.h. die Einführung, M.S.] damit, dass er die Ansicht der Theoretiker (ahl al-nazar) über das von ihm behandelte Problem der Meinung der Mathematiker (ashab al-taʿalim) gegenüberstellt […]. Die Theoretiker, von denen er spricht, das sind die »Leute des Betrachtens«. Bei dieser Bezeichnung handelt es sich um eine wörtliche Übertragung der griechischen Bezeichnungen  (theoretikoi) und  (mathematikoi).  wird hier ohne Zweifel im traditionellen aristotelischen Sinn verwendet: es ist an die Zweiteilung aller Wissenschaft in theoretische und praktische gedacht; […] Und bei den  müssen wir jene weitere Bedeutung des Terminus zugrunde legen, bei welcher Astronomie und geometrische Optik in den Bereich der behandelten Gegenstände einbezogen werden. Es handelt sich also um reine und angewandte Mathematik.« (m.H., M.S.; M. Schramm, 1963, S. 5).

Mit »Theoretikern« sind demnach prägnant Vertreter von Lehren gemeint, die im Sinn der aristotelischen Physik aufgebaut sind, dagegen handelt es sich bei den »Mathematikern« offensichtlich um Astronomen. Das Entscheidende an dieser Einleitung ist, dass sie der Absicht entsprungen sein muss, beide Gebiete, Physik und Mathematik, in Abhebung von der von Aristoteles propagierten, strengen Scheidung gleichmäßig zu berücksichtigen. 414

»zweifel an ptolemäus« Die eigentliche Absicht Ibn al-Haythams liegt somit in einer Verschmelzung angewandter Mathematik – d.h. hier astronomische Kinematik im Sinn des Ptolemäus – mit den physikalischen Überlegungen des Aristoteles. Beide lassen sich allerdings nicht so einfach vereinheitlichen. Die Theorie der homozentrischen Sphären des Aristoteles ist mit den Anforderungen der ptolemäischen Theorie unvereinbar. In der Diktion von al-Farabi sind beide »inkommensurabel«. Die ptolemäische Theorie kann aber umgekehrt auch nicht einfach aus dem aristotelischen System ausgeklammert werden, denn dafür ist sie, wie ich schon in Kapitel I gezeigt habe, zu eng mit der Metaphysik des Aristoteles verknüpft. Mit einer daraus sich ergebenden Korrektur der metaphysischen Grundsätze würde jedoch ihr Geltungsanspruch insgesamt fragwürdig. Ptolemäische Astronomie und Optik erheben selbst keinen unmittelbaren Anspruch darauf, absolute Wahrheiten anzubieten. Sie streben ausschließlich nur nach höherer Präzision der Vorhersagen. Ptolemäus‘ Arbeiten behaupten einzig, bei gegebenen Mitteln das beste Modell zumindest für eine partielle Erklärung der beobachteten Phänomene zu liefern. Diese Bescheidenheit impliziert indirekt zugleich: Vorläufigkeit. Dadurch unterscheidet sich Ptolemäus bereits grundlegend von Aristoteles und seiner Physik. Wie im Folgenden zu sehen ist, übertrifft ihn al-Haytham darin noch bei weitem.

Al-Haythams Thesen Doch lassen wir den arabischen Autor einmal selbst zu Wort kommen: Ibn al-Haytham schreibt in seiner Einleitung, dass die »Philosophen« die Meinung vertreten würden, dass das Licht des Mondes von der Sonne stamme und durch Reflexion zur Erde gelange. Doch bei ihren Überlegungen fehlten Beweise und Erörterungen. Sie stützten sich einzig auf Mondphasen und -finsternisse als Indizien. Die Mathematiker hingegen – d.h. Astronomen und Optiker – meinten genauso, dass es sich bei den Strahlen des Mondes um die durch den Mond zur Erde reflektierten Strahlen der Sonne handle. Die Form des Mondes würde von ihnen als sphärisch, also als kugelförmig betrachtet, und die Reflexion solle wie von einem Spiegel erfolgen. Der Erkenntnistrieb verlange daher eine Untersuchung der Art des Mondlichts. Insgesamt seien, so al-Haytham, drei Arten von leuchtenden Körpern zu unterscheiden: selbstleuchtende, reflektierende und durchsichtige. Zunächst könnte man meinen, dass der Mond zur ersten Kategorie gehöre. Aber der Umstand, dass sein leuchtender Teil ständig der Sonne zugewandt ist, wie das Sonnenfinsternisse vermuten lassen, lege nahe, dass er zur zweiten Art gehöre. 415

schukuk – der lohn des zweifels Ibn al-Haytham untersucht in der Folge, ob der Mond trotz des Einfalls des Sonnenlichts und der Verfinsterungserscheinungen etwa selbst leuchte, oder ob sein Licht nur von der Sonne stamme. Sollte letzteres der Fall sein, so sei zusätzlich zu klären, ob die Ansicht der Mathematiker, dass er wie ein Spiegel Licht reflektiere, richtig sei. Oder könnte es sein, dass wir es vielleicht sogar mit einem durchsichtigen Körper zu tun haben? Letztendlich dürfe auch der Fall nicht ausgeschlossen werden, dass keine der drei Möglichkeiten zutreffe und die Lichtemission aus gänzlich anderen Gründen erfolge. Um die These eines selbstleuchtenden Körpers zu bestätigen, benötigt man überzeugende Erklärungen für die Mondphasen. Dafür bietet Ibn al-Haytham drei Möglichkeiten an, nämlich dass das Licht von einem anderen Körper abgeblendet werden könnte, dass es sich um zwei sich gegenseitig abdeckende Körper handeln könnte, oder dass die Gestalt des Mondes nicht kugelförmig, sondern etwa eine Scheibe sei und daher bei Lageveränderung auch die Erscheinungsform ändere. Ibn al-Haytham untersucht nun alle diese Möglichkeiten detailliert und kommt zu dem Ergebnis, dass die These eines selbstleuchtenden Körpers unhaltbar ist. Demnach wendet er sich der zweiten Möglichkeit zu, dass das Licht von der Sonne komme und reflektiert werde. Dazu führt er eine Reihe von optischen Hilfssätzen an, die er der mathematischen Optik entnimmt. Dazu gehören: die Fortpflanzung des Lichtes in Medien ungleichförmiger Dichte, die Geradlinigkeit der Ausbreitung des Lichts in einem Medium und die Reflexion, wobei gilt, dass der Winkel eines einfallenden Strahls zum Lot gleich dem des reflektierten Strahls zum Lot ist. Um also die Annahme, dass es sich um reflektiertes Licht handle, zu verifizieren, bemüht er die gängigen Gesetze der Optik. Nach diesen Gesetzen erfolgt die Fortpflanzung in einem gleichförmigen, durchsichtigen Medium geradlinig. Bei aneinander fugenlos anschließenden Medien erfolgt eine Ablenkung, doch innerhalb jedes Mediums erfolgt die Fortpflanzung weiterhin geradlinig. Drittens gibt es Reflexion, für welche exakte Regeln Geltung haben.

Al-Haythams Empirie Um die Gültigkeit dieser Regeln für den untersuchten Fall zu belegen, gibt nun Ibn al-Haytham exakte Anweisungen für den Bau eines Geräts64, das den Nachweis ermöglichen soll, dass von jedem Punkt der Mondfläche zu jedem gegenüberliegenden Punkt Licht ausgehe. 64 Hier sollte einmal darauf hingewiesen werden, dass auch Ptolemäus im fünften Buch des Almagest Anweisungen zum Bau eines Astrolabs gibt.

416

»zweifel an ptolemäus« Dieses Gerät besteht aus einem Visierlineal, das eine winzige Bohrung als Okular und einen zum Lineal parallelen Schlitz besitzt. Dieser dient als Objektiv. Seine Länge soll so bemessen werden, dass er einen größeren Winkel als der Durchmesser des Mondes aufspannt. Das Lineal wird an einem drehbaren, senkrechten Ständer befestigt, sodass es in der vertikalen Ebene schwenkbar ist. Der Visierschlitz soll gleichfalls in dieser Ebene liegen. Das Gerät wird sodann mithilfe der Visiervorrichtung auf den Mond gerichtet. Der Schlitz wird mittels einer verschiebbaren Blende von beiden Seiten soweit abgedeckt, dass nur mehr ein Streifen der Mondscheibe sichtbar bleibt. Hinter dem Okular wird ein Bildschirm angebracht, auf dem das Bild des Schlitzes erscheint. Auch der Schlitz wird nun von einer Seite so weit abgedeckt, dass das Bild am Schirm gerade noch sichtbar bleibt. Eine zweite Blende reduziert den Schlitz selbst auf Punktgröße, sodass Lichtpunkte erzeugt werden können. Diese erscheinen als wahres Bild am Schirm. Die mit diesem Instrument durchgeführten Beobachtungen werden nun so oft wiederholt, dass die gesamte Mondfläche abgetastet werden kann und nicht nur ein beispielhafter Ausschnitt. Nicht genug damit, werden die Versuche auch bei unterschiedlichen Stellungen des Mondes wiederholt. Das Ergebnis dieser Versuche ist nach dem zuvor Gesagten überraschend: der Mond sei demnach ein Körper, bei dem von jedem seiner Teile zu jedem gegenüberliegenden Punkt Lichtstrahlen ausgehen würden. Seine Emissionen würden einen Lichtkegel abdecken. Diese Beobachtungen würden folglich belegen, dass sich der Mond wie ein selbstleuchtender Körper und nicht wie ein reflektierender Spiegel verhalte. Diverse mögliche Einwände, wie etwa, dass es sich ja auch um einen transparenten Körper handeln könne, widerlegt Ibn al-Haytham mit Argumenten, wie z.B. dass es dann auch keine Sonnenfinsternis geben könne. Auf diverse andere Einwände antwortet er mit vergleichbarer Überzeugungskraft. Die Gültigkeit dieser Ergebnisse und seine Behauptung, das Leuchten des Mondes könne nicht durch Reflexion von einer spiegelnd vorgestellten Mondfläche herrühren, sucht Ibn al-Haytham im Folgenden zusätzlich dadurch zu sichern, dass er weitere mögliche Einwände ausräumt. Dazu gehört u.a. auch die Frage nach der Farbe des Mondes, die nach Er benötigte dieses Instrument zur Messung der Anomalien des Mondes. Mithilfe dieses Geräts konnte Ptolemäus »den Grad, den ein bestimmtes Objekt in der Länge in der Ekliptik einnimmt, und die Grade, welche das anvisierte Objekt nördlich oder südlich von der Ekliptik in der Breite absteht« bestimmen (etwas gekürzt übernommen aus: K. Manitius, Hg., 1912, S.258).

417

schukuk – der lohn des zweifels den damaligen aristotelischen Regeln als Akzidenz des untersuchten Körpers und nicht als Eigenschaft des Lichtes (Frequenz, in unserer Terminologie) begriffen wurde. Auf diese Argumentationen im Detail einzugehen, erübrigt sich aber in unserem Kontext65.

Das Forschungsergebnis Als Ergebnis seiner empirischen Untersuchungen ergibt sich, dass das Licht des Mondes nicht als Reflexion des Sonnenlichts auf einer spiegelnden Fläche betrachtet werden könne. Trotzdem könne aber die Ausstrahlung des Lichtes aufgrund anderer Beobachtungen nur in Abhängigkeit vom Sonnenlicht erfolgen. Das bedeute somit, dass die Sonne also auf die Substanz des Mondes irgendeine Wirkung ausüben müsse, die seine Farbe erst zu eigenständigem Leuchten66 bringe. In einer weiteren Arbeit »Über die Lichter der Sterne« (»Fi Aḍwa‘ al-Kawakib«) verallgemeinert er nun seine Erkenntnisse zu der Aus­ sage, dass alle Planeten, auch Merkur und Venus, eigenes, von der Sonne unabhängiges Licht ausstrahlen würden. Diese Ergebnisse scheinen doch etwas überraschend. Bevor ich sie aber diskutiere, möchte ich noch auf einige andere bemerkenswerte Tatsachen in den Arbeiten von Ibn al-Haytham hinweisen.

Akkulturation der Wissenschaft Deutlich wird vorerst eine Tendenz sichtbar, die schon bei ar-Razi, al-Farabi u.a. zutage trat. Alle diese Forscher entfernen sich schrittweise von den Vorgaben ihrer griechischen Lehrer und beginnen sich mit diesen kritisch auseinanderzusetzen. Dabei werden deren Vorgehensweisen und Ergebnisse keineswegs pauschal abgelehnt. Doch manche Postulate, Axiome und »Selbstverständlichkeiten«, die von den Hellenen nicht bewiesen wurden oder bewiesen werden konnten, werden nun neu untersucht und zur Diskussion gestellt. Das ist bereits oben deutlich geworden, als ich darauf aufmerksam gemacht habe, dass etwa das euklidische Parallelenpostulat von al-Hazen überprüft und als unbegründete Behauptung bloßgestellt wurde. 65 A. MacFarlane und G. Martin (2002) vertreten die Meinung, dass in der Welt des Islam damals bereits Glasprismen bekannt gewesen und benützt worden seien. Da damit die Aufspaltung des weißen Lichts in seine Farbanteile möglich wäre, überrascht es, dass Ibn al-Haytham Farbe noch immer als Akzidenz des beobachteten Körpers versteht. 66 Etwa wie bei Fluoreszenz, was aber meine Exemplifikation ist.

418

akkulturation der wissenschaft Desgleichen weist er in einer anderen Arbeit – »Über den Raum« (»Fi ‘l-Makan«) – das diesbezüglich komplexe, aristotelische Angebot67 zurück und definiert »Raum« gänzlich neu, als Gesamtheit der Intervalle, die zwischen vorgegebenen Grenzpunkten liegen. Anlass für dieses Abrücken vom großen Meister sind wiederum seine Bemühungen, dessen Physik mit der Kinematik des Ptolemäus in Übereinstimmung zu bringen68. Ibn al-Haytham gelang es mithilfe solcher und weiterer Adaptierungen, die aristotelische Metaphysik in eine physikalische Theorie umzuformen69. Diese erlaubte nun eine dynamische Erklärung des von Ptolemäus entworfenen, kinematischen Modells. Dabei ging er in seiner Theorie von besonders formulierten Grundsätzen aus, die einen physikalischen Rahmen für die Theorie des Ptolemäus umreißen. Aus seinen Grundsätzen ließ sich nun eine neue Lehre von den Himmelskörpern ableiten, welche durch Anwendung der mathematischen Methode des Ptolemäus zwingend notwendig wurde. Anstelle der aristotelischen Lehre vom ätherischen Körper 70 tritt nun eine Theorie, die in Auseinandersetzung mit der neuen Astronomie des Ptolemäus gewonnen wurde. Der methodische Unterschied zur aristotelischen Lehre wird augenfällig, wenn man beispielsweise an deren Forderung nach sphärischer Gestalt der postulierten Himmelskörper denkt. Für Ibn alHaytham spielte die Forderung, dass alle Himmelskörper Kugeln sein müssten, überhaupt keine Rolle mehr. Das zeigte sich bereits deutlich in seiner Abhandlung über das Licht des Mondes, wo er beispielsweise wissentlich die für Peripatetiker unglaubliche Annahme machte, dass der Mond auch eine Scheibe und keine vollkommene Kugel sein könnte. Aristoteles glaubte ja aufgrund seiner teleologischen Sichtweise, die stets die Realisierung eines Besten postulierte, die Natur in ihren Absichten verstanden zu haben. Für Aristoteles war etwa eine sphärische Form Ausdruck von Vollkommenheit. Sie ergab sich als notwendige Konsequenz seiner Metaphysik von der Natur. Weil dem so sei, müsse die Natur in ihrem vollkommensten Bereich – das ist der unwandelbare Kosmos – zwangsläufig auch die vollkommensten Körper bevor­zugen. Er unterstellte also der Natur, dass sie so wie er die Kugel 67 Siehe dazu M. Schmutzer (2011), Band I, Kapitel IX. 68 Den aristotelischen »Horror« vor einem Vakuum behält er allerdings bei. 69 »Ibn al-Haytham was able to formulate his theory of the phenomena of propagation, including the important phenomenon of diffusion, so that they perfectly related to geometry.« (R. Rashed, 1984, S.345). 70 Aristoteles vertrat die Auffassung, dass es im Kosmos ein eigenes Element gäbe, das er als »Äther« oder auch »Quintessenz« – als fünftes Element bezeichnete.

419

schukuk – der lohn des zweifels (Sphäre) als vollkommenen Körper anerkennen und entsprechend umsetzen müsste. Diese Metaphysik baute auf der Annahme auf, dass sich in alt überlieferter Manier stets der Beste71 in einem fairen  (aristocheir, Wettkampf)72 durchsetzen würde und müsste73. Dieser Wettkampf definierte unmissverständlich das »«, das höchste mögliche Ziel. Er führte zwangsläufig zu einem besten Resultat, war doch der einzige Sieger notwendig auch der Beste74. Anstelle dieser aristotelisch-aristokratischen Metaphysik der Natur setzte al-Haytham den Gedanken einer allgemeingültigen und allgemein verbindlichen Gesetzmäßigkeit, welche das Verhalten der Himmelskörper bestimme75. Er kehrte damit – wissentlich oder nicht – zu jenem Punkt zurück, wo die griechische Wissenschaft ihren Ausgang nahm76. Dieser Ausgangspunkt wurzelte aber in dem Gedanken umfassender politischer Gleichheit in der Polis. Und diese Vorstellung korrespondiert mit dem Ideal der »ummah« in der muslimischen Welt.

71  aristeus, der Beste. 72 Auf die Parallelen zum Faustkampf sei kurz hingewiesen. Die heraus­ ragende Bedeutung des Faustkampfes für eine Polis wird an der Tatsache evident, dass im Altertum Kriege nicht mit Heeren, sondern zwischen einzelnen Repräsentanten der verfeindeten Poleis ausgetragen wurden. Das konnte zur Folge haben, dass der Verlierer in solchen Kämpfen das Leben oder die Freiheit aller Bürger der Stadt verlor. Ein historisches Beispiel dafür liefert noch Pittacus von Mytilene (siehe dazu: M. Schmutzer, 2011, Band I). 73 Einige meiner Kritiker meinen, dass Soziomorphismus nur im Anfangsstadium der Wissenschaften wirksam wäre. Sie scheinen zu übersehen, dass diese Anfangsstadien der Wissenschaften Leitbilder abgeben, die noch wirksam sind, wenn sich die gesellschaftliche Lage selbst schon verändert hat. Wissenschaft wird dann konservativ, ja sogar reaktionär. Gerade die platonisch-aristotelische Weltsicht und -darstellung demonstriert dies anschaulich. Gesellschaftliche Veränderungen werden lange auch gar nicht wahrgenommen, weil sie nur als vorübergehende Abweichungen von Grundgedanken und Gesetz betrachtet werden und daher abgelehnt werden. Wissenschaft geriert sich unter solchen Umständen als »Wahrerin der wahren Werte« und der einzig richtigen Denkmodelle. 74 Im Sinn dieser Bestimmung eines Besten lag es daher, dass etwa bei den olympischen Spielen nur ein Sieger geehrt wurde. Zweite oder gar dritte Plätze kannten die Griechen nicht. 75 »Ibn al-Haytham schließt von den Ergebnissen, die er im Bereich mathematischer Methodik gewonnen hat, zurück auf die entsprechenden physikalischen Verhältnisse.« (F. Schramm, 1963, S. 181). 76 Siehe dazu: M. Schmutzer (2011), Band I, Kapitel III.

420

evaluation Zusätzlich wird von Ibn al-Haytham nicht länger nach der »wahren« Natur der Himmelskörper gesucht. An die Stelle dieser Idealvorstellung tritt ein pragmatisches, allgemein taugliches Modell, das die wesentlichen Relationen der auftretenden Körper einfach überblicken lässt. Aristoteles hat seine Forderung nach der postulierten Sphärengestalt der Himmelskörper mit einer allgemein gültigen Teleologie der Natur begründet. Ibn al-Haytham will im Unterschied dazu nichts anderes als eine physikalische Theorie, die nach Möglichkeit der ptolemäischen Kinematik gerecht wird. Sein deklariertes Ziel war einzig die Aufstellung tauglicher Hypothesen. Diese sind für ihn subjektive Entwürfe oder, um in der Diktion al-Farabis dasselbe zu sagen: sie sind individuelle Abstraktionen. Solche werden nun nicht länger, wie bei Aristoteles, der Natur als richtungsweisende Wesenheiten unterstellt. Sie existieren, aber sie existieren nur in den Köpfen und müssen folglich einer Überprüfung unterworfen werden. Wie das zu geschehen hat, wurde in der Schrift über das Licht des Mondes vorexerziert. Al- Haytham hat darin den ersten Schritt zu einer mit mathematischen Methoden arbeitenden exakten Naturwissenschaft getan. Im Kontext seiner astronomischen Arbeit fehle jedoch, so könnte man kritisch meinen, eine induktiv-experimentelle Kontrolle. Diese war aber im supralunaren Bereich auch gar nicht möglich. In jenem Bereich, der hingegen Experimenten auf Erden zugänglich war, nämlich in der Optik, praktizierte und demonstrierte dieser Mann im ägyptischen Hausarrest genau dieses. Wie oben zu sehen war, stellte er durch wohldurchdachte, technische Maßnahmen exakt jene experimentellen Verhältnisse künstlich her, die zur Formulierung und zum Beweis seiner Hypothesen nötig waren.

Evaluation Experimentelle Überprüfung wird durch Ausschließung von möglichst vielen Störfaktoren ermöglicht, wie dies Ibn al-Haytham etwa durch Verwendung einer Camera Obscura und durch Überprüfung jedes möglichen Einwands und vielfältiger Variation der Hypothesen systematisiert und ausgebaut hat. Aristoteles diente hingegen Induktion dazu, um mithilfe beispielhafter Sonderfälle einem Auditorium, welches von einer Behauptung überzeugt werden sollte, das Allgemeingültige zu veranschaulichen und so zu akzeptablen »Allaussagen« zu gelangen. Bei Ibn al-Haytham findet sich dasselbe Verfahren noch in seinen frühen Schriften in dieser alten Form. Allmählich wurde dieser Vorgang jedoch zu etwas völlig Neuem weiterentwickelt: nämlich zum physikalischen Experiment. 421

schukuk – der lohn des zweifels Nun finden sich keine isolierten Sätze mehr, die durch passende Beispiele verifiziert würden. Induktion muss nun den Zusammenhang mit dem Ganzen, der zuvor schon durch mathematische Methoden gewonnen wurde, berücksichtigen. In der von Ibn al-Haytham überlieferten Optik finden sich hinlänglich Anschauungsbeispiele für mathematisch aufgebaute Theorien. In seinen formalisierten Modellen werden Lichtstrahlen durch Gerade ersetzt, oder leuchtende Körper durch Punkte, von denen nach allen Richtungen Gerade ausgehen. Ein derartiges Modell führt zu zahlreichen mathematischen Relationen. Im Unterschied zur Astronomie können diese Annahmen im optischen Bereich unmittelbar überprüft und kontrolliert werden. Folglich konnten zusätzlich auch jene oben angesprochenen, systematischen Variationen durchgeführt werden und erkennbare Störfaktoren ausgeschaltet werden, wie dies u.a. mithilfe der Camera Obscura geschah. Die bei Aristoteles verallgemeinerten Einzelerfahrungen wurden auf diese Weise systematisiert und normiert. Erstmals findet sich bei Ibn al-Haytham auch ein so wesentliches Prinzip experimentellen Arbeitens wie eine systematische, experimentelle Variation77. K. Wullf bezeichnet al-Haytham überhaupt als Erfinder des Experiments78. Er verweist darauf, dass al-Haytham als Erster das Wort »ikhtibar« verwendete, das im 12. Jahrhundert in den lateinischen Übersetzungen seiner Schriften als »experimentum« wiedergegeben wurde79 (K. Wullf, 2014, S. 180). Ibn al-Haytham schaffte sich damit jedenfalls Rahmenbedingungen, die eine Überprüfung isolierter Phänomene ermöglichen, sodass dann, wenn eine diskursive Meinungsabstimmung nicht länger möglich ist, Akzeptanz geschaffen werden kann. Das wird besonders dann erforderlich, wenn die Akkreditierung wissenschaftlicher Ergebnisse an anderen Orten, zu anderen Zeiten, unter Abwesenheit des Experimentators erfolgen muss80. Man kann das auch als Wandel von einer diskur77 F. Schramm, 1963, S.287. 78 R. Rashed teilt diese Beurteilung: »It is generally accepted that the break with optics as the geometry of vision or light was definitely established with Ibn al-Haytham. Similarly, it is common knowledge that experimentation had indeed become a category of proof.« (R. Rashed, 1984, S.345). 79 »Ikhtabara«: prüfen, testen, erproben; lateinisch »experior«: versuchen, erproben, prüfen. 80 In einer Zeit weit verbreiteten »Islam-Bashings« bemühen sich viele darum, die wissenschaftlichen Leistungen der Muslime zu bagatellisieren. Gleichzeitig wird aber auch gerne auf die herausragende Bedeutung des Experiments für die wissenschaftliche Entwicklung im Westen hingewiesen. Es könnte zwar der Fall sein, dass der Gedanke an ein Experiment als eigenständige Entdeckung irgendwann auch im Abendland im Zug

422

evaluation siv-dialogischen Wissenschaft zu einer monologischen betrachten. Ein Wandel, der gleichzeitig als Indikator für eine umgreifende Individualisierung einer Gesellschaft und zugleich der Arbeitsbedingungen der Wissenschafter genommen werden kann.

Erfordernisse technischer Perfektion Damit verwandelte sich auch die Ausgangsbasis wissenschaftlichen Arbeitens und Beweisens grundlegend. Denn ein »Rückgriff auf (gemeinsame) Erfahrung«, der bei Aristoteles im Dialog noch unmittelbar erfolgen konnte, »[…] wird nunmehr zu einem wissenschaftlichen, und in seiner Realisation zu einem technischen Problem.« (m.H., M.S.) 81. Diese Möglichkeit, auf unmittelbare, gemeinsame Erfahrung zurückzugreifen, ergab sich für den Meister des Syllogismus aus dem schlichten Umstand, dass er seine Beweismethoden, wenn sie zum Einsatz kamen, stets coram publico anzuwenden hatte. Dem Arrestanten des Kalifen blieb dies verwehrt. Daraus ergab sich die neuartige Notwendigkeit, ein Verfahren zu entwickeln, das auch an anderen Orten zu anderen Zeiten dasselbe Ergebnis brachte. Unter diesen Randbedingungen und bei der schon dargestellten, kulturbedingten Bereitschaft zum »handgreiflichen« Herstellen von abstrakten Vorstellungen und Plänen entstand ein neues Beweisverfahren, das nicht länger den Vorgaben der Peripatetiker aus Alexandrien entsprach. Dadurch wird nun sogar die Erzeugung der Instrumente, die bei der Durchführung eines Experiments zum Einsatz kommen, zu einem »veritablen« wissenschaftlichen Problem. Oder, um das Gleiche anders herum auszudrücken, Veritas (Wahrheit) wird zu einem technischen Problem. Um abweichende Ergebnisse bedingt durch abweichende Instrumente zu vermeiden, bekommt Präzision in der Herstellung und in den dazu nötigen Anweisungen vorrangige Bedeutung. Instrumente, die nur annähernd denen entsprechen, die vom Experimentator selbst verwendet werden, würden in unvorhersehbarer Weise auch abweichende Resultate liefern. Diese Umstände bringen es mit sich, dass nun Instrumente eine verallgemeinerte Prägung erhalten bzw. irgendwie standardisiert werden müssen. Ibn al-Haytham selbst hatte genaue Kenntnisse der technischen Möglichkeiten seiner Zeit. Er musste unter seinen spezifischen Lebensumständen sorgfältig darauf achten, dass seine Modellvorgaben mit Hilfe einer dort gleichfalls um sich greifenden Individualisierung (siehe dazu: M. Weber, 1904/05; 1922) hervorgebracht worden wäre. Doch dieser Gedanke wurde aus dem Osten importiert. 81 F. Schramm, 1963, S.286.

423

schukuk – der lohn des zweifels der vorgefundenen, technischen Möglichkeiten zur Wiederholbarkeit der Resultate führen und dass so seine Aussagen überprüfbar, d.h. auch ohne menschliche »Zeugen« verifizierbar wurden. Dass ein derartiges instrumentelles Verfahren aber überhaupt als Beweis angenommen wird, hat nicht mit Präzision, sondern ausschließlich mit kultureller Anpassung an vorgegebene Dispositionen zu tun. Wir bezeichnen diesen Prozess als »Akkulturation« der Wissenschaft82. Mit dieser Wendung ergab sich eine gänzlich neue, zusätzliche Forderung an die Tätigkeit von Wissenschaftern, nämlich: höchstmögliche, technische Präzision, die sich grundlegend von derjenigen unterschied, die Euklid einforderte. Derartige Anforderungen wären bei den aristokratischen Griechen nicht einzulösen gewesen. Denn damit hätten sie sich in die Niederungen der Handwerker, der Thetes und »Banausen«83 begeben. Genau wegen dieser neuen Vorgaben betont auch der Gefangene in Kairo in seinen Anweisungen stets, dass es auf höchste Genauigkeit ankomme. Genauigkeit in der Herstellung – und nicht mehr nur in der Argumentation wie bei Euklid – wird nun zum ausschlaggebenden Wahrheitskriterium. Die Forderung nach technischer Perfektion und Präzision war nicht ausschließlich durch jene wissenschaftliche Methode bedingt, die alHaytham in der Isolation seines Hausarrests entwickeln musste. Für alHaytham stellte Technik nicht länger eine rein zufällige Umsetzung theoretischer Ergebnisse dar. Sie wurde intrinsisch mit seiner Wissenschaft verknüpft. Diese hätte gar nicht unabhängig von reproduzierbarer Technik betrieben werden können, da für ihn die Disputation seiner Ideen mit anderen als Korrektiv aufgrund seiner persönlichen, isolierten 82 Diese Entwicklung wird oft bestritten. R. Rashed verwehrt sich gegen diese von einer westlichen Ideologie getränkte Sichtweise, deren Konsequenzen er in folgenden Sätzen zusammenfasst: »Just as science in the Orient left no consequential traces in Greek science, Arabic science left none of consequence in classical [damit meint er: abendländische Neuzeit] science. In both cases, the discontinuity was such that the present could no longer recognize itself in this abandoned past. Science after the Greeks was strictly dependent on them. According to Duhem (La System du Monde, 1965, p. 125) ›… Arabic science only reproduced the teachings received from Greek science.‹ In general terms, Tannery (1887) recalled that the more one examines the Hindu and Arabic scholars’ […] the more they appear dependent upon the Greeks [… and … ] quite inferior to their predecessors in all respects.« (m.H., M.S.; R. Rashed, 1984, Appendix I, S. 338/339). R. Rashed und auch unsere hier präsentierte Darstellung geschichtlicher Entwicklungen zeigen, dass solche Behauptungen substanzlos und ideologisch sind. 83 Zur Erinnerung:  (Banausos), Handwerker.

424

evaluation Rahmenbedingungen gar nicht möglich war. Was al-Haytham fehlte, war die Möglichkeit zu jenem notwendigen Diskurs, der innovative Ideen der Kontrolle, Anerkennung oder Kritik einer »Kollegenschaft«, d.h. eines »Denkhegemons« unterwirft. Erst nachdem der Kalif verstorben war, konnte Ibn al-Haytham wieder mit dem damals bedeutendsten Forschungsinstitut84, dem Dar-al-Ilm in Kairo, in Kontakt treten. Ibn al-Haytham konnte demnach nur durch eine ausgefeilte experimentelle Technik jene Verhältnisse schaffen, welche rückwirkend seine mathematischen Modelle rechtfertigten – und nur dadurch ohne menschliche »Zeugen« überzeugen! Archimedes sah sich unter entfernt vergleichbaren Lebensumständen in Syrakus noch genötigt, seine Beweise dem Kanon des Museons zu unterwerfen. Nur dann hatten sie eine Chance, anerkannt zu werden. Ibn al-Haytham konnte hingegen auf einen anderen, sich allmählich breitmachenden Konsens bauen, nämlich auf die Überzeugungskraft des technischen Herstellen-Könnens. Das blieb nicht ohne Folgen. Eine solche Folgewirkung war, dass bei ihm nun Naturwissenschaft auf Mittel angewiesen wurde, die das »Handwerk« zur Verfügung stellt. Naturwissenschaft musste folglich auch akribisch nach Vervollkommnung dieser Mittel trachten. Bei ihm wird der Technik erstmals eine bislang unbekannte, gänzlich neue soziale Rolle und Aufgabe zuteil, die ihr im Abendland erst Jahrhunderte später erneut zugedacht wurde. Es ist die Rolle eines unparteiischen Zeugen und »Streitschlichters«. Ein Artefakt85 ersetzt nun Zeugen, Leumund, Eid und Zustimmung.

Individualisierung Diese neue Rolle harmonisierte mit der tradierten Kultur der Muslime, wie sie sich bereits in den Schriften der Banu Mussa-Brüder exemplarisch präsentierte. Zugleich war diese neue Ausrichtung Ausdruck und Resultat von sozialen Vorgaben, die umfassender waren, als das vereinzelte biografische Beispiel von Ibn al-Haytham nahelegt. Die gesellschaftlichen Entwicklungen in der muslimischen Welt gingen zu dieser Zeit in Richtung auf soziale Zersplitterung und Auflösung des 84 Das Bayt al Ḥikmah in Bagdad hatte diese Rolle bereits verloren; ob allerdings das Dar-al-Ilm das leisten hätte können, was al-Haytham benötigt hätte, bleibt eine unbeantwortete Frage. 85 Dass diese Übertragung einer sozialen Rolle auf ein »Ding« nicht selbstverständlich ist und über längere Zeit hinterfragt bleibt, zeigt der Umstand, dass etwa R. Boyle bei seinen Experimenten siebenhundert Jahre später noch nicht auf die Präsenz glaubwürdiger (!) Zeugen verzichten kann. Siehe dazu: St. Shapin (1994).

425

schukuk – der lohn des zweifels einheitlichen Reiches – ein Trend, der mit massenhafter Mobilität von Menschen gepaart war. Eine Folge solcher Entwicklungen ist zwangsläufig zunehmende Individualisierung. Auch eine derartige soziale »Atomisierung« schafft ihre spezifische gesellschaftliche »Morphe«86, als Voraussetzung für eine eigenständige Soziomorphie! K. Mannheim (1936) ortet in dieser Entwicklung das Saatbeet einer »freischwebenden Intelligenz«. Bei Ibn alHaytham erkennen wir eine analoge Wendung, die in der Folge zu einer individualisierten Wissenschaft führt. Diese entsprach letztlich auch unseren eigenen Gegebenheiten bis etwa Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts am besten. Daher fanden seine Arbeiten während der Phase der sich neuerlich urbanisierenden Renaissance Applaus und Anerkennung. Die neuartigen Anforderungen empirischer Kontrolle hinterlassen allerdings zugleich eine neue Fragestellung, mit der Ibn al-Haytham selbst nicht konfrontiert wurde. Es handelt sich um die Frage, »wie Natur unter diesen Bedingungen gedacht werden muss, damit ein solches Verfahren überhaupt möglich wird«87 – bzw. für einen neuen Denkhegemon akzeptabel wird. Eine Antwort darauf nahm al-Haytham bereits dadurch vorweg, dass er Maschinen als paradigmatische Erklärungsmodelle für Vorgänge in der Natur propagierte. Damit kündigte sich andeutungsweise erstmals jene Vorstellung an, die später in Europa für längere Zeit zum symptomatischen Paradigma lancierte: Gott als Uhrmacher88.

86 Morphe (), Gestalt. 87 F. Schramm, 1963, S.288. 88 Dass die Muslime bereits komplexe Uhren bauten und sie als bewundernswerte Kunstwerke betrachteten, lässt sich auch aus der historischen Tatsache schließen, dass Harun ar-Raschid Kaiser Karl den Großen 802 n. Chr. u.a. eine Uhr zusammen mit einem Elefanten zum Geschenk machte. Der Elefant trug bezeichenderweise denselben Namen wie der Begründer der Abbasiden-Dynastie: Abu ’l-ʿAbbas as-Saffaḥ.

426

kapitel x

Akkulturation Wer gegen den Wind kreuzt, hat wohl ein Ziel und eine Richtung im Kopf, vor Augen hat man es aber nicht. Wind und Wellen bewirken nicht selten, dass der Kahn anderswo landet als ursprünglich intendiert. Gute Steuermänner berücksichtigen Strömung, Wind und Wellengang. Sie passen sich an. Dieses Anpassen bezeichnen wir als »Akkultura­ tion«. Akkulturation bedeutet also Anpassung an die von der Umwelt vorgegebenen Strömungen, wobei aber ursprüngliche Vorgaben und Intentionen nicht einfach über Bord geworfen werden. Die Ergebnisse solcher Anpassung sind Hybride, die einen eigenen Charakter entwickelt haben. An verschiedenen Stellen wurde bereits auf die manchmal erstaunlichen Parallelen und Ansätze hingewiesen, die das Denken der abbasidischen Gelehrten mit unserem zeitgenössischen Denken aufweist. Dieser Umstand legt nahe, die Bezüge zwischen diesen Epochen noch mehr herauszuarbeiten und zu demonstrieren, dass viele der Gedankengänge von al-Farabi und al-Haytham anregende Vergleichsobjekte liefern, um unsere eigene Situation besser zu verstehen. Auf den folgenden Seiten werden daher bewusst und absichtsvoll solche Vergleiche angestellt. Im abschließenden Epilog gehe ich dann noch einen Schritt weiter.

Experimente beweisen wenig Betrachtet man die Ergebnisse von Ibn al-Haythams Studie über das Licht des Mondes und der Planeten, dann ist ein Mensch aus dem 21. Jahrhundert wohl etwas überrascht. Das Ergebnis, dass Mond und Planeten selbstleuchtende Körper wären, kam ja unter experimentellen Standards zustande, die sich in ihrer Systematik vor einem Vergleich mit heutigen Ansprüchen nicht zu scheuen brauchen. Andererseits entsprechen die theoretisch-spekulativen Antworten der Philosophen und Mathematiker, die al-Haytham hinterfragte und dann widerlegte, genau unseren Kenntnissen von der Beschaffenheit des Lichts des Mondes und der Planeten. Es mag folglich lehrreich sein, die Ursachen für die falschen Auslegungen al-Haythams zu ergründen. Mit Gewissheit lässt sich feststellen, dass ein Physiker unserer Zeit, der aus welchen Gründen auch immer mit einem vergleichbaren Instrumentarium gearbeitet hätte, zu genau denselben empirischen Ergebnis427

akkulturation sen gekommen wäre wie al-Haytham. Allerdings hätte er aus den Daten gänzlich andere Schlüsse gezogen. Wo liegen also al-Haythams »Fehler«? Sie sind in jenen theoretischen Annahmen begründet, wo er dezidiert das Postulat ausspricht, dass sich Licht geradlinig in Form von Strahlen ausbreitet. Diese Annahme hatte er von Euklid übernommen und sie auch, so wie das »Parallelenaxiom«, kritisch überprüft. Doch im Gegensatz zum »Parallelenaxiom« kam er zu der Überzeugung, dass die Vorstellung korrekt wäre. Auch in unseren Vorstellungen spielt diese Annahme eine prominente Rolle und scheint evident. Al-Haytham dürfte sich allerdings nicht bewusst gemacht haben, dass er im Rahmen seiner Versuchsanordnung diese Strahlen selbst erzeugte. Und auch wir denken kaum anders, obwohl wir seit Ch. Huygens (1629–1695 n.Chr.) wissen sollten, dass die Annahme von der strahlenförmigen Ausbreitung des Lichts nicht selbstverständlich ist. Im Unterschied zu dessen Zeitgenossen I. Newton, der so wie al-Haytham eine korpuskulare Strahlenthese vertrat, postulierte Huygens eine wellenförmige Ausbreitung des Lichts und widersprach damit der alt überlieferten These von Strahlenbündeln. Nach Huygens Hypothesen, die übrigens von Newton und den meisten anderen Physikern seiner Zeit bekämpft und ca. erst zwei Jahrhunderte später akzeptiert wurden, entstehen empirisch nachweisbare Beugungsphänomene, wenn Licht eine Blende passiert. In anderen Worten, die Versuchsanordnung al-Haythams produzierte genau diese Beugungsphänomene, nämlich Lichtflecken am Bildschirm statt Lichtpunkte. Al-Haytham interpretierte dieses Ergebnis im Sinn seiner Strahlentheorie und nahm sie als Indikator dafür, dass eben von einem strahlenden Punkt der Mondoberfläche Licht in alle Richtungen emittiert würde. Damit wird das eigenartige Ergebnis seiner Experimente für uns verständlich – doch dabei wollen wir es nicht bewendet sein lassen. Was veranlasste al-Haytham und andere wie Ibn Sina (Avicenna) oder I. Newton dazu, die These von der strahlenförmigen Ausbreitung des Lichts zu übernehmen? Um diese Frage zu beantworten, ist zunächst eine andere Frage zu stellen und zu beantworten: was bezeichnet eigentlich das Wort »Strahl«? Meiner Gewohnheit gemäß versuche ich in solchen Fällen, die etymologischen Wurzeln zu finden. Nach Kluge1 leitet sich das deutsche Wort aus dem Althochdeutschen her. Es bedeutete »Pfeil, Blitzstrahl, Geschoss«. Auch außerhalb der germanischen Sprachfamilie hatte es ursprünglich dieselbe Bedeutung. Im Lateinischen wird dafür meistens das Wort »radius« verwendet. Dessen Bedeutung ist ebenfalls »Stab, Speiche«, wie auch »Geschoss«. »Excussi manibus radii« bedeutet z.B. »mit den Händen geschleuderte 1 Siehe dazu: F. Kluge (1883/1999).

428

experimente beweisen wenig Geschosse«. Man wird nicht fehlgehen, solche »Stäbe« als »Speere« zu bezeichnen. Im Griechischen steht dafür das Wort »aktis« (), das auch »Lichtstrahl« oder »Blitz« bedeutet. In einer sehr lesenswerten Arbeit hat S. Denningmann (2004) die soziomorphen Hintergründe der »astrologischen Lehre der Doryphorie« untersucht. Dabei spielt ein Wesen, das mit »Doryphoros« bezeichnet wird, eine bedeutende Rolle. Übersetzt bedeutet dies »Speerträger«. In der menschlichen Welt der alten Griechen bildeten solche Speerträger die Leibgarde einer bedeutenden Persönlichkeit. Umso mehr Speerträger jemand aufbieten konnte, umso bedeutender war diese Person. In der Astrologie tauchen diese Speerträger gleichfalls auf, sie sind die Begleiter eines göttlichen »Regenten« und quasi seine Diener, die die Aufträge ihres Gebieters ausführen. Ausgeführt werden solche Aufträge durch »Strahlenwurf« (). Die Speere sind in diesem Fall Strahlen bzw. sind die Strahlen Speere. Diese Darstellung findet sich bei verschiedenen bekannten griechischen Autoren: bei Porphyrios, Hephaistion und in der »Isagoge« des Antiochiokos, um einige zu nennen. Auch al-Kindi vertrat analoge Vorstellungen. Wie man sieht, war nicht nur Claudius Ptolemäus mit Astrologie beschäftigt, sondern viele andere antike Gelehrte ebenso. In den Kapiteln V, VI und VII wurde schon deutlich gemacht, in welchem Umfang auch die Abbasiden und deren Gelehrte Astrologie betrieben und als sehr ernstzunehmende Wissenschaft betrachteten. Die Vorstellung von Lichtstrahlen, die wie Speere oder Pfeile von Himmelskörpern zur Erde geschleudert werden, war demnach eine allgemein gängige Annahme. Zwanglos ergibt sich daraus eine Korpuskulartheorie des Lichts2, wie sie Ibn Sina (ca. 980–1037 n.Chr.) noch zu Lebzeiten al-Haythams konkret entwickelte und publizierte. Doch das war keinesfalls seine »Entdeckung«, sondern entsprach einer weitverbreiteten Vorstellung. Sie passte trefflich in jene Bilder, die das Wirken 2 »At this stage mathematics were introduced into physical optics by means of analogies established between the movements of patterns of a heavy body and those of reflection and refraction. In other words, mathematics were introduced into physical optics through the intermediary of the dynamic patterns of the movement of heavy bodies, themselves supposed already mathematized. This earlier mathematical treatment of physical notions was what enabled them to be transferred to the experimental plane. […] In this case, the links between mathematics and physics aimed at reconstructing a model and, consequently, by geometric means systematically reduce the propagation of light from a natural to an artificial object. The problem is therefore to define, for propagation, an analogic correspondence between natural and artificial objects which is truly ensured of mathematical status.« (m.H., M.S.; R. Rashed, 1984, S. 347).

429

akkulturation Gottes – bei Muslimen wie auch bei Christen – durch Strahlen(wurf) erklärten, wie oben schon erwähnt wurde. Es ist folglich keineswegs weit hergeholt zu meinen, dass auch Ibn alHaytham diese Sichtweise internalisiert hatte. Daher meinte er offenbar, es genüge, die von einem strahlenden Punkt ausgehenden »Bündel« auf einen Strahl – d.h. ein Geschoss – einzuengen, um dessen Wirkung zu untersuchen und anschließend auf alle zu verallgemeinern3. Er blieb damit einem – in der Diktion von L. Fleck – Denkstil verhaftet, der davon ausging, dass himmlische Wesen mittels Strahlen wirken. Es kam ihm nicht in den Sinn, dass er mithilfe seiner Experimentalanordnung diese Strahlen selbst erzeugte4. Berechtigt fühlte er sich ja auch in dieser Überzeugung dadurch bestätigt, dass seine Untersuchungen über die Reflexion von Licht bei Spiegeln diese Annahme nicht zweifelhaft erscheinen ließen. Warum sollte sie demnach nicht verallgemeinert werden können?

Theoriegeladenheit von Experimenten Was lernen wir aus diesem historischen Beispiel? Das Konzept der Strahlen, dem auch der Wissenschaftsheroe und Mystiker I. Newton anhing, ist ein soziomorphes Konzept, auch wenn es so scheinen mag, als wären alle diesbezüglichen Konnotationen im Laufe der Zeit zum Verschwinden gebracht worden. Mitnichten! Dass es sich hier um ein weiteres Beispiel handelt, das die Wirkungen von Soziomorphie illustriert, ist für die Leser und mich ein angenehmer Nebeneffekt. Weniger angenehm ist die daraus zu ziehende Folgerung, dass mit Experimenten nichts bewiesen ist. Vielmehr bestätigt sich an einem historischen Fall einmal mehr nur die These von der Theorie­ geladenheit der Experimente. Zu dieser Erkenntnis sind schon andere gelangt. Ich nenne einmal mehr T.S. Kuhn (1961), doch einige andere Namen sollen ebenfalls nicht unerwähnt bleiben. J. Derrida (1967) wäre genauso anzuführen wie St. Woolgar zusammen mit dem bereits genannten B. Latour 3 Wie bei seinen Untersuchungen zur Funktionsweise des menschlichen Auges offensichtlich wurde, studierte er dabei ganz konkret das Verhalten von Lichtstrahlen durch einen Vergleich mit Geschoßbahnen (siehe dazu Kapitel VIII in diesem Band). 4 F. Schramm meint im Unterschied dazu, dass ihm dies wohl bewusst war, denn al-Haytham war bestrebt, »[…] die Untersuchung des von selbst strahlenden Körpers auf die Untersuchung bestimmter geometrischer Verhältnisse zurückzuführen.« Die Annahme geradliniger Ausbreitung ermög­ lichte ihm erst »[…] den Übergang von der physikalischen Betrachtung zum mathematischen Modell.« (m.H., M.S.; F. Schramm, 1963, S. 180).

430

experimente beweisen wenig (1979), K. Knorr-Cetina (1981, 1995), M. Lynch (1985) oder S. Traweek (1988)5. Die essentiellen Aussagen dieser Forscher lauten, dass Experimente prinzipiell so angelegt sind und ausgerichtet werden, dass sie den Grundannahmen, wie etwa dem Strahlencharakter von Licht6, gerecht werden. Zweitens weisen alle diese Autoren daraufhin, dass empirische Ergebnisse allein noch nichts besagen. Wie der hier besprochene Fall anschaulich macht, kann das Versuchsergebnis so und auch anders gedeutet werden. Al-Haytham wusste nichts vom Wellencharakter des Lichts, folglich deutete er die empirischen Ergebnisse so, wie er eben meinte, dass sie zu interpretieren wären. Hätte er oder sonst jemand von der alternativen Möglichkeit gewusst, so hätten sie das exakt selbe Experiment völlig anders interpretiert, ohne deshalb die gewonnenen Daten verändern zu müssen. Berechtigt darf man daher zweifeln, ob heute aus empirischen Daten gewonnene Erkenntnisse nicht genauso auch völlig andere Hypothesen unterstützen würden7. Diese Möglichkeit wird aus unterschiedlichen Gründen im Allgemeinen nicht aufgegriffen. Ein Grund mag »Ideenmangel« sein – es gibt eben keine alternativen Vorschläge. Doch dass dieser Mangel zu einem verbreiteten »Allgemeingut« avanciert, dafür ist der genannte Denkhegemon zuständig. Dieser achtet darauf, dass abseits vom »mainstream« liegende Sichtweisen vor allem gängige Paradigmen nicht gefährden, die im Laufe einer Kulturentwicklung8 zum unhinterfragbaren Dogma erhoben wurden. 5 Alle hier Genannten sind so wie ich keine »Marxisten«. Ich erwähne dies, weil mir dies ein »scharfsinniger« Kritiker meines ersten Bandes unbegründet unterstellte. Mit der nötigen Bescheidenheit möchte ich in diesem Kontext auch auf eine frühere Arbeit von mir hinweisen: M. Schmutzer (1994), insbesondere Kapitel vier und fünf. 6 »[…] the scientist intends to realize his object physically in order to con­ ceive it briefly as a means of realizing physically an object of thought unrealizeable before. For instance in the most elementary example of rectilinear propagation, Ibn al-Haytham did not consider any arbitrarily chosen aperture in a black box, but rather specific ones in accordance with specific geometric relations in order to realize as precisely as possible his concept of a ray.« (m.H., M.S.; R. Rashed, 1984, S.346). 7 Siehe dazu eine Publikation aus der Feder zweier renommierter Physiker: P.J. Steinardt, N. Turok (2007), S.7 ff. 8 Den Zusammenhang zwischen »Kultur« und Wissenschaften betonte bereits Ibn Khaldun. So sagte er z.B.: »Die Wissenschaften sind vielfältig, wo die Kultur vielfältig ist […]« (Ibn Khaldun, 2011, S.420). Diese Einsicht stammt aus dem 14. Jahrhundert. Leider hat sie sich bis heute noch nicht allgemein durchgesetzt.

431

akkulturation

Realabstraktionen herstellen M.S. Mahdi (2001) bezeichnet al-Farabi als jenen Philosophen, der die Frage nach der Realisierung von Abstraktionen (d.h. Schaffen einer »Realabstraktion«) zur zentralen Frage der Philosophie erhebt. Die Umsetzung von Vorstellungen kann dabei in jede Richtung erfolgen. Sie kann zur Herstellung von Kunst, zur Verwirklichung gesunder Körper, »gesunder« politischer Systeme, technischer Geräte oder wissenschaftlicher Experimente führen. In keinem dieser Fälle kann Natur allein als Vorbild dienen oder als Modell genommen werden, denn die Natur ist für »Alpharabius«9 unvollkommen und mangelhaft. Dieser Mangel an Vollkommenheit oder Vollständigkeit kann von Menschen ausgeglichen und genutzt werden. Daraus ergeben sich neue Fragen, etwa nach den von al-Farabi konstatierten vielfältigen Inkommensurabilitäten. Al-Farabis Unterscheidung von Prinzipien des Lehrens und Prinzipien des Seienden10 birgt reichlich Diskussionsstoff. Al-Farabi bestand ja, genauso wie alHaytham, darauf, dass abstrakte, mentale Konstrukte selbst nicht Ursache natürlicher Phänomene sein können. Al-Haytham hat mit dieser Argumentation das Konzept des Äquanten bei Ptolemäus abgelehnt. Im kosmischen Bereich hatte er recht, denn Äquanten sind nicht herstellbar. »Strahlen« waren, anders als der Äquant, für ihn keine mentale Konstruktion, deren Existenz erst durch eingreifendes Handeln zustande käme, sondern zählten zu den Prinzipien des Seienden. Einer sich daraus ergebenden bedeutsamen Frage, woher solche als mentale Konstruktionen unerkennbare Konstruktionen kommen und unhinterfragt den Status wirklicher, naturgegebener Erscheinungen erhalten, wich al-Farabi keineswegs aus. Seine Feststellung war, dass Erkenntnisse auf zweifache Weise gewonnen werden können: durch eigene Untersuchungen oder durch Belehrung. Doch wie wir sahen, haben die handgreiflichen Untersuchungen al-Haythams auch zu mentalen Konzeptionen geführt, die nicht der Natur, sondern einer Lehre entsprechen; trotzdem wurden sie unwissentlich zu Prinzipien des Seienden erhoben. Diese Vorgehensweise entspricht haargenau jener, die auch bei der Formulierung von Prämissen in einem syllogistischen Schluss praktiziert wird. Al-Farabi betonte ja in seinen Arbeiten wiederholte Male, dass solche Prämissen als Prinzipien des Seienden ausgegeben werden,

9 Das ist der latinisierte Name von al-Farabi. 10 Al-Farabi verwendet dafür zwei Begriffe (anna al-shai‘ und wujud alshai‘) nahezu synonym. Englisch werden beide als »principles of being« übersetzt, weshalb ich sie als »Prinzipien des Seienden« bezeichne.

432

realabstraktionen herstellen obwohl sie als solche nicht zu beweisen11 sind. Ihre bedeutende Rolle erhalten sie nur dadurch, dass sie aus Prinzipien der Lehre, die sie sind, zu Prinzipien des Seienden erhöht wurden. Wir können das am Beispiel von al-Haythams Vorgehensweise nachvollziehen. Al-Haytham hat in seinen Untersuchungen strikt die Methode der Abstraktion12 angewendet und damit Natur im Experiment verändert. Mithilfe seines Visierlineals und den daran befestigten Blenden beförderte er die rein mentale Vorstellung eines Strahlengeschosses in die materielle Welt. Er hat damit in die reale Welt etwas (hinein)gestellt, was er hergestellt hat13 und was zuvor so nicht existierte, nämlich einen Strahl. Rein mentale Sachverhalte wurden so durch den Willen des oder der Menschen zu scheinbar »natürlichen« Dingen. Damit noch nicht genug, wurden sie nicht zu irgendwelchen Dingen – wie etwa ein Haus oder ein Braten14 –, sondern zu Repräsentanten aller möglichen Phänomene im Bereich der Optik. Also dürfen wir nicht übersehen, dass dieses »natürliche Ding« zugleich ein künstliches Ding, ein Artefakt oder eben eine Realabstraktion ist. Üblicherweise meint man, dass Naturphänomene entdeckt werden. Tatsächlich werden viele davon »erfunden«15. Das ist aufgrund der Unvollkommenheit der Natur möglich. Natur ist kein in sich konsistentes, widerspruchsfreies »Wesen«. Daraus ergibt sich eine weitere Frage: wie weit kann Natur durch eine widerspruchsfreie Methode erfasst und beschrieben werden? Eine von diesen widerspruchsfreien Methoden bezeichnen wir als Mathematik. Auf diese nicht unwesentliche Frage kommen wir später zurück. Verharren wir zunächst noch bei der Gleichsetzung von Artefakt und Naturding. Durch diesen Schritt der Gleichsetzung wurde der überlieferte, logische Dualismus von Essenz und Existenz aufgehoben. Eine Abstraktion (Essenz) wird in dieser Gleichsetzung materialisiert und existent. Das bedeutet zugleich, dass die alte dichotome Sichtweise aufgehoben und in ein Kontinuum verwandelt wird. Dieses Kontinuum 11 Siehe obige Diskussion zum induktiven Schluss. 12 »Abstraktion« leitet sich aus dem Griechischen ( aphaireo) her und bedeutet »mindern, wegnehmen«. Bei Aristoteles werden bei diesem Verfahren sogar Eigenschaften weggenommen, die für sich allein gar nicht bestehen können. 13 Ich spiele hier absichtlich mit Heidegger’schen Begrifflichkeiten. 14 Wobei diese ja auch meistens realisierte Abbilder kulturell vorgegebener Vorbilder sind. 15 Anschauungsbeispiel dazu wäre die elektrische Induktion. Sie wurde von Faraday »erfunden«, indem er erstmalig einen Transformator baute. Transformatoren gibt es in der Natur genauso wenig, wie es perfekte Ebenen oder Kugeln gibt. Alle werden erst durch aufwändige Verfahren künstlich hergestellt.

433

akkulturation besteht nun aus Abstraktionen (Modelle, Entwürfe, Pläne) und »Naturdingen« an den »Rändern« des Kontinuums. Dazwischen befinden sich Artefakte als eigenständige Hybridformen. Offen bleibt, welche Art von Kontinuum das ist. Doch sind wir durch diesen Vorgang einer anderen, neuen Naturerkenntnis näher gekommen außer der, dass manches in dieser unvollkommenen Natur möglich bzw. machbar ist, was vor dem maßgeblichen Experiment nicht existierte? Wusste Ibn al-Haytham nach seinen Experimenten über die Natur des Mondlichts mehr? Unsere heutige Antwort darauf kann nur negativ ausfallen, weil wir seine Ergebnisse aufgrund unserer Konzeption von der Beschaffenheit von Licht als inkorrekt betrachten. Aus seiner Sicht hat er allerdings aufgrund seiner Erfahrung neue Prinzipien des Seienden kennengelernt, die er meinte, nun auch auf alle anderen Planeten anwenden zu dürfen.

Die Beschaffenheit von Kontinua Al-Farabi meint, dass wir Natur nur in Abhebung zu einer erzeugten Welt artifizieller Dinge erkennen. Doch wie können wir zwischen artifiziellen und natürlichen Dingen unterscheiden? Wie das Strahlenbeispiel demonstriert, treffen wir auch hier auf ein Kontinuum, obwohl obige Unterscheidung ein Diskontinuum, eine binäre Differenzierung nahelegt: entweder natürlich oder künstlich. An dieser Stelle ist vielleicht ein kurzer Exkurs hilfreich. Binäre Kodierung ist nur der Spezialfall eines arithmomorphen Kontinuums. Zwischen jeweils zwei benachbarten Elementen eines solchen Kontinuums existiert notwendig immer ein »Loch«16. Das kann zwar nach Belieben mit zahllosen, neuen »Elementen« gefüllt werden, doch dadurch ändert sich nichts an seiner prinzipiellen Struktur. Mit der Zahl solcher zusätzlicher Atome vermehrt sich nur die Zahl der Zwischenräume und Gegensätze. Daraus ergibt sich, dass man auch immer nur eine »entwederoder«-Wahl treffen kann: das eine oder das andere, ja oder nein, aber kein durchmischtes, zusammenhängendes mittleres Drittes »sowohl-als auch« bzw. »jein«. Dieses Kontinuum ist keine »Größe«, sondern eine Menge von unterscheidbaren Elementen.17 16 Das »Loch« zwischen den Elementen erzeugt erst den Rand der Elemente, d.h. ihre Grenzen. Daher waren die überlieferten Atomtheorien immer auch Theorien von der Existenz eines Vakuums, was nur eine andere Bezeichnung für »Loch« oder »Leere« ist. 17 »[…] jede Beobachtung [ist] eine Frage an die Natur mit nur einer end­ lichen Anzahl möglicher Antworten. Man darf ruhig sagen: mit nur zwei Antworten: Ja - Nein.« schreibt E. Schrödinger (1932, S.22).

434

realabstraktionen herstellen N. Georgescu-Roegen18 hat die Bezeichnungen »arithmomorphes Kontinuum« in Abhebung zu einem »dialektischen Kontinuum« geprägt. Beide entsprechen den Vorstellungen al-Farabis von Zahl und Größe. Ein arithmomorphes Kontinuum lässt sich durch das Bild von einer Perlenkette veranschaulichen, der allerdings der vereinigende Faden fehlt. Es besteht aus dicht aneinander gereihten Elementen, man kann sie auch als »Atome« bezeichnen. Charakteristische Eigenschaft dieser Art von Kontinuum ist, dass sich im Prinzip jederzeit eines der Elemente entfernen lässt, ohne dass dies auf die anderen Auswirkungen hätte. Es ist kein »Ganzes«. Genauso lässt sich auch eines oder lassen sich zahllos viele einfügen. Würde man allerdings bei einem dialektischen Kontinuum versuchen, ein Element zu entfernen, so hielte man zwangsläufig die ganze Kette in der Hand. Alternativ müsste der Faden zerschnitten werden, was die gesamte Struktur zerstören würde. Al-Farabi behauptete im Übrigen auch, dass sich Inkommensura­ bilitäten, die sich aus der unterschiedlichen Beschaffenheit von Kontinua ergeben, zwar nicht eliminieren lassen, doch – so könnte man dies bezeichnen – »ignorieren« lassen. Menschen vereinigen etwa die zwei genannten Prinzipien der Mathematik, Größe (dialektisches Kontinuum) und Zahl (arithmomorphes Kontinuum), und schaffen dadurch beispielsweise eine analytische Algebra oder Infinitesimalrechnung. Diese Beurteilung al-Farabis stimmt – ich meine überraschenderweise – mit einer von E. Schrödinger überein, der schreibt: »Das Rohmaterial unserer quantitativen Naturerkenntnis hat demnach immer diesen recht primitiven, diskontinuierlichen Charakter. Wir begnügen uns damit nicht. Wir ergänzen es. Das wesentliche Hilfsmittel dazu ist die Interpolation. [… und] gelangen so zum Begriff der kontinuierlich durchlaufenen Bahnkurve19. Diese ist nichts unmittelbar quantitativ Beobachtetes. Mit welchem Recht interpolieren wir? Weil wir mit Recht annehmen, dass wir die Messung anders und genauer hätten gestalten, die Lage auch in einem beliebigen Zwischenstadium und mit größerer Genauigkeit hätten beobachten können.[…] Interpolation ist nur dann und dann immer sinnvoll und berechtigt, wenn Messungen an einer Anzahl von Zwischenpunkten für prinzipiell ausführbar gelten dürfen […] Wenn man also von solchen Bahnkurven gesprochen hat, so musste man sich klar sein, dass man dabei eine Ergänzung des wirklich Beobachtbaren vorgenommen hat durch fiktive Beobachtungen, von denen so gut wie feststeht, dass sie in Wirklichkeit prinzipiell nicht ausführbar sind. 18 Siehe dazu: N. Georgescu-Roegen (1971). 19 Das ist also jene Transformation von Zahlen in Größen.

435

akkulturation […] Ergänzungen des unmittelbar Beobachteten müssen wir beständig vornehmen, ohne das gibt es kein Naturbild, sondern nur ein unentwirrbares Flickwerk von Einzelfeststellungen. Auch finden sich unter den Ergänzungen, die wir gar nicht vermeiden können, immer auch solche, die grundsätzlich Unbeobachtbares betreffen.« (m.H., M.S.; E. Schrödinger, 1932, S. 19-21).

Bei diesen Kreationen wird also wissentlich so getan, als würden die prinzipiellen Inkommensurabilitäten nicht existieren, sondern sich beispielsweise in einer fiktiven Unendlichkeit des Kleinen oder des Grenzenlosen auflösen lassen. Eine Variante davon wäre eben Interpolation. Gegen diesen Schritt wäre, solange er nur im Kopf getan wird, nichts einzuwenden. Sobald jedoch die damit ignorierte Differenz zwischen den beiden Kontinua, den beobachteten und den fiktiven, in einem dementsprechenden Prinzip der Lehre gleichfalls verschwindet, ändert sich diese Beurteilung.

Dogmen der Lehre Denn: nun werden Generationen von Studenten geschaffen, die über die tatsächlichen Unterschiede nicht länger Bescheid wissen. Sie wurden ihnen verschwiegen oder mittels Pseudoerklärungen ins absolut Unwesentliche verdrängt. Solches geschieht beispielsweise bei der »In-dokt(o)r-ination«20 (d.h.: Ein-prägung) mit der gängigen Vorstellung von einem numerischen Kontinuum, in dem irrationale Zahlen existieren. Diese Vorstellung ist die Verallgemeinerung jener Behauptung, die schon Maimonides widerlegt hat21, nämlich, dass es die Zahl  oder eine Zahl gebe, die √2 entspreche. Die Art der Vorgehensweise für diese Indoktrination lässt sich etwa am Beispiel √2 anschaulich darstellen. Der Beweis von Euklid22�, dass √2 keine rationale Zahl ergibt, beruht auf der Feststellung, dass es gerade und ungerade Zahlen23� gibt. Weiters lässt sich jede rationale Zahl 20 Ich erlaube mir hier ein naheliegendes Wortspiel, das verdeutlichen soll, dass jemand, der gelehrt wurde, sich als »doctus« (gelehrt) also »Doktor« bezeichnen darf, was zugleich auch besagt, dass er in Übereinstimmung mit den jeweiligen »Prinzipien der Lehre« indoktriniert wurde. 21 Siehe dazu Kapitel IX in diesem Band. 22 Vermutlich wurde dieser Beweis gar nicht von Euklid erbracht, sondern erst später ins zehnte Buch der »Stoichea« von unbekannten Autoren eingefügt. Der Grundgedanke dieses Beweises findet sich tatsächlich bereits bei Aristoteles (Analytica Priora, 1. Buch, 41a). 23 »Gerade – ungerade« ist offensichtlich eine binäre Kodierung. Sie entspricht dem uralten, griechischen Denken, das gerne mit Gegensätzen

436

realabstraktionen herstellen durch einen bereits durchgekürzten Bruch darstellen, sodass letztlich p/q = √2 sein müsste. Euklid zeigte bei seinem Beweis, dass es keinen solchen Bruch geben kann, weil man immer für p und q nur Vielfache von 2 erhält, also gerade Zahlen. Das steht aber im Widerspruch zur Annahme, dass p/q bereits durchgekürzt ist. So weit, so gut. Doch nun folgt ein Schluss (den Euklid nicht gezogen hat) mithilfe des Satzes von der Negation der Negation, der besagt, dass die Nichtexistenz einer rationalen Zahl die Existenz einer nicht-rationalen Zahl bedingt, welche wir eben als »irrational« bezeichnen. Das ist allerdings ein Schluss, der nur auf der Behauptung beruht, dass es eine Zahl geben muss, die dem geometrischen Verhältnis einer Kathete eines gleichschenkeligen, rechtwinkeligen Dreiecks zur Hypotenuse entspricht24. Diese Zahl gibt es aber nicht, weil Geometrie und Arithmetik auf inkommensurablen Prinzipien beruhen. Sie kann also bestenfalls angenähert oder als reine Abstraktion hypostasiert25� werden. Auch darauf komme ich weiter unten noch zurück. D. Bloor (1982) bezeichnet nun ein solches Verfahren als eines, das zur Schaffung von »Monstern« führe, deren monströse Existenz allerdings verdrängt werden müsse. Das geschehe, indem sie an der Empirie unzugängliche Orte, wie etwa die Unendlichkeit, verbannt werden. operierte. D. Bloor (1976) betont, dass diese Denkweise kulturspezifisch sei und demnach auch der Beweis der Nichtexistenz einer rationalen Zahl √2 keine Allgemeingültigkeit beanspruchen könne. 24 Die Irrationalität von √2 zeigt, dass das Verhältnis »Hypotenuse zu Kathete« bzw. im Quadrat »Diagonale zu Seitenlänge« nicht rational ist, d.h. dass bereits die einfachsten geometrischen Figuren nicht durch An­ einanderlegen von Kopien einer »kleinsten Elementarlänge« zu konstruieren sind. Aristoteles beschreibt dies mit der Aussage, dass sie »kein gemeinsames Maß« haben (s.o.). 25 »Solange wir innere und äußere Erscheinung, als bloße Vorstellung in der Erfahrung, mit einander zusammenhalten, so finden wir nichts Widersinnisches und welches die Gemeinschaft beider Art Sinne befremdlich machte. Sobald wir aber die äußere Erscheinung hypostasieren, sie nicht mehr als Vorstellung, sondern in derselben Qualität, wie sie in uns sind, auch als außer uns vor sich bestehende Dinge, ihre Handlungen aber, die sie als Erscheinungen gegen einander im Verhältnis zeigen, auf unser denkendes Subjekt beziehen, so haben wir einen Charakter der wirkenden Ursache außer uns, der sich mit ihren Wirkungen in uns nicht zusammen reimen will, weil jener sich bloß auf äußere Sinne, diese aber auf den inneren Sinn beziehen, welche, ob sie zwar in einem Subjekt vereinigt, dennoch höchst ungleichartig sind.« (m.H., M.S.; I. Kant, 1781/1787, A 386. Siehe aber auch folgende andere Stellen: A 392, A 395, A 402). Anmerkung: Die uns seltsam erscheinenden Formulierungen sind Kants ureigene Ausdrucksweise.

437

akkulturation Im Bereich der abstrakten Welt der Gedanken und Ideen mag eine solche Vorgehensweise noch akzeptabel erscheinen. Dort ist man frei, unvereinbare Dinge phantasievoll zu kombinieren, wie das etwa Salvatore Dali veranschaulicht, wenn er Elefanten mit Insektenbeinen malt. In Realität umgesetzt, würden solche Wesen augenblicklich kollabieren. Wir kehren nun zurück zur oben gestellten Frage, wie weit eine widerspruchsfreie Mathematik zur Beschreibung einer widerspruchsvollen Natur geeignet ist. Zu untersuchen bleibt, ob sich vielleicht mathematische Unvereinbarkeiten bei ihrer Umsetzung in den »handgreiflichen« Bereich – ähnlich wie eine fiktive, irrationale Zahl in einer fiktiven Unendlichkeit – zum Verschwinden bringen lassen? Wenn dem so wäre, würde es sich allerdings erübrigen, von Unvereinbarkeiten zu sprechen26. Trotzdem gibt es eine Methode, mit diesem Dilemma zurande zu kommen. Es besteht darin, »Natur« abzuschaffen und eine Welt zu erzeugen bzw. herzustellen, in der Widersprüche bzw. Inkommensurabilitäten eliminiert sind. In anderen Worten: Das verbreitete Ignorieren von Unvereinbarkeiten bewirkt das Herstellen neuer, fiktiver Welten. Zur Veranschaulichung erinnere ich kurz an M.C. Eschers skurrile, doch verblüffende Bilder. Was sie zum Ausdruck bringen, ist vorstellbar, aber in der Natur nicht herstellbar. Dabei betone ich nochmals: »in der Natur«. Denn es lässt sich das eine oder andere dieser Bilder in einem Laboratorium unter Ausschluss der Natur – etwa in einem Raumschiff – vermutlich doch realisieren.

Phantasmata 27� der Laboratorien Eigentlich ist es völlig unnötig, auf M.C. Escher zurückzugreifen. Welten solcher Art existieren heute als Fiktionen in vielfältiger Weise, nicht nur in den Köpfen oder am Zeichenblock. Jedes abendliche Fernsehprogramm liefert Zeugnis dafür, doch sind diese fiktiven Welten keineswegs die einzig auffindbaren Zeugen für derartige Entwicklungen. Um der Phantasie auf die Sprünge zu helfen, nenne ich nur das Wort »Bitcoin«28. 26 Die Praxis des Ignorierens von Unvereinbarkeiten scheint mir einer anderen zum Verwechseln ähnlich zu sein, nämlich dem Hinausschieben des eigenen Exitus, von dem gerne geglaubt wird, dass er uns nie wirklich widerfährt. Doch eines Tages werden wir eines anderen belehrt. 27 »In der französischen Psychiatrie bedeutet Phantasma so viel wie eine bildhafte Szene, in welcher der Betroffene einen Wunsch oder unbewussten Wunsch realisiert. Insofern besteht Gleichheit mit einem Tagtraum.« (zitiert nach: Wikipedia, Phantasma). 28 Die größte Börse für virtuelles Geld, die in Japan ansässige Bitcoin-Börse

438

realabstraktionen herstellen Unsere Aufmerksamkeit richtet sich jedoch auf einen gänzlich anderen Aspekt. Weiter oben habe ich bereits an die Arbeiten von B. Latour erinnert, der unser Augenmerk darauf gelenkt hat, dass Strahlen (bei ihm: Bakterien), die in der Welt der Laboratorien unter rigiden Voraussetzungen erzeugt wurden, irgendwann die Laboratorien verlassen. Um aber außerhalb jener Kunstwelt zu bestehen, müssen wesentliche Voraussetzungen ihrer Existenz im Labor zusammen mit den Mikroorganismen etc. ebenfalls nach außen verpflanzt werden. Die unvollkommene Natur, die al-Farabi korrekterweise für verbesserungsfähig hielt, wird unter solchen Vorgaben aber nicht nur verbessert, sondern verdrängt, z.B. durch eine andere, gleichfalls unvollkommene, sterilisierte Umwelt ersetzt oder sonst wie verändert. In einer derartigen »neuen Welt« wird die gleichzeitige, durchmischte Koexistenz von Inkommensurabilitäten möglich, weil die Pluralität der Existenzweisen, die die Inkommensurabilitäten bewirkte, nicht nur ignoriert, sondern eliminiert wird. In anderen Worten: Natur wird vernichtet, standardisiert, normiert oder anders neu geschaffen. Ob das Ergebnis noch als »Natur« bezeichnet werden kann, darf oder soll, ist Teil eines anderen Diskurses.

Verschmelzung von Politik und Philosophie Wie weit kann die vorgebliche oder vermutete »Verbesserung« einer unvollkommenen Natur getrieben werden? An dieser Stelle taucht zwangsläufig al-Farabis zentraler Programmpunkt neuerlich auf. Er forderte ja die Verschmelzung von Politik und Philosophie ein. Antworten auf diese Frage muss seiner Meinung nach die Philosophie geben. Politik hätte nur dafür zu sorgen, dass diese Antworten umgesetzt werden, und zwar unter Berücksichtigung der Forderung, dass das erstrebenswerteste Modell menschlichen Zusammenlebens, also eine Demokratie, erhalten bleibe. Eine Demokratie müsste allerdings nicht nur für die Gleichstellung aller Menschen sorgen, sondern – wie wir erst heute wissen – zugleich auch für eine Gleichstellung der natürlichen mit den artifiziellen Seinsgegebenheiten innerhalb und außerhalb der menschlichen Gesellschaften Sorge tragen. Daraus ergibt sich mehr als nur ein einziger Widerspruch oder eben erneute Inkommensurabilitäten.

Mt. Gox, stellte Ende Februar 2014 unerwartet ihren Betrieb ein. Der Chef war verschwunden, das Büro in Tokio verwaist. Geschröpfte Anleger zitterten um ihr Geld. 300 Millionen Dollar an echtem Geld waren verschwunden.

439

akkulturation Al-Farabi unterschied – wie weiter oben gezeigt wurde – konsequent mehrere Typen von gesellschaftlichen Organisationsformen. Sie alle würden nicht die Kriterien der besten Staatsform erfüllen, was sowieso illusorisch wäre29. Al-Farabi bezeichnete solche Gesellschaften als »fehlgeleitet«, denn sie würden nicht den Sinn menschlicher Existenz erkennen. Manche dieser Gesellschaftsformen würden ihn auch gar nicht erkennen wollen. Er »taufte« diese Variante von Gesellschaften »ignorant«. Der Sinn menschlicher Existenz bestehe nach al-Farabi im Erreichen von Glückseligkeit, wobei er sich auf seine »zwei großen Weisen« aus Griechenland beruft. Sehen wir für den Augenblick von der von ihm nicht unerwähnt gebliebenen Möglichkeit ab, dass solches Glück zu erreichen auch erst in einem möglichen, posthumen Leben angestrebt werden könnte, so bleibt ein glückliches Leben in dieser Welt und die Frage, wie dieses zu erreichen sei. In jenen »ignoranten« Gesellschaften werden bedeutungslose Güter angestrebt. Solche unterteilt er in notwendige und unnotwendige Güter. Zu den notwendigen, doch bedeutungslosen Gütern zählt al-Farabi sogar körperliche Gesundheit und körperliches Wohlbefinden. Luxusgüter sind für ihn dagegen beides, bedeutungslos und unnotwendig30. Letzteren rechnet er u.a. auch das Streben nach Ruhm oder einfach nur schlichten Genuss zu. Mit dieser Bestimmung werden wir mit einer negativen Definition zurückgelassen. Wir erfahren zwar, was keine erstrebenswerten Güter sind, andeutungsweise auch, dass Demokratie und Freiheit erstrebenswerte Güter wären, doch nicht mehr31. Wir müssen uns demnach damit abfinden, dass die Frage nach den erstrebenswerten Gütern nicht überzeugend beantwortet wird und wir auch nicht erfahren, wie ein glückliches Leben zu erreichen sei32. 29 Für die Gründe siehe Kapitel VIII in diesem Band. 30 Siehe dazu auch: T. Veblen (1899) und den nachfolgenden Epilog. 31 M. Mahdi (2001, S.144-146) meint allerdings, dass in einer voll entwickelten Demokratie jedem Menschen ermöglicht werden würde und auch alle dazu ermuntert würden, alle Wünsche, soweit es die eigenen Möglichkeiten gestatten, auszuleben. Eine voll entwickelte Demokratie eröffnete dadurch die Chance zu einem bunten Reigen unendlicher Diversitäten und Luxus. Damit wurde wohl das Rad zu weit gedreht, denn hier widersprechen sich al-Farabi und einer seiner gegenwärtigen Interpreten vollinhaltlich. 32 Aristoteles hat in der »Nikomachischen Ethik« darauf eine klare Antwort. Sie lautet, erstrebenswert sei ein Leben in Muße. (1177b: »[…] die Glückseligkeit scheint in der Muße zu bestehen«). Al-Farabi sagt das so nicht, aber die Bedeutung, die er der Mäßigung beimisst, lässt vermuten, dass auch er der Gier nach mehr nichts abgewinnen kann. Somit scheint

440

realabstraktionen herstellen Trotzdem gibt es gewisse Wegweiser. Verschiedentlich forderte der kritische Philosoph aus dem 10. Jahrhundert Mäßigung ein. Doch Mäßigung braucht ein Maß33. Es zu finden und auch umzusetzen, ist, erinnern wir uns, wiederum gemeinsame Aufgabe von Philosophie und Politik. Daraus folgt für al-Farabi, wie auch für uns: auch theoretische Dinge müssen zusätzlich aus einer politischen Perspektive betrachtet werden, weil zumindest einige davon Entwürfe für eine Welt sind, die erst hergestellt werden soll. Solche philosophische und theoretische Aussagen werden erst dann akzeptabel, wenn sie zugleich auch angemessene Modelle für politisches Handeln bereitstellen34. Entsprechende Modellentwürfe sollten sowohl für jeden einzelnen Staatsbürger als auch für »Herrscher« – die wir heute vermutlich als »Entscheidungsträger« oder »Politiker« bezeichnen würden – Geltung haben. Findet allerdings die notwendige Kooperation zwischen Politik und Philosophie nicht statt, dann ordnet al-Farabi Politiker eines solchen Systems in die letzte Kategorie ein. Er bezeichnet solche schlicht als »Betrüger«. Diese würden öffentlich verbreitete Ansichten nur dazu benützen, um Handlungsweisen zu erzeugen, die ihren eigenen, irregeleiteten Interessen dienlich wären. Solche Ansichten bezeichnen wir als »Ideologien«35. Heute würden derartige Politiker vermutlich als »Demagogen« bezeichnet. Doch auch diese Titulierung scheint verfänger sich dem aristotelischen Ziel zumindest anzunähern. Er stimmt diesbezüglich nur teilweise mit Aristoteles überein, weil er nicht nur Philosophen, sondern allen die Chance eröffnet, »eine jeweils eigene« Glück­ seligkeit auch durch Perfektion der praktischen Künste zu erreichen. Siehe dazu: M. Galstone (1990). 33 Auch hier kann man auf Aristoteles zurückgreifen. Dieser schreibt: »Auch ist die Schlechtigkeit der Menschen ein unersättliches Ding, und wenn sie anfangs mit zwei Obolen zufrieden waren, so verlangen sie, wenn diese erst herkömmlich geworden sind, immer mehr, bis sie zuletzt kein Maß mehr kennen. Denn das ist die Art der Begierde, kein Maß zu kennen, der Begierde sage ich, in deren Befriedigung das Leben des großen Haufens aufgeht.« (Politik, zweites Buch,1267 b). 34 Ein Beispiel aus unserer Zeit: Bei einem seiner publikumswirksamen Auftritte hat Bill Gates einmal gemeint, dass es mithilfe entsprechender Technologien möglich wäre, die Lebensdauer von Menschen auf 400 bis 500 Jahre zu verlängern. Eine politische Frage wäre, ob dies wünschenswert ist? Eine andere wäre, ob dieser Fortschritt allen zugutekommen kann und soll und welche Konsequenzen sich daraus ergeben? Würde denn ein nicht sinnerfülltes Leben sinnvoller, wenn es 500 Jahre dauert? 35 Ch.A. Colmo schreibt dazu: »Alfarabi sometimes uses philosophy for a political purpose in a way that turns it into ideology« (siehe dazu: Ch.A. Colmo, 2005, S.115).

441

akkulturation lich. Sie würde das Augenmerk allzu ausschließlich auf solche bekannte historische Gestalten lenken, wie sie B. Brecht in der Figur eines »Aturo Ui« verallgemeinernd charakterisiert hat36. Tatsächlich handelt es sich um alle jene, die öffentliche Meinungen so manipulieren, dass sie auf Kosten der Allgemeinheit selbst in den Genuss möglichst vieler, unnotwendiger und bedeutungsloser Güter gelangen. Solchen »Indoktrinatoren« wären allerdings heute nicht nur viele Politiker zuzuzählen, sondern alle, die die in obiger Fußnote angesprochenen aristotelischen »Begierden« der Menschen aufstacheln37. Da solche Entscheidungsträger ihre politischen Mittel dazu einsetzen, andere Menschen falsch zu informieren, sind sie nicht nur selbst »fehlgeleitet«, sondern leiten auch andere durch Verbreitung falscher »Meinungen« in die Irre. Folglich empfiehlt al-Farabi gerade solchen Politikern dringend Philosophie für ihre eigene Umorientierung. Doch meistens lehnt diese Art von Meinungsbildnern eine derartige Aufklärung ab, weil sie ihnen in der Verfolgung ihrer Ziele nicht behilflich sein kann. Daraus ließe sich folgern, dass diese Gesellschaften andere Politiker wie auch bessere Philosophen brauchen würden. Welche Schlüsse lassen sich aus diesen Überlegungen ziehen? Naheliegend wäre, dass der Philosophie die bedeutsame Aufgabe zufällt, politische Gegebenheiten zu verändern. Dies klingt nach »Revolution«, allerdings spricht al-Farabi davon nicht. Er selbst zog sich aus Unzufriedenheit mit den politischen Gegebenheiten aus Bagdad zurück und wanderte nach Syrien aus. Doch das kann schwerlich als verallgemeinerbare Anleitung für die große Zahl der Bevölkerung verstanden werden. Wiederum werden wir mit einem Problem allein gelassen.

Realabstraktionen Entscheidungsträgern und Politikern in – wie sie al-Farabi benennt – »bösartigen Gesellschaften«38 ist die Herstellung von unnötigen Gütern, die die Natur nicht hervorgebracht hat, äußerst dienlich. Deren Produktion wird erst nach Verfertigung von Plänen möglich. Solche Pläne sind Abstraktionen. Heute – und damit wird ein weiterer inspirierender Bezug von al-Farabis Gedanken zu unserer Zeit hergestellt – können viele dieser Pläne nur unter Laborbedingungen materialisiert werden39. Das hat u.a. zur 36 Siehe dazu: B. Brecht (1941). 37 Etwa, weil diese Begierden für ein zum Fetisch erhobenes Wirtschaftswachstum nützlich sind. 38 Siehe dazu Kapitel VIII. 39 Einige Beispiele unter vielen: Genmanipulierter Mais wurde unter Aus-

442

herstellen von vorstellung Folge, dass begleitende Umstände, wie sie außerhalb eines Labors vorherrschen, nicht selten übersehen werden. Labors schaffen also einen eigenen Denkstil, der eben an jenen Laborbedingungen und nicht an der Welt außerhalb sein Maß nimmt. Die unter derartigen Bedingungen erzeugten »Innovationen« bezeichnen wir als »Realabstraktionen«40, das sind also Wirklichkeit gewordene Fiktionen. Sie erzeugen virtuelle Welten und schaffen dadurch eine andere, eine von der Natur abstrahierte Wirklichkeit, und zusätzlich auch neue fiktive »Vorstellungen«. Realabstraktionen treten quasi über »Schleusen«, als welche u.a. Laboratorien betrachtet werden können, aus der immateriellen Existenz in den Köpfen in eine ihnen nicht angemessene materielle Welt ein. Die Welt muss folglich an ihre Existenzbedingungen angepasst werden. Meistens treten derartige adaptierte Räume als abgeschlossene Entitäten in Erscheinung. Deren Spektrum ist vielfältig. Sie reichen von abgedunkelten Kinosälen und Theatern über abgeschottete Fabriken, bewachte Banken und Gerichtshöfe bis zu jenen »black boxes«, die die technischen Apparaturen bergen und verbergen und mit deren Hilfe viele technische Realabstraktionen erst real werden.

Herstellen von Vorstellung Aufführungen und Utopien Woher kommen eigentlich jene Vorstellungen, die realisiert werden sollen? Bei dieser Frage nach den Ursprüngen von Vorstellungen scheint es sinnvoll, zwischen zwei Bereichen zu unterscheiden: Untersucht man, woher die Vorstellungen in den Köpfen der Mehrheit der Bevölkerung stammen, so fällt die Antwort darauf leicht. Sie werden dort mithilfe diverser Medien41 »eingepflanzt«. Das, was dort »eingepflanzt« wird, schaltung von Nachtschwärmern und anderen Insekten entwickelt. Beim Einsatz von DDT und Insektiziden wurde das Verhalten der Bauern in anderen Kulturregionen nicht berücksichtigt, sodass es zu folgenschweren Auswirkungen für die Bevölkerung kam. 40 Eine »Realabstraktion« ist eine Abstraktion, die eine materielle Erscheinungsform angenommen hat. Bestes Beispiel dafür ist ein Geldschein, der zwar den aufgedruckten Wert (z.B. 100 Euro) repräsentiert und auch dafür genommen wird. Der »reale« Wert des Scheins, von dem abstrahiert wird und an dessen Stelle ein imaginärer gesetzt wird, ist aber nahezu null. 41 »Medium« bezeichnet eine vermittelnde Zwischeninstanz. Allgemein könnte man von »Meinungsbildnern« sprechen. Dazu zählen heute Presse und Bücher, Theater und Filme, Facebook und Twitter, genauso wie der

443

akkulturation muss allerdings erst erzeugt werden. Und im Sinn von al-Farabi geschieht dies nach »Prinzipien der Lehre«. Daraus ergibt sich die Frage nach der Herkunft dieser Prinzipien. Diese Frage ist wesentlich schwieriger zu beantworten als die erste. Es scheint daher ratsam, zunächst jenen Vorgang zu besprechen, der für die Verbreitung von Lehren zuständig ist. Naheliegender Weise assoziiert man mit »Lehre« Schulen und Unterricht. Doch Schulen alleine reichen nicht, wenn auch jene Segmente der Bevölkerung, die neusprachlich als »bildungsfern« bezeichnet werden, erreicht werden sollen42. Und es handelt sich hier oft um den größeren Teil einer Gesellschaft. Für dieses Segment werden andere Präsentationen43 von prinzipiell bedeutsamen Doktrinen benötigt als jene, die in Schulen mit ihren Prüfungssystemen zum Einsatz kommen. Angestrebt werden bestimmte »Vor-stellungen« in den Köpfen. Solche Vorstellungen werden mithilfe von »Vorstellungen« in einem »Schauraum« erzeugt. Nicht zufällig, denn darum handelt es sich in des Wortes »Vorstellung« dreifacher Bedeutung, werden auch sie in einem – allerdings gänzlich anders gearteten – »Labor« realisiert44, bevor sie kommun(-iziert) werden und dadurch die Welt verändern können. Dieses Labor ist sowohl eine »black box« als auch eine »Fabrik«, eine Art »Traumfabrik« nämlich. Zur Veranschaulichung wähle ich ein Beispiel aus der Antike, das schon im ersten Band detailliert präsentiert wurde: Schon damals, im antiken Athen, erzeugte man in öffentlichen Theatern bei freiem Eintritt (!) in einem Wettbewerb zwischen den beiden politischen Parteien45 »Weltanschauung«. Nicht zufällig behandelten die meisten Dramen Mythen, die die vortheatralischen Überlieferer von Weltanschauung waren und noch immer sind. Folglich hatten und haben sie in höchstem Grad eine erzieherische, politische Aufgabe zu erfüllen46. Damals schufen mithilfe von Dramen die wortgewaltigen Poeten »öffentliche oft genannte »Stammtisch« oder Klubs und Vereine unterschiedlichster Orientierung. 42 Eine derartig pragmatische Unterscheidung trafen sowohl die Griechen wie auch die Araber. 43 »Praesentio«, lat., bedeutet Vorahnung. »Präsentieren« meint nach Kluge (1883/1999), etwas »gegenwärtig machen«. »Präsentation« besagt daher, eine Vorahnung gegenwärtig zu machen. 44 Diese Thematik lenkt uns allerdings von unserer Hauptlinie ab. Sie sei daher nur kursorisch gestreift, um den weiteren Konnex des Themas zumindest anzudeuten. 45 Siehe dazu: Band I, Kapitel VII. 46 Der Vorgang wurde als »Katharsis« (, Reinigung) bezeichnet, was christlich gewendet in seiner Wirkung als »Reue« interpretiert werden könnte. Zieht man zusätzlich in Betracht, dass F. Nietzsche oder C. Geertz den Ursprung des Theaters bzw. dessen soziale Funktion in

444

herstellen von vorstellung Meinung«47. Die alten Mythen stellten überwiegend nur die Anschauungen der herrschenden Aristokraten zur Schau. Heute geschieht ähn­ liches mithilfe moderner Medien, doch heute transportieren sie nicht die Sicht von Aristokraten, sondern überwiegend jene von »irregeleiteten« Pluto- und Technokraten.

Vor-Gestell-t Anschauungen werden heute industriell in den genannten »Traumfabriken« hergestellt. Diese Art des Herstellens von Realabstraktionen lädt dazu ein, pragmatisch den Empfehlungen al-Farabis mit einem kleinen Ausflug in unsere zeitgenössische Philosophie Folge zu leisten. M. Heidegger (1955) münzte den Begriff des »Gestells«, der meistens als merkwürdiges Synonym für »Technik« betrachtet wird. Diese verkürzende Sicht lässt vergessen, dass es sich bei Heidegger um eine bestimmte Weise »des Entbergens« statt »Verbergens« handelt, die vor allem, aber nicht nur, im Wesen moderner Technik waltet. Denn dort wirkt vorrangig jene spezifische Art eines In-die-Welt-Hineinstellens oder Entbergens. Deren Kennzeichen ist Abstraktion und Reduktion unter bewusster Vernachlässigung bestimmter relevanter Hinsichten, Probleme und Eigenschaften. Diese Vorgehensweise wurde breitflächig institutionalisiert und begründete eine umfassende, gemeinsame, spezifisch funktionale Kultur48. Es handelt sich also um ein charakteristisches Handlungsmuster, dessen Bezeichnung »Gestell« sich von »stellen« herleitet. Die Betonung liegt dabei auf einer ursprünglichen Bedeutung des Wortes, die darauf hinwies, dass etwas gezwungen wird, sich zu stellen, also ähnlich, wie wenn jemand aufgrund eines Einberufungsbefehls zur Stellung beordert würde. Dieses weit verbreitete Sich-zwangsweise-Stellen-müssen ist das, was das Wort »Gestell« bezeichnet. In der modernen Technik meint es eben eine besondere Art, »Dinge« zu zeugen, sie zu »Zeug« zu machen, zu erfahren und zu behandeln. Es ist eine spezifisch »respektlose« Art der einem rituellen »Mitmach-Theater« sehen, so erhält der Begriff »Katharsis« als soziale Konfliktbereinigung noch zusätzliches Gewicht. 47 In Athen halfen solche Aufführungen mit Erfolg u. a. auch jene »verrückten« Beschlüsse in der Ekklesia zu bewirken, die letztlich u.a. auch zum Zusammenbruch der Demokratie und zu einem verlorenen Krieg gegen Sparta führten, was durchaus im Interesse der Aristokratie lag. Die Aristokratie betrachtete die Spartiaten stets als Verteidiger ihrer ureigenen Interessen. 48 Siehe dazu: N. Luhmann (1993, 1997). Siehe dazu auch den Epilog in diesem Band.

445

akkulturation Produktion von Welt (W. Martens, 2001). Sie schafft ein Sein von ständig reproduzierbaren nützlichen Eigenschaften: ein »Funktional-Sein«. Nun legt der Begriff des »Gestells« zugleich nahe, auch dessen Produktion – sein »Herstellen« – in unsere Betrachtung einzubeziehen. Herstellen ist zugleich auch eine Weise des »Hinstellens«, welches raumfüllend ist. Es verstellt. Solch hingestelltes Hergestelltes ist gleichzeitig eine Darstellung. Dargestellt wird aber die abstrahierte Vorstellung einer Sache – eine Vorstellung seines zweckdienlichen, funktionalen Seins. Der kognitive Raum, wo dies abgehandelt wird, wird »Werbung« genannt, wobei es sich nicht nur um Produktwerbung handelt, sondern um eine Art von »Kulturimperialismus« jener genannten, spezifisch »funktionalen Kultur«. Die Art dieser Darstellungen verfolgt überall denselben Zweck, nämlich Herstellung einer Vorstellung »schamloser Betrachtung und Verwendung von Dingen und Menschen« (W. Martens, 2001, S. 303). Durch diese Weise von Wissensproduktion erhalten die Zuseher solcher Vor-führungen »Einsichten in die Verfügbarkeit der Natur, der Menschen, der sozialen Verbände und in die Art und Weise, in der diese Verfügbarkeit in tatsächliche Verfügung umgesetzt werden kann.«(ibid., S. 305). Dabei sind diese Aufführungen nicht nur Vorführungen, sondern die Adressaten selbst werden vorgeführt und dazu verführt, sich zu stellen. Doch auch diese Beschreibung liefert noch keinesfalls das endgültige Ergebnis des Verfahrens. Im Zeitalter des »Gestells« wird Sprache in ein Mittel schlichter Benachrichtigung verwandelt. Die Aufführungen sind rein zweckhaft orientierte Kommunikation. Sie bezweckt und verdeckt eine spezifische Formierung der Menschen. Bezeichnenderweise sprechen wir daher von »In-formation«, d.h. von einer intrinsischen Formung der Nachrichtenempfänger49. »Kommunikation als Benachrichtigung ist daher zugleich Produktion eines Menschen und Setzung von Denk- und Einstellungsgewohnheiten, die dem technischen Verständnis des Seins der Seienden entsprechen.« (ibid., S.306). Sie ist eben eine Weise von Indoktrination, deren Zweck eine intrinsische Motivierung ist, an der Umsetzung von Zwecken mitzuwirken, die durch jene Vorstellungen verstellt und verborgen wurden. Das »Gestell« ist demnach auch eine Weise des »Entbergens« zum Zweck, etwas zu verbergen. Derartige Vorstellungen werden in bedeutungsschwangeren, künstlich geschaffenen, sterilisierten Räumen als Vorführungen erzeugt und sollen, ob in der Antike oder heute, ihre hochpolitische Aufgabe dort erfüllen, wo Schulen und Lehre als Indoktrinationsmedien nicht mehr 49 Im Epilog wird derselbe Vorgang noch konkreter auch als »Standardisierung« bezeichnet.

446

herstellen von vorstellung hinreichen50. In heutiger Terminologie wird dieser Vorgang der Indoktrination auch als »Ideologisierung« bezeichnet. Nicht zufällig wird das Herstellen solcher Vorstellungen auch als »Kunst« bezeichnet, denn deren Ergebnisse sind genauso Artefakte wie Pasteurs Bakterien, alHaythams Strahlen oder irrationale Zahlen51. Auch in unserer Zeit leisten vergleichbare literarische oder filmische Aufführungen im politischen Bereich Ähnliches wie im antiken Athen. Doch wesentlich wichtiger als eine vergleichbare politische Indoktrination ist heute jene Vorbild-wirkung, die Herstellung und Konsum von »unnötigen« Gütern als »Königsweg« zur Glückseligkeit52 propagieren. Denn in unseren Tagen beherrschen weder Aristokraten noch Demokraten, sondern Plutokraten53 das globale »Spielefeld«.

Der tiefe Sinn des Wettbewerbs Vorstellungen schaffen als Vorführungen die notwendigen Verführun­ gen hin zu positiven, öffentlichen Bewertungen von fiktiven Annahmen. Sie erzeugen in den Köpfen, was wünschenswert sein soll. Denn was wünschenswert ist, ist erstrebenswert54. 50 Es ist von nicht geringem Interesse festzuhalten, dass im Islam Theater mehr oder weniger unbekannt war. Wenig Ausnahmen dazu findet man am Hof gerade jenes Kalifen Mutawakkil (847–861 n. Chr.), der die Miḥna beendete. Doch sie blieben Ausnahme. Theater fand in der Welt der Muslime erst unter dem Einfluss europäischer Imperialisten im 19. Jahrhundert Eingang. Bezeichnend ist auch, dass während der großen Übersetzerzeit griechische Dramen bei weitem nicht dieselbe Aufmerksamkeit fanden wie philosophische und wissenschaftliche Schriften. Sie wurden kaum übersetzt. 51 Es sei einmal darauf hingewiesen, dass »irrational« sich aus der Negation von »ratus« (lateinisch, PPP von »reor«, berechnen, meinen) herleitet. Es bedeutet folglich »nicht-berechenbar« oder »unaussprechbar«. Eine Zahl, die nicht berechenbar ist, ist aber keine Zahl, sondern nur die Fiktion davon. Oder, um mit al-Farabi zu sprechen: es handelt sich nicht um eine Zahl, sondern um eine Größe. Kritisch zu der Fiktion »irrationale Zahl« äußerten sich auch prominente Mathematiker, wie etwa L. Kronecker (siehe dazu: H. Kremer, 2004). 52 Hier sei an die in die tausende gehenden Hollywood-Produktionen gedacht, die das schöne Leben in den Suburbs als Normalität und individualistischen Wunschtraum darbieten. Siehe dazu z.B.: T.J. Jackson Lears (1983). 53 »Plutokratie« bedeutet »Herrschaft der Vermögenden«, also »des Geldes« (siehe dazu den informativen Eintrag in WIKIPEDIA). 54 Allerdings muss dies nicht nur »unerfahrene« Dinge wie z.B. Raumfahrt

447

akkulturation Doch wie gelingt es, Unerfahrenes als wünschens- und erstrebenswert erscheinen zu lassen? Es gelingt dadurch, dass der Eindruck geschaffen wird, dass tatsächliche oder angebliche soziale Defizite durch die Verfügung über solche Realabstraktionen vermindert, ausgeglichen oder gar in ihr Gegenteil verwandelt werden können55. Konsequenterweise muss vorher ein Bewusstsein von sozialen Defiziten implantiert werden. Das gelingt zum größten Teil über den Geist jenes Wettbewerbs, der bereits in den Schulen eine Majorität von Verlierern und nur eine verschwindende Anzahl von glücklichen Gewinnern produziert. Die Herstellung von zahllosen, verführbaren Verlierern – »Looser« wäre die heute gängige Bezeichnung – ist der letzte, tiefere Sinn der Ideologie des Wettbewerbs. Mit den Fiktionen von erstrebenswerten Gütern zur Surrogatbefriedigung wird in »fehlgeleiteten« Gesellschaften der nötige Wille zur Herstellung und zum Genuss unnötiger und bedeutungsloser Güter geschaffen. Das wusste al-Farabi schon vor tausend Jahren. Erst ein durch entsprechende Erziehung manipulierter Wille produziert jene Güter, die als erstrebenswert betrachtet werden. Sich auch heute dem Urteil al-Farabis anzuschließen, fällt leicht56. Denn der Preis für jene Güter, die Realabstraktionen sind, ist nicht unbeträchtlich, obwohl deren Wert nur imaginiert ist. Der Wert der Abstraktionen ist selbst abstrakt und löst sich im Handumdrehen in Nichts auf. Doch deren Realanteil bleibt als Müll, welcher Natur verändert und ganze Landschaften in Wüsteneien verwandelt, wobei auch die Ozeane nicht verschont werden. Das bedeutet, dass der negative Wert des Realen mithilfe eines fiktiven Wertes von Realabstraktionen, der nur in Vorstellungen zusammenphantasiert wird, zum Verschwinden gebracht wird. Damit wird aber nur eine Seite der grundlegenden politischen Relevanz von theoretischen Entitäten, die anfänglich nur in Köpfen existieren und über Willensakte in die materielle Welt gestellt werden, offensichtlich gemacht. Ihre Kehrseite ist, dass dadurch die meisten Menschen um das gebracht werden, was sie in einem erfüllten Leben glücklich machen könnte. Was das ist, hat al-Farabi nicht genau spezibetreffen, die heute bereits als Tourismusattraktion vermarktet wird. Nicht weniger intensiv wurden und werden uns noch immer das eigene Schwimmbecken neben dem Eigenheim oder ein schneller Flitzer in der Garage als erstrebenswerte und erfüllbare Wunschträume im wahrsten Sinn des Wortes vor die »Nase gehalten«. 55 Siehe dazu: R. Marchand (1985), S. 68-69; D. Pope (1983), T.J. Jackson Lears (1983), S. 1-38. 56 Dazu existiert auch eine umfangreiche Literatur. Stellvertretend nenne ich eine Arbeit, die unlängst erschienen ist und wo reichlich weitere Verweise zu finden sind: J. McIntryre-Mills (2014).

448

herstellen von vorstellung fiziert – M. Heidegger wird hingegen konkret. Seine Antwort wird im Epilog verraten. Ein weiterer nicht unbedeutender Aspekt dieser Gegebenheiten betrifft die absichtsvolle Herstellung anderer als nur der bisher besprochenen »technologischen Mythen«. Gemeint sind solche Mythen, die überwiegend »Glaubwürdigkeit« schaffen und so die politische Macht bestimmter – z.B. religiöser – Institutionen stützen sollen, wie das etwa durch Produktion von wissenschaftlichen Nachweisen eines »Big Bang« geschieht.

Wahrheit Bei dieser Art von »Produktion« wird ein immaterielles, doch äußerst wichtiges Gut – es trägt den Namen »Wahrheit« – produziert. Produktion bzw. Verwaltung von dem, was als »wahr« gilt, hat einen hohen politischen Wert57. Wer Wahrheit besitzt, hat recht und folglich das Recht auf seiner Seite. Zu diesem Zweck müssen Behauptungen bewiesen und unwiderlegbar werden. Darin liegt eine Hauptaufgabe von Wissenschaften und Religionen. Wissenschaft schafft Wahrheiten. Wissenschafter sind Verwalter von Wahrheit und stehen, prominent geworden, überwiegend im Dienst einer »Herrschaft«58. Die dadurch – damals wie heute – vermittelte Vorstellung einer einzigen Wahrheit, so wie sie Platon eigennützig postulierte, wurde schon von al-Farabi mit Politik verknüpft. Politik sollte von Philosophie geleitet werden. Er übersah keineswegs, dass Herrscher taktisch oder strategisch kalkulierend, theoretisierende Philosophie gerne dazu benutzen, ihre nicht-philosophischen, politischen Ziele durch eine monopolisierte 57 Phantastereien, wie der angebliche Nachweis, dass die Welt im Zug eines »Big Bang« oder sonst wie geschaffen worden wäre, sind hauptsächlich dazu gut das Vertrauen »irregeleiteter« (al-Farabi) Menschen in die Führungsqualitäten herrschender Eliten zu festigen, die behaupten im allei­ nigen Besitz einer einzigen Wahrheit zu sein. Diese Eliten sitzen allerdings nicht nur in den Chefbüros von Ministerien oder Parlamenten, Banken und Großindustrien, sondern u.a. auch in international deshalb wohl­ dotierten Forschungszentren. 58 In Kapitel IX wurde beispielhaft gezeigt, dass wirtschaftliche Wachstumsprognosen oder Modelle zur Simulation von Börsengeschäften oder von Kernkraftwerken, deren eminente Sicherheiten der Öffentlichkeit unter Beweis gestellt werden sollen, dem Bereich der Umwandlung von Fiktionen in Realabstraktionen zuzuordnen sind. Die in diesen Beispielen angesprochene Komplexität ist den Realabstraktionen abhandengekommen, weshalb diverse Börsencrashs und Reaktorunfälle trotz aller eingesetzten Expertise unvermeidbar bleiben.

449

akkulturation Verwaltung von Wahrheit zu erreichen. Eine derartig berechnende Philosophie unterscheidet sich dann in nichts von dem, was heute als »Ideologie«59 bezeichnet wird. Damit bezeichnet man gezielte politische Meinungsbildung, die ihre Glaubwürdigkeit auf die Autorität von Wissenschaften oder Philosophie stützt60. Das von al-Farabi angestrebte Verhältnis von Philosophie und Politik verkehrt sich dadurch in ihr Gegenteil. Denn nun gibt Politik philosophische oder wissenschaftliche Prinzipien vor und nicht umgekehrt. Politik bestimmt nun, was erforscht werden soll und selbstverständlich auch, wie Prinzipien der Lehre zu definieren sind. Abstraktionsvorgänge – also die Festlegung der bedeutsamen und der nicht-bedeutenden Merkmale – werden »ideologisch« ausgerichtet61. Abstraktion fördert auf diese Weise legitimatorische Intentionen. Daraus lässt sich die praktische und politische »Nützlichkeit« von Wahrheitssuche und jeglicher vorgeblich einziger »reiner« Wahrheit erkennen62. Die Vorstellung, dass Wahrheitssuche und Suche nach »nützlichem Wissen« unterschieden werden müssten, erweist sich damit als Illusion63. Die vorgebliche Neutralität und Objektivität von Wissenschaft wird spätestens an dieser Stelle aufgegeben bzw. korrumpiert. Im Auftrag von maßgebenden Interessensgruppen werden folglich viele leitende 59 »Guided by al-Farabi’s description of the deceptive ruler who uses the rhetoric of true happiness in order to pursue the goods and the happiness of this world, we must describe the virtuous kingly ruler as one who uses calculative theoretical philosophy in order to achieve a non-philosophic, political goal. Calculative theoretical philosophy in this sense does not differ from ideology, where by ideology I mean a political opinion or creed claiming authority of demonstrative philosophy or science. […] If the term ›ideology‹ may be used in this sense, then al-Farabi is the inventor of ideology.« (m.H., M.S.; Ch.A. Colmo, 2005, S.101/102). 60 Etwas sarkastisch gewendet, könnte dieser Zustand genau das bezeichnen, was heute unter »Weisen-, Experten- und Gutachter-Demokratie« verstanden und praktiziert wird. 61 »[…] ideas expressed by a subject [M.S.: group or individual] are thus regarded as functions of his existence. This means that opinions, statements, propositions, and systems of ideas are not taken at their face value but are interpreted in the light of the life-situation of the one who expresses them. It signifies further that the specific character and the life-situation of the subject influence his opinions, perceptions, and interpretations. […] these conceptions of ideology, […] make these so-called ›ideas‹ a function of him [M.S.: i.e. ›the subject‹] who holds them, and of his position in his social milieu […]« (m.H., M.S.; K. Mannheim, 1929/1936, S.56). 62 Siehe dazu den Epilog in diesem Band. 63 Siehe dazu: D. Kaldewey (2013).

450

herstellen von vorstellung Prinzipien und Entscheidungskriterien nur noch aufgrund interessensgeleiteter politischer Erwägungen und Berechnungen entwickelt. Wissenschaft und/oder Philosophie stehen nun im Sold der Politik, sind Teil des »Gestells«. Sie fabrizieren u.a. Prinzipien der Lehre, die mit jenen des Seienden nur mehr vage Übereinstimmung zeigen, weil unerwünschte Aspekte64 »abgezogen«, d.h. abstrahiert wurden, und der verbleibende Rest »schön-gefärbt« werden kann65. Um von, wie sie al-Farabi bezeichnet, »irregeleiteten« Politikern als erstrebenswert betrachtete Handlungen in der Bevölkerung zu initiieren und zu steuern, muss folglich öffentliche Meinung angemessen bearbeitet werden. Denn erst eine den jeweiligen Ideologien entsprechende öffentliche Meinung erzeugt Handlungsweisen –- wie etwa einen massenhaften Konsum unnötiger Güter –, die vorrangig im Interesse von fehlgeleiteten und -leitenden Politikern liegen.

Zur Methode der Abstraktion Wir sehen, dass die Methode der Abstraktion eine ganz wesentliche Bedingung für derartige Entwicklungen schafft. Deshalb schreibt N. Luhmann (1990), moderne Wissenschaft sei ein »konstruierendes Unternehmen«. Es funktioniert als »[…] Abstraktionsinstrument, das mit Unterscheidungen arbeitet, die Aufmerksamkeit auf bestimmte Merkmale richtet und auf andere eben nicht.« (W. Martens, 2001, S.316). Für diese Methode existieren keine verbindlichen Vorgaben. K. Mannheim schreibt daher: »In another historical situation, different abstractions would have been found and singled out from the total complex of events. […] the neutralisations of the qualitative differences in varying points 64 Bekannt werden gegenwärtig in der Öffentlichkeit solche, – oft nachteilige, meistens erst dann, wenn neue Realabstraktionen alte ersetzen sollen. 65 »It is interesting to note that the construction of a broader (social) base is bound up with a higher degree of abstractness and tends in an increasing degree to formalize the phenomena with which we are concerned. This formalizing tendency consists in relegating to a subordinate position the analysis of the concrete qualitative assertions which lead in a given direction, and substituting in place of the qualitative and configurative description of phenomena a purely functional view modelled after a purely mechanical pattern. This theory of increasing abstractness will be designated as the theory of social genesis of abstraction.« (m.H., M.S.; K. Mannheim, 1929/1936, S. 302). Anschauungsbeispiel dafür wäre z.B. die Entwicklung des römischen Rechts (siehe dazu: M. Schmutzer, 2011, Band I, Kapitel XI).

451

akkulturation of view, arising in certain definite situations, result in a scheme of orientation which allows only certain formal and structural compo­ nents of the phenomena to emerge into the foreground of experience and thought.« (m.H., M.S.; K. Mannheim, 1929/1936, S. 304).

So wie im aristotelischen Syllogismus unbeweisbare Prämissen zu Prinzipien des Seienden erhoben wurden, so werden in diesem Prozess Abstraktionen zuerst zu Prinzipien der Lehre erhoben, um letztlich von den Belehrten als Prinzipien des Seienden aufgefasst zu werden. Genau genommen besagt das, dass auch die Vorstellung von individuellem Erfahrungswissen nicht den Gegebenheiten entsprechen kann. Erfahrung und Denken erhalten durch jenen Abstraktionsvorgang bereits eine »Orientierung«, wie K. Mannheim dies bezeichnet. Wir finden hier also eine auffallende Übereinstimmmung zwischen L. Fleck und K. Mannheim. Doch nur mittels Abstraktion66 lassen sich Aussagen wie z.B. »Geht es der Wirtschaft gut, so geht es allen gut« als Anleitung für Handlungsmaximen am politischen Markt verkaufen. Deshalb bezeichnete ja auch der aufmerksame al-Farabi um- und vorsichtig Prämissen eines syllogistischen Schlusses gleich als »Prinzipien der Lehre« – und nicht so wie Aristoteles schlitzohrig als »Prinzipien des Seienden«. Der Erfinder der Logik berief sich dabei stets direkt oder indirekt auf das abstrakte und idealisierte Vorbild aristokratischer Tugenden, auf »Arete« ().

Vom Ursprung der Prinzipien – Bildungsprogramme als Kulturträger Prinzipien der Lehre – Bildung und Schulen Öffentliche Meinung wird nicht allein über Vorstellungen bearbeitet, die Medien und Werbung kolportieren. Vorrangig und frühzeitig geschieht dies in Schulen, damals wie heute. Damit betreten wir ein Gebiet großer Wichtigkeit, das auch Antworten bereithält für die wiederkehrende Frage, warum etwa Wissenschaften in Athen und in Magna Graecia, aber nicht in Rom oder Sparta gepflegt wurden. Die Suche nach diesen Antworten lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Praktiken und Zielvorstellungen von öffentlichen wie auch privaten Erziehungssystemen. Verkürzt lauten die allgemeinen Zielvorstellungen von Bildungssystemen, dass die Jugend dazu erzogen werden soll, sich jenes Wissen 66 Solche Abstraktionen liefert häufig die Statistik mit Begriffen wie wachsendes »Bruttoinlandsprodukt« etc. Das nicht berücksichtigte Elend der Arbeitslosen, Obdachlosen und prekär Beschäftigten, die trotz Arbeit den notwendigen Lebensunterhalt nicht erwirtschaften können, wird »abstrahiert«.

452

vom ursprung der prinzipien anzueignen, das in ihre jeweilige Lebensweise passt. Die Summe solcher Lebensweisen bezeichnen wir mit Kultur, die durch Erziehung geschaffen und perpetuiert wird. Al-Farabi unterschied zwischen zwei prinzipiellen Formen der Wissensaneignung. Eine wirkt über eigene Erfahrungen, die andere arbeitet mittels Lehre. Die Inhalte dieser Lehrprogramme werden durch Prinzipien der Lehre reglementiert. Diese würden, so meint al-Farabi, allerdings in »korrumpierten« politischen Systemen, wo Politik Wissenschaft und Philosophie in ihre Dienste gestellt hat, selbst korrumpiert 67. Wie verhält sich dies in nicht-korrumpierten Gesellschaften? Kehren wir zum Meister des Lyceums, Aristoteles, zurück, so erfahren wir von ihm Folgendes: Er stellte in der »Politik« fest, dass man nicht meinen dürfe, »dass irgendein Bürger sich selber angehöre, sondern man sei überzeugt, dass sie alle dem Staat angehören, da jeder ein Teil von ihm ist und die Sorge für den Teil immer die Sorge für das Ganze zu berücksichtigen hat.«68

Daraus ergibt sich für ihn, dass der Staat für die Erziehung der Jugend zu sorgen hätte und für alle eine gemeinsame Bildung anzustreben wäre69. Deshalb bezeichnete er auch die Lazedämonier in Sparta im Unterschied zu Athen als vorbildlich. Denn dort wurde auf die Erziehung der Jugend von Staats wegen größte Sorgfalt gelegt, wogegen sich in Athen jeder privat um die Erziehung seiner Kinder sorgen musste und die Auswahl der Fächer, die im privaten Unterricht gelehrt wurden, eigenständig bestimmt werden konnte. Dergestalt würden, meint der Stagirit, zwar die eigentümlichen Charaktere der jeweiligen Verfassungen erhalten, d.h. der demokratische einer Demokratie oder der oligarchische einer Oligarchie, das besage aber noch nicht, dass sie deshalb auch schon vorbildhaft wären. Zweierlei lässt sich schon aus diesen kurzen Feststellungen schließen: Aus Sicht des Meisters des Lyceums ist jeder Mensch ein »politisches Tier« und muss folglich im Bild der jeweiligen politischen Verfassung gebildet werden. Oligarchien bevorzugen einen anders gebildeten Menschenschlag als Demokratien oder Plutokratien. Das äußert sich u.a. auch in den Inhalten der Ausbildung. Bildung bleibt wesentlicher Bestandteil von Politik. M. Mahdi fasst die Gegebenheiten bündig so zusammen: 67 Sich dieser Meinung nicht anzuschließen ist angesichts der Erfarungen der vergangenen Jahrzehnte nahezu unmöglich. 68 Siehe dazu: Aristoteles, Politik (Achtes Buch,1337a/30). 69 Vorwegnehmend sei gesagt, dass in Rom der Staat diese Aufgabe nicht wahrnahm.

453

akkulturation »The lawgiver must practice and provide for the ways of instructing the multitude and forming their characters.« (M. Mahdi, 2001, S. 215).

Aristoteles’ eigene Schulung fand, bevor er nach Athen kam, in Stagira statt. Das war zu jener Zeit ein Ort mit starker Orientierung nach Pella, der königlichen Hauptstadt Mazedoniens. Von dort dürfte er folglich auch seine monokratische Grundeinstellung70 mitgebracht haben, die sich mit jener seines Lehrers Platon gut vertrug. Es liegt somit der Schluss nahe, dass sich auch in nicht-korrumpierten politischen Systemen die prinzipielle Situation nicht grundlegend von den anderen unterscheidet. Unbenommen bleibt, dass sich die Prinzipien der Lehre unterscheiden, doch nicht deren Zustandekommen. Betrachten wir folglich konkrete Beispiele.

Agoge71 Der markante Gegensatz zwischen den von Aristoteles genannten demokratischen und oligarchischen Erziehungsweisen verleitet dazu, sich damit kurz zu beschäftigen. Als paradigmatisches Beispiel für die eine Art des Unterrichts steht das antike Sparta. Angeblich wurde dessen Ausbildungssystem bereits von Lykurg konzipiert, dem eher mythologischen Begründer der spartanischen Verfassung. Aus Gründen der Herrschaftsausübung72 über die unterworfenen Messenier war das spartanische System dominant militärisch orientiert. Charakterisiert wird es durch außerordentliche Härte und Brutalität, körperliche Züchtigung, Kadavergehorsam und betonte Unterdrückung von Individualität73. Aristoteles selbst meint, die Spartaner machten die jungen Leute durch harte Anstrengungen fast zu Tieren, und er bezweifelt, ob das auch wirklich der beste Weg zur Tapferkeit wäre. Gehorsam und Tapferkeit waren die höchsten Erziehungsideale, und sie gingen Hand in Hand mit einer demonstrativen Geringschätzung intellektueller Bildung74. 70 Es war nicht Zufall, dass der Stagirit zum Lehrer des jugendlichen Alexander berufen wurde. 71 Siehe dazu: K. Schwenke (2003). 72 An dieser Stelle sei an die verschiedenen Aufstände der Messenier erinnert, die Sparta nur mühsam unter Kontrolle brachte. 73 Dass dieses Erziehungssystem in Deutschland auch den Nationalsozialisten als beispielgebend erschien, hat unlängst eine Diplomarbeit an der Universität Wien gezeigt. Siehe dazu: A. Klement (2010). 74 Der Althistoriker M. Dreher beschreibt die Situation in Sparta so: außer Zweifel steht, dass »[…] sie sich offenbar wenig mit der Redekunst, mit Philosophie und Literatur befassten, sie konnten aber im Allgemeinen

454

vom ursprung der prinzipien Dieses Ausbildungssystem wurde »Agoge« () genannt. Es ruhte in den Vorgaben eines Herrschaftswissens, das die Epigonen dazu erziehen sollte, bedingungslos allen Anordnungen eines Befehlshabers oder Anführers Folge zu leisten. Ago (), vom dem sich »Agoge« herleitet, bedeutet »führen, lenken, hintreiben«, was zugleich zweierlei beinhaltet: nämlich zu lernen, jemanden zu einer bestimmten Stelle hin zu treiben, wie auch zu lernen, den notwendigen Vorgaben eines Treibers zu entsprechen. Nicht zufällig wird Agoge manchmal auch mit der Aufzucht von Tieren in Jungherden verglichen, wie selbst Aristoteles schreibt.

Paideia Umgekehrt bemühte sich das athenische Erziehungskonzept der »Paideia« darum, praktisches Wissen und eigenständiges »Räsonieren« zu entwickeln. Paideio () übersetzt man meistens mit »erziehen, unterweisen, bilden, belehren«. Dabei handelt es sich um die Umsetzung dessen, was seit Xenophanes mit »sophia« () bezeichnet wurde. In diesem Programm werden – je nach Gutdünken des Vaters – praktische Kenntnisse nicht weniger als politische Bildung vermittelt. Es beinhaltet also auch das, was damals unter Rhetorik verstanden wurde. Zugleich macht es auch verständlich, warum gerade im demokratischen Athen der »Technik der Rede« ein hoher Stellenwert in der Ausbildung der Jugend zuerkannt wurde. Rhetorik spielte im politischen System Athens im 5. Jahrhundert v.Chr. und in den nachfolgenden Jahrhunderten im Unterschied zu Sparta eine bedeutende Rolle. Die Kunst des Redens zu beherrschen war dort ein wesentlicher Bestandteil alltäglicher Überlebenskunst, ähnlich wie in Sparta die Kunst des Schwei­ gens75, selbst unter größten Schmerzen. leidlich lesen und schreiben.« (m.H., M.S.; M. Dreher, 2001, S.114). Und er registriert spätestens für das 5. Jahrhundert v. Chr. einen rapiden Abstieg der künstlerischen Produktion. Die geistigen Künste, die im klassischen Athen einen neuen Höhepunkt erreichten, wie Literatur, Philosophie, Rhetorik und Geschichtsschreibung, bildeten sich in Sparta erst gar nicht heraus. Dezidiert leitet er diese Differenz zwischen Athen und Sparta von den unterschiedlichen politischen Systemen her (ibid., S.116). Die Demokratie in Athen forderte die Beschäftigung mit sprachlicher Artikulation von ihren Bürgern ein, wogegen die spartanische Oligarchie darauf verzichten konnte – und wollte. 75 So bezeichnete der spartanische König Archidamos in seiner Antwort auf die Vorbringungen einer athenischen Delegation bei demselben Anlass, bei dem die Korinther die Athener zu diskreditieren versuchten, die Kunst der wohlgesetzten Rede als »nutzlose« Kunst, in der die Spartaner nicht

455

akkulturation Die Betonung des demokratischen Aspekts bedeutet nun nicht, dass »Paideia« nicht auch in gewissem Umfang Disziplin und Gehorsam vermitteln sollte. Doch einen wesentlichen Unterschied zwischen beiden Bildungskonzepten macht gerade jene Gewandtheit im Ausdruck, dem in der Agoge wenig Bedeutung zuteilwurde. Die demokratische Verfassung Athens verlangte u.a. auch, dass »alle Amtsträger für den Bereich der Zivilverwaltung […] mit Ausnahme des Schatzmeisters der Kriegskasse, der Verwalter des Theaterfonds und des Aufsehers über die Brunnen« per Los gewählt werden mussten. Diese amtierten dann von einem Panathenäenfest bis zum nächsten76. Der Umstand, dass sämtliche Bürger für unterschiedlichste Ämter77 und für den »Rat der Fünfhundert« per Los – also durch Zufallsentscheid – zur Verfügung stehen mussten, verlangte zugleich, dass sie alle auch eine, einem solchen Amt angemessene Ausbildung mitbringen mussten. Dies machte ein hochentwickeltes Erziehungssystem unabdingbar. Es kann daher nicht überraschen, dass die Eltern per Gesetz verpflichtet wurden, dass ihre Söhne, egal welchen Standes, ab dem siebten Lebensjahr geschult wurden. Ende des 5. Jahrhunderts wurde dann sogar ein Gesetz verabschiedet, das das Unterrichtswesen regelte, Lehrinhalte fixierte und Lehrer bestellte. An den »Gymnasien«, die auch aus öffentlichen Geldern finanziert wurden, erhielten die 14- bis 18-jährigen jungen Männer eine weitere vormilitärische Ausbildung. Die Feststellung, dass es in Athen keine Schulpflicht gegeben hätte, ist demnach nur teilweise korrekt. Sie unterschied sich aber grundlegend von jener, die in Sparta praktiziert wurde. Es würde auch den historischen Tatsachen nicht gerecht, wenn die Vielfalt erzieherischer Vorstellungen, die im Lauf der Zeit in Athen entwickelt und parallel praktiziert wurden, nicht Erwähnung finden würde. Platons Konzept, wie es in der »Politeia« entwickelt wurde und gebildet wären (siehe dazu: Thukydides, Der peloponnesische Krieg., I/84). 76 Aristoteles unterscheidet dabei nicht zwischen den »Großen« und den »Kleinen« Panathenäen. Jene fanden im vierjährigen Rhythmus, diese hingegen jährlich statt (siehe dazu: Aristoteles, Staat der Athener, Kap. 43). 77 Aristoteles zählt in den weiteren fünf Kapiteln die Ämter auf, die jährlich neu verlost werden. Dazu zählen u.a. Aufseher für die Instandhaltung der Tempel, Markt- und Getreideaufseher, solche für die Gefängnisse, für die Einbringung von Gerichtsklagen, Schiedsrichter, Straßenbauer, Koordinatoren für Sühneopfer und auch die Archonten. Alle diese unterschiedlichen Ämter müssen von jedem Bürger kompetent ausgefüllt werden können. Es wird also ein breit gestreuter Sachverstand gebraucht, der durch eine entsprechende Bildung erst geschaffen werden muss (siehe dazu: Aristoteles, Staat der Athener).

456

vom ursprung der prinzipien wie es annähernd auch von Aristoteles vertreten wurde, war dort keineswegs das einzige Modell. Wir wissen, dass Hesiod, der biedere Landmann, andere Vorschläge hatte als Solon, der Urvater der Demokratie in Athen. Solon bestand etwa in seiner Verfassung darauf, Eltern darauf zu verpflichten, dass sie ihren Söhnen das Erlernen eines Handwerks ermöglichen müssten. Denn aus seiner Sicht war der Lebensunterhalt der Bevölkerung in Athen nicht allein durch Landwirtschaft, sondern zusätzlich durch Handel und Export handwerklicher Produkte zu gewährleisten. Die griechische Bezeichnung für Handwerk war »Banausia« (). Aristoteles bemüht diesen Begriff öfters, doch fast ausschließlich in abwertender Weise. So schreibt er etwa: »Was aber die Frage angeht, ob sie [die Jugend] alles Nützliche lernen soll, so ergibt sich aus dem Unterschiede der freien und der unfreien Verrichtungen als Folgerung die klare Antwort, dass sie nur in solchen nützlichen Beschäftigungen befasst werden darf, die sie nicht zu Banausen, zu gemeinen Handwerkern herabwürdigen. Für banausisch hat aber jede Verrichtung, Kunst und Kenntnis zu gelten, die den Leib oder die Seele oder den Geist freier Menschen zur Ausübung und Betätigung der Tugend untüchtig macht. Darum nennen wir sowohl alle solche Künste und Handwerke banausisch, die einen körperlich in eine schlechte Verfassung bringen, als auch jede lohnbringende Arbeit, da sie den Geist der Muße beraubt und ihn erniedrigt.« (m.H., M.S.; Aristoteles, Politik, Buch VIII,1337 a/35).

Deutlich wird daraus nicht nur die Geringschätzung von allem, was Nutzen bringt und dem Erwerb des Lebensnotwendigen dient, sondern auch das, was als erstrebenswertes Bildungsideal zu betrachten ist. Dieses Ideal ist der – vom Stagiriten niemals einem Zweifel unterworfene – Lebensstil landbesitzender Aristokraten mit ihren ihnen eigenen Moral- und Tugendvorstellungen. Die Tugend, von der er oben gleichfalls spricht, ist jene schon mehrmals erwähnte Arete. Geleitet von diesem Ideal und der Überzeugung, dass Erziehung staatlich geregelt werden muss, entwickelt auch Aristoteles Vorstellungen davon, wie sie zu gestalten sei. In Anbetracht der liberalen Handhabung der Erziehung in Athen stellt sich für ihn u.a. die Frage, ob die Jugend das lernen soll, was fürs praktische Leben nützt, oder das, was zur Tugend führt. Diese Differenz konstituiert ein ebenfalls schon mehrfach erwähntes Unterscheidungsmerkmal, das nicht nur die von Sophisten angebotenen vielfältigen Lehrinhalte von jenen in der Akademie unterscheidet, sondern prinzipiell die Klasse der gewöhnlichen, freien Bürger von jener der Aristokratie. Die Prinzipien der Lehre der Aristokratie unterscheiden sich absichtsvoll von jenen der »Gewöhnlichen«, um eben genau diese Differenz 457

akkulturation offensichtlich zu machen78. Der Meister selbst erklärt den Umstand damit, dass man keinerlei Übereinstimmung über das findet, was zur Tugend führt, da man sich gleich von vornherein nicht allgemein darüber einig ist, worin denn eigentlich Tugend besteht. Die schichtspezifischen Unterschiede bleiben unerwähnt. Doch deutlich wird der »erste Lehrer« in anderer Form, dort nämlich, wo generell festgehalten wird, dass jede Tätigkeit, die um anderer willen betrieben wird, eines freien Mannes unwürdig sei. Dabei besteht die aristotelische Freiheit nicht nur darin, dass man frei, also kein Sklave ist. Auch »Taglöhner«, wie er das nennt, und andere für ihr Leben arbeitende, rechtlich betrachtet »freie« Menschen zählen bei ihm zu den »Unfreien«. Unsere Auffassung von der Würde der Arbeit ist ihm unbekannt, denn Würde ergibt sich für ihn aus einem Lebensstil, in dem Muße den Angelpunkt liefert, um den sich alles dreht. Sie allein schafft wahres Glück und seliges Leben. Wir wären somit einmal mehr zu al-Farabi zurückgekehrt. Doch wie es scheint, war dieser nicht bereit, diese Sichtweise einfach nur zu übernehmen. Was genau Glückseligkeit schafft, bleibt bei al-Farabi unbestimmt.

Das eigentliche Ziel von Bildung: Glückseligkeit Der Meister der Peripatetiker hingegen vertritt die Meinung, dass die Fähigkeit, dieses Glück zu genießen, das eigentliche Ziel von Bildung darstelle: »Für den würdigen Genuss der Muße muss man erzogen werden.«(Aristoteles, Politik, 1338a/10). Bemerkenswerterweise wird dieses Ziel nicht aus egoistisch selbstsüchtigen Überlegungen angestrebt. Gerade am Beispiel der Spartiaten, die in der Pflege der militärischen Tugend beispielgebend sind, demonstriert er, was deren angeblich fehlende Fähigkeit zur Muße bewirkte. Sie führte, meint er, in dem Augenblick zum Verlust der Staatsmacht, wo, wie in Sparta, die Hegemonie in Griechenland erreicht war. Den Spartiaten fehlte die Kenntnis und Pflege der vornehmeren Tugenden. Deshalb, meint der Stagirit, hätten sie auch die erkämpfte Hegemonie wieder eingebüßt. Wolle man nun wissen, wie die Fähigkeit zur Muße zu erreichen sei, so wird der Grieche nur zum Teil konkret. Vier Fächer nennt er, 78 »Das objektivistische Verhältnis zum Objekt ist eine Manier, die Distanz zu wahren, eine Weigerung, sich selbst als Objekt aufzufassen, im Objekt erfasst zu werden.« (m.H., M.S.; P. Bourdieu, 1980, S. 41). Bourdieu bringt hier auf den Punkt, was die ausschlaggebende Differenz zwischen der aristokratischen und der banausischen Wissenschaft ausmacht: Dis­ tanz als sozialer Habitus.

458

vom ursprung der prinzipien die unterrichtet werden sollten, selbst dann, wenn sie auch teilweise zum Broterwerb eingesetzt werden könnten. Dazu zählen: Grammatik oder Lesen und Schreiben, Gymnastik oder Leibesübungen, Musik und viertens hin und wieder auch Zeichnen. Von einmaliger Bedeutung für die Bildung erachtet er Musik, weil diese Kunst die Muße verschönt, angeblich zur Charakterbildung beiträgt und sowohl bei aktiver Ausübung wie auch bei passivem Zuhören Freude bereitet. Dass der Erwerb von Tugend und allgemein jedes Lernen Mühe erfordert und nicht Genuss ist, sondern sich dieser erst wesentlich später und quasi unbeabsichtigt von selbst einstellt, unterstreicht ein Satz, der lautet: »Beim Lernen spielt man nicht, Lernen tut weh.«(Aristoteles, Politik, 1339a/28). Aus diesen Erziehungsprinzipien ergeben sich nun mehr oder weniger zwangsläufig auch jene Prinzipien der Lehre, die bei der Pflege der Wissenschaften wirksam werden. Sie müssen jedenfalls zweckfrei betrieben werden und dürfen in ihrer Form nicht mit banausischen Tätigkeiten vermengt werden79. Im Gegenteil sollten diese Prinzipien folglich aus Freude am Betrachten und Beobachten von zweckfreien Darbietungen erwachsen. Zwangsläufig leitet sich daraus die theoretisierende Grundlage dieser Art von Wissenschaft her, die zwar Daten empirisch sammeln darf, wie etwa in der Astronomie, oder – wie dies Aristoteles selbst vorführte – in der Biologie. Aber solche Beobachtungsdaten sollte man keinesfalls durch eingreifendes Handeln selbst herstellen. Das würde den banausischen Aktivitäten zu ähnlich sein, könne demnach auch keine würdevolle Betätigung darstellen. Man erkennt, in welchem Umfang das Leitbild der aristokratischen »Arete« auch auf Art und Form von Wissenschaft und Erkenntnis wirkt. In Buch X der »Nikomachischen Ethik« bestimmt Aristoteles »Glückseligkeit« als tugendgemäße Tätigkeiten (1177a/10 ff.). Was Tugend ist, bestimmt sich wieder aus den Vorgaben der aristokratischen »Arete«. Diese, das wurde schon mehrmals betont, orientierte sich stets am sogenannten »Besten«, und die Beschäftigung damit bringe eben Glückseligkeit. Welche Art von Tätigkeit das höchste Glück bringt, lässt der Meister, anders als später al-Farabi, nicht unbestimmt. Es handelt sich um Tätigkeiten »theoretischer und betrachtender Art« (ibid.). Zugleich – auch das kann kaum überraschen – sind derartige Tätigkeiten für ihn eben auch die vornehmsten.

79 Das gilt sogar im spartanischen Kontext. Aristoteles schreibt: »Die aber in der Erziehung ihrer Söhne auf Leibesübung und kriegerische Ausbildung ein übermäßiges Gewicht legen, um sie im Notwendigen unerzogen zu lassen, machen sie in Wahrheit zu Banausen, zu handwerksmäßigen Menschen.« (Aristoteles, Politik, Buch VIII, 1338b/30).

459

akkulturation Diese Fokussierung lehnt al-Farabi ab, für den die Ausübung von drei weiteren Tugenden wesentlich war. Wir erinnern uns, dass eine davon auch in der Beherrschung der praktischen Künste bestand. Niemand wird bezweifeln, dass derartige Werthaltungen wesentlicher Bestandteil einer Kultur sind. Diese Kultur ist allerdings nicht nur – so wie »Kultur« im Zeitalter des Massentourismus meistens verstanden wird – ethnisch und regional definiert, sondern sie ist auch innerhalb einer einzigen Region milieuspezifisch unterschiedlich. Das wird deutlich, wenn wir uns nochmals daran erinnern, dass der von Einkünften aus seinen Handelsbeziehungen banausisch lebende, aristokratische Solon das Erlernen eines Gewerbes als Bildung verstand. Solon lebte zwar gute drei Jahrhunderte vor Aristoteles, sodass man denken könnte, hier klaffe einfach eine historische Distanz. Doch analoge Prinzipien wurden nicht nur von zahllosen Sophisten in Athen vertreten. Der nämliche Sokrates, der bei Platon als Protagonist einer Erziehung auftritt, die den Vorstellungen und Ansprüchen des Aristoteles ähnelt, vertritt in den Erinnerungen80 Xenophons eine Position, die die Tätigkeiten der Banausen nicht als entwürdigend betrachtet, sondern ähnlich wie Solon als ehrenvoll. An diesem Vergleich lässt sich nicht nur die ideologische Komponente des Philosophenkönigs im Unterschied zu Xenophons Darstellung von Sokrates, sondern schlichtweg aller Prinzipien der Lehre erkennen. So kommt es, dass nicht-aristokratisch orientierte Sophisten in Übereinstimmung mit jenen Prinzipien stehen, die Archytas von Tarent vertrat und die im ersten Kapitel vorgestellt wurden. Prinzipien der Lehre sind milieubedingt, und Milieus stehen auf der Grundlage politischer Interessensvorgaben. Milieubedingte Werthaltungen bestimmen somit auch Art und Inhalt wissenschaftlicher Ansätze. Davon konnten sich weder Platon oder Aristoteles befreien, noch al-Farabi oder al-Haytham. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass wir in unserer Zeit eine Ausnahme bilden sollten. Wenn aber Art und Inhalt wissenschaftlicher Tätigkeit milieubestimmt sind, dann sind zugleich das Interesse und demnach auch das Desinteresse daran Ergebnisse solcher Umstände. Der markante Unterschied zwischen manchen Athenern und Spar­ tanern sowie manchen Athenern und Tarentinern, wie auch die Ähnlichkeiten zwischen Römern und Spartiaten sollten sich demnach auf dieser Basis erklären lassen. Und letztlich sollte sich auch das Interesse der Abbasiden und Haschemiten in Unterscheidung zu der Ablehnung der »fremden Wissenschaften« durch die Sunniten so verstehen lassen.

80 Xenophon, Apomnemoneumata ( zu deutsch: Erinnerungen an Sokrates).

460

und rom?

Und Rom? Schon im zweiten Kapitel wurden Stimmen zitiert, die aus damalig zeitgenössischer Sicht das mangelnde Interesse der Römer an wissenschaftlicher Betätigung schilderten. Die Frage, die schon am Beginn dieses Bandes genauso wie in Band eins erhoben wurde, war, wie dieser Umstand zu erklären ist. Weil nun der Versuch gemacht wird, diese wiederkehrende Problematik zumindest auf der Basis von Hypothesen zu beantworten, erscheint im Lichte der bisherigen Ausführungen eine genauere Bestimmung der Interessen angebracht. Es wird in Kreisen mit humanistischer Orientierung gerne darauf hingewiesen, dass griechische Bildung in Rom ein begehrtes Ziel darstellte, ansonsten hätten Personen wie Cicero, Cäsar oder der Jurist Rufus nicht in Griechenland Studien betrieben. Es braucht nicht betont zu werden, dass diese Namen zu Personen gehören, die entweder in der Oberschicht der römischen Gesellschaft fest verwurzelt waren, oder aber wie Cicero und Rufus soziale Aufsteiger waren. Ihren Erfolg erzielten diese u.a. tatsächlich dadurch, dass sie sich griechisches Denken und Argumentieren zu eigen gemacht hatten. Die Kenntnisse, die sie in »Übersee« erworben hatten, waren nützliche Instrumente auf ihrem Weg nach oben. Vermehrt haben die so gebildeten Römer das Wissen allerdings kaum. Das heißt in anderen Worten, dass wissenschaftliche Betätigung, so wie dies in den vorhergehenden Kapiteln bei den Arabern geschildert wurde, eine Ausnahmeerscheinung blieb. Bemerkenswer­ teste Ausnahmeerscheinung in diesem Zusammenhang waren etwa Plinius der Ältere und, weniger prominent, auch dessen Sohn. Bei diesen Überlegungen sollte nicht übersehen werden zu hinterfragen, wann und in welchem Milieu das Interesse an griechischer Bildung überhaupt aufkam. Es fällt auf, dass sich der Beginn dieser Entwicklung zeitlich ziemlich eng einschränken lässt. Der neue Trend setzte erst nach Beendigung der makedonischen Kriege ein, also etwa in der zweiten Hälfte des 2. vorchristlichen Jahrhunderts. In diese Zeit fällt auch die Zerstörung des aufsässigen Korinth (146 v.Chr.), die eine reiche Beute an gebildeten Sklaven nach Rom schwemmte. Diese Fülle an potentiellen Lehrern wird häufig als Argument verwendet, um zu erklären, warum gerade damals griechische Bildung in Rom Bedeutung erlangte. Dieses Argument steht allerdings auf schwachen Beinen. Denn wenn nur die Menge an gebildeten Sklaven den Ausschlag gegeben hätte, so hätte dieser »Boom« schon nach der Einnahme von Tarent oder Syrakus einsetzen können. Die zahllosen versklavten Bürger dieser Städte wurden zwar auch nach Rom gebracht, doch sie verschwanden dort im Ozean der Namenlosen. Bildung wurde in Rom erst später, in der Kaiserzeit, zu einem öffentlichen Anliegen. Davor blieb sie so wie in Athen Privatsache, ohne al461

akkulturation lerdings so wie dort eine politische Überlebensbedingung geworden zu sein. Unterricht war in den Kreisen freier Bürger in vielen griechischen Stadtstaaten für Kinder ab dem 6./7. Lebensjahr die Norm, weil dies, wie wir gesehen haben, unter den politischen Vorgaben unabdingbar war. Auch in Rom gab es vergleichbare Interessenslagen, doch eben nur in jener Oberschicht, die politisch rührig war. Jene römischen Schulen, die oft beschrieben werden, waren durchgängig »Privatschulen«, d.h. Schulen, wo Eltern für den Unterricht bezahlten und folglich auch bestimmen konnten, ob und wie ihre Sprösslinge dort unterrichtet werden sollten. Eine Schulpflicht wie in Sparta oder einen gesetzlichen Auftrag wie in Athen gab es nicht. Es blieb dem Ehrgeiz der Familienväter und -mütter überlassen, welche Bildung sie für ihre Kinder anstrebten. Es ist naheliegend, dass die patrizischen Familien hier andere Vorstellungen entwickelt hatten als die Plebejer, zumal sich in krassem Unterschied zu Athen in Rom sehr bald ein ausgeprägtes Expertentum – z.B. professionelle Verteidiger bei Gericht, die Athen nicht kannte – und damit auch distinkte Karrieremuster für Abkömmlinge aus der Oberschicht entwickelten81. Der altrömischen Erziehung der Patrizier fehlte hingegen in der republikanischen Zeit in bemerkenswerter Weise jenes intellektuelle Element82, das etwa in Athen ein paar Jahrzehnte lang den Ton 81 Erst unter Kaiser Vespasian, der 69–79 n.Chr. regierte, wurde deshalb eine staatliche Schule für Rhetoren gegründet, weil die Kunst des freien Redens für die Staatsdiener, insbesondere auch in den Provinzen, als eine wichtige Fertigkeit erkannt wurde. Seit damals war es dann gar nicht länger möglich, ohne entsprechende Rhetorenausbildung in den Staatsdienst aufgenommen zu werden. Auch das erklärt das vordergründige und neue Interesse an Bildung in der Oberschicht. Ihr pragmatisches Nützlichkeitsdenken bestimmt auch hier das individuelle Handeln der Römer. Das unterscheidet sich aber grundlegend vom aristotelischen Zugang. Wenn allerdings R. Bergmeier (2012) meint, dass Bildung ein »Integrationsfaktor« im nachchristlichen Rom geworden sei, so ist ihm hier nur teilweise beizustimmen. Die Integration war imperial-territorial, aber keine nach innen wirkende politische. Die nötige innenpolitische Integration sollte durch die neue christliche Religion bewirkt werden. Ähnliches erhoffte sich zumindest Kaiser Konstantin. Doch das übersieht Bergmeier. 82 Hier drängt sich die Frage auf, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen ein derartiges intellektuelles Momentum entsteht. K. Mannheim (1929/1936) widmete sich dieser Frage. Er schreibt: »In every society there are social groups whose special task it is to provide an interpretation of the world for that society. We call these the ›intelligensia‹.The more static a society is, the more likely is it that this stratum will acquire a well-defined status or the position of a caste in that society.«

462

und rom? angab. Römische Erziehung war auf praktische Bedürfnisse und auf die politische sowie militärische Rolle des Heranwachsenden ausgerichtet. Einen vergleichbaren Bedarf an gebildeten Staatsbürgern wie im »basisdemokratischen« Athen gab es im römischen politischen System nicht. Die jeweiligen Lebenspraktiken unterschieden sich aufgrund der verschiedenen politischen Vorgaben wesentlich. Manche Historiker meinen daher, dass in Rom nie mehr als maximal 20 bis 30 Prozent der männlichen Bevölkerung lesen, schreiben und rechnen konnten. Bei Mädchen lag die Zahl noch wesentlich darunter 83. Es existierte unter den gegebenen Bedingungen schlicht kein Bedarf, solange es den pragmatischen Römern keinen Nutzen brachte. Bildung und Ausbildung war nur in der Oberschicht nachgefragt und wurde dort als Herrschaftsinstrument gepflegt. Folglich war altrömische Bildung keine Bildung der Art, wie sie in vielen griechischen Poleis bestand. Sie orientierte sich ausschließlich an praktischen Bedürfnissen und an jener militärischen Rolle, die auf die jungen Männer zukam. Mathematik hatte etwa in Rom keine pädagogische Relevanz, im demokratischen Tarent hingegen schon, auch wenn sich die »Logistik« eines Archytas von der Geometrie eines Platon grundlegend unterschied84. Denn prinzipiell war die Ausbildung der Jugend in Rom Familienangelegenheit. Dort herrschte der »Pater Familias«, und weniger augenfällig auch dessen Gemahlin. Diese bestimmte über die Ausbildung der Kinder bis zum siebten Lebensjahr. Danach übernahm der Vater die weitere Formung der Söhne. Worin diese bestand, lässt sich annähernd rekonstruieren. Manche der Väter hinterließen nämlich, so wie z.B. Marcus Tullius Cicero85, ihren Söhnen »Lehrbücher« oder »Briefe«, in denen sie ihre Lebenserfahrungen weitergaben. Ein bekannter früherer Verfasser einer derartigen Hinterlassenschaft war Marcus Portius Cato mit der Schrift »Praecepta ad filium«86. Cato, ein politischer Aufsteiger, gibt darin Regeln, wie Güter zu verwalten seien oder wie Landwirtschaft optimal betrieben wird, zusätzlich haus(S. 10). Diese etablierten Gruppen tendieren zur Dogmatisierung tradierter »Wahrheiten«. Entscheidend ist daher, ob dieses Deutungsmonopol gebrochen werden kann, wie dies etwa in Griechenland der Fall war. Unter solchen Bedingungen entsteht eine »freischwebende Intelligenz«. Damit verschwindet auch die Illusion, dass es nur eine einzige Wahrheit und eine einzige Denkweise geben könnte (ibid., S. 10-12). Es handelt sich also auch hier um politische Machtfragen. 83 Siehe dazu: J. Christes, R. Klein, Ch. Luth (2006). 84 Siehe dazu Kapitel I in diesem Band. 85 Siehe dazu: Marcus Tullius Cicero, De Officiis (»Vom pflichtgemäßen Handeln«). 86 Zu Deutsch: »Lehren für den Sohn«.

463

akkulturation medizinische Überlieferungen, Anleitungen für öffentliche Reden, militärische Tätigkeit und den Umgang mit Rechtsfragen. Cato war nach eigenen Aussagen vorrangig Viehzüchter. Dementsprechend vermittelte er die traditionellen Werte und Einstellungen römischen Bauerntums. Diese Bauern waren gewinnorientiert, praxisbezogen und wurden von Kindheit an auf schlichte Lebensführung gedrillt. Luxus, so wie ihn die hellenistische Zeit in den Diadochenstaaten hervorbrachte, verschmähte ein Cato noch gänzlich. Cato starb 149 v. Chr., nachdem er es bis zum Tribun und Censor gebracht hatte. Diese Jahreszahl ist nicht gänzlich bedeutungslos. Sie besagt, dass er zwar die Zerstörung Karthagos – für die er sich Zeit seines Lebens einsetzte – und Korinths nicht mehr erlebte, aber den triumphalen Sieg eines Lucius Aemilius Paullus Maecedonicus schon. Der Sieg jenes Feldherrn über die Mazedonier und die dort herrschende Dynastie der Antigoniden kann als markanter Wendepunkt in der römischen Geschichte betrachtet werden. Nicht nur dehnte sich die Macht Roms nun auch gegen Osten aus. Der Schritt in diese Himmelsrichtung hatte zugleich bedeutende kulturelle Folgen. Um dies anschaulich zu machen, muss etwas ausgeholt werden. Cato repräsentierte die Grundwerte römischen Lebens in Person. Diese Grundwerte könnten kompakt in drei Begriffen zusammengefasst werden: »utilitas«, »usus« und »mos majorum«. Die beiden ersten vermitteln sehr ähnliche Inhalte. Am besten würde man sie hier mit »Nutzen«, »Vorteil« und »Nützlichkeit« übersetzen, sie transportieren das, was M. Weber als »Rechenhaftigkeit« bezeichnete87, und andere wie J. Bentham, schlicht als »Utilitarismus«88. »Mos majorum« lässt sich als »Sitte der Ahnen« übersetzen. Cato selbst fasste diese Sitten in folgende Perspektiven zusammen: »labor«, »justitia«, »pietas«, »res publica« und »fortitudo«. Übertragen lassen sie sich in die Forderung, Mühen und Anstrengung zu erdulden und sie nicht zu meiden, Gerechtigkeit selbst gegenüber Feinden zu üben, fromm zu sein und die Interessen des Staates und der Gemeinschaft über die privaten zu stellen, sowie auf Stärke zu setzen – was vor allem militärische Stärke bedeutete. Die Pflege all dieser Tugenden fand in einer ehrerbietigen Anerkennung durch die Öffentlichkeit ihren Lohn. Diese Tugenden prägten das römische Denken insgesamt, doch ab jener Zeit, von der hier die Rede ist, lässt sich eine intensivierte Hinwendung zur »utilitas« und eine Relativierung der »mores« beobachten. Dieser Wandel, der gerne als »Sittenverfall« apostrophiert wird, kam

87 Siehe dazu: M. Weber (1904/05). »Rechenhaftigkeit« sollte aber nicht mit Mathematik verwechselt werden. 88 Siehe dazu: J. Bentham (1781).

464

und rom? nicht von ungefähr, und er kann mit dem Sieg des Macedonicus in Zusammenhang gebracht werden.

Der zweite punische Krieg Der siebzehn Jahre dauernde, zweite punische Krieg (218–201 v.Chr.), den zwar Rom siegreich beendete, kostete dem Staat viel. Hannibals Zug durch Italien hinterließ eine Spur der Verwüstung, die sich nicht nur auf die katastrophalen Niederlagen am Trasimener See und in Cannae reduzieren lassen. F.R. Cowell (1948) schildert die Folgen dieses Feldzugs detailreicher als üblich. Er verweist dabei auf Umstände, die selten Erwähnung finden. So nennt er nicht nur die zahllosen Toten, die aus den Kampfhandlungen resultierten und längerfristig einen unübersehbaren Mangel an Arbeitskraft zur Folge hatten, die gerade zur Restitution des Landes und der Städte dringend benötigt worden wäre, sondern er lässt auch die anderen Opfer nicht unerwähnt. Er berichtet über die vernichteten Häuser, Stallungen, Speicher und das über Generationen weitergegebene Arbeitsgerät wie Pflüge oder Karren. Selbst wenn die Pflüge und Karren erhalten geblieben wären, so fehlte es an Ochsen, die die Pflüge ziehen konnten, an Pferden und Kühen, um neue Zugtiere zu züchten, an Saatgut und Kleinvieh, seien dies Schweine oder Geflügel. Er gibt zu bedenken, dass es drei Jahre braucht, um Kalbinnen zur Zucht zu bringen, und weitere drei Jahre, um Jungstiere zu Ochsengespannen zu formen. In dieser Zeit verwilderten die Felder und Weiden, doch ohne Sklaven und Bauern wäre es auch mit dem benötigten Gerät nicht denkbar gewesen, diesem Verfall zu begegnen. Dass auch Brücken, Straßen und Mauern zum Teil sogar von den Römern selbst zerstört worden waren, um den Vormarsch der feindlichen Truppen zu behindern, ergänzt das Bild. Der Wiederaufbau kostete nicht nur Vermögen, sondern vor allem auch Zeit. Das nötige Kapital versuchte man zwar durch Kriegsabgaben und Wiedergutmachungszahlungen der Karthager herein zu bekommen, doch Menschen und Vieh ließen sich damit nicht aus dem Hut zaubern. Trotzdem führte Rom weitere Kriege, die teilweise parallel zum zweiten punischen Krieg und schon während der Besetzung Italiens durch Hannibal begonnen worden waren. Ein erster dieser Kriege wurde gegen Mazedonien geführt, er endete 205 v.Chr. Zum Leidwesen der Römer brachte er in Anbetracht der Situation in Italien keine nennenswerten Ergebnisse. Ein zweiter Krieg, wieder gegen Mazedonien, begann bald nach Beendigung des zweiten punischen Kriegs. Er schwächte die Hegemonie der Mazedonen in Griechenland empfindlich. Doch erst 465

akkulturation ein dritter Krieg gegen Mazedonien zerstörte das Reich des Antigoniden Perseus und machte Griechenland von Rom abhängig.

Kriegsbeute Damit kehren wir zu jener Stelle zurück, die oben als Beginn einer bedeutenden kulturellen Umwälzung bezeichnet wurde, deren Ursachen aber überraschen werden. Der siegreiche Lucius Aemilius Paullus Macedonicus kehrte 167 v.Chr. unter Triumph nach Rom zurück89. In seinem Gefolge befand sich nicht nur die gefangengenommene königliche Familie des Perseus, sondern auch eine sagenhaft reiche Beute. Livius (Buch XLV) schätzt deren Wert auf ca. 120 Millionen Sesterzen, was vielleicht dem dreifachen Wert in heutigen Euros entsprechen könnte. Doch interessanter für uns sind Passagen aus einer Rede, die sich ebenfalls dort findet und die zur Verteidigung eines Triumphzugs von Lucius Aemilius Paullus gehalten wurde. In dieser Rede stellt Servillius die rhetorische Frage an seine Zuhörer, was aus der so »überreichen Beute werden solle, die ein so bedeutender Sieg erwarb?«. Er fährt fort und zählt einige Details dieser Beute auf: die Waffen der vielen tausend erschlagenen Feinde, die vergoldeten, marmornen und elfenbeinernen Standbilder, die Gemälde und Teppiche, die vielen aus getriebenem Silber gemachten Arbeiten, das viele Gold und der ganze königliche Schatz. Sollen sie alle bei Nacht wie Diebesbeute heimlich in die Schatzkammer gebracht werden? Die Antwort auf diese rhetorische Frage ist klarerweise negativ. Doch was uns interessiert, sind die Gegenstände, die nach Rom kamen. Sie waren nicht nur wertvoll, wie Gold und Silber, das zu Münzen verarbeitet werden konnte, sondern es waren Luxusgegenstände – Dinge, die von der »mos majorum« abgelehnt oder die, wenn sie jemals in die Hände von Patriziern kamen, den Göttern gespendet wurden. Das nach dem zweiten punischen Krieg90 durchaus ausgeblutete Rom schwamm plötzlich in Überfluss und Luxus. Dieser Überfluss war so gewaltig, dass sogar die Steuern, die zur Sanierung der Kriegsschäden in ganz Italien eingehoben wurden, aufgelassen wurden91. 89 W. Hoffmann (1960). 90 Nicht unerwähnt darf bleiben, dass nach diesem Krieg den Römern auch die reichen Gold- und Silberbergwerke Spaniens in die Hände fielen, die nicht ungenutzt blieben. Trotzdem blieb das italienische Land ausgeblutet und verwüstet. 91 Das hatte unvorhergesehene Folgen. Denn dadurch waren zwar die Bewohner Italiens eine Bringschuld losgeworden, doch zugleich war der

466

und rom? Die Frage, wohin alle diese Schätze kamen, ist heute nicht mehr zu beantworten, doch es kann angenommen werden, dass sie zu einem größeren Teil in den Häusern der Patrizier und der Nobilitas landeten. Mit Sicherheit weiß man, dass Lucius Aemilius Paullus, dem vorgeworfen wurde, höchstens die Hälfte der Beute dem Staat abgeliefert zu haben, etwas für sich behielt, was nicht ohne Wirkung blieb. Er behielt die gesamte königliche Bibliothek92 des Perseus für sich, die angeblich damals größer gewesen sein soll als jene des Museon in Alexandrien. Diese griechische Bibliothek bildete angeblich den Grundstock für ein vermutlich autodidaktisches Studium der Mütter von Cäsar und von Oktavian, des späteren Augustus. Der Zugang zu dieser Bibliothek ihres Onkels ermöglichte ihnen zumindest die Qualität von Privatlehrern einzuschätzen, die jene Begründer der principalen Regierung schulten.

Kultur des Alltags Lucius Aemilius Paullus selbst war bereits ein wissbegieriger Mann, denn begehrte Positionen im Staat zu erklimmen erforderte fundierte Bildung und breites Wissen. Solches pflegten die maßgeblichen Familien als geheimes Wissen und gaben es innerfamiliär an ihre Kinder weiter93. Damit wird auch das erwachende Interesse an griechischer Bildung verständlich, das sich allerdings in der überlieferten Tradition von »usus« und »utilitas« auf die nutzbringenden Aspekte konzentrierte. Diese waren für die Nobilitas und ihre Sprösslinge vor allen Rhetorik und Dialektik, und nicht Mathematik oder Physik. So wird u.a. auch verständlich, warum die Bibliothek des Aristoteles unter Sulla plötzlich nach Rom wanderte94 oder der junge Cäsar in Griechenland ein Studium absolvierte. Doch nicht nur Cäsar setzte diesen Schritt, wie wir wissen, auch Cicero, der erfolgreiche »homo novus«, was gleich­bedeutend mit »Aufsteiger« ist. Er war nicht der Einzige dieser Art, auch wenn es die Mehrzahl nicht bis zum Konsul brachte, es vermutlich auch gar nicht darauf anlegte95. Denn das viele Geld, das nun plötzlich zur Verfügung Senat nicht länger davon abhängig. Von diesem Zeitpunkt an verfügte der Senat über alle Finanzmittel allein und konnte sie ausschließlich nach seinem eigenen Gutdünken verwenden. Das Volk wurde dadurch entmachtet. 92 Hier darf man vermuten, dass diese Bibliothek eine Nachahmung der alten persischen Tradition der Könige gewesen sein dürfte, die die Generäle des Alexander in Babylon kennengelernt hatten. 93 Genau diese Praxis kennen wir bereits von den Haschemiten, denen derartige, hellenistische Praktiken ebenfalls vertraut waren. 94 Siehe dazu: M. Schmutzer (2011), Band I, Kapitel IX. 95 Nach dem zweiten punischen Krieg verfünffachte sich in Rom die Zahl

467

akkulturation stand, wurde mit hoher Rendite in das verwahrloste Land investiert. Allerdings nicht so, dass die zahllosen Kriegsveteranen Nutznießer geworden wären. Letztlich gelangten riesige Ländereien in den Besitz weniger Magnaten, die im Laufe der Zeit mit solchen Geldern und mithilfe von kaum zurückgezahlten Staatskrediten erworben wurden. Die Debatte über den Unterschied von Besitz und Eigentum nahm damals genau deshalb gleichfalls ihren Anfang96. Wie unter derartigen Umständen kaum anders zu erwarten ist, änderte sich unter diesen Vorgaben der Lebensstil. Die etwa zeitgleiche Einnahme Syriens und Kleinasiens lehrte die karg lebenden Römer neue Lebensweisen, die die Diadochen und ihre Anhängern ihrerseits von den Persern97 »abgeschaut« hatten. Eine luxuriöse Lebensweise begann, wie Livius gleichfalls berichtet, im 2. Jahrhundert v.Chr. in Rom Fuß zu fassen. Die vergoldeten Statuen und silbernen Schüssel fanden sich nicht mehr in den Tempeln wieder, sondern in den Villen der Reichen und als Geschmeide an deren diversen Körperteilen, was früher ebenso verpönt war. Der überlieferte Gedanke der Nützlichkeit verschwand allerdings dadurch nicht, er fand nur eine neue Ausdrucksweise. Nutzen brachte, was Ansehen brachte, und dieses ergab sich zunehmend aus der Verfügung über Reichtum und dessen demonstrativer Darstellung98. Das galt umso mehr für jene, die eben nicht zur alteingesessenen Gruppe der Patrizier zählten, sondern »neue Menschen« waren.

der Geschäftsleute. Sie zogen es im Unterschied zu den Patriziern vor, nicht in der Politik tätig zu sein, was ihnen die lukrative Betätigung im Geschäftswesen verunmöglicht hätte, denn das war Senatoren verboten. Sie gründeten lieber Handelskompanien und Banken. Statt sozialen Status über öffentliche Ämter zu erlangen, erreichten sie solchen auf dem Umweg über Reichtum und demonstrativen Konsum. Das entsprach allerdings nicht länger dem »mos majorum«. (siehe dazu: F.R. Cowell, 1948). 96 Siehe dazu gleichfalls: M. Schmutzer (2011), Band I, Kapitel XI. 97 F.R. Cowell beschreibt die Entwicklung in einem Satz trefflich: »[…] it is plausible to believe that the wealth of Persia which, as a result of Roman conquests [ich ergänze: und alexandrinischen Eroberungen, die zuerst die Schleusen geöffnet haben], suddenly fertilized the Mediterranean world after the middle of the second century B.C., acted like a forced draught upon the slowly developing economic life of Rome and contributed powerfully to the wealth and urbanity of the civilization […]« (m.H., M.S.; F.R. Cowell 1948, S. 98). 98 Dieser Prozess findet sich in der Geschichte oftmals wieder. Eine bedeutende Analyse dieser Vorgänge hat T. Veblen (1899) verfasst.

468

und rom?

Theorie und der Geist der Muße Auf einen der ersten römischen Dichter, Ennius, geht folgender Satz zurück: »Moribus antiquis res stat Romana virisque.« – »Auf den alten Sitten und seinen Männern99 ruht der römische Staat«. Diese wie oben beschriebenen alten Sitten waren das ursprüngliche Fundament einer Aristokratie, die aus einer Mischung von grundbesitzenden Bauern und Soldaten bestand. Im Unterschied zu Sparta pflügten sie über lange Zeit noch selbst ihre Äcker, doch gleich diesen betrieben sie auch das Kriegshandwerk. Auch sie unterwarfen benachbarte Völker, doch benötigten sie die Unterworfenen zugleich bei nachfolgenden militärischen Aktionen als Hilfstruppen. Deshalb konnten sie diese nicht, so wie die Spartiaten ihre messenischen Heloten, zu Staatssklaven degradieren, sondern verfolgten eher die Strategie, sie in eine vergleichbare Rolle wie die von spartanischen Periöken zu drängen. Abgesehen davon war Rom von Anfang an in zwei Klassen geteilt, die einerseits die Patrizier stellten und andererseits die Plebejer. Ihren Lebensunterhalt bestritten beide Stadtstaaten – Rom wie Sparta – lange und überwiegend aus der Landwirtschaft. Handel und Gewerbe waren den unteren Schichten vorbehalten und galten für die Aristokratie als entehrende Tätigkeiten, wenn sie ihnen nicht gar per Gesetz verboten waren. Anderes galt für Athen: Die Solon’schen Reformen konnten zwar die aristokratische Vorgefasstheit gegenüber Gewerbe und Handel nicht ausrotten, das bezeugen die bereits genannten aristotelischen Zitate, aber zugleich nahmen sie doch viel von der Geringschätzung gegenüber solchen Tätigkeiten. In diesem Milieu entwickelte sich demnach auch eine praxisnahe, empirisch orientierte Gedankenwelt, die in mancher Hinsicht von der nutzensorientierten der römischen Bauern nicht sehr verschieden war. Allerdings bestritten sie ihren Lebensunterhalt aus Handel und Gewerbe. Um sich davon zu distanzieren, musste die in die Defensive gedrängte athenische Aristokratie ein Gegenmodell entwickeln, das die alte »Arete«, die in mancher Hinsicht dem »mos majorum« nicht unähnlich war, in neuen Kleidern präsentierte. Ergebnis war die Hinwendung zur Ethik im Rahmen der sokratisch-platonischen Wende. Mit diesem neuen Prinzip konnte die überlieferte Wertschätzung des »aristeus« (), d.h. des »Besten«, eingefordert werden, welches zugleich die Herrschaft der Besten, die »aristokratia« () legitimierte. Platon bemühte sich ein Leben lang genau darum.

99 Hinzudenken muss man, dass es sich um die sich noch den alten Sitten verpflichtet fühlenden Männer handelt.

469

akkulturation In Rom wie in Athen herrschten demnach anfänglich ähnliche Voraussetzungen, doch der politische Erfolg der Demokraten in Athen und ihre neue Weise, ihren Lebensunterhalt zu schaffen, nötigte dort die Aristokratie, sich markant von ihren politischen Gegnern zu unterscheiden. Sie versuchten dies, indem sie eben deren Aktivitäten als minderwertig brandmarkten. Die römische Plebs war hingegen bei anfänglich vergleichbaren Konfliktsituationen nicht erfolgreich. Sie schaffte es nie, zu einem wirklich potenten Gegner des Adels zu werden. Das Schicksal der Gracchen reicht, um dies zu verdeutlichen. Die symbolische, soziale Differenzierung der römischen Patrizier von den Plebejern konnte auf der Grundlage der traditionellen Sitten beibehalten werden. Bis zum Ende der Republik wurde dieser Anspruch vehement gestellt und verteidigt. Sogar soziale Aufsteiger wie Cato sahen sich genötigt, diese Regeln nachzuahmen. Sie blieben bei ihrem bäuerlichen Nutzensdenken und beurteilten alle Entscheidungsalternativen aus dieser Sicht. Im Unterschied dazu wurde in Athen dieses Nützlichkeitsdenken von den Banausen vertreten. Folglich blieb der attischen Aristokratie keine andere Wahl, als sich davon abzuheben. Sie propagierten daher die Muße, die Zweckfreiheit allen Tuns und das prinzipielle Desinteresse an praktischen Erwägungen und Zwecken.

Kultur und Milieu Alles Wissen, das über Lehre vermittelt wird, wird durch derartige Werthaltungen bestimmt. Nachdem die athenische Aristokratie letztlich mit Erfolg die Dominanz der Unterschichtwerte durch Religionsgesetze und den verlorenen, peloponnesischen Krieg gebrochen hatte, kam es anschließend zu einer Diskreditierung des Wissens der Banausen. Es verschwand nicht, doch es wurde auch nicht länger gepflegt. Umgekehrt übernahmen die sozialen Aufsteiger in Rom, die homines novi, gerne die Gepflogenheiten der griechischen Aristokraten, um sich einerseits von den römischen Optimaten100 zu unterscheiden101 – denn als Gleiche wurden sie ohnehin nicht akzeptiert – und um sich zugleich auch von der dortigen Unterschicht der entmachteten Plebejer abzu­ heben. Der tradierten römischen Kultur folgend übernahmen sie allerdings von den Griechen auch nur jene praktischen Kenntnisse102, die ihnen 100 Auch diese Bezeichnung ist bedeutungsschwanger: Sie ist die lateinische Version des griechischen Aristokraten. 101 Ich erinnere auch hier an das bereits zitierte Buch von T. Veblen(1899). 102 Ich erinnere, dass sie Mathematik z.B. nicht interessiert hat.

470

kultur und milieu nützlich sein konnten, so wie Jahrhunderte später anfänglich auch die Araber. Für soziale Aufsteiger waren dies vorrangig die Künste, die das aristotelische Organon bereitstellt – und dies sind die Künste der Herrschaftsausübung und -behauptung. Auch wenn Cicero103 etwa für manche Künste, wie die des Arztes, des Architekten oder Juristen104, eine Lanze brach, so bewirkte dies kein grundsätzliches Umdenken in den Werthaltungen der römischen Oberschicht. Man kann folglich zur Konklusion kommen, dass die griechische Wissenschaft der Auseinandersetzung mit theoretischen Fragen, wie dies insbesondere in der Mathematik der Fall ist, in Rom keine Aussicht auf Erfolg haben konnte. Umgekehrt aber wurden die praktischen Anwendungen solcher Überlegungen gerne übernommen. Muße und Theorie vertrugen sich mit dem römischen Habitus so wenig105 wie sich Empirie und Technik mit der attischen Aristokratie vereinen ließen. Es ist bekannt, dass Marcellus, der römische Feldherr, bei der Eroberung von Syrakus Archimedes gerne lebend gefangen genommen hätte. Das wollte er schwerlich wegen seiner Mathematik, aber an seinen Kränen, Greifarmen, Katapulten u.ä. gab es ein entsprechendes Interesse. Niemand zweifelt an der technischen Potenz römischer Ingenieure, selbst, wenn sie manches von den Griechen übernommen haben. Doch Wissenschafter wurden sie trotzdem nicht, es sei denn, man würde die Unterscheidung zwischen Technik und Wissenschaft nicht länger akzeptieren. Art und Weise der Wissensproduktion ist offenbar milieubedingt. Folglich sind auch die Inhalte des Wissens dazu relativ. Pointiert könnte man sagen, dass alles Wissen durch Interessen bestimmt wird – und folglich Resultante eines sozialen Milieus und einer dazugehörigen Kultur mit jeweils spezifischen praktischen Interessen ist. Leser dieser Zeilen, die sich selbst dem Milieu zurechnen, das C.P. Snow106 der naturwissenschaftlich-technischen Hälfte des intellektuellen Imperiums zuordnet, werden vermutlich viele meiner Aussagen 103 Siehe dazu: Marcus Tullius Cicero, De Officiis (»Vom pflichtgemäßen Handeln«). 104 Er hatte auch kaum eine andere Wahl, denn sonst hätte er sich selbst diskreditiert. 105 So schreibt etwa Cicero: »Sich durch das Streben nach Wahrheit vom tätigen Handeln abbringen zu lassen, steht im Widerspruch zur Pflicht. Denn die rühmliche Aufgabe der Tugend beruht in Tätigkeit […] Alles Denken aber, d.h. unsere geistige Beweglichkeit, wird sich mit dem Ergreifen von Plänen über ehrenvolle und auf ein gutes und glückliches Leben abzielende Gegenstände oder mit dem Streben nach Wissen und Erkenntnis befassen.« (m.H., M.S.; Marcus Tullius Cicero, De Officiis, Erstes Buch, 6/19). 106 Siehe dazu: C.P. Snow (1959/1963).

471

akkulturation nicht wirklich goutieren. Ich möchte daher in einem kleinen Vorgriff auf den nachfolgenden Epilog jenen prominenten Physiker zu Wort kommen lassen, der bereits vor L. Fleck und T.S. Kuhn und aus wohl begründetem Eigeninteresse vor der preußischen Akademie der Wissenschaften einen Vortrag mit dem bemerkenswerten Titel »Ist Naturwissenschaft milieubedingt?«107 hielt. E. Schrödinger, von dem hier die Rede ist, beantwortete seine eigene Frage positiv, indem er eine Vielzahl von »milieubedingten Zügen der heutigen Physik« auflistete und analysierte. Darauf werde ich im Epilog noch ausführlicher zurückkommen. Für den Abschluss dieses Kapitels beschränke ich mich daher auf die Wiedergabe eines passenden Exempels. Schrödinger offeriert uns nämlich in seinem Referat eine Erklärung für jene, am Beginn dieses Kapitels erwähnte historische Tatsache, die sich gut in unseren Kontext fügt. Es handelt sich darum, dass sich die von Huygens vertretene Wellentheorie des Lichts gegenüber der New­ ton’schen Korpuskulartheorie sehr lange nicht behaupten konnte. Schrödinger schreibt: »Der Grund war, dass von den beiden Lichttheorien, die bald darauf auf den Plan traten, die Newton’sche Korpuskeltheorie über die Huygens’sche Wellentheorie den Sieg davontrug und das Interesse in eine ganz andere Richtung lenkte, wo gleichfalls sehr interessante, praktisch bedeutsame und selbstverständlich völlig richtige Erkenntnisse zu finden waren – die Gesetze der Spiegelung und Brechung und ihre Anwendung auf die Konstruktion optischer Instrumente. Die Newton’sche Theorie als falsch zu bezeichnen, wie es lange Zeit üblich war, dazu haben wir gerade heute nicht mehr das Recht, da doch unserer Weisheit letzter Schluss vorläufig dieser ist: weder die Korpuskeltheorie noch die Wellentheorie vermag für sich allein den Tatsachen gerecht zu werden, sie beleuchten zwei ganz verschiedene Seiten der Phänomene, zwei Seiten, die wir noch nicht wirklich miteinander in Einklang zu bringen gelernt haben. Das Interesse für die eine Seite der Sache hatte lange Zeit hindurch das Interesse für die andere Seite gänzlich verschüttet.« (m.H., M.S.; E. Schrödinger, 1932, S. 31).

Was lernen wir aus solchen Vergleichen? Es gibt, so wie P. Bourdieu sagte, eine vorlogische Logik der Praxis. Diese ist nicht theoretisch-kommunikativ ausgerichtet, sondern handlungsorientiert. Die »Beziehung zwischen Erkennen und Handeln, zwischen Interpretation und Nutzung, zwischen symbolischer Beherrschung und praktischer Handlung, zwischen der logischen, d.h. mit allen akkumulierten Objektivierungsinstrumenten ausgerüsteten Logik und der universell vor­ logischen Logik der Praxis« (m.H., M.S.; P. Bourdieu, 1980, S.40/41) 107 Siehe dazu: E. Schrödinger (1932).

472

kultur und milieu bestimmt wesentlich die Einstellung zur Wissenschaft. Ist diese Praxis herrschaftsorientiert, kommt der symbolischen Dimension größte Bedeutung zu, denn die Legitimation von Herrschaft und deren praktische Umsetzung über Gesetze wirkt auf dieser Ebene. Ist sie umgekehrt vorrangig an der handwerksmäßigen Herstellung materieller Güter ausgerichtet, kann sie auf diese symbolische Dimension nahezu vergessen108. Entwicklung und Pflege von Wissenschaft ist demnach selbst Produkt dieser »vorlogischen Logik der Praxis« oder eben einer vorherrschenden Kultur des Alltags.

108 Wie wir im nachfolgenden Epilog sehen werden, ändert sich dies infolge der industriellen (d.h. nicht länger handwerklichen) Massenproduktion grundlegend. Konsequenterweise entwickelt sich daraus auch ein dazu passendes wissenschaftliches „Paradigma“. Siehe dazu: T. Veblen (1904) und E. Schrödinger (1932).

473

474

Synopsis Band I und Band II Soziomorphie und soziale Morphologie Ein Thema, das sich durch die gesamte Arbeit zieht und bereits im ersten Band (M. Schmutzer, 2011) deutlich angesprochen wurde, ist das der »Soziomorphie«. »Soziomorphie« bezeichnet einen Ansatz, der davon ausgeht, dass soziale Strukturen, das heißt deren Gestalt (»Morphe«1), vielfältig repliziert werden. Veranschaulichen ließe sich dieses Prinzip etwa durch Holografien, wo bekanntlich jeder Ausschnitt trotzallem das gesamte Bild enthält, oder die grafischen Darstellungen »fraktaler Geometrien«, wie sie von B. B. Mandelbrot entwickelt wurden. Es handelt sich dabei auch um äußerst komplexe Strukturen, die sich trotz dieser Komplexität ständig wiederholen, im Kleinen wie im Großen. Was hierbei durch mathematische Formalismen erzeugt wird, wird im Fall gesellschaftlicher Komplexe durch Riten, Mythen, Recht, Institutionen und Organisationen bewirkt. Summarisch lässt sich all das mit dem Begriff »Kultur« abdecken. Das Anliegen dieser Arbeit lässt sich demnach kompakt ausdrücken: auch Wissenschaften produzieren keine kulturunabhängigen Erkenntnisse, sondern replizieren die vorgegebenen sozialen Muster. Wissenschaften sind eben in vielfältiger Weise in soziokulturelle Milieus eingebettet. Zu betonen wäre, dass solche Milieus ähnlich wie Mandelbrots »Apfelmännchen« sehr feingliedrig sein können, daher müssen die soziale und die wissenschaftliche »Morphe« detailreich sowohl auf einer Mikro- wie auch auf der Makroebene studiert werden. In einer gegebenen soziopolitischen Einheit können gleichzeitig verschiedene Milieus mit unterschiedlichen Kulturen koexistieren. Der Zusammenhalt derartiger Milieus wird mit sozialen Mitteln hergestellt, wie etwa Heirat, Religion, Arbeitsteilung oder spezifischen Narrativen, die häufig auch als »Mythen« bezeichnet werden. Paradigmatisch abgehandelt wurden diese Mechanismen in E. Durkheims gesamten Werk2. In manchen Sozietäten entwickelt sich allerdings Bedarf nach neuen, d.h. wissenschaftlichen Narrativen. Das sind Narrative, die unter Beweispflicht stehen. Die meisten anderen brauchen keine Beweise, weil sie nicht hinterfragt, sondern mangels Alternativen über Generationen tradiert wurden und deshalb glaubwürdig erscheinen. Es ist naheliegend, dass Beweispflicht dort eingefordert wird, wo neue soziale Grup1 Morphe (griechisch): Form, Gestalt. 2 Ich verweise vor allem auf E. Durkheim (1893, 1912).

475

synopsis pierungen im Entstehen begriffen sind, wie etwa in der Gründungsphase von Kolonien im alten Griechenland. Manchmal entstehen allerdings auch in einer zunächst homogen erscheinenden politischen Einheit konkurrierende Milieus mit unterschiedlichen Narrativen. Deshalb ist es notwendig, stets auch die »Morphe« der gesamten untersuchten Gesellschaft zu beschreiben. Konkurrierende Narrative treten zwangsläufig besonders häufig in konfligierenden Auseinandersetzungen auf, denn Narrative sind Machtinstrumente, die in Abhängigkeit von ihrer Glaubwürdigkeit Anhängerschaft produzieren oder zerstören können. Wie in solchen Fällen Glaubwürdigkeit erzeugt wird, ist Gegenstand unserer Untersuchungen. Demonstrative Beispiele dafür lieferten uns jene Kapitel dieses Bandes, die sich mit der Entstehung des Islam auseinandersetzten, doch auch andere finden sich als »case studies« in den ersten und letzten Kapiteln sowie im ersten Band dieser Arbeit.

Retrospektive In jenem ersten Band wurde gezeigt, wie im antiken Griechentum zwei in Konfrontation stehende Milieus mit divergenten Narrativen entstanden. Es handelte sich dabei einerseits um traditionelle Gemeinschaften unter aristokratischer Dominanz, andererseits um heterogene, sich neu formende, individualisierte Gruppen, wo noch keine ausgeprägten Herrschaftsmuster existierten und folglich Gleichheit postuliert werden musste. Herrschaft ist eng mit Rechtsprechung verknüpft. Sie zu kontrollieren bedeutet nicht nur, innere Konflikte zu pazifizieren, sondern bietet zugleich die Chance, Widersacher (griechisch:  diabolos) durch »Verteufelung« so zu eliminieren, dass dadurch keine eigene Legitimität eingebüßt und das soziale Ganze nicht gefährdet wird. Wie zu erwarten ist, entwickelten diese zwei griechischen Milieus unterschiedliche Narrative und dazu gehörige unterschiedliche Argumentationsstile samt passenden Beweisverfahren. Obwohl es anfänglich so schien, als könnte sich das neue demokratisch- individualistische Lager durchsetzen, gelang ihnen dies langfristig nicht. Die aristokratische Seite entschied die Sache politisch zu ihren Gunsten. Nicht unwesentlich war an diesem Ergebnis das von Aristokraten dominierte Sparta beteiligt, das sich mithilfe eines gewaltigen Unterdrückungsapparates nicht nur intern, sondern auch in Hellas durchzusetzen verstand. Das endgültige Resultat brachte schließlich der Ausgang des peloponnesischen Krieges, von dem sich die nicht-aristokratische Seite nicht mehr erholte. Denn mit dem durch Philipp den Großen endgültig besiegelten Ende der Poleis in Griechenland – nicht in Magna Graecia 476

retrospektive – wurden auch erste zarte Pflänzchen eines Wiederaufkeimens nach der Niederlage der demokratischen Seite eliminiert. Diese Entwicklung zog in Griechenland den letztgültigen Schlussstrich unter die alternativen, empirisch orientierten Wissenschaften. Die aristokratische Wissenschaft institutionalisierte sich hingegen zeitgleich in Athen mit der platonischen Akademie und dem Lyceum, dann in Alexandrien im Museon. Dort wuchs dieser wissenschaftliche Zweig zum ausschließlichen Denkhegemon heran, der auch in anderen Diadochenstaaten intellektuelle »Tochterstädte« hervorbringen sollte. Die Beweggründe für diese Entwicklung werden im ersten Band am Beispiel Alexandriens dargelegt. Der Einfluss dieses neuen Denkhegemons war beträchtlich. Seine Wirkungen wurden im ersten Kapitel des zweiten Bandes zusammen mit den letzten Auseinandersetzungen zwischen den beiden Milieus geschildert. Ergebnis war letztlich eine dominante, einseitige Ausrichtung von Forschung. Deren Resultate wurden allerdings aus genau demselben Grund leichter kompilierbar. Die damit geschaffene Vereinheitlichung des Wissens förderte eine kanonische Produktion von Lehrmaterialien, wie etwa Euklids »Stoicheia«. Durch derartige Lehrbücher wurde die nun kanonisierte Sichtweise weit verbreitet und zum allgemeinen Dogma. Konsequenz aus dieser Entwicklung war, dass die empirisch-manipulative Seite der Forschung am Abstellgleis der Geschichte landete. Fünf Werke wurden im Zuge dieses Kurses zu allgegenwärtigen Bezugsgrößen des Wissens: Euklids Lehrbuch über die Geometrie – die Stoicheia –, Aristoteles’ Organon und seine Physik, Claudius Ptole­ mäus’ »Almagest« in der Astronomie, in der Medizin das »Corpus Galenicum«; in Philosophie und Politik übte Platons »Politeia« nachhaltigen Einfluss aus. Auf den Punkt gebracht, kann man behaupten, dass in diesen Werken das intellektuelle Erbe der Antike konzentriert war. Damit ist noch nicht gesagt, dass es keine anderen Zugänge zur Wissenschaft gegeben hätte. Kapitel I dieses Bandes behandelt solche alternative Überlieferungen, die nur mühsam und erst in neuerer Zeit ans Licht befördert wurden. Allerdings kam, unabhängig von solchen Vorgängen, bereits seit Ende des 2. nachchristlichen Jahrhunderts die Entwicklung der Wissenschaften von selbst zum Stillstand. Einzige Ausnahme bildete die römische Rechtswissenschaft, die erst im 6. Jahrhundert kodifiziert und in den Digesten und Pandekten kanonisiert wurde, und erratisch die Physik des Joannes Philoponos3. Beider Bedeutung blieb aber für lange Zeit insignifikant.

3 Siehe dazu: M. Schmutzer (2011), Band I.

477

synopsis

Historische Hintergründe Mit anderen Worten: Es lag ein bedeutendes, intellektuelles Erbgut brach. Berechtigt fragt man, weshalb das so war? Dieser Frage ging ich im zweiten und dritten Kapitel dieses Bandes nach. Zwei potentielle Erben, nämlich das römische Reich und das spätere fränkische Reich, fielen aus diversen internen Gründen aus bzw. zeigten kein Interesse, das Erbe eines verwerflichen »Heidentums« anzutreten. Mit diesem Hinweis auf das »Heidentum« ist bereits eine teilweise Antwort auf obige Frage gegeben. Allerdings wäre diese Antwort allein schon deshalb nicht zufriedenstellend, weil bereits die heidnischen Römer – lange vor der Übernahme der christlichen Religion als Staatsreligion – kein nennenswertes Interesse an der Pflege und Entwicklung »griechischer« Wissenschaften zeigten. Rom liefert folglich ein weiteres interessantes Anschauungsbeispiel für unsere soziomorphen Untersuchungen. Eine erste, teilweise Erklärung für ein solch markantes Desinteresse an Wissenschaft findet sich bereits in Band I. Das dort entwickelte Argument lautet, dass sich die »griechische Wissenschaft« aus einem politischen Grundbedürfnis entwickelte, dessen Befriedigung durch Solon und andere Gesetzgeber erfolgte. Dieses Grundbedürfnis implizierte u.a. auch die Entwicklung eines neuen demokratischen Gerechtigkeitsgefühls in Hinblick auf Schadensgutmachung und Verteilung materieller Ressourcen (»verteilende Gerechtigkeit«). Derartige Ansprüche wurden von den besitzenden Schichten, damals die Aristokraten in Athen wie auch in Rom, zwangsläufig wenig goutiert und folglich boykottiert. Im griechischen Siedlungsraum konnten, ja mussten sich hingegen solche Forderungen nach einer verteilenden Gerechtigkeit in weiten Teilen durchsetzen. Die Gründe dafür werden wiederum im ersten Band dargelegt. Eine wesentliche Ausnahmerolle spielte bei den Hellenen Sparta, das die aristokratische Dominanz über seine messenischen Heloten mit militärischer Gewalt aufrechterhalten konnte. Wir sehen darin eine Analogie zu dem, was auch in Rom passierte. Auch die Römer reagierten ähnlich wie die Spartaner mit Unterdrückung und Gewalt, wenn sie in die Defensive gedrängt wurden. Diese kulturspezifischen Reaktionen führten letztlich auch zur weidlich bekannten Despotie der Imperatoren. Genauso auffallend ist, dass auch die Erziehung der spartanischen Jugend wie auch die der römischen einem vergleichbaren Prinzip folgte. Die Spartaner bezeichneten dieses System als »Agoge«, das u.a. die Weitergabe von tradierten Narrativen eines homogenen Mileus betonte. Darüber wurde im letzten Kapitel in diesem Band gesprochen. Wir fassen die beiden »wissenschaftsfeindlichen« Fallbeispiele zusammen: weder in Rom noch in Sparta wurde in den maßgeblichen 478

retrospektive Milieus ein Interesse an einschlägig anderen Narrativen geschaffen. Das entsprach einfach nicht ihren dominierenden Interessenslagen. Umgekehrt befand sich hingegen vom 7. bis 5. vorchristlichen Jahrhundert die Aristokratie in Athen und in anderen griechischen Poleis in einem Defensivstadium, dem sie nicht durch Unterdrückung zu begegnen vermochte, wie die Erfahrungen mit Drakon zeigen. Ihr Terrain trotzdem erfolgreich zu verteidigen, nötigte den Aristokraten in Athen Verhaltensweisen ab, die sie unter anderen Vorgaben schwerlich entwickelt hätten. Sie entwarfen eine »Gegenwissenschaft«, die ihnen gepaart mit klugen politischen Machtspielen letztlich den Sieg brachte. Die Entstehung dieser »Gegenwissenschaft« der Athener wird heute gerne als »sokratische Wende« bezeichnet, was ich als platonischen Euphemismus der Vereinnahmung des weisen Sokrates bezeichne. Auch darüber berichtet der erste Band ausführlich. Eine analoge Entwicklung lässt sich in unserer nächsten »case study«, im Islam nach der Miḥna, beobachten, wie die letzten Kapitel dieses Bandes zeigen. Die römische Aristokratie schaffte es hingegen ähnlich wie die Spartiaten, sich aufgrund ihrer Gewaltorientierung auch ohne jene legitimatorischen Künste an der Macht zu halten, die den siegreichen platonischen »Akademikern« durch die Pflege ihrer Wissenschaften zur Verfügung standen. Folglich ergab sich für Rom keine Notwendigkeit, das Erbe der Griechen anzutreten. Ganz ähnlich verlief übrigens auch der Weg in der christlichen Ökumene. Solange sie in Defensivstellung war, sahen sich auch ihre Vertreter genötigt, die heidnischen Künste zu studieren und sich deren Mittel anzueignen. Sobald allerdings politisch die Schlacht – spätestens mit dem Konzil zu Nicaea – entschieden war, und das Christentum Teil des römischen Herrschaftsapparats wurde, konnten sie, ja vielleicht mussten sie sogar in guter römischer Tradition auf diese griechische Kunst verzichten.

Islam Wenn man so will, so waren die politischen Erben des römischen Imperiums Byzanz, das fränkische Reich und die Araber. Warum die beiden Erstgenannten das intellektuelle Erbe, das sie eigentlich nur hätten ergreifen müssen, nicht antraten, wurde oben bzw. ausführlich in Kapitel III erörtert. Tatsächlich traten also genau jene dieses Erbe an, bei denen es am unwahrscheinlichsten war. Die Entwicklungen im Islam lassen sich als weitere Fallstudie nutzen, wodurch die Ähnlichkeiten der sozialen »Morphe« noch prägnanter werden. 479

synopsis Wie kam es zu der im Vergleich zur Spätantike gegenteiligen Entwicklung im Islam? Bemerkenswert ist, dass sich die Ausgangslage mit jener im antiken Hellas problemlos vergleichen lässt. Da wie dort stehen am Anfang eine oder mehrere Staatsgründungen mit einer schriftlich fixierten, demokratischen Verfassung. Das ist für den Islam allein schon erstaunlich, wenn man bedenkt, dass es sich um eine mehr oder weniger schriftlose Kultur handelte. Auch politisch schien in einer Stammeskultur, die von Familienclans beherrscht wurde, der Gedanke einer gleichberechtigten Demokratie ziemlich abseits zu liegen. Man muss daher wohl annehmen, dass es sich bei einem derartigen Vorgehen einerseits um das Ergebnis eines politisch höchst verständigen Geistes handelte, andererseits, ähnlich wie in Athen, andere Alternativen nicht länger existierten. Die Details, die in Kapitel III expliziert wurden, bestätigen diese Annahme. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den Anfangsbedingungen in Yathrib und jenen in den griechischen Poleis, die sich auch demokratische Verfassungen geben mussten, besteht darin, dass die muslimische Verfassung durch göttliche Offenbarung legitimiert wurde. Die Griechen bemühten sich hingegen um Legitimierung ihrer Rechtsgrundlage durch Verweis auf ein allgemeingültiges Naturgesetz, das in der Polis genauso wie in der Natur wirksam wäre. Dieser griechische Ansatz motivierte zwangsläufig dazu, Naturvorgänge nicht länger als das Wirken göttlicher Akteure zu verstehen, sondern dafür andere Erklärungsmuster zu suchen. Da jedoch diese Erklärungsansätze eine legitimierende Wirkung erzielen sollten, mussten sie notwendig auch jene rechtlichen Mechanismen, die innerhalb einer Polis wirkten, widerspiegeln. Daraus ergab sich konsequent die Vorstellung von Naturgesetzen – also einer Verfassung, die auch in der Natur Geltung hätte. Auch diese Transponierung bezeichne ich eben als »Soziomorphismus«.

Mikroebene In Hinblick auf ihre Legitimierungsstrategie unterschied sich die Verfassung von Yathrib nicht grundlegend von älteren Vorläufern in Assyrien oder jener im frühzeitlichen, republikanischen Rom. In allen diesen Fällen wurde die Legitimation von Gesetzen durch Verweise auf deren göttlichen Ursprung geschaffen. Ein bedeutender Unterschied bestand bei den Muslimen darin, dass ihr Gesetz als eine einmalige Offenbarung aus dem Mund eines einmaligen Gesandten Gottes kam. Nach dessen Dahinscheiden waren notwendig gewordene rechtliche Adaptierungen und Ergänzungen nicht länger möglich. 480

mikroebene Der Gesetzgebungsprozess war abgeschlossen und eine weitere Legislative, wie dies in Rom im Senat und in den griechischen Volksversammlungen gegeben war, war unmöglich. Daraus entstand als gänzlich neue Notwendigkeit ein neuer Bedarf nach einer zunächst hermeneutischen Wissenschaft, die die korrekte Auslegung der göttlichen Worte und der mündlichen Überlieferungen des Propheten gewährleisten sollte. Das schuf den Ausgangspunkt für »arabische« Wissenschaften. Nun zeigt sich in solchen Fällen bald, dass die Auslegungsspielräume von Texten weit sind, dass aber gerade schriftliche Texte den Nachteil besitzen, dass sie nicht länger adaptionsfähig sind. Nun wurden Koran und Hadithe schon sehr früh schriftlich fixiert und dadurch petrifiziert. Zusätzlich gilt, dass situationsabhängige Aussagen selbst eines Propheten Widersprüche nicht ausschließen können. Solche Widersprüchlichkeiten bewirken dann das Gegenteil von dem, was Gesetze eigentlich bewirken sollen, nämlich Konflikte zu kalmieren. Um mit derartigen Problemen zurande zu kommen, bedarf es eigener Instrumente zur Konsensualisierung. Solche zu entwickeln war eine Aufgabe, an der die Muslime mit Ausdauer arbeiteten. Das Resultat war einerseits die Entwicklung eines eigenständigen Konsensmechanismus (»idschtihad«) – auf der Basis von »idschma« und »khilaf« –, und andererseits etablierten sich in Nachahmung (taqlid) der Praktiken des Propheten sehr früh eigene Schulen der Rechtsauslegung. Eine Institutionalisierung setzte im Vergleich zu Athen also wesentlich früher ein. Wie die Geschichte zeigt, lebten die Gläubigen aufgrund der rapiden, räumlichen Expansion des Reichs keineswegs in einem historischen Vakuum, sondern in einem hellenistisch geschwängerten Geistesmilieu. Mehr oder weniger idente Ausgangsbedingungen hätten allerdings die Römer, als sie im 3. vorchristlichen Jahrhundert Magna Graecia eroberten, gleichfalls gehabt. Aufgrund ihrer politischen und kulturellen Prägungen ergriffen sie die Chance nicht, weil sie sie gar nicht als Chance wahrnehmen konnten. Anders reagierten die Araber. Deren tonangebende Schicht war jener der handelstreibenden Griechen aus Hellas ähnlich. Selbst wenn sie anfänglich kaum des Griechischen fähig waren, so gab es doch zahlreiche Nicht-Araber, die des Griechischen und des Aramäischen mächtig und hellenistisch gebildet waren. Solche Personen wurden ähnlich wie die ersten Sophisten in Athen Lehrer von Kindern einflussreicher und wohlhabender Eltern. Diese oft christlichen, verfolgten Sekten angehörigen Menschen begaben sich nicht ungern in den Dienst der Machthaber, die wie überall gleichfalls an einer herausragenden Ausbildung ihrer Nachkommen interessiert waren. Vereinfacht lässt sich diese Tendenz als Weitergabe von Herrschaftswissen beschreiben. Folglich konnte es nicht lange dauern, dass die hohe Kunst der dialektischen Argumenta­ tion, wie sie vor allem von Aristoteles detailliert entwickelt worden war, 481

synopsis auch dort bekannt wurde und Verbreitung fand. Diese Entwicklungen wurden detailreich in den Kapiteln IV und V nachgezeichnet. Soviel zur Mikroanalyse. Doch eine solche sollte stets innig mit der Makroebene der Politik verknüpft werden.

Makroebene Daher ist nun ein Wechsel der Analyseebenen unvermeidbar. Auf der politischen Ebene hinterließ der Prophet ungeklärte Nachfolgebestimmungen. Dieser Umstand bewirkte gewaltige Erschütterungen in der Ummah, der Gemeinschaft der Gläubigen. Diese Disruptionen führten zu mehreren Bürgerkriegen, an deren Ende sich die Umayyaden als eine Dynastie von Kalifen etablieren konnten. Die unterlegene Seite, die Anhänger des nicht erfolgreichen Schwiegersohns des Propheten, ʿAli, spaltete sich ab und wurde unter dem Namen »Schiʿa« zu einer permanenten Herausforderung der Macht. Diese Entwicklung wurde ausführlich in den Kapiteln V und VI geschildert. Im Zuge einer spannungsgeladenen Innenpolitik erwiesen sich die Umayyaden als äußerst rücksichtslose und gewalttätige Nachfolger des Gesandten Gottes. Sie mordeten Muslime in großer Zahl und scheuten sich nicht einmal, die heiligen Stätten in Mekka in Brand zu setzen. Erwartungsgemäß verstärkte dies die Ablehnung dieser Herrschaft innerhalb der Gemeinde jener Gläubigen, die mit der Usurpation der Macht durch die Umayyaden von Anfang an nicht einverstanden waren. Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten und zeigte sich in zweifacher Gestalt: Theologisch-juristisch stellte sich bald die Frage, ob solche Herrscher als Nachfolger eines Gesandten Gottes überhaupt anerkannt werden können. An dieser Thematik spalteten sich die Argumente der Rechtsgelehrten in Befürworter und Gegner, wie in Kapitel VI dargestellt wurde. Ein bedeutsames Ergebnis dieser Entwicklung war aber die Gründung einer Schule, die Mu’tazila, die sich offenbar bereits früh an einer aristotelischen Überlieferung orientiert hatte. Ihre anfänglichen Kenntnisse bezogen sie vermutlich aus zweiter Hand, etwa der Isagoge des Porphyrios. Dessen schriftlicher Nachlass erfreute sich besonders in Syrien großer Beliebtheit und wurde vermutlich auch deshalb von den Muslimen geschätzt, weil der Autor auch als profunder Kritiker des Christentums bekannt war. Eine intensive Auseinandersetzung mit dieser Religion war damals gerade in vollem Schwang. Parallel zur theologisch-juristischen Diskussion formierte sich zweitens in den östlichen Reichsteilen ein massiver politisch-militärischer Widerstand. Letztlich führte die gesamte Entwicklung zum Sturz der Umayyadendynastie. An deren Stelle etablierte sich das Geschlecht der Abbasiden. Ihre Legitimität versuchten diese zwar durch Nach482

makroebene weis verwandtschaftlicher Beziehungen zum Propheten zu erhalten, doch dieses Argument war nicht hinreichend. In politisch umsichtiger Weise schmiedeten sie folglich Allianzen mit den im Zweistromland nach wie vor einflussreichen persischen Aristokraten. Diese Strategie erwies sich als äußerst erfolgreich. Sie brachte es allerdings mit sich, dass sich der Islam nun nicht nur mit den Christen, sondern auch mit den Zoroasthriern beschäftigen musste. Die Kunst der Diskussion, die bereits in den internen juristischen Disputen nachgefragt war und die vor allem von der Mu’tazila gepflegt wurde, wurde nun mehr als je zuvor gebraucht. So kann es nicht erstaunen, dass die umsichtigen ersten Kalifen der Abbasiden selbst bemüht waren, diese Kunst bestmöglich zu beherrschen. Deshalb finanzierten sie die ersten Übersetzungen des aristotelischen Organon. Doch im Umgang mit den Persern war es auch vorteilhaft, eine andere Kunst zu beherrschen, nämlich die Astrologie. An dieser Wissenschaft waren die Perser seit langer Zeit interessiert. Sie verlangte exakte astronomische Studien. Porphyrios war genauso wie Claudius Ptolemäus Anhänger dieser Kunst. So ergab es sich, dass neben Kenntnissen des Organon auch solche des Almagest gefragt waren, und dieser gleichfalls ins Arabisch übersetzt wurde. Unter derartigen Vorgaben entstand nicht nur die bedeutende »Übersetzungsbewegung«, aufgrund derer wir heute Kenntnis von den meisten antiken Schriften haben, sondern auch eine eigenständige Forschung in Astronomie und Mathematik. Diese Entwicklungen wurden gleichfalls in den Kapitel VI und VII im Detail abgehandelt. Nicht übergangen werden sollte im Rahmen dieser Synopsis, dass sich die persische Kultur, wieder in krasser Abhebung von Rom, seit langem intensiv mit Medizin befasst hatte. Das erklärt, warum auch die Schriften Galens früh übersetzt wurden. Schlussendlich wäre auch noch ein Wort zur Philosophie zu sagen. Eine Beschäftigung mit dem aristotelischen Organon ist ohne Studium der philosophischen Schriften Aristoteles und seines Lehrers Platon kaum denkbar. Ähnlich verhält es sich mit der ptolemäischen Astronomie, die ja auch in der Physik des Aristoteles wurzelt. Somit erfuhr der gesamte Corpus griechischer Gelehrsamkeit, der oben aufgezählt wurde, eine weitgestreute Nachfrage. Auch in diesem Fall zeigt sich, dass die Entwicklung der Wissenschaften nicht vorrangig das Ergebnis individueller Neugierde, wie unsere Scholaren meinen, sondern das einer soziopolitischen Konstellation ist. Ohne das hier skizzierte Gemenge wären uns die alten Schriften kaum jemals in die Hände gefallen, denn selbst die manchmal gepriesene byzantinische Renaissance, die der ignoranten Phase des 8. Jahrhunderts folgte, ist das Ergebnis der Auseinandersetzung mit den Entwicklungen im Islam. 483

synopsis

Akkulturation Ohne nun in alle Details einzutauchen, die in den Kapiteln VII und VIII zu finden sind, sei auf folgende weitere und wesentliche Entwicklungen hingewiesen. Zunächst ist die Bedeutung der Gründung einer wissenschaftlichen Institution im Bayt al-Ḥikmah neuerlich zu erwähnen. Ohne diese Institutionalisierung wären die ersten Bemühungen etwa eines al-Kindi bald in Vergessenheit geraten, denn erst dort wurde erstmals jene »kritische Masse« und fachliche Terminologie geschaffen, die die nachfolgende Geistesexplosion erst ermöglichte. Damit wurde zugleich ein Denkhegemon in die Welt gesetzt, der allerdings aufgrund interner Entwicklungen nicht dieselbe Lebensdauer hatte, die dem Museon in Alexandrien beschieden war. Anders als im antiken Fall übte aber dieses »Haus der Weisheit« einen hinlänglichen Vorbildcharakter aus, der Nachahmung an anderen Orten fand. Erst heute wissen wir, dass nur diese räumliche Diversifikation das Überleben der alten und neuen wissenschaftlichen Errungenschaften nach dem Mongoleneinfall und anderen Ereignissen ermöglichte. Wie gezeigt, scheiterte diese Institution, wenn man so will, schon lange vor den Mongolen an ihrer eigenen Überheblichkeit. Die durch ihre Dogmatik bewirkte »Inquisition« (Miḥna) wurde in einem von den Gegnern der »fremden Wissenschaften« gewonnenen, zähen Kampf beendet. Die Miḥna brachte nicht den erhofften durchschlagenden Erfolg der Rationalisten. Im Gegenteil: es wurden nun Anhänger der fremden Wissenschaften in die Defensive gedrängt. Das blieb nicht ohne Folgewirkungen, die sich, wie bereits gezeigt wurde, letztlich aus unserer Sicht nicht nur negativ bemerkbar machten. Sie förderten nämlich eine schon früher andeutungsweise zu erkennende Tendenz zur kritischen Auseinandersetzung mit den griechischen Vorbildern und, so könnte man vielleicht sagen, zum »Erwachsenwerden« eigener Wissenschaften in der islamischen Welt. Dieses Erwachsenwerden kann als Ausgleichsverfahren zwischen den eigenen kulturellen Vorgaben und dem implantierten, griechischen Gedankengut verstanden werden. So, wie das in evolutionären Prozessen häufig der Fall ist, ist auch hier eine markante Aufspaltung zu registrieren. Einerseits entwickelte sich in der Folge dieses Siegs eine neue und durchsetzungsfähige Theologie, die über al- Aschʿari zu al-Ghazali führt. Andererseits aber – und das liegt in unserem engeren Interessensbereich – fanden die schon verschiedentlich in Erscheinung tretenden Eigenheiten der prä-islamischen, arabisch-persischen Kultur nun mehr Berücksichtigung. Ich bewerte diese Eigenheiten im Vergleich mit jenen, die in der griechischen Welt zuerst neben der aristokratischen Sicht bestanden und die letztlich eliminiert wurden. Damals waren die Träger dieser Kultur die 484

makroebene Thetes und/oder die Demokraten. Nun stammen die Träger aus jenen wohlhabenden Schichten, die ihren Reichtum ebenfalls vorwiegend aus dem Handel schöpften. Dabei kann man weitreichende Übereinstimmungen etwa zwischen den »banausischen« Griechen in Tarent, Syrakus oder Athen und jenen in Handelsmetropolen ansässigen Familien in Bagdad, Basra, Merv oder Fustat, dem späteren Kairo, finden. Diese Gruppen hatten stets ein ausgeprägtes praxisorientiertes Interesse, was sie nicht allein Fremdsprachen lernen ließ, sondern sich auch für anwendungsnahe Technologien interessieren ließ. Das, was sich bereits bei den Banu Mussa oder al-Khwarizmi andeutete, vollendete sich schließlich bei Ibn al-Haytham. Den gesamten Prozess bezeichne ich als »Akkulturation«. Damit wird zweierlei gleichzeitig deutlich. Erstens wird klar, dass Kulturen aus Lebensumständen wachsen, sodass vergleichbare Lebensumstände auch ähnliche Denk- und Handlungsmuster produzieren. Zweitens zeigt sich an diesen Beispielen, dass Soziomorphismus wesentlich umfassender und demnach auch für die Entwicklung von Wissenschaft bedeutsamer ist, als meistens angenommen wird. Soziomorphie liefert nicht nur die anfänglichen Ansätze für deskriptive Modelle von Naturvorgängen, wie das etwa die vorne genannte Studie über astrologische Deutungsmuster nahelegt. Es werden auf diese Weise nicht nur die Denkmodelle für homomorphe Vorstellungen geschaffen, sondern zusätzlich eben auch alles das geprägt, was als Beweisverfahren anerkannt wird. Das wurde ebenfalls bereits im ersten Kapitel deutlich gemacht, als über Archytas von Tarent, Platon und Archimedes gesprochen wurde. Im Kontext von Ibn al-Haythams Arbeiten und wissenschaftstheoretischen Vorschlägen wurde dies noch weiter vertieft. Und wie es bereits die Überlegungen von al-Farabi zum Ausdruck brachten, lieferten z. B. implizite Beweise und syllogistische Schlüsse diesem keine unhinterfragbaren Nachweise mehr für die Korrektheit von Aussagen. Für al-Farabi sind solche Beweise selbst tautologisch. Generationen von Griechen davor galten sie hingegen als ein unübertreffbares Verfahren, um einen Sachverhalt als bewiesen betrachten zu können. Noch im 17. Jahrhundert stritten die wackeren, englischen Forscher darum, ob experimentelle Beweise als Beweise Geltung beanspruchen könnten – oder vielleicht stringente Schlussfolgerungen vorzuziehen seien4. Diese Problematik ist sachlich nicht zu entscheiden, sondern eben Frage eines kulturbedingten Erfahrungshorizonts. An dem ausführlich beschriebenen Experiment al-Haythams zur Ergründung der Herkunft des Mondlichts und des Lichts der Planeten wurde deshalb in Kapitel IX anschaulich dargestellt, dass Experimente 4 Siehe dazu: St. Shapin (1994).

485

synopsis allein nichts beweisen können, sondern stets theoretisch geprägte Interpretationen brauchen, um zu akzeptablen, innerhalb ihrer Kultur als bewiesen geltenden Aussagen zu werden. Dieselben experimentellen Ergebnisse können eben sehr unterschiedliche Thesen belegen.

Wissenschaft, Politik und Kultur Die gesamte Entwicklung der »arabischen« Wissenschaften illustriert auch anschaulich, wie sehr Wissenschaft im Dienst politischer Interessen steht. Auch hier wird durch den Vergleich mit den antiken Vorgaben in Athen, Magna Graecia, Sparta und Rom anschaulich, dass ohne derartige Interessenslagen Wissenschaft keine Entwicklungschancen hätte. In negativer Hinsicht sollte das schon allein daraus erkennbar werden, dass es offenbar auch immer wieder historische Phasen gibt, wo eine bereits entwickelte Wissenschaft stagniert und letztlich gänzlich unbedeutend wird. Als Illustration dafür können die letzten Jahrhunderte der Antike genommen werden. In einer derartigen Phase kann zwar individuelle Neugierde konservierend und als Rettungsanker wirken. Doch dass Wissenschaft dann irgendwann wieder aus der Versenkung geholt wird, verdankt sich politischen Konstellationen, wie auch das arabische Exempel zeigt. Die postulierte Unabhängigkeit der Wissenschaft von der Politik ist ein frommer Wunsch, der erst im 17. Jahrhundert5 erfunden wurde. Al-Farabi hat diesen Zusammenhang klar erkannt. Die Fallstudien dieser beiden Bände untermauern seine Sichtweisen. Ein geplanter dritter Band wird analoge Morphismen bei der neuerlichen Wiedergeburt der Wissenschaften im mittelterlichen Europa aufzeigen. Interessierte Leser finden im anschließenden Epilog zusätzlich noch Anschauungsmaterial aus der jüngeren europäischen Geschichte.

5 Doch selbst damals war dieser Wunsch eben nur das Produkt vom »wishful thinking« eines englischen Königs und einiger verängstigter Gelehrter der in der Folge gegründeten »Royal Society«. Diese »Forscher« motivierte dabei– so wie damals beim Wechsel der Sichtweisen im Islam nach der Miḥna – überwiegend der gleiche pragmatische »spirit«, der auch ihr Idol Francis Bacon beherrschte, nämlich der Wunsch, rasch reich zu werden.

486

Epilog

»[…] im allgemeinen dürfte das aus der mathematischen Logik ent­ wickelte positivistische Denkschema zu eng sein für eine Naturbeschreibung, die doch genötigt ist, Worte und Begriffe zu gebrauchen, die nur unscharf definiert werden können.« (m.H., M.S.; W. Heisenberg, 1959, S. 64) Es »[…] kann die Unverborgenheit, dergemäß sich die Natur als ein berechenbarer Wirkungszusammenhang von Kräften darstellt, zwar richtige Feststellungen verstatten, aber gerade durch diese Erfolge die Gefahr bleiben, dass sich in allem Richtigen das Wahre entzieht.« (m.H., M.S.; M. Heidegger, 1955, S. 26)

487

488

»Kastalien« und die »Res Publica« Wie die letzten Kapitel deutlich machen, ist diese Arbeit darum bemüht, aus den historischen Tatsachen mithilfe von Vergleichen zu Aussagen oder zumindest zu Hypothesen zu gelangen, die über die diversen Einzelfälle hinausgehen, um ein tieferes und weniger ideologisiertes Verständnis der sozialen Wechselwirkungen zu erreichen, die die Prägungen wissenschaftlichen Forschens und vorgeblich letzter Erkenntnisse bestimmen. Eine erste Einsicht, die sich schon aus der Beobachtung ergibt, dass die Entwicklung griechischer Wissenschaft irgendwann zu einem Stillstand kam und in der Folge nur mehr wiederkäuend verwaltet wurde, legt nahe, dass Wissenschaft spezifischen Nutzenserwartungen entsprechen muss. Ist sie nicht in der Lage, solche an sie gestellte Erwartungen im Geist der Zeit zu erfüllen, oder werden gar keine derartigen Erwartungen an sie herangetragen, so verkommt sie längerfristig zu einem »Glasperlenspiel«1, verliert ihre Existenzberechtigung und fristet nur mehr ein abgeschottetes Leben in einem monastischen »Kastalien« (ibid.). Die Notwendigkeit, öffentlichen Anliegen dienlich zu sein, nötigt zur Bestimmung dessen, was »öffentliche Anliegen« sind, beziehungsweise konkreter, wer spezifische Problemlagen zu öffentlichen Anliegen macht und machen kann. Zwangsläufig ergibt sich mit dieser Frage der Eintritt in die »res publica«, die öffentliche Sache, die vom Staat vertreten wird. Es ist denkunmöglich, diese öffentliche Sache unabhängig von politischen Machtverhältnissen zu sehen. Das zeigte sich bereits im Vergleich unterschiedlicher griechischer Auffassungen von Wissenschaft. Die Thematik wurde im ersten Band hinlänglich behandelt, sodass hier nur daran erinnert werden muss, dass sich bei den Griechen »demokratische« und »aristokratische« Wissenschaften längere Zeit kompetitiv gegenüberstanden. Dieser Machtpoker wurde zugunsten der letztgenannten entschieden und mündete schließlich in ein alexandrinisches, hellenistisches »Kastalien«. Eine zweite Erkenntnis ist also, dass die Behauptung, Wissenschaft sei politisch neutral, ein Mythos ist. Allerdings ist gesellschaftliche Macht nicht nur in staatlichen Institutionen verankert, was der ursprüngliche Begriff der »res publica« eigentlich meinte. Macht kann auch in religiösen oder in ökonomischen Institutionen wurzeln, was bei annähernder Gleichverteilung der Macht zwischen solchen Institutionen zu Konflikten führt, wobei dann Wissenschaft brauchbare »Waffen« bereitstellen kann. 1 Siehe dazu: H. Hesse (1943).

489

epilog Der erwähnte abstrahierende Typus von hellenistischer Wissenschaft entsprach den äußerst pragmatischen Nutzenserwartungen der Römer wenig, und jenen der späteren imperialen Machthaber während der letzten zwei bis drei Jahrhunderte der antiken Welt schon überhaupt nicht. Die Machtverhältnisse waren ungleich genug, sodass folglich auch wissenschaftliche Institutionen nicht involviert werden mussten. Es herrschte vollkommene Waffenungleichheit. Die Erzeugung von »wahren Erkenntnissen«, also solchen, die unwiderlegbar erscheinen, brachte den Machthabern keinen zusätzlichen Gewinn und Nutzen. Wenig überraschendes Ergebnis war demnach, dass sich das antike »Kastalien« aufzulösen begann oder auf zusätzliches Geheiß der Machthaber aufgelöst wurde. Die dort verwaltete intellektuelle Erbmasse wurde als solche erst gar nicht wahrgenommen. Nur Bruchstücke wurden von vereinzelt überlebenden Anhängern verwahrt und in einer gelehrten Diaspora räumlich verstreut. Andere größere Bestände verstaubten in dunklen Gewölben und fielen der Vergessenheit anheim.

Neugeburt und Wiedergeburt Wie kam es unter derartigen Bedingungen zu einer Wiedergeburt? Zunächst sollte nicht vergessen werden, dass es vor der Wiedergeburt der antiken Wissenschaften zu einer Neugeburt, einer eigenständigen Form von arabischer Wissenschaft kam, die ich in Kapitel V, möglicherweise zu vereinnahmend, als »Protowissenschaft« bezeichnet habe. Die Entwicklungen, die dorthin führten, brauchen an dieser Stelle nicht wiederholt zu werden. Erinnerungswürdig ist allerdings, dass die Ausgangsbasis die gleiche war wie bei den alten Griechen: die Bildung eines Staates auf Grundlage einer Verfassung, wobei die Machtverteilung nach dem Tod des Staatsgründers in dreifacher Weise ungeklärt blieb und folglich einer legitimierenden Begründung bedurfte. In heutiger Diktion könnte man vom Fehlen einer Legislative, Exekutive und Jurisdiktion sprechen. Damals handelte es sich dabei um die drei königlichen Prärogative: Oberbefehlshaber über das Heer, höchster Richter und höchster Priester zu sein. Im Islam nannte man diese Rollen: Emir, »Ḥakam« oder »Qadi« und Imam. Dieser neue Staat des Propheten war in heutiger Terminologie quasi eine »konstitutionelle Monarchie«. Der Gesandte Gottes fundierte von Anbeginn die Legitimität seiner Verfassung in einer göttlichen Offenbarung. Das machte einen nicht unwesentlichen Unterschied zu den griechischen Vorlagen, denn dadurch war diese »res publica« – anders als in Athen – einer Flexibilisierung der gesetzlichen Vorgaben durch eine 490

neugeburt und wiedergeburt anerkannte Legislative beraubt, wie dies etwa die gesetzgebende Volksversammlung bei den Griechen war. Die internen Konflikte, die sich aus der ungeregelten Nachfolge des Propheten in allen drei Bereichen ergeben hatten, erforderten Gesetzesinterpretationen, die aufgrund der politischen Spaltung, die sich anfänglich vorrangig aus dem Kampf um das Emirat ergab, konträr ausfallen mussten. Anschaulich wurde die Divergenz um die Gesetzesauslegung letztlich an der Debatte über die Unveränderlichkeit des Korans. Es handelte sich auch bei diesem vordergründig theologischen Diskurs unübersehbar um politische Machtfragen und Herrschaftslegitimation. Ein ähnlicher Bedarf nach Herrschaftslegitimation legte die Beschäf­ tigung mit Astrologie und dadurch unvermeidbar mit Astronomie nahe. Auch das wurde in den Kapiteln V und VI ausführlich dargelegt. Schon die nur zum Teil bekannten Überlieferungen aus der griechischen Antike boten in diesen beiden »Arenen« wertvolle Alternativen und Unterstützung bei diversen Auseinandersetzungen mit den religiösen und juristischen Machthabern, die mit den »Emiren« um die Macht konkurrierten. Letztere hatten, wie in den Kapiteln IV und V dargestellt wurde, ja inzwischen bereits ihre eigene Wissenschaft als intellektuelle »Waffenschmiede« begründet. Unübersehbar wird damit, dass auch theoretische Wissenschaft bedeutende Waffen bereitstellt. Diesen Nutzen einer von der Wissenschaft offerierten unwiderlegbaren Wahrheit spricht Aristoteles mehrfach unumwunden aus. Die offensichtliche Nützlichkeit antiker Texte motivierte die herrschende Schicht, die sich auch der Aufgabenbereiche des Imamats und der Jurisdiktion versichern wollte, durch sorgfältige Übersetzungen detailliertere Kenntnis dieser Waffen intellektueller Kriegsführung zu erlangen. Es wird somit offenkundig, dass auch in diesem Fall »Staatsräson« den Impetus lieferte, sich der Pflege der Wissenschaften zu verschreiben. Mit der Übertragung griechischer Philosophie und Wissenschaften strömte allerdings neues Gedankengut in den Islam, das nicht nur diversen Prinzipien dieser Religion widersprach, sondern auch zahlreichen tieferliegenden tradierten Vorstellungen, wie sie in den täglichen Praktiken und damit in der Kultur dieser Völker verankert waren. So entsprach etwa die vom aristotelischen Denken verordnete aristokratische Abstinenz von pragmatischen Bezügen nicht den Gepflogenheiten der tonangebenden Milieus. Diese bestanden ja, ähnlich wie in manchen Stadtstaaten in Magna Graecia oder im perikleischen Athen, in der Mehrheit aus anwendungsorientierten Handwerkern und Händlern. Kurz gefasst, die überlieferte hellenistische Wissenschaft war das Produkt eines Milieus, das mit dem in den islamischen Gebieten vorherrschenden Milieu nicht kommensurabel war. Daraus ergab sich in einer Phase, wo die politisch-dynastische Herrschaft der Kalifen und ihrer 491

epilog Anhänger Schwäche zeigte, die Notwendigkeit und Chance zur Akkulturation des aus der Antike überlieferten Wissens. Ergebnis dieser Adaptionen war eine »neue« arabische Wissenschaft, die nicht nur Ähnlichkeit mit den unterdrückten sophistischen Varianten von Wissenschaft in Hellas zeigt, sondern zugleich auch große Konkordanz mit jener aufweist, die sich in Europa, gestützt auf die Überlieferungen aus jener orientalischen Zivilisation, Jahrhunderte später zu etablieren begann. Zahllose Anregungen und neue Erkenntnisse und Methoden wurden von dort übernommen. Allerdings verhinderte anfänglich die aristokratisch-klerikale Tradition des christlichen Abendlandes über weite Strecken deren Akzeptanz. Erst als auch diese politische Struktur im 16. und 17. Jahrhundert Anzeichen von Schwäche entwickelte, konnten die aus diesen Beständen übernommenen Anregungen aufgegriffen und weiterentwickelt werden.2 Die meisten großartigen Errungenschaften, die man beginnend mit der Renaissance dem angeblich überlegenen Geist eines »homo occiden­ talis« zuschreibt, wurden, wie wir gesehen haben, bereits von arabischen Wissenschaftern Jahrhunderte früher vorweggenommen.

Renaissance Da das Anliegen dieser abschließenden Reflexionen darin besteht, aus der Geschichte zu lernen und zu einer neuen Sicht auf unsere eigene Wissenschaft zu gelangen, wird eine essayistische Kompilation der Geschichte der europäischen Wissenschaft unvermeidbar. Die erste Phase, die meistens als »Scholastik« bezeichnet wird, überspringe ich, da ihr Einfluss auf unsere Zeit nur mehr gering ist. Außerdem werde ich mich in einem nachfolgenden Band diesen Entwicklungen widmen, die überwiegend von den Überlieferungen aus der arabischen Wissenschaft angeregt wurden. Es ist bekannt, dass diese Periode durch einen weit verbreiteten Aristotelismus gekennzeichnet war, was sich aus der politischen Dominanz aristokratischer Strukturen nahezu zwangsläufig ergab. Dieser Phase folgte der Umbruch, der häufig als jener originäre, okzidentale Schöpfungsakt gepriesen wird, der das Primat europäischen Geisteslebens gegenüber allen anderen Kulturen begründet haben soll. 2 Christlicher Erlösungsanspruch dürfte in späterer Folge bewirkt haben, dass dieses Erbe nicht als Erbe betrachtet werden durfte, sondern vorrangig als originäre Leistung präsentiert werden musste. Ansonsten wäre die Gefahr gegeben gewesen, dass diese neuen Methoden und Gedanken auf noch mehr Widerstand gestoßen wären, als sie aufgrund ihrer »proletarischbürgerlichen« Herkunft ohnehin zu gegenwärtigen hatten.

492

renaissance Namen wie N. Kopernikus, F. Bacon, G. Galilei und R. Descartes sig­ nalisieren hinlänglich, um welchen Umbruch es sich handelt. Kurz gesagt, handelt es sich um jenen Schritt, der die abgehoben debattierende Scholastik zurück in die Praxis holte. Analog zu den Entwicklungen bei den Arabern bestand der damals stattfindende Bruch in einem radikalen Wandel akzeptierter Beweisverfahren. An Stelle stringent logischer Argumente trat das empirische Experiment bzw. – um dasselbe mit anderen Worten zu wiederholen – ein »operativer Beweis«, wie ihn bereits Ibn al-Haytham eingeführt hatte. Wie kam dieser Umschwung zustande? Er wurde durch eine unübersehbare gesellschaftliche Entwicklung bedingt, die in einer Wiedererweckung städtischer Strukturen in Europa ihre sozialen Wurzeln hatte. War im dritten Kapitel von einer »Verländlichung« die Rede, so kann man nun von einer um sich greifenden »Verstädterung« sprechen. Auf diese Entwicklungen hat M. Weber (1922) ausführlich hingewiesen. Mit der Renaissance urbanen Lebens ab dem 12./13. Jahrhundert ging eine unübersehbare Veränderung der Lebensformen und der Produktionsweisen einher. Ähnlich wie in den griechischen Städten Süditaliens und in den zahllosen urbanen Zentren der Muslime etablierte sich ein neues Milieu, das von handwerklicher Produktion und Handel lebte. In diesem neuen Klima entwickelten sich andere Fragestellungen und andere Methoden des Nachweisens und Beweisens. Zwei Regionen in Europa waren dabei federführend: Italien und England. In beiden Ländern bildeten sich zeitgleich auch höfische und bürokratische Strukturen aus, deren Entwicklung in Richtung Absolutismus wies. Das Denken der Zeit wurde allerdings noch von den Städtern dominiert, also von Handwerkern und Händlern und deren Gilden. Vergleichbar mit dem aristotelischen Denken in vier Ursachen (»Vier-Ursachen-Schema«), welches ja seit dem 13. Jahrhundert den maßgebenden intellektuellen Kanon darstellte, besteht die Lebenserfahrung eines Handwerkers auch aus der Tatsache, dass nichts ohne Ursache ist, und dass jede Ursache eine Wirkung zeitigt. Jede Ursache produziert eine Wirkung, so wie der Handwerker als Verursacher sein Werkstück produziert. Damit wendeten sich die Interessen in Richtung einer Form des Wissens, das vorrangig in den Dienst der Produktion von Wirtschaftsgütern gestellt war. Aus diesem Erfahrungsdenken von »Produzenten« entstand u.a. die Vorstellung eines Schöpfers, der die Welt in der Art eines Uhrmachers entwirft und wo alles, einem mechanischen Apparat vergleichbar, gesetzmäßig seinen Lauf nimmt. Die Uhr faszinierte damals die Geister und bestimmte ihre Vorstellungen von Welt und Kosmos. Es fügte sich in diese Welt des Werkens und des Handels, dass nichts umsonst geschehe, und dass in Natur und Kosmos ein ökonomisches Prinzip herrsche, das zugleich als Anweisung für wissen493

epilog schaftliche Erklärungen verwendet werden könne. Dieses Prinzip der Parsimonie, das Wilhelm von Ockham (1288–1347) zugeschrieben wird, wurde allerdings erst in der hier besprochenen Zeit von Johannes Clauberg (1654) formuliert. Naturgesetze als Resultat einer stringenten Abfolge von Ursachen und deren Wirkungen, ein ökonomisches Prin­ zip zur Formulierung gefundener Naturgesetze und das Experiment als Nachweis für die Korrektheit so formulierter Gesetze lieferten in dieser Zeit neuerlicher Verstädterung das dominante Rüstzeug wissenschaft­ licher Erkenntnisse.

Aufklärung3 Allerdings verfielen ab dem 18., 19. Jahrhundert auch diese Erkenntnisse zunehmend einer Korrosion. Diese Zersetzung ist wie jede andere Korrosion das Resultat neuer Umwelteinflüsse, eine Art intellektueller Klimawandel. Ein wesentlicher Unterschied ist, dass es sich in diesem Fall nicht um Naturprozesse handelte, sondern um Einflüsse aus der sozialen Umwelt. Sie sind, so wie wir das bereits in der Antike und dann auch bei den islamischen Wissenschaften feststellen mussten, Ergebnisse eines Milieuwandels. Ein solcher ist aber intrinsisch mit einem grundlegenden Wandel der »res publica«, der öffentlichen Sache, verbunden. Wieder lieferte eine Schwäche des politischen Systems der machtfernen Schicht die Chance, ihre pragmatischen Sichtweisen in den Vordergrund zu rücken. Exemplarisch manifestierte sich dieser neue Zugang an den Konzepten der französischen Enzyklopädisten, die quasi aus Protest gegen herkömmliche Wissenschaftsauffassungen in ihren Nachschlagewerken auch ausführlich von ihnen empirisch erhobene Wissensinhalte und Methoden der produzierenden Gewerbe inkludierten. In ähnlicher Form lässt sich derselbe Vorgang zeitlich etwas früher auf der anderen Seite des Ärmelkanals nachvollziehen, wo nicht nur der Streit zwischen Th. Hobbes und R. Boyle über empirische Experimente als wissenschaftliche Beweismittel, sondern auch die spätere Ausrichtung der meisten Projekte der »Royal Society« gleichfalls eine an einer wirtschaftsnahen Praxis orientierte neue Haltung demonstrierten. Theorie gilt nun weniger, »Herstellen können« nahezu alles4.

3 Zu den sozial- und ideengeschichtlichen Entwicklungen siehe auch: M. Schmutzer (2006). 4 Eine große Ausnahme bildet I. Newton, der seine »Principia« noch zum Zweck des höheren Lobes Gottes verfasste. Siehe dazu: Y.P. Murakami (1993).

494

industrialisierung

Industrialisierung Dieser Geist brachte im Lauf eines Jahrhunderts ein neues Bürgertum hervor, das nicht länger im zünftischen Handwerk, sondern zuerst in Manufakturen und schließlich im Fabriksystem verwurzelt war. Der renommierte amerikanische Soziologe T. Veblen (1904)5 charakterisiert die dadurch geschaffene neue Ordnung in wenigen Sätzen folgendermaßen: »The material framework of modern civilization is the industrial system, and the directing force which animates this framework is business enterprise. To a greater extent than any other known phase of culture, modern Christendom takes its complexion from its economic organization. This modern economic organization is the ›Capitalistic System‹ or ›Modern Industrial System,‹ so called. Its characteristic features, and at the same time the forces by virtue of which it dominates modern culture, are the machine process and investment for a profit.” (m.H., M.S.; T. Veblen, 1904, S.1).

In analoger Weise führt z.B. auch P. Duhem (1908; 1915) die rasante Ausbreitung dessen, was er als »englische Wissenschaft« bezeichnet, auf den wachsenden Einfluss der Industrialisierung und die dadurch zunehmende Übernahme ingenieurhaften Denkens zurück. Dieses Denken charakterisiert er durch eine Präferenz für mechanische oder algebraische Modelle anstelle rigider theoretischer Deduktionen und logischer Beweise als Erklärungsmuster. Die in der neuen Produktionsweise zur Wirkung kommenden Kräfte erforderten gänzlich andere Ordnungskonzepte als jene, die in der Zeit handwerklicher Produktion üblich waren. Die bereits von A. Smith propagierte maschinengemäße Ordnung massenhafter Produktion verlangte ja aufgrund ihrer detaillierten Arbeitsteilung nach exakten hierarchischen Befehls- und entsprechenden Kontrollstrukturen, wie dies im Handwerk aufgrund der Kleinheit der Unternehmen weder durchführbar noch sinnvoll gewesen wäre6. Kleine Betriebe mit direkten persönlichen Kontakten zu den Konsumenten müssen auf variable 5 Der Titel der Arbeit lautet »The Theory of Business Enterprise«. Die Bedeutung dieses »business enterprise« ist schwer ins Deutsche zu übertragen. Manchmal wird deshalb in deutschen Übersetzungen der englische Begriff beibehalten. 6 M. Weber (1922) bezeichnet den gleichen Vorgang als Übergang von »Leistungsspezifikation« zu »Leistungsspezialisierung«, womit er die Tatsache meint, dass bei handwerklicher Produktion der Herstellungsprozess eines Werkstückes zur Gänze von einem einzelnen Produzenten ohne Arbeitsteilung geleistet wurde.

495

epilog Anforderungen flexibel reagieren können7. Massenhafte Produktion, die, wie A. Smith (1776/1789) zeigte, erst maschinelle, mechanische Herstellung ökonomisch sinnvoll werden ließ, kann sich nicht länger den Wünschen der individuellen Konsumenten fügen, sondern muss umgekehrt diese Wünsche standardisieren. Aber nicht nur auf Wünsche kann nicht länger Rücksicht genommen werden. Vielmehr erfordert eine maschinengerechte Herstellung massenhafter Güter schlussendlich die durchgehende Standardisierung des gesamten Produktionsprozesses und Vertriebs. T. Veblen charakterisierte die Gesamtentwicklung umfassend, wenn er schreibt: »The machine process pervades the modern life and dominates it in a mechanical sense. Its dominance is seen in the enforcement of precise mechanical measurements and adjustment and the reduction of all manner of things, purposes and acts, necessities, conveniences, and amenities of life, to standard units.«

Und er setzt fort: A »[…] further bearing of the machine process upon the growth of culture [… is] the disciplinary effect which this movement for standardization and mechanical equivalence has upon the human material.« (m.H., M.S., T. Veblen, 1904, S. 141).

An dieser frühen Einschätzung der Gegebenheiten hat sich im Prinzip nichts Grundlegendes verändert8, sondern seit dem Einsatz von Computern nur noch weiter verschärft. Die »vierte industrielle Revolution«, in welcher wir uns zurzeit laut Wirtschaftsforschern befinden, wird diese Attribute zur vollen Wirkung bringen. Markante Indikatoren für diese Standardisierung »of the human material« liefert seit dem sogenannten »Bologna-Prozess« auch die anti-intellektuelle Ausrichtung der Lehre an den Universitäten9.

Ein neues Paradigma der Forschung Bei der Bewertung der Ergebnisse dieser Prozesse klaffen allerdings schon seit nahezu zwei Jahrhunderten die Meinungen diametral auseinander. Verständlicherweise befürworten alle jene diese Entwicklungen, 7 In der jüngeren Vergangenheit gewann diese Unterscheidung durch die Arbeiten von C.F. Sabel (1982) und seiner Gruppe erneut Bedeutung. 8 Als Beispiele für jüngere Arbeiten als jener von T. Veblen zum selben Thema nenne ich A.D. Chandler jr. (1977) oder M. RoeSmith (1985). 9 Siehe dazu: K.P. Liessmann (2006).

496

ein neues paradigma der forschung die – wie Industrielle, Techniker, Wirtschaftstreibende – davon profitieren. Auf der anderen Seite vertreten nicht nur tatsächliche oder potentielle Verlierer kritische Positionen, sondern zunehmend auch solche Personen, die mit den sogenannten »unintendierten« und übergangenen Folgen dieser Entwicklungen konfrontiert werden. Diese Folgewirkungen sind mannigfach, reichen sie doch von ökologischen über soziale und demokratiepolitische Auswirkungen bis tief in psychische Bereiche. Veblen analysierte jedoch die Wirkungen dieser Entwicklung auf unsere Kultur noch umfassender. Uns interessiert hier vorrangig jener Aspekt seiner Analysen, der bereits ein oder zwei Jahrzehnte, bevor er offensichtlich wurde, von Veblen antizipiert wurde. Die Rede ist von den Folgen dieses Wandels auf unsere Erkenntnisprozesse und die wissenschaftliche Arbeit. Bedingt, so argumentiert er, durch die rapide zunehmende Industrialisierung und die damit verbundene »Maschinisierung«, wie Veblen diesen Prozess noch bezeichnete, umfasst die dadurch zwangsläufig erforderliche Standardisierung immer weitere Bereiche. »Globalisierung«, wie wir heute diesen Prozess zu bezeichnen belieben, ist ein Resultat dieser Entwicklungen. Erst durch fortgesetzte Standardisierung werden immer umfassendere Netzwerke und Interdependenzen ermöglicht, die allerdings in ihrer wachsenden Komplexität nicht länger im Detail erfasst werden können. Andeutungsweise wurde dies bereits in Kapitel IX angesprochen. Diese weitläufigen, komplexen Prozesse konnten folglich nicht länger einer ausgeklügelt detaillierten Kontrolle unterworfen werden, wie sie im Rahmen handwerklicher Produktion möglich war. Damit ging aber zugleich die unmittelbare Erfahrung von Ursache und Wirkung, die ein Handwerker bei der Produktion seines eigenen Werkstücks unvermittelt machte und internalisierte, verloren. Wirkungen konnten nun mannigfache Ursachen haben, und Ursachen mannigfache Wirkungen zeitigen, die sich oft unmittelbarer Wahrnehmung und Kontrolle entzogen. Zugleich verlor die Herstellung und Qualität des einzelnen Stückguts an Bedeutung, denn bei den neuen Produktionsverfahren zählt nicht länger das einzelne Werkstück. Bedeutung hat nur noch die große Zahl. Es gilt also, diese große Zahl zu beherrschen, wobei einzelnen Ausschussstücken nicht länger Beachtung zuteilwird. Beherrscht werden muss in unserer heutigen Diktion die Wahrscheinlichkeit, dass der Ausschuss nicht überhandnimmt. Das bedingt nicht nur eine neue Einstellung zu Abfall und Verschleiß, sondern erfordert zusätzlich eine neue Methode und eine andere Art von Messung und Planung. Kurz gesagt, verlangt die neue massenhafte Produktion nicht länger exakte Beschreibungen einer Ursache und ihrer Wirkung, sondern benötigt vielmehr Wahrscheinlichkeitsaussagen, die nicht länger Ursachen 497

epilog und Wirkungen unterscheiden, weil sie irrelevant geworden sind10. Dasselbe in anderen Worten ausgedrückt besagt, dass die aus dieser neuen Produktionsweise herauswachsende neue Denkform mit Prozessen arbeitet und diese mittels Statistik und Wahrscheinlichkeitsverteilungen beschreibt.

Wahrscheinlichkeit und Statistik Ein kurzer Exkurs darüber, wie sich diese neue Denkweise entwickelte, scheint angebracht, denn anders als häufig vermutet wird, beginnt auch hier der historische Prozess nicht in der Physik, sondern in der Politik und den Sozialwissenschaften. Zwei sehr unterschiedliche Charaktere haben ungefähr zeitgleich den Anstoß gegeben. William Petty (1623–1687) und Blaise Pascal (1623–1662) haben aus grundsätzlich verschiedenen Interessenslagen das Rüstzeug dazu geliefert. Petty, dessen Biografie einen eher abenteuerlichen Zug aufweist, stand zunächst in den Diensten von Oliver Cromwell. Der studierte Arzt, der sich auch intensiv mit Mathematik befasste, erhielt in der Folge eines siegreichen Feldzugs nach Irland den Auftrag zur Landvermessung und Erstellung eines Katasters. Bei diesem sogenannten »Down Survey« stand der Wunsch im Hintergrund, das Produktionspotential des eroberten Landes zu erfassen. Dieser Aufgabe entledigte sich Petty mit Bravour, wobei er sich zugleich auch zum größten Landbesitzer Irlands machte. Nach der Rückkehr des englischen Königs James II. aus dem französischen Exil verstand es Petty, sich nach anfänglichen Schwierigkeiten auch den neuen Machthabern dienstbar zu machen. Er wirkte bei der Gründung der »Royal Society« mit und vertrat in diesem Rahmen eine klar empirizistisch-formallogische Position. Im Geist seiner früheren Arbeiten bei der Erstellung des Katasters propagierte er nun eine staatliche Politik, die sich auf empirische Erhebungen zumindest in allen wesentlichen innenpolitischen Bereichen stützen sollte. 1662 veröffentlichte er eine Abhandlung zur rationalen Organisation der Steuereinhebung11. Einige Jahre später verfasste er zwei Werke, die allerdings erst posthum 10 The technologist »[…] learns to think in terms of the process, rather than in terms of a productive cause and a product between which the process intervenes in such a manner as to afford a transition from one to the other. The process is always complex; always a delicately balanced interplay of forces that work blindly, insensibly, heedlessly; in which any appreciable deviation may forthwith count in a cumulative manner, the further consequences of which stand in no organic relation to the purpose for which the process has been set going.« (T. Veblen, 1904, S. 163). 11 »A Treatise on Taxes and Contributions«. Im selben Jahr erschien auch

498

ein neues paradigma der forschung veröffentlicht wurden. In diesen Arbeiten entwarf er ein Konzept, das gleichlautend mit dem Titel einer der beiden Publikationen eine »Politische Arithmetik« propagierte, die später in Deutschland »Staats-istik« bezeichnet wird. Dahinter steht die Vorstellung, dass Politik eben auf der Grundlage von empirischen Fakten zu betreiben sei. Nicht nur sollten, so wie bei der Steuereinhebung, die wirtschaftlichen Erträge der unterschiedlichen Unternehmen die Grundlage für politische Programme und Entscheidungen bilden. Darüber hinaus sollte auch etwa der Bedarf an Ärzten, Priestern, Studenten etc. empirisch erhoben werden und Ausgangsbasis politischer Entscheidungen werden. Petty schlägt unter anderem auch Methoden vor, wie der Wert des Geldes unter Kontrolle gehalten werden kann oder wie Bettler zu sinnvoller Arbeit im Straßenoder Kanalbau herangezogen werden müssten, anstatt sie mit Almosen abzuspeisen. Er vertrat demnach die Ideen des Positivismus bereits vor A. Comte in Frankreich. Ohne auf weitere Details einzugehen, wird deutlich, dass Petty ein Regierungskonzept vertritt, das auf statistischen Erhebungen und rationalen Entscheidungsregeln ruht. Zwar im selben Jahr geboren, lebte Blaise Pascal schon nicht mehr, als Petty seinen »Treatise« veröffentlichte. Es ist daher anzunehmen, dass die beiden voneinander nichts wussten. Pascals Interessen waren weniger pragmatisch als jene des Engländers. Als Zeitgenosse von R. Descartes, mit dem Pascal in Kontakt stand, waren seine Interessen vorwiegend theoretischer Art. Bekannt ist er vorrangig für seine theologischen Schriften und einige mathematische Erkenntnisse, wie etwa für das nach ihm benannte Dreieck zur Berechnung von Binominalkoeffizienten. Er beschäftigte sich auch mit aktuellen Problemen in der Physik und vertrat dort gleichfalls eine experimentell-empirische Position. Der größte Teil seines Lebens war mit Ausnahme einer vergleichsweise kurzen Phase eher einem zurückgezogenen Lebensstil verpflichtet. In diesen wenigen Jahren pflegte er aber den Umgang mit aristokratischen Kreisen in Paris, die bereits damals überwiegend dem »plaisir« zugeneigt waren. Eines dieser Vergnügungen bestand im Glückspiel, dem sich auch die damaligen Freunde Pascals gerne hingaben. Pascal seinerseits faszinierte scheinbar die theoretische Frage, wie wahrscheinlich das Auftreten von bestimmten zufälligen Ereignissen sei. Zusammen mit Pierre de Fermat, dem renommierten Mathematiker und Richter aus Toulouse, entwickelte er in der Folge die Wahrscheinlichkeitsrechnung, die zwangsläufig auch eine, wenn auch im Vergleich zu Pettys Projekten bescheidene Statistik benötigte, um vor allem Würfelspiele zu studieren. J. Graunt »Natural and Political Observations Made Upon the Bills of Mortality« (London, 1662).

499

epilog Das Roulettespiel, das manchmal als Erfindung Pascals betrachtet wird, scheint damals noch nicht dieselbe Popularität genossen zu haben wie im darauf folgenden Jahrhundert.

Die École Polytechnique Von diesen beiden Männern wurden also die Voraussetzungen geliefert, die ein Jahrhundert später von anderen französischen Mathematikern und leidenschaftlichen Vertretern der Aufklärung zu einem politischen Programm erhoben werden sollten. Dieses Programm verfolgte die Zielvorstellung, ein Staatsmodell zu entwerfen, das sowohl den notwen­digen Anforderungen staatlicher Ordnung wie auch jenen aufklärerischer, persönlicher Freiheit gerecht werden sollte. Deklarierte Proponenten dieses Ideals waren u.a. die französischen Enzyklopädisten und unter diesen der Mathematiker Marquis de Condorcet (1743–1794). Condorcet fusionierte die Wahrscheinlichkeitstheorie von Pascal mit den staatspolitischen Anliegen Pettys. Sein Interesse konzentrierte sich zunächst auf eine demokratiepolitisch bedeutsame Frage, nämlich wie Wahlsysteme beschaffen sein sollten. Mit einem 1785 publizierten Essay über die Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung bei Mehrheitsvoten12 setzte er den Beginn einer bedeutenden Entwicklung, an deren Ende die Gründung einer neuen Wissenschaft stand, nämlich der Soziologie. Darauf komme ich noch zurück. Zuvor muss aber darauf hingewiesen werden, dass sich Condorcet aus den gleichen demokratischen Überlegungen auch nachdrücklich für eine grundlegende Reform des französischen Bildungssystems einsetzte. Er war davon überzeugt, dass die gravierenden Klassenunterschiede in Frankreich ursächlich mit dem Bildungswesen zusammenhingen und folglich auch über eine Reform dieser Institutionen beseitigt werden könnten. Schulen, die allen zugänglich und unabhängig von Staat und Kirche ihre Bildungsarbeit leisten sollten, stellten demnach eine seiner Forderungen für die Verwirklichung einer »Nationalerziehung« dar, die auch in einer neuen Verfassung verankert werden sollte. Als Präsident der gesetzgebenden Nationalversammlung arbeitete Condorcet selbst an der Formulierung einer solchen Verfassung mit. Allerdings wurde diese aufgrund des Putsches der Jakobiner weder beschlossen noch fertiggestellt. Condorcet als Liberaler wurde nun selbst verfolgt. Er verschwand im Untergrund und starb unter nicht völlig geklärten Umständen 1794. Seine Ideen bezüglich einer Reform des Bildungssystems überlebten ihn jedoch. Ein Punkt dieses Programms war die 12 »Essai sur l’application de analyse à la probabilité des decisions rendues à la pluralité des voix«.

500

die école polytechnique Schaffung einer Art »Gegenuniversität«, der heute renommierten École Polytechnique in Paris. Deren Hauptanliegen war nicht die Ausbildung von Ingenieuren13, sondern die von Staatsbeamten neuer Prägung. Ein neuer Typus von Beamten sollte die Verwaltung übernehmen und nicht länger philosophierend unterschwellig die Politik eines autokratischen Herrschers betreiben, sondern konkrete öffentliche Projekte im neuen Geist rational administrieren und organisieren können. Es war folglich kein Zufall, dass die von einem Militäringenieur – Ch. Fourcroy – 1782 erfundenen »Organigramme« auch an der École gelehrt wurden. Das kann nicht überraschen, da Technik eher zum geringeren Teil aus materiellen Artefakten, sondern zuvorderst aus Plänen, Entwürfen und Planung besteht, deren Umsetzung Organisation und Organisationen einfordert14. Damit wird unmittelbar verständlich, weshalb Organisation von Anbeginn ein wesentlicher Bestandteil technischen Wissens und technischer Bildung war. Dieses Anliegen entsprach den Tätigkeiten vieler Ingenieure der damaligen Zeit, die zum guten Teil mit militärischen Aufgaben wie Festungsbau, Strassen- und Brückenbau in den sogenannten »Genietruppen« befasst waren, und zusätzlich auch unmittelbar militärische Aufgaben zu erfüllen hatten. Tatsache war ja, dass Frankreich im Krieg mit den umliegenden Staaten lag. Eine für damalige Zeiten neue und sehr bedeutende Idee war u.a., eine Volksarmee aufzustellen. Das bedeutete Krieg mit Männern zu führen, die militärisch unerfahren waren. Lazare Carnot15, ein Mitglied der École Polytechnique, bewältigte das gewaltige Projekt der Organisation der ersten Volksarmeen erfolgreich. Auch deshalb wurde Organisationsfragen an der École Polytechnique größte Aufmerksamkeit gewidmet.

Gründung einer neuen Wissenschaft an der École Polytechnique Es kann auch kaum überraschen, dass eine Idee, die von A. Smith vermutlich erstmalig formuliert wurde, dass nämlich aufgrund der Arbeits13 In Italien wurden anfänglich Kriegsbaumeister so bezeichnet. Das waren also Personen, die Festungsanlagen u.ä. entwarfen und bauten. Der militärische Konnex des Ingenieurwesens ließe sich auch an diversen anderen Beispielen demonstrieren. 14 Das galt damals genauso wie heute, nur betreiben heute Informatiker dieses Geschäft. 15 Er war der Vater von Sadi Carnot, dem Entdecker oder Erfinder des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik.

501

epilog teilung die menschliche Gesellschaft ein zusammenhängendes System darstelle und folglich einer Maschine vergleichbar sei, in Frankreich und insbesondere an der École Polytechnique mit Überzeugung aufgenommen wurde. Die von A. Smith propagierte maschinengemäße Organisation der Produktion machte eine straffe Arbeitsorganisation und Disziplin notwendig. Ihr Ziel war – durch die derart möglich und zugleich notwendig gewordene massenhafte Produktion von Gütern – der »Reichtum der Nationen«, wie schon der Titel seines berühmten Werks verkündet. Zahlreiche Interpreten von A. Smiths Werken kritisierten ihn, weil er widersprüchlich erscheint. Damit ist meistens der Widerspruch zwischen dem eigennützigen Denken der Produzenten in seinem Werk »Der Reichtum der Nationen« und dem altruistischen Handeln der Menschen in seiner »Theorie der ethischen Gefühle« gemeint. Ob diese Kritik berechtigt ist, bleibe dahingestellt. Aus der augenblicklichen Sicht erscheint ein anderer Widerspruch von größerem Interesse: auch bei seinen ökonomischen Überlegungen bedient er sich zweier sehr unterschiedlicher Modelle. Im Kontext der Fabrik spricht er von der Notwendigkeit strikter Arbeitsteilung und demgemäß von einer maschinenähnlichen, hierarchischen Organisationsstruktur. Im Bereich des Marktes bemüht er hingegen die Vorstellung eines sich selbstregulierenden Automaten, der – außer in Ausnahmefällen, wo eine unsichtbare Hand steuernd eingreift – wie eine Waage16 für Ausgleich auf beiden Seiten sorgt. Dieses Bild einer sich selbst regelnden Maschine entlehnte er von seinem Freund James Watt. Dieser hatte ja bei der Dampfmaschine mit dem Fliehkraftregler einen derartigen, selbstregelnden Automaten in die Welt gesetzt. In Frankreich faszinierte seit Pascals Tagen auch eine andere Maschine die Geister, nämlich das Roulette. Die französischen Mathematiker entwickelten die dazu passende Wahrscheinlichkeitsrechnung, wie oben schon angesprochen wurde. Diese Denkweise wurde auch an der École gepflegt. Dort waren viele der Professoren Mathematiker und dem Militär nahe stehend. Auch für sie galt es, zwei an und für sich widersprechende Prinzipien miteinander zu versöhnen. Straffe Organisation und Disziplin auf der einen Seite sollte mit den aufklärerischen Forderungen nach individueller Freiheit und Gleichheit in Einklang gebracht werden. Eine Lösung dafür boten die Gesetze der großen Zahl. Solange die große Zahl beherrschbar bleibt, kann Ordnung und Disziplin gewährleistet und zugleich individuelle Freiheit beibehalten werden. Die Gesetze der Wahrscheinlichkeit gestatteten, obige Widersprüche zu kalmieren.

16 Siehe dazu: O. Mayr (1976).

502

die école polytechnique Auguste Comte (1798–1857), seines Zeichens Mathematiker, Bewunderer von Condorcet und Professor an der École Polytechnique, arbeitete daran, solche Gesetzmäßigkeiten in der Gesellschaftsentwicklung aufzuzeigen. In der von ihm so benannten neuen positivistischen Wissenschaft der »Soziologie« bemühte er sich, in Anlehnung an die in der École dominierenden Naturwissenschaften auch in der Gesellschaft Gesetzmäßigkeiten zu entdecken, die in Anbetracht der rasanten gesellschaftlichen Entwicklungen eine neue Form der Verwaltung ermög­ lichen, Ordnung in der Gesellschaft gewährleisten und die Massen integrieren sollten. Es war, wie schon angedeutet, der vorrangige Zweck der neugegründeten Hochschule, eine neue Klasse von Staatsbeamten hervorzubringen, die sowohl gedanklich wie auch persönlich vom »Ancien Regime« abgehoben war. Im Gegensatz zu und in klarer Abhebung von den an den Universitäten humanistisch, juristisch und philosophisch ausgebildeten Beamten der früheren Epoche sollte diese neue Generation mathematisch und naturwissenschaftlich ausgerichtet sein. Ihr Denken sollte sich an den Gesetzen der Physik, der Wahrscheinlichkeit und Statistik und nicht länger an jenen rechtlicher Codices oder den Ideen der Philosophie orientieren. Folgerichtig wurden daher die Fächer der »Artes Liberales« – mit Ausnahme von Geometrie und Arithmetik – nicht länger unterrichtet. Diese Entscheidung ist aus den historischen Vorgaben der damaligen Zeit zu verstehen. Sie bewirkte allerdings zugleich das unglückliche Auseinandertriften der von C.P. Snow so bezeichneten »zwei Kulturen«17. A. Comte war sich allerdings der Tatsache bewusst, dass die wissenschaftliche Untersuchung der Gesellschaft nicht einfach wie eine andere Art von Physik betrieben werden konnte. Nichts desto weniger bezeichnete er die Soziologie trotzdem als »soziale Physik«, vermutlich um ihren wissenschaftlichen Status zu betonen, aber auch um auf die Notwendigkeit faktischer Erkenntnis und positiver Forschung zu verweisen. A. Quetelet, ein Schüler von P.-S. Laplace und J. Fourier an der École, verwendete diese Bezeichnung dann auch für sein umfangreiches Ouevre18. Comtes Antwort auf die Frage, wie Gesellschaft möglich ist, war demnach keine sachliche, sondern eine methodische. Wenn man wissen will, wie Gesellschaft möglich ist, so haben wir auch die Gesellschaft, so wie die Natur, faktisch zu erforschen. Auslöser für dieses neue Interesse und die Art, wie mit derartigen Fragen umgegangen werden könnte, war allerdings die gesellschaftliche Entwicklung selbst. Der heute gängige Terminus für die Gesamtheit dieser Entwicklungen ist »Moderne«. Mit diesem Begriff werden die 17 Siehe dazu: C.P. Snow (1959/1963). 18 Siehe dazu: A. Quetelet (1835, 1869).

503

epilog keineswegs parallelen, sondern ineinander verschränkten Prozesse von Industrialisierung, zunehmender Verwissenschaftlichung, Ökonomisierung, Urbanisierung und Demokratisierung vieler Bereiche bezeichnet. Genau diese verschränkten Prozesse prägten aber in der Folge auch nachhaltig die Betrachtungsweisen in der Physik und insbesondere in der Quantenphysik, deren Ausformulierung erst zwei Jahrzehnte nach Veröffentlichung von T. Veblens Theorie erfolgte.

Quantenphysik Der Zug der neuen Sichtweisen fuhr offenbar von London über Paris nach Wien. Dort studierte E. Schrödinger bei S.-F. Exner, und L. Boltzmann hielt zu dieser Zeit öffentliche Vorträge über seine Atomtheorien und die statistische Thermodynamik. Und Boltzmann übertrug die Ideen einer »sozialen Physik« in die Physik und formulierte mit deren Hilfe den zweiten Hauptsatz der Wärmelehre neu. Der radikale Wandel in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik fand seinen Widerhall in den Vorstellungswelten der Naturwissenschafter. Diesen milieubedingten Wandel und dessen Einfluss auf Denkmuster und Methodik in den Wissenschaften spricht E. Schrödinger expressis verbis an und aus. Für den Nobelpreisträger der Physik stellte sich folglich u.a. die Frage, »[…] ob die Aussagen der Naturwissenschaft Invarianten sind hin­ sichtlich des Kulturmilieus oder ob sie seiner als eines ›Bezugsystems‹ bedürfen und bei starkem Wechsel des Kulturmilieus wenn auch nicht gerade in den Details falsch werden, so doch ihren eigentlichen Sinn und ihr Interesse wesentlich verändern.« (m.H., M.S.; E. Schrödinger, 1932, S.55).

In Hinblick auf die zeitgenössische Wissenschaft, speziell die moderne Physik, ortet er fünf milieubedingte, der Gesamtkultur gemeinsame Züge (ibid., S. 43): »1. Das, was in der Kunst, besonders im Kunsthandwerk, aber auch anderswo als ›reine Sachlichkeit‹ bezeichnet wird. 2. Umsturzbedürfnis. Vorliebe für Freiheit und Gesetzlosigkeit. 3. Relativitätsgedanke – Invariantentheorie. 4. Methodik der Massenbeherrschung, teils durch rationelle Organisation, teils durch fabrikmäßige Vervielfältigung. 5. Statistik.«

E. Schrödinger diskutiert diese fünf Phänomene ausführlich. Der Kürze wegen konzentriere ich seine Darlegungen hier nur auf die letzten zwei Punkte. 504

quantenphysik Zu den Methoden der Massenbeherrschung rechnet Schrödinger alle Techniken, bürokratischen Verfahren, Regeln und Gesetze, die erlauben, mit zahlenmäßig großen Gesamtheiten – bestehen sie nun aus Menschen, Geräten oder Zahlen – unter endlichem Zeit- und Arbeitsaufwand fertig zu werden. Dazu zählt auch die Fähigkeit, den massenhaften Bedarf an Gütern durch die, wie er meint »eigenartige Methode der fabriksmäßigen Herstellung« zu befriedigen. Als »eigenartig« betrachtet er an dieser Methode das, was wir heute als »economies of scale« bezeichnen. Das heißt also die durch Massenproduktion geschaffene Möglichkeit, einen erstaunlichen Arbeitsaufwand bei der Entwicklung und Gestaltung von Produkten zu betreiben, der sich letztlich nur durch die gewaltige Zahl an Kopien ein und desselben Produkts nicht nur amortisiert, sondern sogar nennenswerte Profite ermöglicht. Zu den dafür verwendeten Verfahren zählt er auch die mathematische Analysis, die er als eine Aussageform charakterisiert, die gestattet, Kenntnisse so zu formulieren, dass sie »der ökonomischen«, »fabriksmäßigen Verwertung zugänglich« (ibid., S. 57) werden. Nicht weniger bedeutsam ist für ihn in diesem Gesamtkomplex die Statistik. Diese definiert er als ein Verfahren, das »einen weisen Verzicht auf Detailkenntnisse« (ibid., S.59) ermöglicht. »Weise« nennt er diese Vorgehensweise deshalb, weil erst durch diesen Verzicht auf Details »Schlüsse« ermöglicht werden, »die der Einzelbeobachtung schlechterdings unmöglich wären« (ibid., S.59). Erst dadurch wird eine präzise Formulierung von »physikalischen Durchschnittsgesetzen« ermöglicht, die zwar auf Aussagen über Einzelereignisse verzichten, dafür aber Massenphänomene erfassen und beschreiben können. Mit deren Hilfe soll, so meint der Nobellaureat abschließend, im »großen Durchschnitt ein erträgliches Zusammenleben gesichert sein« (ibid., S. 62). Damit übernimmt er, absichtlich oder zufällig, die Perspektive A. Comtes, des Begründers der Soziologie. Was Schrödinger damit gleichfalls anspricht, sind Aussagen, die sich in vergleichbarer Weise auch schon bei al-Farabi finden. Der weise Verzicht auf Details ist ja ein Charakteristikum jeder Abstraktion, auch wenn sich im 10. Jahrhundert dieser weniger um quantitative Größen als um Qualitäten drehte. Und das »erträgliche Zusammenleben« war, wie die vorausgehenden Kapitel reichlich belegen, das durchgängige Anliegen des »zweiten Lehrers« aus dem 10. Jahrhundert. Bei al-Farabi allerdings erleben wir die Transformation der aristokratischen Weltsicht platonisch-aristotelischer Provenienz in eine, die der Praxis der islamisierten Völker besser entsprach. Im Fall der von Schrödinger analysierten Entwicklungen wurden umgekehrt diese handwerklichen Voraussetzungen aufgegeben und an eine neu geschaffene Massenkultur mit industriellen Organisationsformen angepasst. 505

epilog Beide, Schrödinger und al-Farabi, sind sich des Umstands bewusst, dass sie mit ihren Sichtweisen auf massiven Widerstand vonseiten des jeweiligen Denkhegemons stoßen. Beide verfahren daher ähnlich defensiv und vorsichtig argumentierend, wie es etwa auch ein Galilei im Angesicht der römischen Kirche praktizierte.

Vorwärts zu Aristoteles Verweilen wir aber noch kurz bei der Quantenphysik, die anfänglich selbst zwei mehr oder weniger unvereinbare Ansätze entwickelt hat. Parallel zu Schrödingers Wellenmechanik wurde ja von W. Heisenberg die Quantenmechanik entwickelt. Auch diese bricht mit tradierten physikalischen Vorstellungen. Deren »[…] ungeheure philosophische Bedeutung […] liegt darin, dass sie den Begriff der objektiven, und in diesem Sinne ontologischen Po­ tentialität [M.S.: d.h. teleologische Kausalität] der Aristotelischen Physik mit dem Begriff der mechanischen Ursächlichkeit in der modernen Physik in Übereinstimmung bringt.« (m.H., M.S.; F.S.C. Northrop, 1959, S. 188),

schreibt F.S.C. Northrop in einem Nachwort zu Heisenbergs »Physik und Philosophie«. Diese Beurteilung einer neuen physikalischen Theorie durch einen renommierten Physiker ist aus unserer Sicht schon allein deshalb bemerkenswert, weil sich damit eine Rehabilitierung der über lange Zeit diskreditierten teleologischen Kausalität ankündigt. Wie weit sich dieser Schritt aus den von Schrödinger genannten milieuspezifischen Entwicklungen ergab, soll an dieser Stelle unbeantwortet bleiben. P. Forman (1971) brachte dazu zahlreiche Argumente, die diese Sicht stützen würden. J. Hendry (1980) hingegen erachtet diese Argumente als nicht ausreichend. Dass sich zur fraglichen Zeit in Europa eine oligarchische und autoritäre Tendenz ausbreitete, die der aristotelischen elitären Sicht nahekam, bleibt unbestritten, auch wenn beide, Schrödinger und Forman, eher auf die chaotische Seite dieser Umbruchsphase hinweisen. Festhalten sollte man hingegen eine weitere Folgerung aus der Quantentheorie von Northrop, die lautet: »[…] die Physik [ist] weder erkenntnistheoretisch noch ontologisch neutral«(F.S.C. Northrop, 1959, S. 196). Das ist letztlich gleichbedeutend mit einer Feststellung, dass sie Partei ergreift. Northrop unterschlägt die Folgerungen daraus nicht, sondern konstatiert konsequent:

506

quantenphysik »Zweifellos haben Potentialität und die schwächere Form der Kausalität auch für zahllose andere menschliche Merkmale Gültigkeit […]«

und folgert, damit könnte unter Umständen auch »[…] eine Lösung für ein verwirrendes wissenschaftliches, philosophisches und sogar moralisches Problem gefunden werden. Dieses Problem ist: wie kann die mechanische Ursächlichkeit der Quanten­ mechanik, selbst in ihrer schwächeren Form, mit der teleologischen Ursächlichkeit in Übereinstimmung gebracht werden, die in den mo­ ralischen, politischen und rechtlichen Absichten des Menschen und in der teleologischen kausalen Bestimmung seines physischen Verhaltens offenkundig vorhanden ist? Mit anderen Worten, wie lässt sich die in diesem Buch von Heisenberg dargelegte Physik mit den moralischen, politischen und juristischen Wissenschaften und Philo­ sophie vereinbaren?« (m.H., M.S.; F.S.C. Northrop, 1959, S. 191).

Damit sind wir einmal mehr an jenem Punkt angekommen, von dem wir am Beginn des Epilogs ausgegangen sind. Die grundlegende Frage al-Farabis nach dem Zusammenhang von Philosophie, Wissenschaft und Politik stellt sich erneut. Deutlich wird, dass die Trennung von Politik und Wissenschaft, die am Beginn der englischen Aufklärung bei der Gründung der »Royal Society« von dortigen Gelehrten gegenüber dem neuen Herrscher akzeptiert wurde, nicht praktikabel ist. Politik kommt wie »der religiöse Glaube, der bei der Tür hinausgejagt wurde, als Gespenst immer wieder durch das Fenster« zurück. Zugleich muss wohl auch zur Kenntnis genommen werden, dass der bloße Glaube an die Allmacht der Vernunft, wie er in der französischen Aufklärung entwickelt wurde, zumindest doch auf einem Auge blind ist. Empirischer Rationalismus allein reicht nicht. Deshalb schreibt W. Heisenberg (1959): »[…] wir müssen uns daran erinnern, dass das, was wir beobachten, nicht die Natur selbst ist, sondern Natur, die unserer Art der Frage­ stellung ausgesetzt ist. Unsere wissenschaftliche Arbeit in der Physik besteht darin, Fragen über die Natur zu stellen, in der Sprache, die wir besitzen, und zu versuchen, eine Antwort zu erhalten durch Experimente, die wir mit den Mitteln ausführen, die zu unserer Ver­ fügung stehen. […] Es ist verständlich, dass in unserer wissenschaftlichen Beziehung zur Natur unsre eigene Tätigkeit dort sehr wichtig wird, wo wir es mit Teilen der Natur zu tun bekommen, in die wir nur durch die kompliziertesten technischen Hilfsmittel eindringen können.« (m.H., M.S.; W. Heisenberg, 1959, S. 40).

507

epilog

Was können wir aus all dem lernen? Es ist lehrreich, den Meistern der Quantenphysik zuzuhören. Ihnen war vollkommen klar, dass sie sich auf einem Konfrontationskurs mit den damaligen Denkhegemonen bewegten. Ähnlich wie Archimedes, al-Kindi, al-Farabi oder Ibn al-Haytham bemühten sie sich vor- und umsichtig, die in Stein gemeißelten Dogmen mit den Waffen, die ihnen die Philosophie zur Verfügung stellt, scheibchenweise abzutragen. Ganz ähnlich verfuhren auch spätere »Ikonoklasten«, zu denen ich Namen wie N. Kopernikus oder G. Galilei zähle. Es erweist sich anhand solcher Beispiele, dass die aufklärerisch revolutionäre Programmatik, die die Philosophie aus den modernen Universitäten verbannte, unklug war. Heisenberg betont, wie oben gezeigt wurde, die Bedeutung der Sprache für unser Denken auch im Umgang mit der Natur. Wieviel mehr Bedeutung kommt ihr erst im Umgang mit unseren Mitmenschen zu? Auseinandersetzungen mit den Wächtern »normaler Wissenschaften«19 lassen sich nicht nur mit dem Vorweisen sogenannter empirischer Fakten gewinnen. Nicht anders als zur Zeit der Kalifen müssen diese in Worte verpackt werden, denn Fakten alleine beweisen nichts, wie wir schon weiter vorne feststellen mussten. Der gekonnte Umgang mit Worten muss aber erlernt und gelehrt werden. Doch gerade diese Kunst, die im sogenannten »Trivium« universitärer Ausbildung vermittelt wurde, haben die rationalistischen Aufklärer aus den Curricula verbannt. Die erste Lektion aus unseren Reflexionen wäre also, dass die Ausbildungsprogramme der französischen Aufklärer, wie sie exemplarisch an der École Polytechnique entwickelt und bedenkenlos in weiten Teilen Europas übernommen wurden, grundlegend reformiert gehören. Auch hier könnte »cum grano salis« gelten: Vorwärts zu Aristoteles! Das ließe sich dann auch so interpretieren, dass wir Europäer des 21. Jahrhunderts von den Kalifen des 8. Jahrhunderts, die damals diesen Weg beschritten hatten, einiges lernen könnten.

Politische und intellektuelle Hegemonie Es war der amerikanische Präsident und General Dwight D. Eisenhower, der als Erster die Phrase vom »militärisch-industriellen Komplex« prägte. Nicht viel später wurde diese Formel auf »militärisch-industriell-akademischer Komplex« ergänzt. Nimmt man der Einfachheit halber idealisierend an, dass die Machtverteilung innerhalb dieses Komplexes annähernd egalitär ist – was den 19 Ich erinnere an die Terminologie T.S. Kuhns.

508

was können wir aus all dem lernen? tatsächlichen Gegebenheiten keineswegs entspricht –, so muss selbst unter dieser realitätsfernen Hypothese geschlossen werden, dass Militär und Industrie einen beträchtlichen Einfluss auf den intellektuellen Denkhegemon ausüben können und dies auch tatsächlich tun. Da militärische Interessen im Allgemeinen von einem weiten Mantel der Geheimhaltung umhüllt werden, begnüge ich mich im Augenblick mit der Feststellung, dass der Einfluss auf den Denkhegemon von dieser Seite beträchtlich sein muss, wobei nicht vergessen werden sollte, dass er zusätzlich auch indirekt über die industrielle Schiene wirksam wird. Konzentrieren will ich daher meine Argumentation auf die industrielle Komponente, die in Europa nicht im selben Ausmaß wie jenseits des großen Teichs vom Militär dominiert wird. Zunächst erinnere ich nochmals an obiges Zitat von T. Veblen, wo er das moderne Wirtschaftssystem pointiert charakterisiert: »This modern economic organization is the ›Capitalistic System‹ or ›Modern Industrial System,‹ so called. Its characteristic features, and at the same time the forces by virtue of which it dominates modern culture, are the machine process and investment for a profit.« (T. Veblen, 1904, S.1).

Die Auswirkungen der »Maschinisierung«, die sich in einem nicht einzuschränkenden Bedarf an Standardisierung manifestieren, wurden oben bereits in groben Zügen angesprochen. Dass die gleiche, konservativierende und innovationsfeindliche Tendenz auch in der Ausbildung Fuß fasste, wurde ebenfalls angedeutet. Folglich sollte nun die Aufmerksamkeit nur auf den letzten Aspekt, den der Profitgewinnung, gelenkt werden. Es ist bemerkenswert, dass T. Veblen in seiner bereits 1904 publizierten Analyse von Wirtschaftsunternehmen (»Business Enterprise«) zu Ergebnissen kommt, die damals in dieser Deutlichkeit noch gar nicht vorlagen. So betont er etwa, dass ein manifestes Interesse der großen Unternehmen an Rüstung besteht. Eisenhowers Feststellung wurde also mehr als fünfzig Jahre davor von ihm bereits registriert. Dieses Interesse ist laut Veblen nicht nur darin begründet, dass sich militärische Kapazitäten positiv auf die Einhaltung von Verträgen zwischen Geschäftspartnern in »zivilisierten« Ländern auswirken. Sie begünstigen auch die Aufrechterhaltung von Unternehmen und Handelsprivilegien in abgelegenen Gebieten. Ein kriegsähnliches Auftreten und die Zurschaustellung von Waffen seien daher Teil eines regulären Geschäftsverhaltenskodex geworden. Enge Kontakte zwischen Wirtschaftsunternehmen und Militär seien daher gleichfalls die Regel. Daraus folgt, dass im großen internationalen Spiel um Absatzmärkte die Demonstration militärischer Stärke wesentlicher Bestandteil kompetitiver Wirtschafts- und Handelspolitik wurde. Auf ein weiteres erfreuliches Ergebnis für die 509

epilog Unternehmen weist T. Veblen auch schon hin. Bei derartigem Rüstungswettbewerb können Unternehmen fraglos selbst große Profite machen, die letztlich von der Allgemeinheit bezahlt werden und – so meint er weiter – zu wirtschaftlicher Erschöpfung sowie zu Wirtschaftskrisen20 führen müssen. Da das moderne Industriesystem und dessen Management in den Händen von Geschäftsleuten liegt, deren Ziel Profitmaximierung ist, produziert dieses System noch weitere Effekte, die gleichfalls nicht im Interesse der »res publica« liegen. Zentrales Anliegen industrieller Produktion ist, einen Ausstoß an Waren zu produzieren, der sich am Markt verkaufen lässt. Die Produkte müssen sich demnach in Geldwerte umwandeln lassen. Das steht in klarem Gegensatz zu früheren Wirtschaftsmodellen, wo zentraler Antrieb wirtschaftlichen Handelns das Motiv war, den eigenen Lebensunterhalt und den der Gemeinschaft zu sichern. Sobald aber Profit zur Handlungsmaxime erhoben wurde, und nicht länger ein erfüllendes Leben, wurde die Steigerung des Umsatzes verkaufbarer Güter ausschlaggebender Zweck der Produktion. Diese Steigerung wurde durch Maschinisierung ermöglicht und führte unausweichlich zur Standardisierung solcher Produkte. Ein großer Umsatz standardisierter Produkte erforderte seinerseits auch die Standardisierung der Erwartungen potentieller Konsumenten. Das geschieht durch »Marketing«, wie dieser Vorgang heute bezeichnet wird. Eine Triebkraft zur Vermarktung einer größtmöglichen Zahl von Gütern an eine größtmögliche Zahl von Konsumenten ist das, was Veblen in einer früheren Arbeit21 untersucht und analysiert hat: »conspicuous comsumption«, zu Deutsch »aufwändiger Konsum«. Die Notwendigkeit für einen solchen Aufwand ergibt sich aus den Lebensbedingungen einer hochgradig individualisierten Gesellschaft, wie das in Amerika im Unterschied zum damaligen Europa bereits im 19. Jahrhundert der Fall war. Dort, wo es keinen sozialen Status aufgrund von Zugehörigkeit zu bestimmten gesellschaftlichen Gruppierungen gibt, ist jeder Mensch genötigt, im Rahmen seiner öffentlichen Auftritte in Erscheinung zu treten, sodass er oder sie in der Anonymität der Masse überhaupt wahrgenommen werden kann. Das erreicht man über sel20 Doch sogar Wirtschaftskrisen würden Unternehmen zum Vorteil gereichen, denn Krisen beflügeln nicht nur den Wettbewerb, den Unternehmen entgegen anders lautender Beteuerungen nicht wirklich »lieben«, sondern katapultieren zumindest einige Konkurrenten aus dem Spiel. Das lässt die Überlebenden einem anderen Ziel näherkommen, welches eben nicht »freier Wettbewerb« ist, sondern »Monopole« sind (siehe dazu: T. Veblen, 1904). 21 Siehe dazu: T. Veblen (1899).

510

von al-farabi lernen?! tene Signale, die Aufmerksamkeit erzeugen. Um allerdings über solche Signale verfügen zu können und sie mit eindeutigen Inhalten zu füllen, wurde eine eigene Industrie entwickelt, die Werbung. Diese Branche betitelt Veblen schlicht als »parasitäre Industrie« – auch hier sieht er die Gegebenheiten unter einem ähnlichen Blickwinkel wie bereits al-Farabi. Wir können zusammenfassen: Ergebnis des gesamten Prozesses ist eine hochentwickelte, expansive Wirtschaft, deren Basis die Produktion von Abfall und deren Motor eine allgemeine Entfremdung der Mitglieder der Gesellschaft ist. Da Profit, anders als Hunger oder Durst, keine Sättigungsgrenzen kennt, expandiert dieses System über alle Grenzen, wie dies bereits A. Smith als Weg zum Reichtum der Nationen propagiert hat. Ironie der gesamten Entwicklungen ist der Umstand, dass die Produktion von überwiegend nutzlosen Gütern, die Berge von Müll und anderen Abfällen in Atmosphäre, Stratosphäre und den Ozeanen hervorbringt, trotzdem als »ultima ratio« dargestellt wird. Die Aufrechterhaltung dieses Systems wird zur Grundvoraussetzung für die weitere Existenz und zur alternativlosen Überlebensbedingung der Menschheit stilisiert. Damit wären wir einmal mehr an einem Punkt angekommen, wo wir uns an die Lehren des »zweiten Lehrers«, al-Farabi, erinnern sollten.

Von al-Farabi lernen?! Im letzten Kapitel wurde gezeigt, wie unterschiedliche Erziehungssysteme Kulturen schaffen und festigen. Die spartanische Agoge vermittelte die Werte der spartanischen Aristokratie und deren »spartanischer« Kultur, die athenische Paideia jene der Demokraten. Römische Erziehung tradierte deren nutzensorientierte, bäuerlich-militärische Lebenshaltung, und Platon schuf die theorielastige Abgehobenheit seiner Akademiker. Diese Beispiele aus der Geschichte verdeutlichen auf einen Blick, dass Erziehungssysteme aus der Interessenslage der herrschenden Gruppen konzipiert werden. Wenn auch heute Programme favorisiert werden, die den Geist der französischen École Polytechnique propagieren und deshalb die sogenannten MINT-Fächer22 zum pädagogischen Paradigma aller Bildung erheben, dann stehen dahinter so wie anno dazumal die Interessen des militärisch-industriellen Komplexes, der sich den schulisch-akademischen Bereich global schon längst »gefügig« gemacht hat. 22 MINT steht für: Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik. Das ist eines von jenen werbewirksamen »Apronymen«, die die dahinter stehenden Tatsachen dem naiven Blick verschleiern und zugleich schmackhaft machen sollen.

511

epilog Dem kulturellen Umbruch, der durch die neuen Produktionsweisen bewirkt wurde, müsste in Anbetracht der »unintendierten« Folgen eine neue Denkweise entgegengesetzt werden. Das wird sich nur durch ein neuartiges Ausbildungssystem erreichen lassen, das die Unterlassungen einer einseitig ausgerichteten Aufklärung korrigiert. Zwar könnte man meinen, dass al-Farabi Ähnliches23 wie Platon propagierte, wenn er darauf bestand, dass der ideale Staat seine Bürger zu Philosophen auszubilden hätte. Doch unser arabischer Denker war trotz aller seiner Bewunderung für Platon und Aristoteles kein Adept der beiden. Er war Pragmatiker24. Folglich meinte er eine praxisbezogene Philosophie, wenn er Philosophie als Ausbildungsziel propagierte. Er war sich der Ungleichartigkeit der Menschen bei der gleichzeitigen Notwendigkeit staatsbürgerlicher Gleichheit innerhalb des favorisierten politischen Rahmens voll bewusst. Ungleichartigkeit wurzelt vor allem, damals wie heute, in den verschiedenen Lebenssituationen der Menschen und deren Milieus sowie den dadurch bestimmten Interessenslagen. Interessenslagen bestimmen folglich auch die dazugehörende »Lebens-Philosophie«. Diese wird zusätzlich, mithilfe von adäquaten Bildungsinhalten, in den Schulen fixiert. Bei aller Unterschiedlichkeit der Interessen müssen Bürger in al-Farabis »idealem Staat« anders als in der platonischen »Politeia« auf politische Gleichheit und Gleichberechtigung aller Bedacht nehmen25. Dies muss ihr oberstes gemeinsames Interesse sein, weil jede andere Form des Zusammenlebens Disharmonie und Unglück schaffen bzw. »Glückseligkeit« verhindern würde. Deshalb, um diese Egalität erreichen zu können, müssen Menschen zu »Philosophen« erzogen werden. Sie müssen z.B. dazu erzogen werden, eine kollektive Entscheidung auf der Basis eines festgelegten Verfahrens auch dann zu akzeptieren, wenn diese Entscheidung gegen ihre Interessen ausfällt. Gleichheit und Demokratie sind nur mithilfe von freiwilligem Verzicht – etwa auf das »Recht des Stärkeren« – bei ähnlichen politischen Entscheidungen zu erreichen. Es muss also ein Maß gefunden und vermittelt werden, das einer unbegrenzten Expansion die fehlenden Grenzen vorgibt26. 23 Siehe dazu eine zusammenfassende Darstellung von al-Farabis verstreuten pädagogischen Konzepten in: A. Al-Talbi (1993). 24 Platon »[…] did not pay any special importance to observation and experiment, for his was a world of ideas, not objects, while al-Farabi is quite concerned with practical aspects of each one of the mathematical sciences« (A. Al-Talbi, 1993, S. 363). 25 Zur Erinnerung: Die Gleichheit der Ungleichartigen ist die Voraussetzung für die Konstituierung eines Ganzen (O. Brunner, 1968). 26 A »[…] character is admirable when its actions are marked by moderation.« (A. Al-Talbi, 1993, S. 359).

512

von al-farabi lernen?! Zusätzlich muss jene Zielvorgabe, die die von al-Farabi als »ignorant« bezeichneten Politiker bzw. Veblens »Wirtschaftskapitäne« zur Maxime erhoben haben, eliminiert werden. Nicht demonstrativer Konsum, sondern freiwilliger Verzicht auf »unnotwendige Güter« schafft Gleichmut, Gleichheit und Frieden, oder jene »Harmonia«, die von den vorsokratischen Griechen angestrebt wurde. Dieser Gleichmut löst gleichzeitig viele Verteilungsfragen, deren unbefriedigende Lösungen wiederkehrend Auslöser für interne Konflikte sind. Gleichmut27 ist zugleich eine wesentliche Voraussetzung für die Überlebensfähigkeit jeder Demokratie und ebenso Inbegriff jeder praxisbezogenen Philosophie – und somit auch deren Zielvorgabe. Die Kategorisierungen der »politisch irregeleiteten Systeme« al-Farabis lassen sich unschwer auf unsere eigenen gesellschaftlichen Systeme übertragen. Maßgebende Politiker solcher Systeme bezeichnete al-Farabi – wie wir im vorigen Kapitel schon gesehen haben – als »eigensüchtig« und »fehlgeleitet«28. Veblen dürfte auch hier zustimmen. In unserem heutigen Denkmodus, der bereits von A. Smith29, B. Mandeville30 oder J. Bentham31 propagiert wurde, stellt solches Verhalten eher die Norm dar. Dieses realisierte sich in dem von Veblen als charakteristisch bezeichneten »Streben nach Profit«. Alpharabius32 würde in Abhebung dazu meinen, dass es hingegen das zentrale Anliegen redlicher Politiker sein müsste, den von ihnen geleiteten Menschen Lebenssinn und Glückseligkeit zu verschaffen. Lebensglück lässt sich allerdings nicht durch mehr Konsum unnötiger Güter erreichen, und folglich auch nicht durch »mehr Wachstum«, wie heute von jenen propagiert wird, die die Interessen des »militärisch-industriellen Komplexes« umsetzen sollen. Auf die Schalheit und Sinnlosigkeit »aufwendigen Konsums« (conspicuous consumption) hat auch T. Veblen in seiner Arbeit über die »Fei27 Solcher »Gleichmut« wird unter verschiedensten Bezeichnungen von Stoikern und Epikureern, Taoisten und Buddhisten und vielen anderen philosophischen Richtungen zu ihrer eigenen Maxime erhoben. 28 Er scheut sich auch nicht, sie schlicht als »betrügerisch« zu qualifizieren. Dass diese Titulierung auch in unsere Zeit passt, belegt der Umstand, dass just an dem Tag, wo ich diese Zeilen schreibe, ein ehemaliger österreichischer Bundesminister und EU-Abgeordneter zu drei Jahren Haft wegen Bestechlichkeit verurteilt wurde – ähnliche Fälle sind noch anhängig. 29 Wie schon erwähnt, widerspricht sich A. Smith diesbezüglich selbst. 30 Siehe dazu: B. Mandeville (1704). Mandeville propagierte in seiner berühmten »Bienenfabel« die sozio-ökonomischen Vorteile einer allgemein verbreiteten lasterhaften und ausschweifenden Lebensführung. A. Smith ließ sich davon bei seinen ökonomischen Konzepten wesentlich beeinflussen. 31 Siehe dazu: J. Bentham (1781). 32 Das ist sein Name im latinisierten Abendland.

513

epilog nen Leute«33 mit Nachdruck hingewiesen. Und er blieb nicht der Einzige. Zugleich zeigte er aber auch den systembedingten Zusammenhang dieser Attituden mit dem vorherrschenden industriellen Produktionssystem auf und charakterisierte dies als Grundmuster heutiger westlicher Zivilisation. Im Unterschied zu A. Smith interpretierte er dieses Muster als anhaltenden Konflikt zwischen egoistischen Einzelinteressen, die auch bewusst in den vorherrschenden Erziehungssystemen kultiviert werden, und gesellschaftlich sinnvoller Betätigung, die eben nicht ohne Verzicht auskommen kann und die seit den Ausbildungsreformen im 19. Jahrhundert nicht länger Teil der Erziehungsprogramme ist. Die heutige Politik sollte hingegen vorrangig darum bemüht sein, dass sich in den Köpfen aller, insbesondere aber der Jugend, andere Präferenzordnungen entwickeln. Dass dies möglich wäre, lehren uns die oben besprochenen Beispiele aus der Antike. Diese Form von Bildung liegt jedoch nicht länger in deren Interesse. Aktuell bestätigt dies ein Bericht der OECD, wo festgestellt wird, dass heute 20% der erwerbstätigen Bevölkerung unter psychischen Problemen leiden. Im Geist der Zeit »irregeleiteter« Politik bleibt nicht unerwähnt, dass sich – nur für Österreich – daraus ein volkswirtschaftlicher Schaden in der Höhe von 11,8 Mrd. Euro pro Jahr ergibt. »It is the economy, stupid«34, die leidet, also eine Realabstraktion, und nicht die ca. zwei Millionen realer Menschen allein in diesem kleinen Land. Deshalb sollten auch politische Maßnahmen gesetzt werden! Eine Schlüsselrolle bei der Bekämpfung dieser Malaise komme Schulen zu, denn »mehr als die Hälfte aller psychischen Erkrankungen gingen auf die Kindheit und die Jugend zurück. Empfohlen werden daher Investitionen in Schulprogramme für psychische Gesundheit und entsprechend qualifizierte Fachkräfte.«35 Alternative Programme würden allerdings eine grundlegend andere Ausrichtung unserer heutigen Bildungsstätten und eben tiefgreifende pädagogische Reformen verlangen. Eine erste bescheidene Möglichkeit, in diese Richtung zu wirken, sehe ich darin, zumindest die Inhalte des früheren Triviums mit ähnlicher Intensität an allen Bildungseinrichtungen anzubieten wie jene, die die Vollendung persönlichen Glücks in aufwendigem Konsum propagieren. Um aber umgekehrt schlussendlich zu verstehen, warum stattdessen gerade der Kenntnis von Mathematik und Naturwissenschaften36 in der heutigen Bildungspolitik höchste Priorität auf Kosten anderer Inhalte 33 Siehe dazu: T. Veblen (1899). 34 Angeblich ein Zitat nach dem amerikanischen Präsidenten B. Clinton. 35 Siehe dazu: Der STANDARD, 6. März 2015, S.19. 36 Anzumerken wäre, dass al-Farabi diese zwei keineswegs geringschätzte, sondern ihnen gleichfalls einen hohen Bildungswert attestierte.

514

von al-farabi lernen?! eingeräumt wird, dafür scheint eine weitere, kurze historische Analyse hilfreich.

Produktion unwichtiger Güter Die heute dominante industrielle Produktionsweise vorrangig unwichtiger Güter erfordert einen abstrakten Zugang, so lautet eine breit akzeptierte Prämisse. Lust und Freude, und damit das Glück, das das eigenständige Herstellen von Gütern und Erkenntnissen aufgrund eigener Erfahrung37 bereiten kann, wird andererseits genau dadurch in die Vergessenheit gedrängt. Dominante Quelle von Lebenssinn und Glück bestehe unter den heute dominanten Vorgaben eben einzig im Verzehr und Konsum von nicht-notwendigen Gütern, die systematisch aller eigenwilligen Qualität beraubt38 werden und deren gesteigerter Lustgewinn nur mehr mit quantitativen Kennzahlen erfasst wird: mehr ist zugleich besser. Arbeit wird hingegen in christlich-platonischer und alttestamentarischer Tradition überwiegend als Strafe39 und nicht als schöpferische Tätigkeit betrachtet. Dass der »Strafcharakter« von Arbeit Ergebnis eben jener Entwicklungen ist, zu denen die in der Ausbildung favorisierten Natur- und Technikwissenschaften wesentlich beigetragen haben, bleibt unausgesprochen. Die heutige Variante der Naturwissenschaft entstand unter der Parole eines vorgeblichen Fortschritts. Diese Vorstellung als Leitmotiv wurde ihrerseits wieder von einer Gruppe bekannt geldgieriger Politiker und Akademiker des 17. Jahrhunderts propagiert. Fortschritt bedeutete im Sinn dieser Gruppe, die sich als »Baconier«40 bezeichneten, Akkumu37 Den Rückgewinn dieser Glück und Zufriedenheit bringenden Betätigungen fordert aktuell u.a. jene Bewegung ein, die als »Citizen Science« bezeichnet wird. Siehe dazu: P. Finke (2014). 38 »[…] a sweeping standardization in the means by which the machine process works, as well as in the products which it turns out […] ›Local color‹ it is said, is falling into abeyance in modern life, and where it is still found it tends to assert itself in units of the standard gauge.« (m.H., M.S.; T. Veblen, 1904, S. 4/5). 39 Keineswegs grundlos bezeichnete F. Nietzsche (1885) das Christentum als »Platonismus für das Volk.« 40 »Baconier« sind die Anhänger der Philosophie des Francis Bacon, die seit dem 17. Jahrhundert in Europa Verbreitung fand und auch heute noch wirksam ist. Zu betonen wäre, dass jener oft bewunderte »RenaissanceMensch« Bacon nicht nur ein diesem Geist der Renaissance auch entsprechender Machtpolitiker war, sondern zugleich einer der wichtigsten Förderer des damals im Entstehen begriffenen Absolutismus. Er war u.a.

515

epilog lation von Reichtum. Dieses Dogma wurde von Adam Smith ein Jahrhundert später im Titel seines bekanntesten Werkes »The Wealth of Nations«41 zur allgemeingültigen Doktrin erhoben. Der angepeilte Reichtum war und ist allerdings überwiegend das Produkt sinnentleerter Fabriksarbeit, wie dies A. Smith im letzten Buch des oben zitierten Werkes unumwunden zugibt. Trotz dieser seiner eigenen Einsicht propagierte A. Smith jene Produktionsmethode, die eben beides schafft: Reichtum für einige »ignorante« Entscheidungsträger und Unternehmer42, Sinn entleerte Arbeit für die Mehrheit. Die von Mandeville und Smith vertretene Annahme, dass die Befriedigung dieser selbstsüchtigen Motive zugleich auch den Wohlstand aller bewirkt, hat sich durch die Geschichte als widerlegt erwiesen. Zehn und noch vielmehr Prozent Arbeitslose sprechen eine deutliche Sprache und fordern ein radikales Umdenken ein. Der Arbeitsmangel wird auch nicht durch intensivierte Bildung und lebenslanges Lernen behoben werden. Die fortgesetzte »Maschinisierung« – ich bleibe bei Veblens Wortwahl auch im Zeitalter einer vierten industriellen Revolution – wird nur mehr »gebildete« Arbeitslose schaffen.

Disziplinierung und Standardisierung Im historischen Prozess dieser damit initiierten Umgestaltung der Produktion spielen, wie T. Veblen schon sagte, Maschinen eine hervor­ ragende Rolle43. Schon A. Smith ließ daran keinen Zweifel. Solche Maschinen wurden in riesigen »black boxes«44 angesiedelt, die man zuerst »Manufakturen«, bald darauf »Fabriken« nannte. Deren wachsende Dominanz verlangte jedoch im Produktionsprozess zusätzlich eine ständig steigende Assimilierung der Menschen an diese Maschinen. In auch derjenige, der den merkantilen Gedanken von »Profit« an die Stelle von »Lebensunterhalt« setzte. 41 Siehe dazu: A. Smith (1776/1789). Bezeichnenderweise wird in manchen deutschen Übersetzungen »Wealth« mit »Wohlstand« und nicht mit »Reichtum« übersetzt. Damit wurden dem Tiger die Zähne gezogen, denn die Konnotation mit Überfluss und demonstrativem Konsum wird dadurch zum Verschwinden gebracht. 42 »Ignorant« bezieht sich dabei im Verständnis von al-Farabi auf die »res publica«, deren Wohlstand nicht erreicht und auch nicht angestrebt wird. 43 »[…] scope and method of modern industry are given by the machine […]« (T. Veblen, 1904, S. 2). 44 »Black box« bezeichnet ein geschlossenes System, also eines, das wesentliche Umwelteinflüsse ausschließt und davon abschottet. Sie sind eine Variante der Seinsbedingungen von Laboratorien. Siehe dazu: N. Rosenberg (1982), S.J. Staudenmaier (1992).

516

die realität irrealer abstraktionen Veblens Worten bedeutet dies umfassende Disziplinierung und Standardisierung sowohl der Produkte und der Produzenten als auch der Konsumenten. Dieser Anpassungsprozess der Menschen an die Maschinen wurde im 19. Jahrhundert durch eine neue Arbeitsorganisation optimiert, die von ihrem Erfinder F. Taylor als »scientific management« bezeichnet wurde. In der fordistischen Fabrik schließlich sollte sie bis zu jenem Punkt gesteigert werden, wo zwischen Menschen und Maschinen nicht weiter unterschieden zu werden brauchte. Bahnbrechend für die weitere Perfektionierung dieser Trends waren die Forschungsarbeiten des britischen Mathematikers A.M. Turing45. Mit ihm trat die begonnene Entwicklung in eine neue Phase. Sie wird durch den zunehmenden Einsatz von Rechenmaschinen charakterisiert, die heute als »Computer« bezeichnet überall zu finden sind, doch treffender mit ihrem französischen Namen tituliert würden. Dieser lautet »ordinateur«, was nicht nur »Organisator«, sondern auch »Gestalter« bedeutet. Spätestens seit diesem Schritt wurde nicht nur die Organisation der Arbeit den Regeln der Mathematik unterworfen46, sondern sehr bald auch der Konsum der Güter, und »last but not least« Produktion und Verzehr auch jener immateriellen Güter, die unsere Köpfe einnehmen. Es scheint sich daher zu lohnen, auch die Konsequenzen dieser Entwicklung aus der Nähe zu betrachten.

Die Realität irrealer Abstraktionen Wir schaffen Abstraktionen. Diese Wesen »wesen« in unseren Köpfen. Manche davon können als Entwürfe und als Pläne eingesetzt werden. Jene abstrakten Wesen in den Köpfen entstammen Prinzipien der Lehre, die in einem zweiten Schritt aus der Wesensform der Pläne in materialisierter Form in die Natur übertragen werden können. Dort herrschen allerdings möglicherweise andere Regeln und Prinzipien als in den Köp45 Siehe dazu: A.M. Turing (1936). Historisch betrachtet handelt es sich hier um die Weiterentwicklung der Auffassung von G.W. Leibniz, dass Rechenprozesse algorithmische Symbolmanipulationen sind. Dieser Ansatz wurde von Turing konkretisiert, indem er die menschliche Rechenprozedur in einige so einfache Operationen aufspaltete, dass eine Reduktion nicht mehr möglich schien. Diese elementaren Operationen können nun von einer von ihm so bezeichneten »Papiermaschine« ausgeführt werden, die genaugenommen ein absolut disziplinierter Mensch ist, der mit Stift, Papier und Radiergummi ausgestattet ein Programm abarbeitet. Mit dieser »Papiermaschine« wurde der Nachweis erbracht, dass Formalisierbarkeit zugleich Mechanisierbarkeit bzw. Maschinisierung ermöglicht. 46 Siehe dazu: B. Heintz (1993).

517

epilog fen47. Die in der Natur geltenden Regeln des Seienden müssen folglich durch weitere Abstraktionen zum Verschwinden gebracht werden. Sie erscheinen nun, wie Geister aus der Flasche, als »Realabstraktionen«. Erkenntnisse über die Regeln der Natur sind auf diese Weise nicht zu erwarten. Dieselbe Einsicht hat allerdings schon H. Poincaré48 formuliert. Doch schon tausend Jahre früher lehrte al-Farabi in seinem »Kitab Tahsi’l al-Saʿada” (»Buch vom Erwerb des Glücks«49), dass uns sämt­ liche Beweise und Aussagen in der Mathematik zwar darüber informieren können, was etwas ist, doch uns nichts darüber sagen, ob es auch tatsächlich existiert. Mathematische Objekte sind für ihn anders als für Platon keine ewig gültigen Ideen. Sie existieren nirgends außer in den Köpfen. Sie veranschaulichen, wie das al-Farabi bezeichnete, nur mögliche Existenzen. Ob sie tatsächlichen Gegebenheiten entsprechen, ist damit keineswegs gesagt. Der in Philosophie fundiert bewanderte Nobelpreisträger der Physik W. Heisenberg formuliert einen ähnlichen Gedanken, wenn er schreibt: »[…] im allgemeinen dürfte das aus der mathematischen Logik entwickelte positivistische Denkschema zu eng sein für eine Natur­ beschreibung, die doch genötigt ist, Worte und Begriffe zu gebrauchen, die nur unscharf definiert werden können« (W. Heisenberg, 1959, S.64).

In solchen Situationen treten in unserer Zeit Laboratorien als potentielle Retter in der Not auf. Denn Labors ermöglichen die Herstellung von Realabstraktionen, sie simulieren bestenfalls Natur, aber nur so weit, wie die künstlich erzeugten Laborvorgaben mit den theoretischen kommensurabel sind. Alles, was darüber hinaus damit nicht in Übereinstimmung steht, wird im Labor »real-abstrahiert«. So wird durch selektive Nachahmung von Seinsbedingungen der Natur in den Laboratorien erreicht, dass die abstrakte Welt der Köpfe ihr materialisiertes Ebenbild findet. Doch dieses Ebenbild existiert nur wie ein »Geist in einer Flasche«, wobei man diese »Flasche« heute eben als »black box« bezeichnet. Man 47 Solche Abstraktionen, die nicht übertragbar sind, bezeichnet al-Farabi als »theoretische« Wesen. 48 H. Poincaré stellt in seinem bahnbrechenden Werk abschließend einige präzise Sätze auf, die ich deutsch wiedergebe: »Erfahrung legt wissenschaftliche Theorien nahe, doch sie kann sie nicht beweisen. Erfahrung alleine kann keine Theorie falsifizieren, denn Theorien korrigieren die Erfahrung. Erfahrung wird aufgrund von einer oder mehreren Theorien beurteilt und bewertet.« (m.H., M.S.; H. Poincaré, 1902). 49 Der englische Titel lautet: »Attainment of Happiness«, übersetzt von M.S. Mahdi (1969). Eine deutsche Übersetzung ist mir nicht bekannt, daher wäre obige Übersetzung mein Vorschlag.

518

die realität irrealer abstraktionen realisiert so eine Welt, abgekapselt vom grellen Licht der Wirklichkeit und der Vielfalt des Seienden. In der Sprache traditioneller Physik wird eine »black box« allerdings als »isoliertes System« bezeichnet. »Isolierte Systeme« konstituierten eine wesentliche Grundvoraussetzung wissenschaftlicher Forschungstätigkeit. Die Grundvoraussetzung eines isolierten Systems kann jedoch seit der Einführung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs in die Definition des Ausgangszustandes eines Untersuchungsobjekts nicht länger erfüllt werden, und zwar infolge der Unvollkommenheit der menschlichen Beobachtungen oder der Instrumente. Der britische Physiker F.S.C. Northrop stellt lakonisch fest: »Folglich kann die einschränkende Bedingung ›für ein isoliertes System‹ selbst in der schwächeren Form der mechanischen Ursächlichkeit50 nur erfüllt werden, wenn das gesamte Universum in das Objekt der wissenschaftlichen Kenntnis eingeschlossen ist.« (F.S.C. Northrop, 1959, S. 196)51.

W. Heisenberg drückt dasselbe mit folgenden Worten aus: »Man muss berücksichtigen, dass das System, das nach den Methoden der Quantentheorie behandelt werden soll, in Wirklichkeit ein Teil eines viel größeren Systems, eventuell der ganzen Welt ist.« (W. Heisenberg, 1959, S. 149).

Teil dieses größeren Systems ist der Beobachter, der folglich nicht einfach weggedacht werden darf. Diese Beobachtung von Heisenberg darf Allgemeingültigkeit beanspruchen. Somit kann all das letztlich nichts anderes bedeuten, als dass Laborforschung keine Naturforschung ist. Doch gerade der Einsatz von Mathematik nötigt zu dieser Art von Forschung, denn deren hilfreiche intellektuelle Abstraktionen machen ja gerade analog dazu jene Realabstraktionen erforderlich, wenn empirische Experimente für die Gültigkeit von formalen Abstraktionen 50 Dieser »schwächere Typ« bleibt zwar bei der Annahme kausaler Wirkungszusammenhänge, negiert aber die Determiniertheit des Vorgangs aufgrund der Unmöglichkeit, die Initialzustände hinlänglich zu bestimmen. 51 Das schreibt Northrop und setzt fort: »In diesem Buch [Heisenberg, op. cit.] wird klar gezeigt, dass die Philosophie der zeitgenössischen Physik in ihrer Erkenntnistheorie ebenso neu ist wie in ihrer Ontologie. Tatsächlich entsteht aus ihrer Ontologie – der folgerichtigen Vereinigung von Potentialität mit mechanischer Kausalität in ihrer schwächeren Form – das Neue ihrer Erkenntnistheorie.« (F.S.C. Northrop, 1959, S. 196). Daraus lässt sich wohl gleichzeitig ablesen, dass die eingeschränkte Orientierung der Ausbildung an technischen Universitäten, die eingangs angesprochen wurde, grundsätzlich reformbedürftig ist.

519

epilog in der Welt des Seienden Beweischarakter erhalten sollen. Wird also Mathematik zur alleinigen Sprache der Physik erhoben, wie dies in 19. Jahrhundert propagiert wurde, dann bedeutet dies, dass über all das zu schweigen ist, worüber man in dieser Sprache keine Aussagen machen kann.52 Der renommierte Mathematiker J. v. Neumann bezeichnete daher schon vor mehr als einem halben Jahrhundert Experimente als »primitive Rechenmaschinen«53. Was sich in dieser formal-rationalen Sprache u.a. nicht ausdrücken lässt, das sind aber die allgegenwärtigen Gegensätze und Widersprüche. L. Wittgenstein54 erinnerte schon vor langem genau daran: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.«

Allerdings meinte er ein paar Zeilen davor zusätzlich: »Zu einer Antwort, die man nicht aussprechen kann, kann man auch die Frage nicht aussprechen.« (ibid., 6.5).

Genau betrachtet heißt dies, dass der Einsatz einer mathematischen Sprache und von Laboratorien die Erkenntnis der Welt unmöglich, doch andere, neue Welten möglich macht. Wie sehr solche Welten der Forderung nach umfassender Gewährleistung von Glückseligkeit gerecht werden können, bleibt eine nur selten gestellte Frage55. 52 Northrop formuliert einen ähnlichen Gedanken, wenn er feststellt: »[…] die Physik [ist] weder erkenntnistheoretisch noch ontologisch neutral. Wenn man eine der erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der Theorie des Physikers ablehnt, gibt es keine wissenschaftliche Methode, um zu erproben, ob das, was die Theorie über das physikalische Objekt vorbringt, im Sinne einer empirischen Bestätigung wahr ist oder nicht. Wenn man eine der ontologischen Voraussetzungen ablehnt, enthalten die axioma­ tisch konstruierten mathematischen Postulate der Theorie des Physikers nicht genug, um die Ableitung experimenteller Fakten zuzulassen, die vorauszusagen, folgerichtig zu koordinieren und zu erklären die Theorie aufgestellt wurde.« (m.H., M.S.; F.S.C. Northrop, 1959, S. 197). 53 Siehe dazu: H.H. Goldstine, J. v. Neumann (1963). 54 Siehe dazu: L. Wittgenstein (1921/22). 55 Auch hier zieht Northrop eigenwillige Schlüsse. »Damit könnte u.U. auch eine Lösung für ein verwirrendes wissenschaftliches, philosophisches und sogar moralisches Problem gefunden werden. Dieses Problem ist: wie kann die mechanische Ursächlichkeit der Quantenmechanik, selbst in ihrer schwächeren Form, mit der teleologischen Ursächlichkeit in Überein­ stimmung gebracht werden, die die in den moralischen, politischen und rechtlichen Absichten des Menschen und in der teleologischen kausalen Bestimmung seines physischen Verhaltens offenkundig vorhanden ist? Mit anderen Worten, wie lässt sich die in diesem Buch von Heisenberg dargelegte Physik mit den moralischen, politischen und juristischen Wis­

520

der langen rede kurzer sinn

Der langen Rede kurzer Sinn Beginnend mit der bürgerlichen Aufklärung wurde ein Entwicklungspfad eingeschlagen, der pragmatisch und empirisch orientiert war und von engen individualistischen Nutzensvorstellungen geleitet wurde. Seine Richtung bestimmte und dominiert noch immer unser Leben. Er west in Köpfen von Politikern und Lehrern und wird daher von Generation zu Generation weitergetragen. Wir sehen heute, dass dieser Weg ein »Holzweg«56 ist, wie M. Heidegger sagen würde. Daher sollte ein anderer Weg gesucht werden, um das »ins-Werk-setzen-der Wahrheit« (ibid.) zu ermöglichen. M. Heidegger ortet diese Potenz in der Kunst. Ein derartiger Weg mag zugleich jene Tür aufstoßen, die al-Farabi nur einen Spalt geöffnet hat, die Tür zum Glück aller. Denn: erst im Werk vollendet sich der Mensch und manifestiert sich durch diese Selbstentäußerung als das, was er von Natur aus ist, als ein »Zoon Politicon«, ein Tier, das auf seine Mitmenschen angewiesen ist. Diese Tür der Jugend weit zu öffnen, könnte, sollte, müsste die Leit­ idee jener Universität werden, die durch zwei Jahrhunderte bemüht war, das Licht der Erkenntnis als Bannerträger der Aufklärung in Tat und Wort voranzutragen. Diesem Ideal verpflichtet, müsste heute ein völlig neuer Weg beschritten werden, dessen Richtung anzudeuten dieser Epilog bemüht war.57

senschaften und Philosophie vereinbaren?« (m.H., M.S.; F.S.C. Northrop, 1959, S. 191). 56 Siehe dazu: M. Heidegger (1935/1936). 57 K. Ruckriegel von der Technischen Hochschule Nürnberg konkre­tisierte dies unlängst in einem Vortrag im Rahmen des VDI: »Unser Handeln sollte sich nicht mehr so sehr am Wirtschaftswachstum, sondern an einem breiten Zielkanon wie dem Better Life Index der OECD orientierten.« Siehe dazu: VDI-Nachrichten, 10. April 2015, S. 48.

521

522

Appendix Beweise des Archimedes Die Quadratur der Parabel Gegeben sei ein Parabelsegment. Der Einfachheit wegen sei es so gewählt, dass der Scheitelpunkt der Parabel genau in der Mitte des Segments liegt. Würde diese Bedingung nicht erfüllt, so würde sich am folgenden Beweis prinzipiell nichts ändern. In dieses Segment wird ein gleichschenkeliges Dreieck eingezeichnet, wobei die Grundlinie des Parabelsegments mit einer Seite des Dreiecks übereinstimmt. Diese Grundlinie, die zugleich die Sehne der Parabel ist, bezeichnen wir mit AC. Der dritte Eckpunkt des Dreiecks B fällt mit dem Scheitelpunkt der Parabel zusammen. Der Punkt an dem die Symmetrieachse der Parabel die Grundlinie des Dreiecks schneidet wird D genannt. Er befindet sich zwangsläufig in der Mitte der Linie AC. Durch den Punkt C wird nun eine Tangente an die Parabel gelegt. Diese schneidet die verlängerte Mittelachse der Parabel im Punkt E. Durch A wird eine weitere Gerade parallel zur Mittelachse gezogen, die die verlängerte Tangente im Punkt Z schneidet. Es entsteht so die Strecke AZ. E liegt nach dem Strahlensatz in der Mitte von CZ. Wir verlängern nun noch die Seite BC des Dreiecks solange, bis sie die Gerade AZ schneidet. Der Schnittpunkt wird mit K bezeichnet. Nun verdoppelt man die Strecke CK (in dieselbe Richtung). Daraus ergibt sich eine Strecke TC, deren erstes Ende C, der Eckpunkt des Dreiecks ist, und T das andere Ende der Strecke. K liegt also genau in der Mitte dieser Strecke TC. Schließlich wird noch eine weitere, beliebige Parallele zur Parabelachse gezogen. Wir wählen sie zwischen A und D. Diese schneidet die Basis des Dreiecks irgendwo zwischen A und D in Punkt X, die Parabel in Punkt O, die verlängerte Dreiecksseite BC in Punkt N und die verlängerte Tangente der Parabel in Punkt M (siehe Abbildung 1, S. 524). Nach diesen Vorbereitungen ist quasi die Bühne für die Aufführung bereitet. Nun folgen einige Überlegungen auf Basis der Proportionenlehre bei Dreiecken. Ergebnis dieser Überlegungen ist schließlich, dass XO : XM = AX : AC ist. Nochmals betont werden sollte, dass diese Proportion für jede beliebige Parallele zu XM Geltung hat, weil ja XM irgendeine Gerade ist. Soweit bleibt die Vorgehensweise im Rahmen der tradierten Beweistechnik.

523

appendix

Abbildung 1

Im Brief an Dositheos stellt Archimedes nun Überlegungen über Gleichgewichtsverhältnisse auf einer Balkenwaage an1, die er im Brief an Eratosthenes nicht wiederholt, doch benutzt. Erstaunlich ist dabei, dass der Gelehrte aus Syrakus geometrische Objekte wiegt, die ja bekanntlich masselos sind und folglich auch kein Gewicht und genau genommen auch keinen Schwerpunkt haben können. Es handelt sich also offensichtlich um ein Gedankenexperiment, bei dem einem mas1 Er setzt dem Inhalt eines gegebenen Rechtecks den Inhalt eines Dreiecks gegenüber, das er oberhalb seines Schwerpunkts am Balken aufgehängt denkt. Wenn sich beide Gewichte im Gleichgewicht befinden, so verhalten sich die Abstände der Aufhängepunkte am Balken zu den Flächen umgekehrt proportional, G1 : G2 = a2 : a1. Diese Proportion ist nichts anderes als das Hebelgesetz, allerdings sind die Gewichte rein immaterielle Größen, nämlich Flächen oder in anderen Zusammenhängen auch Volumina oder Strecken. Handelt es sich z.B. bei G1 um ein Rechteck, dessen Schwerpunkt mit dem Schnittpunkt der Diagonalen zusammen fällt, und bei G2 um ein Dreieck, dessen Schwerpunkt mit dem Schnittpunkt der mittleren Transversalen, d.h. der Strecken, die vom Mittelpunkt einer Seite zum gegenüberliegenden Eckpunkt gezogen werden können, übereinstimmt, so verhalten sich die Längen der Waagebalken auf jeder Seite zueinander wie 3:1. Das ergibt sich daraus, dass sich die mittleren Transversalen des Dreiecks im Verhältnis 2:1 schneiden. Demnach ist in diesem Fall die Fläche des Dreiecks dreimal so groß wie jene des Rechtecks, da der Hebelarm nur ein Drittel des Hebelarms auf der Seite des Rechtecks ist.

524

beweise des archimedes selosen Objekt trotzdem Gewicht zugeschrieben wird. Allerdings hat sich Archimedes mit der Bestimmung des Schwerpunktes in Dreiecken schon früher befasst, nämlich in »Über das Gleichgewicht ebener Flächen oder über den Schwerpunkt ebener Flächen«2. Darauf kommen wir noch kurz zurück. Weiters stellt Archimedes im Brief an Dositheos systematische Überlegungen an, wie ein Dreieck in Trapeze geteilt werden kann bzw. wie solche angefügt werden können, und welche Folgen das für den Gleichgewichtszustand nach sich zieht. Nachdem diese Überlegungen durch­ exerziert wurden, kehrt er zum Parabelsegment zurück. In der Folge wird auch hier das Dreieck AZC in Trapeze zerlegt und die Summe der so erzeugten Trapezflächen, die das ganze Dreieck AZC abdecken, einer Summe von Rechtecken auf der anderen Seite des Waagbalkens gegenübergestellt. Nachdem die Gewichte der Rechtecke bekannt sind und die Länge der Waagarme detto, lässt sich daraus der Inhalt des Parabelsegments ableiten. In dem erst unlängst vollständig entschlüsselten Palimpsest des Archimedes über die »Methodenlehre von mechanischen Lehrsätzen« – kurz auch »Ephodikon ()« genannt – geht er nicht länger in solche Details. In diesem wird die grafische Konstruktion genauso wie oben durchgeführt, aber die daraus gezogenen Schlüsse und Argumente unterscheiden sich, ohne das Ergebnis selbst zu verändern. Hier verschiebt er die Strecke OX scheinbar willkürlich an das Ende der Strecke TC und befestigt sie in deren Schwerpunkt, der natürlich in der Mitte der Strecke, auf T liegt. Er kümmert sich dabei wenig darum, dass OX kein materielles Objekt, sondern ein geometrisches Objekt ist. Seine Vorgehensweise legt einmal mehr nahe, dass er praxisnahe denkt und keine platonischen Berührungsängste kennt. In der neuen Position wird OX als SH bezeichnet. SH und OX sind gleich lang bzw. gleich schwer, weil er ja die Länge der Strecke einem Gewicht gleichsetzt. Nun zeigt er, dass TH mit MX an der Stelle, wo sie ist, im Gleichgewicht sein muss, weil ja TN im umgekehrten Verhältnis zu den Gewichten TH und MX geteilt wurde und weil TK : KN = MX : OX ist. Daraus folgt, dass K der Schwerpunkt der zusammengesetzten Gewichte sein muss. Es gilt ja für sämtliche Gerade im Dreieck AZC, dass sie an der Stelle, wo sie sind, 2 Dieser Beweis könnte als Paradebeispiel für die vorherrschende, alexandrinische Methode genommen werden. Archimedes behauptet, dass der Schwerpunkt auf einer mittleren Transversale liegen muss. Dies beweist er mithilfe eines indirekten Beweisverfahrens: Er nimmt der Argumentation wegen an, dass der Punkt woanders liegt und zeigt dann, dass diese Annahme zu Widersprüchen führt. Damit ist auch die Richtigkeit der ursprüng­ lichen Annahme erwiesen, weil dann, wenn sich eine Behauptung als falsch erweist ihr Gegenteil wahr sein muss.

525

appendix im Gleichgewicht mit ihren von der Parabel abgeschnittenen Teilen sein müssen, wenn diese nach T versetzt würden. Archimedes verfährt an dieser Stelle ähnlich wie Archytas, als dieser Tonleitern aufstellen, d.h. die Gesamtheit der verwendeten Töne in einem Musikstück beschreiben wollte. An der Stelle, wo die theoretischen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, greift er zur Empirie. Archytas beobachtete die Praktiken der Musiker, Archimedes – so behaupte ich vereinfachend – jene von Kaufleuten, die den Wert ihrer Waren mithilfe von Waagen bestimmen. Dort wo die geometrischen Regeln nichts mehr liefern, benutzt er jene der Mechanik. Weil aber das Dreieck CZA aus sämtlichen Geraden in diesem Dreieck CZA besteht erlaubt er sich Rückschlüsse auf die Ganzheit zu machen. Weil also das Segment ABC aus dem Parabelsegment besteht, von dem die Gerade XO als repräsentativer Teil des Ganzen genommen wurde, so wird das Dreieck ZAC an der Stelle, an der es ist, im Punkt K mit dem Parabelsegment im Gleichgewicht sein, wenn es mit T als Schwerpunkt an die Stelle T des Waagbalken versetzt wird. Damit ist klar, dass K der Schwerpunkt aus beiden zusammengesetzten Gewichten sein muss. Wenn weiters auf der Strecke CK, die eine mittlere Transversale von AZC ist, der Schwerpunkt Q von AZC festgelegt wird, dann bedeutet dies, dass CK in Q so dreigeteilt wird, dass QK = 2 QC ist. Es ist demnach das Dreieck AZC an der Stelle K mit dem Segment in Gleichgewicht, wenn dieses nach T als Schwerpunkt verschoben wird, und eben Q der Schwerpunkt des Dreiecks ist. Demnach verhalten sich die Fläche des Dreiecks AZC zur Fläche des Parabelsegments wie TK : KQ. Weil TK = 3KQ ist 3, ist auch die Dreiecksfläche AZC = 3 ABC. Die Fläche ZAC ist, wie leicht zu sehen ist, das Vierfache des Dreiecks ABC, weil ja ZK = KA und AD = DC ist. Das heißt, dass das Parabelsegment ABC = 4/3 mal das Dreieck ABC ist.

Der Zylinderhuf Es wird ein Kreiszylinder in einen Würfel eingeschrieben, dessen Seitenlänge dem Durchmesser der Grundfläche des Zylinders gleich ist. Demnach ist auch die Höhe des Zylinders gleich diesem Durchmesser. Eine Ebene E1, die durch den Mittelpunkt des Kreises gelegt wurde, schneidet parallel zu einer Würfelkante den Zylinder und den Würfel so, dass E1 durch die obere Kante des Würfels geht. Gefragt ist das Volumen des aus dem Zylinder herausgeschnittenen Stücks, das annähernd die Form 3 Das ergibt sich aufgrund der Tatsache, dass der Schwerpunkt eines Dreiecks im Schnittpunkt der Transversalen liegt und sich diese im Verhältnis 2:1 schneiden.

526

beweise des archimedes

Abbildung 2

eines Pferdehufs hat. Archimedes behauptet nun, dass dieses Volumen genau ein 1/6 des Volumens des Würfels sei. Zunächst sei festgehalten, dass besagte Ebene E1 aus dem Würfel ein dreieckiges Prisma schneidet, das den Huf einschließt. Parallel zur dreieckigen Seite des Prismas wird nun eine weitere, beliebig zu wählende Ebene E2 gezogen, die aus Würfel und Zylinderhuf zwei Dreiecke schneidet. Dabei handelt es sich um rechtwinkelige Dreiecke, die beide denselben Steigungswinkel haben, nämlich jenen der ersten Ebene, also 1:2, oder in unserer Terminologie ca. 63 1/20. Der nächste Schritt des griechischen Mathematikers überrascht. Er zeichnet in der Grundfläche des Prismas, bzw. Halbzylinders, ein Parabelsegment ein, dessen Sehne gleich der Würfelkante ist und dessen Scheitel den Halbkreis der Zylindergrundfläche berührt. Die vertikal zur Grundfläche stehenden Dreiecke (∆LWW‘, ∆LKK‘, ∆LPP‘) in der Ebene E2 sind aus naheliegenden Gründen ähnlich. Ihre Basis schneidet 527

appendix Kreis, Parabel und Prisma in drei unterschiedlichen Punkten, wir nennen sie K, P und W (W in Erinnerung an den ursprünglichen Würfel). Die Szene ist nun gesetzt. Archimedes beginnt mit seinen Kunst­ stücken, die darin bestehen, Verhältnisse von Verhältnissen zu bestimmen. Zunächst zeigt er, dass sich die Fläche FW ((∆LWW‘) des Dreiecks, das E2 aus dem Prisma herausschneidet, zur Fläche des Dreiecks FK (∆LKK‘), das sie aus dem Zylinder schneidet, wie die Länge der Grundlinie von FW (LW) zur Länge der Linie (LP) innerhalb der Parabel verhält (FW : FK = LW : LP). Das ist schon ziemlich ungewöhnlich, doch nachvollziehbar, denn es handelt sich um ähnliche Dreiecke. Doch daraus wird nun geschlossen, dass sich das Volumen des Prismas zum Volumen des Zylinderhufs so verhält wie die Fläche des Rechtecks (Grundfläche des Prismas) zur Fläche des Parabelsegments. Dieses ist, wie schon oben gezeigt wurde, 4/3 des eingeschriebenen Dreiecks, das selbst halb so groß ist wie die Fläche des Rechtecks. Demnach ist die Fläche des Parabelsegments 2/3 der Fläche des Rechtecks oder der halben Würfelgrundfläche. Flächen verhalten sich für Archimedes zueinander wie Strecken. Doch an dieser Stelle fehlt im Fragment der folgende Teil. Aber im nachfolgend vorhandenen Teil stellt Archimedes fest, dass sich das Volumen des Prismas zum Volumen des Zylinderhufs so wie die Fläche des Rechtecks (Basis des Prismas) zur Fläche des genannten Parabelsegments verhält. Nun verhalten sich Volumina zueinander wie Flächen, das überrascht erneut. Die Beweisführung, die zu dieser Aussage führte, fehlt allerdings im Originalmanuskript wieder. Da aber das Prisma ein Viertel des Volumens des Würfels einnimmt, verhält sich also das Volumen des Zylinderhufs zu dem des Würfels wie 1:6, so wie anfänglich behauptet wurde.

Quadratische Gleichungen Euklid Prinzipiell wurden Fragestellungen, die heute in Form einer quadratischen Gleichung beschrieben werden, bei Euklid geometrisch gelöst.4 Anzumerken ist, dass die Griechen keine negativen Zahlen kannten. Sie mussten daher für das, was wir als quadratische Gleichungen bezeichnen, verschiedene Fälle unterscheiden. Folgendes Beispiel in Abbildung 3 wäre die Lösung einer Gleichung: x2 + 10x = 39

4 Siehe dazu: Euklid, Buch II/11.

528

quadratische gleichungen

Abbildung 3

Konkret bedeutet dies, dass die linke Seite der Gleichung als Gnomon5 mit den Eckpunkten BCIGDE betrachtet wird. Dieser hat eine Fläche von x2 + 10x = 39. Er befriedigt somit obige Gleichung und würde von uns allgemein mit q notiert. Ergänzt man nun den Gnomon durch das Quadrat ABED mit der Seitenlänge 5 (und somit der Fläche 25) zum Quadrat ACIG, so besitzt dieses große Quadrat die Fläche 25 + 39 = 64. Andererseits hat das dadurch entstandene neue Quadrat ACIG die Seitenlänge 5 + x und somit den Flächeninhalt (5 + x)2 = 64. Da 64 = 82 ist, schließt man nun auf 5 + x = 8 und erhält somit x = 3 als einzige Lösung. Wir sind es aber im Unterschied zu den Griechen gewöhnt, bei einer quadratischen Gleichung zwei Lösungen zu erwarten. In unserem Beispiel wäre die zweite Lösung x = −13. Diese Möglichkeit eröffnet aber diese geometrische Lösungsvariante nicht. Den Griechen hat sie allerdings auch nicht gefehlt, denn sie kannten ja wie schon festgestellt keine negativen Zahlen und wären daher gar nicht auf die Idee gekommen, dass (−13)2 = +169 sein könnte und somit 169 − 130 = 39 ergibt. Die naheliegende Frage, woher wir die Idee nehmen, dass es negative Zahlen gibt, bleibt notwendigerweise in diesem Kontext unbeantwortet.

5 Der Gnomon spielt in der griechischen Mathematik seit Phytagoras eine bedeutende Rolle. Siehe dazu: M. Schmutzer (2011), Band I, Kapitel V.

529

appendix

Al-Khwarizmi Augenblicklich von Interesse ist aber der Umstand, dass obige Methode nicht die einzig mögliche ist. In Abbildung 4 zeige ich eine Variante, die von al-Khwarizmi benutzt wurde und die er vermutlich von Brahmagupta übernommen haben dürfte. Dabei werden an das unbekannte Quadrat x2 vier Rechtecke mit derselben Seitenlänge x und der Breite p/4 gelegt. Die Fläche dieser Figur ist nun x2 + 4px/4 = q. Zusätzlich werden nun in den Ecken vier Quadrate von der Seitenlänge (p/4), die also dieselbe Breite der Rechtecke haben, platziert. Dadurch entsteht ein neues, größeres Quadrat mit der Seitenlänge (x + 2p/4) Die Fläche dieses neuen Quadrats ist offensichtlich (x + 2p/4)2 = a. In anderen Worten ergibt sich daraus die Fläche des unbekannten Quadrates x2 in folgender Form: a = 4.p2/16 + q = (p/2)2 + q = (x + 2p/4)2 √(p2/4 +q) =(x +2p/4) x = − p/2 + √(p2/4 +q) Grafisch stellt sich die Gegebenheit gemäß Abbildung 4 dar. Da al-Khwarizmi mit Beispielen argumentierte, sei auch hier obiges Beispiel genommen, das er auch verwendet hat. In unserer Schreibweise würde das Beispiel von al-Khwarizmi folgendermaßen lauten: x2 +10x = 39 p = 10; q = 39 Nach diversen regelkonformen Umformungen kommt er schließlich zur Feststellung, dass x = −5 + √(39+25), also x = 3 ist.

Abbildung 4

530

Literatur Abdul-Raof H. (2013), Schools of Qur’anic Exegesis – Genesis and Development, Routledge, London, 2013 Abraham R., Y.Ueda (eds., 2000), The Chaos Avantgarde: Memories of the Early Days of Chaos Theory, World Scientific Publ. Co., Singapur, 2000 Abu Rida M.A.H., (ed., 1950, 1953), Al-Kindi, Rasa’il al-Kindi al-Falsafiyya, 2 Vols., Cairo, Dar al-Fikr al-‘Arabi Adamson P. (2007), Al-Kindī (Great Medieval Thinkers), New York, Oxford U.P., 2007 – (2006), Vision, Light and Color in al-Kindi, Ptolemy and the Ancient Commentators, Arabic Sciences and Philosophy vol.XVI, S. 207-236 Adamson P., Pormann P.E. (2012), The Philosophical Works of al-Kindī, Oxford U.P., 2012 Albert H. (1968), Traktat über kritische Vernunft, Mohr Siebeck, Tübingen, 1968 Albrecht H. (2015), Schmerz – Eine Befreiungsgeschichte, Pattloch, München, 2015 Al-Bukhari, Die Sammlung der Hadithe, Ph. Reclam, Stuttgart, 1991 Al-Farabi, The Political Writings, »Selected Aphorisms« and Other Texts, (übersetzt v. Butterworth Ch.E., (2001), Cornell U.P., Ithaca – London, 2001 – (1969), Philosophy of Plato and Aristoteles, in: Alfarabi’s Philosophy of Plato and Aristoteles, (Hg. und Übsetzg.: Mahdi M.), Cornell U.P., N.Y., 1981; dt. Übersetzung: Al-Farabis philosophische Abhandlungen, Dieterici F. (Hg., Übersetzer), Leiden, 1892 – (1951), Vacuum, Farabi’s Article on Vacuum, in: Necati Lugal, Aydin Sayili (Hg.), Ankara, Turkish Historical Society Publ., Series XV/1 – (1969), Attainment of Happiness, (übersetzt von M. Mahdi, in: Alfarabi’s Philosophy of Plato and Aristoteles, Cornell U.P., N.Y., 1981 Al-Khalili J. (2010), Im Haus der Weisheit – Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur, Fischer, Fft./M., 2011 Al-Khwarizmi, Muhammad ibn Musa, Algebra (übersetzt v. Rosen F.), London, 1831 Al-Talbi A. (1993), Al-Farabi’s Doctrine of Education: Between Philosophy and Sociological Theory Prospects: The Quarterly Review of Comparative Education, Paris, UNESCO: International Bureau of Education, vol. XXIII, no. 1/2, 1993, S.353 ff. Archimedes Werke, (übersetzt u. m. Anm. vers. von A. Czwalina); im Anh.: Kreismessung, (übersetzt v. Rudio F.), Des Archimedes Methodenlehre von den mechanischen Lehrsätzen, (übersetzt v. Heiberg J.L. u. komm. v. Zeuthen H.G.), WBG, Darmstadt, 1983 – Die Sandzahl1, ibid., S. 347 ff. Arendt H. (1958), Vita Activa oder vom tätigen Leben, Piper, München, 2007 Aristarch, Von der Größe und den Entfernungen der Sonne und des Mondes, in: Heath Th.L.: Aristarchus of Samos, the Ancient Copernicus: a History of

1 Gelegentlich auch mit »Der Sandrechner« übersetzt.

531

literatur Greek Astronomy to Aristarchus Together With Aristarchus’s Treatise On the Sizes and Distances of the Sun and Moon; a New Greek Text with Translation and Notes. – Repr. lithographically from sheets of the 1. ed., Clarendon Press, Oxford, 1966, S.352 ff. Aristoteles, Metaphysik, Phil. Schriften Bd. 5, Meiner, Hamburg, 1995 – Analytica Posteriora, Phil. Schriften Bd. 1, Meiner, Hamburg, 1995 – Analytica Priora, Phil. Schriften Bd. 1, Meiner, Hamburg, 1995 – Politik, Phil. Schriften Bd. 4, Meiner, Hamburg, 1995 – Sophistische Widerlegungen, Phil. Schriften Bd. 2, Meiner, Hamburg, 1995 – Topik, Phil. Schriften Bd. 2, Meiner, Hamburg, 1995 – Nikomachische Ethik, Phil. Schriften Bd. 3, Meiner, Hamburg, 1995 – Der Staat der Athener, Ph. Reclam jun., Stuttgart, 1993 Ar-Razi, Kitab al-manzuri fi al-tibb, (ed. Hamzim al-Bakri al-Siddiqi), Arabic Cultural and Educational Organization, Kuweit, 1984 Asma Hilali, Two examples of the Hadith-Transmission in the Muslim World, http://www.scm.uni-halle.de/gsscm/reporting_list/study_days/sektion2/2303964_2305719/ Atta Muhammad (2012), Mutazila-Heresy; Theological and Rationalist Mutazila; Al-Mamun, Abbasid Caliph; Al-Mutawakkil, Abbasid Caliph; The Traditionalists, Middle-East Journal of Scientific Research (ISSN 1990-9233), XII /7, S. 1031 ff. Aurelius Augustinus, Enchiridion oder Buch vom Glauben, von der Hoffnung und von der Liebe (De fide, spe et caritate), in: Des hl. Kirchenvaters Aurelius Augustinus ausgewählte praktische Schriften homiletischen und ketechetischen Inhalts, Mitterer S. (Hg.), München, 1925 Barta H. (2010, 2011), »Graeca non leguntur«? – Zu den Ursprüngen des europäischen Rechts im antiken Griechenland, (2 Bde.), Harrassowitz Verlag, Wiesbaden, 2010/2011 Bentham J. (1781), An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, Prometheus Books, Amherst, N.Y., 1988 Berggren J.L. (1996), Islamic Acquisition of the Foreign Sciences: A Cultural Perspective, in: Tradition, Transmission, Transformation, Proceedings of two Conferences on Pre-modern Science held at the Univ. of Oklahoma, (ed. F. Jamil Ragep, S.P. Ragep, St. Livesey), Brill, Leiden, 1996 – (2003), Episodes in the Mathematics of Medieval Islam, Springer, N.Y., 2003 Bergmeier R. (2012), Schatten über Europa – Der Untergang der antiken Kultur, Alibri Verlag, Aschaffenburg, 2012 Bevan B.L. (2000), Besprechung von: Gutras D. (1998), Greek Thought, Arabic Culture: The Graeco-Arabic Translation Movement in Baghdad and Early Abbasid Society-2nd-4th/8th-10th Centuries,. In: Muslim World, vol. XC, S. 249/250 Blom Ph. (2004), Das vernünftige Ungeheuer, Eichborn, Fft./M., 2005 Bloor D. (1976), Knowledge and Social Imagery, Routledge & Kegan, London, 1976 – (1982), Polyhydra and the abominations of Leviticus: Cognitive Styles in Mathematics, in: Douglas M. (ed., 1982), Essays in the Sociology of Perception, Routledge & Kegan, London, 1982

532

literatur Bobrow D., Adler K.P. (1956), Interest and Influence in Foreign Affairs, Public Opinion Quarterly, XX, S. 89 ff. Bonelli R.M. (2014), Perfektionismus – Wenn das Soll zum Muss wird, Pattloch Verlag, München, 2014 Böhme G. (1985), Coping with Science – Towards a New Theory of Science, Theme T Report 9, Univ. of Linköping, 1985 Bourdieu P. (1979), Die feinen Unterschied. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Suhrkamp, Fft./M., 1987 – (1980), Sozialer Sinn – Kritik der theoretischen Vernunft, Suhrkamp, Fft./M., 1987 Braun M., Haltenhoff A., Mutschler F.H. ( Hg., 2000 ), Moribus Antiquis Res Stat Romana – Römische Werte und römische Literatur im 3. und 2. Jh. v. Chr., K.-G. Saur, München-Leipzig, 2000 Brecht B. (1941), Der aufhaltsame Aufstieg des Aturo Ui, Suhrkamp, Fft./M., 2004 Brunner O. (1968), Das »ganze« Haus, und die alteuropäische »Ökonomik«, in: ds., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, Göttingen, 1968, ibid.: Bemerkungen zu den Begriffen »Herrschaft« und »Legitimität«, Bulmer R. (1967), Why the Cassowary is not a Bird – A Problem with Zoological Taxonomy among the Karam of the New Guinea Highlands, Man, N.S., 2(1), S.5-25 Butterworth C. (1992), Al-Kindi and the Beginnings of Islamic Political Philosophy, in ds. (ed.), The Political Aspects of Islamic Philosophy, Harvard U. P., Cambridge, S. 14 ff. – (2001), Preface, in: Al-Farabi, The Political Writings, op.cit. Celsus Aulus Cornelius, Die Medizin, Buch I, in: Kollesch J., Nikel D. (Hg.,1994), Antike Heilkunst – Ausgewählte Texte, Ph. Reclam, Stuttgart, 2007 Cicero (Marcus Tullius), De Officiis – Vom pflichtgemäßen Handeln, Ph. Reclam jun., Stuttgart, 1976 Chandler A.D. (1977), The Visible Hand – The Managerial Revolution in American Business, Harvard U.P., Cambridge, 1981 Christes J., Klein R., Luth Ch. (2006, Hg.), Handbuch der Erziehung in der Antike, WBG, Darmstadt, 2006 Clagett M. (1964–1984), Archimedes in the Middle Ages, 5 Bände, 1964–1984 (Band 1), U.P. of Wisconsin, Madison, 1964 – (1959), The Science of Mechanics in the Middle Ages, U.P. of Wisconsin, Madison, 1959 Colmo Ch.A. (2005), Breaking with Athens – Alfarabi as Founder, Lexington Books, Lanhan, N.Y., 2005 Cowell F.R. (1948), Cicero and the Roman Republic, Pelican Book, Middlesex, 1973 Complete Dictionary of Scientific Biography | 2008 | 700+ words | COPYRIGHT 2008 Charles Scribner’s Sons Crombie A.C. (1953), Robert Grosseteste and the Origins of Experimental Science 1100–1700, Oxford U.P., 2002 Debroer T.J. (1901), History of Philosophy in Islam, (Hg. u. übersetzt: Jones E.R.), Kessinger Publ., Rare Mystical Reprints, Hertford, G.B.

533

literatur Der Koran – Das heilige Buch des Islam, (Ullmann L. / L.W.-Winter), W. Goldmann, München, 1964 Denningmann S. (2004), Die astrologische Lehre der Doryphorie – eine soziomorphe Metapher in der antiken Planetenastrologie, Saur, München – Leipzig, 2004 Derrida J. (1967), Die Schrift und die Differenz, Suhrkamp, Fft./M., 1992 Dhanani A. (1994), The Physical Theory of Kalam – Atoms, Space, and Void in: Basrian Mu’tazili Cosmology, Brill, Leiden, 1994 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, 2 Bde., Meiner Hamburg, 2008 Donner F.M. (1999), Muhammed and the Caliphate – Political History of the Islamic Empire up to the Mongol Invasion, in: The Oxford History of Islam, (Chapt. VI, Hg.: J.L. Esposito), Oxford U.P., 1999 Douglas M. (1966), Purity and Danger: An Analysis of the Concepts of Pollution and Tabu, Penguin, Middlesex, 1970 – (1996 ), Thought Styles, Sage Publ. Comp., London 1996 Dreher M. (2001), Athen und Sparta, C.H. Beck, München, 2001 Dreyfus H.L. / Dreyfus St.E. (1988), Making a Mind versus Modelling the Brain: Artificial Intelligence Back at a Branchpoint, Daedalus, Winter 1988 Druart T-A. (1992), Al-Farabi, Emanation and Metaphysics, in: Morewedge P. (ed.) Neoplatonism and Islamic Thought, N.Y. State Univ., N.Y., 1992 Duhem P. (1908a), To Save the Phenomena – An Essay on the Idea of Physical Theory from Plato to Galileo, Übersetzg. von »: Essai sur la notion de théorie physique de Platon à Galilée« (Dolan E., Maschler Ch.), Midway Reprint, Chicago U.P., 1969 – (1908b), Ziele und Strukturen der physikalischen Theorien, F. Meiner, Hamburg, 1998 Duby G. (Hg.,1985), Geschichte des privaten Lebens, Bd.2, Vom Feudalzeitalter zur Renaissance, S. Fischer, Fft./M., 1990 Durkheim E. (1893), Über soziale Arbeitsteilung, Fft./M., Suhrkamp, 1988 – (1912), Les formes élémentaires de la vie religieuse, Presses Univ. de France, Paris, 1968 Elhajibrahim S. (2006), Alfarabi’s Concept of Happiness Sa’ada : Eudaimonia, The Good and Jihad Al-Nafs, Paper prepared for delivery at the 2006 Annual Meeting of the American Political Science Association annual convention, August 31 – September 3, 2006, Philadelphia, Pennsylvania Encyclopedia Iranica, Ketab al-Fehrest, www.iranicaonline.org/articles/fehrest Encyclopedia of Islam, ʿIlm al-Kalam, 1999, Koninklijke Brill NV, Leiden, The Netherlands Endress, G. (1987/1992) Die wissenschaftliche Literatur, in: Gätje H. (ed.), Grundriss der arabischen Philologie, Reichert L., Wiesbaden, vol. II, S. 400 ff., vol.III (supplement), S. 3 ff. Euklid »Stoichea« (Elemente), The Elements of Euclid, (ed. Todhunter I. with an Introduction by Sir Heath Th.L.) London, Toronto, Dent J.M. & Sons Ltd., 1933 Fakhry M. (1999), Philosophy and Theology from the Eighth Century C.E. to the Present, in: The Oxford History of Islam, (Kap.VI, Hg.: Esposito J.L.), Oxford U.P., 1999

534

literatur – (2002), Al-Farabi, Founder of Islamic Neoplatonism, Oneworld, Oxford, 2002 Felt U., Nowotny H., Taschwer K.(1995), Wissenschaftsforschung – Eine Einführung, Campus, Fft./M., N.Y., 1995 Finke P. (2014), Citizen Science – Das unterschätzte Wissen der Laien, oekomVerlag, München, 2014 Fischer G. (1994), Corpus Galenicum, Niemayer, Tübingen, 1994 Fitzpatrick R. (?), A Modern Almagest, An Updated Version of Ptolemy’s Model of the Solar System, farside.ph.utexas.edu/Books/Syntaxis/Almagest.pdf Fleck L. (1935), Entstehung einer wissenschaftlichen Tatsache, Suhrkamp, Fft./M., 1980 Forman P.L. (1971), Weimar Culture, Causality and Quantum Theory, 1918 – 1927; Adaptation by German Physicists and Mathematicians to a Holistic Intellectual Environment, Hist. Studies of Phys. Science, III, S. 1 ff. Freely J. (2009), Platon in Bagdad – Wie das Wissen der Antike zurück nach Europa kam, Klett- Cotta, Stuttgart, 2012 Galenos, Die therapeutische Methode, in: Kollesch J., Nickel D. (Hg.,1994) – Über die Verfahrensweise beim Sezieren, in: J. Kollesch, D. Nickel (Hg.,1994) Galileo Galilei Linceo (1638), Discorsi e Demonstrationi Mathematiche intorno à due nuove Scienze, Leiden, Dover Publ. Comp., N.Y., 1954 Galston M. (1990), Politics and Excellence: The Political Philosophy of Alfa­ rabi, Princeton U.P., 1990 Gandz S. (ed., 1932), The Geometry of al-Khwarizmi, Berlin, 1932 – (1936), The Sources of al-Khwarizmi’s Algebra, Osiris I (1936), S. 263 ff. Gehlen A. (1940), Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Junker und Dünnhaupt, Berlin 1940, Aula, Wiebelsheim, 2009 Grant E. (ed., 1974), A Source Book in Medieval Science, Cambridge U.P., 1974 Gemoll W., K. Vretska (2006), Griechisch-deutsches Schul- und Handwörterbuch, Oldenbourg, München, 2006 Georgescu-Roegen N. (1971), The Entropy Law and the Economic Process, Harvard U.P., Cambridge, 1974 Geertz C. (1987), Dichte Beschreibung – Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Suhrkamp, Fft/M., 1987 Gödel K. (1931), Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme, Monatshefte für Mathematik und Physik, XXXVIII, 1931, S. 173 ff. Gregorovius F. (1929), Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, Bd. 1, Dresden, 1926 Goldstine H.H., v. Neumann J. (1963), Principles of Large Scale Computing Machines, in: v. Neumann J., Collected Works, vol. V, S.1 ff., Macmillan, N.Y., 1963 Gutas D. (1998), Greek Thought, Arabic Culture: the Graeco-Arabic Trans­ lation Movement in Baghdad and early Society (2nd-4th / 8th-10th centuries), Routledge, London, 1998 Hart M.H. (2000), The 100: A Ranking of the Most Influential Persons in History, Citadel Publishing, 2000 Hawking St. (Hg., 2002), On the Shoulders of Giants – N. Copernicus, On the Revolutions of the Heavenly Spheres, Running Press, Philadelphia, 2002

535

literatur Heidegger M. (1927), Sein und Zeit, M. Niemeyer, Tübingen, 1986 – (1935/1936), Holzwege, Klostermann, Fft./M., 2003 – (1955), Die Frage nach der Technik, in ds. (1962): Die Technik und die Kehre, G.Neke Verlag, Pfullingen,1985 Heintz B. (1993), Die Herrschaft der Regel, Campus, Fft./M., 1993 Heisenberg W. (1959), Physik und Philosophie, Ullstein Tb., Berlin, 1959 Herrin J. (1987), The Formation of Christendom, Fontana Press, 1989 Hesse H. (1943), Das Glasperlenspiel. Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften, Suhrkamp, Fft./M., 1972 Hill R.D. (1993), Islamic Science and Engineering, Edinburgh U.P., 2007 Hoffmann W. (1960), Roms Aufstieg zur Weltherrschaft, in: Propyläen Weltgeschichte, Bd. IV, (Hg.: G. Mann, A. Heuß, A. Nitschke), Ullstein Verlag, 1963, Homer, Ilias, Ph. Reclam, Stuttgart, 2005 Hourani G.F. (ed., 1975), Essays on Islamic Philosophy and Science, Albany State Univ. of N.Y., U.P., 1975 – (1991), Die Geschichte der arabischen Völker, Fischer, Fft./M., 2006 Huffman C.A. (2005), Archytas of Tarentum, U.P. Cambridge, 2010 Hunke S. (1960), Allahs Sonne über dem Abendland, S. Fischer, Fft./M., 2009 Ibn Khaldun, Die Muqaddima – Betrachtungen zur Weltgeschichte, (Hg.: Giese A.), C.H. Beck, München, 2011 Ibn Qutayba, Abdallahibn-Muslim, Adab al–Katib, Grünert M. (ed., 1900), E.J. Brill, Leiden, 1900 Ibn Rushd (Averroes), Tahafut at-Tahafut, (dt.: »Die Inkohärenz der Inkohärenz«), engl. Übg.: van den Bergh S., The Incoherence of the Incoherence, London, 1954 Islamic Encyclopedia, http://islamicencyclopedia.org/public/index/index Jackson Lears T.J. (1983), From Salvation to Self-Realization: Advertising and the Therapeutic Roots of the Consumer Culture, 1880 –1930, in: Wightman Fox R., Jackson Lears T.J. (eds.), The Culture of Consumption: Critical Essays in American History, 1880–1980, Pantheon Books, N.Y., 1983, S. 1 ff. Jäger W. (1933/1944/1947), Paedeia – Die Formung des griechischen Menschen, W.de Gruyter, Berlin/N.Y., 1989 Jokisch B. (2007), Islamic Imperial Law: Harun-al-Rashid’s Codification Project, W. de Gruyter, Berlin, 2007 Kaldewey D. (2013),Wahrheit und Nützlichkeit, transcript-Verlag, Bielefeld, 2013 Kant I. (1781/1787), Kritik der reinen Vernunft, Werkausg. Bd.3, (Hg.: Weischedel W.), Suhrkamp, Fft./M., 1988 – (1798), Der Streit der Fakultäten, Werke Bd. 9, Darmstadt, 1964 Kapp E. (1942), Der Ursprung der Logik bei den Griechen, Vandenbeck & Ruprecht, Göttingen, 1965 Keen St. (2011), Debunking Economics – The Naked Emperor Dethroned?, ZED Books, London – N.Y., 2011 Kelsen H. (1934/1960), Reine Rechtslehre, Verlag Österreich, Wien, 2000 Kennedy E.S., et al. (1983), Studies in the Islamic Exact Sciences, (ed.: King D.A., Kennedy M.H.), Am. Univ., Beirut, 1983

536

literatur Kepler J. (1609,1618; 1621), Astronomia Nova – Neue, ursächlich begründete Astronomie (übersetzt v. Caspar M.), (Hg., Krafft F., 2005), Marixverlag, Wiesbaden, 2005 Kettermann G. (2001), Atlas zur Geschichte des Islam, WGB, Darmstadt, 2001 Kirchner G. (2004), Heilungswunder im Frühmittelalter. Überlegungen zum Kontext des vir Dei – Konzeptes Gregor von Tour, in: Steger F., Jankrift K.P. (Hg. 2004), Gesundheit – Krankheit, Kulturtransfer medizinischen Wissens von der Spätantike bis in die frühe Neuzeit, Böhlau, Köln – Wien, 2004 Klein-Franke F. (1982), Al-Kindi’s ›On Definitions and Descriptions of Things‹, Le Muséon: Revue des Études Orientales, VC, S. 191 ff. Klement A. (2010), »Wanderer kommst du nach Deutschland …« – Die spar­ tanische Agoge in der nationalsozialistischen Geschichtsrezeption, Univ. Wien Kluge F. (1883), Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, de Gruyter, Berlin/N.Y., 1999 Knorr- Cetina K. (1981/1984), Die Fabrikation von Erkenntnis – Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Suhrkamp, Fft./M, 1984 – (1999), Epistemic Cultures – How the Sciences Make Knowledge, Harvard U.P., 1999 Koetsier T. (2001), On the Prehistory of Programmable Machines: Musical Automata, Looms, Calculators, Mechanism and Machine Theory, vol. XXXVI, S. 685 ff. Kollesch J., Nickel D. (1994), Antike Heilkunst – Ausgewählte Texte, Ph. Reclam, Stuttgart, 2007 Kopernikus N. (1517, 1519, 1526), Denkschriften, in: Sommerfeld E. (Hg.1978), Die Geldlehre des Nicolaus Copernicus, Vaduz, 1978 ds. (1542), Das neue Weltbild, Felix-Meiner-Verlag, Hamburg 1990 (Lat. Text des ersten Buches mit dt. Übsetzg., Anmerkungen H. G. Zekl, Commen­ tariolus) Koyré A. (1957), From the Closed World to the Infinite Universe, in deutscher Sprache: Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum, Suhrkamp, Fft/M., 2008 – (1968), Metaphysics and Measurement, Chapman & Hall, London, 1968 Krafft Ph. (1970), Dynamische und statische Betrachtungsweise in der antiken Mechanik, Steiner, Wiesbaden, 1970 Krämer S. (1991), Denken als Rechenprozedur: Zur Genese eines kognitionswissenschaftlichen Paradigmas, Kognitionswissenschaft, II, S.1 ff. Kremer H. (2004), Leopold Kronecker – Wie alles anfing – Beiträge zur Geschichte des Konstruktivismus und des Intuitionismus (de.sci.mathematik), www.sgipt.org/wisms/geswis/mathe/kroneck0.htm Kronecker L. (1887), Über den Zahlbegriff. [Crelle’s] Journal für die reine und angewandte Mathematik, 101, S. 337 ff; Nachdruck in: Leopold Kronecker’s Werke. Herausgegeben auf Veranlassung der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften von K. Hensel. Leipzig, B.G. Teubner 1892, Bd. 3/1, S. 250 ff. Kuhn T.S. (1961), The Function of Measurement in Modern Physical Science, in: Woolf H. (Hg., 1961), Quantification, A History of the Meaning of Measurement in the Natural and Social Sciences, Bobbs-Merrill, Indianapolis, 1961

537

literatur – (1962), The Structure of Scientific Revolutions, 2nd Ed., UP, Chicago, 1970 Lange F.A. (1866), Geschichte des Materialismus, Bd. I, Suhrkamp, Fft./M., 1974 Langermann T. (1996), The True Perplexity – The Guide of the Perplexed, Part II, Chpt. 24, in: Perspectives on Maimonides: Philosophical and Historical (ed. Kraemer J.L.), S. 159 ff., The Littman Library of Jewish Civilization, 1996 Latour B. (1988), The Pasteurization of France, Harvard U.P., Cambridge, 1988 – (1987), Science in Action, Havard U.P., 1997 Latour B., Woolgar St. (1979), Laboratory Life: the Social Construction of Scientific Facts, Princeton U. P., 2010 Leach E. (1970), Lévi-Strauss, Fontana, London, 1970 LeGoff J. (1986), Die Intellektuellen im Mittelalter, Klett-Cotta, Stuttgart, 1987 Lelgemann D. (2010), Die Erfindung der Messkunst, Wissftl. Buchgemeinschaft, Darmstadt, 2010 Lem St. (1981), Summa Technologiae, Suhrkamp, Fft./M., 1981 – (1995), Die Technologiefalle – Essays, Suhrkamp, Fft./M., 1995 Leroi- Gourhan A. (1980), Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Suhrkamp, Fft./M., 1980 Lèvi-Strauss C. (1962), La Pensée Sauvage –The Savage Mind, Weidenfeld & Nicolson, London, 1976 Liessmann K.P. (2006), Theorie der Unbildung – Die Irrtümer der Wissensgesellschaft, P. Zolnay, Wien, 2006 Lindberg, D.C. (1971), Alkindi’s Critique of Euclid’s Theory of Vision, Isis, vol. LXII, S. 469 ff. Livius (Titus), Römische Geschichte – Von der Gründung der Stadt an (Buch XLV), (Hg.: L. Möller, Übersetzung: O. Güthling), Marix Verlag, Wiesbaden, 2009 Locher J.L. (Hg., 1984), The Infinite World of M.C. Escher, Abrams, N.Y., 1984 Luhmann N. (1969), Legitimation durch Verfahren, Suhrkamp, Fft./M., 1969 – (1990), Die Wissenschaft der Gesellschaft, Suhrkamp, Fft./M.,1990 – (1993), Das Recht der Gesellschaft, Suhrkamp, Fft./M.,1993 – (1997), Die Gesellschaft der Gesellschaft, Suhrkamp, Fft./M.,1997 Lynch M. (1985), Art and Artefact in Laboratory Science – A Study of Shop Work and Shop Talk in a Research Laboratory, Routledge and Kegan, London, 1985 Lyotard J.F. (1979), Das postmoderne Wissen, Böhlau, Graz, 1986 MacFarlane A., Martin G. (2002), Glas: A World History, U.P. Chicago, 2002 Machiavelli N. (1514), Il Principe, Penguin Classics, Middlesex, 1971 Mahdi M. (ed., 1969), Attainment of Happiness, in: Alfarabi’s Philosophy of Plato and Aristoteles, Cornell U.P., N.Y., 1981 – (2001), Alfarabi and the Foundation of Islamic Political Philosophy, U.P. Chicago, 2001 Makdisi G. (1981), The Rise of Colleges – Institutions of Learning in Islam and the West, Edinburgh U.P., 1981 Mandeville B. (1704), Die Bienenfabel oder Private Laster, öffentliche Vorteile, Suhrkamp, Fft./M., 1998

538

literatur Manitius K. (Hg., 1912/1913), Des Claudius Ptolemäus Handbuch der Astronomie (2 Bde.), B.G. Teubner, Leipzig, 1913 Mannheim K. (1929/1936), Ideology and Utopia – An Introduction to the Sociology of Knowledge, Harcourt, Brace & World, N.Y., 1936 Marchand R. (1985), Advertising the American Dream: Making Way for Modernity, 1920–1940, Univ. of California Press, Berkeley, 1985 Martens W. (2001), Ist das Gestell funktional differenziert? in: Weiß J. (Hg., 2001) Die Jemeinigkeit des Mitseins – Die Daseinsanalytik Martin Hei­ deggers und die Kritik der soziologischen Vernunft, UVK, Konstanz, 2001 Marx K. (1845/46), Die deutsche Ideologie, in: Landshut S. (Hg., 1964), Die Frühschriften, Körner Verlag, Stuttgart, 1964 McGinnis J. (2013), Arabic and Islamic Natural Philosophy and Natural Science, The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2013 Edition), in: Edward N. Zalta (ed.), URL = http://plato.stanford.edu/archives/win2013/ entries/arabic-islamic-natural/ McIntyre-Mills J. (2014), Transformation From Wall Street to Wellbeing – Joining the Dots through Participatory Democracy and Government to Mitigate the Causes and Adapt the Effects of Climate Change, Springer, N.Y. – London, 2014 Meier M. (2003), Das andere Zeitalter Justinians – Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung im 6. Jahrhundert n.Chr., Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2004 – (2004), Von Prokop zu Gregor von Tours. Kultur- und mentalitäten-geschichtlich relevante Folgen der »Pest« im 6. Jahrhundert, in: Steger F., Jankrift K.P. ( Hg., 2004), Gesundheit – Krankheit, Kulturtransfer medizinischen Wissens von der Spätantike bis in die frühe Neuzeit, Böhlau, Köln – Wien, 2004 Meister K. (2010), »Aller Dinge Maß ist der Mensch« – Die Lehren der Sophisten, W. Fink, München 2010 Motzki H. (1991), Die Anfänge der islamischen Jurisprudenz in Mekka bis zur Mitte des 2./8. Jahrhunderts, Deutsche Morgenländische Gesellschaft, Stuttgart, 1991 Murakami, Y.P. (1993), Scientization of Science, Annals of the Japan Ass. for the Phil. of Science, March 1993 Mumford L. (1961), The City in History, Pelican Book, London,1961 Nelson E. (2004), The Greek Tradition of Republican Thought, Cambridge U.P., 2005 Netz R., Noel W. ( 2007), Der Kodex des Archimedes – Das berühmteste Palimp­ sest der Welt wird entschlüsselt, dtv, München, 2010 Nietzsche F. (1885), Jenseits von Gut und Böse, Goldmann Klassiker (7530), München – (1887), Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, Goldmann Klassiker (7555), München Noble D.F. (1977), America by Design – Science, Technology and the Rise of Corporate Capitalism, A.A. Knopf, N.Y., 1979; – (1978), Social Choice in Machine Design. The Case of Automatically Controlled Machine Tools, and a Challenge for Labor (Dt.: Maschinen gegen

539

literatur Menschen, Die Entwicklung numerisch gesteuerter Werkzeugmaschinen), in: Politics And Society, No.3/4, S. 313 ff. – (1984), Social Forces of Production – A Social History of Industrial Automation, Oxford U.P., 1986 North J.D. (1994), Fontana – History of Astronomy and Cosmology, Fontana, London, 1994 Northrop F.S.C. (1959), Einführung in die Probleme der Naturphilosophie, in: Heisenberg W. (1959), op.cit., S. 175 ff. Norwich J.J. (1997), Byzanz – Aufstieg und Fall eines Weltreichs, List/Ullstein, Berlin, 2008 Nugayev Rinat M. (2013), The Ptolemy-Copernicus Transition: Intertheoretic Context, Almagest, vol. IV, 1/2013 O’Connor J.J., Robertson E.F. (1999), Muḥammad ibn Musa al-Khwarizmi, MacTutor History of Mathematics Archive, University of St Andrews, http:// www-history.mcs.st-and.ac.uk/Biographies/Al-Khwarizmi.html – (1999), Abu Yusuf Yaqub ibn Ishaq al-Sabbah Al-Kindi, http://www-history. mcs.st-andrews.ac.uk/al-kindi.html Pengree D. (1975), Masha’allah: Some Sasanian and Syriac Sources, in: G.F. Hourani (ed., 1975), Essays on Islamic Philosophy and Science, Albany State Univ. of N.Y., U.P., 1975 Pietschmann H., G. Schwarz (2013), Mythos Urknall – Kann Wissenschaft den Anfang erklären?, Ibera- European U.P., Wien, 2013 Pirenne H. (1936), Europa im Mittelalter, Anaconda Verlag, Köln, 2009 Platon, Timaios, Platon Werke (1981), Bd. VII, WBG, Darmstadt, 2005 – Politeia, Platon Werke (1981), Bd. IV, WBG, Darmstadt, 2005 – Nomoi, Platon Werke (1981), Bd. VIII/IX, WBG, Darmstadt, 2005 – Menon, Platon Werke (1981), Bd. II, WBG, Darmstadt, 2005 – Symposion (1981), Bd.III, WBG, Darmstadt, 2005 Plinius d.Ä., Naturalis Historia, Ph. Reclam, Stuttgart, 2005 Plott J. (1980), Global History of Philosophy, Bd. 3., Delhi, 1980 Plutarch, The Life of Marcellus, in: Parallel Lifes, in: Loeb, Classical Liberary Ed.,Vol. V, http://penelope.uchicago. edu/ Thayer Poincaré H. (1902), Wissenschaft und Hypothese, (Original: La science et l’hypothèse, Paris 1902), Xenomos Verlag, Berlin 2003 Pope D. (1983), The Making of Modern Advertising, Basic Books, N.Y.,1983 Popper K.R. (1935), Logik der Forschung, Wien, 1935 – (1963), Conjectures and Refutations – The Growth of Knowledge, Routledge & Kegan, London, 1965 Prokopius, Anekdota, Geheimgeschichte des Kaiserhofs von Byzanz. (Hg.: Otto Veh), Artemis, München, 1981 Quetelet A. (1835, 1869), Physique Sociale ou Essai sur la Developpement des Facultés de l’Homme, (2 Bde.), C. Muquardt, Brüssel, 1869 Randell B. (Hg., 1973), The Origin of Digital Computers, Springer, Berlin-N.Y., 1982 Rashed, R. (1984), The Development of Arabic Mathematics: Between Arithmetic and Algebra, Kluwer Acad. Publ., Dordrecht, 1994 Ibid.: Appendix I: The Notion of Western Science: »Science as a Western Phenomenon«, S. 332 ff.

540

literatur – (1988), Al-Khwarizmī’s Concept of Algebra, in: Zurayq, Qusṭanṭīn, Atiyeh, G. Nicholas, Oweiss, Ibrahim M. (eds., 1988), Arab Civilization: Challenges and Responses: Studies in Honor of Constantine K. Zurayk, SUNY Press – (1993), Al-Kindi’s commentary on Archimedes’ »The measurement of the circle«, Arabic Sci. and Philos.,vol. III, 1993, S. 7 ff. – (1994), The Development of Arabic Mathematics: Between Arithmetic and Algebra, Boston Studies in the Philosophy and History of Science (Book 156), 1994 – (1997), Le commentaire par al-Kindi de l’Optique d’Euclide: un traité jusqu’ici inconnu, Arabic Sci. and Philos., vol. VII, 1997, S. 3, 5, 9 ff. – (1997), Oeuvres Philosophiques & Scientifiques d’al-Kindi: vol. I, L’Optique et la Catoptrique, Brill, Leiden, 1998 Rashed R., Jolivet J. (1998), Oeuvres Philosophiques & Scientifiques d’al-Kindi: vol. II, Métaphysique et cosmologie, Brill, Leiden, 1998 Reichert R. (1997), Der Diskurs der Seuche – Sozialpathologien 1700–1900, W. Fink, München, 1997 Reilly R.R. (2010), The closing of the Muslim Mind – How Intellectual Suicide Created the Modern Islamist Crisis, Wilmington, Delaware, 2010 RoeSmith M. (1985), Military Enterprise and Technological Change, MITPress, Mass., 1985 Rohls J. (1991), Geschichte der Ethik, Mohr-Sebeck, Tübingen, 1999 Rosenberg N. (1982), Inside the Black Box: Technology and Economics, Cambridge U.P., Mass., 1982 Rosenthal F. (1942), Al-Kindi als Literat, Orientalia, vol. XI, (1942), S. 262 ff. Sabel C.F. (1982), Work and Politics – The Division of Labor in Industry, Cambridge U.P., N.Y., 1982 Sarton G. (1927- 1948), Introduction to the History of Science, Williams & Wilkins, Baltimore, 1927–1948 ds. (1959), Bd. II, A History of Science – Hellenistc Science and Culture in the Last Three Centuries B.C., Vol. II, Norton Publ. Comp., N.Y. 1970 Schelsky H. (1963), Einsamkeit und Freiheit – Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen, Rowohlt, Reinbek b.H., 1963 Schmutzer M.E.A. (2011), Die Geburt der Wissenschaften – Panta Rhei, Velbrück Wissenschaft, Weilerswist, 2011 – (2006), Gesellschaft per Entwurf, in: Technik- und Wissenschaftssoziologie in Österreich: Stand und Perspektiven, (Hg.: Buchinger E., Felt U.), ÖZS Sonderband, S. 255 ff., Westdeutscher Verlag, 2006 – (2003), Twisting the Turn – Überlegungen zu A. Reckwitz’ »Die Transfor­ mation der Kulturtheorien«, Sociologia Internationalis XLI (2003), Heft 1 – (1995), Society, Culture and Technology, in: Monk J., Schmutzer M.E.A. (eds.), Views on Technology & Culture, Open Univ., U.K., 1995 – (1994), Ingenium und Individuum – Eine sozialwissenschaftliche Theorie von Wissenschaft und Technik, Springer Verlag, Wien-New York, 1994 Schramm F. (1963), Ibn al-Haythams Weg zur Physik, F. Steiner, Wiesbaden, 1963 Schrödinger E. (1932), Über Indeterminismus in der Physik; Ist Naturwissenschaft Milieubedingt, beide in: Zwei Vorträge zur Kritik der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, J.A. Barth Verlag, Leipzig, 1932

541

literatur – (1962), Was ist ein Naturgesetz?, R. Oldenbourg, München, 1962 Schubert Ch., Huttner U. (Hg., 1999), Frauenmedizin in der Antike, WBG, Darmstadt, 1999 Schwenke K. (2003), Das Erziehungssystem im antiken Sparta, GRIN, Norderstedt, 2003 Shapin St. (1994), The Social History of Truth, Chicago U.P., 1994 Simmel G. (1908), Der Fremde, Soziologie, (S. 685 ff.), Duncker & Humblot, Leipzig/München, 1908 Smith A. (1776/1789), Der Reichtum der Nationen – Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, Dt. Taschenbuch Verlag, München, 1990 Snow, C.P. (1959/1963), Die zwei Kulturen, in: H. Kreuzer (Hg., 1987), dtv, München, 1987 Soudijn K.A., Hutschemaekers G.J.M., van der Vijvers F.J.R., (1990) Culture Conceptualisations, in: van der Vijvers F.J.R., Hutschemaekers G.J.M., (eds.),The Investigation of Cultures: Current Issues in Cultural Psychology, (S.19-39), U.P. Tilburg, 1999 Spektrum der Wissenschaften (2/08), Ist Mathematik die Sprache der Natur? Stanford Encyclopedia, http://plato.stanford.edu/cgi-bin/encyclopedia/archinfo. cgi?entry=al-kindi Staudenmaier S.J., J.M. (1992), Science and Technology: Who gets a Say?, in: Kroes P., Bakker M., (eds., 1992), Technological Development and Science in the Industrial Age – New Perspectives on the Science-Technology Relationship, Kluver, Dordrecht, 1992 Steger F., Jankrift K.P. ( Hg., 2004), Gesundheit – Krankheit, Kulturtransfer medizinischen Wissens von der der Spätantike bis in die frühe Neuzeit, Böhlau, Köln – Wien, 2004 Stegmüller W. (1958), Wissenschaftstheorie, in: Philosophie, (Hg.: Diemer A., Frenzel I.) Fft./M.,1958 – (1974), Theoriendynamik und logisches Verständnis, in: W. Diederich (Hg., 1974), Theorien der Wissenschaftsgeschichte, Suhrkamp, Fft./M., 1978 Steinardt P.J., Turok N. (2007), Endless Universe – Beyond the Big Bang – Rewriting Cosmic History, Broadway Books, N.Y., 2007 Strohmeier G. (1999), Avicenna, C.H.Beck, München, 2006 Suetonius (Gaius) Tranquillus (= Sueton), (Hrsg. und Übers.: A. Lambert), Leben der Caesaren, Zürich 1955 Tertullianus (Quintus Septimius Florens), De Praescriptione Haereticum, Vom prinzipiellen Einspruch gegen die Häretiker, (Hg. und Übers.: Schleyer D., FC 42), Brepols, Turnhout, 2002 Thukydides, Der peloponnesische Krieg, Ph. Reclam, Stuttgart, 1990 Toomer, G. J. (1998), Ptolemy’s Almagest, Princeton U.P., 1998 Topitsch E. (1966), Das Verhältnis zwischen Sozial- und Naturwissenschaften. Eine methodologisch-ideologiekritische Untersuchung, in: ds. (Hg., 1966), Logik der Sozialwissenschaften, Kiepenheuer & Witsch, Köln-Berlin, 1966 – (1966), Sprachlogische Probleme der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung, in: ibid. Traweek S. (1988), Beamtimes and Lifetimes – The World of High Energy Physicists, Harvard U.P., Cambridge, 1988

542

literatur Turing A.M. (1936/1937), On Computable Numbers, with an Application to the ›Entscheidungsproblem‹, Proceedings of the London Math. Society 2, 42/43, London, 1937, S. 544 ff. van Ess J. (1991–1997), Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra – Eine Geschichte des religiösen Denkens im frühen Islam, 6 Bde., de Gruyter, Berlin, 1991 -1997 Veblen Th. (1899), The Theory of the Leisure Class (Dt.: Theorie der feinen Leute), Dover Publ., N.Y., 1994 – (1904), The Theory of the Business Enterprise, Blackmask, 1999 Vitruv, Zehn Bücher über die Architektur, (Hg.: Fensterbusch C., 1964), WBG, Darmstadt, 2008 Weber M. (1904/05), Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 3 Bde., J.C.B. Mohr, Tübingen, 1988 – (1922), Wirtschaft und Gesellschaft, J.C.B. Mohr, Tübingen, 1985 Wesel U. (2006), Geschichte des Rechts – Von den Frühformen bis zur Gegenwart, C.H. Beck, München, 2006 Winter L.W. (1964), Einführung, in: Der Koran – Das Heilige Buch des Islam, W. Goldmann, München, 1964 Wittgenstein L. (1921/22), Tractatus Logico-Philosophicus, in: Schriften von L. Wittgenstein, Suhrkamp, Fft./M., 1960 – (1958), Philosophische Untersuchungen, Suhrkamp, Fft./M., 1977 Woolf H. (ed., 1969), Quantification – A History of the Meaning of Measurement in the Natural and Social Sciences, Bobbs-Merrill Publ., Indianapolis – N.Y., 1969 Wulff K. (2014), Der Islam und die Naturwissenschaften: Der Konflikt zwischen der religiösen Wahrheit und der rationalen Wissenschaft, Diplomica Verlag, Hamburg, 2014 Xenophon,  Apomnemoneumata) – Erinnerungen an So­ krates, Ph. Reclam, Stuttgart, 2010 Ya’qubi, Vol. III, Muruj al-dhahab, Vol.III, zit.nach: Al-Mansur, Wikipedia, Zaidan A.M.A. (2010), Uluumul-hadiith – Einführung in die Hadiith-Wissenschaft, Islamolog. Institut, Wien, 2010

543