Die Weltanschauung des Mittelalters [Repring 2019 ed.] 9783486767124, 9783486767117

De Gruyter Book Archive (1933-1945) This title from the De Gruyter Book Archive has been digitized in order to make it

225 46 10MB

German Pages 169 [176] Year 1934

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
INHALT
I. DIE GEISTIGE WELT DER BEGRIFF DES MITTELALTERS
ANTIKE, CHRISTENTUM UND GERMANENTUM
DER BEGRIFF MITTELALTERLICHEN DENKENS
DIE KOSMOLOGIE
DIE GROSSEN SYSTEME
MYSTIK UND WELTGEFÜHL
II. DIE RELIGIÖSE WELT
DIE ENTSTEHUNG DES KATHOLIZISMUS
DOGMA UND SAKRAMENT
MÖNCHTUM UND ORDEN
DIE VOLKSRELIGION DES SPÄTMITTELALTERS
DIE RELIGIÖSE KUNST
Recommend Papers

Die Weltanschauung des Mittelalters [Repring 2019 ed.]
 9783486767124, 9783486767117

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

DIE WELTANSCHAUUNG DES MITTELALTERS YON

HEINRICH SCHALLER

MÜNCHEN UND B E R L I N 1934

V E R L A G VON R . O L D E N B O U R G

Alle Rechte, einschließlich des Übersetzungsrechtes, vorbehalten Copyright 1934 by R. Oldenbourg, München und Berlin Druck von R. Oldenbourg, München

INHALT I. Die g e i s t i g e W e l t : Der Begriff des Mittelalters Antike, Christentum, Germanentum

Seite

1 5

Der Begriff mittelalterlichen Denkens

11

Die Kosmologie

16

Die großen Systeme

43

Mystik und Weltgefühl

100

II. D i e r e l i g i ö s e W e l t : Die Entstehung des Katholizismus

111

Dogma und Sakrament

123

Mönchtum und Orden

134

Die Volksreligion

141

Die religiöse Kunst

158

I. DIE GEISTIGE WELT

DER BEGRIFF DES MITTELALTERS D e r B e g r i f f d e s M i t t e l a l t e r s 1 ) u m f a ß t heute nicht mehr nur die Zeit v o m Untergang der Antike bis etwa 1 5 0 0 , sondern ist, wenn m a n damit eine bestimmte K u l t u r f o r m meint, auf die verschiedensten Zeitalter anwendbar, soweit sie t r o t z ihrer Verschiedenheiten jene wesentlich mittelalterlichen Züge aufweisen, wie sie schon mehrfach in interessanter Weise bestimmt worden sind. B r e y s i g z . B . findet folgende Merkmale: In der G e s e l l s c h a f t die Entwicklung v o m Königtum und mediatisierten Gauf ü r s t e n t u m der Altertumsstufe zum Feudalismus, zu jener ausgesprochenen Herrschaft eines zahlreichen und vielgegliederten Adels, wobei das Königtum zwar erhalten bleibt, aber geschwächt wird zugunsten der Aristokratie; in der D i c h t u n g die höhere Ausbildung des Heldensanges, die Entstehung des Liedes, in Fällen seltener Reife auch des Schauspieles; in der B a u k u n s t eine erL i t e r a t u r : B r e y s i g , Stufenbau und Gesetze der Weltgeschichte. Stuttgart 1927. S p e n g l e r , Untergang des Abendlandes. T r o e l t s c h , Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt; Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen; Der Historismus; Augustin, die christliche Antike und das Mittelalter. L a m p r e c h t , Moderne Geschichtswissenschaft; Deutsche Geschichte. M a x W e b e r , Wirtschaftsgeschichte. E d u a r d M e y e r , Die wirtschaftliche Entwicklung des Altertums, v o n E i c k e n , Geschichte und System der mittelalterlichen Weltanschauung. L a n d s b e r g , Das Mittelalter und wir. Bonn 1925. M ö l l e r , Kirchengeschichte. K a r l M ü l l e r , Kirchengeschichte. Gröber, Übersicht über die lateinische Literatur von der Mitte des 6. Jahrhunderts bis 1350 im Grundriß der romanischen Philologie. M a n i t i u s , Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters. H u i z i n g a , Herbst des Mittelalters. 1924. S t a d e l m a n n , Vom Geist des ausgehenden Mittelalters, Studien zur Geschichte der Weltanschauung von Nikolaus Cusanus bis Sebastian Franck. 1929. D e u s s e n , Die Philosophie des Mittelalters. E n d r e s , Geschichte der mittelalterlichen Philosophie. H a r n a c k , Dogmen-Geschichte (Grundriß). R e u t e r , Geschichte der religiösen Aufklärung im Mittelalter. H e i l e r , Der Katholizismus. B ü h l e r , Die Kultur des Mittelalters. Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance, viele Bände, hrsg. v. W. Goetz, Teubner. H e s s e n , Patristische und S e h a l l e r , Weltanschauung.

1

2

I. Die geistige Welt

regtere, leidenschaftlichere, seelisch u n d sinnlich bewegtere Weise, als sie die Starrheit des Altertums mit seinen großen Königsb a u t e n k a n n t e ; in der Religion eine eigentümliche, ungewiß d ä m m e r n d e u n d phantastische F o r m gläubiger Erregung, eine Mischung erkennender und ahnender Beschauung der Welt u n d die Ausbildung eines hohen Priestertums, das die F u n k t i o n e n des Hausvaters u n d patriarchalischen Volkskultes ü b e r n i m m t . T r o e l t s c h charakterisiert das Mittelalter als agrarisch, aristokratisch, menschenarm, verkehrslos, verwaltungsschwach, kriegerisch; dazu t r i t t f ü r das abendländische Mittelalter der alles verbindende Katholizismus, eine spannungsreiche Einheit innerweltlich-überweltlicher religiöser Werte und die Umgebung reicherer und stärkerer K u l t u r e n : also der „arabischen", d. h. byzantinischislamitischen K u l t u r , ähnlich wie im Mittelalter der Antike die Umgebung der ägyptischen u n d babylonischen K u l t u r . L a m p r e c h t sieht die wesentlichsten Merkmale im langsamen Vordringen der Anschauung bis zur erscheinungsmäßigen Wiedergabe des Einzelgegenstandes, im Verharren im Analogieschluß unter Unkenntnis der Bedeutung des induktiven Schlusses, daher Wunderglaube u n d entsprechende religiöse u n d philosophische Anschauungen, weiter in der unbedingten Herrschaft der Kirche, in der geringen Selbstbeherrschung, die die Bindung der sittlichen Handlung an F o r m u n d Inhalt des Rechts bedingt und zur Verrechtlichung des religiösen Lebens und zu einem engbegrenzten Dasein im Zwange des einmal gegebenen kirchlichen Verbandes, zu einer Gebundenheit im weitesten Sinne f ü h r t , die jedoch eine echte Innerlichkeit nicht ausschließt. I n S p e n g l e r s kosmischen Visionen erscheinen die mittelalterlichen K u l t u r e n als metaphysische Schöpfungen einer erwachenden traumschweren Seele, die aus den mütterlichen Landschaften emporblühen und sich über den primitiven F r ü h k u l t u r e n entfalten als Frühlings- oder Kindesalter der Hochkulturen, voll Weltangst u n d Weltsehnsucht, die sich ausdrücken in der Geburt eines Mythos großen Stiles u n d frühester mystisch-metaphysischer scholastische Philosophie. S c h m a l e n b a c h , Das Mittelalter, sein Begriff und sein Wesen. W i c h m a n n , Die Scholastiker. H e l l m a n n , Das frühe Mittelalter. K ä s e r , Das späte Mittelalter. N i t z s c h , Geschichte des deutschen Volkes. L. Z i e g l e r , Gestaltwandel der Götter. S e e b e r g , Duns Scotus. Ü b e r w e g H e i n t z e , Gesch. d. Philog. J. B u r c k h a r d t , Die Zeit Konstantins des Großen. A r e n d t , Leo der Große und seine Zeit. Mainz 1835. G o t t f r i e d A r n o l d , Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie. S t r u n z , Albertus Magnus. G r a b i n a n n , Thomas v. Aquin.

3

Der Begriff des Mittelalters

Gestaltung des neuen Weltbildes; in unserem Mittelalter also durch den germanischen Katholizismus, die sieben Sakramente, Heliand, Muspilli, Marienkult, Gralsage, Parzival, E d d a , Nibelungen, Baldr, Siegfried, Heiligenlegende, Dante, Thomas, E c k a r t , Mystik u n d Scholastik. Es bilden sich Völkergruppen von ausgeprägtem Stil u n d einheitlichem Weltgefühl. Das politische Dasein n i m m t organische S t r u k t u r an mit patriarchalischen Staatsbildungen u n d E n t s t e h u n g der beiden frühen Stände des Adels u n d des Priestert u m s . Der Geist des Ganzen bleibt zunächst ländlich. Die „ S t a d t " , dies kosmische W u n d e r in der Landschaft, ist vorerst n u r Markt oder Burg. Die Herrscher wechseln ihre Pfalzen. Der Adel ist vorwiegend Lehnsadel mit ritterlich-religiösen Idealen. Die K u n s t zeigt eine Formensprache von tiefster symbolischer Notwendigkeit u n d schafft in Ornament u n d Architektur den elementaren Ausdruck des jungen Weltgefühls, das dem gesamten inneren u n d äußeren Dasein einen ganz bestimmten Stil aufprägt. Diese D e f i n i t i o n e n stimmen zwar nicht völlig überein, besonders scheint Breysigs Scheidung von Altertumsstufe u n d Mittelalter i m Gegensatz zu Spenglers Konzeption etwas problematisch, aber immerhin ist ein wichtiger A n f a n g gemacht f ü r eine v e r g l e i c h e n d e K u l t u r g e s c h i c h t e d e s M i t t e l a l t e r s . Die wichtigsten gemeinsamen Merkmale scheinen zu sein: die beginnende Arbeitsteilung u n d Ständebildung, der Übergang von den Geschlechter- u n d Stammesgemeinschaften zur politischen Gesellschaft, die Einheitlichkeit des Weltgefühls u n d des höheren Lebensstils der beiden Stände (Adel u n d Geistlichkeit), die Anfänge der Stadt u n d die innewohnende Tendenz zu organischer Weiterentwicklung; i m ganzen also ein bestimmtes Loslösen von der primitiven Welt u n d der deutliche Anfang der Frühzeit einer einheitlich gestalteten Hochkultur. I n diesem Sinne spricht m a n von einem Mittelalter in Ägypten, China, J a p a n , Indien, Amerika, Arabien usf. Leider sind wir gerade über das griechische Mittelalter nur relativ wenig unterrichtet, hauptsächlich infolge der Holzbauweise. Sein psychologisch lebendigstes Bild verdanken wir neben Bachofens, Rohdes u n d Nietzsches genialen Konzeptionen vor allem J a k o b Burckhardt 1 ), der das griechische Mittelalter in ein heroisches und ein koloniales Zeitalter einteilt, was m a n auch bei unserem Mittelalter t u n könnte. ') B a c h o f e n , Der Mythus vom Orient und Okzident. R o h d e , Psyche. N i e t z s c h e , Geburt der Tragödie u. a. J. B u r c k h a r d t , Griechische Kulturgeschichte. 1*

4

I. Die geistige Welt

Der B e g r i f f u n s e r e s e i g e n e n M i t t e l a l t e r s ist trotz alledem nicht leicht zu bestimmen, da er durch den Einfluß der antiken und „arabischen" Kultur kompliziert wird. Er umfaßt die Frühzeit unserer nordischen Kultur, und diese beginnt mit der festen Ansiedlung der Germanen, der Ausbildung des Königtums und der Stände, der Gründung fester Plätze und Städte und der damit verbundenen Arbeitsteilung, mit der Schöpfung eines eigentümlichen und einheitlichen Lebensstiles, Baustiles und Denkstiles und eines großen Mythos und Epos von archaischer Gewalt und tiefster metaphysischer Gebundenheit. Spengler legt den Anfang ins 10. Jahrhundert, man kann jedoch ruhig mit dem Frankenreich beginnen, da sich die Elemente der Frühzeit unter der Restdecke antiker Civilisation schon zögernd und suchend zusammenschließen, als wüßte man nur noch nicht, wohin man wolle, als wagte man noch nicht, sich selbst zu setzen und das freie Leben des Naturvolkes mit dem Zwang und der Schicksalslast einer hohen Kultur und weltgeschichtlichen Aufgabe zu vertauschen. Für den A u s g a n g des M i t t e l a l t e r s sind bezeichnend: der Verfall der kirchlichen und politischen Universalidee, der Sieg der Stadt über das Land und der Geldwirtschaft über die Naturalwirtschaft, der Aufstieg des Bürgerstandes und der Übergang vom Lehnsstaat zum Ständestaat und Absolutismus, der sich aus den Ständekämpfen entwickelt, die die Geldwirtschaft mit sich bringt. An Stelle des feudalen Lehnsadels mit seinen ritterlichen Idealen treten Hof- und Offiziersadel, stehende Söldnerheere und die Bürokratie des absoluten Staates. Die Volksreligion wird in den gebildeten Schichten vielfach durch Metaphysik und Philosophie abgelöst. Der sozialreligiöse Zwang wird gebrochen, und neben der Gesetzesreligion mit ihrer Magie, ihrer Hierarchie und ihrem Dogmatismus entwickeln sich individualistische Gesinnungsreligionen und eine starke Neigung zu Pantheismus und Kosmosophie. Das rationale und empirisch-induktive Denken und Forschen hebt sich langsam heraus aus der Sphäre der Religion, Metaphysik und Phantasie. Die Künste und Wissenschaften beginnen sich zu spezialisieren, und der Individualismus bringt eine Reihe größter Meister und genialer Persönlichkeiten hervor. Das Ganze wird geistig und männlich überlegener, reifer, breiter, sicherer und rationaler und verliert allmählich die oft noch kindlichen und unentwickelten Züge des Mittelalterlichen und seiner archaisch ländlichen Frühe und Einfachheit.

Antike, Christentum and Germanentum

5

ANTIKE, CHRISTENTUM UND GERMANENTUM E s ist leider nicht festzustellen, wie die Entwicklung unseres Mittelalters verlaufen wäre und was sich gebildet hätte, wenn nicht die eben untergegangene Weltkultur der Antike ihre Schatten geworfen hätte und nicht das orientalische Christentum über die nordische Mythologie „hingefahren" wäre und die Ausbildung einer höheren bodenständigen Kultur verhindert hätte. So müssen denn diese drei: A n t i k e , C h r i s t e n t u m u n d G e r m a n e n t u m als die Elemente der mittelalterlichen und modernen Kultur gelten bis zum heutigen Tage. Von der A n t i k e übernahm man neben einer ganzen Fülle geistiger und materieller Kulturgüter vor allem die lateinische Sprache und Schrift und die Literatur 1 ), soweit sie erhalten war, den geistlichen und weltlichen Imperialismus und die kosmischen und philosophischen Vorstellungen. Die Kosmologie des Timäus und das Weltbild des Ptolemäus, der Gottesstaat Augustins und der neuplatonisch-dionysische Gradualismus bilden neben der Bibel und dem kirchlichen Dogma die Elemente der höheren mittelalterlichen Weltanschauung. Dabei sind die Auffassungen und Spiegelungen antiker Kultur für die Entwicklung bezeichnender als die Tatsache der kulturellen Lehngüter an sich, denn es sind immer nur die weiblichen Bestandteile einer Kultur, die sich vererben, der männliche Kern ist immer bodenständig, ursprünglich, eigentümlich und schöpferisch und bleibt mit dem Abblühen einer Kultur ein für allemal mit ihrem Stil, ihrem Duft und ihrer Einmaligkeit vergangen 2 ). Man soll darum die antike Kultur wie jede Kultur um ihrer selbst willen lieben und ihr Studium nicht rechtfertigen wollen durch ihre Nachwirkungen. Dies Studium hat seinen Wert sowohl in sich wie für den Vergleich. Goethe sagt: „ W e r keine fremde Sprache kennt, weiß nichts von der eigenen", und ein großer Religionshistoriker: „Wer nur eine Religion kennt, kennt keine." Dies gilt ebenso für die Kultur als Ganzes. Dabei wird man jedoch feststellen, daß der Geist des Abendlandes von dem der Antike ebenso verschieden ist wie der Charakter der nordischen Landschaft von der südlichen, und daß er sich in keiner Weise von ihm ableiten läßt, trotz tausend äußerlicher ') In Betracht kommen vor allem: Marcianus Capeila, Dionys, Boethius, Augustin, Cassiodorus, Aristoteles, soweit ihn Boethius vermittelte, und Piaton, von dem freilich außer Nachrichten über ihn nur ein Teil des Timäos in der Übersetzung des Chalcidius bekannt war. 2 ) G o b i n e a u , Die Renaissance, Einleitung.

6

I. Die geistige Welt

Verbindungen. Das Wesentliche bei jeder Kulturmischung ist die schöpferische, ursprüngliche, bodenständige Kraft, nicht das Lehngut, sondern was man damit anfängt. Es gibt nichts Unmännlicheres als jene historische Betrachtungsweise, die in der G e s c h i c h t e weniger einen S c h ö p f u n g s - als einen V e r e r b u n g s p r o z e ß sieht, die mehr Wert auf das Entlehnen als auf das ursprüngliche Gestalten und Umgestalten legt und womöglich das Mittelalter oder die Renaissance auf das Griechentum zurückführt, ohne daran zu denken, daß Blut, Geist und Stil und nicht äußerliche Verbindungsfäden das Wesen bedeuten. Auf das Wesen aber kommt es allein an! Das gleiche gilt für das C h r i s t e n t u m : Auch hier ist für die eigentliche historische Entwicklung die G e r m a n i s i e r u n g d e s C h r i s t e n t u m s bezeichnender als die Christianisierung des Germanentums: Die romanischen Bauten, die Burgen und festen Städte, die Backsteingotik, die Wehrkirchen, Ordensschlösser und streitbaren Bischöfe des Mittelalters sehen alles andere als nach weltflüchtiger Transcendenz aus und verkörpern wie der Heliand, das Muspilli, die Ritterorden, Parzival und die Heldendichtung ein wehrhaftes Christentum ganz eigner Art. Dieser eigentümliche D u a l i s m u s , diese innere Spannung zwischen ascetischer Tendenz und Weltoffenheit, die durch die Christianisierung des Germanentums in die mittelalterliche Welt hineingetragen wurde, bestimmt entscheidend die Geschichte des Abendlandes bis zur Gegenwart und bewirkt von Zeit zu Zeit die heftigsten Explosionen (s. Nietzsche). Diese heftige Spannung und Auseinandersetzung zwischen dem jüdisch-christlichen Sündengefühl und den ungebrochenen Naturinstinkten der nordischen Völker mit ihrem Stolz, ihrem wehrhaften Eroberungsgeist und natürlichen Egoismus und Herrschaftswillen ist eine besondere Eigentümlichkeit unseres Mittelalters. Die Christianisierung der Germanen war letzten Endes ein Prozeß der Zähmung, Domestizierung und Brechung der natürlichen Kräfte, und dieser Prozeß war nur möglich, indem sich das Christentum den Verhältnissen anpaßte und vor allem den bildlichen und magischen Bedürfnissen der Völker entgegenkam. Aber es bleibt dennoch rätselhaft, wie diese prachtvollen Hünen der Frühzeit sich abgefunden haben mögen mit der Lehre von einem gekreuzigten Gott, von Sünde, Mitleid, Gnade, Liebe, Rechtfertigung und Erlösung. Offensichtlich half man sich, indem man umgekehrt das Christentum germanisierte, annahm, was annehmbar erschien, mit eigenen Anschauungen vermischte oder vertauschte, was ähnlich

Antike, Christentum and Germanentum

7

war, und ignorierte, was man nicht verstand, und das war meist gerade das Wesentliche. An Stelle der reinen Innerlichkeit traten wiederum Magie und Verbildlichung, an Stelle des Naturmythos und seiner Kämpfe zwischen den Naturgewalten der Kampf zwischen Himmel und Hölle, an Stelle der Götterdämmerung trat im M u s p i l l i der Kampf des Elias mit dem Höllenheer und später der Mythos um Michael und St. Georg. Der Heliand wurde zum Herzog und die friedlichen Apostel und Missionare der Frühzeit zu wehrhaften Ritterorden und Kreuzfahrerheeren. Der Kampfgeist des Nordländers, in einem Jahrtausende langen harten Leben zu einem Erbteil der Rasse geworden, blieb unter der christlichen Decke erhalten und modifizierte mit dem guten Gewissen der Selbstverständlichkeit eine fremde Religion, deren Einbruch die Entwicklung der eigenen unterbunden hatte. Das Muspilli gibt am besten die V e r m i s c h u n g W e l t e n wieder 1 ): sin tac piqueme

daz er towan scal;

sein Tag komme,

wanta sär denn

so

daß er sterben muß;

sih diu sela

gleich wenn sich die

enti si den lihhamun so quimit ein heri

ein Heer

liegen

sorgen mac diu sela,

mag die Seele,

da

sint so kreftic

Die Kämpfer sind so kräftig, Elias streitet

fechten

sie darum.

diu suona arget,

solange das Gericht ergeht,

zu welchem der beiden Heere

glias stritit

laßt,

Himmelsgestirnen,

unzi

za wederemo herje khenfun

erhebt

dar pägant siu umpi.

andere von der Hölle,

Sorgen

auf den Weg

fona himilzungalon,

von

daz andar fona pehhe: das

in den sind arhevit

Seele

likkan läzzit,

und sie den Leichnam so kommt

zweier

si gihalöt werde. . .

sie geholt

werde.

diu kösa ist so mihhil.

die Sache ist so groß.

pi den ewigon lip,

um das

wili den rehtkernön

will den Rechtgehenden

ewige

Leben,

daz rihhi kistarkan:

das Reich befestigen,

l ) Ausw. aus P i p e r : Die älteste deutsche Literatur, Stuttgarter Nationalliteratur.

I. Die geistige Welt

8 pidiu

scal imo helfan

der himiles

deshalb wird ihm helfen,

der antichristo stet Der Antichrist

pl demo altfiante,

steht

bei dem

st6t pi demo satanäse, steht bei dem

pidiu

alten Feind,

der inan varsenkan scal.

Satanas,

der ihn

versenken

scal er in deru wicsteti

Deshalb wird er auf der

enti in demo

wund fallen

sigalös werdan.

Stätte

sieglos

Doh wänit der wäre des, Doch hofft

der Böse

darum,

werden.

in

wäle gotmanno,

beim Morden der Gottesmänner,

daz elSas in demo wige

arwäfanit stante.

daß Elias in dem

waffenlos

So

Kampfe

daz eliases pluot

Wenn des

Elias

in erda

Blut

enic

in erdu

aha

artruknet,

swilizot lougju der himil.

Sumpf verschluckt sich,

vallit,

Der Mond fällt,

sten ni

verit mit vuiru da

das Erdenrund,

denne stüatago

wenn

viriho wisön:

Feuer

die Menschen suchen:

mac mäk andremo

denne daz preita wasal der

breite

Glutregen

enti vuir enti luft

und Feuer und Luft

helfan vora muspille.

ist dann

vom Weltenbrand.

allaz varprennit

alles

verbrennt.

iz allaz arfurpit: es alles

wegkehrt,

war ist denne diu marha dar man eo wo

in lant

Gerichtstag ins Land

nicht mag Verwandter dem andern helfen

Wenn

Himmel.

prinnit mittilagart,

Stein nicht steht,

dar ni

verbrennt in Lohe der

brennt

kistentit,

fährt mit

kistentit,

Baum nicht steht

Wasser vertrocknet,

muor varswilhit 6ih, mäno

poum ni

die Berge,

einziger auf Erden,

stehe.

kitriufit,

auf die Erde träuft,

so inprinnant die pergä, so entbrennen

wird.

wunt pivallan

Kampfstätte

sinde

und an der

kiwaltit.

der des Himmels waltet.

die Mark,

mit mägon

piec ?

wo man immer mit Verwandten stritt ?

Das G e r m a n i s c h e erhielt sich vorwiegend im Volkstum: in Siedlung und Bauweise, Sitten und Bräuchen, Volks- und Aberglauben, Sprache und Volksdichtung, aber auch in Adel und König-

Antike, Christentum und Germanentum

9

t u m , Gesetz u n d Recht, Wehrhaftigkeit u n d Eroberungsgeist, im Individualismus u n d im kosmischen Gefühl, die immer wieder durchbrechen u n d das christliche u n d antike Lehngut umgestalten. Das Großartigste, was der germanische Norden hervorgebracht h a t , sind die ungeheuren Bauwerke des Mittelalters, die romanischen wie die gotischen 1 ). Diese dämmernden R ä u m e nordischer Dome mit ihren feierlichen Gewölben u n d ihrer konstruktiven Energie, ihren dämonischen Skulpturen, ihren Bändergeweben und Wolken von Geschöpfen sind nicht irgendwie ableitbar, sondern wie etwas Urweltliches unmittelbar u n d bodenständig aus dem Schöße der nordischen Landschaft und ursprünglichen Gestaltungsk r a f t junger Naturvölker herausgewachsen. Sie haben trotz aller technischen u n d geistigen Einflüsse der Antike u n d des Orients ihre Wurzel in der germanischen Urzeit u n d ihrem großartigen Mythos elementarer Gewalten, ihrem Heroismus, ihrer Weltangst und Weltsehnsucht u n d tiefen Ahnung der Geheimnisfülle der Welt. Diese nordische B a u k u n s t h a t trotz allem innigere Beziehungen zu L a n d s c h a f t u n d M y t h o s als zu Tempel, Basilika u n d Urchristentum. D e r M y t h o s selbst ist der großartigste, den eine L a n d s c h a f t hervorgebracht h a t , eine metaphysische Schöpfung voll tiefster Leidenschaftlichkeit u n d düsterer P r a c h t , in der sich das Riesenh a f t e i m K a m p f der Naturgewalten u n d die ganze furchtbare Schönheit des Nordens widerspiegelt: D ä m m e r u n g , Nacht und Nebel, Winter u n d Eis, Gewitter, Sturm und jagendes Gewölk, das Meer u n d urweltliches Riesengetier, die mütterliche Fruchtbarkeit der Erde, die ungeheuren Wälder, die Lieblichkeit des Lichtes u n d die W o h l t a t der Sonne in der vorherrschenden Dämmerung, die Sonnenwenden u n d Jahreszeiten, das Alpenglühen u n d das Geheimnisvolle des Unterirdischen u n d Berginneren und seiner Schätze. Schweden, Dänemark, Rügen u n d die Ostsee (der mareo seo), England (Stonehenge), Norwegen, Island u n d der Ozean steigen als Hintergründe herauf, u n d eine geheime Sehnsucht verbindet uns noch heute mit dieser nordischen Landschaft und ihrem Mythos. D a s U r l e b e n d i g e k o m m t zum Ausdruck in dem Mythos von der Schöpfung der Welt aus dem Leibe eines Urriesen, das L i t e r a t u r : D e h i o , Geschichte der deutschen Kunst. H a m a n n , Geschichte der Kunst. S c h e f f l e r , Geist der Gotik. P i n d e r , Deutsche Dome. K a r l i n g e r , Über romanische Kirchenbauten. J a h n , Die Skulpturen der nordfranzösischen Kathedralen.

10

I. Die geistige Welt

tiefe Weben und Wesen, das Wälderhafte und Alleine in dem Mythos vom Weltenbaum, dessen Zweige Asenheim, dessen Wurzeln das Reich Mimirs und der Nornen umschließen. Tief unter den Wurzeln liegt Helas Reich, ihre Burg „Elend", ihr Saal „Eiseskälte", „Hunger", „Mangel" usw. Es muß schwierig gewesen sein, diese Höllenvorstellung mit der gleichfalls geographisch bedingten, aber entgegengesetzten Höllenvorstellung des Christentums zu vertauschen, ebenso schwierig wie der Übergang von Walhall zum Paradies und der W e c h s e l der W e l t a n s c h a u u n g überhaupt, durch den eine Götterdämmerung in einem ganz anderen Sinn hereinbrach: der Sturz des alten Götterhimmels und seine Verwandlung in eine Welt niedriger Spuk- und Teufelsgestalten. Der Übergang spiegelt sich deutlich im s ä c h s i s c h e n T a u f g e l ö b n i s wider: Forsachistu diobole ? ec forsacho diabole. end allum diobolgelde? end ec forsacho allum diobolgelde. end allum dioboles uuercum ? end ec forsacho allum dioboles uuercum and uuordum, t h u n e r ende uuöden ende s a x n ö t e ende allvm them unholdum, the hira genötas sint. gelöbistu in got alamehtigan fader ? ec gelöbo in got alamehtigan fader, gelöbistu in crist gotes suno ? ec gelöbo in crist gotes suno. gelöbistu in hälogan gast ? ec gelöbo in hälogan gast. Was sich vom Urmythos noch erhalten hat im Volkstum: in Festen und Bräuchen, Märchen, Sage und Aberglaube ist durchweg profaniert, klein und oberflächlich geworden. Der große metaphysische Gehalt und religiöse Ernst ist aus allem geschwunden, und von einem Naturmythos größten Stils ist nur ein Kinder- und Ammenmärchen übriggeblieben. Nicht viel besser erging es dem H e l d e n e p o s : Gestalten, wie sie keine andere Literatur hervorgebracht hat: Hildebrand, Dietrich, Hagen, Wate, Brunhild, Kriemhild, Kudrun verlieren

Der Begriff mittelalterlichen Denkens

11

bald ihre mythische Kraft und werden zur bloßen Sage. Das Ideal der Größe und tiefen Leidenschaftlichkeit wird verdrängt durch das höfisch-französische Ideal des „Ritters" und der „Dame", die Leidenschaft durch die Minne, der Heroismus durch das Abenteuer im Dienste der Minne und des Glaubens, ein Prozeß, der die Entwicklung vom F r ü h m i t t e l a l t e r zum S p ä t m i t t e l a l t e r , von barbarischer Kraft zur Civilisation in seiner Weise grell beleuchtet und sich u. a. auch.in der S p r a c h e und D i c h t u n g ausdrückt: so in der Entwicklung von der großartig barbarischen Schönheit und Vokalfülle des Germanischen und Altdeutschen und seinen Rhythmen und Stabreimen zu dem „holderen", aber auch viel kleiner wirkenden Mitteldeutsch mit seinen Versen und Reimen, seiner höfischen Gewähltheit, zucht und masze. Zum Glück hat namentlich das zähe niederdeutsche Volkstum nicht alles mitgemacht und sich manches von dem bewahrt, was seit Karls des Großen allerchristlichstem Blutbad verlorengegangen ist.

DER BEGRIFF MITTELALTERLICHEN DENKENS Der B e g r i f f m i t t e l a l t e r l i c h e n D e n k e n s ist leider noch wenig bestimmt. Der A n a l o g i e s c h l u ß kann nicht als Charakteristikum dienen, da bekanntlich alles Denken vergleichend-analoges Denken ist, d. h. Zurückführen von Unbekanntem auf Bekanntes und vergleichendes Begreifen von Verschiedenem, Ahnlichem und Gleichartigem, das sich dem Ideal der Identität nur nähern kann. Es muß daher die A r t m i t t e l a l t e r l i c h e r Anal o g i e s c h l ü s s e und S y l l o g i s m e n näher bezeichnet werden: etwa als vielfach vage, phantasievolle, gefühlsmäßige, metaphorischsinnbildliche, intuitive, bildhafte, poetische, Glauben und Wissen, Wirklichkeit und Metaphysik, Symbol und Begriff, Innen- und Außenwelt vermischende, vielfach naive und primitive, zu wenig auf Erfahrung und Induktion beruhende Analogie 1 ). Denn die Art der Analogien bestimmt auch die Art der Urteile, Schlüsse und Begriffe: Bildliche Vergleiche führen zu bildlichen Vorstellungen und Ausdrücken (vgl. die Etymologie); transcendente Praemissen führen zu transcendenten Schlüssen und Begriffen, die sich weder x ) A n a l o g i e s c h l u ß : vom Besonderen auf das Besondere. Induktivs c h l u ß : Vom Besonderen auf das Allgemeine. S y l l o g i s m u s : deduktiv: vom Allgemeinen auf das Besondere.

12

I. Die geistige Welt

beweisen noch widerlegen lassen; u n d Urteile, Schlüsse u n d Beweise, die auf dem Offenbarungs- u n d Autoritätsglauben beruhen, setzen eben diesen Offenbarungs- und Autoritätsglauben voraus u n d können oft n u r u n t e r dieser Voraussetzung auf Verbindlichkeit Anspruch erheben. Zunächst machen sich p r i m i t i v e R u d i m e n t e geltend, insofern auch f ü r den mittelalterlichen Menschen noch vielfach der Unterschied zwischen wirklicher und symbolischer Handlung, Mysterium u n d Zeremonie gar nicht existiert und magische „ P a r t i cipationen" u n d Dämonismus u n d Polytheismus, Zauber-, Aberu n d Wunderglaube noch eine große Rolle spielen. Teil und Ganzes, S y m b o l u n d G e g e n s t a n d werden noch oft identifiziert. „ D a s mittelalterliche Denken bewegt sich ebenso häufig vom Symbol zum Symbol wie von der E r f a h r u n g zum Symbol." „So h a t m a n sehr schön gezeigt, wie die innerliche Verehrung der Madonna zu einer Reihe von Bildern f ü h r t , die von verschiedenen Seiten die Grundstimmung ausdrücken: Die Heimat der Hostie auf d e m Altar, die Stelle, wo das Göttliche in körperlicher F o r m hervort r i t t , wurde Symbol f ü r Madonna, in deren Schoß Gott Mensch wurde. Madonna ist aber zugleich der Morgenstern, der den Aufgang der Sonne a n k ü n d e t , und sie ist der Frühling, wo Licht u n d Wärme die Finsternis u n d die K ä l t e des Winters ablösen." 1 ) Dies sind offenbar poetische, bildhafte, metaphorische Analogien, die auf keinem direkten, gesetzmäßigen Zusammenhang der verglichenen Inhalte beruhen, die aber auch n u r e i n e Art mittelalterlicher Analogie darstellen, wenn auch eine sehr wesentliche. Die unwillkürliche Symbolbildung ist die Voraussetzung nicht n u r aller Mythologie, sondern auch vieler D o g m e n , R i t e n u n d S a k r a m e n t e : wie der Taufe, des Abendmahles, der Ordination und anderer Reste der Magie u n d der Mysterien. Aber nicht alle Symbole werden Dogmen, und nicht alle Dogmen sind Symbole oder beruhen auf Symbolen. „Die Anschauung, die Dogmen seien Symbole, löst, konsequent durchgeführt, die positive Religion auf. Sie entspricht auch nicht dem Bewußtsein derer, die das Dogma gebaut haben, u n d der Voraussetzung derselben, sich auf Tatsachen zu gründen. Richtig aber ist, d a ß ein verborgenes symbolisches Element den Dogmen a n h a f t e t u n d selbst Existentialsätze mißverstanden werden können, wenn m a n ganz von ihnen absieht 2 )." 1 2

) Vgl. H ö f f d i n g , Der menschliche Gedanke; Der Begriff der Analogie. ) Von H a r n a c k , Grundriß der Dogmengeschichte. 6. Aufl. S. 2.

Der Begriff mittelalterlichen Denkens

13

Von dem dogmatisch Festgestellten aus wird dann „ein Kampf gegen frei entwickelte Symbole geführt, wie auch gegen die Versuche die Dogmen als bloße Symbole aufzufassen". Der Kampf der Dogmatik gegen die Symbolik ist daher immer „ein Kampf zwischen ist und bedeutet" 1 ). Voraussetzung und Folge alles Dogmatismus ist der O f f e n b a r u n g s - u n d A u t o r i t ä t s g l a u b e . Er ist typisch für ein Zeitalter der Gesetzesreligion mit einer imposanten Hierarchie und ständischer Gliederung, sozialreligiösem Zwang und schwachen wissenschaftlichen Ansätzen. Der Begründer des kirchlichen Dogmas ist letzten Endes Paulus, dessen pneumatische C o r p u s - C h r i s t i L e h r e nicht nur die Grundlage des Sakramentalismus, sondern auch der Ausgangspunkt jenes Dogmas wurde, das die Welt des Mittelalters recht eigentlich bestimmt und gestaltet hat: des Dogmas von der H e i l s n o t w e n d i g k e i t der Z u g e h ö r i g k e i t zur K i r c h e . Der Corpus Christi ist die Kirche als Gemeine der Heiligen, die an ihm in magisch-mystischer Weise teil hat und sich in dieser Teilhaftigkeit durch den Glauben und die Sakramente innig und immer wieder bestärkt fühlt. Da nach dem Dogma niemand zum Vater kommt denn durch Christus, so ist die Mittlerschaft unmittelbar auf die Kirche als den Leib Christi übergegangen und somit ganz folgerichtig außerhalb der Kirche kein Heil. Da nun ferner jedem, der die Kirche und ihre Lehren in ihrer jeweiligen tatsächlichen Gestalt nicht anerkannte, Bann und Exkommunikation drohten, so war die notwendige Folge jene s o g e n a n n t e m i t t e l a l t e r l i c h e g e i s t i g e G e b u n d e n h e i t , die jedoch niemals in dem Maße bestanden hat, wie man vielfach annahm. Es wäre lächerlich, Männer wie Augustin, Albert und die beiden Scotus, die auf der Höhe abendländischer Bildung stehen, als geistig gebunden bezeichnen zu wollen. Geistig Gebundene gibt es zu allen Zeiten, aber die Verallgemeinerung ist stets gefährlich, auch für das Mittelalter. Schon der Kreis um Karl den Großen zeigt eine ziemliche geistige Freiheit, und Männer wie Abälard (sie et non) und noch mehr sein Schüler Johann von Salisbury (Polycraticus, Metalogicus) sowie Kaiser Friedrich II. waren viel zu klug und vielseitig gebildet, um nicht die Gegensätze, Widersprüche, Unzulänglichkeiten und Bedingtheiten der verschiedenen Weltanschauungen zu durchschauen. Auch das Wort von den drei Betrügern (Moses, Christus, Mohamed), das man Friedrich II., Simon von Tournay und Averroes zugeHöffding.

14

I. Die geistige Welt

sprochen hat, und die spätere Schrift De tribus Impostoribus weisen darauf hin, daß es auch im Mittelalter Skeptiker gegeben hat. Wahrscheinlich fanden sie sich häufig gerade unter der hohen und gebildeten Geistlichkeit, und da diese nahezu allein die gebildete Schicht darstellte, ist es leicht zu erklären, warum man nicht viel davon erfährt: Man wußte zu viel, um durch Diskussionen die eigene Stellung zu gefährden. Niemand war mehr davon überzeugt, daß die Welt dem Wahne unterworfen sei, als Johann von Salisbury (mundum vanitatem subjectum esse, Metalogicus Kap. 42). Daher auch seine Stellung zum A b e r g l a u b e n , Dämonen- und H e x e n w a h n , von dem er meint, es sei alles eine boshafte Täuschung des Teufels. Das beste Mittel gegen solche Pest sei, daß man sich fest an den Glauben halte, jenen Lügen kein Gehör gäbe und solche jammervollen Torheiten in keiner Weise der Aufmerksamkeit würdige (Polykraticus I. II. c. 17). Auch diese jammervollen Torheiten: Dämonen- und Hexenglaube, Zauber- und Aberglaube, Folter und Verfolgung sind durchaus nicht nur typisch für das Mittelalter, denn sie erreichen ihren Höhepunkt erst im 16. Jahrhundert und finden sich ebenso in der Antike: Die goldene Antike hat ihre Philosophen hingerichtet und die Christen mit Sadismus gemartert; sie kannte nur relativ niedrige Religionen und war dem Aberglauben nicht weniger verfallen als das Mittelalter. Das Gerüst der h ö h e r e n m i t t e l a l t e r l i c h e n W e l t a n s c h a u u n g i s t wie gesagt neben dem Dogma wesentlich bestimmt durch das antike Erbe: durch Piatons Timaios, Aristoteles' Erkenntnistheorie und Metaphysik, durch das Weltbild des Ptolemaios, durch Augustins Civitas Dei und Areopagitas Hierarchien. Die Hauptaufgabe war nun, dies Konglomerat zu durchdenken und zu gestalten, insbesondere die antike Spekulation in die biblischchristliche Welt einzubauen, da man vor der Antike nicht weniger Respekt hatte als vor der Bibel, so daß selbst Thomas von Aristoteles nicht anders als von dem Philosophen zu sprechen pflegte. Sachlich hat das Mittelalter nicht eben viel Neues gebracht, aber die Art der Gestaltung und Umgestaltung ist eigentümlich und typisch mittelalterlich in ihrer Naivität, so daß das Ganze wie ein spekulativer Mythos anmutet, wie ein Gebäude, das in wunderlicher und oft barbarischer Weise aus alten Bausteinen fremder Gebäudereste aufgeführt ist, im ganzen aber den mittelalterlichen Bauwerken nicht unähnlich ist. Diese imposante Architektur des mittelalterlichen Weltbildes verdankt ihre konstruktive Kraft und Einheitlichkeit einigen wenigen P r i n c i p i e n m i t t e l a l t e r l i c h e n

Der Begriff mittelalterlichen Denkens

15

D e n k e n s : dem t h e o c e n t r i s c h e n U n i v e r s a l i s m u s und G r a d u a l i s m u s , dem O r g a n i s m u s - , H e i l s - und V o r s e h u n g s g e d a n k e n . Alle Dinge werden mittelbar oder unmittelbar auf ihren ewigen Urgrund bezogen, der meist außerweltlich, persönlich und dreieinig gedacht wird, denn das Dogma von der Trinität ist das Gentraidogma des Mittelalters und bestimmt noch entscheidend das Weltbild des Cusaners. Besonders bezeichnend ist dabei das P r i n z i p der R a n g und S t u f e n o r d n u n g und der O r g a n i s m u s g e d a n k e . Alles ist als Zweck und Mittel zugleich einbezogen in ein metaphysisches Heilssystem der Wirkungen und Werte und hat seine Stelle im Kosmos der Rangordnung. Auf Schritt und Tritt stößt man auf diesen Gradualismus: Das Reich Gottes ist die universitas praedestinatorum und zerfällt in die ecclesia militantium in terra, ecclesia dormientium in purgatorio und ecclesia triumphantium in coelo. Die Menschheit zerfällt religiös in Anfangende, Fortschreitende und Vollkommene und sozial in den Lehrstand, Wehrstand und Nährstand. Die Hierarchie ist Gradualismus an sich. Die Erkenntnisakte zerfallen in niedrige, höhere und höchste, von der bloßen Sinnlichkeit, Beobachtung und intellektuellen Einsicht bis zur Schau, Erleuchtung und Offenbarung mit dem End- und Daseinsziel der „visio beatifica". Im Sinne des Neuplatonismus erscheint der Kosmos in der festen Rangordnung der Materie, der Pflanzenund Tierwelt, der Menschen- und Engelwelt bis zur heiligen Dreifaltigkeit. Nicht nur die Hölle ist gegliedert in Limbus, Inferno und Purgatorio, sondern auch der Himmel und die Engelwelt; diese himmlische Hierarchie setzt sich nach unten fort in der irdischen Hierarchie (Dionys). Die höheren Ordnungen wirken nach unten und spiegeln sich, wenn auch unvollkommen, in den niederen, die nach oben streben zur Erlösung und Vollkommenheit mit Hilfe Christi, der Mutter Kirche und der Gnade Gottes, die den Ring nach unten schließen. Diese Verschmelzung verschiedenster Elemente ist natürlich zugleich eine schöpferische Leistung, die ihren Ausdruck findet in den großen S y s t e m e n von Origenes, Plotin, Augustin, Dionys, Johannes und Duns Scotus, Albert und Thomas, die die himmlische und irdische Welt in dem einen Kosmos der Schöpfung und Erlösung einbegreifen, der im Schöße Gottes ruht, von dem alles ausgeht und zu dem alles hinstrebt. Dennoch geht ein tiefer D u a l i s m u s durch das Ganze, der sich ausdrückt in den Gegensätzen von Gott und dem Satan, Engeln und Teufeln, himmlischem und irdischem Dasein, Schöpfer und Ge-

16

I. Die geistige Welt

schöpf, Gut u n d Böse, Licht u n d Finsternis, Civitas terrena u n d Civitas Dei, weltlichem und geistlichem I m p e r i u m usf. Die Welt erscheint einmal als göttliche Schöpfung u n d Werk der Vorsehung und dann wieder als die Frau Werlt mit der lockenden Vorderseite und von Lastern zerfressenen Rückenseite. Man ist der göttlichen und kirchlichen Gnadenmittel gewiß u n d dennoch geängstigt von dem Gedanken an Hölle, Tod und Jüngstes Gericht. Das Symbol dieser Zwiespältigkeit ist das Kreuz, und der Mythos dazu die Lehre vom gefallenen Engel Lucifer u n d vom Falle Adams, von der Erbsünde u n d Christi Opfertod, der sich täglich im allerheiligsten Sakrament wiederholt. Dieser Dualismus, dessen Spannungen bei dem denkbar großen Gegensatz zwischen Christentum u n d Germ a n e n t u m , äußerster Verfeinerung der Seele u n d des Gewissens u n d elementarer K r a f t u m so heftiger sein m u ß t e n , war, wie gesagt, in den Norden erst hineingetragen worden, der zwar einen n a t u r mythischen, aber keinen christlichen Dualismus des versehrenden Gewissens gekannt h a t t e , sondern gerade in seiner selbstverständlichen B e j a h u n g der Leidenschaften seine großartigsten Mythen und Gestalten geschaffen hatte. Selbst ein so weltoffener u n d natürlicher Mensch wie Walther k o m m t über diesen Dualismus nicht hinweg u n d weiß sich keinen R a t zu geben, wie er „zur Werlte sollte leben" u n d ere, guot u n d gotes hulde vereinen in einem „schrin: j a leider desn mac n i h t gesin!"

DIE KOSMOLOGIE Einen breiten R a u m innerhalb des mittelalterlichen Schriftt u m s nehmen die K o s m o l o g i e n , W e l t s p i e g e l u n d W e l t c h r o n i k e n ein 1 ). Sie sind neben den spekulativen und mystischen Die wichtigsten Kosmologien sind: Im Frühmittelalter: B a s i l i u s , Hexaemeron. I s i d o r (f 636), Etymologiarum libri X X . B e d a (f 737), De natura rerum. R h a b a n u s M a u r u s (847), 22 Bücher De universo. J o h a n n e s S c o t u s (840/87), De divisione naturae. Nach einer merkwürdigen Pause, die sich auch sonst bemerkbar macht, folgen: B e r n h a r d S y l v e s t e r v o n C h a r t r e s (um 1150), Demundi universitatelibri duo sive Megakosmos et Mikrokosmos. W i l h e l m v o n C o n c h e s (f 1154), Philosophia mundi. A l b e r t u s M a g n u s , Summa de creaturis. A l e x a n d e r v o n N e c k a m (1217), De naturis rerum. W i l h e l m von Auvergne (1249), De universo. H o n o r i u s v o n A n t u n , De imagine mundi. Commentar zum Timäus und Hexaemeron. Im Spätmittelalter: die Sphaera materialis von J o h a n n e s de S a c r o b o s c o (f 1256); das ungeheure Speculum magnum (naturale, historíale, doctrínale 1250) des V i n c e n t v o n B e a u v a i s ; N i k o l a u s ' d ' O r e s m e Traicté de la Sphere; die Untersuchung

Die Kosmologie

17

Werken die eigentlich realwissenschaftlichen und verdienen gerade darum mehr Beachtung, als man ihnen bisher geschenkt hat. Man bezeichnet sie häufig als bloße Encyclopädien, und in der Tat sind es z. T. kleine und unbeholfene Universallexika, aber das ist durchaus nicht alles, und sie unterscheiden sich etwa von Plinius' Historia naturalis gründlich durch ihren t h e o c e n t r i s c h e n U n i v e r s a l i s m u s , der das All: Himmel und Erde, Sphären und Planeten, Elemente und Kräfte, Pflanzen, Tiere, Menschen und Engelwelt innig auf Gott bezieht und die Idee des Allorganismus und Allzusammenhangs im ewigen Urgrund universal veranschaulichen möchte. Eben darin liegt der große Reiz dieser mittelalterlichen Kosmologien: in ihrer U n i v e r s a l i t ä t b e i t i e f s t e r i n n e r e r E i n h e i t l i c h k e i t . Man findet hier wirklich einen Kosmos und eine Universitas literarum der Natur und Geschichte, die zwar primitiv, aber ein wirkliches Ganzes ist, an dem jeder Denker unmittelbar Anteil hat. Selbst wenn die t h e o c e n t r i s c h e G e b u n d e n h e i t nicht überall ausgesprochen wird, so ist sie doch als die eigentliche Triebkraft des Ganzen spürbar. Darum sind auch diese Kosmologien und zahlreichen Kommentare zum Timaios und zum Hexaemeron (Basilius, Abaelard, Petrus Lombardus, Honorius u. a.) als kosmogonische M y t h e n des Mittelalters zu betrachten, denen die ewige Frage nach dem Weltgeheimnis zugrunde liegt, die man aber unter dem Einfluß der Antike und des Christentums nicht mehr durch den germanischen Naturmythos, sondern mit Hilfe des T h o m a s B r a d v a r d i n (•)" 1349) über die Materie und das Unendliche; die Composizione del mondo von R i s t o r o d ' A r e z z o (14. Jahrh.); die Mainauer Naturlehre; das Buch der Natur von K o n r a d v o n M e g e n b e r g (1350); das Weltbild von P i e r r e d ' A i l l y (1380—1452); die Werke des E n e a S i l v i o u. a. Die wichtigsten Weltchroniken: E u s e b i u s . I s i d o r (Chronicon). A u g u s t i n s Civitas Dei. F r e c u l p h i L e x o v i e n s i s Chronicorum Tomi duo (Migne Bd. 106). Kaiserchronik. H o n o r i u s v o n A u t u n , Summa totius und De imagine mundi. O t t o v. F r e i s i n g . E i k e v o n R e p g o w . E k k e h a r d v o n A u r a . H e r m a n n v o n R e i c h e n a u . V i n c e n z von" B e a u v a i s , Speculum magnum historíale. S e b a s t i a n F r a n c k , S l e i d a n u s u. a. Quellen siehe bei U e b e r w e g - H e i n t z e und bei G r ö b e r , Übersicht über die lateinische Literatur von der Mitte des 6. J a h r h . bis 1350. Die meisten Werke nur in Mignes Patrol. L a t . : I s i d o r B d . 81—84. R h a b a n u s B d . 107—111. B e d a 90—95. A l k u i n 100/101. W i l h e l m v o n C o n c h e s unter Honorius' Schriften Bd. 172, S. 39ff. usw. W i l h e l m v o n A u v e r g n e , Werke, Venedig 1591, Aureliae 1674. Leider gibt es noch keine handlichen Ausgaben und Übersetzungen. Auch die spätmittelalterlichen Denker sind leider nur in Erstausgaben des 15. bis 17. Jahrh. zu haben. Hier müßte wirklich einmal etwas geschehen. S c h a l l e r « Weltanschauung.

2

18

I. Die geistige Welt

des Timaios u n d der Genesis zu beantworten sucht, wobei die feierliche S t i m m u n g u n d das fromme kosmische Staunen des W e s s o b r u n n e r G e b e t e s in allen nachzuschwingen scheint: Dat Dat noh noh noh

gafregin ih mit firahim firiuuizzo meista, ero ni uuas noh üfhimil p a u m noh pereg ni uuas, noh p a h 3nig, sunna ni seein, m ä n o ni liuhta noh der märeo seo.

D i e K o s m o l o g i e d e r G e n e s i s wird auch die volkstümliche des Mittelalters, denn außer den Gelehrten haben wohl n u r wenige das antike Weltbild gekannt. Die großartige Schönheit und Feierlichkeit des biblischen Schöpfungsmythos bewahrt ihre A u t o r i t ä t bis weit ins 17. J a h r h u n d e r t hinein. D a n a c h schafft Gott a m ersten Tage das Licht, a m zweiten Tage die Feste (Himmel) zwischen den Wassern, a m dritten Festland u n d Meer, Gras, K r a u t u n d fruchtbare Bäume, am vierten die Gestirne, am f ü n f t e n die Tiere: Wassertiere, Vögel, große Walfische u n d allerlei Getier und segnet sie (s. die herrliche Stelle in H a y d n s Schöpfung), am sechsten endlich den Menschen, u m a m siebenten von seinen Werken zu ruhen. Dieser Mythos liegt allen jenen Kommentaren und Homilien zum Hexaemeron zugrunde, die seit der Patristik entstehen u n d zum Teil einen Ausgleich mit dem antiken Weltbild versuchen, was bei den etwas vagen kosmologischen Vorstellungen der Genesis, die nicht recht erkennen lassen, wie man sich eigentlich den Aufbau des Weltalls: Gestirne, Himmel und Erde gedacht h a t , auch verständlich ist. Das antike Weltbild e n t n a h m man dem Timaios, aber auch indirekten Überlieferungen der Kosmologie des Aristoteles und des Ptolemaios. D e r T i m a i o s 1 ) , das weltanschaulich aufschlußreichste Werk Piatons, ist nach der Bibel die wichtigste Quelle u n d der Schlüssel zum Verständnis der höheren mittelalterlichen Weltanschauung. Ohne ihn wäre diese, so wie sie ist, ganz undenkbar, u n d d a r u m m u ß er als Vergleichshintergrund ausführlicher wiedergegeben werden. I n A n b e t r a c h t des großen Gegenstandes h a t P i a t o n dieses Werk in der Hauptsache ausnahmsweise als M o n o l o g abgefaßt, der zum Glück nicht durch Dialektik gestört wird, wodurch sich sein Eindruck noch steigert. Er zerfällt in d r e i H a u p t t e i l e : ') Übers, von A p e l t . Leipzig 1922.

Die Kosmologie

19

I. Die B e s e e l u n g des W e l t a l l s , II. Die W e r k e der Notw e n d i g k e i t (Ideen, R a u m , E l e m e n t e ) , III. Die Organe des m e n s c h l i c h e n K ö r p e r s und i h r e F u n k t i o n e n . Teil II und III wird man besser austauschen, um den Gedankengang nicht zu unterbrechen. Nach Anrufung der Götter beginnt Timaios seinen Monolog mit Gegenüberstellung der Begriffe des Seienden und Werdenden. Das Seiende ist Gegenstand des reinen Denkens, das Werdende Gegenstand der Sinneswahrnehmung. Alles Werden muß aber eine Ursache haben, einen Weltbildner, d. i. Gott, der Allvater, der nach dem Bilde des Ewigseienden das Werdende entstehen läßt. Aus reiner neidloser Güte des Überflusses schafft er aus dem Chaos den Kosmos, d. i. eine wohlgeordnete Welt, ein lebendes Wesen, beseelt von einer vernünftigen Weltseele (die also nicht im pantheistischen Sinne eins ist mit Gott, sondern von ihm geschaffen wurde nach dem Urbilde, wobei allerdings nicht recht klar wird, ob dies Urbild die intelligible Welt der ewigen Ideen oder Gott selbst ist, wie überhaupt das Verhältnis der Ideenwelt zu Gott nicht bestimmt ist). „Es kommt also nach meinem Dafürhalten zunächst auf eine Unterscheidung folgender Vorstellungen an: Was ist das immer S e i e n d e , welches kein W e r d e n zuläßt, und was ist das immer Werdende, welches niemals des Seins teilhaftig wird ? Das Eine ist durch vernünftiges Denken vermittels des Verstandes erfaßbar, denn es bleibt immerdar sich selbst gleich, das andere ist nur der (schwankenden) Meinung eben in dieser unvollkommenen Form erfaßbar vermittels der Sinneswahrnehmung ohne Beteiligung des Verstandes, denn es ist in beständigem Werden und Vergehen begriffen, ohne je zum Sein zu gelangen. Alles Werdende aber hat notwendig irgendeine Ursache zur Voraussetzung, denn ohne Ursache kann unmöglich etwas entstehen. . . Den B i l d n e r und V a t e r d i e s e s A l l s zu finden ist schwierig, und hat man ihn gefunden, so ist es unmöglich ihn allen kundzutun. Doch muß man wieder hinsichtlich seiner fragen, nach welchem der beiden Muster der Baumeister es bildete, ob nach dem unwandelbaren und ewig gleichen oder nach dem gewordenen. Wenn nun dies W e l t a l l schön und wohlgeraten, und der es bildete ein guter Werkmeister ist, so ist es offenbar, daß er nach dem Ewigen blickte; im andern Falle aber, den auch nur in den Mund zu nehmen eine Lästerung sein würde, nach dem Gewordenen. Nun ist es doch für jedermann klar, daß er nach dem Ewigen blickte; denn 2*

20

I. Die geistige Welt

die Welt ist das Schönste von allem Gewordenen, und was die Ursache anlangt, so hält nichts den Vergleich mit dem Meister (als Urheber) aus. Steht es aber mit ihrer Entstehung so, dann ist sie nach dem Muster des dem Verstände und der Einsicht Erfaßbaren und sich immer Gleichbleibenden geschaffen. . . So laßt uns denn den Grund erörtern, der den Werkmeister veranlaßte, dies Weltgebäude, diese Stätte des Werdens, zusammenzufügen. Er war voller G ü t e ; wer aber gut ist, für den gibt es niemals und nirgends einen Grund zum Neide: völlig unberührt von ihm wollte er, daß alles ihm selbst so ähnlich wie möglich sei. Darin also nach der Lehre einsichtiger Männer den eigentlichen und am meisten durchschlagenden Grund des Werdens und des Weltalls zu erkennen, dürfte wohl das Richtigste sein. Denn da Gott wollte, daß alles möglichst gut, nichts aber schlecht sei, so führte er das ganze Reich des Sichtbaren, das er nicht im Zustand der Ruhe, sondern der an kein Maß und keine Regel gebundenen Bewegung übernahm, aus der Unordnung zur Ordnung über, überzeugt, daß dieser Zustand in jeder Hinsicht besser sei als jener. Nun stand es aber von jeher, wie noch jetzt, dem Besten nicht zu, irgend etwas anderes zu vollbringen als das Schönste. Indem er also die Sache erwog, fand er, daß unter den ihrer Natur nach sichtbaren Dingen, Ganzes gegen Ganzes gestellt, nichts Vernunftloses jemals schöner sein werde als etwas Vernunftbegabtes, und daß anderseits ohne Seele keinem Wesen Vernunft beiwohnen könne. Von dieser Erwägung geleitet, fügte er das Weltall in der Weise zusammen, daß er der Seele die Vernunft, die Seele aber dem Körper beigesellte, um ein Werk zu vollbringen, dem an natürlicher Schönheit und Trefflichkeit nichts gleich käme. Und so haben wir denn, insofern es sich um eine nur wahrscheinliche Darstellung handelt, allen Grund zu behaupten, d i e s W e l t a l l sei ein bes e e l t e s u n d in W a h r h e i t v e r n ü n f t i g e s G e s c h ö p f , wozu es durch die Vorsehung Gottes geworden. . . Denn Gottes Wille war es, die Welt dem Schönsten und in jeder Beziehung Vollkommenen unter allem, was die Vernunft sich denken kann, so ähnlich wie möglich zu machen, und so bildete er sie als ein einziges sichtbares lebendes Wesen, das alle ihm von Natur verwandten Geschöpfe in sich schließt. Körperlich also, sichtbar und fühlbar muß das Gewordene sein. Ohne Feuer aber kann niemals etwas sichtbar werden und fühlbar nicht ohne etwas Festes und fest nicht ohne Erde. Daher bildete Gott, als er anfing den Weltkörper zusammenzufügen, ihn

Die Kosmologie

21

aus F e u e r u n d E r d e . Zwei Dinge aber lassen sich für sich allein nicht haltbar zusammenfügen. . . So stellte denn Gott W a s s e r u n d L u f t in die Mitte zwischen Feuer und Erde und stellte unter ihnen die Proportion in möglichster Genauigkeit her, so daß, wie sich Feuer zu Luft, so Luft zu Wasser, und wie Luft zu Wasser, so Wasser zu Erde verhält. Auf diese Weise formte und fügte er den Weltbau zusammen zu einem sichtbaren und fühlbaren Ganzen. . . Ferner gab er ihr eine Gestalt, die ihrem Wesen durchaus entspricht und verwandter Natur ist. Demjenigen Geschöpfe, das alle Geschöpfe in sich fassen soll, dürfte wohl diejenige Gestalt recht eigentlich angemessen sein, die alle anderen Gestalten (Figuren) in sich faßt. Daher bildete er sie durch Drehung k u g e l förmig. . . Vermöge ihrer kunstvollen Bildung macht sie i h r e e i g e n e Z e r s e t z u n g zur Q u e l l e i h r e r e i g e n e n N a h r u n g , und all ihr Leiden und Tun vollzieht sich nur in ihr selbst und durch sich selbst. Denn Selbstgenügsamkeit, so meinte ihr Bildner, sei weit besser für sie als auf andere angewiesene Bedürftigkeit. . . Der Seele aber gab er ihren Sitz in der Mitte der Welt, streckte sie durch das Ganze, ja umhüllte den Körper auch noch von außen mit ihr. Und im kreisförmigen Umschwung sich drehend, ward er so hingestellt als das eine und ganz auf sich beschränkte Weltall, durch seine VortrefFlichkeit imstande an dem Umgange mit sich selbst Genüge zu finden und niemandes anderen zu bedürfen, in ausreichendem Maße mit sich selbst bekannt und befreundet. Durch Spendung aller dieser Vorzüge erschuf er ihn zu einem seligen Gott. . . " Darauf schuf Gott die s i e b e n S p h ä r e n , die sich in harmonischen Verhältnissen um sich selbst drehen. Diese Verhältnisse werden wie von den Pythagoräern und später von Kepler auf spekulativem Wege in Beziehung zur Akustik gesetzt, doch findet Kepler die Harmonie nicht in den Abständen sondern in den Durchgangsgeschwindigkeiten der Planeten in Aphel und Perihel. — Zugleich schuf Gott die Zeit und die Gestirne an den sieben Sphären. „Als nun der schaffende Vater dies Abbild der ewigen Götter von Bewegung und Leben erfüllt sah, freute er sich, und diese Freude ward ihm zum Antrieb, es dem Urbild noch ähnlicher zu machen. . . Gleichzeitig mit der Ordnung des Weltalls überhaupt schafft er ein nach der Zahl fortschreitendes Abbild der in Einheit beharrenden Ewigkeit, ein Abbild, dem wir den Namen Z e i t gegeben haben. Tage, Nächte, Monate und Jahre, die es vor Ent-

22

I. Die geistige Welt

stehung des Himmels nicht gab, läßt er nämlich nun im Verein mit dem Bau des Ganzen entstehen. Dies alles sind Teile der Zeit, und das „ W a r " und „Wird sein" sind gewordene Formen der Zeit, die wir, uns selbst täuschend, mit Unrecht auf das unvergängliche Sein beziehen; denn wir sagen von ihm „es war", „es i s t " und „es wird sein", während ihm in Wahrheit nur die Bezeichnung „es i s t " zukommt, wogegen man die Ausdrücke „war" und „wird sein" von Rechts wegen nur auf das zeitlich fortschreitende Werden anwenden darf, denn beide sind Bewegungen. Auf daß die Zeit entstünde, wurden Sonne, Mond und die fünf Sterne geschaffen, welche die Namen der W a n d e l s t e r n e tragen, zur Unterscheidung und Bewahrung der Zeitmaße. Und nachdem Gott ihre Körper einen nach dem anderen geformt hatte, setzte er sie, sieben an der Zahl, in die sieben Sphären, in denen der Umschwung des Anderen verlief, den Mond in die der Erde nächste, die Sonne in die zweite oberhalb der Erde, den Morgenstern und den dem Merkur geheiligten und nach ihm benannten in diejenigen Sphären, die in gleicher Schnelligkeit mit der Sonne umlaufen, aber eine ihr entgegengesetzte Richtung verfolgen. Daher vollzieht sich zwischen Sonne, Merkur und Morgenstern ein gleichmäßiger Wechsel gegenseitigen Einholens und Eingeholtwerdens. . . " Danach schuf Gott die F o r m e n d e s L e b e n d i g e n : „ E s sind deren aber vier: erstens das himmlische Geschlecht der G ö t t e r (Fixsterne), sodann das g e f l ü g e l t e und die Luft durchkreuzende, drittens das der W a s s e r t i e r e , viertens das der auf Füßen wandelnden L a n d t i e r e . Das Göttliche nun bildete er größtenteils aus Feuer, auf daß es so glänzend und schön wie möglich anzuschauen wäre. Er gab ihm in Angleichung an das Weltganze eine wohlgerundete Gestalt und wies ihm seinen Platz in der Sphäre der alles beherrschenden Einsicht als deren Begleiter an, indem er es ringsum am Himmel verteilte, zum wahrhaften Schmuck für diesen, gleich einer glänzenden Stickerei über das Ganze gebreitet. . . Die E r d e aber, unsere Ernährerin, machte er, geballt um die durch das Ganze gestreckte Achse, zur Hüterin und Gestalterin der Tage und Nächte, als ersten und ältesten der göttlichen Körper innerhalb des Himmels. . . Die Bewegungen der Gestirne aber darzustellen „ohne anschauliche Nachbildungen (Modelle) davon, wäre verlorene Mühe". „Über die andern götterartigen Wesen ( D ä m o n e n ) zu reden und ihre Entstehung zu erklären, wäre ein vermessenes Unter-

Die Kosmologie

23

nehmen." Nur so viel sei gesagt: „Der Ge und des Uranos Kinder waren Okeanos und Tethys, deren Kinder hinwiederum waren Phorkys, Kronos, Rhea und wer sonst noch zu ihnen gehört, des Kronos und der Rhea Kinder sodann Zeus und Hera sowie alle, die als ihre Geschwister oder auch als deren Nachkommen gelten... Noch sind drei Geschlechter von lebenden Wesen unerzeugt." Würden diese aber vom Allvater selbst erschaffen, so würden sie den Göttern gleichgestellt sein. Darum spricht er zu den Göttern: „So will ich euch den Samen und die Anfänge der Gestaltung darbieten, des weiteren aber müßt ihr, dem Unsterblichen das Sterbliche gesellend, die lebenden Wesen ins Dasein führen und sie erzeugen, ihnen Nahrung und dadurch Wachstum spenden, und wenn sie dahinschwinden, sie wieder aufnehmen. . ." Darauf schafft Gott die S t e r n s e e l e n und diese erzeugen aus sich den Menschen in beiden Geschlechtern. Führen diese ein gerechtes Leben, so kehren sie nach dem Tode heim in die Mitte des ihnen gepaarten Gestirnes zu einem glückseligen Leben; führen sie ein ungerechtes Leben, so werden die Männer als Weiber, die Weiber als tierische Wesen von ähnlicher Beschaffenheit wiedergeboren, bis sie, durch vernünftige Einsicht ihrer Triebe Herr geworden, zu der Form der ersten und edelsten Beschaffenheit zurückkehren. Die jungen Götter geben diesen Seelen die Körper und die niedere vernunftlose Seele, die sterblich ist, und führen die Herrschaft über sie. Kapitel 15, 16 und 26/43 handeln über den Menschen, seinen Körper, seine Sinnesorgane, Vernunft, Affekte und Begierden, Krankheiten, Ernährung, Atmung, Verdauung, Wachstum, Alter und Tod. (Die Anordnung ist etwas unübersichtlich, da sie durch den zweiten Hauptteil Kap. 17 ff. unterbrochen wird.) Die T i e r e entstehen aus gefallenen Menschen (Kap. 44): „Das Geschlecht der Vögel aber entwickelte sich, indem es statt der Haare Federn bekam, durch Umgestaltung aus solchen Männern, die zwar harmlos, aber leichtsinnig waren, und sich zwar mit den himmlischen Erscheinungen beschäftigten, aber einfältig genug waren zu glauben, daß das Gesicht die sichersten Erklärungen dieser Dinge liefere. Das Geschlecht der L a n d t i e r e sodann entwickelte sich aus solchen, die aller Liebe zur Weisheit bar waren und sich der Betrachtung der Himmelserscheinungen völlig verschlossen, weil sie nichts mehr zu schaffen haben wollten mit den Umläufen in ihrem Kopfe, sondern sich ganz der Führung derjenigen Seelenteile überließen, die ihren Sitz um die Brust

24

I. Die geistige Welt

herum haben. Infolge dieser Lebensrichtung wurden ihre Vorderglieder und Köpfe vermöge der Verwandtschaft nach der Erde hingezogen und fanden an ihr ihre Stütze: so bekamen sie Schädel von länglicher oder sonst mancherlei Form, je nachdem die Umläufe bei einem jeden durch den Mangel an Bewegung ihre runde Form verloren hatten. Und neben vierfüßigen gab es auch solche, die aus diesem Grunde vielfüßig wurden, indem Gott ihnen, je unverständiger sie waren, um so mehr Stützpunkte unterschob, damit sie noch mehr zur Erde gezogen würden. Die unverständigsten unter den Männern aber, deren ganzer Körper sich vollständig zur Erde niederstreckte, wurden, weil keiner Füße mehr bedürftig, zu fußlosen und auf der Erde sich fortwindenden Geschöpfen gemacht. Das vierte Geschlecht endlich, die W a s s e r t i e r e , entstand aus den allerunvernünftigsten und unwissendsten, die die Urheber der Umbildung nicht einmal des reinen Atems würdigten, weil ihre Seele durch jede Art von Verkehrtheit entstellt war; anstatt sie also die dünne und reine Luft atmen zu lassen, stießen sie sie hinab in die Tiefe des Wassers, um dessen trübe Feuchtigkeit einzuatmen... Und auf diese Weise werden denn noch jetzt wie damals alle lebenden Wesen ineinander verwandelt, indem sie je nach dem Verlust und Gewinn von Vernunft und Unvernunft ihre Gestalt wechseln." Kap. 17—25 handeln v o m R a u m u n d den I d e e n , den S i n n e n d i n g e n und den E l e m e n t e n . Der Raum ist der Mutterboden und die Amme der Sinnendinge, in dem sich diese nach dem Urbilde der Ideen bilden, und zwar zunächst die vier Elemente, die sich aus einfacheren Körpern zusammensetzen, nämlich aus den schönsten, harmonischen und regulären Körpern: das Feuer aus dem Tetraeder (Pyramide), die Erde aus dem Hexaeder (Würfel), die Luft aus dem Oktaeder, das Wasser aus dem Ikosaeder, während das Dodekaeder sich auf das Weltganze bezieht. Diese Körper können sich zu zusammengesetzten verbinden, in einer merkwürdigen Art g e o m e t r i s c h e r C h e m i e , die durch die moderne Atomphysik eine überraschende Bestätigung gefunden hat. Alle Veränderungen aber geschehen unter dem Einfluß der himmlischen Bewegungen und haben den Kreislauf des Werdens zur Folge, der jeden leeren Raum ausschließt. Die K o s m o l o g i e n des M i t t e l a l t e r s schließen sich nun, wie gesagt, an die Genesis und an den Timaios an, die man nach Möglichkeit zu vereinen sucht. Ihr Wert ist natürlich ein verschiedener. Für das Mittelalter selbst sind sie ganz unschätzbar als anschauliche

Die Kosmologie

25

Grundlage des Weltbildes; für uns sind es vor allem schöne Zeugnisse eines einheitlichen und tiefreligiösen Weltgefühls. B a s i l i u s z. B., auf dessen tiefes Naturgefühl schon A. v. Humboldt hingewiesen hat, steigert in seinen H o m i l i e e n zur Genesis seine Erbaulichkeit zuweilen zu echter Größe der Betrachtung und Empfindung. Er sieht „die Schönheit des Meeres vor Gott" und „die unermeßliche Natur des Wassers, rings um die Erde ausgegossen", den Kampf des Feuers mit dem Wasser und des Lichtes mit der Finsternis, die sich aus sich selbst gebiert und den göttlichen Mächten des Lichtes unterlegen sein muß, da sonst alles zerstört werden müßte. Die Schönheit des Lichtes hat es ihm besonders angetan: „Gott sah, daß das Licht schön war. Was für ein Lob des Lichtes können wir aussprechen, das desselben würdig wäre, da es zum voraus ein Zeugnis seiner Güte und Schönheit von dem Schöpfer erhalten hat ? . . . So ist der Abendstern der schönste unter den Sternen, weil ein lieblicher und angenehmer Glanz aus ihm in unsere Augen strahlt." Die ganze Welt ist, obwohl sie aus verschiedenartigen Teilen besteht, verbunden „durch ein unauflösliches Band der Freundschaft zu einer Gemeinschaft und Harmonie, so daß selbst die ihrer Lage nach sehr weit voneinander entfernten Dinge durch Eintracht verbunden zu sein scheinen." Wir mögen die Natur der Dinge erforschen, „das Staunen aber über die größten Dinge wird nicht verringert, wenn man die Art und Weise ergründet, wie eines von den wunderbaren Dingen geschieht." I s i d o r s „ E t y m o l o g i e n " oder „Origines" stellen dagegen eine Encyclopaedie von der Theologie bis zur Landwirtschaft dar, die die Trümmer antiken Wissens noch einmal in zwar primitiver, aber nicht uninteresssanter Weise zusammenfaßt; eigenartig daran ist nämlich der Versuch, die Termini der behandelten Gegenstände auch auf ihren etymologischen Ursprung hin zu untersuchen. Dieses Werk war neben Marcianus Capella eine der wichtigsten Wissensquellen für das Mittelalter. B e d a z. B. und R h a b a n u s haben es z. T. fast wörtlich abgeschrieben. Die 22 Bücher De u n i v e r s o von R h a b a n u s beginnen mit der Betrachtung Gottes und der Engel und gehen dann auf die biblische Geschichte und die Bücher der Bibel sowie auf die Sakramente und andere kirchliche Gegenstände über. Darauf folgen Betrachtungen über die verschiedenen Geschöpfe, Astronomie, Physik und Chronologie, über die heidnischen Götter, Philosophen und Poeten und endlich eine encyclopaedische Behandlung der

26

I. Die geistige Welt

Philologie, Medizin, Landwirtschaft, Kriegskunst, Kleidung, Speisen und des Hauswesens: Eine Kosmologie, die wie das „Weltbild" von Honorius Theologie, Natur und Geschichte zu umfassen versucht. Eine der liebenswürdigsten Kosmologien, die sich eng an den Timaios anlehnt, ist die kosmische Dichtung De m u n d i u n i v e r s i t a t e v o n B e r n h a r d S i l v e s t e r v o n C h a r t r e s 1 ) . Sie ist teils in Prosa, teils in Poesie geschrieben. Im ersten Buch oder M e g a k o s m o s beklagt sich die Natur unter Tränen vor dem Nous: id est Dei providentia, über das Chaos der Materie: de primae materiae, id est hyles, confusione, und bittet ihn, die Welt schöner zu gestalten. Von ihren Bitten bewegt, scheidet er die vier Elemente, schafft die neun Hierarchien der Engel im Himmel, die Gestirne und Zeichen, und unter den Zeichen die sieben Kreise der Planeten. Darauf folgt die Schöpfung der vier Winde, der Erde mit ihren Gebirgen und Flüssen, Pflanzen, Bäumen und Geschöpfen: genesis animantium et terrae situs medius, montes famosi describuntur, famosi fluvii, species odoratae, genus avium etc. Itaque in primo libro ornatus elementorum describitur. Das 2. Buch oder M i k r o k o s m o s erzählt, wie die Urania, quae siderum regina, und Physis, quae rerum omnium peritissima, auf Befehl des göttlichen Nous den Menschen schaffen. Physis igitur de quatuor elementorum reliquiis hominem format et a capite incipiens membratim operando opus suum in pedibus consummat. Einige ausgewählte Stücke mögen einen Begriff von der Art des Ganzen geben: Ergo sideribus levis aether, sidera caelo, Caelum seccessit aere, terra freto. In caelo divina manus caelique ministris Omne creaturae p r i m i t i a v i t opus. Caeli forma teres, essentia purior ignis, Motus circuitus, numina turba deüm. Dico deos quorum ante Deum praesentia servit, Quos tenet in vero lumine vera dies. Pacis enim locus aetherae totoque tumultu Aeris exceptus sepositusque sibi Separat arcanas sedes. Super imo superne E x t r a m u n d a n u s creditur esse Deus. Ad sensum perfecta c h e r u b propiusque magisque *) Innsbruck 1876, hrsg. v. B a r a c h und Wrobel.

Die Kosmologie

Cernit in arcanis consiliisque Dei. Quam secus ardescit s e r a p h i n , sed civibus illis Et Deus est a r d o r et s a c e r a r d o r amor. Pura t h r o n i legio quibus insidet ille profundus Spiritus et sensus mensque profunda noys. . . . etc. C a e l e s t i s p a r s m i l i t i a e nomerosus ad astra Angelus obsequitur sub michaele suo. Angelus inferior gradus est ordire priores. In h i e r a r c h i a s c o n c i d i t ordo novem. — Terrenis excepta super substantia caeli Ut melior cultu sic meliore fuit. S c r i b i t enim c a e l u m s t e l l i s t o t u m q u e figurât Quod de fatali lege venire potest, Praesignat qualique modo qualique tenore Omnia sidereus saecula motus agat. . . . etc. L u n a quibus vicina meat terrena marina Legibus exagitat inperiosa suis. Subsequitur qui lege magis variante viarum Circuit ancipiti limite solis iter. Inde loci V e n u s est quae seminis et geniturae Vires humecti plena caloris habet. Sol iubar est medius, quo plenus astra niterent Hinc illinc lucis collaterata deo. Militât ad solem M a r s iunctior urbibus altis, Saepe super reges prodignale rubens. Sexta J o vi s bonitas alio nisi laesa veneno Format ad eventus hospita signa bonos. Postremos pigrosque movet diffusius orbes Infecunda suo frigore s t e l l a senis. . . etc. Sic ubi sub caelo t e l l u s stetit, unda refluxit Et stellata novum reddidit aethra iubar: Cum reptante pecus, cum pisce volatile factum Arripuit proprium dispare sorte locum. Serpat an incedat, natet an volet, inpare fato Vivit et ad mores non sibi sentit idem. Nanciscuntur enim fera silvas, bestia campos, Anguis humum, volucris aera, piscis aquas. Pisce natantur aquae, volucri discurritur aer, Incedunt pecudes, vipera serpit humo. . . . etc. M o n t i b u s in morem n e r v o r u m s t r i n g i t u r orbis, Omnia cum caelo sidera fulcit Atlas.

27

28

I. Die geistige Welt

Partis ad aethereae confinia clarus Olympus Sub love depresso nubila densa videt. Tractantes humana deos septemque planetas Yisere Parnasus temptat utroque iugo. In cedros L i b a n u s silvescit, libera Sina, Quo sacra sub sacro lex Moysete data est. Surgit Athos, consurgit Eryx, sic alta Cythera, Sic Aracyntheus, sic Aganippus, apex. Sic Apenninus, sic Herculis Oeta sepulcrum, Sic ardens Liparis, sic Terebinthus olens. Pindus et in superos suspectius Ossa cacumen, Othrys et medici Pelion antra senis. Caucasus excubiae vigilantis in astra Promethei, Plectricano Rodope gratior ora viro. . . . etc. Ossibus extruitur elephas, dorsoque camelus Surgit et in bubalo cornua frontis honor. Ad cursum cervus succingitur, erigit altis Poplitibus dammas, tibia longa pedum. Substitit in pectus lio fortior, ursus in ungues, Tigris atrox morsu, dente timendus aper. . . . etc. Per g r e m i u m t e l l u r i s a q u a e d i f f u n d i t u r h u m o r . Qui vada qui f l u v i o s , stagna lacusque facit. Influit Euphrates terras, ubi magna virago In Babylone sua coctile duxit opus. Telluris loca Tigris obit, qua sorbuit aurum Crassus, et in Crasso cognita Roma fuit. Nutrices fert Nilus aquas, ubi Magne probasti, Quam male sub puero principe tuta fides. . . . etc. F r o n d u i t in p l a n o p l a t a n u s , convallibus alnus. Rupe rigens buxus, littore lenta salix. Monte cupressus olens, dacra vites colle supino Inque laborata Palladis arbor humo. Populus albescens, lotus cognatior undis, Et viburna magis vimine lenta suo. . . . etc. M u n d u s q u i d e m e s t a n i m a l , verum sine anima substantiam non invenias animalis. De terra porro pleraque consurgunt. sed sine vegetatione non stirpea non piantana non cetera conpubescunt. E x mentis igitur vita, silvae spiritu, anima mundi, mundialium vegetatione rerum aeternitas coalescit. — In Deo, in noy scientia est, in caelo ratio, in sideribus intellectus. . . .

Die Kosmologie

29

E x mente enim caelum, de caelo sidera, de sideribus mundus. . . . Mundus enim quiddam continuum, et in ea catena nihil vel dissipabile vel a b r u p t u m . . . . etc. Ex endelechia mundi res quaeque creata Sementem vitae princij i l m q u e t r a h a t . . . . etc. Distrahet a superis linea parva hominem. B r u t a patenter h a b e n t tardos animalia sensus, Cernua deiectis vultibus ora f e r u n t . Sed m a i e s t a t e m m e n t i s t e s t a n t e f i g u r a Tollet homo s a n c t u m solus ad a s t r a c a p u t , U t caeli leges indeflexosque meatus Exemplar vitae possit habere suae. . . . etc. Erantigiturduorerumprincipia,unitasetdiversum. Diversum longe retro antiquissimum. Unitas non inceperat: simplex, intacta, solitaria, ex se in se permanens, infinibilis et aeterna. Unitas deus. diversum non aliud q u a m hyle eaque indigens forma. Primiparens igitur divinitas diversitatem excoluit, limitavit interminam, figuravit informem, explicuit obvolutam hylen ad elementa, elementa ad usias, usias ad qualitates, qualitates et usias ad materiam circumscribens. E a igitur materia ex ingenito silvae vitiosa contagio, ex elementorum conversionibus transformabilis, ex usiis substantialibus f a c t a est corpulenta. . . . etc. I m engen Anschluß an Plato, Genesis und Isidor sind auch die K o s m o l o g i e n von W i l h e l m von Conches u n d H o n o r i u s v o n A u t u n entstanden, reizende kleine Encyclopaedien, in denen sich das Weltbild des 12. J a h r h u n d e r t s widerspiegelt. W i l h e l m s S c h r i f t D e P h i l o s o p h i a m u n d i 1 ) ist eine typische Kombination von Timaios und Genesis und gliedert sich in vier Bücher: D a s I. B u c h behandelt den B e g r i f f d e r P h i l o sophie u n d des E r k e n n e n s , die Gottesbeweise, die Trin i t ä t , die W e l t s e e l e , das Reich des Ä t h e r s , der L u f t und der F e u c h t i g k e i t , K ö r p e r u n d Geist, die E l e m e n t e , die S c h ö p f u n g der Fische u n d Vögel sowie der ü b r i g e n Tiere u n d des Menschen. Cap. I. — Quid sit philosophia. Philosophia est eorum quae sunt et non videntur et eorum quae sund et videntur vera comprehensio. M i g n e , Patr. Lat. Bd. 172, irrtümlich unter Honorius' Schriften.

30

I. Die geistige Welt

Cap. II. — Quae sunt et non videntur. Sunt et non videntur incorporalia: Sensus enim extra subjectam materiam nihil potest. Cap. III. — Quae sunt et esse videntur. Sunt et esse videntur corporalia, seu divinum, seu caducum habeant corpus. Corpora namque subjacent spiritui. Cum igitur in cognitione utrorumque sit philosophia, de utrisque disseramus, inchoantes ab eis quae sunt, et non videntur. Sunt autem haec: Creator, anima mundi, daemones, animae hominum. Cap. IV. — Quid sit perfecte aliquid cognoscere. Sed quoniam Creator omnibus prior est, omnia enim ab ipso habent existere, et ipse a nullo; ab ipso incipiamus. Sed quia dicunt sancti in hac vita non posse Deum perfecte cognoscere, quid sit perfecte aliquid cognoscere, ostendamus, ut cognoscatur quia Creator in hac vita perfecte cognosci non possit. Undecim sunt quae inquiruntur circa unamquamque rem: An sit, quid sit, quantum sit, ad quid sit, quale sit, quid agat, quid in ipsum agatur, ubi sit, qualiter in locum situm sit, quando sit, quid habeat. Perfecte ergo aliquid cognoscere, est ista undecim de illo scire. Sed, quamvis sciamus Deum esse, quid sit perfecte non comprehendimus. Quantitas vero ejusdem, qui omnia implet, angustias nostri pectoris excedit. Relationi illius explicandae, humana sapientia deficit. Qualitates illius non comprehendimus; actionibus ejus enarrandis infinitae linguae non sufficiunt. Quid in ipsum agatur, non potentia agentis, sed permissio est volentis. Ubi sit, supra omnia, infra omnia totus et integer? Qualiter in loco sit, qui localis non est. De tempore vero illius, qui ante omne tempus est. Quid habet, qui omnia palmo continet, nullus perfecte explicare potest. Nec ergo ilium omnino ignoramus, quem esse scimus: nec perfecte cognoscimus, de quo praedicta ignoramus." Dennoch läßt sich d a s D a s e i n G o t t e s beweisen per mundi creationem et per quotidianam dispositionem: Cap. V. Quibus rationibus probetur quod Deus sit. „Cum ergo nihil praecessit mundum praeter Creatorem, casu non est factus mundus, igitur aliquo artifice. Artifex vero ille homo nun fuit. Ante enim mundus est factus quam homo; nec angelus quidem, cum angeli cum mundo creati sint. Deus igitur est qui mundum fecit. Per quotidianam vero dispositionem, idem sic probatur. Ea quae disponuntur, sapienter disponuntur. Ergo aliqua sapientia:

Die Kosmologie

31

nihil enim sine sapientia, sapienter disponitur. Sapientia autem illa, vel divina, vel angelica, vel humanae. Humana vero non est, quae res facit vivere et loqui. Nam, si humana sapientia formam hominis, vel alterius animalis operatur, motum illi et vitam conferre non potest. Angelica vero sapientia, quomodo angelos ipsos disponeret ? Divina igitur sapientia est, quae hoc ficit. Sed omnis sapientia alicujus sapientia est ? Est ergo, cujus est ilia sapientia, nec idem est angelus nec homo: Deus ergo." In der Gottheit selbst ist die p o t e n t i a , s a p e n t i a und v o l u n t a s , woraus wir die drei h e i l i g e n P e r s o n e n der T r i n i t ä t ableiten: Potentiam divinara Patrem, sapientiam filium, voluntatem Spiritum sanctum. Cap. XY. De anima mundi. „Anima mundi, secundum quosdam Spiritus sanctus est: divina enim bonitate et volúntate quae Spiritus sanctus est, ut praedixismus, omnia vivunt quae in mundo vivunt. Alii dicunt Ammani mundi esse naturalem vigorem, rebus a Deo insitum, quo quaedam vivunt tantum, quaedam vivunt et sentiunt, et discernunt. Non est aliquid quod vivat et sentiat et discernat, in quo ille naturalis vigor non sit. Tertii dicunt, Animam mundi esse quandam incorpoream substantiam, quae tota est in singulis corporibus. . ." Die letzten Kapitel handeln von der S c h ö p f u n g der T i e r e und des Menschen. Cap. XXII. — De c r e a t i o n e p i s c i u m et a v i u m . Corporibus stellarum creatis, quia igneae sunt naturae, coeperunt movere se, et ex motu aeris subditum calefacere: sed mediante aere aqua calefacta est. Ex aqua calefacta, diversa genera animalium creata sunt: quorum quae plus habuerunt superiorum elementorum, aves sunt. Unde aves modo sunt in aere, ex levitate superiorum: modo descendunt in terram, ex gravitate inferiorum. Aliae vero quae plus aquae habuerunt, pisces sunt. In hoc solo elemento, nec in alio vivere possunt. Sic ergo pisces et aves facti sunt. Unde scriptum est (In hymn. Abros. Fer. v. ad Vesp.) : Magnae Deus potentiae, Qui ex aquis ortum genus, Partim remittis gurgiti, Partim levas in aere.

32

I. Die geistige Welt

Gap. X X I I I . — De c r e a t i o n e c o e t e r o r u m a n i m a l i u m et hominis. Istis sic creatis ex effectu superiorum, ubi tenuior fuit aqua ex calore et creatione praedictorum desiccata tantum, et apparuerunt in ea quasi quaedam maculae, in quibus habitant homines, et alia ammalia. Sed cum terra ex superposita aqua esset lutosa, ex calore bulliens, creavit ex se diversa genera animalium: et si in aliqua plus abundaverit ignis, cholerica nata 6unt ammalia ut leo; si terra, melancholica, ut bos et asinus; si vero aqua, phlegmatici, ut porci. E x quadam parte vero, aequa eiementa aequaliter conveniunt, humanuni corpus factum est. Et hoc est, quod divina pagina dicit : Deum fecisse hominem de limo terrae." D a s I I . B u c h handelt über d a s F i r m a m e n t u n d die Ges t i r n e (mit Illustrationen). Dabei kommt er in Kap. II in Konflikt mit der biblischen Vorstellung: Divisit aquas, quae sunt sub firmamento, ab his quae sunt super firmamentum, was offenherzig als contra rationem bezeichnet wird. Die Stellungen von Sonne, Mond und Erde werden auch bildlich dargestellt. D a s I I I . B u c h De M e t e o r o l o g i c i s handelt u. a. De aere, qualiter quinque zonae sint in aere, unde sint pluviae, quod ante finem mundi guttae sanguinis cadent, unde grando et nix, De tonitruis et fulminibus, De reflexionibus Oceani, De ortu ventorum etc. D a s I V . B u c h endlich spricht von E r d e u n d W e l t , von den Grenzen der E r d t e i l e , v o m e w i g e n S c h n e e d e r G e b i r g e , v o n Z e u g u n g u n d G e b u r t , v o m S c h l a f u n d v o n den S i n n e n , v o n der S e e l e , i h r e m V e r h ä l t n i s z u m K ö r p e r u n d i h r e n E i g e n s c h a f t e n etc., wobei man oft recht merkwürdige physikalische Ansichten antrifft. Cap. X X I X . — Q u i d s i t a n i m a . Anima est spiritus quidam conjunctus corpori, idoneam rationem discernendi et intelligendi conferens. . . . Cap. X X X I V . — De v i r t u t i b u s . Hujus animae diversae sunt potentiae, scilicet Intelligentia, ratio, memoria; et est Intelligentia vis animae, qua percipit homo incorporalia, cum certa ratione quare ita sit. Ratio est vis animae, qua percipit homo quid sit, in quo res conveniant cum aliis, in quo differant. Memoria vero est vis, qua firme retinet homo ante cognita."

Die Kosmologie

33

Sehr beliebt und verbreitet war d a s „ W e l t b i l d " v o n H o n o r i u s : D e i m a g i n e m u n d i 1 ) , der auch kleine K o m m e n t a r e zum Timaios u n d zum Hexaemeron verfaßt h a t . Das I. Buch beginnt mit der S c h ö p f u n g : „Creatio mundi quinque modis scribitur: uno quo ante tempora saecularia immensitas mundi in mente divina concipitur, quae conceptio archetypus mundus dicitur, u t scribitur: Quod est f a c t u m in ipso vita erat ( J o a n . I.). Secundo cun ad exemplar archetypi, hic sensibilis mundus in materia creatur. Sicut legitur: Qui manet in aeternum creavit omnia insimul. Tertio, cum per species, et formas sex diebus hic mundus f o r m a t u r , sicut scribitur: Sex diebus fecit Dominus opera sua bona valde (Gen. I). Quarto cum u n u m ab alio, u t p o t e homo ab homine, pecus a pecude, arbor ab arbore, u n u m q u o d q u e de semine sui generis nascitur, sicut dicitur: Pater meus usque modo operatur. Quinto cum adhuc m u n d u s innovabitur, sicut scribitur: Ecce nova facio omnia)." Darauf folgt ein kurzes Kapitel über d i e 4 E l e m e n t e , d i e 7 N a m e n d e r E r d e : Terra, tellus, humus, arida, sicca, solum, ops und über den Bau der E r d e : „Terrae f o r m a est r o t u n d a , unde et orbis est dicta. Si enim quis in aere positus earn desuper inspiceret, t o t a enormitas montium, et concavitas vallium minus in ea appareret, q u a m digitus alicujus si pilam praegrandem in m a n u teneret. Circuitus a u t e m terrae, centum et octoginta millibus stadiorum mensuratur, quod duodecies mille milliaria, et quinquaginta duo c o m p u t a t u r . Haec c e n t r u m in medio mundo, u t punctus in medio circuli aequaliter collocatur, et nullis fulcris, sed divina potentia sustentatur, u t legitur: Non timetis me, ait Dominus, qui suspendi t e r r a m in nihilo, f u n d a t a enim est super stabilitatem suam (Psal. CHI), sicut aliud elementum, occupans suae qualitatis m e t a m . Haec in circuitu Oceano, u t limbo cingitur, u t scribitur, Abyssus sicut vestimentum amictus ejus (ibid.). Interius meatibus a q u a r u m , u t corpus venis sanguinum penetratur, quibus ariditas ipsius ubique irrigatur. Unde ubicunque terra infoditur, aqua reperitur." Cap. V. N u n werden die 5 Z o n e n , a l l e L ä n d e r u n d E r d t e i l e u n d d e r O c e a n s a m t E b b e u n d F l u t besprochen: „Aestus Oceani, id est, accessus et recessus l u n a m sequitur, cujus aspiratione retro t r a h i t u r , ejus impulsu r e f u n d i t u r . Quotidie Migne, Bd. 172. S c h a l l e r , Weltanschauung.

3

34

I . Die geistige W e l t

a u t e m bis affluere et remeare videtur. Cum luna crescente crescit, cum decrescente decrescit; cum luna est in aequinoctio, majores Oceani fluctus surgunt, ob vicinitatem lunae; cum in solstitio, minores, ob longinquitatem ejus. Per decern et novem annos ad principia motus, et paria incrementa, u t luna revert i t u r . " Cap. X L . D a s E r d b e b e n wird, wie später noch von Megenberg u n d Kepler durch eingeschlossene Winde erklärt: „ N a m venti concavis locis inclusi d u m erumpere gestiunt, t e r r a m horribili fremore concutiunt, camque tremere f a c i u n t . " Die folgenden Kapitel handeln über d i e G e w ä s s e r , L u f t u n d M e t e o r o l o g i e , R a u c h , P e s t i l e n z , F e u e r (angelorum corpora ignea sunt), über die P l a n e t e n : Mond, Merkur, Venus, Sonne, Mars, J u p i t e r , Saturn u n d ihre Bewegungen: Cap. L X X X ; Über die S p h ä r e n m u s i k : „ H i septem orbes cum dulcisona harmonia volvuntur, ac suavissimi concentus eorum circuitione efficiuntur. Qui sonus ideo ad nostras aures non pervenit, quia ultra aerem fit, et ejus magnitudo n o s t r u m angustum a u d i t u m excedit. Nullus enim sonus a nobis percipitur, nisi qui in hoc aere efficitur. A terra a u t e m usque ad firmamentum coelestis musica mensuratur. . . . A terra usque ad f i r m a m e n t u m septem toni reperiuntur. A terra usque ad l u n a m est tonus, a luna usque ad Mercurium, semiton i u m ; a Mercurio usque ad Venerein, semi t o n i u m ; inde usque ad solem, tria semitonia. A sole ad Martern tonus, inde ad J o v e m , semitonium; inde ad S a t u r n u m semitonium; inde ad signiferum tria semitonia. Quae simul j u n c t a septem tonos efficiunt. Tonus a u t e m habet quindecim millia sexcenta viginti quinque milliaria."... Das F i r m a m e n t ist halb biblisch, halb platonisch gedacht: Cap. L X X X V I I : De firmamento: „Saperius coelum dicitur firmamentum, eo quod sit inter medias aquas firmamentum. Hoc et forma sphaericum, n a t u r a aqueum, stellis undiqueversum ornatum. E s t a u t e m ex aquis instar glaciei in modum chrystalli solidatum; u n d e et firmamentum dicitur." Der Rest des I . Buches bespricht den F i x s t e r n h i m m e l . Über ihm wölben sich die höheren Himmel: Cap. C X X X V I I I . — A q u e u m c o e l u m . Super firmamentum sunt aquae instar nebulae suspensae, quae coelum in circuitu ambire dicuntur, unde et aqueum coelum dicitur.

Die Kosmologie

35

Cap. C X X X I X . — S p i r i t u a l e c o e l u m . Super quod est spirituale coelum, hominibus incognitum, ubi est habitatio angelorum per novem ordines dispositorum. I n hoc est paradisus paradisorum, in quo recipiuntur animae sanctorum, hoc est in coelum quod in principio legitur c u m terra creatum. Cap. CXL. — C o e l u m c o e l o r u m . Huic longe supereminere dicitur doelum coelorum in quo h a b i t a t rex angelorum." Das I I . Buch enthält ebenfalls A s t r o n o m i s c h e s , M o n a t e u n d J a h r e s z e i t e n . Die vier Jahreszeiten werden mit den vier Elementen u n d den vier T e m p e r a m e n t e n kombiniert: Cap. L V I I I . — D e e l e m e n t i s . „ Q u a t u o r quoque elementa qualitatibus quatuor t e m p o r u m connectuntur. Terra namque sicca et frigida a u t u m n o ; a q u a frigida et humida hiemi; aer humidus et calidus veri; ignis calidus et siccus aestati colligatur. Cap. L V X . — D e h o m i n e m i c r o c o s m o . Iisdem qualitatibus est h u m a n u m corpus t e m p e r a t u m , u n d e et microcosmus, id est minos m u n d u s appellatur. Sanguis n a m q u e qui vere crescit, est humidus et calidus, et hic viget in infantibus. Cholera rubea crescens in aestate; est calida et sicca, et haec abund a t in juvenibus. Melancholia a cholera nigra crescens a u t u m n o in provectioribus. Phlegmata, quae hieme d o m i n a n t u r in senibus. I n quibus sanguis pollet sunt hilares, misericordes, ridentes, loquaces. I n quibus cholera rubea sunt macilenti, voraces, veloces, audaces, iracundi, agiles. I n quibus nigra cholera stabiles, graves, compositi moribus, et dolosi sunt. In quibus phlegmata tardi, somnolenti, obliviosi s u n t . " Das I I I . Buch endlich ist eine kurze W e l t c h r o n i k von A d a m bis auf Friedrich I I . , eingeteilt in 6 Weltalter: 1. von A d a m bis Noa, 2. bis A b r a h a m , 3. bis David, 4. bis zur Babylonischen Gefangenschaft, 5. bis zu Augustus, 6. das römische Reich bis auf Friedrich I I . Interessant ist daran wie bei Eike die Fülle des Stoffes und die synchronistische und synoptische Universalität. Interessant auch der Versuch, Kosmologie u n d Universalgeschichte zu einem Ganzen zu vereinen. I m einzelnen freilich ist alles dürftig, fast nur Namen u n d Zahlen. Über Vespasian z. B. findet sich n u r die lakonische Bemerkung, d a ß er profluvio ventris gestorben sei. 3*

36

I. Die geistige Welt

Die S u m m a De C r e a t u r i s von A l b e r t u s M a g n u s endlich ist eine Kosmologie großen Stiles, die schon mehr einem System ähnlich ist. Sie gliedert sich in zwei Teile: I. De creatione, de materia, de aeternitate de aevo, de tempore, über den Himmel und die Gestirne, über die Engel und Daemonen (in quid cecidit diabolus), über das Sechstagewerk etc. II. Über die Seele und ihre Fähigkeiten: Sinne und Gedächtnis, Schlaf, Intellekt und Phantasie, Begierden und Leidenschaften, freien Willen und Gewissen, über Leib, Seele und Unsterblichkeit, Paradies, Ordnung und Vollkommenheit des Weltalls. Die eigentlichen Creaturen werden also sehr knapp behandelt, und das enttäuscht gerade bei Albert, der sie sonst mit soviel Liebe beobachtet hat und bei dem man unter diesem Titel etwas ganz anderes erwartet. Die s p ä t m i t t e l a l t e r l i c h e n Kosmologien nehmen zwar meist an Umfang zu (Vincenz!), aber verlieren dafür an Übersichtlichkeit und vor allem an Einheitlichkeit, da sie die theocentrische Gebundenheit, die Allzuordnung auf Gott allmählich aufgeben, so daß z. B. schon in dem Opus Tertium von R o g e r B a c o n 1 ) die Theologie in einem kleinen Kapitel als eine Disciplin (Philosophia moralis) unter anderen erscheint und das Schwergewicht des Interesses sich ganz auf das Physische verlegt, z. B. auf die unter arabischem Einfluß entstehenden Probleme der Alchymie. Die mittelalterliche N a t u r w i s s e n s c h a f t richtete naturgemäß ihr Augenmerk zunächst auf die einfacheren und praktisch wichtigeren Zweige der Medizin, Astronomie, Optik, Geographie, zu denen sich, meist mit primitiven Erbteilen vermischt, Magie, Astrologie und Alchymie gesellten. Von Zweigen kann man eigentlich nicht sprechen in einer Zeit, die vor aller Spezialisierung liegt und in ihrer religiösen Einstellung zur universalen Einheit drängt und alles kosmisch und im ganzen sieht. Neben vielem Phantastischen und voreilig Gedeuteten finden sich aber von jeher scharfe Beobachtung sonderlich des Lebenswichtigen, ja im Spätmittelalter sogar schon die Einsicht in die Bedeutung der Erfahrung, des Experiments, der Kausalverbindung und — bei Albertus Magnus z.B.— die Ü b e r z e u g u n g von der N o t w e n d i g k e i t des N a t u r g e s c h e h e n s . So schreibt Albertus (1193—1280): „Wir haben in der Natur nicht zu erforschen, wie Gott der Schöpfer nach seinem freien Willen die Geschöpfe gebraucht zu Wundern, Un fragment inédit de L'Opus Tertium de Roger Bacon, précédé d'une étude sur ce Fragment par Pierre Duhem, Ad Claras Aquag 1909.

Die Kosmologie

37

sondern vielmehr, was in den Naturdingen nach den natürlichen Ursachen auf natürliche Weise geschehen könne 1 )." Duns Scotus (um 1265—1308) nimmt dagegen die tiefe Einsicht Humes vorweg, daß wir „den Satz, daß in der Natur alles nach notwendigen Gesetzen geschieht, niemals aus Einzelerfahrungen gewinnen, denn eine experimentelle Erfahrung von allen Fällen kann nicht gewonnen werden." „Trotzdem erkennt der, welcher Versuche angestellt hat, daß es so ist, und zwar immer und in allen Fällen, und zwar erkennt er das durch jenen in der Seele schlummernden Satz, daß alles, was in mehreren Fällen durch eine unfreie Ursache auftritt, eine natürliche Wirkung dieser Ursache ist. Vom Willen Gottes ist eine unwandelbare Ordnung des Naturgeschehens gesetzt." Eine gegenteilige Ansicht würde „die Einheit der Welt, alle Zusammensetzungen im W e l t a l l . . . und die Realität der mathematischen Wissenschaften zerstören 2 )". I m ganzen hat das Mittelalter auf empirischem Gebiet wenig Neues gebracht. Immerhin finden sich einige schöne Beispiele m i t t e l a l t e r l i c h e r B e o b a c h t u n g : so Adams v. Bremen Schrift über die Inseln des Nordens (1075), die Topographia Cambriae des Giraldus Cambrensis (13. Jahrhundert), Flavio Biondos Landeskunde Italiens, Heinrich Münsingers Buch von Falken, Pferden und Hunden, ferner die botanischen und zoologischen, pflanzenund tiergeographischen Beobachtungen des Albertus Magnus 3 ) und die „überraschend korrekte Erkenntnis" des Thomas v. Aquin, daß plötzlich gehemmte Bewegung sich in Wärme umsetzen muß 4 ). I m 14. Jahrhundert mahnt Raimund de Sabunde, neben dem Aristoteles librum naturae nicht zu vernachlässigen und 1348 spricht Nikolaus de Ultrikuria aus, daß „nicht Aristoteles mit seinen Auslegern, sondern die Dinge selber" das Ziel des Wissensdurstigen sein müßten 4 ). Daneben werden eine Reihe E r f i n d u n g e n gemacht: Kompaß (12. Jahrhundert), Schießpulver (14. Jahrhundert), Brillen (13./14. Jahrhundert), Uhren (11. Jahrhundert) und Buchdruck. Roger Bacon (1214—1294) spricht bereits von Kompaß, Schießpulver, Flugschiffen, vergrößernden Gläsern, Brennspiegeln, großen Schiffen, Automobilen und sogar von der Experimentalmethode 4 ), Friedrich I I . schreibt einen Brief voller naturwissenschaftlicher Beobachtungen und Probleme an einen arabischen ) W i c h m a n n , Die Scholastiker. S. 116. ) W i c h m a n n , S. 144. a ) A l b e r t u s , De animalibus; De vegetabilibus; Summa naturalium u. a. (vgl. S t r u n z , Albertus Magnus). 4 ) G ü n t h e r , Gesch. d. Naturwissensch. I. 1

2

38

I. Die geistige Welt

Gelehrten u n d belohnt ihn fürstlich, obwohl dieser i h m keine Lösungen, sondern n u r arrogante Albernheiten als Antwort schreibt: Der große N i k o l a u s v o n K u e s endlich (14Ö1—1464) 1 ) h a t nicht n u r die Idee des Unendlichen u n d Grenzenlosen im abendländischen Denken logisch begründet, die das moderne vom antiken Denken scheidet, sondern auch die Allbewegung geahnt, das Gesetz der Beharrung der Bewegung entdeckt, die erste brauchbare K a r t e von Mitteleuropa gezeichnet, einen Tiefenmesser mit Selbstauslösung erdacht u n d die magnetische K r a f t durch Gewichte messen wollen 2 ). Astronomen, Geographen u n d Kartographen endlich bringen im Spätmittelalter eine E r w e i t e r u n g d e s W e l t b i l d e s , wie sie vorher noch nicht dagewesen w a r : So im 13. J a h r h u n d e r t Marco Polo (Asien), im 15. J a h r h u n d e r t J o h a n n von Gmünd (1442), Georg Peurbach (1423—1461), Johannes Regiomontanus (1436—1476), Bernhard Walter (1430—1504), Flavio Biondo, Nikolaus Germanus, Martin Behaim (f 1507), Prinz Heinrich von Portugal (f 1460), Niccolo de Conti, Bartholomäus Diaz, Yasco da Gama (Indien), Amerigo Vespucci, Cabral (Brasilien), Diogo Cäo, Toscanelli (1482), Christophore Colombo (1446—1506), MagalhaSs (Erdumseglung) u. a. Auf ihrer Vorarbeit zunächst r u h t die physische Weltanschauung des folgenden großen Zeitalters. Die Kosmologie i m weiteren Sinne u m f a ß t n u n nicht n u r das physische, sondern auch d a s h i s t o r i s c h e W e l t b i l d . I m Gegensatz zum griechischen zeichnet sich unser eignes Mittelalter durch e i n e n e i n z i g a r t i g a u s g e p r ä g t e n h i s t o r i s c h e n S i n n aus, der n u r mit Ägypten und China zu vergleichen ist u n d eine Fülle historischer Literatur hervorgebracht h a t 3 ) . Philosophisch interessieren vor allem die U n i v e r s a l g e s c h i c h t e n u n d W e l t c h r o n i k e n , die meist den gleichen theocentrischen Universalismus zeigen wie die Kosmologien, mit denen sie des öfteren auch zu einem Ganzen zusammengesehen u n d -gearbeitet sind (Isidor, Honorius, Vincenz), ein Versuch, der sich n u r bei Herder wiederfindet u n d f ü r die Gegenwart leider ganz fehlt, obwohl die in-. C u s a n u s , Docta Ignorantia. Hellerau 1919. N i c o l a i de C u s a , Cardinalis Opera. Basileae 1555. N i c o l a u s v o n C u s a s wichtigste Schriften in deutscher Übersetzung von A. Scharpff. Freiburg 1862. Auswahl mit Einleitung von Ludwig von Bertanlanffy. München 1928. Eine neue Gesamtausgabe ist im Erscheinen. 2 ) s. Günther. 3 ) s. J a k o b , Quellenkunde der deutschen Geschichte im Mittelalter. Leipzig 1922. V i g e n e r , Quellen zur Geschichte der mittelalterlichen Geschichtschreibung. Leipzig 1914. Ferner: D a h l m a n n - W a i t z und W a t t e n b a c h .

Die Kosmologie

zwischen ins Ungeheuere ausgedehnte Urgeschichte einen solchen Blick auf das Ganze wieder einmal dringend nötig machte. Das weltgeschichtliche Bild des Mittelalters ist natürlich wesentlich bestimmt durch die Bibel und Augustin. Es beginnt mit der Ge-i nesis und verzweigt sich dann mit Kain und Abel in die C i v i t a s t e r r e n a des Heidentums: Assur, Babel, Orient, Antike und weltliches Imperium und anderseits in die C i v i t a s Dei des Juden- und Christentums, Kirchen- und Heilsgeschichte und geistliches Imperium, die nebeneinander hergehen und den geistigen und historischen Hintergrund bilden zu dem mittelalterlichen Gegensatz von Kaiser- und Papsttum, Welt- und Gottesstaat, den man jedoch zu überwinden versucht durch die Idee des christliche^ Kaisertums als des weltlichen Schwertes im Dienste des Gottesstaates. A u g u s t i n s C i v i t a s Dei beginnt mit einer Apologie des Christentums gegen den Vorwurf, es habe den Verfall des antiken Staates verschuldet (I—V). Darauf polemisiert er gegen die antiken Kulte und die Unzulänglichkeiten der antiken Philosophie (VI—X), um endlich in den letzten zwölf Büchern die Civitas terrena der Civitas Dei gegenüberzustellen. Dies ungeheure Werk ist das großartigste Beispiel einer geistigen Auseinandersetzung zweier Welten und noch heute eine unerschöpfliche Fundgrube. Die Voraussetzung dazu bildete natürlich die Kirchengeschichte und Weltchronik des Eusebius, die von Hieronymus übersetzt und fortgeführt wurde. Das Schema der sechs Weltalter oder der vier Weltmonarchien erscheint dabei ziemlich äußerlich, viel interessanter ist das Prinzip, biblisch-kirchliche und Profangeschichte nebeneinanderher zu führen in einer chronica pontificum et imperatorum. Spätere schöne Beispiele dafür sind: F r e c u l p h i episcopi Lexoviensis (Lisieux f 851) Chronicorum Tomi duo (Migne Bd. 106, S. 918 ff.) und Ottos von F r e i s i n g Historia de duabus civitatibus. F r e c h u l f s Chronik zeigt folgenden Aufbau: I. Ab exordio mundi usque ad navitatem Servatoris. I. 2. 7. beginnt neben der biblischen und orientalischen Geschichte die griechische. Sie gehen von hier ab durcheinander. I. 3. 12. beginnt die römische Geschichte mitzugehen. II. Ab Octaviano Augusto et Christi navitate usque ad Francorum et Langobardorum regna. Ab II. 1. 2 ff. werden politische und Heilsgeschichte nebeneinander geführt. Sehr interessant: Kirchen- und Ketzergeschichte

40

I. Die geistige Welt

neben Kaisergeschichte, Literatur- u n d Geistesgeschichte: De Josepho, De doctoribus. Memoria nobilium scriptorum usw. Uns Deutsche gehen neben der K a i s e r c h r o n i k vor allem O t t o v o n F r e i s i n g 1 ) und E i k e v o n R e p g o w 2 ) an, auf die wir mit Recht stolz sein können, denn in ihrer grundehrlichen u n d männlich verständigen A r t sind sie nicht n u r als die deutschesten, sondern als die bedeutendsten Geschichtschreiber des Mittelalters ü b e r h a u p t zu betrachten. Beneidenswert wie bei f a s t allen mittelalterlichen Geschichtsschreibern ist die S i c h e r h e i t d e s moralischen u n d philosophischen S t a n d p u n k t e s , die naive Gewißheit gläubiger Überzeugung, die selbstverständliche Übereinstimmung zwischen Glaube u n d Verstand. Man schreibt aus einer Weltanschauung heraus u n d sucht nicht, erst zu einer Weltanschauung zu gelangen. D a r u m beginnen auch die meisten dieser Universalgeschichten mit einer erbaulichen Einleitung: So z. B. d i e K a i s e r c h r o n i k : In des almähtigen gotes minnen so wil ich des liedes beginnen. daz scult ir gezogenliche vernemen: ja mac iuh vil wole gezemen ze hören älliu frumichait. die t u m b e n dunchet iz arebait, sculn si iemer i h t gelernen od ir wistoum gemeren. die sint unnuzze u n t phlegent n i h t guoter wizze, daz si ungerne horent sagen dannen si mähten haben wistuom unt e r e ; u n t waere jedoch f r u m der sele. Ein buoch ist ze diule getihtet, daz uns Romisces riches wol berihtet, gehaizzen ist iz cronica. iz chundet uns da von den babesen u n t von den chunigen, baidiu guoten u n d ubelen, die vor uns waren u n t Romisces riches phlagen 2

In den Scriptores: Werke übers, von K o h l . Leipzig 1876. ) E i k e , Sächsische Weltchronik in den Monumenta Germaniae.

Die Kosmologie

unze an diesen hiutegen tac. so ich aller beste mac so wil ich iz iu vor zellen. iz verneme swer der welle. Nu ist leider in disen ziten ein gewoneheit witen: manege erdenchent in lugene unt vuogent si zesamene mit scophelichen Worten. nu vurht ich vil harte daz diu sele dar umbe brinne: iz ist an gotes minne. so leret man die Inge diu chint: die nach uns chunftich sint, die wellent si also behaben unt wellent si iemer fur war sagen. lugene unde ubermuot ist niemen guot. die wisen horent ungeme der von sagen. nu grife wir daz guote liet an. swer daz liet vernommen habe, der sol einen pater noster singen in des hailigen gaistes minne: ze lobe sancte Silvester dem hailigen herren, und ze wegen siner armen sele der des liedes aire erist began; . . . etc. Ähnlich E i k e v o n R e p g o w : „ N u vernemit algemeine, we uns got der reine siner genade hat bescherit. swer sich unreiner lust irwerit unde vermidet bose dat unde sezzet sinen rat an den geweldegen got unde heldet sin gebot, . of her den regten gelouven hat unde di armen niht versmat unde iegelichen man sines rehten gudes gan unde des sines ist gemeine,

41

42

I. Die geistige Welt

der hat ein levent reine unde mah sicherliche gan vor sinen scheffere stan. her ne darf niht vorhten godes zorn, swenne daz herehorn wirt geblasen overal, daz die toten irquicken s a l . . . darna volgit ein donerslach, dar nieman vor unstan ne mach; der verit von godes munde unde wisit in afgrunde der helle die verworchten, de got hir niene vorchten. dar solen die guden sunder wan an godis scirme velich stan, . . . . Ich han mich des wol bedacht: diz buch ne wirt nimmer vollenbracht. de wile diu werlt stat: so vile wirt kunstiger dat. des muz diu rede nu bliven. ich ne kan nicht scriven daz noch gescen sol; mir genugit hir an wol. swer so leve vorebaz, swaz dan gesche, der scrive daz, unde achtbare warheit. logene sal uns wesen leit, daz ist des van Repegouwe rat. logene gesproken missestat, gescreven tot siu groten val der sele; des sit gewarnte al, swer so logene scrivet. unvergeven blivet diu logelike sunde. die wile ir got urkunde hat an den, die sie da lesen, so muz er unvergezzen wesen. . . . etc. Und endlich O t t o v o n F r e i s i n g : Sepe multumque volvendo mecum de rerum temporalium motu ancipitique statu, vario ac inordinato proventu, sicut eis

Die großen Systeme

43

inherendum a sapiente minime considero, sie a b eis t r a n s e u n d u m ac migrandum intuitu rationis invenio. S a p i e n t i s e n i m e s t o f f i c i u m n o n m o r e v o l u b i l l i s r o t a e r o t a r i , sed in v i r t u t u m c o n s t a n t i a ad q u a d r a t i corporis m o d u m f i r m a r i . Proinde quia t e m p o r u m mutabilitas stare non potest, a b ea migrare, u t dixi, sapientem ad s t a n t e m et p e r m a n e n t e m eternitatis civitatem debere quis sani capitis negabit ? Haec est civitas Dei Ierusalem caelestis, ad q u a m suspirant in peregrinatione positi filii Dei confusione temporalium t a m q u a m Babylonica Captivitate gravati. Cum enim d u a e s i n t c i v i t a t e s , u n a temporalis, alia e t e r n a , u n a mundialis, alia caelestis, una diaboli, alia Christi, Babyloniam hanc, Hierusalem illam esse katholici prodidere script o r e s . . . . etc.

DIE GROSSEN SYSTEME Dies physische und historische Weltbild liegt n u n den Spekulationen u n d Systemen der Patristik u n d Scholastik zugrunde. D i e P a t r i s t i k m u ß m a n größtenteils zu Orient u n d Antike rechnen, sie ist aber besonders seit Augustin nicht mehr von unserem Mittelalter zu trennen, namentlich die lateinischen Väter, die -weniger unter orientalischem Einfluß stehen u n d in denen die Substanz römischer Civilisation u n d Tradition noch spürbar ist. D e r B e g r i f f d e r S c h o l a s t i k ist wenig b e s t i m m t . Man wendet ihn zum Teil auf die gesamte mittelalterliche Gelehrsamkeit a n u n d verbindet d a m i t den Gedanken, daß alles Denken v o m Dogma begrenzt u n d bestimmt sei, j a d a ß m a n in einer Art geistiger Gebundenheit ü b e r h a u p t n u r gedacht habe, u m das Dogma mit einem Schein rationalistisch-juristischer Wissenschaft (fides quaerens intellectum) nach allen Seiten hin zu stützen u n d zu sichern, in der festen Überzeugung übrigens, d a ß der Verstand n u r die Richtigkeit des absolut wahren Glaubens bestätigen könne. Es finden sich jedoch in jedem J a h r h u n d e r t Denker, deren Spekulation e n uns überzeugen könnten, d a ß diese mittelalterlichen Menschen zwar f r o m m aber nicht beschränkt waren, denn m a n k a n n nicht geistige Gebundenheit nennen, was freiwillige u n d aufrichtige Überzeugung ist, u n d schließlich gehören die Ketzer doch auch z u m Mittelalter. Man sollte also nicht von einer geistigen als vielmehr von einer r e l i g i ö s e n G e b u n d e n h e i t sprechen, von jenem theocentrischen Universalismus, der ein Vorzug des Mittelalters

44

I. Die geistige Welt

ist und sein Denken wesentlicher macht als die bloße freie Spekulation. Wie ernst es dabei um die Frömmigkeit stand, beweist am besten die Tatsache, daß selbst ein Klügler wie Abaelard es fertig brachte, plötzlich in die Einöde zu gehen und dort mit seinen Schülern, die ihm folgten, wie ein Mönch in Lehm- und Strohhütten zu hausen, zu lehren und Hymnen zu dichten (s. die Briefe an Heliose). Wir verstehen darum unter Scholastik besser den Inbegriff der theologischen und philosophischen Schullehre und Spekulation des Mittelalters vom Ende der Patristik (6. Jahrhundert) bis zu Luther, ohne damit irgendwelche einseitigen Vorstellungen zu verbinden. R e a l w i s s e n s c h a f t l i c h liegen dieser Spekulation neben der Bibel und der Kosmologie und Historie indirekte Überlieferungen, Isidors Etymologien und das Satiricon des Marcianus Capeila zugrunde, dem man auch das S y s t e m der s i e b e n f r e i e n K ü n s t e entnahm: das Trivium: Grammatik, Dialektik, Rhetorik und das Quadrivium: Geometrie, Arithmetik, Astronomie und Musik. Die meisten Denker sind historisch-dogmatisch orientiert. Das liegt natürlich an ihrer Weltanschauung, die die Welt wesentlich als einen Heils- und Erlösungsprozeß begreift. Leider gibt es aber auch schon im Mittelalter Theoretiker ohne substantielle Grundlage, d. h. ohne ein engeres Verhältnis entweder zur Natur oder zur Geschichte, und das hat wie immer jene fade abstrakte Dialektik und Paraphrase, jenes ebenso gegenstandslose wie selbstgefällige Sichumsichselbstdrehen der „Philosophen" zur Folge. Dagegen beruht Augustins Größe und Überlegenheit nicht zuletzt auf seinem weiten historischen Horizont und Alberts für das Mittelalter fast einzigartige Erscheinung nicht zuletzt auf seinem innigen und echt wissenschaftlichen Verhältnis zur Natur. Im ganzen freilich bleibt d a s r e a l e W i s s e n des Mittelalters f a s t i m m e r d a s g l e i c h e , größtenteils ererbte, und es ist daher nicht verwunderlich, daß man unglaublich viel abgeschrieben hat. Aber man empfand das nicht etwa als unehrlich sondern war stolz darauf, die Tradition so gut zu kennen und pietätvoll zu wiederholen, was durch Offenbarungs- und Autoritätglaube sanktioniert war; man dachte eben nicht wissenschaftlich sondern metaphysisch, man fragte weniger nach der natürlichen Wahrheit als nach der übernatürlichen, weniger nach dem lumen naturale als nach dem lumen revelatum, weniger nach der Welt an sich als nach ihrem Urgrund, Sinn, Zweck und Ziel. Gott und

Die großen Systeme

45

das Heil der Seele bestimmten die Richtung alles Denkens ebenso sehr wie das Bemühen, nach dem Untergang des germanischen Mythos mit Hilfe der antiken u n d christlichen Tradition auf d e m Wege einer seltsamen Metamorphose die ganze Welt in einem ersten, begrifflich-systematischen Weltbild zusammenzufassen, zu einem Begriffskosmos, der aus Dogma, ererbten wissenschaftlichen T r ü m m e r n u n d Spekulationen aufgeführt, weit mehr auf syllogistischem und theologischem als auf empirisch induktivem Wege geschaffen wurde. Von hier aus sind z. B. selbst so naive Versuche wie die „Große K u n s t " von L u l l u s , der auf syllogistischem Wege aus den Eigenschaften Gottes mit Hilfe eines drehbaren Begriffssystems den ganzen Kosmos ableiten wollte, als durchaus positiv u n d typisch zu bewerten; Leibniz h a t sich mit ganz ähnlichen Gedanken getragen. Daß die A n a l o g i e n , die diesen S y l l o g i s m e n zugrunde lagen (vgl. z. B. die ganze Christologie), nicht wissenschaftliche in unserem Sinne waren sondern, wie schon gezeigt, oft metaphorische, bildhafte, phantasiemäßige, Wirklichkeit und Transcendenz, Wissen und Glauben vermischende, ist wieder eine Sache f ü r sich, bei der m a n jedoch nicht vergessen sollte, d a ß es außerhalb der Logik und Mathematik überhaupt keine absolut exakten Praemissen u n d Conclusionen gibt. Denn im Grunde geht es immer u m das Wörtchen „ist", dessen Umfang und Inhalt n u r wechselt, ohne je absolut bestimmt und erkannt werden zu können, da es u m das Geheimnis des Seins selbst geht. Die W e l t a n s c h a u u n g b e s t i m m t i m m e r a u c h die A r t d e r F o r s c h u n g u n d d e s E r k e n n e n s , wobei einmal der Schwerp u n k t mehr i m Emotionalen, ein andermal mehr in der Spekulation und Phantasie oder im Empirischen u n d Sensuellen liegt. Der moderne Empirismus ist keine so große K u n s t , wie m a n zuweilen glauben möchte, er setzt nur eine bestimmte A r t von Menschen voraus, die ihn wollen und für wichtiger halten als die Menschen der Frühzeit, denen er gleichgültig war gegenüber ihrem metaphysischen Drang. Denn jedes Zeitalter und jeder Mensch h a t das Weltbild, das ihm entspricht, da es f ü r uns leider nur Anthropomorphismen und Mythen geben kann. Dem Mittelalter ist ein ernstlicher Gegensatz zwischen fides und intellectus gar nicht aufgegangen, weil es ihn in seinem Glauben an den Offenbarungscharakter der Bibel und die Lehren des Gottessohnes gar nicht f ü r möglich hielt, und weil die religiösen Dogmen, bei denen dieser Gegensatz später oft a u f t r a t , viel zu transcendent waren, als d a ß sie sinnfällig h ä t t e n

46

I. Die geistige Welt

widerlegt werden können. So kommt es, daß der Intellekt spielen konnte, ohne den Glauben zu gefährden, den er vielmehr in allen Stücken zu bestätigen vermeinte. Es gibt nichts Intellektuelleres als Thomas von Aquin und sein gleichsam juristisch unanfechtbare» System; und es gibt nichts Scharfsinnigeres als Duns Scotus und seinen subtilen Denkstil. Trinität

D a s h ö h e r e m i t t e l a l t e r l i c h e W e l t b i l d läßt sich am besten sphärisch oder auch pyramidal darstellen; es entspricht im wesentlichen dem gnostisch-neuplatonischen mit einigen Variationen : (s. Abb.)

Die großen Systeme

47

Die Sphäre der Ideen ist dabei nur für platonisch orientierte Denker anzusetzen. Das sicherlich viel weiter verbreitete biblische Weltbild sieht natürlich bedeutend einfacher aus. Yariant bleibt auch das Verhältnis Gottes zu den einzelnen Sphären der Schöpfung. Für die Vorstellung eines außerweltlichen Gottes trifft die obige Darstellung zu, für den immanenten ontologischen Gottesbegriff dagegen muß man sich ein Allumfassen und Allzugrundeliegen Gottes dazudenken, gleichsam ein Eingebettetsein der Welt in ihren ewigen Urgrund, aus dem alles hervorgeht und zu dem alles wiederum eingeht durch mancherlei Stufen und Emanationen. Das braucht kein bloßer Pantheismus zu sein, sondern kann das Wesentliche des Theismus mit einschließen: ein Allerheiligstes, „ d a s H e r z e G o t t e s " die „Zentralsonne" und den geistigen Mittelpunkt der Welt; dies gilt dann vor allem für die mehr pantheistischen Systeme der Renaissancephilosophen. Nimmt man zu diesem Weltbild noch das Dogma hinzu, vor allem die Lehre vom Fall und der Erbsünde als dem Abfall von Gott, von der Verlorenheit des Menschen und seiner Rechtfertigung und Erlösung durch Christi Opfertod und Gottes Gnade und Vorsehung; ferner die Eschatologie mit ihren apokalyptischen Visionen, die areopagitischen Vorstellungen von den beiden Hierarchien und die Auffassung der Geschichte als der Auseinandersetzung zwischen Civitas terrena und Civitas Dei, so hat man ein ziemlich geschlossenes Bild des mittelalterlichen Kosmos der Ordnung und des Heiles vor Augen. Bei aller Tiefe der E i n h e i t und inneren Geschlossenheit geht jedoch, wie schon gezeigt, ein tiefer D u a l i s m u s durch diese Weltanschauung, der wie immer durch die Welt selbst gegeben ist und sich daher auch beim besten Willen nicht aus der Welt schaffen läßt. Und dieser Zwiespalt bleibt trotz allem organischen Gradualismus, allem theocentrischen Universalismus, aller Frömmigkeit und Gottinnigkeit ganz offenbar bestehen, selbst bei dem Versuche, das Böse und das Übel als „nichtseiend" und „wesenlos" zu begreifen, wie es seit Augustin unter den Theoretikern vielfach üblich wurde, die im Hinblick auf die Allmacht, Allgüte und Prädestination eine Theodike versuchten, die keine sein konnte, weil sie, um Gott vor der Verantwortung des Übels zu bewahren, dieses für wesenlos und nicht vorhanden erklärten, obwohl es ihnen so viel zu schaffen machte. Der Polytheismus erklärte die Finsternisse dieser Welt metaphysisch durch entsprechende Gottheiten und Dämonen, der Mono-

48

I. Die geistige Welt

theismus und zumal der christlich-moralistische ist demgegenüber ebenso schwer im Nachteil wie der Pantheismus, da sie die Vielr heit und Gegensätzlichkeit aus der Einheit entwickeln müssen und sich ehrlicherweise nicht anders helfen können, als daß sie den Dualismus wieder zur anderen Tür herein lassen, und dies ist ihr geheimstes Leiden. Da das volkstümliche Mittelalter naiv gegenständlich dachte und die Welt im biblischen Sinne als geschaffene dem unerschaffenen, persönlichen und außerweltlichen Schöpfer gegenüberstellte, hat es sich auch die Macht des Bösen im Gegensatz zu den Theoretikern lebhaft gegenständlich als den „Leibhaftigen" vorgestellt und den metaphysischen Abfall vom Göttlichen als konkreten Sturz Luzifers aus dem Lichte desHimmels in den Abgrund der Hölle, ähnlich dem Sturz der Titanen in den Tartaros: ein grandioses Bild, das sich noch in Miltons Verlorenem Paradies wiederfindet, das aber auch die metaphysische Unzulänglichkeit des christlichen Gottesbegriffes aufzeigt, der die Schrecknisse dieser Welt von sich aus nicht zu erklären vermag und zu Unaufrichtigkeiten führen muß, die um so schlimmer sind, als sie früher oder später zum Zweifel führen, falls man nicht den Urgrund wirklich wieder zum Urgrund macht für a l l e s , selbst auf Kosten der Allgüte. Die S p e k u l a t i o n setzt nun überall da ein, wo die P r o b l e m a t i k beginnt, und zwar vielmehr die metaphysische als die physische, obwohl diese Unterscheidung hier eigentlich nicht am Platze ist, da man im Grunde alles als metaphysisch betrachtet. Das Centraiproblem bleibt bis zu Cusanus hin die Trinität, deren Selbstverständlichkeit erst mit dem Antitrinitarismus im 16. Jahrhundert in Frage gestellt wird. Das Wesen Gottes, die Beweisgründe für sein Dasein, seine positiven und negativen Eigenschaften bilden überall den Ausgangspunkt. Sodann folgen die Christologie und die Logos- und Pneumaspekulationen, ferner die Lehre von den Engeln und Geistern, das Verhältnis Gottes zur Welt, Schöpfung, Erhaltung und Endziel der Welt, Vorsehung und Praedestination, die Probleme der Universalien, ihr Verhältnis zu Gott, den Einzeldingen und dem erkennenden Subjekt, oder aristotelisch: Potentialität und Aktualität, Stoff und Form; ferner die Lehre vom Menschen, vom Falle Luzifers und Adams, von der Erbsünde, Weltverlorenheit und Heillosigkeit des Menschen, von Leib und Seele, Seele und Geist, Tier- und Menschenseele, von der Stellung des Menschen als Mikrokosmos im Makrokosmos, seiner Größe und Niedrigkeit, endlich die Ethik (ordo amoris), die Lehre vom Willen

49

Die großen Systeme

und Intellekt, Wissen und Glauben, von Freiheit und Unfreiheit, Gnade und Prädestination, Rechtfertigung, Heil und Erlösung, Kirche und Sakrament etc. Leider ist ein Gesamtbild einschließlich Kosmologie und Universalgeschichte nur selten angestrebt worden, wenigstens nicht in einem systematischen Werk, dagegen öfters, sofern man die gesammelten Werke eines Denkers überblickt, so bei Isidor, Honorius, Albert, Duns, Yincenz u. a. Die t h e o l o g i s c h e n Hauptthemen finden sich bei fast allen Schriftstellern: De primo rerum principio, De Dei existentia, De Diligendo Deo, De anima, De gratia et libero arbitrio, De natura et gratia, De praedestinatione et praescientia etc. Im Mittelpunkt des p h i l o s o p h i s c h e n Denkens steht überall die Universalienfrage, die auf Piaton zurückgeht. P i a t o n s Hauptwerk: den Timaios, von dem allein ein Teil auf das Mittelalter kam, haben wir schon oben betrachtet. Von größter Bedeutung für die mittelalterliche Spekulation ist darin der mittlere Teil (Kap. 17 bis 25) geworden, durch seine Ausführungen über die Ideenwelt, woraus sich die ganze Uni Vers a l i e n f r a g e entwickelt hat, die mit der Auferstehung der aristotelischen Metaphysik um 1200 noch verwickelter wurde. Piaton unterscheidet 1. das Werdende (die Dinge), 2. das, worin es wird (der Raum) und 3. das Urbild, von dem das Werdende als Abbild herstammt: die Ideen. „Gibt es ein Feuer an und für sich und verhält es sich so auch mit allem andern, was wir unserer Gewohnheit nach im einzelnen als an und für sich seiend bezeichnen ? Oder kommt den Dingen, die wir mit Augen sehen oder die wir sonst durch irgendwelche körperliche Empfindung wahrnehmen, allein die eigentliche Wirklichkeit zu? Und gibt es tatsächlich nichts anderes außerdem? Wäre es also eitel Blendwerk, wenn wir regelmäßig eine nur denkbare Idee für jedes Gegebene setzen, während es sich tatsächlich um einen bloßen Namen handelte? Es würde uns nun wohl schlecht anstehen, die vorliegende Frage ungeprüft und unentschieden zu lassen und uns auf die einfache Erklärung zu beschränken, es sei nun einmal nicht anders. . . . Wenn sich uns aber eine Begriffsbestimmung bieten sollte, die mit wenigen Worten einen großen Inhalt umspannt, so wäre das höchst erwünscht. Folgendermaßen gebe ich also meine Stimme ab: wenn Vernunft und wahre Meinimg zwei verschiedene Erkenntnisarten sind, dann kommt den Ideen unter allen Umständen Schal ler, Weltanschauung.

4

50

I. Die geistige Welt

wirkliches Sein zu, als von uns nicht wahrgenommen, sondern bloß denkbaren Wesenheiten; unterscheidet sich aber, wie einige annehmen, wahre Meinung in nichts von der reinen Vernunft, dann müssen wir allem, was wir vermittels des Körpers wahrnehmen, unbedingte Sicherheit zuschreiben. Nun müssen wir sie als zwei gesonderte Arten bezeichnen, denn sie unterscheiden sich sowohl nach ihrem Ursprung wie nach ihrer Beschaffenheit. Die eine nämlich wird uns durch Belehrung, die andere durch Überredung zuteil; und die eine steht in unlösbarem Bunde mit wahrer Einsicht, die andere entbehrt der eigentlichen Einsicht; und die eine läßt sich durch Überredung nicht beseitigen, die andere dagegen ist der Veränderung durch Überredung zugänglich; und der wahren Meinung ist, wie nicht zu leugnen, jedermann teilhaftig, der Vernunfteinsicht aber neben den Göttern nur ein geringer Teil der Menschen. Angesichts dieses Sachverhalts aber müssen wir zugeben, das eine sei das Gebiet der unwandelbaren Idee, die ungeworden und unzerstörbar, weder von anderer Seite anderes in sich aufnimmt noch selbst in irgendein anderes eingeht, dem Auge verborgen und auch den anderen Sinnen nicht wahrnehmbar, genau also das, dessen Betrachtung Sache des reinen Denkens ist. Das Zweite ist das, was mit jenem gleichbenannt und ihm ähnlich ist, sinnlich wahrnehmbar, erzeugt, in immerwährender Bewegung, an einem bestimmten Orte entstehend und von da wieder verschwindend, durch Meinung im Bunde mit der Sinneswahrnehmung erfaßbar. Das Dritte aber ist das ewige Reich des Raumes, das keiner Vernichtung zugänglich, allem Entstehenden eine Stätte gewährt und selbst ohne Sinneswahrnehmung erkannt wird durch eine Art unechter Einsicht, eine starke Zumutung an unseren Glauben. Dieses Gebiet ist es denn, auf das wir uns beziehen, wenn wir sehend träumen und sagen, alles was da ist, müsse doch an einem bestimmten Orte sein und einen bestimmten Raum einnehmen, was aber weder auf Erden noch irgendwo in der Welt sei, habe überhaupt kein Sein. Alle diese und dem verwandte Einbildungen übertragen wir infolge dieses Traumzustandes auch auf das Reich des nimmer schlummernden, wahrhaften Seins und sind beim Erwachen nicht fähig, durch Unterscheidung die Wahrheit festzustellen, nämlich so: ein Bild trägt ja den Grund seiner Entstehung gar nicht einmal in sich selbst, sondern ist immer nur die flüchtige Erscheinung eines anderen; deshalb muß es, wenn es überhaupt etwas sein will, seine Entstehung in irgendeinem anderen finden, um doch irgendwie am Sein teilzuhaben; dagegen steht dem wahr-

Die großen Systeme

51

haft Seienden als Bundesgenosse zur Seite der streng wahre Satz, daß so lange etwas einerseits d i e s e s andere, anderseits auch noch j e n e s andere sein soll, von denen keines von beiden in dem anderen entstanden ist, dasselbe zugleich eins und zwei sein würde. So läßt sich denn mein wohlerwogenes Urteil in der Kürze dahin zusammenfassen, daß das Seiende, der Raum und das Werden schon v o r Entstehung der Welt als drei gesonderte Gattungen bestanden." . . . etc. Diese platonischen Spekulationen haben den Kosmos der mittelalterlichen Weltanschauung entscheidend gestaltet, zumal es nicht allzu schwierig war, in diese Welt der Schönheit und Ordnung, des Urbildlichen und Abbildlichen, des gradualen Abfalles und der Wiederkehr die christlichen Vorstellungen einzugliedern und beide zu einem neuartigen Ganzen zusammenzufügen. Die Probleme der U n i v e r s a l i e n stehen dabei im Brennpunkt der Spekulation und entflammen jenen ewigen Streit zwischen R e a l i s m u s und N o m i n a l i s m u s , wobei der letzte trotz Aristoteles schweren Stand hatte, namentlich wegen seiner ketzerischen Konsequenzen für das Trinitätdogma. Der naive Realismus des mittelalterlichen Menschen traf sich mit dem sehr „späten" platonischen „Realismus" in dem Bemühen, rein spekulativ zu metaphysizieren, wobei man jedoch den Begriff der Wirklichkeit etwas zu weit faßte und zu wenig differenzierte. Die Universalienfrage ist dabei vom Mittelalter im Ergebnis befriedigender gelöst worden als von Plato selbst. Schon A r i s t o t e l e s hatte dessen Lehre von der starren metaphysischen Existenz der Ideen oder Allgemeinbegriffe bekämpft, besonders ihre Beziehungslosigkeit zum Werden und zur Entwicklung, und sie durch Einführung seiner Entelechien zu differenzieren begonnen. Aber er vermochte den Widerspruch zwischen Individualität und Allgemeinheit der Ideen nicht zu lösen. — A u g u s t i n dagegen verlegte — wohl im Anschluß an Philon — die Praeexistenz der Ideen oder Artbegriffe in den Geist Gottes (Quae in divina intelligentia continentur) und erlöste sie damit wenigstens aus ihrer etwas luftigen und selbstherrlichen Existenz in einer intelligiblen Welt: „Sunt namque ideae principales formae quaedam vel rationes rerum stabiles atque incommutabiles, quae ipsae formatae non sunt, ac per hoc aeternae ac Semper eodem modo se habentes, quae in divina intelligentia continentur; et quum ipsae neque oriantur neque intereant, secundum eas tarnen formari dicitur omne, quod interire potest, et omne quod oritur et interit." (De div. qu. 46. de ideis 2.) 4*

52

I. Die geistige Welt

Der fernere Streit der R e a l i s t e n u n d N o m i n a l i s t e n (seit Roscellin v. Compiegne um 1130), der naturgemäß unentschieden bleiben mußte, zumal man die Universalien nicht genügend differenzierte und Anthorpomorphismen, logisch-mathematische Begriffe und Entelechien nicht klar schied, hat dennoch mit A b a e l a r d , A l b e r t u n d T h o m a s einen gewissen Abschluß gefunden: denn nach ihnen sind die Universalien ante res im Geiste Gottes, in rebus in den Dingen und post res im Geiste der Menschen. Über ihr Wesen ist damit freilich nichts gesagt, aber sie sind wenigstens in den ewigen Urgrund, in Gottes Geist selbst verankert und damit in seine Allwissenheit und Schöpferkraft, in die ewige praescientia, Providentia und praedestinatio hineinverlegt und damit in den universalen Zusammenhang nicht nur des Seins sondern auch des Werdens und der Entwicklung eingefügt. J a , im Grunde ist die Welt der Ideen damit überflüssig geworden, da die Vorsehung alle Ideen und Urbilder in sich schließt, eine Folgerung, die das Mittelalter selbst eigentlich viel zu wenig gezogen oder wenigstens ausgesprochen hat. D e r e r s t e g r o ß e c h r i s t l i c h e S y s t e m a t i k e r , in dem sich Orient und Antike, Christentum mit gnostischer und griechischer Spekulation vereinigen, ist Origenes. Spengler rechnet ihn wie die Spätantike, Christentum, Gnosis etc. überhaupt zur „arabischen Kultur", wahrscheinlich hat er Recht, aber wie die Dinge nun einmal liegen, müssen wir ihn auch für unsere eigene Kultur in Anspruch nehmen? deren Anfänge unlösbar mit der Spätantike verknüpft sind; und in diesem Falle tun wir das auch sehr gern, wie bei den meisten Kirchenvätern (Tertullian, Clemens, Basilius, Augustin!). Denn Origines ist zweifellos der klügste, gelehrteste und verständigste Köpf seiner Zeit, und viele seiner Schriften sind in ihrer lebhaft gewandten, geistreichen und schlagfertigen Art ein geistiger Genuß, ohne untief zü sein, so seine Schrift xccra Kekciov und vor allem sein Hauptwerk negl das leider sehr selten geworden ist, obwohl es sein ganzes S y s t e m enthält und visionär das christliche Weltbild zum ersten Male philosophisch gestaltet. Es gliedert sich in folgende Teile 1 ): Vorrede über die Kirchenlehre; I . Buch vom Geiste und den Geistern: 1. von Gott, 2. von Christus, 3. vom heiligen Geiste, 4. von den vernünftigen Wesen, 5. vom Ende oder der Vollendung, 6. vom Körperlichen und Unkörperlichen, 7. von den Engeln, I I . Buch: von der Welt *) Übers, von Schnitzer,

Stuttgart 1835.

Die großen Systeme

53

und der Menschheit: 1. von der Welt, 2. von der Dauer der Körperweit, 3. v o m Anfang der Welt u n d ihren Ursachen, 4. der Gott des Gesetzes u n d der Propheten u n d der Vater Jesu Christi ist Einer, 5. über die Eigenschaften „ G e r e c h t " u n d „ G ü t i g " , 6. von der Menschwerdung Christi, 7. v o m heiligen Geiste, 8. von der Seele, 9. von der Welt, den Willensrichtungen der vernünftigen Geschöpfe, guter und böser u n d deren Ursachen, 10. von der Auferstehung und dem Gerichte, von dem Feuer u n d den Strafen der Hölle, 11. von den Verheißungen. I I I . B u c h : von der Sünde u n d Erlösung: 1. von der freien Selbstbestimmung, 2. von den feindseligen Mächten, 3. von den bloß menschlichen Versuchungen, 4. v o m zeitlichen Anfang der Welt, 5. v o m E n d e der Welt. IV. B u c h : von der heiligen Schrift; Schluß: summarische Wiederholung einiger Lehren. Auffällig a m ganzen ist der starke gnostische u n d o r i e n t a l i s c h e E i n f l u ß , der sich ausdrückt in jenem Dualismus von Körperlichem u n d Geistigem, Licht u n d Finsternis, Gut u n d Böse, und im Zusammenhang d a m i t in der zentralen Stellung des Substanz-, Pneuma- u n d Logosproblems sowie in dem Mythos vom Fall und der Erlösung. I m Gegensatz zum Dualismus persischer Prägung wird aber — wahrscheinlich n u r mit Rücksicht auf die Lehren des Paulus — das Körperliche für unvergänglich erklärt, da sich unkörperliche Wesen nicht denken lassen (II. 2.) u n d mit der Auferstehung die verweslichen Körper unverweslich werden sollen (II. 3. im Widerspruch dazu steht I I I . 5.). G o t t allein ist reiner Geist u n d unkörperlich, in Wahrheit unbegreiflich u n d unermeßlich (I. 5). „ S ä h e n wir z. B. J e m a n d , der k a u m einen F u n k e n Licht, oder höchstens das Licht einer schwachen Laterne ertragen könnte, dessen Sehkraft aber mehr Licht nicht fassen würde, so wäre es vergeblich, ihm die Klarheit u n d den Glanz der Sonne anschaulich machen zu wollen. Müßten wir i h m nicht sagen: unendlich u n d unaussprechlich vorzüglicher und herrlicher als all das Licht, das du siehst, ist der Glanz der Sonne ? " So h a t unsere Vernunft, solange sie in den Kerker ihres Leibes verschlossen u n d nach Verhältnis ihrer Teilnahme an dem Irdischen stumpfer und schwächer geworden ist, zwar in Vergleich mit der körperlichen N a t u r einen großen Vorzug, vermag aber doch, wenn sie zur A n s c h a u u n g d e s Ü b e r s i n n l i c h e n emporstrebt, k a u m was ein F u n k e n oder der Schein einer Leuchte. . . . Eben solche Strahlen sind Gottes Geschöpfe, u n d das Meisterwerk der Vorsehung, d i e s e s W e l t a l l ,

54

I. Die geistige Welt

im Vergleich mit seinem eigentümlichen Wesen. Wenn nun auch unsere Vernunft für sich allein Gott an sich nicht schauen kann, so erkennt sie doch aus der Pracht seiner Werke und der Schönheit seiner Geschöpfe den Urheber des Alls. Nicht also als Körper oder an einen Körper gebunden darf Gott gedacht werden, sondern nur als übersinnliches, durchaus reines, jeder Vermischung unfähiges Wesen, das nicht ein Mehr oder Weniger in sich vereinigen kann, — in jedem Sinne als Monade, sozusagen als Einheit (k'vac), als Vernunft oder als die Quelle, woraus jede geistige Natur oder Vernunft ihren Ursprung hat. Die Vernunft aber bedarf zu ihrem Tun und Treiben keines räumlichen Ortes oder sinnlicher Größe, noch körperlicher Gestalt und Farbe, noch irgendeiner andern Eigenschaft des Körpers oder der Materie. Weswegen auch jenes einfache und ganz geistige Wesen in seinem Tun und Treiben keine Zögerung zuläßt, weil sonst die Einfachheit der göttlichen Natur eine Beschränkung erleiden würde oder das, was d a s U r w e s e n von Allem ist, zusammengesetzt und mannigfaltig erschiene und zur Vielheit würde, was einzig und fern von aller körperlichenVermischung in dem ursprünglichen Wesen der Gottheit allein bestehen soll. . . . Gott aber, der Urgrund alles Daseins, darf nicht zusammengesetzt gedacht werden: sonst würden wir auf Bestandteile geraten, die dem Urgrund vorausgegangen sind, und aus welchen jedes Zusammengesetzte zusammengesetzt wäre." . . . Darum gibt es auch kein Wesen, für welches Gott sichtbar wäre, und es ist folgewidrig zu sagen, der Sohn könne den Vater sehen oder der heilige Geist sähe den Sohn. Ein anderes aber ist sehen, ein anderes erkennen: erscheinen und sehen ist Sache der körperlichen, erkanntwerden und erkennen Sache der vernünftigen Natur „Zudem heißt es im Evangelium (Matth. 11, 27) nicht: „ N i e m a n d s i e h e t den V a t e r , außer der Sohn", sondern: „Niemand k e n n t den Sohn, denn nur der Vater, und Niemand den Vater, außer der Sohn." Woraus deutlich hervorgeht, daß, was bei körperlichen Dingen sehen und gesehen werden heißt, beim Vater und Sohn erkennen und gekannt sein genannt wird, im Sinne des Bewußtseins, nicht der vergänglichen Anschauung. . . . Hält man mir endlich entgegen: „Selig sind die reines Herzens sind, denn sie werden Gott s c h a u e n " (Matth. 5, 8); so wird, wie mich dünkt, meine Behauptung dadurch nur bestätigt. Denn was ist dies „Gott in dem Herzen schauen" anders, als das obenerläuterte Begreifen und Erkennen durch die Vernunft ?" . . .

Die großen Systeme

55

C h r i s t u s ist der Sohn, der Logos, und deswegen ist auch von ihm nichts sinnlich Wahrnehmbares. Er ist die "Weisheit, das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet, Abglanz der Herrlichkeit, Ebenbild des Wesens, Glanz des ewigen Lichtes, die Pforte, die Gerechtigkeit, Rechtfertigung und Erlösung. D e r h e i l i g e G e i s t i s t , „wenn nach J o h . 1, 3 durch den Logos Alles gemacht ist, durch ebendenselben geschaffen. Und vielleicht ist eben der Geist, der nach der Schöpfungsgeschichte auf den Wassern schwebte, nichts anderes als der heilige Geist." „ G o t t der V a t e r nämlich, der das All zusammenhält, reicht bis zu jedem Einzelnen, indem er jedem aus seinem eigenen Sein das Dasein mitteilt, denn er ist der Seiende: geringer im Verhältnis zum Vater ist der S o h n , der nur die vernünftige Welt durchdringt: denn er ist der zweite nach dem Vater. Noch eine Stufe niedriger steht der h e i l i g e G e i s t , welcher nur über die Heiligen sich verbreitet; so daß dem zu Folge die Macht des Vaters über dem Sohne und heiligen Geiste steht; größer ist wiederum die des Sohnes, als die des heiligen Geistes; und ebenso steht auch die Macht des heiligen Geistes weit über den übrigen heiligen Wesen." . . . D e r A b f a l l v o n G o t t ist die natürliche Folge der eigenen Willensrichtung; daraus folgt, daß „sowie die höheren Geister nicht nach einem Vorzugsrechte, sondern nach ihrem sittlichen Verdienst ihren Rang behaupten, die vernünftigen Geschöpfe überhaupt nur durch Trägheit und Erschlaffung in irdische Leiber versanken, und, weil sie in ihrem frühern Zustande gesündigt haben, hier gleichsam an einem Strafort sich befinden. Sie fallen aber nicht plötzlich, sondern sinken allmählich von einer Stufe zur andern, bis sie auf die unterste, die fleischliche gelangen, nachdem sie verschiedene Umwandlungen durchgemacht haben." . . . D e r u m g e k e h r t e W a n d e l zur V o l l e n d u n g wird eintreten „wenn Jeder nach Verhältnis seiner Vergehungen gestraft werden wird. Die Zeit der Vergeltung weiß Gott allein. Jedoch nehmen wir an, daß die Güte Gottes durch Christum, nach Besiegung und Unterwerfung seiner Feinde, alles Erschaffene zur Einheit der Zwecke zurückführen werde." . . . „Übrigens ist nicht zu vergessen, daß es auch Geister gibt, die dem Ursprung gänzlich entfremdet und so sehr in V e r d e r b e n und B o s h e i t versunken sind, daß sie jene Durchbildung, vermöge welcher das Menschengeschlecht durch den Beistand der höhern Geister wieder herangezogen wird, nicht verdienen, sondern

56

I. Die geistige Welt

im Gegenteil als Feinde und Widersacher der zu erziehenden auftreten. Daher die Kämpfe, in welche das Leben des Sterblichen verwickelt ist, mit denen, die völlig abgefallen sind, dem T e u f e l und seinen Engeln, und mit den übrigen Gestalten des Bösen, die der Apostel unter den feindlichen Kräften begreift. E s ist nun kein Zweifel, daß auch aus den Reihen dieser Wesen noch einige, da sie doch noch die Freiheit des Willens haben, irgend einmal in einer der künftigen Welten zum Guten umkehren können." . . . „ D i e E r n e u e r u n g d e s H i m m e l s u n d der E r d e , die Umwandlung der gegenwärtigen Form der Welt erwartet ohne Zweifel diejenigen, welche auf dem oben nachgewiesenen Wege zum Ziele der Seligkeit fortschreiten, welchem Ziele sich auch die Feinde unterwerfen sollen, und in welchem Gott Alles in Allem sein wird." D i e W e l t , durch die göttliche Vorsehung geordnet, besteht nun nicht allein aus den göttlicheren Naturen und mancherlei Körpern, sondern „ebensowohl aus stummen Tieren, dem Wild, dem Raubtier, dem Vieh, den Vögeln und den Wassertieren; hernach aus verschiedenen Räumen, dem des Himmels nämlich, und dem der Erde und des Meeres, und dem mittleren, dem Luftraum; endlich aus den Gewächsen der Erde. Bei dieser M a n n i g f a l t i g k e i t der W e l t , und bei dieser großen Verschiedenheit der vernünftigen Wesen, um deren willen die ganze übrige Mannigfaltigkeit ist, welche andere Ursache ihres Bestehens (zumal, wenn wir auf das endliche Ziel sehen, zu dem nach der Erörterung im 1. Buche Alles Zerspaltene wieder zurückgeführt werden soll), ist wohl anzunehmen, als die Mannigfaltigkeit des Abfalls derer, die auf verschiedene Weise der ursprünglichen Einheit sich entwandt und in ihrer Abwendung von jenem Urzustand des Guten das Eine und unteilbare Gute durch die Verschiedenheit der Willensrichtung in verschiedene Charaktere zerspalten haben. Vermöge seiner unaussprechlichen Weisheit aber, vermöge welcher er alle möglichen Erscheinungen auf irgendeinen guten und allgemeinförderlichen Zweck zu lenken weiß, hat Gott die einander so vielfach entfremdeten Geschöpfe wieder in eine gewisse Übereinstimmung der Neigung und Tätigkeit gebracht, so daß sie bei den verschiedensten Richtungen doch nur zur Erfüllung und V o l l e n d u n g d e s E i n e n W e l t z w e c k s beitragen. Denn es ist nur Eine Kraft, die das Mannigfaltige der Welt zusammenhält und die verschiedenen Bewegungen zu Einer Tätigkeit vereinigt; sonst würde die unermeßliche Welt durch den Zwiespalt der Geister in Trümmer gehen. Zu diesem Zwecke hat wohl

Die großen Systeme

57

Gott, der Allvater, nach dem unaussprechlichen Plane seiner Weisheit, zum Heile seiner Geschöpfe die Einrichtung getroffen, daß der einzelne Geist, die einzelne Seele, oder wie wir die vernünftigen Wesen nennen wollen, nicht wider die Freiheit des Willens, doch durch einen unwiderstehlichen Drang zu einem andern Ziele hingetrieben wird, und ihm auf diese Weise die Willensfreiheit genommen zu sein scheint. Dies ändert allerdings schon den natürlichen Charakter. Die verschiedenen Richtungen werden aber in Einklang gebracht dadurch, daß die einen der Hilfe bedürfen, andere helfen können, wieder andere denen, die fortschreiten, Hindernisse verursachen, woran ihr Eifer sich bewähren kann, und durch deren Überwindung sie sich nachher nur um so fester stellen. Obwohl also die Welt nach verschiedenen Wirkungskreisen geordnet ist, darf gleichwohl ihr Zustand nicht als ein widersprechender und sich störender gedacht werden; v i e l m e h r d e n k e ich mir die W e l t , ä h n l i c h u n s e r m K ö r p e r , der aus vielen Gliedern zusammengefügt und doch von Einer Seele regiert ist, als ein unermeßliches, lebendes Wesen, das gleichsam von Einer Seele, der Kraft und Weisheit Gottes, zusammengehalten wird. Ich glaube, dies auch in der heiligen Schrift erkennen zu müssen, wenn der Prophet sagt: bin ich es nicht, der Himmel und Erde erfüllet? (Jerem. 23, 24). Man vergleiche damit Jes. 66, 1 und was der Herr sagt, Matth. 5, 34 und besonders aus der Predigt des Paulus zu Athen Act. 17, 28. Denn wie können wir in Gott „leben, weben und sein", wenn nicht deswegen, weil er durch seine Kraft die Welt zusammenhält ? Wie ist der Himmel Gottes Stuhl und die Erde seiner Füße Schemel, wie der Herr sagt, wo nicht insofern, als seine Kraft im Himmel wie auf Erden Alles erfüllet ? Ich meine nicht, daß Jemand auf solche Stellen hin Anstand nehme zu bejahen, daß Gott der Allvater die ganze Welt mit der Fülle seiner Kraft durchdringe und umfasse. Wenn wir nun aber den Grund der Mannigfaltigkeit der Welt in der Verschiedenheit der Willensrichtung der Vernunftwesen nachgewiesen haben, so ist nunmehr eine weitere Frage, ob sie wohl auch einen ihrem Entstehen ähnlichen Ausgang haben werde. Denn ohne Zweifel wird sich auch am Ende dieser Welt noch eine bedeutende Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit finden, und diese wird wiederum den Grund zu den Ungleichheiten der nächstfolgenden Welt abgeben. . . . (Der stoische Gedanke der periodischen Welterneuerung taucht bei Origines öfters auf.)

58

I. Die geistige Welt

Aber a u c h d e r k ö r p e r l i c h e S t o f f i s t U r s a c h e d e r M a n n i g f a l t i g k e i t , denn der Stoff dieser Welt, „der die Eigenschaft hat, aus Allem in Alles verwandelt zu werden, kommt durch den Niederschlag endlich in einen festen und dichten Zustand, in welchem er die Unterschiede der sichtbaren Weltgestalten darstellt; wo er aber den vollkommenern und seligen Geistern dient, strahlt er im Himmelsglanze und schmückt die Engel Gottes und die Kinder der Auferstehung mit dem geistigen Kleide." . . . Ü b er d a s W e l t e n e n d e aber ist eine dreifache Ansicht möglich: „Entweder werden wir ein körperfreies Dasein haben, wenn w i r , die wir Christo Untertan sind, dem Vater werden übergeben werden, und Gott Alles in Allem sein wird. Oder wird A l l e s , wie es nun Christo U n t e r t a n ist, auch Gott mit Christo selbst U n t e r t a n und in Einen Bund vereinigt werden; so wird denn aller Körperstoff die größtmögliche Vollkommenheit annehmen und sich in Äther auflösen, der reinerer und einfacherer Natur ist. Oder endlich wird zwar jene bewegungslose Weltkugel, von der wir oben gesprochen, und was in ihr begriffen ist, in Nichts aufgelöst werden, aber die Räume, von denen die Gegenzone selbst eingeschlossen ist, werden das gelobte Land heißen; auch der zweite Weltkreis, der dieses Land umwölbt, und Himmel heißt, wird zum Aufenthalt der Frommen aufbehalten werden. Dort wird nämlich die endliche Vollkommenheit Statt haben, zu welcher nach völliger Ausreinigung die Gefallenen gelangen mögen; die aber, welche schon hier gehorsame Schüler des Wortes und der Weisheit Gottes waren, werden vielleicht diese himmlischen Reiche ererben. So wird sich auch der Spruch bewähren: Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen. Und selig sind die am Geiste armen, denn das Himmelreich ist ihr; und die Worte des Psalms (36, 34): „ E r wird dich erhöhen und du wirßt das Land erben." Denn auf diese unsere Erde steigt man hernieder, nur zu jener, die in der Höhe ist, kann man erhöht werden. Auf solche Weise eröffnet sich den Heiligen die Aussicht auf ein Fortschreiten von jener Erde zu jenen Himmelsräumen, so daß jene Erde nur als ein vorübergehender Aufenthalt zu betrachten ist, und sie mit ihrer sittlichen Vervollkommnung, zum Erbe des Himmelreichs übergehen werden (II. 3). D i e R e c h t f e r t i g u n g als Voraussetzung der Erlösung ist aber nicht nur eine Sache der göttlichen Vorsehung sondern der f r e i e n S e l b s t b e s t i m m u n g d e s m e n s c h l i c h e n W i l l e n s . Da heißt nun ein Spruch: Phil. 2 . 1 3 : „dasWollen und das Vollbringen ist aus Gott. Nun behaupten Einige: Von Gott

Die großen Systeme

59

ist das Wollen, und von Gott das Vollbringen, und wenn wir auch Böses wollen und Böses tun, so kommt es von Gott: ist aber dies, so sind wir nicht frei; und auf der andern Seite, wenn wir das Bessere wollen, und das Herrlichste vollbringen, so haben nicht wir es vollbracht, weil von Gott das Wollen und das Vollbringen kommt. Wir scheinen nur es vollbracht zu haben, Gott hat es verliehen. So sind wir auch darin nicht frei. Dagegen erinnere ich, daß der Ausdruck des Apostels nicht sagt, das Böse wollen sei von Gott: oder das Gute wollen sei von Gott; auch nicht, das Vollbringen beider: sondern das Wollen überhaupt und das Vollbringen überhaupt. Wie wir nämlich von Gott haben, daß wir lebend und daß wir Menschen sind, wir sozusagen die Bewegung überhaupt, so auch das wollen überhaupt. Wenn wir nun auch das Leben und die Bewegung im Allgemeinen, ja die Bewegung dieses oder jenes Gliedes, der Hände oder Füße von Gott haben, so können wir vernünftigerweise doch nicht sagen, daß wir auch das Besondere, etwa die Bewegung zum Schlagen, zum Morden, zum Rauben von Gott haben. Nur die Bewegungsfähigkeit haben wir von Gott empfangen, wir selbst aber gebrauchen sie zum Schlechten oder zum Guten. So haben wir auch die Tätigkeit, vermöge welcher wir lebende Wesen sind, von Gott empfangen, und das Wollen von dem Weltschöpfer; unser aber ist die Richtung desselben auf das Edelste oder auf das Gegenteil; unser die Richtung der Tätigkeit." . . . In merkwürdigem Widerspruch hierzu steht jedoch die Stelle III. 1. 20. „Demnach rührt die Bestimmung zu Gefäßen der Ehre oder der Unehre von Ursachen her, die weit über die Schöpfung derselben hinausliegen." . . . „Das h ö c h s t e G u t , nach dem die ganze vernünftige Natur hinstrebt, oder das Ziel des Ganzen wird auch von den meisten Philosophen dahin bestimmt: das höchste Gut sei, soviel möglich, Gott ähnlich zu werden." . . . In der V o l l e n d u n g w i r d Gott A l l e s in A l l e m s e i n , und das Ende w i r d in den U r s p r u n g z u r ü c k k e h r e n : „Wenn nun gleich von Gott gesagt wird, daß er Alles in Allem werde, so wird er doch so wie wir die Sündhaftigkeit nicht ablegen können, nicht Alles in Allem, und besonders gehört dazu nicht das Vernunftlose, sonst würde Gott im Bösen und in den vernunftlosen Geschöpfen sein; auch das Leblose nicht, sonst wäre Gott auch in diesem, wenn er einmal Alles wird; und mithin auch die Körperweit nicht, weil sie ihrer eigenen Natur nach leblos ist. Denn, wenn wir auch

60

L Die geistige Welt

sagen, daß Gott schon jetzt überall und in Allem sei, so verstehen wir das doch nicht so, daß er Alles in Allem sei. Es fragt sich also, wie das den höchsten Grad der Seligkeit und Vollendung bestimmende ,Alles in Allem sein' gefaßt werden müsse. Ich glaube, wenn Gott Alles in Allem ist, so ist er auch im Einzelnen Alles. Alles im Einzelnen wird er insofern sein, daß Alles, was der von jedem Flecken der Sündhaftigkeit gereinigte Geist fühlt und denkt, Gott ist, daß dieser nichts Anderes mehr, außer Gott, sieht und umfaßt und Gott das Maß aller seiner Bewegungen ist; in dieser Weise wird Gott Alles sein. Es wird keinen Unterschied von Gut und Böse geben, weil nirgendsmehr ein Böses sein wird: für den, der kein Böses mehr an sich hat, ist Alles Gott; auch wird der nicht mehr vom Baum des Erkenntnisses des Guten und Bösen zu essen begehren, der immer im Guten steht und dem Alles Gott ist. Diese Vollkommenheit und Seligkeit aber behalten der Voraussetzung gemäß die vernünftigen Wesen nur insolange, als sie sich nicht mehr mit der Materie vermischen. Es unterliegt aber keinem Zweifel, daß nach gewissen Zwischenzeiten die Materie wieder ins Dasein komme, und Körper entstehen, und die Mannigfaltigkeit der Welt wiederhergestellt werde: weil die vernünftigen Wesen durch abweichende Willensrichtung, auch nach dem Zustand vollkommener Seligkeit, bis ans Ende aller Dinge wieder in die Gemeinheit versunken sein und wieder so viel Böses angenommen haben werden, daß das Gegenteil aus ihnen wird; weil sie ihr ursprüngliches Wesen nicht behalten, und keine ungestörte Seligkeit besitzen wollen." . . . (III. 5). Mit Augustin geht die Antike zu Ende, insofern hier der letzte große antike Denker, der auf der Höhe römischer Bildung und Civilisation steht, mitten in einer glänzenden Laufbahn zum Christentum und zur Kirche übergeht und das antike Bildungsgut zu seinem nunmehr mittelalterlichen Geistesgebäude verwendet, so wie man bald auch antike Ruinen zu mittelalterlichen Bauten verwendet oder wie in Südfrankreich eine mittelalterliche Stadt einfach in den antiken Zirkus hineinbaut. Die weltgeschichtliche Bedeutung Augustins liegt vor allem darin, daß er nicht nur ein großer Denker, sondern auch ein großer Mensch gewesen ist, der in der Tiefe seiner Empfindung und in der Feinheit seiner Psychologie nur mit Shakespeare und Bach, Tolstoi und Dostojewskv zu vergleichen und in diesem Sinne als der erste moderne Mensch zu betrachten ist. Er hat der Welt das persönlichste Buch in Form

Die großen Systeme

61

eines Gebetes gegeben: Bekenntnisse, die n u r einmal und n u r von ihm geschrieben werden d u r f t e n . Eine tiefe Erregung und einzige Innerlichkeit geht durch alle seine Schriften, denn eine große leidenschaftliche N a t u r h a t es hier verstanden, sich selbst zu bändigen u n d durch alle Höhen und Tiefen, Zügellosigkeiten u n d Züchtigungen zur höchsten Vollendung in Gott u n d zu jener gebändigten Leidenschaft zum Unendlichen zu gelangen, die ihre endliche R u h e findet in d e m Gedanken an eine Erlösung der Seele in Gott. S e i n S y s t e m ist historisch-dogmatisch orientiert u n d im wesentlichen in seinem „ G o t t e s s t a a t " (s. o.) und dem großen Werke De Trinitate enthalten. Von einem eigentlichen spekulativen S y s t e m k a n n m a n freilich nicht sprechen; es läßt sich aber einigermaßen aus den Werken herauslesen. Der Ausgangspunkt ist wie bei Descartes d i e G e w i ß h e i t d e s e i g e n e n G e i s t e s 1 ) : „Wir sind, u n d wir wissen, daß wir sind, und wir lieben dieses unser Sein und Wissen". „Niemand k a n n darüber in Unwissenheit sein, daß er l e b t ; denn wenn er nicht lebt, k a n n er nicht einmal etwas nicht wissen, weil nicht n u r das Wissen, sondern auch das Nichtwissen voraussetzt, d a ß m a n lebt. Du, der du dich zu kennen begehrst, weißt du, daß du existierst ? — Ich weiß es. — Woher weißt du es ? — Das weiß ich nicht. — Empfindest du dich als etwas Einfaches oder als etwas Vielfaches ? — Das weiß ich nicht. — Weißt du, d a ß du dich bewegst ? — Das weiß ich nicht. — Weißt du, d a ß du denkst ? — Ich weiß es. — Also ist es wirklich so, daß du denkst ? — Es ist wirklich so. Jeder, der von sich weiß, d a ß er zweifelt, weiß damit ,Wahres' u n d ist in bezug auf dieses Objekt, das er weiß (den Zweifel), ganz sicher; er ist also über ,Wahres' sicher. Daher h a t jeder, der da zweifelt, ob es ,Wahrheit' gibt, in sich selbst ein ,Wahres', an dem er nicht zweifelt, u n d es ist kein ,Wahres' ohne ,Wahrheit' wahr. D a n n aber läßt sich zwar an allem zweifeln außer an der Wahrheit." Aus dieser Gewißheit des eigenen geistigen Seins leitet Augustin d i e G e w i ß h e i t G o t t e s a l s d e s U r g r u n d e s a l l e s S e i n s ab. Gott ist ihm wie den Neuplatonikern d a s e n s s i m p l i c i s s i m u m , das Wesen ohne alle Bestimmungen, raumlos, zeitlos u n d dennoch sine loco ubique, sine tempore sempiternus 2 ). D i e T r i n i x ) seinen gaben 2 )

Die folgenden Zitate aus: A u g u s t i n , Reflexionen und Maximen aus Werken gesammelt von A. v. H a r n a c k . Tübingen 1922. Nähere Ans. da. Vgl. D e u s s e n , Die Philosophie des Mittelalters. S. 344.

62

I. Die geistige W e l t

t ä t s l e h r e entwickelt er aus d e n 3 ersten göttlichen Prinzipien der N e u p l a t o n i k e r : £v, vovg, ipv%rj: S e i n , E r k e n n e n u n d L e b e n o d e r L i e b e : „ G o t t ist unaussprechlich; daher ist a u c h d a s würdigste W o r t ü b e r ihn nicht zutreffend, sondern n u r der A u s d r u c k d a f ü r , etwas Würdiges aussprechen zu w o l l e n . " „Die Gottesvorstellungen sind bei den Menschen höchst verschieden, v o n d e n sinnlichsten bis zu d e n s p e k u l a t i v e n ; aber i m W e t t s t r e i t k ä m p f e n alle f ü r Gottes E r h a b e n h e i t , u n d n i e m a n d h ä l t G o t t f ü r ein Wesen, i m Vergleich m i t d e m e t w a s besser ist. D a s also h a l t e n alle einstimmig f ü r G o t t , was sie allen übrigen Dingen voranstellen. D a ferner alle, die über G o t t n a c h d e n k e n , i h n als etwas Lebendiges denken, so geraten n u r diejenigen n i c h t auf absurde u n d u n w ü r d i g e Vorstellungen, die i h n a l s d a s L e b e n s e l b e r d e n k e n . D a s Leben aber h a t seine S t u f e n , nämlich das gefühllose, das n u r f ü h l e n d e , u n d das f ü h l e n d e u n d v e r n ü n f t i g e ; all dies L e b e n aber ist der V e r ä n d e r u n g u n t e r w o r f e n , weil a u c h das v e r n ü n f t i g e Leben i m Menschen bald weise, b a l d unweise ist. Also ist das vollkommene Leben n u r d e n k b a r als u n v e r ä n d e r l i c h e Weisheit." „Alles z u m a l werde dir G o t t , weil er in bezug auf das, was d u liebst, alles z u m a l ist. W e n n d u das Sichtbare ins Auge fassest, so ist G o t t gewiß n i c h t das B r o t , das Wasser, das irdische Licht, d a s Kleid, das H a u s ; d e n n alle diese Dinge sind sichtbare u n d einzelne: B r o t ist nicht Wasser, u n d was Kleid ist, ist nicht H a u s , u n d was sie sind, ist nicht G o t t , d e n n sie sind s i c h t b a r . G o t t ist dir alles z u m a l : W e n n d u hungerst, ist er dir B r o t , w e n n d u d ü r s t e s t , W a s s e r ; wenn d u in Finsternissen bist, ist er dir Licht . . ., wenn d u n a c k t bist, ist er dir das Kleid der Unsterblichkeit. . . Alles k a n n v o n G o t t ausgesagt werden, u n d nichts w i r d doch angemessen v o n i h m ausgesagt. Nichts ist u m f a s s e n d e r als dieser Mangel! D u suchst n a c h einem würdigen N a m e n , d u findest k e i n e n ; d u suchst ihn irgendwie zu n e n n e n , d u findest alles!" „ G l a u b e n i c h t , G o t t sei so in der Welt, wie die E r d e , der H i m m e l , die B ä u m e usw. in ihr sind. Nicht so ist er in der W e l t . Wie denn ? Wie ein K ü n s t l e r , der in dem, was er m a c h t , lenkt u n d gebietet. Also n i c h t wie ein Z i m m e r m a n n ! D a s , was dieser z i m m e r t , ist a u ß e r h a l b seiner u n d s t e h t , i n d e m es gezimmert wird, a n seinem besonderen Ort, u n d obwohl der Z i m m e r m a n n n a h e dabei steht, so ist er doch an einem anderen O r t u n d ist a u ß e r h a l b seines Werks. G o t t aber z i m m e r t , i n d e m er ganz in der Welt ist (,mundo i n f u s u s ' ) ; er zimmert, i n d e m er überall zugegen ist u n d

Die großen Systeme

63

keine Stelle ohne ihn ist; nicht von außen bewegt er die Masse, die er b a u t . E r ist mit seiner Majestät in den Dingen gegenwärtig und m a c h t sie u n d leitet sie als gegenwärtige." „ W e n n wir recht denken, sind wir in G o t t ; wenn wir recht leben, ist Gott in u n s . " „ W i e alles Qualitative, z. B. die Gesundheit, im Unterschied vom Quantitativen in jedem Teile der Körper ganz ist u n d nicht in einem größeren Teil größer u n d in einem kleineren kleiner, so ist auch Gott überall ganz; er ist aber nicht die Qualität der Welt, sondern ihre schöpferische Substanz u n d als solche an jedem Orte ganz." Gott ist also das absolute Sein u n d Wesen, von dem alle anderen Dinge u n d Wesen ihr Dasein u n d Wesen haben. Jedoch „verhält sich alles Leben, auch das geistige, zu Gott wie Geschaffenes z u m Schöpfer, ist also nicht so zu beurteilen, als sei es ein aus ihm s t a m m e n d e r Teil" 1 ). Da nun das Sein göttlich u n d d a r u m das Gute selbst ist, k a n n das Böse u n d W i d e r g ö t t l i c h e nur ein Nichtseiendes, etwas Wesenloses sein, das Gott zul ä ß t , u m G u t e s d a m i t z u s c h a f f e n : „ G o t t hielt es f ü r besser, aus Bösem Gutes zu schaffen als ü b e r h a u p t kein Böses zuzulassen." „Als Künstler bedient sich Gott sogar des Teufels, u n d als großer K ü n s t l e r ; wüßte er nicht sich seiner zu bedienen, so ließe er i h n ü b e r h a u p t nicht existieren." „ W i e Gott der beste Schöpfer der guten Wesen ist und alles, was Wesen h a t , ist als Wesen gut —, so ist er auch der gerechteste Ordner jeglichen bösen Willens, so daß, während dieser sein gutes Wesen böse mißbraucht, er auch den bösen Willen zum Guten gebraucht." „ D a unveränderliches Sein' gleich ,Gott' ist und dieses Sein das Nichtsein zu seinem Gegensatz h a t , k a n n es ein Gott entgegenstehendes Wesen (natura) ü b e r h a u p t nicht geben. Also k a n n auch das Böse nichts Wesenhaftes sein." „ G u t e s k a n n ohne Böses sein; aber Böses kann nicht ohne Gutes sein, weil die Wesen (naturae), an denen es ist, insofern sie Wesen sind, ohne Zweifel gut sind." „ W i r behaupten, d a ß kein Böses u n d Übles etwas Wesenhaftes ist, sondern daß alles Wesenhafte gut ist." x ) Vgl. G o e t h e in „Trost vor dem Unendlichen": Alles Endliche hat teil am Unendlichen, ist aber nicht ein Teil desselben.

I. Die geistige Welt

64

„Alles, was ist, ist, sofern es eine Substanz ist, gut und s t a m m t notwendig von d e m wahren Gott, von dem alles Gute ist. Auch der Teufel ist, sofern er etwas ist, g u t . " „ E i n e N a t u r , in der kein Gutes ist, k a n n es nicht geben." „ W a s ist das, was böse heißt, anderes als der auf Entziehung beruhende Mangel des Guten ?" „ G o t t wirkt auch in den Herzen der bösen Menschen, nämlich durch seine Gerichte; er wirkt unbeschränkt in ihnen u n d gibt ihnen, was 6ie verdienen. „ Z o r n " Gottes bedeutet die Gerechtigkeit seiner Strafe. D i e S ü n d e u n d der Fall ist also ein Abfall v o m Wesen zum N i c h t s und ein sich Abwenden von der Grundform des Daseins: dem Triebe nach wahrer Glückseligkeit in der unsterblichen Wesenheit, zum Nichts und zur wesenlosen Gottferne falscher Glücksidole. A d a m , nach Gottes Ebenbild erschaffen, h a t t e die Freiheit des Willens empfangen, dem göttlichen Willen zu folgen u n d Unsterblichkeit zu erlangen: poterat non peccare et non mori. D u r c h A d a m s F a l l verlor die Menschheit, die er als n a t u r a seminalis in sich befaßte, die Freiheit des Willens u n d Unsterblichkeit u n d wurde, durch d i e E r b s ü n d e (peccatum originale) belastet, zur massa perditionis, die non potest non peccare et non mori; denn d e r T o d ist der Sünde Sold. Die göttliche B a r m h e r z i g k e i t u n d G n a d e aber h a t einen Teil der Menschheit (electi) durch ein decretum absolutum, das „seinen Grund n u r in dem weisen u n d geheimnisvollen Wohlgefallen Gottes h a t " , wiederum zur E r l ö s u n g u n d S e l i g k e i t b e s t i m m t Und verhilft ihr zur R e c h t f e r t i g u n g durch die gratia praeveniens oder operans u n d gratia subsequens oder cooperans, i n d e m sie „den Glauben und als seine Folge den Willen zum Guten b e w i r k t " , stärkt u n d erhält, so d a ß der Erwählte endlich „zur völligen Befreiung von der concupiscentia und damit zu dem jenseitigen Zustand der Seligkeit gelangt, wo er non poterit peccare et mori 1 ). Die Gnade macht also „aus Nichtwollenden Wollende", so d a ß also „das Verdienst des Menschen selbst eine unverdiente Gabe sei", denn „ d a ß wir zum Wollen (des Guten) kommen, das bewirkt Gott ohne u n s " ; Gott schafft „im Menschen vieles Gute, was der Mensch selbst nicht schafft; kein Gutes aber schafft der Mensch, was nicht Gott schafft, damit der Mensch es schaffe" 2 )! Vgl. D e u s s e n . ) s. A u g u s t i n , Reflexionen u. Maximen, ges. v. Harnack. 1922. S. 121 und 122. 2

65

Die großen Systeme

Die W e l t g e s c h i c h t e endlich ist danach folgerichtig ein Prozeß der Auseinandersetzung zwischen Civitas terrena und Civitas Dei mit dem Endziele der eschatologischen Hoffnungen und des Gerichts. Die bewegende Kraft in allem aber und die Triebfeder in Augustin und seinem Werke selbst ist d i e L i e b e : „Nur die Liebe bildet die Scheidelinie zwischen den Kindern Gottes und den Kindern des Teufels. Mögen sie sich alle mit dem Zeichen des Kreuzes Christi bezeichnen, mögen alle das ,Amen' sprechen und das ,Halleluja' singen, mögen alle getauft sein, die Kirchen besuchen und Basiliken erbauen — durch nichts unterscheiden sich die Kinder Gottes von den Kindern des Teufels als allein durch die Liebe." „Die mich bewegende Kraft ist die Liebe; sie zieht mich, wohin immer es mich zieht. . . Liebe, welcher Art sie auch sei, hat stets ihre lebendige Kraft; niemals kann sie in der Seele des Liebenden leer und müßig sein; immer muß sie treiben und führen." „Meines Erachtens kann niemand glücklich sein, der schlechterdings nichts hat, was er liebt, aber auch der nicht, der etwas Schadenbringendes liebt, und auch der nicht, der, was er hat, sei es auch das Beste, nicht liebt; denn jener quält sich, der andere täuscht sich und der dritte ist krank." „Was du unfreudig tust, das geschieht nur durch dich; du selbst tust es nicht." „ E s gibt ein Wort, in welchem alles enthalten ist — der Glaube, der in der Liebe tätig ist." „Was ist Liebe anders als Wille ? " „Rechter Wille ist gute Liebe, und verkehrter Wille ist schlechte Liebe; alle Affekte sind schlecht, wenn die Liebe schlecht ist, gut aber, wenn sie gut ist." „Lieben ist nichts anderes als etwas um seiner selbst willen begehren." „Die Liebe heißt deshalb , Geschenk Gottes', weil nur der das zu genießen vermag, was er erkannt hat, der es auch liebt. Die Weisheit Gottes aber genießen heißt nichts anderes als ihr in Liebe anhängen, und jeder vermag nur durch Liebe ständig in dem zu bleiben, was er erfaßt hat." „Die Liebe ist in so hohem Grade eine Gabe Gottes, daß 6ie selbst ,Gott' genannt wird." „Das Gesetz der Freiheit ist das Gesetz der Liebe." „Die Liebe selbst ist Gegenstand der Liebe." S c h a l l e r , Weltanschauung.

5

66

I. Die geistige Welt

„ M a n k a n n das nicht lieben, was m a n gar n i c h t k e n n t ; aber wenn m a n liebt, was man n u r etwas k e n n t , so bewirkt eben die Liebe, d a ß m a n es besser u n d vollständiger k e n n t / 1 „ D i e F r ö m m i g k e i t beginnt m i t der F u r c h t u n d wird d u r c h die Liebe v o l l e n d e t . " „ D i e Liebe m u ß zuerst die B r ü d e r lieben, d a n n die Feinde, wie d a s F e u e r zuerst das Nächste ergreift u n d d a n n erst das E n t ferntere." „ D e r , welcher G o t t liebt, k a n n in der Selbstliebe nicht auf falsche Wege g e r a t e n . " „ E i n vierfaches ist es, was zu lieben i s t : eines, was über uns ist, eines, was wir selbst sind, eines, was n e b e n u n s ist, u n d eines, was u n t e r u n s ist. Über das zweite u n d vierte b r a u c h t e n uns keine Gebote gegeben zu werden; denn soweit der Mensch auch v o n der W a h r h e i t abgefallen ist, ist i h m doch die Liebe zu sich selbst u n d zu seinem Leibe geblieben." „ N i c h t s ist so h a r t und so ehern, d a ß es nicht d u r c h die Glut der Liebe bezwungen werden k a n n . " „ S t a r k wie der Tod ist die L i e b e " — weil die Liebe das t ö t e t , was wir w a r e n , d a m i t wir seien, was wir n i c h t waren. Die Liebe wirkt in u n s , d a ß etwas in u n s s t i r b t . " Auf U m w e g e n sind auch G n o s i s u n d N e u p l a t o n i s m u s auf das Mittelalter gekommen, v o r allem ü b e r Dionysios Areopagita u n d J o h a n n e s Scotus, ohne d a ß ihre G r u n d g e d a n k e n , vor allem ihr Gradualismus u n d die E m a n a t i o n s l e h r e sowie jene magische A t m o s p h ä r e v o n Licht u n d Glanz, dabei a n K r a f t der Suggestion eingebüßt h ä t t e n . D a s S y s t e m d e s Dionys ist eine ganz b e w u ß t systematische Schöpfung v o n sorgfältiger Komposition ( D u r c h f ü h r u n g des Triadengedankens) u n d dabei doch v o n beinahe dichterischer Fülle u n d Schönheit der Sprache u n d der Bilder, eine mystische Vision flutenden Lichtes u n d göttlichen Glanzes. Seine Schriften sind nicht alle e r h a l t e n , n u r die A b h a n d l u n g e n „ Ü b e r die göttlichen N a m e n " , „ Ü b e r die himmlische H i e r a r c h i e " , „ Ü b e r die kirchliche Hierarchie" 1 ) u n d seine „Mystische Theologie" sowie 10 Briefe. G o t t , d i e l e t z t e U r s a c h e a l l e r D i n g e , ist über alle Begriffe e r h a b e n , weder die P r ä d i k a t e der a f f e r m a t i v e n noch die Übers, von S t i g l m a y r .

Kempten 1911. Hieraus die Citate.

Die großen Systeme

67

der n e g a t i v e n T h e o l o g i e n vermögen sein Wesen auszudrücken. Weder seine Güte, Weisheit und Gerechtigkeit noch sein ewiges und einfachstes Sein, noch das intertrinitarische Leben Gottes vermögen wir anders als symbolisch zu fassen. A u s d e r Ü b e r f ü l l e des S e i n s u n d der G ü t e der G o t t h e i t s p r u d e l n u n d w a l l e n a l l e D i n g e in t a u s e n d f ä l t i g e r A b s t u f u n g h e r v o r , wie e i n e u n a b s e h b a r e P f l a n z e n w e l t a u s e i n e m r i e s i g e n W u r z e l s t o c k , wie eine S t r a h l e n f l u t , die a u s d e m L i c h t m e e r e der S o n n e der G o t t h e i t h e r a u s b l i t z t . Aber wie der Mittelpunkt eines Kreises alle Radien, so vereint Gott alle Dinge in sich, trägt, erhält und beherrscht sie, und wie sie aus ihm hervorsprühen, so wendet er sie in aufsteigender Bewegung auch wieder zu sich zurück, so daß d a s U n i v e r s u m e i n e m r i e s i g e n A b s t i e g u n d A u f s t i e g g l e i c h t , der sich wie eine Flut oder ein Strom von Geschöpfen durch alle Grade und Stufen der Ordnung hindurchzieht: von der trinitarischen Gottheit über die drei Triaden oder neun Hierarchien der Engel und die zwei Triaden der kirchlichen Hierarchien bis hinab in das Reich der vernunftlosen und leblosen Dinge, wo das göttliche Licht nur noch von einem schwachen Widerschein zurückgeworfen wird, denn „jedes Ding nimmt nur soviel davon auf, als seine individuelle Natur erlaubt." „ J e d e gute Gabe und jedes vollkommene Geschenk kommt von oben, indem es vom Vater des Lichtes herabsteigt. Aber jedes Hervortreten der vom Vater erregten Lichtausstrahlung, welche gütig verliehen zu uns dringt, führt uns auch hinwieder als eine in Eins gestaltende Kraft aufwärts und vereinfacht uns und wendet uns wieder zur Einheit des Vaters, der vereinigt, und zu seiner vergottenden Einfachheit zurück. Denn aus ihm und zu ihm hin ist alles, wie das heilige Wort sagt." . . . „ D i e H i e r a r c h i e ist nach meiner Ansicht eine heilige Stufenordnung, Erkenntnis und Wirksamkeit. Sie will nach Möglichkeit zur Ähnlichkeit mit der Gottheit führen und gemäß den ihr von Gott verliehenen Erleuchtungen in entsprechendem Verhältnis zum Nachbilde Gottes erheben. Die Gott eigene Schönheit ist, soferne sie einfach, gut, Urquell aller Vollendung ist, allerdings durchaus jeder Unähnlichkeit (jedem ihr fremdartigen Zuge) unnahbar entrückt, sie will aber von ihrem eigenen Lichte jedem nach dessen Würdigkeit mitteilen und ihn durch göttlichste Weihevollendung vollkommen machen, indem sie die Jünger der Vollkommenheit harmonisch nach ihrer Unveränderlichkeit gestaltet.". . . . 5*

68

I. Die geistige Welt

„ Z w e c k der H i e r a r c h i e ist also die möglichste Verähnlichung und Einswerdung mit Gott. Hiebei hat sie ihn selbst zum Lehrmeister in jeglicher hierarchischen Erkenntnis und Wirksamkeit, blickt zu seiner göttlichsten Schönheit unverwandt empor, gibt dieselbe soweit als möglich im Nachbild wieder und vervollkommnet ihre Mitglieder zu göttlichen Bildern, zu lautersten, fleckenlosen Spiegeln, welche imstande sind, den lirgöttlichen Strahl aus der Urquelle des Lichtes in sich aufzunehmen, zu Spiegeln, welche dann, von dem einstrahlenden Glänze heilig erfüllt, diesen hinleuchten lassen, sowie es den urgöttlichen Satzungen entspricht." . . . „Denn für jedes Mitglied der Hierarchie besteht die Vollendung darin, daß es seinem zuständigen Grade entsprechend zum Nachbild Gottes erhoben werde, ja daß es wahrhaftig, was noch göttlicher als alles andere ist, wie die Schrift sagt, zu einem Mitwirkenden mit Gott werde und in sich selbst die göttliche Wirksamkeit nach Möglichkeit zeige und hervortreten lasse. Durch die Stufenordnung der Hierarchie ist es bedingt, daß die einen gereinigt werden, die andern reinigen, daß die einen erleuchtet werden, die andern erleuchten, daß die einen vollendet werden, die andern vollenden. Und wie nach diesem Gesetze einem jeden das Nachbild Gottes angemessen sein wird, so wird er zur Teilnahme an Gottes Wirken erhoben werden. Die göttliche Glückseligkeit aber ist, nach Menschenart zu reden, jeglicher Vermischung mit irgendeinem fremdartigen Element unzugänglich, erfüllt von ewigem Lichte, vollkommen und, gar keiner Vollkommenheit ermangelnd, reinigend, erleuchtend und vollendend, besser gesagt, heilige Reinigung, Erleuchtung und Vollendung, die über Reinigung und über Licht erhaben ist, die vor Anbeginn vollkommen subsistierende Urquelle aller Vollkommenheit, die über alles Heilige im Übermaß hinausgerückte Ursache jeglicher Hierarchie." . . . „ D i e ü b e r w e s e n t l i c h e U r g o t t h e i t h a t a l l e n Wesen des U n i v e r s u m s a u s G ü t e B e s t a n d g e g e b e n und sie ins Dasein gerufen. Denn es ist dies der A l l u r s a c h e und der über alles erhabenen Güte eigen, die Dinge zur Gemeinschaft mit sich selbst zu rufen, sowie es einem jeden existierenden Wesen seitens des ihm eigenen entsprechenden Verhältnisses bestimmt ist. Alles in der Welt nun erfreut sich der Vorsehung, welche aus der überwesentlichen und allursächlichen Gottheit ausgeht. Denn es wäre überhaupt kein Ding, wenn es nicht an dem Wesen und dem Urprinzip von allem Anteil erlangt hätte. Die leblosen Dinge haben

Die großen Systeme

69

durch ihr Sein an ihm Anteil, denn die über alles Sein erhabene Gottheit ist das Sein aller Dinge. Die belebten (vernunftlosen) Wesen haben an seiner über das Leben erhabenen, Leben schaffenden Macht Anteil. Die vernünftigen u n d intellektuellen Wesen haben an seiner über alle V e r n u n f t und Intelligenz erhabenen, in sich vollkommenen (absoluten) u n d urvollkommenen Weisheit Anteil." . . . „ D i e h e i l i g e n C h ö r e d e r h i m m l i s c h e n W e s e n haben in einem höhern Maße als die Wesen, -welche bloß das Sein besitzen, als die vernünftigen Glieder unseres Geschlechtes Anteil an der urgöttlichen Mitteilung. Sie bilden sich in rein geistiger Weise zu Nachbildern Gottes u m , schauen überweltlich auf das urgöttliche Vorbild u n d begehren ihre intellektuelle Gestalt darnach zu formen. Die natürliche Folge davon ist, d a ß sie stärkere Gemeinschaft mit der Gottheit genießen, da sie beharrlich und immerdar nach dem Höheren, soweit es möglich ist, in der S p a n n k r a f t der göttlichen und unwandelbaren Liebe sich nach oben erheben u n d die Erleuchtungen der Urquelle auf immaterielle u n d ungetrübte Weise in sich aufnehmen, nach ihnen sich richten u n d das ganze Leben geistig besitzen. Diese Wesen sind es, die an erster Stelle u n d vielfältig zur Anteilnahme a m Göttlichen gelangen u n d hinwieder zuerst u n d in mehrfacher Art das Verborgene der Urgottheit offenbaren. Deshalb sind sie auch vor allen besonders mit dem Namen „ E n g e l " ausgezeichnet, weil die urgöttliche Erleuchtung in sie zuerst einstrahlt u n d d a n n durch sie die unsere Erkenntnis überragenden Offenbarungen uns vermittelt werden." . . . „Die Offenbarung h a t den sämtlichen himmlischen Wesen n e u n N a m e n gegeben, die über sie Aufschluß bieten. Der göttliche Lehrer, der uns in die heilige Wissenschaft einweihte, gruppiert sie in drei dreiteilige Ordnungen. Die erste, sagt er, ist diejenige, welche immerdar u m Gott steht u n d , wie die Überlieferung sagt, ununterbrochen und, den andern voraus, unmittelbar mit ihm vereinigt ist. Denn die Offenbarung der heiligen Schriften, sagt er, habe überliefert, daß die heiligsten T h r o n e , die mit vielen Augen u n d vielen Flügeln versehenen Rangstufen, C h e r u b i m u n d S e r a p h i m nach dem hebräischen Worte genannt, gemäß ihrer alle übertreffenden Nähe unmittelbar u m Gott gestellt sind. Diese t r i a d i s c h e O r d n u n g bezeichnete unser großer Meister gleichsam als eine u n d eine gleichstufige u n d eigentlich erste Hierarchie. Keine andere ist Gott ähnlicher u n d den unmittelbaren Ausstrahlungen der Urgottheit direkt näher unterstellt als diese. Die

70

I. Die geistige Welt

zweite Triade, sagt er, sei diejenige, welche von den G e w a l t e n , H e r r s c h a f t e n u n d M ä c h t e n gebildet wird. Die dritte Triade unter den letzten der himmlischen Hierarchien bestehe aus den E n g e l n , E r z e n g e l n und F ü r s t e n t ü m e r n . " . . . „Indem wir die geschilderte Stufenfolge der heiligen Hierarchien gelten lassen, behaupten wir, daß jegliche Benennung der himmlischen Geister eine Offenbarung über die gottähnliche Eigentümlichkeit eines jeden enthält. Der heilige Name der S e r a p h i m bedeutet nach den Kennern des Hebräischen entweder „Entflammer' oder ,Erglüher'; der Name , C h e r u b i m ' dagegen ,Fülle der Erkenntnis' oder ,Ergießung der Weisheit'. Mit Recht wird nun der heilige (liturgische) Dienst in der ersten himmlischen Hierarchie von den allerhöchsten Wesen versehen; denn diese hat eine höhere Rangstufe als alle übrigen, und die unmittelbar gewirkten Gottesoffenbarungen und Einweihungen (in das Göttliche) werden ursprünglicher auf sie übergeleitet, weil sie (Gott) am nächsten steht. ,Erglüher' und ,Ergießung der Weisheit' werden nun auch die T h r o n e genannt, ein Name, der ihre gottähnliche Beschaffenheit offenbart. Denn der Name der Seraphim lehrt und offenbart ihre immerwährende und unaufhörliche Beweglichkeit um das Göttliche, ihre Glut, ihre Schärfe, das Übereifrige ihrer beständigen, unablässigen, nie wankenden Immerbewegung, ihre Eigenschaft, die tieferstehenden Ordnungen, sofern sie dieselben zu einer ähnlichen Glut entfachen und entzünden, emporführend wirksam sich anzugleichen, ihre Kraft, in brennenden und alles verzehrenden Flammen zu reinigen, ihren Charakter, der kein Verhüllen und kein Erlöschen zuläßt, der immer sich gleichmäßig verhält, lichtartig und lichtspendend, Verscheucher und Vernichter jeder lichtlosen Verdunkelung ist. Der Name der Cherubim offenbart ihre Gabe des Erkennens und Gottschauens, ihre Fähigkeit, die höchste Lichtmitteilung aufzunehmen und die urgöttliche Schönheit in ihrer direkt und unmittelbar wirkenden Macht zu schauen, ihr Geschaffensein für die weise machende Mitteilung und ihren Drang, durch Ergießung der von Gott geschenkten Weisheit neidlos mit den Wesen zweiter Ordnung in Gemeinschaft zu treten. Der Name der höchsten und erhabenen T h r o n e bezeichnet, daß sie jeder erdhaften Niedrigkeit ungetrübt enthoben sind, daß sie überweltlich nach oben streben und von jedem untersten Gliede unerschütterlich weggerückt sind, daß sie um das wahrhaft Höchste mit ganzer Vollkraft ohne Wanken und sicherstehend gestellt sind, daß sie der

Die großen Systeme

71

Einkehr Gottes in aller Freiheit von sinnlichen, materiellen Störungen genießen, daß sie Gottesträger und für den Empfang der göttlichen Erleuchtungen ehrfurchtsvoll erschlossen sind." . . . „Die Offenbarung hat den Menschen auf Erden deren Lobg e s ä n g e überliefert, in welchen sich der Vorzug ihrer höchsten Erleuchtung heilig kundgibt. Denn die einen Glieder dieser Hierarchie lassen, um die Sprache der Sinne zu reden, gleichwie das Rauschen vieler Wasser den lauten Ruf erschallen: ,Hochgelobt (sei) die Herrlichkeit des Herrn an ihrem Orte.' Die andern erheben jenen vielgerühmten und tiefster Ehrfurcht vollen Gottespreis: ,Heilig, heilig, heilig ist der Herr der Heerscharen, die ganze Erde ist erfüllt von seiner Herrlichkeit.'" . . . Die zweite T r i a d e der Engel ist die der Herrschaften, Mächte und Gewalten, die dritte T r i a d e die der Fürstentümer, Erzengel und Engel: „Der F l ü g e l bedeutet die Schnelligkeit des geistigen Emporführens, das Himmlische, die Wegbahnung nach oben, das Entrücktsein von allem, was an der Erde haftet, infolge der aufwärtstragenden Kraft. Die Leichtigkeit der Flügel aber bedeutet, daß das Wesen (des Engels) in keiner Hinsicht erdhaft ist, sondern ganz unvermischt und der Schwere nicht unterworfen sich zur Höhe erhebt. Das N a c k t e und die B a r f ü ß i g k e i t bedeuten das Freigelassensein, das leichte Losgelöstsein, das Schrankenfreie, das Reinsein von äußeren Anhängseln und die möglichste Verähnlichung mit der göttlichen Einfachheit." „Das l i c h t f a r b e n e u n d d a s f e u e r f a r b e n e K l e i d bezeichnet meines Bedünkens im Bilde des Feuers die Gottähnlichkeit und die durch den Ruheort im Himmel hinleuchtende Kraft, da ja im Himmel das Licht und überhaupt alles ist, was auf geistige Weise erleuchtet oder intellektuell erleuchtet wird." . . . An die Hierarchien der Engel schließen sich unmittelbar die b e i d e n T r i a d e n der k i r c h l i c h e n H i e r a r c h i e an: „Hierarchie im allgemeinen ist, gemäß unserer ehrwürdigen Überlieferung, das Gesamtsystem der vorhandenen Heilsmomente, der umfassendste Inbegriff der heiligen Dinge dieser oder jener Hierarchie. Unsere (kirchliche) Hierarchie nun ist und heißt jene die Gesamtheit der eigentümlichen Heilsmittel umfassende Anstalt, in welcher (zunächst) der göttliche Hierarch zur Vollkommenheit gelangt und an all dem Hochheiligen, das zu seinem Amte gehört, Anteil haben wird. Trägt er ja seinen Namen von der Hierarchie. Wie man nämlich mit dem Worte Hierarchie in gemein-

72

I. Die geistige Welt

samer Zusammenfassung die Veranstaltung aller Heilsmittel bezeichnet, so bedeutet der Name Hierarch den gotterfüllten, göttlich erhabenen Mann, der alles hierarchischen Wissens kundig ist und in welchem auch die ganze ihm unterstehende Hierarchie als in ihrer reinen Spitze kulminiert und erkannt wird. Den Ausgangspunkt dieser Hierarchie bildet die Quelle des Lebens, die wesenhafte Güte, die eine Trias, welche aller Dinge Ursache ist, von der sie durch Güte nicht bloß das Dasein, sondern auch das glückliche Dasein haben. Diese über alles erhabene, urgöttliche Seligkeit der dreifältigen Monas, welcher das Sein im eigentlichen Sinn zukommt, hat, uns zwar nicht faßbar, aber ihr selbst bewußt, die geistige Wohlfahrt unserer Natur wie der über uns stehenden Wesen zum Gegenstand ihres Wollens. Es kann aber unsere Wohlfahrt auf keine andere Weise erfolgen als durch die Vergöttlichung der Geretteten. Vergöttlichung hinwieder ist das höchstmögliche Ähnlich- und Einswerden mit Gott. Überhaupt ist dies das gemeinsame Ziel jeder Hierarchie: die ununterbrochene Liebe zu Gott und zu göttlichen Dingen, welche auf Gott fußend und in der Tendenz nach dem Einen sich heilig auswirkt, zuvörderst aber die vollständige und unwiderrufliche Abkehr vom Gegenteil, die Kenntnis der Dinge nach ihrem eigentlichen Sein, das Schauen und Verstehen der heiligen Wahrheit, die gotterfüllte Teilnahme an der eingestaltigen Vollendung, ja an dem E i n e n selbst, soweit es möglich ist, der süße Genuß der Betrachtung, welcher jeden zu ihr erhobenen Jünger geistig nährt und vergöttlicht." . . . Die d r e i S a k r a m e n t e (Taufe, Eucharistie und Firmung) wirken Reinigung, Erleuchtung, Vollendung. Die drei S t ä n d e der K l e r i k e r (Diakone, Priester, Bischöfe) reinigen, erleuchten, vollenden. Die drei K l a s s e n der h ö r e n d e n K i r c h e (Unvollkommene, Gemeindeglieder, Mönche) werden gereinigt, erleuchtet, vollendet. „Der höchste Stand unter denen, welche der erteilten Weihen gewürdigt werden, ist die h e i l i g e K l a s s e der Mönche. Sie hat sich mit aller Kraft und vollkommener Reinheit ihrer Tätigkeiten zu jeglicher Reinigung geläutert; sie ist zur geistigen Betrachtung und Teilnahme an jeder sakramentalen Handlung, soweit ihr das geistige Schauen derselben möglich ist, zugelassen; sie ist den vollendenden Gewalten der Hierarchen zur Leitung unterstellt und wird durch deren gotterfüllte Erleuchtungen und hierarchische Überlieferungen über den geschauten Ritus ihrer heiligen Weihen belehrt und durch die heilige Wissenschaft der

Die großen Systeme

73

Hierarchen in entsprechenden Graden zur vollkommensten Vollendung emporgeführt. Deshalb haben auch unsere göttlichen Meister diesen Stand heiliger Namen gewürdigt; von den einen werden seine Glieder ,Diener (Gottes)' von den andern ,Mönche' (Alleinlebende) genannt, auf Grund des reinen Dienstes und Kultes Gottes und des ungeteilten und einheitlichen Lebens, welches ihnen durch heiligen Zusammenschluß des Zerteilten einen Einheitscharakter verleiht, so daß sie zu einer gottähnlichen Monas (Einheit) werden und gottgefällige Vollendung erlangen." . . . Bei dem Ü b e r g a n g v o n der P a t r i s t i k zur S c h o l a s t i k , von der christlich-orientalischen und spätantiken Spekulation zu dem eigentlichen Mittelalter des Nordens, muß der Versuch eines Vergleichs unternommen werden. D i e P a t r i s t i k , halb orientalischen, halb spätantiken Gepräges, steht noch unter dem direkten Eindruck der spätantiken Civilisation, an der sie noch teil hat: wissend und überlegen gegenüber allen antiken Systemen und Religionen und dennoch verbunden mit einer echten und oft zarten Religiosität und Innerlichkeit; eine magisch flimmernde und fast persisch dualistische Welt des Lichtes voll übergeistigter Spekulationen über Logos und Pneuma und unter dem starken Einfluß des gnostischen und neuplatonischen Gradualismus. Dieser Spiritualismus der Patristik wird nun in der S c h o l a s t i k abgelöst von einer mehr nüchternen Denkkraft, einem kühleren Rationalismus und dynamischen Intellektualismus. Irgendwie spiegeln sich die Landschaften und Klimata auch im Geistigen wider. Unser Mittelalter ist zwar einerseits charakterisiert durch ein sprachloses Staunen vor der Antike, durch Mangel an Überlegenheit, Dürftigkeit des Wissens, Autoritätsglaube und Traditionalismus, durch ein Schmücken mit den fremden Federn einer späten Civilisation und ein kindliches Prahlen mit antikem Wissen, durch die Unfähigkeit der wissenschaftlichen Nachprüfung und hilfloses Ausgeliefertsein an die Überlieferung. Überall hat man den Eindruck des Verfrühten und mühsamer Kombination von christlicher Dogmatik und antiken Fragmenten. Aber echt und ursprünglich ist die Frömmigkeit und der W i l l e zur geistigen Bezwingung. Man kann von einem frühen Zeitalter, das sich ehrlich mit den nun einmal überkommenen Überlieferungen herumschlägt, keine Leistungen verlangen, die erst viel späteren Zeitaltern zukommen, und es ist unter diesen Umständen nur be-

74

I. Die geistige Welt

wunderungs würdig, was diese jungen Völker, die eben erst in die große Welt eingetreten waren, trotz allem spekulativ geleistet haben. Sie wegen ihrer Schwächen für geistig gebunden oder beschränkt zu halten, zeugt nur von Beschränktheit des historischen Verständnisses, denn die natürlichen geistigen Fähigkeiten der Menschen sind an sich überall die gleichen. Diese früh erwachende gläubige, ganz auf Religion und Metaphysik gerichtete Menschheit voller Staunen, Weltangst und Weltsehnsucht ist nun einmal eine Welt für. sich, die ihre tiefe Gläubigkeit mit allem Scharfsinn und aller Selbstverständlichkeit der Selbstbejahung verteidigt, aber nicht aus Beschränktheit, sondern aus Ehrfurcht vor der eigenen Tiefe. Erst als die Religion nicht mehr das ganze Leben zu tiefst erfüllte, konnte die Aufklärung kommen, und keineswegs ist es umgekehrt so, daß die Aufklärung die Religion verdrängt hätte, was übrigens gar nicht in ihrer Absicht lag. D i e F r a g e n a c h dem E i g e n t ü m l i c h e n u n s e r e s m i t t e l a l t e r l i c h e n D e n k e n s ist sehr schwer zu beantworten, eben weil es überall von Orient und Antike durchsetzt und „pseudomorph" überdeckt ist. Jedoch scheint das Dynamische, die Leidenschaft zum Unendlichen, der faustische Drang zum Erkennen und geistigen Beherrschen, zum Rationalen und zur Systematik sich schon im Mittelalter auszudrücken in der Schärfe des begrifflichen Denkens, in der Eindringlichkeit dev intellektualen und kombinierenden Spekulation, in der Systematisierung, philosophischen Begründung und Kanonisierung des Dogmas, in dem Gültigkeitsanspruch und der universalen Gewalt der Kirchenlehre, in der gewaltsamen Unterdrückung ihrer Widersacher ebenso wie in der einzigartigen Hierarchie und ihrem Imperialismus, in der Weltstellung des Papsttums und den Macht- und Eigentumsansprüchen dieser großartigsten und gefährlichsten Theokratie, die die Weltgeschichte hervorgebracht hat. (Inquisition!) D a s D y n a m i s c h e der Spekulation und des Gottesbegriffs bricht freilich erst mit dem Voluntarismus des Duns Scotus offen durch, der mit seinem Gottesbegriff alles Bisherige umwirft und den dynamischen und irrationalen Gottesbegriff Luthers und Calvins vorbereitet. Bis dahin hinderte der Respekt vor der Tradition das Zutrauen zu sich selbst. Doch ist auch schon das Bestreben der Scholastik, den Glauben mit dem Verstände zu begründen und auf diese Weise ein unanfechtbares dogmatisch-philosophisches System zu schaffen, nichts anderes als der Ausdruck des faustischen Willens zur absoluten Wahrheit und ihrer Herrschaft über die

Die großen Systeme

75

Gläubigen. Dabei setzt allerdings die Spätscholastik die genialen Visionen der frühmittelalterlichen Systeme in Dialektik um und verschüttet die Tiefe und Ursprünglichkeit der religiösen Affekte. Zumal die Versuche, das christliche Weltbild mit dem aristotelischen zu vereinen, sind beiden Teilen nicht zum Vorteil geraten und haben ein Konglomerat und höchst künstliches Gebilde geschaffen, wie es so oft geschieht, wenn sich eine lebendige Religion in Theologie und Dogmatik umsetzt (vgl. Indien). Aller bewundernswerte Fleiß und Scharfsinn wird aber nie den Verlust an unmittelbarer Frische des Erlebens ersetzen können. Die straffe, steile konstruktive Gebundenheit der Spätscholastik, die so sehr an die gleichzeitige Gotik erinnert, zeigt alle Vorzüge, aber auch alle entsprechenden Mängel der Konstruktion, die nun einmal etwas anderes ist als freies Wachstum und Intuition, die — abgesehen von der Mystik — erst in der Renaissance und im Barock wieder durchbrechen. Denn wie in der Barockkunst dem Dynamischen, der Bewegung und ihrem Ausdrucksmittel: der Kurve wieder Raum gegeben wird und die düsteren und steilen Räume der Gotik sich zu freien Hallen und Gewölben weiten, so gewinnt auch die Philosophie wieder Schwungkraft und strebt einem freieren, undogmatischen Universalismus und natürlichen Pantheismus und Dynamismus zu. D a s S y s t e m d e s «Johannes Scotus Erigena, das er in seinem Werk De divisione naturae darstellt 1 ), ist das erste und zugleich das eigenartigste System der nordischen Spekulation des Mittelalters. Zwar ist es abhängig vor allem vom Neuplatonismus und von Dionys, aber das Prinzip seines Aufbaues, sein kosmogonischer Pantheismus, seine glückliche Vereinigung von Rationalismus und Mystik, seine kühnen Schlüsse sowie seine vielmehr kosmische und ontologische als dogmatische Intuition sind höchst originell und eine herrliche Schöpfung der unverbrauchten mythischen Kraft der Nordländer. Neben Dionys sind auch noch andere Väter, vor allem A u g u s t i n , von Einfluß auf ihn gewesen. A u g u s t i n s überstrenge P r ä d e s t i n a t i o n s l e h r e macht Scotus jedoch nicht mit. Er lehnt vielmehr die Bestimmung zur ewigen Verdammnis ab mit dem feinen Einwand, daß Gott das Sein und Wesen selbst sei, und da, wie Augustin im Anschluß an den Neuplatonismus selbst lehrte, alles *) Übers, von N o a c k bei Meiner.

76

I. Die geistige Welt

Böse als widergöttlich ein Nichtseiendes und Wesenloses sei, so könne Gott auch nur Seiendes, d. h. nur Gutes vorherbestimmen, zumal nach Scotus Gott das Böse nicht einmal kennt und gar nicht kennen kann, eben weil er das Wesen ist, das Böse aber wesenlos. Damit ist Augustin sehr geschickt durch sich selbst widerlegt. Auch die K a t e g o r i e n des A r i s t o t e l e s faßt Scotus originell auf, indem er glücklich herausfindet, daß sich vier davon (Wesenheit, Größe, Lage, Ort) auf den Zustand und die 6 übrigen (Eigenschaft, Bezug, Verhältnis, Zeit, Tun, Leiden) auf die Bewegung beziehen. Unter diese beiden Oberbegriffe faßt er die Kategorien zusammen und erhebt zugleich die Kategorie der Wesenheit über alle anderen, womit eine hierarchische Pyramide der Allgemeinbegriffe gewonnen ist, in dem die W e s e n h e i t selbst dominiert, die sich in sich selber unteilbar und unveränderlich durch alle Gattungen, Arten und Einzeldinge hindurchzieht, die aus ihr hervorgehen und wiederum in sie eingehen. Diese Wesenheit liegt auch allen Körpern als ihre wesentliche Form zugrunde, ohne selbst körperlich oder einem körperlichen Sinne zugänglich zu sein. Sogar der Verstand kann nicht begreifen, was sie ist, sondern nur, daß sie ist. Hier liegt wie immer der schwierige Punkt und das Geheimnis: Die Wesenheit ist eine und gleichwohl der Urgrund der Vielheit der Dinge und des Dualismus von Körper und Geist, sie ist der Grund alles Seins und doch nichts „Seiendes" und darum dem Nichts so ähnlich. In diesem Sinne bemerkt auch F r e d e g i s von Tours in seiner Schrift De n i h i l o et t e n e b r i s , daß das Nichts das unaussprechliche Wesen der göttlichen Natur selber bezeichne, welche weniger als seiend und vielmehr als überseiend zu denken sei. In seine pantheistische W e s e n h e i t s l e h r e versucht nun Scotus das D o g m a , namentlich die Trinität, einzugliedern, indem er den neuplatonischen Gradualismus vereinfacht und die Welt in v i e r N a t u r formen einteilt: 1. in die ungeschaffene und schaffende Natur (Gott der Schöpfer und Urgrund), 2. in die schaffende und geschaffene Natur (Ideen, Logos), 3. in die geschaffene und nicht schaffende (die Welt der Dinge und Geschöpfe einschließlich der Engel) und 4. in die nicht geschaffene und nicht schaffende Natur (Gott als das Ziel der Rückkehr aller Dinge). Dies großartige und überraschend tiefsinnige und originelle Werk zerfällt in zwei Teile und behandelt in Form eines Lehrgesprächs zwischen Lehrer und Schüler im ersten Teil (Buch 1—3)

Die großen Systeme

77

das w a h r h a f t Seiende u n d die sinnenfällige Welt, im zweiten Teil (Buch 4 u n d 5) den Fall und das Heil des Menschen und die zukünftige Welt. Es ist nicht möglich, die Fülle der Gedanken hier ausführlich wiederzugeben 1 ). Nur die beiden Hauptprobleme, die wie bei Augustin u n d im mittelalterlichen Denken überhaupt die Schwerpunkte bilden, u m die alles Nachdenken seine Kreise zieht, seien im Auszug a n g e f ü h r t : die Frage nach dem W e s e n G o t t e s u n d seinem Verhältnis zur Welt u n d die Frage nach S i n n u n d W e s e n d e s M e n s c h e n : „ E s wird also b e h a u p t e t , daß d i e g ö t t l i c h e N a t u r in Allem ausgeführt werde, was eben den göttlichen Willen bedeutet. Denn Sein und Wollen sind in ihr nicht verschieden, sondern bei der Ausführung von Allem, was geschehen soll, sind Wollen u n d Sein eins u n d dasselbe. Die Bewegung des göttlichen Willens geht also darauf aus, d a ß dasjenige sei, was ist; sie schafft sonach Alles, was sie aus dem Nichts und Nichtsein ins Sein ü b e r f ü h r t . Sie wird dabei selbst geschaffen, weil außer ihr selber Nichts wesenhaft ist, da sie j a selber d a s W e s e n von Allem ist. Denn wie es kein natürliches Gut gibt außer ihm selber; wie vielmehr Alles, was ein Gut heißt, ein solches n u r durch Teilnahme an d e m Einen höchsten Gut i s t : so h a t Alles, wovon man sagt, es sei da, nicht in sich selber sein Dasein, sondern nur durch das Teilhaben an der w a h r h a f t daseienden N a t u r . " „Hierbei wird es aber überhaupt durch die Vernunft empfohlen u n d durch sichere Wahrheitsforschung bestätigt, d a ß von Gott nichts eigentlich ausgesagt werden könne, weil derjenige, welcher jedes Denken u n d jede sinnliche oder gedankenhafte Bezeichnung übersteigt, besser durch N i c h t w i s s e n gewußt wird u n d seine Unkenntnis die wahre Weisheit ist, sintemal er wahrer u n d gläubiger in Allem verneint als b e j a h t wird. Denn Alles, was man über ihn verneint, wird wirklich verneint; keineswegs aber steht das, was m a n feststellt, wirklich fest. Meint m a n nämlich bewiesen zu haben, d a ß er dies oder jenes sei, so erweist sich dies als falsch, weil er von Allem, was ist oder was gesagt u n d gedacht werden k a n n , nichts ist. Spricht m a n dagegen aus, er sei weder dies noch jenes noch irgend etwas, so trifft man das Richtige, weil er nichts ist von Allem, was ist oder nicht ist. Vermag sich ihm doch niemand anders zu nahen, als wenn er zuvor den Weg der Seele k r ä f t i g t , alle Sinnes- u n d Verstandestätigkeiten sowie alles Sinnenfällige m i t s a m t Allem, was ist und nicht ist, hinter sich läßt u n d nichtwissend zur Einheit ') Eine knappe Znsammenfassung des Inhaltes gibt S c o t u s selbst am Ende des Werkes. Im übrigen vgl. N o a c k , Joh. Scotus Erigena. Leipzig 1876.

78

I. Die geistige Welt

mit dem hergestellt wird, der über aller Wesenheit und über allem Denken hinausliegt, und für den weder Vernunft oder Denken noch Wort oder Gedanke paßt, und dem kein Name noch Ausdruck eignet. Trotzdem kann, wie wir oft gesagt haben, nicht gerade vernunftwidrig von ihm alles dasjenige ausgesagt werden, was vom höchsten bis zum niedrigsten Sein gilt, wenn man es als eine Art von Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit oder als einen Gegensatz oder als eine Verschiedenheit nimmt, weil j a von ihm Alles herkommt, was von ihm ausgesagt werden mag. Denn er hat nicht bloß ihm Ähnliches, sondern auch Unähnliches geschaffen, da er j a selber ähnlich und unähnlich ist. Auch ist er j a die U r s a c h e d e s E n t g e g e n g e s e t z t e n , da die wahre Vernunft dartut, daß in der Kraft des von ihm wirklich Geschaffenen auch dasjenige enthalten ist, was entgegengesetzt zu sein scheint und durch Entziehung des Seins nicht ist. Findet sich doch nichts Schlimmes, was nicht entweder durch eine täuschende Ähnlichkeit oder durch offenbares Gegenteil der Schatten eines Vorzugs wäre. Stolz z. B. hat einen Schatten von wirklicher Hoheit, Ausgelassenheit von Gelassenheit, Wut von Tapferkeit, Zorn von strafender Gerechtigkeit und dergleichen mehr. In Betreff des Gegenteils aber hat z. B. B o s h e i t einen Schatten von Güte; denn wie die Güte Etwas aus einem Nichtseienden in ein Seiendes hinüberführt, so strebt die Bosheit Alles, was ist, zu verderben und ins Nichtsein aufzulösen, und würde, wenn dies möglich wäre, selber mit vernichtet werden. Denn mit dem Untergang der Natur würde auch das Schlimme untergehen, aber kraft der Güte wird alle Nacht zusammengehalten, daß sie nicht untergeht. Gleichwohl wird einstweilen noch die Bosheit in der Natur zugelassen, damit aus dem Gegensatze durch Vergleichung die Herrlichkeit der Güte ebenso hervortrete, wie durch Übung der Tugenden in vernünftiger Wirksamkeit, auf daß die Natur selber gereinigt werde, wann der Tod in den Sieg verschlungen und nur allein die Güte in Allem erscheinen und herrschen, alle Bosheit aber untergehen wird." „Mit Recht wird G o t t die L i e b e genannt, weil er aller Liebe Ursache ist und sich durch Alles ergießt und Alles in Eins versammelt und in unaussprechlichem Kreislaufe sich bewegt, um die Liebesbewegungen jeder Kreatur in sich selber zu beschließen. Auch die Ausgießung der göttlichen Natur in Alles, was in ihr ist und von ihr stammt, wird nicht etwa darum Liebe genannt, als ob das jeder Bewegung Ledige und alles Erfüllende sich irgendwie selber ausgösse, sondern weil es den vernünftigen Geistesblick

Die großen Systeme

79

durch das All hindurchströmen läßt, bis es im Menschengeiste die Ursache der Ausgießung und Bewegung ist, um jenen Geistesblick zu suchen und zu finden und nach Möglichkeit zu verstehen, sintemal j a die göttliche Natur Alles erfüllt, damit es sei, und gleichsam in friedlicher Vereinigung der allgemeinen Liebe Alles zu unzertrennlicher E i n h e i t mit sich selber sammelt und untrennbar zusammenfaßt. Geliebtwerden andererseits wird von Allen gesagt, die von Gott herkommen, nicht als ob er von ihnen etwas zu leiden hätte, da ja er allein leidenslos ist, sondern weil A l l e s n a c h ihm s t r e b t und seine Schönheit Alles an sich zieht. Denn er ist allein wahrhaft liebenswürdig, weil er allein die höchste und wahrhafte Güte und Schönheit ist, und was sich nur wahrhaft Gutes und Schönes und Liebenswürdiges in der Kreatur findet, ist er selbst, und wie nichts Gutes, so ist auch nichts Schönes und Liebenswürdiges wesenhaft außer ihm. Gleichwie der sogenannte Magnetstein zwar durch seine natürliche Kraft das sich ihm nähernde Eisen anzieht, gleichwohl aber, um dies zu tun, sich keineswegs bewegt, noch vom Eisen, das er anzieht, etwas erleidet; so führt auch die Ursache aller Dinge alles, was von ihr stammt, wieder zu ihr selber zurück, ohne irgendwelche Bewegung ihrer selbst und lediglich kraft ihrer eigenen Schönheit." „Wir dürfen nicht glauben, die ersten Ursachen seien von solcher Vortrefflichkeit, daß keine höhere Ursache ihnen vorausginge, die über sie hinausgeht. Vielmehr ist es eine und dieselbe A l l u r s a c h e , aus welcher und durch welche, in welcher und zu welcher die Ursachen und vorausgehenden Veranlassungen aller Dinge ursprünglich geschaffen sind. Nicht mit Unrecht bezeugt darum der heilige Geist, daß die AllUrsache Alles überragt, da sie der Reihe aller von ihr aus ihr Sein beginnenden Kreaturen vorangeht und in sie ausläuft. Nicht als ob in ihr das Eine früher, das andere später zeitlich geschaffen wäre, da vielmehr in ihr Alles auf einmal und zugleich ewig vorhanden und geschaffen worden ist; sondern weil die göttliche Vorsehung in einer unaussprechlichen und für jedes Denken unbegreiflichen Ordnung das All der geschaffenen Natur aus dem Nichtsein ins Sein hervorrief, so geht der wesenhaften Würde nach das Eine dem Anderen vorher. Hiernach fällt dasjenige, was als der Gesamtursache oder Gott unmittelbar zunächst stehend erkannt wird, ohne daß eine höhere Kreatur dazwischenträte, mit Recht unter den Gesichtspunkt der obersten Anfänge der geschaffenen Welt und s t e i g t v o m H ö c h s t e n an s t u f e n w e i s e a b w ä r t s , d. h. vom Anfange der rein geistigen Natur bis zum Alleruntersten oder

80

I. Die geistige Welt

z u m Körper herab. D e r G e i s t G o t t e s s c h w e b t a l s o ü b e r der d u n k l e n Tiefe aller u r a n f ä n g l i c h g e s c h a f f e n e n Urs a c h e n , weil der Schöpfergeist in ausnehmender Erkenntnis allein alle geschaffenen Ursachen überragt u n d aller geschaffenen Ursachen alleinige vorausgehende u n d überragende Ursache u n d Urquelle alles dessen ist, was aus ihr ins Unendliche zurückgeht u n d v o n niemand anderem ausfließt, als vom Vater allein, wenn m a n nämlich den Geist i m eigentlichen Sinne des Wortes nimmt." . . . . „ J e t z t aber h a b e n wir ins Auge zu fassen, d a ß G o t t n i c h t w e i ß , w a s e r i s t . Und du darfst unbedenklich dich darüber freimütig äußern, was du davon hältst, d a ß wir dies zu b e h a u p t e n wagen. Was du von diesem wunderbaren g ö t t l i c h e n N i c h t w i s s e n , wonach Gott nicht verstehen soll, was er selber 6ei, gesagt hast, ist mir zwar noch dunkel, ich bekenne jedoch, daß es mir nicht falsch, sondern wahr u n d wahrscheinlich zu sein scheint. Denn du verstehst es nicht so, als ob Gott sich selber nicht kenne, sondern n u r , d a ß er nicht wisse, w a s er sei. U n d mit Recht, da er j a kein Etwas, sondern sowohl f ü r sich selber, als auch für Alles, was von i h m s t a m m t , unendlich ist. Demnach lächelt uns also in dieser A r t von Nichtwissen augenscheinlich die höchste u n d unaussprechliche Weisheit auf das Lieblichste an, denn die Torheit Gottes ist weiser, als die Menschen." . . . „ I c h möchte doch nicht ohne weiteres zugeben, daß die göttliche Ü b e r w e s e n t l i c h k e i t Nichts sei oder mit einem dergleichen N a m e n wie „ E n t z i e h u n g " bezeichnet werden könne. Denn wiewohl die Theologen von ihr das Nichtsein behaupten, so wollen sie d a m i t doch keineswegs sagen, sie sei Nichts, sondern n u r m e h r a l s S e i n . Wie k ö n n t e doch die Ursache von Allem, was ist, so verstanden werden, d a ß sie keine Wesenheit wäre, da doch Alles, was ist, ihr wahres Sein nachdrücklich verkündigt, während allerdings aus dem, was ist, kein Verständnis f ü r das, was jene AllUrsache ist, gewonnen wird! Wird also u m ihrer unaussprechlichen Herrlichkeit u n d unbegreiflichen Unendlichkeit willen von der göttlichen N a t u r gesagt, d a ß sie nicht sei, folgt daraus etwa, d a ß sie ü b e r h a u p t Nichts sei ? Das Nichtsein oder Überwesentlichsein wird doch aus keiner anderen Ursache von ihr ausgesagt, als weil die wahre Vernunft nicht zuläßt, d a ß sie in die Reihe des Seienden gerechnet werde, da sie j a als über alles Seiende u n d Nichtseiende hinausliegend gelten m u ß . " . . .

81

Die großen Systeme

„Sei n u r a u f m e r k s a m und fasse das Gesagte genau ins Auge! Sobald du nämlich m i t reinem Geistesblicke die Bedeutung der Sachen u n d Worte erwogen h a s t , wirst d u es ohne jedwede Dunkelheit klar finden, d a ß in Gott kein Nichtwissen fällt, d a sein Nichtwissen v i e l m e h r u n a u s s p r e c h l i c h e s V e r s t ä n d n i s ist. Um dies aus dem Vorherigen zu verstehen, betrachte die Bedeutung der Worte. Wenn wir sagen, Gott wisse nicht, was er sei, wollen wir damit wohl etwas Anderes andeuten, als d a ß e r s i c h i n k e i n e m v o n A l l e m , w a s i s t , b e g r e i f e ? Denn wie könnte er in ihm selber E t w a s erkennen, was in ihm selber nicht sein k a n n ? Sind doch die Gründe Alles dessen, was Gott in sich selber, d. h . der Vater i m Sohne, geschaffen h a t , ungeteilt in i h m Eins. Sie gestatten keine Bestimmung der eigentümlichen Bestandheiten durch eigentümliche Unterschiede oder zufällige Bestimmungen, indem sie dergleichen n u r in ihren Wirkungen, nicht aber in ihnen selber zulassen. Was ist d a n n aber von der unaussprechlichen u n d unbegreiflichen N a t u r selber zu halten ? Wer möchte darin etwas durch eine Grenze Bestimmtes, im R ä u m e Ausgedehntes, in Teile Getrenntes, aus Bestandheiten und zufälligen Bestimmungen Zusammengesetztes denken ? Das göttliche Nichtwissen ist also die höchste und wahre Weisheit. Es ist gerade so, als wenn Einer von uns sagte: Ich bin ein unempfindlicher u n d jeder Lebensbewegung lediger Stein; so würde ich dies durchaus nicht verstehen, d. h. ich würde begreifen, d a ß ich kein unempfindlicher u n d alle Lebensbewegung entbehrender Stein bin. Ebenso wenig verstehe ich, daß ein im Fleische lebender Mensch ohne Sinn u n d Vernunft sein sollte, weil ich erkenne, d a ß jeder im Fleische lebende Mensch auch nicht ohne Sinn u n d Vernunft i s t . " . . . „ W a s ist endlich vom T u n u n d L e i d e n zu sagen? Wäre es nicht töricht u n d unangemessen zu glauben, d a ß der göttlichen N a t u r T u n u n d Leiden zukommen konnten, wenn doch dieselbe keine Bewegung zum Tätigsein u n d keine Fähigkeit zum Leiden in sich w a h r n i m m t ? Denn obwohl bei uns die Bestandheit u n d das ihr zufällige T u n u n d Leiden etwas Verschiedenes sind, so erkennt sich doch keineswegs in gleicher Weise die göttliche N a t u r als eine Zusammensetzung von Bestandheit u n d Zufälligem. E n t b e h r t sie doch dergleichen ganz u n d weiß nicht, d a ß sie dergleichen h ä t t e , da sie j a als einfach jeder Zusammensetzung f r e m d bleibt. . I h r T u n u n d Leiden ist ihr Wille selber, der da wesenhaft und über» wesenhaft u n d mehr als Wille ist. Man sagt von i h m , er sei tätig, sofern er will, d a ß Alles geschehe, was ist, u n d er leide, sofern er S o l l a l l e r . Weltaiuchanung.

6

82

I. Die geistige Welt

von Allem geliebt werden will und sich selber in Allem liebt. Ist er doch selber wesentlich Liebe und mehr als wesentliche Liebe, und lieben ihn doch Alle, die überhaupt lieben, gleichviel ob sie wissen oder nicht wissen, daß sie lieben, d. h. ob sie im Stande der Gnade durch denkende und vernünftige Bewegungen oder aber durch einfachen Trieb der Natur lieben. Denn von Gott ist nichts geschaffen, was nicht auch nach ihm Verlangen trüge. Du siehst also, wie von Gott nicht mit Unrecht ausgesagt wird, er wisse nicht, daß Alles unter den 10 Kategorien Einbegriffene in seiner Natur besteht, da diese augenscheinlich ganz und gar durch ihre ausnehmend erhabene und unbegrenzte Kraft einzig dasteht. Denn was in alle Wege unbegrenzt ist, hat dafür durch Wesenheit, Kraft und Wirksamkeit zu gelten, worin es nach oben und unten, d. h. nach Anfang und Ende, unbegrenzt ist. Denn es ist nach der Wesenheit unerfaßlich, nach der Kraft unbegreiflich, nach der Wirksamkeit unumschränkt, ohne Anfang nach oben, wie ohne Ende nach unten, also kurz und bündig gesagt, in alle Wege unbegrenzt." . . . „Wir dürfen G o t t und K r e a t u r nicht als voneinander verschiedene Zwei denken, sondern als e i n s u n d d a s s e l b e . Denn auch die Kreatur ist in Gott bestehend, und Gott wird in der Kreatur auf wunderbare und unaussprechliche Weise geschaffen, indem er sich selber offenbart, unsichtbar sich selber sichtbar, unbegreiflich und sich selber offenbar und unbekannt sich selber bekannt macht, indem er sich ferner aus einem Form- und Gestaltlosen zu etwas Schönem und Anziehendem, überwesentlich zu einem Wesentlichen, übernatürlich zu einem Natürlichen und einfach zu einem Zusammengesetzten, von Zufälligem frei zu etwas Zufälligem, unendlich zu etwas Endlichem, unumschränkt zu etwas Umschränktem, überzeitlich zu einem Zeitlichen, überräumlich zu einem Räumlichen, allschaffend zu etwas in Allem Geschaffenen macht, als der Macher von Allem auch in Allem selber wird, als ewig zugleich zu sein anfängt und als unbeweglich sich doch in allem bewegt und in Allem wird. Und dies sage ich nicht in bezug auf die Fleischwerdung und Menschwerdung des Wortes, sondern vom unaussprechlichen Herabsteigen der dreieinigen höchsten Güte in das Seiende, damit sie in Allem vom Höchsten bis zum Niedrigsten selber sei, immer ewig upd immer geworden, von sich selber und in sich selber ewig und zugleich auch geworden, sofern sie im Ewigsein nicht aufhört, geworden zu sein, sintemal sie sich selbst aus sich selber selber macht. Sie bedarf nicht eines andern

83

Die großen Systeme

Stoffes, der sie selbst nicht wäre, um darin sich selber hervorzubringen, sonst erschiene sie als ohnmächtig und in sich selbst unvollendet, wenn sie sonst woher erst für ihre Erscheinung und Vollendung Hilfe empfinge. Von sich selber also empfängt Gott die Veranlassungen zu seinen göttlichen Erscheinungen, denn aus ihm und in ihm, durch ihn und für ihn ist Alles. Demnach ist auch der Stoff selber, aus dem (wie wir lesen) die Welt geschaffen worden ist, von und in ihm selber, und er selber ist im Stoffe, soweit dieser für seiend gilt." . . . „Was hindert uns nun, nachdem wir durch solches Wunder gespeist sind, zu den Höhen der göttlichen Kraft aufzusteigen, um zu begreifen, daß diese über Allem ist und in Allem wird, da sie nicht anderswoher den Stoff erhält, noch ihn aus dem Nichts macht, um darin zu werden und sich offenbar zu machen. Auch die Keimkraft des Samens ist genugsam erörtert, welche zwar für sich unsichtbar und unerfaßbar ist, gleichwohl aber in unendliche Formen und Einzelarten sich vervielfältigt und den körperlichen Sinnen anheimfällt, was jeder nachforschenden Geistesschärfe entgeht. Es bleibt somit kein Raum übrig für jenes Nichts oder jene Entziehung der ganzen Haltung und Wesenheit, woraus nach unverständiger Ansicht Alles gemacht worden wäre, während doch unter jenem Worte die h. Theologie etwas Anderes versteht." . . . „ D e r z u m S e i e n d e n h i n z u t r e t e n d e M e n s c h wird in M ä n n l i c h e s u n d W e i b l i c h e s g e t e i l t , sofern er auf natürliche Weise zur Vermittelung aller Gegensätze durch die Eigentümlichkeit seiner Bestandteile alle Kraft der Vereinigung anwendet. Einen Teil nämlich hat er mit dem Sinnenfälligen gemein, sofern er Körper ist, einen anderen Teil mit den gedankenhaften Wesen, sofern er Seele ist, und darum enthält er die ganze Kreatur in sich. Um deswillen tritt im Bereich des Seienden der Mensch als jüngster auf, indem er gleichsam durch eine natürliche Verbindung in seinen eigentümlichen Teilen überhaupt die Vermittlung der Gegensätze bildet und sie in ihm selber zur Einheit führt, während sie nach der Natur im Räume weit auseinanderliegen. Äußerste Gegensätze nennt er hier die unsichtbare und sichtbare Kreatur, die durch natürlichen Unterschied weit auseinander liegen, denn es gibt unter den geschaffenen Naturen zwei äußerste Grenzen, die einander entgegengesetzt sind und nur in der menschlichen Natur ihre Vermittelung finden, sofern sie sich hier miteinander verbinden und aus Vielem Eins werden. Denn es gibt vom Höchsten abwärts keine Kreatur, die sich nicht im Menschen 6*

84

I. Die geistige Welt

fände, der darum mit Recht die W e r k s t ä t t e von A l l e m heißt, sintemal in ihr Alles zusammenfließt, was von Gott geschaffen ist, um hier aus verschiedenen Naturen, wie aus verschiedenen Tönen, eine Harmonie zu bilden/' „Es gibt in der Natur der Dinge nichts Niedrigeres als den Körper und nichts Höheres als das Denken." . . . „Ich sehe dies deutlich und bewundere unter allem Geschaffenen sehr die Würde unserer Natur, wenn ich an der Hand der von dir angeführten Gründe g l e i c h s a m einen w u n d e r v o l l e n Auszug a l l e r g e s c h a f f e n e n B e s t a n d h e i t e n erkenne." . . . „Die V e r e i n i g u n g der K r e a t u r e n b e g i n n t somit im Menschen durch die Gnade des Erlösers, in welchem (wie der Apostel sagt) nicht Mann noch Weib ist, wann die menschliche Natur in ihren früheren Zustand wiederhergestellt sein wird. Denn hätte der erste Mensch nicht gesündigt, so würde er auch nicht die geschlechtliche Teilung seiner Natur erfahren haben, sondern in seinen uranfänglichen Gründen, worin er nach dem Bilde Gottes geschaffen worden, unwandelbar verblieben sein. Unter der Gunst dieses Verhältnisses wird der Mensch in d a s R e i c h des S e i n s z u l e t z t e i n g e f ü h r t , indem er mit seiner Natur durch eigentümliche Verbindung seiner Teile eine V e r m i t t e l u n g f ü r die ä u ß e r s t e n Enden bildet und in ihm selber dasjenige zur Einheit führt, was in der übrigen Natur in weiten Räumen auseinanderliegt. So soll der Mensch A l l e s zu Gott, a l s der u r s ä c h l i c h e n E i n h e i t , h i n f ü h r e n , indem er zunächst mit der eigentümlichen Teilung beginnt und dann in einer Reihe von Verknüpfungen durch die Mitte fortschreitend, zum Ziele des für Alle gemachten erhabenen Aufsteigens in Gott gelangt, wo keine Teilung ist." . . . „Erst u n t e r dem B a n n e s e i n e r S ü n d e n s c h u l d e r f u h r er die T e i l u n g seiner N a t u r in M ä n n l i c h e s u n d Weibl i c h e s , weil er nämlich die göttliche Weise seiner Vervielfältigung nicht beobachten wollte, wurde er zu gerechter Strafe auf die viehische und vergängliche Menge männlicher und weiblicher Einzelwesen heruntergebracht. In Christus Jesus nahm diese Trennung wiederum den Anfang der Vereinigung, sofern dieser in sich selber das wahre Beispiel einer Wiederherstellung der menschlichen Natur zeigte und ein Gleichnis der künftigen Auferstehung aufwies. Trennungen (nennt man) beim Menschen seit der Sünde nicht allein die Teilung in Männliches und Weibliches, sondern auch die Teilung in eine bunte Mannigfaltigkeit von Eigenschaften

Die großen Systeme

85

u n d Größenverhältnissen u n d anderen Unterschieden der e i n e n Form. Wönn freilich die verschiedene Eigenart der einzelnen Menschen u n d die bestimmte Gestalt derselben sich verändert, so k o m m t dies nicht von der N a t u r her, sondern seit der Sünde von der örtlichen u n d zeitlichen Verschiedenheit des Landes, des Wassers, der L u f t , der Speise u n d ähnlicher Verhältnisse, u n t e r denen die Menschen geboren u n d ernährt werden. Von der Verschiedenheit in Sitten und Denkweise ist k a u m zu reden nötig, da es J e d e m klar ist, daß dieselbe von der Teilung der N a t u r seit der Sünde ihren Anfang genommen h a t . " . . . „Alle K r e a t u r seufzt u n d t r a u e r t bis jetzt. Und h ä t t e der Mensch nicht gesündigt, so wäre kein Geschlechtsunterschied in ihm, sondern eben nur der Mensch. D a n n wäre in ihm auch nicht der Erdkreis vom Paradiese getrennt worden, sondern die ganze E r d e n n a t u r wäre in ihm das Paradies, d. h. als geistige E r d e i h m umgänglich. Himmel u n d Erde wären in ihm nicht gesondert, sondern er wäre ganz himmlisch, u n d es würde nichts Irdisches, Schweres, Körperliches an ihm sichtbar sein. E r wäre von seinem Schöpfer in zahllosen Einzelheiten hingestellt worden, wie es bei den Engeln der Fall ist. Sinnliche u n d gedankenhafte N a t u r fielen in ihm nicht auseinander, sondern er wäre ganz Gedanke. E r würde seinem Schöpfer immer u n d unveränderlich anhängen u n d in keiner Weise von seinen uranfänglichen Ursachen, worin er geschaffen ist, abweichen, u n d keine in i h m mitbegründete K r e a t u r würde eine Teilung erleiden. Weil der erste Mensch versäumt h a t t e , in solcher Seligkeit zu verharren, u n d vielmehr aus Stolz von ihr abfibl, so d a ß die Einheit der menschlichen N a t u r sich in eine unendliche Mannigfaltigkeit von Teilungen zerstreute, so erwählte die göttliche Barmherzigkeit einen neuen Menschen, in welchem die i m alten Menschen zerstreute N a t u r wieder zu ihrer früheren Einheit berufen würde. Sie beschloß d a r u m , in der Welt u n d aus der Welt selber als ein Mensch von Menschen u m der Menschen willen geboren zu werden." . . . . „ U n s e r e s t i e r b l i c h e n L e i b e r sind den breiten Feigenblättern sehr ähnlich. Gleichwie diese einen Schatten bilden u n d die Sonnenstrahlen abhalten, so bringen unsere Leiber den Seelen die Finsternis der Unwissenheit und verscheuchen die Erkenntnis der Wahrheit. Und doch gewähren diese Blätter, unsere irdischen Leiber nämlich, die Süßigkeit irdischer und todbringender Genüsse wie eine F r u c h t , u m uns von allen Seiten zu umgeben u n d zu beschatten u n d uns d a m i t anzulocken u n d zu täuschen. Damit

86

I. Die geistige Welt

du nun erkennst, daß die Schöpfung unseres sterblichen Leibes deutlich auf Den bezogen wird, nach dessen Ratschluß unsere Zucht und Wiederherstellung und Rettung erfolgt, so höre ebendieselbe Schrift sagen: ,Auch machte Gott der Herr dem Adam und seinem Weibe Röcke von Fellen und zog sie ihnen a n . ' " „Nicht unpassend werden hier mit Röcken von Fellen unsere sterblichen Leiber verglichen, welche sich mit Billigung des gerechten höchsten Richters die ersten Menschen nach dem Sündenfalle gemacht hatten. Und scheint es dir glaublicher anzunehmen, daß sich der sterbliche Mensch das sterbliche Fleisch selbst gemacht habe, als daß es Gott selber geschaffen, oder nur zugelassen und dazu ermuntert habe ? Denn Gott selber ist unsterblich, und was er durch sich tut, ist unsterblich. Alles Sterbliche und Zerbrechliche und Vergängliche, was in dieser sinnlichen Welt zu sein scheint, bringen entweder wir Irrende selber durch unsere unvernünftigen Bewegungen hervor oder es wird um unseres Fehlers willen in Gemäßheit mit unserm sterblichen Leben zugelassen, gleichviel ob es durch gute Kräfte besorgt und vollbracht wird, oder ob das in bestimmten Räumen natürlich Verlaufende daran gehindert wird, zu seinem Ziele zu gelangen. Bezweifelt doch kein richtiger Philosoph, daß die Lebensbewegung in den Keimen dahin geht, durch Zeugung in sichtbare Formen hervorzutreten."... „Weil C h r i s t u s die vier Teile der menschlichen Natur annahm und in seiner Person vereinigte, so ist klar, daß er die gesamte gedankenhafte und sinnliche Kreatur aufgenommen und in seiner Person vereinigt hat, da ja im Menschen, den er ganz angenommen hat, die gesamte Kreatur befaßt ist. Unter dem äußersten Verwandten versteht er die verwandten äußersten Körper und alles Sichtbare, denn dieses nimmt abwärts das äußerste Ende der ganzen Kreatur ein und ist untereinander verwandt, während nach oben die gleichfalls untereinander verwandten Gedankenwesen das andere äußerste Ende der Kreatur'» einnehmen. Somit ist das in den einzelnen Teilen der menschlichen Natur äußerste Verwandte bei Christus in Gestalt gleichnatürlicher Naturen verbunden." . . . „ D a r a u f h a t er d u r c h d a s A u f s t e i g e n z u m H i m m e l in W i r k l i c h k e i t den H i m m e l u n d die E r d e v e r e i n i g t , und indem er mit diesem uns gleichwesentlichen irdischen Körper auftrat, nachdem derselbe freilich in eine geistige Bestandheit verwandelt worden war, hat er seine e i n e sichtbare Natur ganz geoffenbart. Indem er darauf folgerichtig in das Sinnliche und Ge-

Die großen Systeme

87

dankenhafte durch alle himmlischen und göttlichen Ordnungen des Gedankenreichs hindurchging, hat er mit Seele und Leib in unserer vollkommenen Natur die Vereinigung erreicht, indem er in seiner Person vollständig das untrennbare und unbewegliche Zusammentreffen der ganzen Kreatur nach ihrer höchsten Weise aufzeigte." . . . „Und zuerst hat er mit Ablegung des männlichen und -weiblichen Unterschiedes in seiner Person uns mit uns selber vereinigt, und statt Männer und Weiber, worin vorzugsweise die Trennung der Natur ersichtlich ist, hat er eigentlich und wahrhaft bloß Menschen überhaupt dargestellt, welche unberührt von irgendwelcher Verderbnis das r e i n e B i l d Gottes an sich tragen." . . ^ S e i t e t w a 1150 bekommt nun neben Piaton und dem Neuplatonismus A r i s t o t e l e s den größten Einfluß auf das mittelalterliche Denken. Bis dahin waren nur indirekte Nachrichten über ihn und einige wenige Bruchstücke seines Systems: namentlich die Categoriae und die Schrift De interpretatione vorhanden. Um 1210 liegt auf dem Umweg über die Araber der ganze Aristoteles in Übersetzung vor und tritt in den Vordergrund des Interesses. So kommt es, daß er das System Alberts und Thomas' vollständig beherrscht und Piaton erst mit der florentinischen Akademie im 15. Jahrhundert wieder zur Herrschaft gelangte. Die Bedeutung dieses Wandels liegt nicht nur in seinem Einfluß auf die erkenntnistheoretischen Kämpfe zwischen Realisten (Idealisten) und Nominalisten, sondern vor allem in seinem Einfluß auf das maßgebende System der Kirche. Das S y s t e m des A r i s t o t e l e s , das mit wenigen Modifikationen übernommen wird, baut sich auf aus der Kosmologie, Physik, Biologie, Anthropologie, Psychologie, Ethik, Politik, Logik und Metaphysik. S e i n e Kosmologie ist in der Modifikation des Ptolemaios die herrschende gewesen bis zu Kopernikus. Sie umfaßt aber außer den Vorstellungen über das Weltgebäude auch sein einzigartiges Wissen über Pflanzen und Tiere und das Biologische überhaupt ; und dies ist die tiefste und eigentümlichste Triebfeder seines ganzen Systems geworden, wie für Piaton die Matemathik. Eben daraus erklären sich auch seine Gegensätze zu Piaton. Piatons Kosmos ist ein herrlicher, geometrisch-harmonisch geordneter, aber im ganzen statischer Kosmos; Aristoteles Weltbild ist ungleich komplizierter durch seine Betonung des Entwick-

88

I. Die geistige Welt

lungsgedankens, der Lebensprobleme, der Bewegung und Wandlungen und seine fortwährende Rückbeziehung auf das Empirische. Piatons spekulativer Idealismus wird bei Aristoteles zum empirischen Intellektualismus, und sein herrlicher Schöpfungsmythos wird durch die Annahme der Anfanglosigkeit der Welt überflüssig» Die Mannigfaltigkeit und Fülle der Geschöpfe und Probleme innerhalb dieses Kosmos dagegen wird unendlich größer und die straffe Systematisierung eine Notwendigkeit. Dieser Reichtum des Wissens, diese Kraft der Methode und des Systematisierens, dieser scharfe Intellektualismus sind es wohl auch vor allem gewesen, die dem Spätmittelalter so großen Eindruck gemacht haben und die Albert und Thomas nachzuahmen versuchten. Nächst der Kosmologie hat die a r i s t o t e l i s c h e L o g i k wie eine Offenbarung in das Mittelalter hineingeleuchtet. Man bemächtigte sich dieser Lehren vom Begriff, Urteil und Schluß mit einer wahren Begeisterung wie eines unfehlbaren Wunderschlüssels zur Wahrheit, zumal nachdem es sich herausgestellt hatte, daß sowohl die Erkenntnisse wie die Methode des Aristoteles bis auf wenige Ausnahmen mit dem Glauben nicht unvereinbar wären, ja, daß sich mit Hilfe des Syllogismus sogar ein logisch unanfechtbares Glaubenssystem herstellen ließe, wie es das System Alberts und Thomas darstellen sollte. Gerade dies System beweist aber die Richtigkeit unserer Behauptung, daß nicht der Syllogismus an 6ich, sondern die Art der ihm zugrunde liegenden Analogien den Wahrheitsgehalt der Erkenntnisse und den Grad ihrer Identität mit der „Wirklichkeit" bestimmt. Der Wirklichkeitsbegriff aber ist eine grundsätzlich relativistische und metaphysische Angelegenheit, die jedes Zeitalter anders und von sich aus löst, da es iti diesen Dingen nur Anthropomorphismen geben kann und alle menschliche Weltanschauung am Ende nur ein Mythos von dem Geheimnis ist. Während nun die aristotelische Kosmologie und Logik dem Mittelalter sehr heilsam war, hat seine M e t a p h y s i k mehr Verwirrung als Klarheit angerichtet, und zwar liegt das zum Teil an ihrer eignen Kompliziertheit und Inkonsequenz. Aristoteles setzt nämlich an Stelle der Ideenlehre Piatons seine Dialektik mit den Begriffen Aktualität und Potentialität, die bei ihm selbst wie bei Thomas bis zum Überdruß durchgeführt wird, ohne rechte Klarheit schaffen und die Schwächen der Ideenlehre positiv überwinden zu können. Zwar sollen die Universalien nicht ein ¿V naqä

Die großen Systeme

89

t ä nöXka sondern ein ev xazä noXX&v sein, aber daß „zugleich der Form, die immer ein Allgemeines ist im Vergleich mit dem aus Form und Stoff Zusammengesetzten, die höhere Wirklichkeit zuerkannt wird, und daß nur das Allgemeine Gegenstand des Wissens, das an sich selbst Frühere und Bekanntere sein soll, ist ein Widerspruch, dessen Folgen sich durch das ganze aristotelische System hindurchziehen 1 ). Aristoteles unterscheidet vier Arten von Ursachen: die materiale, die formale, die bewegende und die Endursache (Zweck), die auch zusammenfallen können, z. B. im Verhältnis der Seele zum Leib oder Gottes zur Welt. Zugrunde liegt aber überall der Unterschied von Stoff und Form, der sich durch alles hindurchzieht: „Wo sich eines zum andern als das Vollendetere, das Bestimmende und Wirkende verhält, wird jenes als die Form oder das Wirkliche, dieses als der Stoff oder das Potentielle bezeichnet." Dem bloß potentiellen Begriff des Stoffes (t>ltj) widerspricht aber die Auffassung, daß aus ihm Notwendigkeit und Zufall, alle Unvollkommenheiten und die Unterschiede des Himmlischen und Irdischen, des Männlichen und Weiblichen, die Spaltung der Artbegriffe in die Vielheit der Individuen und der Widerstand bei der Höherentwicklung der Natur stammen sollen. Das starke Hervorheben des Formproblems ist aber andererseits ein Vorzug, der um so höher zu bewerten ist, als damit nicht zuletzt die biologischen Gebilde gemeint sind, deren Formen er Entelechien nennt, die ihre Vollendung, ihren Zweck reiog in sich tragen, und dem Entwickelungsgedanken Bahn brechen, den Piaton vernachlässigt hatte; (denn die platonischen Ideen sind keineswegs mit Entelechien zu verwechseln). Aus den Begriffen der P o t e n z und des A k t u e l l e n , die beide anfanglos sind, wie die Welt, von denen das Aktuelle aber dennoch die Priorität besitzt, soll nun mit Hilfe der vermittelnden Bewegung die ganze Welt heraus entwickelt werden, so z. B . die Elemente aus einem bloß potentiell vorhandenen Stoff durch Hinzutritt von gewissen gegensätzlichen Bestimmungen, nämlich den aktiven Gegensätzen des Warmen und Kalten und den passiven des Trockenen und Feuchten, so daß das Feuer entsteht, wenn Wärme und Trocken heit, die Luft, wenn Wärme und Feuchtigkeit, das Wasser, wenn Kälte und Feuchtigkeit, und die Erde, wenn Kälte und Trocken*) Z e l l e r - N e s t l e , Grundr. d. Gesch. d. griech. Philosoph. Leipzig 1928. S. 213.

90

I. Die geistige Welt

heit die formenden Faktoren sind 1 ); ein an sich fruchtbarer Gedanke, der eigentlich das männliche und weibliche Prinzip und die Polarität überhaupt symbolisiert, der aber zu Tode gehetzt und durch seine zu allgemeine Anwendung unklar wird. Merkwürdig ist, daß das Metaphysisch-Substantielle nicht potentiell sondern aktuell als actus purus gedacht wird, das jedoch das Potentielle — den Stoff — als Korrelat mit sich setzt. Die absolute Substanz ist also gerade nichts Stoffliches {bhij), sondern wird als reines Denken, als reine geistige Tätigkeit und Inbegriff aller reinen Formen gedacht, ein Begriff, der zwar keine metaphysische Erklärung des Stofflichen und der Vielheit enthält, den die Scholastiker aber ohne weiteres hätten übernehmen können, wenn er nicht von Aristoteles verdorben worden wäre, insofern er sich diesen actus purus zugleich als „ersten Beweger" dachte und — da er sieben bewegte Sphären annahm — aus dem meta^ physisch Einen sieben Substanzen machte, die diese bewegten und deren herrschende die der Fixsternsphäre sein sollte. Zum Glück ist der echte ontologische Gottesbegriff, wie ihn bereits die Vorsokratiker viel klarer erkannt hatten, durch den Neuplatonismus wieder gewonnen und „vereinfacht" auf das Mittelalter gekommen, um z. B. das System des Johannes Scotus und die Renaissancephilosophie entscheidend zu beeinflussen. Es ist nun nach alledem nicht recht verständlich, warum sich eigentlich Albert und Thomas und d a s S p ä t m i t t e l a l t e r den Aristoteles zum Vorbild genommen haben, da doch Piatons Metaphysik sich viel leichter mit dem christlichen Dogma vereinigen ließ. Vermutlich sind es seine Wiederauffindung, der Reiz der Neuheit, seine Systematik, sein Wissen und seine Logik gewesen, die zum Übergang bestimmt haben. Vielleicht auch die Absicht, einer möglichen Gefahr für das Dogma dadurch zu begegnen, daß man sich anpaßte und, den Spieß umkehrend, sie assimilierte, um sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Jedenfalls ist diese hete-i rogene Ehe zwischen Aristoteles und der Bibel, die Albert und Thomas nach dem Vorgange A l e x a n d e r s von H a i e s (f 1248) und seiner S u m m a t h e o l o g i a e stifteten, sehr eigenartig und nicht zum besten ausgeschlagen. Von einem eigentümlichen System kann man dabei nicht recht sprechen, da es sich im Grunde nur um eine großartige Kompilation handelt, die A l b e r t durchführte und T h o m a s , nur schärfer gefaßt, vollendete, weshalb G o e d e c k e m e y e r , Aristoteles. München 1922. S. 95/96.

Die großen Systeme

91

Albert zu Unrecht vernachlässigt wird. Beide haben unzählige K o m m e n t a r e geschrieben: zu Aristoteles, zu biblischen Büchern, zu L o m b a r d u s ' Sentenzen, zu Areopagita u n d Averroes. Selbständig sind vor allem ihre Summen, Alberts naturwissenschaftliche Schriften, Thomas' Quaestiones disputatae 1 ) und De veritate fidei catholicae contra gentiles 2 ). D i e S u m m a t h e o l o g i a e A l b e r t s zerfällt in zwei Teile, die sich in T r a c t a t e und Quaestiones gliedern. Der I. Teil enthält die Theologia, die Lehre von Gott u n d den Göttlichen Eigenschaft e n sowie die Trinitätlehre. Der I I . Teil behandelt die Schöpfung der Engel u n d Menschen, Sündenfall und Rechtfertigung: De primo rerum principio, De angelorum creatione, De casu angelorum. De miraculis, De hierarchiis, De creatione aliarum rerum u n d Hexaemeron, De formatione hominis, De primi hominis s t a t u ante peccat u m , De potentiis animae, De peccato etc. D i e S u m m a t h e o l o g i a e v o n T h o m a s h a t drei Teile (und Supplementband zum I I I . T.) u n d gliedert sich ebenfalls in unzählige T r a c t a t e u n d Quaestiones. Der I. Teil behandelt die Theologie u n d Kosmogonie: Gott u n d Dreieinigkeit, Urgrund u n d Schöpfung, die Vielheit und das Böse, die Engel, das Sechstagewerk, den Menschen u n d seine Seele, Intellekt und Erkenntnis, Leib und Ebenbildlichkeit, Adam u n d die E r b s ü n d e (peccatum originale), Rechtfertigung u n d Erlösung, Paradies und göttliche Weltherrschaft, Engel und Dämonen, Schicksal und traductio hominis ex homine. Der I I . Teil behandelt die E t h i k und Confessio, der III.Teil die Christologie, Rechtfertigungs- u n d Sakramentlehre (De convenientia incarnationis Christi, De contritione etc.). Zwei ungeheure Werke! Das thomistische noch mehr als das albertinische. Waren die Kosmologien kleine Systeme, so sind diese Systeme großartige Kosmologien. Thomas ist schärfer, systematischer u n d raffinierter als Albert. Er beginnt fast immer mit Fragen u n d endet mit Dogmen: U t r u m Deus sit ? U t r u m Deus sit omnino simplex ? etc. E r stellt die verschiedenen Ansichten scheinbar tolerant gegenüber, u m a m Ende strikt seine eigene, streng orthodoxe zu bringen. Seine Methode ist also vergleichend 1 ) De veritate, De potentia, De spiritualibus creaturis, De anima, De malo, De virtutibus, De caritate, De spe u. a. 2 ) Die Summa von Thomas in Übers, kürzlich ersch. Eine deutsche Ausgabe A l b e r t s wäre sehr wünschenswert, ebenso eine Darstellung in der Art von S e e b e r g s Duns Scotus. Eine systematische Übersicht des literarischen Werkes von Thomas findet sich bei G r a b m a n n , Thomas v. Aquin, S. 15ff.

92

I. Die geistige Welt

dialektisch u n d der Stil lehrhaft, „ n ü c h t e r n u n d schulgerecht'% was m a n merkwürdigerweise als Vorzug bezeichnet h a t . Bezeichnend ist jene Anekdote, nach der Thomas während eines Gastmahles a m Hofe Ludwig des Heiligen in Gedanken plötzlich auf den Tisch geschlagen u n d ausgerufen haben soll: „ J e t z t habe ich einen entscheidenden Beweis gegen die Manichäer!" Das ist der wahre Geist dieses Systems, das ein E n d e bedeutet u n d auf E n d gültigkeit Anspruch m a c h t ! Alles a t m e t aristotelischen u n d dogmatischen Geist u n d wird durch die komplizierte aristotelische Metaphysik selbst kompliziert. Bei allem staunenswerten Fleiß u n d Scharfsinn, bei aller Monumentalität des A u f b a u s u n d Unvergleichlichkeit der Kombinations- u n d Systematisierungsgabe können sich jedoch diese Systeme mit den frühmittelalterlichen nicht messen; denn wenn Genialität vor allem Ursprünglichkeit bedeutet* so ist die Scholastik mit wenigen Ausnahmen wie J o h a n n e s u n d D u n s Scotus schwer im Nachteil. Es fehlt die visionäre W u c h t u n d Originalität der früheren großen Systeme, die unter Piatons Einfluß standen u n d im Tiefsten emotional u n d mystisch waren. Nicht zuletzt ist eine gewisse Stagnation u n d Stockung der Säfte, ein gewisser doktrinärer Intellektualismus i m Katholizismus auf den großen Einfluß dieses thomistischen Lehrsystems zurückzuführen, der es bedauerlich erscheinen läßt, d a ß m a n aus durchsichtigen Gründen nicht lieber eines der früheren großen Systeme kanonisiert h a t , die viel einfacher, übersichtlicher u n d genialer sind u n d weit m e h r Bewegungsfreiheit lassen, wie sie das Leben und die historische Entwicklung verlangen, als das abgeschlossene und bei allem bewunderungswürdigem Scharfsinn künstliche System Alberts u n d Thomas' 1 ). Der Piatonismus läßt sich zudem, wie gesagt, viel einfacher u n d glücklicher mit dem Christentum vereinigen als gerade Aristoteles, dessen Metaphysik, Gottes- u n d Schöpfungslehre sich n u r mit List oder Gewalt mit dem Dogma übereinbringen l ä ß t , u n d dessen Neigung zum Nominalismus j a schließlich auch zur Auflösung des mittelalterlichen Weltbildes geführt h a t . I m m e r h i n glaubte man m i t diesem System den G l a u b e n bis auf einige Mysterien durch die V e r n u n f t vollendet bewiesen zu Allerdings ist die Sterilität des Dogmas auf katholischer wie auf protestantischer Seite wohl vor allem auf die Tatsache zurückzuführen, daß es seit der Reformation mehrere Konfessionen gibt, die sich aus Gründen der Abgrenzung und Rivalität gegeneinander versteiften, so daß die Dogmengeschichte seit dem 16. Jahrhundert stillsteht und den Zusammenhang mit dem Leben verloren hat. Interessant für die Dogmengeschichte sind eigentlich nur noch die Sekten.

Die großen Systeme

93

haben, und zu diesen wenigen Ausnahmen, die nur durch den Glauben und die Offenbarung erweisbar seien, rechneten Albert und Thomas die Trinität, die Inkarnation und die Auferstehung des Fleisches. Es kann nun hier unmöglich eine Darstellung der Systeme gegeben werden, zumal sie im Grunde nichts Originales sind, sondern dem aristotelischen und allgemeinen Dogmensystem entsprechen. Nur auf einige wichtige U n t e r s c h i e d e sei hingewiesen: Z w i s c h e n A l b e r t u n d T h o m a s scheinen nur in der Ethik, in der man zu den vier antiken Tugenden der Weisheit, Tapferkeit, Mäßigkeit und Gerechtigkeit die drei christlichen: Glaube, Liebe, Hoffnung hinzuaddiert, Differenzen zu bestehen, insofern Albert der Willensfreiheit zuneigt, während Thomas diese nur noch bestehen läßt als Bewußtsein der Vernunft, „nach dem stärksten Motiv mit Notwendigkeit" zu handeln 1 ). D i f f e r e n z e n zu A r i s t o t e l e s gibt es auffallend wenige: Nur die Anfanglosigkeit der Welt wird abgelehnt, die Universalienfrage in dem schon oben erwähnten Sinne variiert und die Unsterblichkeit nicht nur der vernünftigen, sondern der ganzen Seele gelehrt, da beim Menschen die niederen Seelenkräfte durch den Zutritt des Intellekts eine Art Umwandlung erfahren. In der Kosmologie hat Thomas dem sphärischen Kosmos des Aristoteles eine neunte und zehnte Sphäre: das Primum mobile und Empyreum als Wohnung der Engel hinzugefügt, während Albert seine eigenen schönen Naturbeobachtungen der aristotelischen Physik angegliedert hat. Der aristotelische B e g r i f f G o t t e s als actus purus, erster Beweger und Inbegriff aller reinen Formen, wird trinitarisch und dogmatisch modifiziert und ergänzt, kann aber auch bei Thomas, sobald er ontologisch definiert wird, eine pantheistische Tendenz notwendigerweise nicht verleugnen. So sagt Thomas, „daß das Prädikat seiend nur von Gott wesentlich ausgesagt wird, weil das göttliche Sein ein substituierendes und absolutes Sein ist, dagegen von jedem Geschöpf nur ein Sein der Teilnahme. Denn kein Geschöpf ist sein Sein, sondern ist das Sein habend." „Weiter, das Sein kommt dem ersten Tätigen und seiner eigenen Natur zu. Denn Gottes Sein ist seine Substanz. — Was aber einem Dinge nach seiner eigenen Natur zukommt, kommt anderen nur in der Weise der Teilnahme zu, wie die Wärme den anderen Körpern vom Feuer zustrahlt. Das Sein fließt daher allen anderen D e u s s e n , Die Philosophie des Mittelalters.

94

I. Die geistige Welt

von dem ersten Tätigen durch eine Art Teilnahme zu. Was einem Ding aber durch Teilnahme zukommt, ist nicht seine Substanz. Es ist mithin unmöglich, daß die Substanz eines anderen Wesens mit Ausnahme des ersten Tätigen das Sein ist. Aus diesem Grunde ist es der eigentümliche Name Gottes, daß er derjenige ist, ,der da ist'. Exod. 3. 14, weil es ihm allein zukomme, daß seine Substanz nichts anderes ist als sein Sein 1 )." Einige weitere charakteristische Stellen mögen den S t i l des t h o m i s t i s c h e n Denkens veranschaulichen 1 ): „In allen Menschen findet sich von Natur d a s V e r l a n g e n , die U r s a c h e n d e s s e n zu e r k e n n e n , w a s m a n sieht. Deshalb haben die Menschen wegen der Verwunderung über das, was man sah und dessen Ursachen verborgen waren, zuerst angefangen zu philosophieren, mit der Entdeckung der Ursache aber kamen sie zur Ruhe. Und die Forschung steht nicht still, bis man zu der e r s t e n U r s a c h e gelangt, und wir glauben dann vollkommen zu wissen, wenn wir die erste Ursache erkennen. Cont. Gentiles 3, 25." . . . „Wie die heilige Lehre auf dem L i c h t e des G l a u b e n s , so fußt die Philosophie auf dem natürlichen L i c h t e der V e r n u n f t . Und deshalb ist es unmöglich, daß dasjenige, was zur Philosophie gehört, dem, was zum Glauben gehört, entgegen ist. Wenn sich aber in den Aussprüchen der Philosophen etwas findet, was dem Glauben widerspricht, so kommt das nicht von der Philosophie, sondern von ihrem Mißbrauche her, der auf der Unzulänglichkeit der Vernunft beruht. In librum Boethii de Trinit. 2, 3." . . . „In demjenigen, was wir von Gott bekennen, ist eine zweifache Weise der Wahrheit. M a n c h e s i s t von Gott w a h r , w a s j e d e s V e r m ö g e n der m e n s c h l i c h e n V e r n u n f t ü b e r s t e i g t , wie daß Gott dreieinig ist. Manches aber gibt es, was auch der natürlichen Vernunft erreichbar ist, wie daß Gott ist, daß Gott einer ist und anderes dergleichen. Und dieses haben auch die Philosophen, geführt durch das natürliche Licht der Vernunft, apodiktisch von Gott bewiesen. Cont. Gent. 1, 3." . . . „Es läßt sich durch Betrachtung der Weise, wie der V e r s t a n d sich zu dem allgemeinen Sein verhält, beurteilen, ob er a k t u e l l oder p o t e n t i e l l ist. Es findet sich nämlich ein Verstand, der sich zu dem allgemeinen Sein als Aktus (Wirklichkeit) des ganzen Seins verhält, und so ist der göttliche Verstand beschaffen, der Gottes Wesenheit ist, in der dem Ursprünge und dem Vermögen Die Philosophie von T h o m a s v o n A q u i n in Auszügen von R o l f e s . Leipzig 1920.

Die großen Systeme

95

nach das ganze Sein als in seiner ersten Ursache präexistiert, und deshalb ist der göttliche Verstand nicht in der Potenz, sondern ist reiner Akt (lautere Wirklichkeit). — Kein erschaffener Verstand aber kann sich gegenüber dem ganzen universalen Sein als Akt verhalten, weil er so ein unendliches Seiendes (Wesen) sein müßte, und daher ist jeder geschaffene Verstand, durch eben das, was er ist (Vermögen, das Seiende in sich aufzunehmen), nicht Akt alles Intelligiblen, sondern er verhält sich zu dem Intelligiblen selbst, wie die Potenz zum Akt. . . . D e r V e r s t a n d d e s E n g e l s nun ist gegenüber seinen intelligiblen Objekten immer aktuell, wegen seiner nahen Verwandtschaft mit dem ersten Verstände, der reiner Akt ist, wie eben gesagt wurde. Der menschliche Verstand aber, der in der Ordnung der Intellekte zu unterst steht und am weitesten von der Vollkommenheit des göttlichen Verstandes entfernt ist, ist in der Potenz zum Intelligibeln, und er ist im Anfang ,wie eine leere Tafel' (tabula rasa), auf der nichts geschrieben i s t " , wie der Philosoph 3 de Anima (4. 429 b 31 — 430 a 2) sagt. Und das geht klar daraus hervor, daß wir im Anfang nur potentiell denkend sind, hernach aber aktuell denkend werden." . . . „ D a s N a c h d e n k e n ü b e r d i e g ö t t l i c h e n W e r k e ist notwendig, damit der menschliche Glaube über Gott unterwiesen werde. Erstens darum, weil wir durch das Nachdenken über die Werke Gottes in den Stand gesetzt werden, seine Weisheit, wie unvollkommen auch immer, zu bewundern und zu betrachten. Denn die Erzeugnisse der Kunst stellen uns die Kunst selbst vor Augen, da sie nach ihrem Bilde hergestellt sind. Gott hat aber die Dinge durch seine Weisheit ins Dasein gerufen, weshalb es heißt: ,Alles hast du mit Weisheit gemacht', Ps. 103, 2 4 . " . . „Zweitens. Diese Betrachtung führt zur Bewunderung der höchsten Macht Gottes und erweckt als deren Folge in den Herzen der Menschen die Ehrfurcht vor ihm. Denn die Macht des Erschaffenden muß über die erschaffenen Dinge erhaben gedacht werden, und deshalb heißt es: ,Haben sie über die Kraft und Wirkung dieser Dinge', des Himmels, der Sterne und der kosmischen Elemente, ,sich verwundert'." . . . „Drittens. Diese Betrachtung entzündet die Gemüter der Menschen zur Liebe der göttlichen Güte. Denn was immer von Güte und Vollkommenheit in den verschiedenen Kreaturen einzeln verteilt ist, ist alles in ihm als dem Urquell aller Güte universell vereinigt, wie oben Buch I , K a p . 28 gezeigt worden ist. Wenn

96

I. Die geistige Welt

daher die Güte, die Schönheit und der Liebreiz der Geschöpfe die Gemüter der Menschen so sehr einnimmt, so wird der Born der Güte Gottes selbst, andachtsvoll verglichen mit dem Bächlein der Güte, die man in den einzelnen Geschöpfen findet, die Gemüter der Menschen entflammen und gänzlich an sich ziehen. Daher heißt es: ,Du hast mich, o Herr, durch deine Schöpfung erfreut, und über alle Werke deiner Hände frohlocke ich', Ps. 91, 5." . . . „Viertens. Diese Betrachtung erhebt die Menschen zu einer Art Ähnlichkeit mit der göttlichen Vollkommenheit. Denn es ist gezeigt worden, daß Gott, indem er sich selbst erkennt, in sich alles Andere schaut." . . . „So erhellt denn hieraus, wie wichtig es für die Unterweisung im christlichen Glauben sein muß, das Geschaffene aufmerksam zu betrachten. Und darum sagt der weise Mann: ,Ich will der Werke des Herrn gedenken und verkünden, was ich gesehen. Durch das Wort des Herrn entstanden seine Werke.' Sirach 42, 15, Cont. Gent. 2, 2." . . . „Die g ö t t l i c h e W e l t r e g i e r u n g " a) Die göttliche Weltregierung im allgemeinen Ihre Tatsächlichkeit 1. Es scheint, daß die Welt keiner Regierung untersteht. Denn es kommt denjenigen Wesen zu, regiert zu werden, die wegen eines Zweckes bewegt werden oder wirken. Die natürlichen Dinge aber, die einen großen Teil der Welt ausmachen, bewegen sich nicht und wirken nicht wegen eines Zweckes, weil sie keinen Zweck erkennen. Also wird die Welt nicht regiert. 2. Außerdem, es kommt denjenigen Dingen im eigentlichen Sinne zu, bewegt zu werden, die zu etwas hinbewegt werden. Die Welt scheint aber zu nichts hinbewegt zu werden, sondern steht unbeweglich auf sich selbst. Also wird sie nicht regiert. 3. Außerdem, das, was die Notwendigkeit in sich hat, die es zu Einem bestimmt, bedarf keiner äußeren Regierung. Die Haupt* teile der Welt sind aber mit einer gewissen Notwendigkeit in ihren Verrichtungen und Bewegungen zu Einem bestimmt. Also bedarf die Welt keiner Regierung. Aber dagegen spricht, was Sap. 14, 3 gesagt wird: „Du aber, o Vater, regierest alles mit Vorsicht", und Boetius sagt in dem Buche de Consol. lib. 3, metr. 9: „O, der du die Welt nach ewigem Plane regierest." Ich antworte, man müsse sagen, daß einige alte Philosophen

Die großen Systeme

97

keinerlei Regierung der Welt anerkannt und behauptet haben, daß alles zufällig geschieht. Aber diese Behauptung erweist sich aus zwei Gründen als unmöglich. Erstens aus dem, was an den Dingen selbst zutage tritt. Wir sehen nämlich, daß bei dem Naturgeschehen entweder immer oder meistenteils sich das ergibt, was besser ist, was nicht möglich wäre, wenn die Naturdinge nicht durch eine Vorsehung zum Guten als Endzweck gerichtet würden, was regieren heißt. Daher ist eben die bestimmte Ordnung der Dinge ein deutlicher Beweis für die Regierung der Welt: wie einer, wenn er ein gut geordnetes Haus beträte, eben auf Grund der Ordnung des Hauses den Verstand des Ordners würdigen würde, wie es Tullius im zweiten Buche über die Natur der Götter als Wort des Aristoteles anführt. Zweitens aber leuchtet eben dies aus der Betrachtung der göttlichen Güte ein, die die Dinge ins Sein versetzt hat, wie aus dem früher, qu. 44, art. 4 ; qu. 65, art. 2, Gesagten erhellt. Denn da es dem Besten eigen ist, das Beste hervorzubringen (vgl. Plato, Timäus 5, 29 A), so steht es der höchsten Güte Gottes nicht an, die Dinge, die sie hervorgebracht hat, nicht zur Vollendung zu führen. Die letzte Vollendung eines jeden Dinges liegt aber in der Erreichung eines Zieles. Daher ist es Sache der göttlichen Güte, daß sie, wie sie die Dinge ins Sein versetzt hat, sie auch zum Ziele führt, was regieren ist. Auf das Erste ist also zu sagen, daß etwas in zweifacher Weise zum Ziele bewegt wird oder wirkt. Einmal als solches, was sich selbst zum Ziele bringt, wie der Mensch und die anderen vernünftigen Geschöpfe, und solches hat den Vorzug, die Natur des Zieles und dessen, was dem Ziele dient, zu erkennen. — Von etwas aber sagt man, daß es dieses Zieles wegen wirkt oder bewegt wird als durch etwas zum Ziele geführt oder gerichtet, wie der Pfeil bewegt wird, weil er von dem Schützen auf das Ziel gerichtet wird, der das Ziel erkennt, während der Pfeil es nicht erkennt. Wie somit die Bewegung des Pfeiles zum bestimmten Ziele offenkundig dartut, daß der Pfeil von einem Erkennenden seine Richtung empfängt, so verkündet der sichere Lauf der natürlichen Dinge es deutlich, daß die Welt durch eine Vernunft regiert wird. Auf das Zweite ist zu sagen, daß in allen geschaffenen Dingen etwas Beständiges ist, wenigstens der Urstoff, und etwas, was unter die Bewegung fällt, wenn wir unter Bewegung auch die Tätigkeit begreifen sollen. Und in beiderlei Hinsicht bedarf das Ding der Regierung, weil eben das, was in den Dingen beständig ist, dem S c h a l l e r , Weltanschauung.

7

98

I. Die geistige Welt

Nichts anheimfiele — weil es aus dem Nichts ist —, -wenn es nicht durch die Hand des Regenten erhalten würde, wie unten qu. 104, art. I erklärt werden wird. Auf das Dritte ist zu sagen, daß die natürliche Notwendigkeit die den zu Einem bestimmten Dingen anhaftet, eine bestimmte Impression Gottes ist, der sie zum Ziele richtet, wie die Notwendigkeit, die den Pfeil treibt, nach einem bestimmten Zeichen zu streben, eine Impression des Schützen, nicht des Pfeiles ist. Aber darin ist ein Unterschied, daß das, was die Geschöpfe von Gott empfangen, ihre Natur ist, was aber den natürlichen Dingen neben ihrer Natur vom Menschen eingedrückt wird, fällt unter die Gewalt. Wie daher die Notwendigkeit der Gewalt in der Bewegung des Pfeils die Lenkung des Schützen beweist, so beweist die natürliche Notwendigkeit in dem Geschaffenen die Regierung der göttlichen Vorsehung. S. t. I, 103, I. Vgl. ebenda 2, 3; 3 Cont. Gent. 17 und 64; 12 Metaphys., lect. 12; De Verit., qu. 5, art. 2. Das letzte große System des Mittelalters endlich ist das des Duns ScotllS. R. Seeberg hat es mit großer Eindringlichkeit dargestellt 1 ). Ihn sowohl wie Occam, dessen Nominalismus und kirchenpolitische Haltung bekannt sind, müssen wir schon als Vorläufer der Reformation betrachten. Landsberg sieht in ihnen nur den beginnenden Verfall der mittelalterlichen Weltanschauung, aber sie sind vielmehr der Ü b e r g a n g zu e t w a s N e u e m : V o m S t a t i s c h e n zum Dynamischen, vom t h o m i s t i s c h e n I n t e l l e k t u a l i s m u s zum V o l u n t a r i s m u s , von der Abs o l u t h e i t des E t h i s c h e n zur R e l a t i v i t ä t , vom P r i m a t d e r A l l g ü t e zu d e m P r i m a t d e r A l l m a c h t . Bei Thomas war der Glaube vorwiegend intellektualistisch begründet; die höchste Art der E r k e n n t n i s , die wir erlangen und empfangen können, und die auch den W i l l e n zum Guten ohne weiteres einschließen sollte, ein Trugschluß, der sich auch bei antiken Philosophen oft findet. Dieser thomistische Intellektualismus verlor sein Fundament durch Scotus' R e l a t i v i e r u n g d e r E t h i k : Das sittlich Gute ist nicht mehr das absolut Wertvolle und Gott nicht mehr Gott, weil er das absolut sittliche Gut und 1 ) S e e b e r g , Die Theologie des Johannes Duns Scotus, Leipzig 1900: 1. Philosophische und theologische Prinzipienfragen. 2. Der Gottesbegriff; Die Lehre vom Menschen und der Sünde. 3. Die Person Christi und die Erlösung. 4. Die Lehre von den Sakramenten. 5. Die jenseitige Vollendung und die diesseitige Vollkommenheit der Christenheit. 6. Aus der Ethik des Duns Scotus. 7. Die geschichtliche Stellung des Duns Scotus.

99

Die großen Systeme

der Hüter der sittlichen Weltordnung ist, sondern Gott ist Gott, weil er der Allmächtige ist, und was wir sittlich gut nennen, ist es nur, weil Gottes Allmacht gerade dies als gut gesetzt und geboten hat. Das Gute ist also nicht an sich gut, sondern weil es von Gott so geboten ist. Wenn das Gute aber nicht mehr absolut ist, gibt es auch keine absolute Erkenntnis mehr, sondern nur noch den Glauben als Willensakt und Anerkenntnis des göttlichen Willens, dessen Abgründe und Motive damit völlig irrational werden. Und eben hierin liegt etwas ganz Neues und Ungeheures, das den numinosen, g ä n z l i c h i r r a t i o n a l e n G o t t e s b e g r i f f Luthers und vor allem Calvins vorwegnimmt und den protestantischen Glaubensbegriff vorbereitet, der kein Erkenntnis- sondern ein Willensakt ist und als solcher ein Gnadenakt. Mit Scotus ist ein erster unglaublich kühner Schritt getan zur Relativierung der Moral, wenn auch mit ganz anderer Begründung als später durch Nietzsche und die vergleichende Völkerkunde und Rechtsgeschichte. Und darin liegt seine einzigartige Bedeutung und Originalität. Blicken wir von hier aus zurück, so ergibt sich, daß die geistigen G r u n d l a g e n des Mittelalters größten Teiles a u s O r i e n t und A n t i k e stammen, daß der S t i l u n d d i e S t r u k t u r des geistigen Gebäudes aber neu und e i g e n a r t i g sind. Die größte Ü b e r r a s c h u n g bildet in dieser Hinsicht das plötzliche Vorhandensein des romanischen Stiles und parallel dazu in der Geistesgeschichte das plötzliche Dasein eines so großartigen und originellen Denkers wie Johannes Scotus. Eine E n t t ä u s c h u n g bereitet dagegen die eigentliche S c h o l a s t i k , die sich trotz allem Scharfsinn und aller Systematik mit den Systemen der Patristik und des Neuplatonismus: Origines, Plotin, Augustin und Dionys an visionärer Gewalt und Ursprünglichkeit nicht messen kann, weil ihr die V e r b i n d u n g mit d e m g e r m a n i s c h e n M y t h o s abges c h n i t t e n w a r und sie, statt diesen fortbilden zu können, wie etwa der Brahmanismus den ursprünglichen arischen Mythos fortgebildet hat, ihre Aufgabe nur noch darin sehen mußte, das christliche Dogma intellektuell zu begründen, zu beweisen und gegen den Intellekt selbst zu sichern. Erst die R e n a i s s a n c e p h i l o s o p h i e hat wieder Anspruch auf ; Originalität, insofern sie sich mehr oder weniger vom Dogma befreit und wieder ein natürliches und unmittelbares Verhältnis zum Weltall und zum philosophischen Gottesbegriff gewinnt. Ansätze dazu finden sich natürlich schon 7*

100

I. Die geistige Welt

im Mittelalter, das beweisen die p a n t h e i s t i s c h e n V e r s u c h e innerhalb der Scholastik, vor allem das System des Johannes Scotus und die Nachrichten über A m a l r i c h v o n B e n n e s und D a v i d v o n D i n a n t , die als Vorläufer des späteren Pantheismus zu betrachten sind, der keineswegs erst von Giordano Bruno ausgeht, sondern sich bei vielen mittelalterlichen u n d Renaissance-Philosophen bereits offen oder verhüllt vorfindet, sofern man sich an ihre Ontologie h ä l t , d. h. nicht an ihren dogmatischen, sondern an ihren philosophischen Gottesbegriff, der Gott als den Urgrund und die Fülle des Seins, als die causa prima, causa sui, das ens realissimum b e s t i m m t , das allem endlichen Sein notwendig zugrunde liegt. So wagt Amalrich von Bennes offen auszusprechen, d a ß Gott in allem und die Wesenheit von allem in Gott sei, dessen Wesen im G u t e n wie im Bösen zum Ausdruck komme (I) 1 ). Dixit enim D e u m esse essentiam omnium c r e a t u r a r u m et esse omnium. I t e m dixit, quod sicut lux non videtur in se sed in aere, sie eus nec ab angelo neque ab homine videbitur in se sed t a n t u m in creaturis 2 ). Ganz ähnlich scheint der Pantheismus Davids von Dinant, der den drei G a t t u n g e n von Dingen, die er unterscheidet: körperlichen, geistigen und göttlichen eine unterschiedslose Substanz unterlegte, ganz im Sinne Brunos u n d des 16. J a h r h u n d e r t s . Divisit res in partes tres: in corpora, animas et substantias separatas. E t p r i m u m indivisibile, ex quo constituuntur corpora, dixit Yle; p r i m u m a u t e m indivisibile in substantiis auteriis dixit Deum. E t haec tria esse u n u m et i d e m : ex quo iterum consequitur esse omnia per essentiam u n a m (nach Thomas) 2 ). Albert f a ß t Davids Lehre ganz ähnlich z u s a m m e n : Manifestum est u n a m solam substantiam esse non t a n t u m omnium corporum sed etiam o m n i u m animarum e t hanc nihil aliud esse q u a m ipsum Deum, quia substantia de qua sunt omnia corpora dicitur Hyle, substantia vero de qua sunt omnes animae dicitur ratio vel mens. Manifestum est igitur Deum esse s u b s t a n t i a m omnium corporum et omnium a n i m a r u m . Patet igitur, quod Deus et Hyle et mens sola substantia sunt. (Summa theol. I I . t r a c t . X I X qu. 72.)

MYSTIK UND WELTGEFÜHL I m Spätmittealter ist es häufig die M y s t i k , die, ohne den Theismus aufzugeben, auf d e m Wege des Gefühls und der Medi2

s. W i c h m a n n , Die Scholastiker. ) Vgl. Ü b e r w e g : Gesch. d. Phil.

Mystik und Weltgefühl

101

t a t i o n dem Pantheismus n a h e k o m m t u n d so die Brücke schlägt zum eigentlichen Zeitalter des europäischen Pantheismus 1 ); natürlich n u r die i m m a n e n t e Mystik der Alleinheitschau, nicht die t r a n s c e n d e n t e M y s t i k der inneren Versenkung und Abgeschiedenheit 2 ), Man hält diese beiden Begriffe nicht klar genug auseinander. So h a t man neuerdings das Wesen der Mystik gesucht in der Löschung aller Relation zwischen Subjekt und Objekt, in der „Selbstüberwindung des Intellekts", im Akosmismus mit seiner Logik, E t h i k u n d Frömmigkeit der Rückkehr des Menschen in die Alleinvollkommenheit seines Urgrundes, im „Transrationalismus" und in der „Transcendierung" 3 ), also in der kontemplativen Abstraktion und Reduktion, im „ E n t w e r d e n " , Entleeren und E n t w e r t e n der Welt. — Dies ist der Weg von außen nach innen, von der Vielheit zur Einheit, wie ihn in anderer Weise auch das logische und physikalische Denken geht, denn das Ziel alles Denkens ist die Einheit. D a s m y s t i s c h e E r l e b n i s aber ist ein geistiges Erlebnis u n d h a t doch nichts mit dem gewöhnlichen Denken zu t u n . Es läßt sich auch nicht beschreiben, obwohl es die Mystiker immer wieder versucht haben, denn diese weiselose, vollendete innere geistige Befreiung, diese völlig vorstellungslose, nichts mehr suchende und wollende Vollkommenheit des „Selbstes" in der „Abgeschiedenheit" u n d „Wesenheit" und tiefstem Schweigen ist ein Verklärungszustand, der nur erlebt werden k a n n ; erst d a n n vermag m a n zu verstehen, was die transcendente Mystik des Mittelalters wie des Ostens ausdrücken möchte. Neben dieser M y s t i k d e r A b g e s c h i e d e n h e i t existiert jedoch die entgegengesetzt gerichtete M y s t i k d e r A l l v e r e i n i g u n g d u r c h S y m p a t h i e , Eros oder Agape, denn transcendete Mystik ist nicht d i e Mystik. Vielmehr ist der umgekehrte Weg von innen nach außen, die Vergöttlichung der N a t u r u n d Geschichte von jeher neben dem andern eingeschlagen worden. Freude und Hingabe an die Welt u n d das Leben, positive D e u t u n g selbst des Übels u n d des Bösen u n d das Gefühl der Alleinheit bezeichnen ihn ebenso wie die mehr oder weniger ästhetische Einstellung, die es allein 1

) Vgl. J o e l , Der Ursprung der Naturphilosophie aus dem Geist der Mystik. ) Vgl. E c k a r t , T a u l e r , S u s o , M e c h t h i l d v o n M a g d e b u r g , R i c h a r d und H u g o v. St. V i k t o r , R u y s b r o e k u. a. Ferner das eindrucksvolle vergleichende Werk R u d o l f O t t o s : Westöstliche Mystik. 3 ) Vgl. J o s e p h B e r n h a r t , Literatur zur Mystik. Chr. J a n e n t z k y , Mystik und Rationalismus, Vierteljahrsschrift f. Lit. u. Geistesgesch. 1924. Heft 2. 2

102

I. Die geistige Welt

ermöglicht, auch das Dunkel und die Schatten, die Wildheit und Dämonie göttlich zu bewerten. Auch hier ist das Ziel die Einheit, aber nicht durch Abstraktion und Entleerung, sondern durch AllEinbeziehung in ein höheres, göttliches Wertgefühl, sei es in der stillen, heiteren, friedlichen Art des heiligen Franziskus oder in der glühenden, begeisterten der Renaissancephilosophie. Man könnte für transcendente auch a k o s m i s c h e und für immanente k o s m i s c h e M y s t i k sagen, oder vorstellungslose und gegenständliche Mystik. Sie sind nicht immer klar unterscheidbar, z . B . scheint bei Meister E c k h a r t die Einheitsschau zuweilen akosmisch und gänzlich innerlich und vorstellungslos zu sein, und dann wiederum sieht er alle Kreaturen in der Alleinheit Gottes: „Solange ich dies oder das bin oder dies oder das habe, so bin ich nicht alle Ding noch habe alle Ding. Scheide ab, daß du noch dies oder das seiest oder habest, so bist du allenthalben. Und also bist du weder dies noch das, so bistu alle Ding." „Aber solange die Seele Gestaltung schaut, schaue sie auch einen Engel, schaue sie sich selbst als ein Gestaltetes: solange ist eine Unvollkommenheit an ihr. Ja, schaue sie auch Gott, sofern er Gestaltetes, sofern er Dreiheit ist: Solange ist eine Unvollkommenheit an ihr. Wenn aber alles Gestaltete von der Seele abgelöst ist und sie allein noch schaut das Ewig-eine, dann empfindet das bloße Wesen der Seele das bloße, ungestaltete Wesen der göttlichen Einheit — schon mehr ein Überwesen." „Wir fassen ,Wesen' als das nackte und reine Sein, wie es in sich selbst ist. Dann ist Wesen höher als Erkenntnis und Leben. Denn indem es Wesen ist, hat es Erkenntnis und Leben. — Erkennt sie Gott in den Kreaturen, so ist das ,Abendlicht'. Erkennt sie die Kreaturen in Gott, so ist das ,Mor genlicht'. Erkennt sie aber Gott als den, der allein Wesen ist, das ist der lichte Mittag. Und so sollte der Mensch dieses wie in wahnsinniger Leidenschaft begehren und anschauen, daß das Wesen so edel ist." „Wenn man, sagen die Meister, die Kreaturen nur in sich erkennt, so ist das nur ein ,Abenderkennen'. Da sieht man sie in allerhand unterschiedlichen Bildern. So man aber die Kreaturen in Gott erkennt, das heißt ein ,Morgenerkennen'. Und hier schaut man die Kreatur ohne Unterschied, aller Bilder entbildet, aller Gleichheit entglichen, in dem Einen, das Gott selber ist." „Alles was man äußerlich hier hat in Mannigfaltigkeit, ist im Innern eins. — Hier sind alle Grasblättlein, sind Holz und Stein,

Mystik und Weltgefühl

103

sind alle Dinge eins. Dies ist das Allertiefste. Und darin habe ich mich v e r n a r r t 1 ) . " Anders als bei der ontologischen Mystik Meister Eckharts handelt es sich bei der Mystik des hl. F r a n z i s k u s ganz eindeutig u m jene kosmische Sympathie u n d jene rein geistige Agape, die alle K r e a t u r e n als Geschöpfe Gottes brüderlich mit einschließt in die (nicht pantheistische!) Einheit der göttlichen Liebe, ohne sie ihrer Individualität zu berauben, die er im Gegenteil zu charakterisieren versucht, und an der er sich erfreut. So in seiner Vogelpredigt u n d im Sonnengesang: Die Vogelpredigt. „Zu den Vögeln aber sprach der heilige Franziskus: ,Gar sehr seid ihr, Schwestern Vögel, d e m Herrn zu D a n k verpflichtet, u n d ihr m ü ß t ihn immer u n d überall loben wegen des freien Fluges, den ihr allenthalben h a b t , wegen des doppelten und dreifachen Gewandes, wegen eures b u n t e n und schmucken Kleides, wegen des Tisches, der ohne euer Z u t u n bereitsteht, wegen des Gesanges, der euch v o m Schöpfer geschenkt, wegen eurer Menge, die sich durch Gottes Segen so vermehrt, wegen der Nachkommenschaft, die Gott in der Arche erhalten, wegen des Elementes der L u f t , das er euch angewiesen. I h r säet nicht u n d erntet nicht, u n d Gott n ä h r t euch doch; er gab euch Flüsse u n d Quellen zum Trinken, Berge u n d Hügel, Felsen u n d Dämme zu Schlupfwinkeln, hohe B ä u m e zum Nisten. Und obwohl ihr nicht nähen und nicht weben könnt, so gibt er doch euch u n d euren J u n g e n die nötige Kleidung. Überaus liebt euch also der Schöpfer, der euch soviel Wohltaten erwiesen. D a r u m h ü t e t euch, Schwestern Vögel, u n d a n k b a r zu werden, vielmehr sollt ihr euch immer Mühe geben, Gottes Lob zu singen." Auf diese Worte des heiligen Vaters hin fingen alle Vögel an, die Schnäbel a u f z u t u n , die Flügel auszubreiten, den Hals zu strecken und den Kopf ehrfurchtsvoll zu Boden zu senken; so zeigten sie durch ihr Benehmen wie durch ihren Gesang, d a ß die Worte des heiligen Franziskus sie höchlich erfreuten. Sankt Franziskus aber frohlockte im Geiste, als er dies sah, und betrachtete staunend die große Menge der Vögel, die Schönheit ihrer Arten, ihre Zärtlichkeit, E i n t r a c h t u n d Zutraulichkeit. Daher lobte er in ihnen die W u n d e r der Schöpfung und lud auch sie selbst zärtlich ein, dem Schöpfer zu lobsingen. *) Vgl. R u d o l f O t t o , Westöstliche Mystik.

S. 28/30, 78/79, 82/83.

104

I. Die geistige Welt

Nach Beendigung der Predigt u n d der A u f m u n t e r u n g zum Lobe Gottes machte er überall das Zeichen des Kreuzes u n d forderte sie nochmals inständigst auf, den lieben Gott zu preisen. Da erhoben sich alle Vögel gleichzeitig u n d sangen miteinander in der L u f t liebliche, weithinschallende Lieder 1 )." Der

Sonnengesang.

Höchster, allmächtiger, gütiger Herr, Dein ist der Preis, die Herrlichkeit und die Ehre und jegliche Benedeiung, Dir allein gebühren sie, und kein Mensch ist würdig, dich zu nennen. Gepriesen seist du Gott, mein Herr, mit all deinen Geschöpfen, vornehmlich mit der edlen Schwester Sonne, Welche den T a g wirkt u n d uns leuchtet durch ihr Licht, U n d schön ist sie und strahlend in großem Glänze, Von dir, o Herr, ist sie das Sinnbild. Gepriesen sei mein Herr wegen unserer Geschwister, des Mondes und der Sterne, A m Himmel hast du sie geformt klar und schön. Gepriesen sei mein Herr u m des Bruders willen, des Windes, und u m der L u f t u n d der Wolken willen u n d der heiteren und jeglicher Witterung, Durch welche du deinen Geschöpfen E r h a l t u n g schenkest. Gepriesen sei mein Herr u m des Bruders willen, des Feuers, durch das du die Nacht erhellest, Schön ist es u n d freudig und sehr stark und gewaltig. Gepriesen sei mein Herr u m unserer Mutter willen, der Erde, Die uns ernähret und t r ä g t u n d mannigfaltige Früchte gebiert u n d farbige Blumen und K r ä u t e r . Gepriesen sei mein Herr u m derer willen, die verzeihen aus Liebe zu dir u n d Schwachheit dulden u n d Trübsal, Selig sie, die leiden in Frieden; denn von dir, o Höchster, werden sie gekrönt. Gepriesen sei mein Herr u m unseres Bruders willen, des leiblichen Todes,

105

Mystik und Weltgefühl

Dem kein lebender Mensch entrinnen kann. Wehe dem, der in einer Todsünde stirbt! Selig die, welche ruhen in deinem heiligsten Willen, Denn ihnen kann der zweite Tod kein Übel tun. Preiset und benedeiet meinen Herrn und saget ihm Dank, Und dienet ihm in großer D e m u t ! 1 ) " D a s N a t u r g e f ü h l des Mittelalters ist vielfach bestimmt durch jenen Z w i e s p a l t in der christlichen Weltanschauung, der sich durch das ganze Mittelalter hindurchzieht: Einerseits bewundert und liebt man diese Welt als den Kosmos und die Zierde Gottes, als eine Gnade und Offenbarung, und die Kreaturen als brüderliche Mitgeschöpfe, anderseits muß diese Welt mit ihren Versuchungen überwunden werden und erscheint oft genug als Blendwerk des Teufels oder mindestens als gleichgültig. Dieser Zwiespalt scheint bei F r a n z i s k u s in wunderbarer Weise gelöst durch jene k o s m i s c h e S y m p a t h i e , die auch das Naturgefühl des Basilius und der Gregore, Walthers, Wolframs und des Minnesangs bestimmt. Den christlich allbrüderlichen und einsiedlerisch-idyllischen Zug darf man aber nicht zu sehr verallgemeinern, da die Bauten, Skulpturen und Dichtungen zumal des Frühmittelalters vielfach einen ganz anderen, düsteren und dynamischen Geist atmen, der dem nordischen Naturmythos weit näher steht als dem christlichen. So enthalten die folgenden Verse W a l t h e r s — so lieblich seine Naturschilderungen im übrigen sein mögen — bereits denselben Gedanken wie „Der Kampf in der Natur" von Hans Weiditz (Holzschnitt 1520) und die Allegorie „Die großen Fische fressen die kleinen Fische" von Pieter Breughel: Ich hörte ein wazzer diezen und sach die vische fliezen, ich sach swaz in der Werlte was, velt valt loup rôr unde gras, swaz kriuchet unde fliuget und bein zur erde biuget, daz sach ich, unde sage iu daz: der keinez lebet âne haz. daz wilt und daz gewürme die strîtent starke stürme, *) Franziskus-Legenden, S. 44/45, 149/152.

ausgewählt

von

Holzapfel.

München

1911.

106

I. Die geistige Welt

s a m t u o n t die vogel under in; w a n daz si h a b e n t einen sin: si endhùhten sich zu nihte, si schliefen stare gerihte. si kiesent künege unde reht, si sezent hérren unde kneht. . . . Renaissance-Enthusiasten setzen gern den Anfang des bewußten Naturgenießens mit Petrarca und seiner Besteigung des Mont V e n t o u x (1336) 1 ); das ist sicher ein schönes Ereignis, aber nicht das erste seiner A r t . Der Humanist versteht es nur, es darzustellen. Seine Gefühle und Gedanken sind dabei übrigens weit mehr literarische als naturästhetische 2 ). Aber eine n e u e A r t enthusiastischen Naturgefühls scheint im S p ä t m i t t e l a l t e r aufzukommen, dies sehen wir in der Malerei, an den Gärten u n d dem zunehmenden naturwissenschaftlichen Interesse und nicht zuletzt an der Sensitivität etwa eines Leon B a t t i s t a Alberti, der bei dem Anblick prächtiger Bäume u n d Erntefelder weinen m u ß t e und den der Anblick einer schönen Landschaft gesund machen konnte 3 ). Man k a n n diese subtilen Dinge n u r im Vergleich einigermaßen klarlegen. Sehr fein u n d eindringlich h a t Max Scheler sie analysiert in seinem Werk über die F o r m e n d e r S y m p a t h i e 4 ) . Zunächst scheint ein grundlegender Unterschied im k o s m i s c h e n G e f ü h l des Asiaten, vor allem des I n d e r s u n d des westlichen Menschen zu bestehen, insofern das Alleinheitsgefühl des Inders vorwiegend auf einer Verneinung u n d Selbstaufhebung des Individuellen b e r u h t , das als Maja erscheint und als bloßes Transparent des Ewig-Einen. Darum steht m a n auch aller K r e a t u r gegenüber im wesentlichen auf der gleichen Basis: Das t h a t t u a m asi P a u l B a r t h , Gesch. d. Erz. D i l t h e y , Ges. Sehr. Bd. II. ) P e t r a r k a s Briefe und Gespräche. Jena 1910. 3 ) B u r c k h a r d t , Die Kultur der Renaissance. Leipzig 1927. S. 275ff. Vgl. a. die schönen Ausfährungen in A . V . H u m b o l d t s Kosmos, bes. über den Übergang vom antiken zum mittelalterlich-christlichen Naturgefühl (Basilius); ferner die Beiträge zur Kulturgesch. d. Mittelalters und der Renaissance hrsg. von W a l t e r G o e t z . Bd. 4 über das Naturgefühl in Deutschland vom 10. und 11. Jahrhundert; Bd. 18 das Naturgefühl im Mittelalter. H e ß , Die Naturanschauung der Renaissance in Italien. B i e s e , Das Naturgefühl im Wandel der Zeiten. 4 ) S c h e l e r , Wesen und Formen der Sympathie. Kap. über die kosmische Einsfühlung in den Gemütsgestalten der Geschichte; s. a. die Schriften zur vergi. Religionsgeschichte von R. Otto. 2

Mystik und Weltgefühl

107

und die Sympathie betrifft nicht nur die höheren Tiere, sondern alles Seiende, mit dem man fühlt, das man aber nicht eigentlich liebt, da es ja — wie alles Individuelle — nur Schein, also eigentlich nicht seiend und jedenfalls zu überwinden und zu verneinen ist. Der w e s t l i c h e Mensch bewertet dagegen selbst bei stärkstem Alleinheits- und Weltgefühl das Individuelle sehr hoch. Er fühlt nicht nur mit allem, sondern er liebt es auch gerade wegen seiner Einzigkeit und Einmaligkeit und sucht es zu erkennen und zu bestimmen, denn es gibt sowohl eine Erkenntnis des Allgemeinen wie des Besonderen. Er d i f f e r e n z i e r t viel schärfer, logisch sowohl wie ethisch, so daß bei aller Alleinheit die Spannungen des Gradualismus und Individualismus erhalten bleiben und die eigentlichen Probleme der Schiedlichkeit und Gegensätzlichkeit nicht verwischt werden. Das östliche Weltbild erscheint uns oft traumhaft unwirklich, vegetativ und unscharf. Nicht nur die Gegensätze, das Allgemeine und Besondere, vor allem die grundlegenden Unterschiede des Anorganischen und Organischen, des Seelischen und Geistigen scheinen uns zu weitgehend zugunsten des alleinen Seins vernachlässigt. Nur im Westen konnte sich daher eine so tief gehende Scheidung des Geistigen von allem anderen Sein, eine so unendlich hohe Bewertung der Einzelseele und ein S p i r i t u a l i s m u s durchsetzen, der z. B. im U r c h r i s t e n t u m jene fast völlig „akosmistische, geistige Liebesmystik" schuf, die, konsequent ascetisch und fast indifferent gegenüber der Welt, sich durch das ganze Mittelalter hindurchzog und die Gotik wesentlich bedingte. Diese Verselbständigung des Geistes und jener stark akosmistische, geistig-sittliche Monotheismus, der vom Judentum ausging, lassen die Welt nur mehr als ein kunstvolles Werk des Schöpfers gelten, das durch eine unendliche Kluft gänzlich oder stufenweise von ihm geschieden ist und das der Mensch entweder im Sinne des Judentums beherrschen oder im Sinne des M i t t e l a l t e r s als Zierde und Wunderwerk Gottes bewundern kann, das er aber als geistiges Wesen überwinden muß. Dennoch bricht hier und da eine tiefe Liebe und süßschmerzliche Sehnsucht zu dieser Welt und ihren Geschöpfen durch, die gerade durch das Getrenntsein, das Herausheben des Geistes aus der Natur und sein Darüberstehen bedingt ist, denn nur „das Andere" kann man lieben. - Darum ist dies fast sentimentale Naturgefühl gerade bei den Asceten, Mönchen und Einsiedeln am tiefsten ausgebildet, z.. B. bei den Kappadociern.

108

I. Die geistige Welt

Diese unendliche Sympathie kann sich steigern zu jener spirituellen „Liebe der Welt in Gott", wie sie sich ganz einzigartig in F r a n z i s k u s verwirklicht hat, dessen geistige Liebe (Agape) zu aller Kreatur brüderlich in einem Sinne war, der sich von dem scheinbar so ähnlichen indischen Ethos weit entfernte, insofern kein wirkliches Einssein zugrunde lag, sondern im Gegenteil jene tiefe Scheidung von Geist und Leben, Logos und Psyche, die vom Judentum und der Antike ihren Ausgang nahm und die Mysterien wie die orphische Bewegung mit ihrer erotisch-dionysischen Einsfühlung als eine instinktive romantische Gegenbewegung zu diesem Scheidungsprozeß des Geistes und „stadtgeborenen Apollinismus' 1 erscheinen lassen. Diese geistige Liebe ist kein vitales Einsfühlen mehr, sondern ein im Grunde tief schmerzlich-liebendes Herabbeugen des geistigen Menschen zur Kreatur als a u c h einem Geschöpfe Gottes, von dem der Mensch ein für allemal geschieden ist. D i e R e n a i s s a n c e und besonders der F r ü h b a r o c k bringen neben dieser spirituellen Agape, die dabei keineswegs wieder verlorengeht, wieder eine stärkere Betonung der Alleinheit, aber nicht im dionysischen sondern im philosophischen Sinne, insofern Gott nicht mehr akosmistisch in einem Lichte wohnend gedacht wird, „da niemand zu kann", sondern pantheistisch als Quelle und Urgrund alles Seienden, der eng mit der Welt als seiner Offenbarung verbunden ist, ohne daß damit die Schiedlichkeit, Besonderheit, Gegensätzlichkeit und Stufenordnung der Welt ernstlich aufgehoben würden. Der Akzent verschiebt sich dabei von der christlich spirituellen Sympathie auf die aesthetische und enthusiastische, vom Idyllischen auf das Lyrische und den Affekt. Die Welt wird nicht mehr als plastisch-zierliches Wunderwerk, sondern als grandiose Schöpfung und prachtvoll dynamischer Prozeß, als göttliches Schauspiel und Gemälde aufgefaßt. Man steht nicht ü b e r ihr, um sich christlich zu ihr herabzubeugen, sondern man steht in ihr, um sie zu bewundern, zu erforschen und zu genießen. Man fühlt also nicht mehr akosmistisch, sondern kosmisch-sympathetisch; man steht im Kosmos drin, den man als Offenbarung der Allmacht, Harmonie und Herrlichkeit bewundert. Alles ist geheimnisvoll mittelbar oder unmittelbar zu Gott, selbst die Dunkelheiten. Man beugt sich nicht mehr herab, sondern schwingt sich geistig auf zum unendlichen All, um bei aller Alleinheit gerade das Einmalige, Persönliche und Geistige hoch zu bewerten. In diesem Sinne erscheint die R e n a i s s a n c e als ein prachtvoller Durchbruch abendländischen Weltgefühls, wogegen die R e f o r m a -

Mystik und Weltgefühl

109

t i o n, abgesehen von Luthers gründlichem Deutschtum und der unbeabsichtigten Befreiung des Individuums vom sozial-religiösen Zwang, in vielem eine Stärkung des Semitismus bedeutet, was ihr Nietzsche sehr verübelt hat. Merkwürdigerweise und leider steht nämlich der P r o t e s t a n t i s m u s in schärfstem Gegensatz zu diesem Weltgefühl: Durch seine „Ausscheidung jeder Art von Nächsten- und Menschenliebe und gegenständlich-mystischer Gottesliebe aus den Grundmitteln zum Heile" bewirkt er eine unerfreuliche „Ernüchterung und Verbürgerlichung" aller emotialen Verhältnisse, durch seinen strikten Prädestinationsglauben eine Lähmung, Weltangst und zweifelnde Verlassenheit, durch seinen Moralismus und seine Berufsethik innerweltlicher Ascese eine Verbürgerlichung des ganzen Daseins, deren letzte Frucht die kantische aprioristische „Pflichtethik" und jener „puritanische, „kapitalistische" und letzten Endes auch „preußische Geist" 1 ) werden sollten, die dem metaphysisch gerichteten Wesen des Deutschen oft so fremd sind. Der neue protestantische, vor allem calvinistische Akosmismus, der die Natur ignorierte, jede Art von „paganistischer Einsfühlung" mit ihr verwarf und sie wiederum im jüdischen Sinne nur als „Objekt menschlicher Herrschaft und Arbeit" betrachtete, wurde auch die Grundlage für jene m e c h a n i s t i s c h e W e l t a n s c h a u u n g der Neuzeit, die in der Natur nur noch eine Maschine und ein wüstes Kampffeld und Ausbeutungsobjekt sehen zu müssen glaubt und jede tiefere Gegenbewegung als Anthropomorphismus und Romantik abzutun wagt, obwohl man endlich einsehen sollte, daß j e d e menschl i c h e W e l t a n s c h a u u n g und W e l t d e u t u n g nur ein M y t h o s von dem Geheimnis sein kann, sei es nun der animistische, polytheistische oder pantheistische, sei es der mechanisch-materialistische oder der elektromagnetische und energetische Mythos. Jedenfalls ist der materialistische nicht gerade der geistreichste unter ihnen! Das Preußentum ist ein eigentümliches Erzeugnis des kolonialen Ostens, nicht nur der Blutmischung, sondern vor allem des H e r r e n t u m s ü b e r e i n e r u n t e r w o r f e n e n , k u l t u r ä r m e r e n und f r e m d r a s s i g e n B e v ö l k e r u n g . Dazu kommt der Absolutismus und die Staatsraison als Erbe des 18. Jahrhunderts, der Ehrgeiz der Dynastie, die Dürftigkeit des Landes, der Protestantismus und die Pflicht als Religion, die deutsche Sachlichkeit und vor allem die Genialität Friedrichs und die barbarische Härte seines Vaters.

II. DIE RELIGIÖSE WELT

DIE ENTSTEHUNG DES KATHOLIZISMUS Unter den großen K u l t u r k r e i s e n der E r d e : dem orientalischen, europäischen, indischen, ostasiatischen, altamerikanischen, pacifischen u n d afrikanischen sind n u r die beiden ersten historisch so eng miteinander verbunden, d a ß sie zu einem größeren, dem o r i e n t a l i s c h - e u r o p ä i s c h e n K u l t u r k r e i s zusammengefaßt werden können. Politisch ist es zwar E u r o p a bisher immer gelungen, die Übergriffe Asiens abzuwehren: so in den herrlichen Perser- und Karthagerkriegen und später in den K ä m p f e n gegen die Araber, Hunnen, Mongolen, Ungarn, T a t a r e n und Türken. Aber kulturell u n d geistig war der Austausch u m so reger, besonders seit Alexander dem Großen. Der gebende Teil ist dabei meist der Orient gewesen, schon weil er der ältere w a r ; u n d mit dem Siege des J u d e n t u m s u n d des Christentums ist es ihm denn auf seine Weise auch gelungen, sich den Okzident zu unterwerfen. Nur in hellenistisch-römischer u n d in neuerer Zeit h a t auch Europa auf den Orient eingewirkt, wenn auch n u r äußerlich. Dies ungeheure historische Gebilde der morgenländisch-abendländischen K u l t u r b a u t sich auf vielen u n d sehr verschiedenartigen Völkerschaften auf u n d gliedert sich in viele E i n z e l k u l t u r e n : die babylonischassyrische, ägyptische, israelitische, hethitische, persische, arabischjungorientalische, ägäische, griechisch-römische u n d romanischgermanisch-slawische ; aber so verwickelt u n d kompliziert der historische Prozeß zumal in der Spätantike auch ist, so läßt sich die Kontinuität nicht bestreiten, u n d dies berechtigt eben, von e i n e m u n d sogar von u n s e r e m K u l t u r k r e i s zu sprechen, der sich von allen anderen darin unterscheidet, d a ß er eine Schicht u n g u n d ein Übereinanderbau vieler verschiedener K u l t u r e n darstellt, deren Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit u n d ungeheures Erbe seinen Reichtum u n d seine Höhe bedingen. E r e r b t e s u n d E i g e n t ü m l i c h e s sind so tausendfach verflochten, d a ß es in den Übergangszeiten oft ungemein schwierig ist, es voneinander zu

112

II. Die religiöse Welt

scheiden. Aber auch hier sollte man sich über dem Ererbten den Blick für das Eigentümliche als das eigentlich Wesentliche und Lebendige nicht trüben lassen, erst so kommt jene kräftige und innerlich bildende Spannung in den historischen Aspekt, der sich von dem bloßen Traditionalismus so gründlich unterscheidet. Die R e l i g i o n s g e s c h i c h t e u n s e r e s e u r o p ä i s c h - o r i e n t a l i s c h e n K u l t u r k r e i s e s ist im Zusammenhang leider noch gar nicht dargestellt, sondern nur in ihren einzelnen Gliedern. Ohne diesen Zusammenhang ist sie jedoch unverständlich. Allein die am besten erforschte israelitisch-christliche Entwicklung weist schon eine solche Fülle von Wandlungen und religiösen Lebensformen auf, daß man in ihr samt der so wenig beachteten nachbiblischen Entwicklung in Talmudismus, Rabbinismus, Kabbala 1 ) und Islam e i n g e d r ä n g t e s A b b i l d d e r a l l g e m e i n e n E n t w i c k l u n g s g e s c h i c h t e der R e l i g i o n überhaupt sehen kann. Vom P r i m i t i v i s m u s : Dämonismus, Toten- und Ahnenkult und naturalistischen P o l y t h e i s m u s führt die Entwicklung zum sittlichen H e n o t h e i s m u s (Moses), von der jahwistisch-patriarchalischen V o l k s r e l i g i o n zur zentralistischen G e s e t z e s r e l i g i o n (622) mit einer H i e r a r c h i e , die um so bedeutender ist, als sie zugleich Hüterin des Rechts ist, wie es der Idee nach auch die Kirche im Mittelalter war. Dieser Legalismus erliegt jedoch immer mehr der Versteifung, besonders unter dem Eindruck der Katastrophen und der hoffnungslosen politischen Geschichte seit 722, 586 und 70 n. Chr. Man verstand Jahwe nicht mehr in seinem endlosen Zorn. Er rückte aus der nahen Wirklichkeit in unnahbare Ferne und Heiligkeit. Das Sündengefühl wurde chronisch, und der Versuch der Sühne drückt sich in der gesteigerten Strenge und dem Anwachsen des Gesetzes aus, wobei rituale und sittliche Gesetze, äußere und innere Reinheit ineinander übergehen 2 ). Der Legalis*) L i t e r a t u r zum J u d e n t u m : B e r t h o l e t , Kulturgesch. Israels; Meinh o l d s und S e l l i n s Einf. in d. Alte Test.; K i t t e l , Gesch. d. Volkes Israel; Kultur d. Gegenw.: Die christl. Religion einschl. d. israel. u. jüd.; B e r t h o l e t , Der Beitrag des A.T. zur allgemeinen Religionsgesch.; M. W e b e r , Ges. Aufs, zur Religionssoziol., Bd. III: Das Judentum; Volz, Das Dämonische in Jahwe; O t t o , Das Heilige; S p e n g l e r , Der Unterg. d. Abendl., Bd. II: Probleme d. arab. Kult.; Cassel, Lehrb. d. jüd. Gesch. u. Lit.; T a l m u d ; K a b b a l a ; P h i l o n ; J o s e p h u s ; Henne am Rhyn: Kult. Gesch. d. Judentums; B ä c k , Gesch. d. jüd. Volkes u. s. Lit.; B r a n n , Gesch. d. Juden u. ihrer Lit.; J e l i n e c k , Ausw. kabbalist. Mystik 1852. 2 ) Deuteronomion 622, Priesterkodex 450, Heiligkeitsgesetz 6. Jahrhundert, Talmud.

Die Entstehung des Katholizismus

113

mus ist jedoch eine ausgesprochene jüdische Erscheinung und in ihm erschöpft sich keineswegs die gesamt-israelitische Entwicklung. Vielmehr müssen neben ihm noch drei andere E n t w i c k l u n g s l i n i e n verfolgt werden, die für die spätere Entwicklung des Christentums ungleich wichtiger sind. Die eine führt von den Propheten über Hiob und Psalter zu Christus, die andere von der Apokalyptik und Eschatologie und dem starken orientalischen besonders persischen Einfluß auf das verstreute Judentum zu Gnosis, Mandaismus, Paulinismus, Logoslehre, Johannes, Mani, Kabbala usw., die dritte endlich ist bestimmt durch den Hellenismus: Prediger Salomo, Makkabäer, Philon, Einfluß antiker Philosophie usw. Das Eigentümliche in der Entwicklung von den Propheten zu Christus ist die Vollendung der G e s i n n u n g s r e l i g i o n und I n n e r l i c h k e i t im Gegensatz zur Gesetzesreligion und dem äußeren Kult und Ritus. O p f e r und G e s e t z erfahren einen tiefen B e d e u t u n g s w a n d e l . Das Sittengesetz wird aus seiner Verbindung mit dem Ritualgesetz gelöst und zum allein maßgebenden erhoben, r e i n und u n r e i n werden Gesinnungsbegrifle. Das Opfer {&va(a) wird ein Opfer der Gesinnung (%&QK;). Statt der Böcke und Schafe werden Reinheit des Herzens, Dankbarkeit und Frömmigkeit, Nächstenliebe, ein heiliges Leben in Enthaltsamkeit {¿yxo&reiu) und Lob und Preis in Gebet und Lied als Opfer aufgefaßt. B u ß e u n d R e u e treten an Stelle des Sühnopfers für Jahwe, den grimmen, zornigen, eifrigen, „gerechten" Gott, dessen christliche Auffassung als Gottvater eine eigentümliche Spannung und wunderbare Paradoxie in sich birgt. Das V e r h ä l t n i s zu G o t t wird ein in der ganzen Religionsgeschichte einzigartig persönliches und innerliches, besonders in den schönsten Stücken des Alten Testaments 1 ), bei Hosea und Jeremia, bei Hiob und im Psalter, bei Christus und später bei Augustin und der Mystik. Dies persönliche Verhältnis zu Gott ist das Eigentümlichste an dieser Religion, und der Sinn für den unendlichen Wert der Einzelseele ist ein Ausdruck des hohen Individualismus in unserem Kulturkreis überhaupt. Auch im N a t u r g e f ü h l drückt sich das aus: Im Psalter und im christlichen Naturgefühl, besonders bei Basilius, Bernhard und Franziskus, kommt gegenüber dem naiv-objektiven Naturgefühl das s e n t i m e n t a l i s c h - s u b j e k tive zum Durchbruch 2 ): Die Welt und ihre Schönheit wird nicht mehr an sich selbst oder in Bezug auf viele Gottheiten erlebt, sondern *) Die Schönheit d. Alt. Test, hat Herder entdeckt (vom Geist der hebräischen Poesie u. a.). a ) Vgl. A. v. H u m b o l d t , Kosmos, Kap. Naturgefühl. S e h a l l e r , Weltanschauung.

8

114

II. Die religiöse Welt

s y m p a t h e t i s c h in bezug auf den einen großen persönlichen Gott u n d Schöpfer u n d als Offenbarung seiner Macht u n d K r a f t u n d Herrlichkeit u n d Gnade; nicht von außen, sondern von innen her mit einer Einfühlung, die n u r das brüderliche Mitgefühl für alle mitgeschaffene K r e a t u r zu ermöglichen vermag. Diese feine S e n s i t i v i t ä t u n d Sympathie ist nicht zuletzt zurückzuführen auf das christliche Mitfühlen und Mitleiden, Mitfreuen u n d Mitweinen ü b e r h a u p t , auf die Liebe zu allem Geschaffenen in Gott. Die Liebe zu Gott und dem Nächsten im weitesten Sinne steht im denkbar größten Gegensatz z u m „Gesetz", zur „Gerechtigkeit" und „ P f l i c h t " , als die Ethik des freien Wollens u n d der G ü t e gegenüber der E t h i k des Müssens. Und diese neue, im Unterschied zum Judent u m stark jenseitig gerichtete Weltanschauung und das leuchtende Vorbild der lebendigen Persönlichkeit ihres Verkünders ist das eigentlich W e s e n t l i c h e d e s U r c h r i s t e n t u m s , alles andere findet sich anderswo auch 1 ). Das Urchristentum e r s c h ö p f t sich jedoch n i c h t im M o r a l i s m u s , denn sittliche Reinheit wird zwar als Opfer, Sühne und H e i l s b e d i n g u n g , aber nicht als Heil selbst oder Religionsersatz b e t r a c h t e t ; immer steht das Verhältnis zu Gott im Mittelpunkt, und dies eben ist der Kern aller Religion. Dabei wird Gott keineswegs so weit vermenschlicht, daß die Gottesfurcht über der Liebe etwa in den Hintergrund t r ä t e . Ein tiefes und ehrliches Gefühl von S c h u l d u n d S ü n d e 2 ) bleibt ebenso mächtig wie der Glaube und die Hoffnung auf Erlösung durch Gottes G n a d e um Christi willen. Und G o t t v a t e r behält trotz allem einige heilsame Züge des dämonischen Jahwe 3 ), der Abgrund zwischen Schöpfer und Geschöpf wird keineswegs beseitigt. Dazu war die Stimmung der Urzeit viel zu apokalyptisch, eschatologisch u n d numinos: Das „Evangelium vom Reich" t r o t z t aller „rationalistischen Erweichung", es ist die „Wundergröße schlechthin", das „Ganz andere", „Himmlische", „ u m d ä m m e r t und umwoben von allen echtesten Motiven religiöser Scheu". Die in das Mysterium der Endzeit gehören, nennen sich „die Heiligen", aber nicht im Sinne von sittlich Vollkommenen, sondern im Gegensatz zu den „ P r o f a n e n " . „Der Herr dieses Reiches ist der himmlische V a t e r " . „Dieser ,Vater' ist zuerst d e r h e i l i g - e r h a b e n e K ö n i g dieses Reiches, das dunkel-dräuend aus den *) Die christliche Religion (Kult. d. Gegenw.: J ü l i c h e r , Die Rel. Jesu n. d. Anfänge d. Christentums, S. 61/62. 2 ) O t t o , Aufs, das Numisose betr. 2. Heft: Sünde u. Urschuld. 3 ) V o l z , Das Dämonische in Jahwe; O t t o , Das Heilige.

115

Die Entstehung des Katholizismus

Tiefen des Himmels herannaht." „Christi" eigenste Entdeckung und Offenbarung war, daß eben dieser Heilige ein himmlischer „Vater" sei, „aber so, daß es dabei fühlbar das Wunder ohne Maß bleibt, daß ,Vater unser' sei, ,der im Himmel ist'." Daß dieses „geheimnisvoll Scheubare", dieses fremde Unnahbare im Himmel zugleich selber „heimsuchend-nahender Gnadenwille sei, dieser aufgelöste Kontrast erst macht die Harmonie echten christlichen Grundgefühls aus". Christi Worte lassen zuweilen noch etwas von dem seltsamen Grauen vor den Geheimnissen des Überweltlichen spüren, wie es am tiefsten im Buche Hiob lebt, so Mt. 10, 28: Fürchtet Euch aber vor dem, der Leib und Seele zu verderben vermag in die Hölle, und Mt. 21, 41: Er wird die Bösewichter übel umbringen 1 ). Ohne dies wären das starke Sündengefühl, die Vorstellung vom jüngsten Gericht, die apokalyptische Angst, Buße, Reue und Umkehr gar nicht zu verstehen, noch weniger der furchtbare Gedanke des Opfertodes Christi. Gerade durch die Eschatologie und Jenseitigkeit des Christentums wird Gott als Richter noch gefürchteter als im Judentum, das durchaus diesseitig gerichtet ist und vom Jenseits wenig spricht: Die Pharisäer glaubten, die Belohnung der Frommen bestehe in der Freiheit, ins Leben zurückkehren zu dürfen, der Prediger i6t voller Skepsis, und die Sadduzäer leugneten die Unsterblichkeit überhaupt! Diese jüdisch-christliche Weltanschauung und ihr Weltgefühl ist der Tiefenstrom, der sich in das Meer des Katholizismus ergießt. Fremdartiger mutet uns jene „ W o l k e n u m i n o s e r Ges t i m m t h e i t 1 ) " an, die sich nicht nur bei Paulus, sondern in allem findet, was zu jener Zeit a u s d e m j u n g e n O r i e n t , zumal aus Persien, Arabien, Syrien und Kleinasien kommt und durchaus nicht mit dem Geiste des a l t e n O r i e n t s zu verwechseln ist, der wie die Antike erdhaft, m o n u m e n t a l , massiv und plastisch war, während diese n e u e n Erscheinungen etwas m a g i s c h Flimmerndes, Unwirkliches, Visionäres, Fantastisches, Märchenhaftes haben. Alle diese Vorstellungen von Pneuma, Logos, Heiligem Geist, von Mächten des Lichts und der Finsternis, diese Visionen, Apokalypsen und Eschatologien, diese Lehren vom Parakleten, von den Emanationen Gottes, der „in einem Licht wohnt, da niemand zukommen kann", von der Erlösung durch Gnosis und Askese aus den Fesseln der Materie und der Finsternis sind innerlich verwandt miteinander. Man hat die Logoslehre nicht mit Unrecht mit dem *) Rudolf O t t o , Das Heilige: Das Numinose im Neuen Test. 8*

116

II. Die religiöse Welt

magisch-arabischen Substanzproblem zusammengebracht 1 ), der Logos u n d der heilige Geist haben tatsächlich etwas von einem Lichtstoff an sich, u n d das Heilige ist gleichsam eine feine Substanz, das wie eine numinose Wolke die Dinge umlagert. Man könnte oft an eine Ahnung des modernen elektromagnetischen Weltbildes denken, aber dies unterscheidet sich doch sehr von jenem magischalchymistischen, insofern es denkbar energetisch, dynamisch u n d intensiv ist, während jenes die Wirklichkeit auflöst wie in eine F a t a morgana, sie magisiert, mystifiziert u n d entwirklicht u n d n u r noch Bilder, lichte u n d dunkle Mächte, sieht. Aus dieser Atmosphäre ist die C h r i s t o l o g i e erwachsen, u n d von hier k a m die Mystifizierung u n d Magisierung des Christentums, die verhängnisvolle magische Auflösung der plastischen, historischen Erscheinung der Persönlichkeit Jesu in der Logoslehre u n d Christologie. Die Persönlichkeit des P a u l u s h a t bei aller Größe u n d bei allem funkelnden P a t h o s seiner Sprache etwas eigentümlich Übergeistigtes, Unstetes, Unheimliches, T r a u m h a f t e s . Mit ihm beginnt die Unterwühlung der Antike u n d die mittelalterliche Theologie. Seine Christologie h a t etwas fremdartig Orientalisches mit ihrer C h r i s t u s - u n d K r e u z e s m y s t i k , die in Christus nicht trotz, sondern wegen des Kreuzestodes den Messias sieht 2 ), mit ihren magischen Begriffen von Präexistenz, P n e u m a , Gemeinde der Heiligen als d e m Leibe Christi, mit ihrer M y s t i f i z i e r u n g u n d M a g i s i e r u n g der Taufe (1. Rom. 6, 1/6), des Abendmahles und Vergöttlichung Christi, der seitdem so s t a r k in den Vordergrund t r i t t , d a ß er Gott fast verdrängt u n d aus der Religion Christi größtenteils eine „Religion an i h n " , d. h . eine Anbetung seiner Person u n d seines Kreuzes wurde 3 ). Paulus ist der eigentliche Schöpfer des Sakramentes und damit der Begründer des Katholizismus, der j a ganz auf den Sakramenten ber u h t , so p a r a d o x dies klingt, da sich die evangelischen Kirchen u n d Sekten j a gerade auf Paulus berufen, oft mehr als auf das Evangelium. Dies eigentümlich Magische findet sich ebenso im JohannesEvangelium u n d in den übrigen Schriften des Johannes, im Mandaismus, Montanismus, Manichäertum, in den Mysterien, in Gnosis, Jamblichus u n d Kabbala 4 ). Man könnte meinen, C h r i s t u s selbst 1

) S p e n g l e r , Untergang des Abendlandes. 2. Bd.: Probleme d. arabischen Kultur. 2 ) J ü l i c h e r , Die Religion Jesu usw., S. 79ff. 3 ) Vgl. H e r d e r , Ideen z. Philos. d. Gesch. d. Menschheit, 17. Buch. 4 ) Lit.: K n o p f , Einf. i. d. N.Test.; B e h m , Die mandäische Rel. u. d. Christent. 1927; H e n n e c k e , Neutest. Apokryphen; K a u t z s c h , Alttest.

Die Entstehung des Katholizismus

117

sei aus dieser Atmosphäre herausgewachsen: seine eschatologische Lehre vom Reich, seine Taufe durch Johannes, den die Mandäer (Nasoräer) f ü r sich in Anspruch nehmen, das Beiwort ö Na'QwQaloc Matthäus 2, 23 u n d öfter im Neuen T e s t a m e n t könnten diesen Gedanken wohl rechtfertigen. Jedenfalls ist aber Christus u n d schon Johannes der Täufer darüber ebenso hinausgewachsen wie über das J u d e n t u m , dessen Versuchungen er in der Wüste überwand. Dies zeigt klar d i e I d e e d e r E r l ö s u n g : Erlösung im Sinne des J u d e n t u m s war das Reich des auserwählten Volkes, das durch seinen Messias von der Fremdherrschaft zur Weltherrschaft geführt werden wollte und durch Christi Auslegung in verzweifelte W u t geraten mußte, weil es sich in seiner letzten Hoffnung, a n die es sich in seinem politischen Elend klammerte, betrogen sah. „Erlösung i m mandäischen Sinne ist Erlösung der Seele aus den K e t t e n der Materie" durch Cnosis und Ascese, „Erlösung i m Sinne des Christentums ist Vergebung der Sünden" durch Gottes E r b a r m e n 1 ) . — Auch aus diesem Strome des magischen Orientalismus ist vieles in den Katholizismus übergegangen u n d wirksam geblieben. Der pneumatisch-spirituelle Orientalismus ist es jedoch nicht allein, der in der Spätantike hervortritt, sondern ebenso stark drängen jene h e l l e n i s t i s c h - s y n k r e t i s t i s c h e n Mysterien hervor, die freilich ganz anders geartet sind u n d vielmehr altorientalische und echt antike Züge tragen. Aus der Mythologie der Mutter Erde und der Vegetation u n d Fruchtbarkeit hervorgegangen, erscheinen sie i m Gegensatz zu jenem Spiritualismus denkbar plastisch, bildhaft und tellurisch, sei es n u n der Mythos und K u l t der Demeter, Persephone u n d des Dionysos u n d die orphischen u n d eleusinischen Mysterien oder Kybele u n d Attis, Astarte u n d Adonis, Ischtar u n d T a m u z , Isis u n d Osiris, Mithras oder Melkart 2 ). Alle diese N a t u r m y t h e n werden umgedeutet im Sinne der Mysterien, die, aus der F u r c h t vor d e m Tode und dem Wunsche nach A u f e r s t e h u n g u n d Erlösung geboren, Apokryphen u. Pseudoepigraphen; R e i t z e n s t e i n , Die hellenistischen Mysterienreligionen; Das iranische Erlösungsmysterium; Das mandäische Buch vom Herrn d. Größe; L i d z b a r s k i , Das Johannesbuch d. Mandäer; L e i s e g a n g , Die Gnosis; H o p f n e r , Über die Geheimlehren des Jamblichus. 1922. *) B e h m , Die mandäische Rel. u. d. Christentum, S. 32. 2 ) J. B u r c k h a r d t , Griech. Kulturgesch., 2. Bd.; B a c h o f e n , Der Mythos von Orient und Okzident; N i e t z s c h e , Die Geburt der Tragödie; R h o d e , Psyche; S a m t e r , Die Religion d. Griechen; D i e t e r i c h , Mutter Erde; „ O r p h e u s " , Altgriech. Mysteriengesänge, übertr. v. P l a ß m a n n ; B u r g e r , Antike Mysterien;

118

II. Die religiöse Welt

den Grundgedanken der Auferstehung des Gottes ergreifen und Mittel und Wege suchen, den Mysten teilnehmen zu lassen an dieser Gewißheit der Auferstehung durch das Essen des Gottes, durch Liebesvereinigung mit ihm, durch Gotteskindschaft oder Mitsterben und Auferstehen 1 ). Dieser Auferstehungsglaube in der Form der Auferstehungsgeschichte Christi als einer historischen Persönlichkeit war vielleicht das wichtigste Missionsmittel der Apostel und neben dem H e i l i g e n k u l t als Nachfolger des Polytheismus und dem K u l t des M ü t t e r l i c h e n in Form des Marienkultes das wichtigste Erbe des Heidentums im Katholizismus, das er treulich bewahrt hat, während der Protestantismus das Weibliche seines metaphysischen Urgrundes wieder beraubt hat. Nehmen wir zu alledem: J u d e n t u m , U r c h r i s t e n t u m , Orient a l i s m u s und H e l l e n i s m u s noch hinzu die V o l k s r e l i g i o n e n : die der antiken wie die der keltischen, romanischen, germanischen und slawischen Völker, sowie endlich die antike Philosophie (bes. seit Origines) und die Organisation und Disziplin des r ö m i s c h e n I m p e r i u m s , so haben wir die E l e m e n t e beisammen, in denen die k a t h o l i s c h e W e l t w u r z e l t , den Mutterboden, aus dem sie herausgewachsen ist. Es fragt sich nun, was der Katholizismus von diesem ungeh e u e r e n Erbe übernommen und was er abgelehnt, was wirksam geblieben und was abgestorben oder verwandelt worden ist, und noch wichtiger: w a s neu und e i g e n t ü m l i c h an diesem Katholizismus ist; denn schon in der Chemie sind die Eigenschaften der Produkte neuartig gegenüber denen ihrer Elemente, geschweige denn im organischen und seelischen Leben. Historische Ableitungen allein treffen nie das Wesentliche, dieses liegt vielmehr immer in den lebendigen Kräften, die mit dem Alten die neue Wirklichkeit schaffen und es zu einem neuen lebendigen Ganzen zusammenschweißen. Was die Tradition betrifft, so ist das Vorbild der jüdischen G e s e t z e s r e l i g i o n u n d H i e r a r c h i e sicher nicht ohne stetigen und nachdrücklichen Einfluß auf den katholischen Legalismus und die neue Hierarchie gewesen. Der T i e f e n s t r o m , der von den Propheten, Hiob, Psalter und Christentum herfließt, ist L e i p o l d t , Sterbende und auferstehende Götter; R e i t z e n s t e i n , A. a. O.; C u m o n t , Die Orient. Rel. im röm. Heidentum, die Mysterien d. Mithras; W e n d l a n d , Die hellenistisch-röm. Kultur; K n o p f , Einf. i. d. Neue Testament; B a c h o f e n , Mutterrecht und Urreligion. Vgl. D i e t e r i c h , Eine Mithrasliturgie, S. 92/179; B ü r g e r , Antike Mysterien.

Die Entstehung des Katholizismus

119

das Herzstück auch des Katholizismus geblieben. Aber auch d i e M y s t e r i e n haben ihre Wirkung auf Dogma und Sakrament, Hierarchie und Kult (bes. Marien- und Christuskult) ausgeübt. So hieß der Oberpriester des Attis und der Magna Mater in Rom papas, sein Haupt trug die Tiara, und die höchste Kultstätte, das Phrygianum, stand, wo heute die Peterskirche sich erhebt 1 ). Die V o l k s r e l i g i o n e n sind trotz der Dämonisierung ihrer wundervoll naiven, frischen und naturnahen Götterwelten bis zum heutigen Tage unter der christlichen Decke und Umdeutung im Verborgenen lebendig geblieben, wie alle Volksreligionen unter allen Kulturreligionen. Sie bilden den farbigen Untergrund und das ganze reiche Detail von Sitten und Bräuchen, Volksglaube und Aberglaube, Volksfesten und Volksspielen, freilich auch die unheimliche Quelle jenes Hexen- und Teufels-, Höllen- und Dämonenglaubens, der später wie ein fressendes Feuer ausbrach und ein Charakteristikum besonders des 16. Jahrhunderts bildet. Auch d e r m a g i s c h - p n e u m a t i s c h e O r i e n t a l i s m u s , der vor allem in der A p o k a l y p t i k u n d E s c h a t o l o g i e , in Paulus und Johannes, sein Einfallstor gefunden hatte, wirkte auf die Entwicklung von Dogma und Sakrament, wurde aber im Abendland mit der Zeit zurückgedrängt, besonders in den antignostischen Kämpfen. Die Eschatologie verlor mit der Zeit an Überzeugungskraft, und man mußte sich in dieser Welt auf längere Zeit einrichten. An Stelle der flimmernden Phantastik trat der Realismus der Kirche; die historische Gestalt Christi, die im Osten Gefahr lief aufgelöst zu werden, wurde im Abendland wieder plastisch, oft allzu plastisch vorgestellt. Die Überschwenglichkeit wurde vielfach von einer rührenden Profanierung abgelöst, Gnosis und Logoslehre von bildhaftem Heiligen- und Marienkult, Weltverachtung und Entwirklichung von Ehrfurcht und Liebe zur Schöpfung, Weltfremdheit von Weltklugheit und Weltherrschaft. An Stelle der Enthusiasten, Ekstatiker, Visionäre und transzendenten Schwärmer trat die K i r c h e als M u t t e r und M i t t l e r i n , Jenseits und Diesseits zu einem organisch-harmonischen Ganzen zusammenschließend. Aus den Katakomben nahm sie ihren Aufstieg ans Tageslicht, um die Erbschaft des römischen Imperiums und der antiken Kultur anzutreten und zu einem Koloß, zu einem Riesengebäude anzuwachsen, das an imponierender Macht und Größe nicht seinesgleichen hat. Wie aus einer brüderlichen Plebejersekte ' ) Vgl. B u r g e r , Antike Mysterien.

120

II. Die religiöse Welt

dies aristokratische Machtgebilde entstehen konnte, das war gewiß ein M e i s t e r s t ü c k , bei dem nach Meinung mancher Ketzer der Teufel selbst im Spiele sein mußte; denn die katholische Hierarchie ist eine einzigartige historische Erscheinung, nur sollte ihre Religion nicht gerade die christliche sein. Das Christentum ist nun einmal eine allbrüderliche Religion, der Priesterstand aber von jeher ein aristokratischer Stand gewesen. Dies ist die T r a g i k christlicher Priester, die andere Religionen in dem Maße nicht kennen. D o s t o j e w s k y hat sie in den Brüdern Karamasow sehr tief gesehen 1 ). Das Reich Christi war nicht von dieser Welt, aber das Christentum wurde Weltreligion, und die Kirche mußte mit dieser Welt rechnen und sich ihr anpassen. D i e c h r i s t l i c h e n I d e a l e w a r e n zu h o c h , sie waren etwas für die wenigen Auserwählten, nicht für die Völker; die Völker, vor allem die barbarischen, wollten das Wunder und das Mysterium, sie wollten die Anschaulichkeit im Bilde und den prächtigen Kultus, sie fühlten sich wohl unter dem Regiment der Kirche, die ihnen die Lasten und Qualen der Selbstverantwortung, der ständigen Gewissensnot und höchsten religiösen Spannung im unmittelbaren Gegenüberstehen Gottes abnahm durch ihre Versicherungen des Heils und der Vergebung der Sünden in ihrem Schöße. Die meisten empfanden die K i r c h e u n d i h r e o r d n e n d e K r a f t a l s eine W o h l t a t ; Beichte, Buße, Absolution als einen Segen; noch Goethe meint, die Beichte hätte dem Volke nie genommen werden sollen, und es läßt sich streiten, ob g u t e W e r k e u n d B u ß e n , richtige Kirchenbußen und materielle Opfer, dem Menschen nicht heilsamer sind als die Ideale reiner Gesinnungsreligion, die meist so hoch sind, daß sie entweder zu Unaufrichtigkeiten führen oder das wirkliche Leben unter sich wegfließen lassen. Und ebenso ist es mit dem Gottesbegriff: Ein rein geistiger, vorstellungsloser Gottesbegriff ist immer in Gefahr, völlig zu verblassen und sich dem Volke, das konkrete Vorstellungen haben will, zu entfremden. D i e M u t t e r G o t t e s und d i e H e i l i g e n konnte man sich bildlich vorstellen, zu ihnen konnte man ein volkstümliches Herzensverhältnis gewinnen und ihnen die großen und kleinen Sorgen des Alltags anvertrauen, sie bildeten als Fürsprecher eine willkommene Zwischeninstanz, denn man scheute sich mit Recht, immer gleich an Gott selbst heranzutreten. Vor allem die barbarischen Völker waren nur durch weitgehende A n p a s s u n g und ') Vgl. den Abschnitt: Der Großinquisitor.

Die Entstehung des Katholizismus

121

U m d e u t u n g zu gewinnen; es k a m dabei wohl oft zu rührender Verständnislosigkeit, Äußerlichkeit, Entstellung, zu barbarischem Gemisch und unchristlichstem Christentum, aber die I d e e d e r u n i v e r s a l e n K i r c h e setzte sich durch, und diese Idee war etwas Großartiges u n d weltanschaulich tiefer gegründet, als es alles weltliche Regiment je sein k a n n . Der geistliche Stand, als Träger der Bildung und K u l t u r der erste Stand, fühlte sich zur weltlichen Herrschaft ebenso berufen wie zur Herrschaft über die Gewissen, u n d die Kirche k a n n t e die Welt zu gut, u m nicht zu wissen, d a ß dies Ideal einer vollendeten Universaltheokratie, einer Allkirche als Corpus Christi u n d Allmittlerin u n d Yersöhnerin zwischen Gott u n d Welt nur mit den Mitteln dieser Welt selbst zu verwirklichen sei, durch eine vorbildliche Hierarchie u n d feste Ordnung u n d Verwaltung der Gnadenmittel wie der Besitztümer, durch breite und sichere Einrichtung in dieser Welt, durch M a c h t u n d B e s i t z , durch Klugheit u n d Weisheit, Güte u n d Strenge, Wohltätigkeit u n d Grausamkeit, durch Verfestigung u n d Verwirklichung des magischen Corpus Christi durch Ü b e r f ü h r u n g desselben in gleichsam einen anderen Aggregatzustand. D i e s i s t d i e a b e n d l ä n d i s c h e G e s t a l t d e s C h r i s t e n t u m s ! Dabei ging viel von der K r a f t u n d massiven Monumentalität des römischen Imperiums und später der ungebrochenen barbarischen K r a f t der nördlichen Völker in die Organisation über, wobei freilich das arme Christentum selbst oft k a u m wieder zu erkennen war. Aber wie heilsam einer Kirche weltliche Macht sein mag, das beweist die Geschichte: N u r eine wirkliche Macht vermag in die Dinge dieser Welt einzugreifen u n d wird von den Mächten dieser Welt ü b e r h a u p t ernst genommen. Nur eine mächtige religiöse Organisation vermöchte gegen die irreligiösen u n d dämonischen Mächte F r o n t zu machen u n d etwas auszurichten, wenn es schon einmal sein sollte. Und dazu gehört auch der Besitz, ohne den es weder Macht noch K u l t u r gibt, keine Möglichkeit der Arbeitsteilung, keine K u n s t , Wissenschaft u n d Verfeinerung. U n d in geistigen H ä n d e n ist der Besitz jedenfalls besser aufgehoben als in anderen. Natürlich ist es ein Unterschied, ob man diese Dinge aus der Perspektive eines Kardinales oder eines Laien betrachtet. Alle höhere K u l t u r b e r u h t auf Arbeitsteilung u n d der Möglichkeit, Werte aus dem wirtschaftlichen Leben herauszuziehen f ü r höhere Zwecke. Es k o m m t n u n darauf an, d a ß diese Werte in H ä n d e geraten, die etwas damit anzufangen wissen, u n d daß die höheren Zwecke auch wirklich hoch genug sind, u m eine Schröpfung des Volkskörpers zu rechtfertigen. Hier stehen sich prak-

122

II. Die religiöse Welt

tische und ästhetische, aktive und kontemplative, diesseitig-endlich und jenseitig-ewig gerichtete Weltanschauung gegenüber; die einen sehen in sich selbst oder in einer der menschlichen Gemeinschaften den letzten Zweck ihres Bemühens und Daseins, die anderen in der Bewunderung des Kosmos und in der Verherrlichung seines Schöpfers. Der soziale Mensch wird Brücken, Festungen, Wohnungen und Straßen bauen, der religiöse Tempel und Dome; der Praktische bewertet Natur und Kultur in bezug auf den Menschen oder das Volk usw., der Beschauliche bewertet sie an sich und in bezug auf das All und das Ewige. Dieser Gegensatz wird in der Idee der universalen Kirche überwunden durch V e r e i n h e i t l i c h u n g d e r W e l t a n s c h a u u n g , indem alles Dasein und alle Kultur Dasein und Kultur im Schöße Gottes und der Kirche und alles Wirken irgendwie ein Wirken in und mit und für Gott und die Kirche als dem Reiche Gottes auf Erden ist, so daß alles im Hinblick auf letzte ewige Ziele geschieht als ein Opfer im Dienste und zur höheren Ehre Gottes: Der G o t t e s s t a a t als Hüter des Rechts und der Ordnung in väterlicher Fürsorge, der Krieger als miles christianus und Kriegsknecht Gottes zur Erhaltung von Recht und Ordnung; Arbeit und Wirtschaft, Erziehung, Bildung und Caritas als Dienst am Nächsten nach Gottes Gebot, die Kunst als ein einziges Lobopfer, die Wissenschaft als Erforschung der Schöpfung in Ehrfurcht vor ihren Wundern und in Anbetung ihres Schöpfers: Das ist die Vereinheitlichung des Sinnes aller Kultur und alles Daseins. Dieser Gottesstaat trägt in seiner Konsequenz und politischen Aktivität typisch abendländischen Charakter. Im Mittelpunkt des Daseins steht das Metaphysische, und der Sinn der Geschichte ist Auseinandersetzung mit dem Metaphysischen und Wirken im Hinblick auf das Ewige. Kein Naturalismus, keine Wirtschaft um der Wirtschaft willen, kein l'art pour l'art und keine Wissenschaft als Selbstzweck, sondern alles ist an den ewigen Grund gekettet. Für den Philister liegt etwas Wahnsinniges in dem Gedanken, daß die Völker bei ihrer Armut ungeheuere Reichtümer in Tempeln und Domen verbauen, aber vielleicht sind diese steinernen Opfer der eigentliche Sinn des menschlichen Daseins und Bewußtseins. Alle tiefe Kunst ist wie alles tiefe Denken und Betrachten Auseinandersetzung mit dem Metaphysischen; es kommt eben darauf an, was man unter Kultur versteht: ob eine sittlich-soziale Haltung oder eine höhere, notwendig aristokratische Form geistigen und verfeinerten Lebens, das freilich nur möglich ist bei bestimmt differenzierten Verhältnissen und trotz allem Wert des Ästhetischen

Dogma und Sakrament

123

und der Verfeinerung an sich nur gerechtfertigt ist, wenn es nicht nur egoistisch luxuriös, sondern als höhere Möglichkeit der Auseinandersetzung mit dem Metaphysischen gemeint ist wie bei allen Priester-, Künstler- und Gelehrtenkasten, solange sie sich dieses Sinnes bewußt sind. Die mittelalterliche Kirche ist nicht nur die Mutter des Heiles, sondern auch die M u t t e r der e u r o p ä i s c h e n K u l t u r , nicht nur die Bewahrerin des antiken Erbes, sondern auch die wichtigste Grundlage des europäischen Einheitsgefühles. Sie hat nicht nur die antiken Religionen und Philosophien und die materiellen Lehngüter bewahrt und über den Sturm der Völkerwanderung hinübergerettet, sondern in sich selbst bildete sie eine neue Kultur aus, eine stets wachsende Tradition, deren Schätze wiederum wirksam werden mußten in der Literatur, Kunst und Kultur des Mittelalters und der Neuzeit1). Die vielen heterogenen Elemente, aus denen sie hervorgegangen, hat sie zu einem neuen und einzigartigen Ganzen amalgamiert, das so stark und weit in sich war, daß es auch die größten Gegensätze und Widersprüche in sich vereinigt tragen konnte. Die Engherzigkeit, mit der die Hierarchie zuweilen dennoch selbständige Denker und fromme Eiferer verfolgte, war meist überflüssig und schädlich. Die Reformation z. B. hätte nie zu einer Spaltung führen dürfen, denn sie lag ursprünglich gar nicht in ihrer Absicht und wurde wohl nicht zuletzt im Hinblick auf die Kirchengüter und die landesherrliche Gewalt betrieben. DOGMA UND SAKRAMENT Sobald das Christentum aus seiner Innerlichkeit heraustrat in die Welt, um sich als Kirche auszubreiten, mußte es seine freie Geistigkeit einbüßen und eine neue Hierarchie, ein neues Dogma und einen eigenen Kultus ausbilden, um den breiten Massen etwas Festes zu geben, da eine enthusiastische Bewegung nicht ewig zu dauern pflegt. Es ist nun, wie gesagt, von entscheidender Bedeutung für die Kirche geworden, daß ihr Gründer P a u l u s ein Pharisäer ') Zur Bekräftigung sei nur auf die geistigen und architektonischen Schöpfungen des Katholizismus hingewiesen, die hier wie in jeder Kultur die Hauptschöpfungen darstellen, obwohl Plastik und Musik, Wirtschaft und Finanz, Recht und Politik nicht weniger zu untersuchen wären. Für die Neuzeit wäre ein Vergleich mit den kulturellen Wirkungen des Protestantismus interessant. Die ganze Barockkunst z. B. ist wesentlich unprotestantisch und antipuritanisch.

124

II. Die religiöse Welt

war, in dem sich die ganze hierarchische, dogmatische und literarische Tradition des Judentums mit den ihm zweifellos aus der kleinasiatischen Heimat vertrauten Vorstellungen der Mysterienreligionen und ihren sterbenden und auferstehenden Göttern, ihren Jenseitshoffnungen und mystisch-symbolischen Riten verbanden. Auf ihn gehen wie gesagt die Christologie und die Anfänge des Trinitätdogmas zurück, die Mystifizierung und M a g i s i e r u n g der Taufe und des Abendmahles, die Prädestinationslehre und die pneumatische Corpus-Christi-Lehre als Voraussetzung des orthodoxen Kirchenbegriffs, auf ihn aber auch die Organisation der Gemeinden mit ihren Vorstehern als Vorläufern der späteren Hierarchie, also im Grunde alles das, was zu dem Christentum Christi hinzugekommen ist. Diese Magisierung aber hat anderseits viel zu dem Erfolg der christlichen Mission bei den barbarischen Völkern beigetragen, die selbst noch stark magischen Religionen anhingen und denen heilige Handlungen, Priester und feste Dogmen als Versicherungen des Heils und der göttlichen Hilfe einleuchtender waren als eine rein geistige Innerlichkeit. Das Centraidogma wird sehr bald d a s D o g m a v o n d e r T r i n i t ä t , auf dem nicht nur alle anderen Dogmen und die Sakramente, sondern überhaupt der Offenbarungscharakter und Absolutheitsanspruch des Christentums beruhen, insofern die Lehre Christi und aller inspirierten Kirchenlehrer und Autoritäten unmittelbare göttliche Wahrheit und Offenbarung sein müssen, wenn Christus und der heilige Geist wesenseins mit Gott selbst sind. Das Dogma von der Trinität hat sich aus der Militärischen und sehr bald auch trinitarischen apostolischen Bekenntnisformel entwickelt, die schon von den palästinensischen Gemeinden her zu der heidenchristlichen gekommen war. Das Dogma von der Trinität, das wie die ganze Christologie1) seinen Ursprung bezeichnenderweise im Osten hat und im Grunde ein magisches Substanzproblem ist 2 ), das mit der Logostheologie zusammenhängt, hat unsäglich viel geistige Not über die Christenheit gebracht. Der Islam mit seiner Formel von Allah und seinem Propheten ist jedenfalls weit glücklicher gewesen und machte seiner Mission damit weniger Schwierigkeiten als das Christentum. 1 ) H a r n a c k , Grundriß der Dogmengeschichte, weist darauf hin, daß es in den ältesten Quellen immer nur heißt: Christo quasi deo, di filius ac Dens, Dominus ac Deus, aber nie o &cös. 2 ) S p e n g l e r , Probleme der arabischen Kultur (U. d. Abdl.).

Dogma and Sakrament

125

Es ist f ü r einen strengen Monotheisten nicht leicht, diesen Dingen ganz gerecht zu werden, obwohl m a n b e h a u p t e t , d a ß gerade der Arianismus den Monotheismus in Gefahr gebracht habe, insofern er die Wesenverschiedenheit Christi vom "Vater gelehrt habe, der ihn erschaffen u n d u m seiner Verdienste willen als Sohn angenommen habe. Das Nicaenum h a t t e sich gegen eine starke Minderheit f ü r Athanasius u n d die Einwesentlichkeit Christi mit dem Vater erklärt. Auch das Konzil zu Ephesus behandelte 431 das Verhältnis von göttlicher u n d menschlicher N a t u r in Christus. Das Chalcedonense endlich b e k a n n t e 451 die eine Person in zwei N a t u r e n ohne Vermischung oder Verwandlung, aber auch ohne Trennung. — Diese kräftige Apotheose Christi h a t nun mindestens den Vorzug, jenes leidselig sentimentale Christusbild zu verdrängen, das mit der wirklichen historischen Gestalt so wenig übereinstimmt. Das Bestreben, ihn zu vergöttlichen u n d im Glänze der göttlichen Allmacht u n d Herrlichkeit erstrahlen zu lassen als xvqioq und ßaüilevq mit der Krone auf dem H a u p t e , selbst a m K r e u z : das ist doch wenigstens etwas, u n d die entsprechenden Darstellungen, besonders die russischen und frühmittelalterlichen, unterscheiden sich gründlich von den gotischen, grünewaldschen oder gar modernen. — Der heilige Geist endlich, ursprünglich eine A r t göttlichen Gnadenstrahles u n d Segensstromes u n d noch bei Paulus als nvevfia eine wirkende E m a n a t i o n Gottes u n d Christi, erhält bei J o h a n n e s bereits personale Züge u n d wird im Konstantinopolitanum 381 in seiner Einwesentlichkeit mit Vater u n d Sohn dogmatisiert, womit die Trinität endgültig erreicht ist 1 ). U m das christliche Dogma recht zu verstehen, m u ß m a n sich beständig vor Augen halten, d a ß diese Religion eine Heils- u n d Erlösungsreligion ist, die aus dem f u r c h t b a r e n S ü n d e n e r l e b n i s des J u d e n t u m s herausgewachsen ist, das andere Religionen nicht in diesem Maße kennen. Dies ist bei Bestimmung ihres Ranges nicht zu übersehen: Es gibt Religiosität, die sich ganz auf Sündengefühl u n d Heilsbedürfnis a u f b a u t , es gibt aber auch Religiosität, die, ohne an das eigene Ich zu denken, nichts weiter sein will alK u l t , als einfache Verehrung, Dankbarkeit u n d Verbundenheis mit dem Urwesen. Alle Dogmen u n d Sakramente des Christent t u m s dagegen sind letzten Endes H e i l s - u n d R e c h t f e r t i g u n g s m i t t e l , mit deren Hilfe die verlorenen Gewissen aus der Erbsünde F u n k - B i h l m e y e r , Kirchengesch. Paderborn 1927, I. Bd.; H a r n a c k , Grundriß d. Dogmengesch.; K. M ü l l e r , Kirchengesch.

126

II. Die religiöse Welt

zur Seligkeit u n d Vergebung der Sünden gelangen wollen. Darauf ist der ganze Katholizismus a u f g e b a u t : J e mehr Heilsmittel, desto unentbehrlicher ist die Kirche u n d der Priesterstand, der allein durch die Ordination berechtigt u n d befähigt ist, diese Heilsmittel zu verwalten. Zwar ist durch C h r i s t i O p f e r t o d die Sünde getilgt, aber das genügt nicht, sondern ist eigentlich nur Voraussetzung f ü r jeden Rechtfertigungsversuch ü b e r h a u p t . Auch O p f e r u n d G e s e t z e s t r e u e , L i e b e zu G o t t u n d d e m N ä c h s t e n und G l a u b e a n d i e G n a d e G o t t e s u m C h r i s t i w i l l e n genügen allein n i c h t : Vielmehr ist die Z u g e h ö r i g k e i t z u r K i r c h e als dem geistigen Leibe Christi unerläßliche Heilsbedingung, u n d diese Zugehörigkeit erwirbt man durch die Taufe und behält m a n n u r durch D e m u t u n d Gehorsam gegenüber ihren Oberen u n d ihren Geboten (Bann, Inquisition!). Die Gnade Gottes allein vermag den Menschen nicht zu erlösen, er m u ß selbst an diesem Werke m i t w i r k e n , nicht allein durch den Glauben, sondern auch durch gute Werke u n d Teilnahme an den Sakramenten. D i e g u t e n W e r k e umfassen aber bald nicht mehr nur die Werke der Nächstenliebe, sondern allerlei R i t u a l u n d K i r c b e n b u ß e n . Auf dem Dogma von der Mitwirkung beruht ferner die ganze Welt der A s c e s e u n d des M ö n c h t u m s , alle Nachkommenschaft des O p f e r gedankens (Ablaß) und nicht zuletzt das ganze H e i l i g e n w e s e n , das letzten Endes ein unerschöpfliches Reservoir überschüssiger guter Werke darstellt, dessen man sich zu seinem eigenen Heile bedienen k a n n , indem man die Heiligen a n r u f t , auf Grund ihrer Verdienste bei Gott selbst Fürsprache für den Bittenden einzulegen. Man sieht, wie das alles logisch zusammenhängt, u n d m a n versteht, w a r u m sich die Kirche immer geweigert h a t , die Forderung der Mitwirkung aufzugeben u n d den Christen etwa allein durch den Glauben u n d die Gnade Gottes selig werden zu lassen, denn mit ihren Heilsmitteln, insbesondere den Sakramenten, steht u n d fällt die katholische Kirche und ihr Priesterstand. D i e T a u f e war als altes Symbol sakraler Reinigung u n d als heilige Waschung schon im Orient u n d als Mysterium (Begräbnis u n d Auferstehung) mit magischen Wirkungen in manchen antiken Mysterien z. B. denen des Attis (taurobolium) gebräuchlich. Sie wird im Christentum zum ersten u n d wichtigsten Sakrament, dessen n u n m e h r sündentilgende Wirkung jedoch nicht mehr n u r von der Teilnahme sondern von der Buße und dem Glauben abhängig ist. Seit Paulus mystifiziert, indem man in ihr nicht mehr n u r die Abwaschung des alten sündigen Adam, sondern einen

Dogma und Sakrament

127

mystischen Akt sah, durch den man mit Christus sterbe und wieder auferstehe in magischer Vereinigung mit dem Corpus Christi im paulinischen Sinne1), wird sie seit dem 3. Jahrhundert auch auf Kinder ausgedehnt, ein deutliches Zeichen ihrer Magisierung. Augustin begründet ihre Notwendigkeit durch Verbindung mit der Lehre von der Erbsünde. Sie ist hinfort das wichtigste Gnadenmittel, und es sollte idealerweise keines weiteren bedürfen, denn mit dieser radikalen Sündenreinigung und Aufnahme in die Gemeinde der Heiligen ist der Idealzustand erreicht, und neue Gnadenmittel werden leider nur notwendig durch neue Sünden und Rückfälle. Viele Freunde des Christentums haben sich darum erst kurz vor ihrem Tode taufen lassen 2 ). Schon hieraus sieht man das Eigentümliche des paulinisierten Christentums: Im Mittelpunkt steht Christus als Gott und Erlöser von der Sünde, der Täufling nimmt teil an seinem Tode und an seiner Auferstehung. Die Erlösung ist eine göttliche Gnade, die durch den Opfertod Christi gleichsam auf den Menschen herabrieselt, aber nur gewonnen werden kann durch Reue, Buße, heiliges Leben und den Glauben, d. h. durch rechte Empfänglichkeit und innige Hingabe und Hinnahme. Auch das A b e n d m a h l , ursprünglich wohl ein Gedächtnisund Liebesmahl (äyanai), wird seit Paulus (Ignatius) und endgültig seit Cyprian mystifiziert. Durch die heilige Speise glaubt man göttlichen Lebens in Christus und der Vergebung der Sünden durch Gottes Gnade in Christi Leib und Blut als des für unsere Sünden vergossenen Opfers teilhaftig zu werden. Dies Sakrament gilt also als wunderbare Gabe Gottes und zugleich als eine Vergegenwärtigung (repraesentatio) der Opferung Christi am Kreuz für die Rechtfertigung der sündigen Menschheit. Der Einfluß der Mysterien mit ihren heiligen Mahlzeiten ist hierbei ebenso sichtbar wie der der Gnosis und Logoslehre; die heilige Speise ist