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German Pages [368] Year 2002
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka Hans-Peter Ullmann, Hans-Ulrich Wehler
Band 154 Moritz Föllmer Die Verteidigung der bürgerlichen Nation
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35168-1
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35168-1
Die Verteidigung der bürgerlichen Nation Industrielle und hohe Beamte in Deutschland und Frankreich 1900-1930
von
Moritz Föllmer
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35168-1
2002. 27907
Umschlagabbildung: Besuch von Kaiser Wilhelm IL auf dem Schießplatz bei Meppen am 27. Oktober 1896, anlässlich der Vorführung von Marinegeschützen. Neben Wilhelm IL sind u.a. Friedrich Alfred Krupp, Admiral Hollmann, Prinz Heinrich von Preußen und Kriegsminister Generalleutnant Goßler abgebildet. © Historisches Archiv Krupp, Essen 2002.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnähme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich. ISBN 3-525-35168-2 Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft © 2002, Vandenhoeck& Ruprecht, Göttingen. - Printed in Gcrmany. http://www.vandenhoeck-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlag: Jürgen Kochinke, Holle. Satz: Text & Form, Garbsen. Druck und Bindung: Guide-Druck GmbH, Tübingen. Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier.
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Inhalt
Vorwort
9
Einleitung.....
11
Kapitel I Selbstdeutungen und die Konstruktion der Nation zwischen Jahrhundertwende und Weltkrieg
25
A. Aufstiegsbewusstsein und Machtanspruch. Deutungen der Nation im Wilhelminischen Deutschland
26
1. Erfolgsgeschichten, Interessenpolitik und die Grenzen der Nation 2. Großstädtisches Selbstbewusstsein, regionale Identitäten und Bürgerlichkeit B. Ordnungen im Konflikt. Deutungen der Nation im Frankreich der »Republique radicale« 1. Konservative Staatskritik und republikanischer Unitarismus 2. Gegenentwürfe zum Zentralstaat: Ökonomischer Regionalismus, lokale Erinnerung und katholische Identität
27 50 65 66 80
C. Nation, Bürgerlichkeit und Staat vor 1914 im Vergleich
92
Kapitel II Nationen im Krieg
97
A. Der Schein des Sieges. Deutungen der Kriegsnation in Deutschland
98
1. Kampf um Anerkennung: Selbstaufwcrtung, Kriegserfahrungen und Interessenverfolgung 2. Die Kriegsnation als bürgerliche Ordnung
99 129 5
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Β. Die deutsche Herausforderung. Deutungen der Kriegsnation in Frankreich
151
1. Konservative Reformvorstellungen, Exklusivität und Konsensstiftung 2. Bürgerlichkeit, lokale Identitäten und Besatzungserfahrungen
151 173
C. Konstruktion und Verwirklichung der Kriegsnation im Vergleich
190
Kapitel III Nachkriegserfahrungen und die Konstruktion der Nation
195
A. Identitäten in der Defensive: Deutungen der Nation im Deutschland der zwanziger Jahre
196
1. Die nachholende Kampferfahrung: Die Nachkriegszeit als nationale Krise 2. Die erfahrene Niederlage: Ruhrbesetzung und internationale Politik
197 214
B. Selbstbewahrung und Erfolg: Deutungen der Nation im Frankreich der zwanziger Jahre 229 1. Die ausgebliebene Krise: Sieg, Wiederaufbau und antirevolutionäre Abwehr 229 2. Der lange Schatten: Kriegserinnerung und Deutschlandpolitik.... 240 C. Bürgerliche Nationsentwürfe in der Nachkriegszeit im Vergleich
250
Kapitel IV Diskurse der Nation nach 1918
253
A. Antworten auf die Krise: Der Durchbruch des »Volkes« in Deutschland
254
1. Die fragile »Volksgemeinschaft«: Der Diskurs der nationalen Einheit 2. Ethnizität und Integration: Die umstrittenen Grenzen der Nation 6 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35168-1
254 266
Β. Kontinuität und Reform: Einheit und Integration in Frankreich 1. Die »union nationale«: Staatliche Konsensstiftung, Antiparlamentarismus und Regionalismus 2. Bedingte Offenheit: Immigration, Einbürgerung und die Definition der Nation
277 277 289
C. Einheit und Grenzen der Nation in Deutschland und Frankreich nach 1918
297
Schlussbetrachtung
301
Abkürzungen
322
Quellen- und Literaturverzeichnis
324
Register
360
7 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35168-1
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Vorwort Dieses Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 2000 von der Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin angenommen worden ist; Dekan war Prof. Wolfgang Kaschuba. Für ihre Unterstützung möchte ich verschiedenen Institutionen und Personen herzlich danken. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat die Entstehung des Buches mit einer Stelle als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Rahmen des Schwerpunktprogramms »Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit«, großzügigen Reisemitteln und einem Druckkostenzuschuss ermöglicht. Prof Wolfgang Hardtwig hat die Dissertation betreut und durch intellektuelle Impulse, Liberalität und einen erheblichen Vertrauensvorschuß vorangetrieben. Prof Hartmut Kaelble und Prof Clemens A. Wurm übernahmen die Zweit- und Drittgutachten, denen ich wichtige Anregungen für die Überarbeitung entnommen habe. Letzteres gilt auch für die Gutachten der Herausgeber der »Kritischen Studien«. Prof Heinz-Gerhard Haupt hat die Arbeit an verschiedenen Punkten hilfsbereit und kritisch begleitet. Frühe Anstöße zur Beschäftigung mit der Dritten Republik bzw. der Bürgertumsforschung verdanke ich Prof Rudolf von Thadden und Prof. Bernd Weisbrod. Meine Archivrecherchen in der französischen Provinz wurden durch den freundlichen Empfang am Centre Pierre Leon in Lyon und bei Prof Annette Becker, Prof Gerard Gayot und Prof JeanPierre Hirsch in Lille wesentlich erleichtert. Von den Mitarbeitern der benutzten Archive und Bibliotheken möchte ich Michel Vangheluwe (Archives Departementales du Nord, Lille) und den stets gutgelaunten Herrn Prudlow (Geheimes Staatsarchiv Berlin-Dahlem) erwähnen. Die Treffen des Arbeitskreises Geschichte und Theorie waren willkommene, intellektuell stimulierende Auszeiten vom empirischen Einzelkampf Habbo Knoch, Marc Schalenberg, Klaus-Peter Sick, Jenny Thauer, Jens Thiel, Jakob Vogel und Siegfried Weichlein lasen und kommentierten Teile der Arbeit. Widmen möchte ich das Buch meinen Eltern Malena und Hans Föllmer, die Studium und Promotion großzügig und vertrauensvoll unterstützt haben. Berlin, im April 2002
Moritz Föllmer
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Einleitung Als das 20. Jahrhundert begann, hatte sich die Nation seit längerem als politische Ideologie, kulturelles Deutungsmuster und institutioneller Ordnungsrahmen etabliert. Sie wurde von Staaten, Parteien, Verbänden und Vereinen propagiert und vermittelt, die dabei auf ein zwar anpassungsfähiges, aber bereits eingeübtes und verfestigtes Repertoire an Narrativen und Mythen, Symbolen und Ritualen zurückgreifen konnten. Nationale Kategorien waren bestimmend für die öffentliche Deutung und Wertschätzung zahlreicher gesellschaftlicher Teilbereiche. Neben Wissenschaft, Kunst oder Sozialpolitik gehörten dazu auch Staat und Industrie. Nationalstaat und Nationalökonomie waren Leitideen, die im 19. Jahrhundert auf breiter Front durchgesetzt und institutionalisiert worden waren.1 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war dieser Prozess zwar noch nicht abgeschlossen, hatte aber die europäische Landkarte bereits grundlegend verändert.2 Gleichzeitig standen die Erfolgsmodelle Nationalstaat und Nationalökonomie im Zentrum fundamentaler politischer Konflikte: der verschärften Konkurrenz zwischen Nationen im Zeitalter des Imperialismus und der Herausforderung durch die revolutionäre Arbeiterbewegung. Beides erhielt in den folgenden Jahrzehnten eine neue Qualität. Im Ersten Weltkrieg wurden nicht nur Armeen, sondern ganze Gesellschaften mobilisiert.3 Die Fähigkeit von Industrie und Verwaltung, die Produktion von Rüstungs- und Konsumgütern zu organisieren und die Akzeptanz der Staats- und Wirtschaftsordnung durch die Bevölkerung zu erhalten, war von entscheidender Bedeutung für den militärischen Erfolg. Aus diesem Grund wurden die westeuropäischen Industrieregionen in besonderem Maße zur Zielscheibe für den jeweiligen Gegner. In Form von Okkupationen waren sie in die gewaltsame Konfrontation der Kriegs- und Nachkriegsjahre involviert und standen auch danach im Zentrum einer spannungsreichen internationalen Konstellation. Für die innergesellschaftliche Entwicklung der am Konflikt beteiligten Länder hatte die veränderte Rolle von Staat und Industrie ebenfalls tiefgreifende Konsequenzen. Die Organisations- und Legitimationsprobleme, die der Krieg mit sich brachte, forderten Kritik und Protest breiter Bevölkerungsschichten heraus. Die gesellschaftliche Akzeptanz der europäischen 1 Zur Institutionalisierung von Leitideen vgl. allg. Lepsius, Institutionenanalysc. 2 Vgl. Schulze, S. 209-278; Ltobera, S. 106-122; Breuilly; TίΙΙγ (Hg.). 3 Vgl. u.a. Audoin-Rouzeau/J.-J. Becker (Hg.)\ Honte (Hg.).
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Nationalstaaten und Nationalökonomien war fragil geworden, und seit 1917 stellte die Revolution eine reale Bedrohung dar. Industrielle und hohe Beamte waren mit diesen Veränderungen in vielfältiger Weise konfrontiert. Der Aufstieg von Nationalstaat und Nationalökonomie hatte ihnen große symbolische und materielle Gewinne eingetragen, die auch nach der Jahrhundertwende ihren Erwartungshorizont bestimmten. Gleichzeitig standen sie in einem engen, wenngleich nicht konfliktfreien Verhältnis zur bürgerlichen Gesellschaft und Kultur. Kriegserfahrung, Besatzungsherrschaft, sozialer Protest und revolutionäre Herausforderung setzten die industriellen und administrativen Eliten einem starken äußeren Druck aus. Status und gesellschaftliche Anerkennung, Wertvorstellungen und Leitbilder erschienen nun bedroht und daher rechtfertigungs- und verteidigungsbedürftig. Wie sich diese neue Situation auf ihre Deutung der Nation auswirkte und wie umgekehrt das Leitbild der Nation zur Bewältigung ungewohnter Erfahrungen diente, ist die Leitfrage der vorliegenden Untersuchung. Sie liegt damit an der Schnittstelle der Themenfelder Nationalismus, Bürgertum und Kriegskultur, die alle in den letzten fünfzehn Jahren Gegenstand produktiver Forschungen gewesen sind. Außerdem steht sie im Kontext einer intensiven Diskussion über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Deutschland und seinem westlichen Nachbarn. Der intellektuelle Ausgangspunkt der neueren Nationalismusforschung ist die Einsicht, dass die Nation keine fixe Entität, sondern das Resultat einer Konstruktionsleistung ist. Nationen sind »imagined communities« oder »gedachte Ordnungen«, die auf erfundenen Traditionen basieren.4 Mit dieser theoretischen Neuorientierung, die sich inzwischen weitgehend durchgesetzt hat, waren wichtige forschungsstrategische Konsequenzen verbunden. Seit längerem hat sich der Schwerpunkt der einschlägigen Arbeiten von der Geistesgeschichte und der Organisations- und Politikgeschichte nationalistischer Verbände auf die Formen verlagert, in denen der Glaube an die Nation erzeugt und stabilisiert wird. 5 Besonders nationale Erzählungen, Denkmäler und Feste sind in zahlreichen Studien untersucht worden, die häufig auf das Instrumentarium der kulturanthropologischen Mythen-, Symbol- und Ritualforschung zurückgegriffen haben.6 Dieser methodische Zugriff hat sich, ergänzt durch diskurshistorische Ansätze, als hinreichend flexibel erwiesen, um die thematische Bandbreite der Nationalismusforschung erheblich zu erweitern. Das war deshalb nötig, weil die konstruktivistische Interpretation für sich genommen nicht erklären kann, 4 Anderson., Lepsius, Nation; Hobsbawm/Ranger (Hg.). 5 Einen sehr guten Forschungsüberblick bis 1995 gibt Langeiviesche, Nation. 6 Im Kontext dieser Arbeit sind besonders wichtig: Hardtwig, Nationsbildung; ders., Nationalismus; Alings; Tacke, Denkmal; dies., Symbole; Koselleck/Jeismann (Hg.); Fransois u.a. (Hg.); Vogel, Nationen.
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was die Nation von anderen, ebenfalls imaginierten Gemeinschaften unterscheidet, warum sie derart erfolgreich ist und welche Konsequenzen sich aus ihrer Attraktivität ergeben.7 Eine überzeugende Antwort auf dieses Problem liegt darin, die entscheidende Erfolgsbedingung des Nationalismus in seiner Kompatibilität mit anderen Identitäten zu sehen.8 Ausgehend von dieser Einsicht sind in den letzten Jahren neue Forschungsfelder erschlossen worden. So haben verschiedene Studien herausgearbeitet, wie eng im 19. und 20. Jahrhundert Nation und Geschlecht aufeinander bezogen waren.9 Ähnliches gilt für die kulturelle Konstruktion des Körpers, für die die Einbettung in nationale Deutungen zentral war.10 Konfessionelle Identitäten profitierten von der sinnstiftenden Kraft der Nation und verstärkten umgekehrt ihre Dynamik und Sprengkraft.11 Lokale und regionale Narrative waren in der Regel mit nationalen Metaerzählungen vereinbar und sicherten deren gesellschaftliche Verbreitung und Akzeptanz.12 Fasst man diese Befunde zusammen, war es die nahezu universelle Anpassungsfähigkeit der Nation, die ihren Siegeszug ermöglichte. Dem fortgeschrittenen und differenzierten Diskussionsstand stehen allerdings einige empirische Ungleichgewichtigkeiten gegenüber. So ist die Forschung zu Frankreich weniger weit gediehen als zu Deutschland,13 obwohl die eindrucksvolle Rekonstruktion der nationalen Erinnerung im Gemeinschaftswerk der lieux de memoire, die Geschichte der Immigration sowie die Arbeiten zur Kriegskultur14 zu wichtigen Erkenntnissen geführt haben und durch einige neuere Studien zur Konstruktion von Identitäten ergänzt werden.15 Schwerwiegender ist jedoch ein anderes Defizit, nämlich die relative Vernachlässigung des Ersten Weltkriegs und der Zwischenkriegszeit. Zwar liegen auch hier Studien vor, aber bislang ist der privilegierte Untersuchungszeitraum für die Nationalismusforschung, an dessen Behandlung sich Fragestellungen und Methoden orientiert haben, das »lange« 19. Jahrhundert gewesen. Erst seit kurzem wird der Nationalismus zunehmend in das Zentrum der Geschichte des 20. Jahrhunderts gerückt.16 Das lässt sich nicht zuletzt daran ersehen, dass seine Radikalisierung in der Weimarer Republik von verschiedenen Seiten als wich7 Diese Kritik findet sich z.B. bei Weichlein, Nationalismus, S. 189-196, und aus ethnologischer Perspektive bei Kohl, S. 284f. 8 Vgl. Langewiesche, Nation, S. 214—219; Haupt/Tacke; Geuten. 9 Vgl. u.a. Freuen, Nation; Havemantt; Schmidt 10 Vgl. Kaschuba, Nation; Goltermamt; Föltmer, »Volkskörper«. 11 Vgl. für das Kaiserreich H.W. Smith. 12 Vgl. Applegate, Nation; Cotifino, Heimat; ders., Nation; Hardtwig, Nation-Region-Stadt; Tacke, Denkmal. 13 Vgl. die kritische Einschätzung von Haupt, Nationalismus, S. 41 f. 14 Vgl. Nora (Hg.);NoirielJ.-J. Becker/Audoin-Rouzeau;Audom-Rouzeau/A. Becker, Violence. 15 Vgl. Sahlins; Ford; Lebovics; Chattet; Tliicsse, verschiedene Beiträge in: Tombs (Flg.) sowie die in Anm. 41 aufgeführten komparativen Arbeiten zu Deutschland und Frankreich. 16 Vgl. Diner,S. 179-234; Haupt, 20. Jahrhundert.
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tigste Ursache für den Nationalsozialismus hervorgehoben und nicht wie in früheren Interpretationen aus sozioökonomischen Faktoren abgeleitet wird. 17 Darauf kann im folgenden aufgebaut werden; in jedem Fall besteht aber noch ein großes Defizit an kulturhistorischen Detailforschungen, zu dessen Behebung dieses Buch beitragen will. Die Werte, Normen und Praktiken, die für die bürgerliche Kultur konstitutiv waren, sind seit den achtziger Jahren in zahlreichen Arbeiten untersucht worden. Ausgangspunkt dafür war die Einsicht, dass sich »Bürgertum« am besten als kulturelle statt als sozioökonomische Kategorie verstehen lässt.18 Auf dieser konzeptionellen Grundlage hat die Forschung Geschlechteridentitäten ebenso behandelt wie Hygienevorstellungen und den Konnex von bürgerlicher und nationaler Ordnung herausgearbeitet.19 Das Jahrhundert des Bürgertums hat mittlerweile klarere Konturen gewonnen. Weniger gut bekannt ist sein Ende, denn ähnlich wie in der Nationalismusforschung ist die Zäsur von 1914 nur selten überschritten worden. 20 Mit unterschiedlichen Akzenten wird gemeinhin angenommen, dass das deutsche Bürgertum seit der Jahrhundertwende von kulturellen Krisen- und Erosionserscheinungen gekennzeichnet gewesen sei, die sich in Krieg, Revolution und Inflation noch einmal verschärft hätten.21 Daran anknüpfend wird die Attraktivität des Nationalismus häufig aus bürgerlichen Unsicherheits- und Bedrohungsgefühlen erklärt.22 So einleuchtend diese Auffassung auf den ersten Blick ist, sind damit doch einige Probleme verbunden. Zunächst einmal erscheint es zweifelhaft, ob die oft zitierten Äußerungen von Theodor Mommsen, Thomas Mann oder Ernst Jünger wirklich als repräsentativ für die Selbstwahrnehmung des Bürgertums angesehen werden können. Genauere Untersuchungen der Erfahrungen und Deutungen seiner verschiedenen Teile im Ersten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit liegen kaum vor.23 Politikhistorisch orientierte Arbeiten zur Weimarer Republik sprechen 17 Vgl. Fritzsche, Germans; Matthiesen, Massenbewegung; Wehler, Radikalnationalismus, sowie die intensive Forschung zur Partizipation der deutschen Humanwissenschaftler am Nationalsozialismus (vgl. hier nur Raphael, Ordnungsdenken); für die sozioökonomische Interpretation der Radikalisierung des Nationalismus vgl. grundlegend Lepsius, Nationalismus. 18 Vgl. bes. Kocka, Bürgertum, S. 42-48; ders., Muster, S. 17-22; Bausinger, Kaschuba, Bürgerlichkeit; Hettling, Kultur. 19 Vgl. u.a. Frevert, Geschlechter-Identitäten; Frey; Hardtwig, Nationalismus; Tacke, Denkmal. 20 Vgl. Franz; Huerkamp; Tenfelde, Stadt; zur frühen Bundesrepublik Siegrist. Dieses Desiderat betont auch der Abschlussbericht des Bielefelder Sonderforschungsbereichs: Einfiihmng, S. 34-39. 21 Vgl. H. Mommsen, Auflösung; Hettting, S. 233-251; dersJHoffmann, S. 352-359; C a l l S. 603; Weisbrod, Crisis. Dagegen vertritt Tenfelde, Stadt, aus sozialhistorischer Perspektive die These einer Kontinuität des Bürgertums im 20. Jahrhundert; ähnlich für das Wirtschaftsbürgertum Ziegler, S. 136f. 22 So etwa Hardtwig, Bürgertum, S. 218; für den Radikalnationalismus Chukering, We Men, S. 122-130;ders., Nationalismus, S. 68f. 23 Vgl. aber Franz, die am Beispiel der neuen Berufsgruppe der Betriebswirte die These vertritt, dass die Attraktivität bürgerlicher Leitbilder nach 1918 nachgelassen habe.
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eher für die Verfestigung bürgerlicher Milieus durch den gewaltsam ausgetragenen Gegensatz zur Arbeiterschaft als für eine Schwächung ihrer Wertvorstellungen und Praktiken.24 An diesen empirischen Vorbehalt schließen sich zwei weitere Bedenken an: Zum einen hat die ursprüngliche Engfuhrung von Liberalismus und Bürgerlichkeit zwar inzwischen unter dem Einfluss englischer und amerikanischer Kritiker an Bedeutung verloren.25 Ein solches normatives Verständnis ist aber noch immer präsent und konzeptionell hinderlich, gerade wenn es um die Frage nach Krisen und Transformationen der bürgerlichen Kultur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und damit letztlich auch um ihre Beziehung zum Nationalsozialismus geht.26 Zum anderen werden interpretatorisch zentrale Begriffe wie »Krise« oder »Auflösung« häufig nicht hinreichend präzise verwendet. Das hat eine Vermischung von Problemkomplexen zur Folge, die heuristisch zu trennen wären. So ist es keineswegs ausgemacht, dass die tiefgreifende Herausforderung bürgerlicher Wertvorstellungen und Leitbilder durch die linksradikale Arbeiterschaft nach 1918 zu ihrer Erosion und bewussten Aufgabe führte; a priori könnte genausogut das Gegenteil, nämlich Verfestigung und Verteidigung, der Fall gewesen sein. Gleiches gilt für die Inflation, die zwar dem bürgerlichen Lebensstil in vielen Fällen die materielle Basis entzog, aber unter Umständen gerade deshalb zu seiner ideellen Überhöhung beitrug.27 In jedem Fall erscheint es nötig, der Bedeutung von Bürgerlichkeit im Ersten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit weiter nachzugehen und großangelegte Krisenhypothesen etwa anhand von Hygienevorstellungen, Stereotypen der Arbeiterschaft oder dem Leitbild der individuellen Arbeit empirisch zu überprüfen. Darin liegt eine Ergänzung nicht nur der deutschen, sondern auch der französischen Forschung, die die Veränderungen und Kontinuitäten der bürgerlichen Kultur nach 1914 ebenfalls noch zu wenig untersucht hat.28 Eine Erweiterung der vorhandenen Arbeiten zu Nationalismus und Bürgertum um die Analyse ihrer Wandlungsprozesse in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kann an die expandierende erfahrungs- und kulturgeschichtliche Weltkriegsforschung anknüpfen. Diese hat sich bereits in zahlrei24 Vgl. Bieben Koshar, S. 126-166; Fritzsche, Rehearsals, bes. S. 75-92; Matthiesen, Radikalisierungen ; ders., Bürgertum; Schumann; Heilbronner spricht zwar von einer Auflösung des bürgerlichen Vereinslebens, datiert sie aber erst auf die Zeit der Weltwirtschaftskrise. 25 Zur Kritik an der normativen Überhöhung von Bürgerlichkeit vgl. u.a. Blackbourn/Eiey; Eley, Geschichte, S. 33—40; Sperber, Bürger,S. 295f., aber auch die treffende Bemerkung von Jürgen Kocka, dass »gerade an dieser Stelle die idealtypische Beschreibung besonders leicht in ideologische Rechtfertigung« übergehe (Kocka, Bürgertum, S. 44; ders., Muster, S. 18). 26 Diese Kritik richtet sich v.a. gegen H. Mommsert, Auflösung; Hettling, S. 233-251; Weisbrod, Crisis. 27 Vgl. dagegen Kocka, Bürgertum, S. 45, der die Auffassung vertritt, dass die Inflation ein maßgeblicher Faktor der Zerstörung der bürgerlichen Kultur gewesen sei. 28 Vgl. den sozialhistorisch orientierten Überblick von Daumard, S. 265-297.
15 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35168-1
chen Einzelstudien und ersten Syntheseversuchen niedergeschlagen. 29 Durch die genaue Untersuchung geschlechter-, schichten- und regionenspezifischer Wahrnehmungen und Deutungen an der Front wie in der Heimat ist die lange dominierende Annahme einer allgemeinen Kriegsbegeisterung und nationalen Geschlossenheit überzeugend revidiert worden. 30 Dieser Befund hat sich auf die Nationalismusforschung bereits produktiv ausgewirkt, denn die Demontage des »Augusterlebnisses« legt es nahe, die emotionale Wirkung nationaler Symbole und Rituale skeptischer einzuschätzen und ihre Rezeption und Aneignung genauer zu untersuchen als zuvor.31 Darüber hinaus ist die Bedeutung des Nationalismus für die Kriegskultur jedoch noch klärungsbedürftig. Während einige deutsche Arbeiten dazu tendieren, die Breitenwirkung und Handlungsrelevanz nationaler Ideen zu relativieren,32 gelangt die französische Forschung zu entgegengesetzten Ergebnissen.33 Es muss vorerst offen bleiben, ob diese Differenz einen realen Unterschied widerspiegelt oder bloß aus der Kritik konträrer, in Deutschland nationalistischer und in Frankreich pazifistischer Kriegsmythen der Zwischenkriegszeit resultiert. U m die früher übliche Verallgemeinerung bildungsbürgerlicher Äußerungen zu korrigieren, hat sich die neuere Weltkriegsforschung zunächst auf die Erfahrungen und Deutungen von Arbeitern und Bauern konzentriert. 34 In letzter Zeit hat sie aber auch Eliten - etwa Industrielle oder Professoren - behandelt, ohne explizit den Bezug zur Kulturgeschichte des Bürgertums herzustellen.35 Die vorliegende Arbeit kann davon ebenso profitieren wie von einer tiefgreifenden Wende in der Gesamtinterpretation des Krieges: War seine kulturelle Umbruchs- und Modernisierungswirkung bis vor kurzem unumstritten, wird neuerdings die Auffassung vertreten, dass er im Gegenteil zur Verfestigung und Revitalisierung älterer Deutungsmuster und Praktiken geführt habe.36 Diese These bedarf der weiteren Überprüfung und Erprobung; die Fra29 Vgl. u.a Hirschfeld u.a. (Hg.), »Keiner...«;ders. u.a. (Hg.), Kriegserfahrungen; Ulrich/Ziemann; J . - J . Becker u.a. (Hg.); Audoin-Rouzeau/A. Becker, Violence; dies., Guerre; Winter. 30 Vgl. u.a. Krumeich, L'entree; Kruse, Kriegsbegeisterung; Raithel; Verhey, sowie die Lokal- und Regionalstudien von Geinitz; ders./Hinz; Stöcker; Ziemann, Front, S. 39-54. 31 Haupt/Tacke, S. 259, 262f., 267f.; Haupt, 20. Jahrhundert, S. 46f, sowie als Beispiele für einen differenzierten Umgang mit der Wirkungsproblcmatik Tacke, Denkmal, S. 134,197,292, die die These vertritt, dass Personen weniger aus ideellen Motiven als aufgrund ihrer Eingebundenheit in ein persönliches und soziales Bezichungsnetz einem Denkmalsverein beitraten bzw. für ein Denkmal Geld spendeten; Vogel, Legitimation; ders., »En revenant de la revue«. Demgegenüber zeigen verschiedene Beiträge in: Francvis u.a. (Hg.) die Tendenz, den Erfolg nationaler Inszenierungen eher zu unterstellen als plausibel zu belegen. 32 Vgl. als Zusammenfassung der detaillierteren Arbeiten der Autoren Ulrich/Ziemann, sowie verschiedene Beiträge in: Hirschfeld u.a. (Hg.), Kriegserfahrungen. 33 Vgl. Audoin-Rouzeau/A. Becker, Violence. 34 Vgl. z.B. Kruse, Kriegsbegeisterung; Ziemann, Augusterlebnis; ders., Front. 35 Vgl. Hopbach;Berghoff, Patriotismus; Paletschek. 36 So die Grundthese von Winter; vgl. auch Audoin-Rouzeau/A. Becker, Violence, S. 256; Reimann, S. 145.
16 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35168-1
ge nach der bürgerlichen Prägung der nationalen Ordnungen in Krieg und Nachkriegszeit ist eines der Felder, die sich dafür besonders anbieten. Mit dem Verhältnis von Nationalismus, Bürgertum und Staat in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts berührt die vorliegende Untersuchung mehrere der Themen, die für die Debatte um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Deutschland und dem »Westen« zentral sind. Dass sich das Kaiserreich durch einen besonders virulenten Nationalismus, ein Defizit an Bürgerlichkeit und einen habitusprägenden Obrigkeitsstaat auszeichnete und dass darin das entscheidende Hindernis für eine erfolgreiche Demokratiegründung nach 1918 lag, gehörte bis in die achtziger Jahre zum argumentativen Kern der These eines deutschen Sonderwegs in die Moderne.37 Nachdem diese Auffassung einer ebenso rigorosen wie wirkungsvollen Kritik unterzogen worden ist,38 sind modifizierte Varianten der Sonderwegsthese entwickelt worden, deren Schwerpunkt sich mit unterschiedlichen Akzenten von der deutschen Gesellschaft insgesamt auf den Zusammenhang von Herrschaftssystem und politischer Mentalität verlagert hat. Betont wird nun nicht mehr ein generelles Defizit an Bürgerlichkeit, sondern die Unterordnung des Bürgertums unter den Staat und der besonders problematische Charakter des Nationalismus im Kaiserreich.39 Die modifizierten Varianten der Sonderwegsthese stehen in einem spannungsvollen, noch nicht abschließend geklärten Verhältnis zu den in den neunziger Jahren erschienenen komparativen Studien. Einige dieser Arbeiten laufen insofern auf eine Bestätigung hinaus, als sie im Vergleich zu Frankreich oder zur Schweiz die Besonderheiten der politischen Kultur des Kaiserreichs hervorheben. Danach erwiesen sich das Defizit an parlamentarischen und demokratischen Traditionen bzw die relative Schwäche des liberalen Bürgertums als schwerwiegende Vorbelastungen für die Weimarer Republik.40 Andere Autoren betonen dagegen anhand von Feindbildern, Denkmälern, Gedenkfeiern oder militärischen Festen, dass der Nationalismus in Deutschland und Frankreich durch eine gemeinsame Logik gekennzeichnet gewesen sei, die gegenüber den jeweiligen Besonderheiten überwogen habe.41 Beide Interpretationen werden im folgenden - wenn auch aus einer notwendig begrenzten Perspektive verschiedentlich konfrontiert und gegeneinander abgewogen. Der Vorzug des Untersuchungszeitraums ist dabei, dass sowohl nach deutsch-französischen 37 Vgl. statt vieler Hinweise Wehler, Kaiserreich; Kocka, Ursachen. 38 Blackboum/Eley; zur Debatte der achtziger Jahre vgl. Grebittg. 39 Vgl. Wehler, Wie »bürgerlich«...; ders., Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 1284-1295; Kocka, Deutsche Geschichte; ders., Muster, S.50-55;ders., Bürgertum und Sonderweg, S. 105ff.; Hardtwig, Bürgertum. 40 Vgl. Raithel; Kittet u.a; Kaelbte, Nachbarn, S. 59-86; Hettling. 41 Vgl.Jesimann; Tacke, Denkmal; Maas, sowie eine Reihe weiterer Beiträge in: Tranqois u.a. (Hg.); Vogel, Nationen; vgl. auch Winter, S. 227, der die gemeineuropäischen Züge der Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs hervorhebt.
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Ähnlichkeiten und Differenzen vor 1914 als auch nach deren jeweiligen Folgewirkungen im Ersten Weltkrieg und in den zwanziger Jahren gefragt werden kann. Das Wechselverhältnis zwischen dem Leitbild der Nation auf der einen und den Selbstbildern, Wertvorstellungen, Erfahrungen und Interessen zweier sozialer Gruppen auf der anderen Seite steht im Zentrum dieses Buches. Die Deutung und Adaptation nationaler Ideen wird als aktiver Prozess verstanden, der sich in einem bestimmten kulturellen und sozialen Kontext vollzog.42 Auf diese Weise kann herausgearbeitet werden, wie die Nation jeweils konstruiert wurde, mit welchen Identitäten sie sich verband und worauf ihre Attraktivität beruhte. Ein besonderer Akzent liegt - neben der konventionelleren Rekonstruktion politischer Ideen - auf Erzählungen, Visionen, Stereotypen und Sprachen, während die in der Forschung der letzten Jahre vielfach behandelten Mythen, Symbole und Rituale nur am Rande vorkommen. 43 Erfahrungsgeschichtliche Aspekte werden ebenfalls behandelt, allerdings nur insoweit, als sie für die Frage nach der Deutung der Nation wichtig sind. Dieser Vorgehensweise liegt die Annahme zugrunde, dass Diskurse und Erfahrungen in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis stehen: Einerseits sind Erfahrungen nie deutungsfrei; sie haben zwar einen realen, nicht auf Sprache reduzierbaren Kern, sind aber immer auch diskursiv präformiert.44 Andererseits ist der Erfolg von Diskursen meist nicht aus ihrer inneren Struktur ableitbar, sondern muss unter Einbeziehung von Erfahrungen erklärt werden, die ihnen erst Plausibilität verleihen.45 Das Leitbild der Nation musste allerdings mehr leisten, als den eigenen Erfahrungen einen übergeordneten Sinn zu verleihen. Einer Vielzahl gesellschaftlicher Gruppen diente es als Legitimationsinstanz nach außen, auf die man sich berief, um Ansprüche gegenüber Staat und Öffentlichkeit zu vertreten. Die Interessen, die sich damit verbanden, werden verschiedentlich rekonstruiert und in die Analyse einbezogen. Die etwas in Vergessenheit geratenen funktionalen Aspekte des Nationalismus 46 lassen sich auf diese Weise als eine 42 Die Begriffe »Deutung« und »Adaptation« entsprechen in vieler Hinsicht dem Konzept der Aneignung, das jedoch zur Vermeidung von Missverständnissen nur dort verwendet wird, wo es wie im Falle der »Volksgemeinschaft« in der frühen Weimarer Republik - um die Durchsetzung neuer Begriffe und Leitbilder geht; vgl. Chartier, Kulturgeschichte, S. 20f.; aus alltagsgeschichtlicher Perspektive zuletzt Lüdtke; Sarasin, S. 137ff.,betont zu Recht, dass der Aneignungsbegriff kein rational bestimmtes, strategisches Handeln implizieren sollte. 43 Die vorliegende Untersuchung folgt damit in Teilen der Anregung, diskursanalytische Ansätze für die Nationalismusforschung fruchtbar zu machen; vgl. etwa Chickering, Nationalismus, S. 64;Jelavich, S. 287f., sowie als Umsetzung Hagemann. 44 Vgl. Scott. 45 Vgl. z.B. Sewell. 46 Vgl. Winkler, Nationalismus und seine Funktionen; auf einer funktionalistischen Nationalismusinterpretation basiert auch die Gesamtdarstellung von Hobsbawm, Nationen.
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von mehreren Dimensionen berücksichtigen, ohne dass darin ein Rückfall in die Ideologiekritik der sechziger und siebziger Jahre liegen würde.47 Denn national begründete Forderungen von Gruppen oder Individuen zielten nicht nur auf materielle Gewinne, sondern auch auf Anerkennung durch Öffentlichkeit und Staat. Zudem gingen sie mit Appellen an die patriotische Opferbereitschaft und Solidarität ebenso einher wie mit Klagen über deren mangelnde Resonanz. Durch die Einbeziehung von Interessen lassen sich also die Grenzen und Misserfolge der Nation herausarbeiten, die in der vorliegenden Untersuchung durchgängig thematisiert werden. Industrielle und hohe Beamte sind aus mehreren Gründen geeignete und lohnende Forschungsobjekte. Die Konzentration auf einen Ausschnitt der Gesellschaft ermöglicht es, die Deutung und Adaptation der Nation differenziert und detailgenau zu analysieren. Nur so können verschiedene, in der Regel isoliert betrachtete Aspekte nationaler Ideen und Diskurse erfasst und zueinander in Beziehung gesetzt werden. Beispielsweise ist für die Kriegsjahre zu untersuchen, inwieweit dem Engagement deutscher Spitzenbürokraten gegen Fremdwörter und Kontrazeptiva oder in der Verwaltung der besetzten osteuropäischen Gebiete gemeinsame Motive und Probleme zugrundelagen. In methodischer Hinsicht bietet sich die Untersuchung von Industriellen besonders dazu an, nach dem Verhältnis von patriotischen Einstellungen und individuellen wie kollektiven Interessen zu fragen;48 am Beispiel der hohen Beamten lassen sich die staatlichen Bemühungen zur Durchsetzung nationaler Verhaltensnormen in der Bevölkerung ebenso rekonstruieren wie deren Grenzen und Misserfolge. Für die Auswahl von Industriellen und hohen Beamten spricht auch der Untersuchungszeitraum dieser Arbeit, denn die Kriegs- und Nachkriegsjahre rückten Staat und Industrie in das Zentrum eines gewaltsamen nationalen Konflikts. Die ökonomischen und administrativen Eliten waren davon direkt betroffen, so dass sich an ihrem Beispiel die bislang vernachlässigte deutungs- und erfahrungsgeschichtliche Seite dieser Konfrontation nachzeichnen lässt. Das Interesse an Kontinuität und Wandel der bürgerlichen Kultur im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts macht Industrielle und hohe Beamte ebenfalls zu interessanten Untersuchungsgegenständen. Da die Existenz einer sozialen Formation »Bürgertum« für diesen Zeitraum weniger denn je vorausgesetzt werden kann, ist es sinnvoll, stattdessen von bestimmten sozialen Gruppen auszugehen und dann nach der Rolle bürgerlicher Deutungsmuster und Wertvorstellungen zu fragen.49 Die Entscheidung für einen Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich begründet sich in erster Linie aus der Tatsache, dass beide Nationen seit 47 Vgl. für eine gelungene Integration von Interessen in eine diskurshistorische Studie Goldstein. 48 Dazu sehr aufschlussreich: Berghoff, Patriotismus. 49 Vgl. in dieser Perspektive bereits Franz.
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den Revolutionskriegen in besonderem Maße aufeinander bezogen waren.50 Im Ersten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit spitzte sich diese Wechselbeziehung zu einer gewaltsamen Konfrontation zu, die jeweils auf das eigene Territorium übergriff. Dass erst Deutschland Nord- und Ostfrankreich, dann Frankreich das Saarland und große Teile des rheinisch-westfälischen Industriegebiets besetzten, stellt eine wichtige gemeinsame Grundproblematik dar. Neben den Gemeinsamkeiten gab es auch eine Reihe gravierender Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich, deren Folgen für die Konstruktion der Nation durch Industrielle und hohe Beamte interessant sind. Welche Auswirkungen hatte etwa der republikanische Zentralstaat einerseits und die föderale und kommunale Prägung des Kaiserreichs andererseits? Wie äußerten sich die Differenzen in Tempo und Charakter der Industrialisierung der jeweilige Ausgang des Krieges oder das unterschiedliche Ausmaß der revolutionären Bedrohung nach 1918? Die Tatsache, dass im zentralistischen Frankreich nur Angehörige der staatlichen Bürokratie, in Deutschland dagegen kommunale, einzelstaatliche und Reichsbeamte zu den hohen Beamten zählten, wird von vornherein in die Analyse einbezogen und auf ihre Konsequenzen hin untersucht. Mit dem konzeptionellen Zugriff über die Deutungen und Erfahrungen bestimmter sozialer Gruppen ist keine Vorentscheidung zugunsten von Gemeinsamkeiten oder Unterschieden verbunden.51 Es geht vielmehr darum, Ähnlichkeiten wie Differenzen präzise zu erfassen und zu erklären. Der binationale Vergleich bezieht mit den Okkupationen Nordfrankreichs und des rheinisch-westfälischen Industriegebiets beziehungsgeschichtliche Aspekte ein. Wahrnehmungen des Gegners werden untersucht, sofern sie, wie im Falle der französischen Industriellen und ihres Deutschlandsbilds, für die Konstruktion der eigenen nationalen Identität wichtig waren. Dennoch spielt die in letzter Zeit häufig und mit guten Argumenten geforderte Verbindung von komparativer Geschichte und Transfergeschichte für die Erkenntnisinteressen der vorliegenden Arbeit nur eine geringe Rolle.52 Im Vordergrund steht nämlich die Frage, wie vergleichbare soziale Gruppen unter unterschiedlichen Bedingungen auf ähnliche Problemlagen reagierten. Wie im folgenden gezeigt wird, hatte die Deutung und Adaptation der Nation primär eine Selbstbestätigungsfunktion, für die bestimmte äußere Gegner oft nur eine akzidentelle Rolle spielten. Dass die deutschen Eliten während des Krieges russisch-polni50 Vgl. dazu insgesamtJeismann. 51 Zu diesem Spannungsverhältnis vgl. Kaelble, Vergleich, S. 25-35; Haupt/Kocka, S. 9ff. 52 Vergleich und Transfer standen sich zunächst als zwei separate und z.T. explizit voneinander abgegrenzte Ansätze und Forschungsfelder der Geschichtswissenschaft gegenüber (für entsprechende Äußerungen vgl. von Seiten der Transferforschung Espagne\ für die> historische Komparatistik Haupt/Kocka, S. 10). In den letzten Jahren mehren sich aber die Stimmen, die eine produktive Verbindung beider Richtungen fordern (vgl, u.a. für die Transferforschung Paulmann und Middetll; für die historische Komparatistik den Tagungsbericht von Geppert/Mai; Kaelble, Vergleich, S. 19ff., der allerdings daran festhält, Vergleich und Transfer methodisch zu trennen).
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sehe Arbeiter ebenso durch das Prisma bürgerlicher Unterschichtenstereotypen wahrnahmen wie die französischen Eliten Arbeitskräfte aus den Kolonien, ist zum Beispiel ein komparativer Befund, der für die Argumentation dieser Studie wichtig ist; um ihn herauszuarbeiten, ist es nötig, alle Fremdwahrnehmungen einzubeziehen und nicht die deutsch-französischen von vornherein zu privilegieren.53 Die Untersuchung setzt in den Jahren um 1900 ein, die in beiden Ländern eine politische, gesellschaftliche und kulturelle Zäsur darstellten. In Frankreich hatte die »République radicale« infolge der Dreyfusaffäre weitreichende Auswirkungen auf die Beziehung zwischen laizistischem Staat und einem vielfach katholisch geprägten Wirtschaftsbürgertum und damit auch auf das Nationsverständnis von Industriellen und hohen Beamten. In Deutschland stellten das rapide Wachstum von kommunaler Bürokratie, nationalistischen Organisationen und Interessenverbänden nur einige, im Kontext dieser Arbeit besonders wichtige Aspekte eines tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbruchs dar.54 Dass der Untersuchungszeitraum um 1930 endet, begründet sich aus der beginnenden Weltwirtschaftskrise sowie aus politischen Einschnitten: den Anfängen der Präsidialkabinette und des nationalsozialistischen Aufstiegs in Deutschland und dem Ende der »Union nationale« und der aufkommenden Krise der dreißiger Jahre in Frankreich.55 Dennoch wird zum Schluss auch auf die Frage eingegangen, in welcher Beziehung die Nationsentwürfe von Industriellen und hohen Beamten zum Nationalsozialismus bzw. zum französischen Rechtsextremismus der dreißiger Jahre und zum Vichy-Regime standen. Die Vorgehensweise der Arbeit basiert auf der Einsicht, dass sich Industrielle und hohe Beamte auf unterschiedlichen Ebenen bewegten. Ihre Ideen und Diskurse werden einmal auf einer übergeordneten, nationalen Ebene untersucht. Dazu bieten sich die verschiedenen Interessenverbände, aber auch Äußerungen einzelner an, wobei die Vielfalt politischer Orientierungen und sozioökonomischer Interessen innerhalb der untersuchten Gruppen zumindest ansatzweise berücksichtigt werden soll. Zum anderen agierten Industrielle und hohe Beamte in einem gesellschaftlichen Umfeld, in dem sie ihre Deutungen der Nation formulierten und durchzusetzen versuchten. Neben der nationalen wird deshalb eine lokale und regionale Ebene in den Blick genommen, die über verstreute Fallbeispiele, vor allem aber durch die exemplarische Behandlung je zweier Städte bzw. Regionen erschlossen wird. Das geschieht nicht in Form eigener Lokalstudien, sondern wird in unterschiedlicher Ausführlichkeit in die Darstellung der einzelnen Problemkomplexe integriert. Ziel 53 Vgl. Kaelble, Vergleich, S. 21, der betont, dass die Entscheidung für oder gegen eine Berücksichtigung von Transferaspekten von der Fragestellung des Vergleichs abhängig gemacht werden sollte. 54 Vgl. allg. Birnbaum (Hg.);Nolte, 1900. 55 Vgl. mit dieser Periodisierung J-J. Becker/Berstein; Borne/Dubief.
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ist es, die übergeordnete Ebene durch eine Perspektive »von unten« zu ergänzen.56 Ausgewählt wurden Düsseldorf und Württemberg, Lyon und das nordfranzösische Industrierevier Lille-Roubaix-Tourcoing. Dadurch soll im Hinblick auf Wirtschaftsstruktur und handelspolitische Interessenlage, politische Kultur und den Charakter von Kriegs- und Nachkriegserfahrung ein ausgewogenes Gesamtbild erzielt werden, das allerdings auf Industriestädte und -regionen beschränkt bleibt, die gleichzeitig Verwaltungsmetropolen waren. In Württemberg und Lyon waren die Unternehmer exportorientiert, Freihandelsanhänger und - mit unterschiedlicher Schattierung - politisch liberal. Die Industriellen in Düsseldorf und Lille-Roubaix-Tourcoing traten dagegen für eine protektionistische Handels- und konservative Innenpolitik ein und hatten zudem die Erfahrung einer Besatzungsherrschaft im Krieg bzw. in der Nachkriegszeit gemeinsam. Über diese Ähnlichkeiten hinaus wurden die Fallbeispiele bewusst so ausgewählt, dass sie bestimmte deutsch-französische Differenzen widerspiegeln. Das gilt insbesondere für die unterschiedlichen Industrialisierungswege: In Frankreich behielten Vertreter traditioneller Wirtschaftszweige wie die nordfranzösischen Textilindustriellen und die Lyoner Seidenfabrikanten großes ökonomisches und gesellschaftliches Gewicht. Ihre Identitäten waren vom Katholizismus und von lokalen Erinnerungssträngen geprägt, deren Ursprünge bis in die Frühe Neuzeit zurückreichten. In Deutschland spielten dagegen Industrielle moderner Branchen eine größere Rolle. Da sie - wie die Düsseldorfer Eisenindustriellen - erst in der Reichsgründungszeit zugewandert oder - wie die württembergischen Leichtindustriellen - aus kleingewerblichen Anfängen hervorgegangen waren, hatten sie zu den älteren städtischen oder regionalen Traditionen ein eher indifferentes Verhältnis. Im Kontext der vorliegenden Arbeit ist interessant, wie sich diese Differenzen auf die jeweilige Beziehung des Wirtschaftsbürgertums zu Staat und Nation auswirkten. U m die vielfältigen Aspekte der nationalen Deutungen von Industriellen und hohen Beamten erfassen zu können, kombiniert die Arbeit unterschiedliche Quellentypen. Die Ideen und Diskurse von Industriellen schlugen sich in Reden und Einzelschriften ebenso nieder wie in den Organen von Verbänden, Handelskammern und Unternehmen. Bereits hier treten neben Selbstbestätigungs- und Erfolgsrhetorik auch Spannungen und Enttäuschungen zutage, die häufig mit dem Appell an patriotische Opferbereitschaft und Solidarität verbunden waren. Das gilt erst recht für den Schriftverkehr von Unterneh56 Die Untersuchung nationaler Vorstellungen aus lokaler und regionaler Perspektive ist besonders eindringlich von Dieter Langewicsche gefordert worden, vgl. z.B. ders., Liberalismus und Region, S. 4; grundlegend für die Relativierung der nationalstaatszentricrten Sicht der deutschen Geschichte: Sheehan. Beispiele für die gelungene Integration von Untersuchungen auf lokaler und regionaler Ebene in binationale Vergleiche sind Tacke, Denkmal und Vogel, Nationen.
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mern mit Handelskammern oder staatlichen Instanzen, der selektiv herangezogen und mit den publizistischen Quellen kontrastiert wird. Die Durchsicht und konstruktivistische Lektüre von Verwaltungsakten, etwa zu Einbürgerungen, zur Polenpolitik oder zur Bevölkerungsstimmung im Ersten Weltkrieg und während der Ruhrbesetzung erlaubt es herauszuarbeiten, wie die hohen Beamten die Nation definierten und ihre Vorstellungen durchzusetzen versuchten. Auf diese Weise lassen sich auch hier Konflikte und Misserfolge rekonstruieren, über die die veröffentlichten Quellen schweigen. Um dem Verhältnis von nationalen Diskursen und individuellen Selbstdeutungen nachzugehen, werden einzelne Unternehmensfestschriften, Autobiographien, Tagebücher und Briefe herangezogen. Schließlich geben Stadtgeschichten, Gemeinderatsprotokolle und Vereinsschrifttum wichtige Einblicke in die lokalen und regionalen Identitäten der ökonomischen und administrativen Eliten. Ziel dieser Vorgehensweise ist es, das Leitbild der Nation umfassend zu kontextualisieren und sich auf diesem Wege seiner Deutung und Adaptation zu nähern.
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Kapitel I Selbstdeutungen und die Konstruktion der Nation zwischen Jahrhundertwende und Weltkrieg Erzählungen und Traditionsstiftungen spielen für die Selbstdeutungen von Individuen und Kollektiven eine zentrale Rolle.1 Das galt in besonderem Maße für die europäischen Gesellschaften in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg, in deren Sinngebung nationale Narrative eine Schlüsselstellung einnahmen.2 Die verschiedensten Gruppen eigneten sich eine umgedeutete Geschichte der eigenen Nation an, situierten ihre Identitäten, Leitbilder und Interessen in diesem Rahmen und verliehen ihnen dadurch eine übergeordnete Legitimation. Darin lag eine große integrative Kraft, aber gleichzeitig auch ein erhebliches Potential für Spannungen und Konflikte. Das wurde seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zunehmend deutlich, als sowohl nationalistische Organisationen als auch neue Interessenverbände mit dezidiert nationaler Rhetorik entstanden und eine Vielzahl weltanschaulicher Gruppierungen eine jeweils eigene Nation konstruierte. Dieser Zusammenhang soll im folgenden Kapitel am Beispiel ökonomischer und administrativer Eliten in Deutschland und Frankreich exemplarisch untersucht werden, wobei vergröbernd zwischen zwei Ebenen unterschieden werden kann. Erstens zogen Industrielle und hohe Beamten nationale Erzählungen zu ihrer Selbstdeutung als Inhaber von Unternehmen, Angehörige von Branchen oder Interessengruppen bzw. Akteure staatlicher oder kommunaler Bürokratien heran. Derart in ihrer individuellen und kollektiven Identität bestätigt, konnten sie die Nation bedenkenlos und oft nicht einmal motiviert durch strategisches Kalkül zur öffentlichen Legitimierung von Zielvorstellungen und Interessen einsetzen, was allerdings auch dazu führte, dass ihre Deutungen nicht selten konfliktreich aufeinanderprallten. Über diese grundsätzliche Gemeinsamkeit hinaus unterschieden sich jedoch die Formen, in denen sich diese Adaptation gestaltete. In vergleichender Perspektive ist nach den Auswirkungen politischer Rahmenbedingungen wie zum Beispiel der jeweiligen Variante des Imperialis1 Aus einer Fülle neuerer Literatur vgl. hier nur Assmann, Erinnerungsräume. 2 Vgl. Hobsbawm, Traditions.
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mus, der Polenpolitik in Deutschland oder der Dominanz des antiklerikalen Republikanismus in Frankreich zu fragen. Inwieweit unterschied sich die inhaltliche Deutung der Nation? Welche Rolle spielten etwa ethnische Abgrenzungen oder Topoi konservativer Staatskritik? Auch ökonomische Faktoren wie die schnellere Expansion und stärkere Weltmarktorientierung der deutschen Industrie sind zu berücksichtigen, sofern sie die Einstellungen zu Außenpolitik, Imperialismus oder Protektionismus beeinflussten. 3 Zweitens nahmen Industrielle und hohe Beamte eine herausgehobene gesellschaftliche Stellung in Städten und Regionen ein und waren in vieler Hinsicht von der bürgerlichen Kultur des 19. Jahrhunderts geprägt. Die Nation verlieh ihren lokalen bzw. regionalen Erzählungen und Selbstdeutungen einen übergeordneten Sinn, dessen ideelle Ausgestaltung bürgerliche Züge trug. Auch hier gab es jedoch bedeutende Differenzen, die wiederum auf unterschiedliche Rahmenbedingungen verweisen. So ist zu untersuchen, wie sich die tiefgreifende Kluft zwischen katholischer Unternehmerschaft und republikanischem Zentralstaat in Frankreich auf der einen, die föderale und kommunale Prägung des politischen Systems in Deutschland auf der anderen Seite in den Deutungen der Nation auf lokaler bzw. regionaler Ebene niederschlugen. Zudem sind die Unterschiede zwischen alteingessenen, sich durch jahrhundertealte Traditionen definierenden Textilindustriellen in Frankreich und den erst wenige Jahrzehnte zuvor zugewanderten Eisenindustriellen etwa des rheinisch-westfälischen Industriegebiets in Rechnung zu stellen. Die Leitfrage ist dabei, inwieweit sich lokale, regionale und nationale Identitäten in konsensfähiger Weise verbinden ließen. Am Ende dieses Kapitels werden die Nationsentwürfe der Industriellen und hohen Beamten des Kaiserreichs und der frühen Dritten Republik vergleichend resümiert. Sie stellten einen zentralen Bestandteil der diskursiven Voraussetzungen dar, mit denen sie kurze Zeit später die Herausforderungen des Ersten Weltkriegs zu bewältigen hatten.
A. Aufstiegsbewusstsein und Machtanspruch. Deutungen der Nation i m Wilhelminischen Deutschland Im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg bot die Nation den deutschen ökonomischen und administrativen Eliten einen attraktiven ideellen Rahmen für ihre Selbstdeutungen, weil sie industrielle wie bürokratische, lokale wie regionale und nicht zuletzt bürgerliche Identitäten, Wertvorstellungen und Interessen legitimierte und überhöhte. Abhängig von den jeweiligen Erfahrungen und Deutungsbedürfnissen gestaltete sich diese Adaptation unterschiedlich, war 3 Vgl. Kaetble, Nachbarn, zusammenfassend S. 39.
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jedoch insofern unproblematisch, als sich die Erfolgsgeschichte des eigenen Unternehmens oder Industriezweigs, der Stadt oder der Region stets in die Metaerzählung vom Aufstieg des Deutschen Reichs zur Großmacht einbetten ließ. 1. Erfolgsgeschichten, Interessenpolitik und die Grenzen der Nation Im Deutschland der Jahrhundertwende war die Nation schon seit geraumer Zeit als ideeller und institutioneller Rahmen für Wirtschaft und Gesellschaft, Politik und Kultur etabliert. Über ihre Deutung bestand jedoch kein Konsens. Bereits kurz nach 1871 hatte sich gezeigt, wie sehr der Nationalismus aller Einheitsrhetorik zum Trotz in die fundamentalen konfessionellen, sozialen und ethnischen Gegensätze des Kaiserreichs involviert war und sie keineswegs überbrückte, sondern erheblich verschärfte.4 Diese Konfliktlinien bestanden fort und koexistierten spannungsreich mit den Integrationskräften, die der Nationalstaat mit zunehmender Dauer entfaltete.5 Hinzu kam, dass der Nationalismus seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert immer weniger in offiziellen Reden und Feierlichkeiten aufging, sondern in enger Beziehung zur enormen Pluralisierungsdynamik der wilhelminischen Gesellschaft stand.6 Neugegründete Organisationen wie der Alldeutsche Verband beanspruchten lautstark ein Monopol auf seine Auslegung; ein heterogenes Feld von Reformbewegungen war um die Definition und Verwirklichung »völkischen« Denkens und Lebens bemüht.7 Doch vielleicht noch wichtiger war, dass sich eine Vielzahl von weltanschaulichen Gruppierungen und Interessenverbänden, deren Ziele prima facie auf ganz anderen Gebieten lagen, zur Begründung und Propagierung ihrer jeweiligen Position auf die Legitimationsinstanz der Nation berief. In dieser konfliktträchtigen Konstellation waren der Steuerungskapazität des Staates enge Grenzen gesetzt.8 Sein Anspruch, die Nation verbindlich zu definieren und seine Definition durchzusetzen, ließ sich immer weniger verwirklichen. Andererseits wurde er aber auch nicht dementiert, denn aufverschiedenen »nationalen« Feldern - von der Einbürgerungspraxis bis zur Organisation des Sedanstags - behielt der Staat erheblichen Einfluss. Die Konkurrenz zwischen gouvernemental-konservativen und reformerisch-oppositionellen Deutungen der Nation war ein Grundzug der politi4 Vgl. exemplarisch H.W. Smith. 5 Vgl. u.a. Hardtwig, Nationsbildung. 6 Vgl. Nipperdey, Untertanengescllschaft. 7 Vgl. Chukering, We Men; Puschner (Hg.). 8 Zu den Grenzen bürokratischer Herrschaft im 19. Jahrhundert vgl. allg. Raphael, Recht und Ordnung, S. 199-208.
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schen Kultur des Wilhelminischen Deutschland und bildete den Hintergrund für die Selbstbilder und Sinnstiftungen von Industriellen und hohen Beamten. Zwar galt die Nation allen Angehörigen der ökonomischen und administrativen Eliten als Erfolgsmodell; aber ihre Interpretation war im einzelnen höchst umstritten, und ihre Verwirklichung blieb in vieler Hinsicht hinter den hohen Erwartungen zurück. Während konservative Schwerindustrielle an den innenund handelspolitischen Grundentscheidungen von 1878/79 festhielten,9 machten ihnen die Exportindustriellen - und hier besonders der Hansa-Bund - zunehmend den Monopolanspruch auf die Deutung der Nation streitig, ohne ihre alternativen Vorstellungen durchsetzen zu können. In der nationalpolitischen Bilanz der hohen Beamtenschaft standen subjektive Erfolge und Bedeutungsgewinne neben den frustrierenden Erfahrungen und unerfüllten Hoffnungen der wilhelminischen Polenpolitik. Dieses Spannungsfeld soll im folgenden anhand verschiedener Aspekte des Verhältnisses von Selbstdeutungen, Interessenpolitik und nationalen Ordnungen analysiert werden. Im einzelnen ist herauszuarbeiten, wie die Industriellen sich selbst in ihre Sicht der deutschen Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit einbetteten und welche innen-, außen- und handelspolitischen Konsequenzen und normativen Forderungen sich daraus ergaben.10 Für die hohen Beamten wird untersucht, wie sie ihre administrative Tätigkeit mit dem Nationalismus verbanden. Konkret wird auf die Polenpolitik sowie die Nähe der höheren Beamtenschaft zum organisierten Radikalnationalismus und - anhand der Einbürgerungspraxis - zu völkischen Ideen generell eingegangen. Zum Schluss ist das Verhältnis von Narrativen, Gegenwartsdeutungen und Visionen einerseits und der Verfolgung individueller und kollektiver Interessen andererseits zu analysieren und damit auch die jeweilige Tragweite kultureller und funktionalistischer Interpretationen des Nationalismus gegeneinander abzuwägen. Kaum eine Ansicht erfreute sich unter den wilhelminischen Unternehmern derart ungeteilter Zustimmung wie die Überzeugung von der nationalen Bedeutung der deutschen Industrie. Konservative und Linksliberale, Schwer- und Leichtindustrielle waren sich darin einig, dass ihre Tätigkeit den Aufstieg des Kaiserreichs zur Weltmacht entscheidend vorangetrieben hatte und weiterhin vorantrieb. Diese Auffassung war in ihren Grundzügen keineswegs neu, sondern gehörte bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den konstitutiven Elementen ihres Selbstbildes.11 In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg konnte sie sich fester als je zuvor auf eine optimistische Sicht von Gegenwart 9 Vgl. Winkler, Vom linken zum rechten Nationalismus. 10 Vgl. die Darstellung des wilhelminischen Wirtschaftsnationalismus bei Etges, S. 275-306, die handeis- und außenpolitische Fragen eingehender behandelt als die vorliegende Arbeit, aber weniger auf Erzählungen und Selbstdeutungen sowie die aus der Nation abgeleiteten normativen Ansprüche eingeht, auf denen hier ein besonderer Akzent liegt. 11 Vgl. Kocka, Unternehmer, S. 56f.
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und Zukunft der deutschen Wirtschaft, ihrer »Kraft« und »Machtentwicklung« stützen,12 die gleichermaßen als Bedingung wie als Folge nationaler Stärke interpretiert wurde. Ein einflussreicher Vertreter dieser Deutung war Arnold Steinmann-Bucher, der Vordenker des schwerindustriellen Centralverbands Deutscher Industrieller. Für ihn beruhte die positive ökonomische Situation auf dem rasanten Bevölkerungswachstum, das auf einen »Volkskörper von großer Lebenskraft« verwies,13 während die starke Wirtschaft ihrerseits als entscheidende Stütze der politischen Macht des Deutschen Reichs erschien.14 Dieser demographische Reduktionismus blieb eher die Ausnahme, aber der Topos von der wechselseitigen Bedingtheit wirtschaftlicher und politischer Macht der Nation zog sich auch durch das Organ des exportorientierten Bundes der Industriellen.15 Das Kaiserbild entsprach diesem Grundkonsens, denn in Wilhelm IL wurde ein Förderer von Wirtschaft, Wissenschaft und Technik und ein »Friedensfurst« gesehen, der die deutsche Industrie vor »kriegerischen Störungen« geschützt habe.16 Nicht nur Gegenwart und Zukunft, auch die Vergangenheit der Industrie wurde in lichten Farben gezeichnet und ihre Entwicklung im Kaiserreich als unaufhaltsamer Aufstieg und lineare Erfolgsgeschichte erzählt - ungeachtet des tatsächlich sehr viel wechselvolleren Konjunkturverlaufs.17 Die deutsche Nationsbildung fungierte dabei als eine Art narrativer Rahmen, in den die Geschichte der Industrie, des jeweiligen Wirtschaftszweigs, schließlich des eigenen Unternehmens bruchlos eingepasst und mit einer enormen ideellen Legitimation versehen werden konnte. Die Reichsgründung war im kollektiven Gedächtnis der Industriellen Ursache und Beginn eines jahrzehntelangen ökonomischen Aufstiegs.18 Der Zollverein erschien als wichtige Vorstufe zu diesem Prozess, wenngleich erst die politische Einheit den eigenen Markt erschlossen und eine konsequente Handelspolitik nach außen ermöglicht habe.19 In der Verbandspublizistik der exportorientierten Industrie wurde darüber hinaus die Regierungszeit Wilhelms IL mit der »Weltpolitik« und dem endgültigen Übergang vom Agrar- zum Industriestaat als eigene Periode gewürdigt.20 Aber es war vor allem die Erinnerung an die Reichsgründung, die als eine häu12 DIZ 30 (1911), S. 3ff.; ähnlich auch Steinmann-Bucher, S. 46f. 13 DIZ 30 (1911), S. 19ff. Diese bevölkerungspolitische Argumentation findet sich u.a. auch in: DIZ 31 (1912), S. 25ff., 461f., 843-846. 14 D I Z 3 0 ( 1 9 1 1 ) , S . 240f. 15 DI 14 (1912), S. 374ff.; DI 15 (1913), S. 180f., 314-317. 16 DIZ 32 (1913), S. 477f.; ähnlich DI 15 (1913), S. 162ff.; HB 4 (1913), S. 34; Die deutsche Industrie; zu den Wahrnehmungen Wilhelms II. als Wortführer seiner Epoche und als Friedenskaiscr vgl. Fehrettbach, S. 90f, 162f. 17 Vgl. Wehkr, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 547-610; Spree. 18 AG 1911, Beilage zu Nr. 5; HB 2 (1912), S. 331ff.; Die Feierstunde 21 (1910), S. 167f. 19 HB 3 (1913), S. 3-7; ähnlich Gutehoffiuuwshütte Oberhausen, S. III. 20 DI 15 (1913), S.162ff.; HB 4 (1913), S. 34; dagegen fehlt diese Deutung in: DIZ 32 (1913), S. 477f.
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fige Referenz bei internen Feierlichkeiten fungierte und damit der Einbettung der Unternehmensgeschichte in eine nationale Rahmenhandlung diente. 21 So ließ die Württembergische Metallwarenfabrik die Bewohner des werkseigenen Jugendheims 1911 zur Feier von nationaler Einheit und Kaisergeburtstag den Kaisermarsch blasen und ein patriotisches Festspiel »Barbarossa« auffuhren, bei dem die »Kyffhäusergrotte in bengalischer Beleuchtung erstrahlte«.22 Die Einordnung der Geschichte des eigenen Industriezweigs oder Unternehmens in die Metaerzählungvom nationalen Aufstieg wurde in unterschiedlicher Weise vorgenommen. In einer eher indirekten Variante betonte der Vorsitzende des Verbands deutscher Mineralwasserfabrikanten, dass seine Branche am »großartigen Aufschwung der deutschen Industrie...im vollen Umfange teilgenommen« habe. 23 Die Jubiläumsschrift einer badischen Fabrik für landwirtschaftliche Maschinen beanspruchte für die Industrie die Rolle eines M o tors für die Formierung der Nation, für die ökonomische Sachzwänge ebenso wichtig gewesen seien wie patriotische Werthaltungen. Der Aufstieg des Unternehmens bilde einen wichtigen, »integrierenden Bestandteil« der Entwicklung der deutschen Industrie. 24 Auf die wohl direkteste Weise wurden Unternehmensgeschichte und Nationalgeschichte anlässlich des Krupp-Jubiläums 1912 verbunden, denn die Entwicklung des Großunternehmens wurde als Spiegelbild des nationalen Aufstiegs gedeutet: »Anfang und Ende dieses Jahrhunderts, welche Gegensätze! und welche Entwicklung in dieser Zeit: dort aus kleinen handwerksmäßigen Anfängen hin zum weltumspannenden Riesenunternehmen unserer Tage, hier von der Ohnmacht und Zerrissenheit eines einst so mächtigen Volkes bis zum wiedergeeinten machtvollen Deutschen Reich. Und in beiden Fällen ging dem gewaltigen Aufschwung der letzten Jahrzehnte ein mühseliges Ringen, ein langsamer Aufstieg bis in die 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts voraus.«25 Das eigene Unternehmen sei in der Zeit nationalen Wiedererwachens gegründet worden und habe später sogar eine Vorreiterrolle gespielt, weil es bereits längst eine »industrielle Vormacht« gewesen sei, »als unter dem Donner der Kruppschen Geschütze das Deutsche Reich zusammengeschmiedet wurde.« 26 Naheliegenderweise beruhte diese Interpretation des Zusammenhangs von Reichsgründung und Unternehmensentwicklung auf dem Selbstbewusstsein 21 Carl Duisberg, Ansprache beim ersten Jubilarfest der Farbenfabriken am 17. Oktober 1910, abgedruckt in: den., S. 426-433, hier S. 427; DIZ 32 (1912), S, 561f; Vereinsblatt der Badischen Anilin- & Soda-Fabrik Ludwigshafen a/Rh. 1, Nr. 11 (Februar 1914), S. 9f. 22 Die Feierstunde 22 (1911), S. 21f. 23 Dr. W. Lohmann, Vorsitzender des allgemeines Verbandes deutscher Mineralwasserfabrikanten, Berlin, Die Entwicklung und der jetzige Stand der Mineralwasserindustrie, in: Die deutsche Industrie, Βd.1,L ,S. 1. 24 Heinrich Lanz,S. 11,15. 25 Knupp,S.2f 26 Ebd.
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des größten und politisch einflussreichsten deutschen Rüstungskonzerns und wäre für die meisten Firmen in einer derart direkten Form kaum plausibel gewesen. Die Einbettung der Unternehmensgeschichte und damit des eigenen Erfahrungsraums in eine nationale Rahmenerzählung war zwar verbreitet, aber nicht obligatorisch. Nationale Bezüge fehlten nicht nur in manchen Jubiläumsschriften von Unternehmen, sie konnten sogar als Störfaktoren vorkommen. So erinnerte sich eine württembergische Textilfabrik an das Kriegsjahr 1870 als eine Zeit geschäftlicher »Widerwärtigkeiten« und an die Annexion des Elsass als das Auftauchen eines neuen Konkurrenten, dessen Produkten man einen bedrohlichen Preisrückgang zu verdanken gehabt habe.27 Solche Distanzierungen von der üblichen Adaptation der Reichsgründungserinnerung an die Deutungsbedürfnisse der Industriellen blieben jedoch die Ausnahme. Das Bewusstsein, durch die eigene Tätigkeit »zur Ehre des deutschen Vaterlandes« beizutragen, war am Vorabend des Ersten Weltkriegs ein wichtiger und unproblematischer Bestandteil des unternehmerischen Selbstverständnisses.28 Die deutschen Industriellen waren sich darin einig, aus ihrer nationalen Bedeutung einen privilegierten Anspruch auf politische Gestaltung ableiten zu können. An diesem Punkt erschöpften sich jedoch die Gemeinsamkeiten, denn die Konsequenzen, die aus dieser Grundüberzeugung gezogen werden sollten, waren hochgradig kontrovers. Die Protagonisten des schwerindustriellen Centralverbands Deutscher Industrieller hielten ohne viele Nuancen an der »Verteidigung unserer Bismarck'sehen nationalen Wirtschaftspolitik« fest, die sie als Existenzvoraussetzung der deutschen Industrie verstanden.29 Auf der Grundlage der Überzeugung, dass die Schutzzollpolitik die Basis des langanhaltenden Wirtschaftsaufschwungs gewesen sei,30 zog sich die Verbindung von Nationalismus und Protektionismus als roter Faden durch das Verbandsorgan.31 Das Nationsverständnis der Schwerindustriellen war dezidiert preußisch-deutsch geprägt, würdigte aber auch den »Partikularismus« der Einzelstaaten als »Grundpfeiler des Reiches«.32 Der bereits erwähnte Steinmann-Bucher war überdies ein Vertreter konservativ-organizistischer Ideen, die er gleichermaßen auf Wirtschaft und Nation übertrug.33 Beide waren für ihn »kerngesund«, das politische »Leben« dagegen »anfällig und ein guter Kunde der Ärzte und Quacksalber«. Daraus resultierten einerseits Ansteckungsgefahren für die Wirtschaft, andererseits erschien es auch möglich, dass die Wirtschaft die Politik aus dem 27 Württembergische Cattun-Manufactur, S. 7 f. 28 Geschichte der Firma L. Stromeyer & Co., S. 12; ähnlich die Rede des Direktors der Badischen Anilin- & Soda-Fabrik Ludwigshafen, Müller: Vereinsblatt der Badischen Anilin- Sc Soda-Fabrik Ludwigshafen a/Rh. 1, Nr. 1 (April 1913), S.1ff. 29 Bueck, S. 3 1 ; ähnlich Steinmann-Bucher, S. 32.
30 DIZ 30 (1911), S. 203f., 461-464. 31 Aus der großen Zahl einschlägiger Beispiele: DIZ 30 (1911), S. 359ff., 481ff., 527ff. 32 DIZ 30 (1911), S. 3ff. 33 DIZ31(1912),S.25ff..
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»demokratischen Delirium« erretten und ihr so »zu rascher Gesundung verhelfen« würde.34 Auch wenn sich diese organizistische Metaphorik nicht in allen Äußerungen der Schwerindustriellen findet, war es communis opinio, aus der nationalen Bedeutung der Industrie antidemokratische Konsequenzen zu ziehen.35 Der schwerindustrielle Monopolanspruch auf die Deutung der Nation wurde jedoch in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg immer öfter und grundsätzlicher in Frage gestellt. Der exportorientierte Bund der Industriellen forderte eindringlich eine wirksamere Ausfuhrförderung. Bei aller Bedeutung des Binnenmarkts seien für die deutsche Zukunft letztlich die Exportinteressen entscheidend, eine Behauptung, die unter anderem mit dem schnellen Bevölkerungswachstum begründet wurde, das neue Absatzmöglichkeiten erforderlich mache.36 Ohne die Berechtigung der Schutzzollpolitik grundsätzlich zu bestreiten, betonte man, dass die Ausfuhrförderung ein bislang vernachlässigter, aber »nicht minder wichtiger Bestandteil des Schutzes nationaler Arbeit« sei, denn es gelte, nicht nur bestehende Arbeit zu erhalten, sondern auch neue zu schaffen.37 Die Legitimation der Forderung nach einer politischen Vertretung von Exportinteressen mit dem »Schutz der nationalen Arbeit« lief auf den Versuch hinaus, die Erfolgsformel des Nationalprotektionismus seit den späten siebziger Jahren zu besetzen und zugunsten der eigenen Ziele umzudeuten.38 Der Topos von der zentralen Bedeutung der Exportindustrie für die Zukunft der Nation findet sich auch in den Äußerungen der württembergischen Industriellen39 sowie in der Publizistik des Hansa-Bundes für Gewerbe, Handel und Industrie, in dessen Richtlinien die Ausfuhrtätigkeit als »internationale Arbeit mit nationalen Zielen« bezeichnet wurde.40 Der Hansa-Bund beschränkte sich jedoch nicht auf die Legitimation von Exportinteressen. Vor allem hier artikulierten sich eine Neubestimmung des Verhältnisses von nationalen Ideen und industriellen Leitbildern und ein expliziter bürgerlicher Partizipationsanspruch - ein Zusammenhang, der eine genauere Betrachtung lohnt.41 Zunächst einmal verwandte die Verbandspublizistik viel Mühe darauf, den vorwiegend vom Bund der Landwirte erhobenen Vorwurf eines mangelnden Patriotismus nicht nur zurückzuweisen, sondern sogar in sein Gegenteil zu 34 DIZ31 (1912), S. 43ff. 35 Siehe z.B. DIZ 31 (1912), S. 736. 36 DI 13 (1911), S. 148f.,202;DI 15 (1913), S. 130ff.; das bevölkerungspolitische Argument z.B. in: DI 13 (1911), S. 304. 37 DI 13 (1911), S. 177f. 38 Vgl. dazu Winkler, Vom linken zum rechten Nationalismus. 39 WI1 (1910), S.47f., 71-76. 40 Richtlinien des Hansa-Bundes vom 11.6.1912, abgedruckt in: Riesser, S. 233-250, hier S.241. 41 Zur Programmatik des Hansa-Bunds vgl. Mielke, S. 34-44, der allerdings auf den Nationalismus kaum eingeht.
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verkehren. Es wurde argumentiert, dass der einseitige Einfluss der Agrarier mit den Erfordernissen der nationalen Wirtschaftsentwicklung, des inneren Friedens und der Außenpolitik unvereinbar sei.42 Das Volk habe in den vergangenen Jahren stark unter der Vehemenz und Skrupellosigkeit der agrarischen Interessenvertretung gelitten, die für die tiefen innenpolitischen Konflikte verantwortlich sei.43 Dem setzte der Hansa-Bund das Leitbild einer auf einem fairen Interessenausgleich beruhenden »Versöhnung der widerstrebenden Volksschichten« entgegen, an dem die Mitglieder des Hansa-Bund-Parlaments als »von glühendem Patriotismus beseelte ehrliche Makler« arbeiteten.44 Nationalgefiihl wurde hier tendenziell als bürgerliches, antiadliges Distinktionsmerkmal verstanden. Der Hansa-Bund spottete nicht nur über die agrarischen »Patent- und Monopolpatrioten«, er bezeichnete es auch als »unsittlich«, Landsleuten das Prädikat nationaler Gesinnung zu verweigern und wehrte sich gegen die reaktionäre Indienstnahme des Begriffs »national«.45 Überdies lastete man den Junkern an, den Patriotismus nicht nur fälschlicherweise mit den eigenen Standes- und Parteiinteressen zu identifizieren, sondern bewusst und gezielt für eine »Privilegien- und Liebesgaben-Politik« zu instrumentalisieren, die mitnichten im nationalen Sinne sei.46 Diesen allgemeinen Vorwurf exemplifizierte man etwa an der Polenpolitik, die vom agrarischen Standesegoismus konterkariert werde.47 Der Adel wurde sogar stellenweise aus dem demokratisch konnotierten Volk ausgegrenzt, dessen Lebensinteressen nicht von seinen eigenen Angehörigen, sondern von einer »Kaste« diplomatisch vertreten würden.48 Reif geworden zur Selbstregierung, ertrage das Volk den Herrschaftsanspruch der Junker nicht mehr.49 In dem anvisierten Prozess hin zu mehr Partizipation beanspruchte der Hansa-Bund eine Führungsrolle für den »Gewerbestand«, dem aufgrund seiner wirtschaftlichen wie nationalen Leistungen und Verdienste eine starke politische Stellung zukommen müsse.50 Konkret wurden eine bessere parlamentarische Vertretung und ein vermehrter Einfluss auf die Staatsverwaltung gefordert.51 Das Subjekt dieses Strebens nach Gleichberechtigung definierte sich allerdings nicht bloß durch seine ökonomische Tätigkeit. Angesprochen war das »Bürgertum« generell, das aufgrund seines Beitrags zur deutschen Größe 42 Ebd.,S.233f. 43 HB 1 (1911), S. 112ff.; ähnlich auch ebd., S. 31f.; HB 2 (1912), S. 317-321. 44 Ebd.; ähnlich HB 2 (1912), S. 29f., 63f. 45 H B 2 (1912), S. 29f.,229f.; ähnlich Jakob Ricsser, Rede in Hamburg, 31.1.1912, abgedruckt in: Riesser, S. 200-223, hier S. 223. 46 Ebd.; ähnlich HB 2 (1912), S. 1. 47 H B 1 (1911), S. 308. 48 H B 3 ( 1 9 1 3 ) , S . 7 5 f . 49 HB 2 (1912), S. 1. 50 H B 1 (1911), S. 150f. 51 HB 1 (1911), S.29f., 205, 245-250.
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und Macht berufen sei, seine Angelegenheiten selbst zu bestimmen und damit »das Beste der Nation und des gesamten Bürgerstandes« zu verwirklichen.52 Wirtschaftliche Gerechtigkeit und »nationale Gesinnung aller deutschen Staatsbürger« waren konstitutiv für die Vision des Hansabundes, die »neue Zeit« bürgerlicher Machtteilhabe.53 Dieser Zielutopie entsprach eine ebenso selbstbewusste Vergangenheitsdeutung. Der Bezug auf die Hanse, die Namensgeberin des Interessenverbandes, fungierte als eine historische Referenz für gewerbliches und bürgerliches Selbstbewusstsein und gipfelte in einer eigenwilligen Deutung der Reichsfarben, in denen das preußische Schwarz-Weiß sowie das Rot und Weiß der freien Hansestädte zusammengeflossen sei.54 Der Vorsitzende der Organisation, Jakob Riesser, berief sich für seinen Aufruf zur Durchsetzung nationaler Forderungen und Ansprüche gegen die konservativen Agrarier auf das Vorbild Steins und Hardenbergs, auch Humboldts und Moltkes.55 Die Geschichte bürgerlicher Oppositionsbewegungen bot ebenfalls positive Anknüpfungspunkte: »Junge und aufkommende bürgerliche Bewegungen haben... in Deutschland stets auch das Gute im Gefolge, daß Idealismus und Vaterlandsliebe die steten und festen Grundlagen ihrer Arbeit bilden. So ist auch der Hansa-Bund -Gedanke ein Stück des Gewissens des deutschen Volkes und ist mit seinen weitgreifenden Organisationen eine feste Verankerung des Einigkeitsgedankens im deutschen Volk.«56
Stellenweise wurde der Bürgerbegriffüber sein soziales Substrat hinaus ausgeweitet und auf die »Bürger aller Stände...von den Höchstgestellten bis zum letzten Tagelöhner« übertragen, deren wirtschaftspolitische und rechtliche Gleichberechtigung man vehement befürwortete.57 Die sozialdemokratische Arbeiterschaft dürfe nicht länger als antinational diffamiert werden; wenn sie Einfluss und Mitarbeit im Gemeinwesen bekäme, könne man auch aufVerantwortlichkeit und Systemloyalität hoffen.58 Diese Forderungen stützten sich auf ein positives Bild vom eigenen Volk, dem Fleiß, Bildung, Kultur und »staatsbürgerliche Reife« attestiert wurden.59 Der Aufruf zur »Politisierung des deutschen 52 HB 1 (1911), S. 338f; HB 2 (1912), S. 1; ähnlich Jakob Riesser, Eröffnungsrede bei der Gründungs-Versammlung des Hansa-Bundes im Zirkus Schumann zu Berlin am 12. Juni 1909, abgedruckt in: Riesser, S. 1-7, hier S. 2f.; ders., Rede in Frankfurt a.M., 4.1.1912, abgedruckt in: ebd., S. 172-183, hier S. 174. 53 HB1 (1911), S.306f. 54 HB 2 (1912), 331ff.;Die Berufung auf die Hanse auch in: Erster allgemeiner deutscher Hansatag, in: HB 1 (1911), S. 157f. 55 Jakob Riesser,Rede in Hannover, 23.11.1911, abgedruckt in:Riesser,S.130-153, hier S. 148; ders., Schluss-Rede auf dem Ersten Allgemeinen Deutschen Hansa-Tag zu Berlin, 12. Juni 1911, abgedruckt in: ebd., S. 110-117, hier S. 114. 56 HB 2 (1912), S. 576. 57 HB1 (1911), S.3f., 61f 58 HB 2 (1912), S. 229f 59 HB1 (1911), S. 119f.
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Volkes« rekurrierte auf die Erinnerung an die »glorreiche Volkserhebung« von 1813.60Mit aufklärerischem Pathos kündigte der Hansabund staatsbürgerliche Erziehung »bis in die kleinsten und dunkelsten Winkel des deutschen Vaterlandes« an; sein Geschäftsführer Kurt Kleefeld veröffentlichte eine »Bürgerkunde«.61 Der angestrebte Rahmen dafür war der liberale Verfassungsstaat, erfüllt »mit modernem Geist, mit freier Luft und mit freien Gedanken«.62 Mit diesen in einer zukunftsorientierten Rhetorik formulierten Forderungen trug der Hansa-Bund zweifellos zur »Erneuerung des demokratischen Denkens im Wilhelminischen Deutschland« bei.63 Allerdings ist nicht zu übersehen, dass der inklusive, demokratieoffene Bürgerbegriffnicht widerspruchsfrei mit dem Machtstreben des »erwerbenden Bürgertums« in Einklang gebracht werden konnte.64 Mit der Betonung von Aufklärung und staatsbürgerlicher Erziehung hielt man im Kern am bürgerlichen Erziehungsanspruch gegenüber den »Massen« fest. Die Forderung nach einer politischen Führungsrolle für Handel, Gewerbe und Industrie sollte keineswegs unter demokratischen Bedingungen verwirklicht werden, sondern legitimierte sich durch die entscheidende Bedeutung der Ökonomie für die Machtstellung der Nation. Gerade weil sich das Volk in einem rasanten, optimistisch gedeuteten Veränderungsprozess befände, bedürfe es der Anleitung durch »harte Männer und selbstsichere Persönlichkeiten«, die, daran kam kein Zweifel auf, nur dem Wirtschaftsbürgertum entstammen konnten.65 Zudem wäre es problematisch, aus den Äußerungen der Verbandsführung direkt auf die Einstellungen der im Hansa-Bund organisierten Industriellen zu schließen. Einige Stellungnahmen deuten daraufhin, dass das demokratische Verständnis von Nation und Bürgerlichkeit bei ihnen nur auf geringe Resonanz stieß. Ein Vorstandsmitglied eines Berliner Unternehmens bekräftigte den Anspruch der Industriellen auf Gleichberechtigung, wobei er gleichzeitig beklagte, dass die Arbeiter aufgrund sozialdemokratischer »Verhetzung« nicht hinter ihnen stünden, obwohl sie von ihnen »Beschäftigung und Brot« bekämen; von politischen Konzessionen, Einfluss und Mitbestimmung war nicht die Rede.66 In den Organen des Württembergischen Industrie-Verbandes und des Bundes der Industriellen findet sich nur der Partizipationsanspruch des »erwerbstätigen Bürgertums«, während der inklusive, sozial offene Bürgerbegriffnicht auftaucht.67 Dagegen spielte die Erinnerung an die Hansestädte und den bürgerlichen Anteil an den Befreiungs60 HB 3 (1913), S. 113-121. 61 HB 1 (1911), S. 150f.;Kleefeld. 62 Jakob Riesser, Rede in Hamburg, 31.1.1912, abgedruckt in: Riesser, S. 200-223, hier S. 223.
63 Gilg. 64 65 66 67
H B 1 (1911), S. 29f. HB 1 (1911), S. 427. HB2(1912),S.306f. W I 2 ( 1 9 1 1 ) , S . 2 0 1 f ; D I 13(1911), S. 145f.
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kriegen für einen anderen Verbandsfunktionär eine wichtige Rolle, nämlich für Gustav Stresemann. 68 Dem Verhältnis von Nation, industriellen Leitbildern und Bürgerlichkeit im Hansa-Bund ist deswegen eine etwas überproportionale Aufmerksamkeit gewidmet worden, weil es in dessen Publizistik in einer innovativen und offensiven Weise neu bestimmt wurde. Von der Forschung ist primär das Scheitern des Verbandes und seines Projekts einer antifeudalen Sammlungsbewegung betont worden, ein Urteil, das gemessen an diesem selbstgesetzten Ziel unbestreitbar richtig ist.69 In der Perspektive dieser Arbeit kommt dem Hansa-Bund jedoch eine wichtige Bedeutung als einer spezifischen Variante des Wiedererwachens des progressiven Nationalismus und des in letzter Zeit verstärkt untersuchten bürgerlichen Aufbruchs seit der Jahrhundertwende zu.70 Seinen Protagonisten gelang es, das liberale Grundproblem des Widerspruchs zwischen nationalem Selbstverständnis und bürgerlicher Interessenvertretung zumindest auf einer diskursiven Ebene zu lösen.71 Das ändert allerdings nichts an den problematischen Zügen dieses Nationsentwurfs, die sich besonders in den Einstellungen zum Imperialismus und zu außenpolitischen Fragen zeigten - ein Aspekt, der im folgenden für das gesamte Spektrum der industriellen Interessenverbände näher beleuchtet wird. Die Industriellen stimmten darin überein, dass Deutschland an Bevölkerung und wirtschaftlicher Kraft unaufhaltsam zunehme, und dass diese Entwicklung politische Stärke ebenso ermögliche wie bedinge. Diese Überzeugung lief auf einen Großmachtkonsens hinaus, der denjeweiligen außenpolitischen Einstellungen zugrundelag. Auch war es unstrittig, dass sich diese Großmachtstellung in einer imperialistischen Politik niederschlagen müsse, wenngleich die Exportindustrie dieser Forderung bekanntlich größere Bedeutung beimaß als die Schwerindustrie. 72 Diese Haltung wurde nicht nur normativ begründet, sondern beruhte auf einem deterministischen Glauben an den notwendigen Zusammenhang zwischen Wirtschaftsaufschwung und »weltpolitischer« Expansion, der dazu führe, dass Deutschland gar nicht anders könne, als imperiale Ambitionen zu verfolgen.73 In den Kolonien wurden folglich überwiegend 68 HB 3 (1913), S. 34f, 82f.; vgl. zur Rolle Stresemanns in der politischen Offensive des sächsischen Wirtschaftsbürgertums Pohl, Emanzipationsprozeß, S. 243ff; ders., Sachsen. 69 Mielke; Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 1055; differenzierter Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 2, S. 590f. und Langewiesche, Liberalismus, S. 158f, die die fruchtbare Rolle des Hansa-Bundes für den Liberalismus betonen, sowie Ullmann, Interessenverbände, S. 103f., der den partiellen Erfolg des Hansa-Bunds bei der Mobilisierung der Mittelschichten hervorhebt. 70 Vgl. Hardtwig, Kunst, sowie als neuere Studie zur bürgerlichen Politik Hübinger, grundlegend zu den Reformchancen im Wilhelminischen Deutschland Nipperdey, Untertanengesellschaft. 71 Vgl. zu diesem liberalen Dilemma Langewiesche, Liberalismus, S. 217f. 72 Zur Haltung der Schwerindustrie zum Imperialismus vgl. DIZ30(1911), S. 595f.;Kaelble, Interessenpolitik, S. 147-155. 73 HB 2 (1912), S. 407ff; HB 3 (1913), S. 3-7.
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Rohstoffgebiete und Absatzmärkte gesehen. Das daraus resultierende Konfliktpotential begrüßte man zwar nicht, nahm es aber einhellig hin. Neid und Argwohn der Nachbarn seien unvermeidbar und müssten durch militärische Machtmittel in Schach gehalten werden. 74 Allerdings wurde vorrangig die friedenssichernde Funktion der Rüstung betont und nur vereinzelt und beschränkt auf den äußersten Notfall Kriegsbereitschaft signalisiert.75 Überzeugt, dass eine »starke Wehr die beste Friedensbürgschaft« sei und die wirtschaftliche mit der militärischen Macht übereinstimmen müsse, betonte der Centralverband Deutscher Industrieller, dass die Ablehnung von Forderungen nach deutscher Abrüstung im Interesse »nicht nur des europäischen, sondern des Weltfriedens« läge. 76 Das erscheint insoweit durchaus konsequent, als die außenpolitische Haltung der Schwerindustriellen von einer gewissen Kompromissbereitschaft gekennzeichnet war. So betonte ihr Verbandsorgan, dass die Marokko-Verträge von 1911 zwar Mängel aufwiesen, aber verdienstvollerweise einen Krieg verhindert hätten und daher aus Sicht der Wirtschaft positiv zu beurteilen seien. 77 Der Frieden sei ebensosehr Basis einer gedeihlichen ökonomischen Entwicklung wie die politischen »Machtmittel«. 78 Zwar findet sich die letztere Auffassung auch im Bund der Industriellen, 79 aber die Prioritätenfolge von Friedenserhaltung und imperialer Expansion wurde in der Verbandspublizistik der Exportindustrie anders akzentuiert. Der Hansa-Bund kritisierte den Verzicht auf Marokko und Persien und forderte eine härtere außenpolitische Linie, die das Ziel der Sicherung von Absatzmärkten konsequent verfolgen solle, aber auch kulturell legitimiert wurde. 80 Überdies übertrug man hier den bereits erwähnten bürgerlichen Partizipationsanspruch im Wege einer dynamischen Verknüpfung von Individualität und Nation auf die Begründung weltpolitischer Ambitionen: Die Entfaltung des Individuums müsse zum »innerlichen Besitz seines Nationalstaats« fuhren. Daraus könne eine Wirkung für das »Menschheitsideal« entstehen, aber nur unter der Voraussetzung größtmöglichen machtpolitischen Einflusses. Die deutsche Außenpolitik müsse daher jederzeit ein offensives Ziel verfolgen, konkret die »Schaffung eines Machtbereichs in südöstlicher Richtung bis über Kleinasien heraus«, wozu die konservativen Opponenten des Hansa-Bunds prinzipiell nicht in der Lage seien.81 74 Die Feierstunde 3 (1912), S. 105f. 75 DIZ30(1911), S. 612f. 76 DIZ(1911),S.240f. 77 DIZ 30(1911),S. 803ff.. 78 DIZ 31 (1912), S. 187ff.; die eher friedliche Orientierung des Weltmachtdenkens im Centralverband Deutscher Industrieller betont auch Kaelble, Interessenpolitik, S. 147-155. 79 DI 15 (1913), S. 214f. 80 HB 2 (1912), S.331ff. 81 HB 2 (1912), S. 162f.
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Wenngleich diese Argumentation vereinzelt blieb, waren weitreichende imperiale Ansprüche fester Bestandteil der Programmatik von Hansa-Bund und Bund der Industriellen. Nach der Beilegung der Marokkokrise kontrastierten sie jedoch verstärkt mit der ernüchternden außenpolitischen Realität, die als Wehrlosigkeit und »Verelendung« wahrgenommen wurde. 82 In den Äußerungen der Exportindustrie artikulierte sich das Gefühl, zu spät gekommen zu sein und zurückgedrängt zu werden, wenn nicht die letzten Chancen für koloniale Eroberungen ergriffen würden. 83 Daraus wurden aber letztlich keine bellizistischen Konsequenzen gezogen; von einer »Kriegsmentalität« lässt sich für die Industriellen nicht sprechen.84 Das ergibt eine Durchsicht der Organe des Centralverbands Deutscher Industrieller, des Bunds der Industriellen und des Hansa-Bundes für die Jahrgänge 1911 bis 1913, des Württembergischen Industrie-Verbandes sowie der Handelskammern von Düsseldorf und Stuttgart für die Jahrgänge 1910 bis 1913, die kaum aggressive Äußerungen enthalten. 85 Die beiden Ausnahmen stammten nicht von Verbandsvertretern, sondern einmal von der Dortmunder Handelskammer, die im Frühjahr 1913 aus dem Kontrast zwischen der rasanten Entwicklung der Wirtschaft, Bevölkerung und Kultur Deutschlands und der Weigerung seiner Konkurrenten, ihm die entsprechende politische »Bewegungsfreiheit« zuzugestehen, den Schluss zog, den »Kampf für die Freiheit unserer politischen und wirtschaftlichen Entwicklung als Weltmacht« zu erwarten und als unabwendbar zu akzeptieren. Diese Vision verstand man als »anderen Freiheitskrieg« in der Tradition von 1813.86 Zum anderen teilte ein ungenannt bleibender Maschinenbauunternehmer dem Württembergischen Industrie-Verband seine Verärgerung über die französische Zollpolitik mit. Damit verband er die Forderung, nicht mehr »alle Angriffe und Schädigungen unserer Nachbarn gegen die deutsche Industrie gelassen einzustecken«. Von der Reichsregierung erwartete er entsprechende »tüchtige Leistungen«, konkret die Verteidigung von Exportinteressen mit militärischen Mitteln: »Wenn wir unser Vaterland lieben sollen, so muß es liebenswert sein und wenn wir eine große Macht zu Wasser und zu Land unterhalten, so muß diese Macht dazu eingesetzt werden, daß uns nicht jeder Nachbar ungestraft auf den Hühneraugen herumtreten darf...« 87 82 DI 14(1912), S. 149; DI 13 (1911), S. 253f.; 83 HB 2 (1912), S. 407ff; HB 2 (1912), S. 512. 84 Dülffer/Holl (Hg.), bes. W.J. Mommsen, Topos. Allerdings hat Mommsen an anderer Stelle die Kriegsskepsis der Industriellen betont: vgl. äers., Bestimmungsfaktoren, S. 324. 85 DIZ 30-32 (1911-1913); DI 13-15 (1911-1913); HB 1-3 (1911-1913); WI 1-4 (19101913); Monatsschrift der Handelskammer zu Düsseldorf für den Stadt- und Landkreis Düsseldorf 6-9 (1910-1913); Jahresbericht der Handelskammer Stuttgart 1910-1913. 86 DIZ 32(1913),S.325f 87 WI 1 (1910), S. 195f; zum französischen Zolltarif von 1910 und den deutschen Reaktionen vglPoidevirt, S. 160f.
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Auch ohne derart aggressive Töne anzuschlagen, wurde in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg massiver Unmut über die Zollpolitik Frankreichs und Amerikas laut. Bei jedem neuen Handelsvertrag, klagte das Organ des Bunds der Industriellen, müsse Deutschland »Verluste und Schädigungen« hinnehmen.88 Gegen die französischen Tariferhöhungen und die amerikanische, selbst durch massiven Protektionismus geschützte Konkurrenz wurden eine exportorientierte Handelspolitik und mehr »Schärfe« der deutschen Zollbehörden gefordert. 89Der Württembergische Industrie-Verband schlug vor, als Gegenmaßnahme die Zölle auf Champagner, Kognak und Parfüm zu erhöhen und, sofern nötig, französische Weißweine ganz von der Einfuhr nach Deutschland auszuschließen, »um Frankreich an seiner Achillesferse zu treffen.«90 Ein anonymer, über »schikanöse Vorschriften« verärgerter württembergischer Exportindustrieller betonte, dass es Deutschland aufgrund seines handelspolitischen Einflusses nicht nötig habe, »den Prügeljungen der ganzen Welt zu spielen.«91 Diese Äußerungen machen deutlich, dass die Vorstellung eines nationalen Gegensatzes zu Frankreich bei den ihrer Exportorientierung und geographischen Nähe wegen besonders betroffenen württembergischen Industriellen aufgrund verletzter Interessen und persönlicher Frustrationen an Boden gewann. Ebenso wichtig war jedoch die konstruierte Selbstwahrnehmung einer zu kurz gekommenen, von ihren Nachbarn drangsalierten Nation, die mit dem realen ökonomischen und politischen Gewicht des Kaiserreichs wenig zu tun hatte. Nicht nur die Zollpolitik, auch die Pressekampagnen und Boykottaufrufe gegen deutsche Produkte riefen in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg Ressentiments gegen Frankreich hervor, obwohl der Deutsch-Französische Wirtschaftsverein mit dem Hinweis auf die begrenzte Resonanz der antideutschen Propaganda zur Gelassenheit aufrief92 Den deutschen Kunden wurde ein Gegenboykott anempfohlen.93 Dass das deutsch-französische Klima ernsthaft, wenngleich nicht unwiederbringlich belastet war, verdeutlicht eine Episode im Vorfeld der Internationalen Städteausstellung in Lyon 1914. Zwar sagten unter anderem die Handelskammern von Dresden, Chemnitz und Nürnberg ihre Unterstützung zu. Der Verband Sächsischer Industrieller weigerte sich aber »mit Rücksicht auf die in Frankreich zurzeit herrschende wenig deutsch-freundliche Strömung und auf die neuerdings bemerkbaren Zoll88 DI 13(1911), S. 202. 89 DI 14 (1912), S. 179f.; Befürchtungen hinsichtlich der restriktiven amerikanischen Zollbestimmungen finden sich auch in: DIZ 32 (1913), S. 628; als Beispiel für den Ärger über den amerikanischen Protektionismus: WI 4 (1913), S. 5. 90 WI 1 (1910), S. 99f.; zum Unmut in der württembergischen Exportindustrie über die französische Zollpolitik auch: WI 1 (1910), S. 195f.;WI 2(1911), S. 105f. 91 HB2(1912),S. 177;dcrselbe Artikel erschien untcranderem Titelin: DI 14(1912),S. 154f. 92 D I 1 4 ( 1 9 1 2 ) , S . 3 1 1 f ; D I 1 5 ( 1 9 1 3 ) , S . 177; H B 3 (1913), S. 145f.; WI3 (1912),S.238f.;die Stellungnahme des Deutsch-Französischen Wirtschaftsvereins in: WI 4 (1913), S. 62f 93 DIZ 32 (1913), S. 460; H B 3 (1913), S. 79f.
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Schwierigkeiten Frankreichs bei der Einfuhr deutscher Waren« zunächst, seinen Mitgliedern die Beteiligung zu empfehlen. Erst als ein Lyoner Abgesandter die Einladung an die deutsche Industrie wiederholte und hervorhob, dass es in Südfrankreich keine antideutsche Stimmung gebe, setzte sich unter den deutschen Industriellen eine positivere Haltung gegenüber der Städteausstellung durch.94 Zu den deutsch-französischen Differenzen kam der Ärger über England, das deutsche Waren mit den Etiketten »Made in Germany« und »Not British« versah oder in Pressekampagnen als minderwertig attackierte.95 Die »Anmaßung«, gestützt auf amerikanische Gesetze in deutsche Fabriken einzudringen und dort Auskünfte verlangen zu können, sowie die »Hinterhältigkeit und Skrupellosigkeit« amerikanischer Wirtschaftsspionage waren ebenfalls Gegenstand von Invektiven.96 Ein Autor verstieg sich sogar zu der Auffassung, dass die internationale Öffentlichkeit die Stellung der deutschen Wirtschaft im weltweiten Wettbewerb systematisch schädige.97 Sicherlich wäre es falsch, von diesen keineswegs omnipräsenten - Äußerungen eine direkte Linie zum Industriellendiskurs im Weltkrieg zu ziehen. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass das Gefühl, »politisch wenig Freunde zu haben«,98 ein Pendant in der Wahrnehmung der internationalen Handelsbeziehungen hatte, an das kurze Zeit später in einem veränderten Kontext angeknüpft werden konnte. Aus dem Bewusstsein, in einem harten Wettbewerb mit ausländischen Konkurrenten zu stehen, zogen die Industriellen weitreichende normative Konsequenzen. Zwar lässt sich trotz einzelner Appelle nicht von einer systematischen Boykottkampagne gegen Frankreich oder ein anderes Land sprechen. Verschiedentlich wurde jedoch postuliert, dass die Konsumenten moralisch verpflichtet seien, nationale Produkte ausländischen Angeboten vorzuziehen. 99 Die jeweiligen Interessenverbände riefen zum Kauf deutscher Feinmechanik, Dachpappe oder Hutmode auf100 Damit war ein grundsätzlicheres Problem aufgeworfen, denn die Nation wurde hier nicht nur als politisches Deutungsmuster, sondern als ethisches Prinzip verstanden, das individuellen Entscheidungen zugrundeliegen sollte, und zwar auch dann, wenn die eigenen materiellen Interessen oder geschmacklichen Präferenzen seiner Befolgung entgegenstanden. Dieser normative Anspruch richtete sich an die Verbraucher, zu denen auch die Industriellen selbst gehörten. Ende 1913 warnte die Zeitschrift des Württembergischen Industrie-Verbands vor dem Ausgreifen des 94 DI 15 (1913), S. 268ff.; vgl. dazu Wilsberg, S. 186-191. 95 DIZ 31 (1912), S. 773; DIZ 32 (1913); DI 14 (1912), S. 154f. 96 Ebd.;DIZ30(1911),S.617,662f. 97 HB 3 (1913), S. 123. 98 DIZ 31 (1912), S. 527f. 99 DIZ 32 (1913), S. 460; DI 13 (1911) S. 254f. 100 DI 15 (1913), S. 51f; DI 14 (1912), S. 359f.; WI 3 (1912), S. 136ff.
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amerikanischen Tabaktrusts nach Deutschland. Weil eine Gegenwehr mit den gleichen Waffen unmöglich sei und auch dem »Wesen und Geist des deutschen Kaufmanns« widerspreche, appellierte die deutsche Zigarettenindustrie an Handel und Verbraucher, auf »Trustzigaretten« zu verzichten. Die Industrie sei hier besonders gefordert, aus »nationalen Erwägungen«, aus kollegialer Solidarität und aus Eigeninteresse, d.h. als Prävention gegen die drohende »Vertrustung« weiterer Branchen der verarbeitenden Industrie: »Die volle Sympathie aller Industriekreise muß sich dem Kampf der deutschen Zigaretten-Industrie zuwenden; diese Sympathie muß sich in die Tat umsetzen, der deutsche Industrielle muss den amerikanischen Tabaktrust als Konsument niederkämpfen helfen und damit aller Welt zeigen, dass am Geist und Willen des deutschen Kaufmanns und des deutschen Industriellen alle Ränke der amerikanischen Trustleute zuschanden werden!«101 Nicht nur als Verbraucher, auch als Produzenten wurden die Industriellen von ihren Verbandsorganen in die nationale Pflicht genommen und aufgefordert, die deutsche Herkunft ihrer Erzeugnisse trotz der Vorliebe des Publikums für ausländische Produkte nicht zu verbergen.102 An dieser Stelle muss gefragt werden, ob die von den Industriellen propagierte Erweiterung der Nation zu einer ethischen Norm für individuelle Entscheidungen überhaupt Erfolg hatte. Inwieweit Kaufverhalten national motiviert war, lässt sich im einzelnen kaum nachweisen. Es spricht jedoch einiges dafür, von einer sehr begrenzten Resonanz solcher Appelle auszugehen. Die Industriellen selbst waren sich über die Schwierigkeit, »den deutschen >Michel< zur Erkenntnis zu bringen, dass es geradezu Pflicht ist, die nationale Arbeit zu unterstützen«, durchaus im klaren.103 Die Aufrufe zum Erwerb deutscher Produkte vermischten sich meist mit Klagen über die »schädliche Vorliebe für fremde Erzeugnisse«.104 Darin artikulierte sich nicht zuletzt ein Minderwertigkeitsgefühl gegenüber den konkurrierenden Nationen, deren Angehörige als patriotischer wahrgenommen wurden. Eine Zuschrift württembergischer Hutfabrikanten ging soweit, dieses deutsche Defizit aus der jahrhundertelangen Erfahrung »deutscher Zerrissenheit und Ohnmacht« zu erklären, die sich als »erbliche Belastung« in der Präferenz für ausländische Produkte fortsetze. Konkret wurde moniert, dass sich der »deutsche Michel...mit Hochgefühl einen englischen Filz auf das historische Denkerhaupt« setze.105 Auch dass die Industriellen selbst aus patriotischen Motiven deutsche Erzeugnisse vorzogen, erscheint fraglich. Als der Schwerindustrielle Paul Reusch seinen Freund 101 WT 4 (1913), S. 277ff. (Hervorhebungen im Original). 102 DIZ 30 (1911), S. 913f.; DI 15 (1913), S. 40f.; HB 3 (1913), S. 65. 103 WI 1 (1910), S. 107. 104 DIZ 30 (1911), S. 913f 105 WI3(1912), S. 136ff.
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Robert Bosch um dessen Meinung zum Erwerb eines französischen Autos bat, ging es ihm ausschließlich um die Qualität, nicht um das Herkunftsland.11*6 Überhaupt darf die Betonung der Bedeutung der Nation für das Selbstverständnis der Industriellen nicht dazu führen, ihre Grenzen zu verkennen. In den Berichten der Düsseldorfer und Stuttgarter Handelskammern war sie im Unterschied zu den Organen der Interessenverbände kaum präsent, auf die unternehmerische Praxis hatte sie keinen Einfluss - wie es scheint, hat es eine »Nationalisierung des Alltags« für die Industriellen nicht gegeben.107 Nicht nur die Industriellen, auch die hohen Beamten konnten in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg auf einen langanhaltenden Bedeutungsgewinn zurückblicken, dem ein intaktes Selbstbild und eine ungebrochene Erfolgsgeschichte korrespondierten. 108 Fragt man danach, wie sich die Nation konkret mit Einstellungen und beruflicher Tätigkeit der administrativen Eliten verband, ist zunächst auf deren Rolle bei nationalen Feiern und Denkmalsgründungen einzugehen. Die intensive Forschung der letzten Jahre hat herausgearbeitet, dass die rituelle und symbolische Präsenz des Nationalen im Kaiserreich nicht zuletzt staatlich oder zumindest von der höheren Beamtenschaft initiiert und getragen war.109 Das galt zwar längst nicht für alle Denkmäler und Feste, aber die Organisation von Sedanstagen, Kaisergeburtstagen und zahlreichen anderen nationalen Feiern gehörte am Vorabend des Ersten Weltkriegs fest zum Aufgabenbereich der einzelstaatlichen Bürokratie. 110 Das hatte zur Folge, dass gelungene patriotische Veranstaltungen mit breiter Resonanz zum Leistungsnachweis von Regierungspräsidenten und Landräten zählten und die vierteljährlichen Verwaltungsberichte einleiteten. Damit integrierten sie die eigene administrative Tätigkeit in einen nationalen Rahmen und unterstrichen gleichzeitig deren erfolgreiche Bilanz. 111 In den Darstellungen der Feiern, die durch wenige Stereotypen geordnet und konstruiert wurden, schlug sich die spezifische Prägung des bürokratischen Nationsverständnisses nieder: Der Kaisergeburtstag wurde stets unter »lebhafter Beteiligung aller Bevölkerungsschichten...in der üblichen festlichen Weise« begangen. 112 1913 wurde die Erinnerung an die Befreiungs106 Paul Reusch an Robert Bosch, 6.8.1906, RBA, 14/93. 107 Monatsschrift der Handelskammer zu Düsseldorf für den Stadt- und Landkreis Düsseldorf 6-9 (1910-1913); Jahresbericht der Handelskammer Stuttgart 1910-1913; der BegrifTder »Nationalisierung des Alltags« (mit vorsichtiger Anwendung) bei Haupt/Tacke, S. 281 ff.; zur pragmatischen, rein unternehmerisch motivierten Expansion deutscher und französischer Großindustrieller in das jeweilige Nachbarland vgl. Wilsberg, S. 220-270. 108 Vgl. Henning, S. 37-112; vonKlimó; Süte, S. 19-204; Wunder, S. 69-108. 109 Vgl. u.a.Hardtwig, Nationsbildung, S. 267-279;ders., Bürgertum, S.210f;Tacke, Denkmal, S.290;Alings,S. 284-301. 110 Schellack, Nationalfeiertage,S. 15-132;ders., Sedan- und Kaisergeburtstagsfeste. 111 Vgl. z.B. die vierteljährlichen Verwaltungsberichte des Regierungspräsidenten von Düsseldorfaus den Jahren 1911 bis 1913, HStAD, RD, 28. 112 Regierungspräsident von Düsseldorf, Verwaltungsbericht für das erste Vierteljahr 1912,
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kriege »in allen Teilen würdig gefeiert«, die Verlobung von Prinzessin Viktoria Luise »aufs freudigste begrüßt« und das Regierungsjubiläum »in Stadt und Land unter besonders starker Beteiligung der Jugend in patriotischer Weise gefeiert«. m Derartige Klischees sagen wenig aus über die populäre Resonanz des gouvernementalen Reichsnationalismus und seines in die Jahre gekommenen Formenrepertoires, aber viel über die Sagbarkeitsregeln und diskursiven Zwänge, die solche Verwaltungsberichte strukturierten. Die »imagined Community«, die den hohen Beamten als Ideal vor Augen stand, definierte sich durch bestimmte, normativ ausgezeichnete Eigenschaften. Sie war königstreu und mit dem »Gefühl gehobener vaterländischer Gesinnung« grundiert, dabei aber ruhig, ordentlich und »würdig«, frei von schädlicher »Erregung« und von der »sozialdemokratischen Agitation«.114 Der letztere Aspekt verweist darauf, dass die nationalpolitische Tätigkeit der hohen Beamtenschaft bei allen Idealisierungstendenzen nicht in jedem Punkt zu Erfolgsmeldungen Anlass geben konnte. Denn dort wo sie mit dem Anspruch einherging, weitverbreitete und tiefverankerte kollektive Einstellungen radikal und dauerhaft zu verändern, stieß sie auf die engen Grenzen der staatlichen Steuerungskapazität in der fragmentierten Gesellschaft des Kaiserreichs. Das zeigte sich im Kulturkampf,115 bei der Bekämpfung der Sozialdemokratie und nicht zuletzt in der Polenpolitik, dem Bereich, in dem sich Etatismus und Nationalismus am markantesten verbanden. Die Forschung hat den repressiven Charakter des Nationalitätenkampfes im preußischen Osten ebenso eindringlich betont wie seine mit der Zeit immer deutlicher hervortretende Erfolglosigkeit.116 In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg konnten auch die zuständigen Spitzenbeamten dieses Scheitern nicht mehr vor sich selbst und dem preußischen Innenministerium verbergen. In Posen und Schlesien stand man dem Wachstum der polnischen Bevölkerung bei gleichzeitigem »Rückgang des Deutschtums« machtlos gegenüber.117 Auch in Pommern und im rheinisch-westfälischen Industriegebiet waren die Lagebeurteilungen und Prognosen pessimistisch.118 1.5.1912, HStAD, RD, 28, Bl. 226-236; ebenso Regierungspräsident von Düsseldorf, Verwaltungsbericht für das erste Vierteljahr 1913, 28.4.1913, ebd., Bl. 439-449. 113 Die ersten beiden Zitate ebd.; Regierungspräsident von Düsseldorf, Verwaltungsbericht für das zweite Vierteljahr 1913, 31.7.1913, HStAD, RD, 28, Bl. 473-480. 114 Die ersten beiden Zitate ebd.; Regierungspräsident von Düsseldorf, Verwaltungsbericht für das vierte Vierteljahr 1912, 31.1.1913, HStAD, RD, 28, BL 403-411. 115 Vgl. dazu Blackboum, Wenn ihr sie wieder seht..., bes. S. 403-415. 116 Vgl. als Uberblicke u.a. Broszat, S. 129-172; Wehler, Polenpolitik; Eley, German Politics. 117 Oberpräsident von Posen an Minister des Innern, 15.9.1913, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 871, Nr. 1, Adh. Xlla, Bl. 54-84; Regierungspräsident von Oppeln an Minister des Innern, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 871, Nr. 23, Adh. VII, Bd. 6, Bl. lf. 118 Oberpräsident von Pommern an Minister der geistlichen und Unterrichtsangelegenheiten, 13.1.1912,GStAPK, Mdl, HAI, Rep. 77,Tit. 871, Nr. 23, Adh. III, Bd.2, Bd. 5f.; verschiedene Berichte des Polizeipräsidenten von Bochum aus den Jahren 1910 bis 1914 in: GStA PK, Mdl,
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Die Misserfolge des Nationalitätenkampfes führten aber nicht dazu, seine Zielsetzungen und Methoden infragezustellen. Im Gegenteil gaben sie zum Ruf nach noch mehr und schärferen Instrumenten staatlicher Repression Anlass, wie er zum Beispiel in einer Klage über galizische »Agitatoren« im schlesischen Regierungsbezirk Oppeln zum Ausdruck kommt: »Was die mir selbst zustehenden Machtmittel anlangt, so habe ich mich bemüht, den hiesigen Bezirk nach Kräften von galizischen Agitatoren frei zu halten, und habe zu diesem Zwecke rücksichtslos von dem Ausweisungsrecht und polizeilichen Zwangsmaßnahmen Gebrauch gemacht. Leider sind mir gegenüber der einflußreichsten Kategorie von ausländischen Hetzern durch ministerielle Erlasse die Hände gebunden: ich meine die ausländischen Geistlichen ...ie\ Singer. Die staatsnationalen Züge des Kaiserreichs hat bereits Theodor Schieder hervorgehoben: Schieder, S. 16, 32, 49f. 395 So zuletzt anhand der Staatssymbolik Hardtwig, Bürgertum, S. 208, 218; die Verunsichcrung und staatlich induzierte Zersplitterung des deutschen Bürgertums im Vergleich zu Frankreich betont Kaelble, Nachbarn, S. 69, 77-81. 396 So Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 1290.
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Auf der anderen Seite dürfen jedoch über den Gemeinsamkeiten die erheblichen deutsch-französischen Unterschiede nicht vergessen werden, von denen drei besonders hervorzuheben sind. Erstens standen völkische Deutungsmuster im Diskurs der deutschen hohen Beamten zwar in Konkurrenz zu staatsnationalen Ideen, stießen aber doch auf größere Resonanz als bei der französischen Spitzenbürokratie. Zudem waren die Grenzen zum organisierten Radikalnationalismus in Deutschland durchlässig, während er in Frankreich Objekt staatlicher Überwachung und Repression war. Wie sind diese Differenzen zu erklären? Die Polenpolitik verschärfte die ethnischen Elemente des deutschen Nationalismus und verlieh ihnen, wie hier für Württemberg nachgewiesen werden konnte, auch außerhalb des preußischen Ostens und in sicherer Entfernung von Minderheitenproblemen Plausibilität.397 Überdies war der Antisemitismus in Deutschland zwar insgesamt nicht verbreiteter als in Frankreich, durchzog aber Richtlinien und Praxis der preußischen Staatsbürgerschaftspolitik, während der organisierte Radikalnationalismus im Kampf gegen Liberalismus und Sozialdemokratie nützliche Dienste leisten konnte. In Frankreich gab es dagegen trotz sprachlicher Minderheiten kein Pendant zum preußischen Nationalitätenkampf, die Einbürgerungspraxis war von den assimilatorischen Idealen des Republikanismus geprägt,398 und der antisemitische integrale Nationalismus trat als eine gewaltbereite systemoppositionelle Bewegung auf, die die Präfekten schon von Berufs wegen zu überwachen und nach Möglichkeit zu unterbinden hatten. Zweitens verbanden Industrielle und hohe Beamte in Deutschland auf lokaler Ebene gemeinsame kulturelle Deutungsmuster, zu denen nicht zuletzt konsensfähige, auf parallelen Narrativen beruhende Varianten der Nation gehörten. Demgegenüber hatten in Frankreich die nationalen Ideen der katholischen Unternehmerschaft ihre identitären Bezugspunkte in vorrevolutionären regionalen oder städtischen Traditionen und standen in einem scharfen Gegensatz zum unitarischen Nationsverständnis der Präfekten als lokaler Repräsentanten des republikanischen Zentralstaats.399 Die Ursachen dafür lagen einmal in den tiefen Trennlinien zwischen Katholizismus und Laizismus, die die französische politische Kultur und speziell das Verhältnis zwischen Großbürgertum und Staat seit der Jahrhundertwende stärker prägten als der konfessionelle Gegensatz in Deutschland und die vom Nationalismus eher vertieft als überbrückt 397 In diesem Punkt ist Hans-Ulrich Wehler zuzustimmen, der die Besonderheit der deutschen Germanisierungspolitik gegenüber der polnischen Minderheit betont (ebd.). 398 Die vorliegende Arbeit bestätigt insoweit zumindest für die hohe Beamtenschaft die Darstellung der französischen Staatsbürgerschaftspolitik bei Brubaker, S. 121-155. 399 Dagegen betont Hartmut Kaelble in sozialhistorischer Perspektive, dass das deutsche Bürgertum heterogener als das französische gewesen sei: Kaetble, Bürgertum, S. 117-127; ders., Nachbarn, S. 71-77. Die vorliegende Arbeit kommt v.a. deshalb zu einem entgegengesetzten Urteil, weil die Konzentration auf die Deutungen der Nation auf lokaler Ebene dazu fuhrt, den Unterschied zwischen katholischen und laizistischen Eliten stärker zu gewichten.
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wurden. Zum anderen ermöglichte der föderale und kommunale Charakter des Kaiserreichs regionalen und lokalen Identitäten und Interessen größere Entfaltungsspielräume als in Frankreich, wo sie viel direkter mit dem Machtanspruch des Einheitsstaats konfrontiert waren. Schließlich bewirkte der rapide ökonomische Aufstieg, der Metropolen wie Düsseldorf prägte, dass die städtischen Eliten von zugewanderten Industriellen und kommunalen Spitzenbeamten dominiert waren, die anders als in Frankreich ältere lokale Erinnerungsstränge verdrängten. Drittens fand sich nur in Deutschland die Verbindung von bürgerlichem Partizipationsanspruch und außenwirtschaftlichem wie imperialem Expansionsdrang, der am Vorabend des Ersten Weltkriegs mit Unmut über den »Neid« der Konkurrenten und dem Gefühl, in weltpolitischer Hinsicht zu kurz gekommen zu sein, einherging.400Dagegen wurde in Frankreich trotz der Bedeutung imperialistischer Ideen von verschiedenen Seiten das Leitbild einer durch Handelsbeziehungen fundierten internationalen Kooperation formuliert. Die Gründe hierfür sind in der - im Hansa-Bund oder bei den württembergischen Industriellen immer wieder artikulierten - Deutungskonkurrenz exportorientierter, dezidiert moderner Unternehmer mit dem ostelbischen Adel zu suchen, zu der es in Frankreich kein Pendant gab. Sie lagen auch in der bescheidenen Bilanz der wilhelminischen »Weltpolitik« im Unterschied zum großen, ökonomisch erst ansatzweise ausgebeuteten französischen Kolonialreich, die mit der schnelleren Expansion und stärkeren Weltmarktorientierung der deutschen Industrie schmerzlich kontrastierte.401 In Frankreich behielt dagegen ein traditioneller Wirtschaftszweig wie die Seidenfabrikation mit ihren etablierten Absatzmärkten und ihrem kosmopolitischen Selbstverständnis ein vergleichsweise hohes ökonomisches und ideelles Gewicht. Insgesamt ergibt sich also ein nuanciertes vergleichendes Bild, das Gemeinsamkeiten und Unterschiede umfasst und sich nicht auf eine griffige Kurzformel oder lineare Tendenz reduzieren lässt. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs war die weitere Entwicklung der gedachten Ordnung Nation, ihrer kulturellen Deutungsmacht und gesellschaftlichen Verbreitung, nicht ausgemacht und ging keineswegs zwangsläufig in Richtung einer Radikalisierung. Der Krieg sollte ihr hier wie dort enorme Plausibilität verschaffen und Ansätze zu ihrer Begrenzung vorerst diskreditieren, andererseits aber auch ihr inhärentes Konfliktpotential zum Vorschein bringen.
400 lichkeit 401 fassend
Insoweit ist Wehler, Gesellschaftsgcschichte, Bd. 3, S. 1290 zuzustimmen, der Empfindund Geltungsdrang des deutschen Imperialismus betont. Vgl. den Vergleich der beiden Industrialisicrungswege bei Kaetble, Nachbarn, zusammenS. 39.
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Kapitel II Nationen im Krieg Der Erste Weltkrieg bezog Staat und Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur der an ihm beteiligten Länder in einem extremen und zuvor unbekannten Maße ein.1 Damit ging eine enorme Ausweitung der Geltungsgrenzen der Nation einher, die nun zur obersten Legitimationsinstanz für ein breites Spektrum menschlicher Aktivitäten erhoben wurde. Besonders Männer, die nicht selbst an der Front standen, waren erheblichen Rechtfertigungszwängen unterworfen. Das galt auch für Industrielle und hohe Beamte, die als führende Akteure von Wirtschaft und Staat zentrale Positionen innehatten, aber gerade deshalb höchst angreifbar waren. Sie reagierten darauf, indem sie ihre Tätigkeit als patriotischen Beitrag zur Kriegführung überhöhten und ihr auf diese Weise eine äußere wie innere Legitimation verliehen. Auf dieser Basis beteiligten sie sich an der Konstruktion der Kriegsnation und strebten danach, ihre Deutungen zur verbindlichen Definition zu erklären und durchzusetzen. Das vorliegende Kapitel analysiert, in welcher Weise und mit welchen Folgen sich dieser Versuch vollzog, aber auch, mit welchen Problemen und Grenzen er konfrontiert war. Dabei werden erneut zwei Ebenen unterschieden. Erstens betteten Industrielle und hohe Beamte ihr Selbstverständnis als ökonomische und administrative Eliten in die Kriegsnation ein und adaptierten sie umgekehrt an ihre Deutungsbedürfnisse und Interessen. Abhängig von militärischer Relevanz und politischem Einflussgrad des jeweiligen Wirtschaftszweigs, des einzelnen Unternehmers oder Spitzenbürokraten geschah dies jedoch in unterschiedlicher Weise und mit unterschiedlichem Erfolg. In vergleichender Perspektive ist zu fragen, inwieweit sich hier spezifische Ausgangsbedingungen niederschlugen. Wie wirkten sich die Traditionen des kaiserlichen Obrigkeitsstaates und der demokratischen Dritten Republik auf die Möglichkeiten der hohen Beamtenschaft aus, im Krieg ihre Definitionsmacht über die Nation zu behalten und konsensstiftend zu agieren? Welche Rolle spielten die konservativ motivierte Distanz zum Staat und das Unterlegenheitsgefühl gegenüber Deutschland, die für die französischen Industriellen charakteristisch waren? Ferner sind die Unterschiede der militärischen Lage in Rechnung zu 1 Vgl. hier nur die Beiträge in: Home (Hg.).
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stellen. Welche Konsequenzen hatte es, dass die deutschen Eliten bis kurz vor dem Waffenstillstand mehrheitlich an riesige territoriale Gewinne glaubten und die Option hatten, ihre Aktivitäten bis nach Belgien oder Lettland auszudehnen, während in Frankreich der Defensivkampf gegen Invasion und Besatzung im Vordergrund stand? Zweitens waren Industrielle und hohe Beamte auf lokaler bzw. regionaler Ebene Akteure der Heimatfront. Ihr Selbstverständnis trug bürgerliche Züge. Beides prägte die jeweilige Konstruktion der Kriegsnation, deren sinngebende Kraft umgekehrt lokale, regionale und bürgerliche Identitäten bestätigte und aufwertete. An diese allgemeine Feststellung schließt sich wiederum die Frage nach der Rolle der unterschiedlichen Vorkriegsprägungen an. Inwieweit wirkte die Distanz zwischen dem republikanischen Unitarismus der französischen Präfekten und der lokalen Identität der Unternehmer im veränderten Kontext des Krieges fort? Wie unter den spezifischen Bedingungen der feindlichen Besatzungsherrschaft in Nordfrankreich? Welche Folgen hatten andererseits die starke Stellung der kommunalen Selbstverwaltung und die kulturellen Gemeinsamkeiten zwischen einzelstaatlicher Bürokratie und örtlichem Wirtschaftsbürgertum in Deutschland? Konnte im föderalen System des Kaiserreichs der Appell an die Nation regionale Interessen- und Identitätskonflikte besser ausgleichen als im Zentralstaat Frankreich? Nach der vergleichenden Untersuchung dieser Aspekte wird abschließend nach der Stellung des Ersten Weltkriegs in der Geschichte des deutschen und französischen Nationalismus gefragt, die eng mit dem Problem seiner Einordnung in die Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts zusammenhängt.
A. Der Schein des Sieges. Deutungen der Kriegsnation in Deutschland Die deutschen ökonomischen und administrativen Eliten erfuhren den Ersten Weltkrieg als eine tiefgreifende Bewährungsprobe für ihre Selbstdeutungen, Identitäten und Interessen, die sie subjektiv eindrucksvoll bestanden: Sie sahen sich als Industrielle bzw. höhere Beamte, als Bürger und als Deutsche aufgewertet. Diese Erfolgsgeschichte wurde jedoch in vielen Fällen durch fehlende äußere Anerkennung konterkariert, die zusammen mit dem Spannungsverhältnis zwischen patriotischen Solidaritätsansprüchen und realer Solidaritätsverweigerung Bruchlinien in der Kriegsnation hervortreten ließ.
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1. Kampf u m Anerkennung: Selbstaufwertung, Kriegserfahrungen und Interessenverfolgung Es ist kaum möglich, das Ausmaß zu überschätzen, in dem der Erste Weltkrieg die deutsche Gesellschaft strapazierte. Bereits wenige Monate nach seinem Ausbruch wurde deutlich, dass Wirtschaft und Staat umfassend in den militärischen Konflikt einbezogen und dadurch weit über die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit hinaus gefordert waren. Unter den Bedingungen einer allgegenwärtigen ökonomischen Knappheit und mit zunehmender Dauer des Krieges verschärften sich die tiefen Gegensätze, die das Kaiserreich bereits vor 1914 gekennzeichnet hatten. Auch der spärliche Bestand an kulturellen Integrationsressourcen war bald aufgebraucht, und trotz aller Einheitsbekundungen und Zensurbemühungen prägte ein erbitterter Grundton das innere Klima der deutschen Gesellschaft.2 Lange Zeit nahm die historische Forschung - erst mit affirmativem, dann mit kritischem Beiklang - an, dass dies im August 1914 noch anders ausgesehen hatte: Die öffentliche Meinung, so die klassische Lesart, sei von einer Kriegsbegeisterung bestimmt gewesen, die sich auch auf die Arbeiterschaft erstreckt habe.3 In den letzten zehn Jahren ist diese Auffassung jedoch nachhaltig revidiert worden. Arbeiter und Bauern erscheinen im Lichte der jüngsten Arbeiten zur Bevölkerungsstimmung ebensowenig als kampfbereite Enthusiasten wie zahlreiche andere gesellschaftliche Gruppen. 4 Der »Geist von 1914«, so hat zuletzt Jeffrey Verhey überzeugend dargelegt, war in erster Linie ein Intellektuellenkonstrukt und ein Mythos, der von der Staatsund Armeefuhrung und der politischen Rechten geschaffen und eingesetzt wurde, um die Opferzumutungen des Konflikts und damit auch die eigene Machtstellung zu legitimieren. 5 Dieser Befund regt dazu an, die Frage nach dem Verhältnis von Nationalismus, Kriegserfahrung und gesellschaftlicher Polarisierung neu zu stellen. Denn wenn die Einheit aller Deutschen im Angesicht des Feindes mehr Anspruch als Realität war, welche Konsequenzen hatte es dann, dass sie nicht nur »von oben«, sondern von den verschiedensten Gruppen unermüdlich propagiert wurde? In welcher Beziehung stand der ubiquitäre Ruf nach patriotischer Opferbereitschaft und Solidarität zu einer Kriegswahrnehmung, die in unterschiedliche und oft konträre »subjektive Repräsentationen desselben Ereignisses« zerfiel?6 Kurz, inwieweit hatte das Leit-
2 Vgl. Chickering, Imperial Germany; Mai, Ende; Kocka, Klassengesellschaft. 3 So z.B. Rürup. 4 Vgl. Kruse, Krieg; Ullrich; Ziemann,Augusterlebnis;ders., Front, sowie verschiedene Beiträge in: Hirschfeld u.a. (Hg.), Kriegserfahrungen. 5 Verhey. 6 Hopbach, S. 260; vgl. dazu auch verschiedene andere Beiträge in: Hirschfeld u.a. (Hg.), Kriegserfahrungen.
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bild der Nation einheitsstiftende und homogenisierende, inwieweit im Gegenteil konfliktverschärfende und differenzierende Wirkungen? Diese Fragen leiten die folgenden Ausführungen zu den nationalen Deutungen der deutschen Industriellen und hohen Beamten. Beide Gruppen waren in besonders exponierter Position in die inneren Herausforderungen und Probleme der Kriegsjahre involviert und rückten sich daher subjektiv in das Zentrum der nationalen Kampfanstrengung. Das taten sie jedoch mit unterschiedlichem äußeren Erfolg: Während zahlreiche Industrielle ihre Deutungsbedürfnisse, Erfahrungen und Interessen schon deshalb problemlos mit dem Wohl der Nation synchronisieren konnten, weil sie in eminent kriegswichtigen Branchen tätig waren und entsprechende materielle und symbolische Gewinne erzielen konnten, litten ihre weniger begünstigten Kollegen an der Diskrepanz zwischen ihrer Selbstwahrnehmung als opferbereite Patrioten und der mangelnden staatlichen und öffentlichen Anerkennung ihrer Leistungen. Ähnliches galt für die hohen Beamten, die den drastischen Legitimitätsverlust des kaiserlichen Staates zu spüren bekamen und das, was sie vor dem Krieg noch an Definitionsmacht über die Nation besessen hatten, an Armee und Bevölkerung verloren. Im Kampf gegen Fremdwörter und Kontrazeptiva, vor allem aber in der Verwaltung der besetzten osteuropäischen Gebiete strebten sie nach einer Kompensation, die utopische Züge annahm. In allen Fällen trug der Konnex von gruppenspezifischen Selbstdeutungen und Konstruktion der Nation entscheidend dazu bei, die eigene Existenz an die erfolgreiche Kriegsanstrengung zu binden und damit die Möglichkeit eines Scheiterns von vornherein aus dem Bereich des Denk- und Sagbaren auszuschließen. In diesem Kapitel wird zunächst untersucht, wie die Industriellen den Krieg und seine Ursachen interpretierten und welche Feindbilder und Kriegsziele sich daraus ergaben. Am Beispiel einiger Unternehmer und ihrer Bemühungen um Fortführung des Betriebs, Werbung und Binnenlegitimation sowie um Rohstoffe und Heeresaufträge wird anschließend gezeigt, wie sich Kriegserfahrung, individuelle Selbstlegitimation und Interessenverfolgung auf der einen und das Leitbild der Nation auf der anderen Seite zueinander verhielten. Daran anknüpfend stellt sich die Frage, welche Ansprüche und Erwartungen an Staat und Öffentlichkeit, aber auch an die Angehörigen der eigenen Gruppe die Industriellen daraus ableiteten und inwieweit diese erfüllt oder vielmehr enttäuscht wurden. Für die hohen Beamten ist ebenfalls das Verhältnis von gruppenspezifischer Selbstdeutung und nationaler Ordnung zu beleuchten. Anhand der Behandlung feindlicher Ausländer und der Konflikte um die Verleihung militärischer Auszeichnungen an Zivilpersonen werden die Folgen rekonstruiert, die der Legitimitätsverlust der Verwaltung für ihre nationale Definitionsmacht hatte. Der administrative Kampf gegen Fremdwörter und Kontrazeptiva sowie die Partizipation hoher Beamter an der Neuordnung Osteuropas in- und außerhalb der besetzten Gebiete werden unter der Frage-
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Stellung untersucht, inwieweit sich hier bürokratische Gestaltungsansprüche kompensatorisch Bahn brachen. Abschließend ist das Spannungsverhältnis von Konfliktträchtigkeit und utopischer Konfliktüberwindung des Nationalismus im Ersten Weltkrieg herauszuarbeiten und nach den Erwartungen an die Nachkriegszeit zu fragen, die daraus resultierten. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs kam für die Industriellen ebenso überraschend wie für die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung. Es kann keine Rede davon sein, dass sie darauf mit Enthusiasmus reagiert hätten.7 Dazu hatten sie auch wenig Anlass, denn der Krieg grifTzunächst in Form eines wirtschaftlichen Einbruchs in ihre unternehmerische Tätigkeit ein. 8 Besonders Branchen, die exportorientiert waren bzw. keine kriegs- oder lebenswichtigen Produkte herstellten, machten aus ihrem Bedauern über die neue Lage kein Hehl. 9 Auf der anderen Seite fand sich auch der verbreitete Topos des Kriegsausbruchs als Erleichterung, als »reinigendes Gewitter« nach der als unerträglich empfundenen Spannung der vorangegangenen Tage.10 Insgesamt überwog jedoch der Duktus patriotischer Entschlossenheit und Opferbereitschaft, der mit dem Leitbild einer von »Ruhe und Besonnenheit« gekennzeichneten Emotionalität einherging und sich damit von enthusiastischen Gefühlsausbrüchen und chauvinistischer Hysterie abgrenzte. 11 Branchenübergreifend und unabhängig von regionaler Herkunft oder politischer Orientierung waren sich die Industriellen in ihrer Deutung des Krieges und seiner Ursachen einig. Aus ihrer Sicht handelte es sich um einen Kampf um ökonomische Vorherrschaft, der als Folge des Neids der Alliierten auf den deutschen Aufstieg zur industriellen Großmacht interpretiert wurde. Zu Beginn des Aufrufs, mit dem der neugegründete Kriegsausschuss der deutschen Industrie die erste Nummer seines Verbandsorgans einleitete, hieß es: »Deutschland ist von Feinden umringt; die deutsche Entwicklung der letzten Jahrzehnte ist ihnen ein Dorn im Auge. Deshalb sollen die Früchte der deutschen Arbeit zerstört werden. Die Feindschaft gilt der deutschen nationalen Arbeit; denn sie ist die Stütze unserer Weltmachtstellung.« 12
Diese ökonomistische Interpretation stellte eine gruppenspezifische Variante des deutschen Verteidigungskriegskonsenses dar. Sie knüpfte unmittelbar an 7 Zur Reaktion der Unternehmer auf den Kriegsausbruch vgl. die präzise Analyse zu Württemberg von Hopbach, S. 252ff.; vgl. zum folgenden die zusammenfassende Darstellungder Kriegswirtschaft bei Mai, Ende, S. 88-116. 8 Vgl. ders., Kriegswirtschaft, S. 65ff. 9 Das galt z.B. für die Spielwarenindustrie, vgl. Hoffmann, S. 324f. 10 Vereinsblatt der Badischen Anilin- & Soda-Fabrik Ludwigshafen a/Rh. 2 (1914/15), S. 57f; Monatsschrift der Handelskammer zu Düsseldorf für den Stadt- und Landkreis Düsseldorf 10 (1914), S. 233. 11 WI 5(1914), S. 177; ähnlich AG 1914, S. 173f.; MKI, Nr. 1 (14.8.1914), S. 2. 12 Ebd.; ähnlich WI 5 (1914), S. 177; vgl. Hopbach, S. 250.
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die Überzeugung der Vorkriegszeit an, dass die Industrie für den nationalen Aufstieg die zentrale Rolle spiele. Der Topos des neidischen Auslands, das den Erfolg der deutschen Wirtschaft zu bremsen versuche, der vor 1914 vorhanden, aber nicht dominant gewesen war, wurde nun zur Schlüsselkategorie für die Deutung des Konflikts erhoben. Das reduzierte seine komplexe Vorgeschichte auf eine einfache Formel und deutete sie zu einer linearen Entwicklung um. Kritische Fragen nach der Legitimation des Krieges konnten so gar nicht erst aufkommen. Diese Interpretation ermöglichte eine konsensfähige Sinngebung, die der Industrie eine zentrale nationale Rolle zuschrieb und über die wechselvollen Erfahrungen und harten Interessengegensätze der Kriegsjahre hinweg beibehalten wurde. Der wichtigste Träger dieses Neids und damit der Hauptschuldige am Krieg war England, dem man einen lange vorbereiten Plan zur »Vernichtung des Handels und der Industrie des unbequemen Nebenbuhlers auf dem Weltmarkt« unterstellte.13 Bis zum Ende des Krieges blieb England das mit Abstand am häufigsten evozierte Feindbild der Industriellen, mit dem sie die Mentalität eines »Krämervolkes« verbanden, das den Krieg als bloßes »Rechenexempel« betreibe.14 Damit adaptierten sie ein verbreitetes antienglisches Stereotyp, obwohl dies aus ihrer Unternehmerperspektive im Grunde einen Widerspruch darstellte.15 Dieser Negativfolie wurde das Leitbild des anständigen, opferbereiten und großzügigen »deutschen Kaufmanns« gegenübergestellt. ,6 England lastete man unter anderem Spionage, Diffamierung der deutschen Industrie und die Verwendung farbiger Arbeitskräfte an.17 Vor allem aber trug die von Walther Rathenau als »Terrorismus zu Lande und zur See« bezeichnete alliierte Rohstoffblockade, welche die unternehmerische Erfahrungswelt direkt betraf, entscheidend zur Verfestigung des Feindbilds bei.18 Gegenüber der Entscheidung zwischen »Deutschland oder England« spielten die anderen Kriegsgegner bis auf die gelegentliche Erwähnung des Dreiklangs »gallischer Hass, britischer Neid und russische Unkultur« eine untergeordnete Rolle. 19 Das Vereinsblatt der Badischen Anilin- & Soda-Fabrik erinnerte zwar wiederholt an frühere französische Besetzungen der Pfalz, bezeichnete aber ebenfalls England als Hauptfeind.20 Die relative Vernachlässi13 AG 1914, S. 189-193; ähnlich MKI, Nr. 7 (9.9.1914), S. 63; WI 6, (1915), S. 39f.; vgl. Hopbach, S. 248ff. 14 MKI, Nr. 13 (6.10.1914), S. 129f. und Nr. 14 (10.10.1914), S. 138-141; ähnlich der MannesmanndirektorEich,S. 74. 15 Vgl.Äeiifcrf.S. 137u.Jahr. 16 MKI, Nr. 13 (6.10.1914), S. 129f.; ähnlich Blätter vom Hause 1 (1914), S. 91-95. 17 MKI, Nr. 24 (19.12.1914), S. 293ff., Nr. 41 (17.4.1915), S. 606ff. und Nr. 148 (28.4.1917), S. 2391 ff. 18 Rathenau, Rohstoffversorgung, S. 44; ähnlich WI 7 (1916), S. lf. 19 MKI, Nr. 117 (30.9.1916), S. 1877; ähnlich ebd., Nr, 14 (10.10.1914), S. 138-141. 20 Vereinsblatt der Badischen Anilin-& Soda-Fabrik Ludwigshafen a/Rh. 3 (1915/16), S. 19ff., 4(1916/17), S. 114, 161-165 und 5 (Mai 1917/18), S. 19.
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gung der übrigen Kriegsgegner im Unternehmerdiskurs änderte jedoch nichts daran, dass die wirtschaftlichen Beziehungen zum Ausland nunmehr ausschließlich als Unterkapitel des nationalen Großkonflikts gedeutet wurden. Darin lag eine markante Zäsur gegenüber der Vorkriegszeit, die auch die Industriellen selbst als solche wahrnahmen. So konstatierte der Geschäftsführer des Vereins deutscher Eisenhüttenleute, dass er von den ausländischen Kollegen, zu denen über viele Jahre freundschaftliche Kontakte bestanden hätten, durch einen »Abgrund von schier ewiger Tiefe« getrennt sei. Diese wechselseitige Entfremdung beklagte er zwar, führte sie aber ausschließlich auf die englische Propagandatätigkeit zurück.21 Bei einer Reise in die besetzten französischen Gebiete habe er einen bekannten Werksleiter getroffen und »mit starker Bewegung« gegrüßt. Anschließend attestierte er sich, keinerlei Hass, sondern »industriellem und menschlichem Empfinden entspringendes Mitgefühl über die gestörte Friedensarbeit und über das Unglück.., das über die eineinhalbtausend Arbeiter des Werkes so jäh hereingebrochen war«, empfunden zu haben.22 Selbst wenn man die Selbstrechtfertigungstendenz dieser Äußerung in Rechnung stellt, zeigt die Episode doch, dass die durchgreifende Nationalisierung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen im Krieg nicht nur begrüßt, sondern auch als Verlust empfunden wurde. Das änderte jedoch nichts an der Gewissheit, im Recht zu sein. Der Bevölkerung der besetzten Gebiete in Belgien und Nordfrankreich wurde zwar kein Hass entgegengebracht, aber lapidar empfohlen, sich bei ihren Regierungen und England für ihr Schicksal zu bedanken. 23 Dass die Industriellen derart einseitig und nahezu ausschließlich das Feindbild England in den Mittelpunkt rückten, obwohl sie sich vor dem Krieg durch die französische Zollpolitik zu manchen Invektiven veranlasst gesehen hatten, lag in ihrer ökonomistischen Kriegsdeutung begründet: Durch die Besetzung seiner wichtigsten Industriegebiete und die hohen Verluste erschien Frankreich »in seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit sehr stark beeinträchtigt, z.T. zu Boden geschmettert« und damit ungeachtet seiner militärischen Zählebigkeit besiegt, während Russland als ernstzunehmender Gegner gar nicht erst in Betracht kam.24 Dagegen war England als Handelsgroßmacht der logische Schuldige in einer Sicht, die den deutschen wirtschaftlichen Erfolg und den dadurch bewirkten »Neid« zur alleinigen Kriegsursache erklärte.
21 Hauptuersammlung, S. 7. 22 Ebd.,S. 13. 23 Ebd.,S. 17. 24 Ebd., S. 13; ähnlich MKI, Nr. 36 (13.3.1915), S. 515f. und Nr. 162 (4.8.1917), S. 2573f. Dagegen ist die Auffassung von Hopbach, S. 248, dass sich die Englandfeindschaft der württembergischen Unternehmer aus ihrer Exportorientierung erkläre, für sich genommen nicht überzeugend, denn sie findet sich genauso bei anderen Industriellen, unabhängig von Export- oder Binnenmarktausrichtung. Gerade die württembergischen Unternehmer hatten sich vor dem Krieg des öfteren über französische »Zollschikanen« beschwert.
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Die Industriellen interpretierten den Krieg als Fortsetzung der ökonomischen Aufstiegserzählung des Kaiserreichs, als »Meisterstück...in einer Weltprobe auf die Beständigkeit seiner friedlichen Erfolge«, eine narrative Konstruktion, die gegenüber der Vorkriegszeit noch einmal eine enorme Steigerung ihrer nationalen Selbstlegitimation bedeutete. 25 Davon profitierten selbst verstorbene Unternehmer und Verbandsfunktionäre, deren gesamtes Lebenswerk in eine Vorbereitung auf den Konflikt umgedeutet wurde. 26 Auch Jugend und Alter des Schwerindustriellen Emil Kirdorf, der 1917 seinen siebzigjährigen Geburtstag beging, waren von Kriegen geprägt, und sein Lebensabend drohte von den Nachwirkungen des aktuellen Konflikts überschattet zu werden. 27 Indem sie die Vergangenheit als Aufstiegsgeschichte und die Gegenwart als deren Fortsetzung erzählten, legitimierten die Industriellen nicht nur den Krieg, sondern bewirkten auch, dass Zweifel an seinen Erfolgsaussichten jenseits der Sagbarkeitsgrenzen blieben. Wenngleich bei der Interpretation ihrer Äußerungen Zensur und Meinungsklima zu berücksichtigen sind, erwies sich dieser Konnex doch als erheblicher diskursiver Zwang, als schwerwiegendes Hindernis für eine realistischere Einschätzung der militärischen und politischen Situation. Legitimität und Chancen des Krieges in Frage zu stellen, hätte bedeutet, am Sinn der eigenen Existenz zu zweifeln und sich selbst Schwäche zu attestieren, was um so fataler gewesen wäre, als in der Sicht der Industriellen die »Vernichtung« der deutschen Wirtschaft durch den Hauptgegner England drohte. Immer wieder wurde denn auch bekräftigt, dass sich das deutsche Volk als »stark und gesund« erwiesen habe.28 Militärische Erfolge gingen für die Industriellen mit ökonomischer Überlegenheit einher, die durch den Verlauf des Krieges bestätigt zu werden schien und mit der Schwäche der Gegner kontrastierte. Diese Grundhaltung gipfelte in dem Gefühl, »wirtschaftlich unbesiegbar« 29 zu sein und blieb bis zum Kriegsende intakt.30 Allerdings darf aus der Verbandspublizistik nicht umstandslos auf die Einstellungen der Industriellen geschlossen werden. Manche Artikel riefen zu mehr Zuversicht auf und erwähnten explizit, dass unter den Unternehmern pessimistischere Einschätzungen verbreitet waren.31 Besonders für solche unter ihnen, die durch den Krieg Verluste erlitten, gab es gute Gründe, mit ihm kein »Glücksempfinden« zu verbinden. 32 25 WI 6 (1915), S. 39f.; ähnlich die Rede Fritz Henkels, Blätter vom Hause 1 (1914), S. 21f.; MKI, Nr. 162 (4.8.1917), S. 2573f. 26 Vgl. z.B. MKI, Nr. 105 (8.7.1916), S. 1689fT. 27 MKI, Nr. 145 (7,4.1917), S. 2335f. 28 1 1/2 Jahre Krieg, WI 7 (1916), S. lf.; ähnlich MKI, Nr. 14 (10.10.1914), S. 138-141. 29 Monatsschrift der Handelskammer zu Düsseldorf für den Stadt- und Landkreis Düsseldorf 11 (1915), S. 45-49. 30 MKI, Nr. 215 (10.8.1918), S. 3115f.; WI 9 (1918), S. 137f. 31 MKI, Nr. 8 (12.9.1914), S. 70f. und Nr. 9 (16.9.1914), S. 77f. 32 MKI, Nr. 162 (4.8.1917), S. 2573f.
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Zudem trauerten auch Kriegsgewinner um tote Verwandte oder machten sich Sorgen um ihre Söhne an der Front. Der Schwerindustrielle Paul Reusch, in der Weimarer Republik einer der wichtigsten Protagonisten des Nationalismus unter den Unternehmern, lehnte deshalb eine Einladung seines Freundes Robert Bosch zur Jagd ab: »Der Krieg hat mir..die Freude an der Jagd genommen. Mein Junge steht seit Wochen in schweren Kämpfen bei Wilna und Dünaburg. Solange in den dortigen Operationen nicht ein gewisser Abschluß zu verzeichnen ist, möchte ich nicht länger von Hause [sic] fernbleiben.«33 Reusch war nicht nur ernster und besorgter Stimmung, er machte auch gegenüber Bosch aus seinem Überdruss am Krieg kein Hehl: »Man fängt an, sich allmählich nach dem Frieden zu sehnen.« 34 Solche Äußerungen sind jedoch nicht mit einer distanzierten oder gar ablehnenden Haltung zu verwechseln. Die Industriellen blieben in ihrer Selbstwahrnehmung bis zur Niederlage Akteure eines Verteidigungskriegs gegen die Vernichtung der deutschen Wirtschaft. Aus dieser ideellen Ausgangslage ergaben sich die Positionen zur Kriegszielfrage. Jenseits der erheblichen Interessengegensätze und politischen Differenzen beruhten sie auf der gemeinsamen Überzeugung, dass ein Siegfrieden notwendig sei, um eine Wiederholung des angeblichen Angriffs auf Deutschland und seine ökonomische Vorherrschaft unmöglich zu machen. Ohne eine zukunftssichernde politische Machtstellung werde das »Wirtschaftsleben dem Siechtum verfallen«.35 Der Friedensschluss sollte der Industrie ihre »Entwicklungsfreiheit« sichern. 36 Welche Konsequenzen sich aus dieser Forderung ergaben, war bekanntlich kontrovers. Exportorientierte Industrielle konzentrierten sich auf die Beseitigung der englischen Seeherrschaft und distanzierten sich von annexionistischen Positionen. 37 Mit dieser Haltung waren weitreichende und keineswegs moderate Vorstellungen über die adäquate Kriegführung verbunden, wenn sich etwa Robert Bosch überzeugt zeigte, dass Deutschland »England und die Engländer im eigenen Land angreifen« werde und diese Option trotz der zu erwartenden Verluste ausdrücklich befürwortete.38 Andere exportorientierte Unternehmer, besonders Walther Rathenau, rückten die Mitteleuropaidee in das Zentrum ihrer Kriegszielvorstellungen, die eine Zollunion mit Österreich-Ungarn als Kern deutscher Dominanz in einem großräumigen 33 Paul Reusch an Robert Bosch, 20.9.1915, RBA, 14/97. 34 Ebd. 35 MKI, Nr. 137 (10.2.1917), S. 2201. 36 AG 1917,S.41f. 37 So unterzeichneten Bosch und Siemens den von Delbrück und Harnack initiierten antiannexionistischen Aufruf vom Sommer 1915, vgl. Nipperdey, Machtstaat, S. 806f., und zu den württembergischen Unternehmern Hopbach, S. 248ff. 38 Robert Bosch an Fritz Egnell, 28.9.1914, RBA, 14/57.
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Wirtschaftsgebiet vorsah.39 Die rheinisch-westfälische Schwerindustrie knüpfte ebenfalls daran an, gehörte aber vor allem zu den Trägergruppen des Annexionismus, wobei sie einem erweiterten Zugriff auf Rohstoffvorkommen, konkret das französische Erzbecken von Longwy-Briey, Priorität einräumte. 40 August Thyssen formulierte Ende August 1914 eine prinzipielle Begründung dieser Forderung, die nicht nur politisch höchst einflussreich war, sondern auch im Hinblick auf die ihr zugrundeliegenden Motive von Interesse ist.41 Thyssen argumentierte ganz unverhohlen aus der Perspektive seines eigenen Unternehmens, wobei er von einer Schilderung von Vorkriegserfahrungen ausging. Der schwerindustrielle Konzern hatte versucht, nach Frankreich, d.h. in die Normandie und nach Lothringen, zu expandieren und damit seine Erzzufuhr zu sichern, wobei sein Einfluss jedoch auf einigen Widerstand gestoßen war. Inspiriert vom kriegsnationalistischen Diskurs, der die internationalen Beziehungen vor 1914 unter das Rubrum einer gezielten antideutschen Politik der Alliierten fasste und damit zu einer linearen Vorgeschichte des Krieges umdeutete, betonte Thyssen nun einseitig die »Schikanen und Unredlichkeiten« seiner Geschäftspartner und die »Überhebung« der französischen Regierung, die sein Unternehmen an einem hinreichenden Zugriff auf das lothringische Eisenerz gehindert habe. Die ökonomischen Auswirkungen der Marokkopolitik Frankreichs und die Erwartung noch erheblich größerer Schwierigkeiten für deutsche Unternehmen nach einem Friedensschluss kamen hinzu und addierten sich zu einem negativen Gesamtbild: »Fassen wir die Erfahrungen, die wir mit allen unseren Unternehmungen in Frankreich und seinen Kolonien gemacht haben, kurz zusammen, so kommen wir auf der ganzen Linie zu dem Ergebnis, daß ein ersprießliches Zusammenarbeiten mit den Franzosen auf die Dauer nicht möglich ist, und soweit wir dies glauben beurteilen zu können, auch in der Zukunft nicht möglich sein wird.«42
Thyssen zog daraus die Konsequenz, die Annexion des lothringischen Departements Meurthe-et-Moselle und die Übertragung der dortigen Erzgruben und -hütten an deutsche Werke zu fordern und dafür die Interessen seines Unternehmens im übrigen Frankreich aufzugeben, die er im Hinblick auf die Nachkriegszeit als wertlos einschätzte. Mit diesem Vorschlag präsentierte er sich als Anwalt und Protagonist einer schnellen Germanisierung der neueroberten Gebiete, die durch die Einstellung »von nur deutschen Beamten, Meistern und 39 Vgl. Mai, Ende, S. 58. Allerdings verhielten sich viele Industrielle distanziert zum Zollunionsprojekt, weil ihr Interesse an einer Reintegration in den Weltmarkt gegenüber den zweifelhaften Chancen einer Ausrichtung auf Mitteleuropa überwog; vgl. Soutou, S. 30f. 40 Vgl. Nipperdey, Machtstaat, S. 804ff. 41 August Thyssen, Eingabe vom 28. August 1914 an den Herrn Reichkanzler sowie Beweismaterial zu dieser Eingabe, M-A, R 1 31 50; vgl. zum folgenden F. Fischer, S. 116ff. 42 August Thyssen, Eingabe vom 28. August 1914 an den Herrn Reichkanzler sowie Beweismaterial zu dieser Eingabe, M-A, R 1 31 50.
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Arbeitern« voranzutreiben sei. Kurze Zeit später hatte Thyssen seine Position in der Kriegszielfrage erheblich erweitert und forderte nun die Annexion Belgiens, Nord- und Ostfrankreichs sowie weiter Teile Russlands. Den Kern dieses neuen Wirtschaftsimperiums sollte ein großer mitteleuropäischer Zollverein bilden, den er als Mittel zur dauernden Friedenssicherung bezeichnete und mit der Erinnerung an den Zollverein des 19. Jahrhunderts als Basis des deutschen ökonomischen Aufstiegs legitimierte. 43 Es liegt auf der Hand, dass Thyssen und die Schwerindustrie generell mit ihrem Annexionismus unternehmerische Ziele vertraten und national verbrämten. So zutreffend diese funktionalistische Sicht ist, darf die Interpretation dabei nicht stehenbleiben, denn der Rekurs auf Interessen erklärt für sich genommen noch nicht, warum diese Interessen so und nicht anders definiert und verfolgt wurden. In seiner Eingabe formulierte Thyssen eine Umdeutung der Vergangenheit: Er erhob die politischen Hemmnisse, die seine Expansion nach Frankreich in der Vorkriegszeit zwar erschwert, aber nicht verhindert hatten, zum Signum eines unüberbrückbaren nationalen Gegensatzes, der nun seine Gesamtsicht der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen bestimmte. 44 Aus dieser Perspektive antizipierte er die Zukunft und formulierte eine annexionistische Definition seiner unternehmerischen Kriegsziele. Nationale Ideen legitimierten also nicht nur Interessen, sondern präformierten sie und lenkten sie in eine bestimmte, keineswegs a priori vorgebene Richtung. Zudem beruhte die Synchronisierung individueller und nationaler Interessen zwar auf einem geschickten rhetorischen Kalkül, aber auch auf Überzeugungen, die ihrerseits auf der ökonomistisch akzentuierten Metaerzählung vom Aufstieg des Deutschen Reichs basierten und durch die Kriegswichtigkeit der Eisenindustrie bestätigt wurden. Deren Machtstellung ließ sich ebenso zur Grundlage des wirtschaftlichen Aufschwungs seit 1870 wie zur notwendigen Bedingung einer erfolgreichen Kriegführung stilisieren, woraus die Forderung nach »Sicherstellung auf möglichst breiter und unantastbarer Grundlage« abgeleitet wurde. Weil sich die Eisenindustrie »seit dem letzten Friedensschluss aus den allerkleinsten und bescheidensten Anfängen zu einem mächtigen Gebilde emporgeschwungen« habe, eigne sie sich in besonderem Maße als Speerspitze der Germanisierung Lothringens. 45 Der Verlauf des militärischen Konflikts schien die Berechtigung und Realisierbarkeit der schwerindustriellen Kriegsziele eindrucksvoll zu bestätigen. Belgien, Nord- und Ostfrankreich blieben bis zum Waffenstillstand besetzt. Die Einverleibung des Erzbeckens von Longwy-Briey wurde für endgültig gehalten und die weitere Zufuhr günstigen Eisenerzes fest in die jeweilige 43 Denkschrift August Thyssens, September 1914, M-A, R 1 31 50. 44 Zum Ausgreifen Thyssens nach Frankreich vor 1914 im Rahmen einer pragmatischen Internationaiisierung seiner unternehmerischen Aktivitäten vgl. Wilsberg, S. 221-236. 45 Gewerkschaft Deutscher Kaiser an Auswärtiges Amt, Februar 1915, M-A, R 1 31 50.
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unternehmerische Planung integriert. Entsprechend empört und ablehnend waren die Reaktionen, als Ende Oktober 1918 zum ersten Mal die Räumung der besetzten Gebiete drohte. 46 An der Ostfront eröffnete der Frieden von Brest-Litowsk neue wirtschaftliche Perspektiven. Der Kriegsausschuss der deutschen Industrie begrüßte und feierte die Kaufmannschaft der »alten deutschen Hansastadt« Riga als Vorreiter wehrhaften Nationalbewusstseins und formulierte die Vision einer ökonomischen Erschließung des Ostseeraums. 47 Die wirtschaftlichen Bestimmungen der Friedensschlüsse mit Russland, Finnland und der Ukraine boten ungeahnte Expansionschancen.48 Ein Beispiel dafür war die württembergische Industrie, denn die groß angelegte Besiedelung der neugewonnenen Gebiete versprach ein attraktives Absatzgebiet für landwirtschaftliche Maschinen, Textilien und Nahrungsmittel. 49 Nationale Ideen und individuelle unternehmerische Interessen ließen sich für die eminent kriegswichtige Schwerindustrie besonders eng und subjektiv widerspruchsfrei verbinden. Das galt aber auch für eine Vielzahl anderer, militärisch auf den ersten Blickweniger relevanter Wirtschaftszweige, deren Vertreter ihre unternehmerischen Aktivitäten als Beitrag zum Krieg und Erfüllung eines nationalen Auftrags empfanden oder zumindest so stilisierten. Hierbei spielte der Kampf um knappe Rohstoffe, Arbeitskräfte und Heeresaufträge fraglos eine zentrale Rolle. Über diesen Interessenaspekt hinaus ist jedoch zu berücksichtigen, dass im Ersten Weltkriegjede zivile Tätigkeit einer nationalen Begründungspflicht ausgesetzt war, die immense legitimatorische Zwänge schuf50 Dem konnte sich kein Unternehmer entziehen. Manche von ihnen gingen sogar so weit, das Zuhausebleiben, die Nichtbeteiligung am physischen Kampf, zum eigentlichen Opfer zu erheben. So schrieb der Verbandstofffabrikant Walther Hartmann aus dem württembergischen Heidenheim an seinen im Feld stehenden Vetter: »Ich kann mich immernoch [sie] nicht in den Gedanken hineinfinden, daß ich vorerst noch zu Hause sitzen soll, anstatt mit draußen zu stehen, in der Front, unter den alten Kameraden. Wenn man dann aber auf der anderen Seite wieder den Riesen-Bedarf an Verbandmaterial sieht und von den Massen von Munitionen liest, die täglich ins feindliche Lager hinübergesandt werden, so weiß man allerdings auch wieder, weshalb man zurückbleiben muß.«51 In seiner privaten Korrespondenz betonte Hartmann verschiedentlich, dass er ein »Heimwehgefuhl« nach seinem Regiment verspüre, zumal er »mit Leib & 46 Monatsschrift der Handelskammer zu Düsseldorf für den Stadt- und Landkreis Düsseldorf 14 (1918), S. 618. 47 MKI, Nr. 194 (163.1918), S. 2900f. 48 MKI, Nr. 197 (6.4.1918), S. 2931f. 49 WI9(1918),S.99ff. 50 Vgl. dazu die treffenden Bemerkungen bei Geinitz, S. 300f. 51 Walther Hartmann an Manfred Hartmann, 16.11.1914, WABW, Β 46, Bü 444, S. 124-128.
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Seele Soldat« sei und erst ein Jahr vor Kriegsausbruch die letzte Reserveübung absolviert habe.52 Offensichtlich stellte der Krieg den Textilindustriellen vor ein moralisches Dilemma zwischen militärischer und unternehmerischer Pflicht. Als Nichtbeteiligter am Kampf sah er sich auch in seiner wehrhaften Männlichkeit in Frage gestellt und fühlte sich daher genötigt hervorzuheben, wie unbefriedigend es für ihn sei, »daheim zu sitzen wie ein alter Großvater.«53 Letztlich gab jedoch die Perspektive des Fabrikbesitzers, für die der Sicherung des eigenen Unternehmens Priorität vor allen anderen Erwägungen zukam, den Ausschlag für seine Entscheidung, sich nicht freiwillig zum Kriegsdienst zu melden. Einen Tag vor Kriegsausbruch schrieb Hartmann an seinen Bruder, dass er »mit Freuden« an die Front ginge, »wenn mich nicht Lieferpflichten für die ersten 6 Wochen hier festhalten würden«.54 Angesichts der Schwierigkeiten, welche die große Nachfrage nach Verbandstoffen bei gleichzeitigem Materialmangel mit sich brachte, war er bald davon überzeugt, dass sein Unternehmen einer »sehr energischen Führung« bedürfe, um »den Betrieb in Gang zu halten«, wobei die darin liegende Selbstcharakterisierung auch als Vergewisserung der eigenen, mit Kraft und Führungsstärke assoziierten Männlichkeit zu interpretieren ist.55 Die militärische Bedeutung des von ihm hergestellten Produkts, die sich in zahlreichen Heeresaufträgen niederschlug, ermöglichte ihm, sich selbst und anderen seine Tätigkeit als genuine, dem soldatischen Kampf moralisch gleichwertige Teilnahme an der nationalen Kriegsanstrengung zu präsentieren, als Chance, »mich an dem großen Ringen persönlich beteiligen zu dürfen.«56 Diese Überzeugung konnte sich auf die Erfahrung intensiver Arbeit stützen, die den Kriegsalltag der Verbandstoffabrik prägte.57 Sie war überdies auch insofern plausibel, als sie von Staat und Armee immer wieder offizielle Bestätigung erfuhr. Der Vorstand des Unternehmens zeigte sich befriedigt, »dass wir von Seiten der Heeresverwaltung stets nur Anerkennendes über unsere Leistungen hören durften«.58 Mehrere seiner Mitglieder bekamen auf Veranlassung des Kriegsministeriums für ihre Verdienste um die Versorgung der Württembergischen Armee das Wilhelmskreuz verliehen.59 Der Kredit, den das Unternehmen bei der Heeresverwaltung genoss, erlaubte es andererseits auch, eigene Interessen mit Aussicht auf Erfolg national zu legitimieren. So ließ sich etwa ein Urlaubsgesuch für den kaufmännischen Direktor damit begründen, dass seine 52 Ebd.; Walther Hartmann an Herrn Wiest, 4.5.1915, WABW, Β 46, Bü 444, S. 142. 53 Walther Hartmann an seinen Freund Ströbel, 28.10.1914, WABW, Β 46, Bü 444, S. 119ff. 54 Walther Hartmann an seinen Bruder, 31.7.1914, WABW, Β 46, Bü 443, S. 183f. 55 Walther Hartmann an seinen Freund Ströbel, 28.10.1914, WABW, Β 46, Bü 444, S. 119ff. 56 Walther Hartmann an Herrn Wiest, 4.5.1915, WABW, Β 46, Bü 444, S. 142. 57 Leistungen der Verbandstoff-Fabrik Paul Hartmann im Kriege (1916), WABW, Β 46, Bü 253. 58 Vertraulicher Bericht des Vorstands über das Geschäftsjahr 1915/16, WABW, Β 46, Bü 446. 59 Königl. Württ. Kriegsministerium. Abteilung für Waffen, Feldgerät und Kriegsamtangelegenheiten an Firma Paul Hartmann, 8.10.1917, WABW, Β 46, Bü 360.
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Anwesenheit notwendig sei, um die Produktion eines wichtigen Artikels für das Heer zu überwachend Die öffentliche Anerkennung durch die Heeresverwaltung bewirkte für das Unternehmen nicht zuletzt eine Stärkung seiner Reputation.61 Dass das Kriegsministerium den Generaldirektor mit der Organisation einer Branchenvereinigung der Verbandstoffindustrie beauftragte, versprach für die Firma Einfluss und damit handfeste Vorteile, wie der Vorstand intern offen aussprach.62 Die Verbindung von unternehmerischem Interesse und nationaler Sinngebung schlug sich auch in der Werbung nieder. Ein Plakatentwurffür »Hartmann's Verbandstoffe« zeigte einen Engel, der einem Krieger in mittelalterlich stilisierter Rüstung einen Verband reichte.63 Wie die Verbandstoffabrik Paul Hartmann AG deuteten Unternehmen zahlreicher anderer Branchen den Krieg als einen enormen Zuwachs an nationaler Selbstlegitimation. Die verschiedensten Produkte ließen sich aufgrund ihrer wirklichen oder vermeintlichen Bedeutung für Heer, Medizin oder Volksernährung als konkrete Erfüllung der Forderung nach Unterordnung aller zivilen Aktivitäten unter die Notwendigkeiten der Kriegführung auffassen. So betonte ein Hersteller chirurgischer Instrumente, dass deren technische Überlegenheit Deutschland im Vergleich zu seinen Gegnern eine bessere Kriegschirurgie und damit einen höheren Anteil an »geheilten und wieder kampffähigen Verwundeten« eingebracht habe.64 Die Jubiläumsschrift einer Malzkaffeefabrik verschwieg zwar die durch den Krieg verursachten Probleme nicht, betonte aber andererseits die neuen Möglichkeiten, die sich durch die Kaffeeknappheit aufgrund der englischen Blockade ergeben hätten, synchronisierte also unternehmerischen Erfolg und Bedeutung des Produkts für die Lebensmittelversorgung. 65 Die Kriegswichtigkeit des jeweiligen Unternehmens prägte nicht nur das offizielle Selbstverständnis, sondern ließ sich auch zur Binnenlegitimation gegenüber der eigenen Belegschaft einsetzen. Die Werkszeitung der Firma Henkel konstatierte, dass sich das Waschmittel Persil besonders zur Reinigung von Uniformen und Lazarettwäsche eigne und das Unternehmen daher ebenso erfolgreich wirtschafte wie zu Friedenszeiten. 66 Zudem leiste das Vorzeigeprodukt gute Dienste beim Waschen im Feld, was mit Hilfe einer Photographie demonstriert wurde, die einen mit Persil beladenen Pferdewagen zeigte.67 60 Aufsichtsrat der Verbandstoff-Fabriken Paul Hartmann A.-G. an Königlich Württembergisches Kriegsministerium. Abtlg. für Waffen, Feldgerät & Kriegsamtsangelegenheiten, 8.7.1918, WABW, Β 46, Bü 382. 61 So explizit Vertraulicher Bericht des Vorstands über das Geschäftsjahr 1915/16, WABW, Β 46, Bü 446. 62 Ebd. 63 WABW, Β 46, Bü 1145. 64 Aktiengesellschaftßir Feinmechanik vorm. Jetter & Scheerer, S. 3. 65 Denkschrift anläßlich des 25jähngen Bestehens von Kathreiners Malzkaffee-Fabriken, S. 20. 66 Blätter vom Hause 1 (1914), S. 91-95. 67 Blätter vom Hause 2 (1915), S.330f.
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In der Konsequenz ihrer Selbstdeutung als Akteure der Heimatfront, aber vor allen Dingen als rasche und geschickte Reaktion auf die sprunghaft gestiegene Nachfrage nach »nationalen« Konsumgütern, hoben viele Unternehmen in ihrer Werbung patriotischen Charakter und Kriegswichtigkeit ihrer Erzeugnisse hervor. Die Spielwarenindustrie stellte ihre Produktpalette auf strategische Brettspiele und Soldatenpuppen um, wobei solche Themen allerdings bereits ab 1915, d.h. mit zunehmender Friedenssehnsucht bei den Konsumenten, wieder verschwanden. 68 Benz warb für seine Autos und Flugmotoren nicht nur mit dem Leitbild der »Deutschen Qualitätsarbeit«, sondern visualisierte sie als integralen Bestandteil der Gefechte an der Front. Deutsche Offiziere saßen in einem Benz-Auto und beobachteten mit Ferngläsern Kampfflugzeuge mit Benz-Motoren, die auf einem Bild von technisch hoffnungslos unterlegenen Feinden zu Pferd verfolgt wurden. 69 Auf der anderen Seite konnten unternehmerisches Selbstverständnis und Marketingstrategie auch zu entgegengesetzten Konsequenzen fuhren. Der Stuttgarter Matrosenanzughersteller Bleyle etwa setzte nationale Bezüge nur zurückhaltend ein und fuhr seine Werbetätigkeit stark zurück, weil er seinen Qualitätsstandard mangels geeigneter Rohstoffe nicht halten konnte.70 Die nationale Sinngebung der Aktivitäten und Interessen der Industriellen erfuhr im Krieg eine Inflationierung, die es erheblich erschwerte, sie erfolgreich zur Gewinnsteigerung zu instrumentalisieren. Wenn eine Vielzahl von Unternehmen mit dem Argument besonderer Kriegswichtigkeit für seine Produkte warb, musste sich der Effekt dieser rhetorischen Strategie früher oder später abnutzen. Das war besonders deutlich im Verhältnis zu Staat und Heeresverwaltung, bei denen die Industriellen um Rohstoffe, Arbeitskräfte und Militäraufträge nachsuchten. Die Entscheidung, Militäraufträge überhaupt anzustreben - w a s nicht selten aufwendige Produktionsumstellungen erforderte - oder im Gegenteil die Friedensproduktion aufrechtzuerhalten, wurde dabei in erster Linie durch betriebswirtschaftliche Erwägungen bestimmt. 71 Auch und gerade in letzterem Fall war es jedoch nötig, die Kriegswichtigkeit und nationale Bedeutung des eigenen Unternehmens und seiner Produkte hervorzuheben, um bei Rohstoffzuteilungen berücksichtigt zu werden. So bemühte sich eine Werkzeugfabrik um Blei, weil die von der Firma hergestellten Spiralbohrer ausschließlich in kriegswichtigen Betrieben Anwendung fänden.72 Ein Unternehmen beantragte Roheisen für die Fabrikation von Küchengeräten. Es untermauerte diesen Wunsch, indem es ein Schreiben einer Frauen68 Vgl. Hoffmann, S. 330-334. 69 Konzernarchiv der DaimlerChrysler AG, Werbeanzeigen Benz 1900-1915. 70 Vgl. Wittmann, S. 317ff. 71 Das zeigt überzeugend Hopbach, S. 255f. 72 Gottlieb Gühring Ehingen. Werkzeugfabrik an Königliche Zentralstelle für Gewerbe und Handel, 11.1.1918, StAL, Ε 170, Bü 1486.
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Zeitschrift beilegte, das den nationalen Wert von Waffeleisen betonte: Im Unterschied zum Braten in der Pfanne benötige man für das Backen von Waffeln kein Fett, weshalb Waffeleisen »aus vaterländischen Gründen« vorzuziehen seien.73 Für die Hersteller von Wirkwaren drohte sogar ein Verbot ihrer unternehmerischen Tätigkeit, das sie mit dem Argument abzuwenden versuchten, dass ihre Produkte für die Heeresversorgung nötig seien und in Form von Herrenunterwäsche als Liebesgaben ins Feld gingen.74 Neben Rohstoffzuteilungen wurden auch direktere Formen staatlicher Unterstützung mit nationalen Argumenten eingefordert. Die sächsische Strumpfindustrie, die im Krieg schwere Einbußen erlitt, regte an, den Kriegsgefangenen einen Teil ihres Lohnes in Form von Baumwollsocken auszuzahlen, um das Geld »dem deutschen Wirtschaftsleben und vor allem notleidenden Gewerben« zuzuführen.75 Die Interessenabhängigkeit derartiger Forderungen und der jeweiligen Formen ihrer nationalen Begründung zeigte sich daran, dass bei entsprechendem Bedarf auch die militärische Irrelevanz eines Produkts hervorgehoben werden konnte. So wehrte sich ein Fabrikant von Metalltüchern gegen das zeitweilige Ausfuhrverbot für seine Erzeugnisse, indem er betonte, dass die für deren Herstellung verwendeten Legierungen keinerlei kriegswirtschaftlichen Nutzen hätten.76 Es ist im Einzelfall kaum zu rekonstruieren, ob den jeweiligen Wünschen entsprochen wurde und, sofern dies der Fall war, welchen Anteil die Betonung ihrer militärischen Bedeutung daran hatte. Fest steht jedoch, dass derartige Appelle an den durch den Krieg verschärften bzw. neugeschaffenen Ungleichheiten zwischen Groß- und Kleinbetrieben, Rüstungsindustrien und für den zivilen Verbrauch produzierenden Unternehmen wenig änderten.77 Mit zunehmender Kriegsdauer führte die Behandlung unternehmerischer Interessen durch Staat und Heeresverwaltung bei vielen Industriellen zu großen Enttäuschungen. Es bestand weitgehende Einigkeit in der Unzufriedenheit über die Zwangswirtschaft und der Forderung nach einer baldigen Wiederherstellung des freien Unternehmertums, die gegenüber den Gemeinwirtschaftsideen Walther Rathenaus und Wichard von Moellendorfs bei weitem die Oberhand 73 Aalwerke Heinrich Rieger & Söhne Aalen. Maschinenfabrik und Eisengießerei Fabrik hauswirtschaftlicher Maschinen an Königliche Zentralstelle für Gewerbe und Handel, 4.7.1917; Schriftleitung der Wochenschrift Die Deutsche Frau an Kriegsernährungsamt, April 1917; beide in: StAL, Ε 170, Bü 1495. 74 Mechanische Tricotweberei Mattes & Lutz Aktien Gesellschaft Besigheim (Württemberg) an Königlich Preußisches Kriegsministerium, Kriegsrohstoff-Abteilung (Sektion WH), 13.7.1915; Arbeitsausschuss der Süddeutschen Wirkwaren-Industrie an Königlich Preußisches Kriegsministerium, Rohstoff-Abteilung (Sektion WII), 12.7.1915, beide in: StAL, Ε 170, Bü 1411. 75 Franz Biener, Mitglied der IL sächsischen Ständekammer an Württembergischen Minister des Innern, 113.1915, StAL, Ε 170, Bü 1429. 76 Hermann Wangner Metalltuchfabrik und mechanische Werkstätte Reutlingen an Königliche Zentralstelle für Gewerbe und Handel, 1.10.1914, Ε 170, Bü 1616. 77 Vgl. Kxka, Klassengesellschaft, S. 28ff.
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behielt.78 Diese Grundhaltung war fraglos primär durch Interessen bestimmt, wurde aber zusätzlich verstärkt durch den Hang, das Wohl des eigenen Unternehmens national zu überhöhen. Das Bestreben Rathenaus, die deutsche Wirtschaft von staatlicher Seite aus »zusammenzufassen, sie dem Kriege dienstbar zu machen, ihr einen einheitlichen Willen aufzuzwingen und ihre titanischen Kräfte zur Abwehr zu wecken«, konnte bei den Industriellen auch aus diskursiven Gründen nicht auf Akzeptanz stoßen.79 Die Industriellen evozierten nationale Bezüge nicht nur gegenüber Konsumenten, Staat und Heeresverwaltung. Sie setzten sie auch ein, um bestimmte individuelle Verhaltensweisen normativ auszuzeichnen. Das geschah jeweils in interessenkonformer Weise, beruhte aber andererseits auf moralischen Überzeugungen und der Erwartung, dass die nationale Parole handlungsmotivierende Kraft entfalten könne. Adressaten solcher Forderungen waren zunächst die Angehörigen anderer Bevölkerungsgruppen. Unmittelbar nach Kriegsausbruch appellierte etwa die Düsseldorfer Handelskammer an die lokalen Verbraucher, Rechnungen sofort zu bezahlen und Münzen nicht zurückzuhalten.80 Für den Kriegsausschuss der deutschen Industrie bot der Krieg die Chance, »das kaufende Publikum über die wirtschaftliche Notwendigkeit der Verdrängung ausländischer Waren aufzuklären und es zur entschiedenen Bevorzugung deutscher Erzeugnisse planmäßig zu erziehen.« Dabei konnte an die Propagandaversuche der Vorkriegszeit angeknüpft werden; es wurde aber auch die Forderung nach gesetzlichen Regelungen, etwa dem Verbot fremdsprachiger Aufschriften, erhoben.81 Werkszeitungen riefen mit weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit zum Verzicht auf ausländische Mode und Fremdwörter auf,82 wandten sich aber andererseits gegen übertriebenen Eifer, wenn etwa ein Schutzmann Werbeplakate für die Marken Persil und Maggi entfernen ließ, weil er deren Namen für Bezeichnungen ausländischen Ursprungs hielt.83 Die Forderung, individuelle Interessen und Präferenzen zugunsten einer nationalen Moral zurückzustellen, richtete sich aber auch an die Industriellen selbst. In den Stellungnahmen der Unternehmerverbände wurde immer wieder die patriotische Opferbereitschaft ihrer Mitglieder beschworen und reklamiert.84 Dieses Selbstbild musste schon aus Gründen der diskursiven Selbstbehauptung aufrechterhalten werden, um sich gegen die in der Öffentlichkeit 78 MKI, Nr. 118 (7.10.1916), S. 1893f. und Nr. 200 (27.4.1918), S. 2959ff.; vgl. Kockay Klassengesellschaft, S. 116ff. 79 Rathenau, Rohstoffversorgung, S. 39; vgl. dazu Zunkel, Industrie, S. 56-68; Michalka. 80 Monatsschrift der Handelskammer zu Düsseldorf für den Stadt- und Landkreis Düsseldorf 10(1914), S. 238f. 81 MKI, Nr. 29 (23.1.1915), S. 371f.; ähnlich Dominicus, S. 9f. 82 Vereinsblatt der Badischen Anilin- & Soda-Fabrik Ludwigshafen a/Rh. 2 (1914/15), S. 67f; Blätter vom Hause 1 (1914), S. 11. 83 Blätter vom Hause 2 (1915), S. 519. 84 MKI, Nr. 12(1.10.1914), S. 114f.
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vielfach erhobenen Kriegsgewinnlervorwürfe zu verteidigen. 85 Als »Unternehmerpflichten« normiert und als »Opfer...im Interesse des Vaterlandes« überhöht wurden dabei in erster Linie die Aufrechterhaltung des eigenen Unternehmens und das Festhalten an Aufträgen und Krediten.86 Exportindustrielle wurden aufgefordert, Propaganda zu betreiben, mit deutschen Vertretern zusammenzuarbeiten und nicht an das feindliche Ausland zu liefern.87 Lief die Erfüllung der letzteren Forderungen auf die Zurückstellung eigener Interessen hinaus, war nationales Engagement in Form des Kampfes gegen Fremdwörter im geschäftlichen Verkehr billiger zu haben. Hier artikulierte sich explizit ein kompensatorisches Bedürfnis nach patriotischen Tätigkeitsfeldern für Industrielle, »die in dieser großen Zeit zu ihrem Schmerze daheim am Schreibtisch bleiben müssen«. 88 Wie gezeigt, gelang es den Industriellen, nationales Wohl und unternehmerische Interessen in einer Weise zu synchronisieren, die zumindest ihnen selbst überzeugend erschien. In Konfliktfällen gaben sie betriebswirtschaftlichen Erwägungen den Vorrang, ohne darin einen Widerspruch zu ihrem Patriotismus zu sehen. 89 Gerade deshalb konnten sie jedoch anderen Unternehmern in bestimmten Fällen besten Gewissens vorwerfen, sich nicht gemäß den normativen Anforderungen der Nation zu verhalten. Derartige Anschuldigungen dienten sicherlich auch dazu, Konkurrenten zu denunzieren, ließen aber durchaus ehrliche Empörung erkennen. 90 Der Werkzeugfabrikant David Dominicus sah die Überlegenheit deutscher Waren in ihrer herausragenden Qualität begründet und forderte seine Kollegen auf, von Preiskämpfen mit Billigprodukten abzusehen. 91 Er sprach die Hoffnung aus, dass diese Forderung im Krieg auf Zustimmung stoßen würde, beklagte aber, »wie verständnislos leider ein Teil der deutschen Industrie bei Seite steht, und dadurch die deutsche Volkswirtschaft in unbeschreiblichem Maße schädigt.«92 Enttäuscht zeigte sich auch ein Hersteller von Papierwaren, der einer Gruppe von Strohpappenfabrikanten vorwarf, den Patriotismus zu instrumentalisieren. Diese versuchten, ein Einfuhrverbot für niederländische Pappe zu erwirken, vorgeblich um deutsches Gold zu sparen. Tatsächlich seien »diese Patrioten« bloß darauf aus, den Preis 85 Μ Κ Ι , Ν Γ . 118 (7,10.1916), S. 1893f; WI7 (1917), S. 171; Monatsschrift der Handelskam mer zu Düsseldorf für den Stadt- und Landkreis Düsseldorf 14 (1918), S. 434-437. 86 MKI, Nr. 3 (27.8.1914), S. 30f. 87 MKI, Nr. 13 (6.10.1914), S. 129f., Nr. 21 (28.11.1914), S. 249 und Nr. 24 (19.12.1914). 88 Blätter vom Hause 1 (1914), S. 11; vgl. auch Blätter vom Hause 2 (1915), S. 493-496; Brandt, Fremdwort; Verdeutschungsbuch. 89 Vgl. dazu den vorzüglichen Aufsatz von Berghqff, Patriotismus, bes. S. 277-282; mit stärkerer Betonung der bewussten Instrumentalisierung ihrer »vaterländischen« Bedeutung durch die Industrie Mai, Kriegswirtschaft, S. 73-78. 90 Allgemein zu den häufigen Anklagen gegen als unpatriotisch gebrandmarkte Verhaltensweisen vgl. Raithel, S. 477f. 91 Dominicus, S. 18,30f. 92 Ebd., S. 41.
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ihres Produkts in die Höhe zu treiben.93 Da das Spannungsverhältnis zwischen Nationalgefühl und individuellen Interessen von den Industriellen kaum reflektiert wurde, wurden derartige Anschuldigungen häufig erhoben. Sie verschärften bestehende Interessengegensätze, indem sie sie ideell überhöhten. Als einer der wenigen Unternehmer sprach sich Robert Bosch dafür aus, die normativen Ansprüche der Nation zurückzunehmen und davon abzusehen, sich gegenseitig mangelnden Patriotismus vorzuwerfen: »Es ist nicht richtig, wenn man jemand angreift und sein Deutschtum verdächtigt, wenn er einer anderen Ansicht zuneigt, als der, welche man selbst hat.«94 Zu den zahlreichen gesellschaftlichen Gruppen, die den Krieg als eine Chance zum kollektiven Bedeutungsgewinn wahrnahmen, gehörten zunächst auch die hohen Beamten. Hatte ihnen die Nation zuvor einen ideellen Rahmen geboten und einen Teilbereich ihrer politischen Aktivitäten markiert, avancierte sie nun zum legitimatorischen Referenzpunkt ihrer gesamten Tätigkeit. Kurz vor Ausbruch der Feindseligkeiten hatten führende Vertreter der kommunalen Selbstverwaltung noch eine Studienreise nach Schottland unternommen; ein Barmener Beigeordneter hatte die Gemeinsamkeiten zwischen deutschem und französischem Verwaltungsrecht hervorgehoben. 95 Wenig später wurden zahlreiche hohe Beamte zum Kriegsdienst eingezogen oder meldeten sich freiwillig. Die Daheimgebliebenen konnten sich regelmäßig über Verletzungen, Todesfälle und Auszeichnungen ihrer Kollegen informieren. 96 Durch die personelle Dezimierung der Verwaltung in Reich, Einzelstaaten und Kommunen hatten sie mit einer erhöhten Arbeitsbelastung zu kämpfen, die als »Opferfreudigkeit des zurückgebliebenen Beamtenstammes« zur patriotischen Aktivität erhoben wurde. 97 Ihre administrative Tätigkeit deuteten die hohen Beamten nun in nationalen Kategorien. Die militärischen Anfangserfolge des Reiches ließen sich als »Sieg der Verwaltung« - beispielsweise als Leistung der Eisenbahnbeamten - interpretieren. 98 Aufgrund ihrer sozialpolitischen Anstrengungen konnten die Gemeindeverwaltungen mit Stolz darauf verweisen, sich »der großen Aufgabe gewachsen gezeigt« zu haben.99 Der Krieg wurde nicht nur als Bewährungsprobe für Patriotismus und Leistungsfähigkeit der Verwaltung verstanden; seine Attraktivität lag auch darin begründet, dass er ihren unpolitischen Leitbildern zum Sieg zu verhelfen 93 Mich. Birk Tuttlingen. Cartonagen- Etuis- und Papierwaren-Fabriken. Druckerei- Prägeund Pressvergolde-Anstalt an Königliche Zentralstelle für Gewerbe und Handel, 26.4.1916, StAL, Ε 170, Bü 1597. 94 Robert Bosch an Kommerzienrat S. Seligmann, 3.10.1914, RBA, 14/134. 95 Mitteilungen der Zentralstelle des Deutschen Städtetages 4 (1914), S. 406f., 495-500. 96 Vgl. die Rubrik »Notizen über Kämpfer für den Bestand des Reiches und unsere nationale Ehre« sowie zahlreiche Nekrologe im Preußischen Verwaltungs-Blatt der Kriegsjahrgänge. 97 PVB 36 (1915), S. 257-265. 98 Ebd., S. 382f. 99 Ebd., S. 257-265.
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schien, weil für den administrativen Gestaltungswillen lästige Hemmnisse entfielen. Die Militärdiktatur, äußerte ein Magistratsrat, werde »gar nicht empfunden, höchstens im angenehmen Sinne, indem sie uns über manche bureaukratische Schwierigkeiten hinweghilft.«100 Darin lag weniger ein Machtverzicht als die Erfüllung der Utopie, Entscheidungen statt nach »endlosen Reden und Kommissionsverhandlungen im Reichstage« »in wenigen lapidaren Sätzen im Wege der Verordnung« treffen und umsetzen zu können.101 Die Selbstbestätigungsrhetorik besonders der ersten Kriegsmonate kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Herrschaftsanspruch der Verwaltung in den folgenden Jahren tiefgreifenden Belastungsproben ausgesetzt war. Die Reallohneinbußen der hohen Beamten stellten ihren sozialen Status massiv in Frage.102 Daran konnten sie wenig ändern; sie hegten aber die Hoffnung, dass ihnen die im Krieg bewiesene »Pflichttreue und Nervenkraft« im >»neuen Deutschlands eine Verbesserung ihrer zunehmend prekären materiellen Situation einbringen würde.103 Hinzu kam, dass die Armee die einzelstaatliche Verwaltung ihrer administrativen Kompetenzen beraubte und sie praktisch kaltstellte, die Beamten aber andererseits den Legitimitätsverlust des monarchischen Staates zu spüren bekamen.104 Als Folge dieses Doppeldrucks verloren sie weitgehend ihre Definitionsmacht über die Nation, die vor dem Krieg noch beträchtlich gewesen war. Das lässt sich an der Behandlung feindlicher Ausländer und der Einbürgerungspraxis exemplarisch verdeutlichen. Die Bevölkerung einer hessischen Gemeinde hatte bereits seit längerem im Konflikt mit einem örtlichen Arzt belgischer Nationalität gestanden; der Krieg versetzte sie in die Lage, gegen ihn vorzugehen, indem sie ihm als feindlichem Ausländer die Fensterscheiben einwarf105 Der Landrat machte keine Anstalten, sich zugunsten des Mediziners zu exponieren, sondern empfahl, angesichts der verbreiteten Erbitterung auf dessen Einbürgerung zu verzichten, beschränkte sich also darauf, die Exklusion von unten zu sanktionieren.106 Gab hier der gewaltsame Druck der Bevölkerung den Ausschlag, setzte sich in einem anderen Fall die Armee gegen die Position der Verwaltung durch. Einer Französin, die an der Ostseeküste eine Pension geführt hatte, wurde vom Stellvertretenden Generalkommando die Aufenthaltsgenehmigung entzogen, nachdem verschiedene ehemalige Kurgäste sie in äußerst vagen Aussagen der Deutsch100 Ebd. 101 Ebd.,S.321ff. 102 Vgl. Kocka, Klassengesellschaft, S. 83; Α Kunz, S. 29ff. 103 Most, Besoldungsproblem, S. 57-60. 104 Vgl. Feldman, Armee; Kocka, Klassengesellschaft, S. 131-136; Ultmann, Kaiserreich, S. 252263; zu Baden Müller. 105 Bericht des Bürgermeisters von Biedenkopf, 12.8.1914, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77. Tit. 227, Nr. 27, Bd. 13, Bl. 233f. 106 Landrat von Biedenkopf an Regierungspräsident von Wiesbaden, 12.8.1914, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 27, Bd. 13, Bl. 232.
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feindlichkeit bezichtigt hatten. Zahlreiche lokale Persönlichkeiten und der Landrat bestritten diesen Vorwurf und nahmen damit die Inkriminierte in Schutz; das preußische Innenministerium sprach sich dafür aus, zwar von ihrer Einbürgerung abzusehen, ihr aber weiter den Aufenthalt in dem Badeort und damit die Sicherung ihres Lebensunterhalts durch die Bewirtschaftung ihrer Pension zu gestatten.107 Das Stellvertretende Generalkommando ließ sich jedoch durch dieses Votum nicht von seiner Entscheidung abbringen. Die Begründung dafür war, dass die Sperrung des Küstenstreifens für feindliche Ausländer keine Ausnahme erlaube und den Anschuldigungen schon deshalb Glauben geschenkt werden müsse, um die Wachsamkeit der »besten Elemente unseres Volkes« gegen die Spionage zu erhalten: »So muss eben das Wohl des Vaterlandes gegenüber dem Wunsche des Einzelnen im Vordergrund stehen.«108 Wie die Behandlung feindlicher Ausländer unterlag auch die Einbürgerungspraxis dem Primat militärischer Interessen. Das oberste Kriterium für die Verleihung der deutschen Staatsbürgerschaft war die Verwendbarkeit der Kandidaten im Krieg.109 Verschiedentlich versuchten Regierungspräsidenten und Oberbürgermeister, die Naturalisierung von Ausländern durchzusetzen, die dem lokalen Establishment angehörten und von »einer Anzahl angesehener Bürger« unterstützt wurden, stießen damit aber auf militärisch begründete Ablehnung.110 War der Einfluss der hohen Beamten auf die nationale Inklusion und Exklusion im Abnehmen begriffen, trachteten sie um so mehr danach, für ihre administrative Tätigkeit offizielle Anerkennung zu erhalten und sie als patriotische Leistung gewürdigt zu sehen. Das schlug sich in einer regelrechten Gier nach symbolischer Distinktion in Form von Auszeichnungen nieder, die sie mit vielen anderen Bevölkerungsgruppen teilten.111 In der Militärverwaltung tätige Beamte wurden in großer Zahl mit dem Eisernen Kreuz bedacht und so zu 107 Schriftwechsel in: GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 31, Bd. 2. 108 II. Armeekorps, Stellvertretendes Generalkommando Stettin an Minister des Innern, 22.4.1916, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 31, Bd. 2, Bl. 221; vgl. für ähnliche Differenzen zwischen Verwaltung und Armee HStASt, Ε 151/03, Bü 366, Qu 130 sowie verschiedene Dokumente in: HStAD, RD, 14994, 14997. 109 Vgl. Gosewinkel, »Unerwünschte Elemente«, S. 97f.; van Rahden, Grenze, S. 62. 110 Regierungspräsident von Arnsberg an Minister des Innern, 6.4.1916, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 27, Bd. 16, Bl. 65; Minister des Innern an Regierungspräsident von Arnsberg, 1.7.1916, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 27, Bd. 16, Bl. 65, Bl. 67; ähnlich Regierungspräsident von Düsseldorf an Minister des Innern, 22.11.1917, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 27, Bd. 17, Bl. 29f.; Minister des Innern an Regierungspräsident von Düsseldorf, 5.12.1917, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 27, Bd. 17, Bl. 31. 111 Die anfänglichen Versuche, die Verleihung militärischer Auszeichnungen an Zivilpersonen zu begrenzen, wurden von der Realität schnell überholt; vgl. Geheimes Zivilkabinett an Minister des Innern, 30.5.1915, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 153, Nr. 127, Bd. 1, sowie die Äußerung des württembergischen Ministerpräsidenten Weizsäcker, 13. Sitzung des Königlichen Staatsministeriums, 27.11.1915, HStASt, Ε 130b, Bü 212.
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verdienstvollen Patrioten aufgewertet, wenn sie ihre Tätigkeit zur Zufriedenheit ihrer Vorgesetzten ausführten.112 Die folgende Würdigung eines Regierungsrats stellt ein durchaus typisches Beispiel dar: »Während der Kriegszeit ist er trotz seines vorgerückten Alters und körperlicher Gebrechen (Verwundung 1870/71) mit großem Fleiß und Eifer stets bemüht gewesen, den besonders durch den Krieg erheblich erhöhten Geschäftsumfang seines Militär-Dezernates zu bewältigen und schnell und sachgemäß die Kriegsgeschäfte zu erledigen.« 113
Dass Beamte der Militärverwaltung, Sanitätsoffiziere sowie Leitung und Personal kriegswichtiger Betriebe in großer Zahl ausgezeichnet wurden, bewirkte bei der Zivilverwaltung ein »Gefühl der Zurücksetzung«, das sich in Unmutsäußerungen gegenüber der offiziellen Distinktionspolitik äußerte.114 Spitzenbürokraten befürchteten eine Beeinträchtigung der Arbeitsmotivation und wiesen darauf hin, dass »die Zivilbeamten während des Krieges zum Teil ganz Außerordentliches zum Wohle des Vaterlandes geleistet haben«.115 Über die Kränkung des bürokratischen Selbstwertgefühls hinaus hatte das Ausbleiben der ersehnten Auszeichnungen negative Folgen für das öffentliche Prestige der Amtsträger. Bald waren Regierungspräsidenten und Oberbürgermeister auf das Eiserne Kreuz angewiesen, um sozialen Status und Autorität zu wahren. So beschwerte sich der Oberpräsident der Rheinprovinz, dass der Regierungspräsident von Köln - im Unterschied zum Regierungspräsidenten von Düsseldorf, dem Oberpostdirektor, zahlreichen Ärzten, dem Oberbürgermeister und seinem eigenen Stellvertreter - das Eiserne Kreuz noch nicht erhalten habe. Das müsse bei der Bevölkerung den Eindruck erwecken, »dass die Dienstfuhrung des Präsidenten Steinmeister einer solchen Anerkennung für würdig nicht befunden worden sei« und damit die Position des »nach jeder Richtung bewährten Beamten« schwächen. Von Patriotismus und spezifisch nationalen Verdiensten des Regierungspräsidenten war dagegen nicht die Rede.116 In ähnlichen Fällen wurde vorgeschlagen, mit der Verleihung des Eisernen Kreuzes verdiente Oberbürgermeister für ihr Lebenswerk zu ehren oder ihnen gegenüber ihren bereits ausgezeichneten Kollegen in den Nachbar112 Bereits in der Vorkriegszeit hatte der Staat versucht, die Loyalität seiner Beamten durch eine rapide wachsende Zahl von Auszeichnungen zu sichern, vgl. Thompson, S. 181ff. 113 Antrag auf Verleihung der silbernen Spange mit dem verkleinerten Eisernen Kreuz 1914 an den Geheimen Regierungsrat Klemens Caesar in Wiesbaden, 3.12.1915, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 153, Nr. 58, Beiakten 1, Bd. 2. 114 Oberpräsident der Provinz Hannover an Minister des Innern, 6.2.1916, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 153, Nr. 58, Beiakten 1, Bd. 2. 115 Ebd.; ähnlich Minister des Innern an Präsident des Staatsministeriums, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 153, Nr. 58, Beiakten 1, Bd. 2; Königliche Regierung des Schwarzwaldkreises an Minister des Innern, 26.1.1917, HStASt, Ε 151/01, Bü 2864, Qu 283. 116 Oberpräsident der Rheinprovinz an Minister des Innern, 3.4.1916, GStA PK, Mdl, HA 1, Rep. 77, Tit. 153, Nr. 58, Beiakten 1, Bd. 2.
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Städten Gleichberechtigung zu verschaffen.117 Das massive Streben der hohen Beamten nach symbolischer Distinktion war durchaus wirkungsvoll: Zu Beginn des Jahres 1917 hatten zahlreiche Landräte und Oberbürgermeister das Eiserne Kreuz erhalten, dessen Geltungsbereich nun noch auf städtische Beigeordnete ausgeweitet wurde.118 Trotz dieser Expansion, die weit über den ursprünglichen militärischen Anwendungsbereich der Auszeichnung hinausging, blieb bei den Zivilbeamten der Eindruck einer unverdienten Zurücksetzung gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen bestehen. Das neugeschaffene Verdienstkreuz für Kriegshilfe wurde vielen von ihnen gar nicht oder erst zu einem Zeitpunkt verliehen, als es örtliche Schuldirektoren und Rüstungsarbeiter bereits erhalten hatten.119 Wurden die hohen Beamten in aller Regel früher oder später selbst mit dem Eisernen Kreuz bedacht und damit in ihrer administrativen Tätigkeit honoriert, zeigt doch gerade die Auszeichnungspraxis, wie sehr sie im Krieg an Definitionsmacht über die Nation verloren. Wenn Regierungspräsidenten und Oberbürgermeister explizit für die Verleihung des Eisernen Kreuzes vorgeschlagen wurden, um ihre Autorität zu wahren, verschob sich damit die Instanz für die nationale Bewertung individueller Leistungen vom Staat zur Bevölkerung. Je schwieriger sich die Erhaltung des Kriegskonsenses gestaltete, desto mehr sah sich die Verwaltung dem Druck von unten ausgesetzt. Das wird deutlich in einem Schreiben des Regierungspräsidenten von Düsseldorf, der eindringlich davor warnte, dem katholischen Oberbürgermeister von Neuß anders als seinen protestantischen Kollegen im Bezirk weiterhin das Eiserne Kreuz vorzuenthalten und zur Begründung betonte, »wie leicht gerade im hiesigen Bezirk bei den verschiedensten Anlässen über eine angeblich nicht ausreichende Berücksichtigung des katholischen Volksteils geklagt wird.«120 Der Unmut über die unzureichende Erfüllung des nationalen Gleichberechtigungsanspruchs zog im Rheinland weite Kreise, zumal auch anderen katholischen Beamten - unter anderem dem Kölner Beigeordneten Konrad Adenauer - das Eiserne Kreuz versagt geblieben war.121 Neben dem Druck von unten ließ die Machtausübung der Armee die Versuche der Verwaltung, die Distinktionspraxis zu kontrollieren, zunehmend hilf117 Regierungspräsident von Oppeln an Minister des Innern, 9.1.1917 und 12.1.1917, beide im GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 153, Nr. 58, Beiakten 1, Bd. 3. 118 Regierungspräsident von Düsseldorf an Minister des Innern, 9.2.1917, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 153, Nr. 58, Beiakten 1, Bd. 4. 119 Landrat von Teltow an Regierungspräsident von Brandenburg, 22.3.1917, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 153, Nr. 127, Bd. 1; Regierungspräsident von Oppeln an Oberpräsident von Breslau, 5.3.1917, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 153, Nr. 127, Bd. 1. 120 Regierungspräsident von Düsseldorf an Minister des Innern, 28.1.1917, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 153, Nr. 58, Beiakten 1, Bd. 3. 121 Oberpräsident der Rheinprovinz an Minister des Innern, 6.4.1917, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 153, Nr. 58, Beiakten 1, Bd. 3.
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los erscheinen. Die hohen Beamten litten darunter, dass sie bei der Entscheidung über die Verleihung von Auszeichnungen häufig von der Militärverwaltung übergangen, z.T. nicht einmal informiert wurden, und sahen dadurch ihre Autorität in Frage gestellt.122 Sie monierten, dass Mitarbeiter von Rüstungsindustrie und Kriegsamtstellen geehrt würden, »deren Verdienste... nicht wesentlich über dasjenige Maß von Pflichterfüllung hinausgehen, das man in der augenblicklichen Zeit von jedem Staatsbürger unbedingt verlangen muss«, die sich also durch keinerlei patriotische Opfer ausgezeichnet hätten.123 Es gelang ihnen jedoch nicht, sich mit ihren Bedenken durchzusetzen und ihren Einfluss auf die Distinktionspraxis gegenüber der Heeresverwaltung zu stärken. Das hatte negative Auswirkungen auf die politische Stellung der hohen Beamten, wie ihnen selbst durchaus bewusst war. Eine Beschwerde des Oberamtmanns von Maulbronn in Württemberg über die eigenmächtige Verleihung des Wilhelmskreuzes an zwei lokale Fabrikanten durch das Kriegsministerium betonte eindringlich den dadurch bewirkten Autoritätsverlust. Unter den schwierigen Zeitumständen sei die »Erhaltungeines führenden Einflusses« nur dann möglich, wenn »der politische Beamte für seine Bezirksangehörigen im Mittelpunkt der Möglichkeiten steht, die zu einer äusseren Ehrung führen.« Das Schreiben verdeutlicht, dass die monarchische Verwaltung noch wenige Monate vor Kriegsende an ihrem Anspruch festhielt, »Sammelpunkt staatlicher Interessen« zu sein; es wurde aber moniert, dass daraus nicht die richtigen Konsequenzen gezogen würden. Wenn Industrielle, die tatsächlich von der Kriegswirtschaft profitierten, vor zahlreichen Persönlichkeiten mit überlegenen »vaterländischen Leistungen« eine Auszeichnung erhielten, resultiere daraus breite Verärgerung, die sich gegen die Bürokratie richte: »Es sind in der Hauptsache Fragen des öffentlichen, wirtschaftlichen und politischen Lebens, bei denen die Entladung zur Wirkung kommt und der Leidtragende ist der politische Beamte, denn er, dessen Orientierung und Unterstützung vernachläßigt wurde [sic], wird in Folge seiner besonderen Stellung ohne die Möglichkeit allgemeiner Aufklärung im Zweifelsfall verantwortlich gemacht.« Durch die willkürliche Auszeichnungspraxis der Heeresverwaltung werde deren Zweck, die Förderung der »vaterländischen Sammlung«, konterkariert; daher sollten die militärischen Stellen die Entscheidung über die Verleihung von Auszeichnungen den »politischen Beamten« überlassen.124 Angesichts des mas122 Regierungspräsident von Wiesbaden an Kriegsamtsstelle Frankfurt/M., 5.9.1917, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 153, Nr. 127,Bd.1; Regierungspräsident von Aachen an Minister des Innern, GStA PK, Mdl, 10.9.1917, HA I, Rep. 77, Tit. 153, Nr. 127, Bd. 2. 123 Oberpräsident der Provinz Westfalen an Minister des Innern, 1.10.1917, GStA PK, Mdl, 10.9.1917, HA I, Rep. 77, Tit. 153, Nr. 127, Bd. 2. 124 Alle Zitate: Königliches Oberamt Maulbronn an Minister des Innern, 29.7.1918, HStASt, Ε 151/01, Bü 2865.
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siven Einflussverlustes der Bürokratie mutet dieser Selbstbehauptungsversuch illusorisch und verzweifelt an. Am Ende des Krieges war die Definitionsmacht der leitenden Beamten über die Nation zwischen der überlegenen Legitimationsinstanz der Armee und dem Streben breiter Bevölkerungsschichten nach Partizipation und Anerkennung zerrieben worden. Aus ihrer misslichen Lage zog die hohe Beamtenschaft nicht die Konsequenz, ihren nationalen Gestaltungsanspruch zurückzunehmen. Angesichts der massiven Legitimationszwänge, denen besonders die männliche Zivilbevölkerung ausgesetzt war, bestanden ohnehin keine alternativen Optionen der öffentlichen Selbstbehauptung. Der Krieg band ihre Identität vielmehr stärker als je zuvor an den Nationalismus, denn dieser ermöglichte es trotz aller Frustrationen, den Machtverlust der zentralen Trägergruppe des monarchischen Staates symbolisch zu kompensieren. Den hohen Beamten eröffneten sich neue, spezifisch nationale Felder beruflicher Selbstverwirklichung jenseits der klassischen administrativen Tätigkeit. Das galt zunächst für die ostpreußische Bürokratie, die durch die russische Invasion, die dadurch bewirkten Flüchtlingsströme und den anschließenden Wiederaufbau unmittelbar in den Krieg involviert war.125 Aber auch die Heimatfront bot Möglichkeiten patriotischer Betätigung. Die Werbung für die Kriegsanleihen gehörte zum Beispiel zu den Pflichten der Beamtenschaft, wie gegenüber Untergebenen zuweilen nachdrücklich betont wurde.126 Hier gelang es durchaus, beachtliche Ergebnisse zu erzielen, die man - ob zu Recht oder nicht - auf die intensive Werbetätigkeit der Verwaltung zurückführte. Besonders hervorgehoben wurde die Bedeutung der »Einzelbearbeitungjedes einzelnen Kapitalbesitzers«: »Nur der persönliche Einfluss hatte Wirkung.«127 Eine Schlüsselrolle kam dabei den Unterbehörden zu, denen die »stille Werbetätigkeit von Haus zu Haus«, anders ausgedrückt die Ausübung beträchtlichen administrativen Drucks oblag.128 Der Beamtenschaft ermöglichte dieses Aktivitätsfeld Erfolgserlebnisse, die den Glauben an die obrigkeitliche Motivier- und Steuerbarkeit patriotischen Verhaltens wachhielten.129 Der Nationalismus eröffnete den administrativen Eliten noch andere Betätigungschancen, wie das Beispiel des Düsseldorfer Regierungspräsidenten 125 Vgl. z.B. PVB 38 (1916), 33-36. 126 Beispiel: Königliches Oberamt Spaichingen, Regierungsrat an Verwaltungsaktuar Röhrle, 22.9.1917, HStASt, Ε 151/01, Bü 2868, Qu 1. 127 Die beiden Zitate beziehen sich aufdie Oberämter Vaihingen bzw. Ludwigsburg; Berichte überdicWahrnehmungenderOberämterbei der mnften Kriegsanleihe, HStASt, Ε 130a, Bü 1201, Qu 156. 128 Minister des Innern an Staatsminister, 27.11.1916, HStASt, Ε 130a, Bü 1201, Qu 152; ähnlich Minister des Innern an Staatsminister, 30.3.1916, HStASt, Ε 130a, Bü 1201, Qu 105. 129 Minister des Innern an Staatsminister, 1.6.1917, HStASt, Ε 130a, Bü 1202, Qu 245f.; Minister des Innern an Staatsminister, 7.12.1917, HStASt, Ε 130a, Bü 1202, Qu 310f.; Regierungspräsident von Düsseldorf an Oberpräsident der Rheinprovinz, 16.5.1916, HStAD, RD, 81, BL 172-197, hier Bl. 190f.
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Francis Kruse zeigt. Dieser hatte sich bereits vor 1914 in bevölkerungspolitischen Fragen engagiert; durch den Krieg sah er sich darin bestärkt und zusätzlich motiviert. 1915 wurde auf seine Initiative eine »Vereinigung für Familienwohl im Regierungsbezirk Düsseldorf» gegründet.' 30 Für den Spitzenbeamten bestätigte der Krieg mit seinen hohen Verlusten die Einsicht, dass »der Kampf gegen die bewusste Geburtenverhütung nicht nur eine sittliche, sondern eine ernste vaterländische Pflicht ist« und verhalf ihr zu breiter Resonanz.131 Damit verband Kruse eine Umdeutung der Vergangenheit, die als Negativfolie für die nationale Moralität der Kriegszeit fungierte. Die Geburtenbeschränkung, die die Zukunft des deutschen Volkes aufs Spiel gesetzt habe, sei die Folge der verbreiteten »Lehre von dem Sichausleben der Persönlichkeit zum Schaden des Gemeinwohls« gewesen, die nun einer neuen, von solchem Egoismus freien »Geistesverfassung« gewichen sei.132 Wie intern durchaus eingestanden wurde, waren die Ergebnisse des administrativen Vorgehens gegen den demographischen Trend eher bescheiden, wobei diese ernüchternde Feststellung mit der Hoffnung auf einen grundlegenden Wandel in der Nachkriegszeit verbunden war.133 U m bevölkerungspolitische Ziele durchzusetzen, griffKruse zu repressiven Mitteln; er bemühte sich, vom Stellvertretenden Generalkommando Verbote von Kontrazeptiva zu erwirken, die er selbst aus rechtlichen Gründen nicht erlassen konnte.134 Ein weiterer Schwerpunkt der nationalen Aktivitäten des Düsseldorfer Regierungspräsidenten war der Kampf gegen Fremdwörter.135 Kruse organisierte entsprechende Vorträge und war Vorsitzender des lokalen »Ausschusses zur Bekämpfung des Fremdwörterunwesens«, dessen Ziele er durch beträchtlichen administrativen Druck förderte.136 So wurden die Straßen- und Kleinbahnverwaltungen des Regierungsbezirks aufgefordert, »die Rückseiten der Fahrscheine für den Abdruck vermeidlicher Fremdwörter nebst den deutschen Ersatzwörtern zur Verfügung zu stellen.« Allerdings blieb dieser Vorstoß meist 130 Ebd., Bl. 192; vgl. zur Gründung das Protokoll der Vorstandssitzung des Bezirksvereins vom Roten Kreuz, 29.11.1915, HStAD, RD, 1207, BL 469f.; zur bevölkerungspolitischen Konjunktur im Krieg vgl. Usbome, >Pregnancy»Umsiedlung< großer Volksmengen«. Nach der Vorstellung des Spitzenbeamten sollten die Polen in den neu zu gründenden polnischen Schutzstaat »verpflanzt« werden, während die dort lebenden Russen in die »durch den Abzug der Deutschen freiwerdenden Wolgakolonien« umzusiedeln seien. Der jüdischen Bevölkerung wollte er die Wahl lassen, sich den Polen anzuschließen oder »in Palästina oder Marocco« zu siedeln, was »der Zionismus gern übernehmen« würde. 159 Mit seinen Vorschlägen leistete der Regierungspräsident von Frankfurt/Oder einen Beitrag zu den Plänen einer Neuordnung Ostmitteleuropas durch eine umfassende Völkerverschiebung, deren Vorläuferfunktion für die nationalsozialistische Großraumpolitik zu Recht betont worden ist.160 Er verwies dabei ausdrücklich auf seine jahrzehntelange Tätigkeit in der Ansiedlungspolitik im preußischen Osten, deren Ambitionen in »NeuPreußen« mit Hilfe einschlägig erfahrener und motivierter Beamter verwirklicht werden könnten. Dazu solle die gesamte Verwaltung auf die Siedlungsaufgabe ausgerichtet werden; die Behörden seien »mit weitestgehenden Vollmachten auszugestalten«. Der Plan eines ethnisch homogenen Siedlungsgebiets war also nicht zuletzt deshalb attraktiv, weil er eine Ansiedlungspolitik ohne rechtsstaatliche und ethnische »Hemmungen« und damit die Erlösung von den Frustrationen des Nationalitätenkampfes der Vorkriegszeit verhieß.161 158 Zu Schwerins Denkschriften und ihrer politischen Bedeutung vgl. Geiss, S. 78-90. 159 Regierungspräsident von FrankfurvOder an Minister des Innern, 3.4.1915: Die Notwendigkeit und Möglichkeit, als Ziel des Krieges neues Siedlungsland im Anschluss an die Grenzen Deutschlands zu schaffen, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 875, Nr. 10, Adh. 5, Bd. 2, Bl. 8 0 99. 160 Geiss; Broszat, S. 140f.; zur Völkerverschiebung im Zweiten Weltkrieg vgl. Aly. 161 Regierungspräsident von Frankfurt/Oder an Minister des Innern, 3.4.1915: Die Notwendigkeit und Möglichkeit, als Ziel des Krieges neues Siedlungsland im Anschluss an die Grenzen Deutschlands zu schaffen, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 875, Nr. 10, Adh. 5, Bd. 2, Bl. 8 0 99.
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Wie erwähnt, teilten keineswegs alle Spitzenbeamten der ostelbischen Provinzen die Position des Regierungspräsidenten von Frankfurt/Oder. Wenn manche von ihnen die Loyalität der polnischen Bevölkerung würdigten, kam darin eine gewisse Distanz zum ethnischen Nationalismus zum Ausdruck, die sich in expliziter Kritik am Ostmarkenverein niederschlagen konnte.162 Für einen Beamten zeigte das Verhalten der Polen im Krieg sogar, dass die »Staatsgemeinschaft«, konkret erfahren als »ganz ungewöhnlich lebhafte Verbindung zwischen Bevölkerung und Landrat«, stärkere Bindungskräfte als die »Blutsoder Rassengemeinschaft« entfalten könne.163 Belegen diese Äußerungen die bleibende Bedeutung staatsnationaler Ideen bei einem Teil der hohen Bürokratie, ist insgesamt doch festzuhalten, dass ethnische Stereotypen und Deutungsmuster im Ersten Weltkrieg Konjunktur hatten und durch seinen Verlauf bekräftigt wurden. Die Denkschriften und Reiseberichte, in denen die politische Neuordnung Ostmitteleuropas konzipiert und imaginiert wurde, stellten hierfür ein bevorzugtes Anwendungsfeld dar.164 Stärker als je zuvor definierten die deutschen Industriellen und hohen Beamten im Ersten Weltkrieg ihre Identitäten in nationalen Kategorien. In Selbstverständnis, Gesellschaftsbildern und Interessen sahen sie sich ideell aufgewertet und überhöht. Für zahlreiche Industrielle, aber nur wenige hohe Beamte verbanden sich damit reale Zuwächse an Geld und Einfluss. Auf der anderen Seite kontrastierten subjektive patriotische Opferbereitschaft und national legitimierte Ansprüche für Regierungspräsidenten, Landräte und durch die Kriegswirtschaft benachteiligte Unternehmer schmerzlich mit der ernüchternden Erfahrung von Status- und Machtverlusten und mangelnder symbolischer Anerkennung. Zwar konnten erstere im Verfassen von Denkschriften zur Neuordnung Ostmitteleuropas oder im Kampf gegen Fremdwörter und Geburtenrückgang Kompensation suchen. Wie ihnen selbst nicht verborgen blieb, stieß die obrigkeitliche Definition und Durchsetzung nationaler Verhaltensnormen 162 Oberpräsident von Posen an Minister des Innern, 6.1.1915, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 863a, Nr. la, Bl. 35-43; im Tenor ähnlich: Oberpräsident von Ostpreußen an Minister des Innern, 29.10.1915, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 863a, Nr. 2b, Bl. 399-404; skeptischere Einschätzungen: Oberpräsident von Westpreußen an Minister des Innern, 24.1.1915, GStA PK, Mdl, HA 1, Rep. 77, Tit. 863a, Nr. la, Bl. 101-117; Oberpräsident von Pommern an Minister des Innern, 29.10.1916, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 863a, Nr. 2b, Bl. 320-336. 163 Landrat von Schwetz an Regierungspräsident von Marienwerder, 10.1.1915, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 863a, Nr. 2b, Bl. 274-279. 164 Weitere Beispiele: Graf von Keyserlingk [Regierungspräsident von Königsberg], Denkschrift über die wirtschaftliche Bedeutung der Einverleibung Kurlands und Russisch-Litauens in Preußen [Dezember 1915], GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 875, Nr. 10, Adh. 5, Bd. 4, Bl. 147168; Bericht über eine Reise nach Russisch-Litauen und Polen in den Tagen vom 5. bis 10. August 1916 [verfasst vom Geheimen Oberregierungsrat Conze, 17.8.1916], GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 875, Nr. lOe, Bl. 21-27.
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aber auf enge Grenzen.165 Daraus die Konsequenz zu ziehen, den Nationalismus und seine ethischen Ansprüche in Frage zu stellen oder zumindest zu relativieren, war für sie jedoch ebensowenig denk- und sagbar wie für jene Industriellen, welche die mangelnde patriotische Opferbereitschaft von Konkurrenten oder anderen gesellschaftlichen Gruppen beklagten. Da die Verwirklichung der Nation im Krieg in vieler Hinsicht hinter den hohen Erwartungen zurückblieb, projizierten sie diese auf die Nachkriegszeit. In Verwaltungsakten und Unternehmerkorrespondenzen zeichneten sich die Konturen eines - mit ganz unterschiedlichen Hoffnungen gefüllten - nationalistischen Utopia ab, das Bürokraten und Industriellen riesige Selbstverwirklichungschancen in den neugewonnenen Gebieten versprach und in dem Fremdwörter, Kontrazeptiva und Minderheitenprobleme, vor allem aber die harten Interessengegensätze einer fragmentierten Gesellschaft verschwunden sein würden. Die ernüchternden Erfahrungen der Nachkriegszeit sollten mit solchen Hoffnungen auf politisch folgenreiche Weise kontrastieren. Der Krieg aber band die Identitäten von Industriellen und hohen Beamten an die Nation und schuf damit einen diskursiven Erfolgszwang, der es unmöglich machte, sich die Möglichkeit eines Scheiterns einzugestehen, weil dies bedeutet hätte, die eigene individuelle und kollektive Existenz in Frage zu stellen. Als sich die Niederlage nicht mehr leugnen ließ, war es durchaus folgerichtig, dass die ökonomischen und administrativen Eliten des Kaiserreichs die Verantwortung dafür nicht bei sich selbst suchten. 2. Die Kriegsnation als bürgerliche Ordnung Das Spannungsverhältnis zwischen nationalem Einheitsanspruch auf der einen und gruppenspezifischen Wahrnehmungen und Selbstdeutungen auf der anderen Seite war von zentraler Bedeutung für den Kampf um Anerkennung, den die deutschen Industriellen und hohen Beamten im Ersten Weltkrieg kämpften. Diese These, die im letzten Kapitel ausführlich begründet und belegt worden ist, deckt sich in vieler Hinsicht mit den Ergebnissen der neueren erfahrungs- und kulturgeschichtlichen Weltkriegsforschung. Für verschiedene Gruppen der deutschen Gesellschaft ist mittlerweile überzeugend herausgearbeitet worden, in welch hohem Maße sie den Konflikt aus ihrer jeweils eigenen Perspektive wahrnahmen und interpretierten.166 Zugespitzt formuliert, ergibt sich daraus ein Gesamtbild von Teilkulturen, die sich nach innen verfestigten und sich daher mit Unverständnis und zunehmend auch mit Feindseligkeit 165 Zum nationalen Partizipationstrend im Krieg und seinen obrigkeitskritischen Aspekten vgl. Fritzsche, Germans, S. 11-82. 166 Vgl. v.a. die Beiträge in: Hirschfeld u.a. (Hg.), Kriegserfahrungen.
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gegenüberstanden. Das legt es nahe, die Einordnung des Ersten Weltkriegs in die Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zu überdenken. Denn die Gültigkeit der von zeitgenössischen Interpreten formulierten und bis heute ungeheuer einflussreichen Auffassung, dass in den Stahlgewittern der Front das alte Europa untergegangen und die Moderne geboren worden sei,167 ist im Lichte der jüngsten Forschungen zweifelhaft geworden. Neue Erfahrungen und gesellschaftliche Herausforderungen müssen nicht zwangsläufig mit kulturellen Umbrüchen einhergegangen sein; a priori können sie genauso gut bewirkt haben, dass die Menschen vermehrt auf die orientierungs- und sinnstiftende Kraft vertrauter Sichtweisen und Wertvorstellungen zurückgriffen. In der Tat haben verschiedene Vertreter der kulturhistorischen Weltkriegsforschung in diese Richtung argumentiert und nicht ausschließlich, aber doch primär die Verfestigung und Revitalisierung älterer Deutungsmuster, Repräsentationen und Praktiken betont.168 Sicher wäre es voreilig, dieser Trendwende unkritisch zu folgen und die Abwägung von modernen und traditionalen Zügen der Kriegskultur für beendet zu erklären. Die Frage nach dem Fortwirken des 19. Jahrhunderts nach 1914 stellt sich aber neu. Was folgt daraus für die Untersuchung der Einstellungen von Industriellen und hohen Beamten zur Nation? Im ersten Teil dieser Arbeit ist gezeigt worden, dass die ökonomischen und administrativen Eliten bis zum Kriegsausbruch von der bürgerlichen Kultur geprägt waren und es allen Krisendebatten und Reformbewegungen zum Trotz auch blieben. Die Frage ist, ob sich das nach dem August 1914 änderte. Der Krieg konfrontierte Industrielle und hohe Beamte mit tiefgreifenden kulturellen Herausforderungen, die weit über ihren beruflichen Tätigkeitsbereich im engeren Sinne hinausgingen. Auf verschiedenen Gebieten mussten neue Erfahrungen verarbeitet werden: Statt im heimatlichen Regierungsbezirk waren viele Bürokraten in den besetzten west- und osteuropäischen Gebieten beschäftigt und mit einer entsprechend fremden Bevölkerung konfrontiert. Im Reich mussten Arbeiter, die in Belgien oder Russisch-Polen angeworben und bald auch zwangsrekrutiert wurden, von Beamten und Industriellen überwacht werden. Das Verhältnis zur deutschen Bevölkerung war mit zunehmender Dauer des Konflikts von einer Proteststimmung geprägt, um deren Eindämmung sich die ökonomischen und administrativen Eliten mit bescheidenem Erfolg bemühten. Hinzu kam, dass der Krieg dazu zwang, die Kriterien für nationale Distinktionswürdigkeit, Inklusion und Exklusion an die neue Situation anzupassen. Kommunale Selbstverwaltung und städtische Eliten sahen sich mit sozialpolitischen Problemen neuer Qualität konfrontiert und ungleich stärker als vor 1914 Angriffen der unterbürgerlichen Bevölkerung ausgesetzt. Wie hier am Beispiel von Düsseldorf und Stuttgart 167 Vgl. u.a. Fussell; Ekstettts; Schulin. 168 So die Grundthese von Winter; vgl. ferner Audoin-Rouzeau, S. 149; ders./A. Becker, Violence, S. 256; Reimann, S. 145.
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beschrieben wird, versuchten sie, lokale, regionale und nationale Identitäten auch unter den Bedingungen des Krieges in plausibler und sinnstiftender Form zu vereinbaren. Für all diese Aspekte wird im folgenden untersucht, wie und mit Hilfe welcher kulturellen Prägungen neue Erfahrungen und Herausforderungen gedeutet wurden und welche Konsequenzen sich daraus ergaben. Die Frage nach der Bürgerlichkeit der Kriegsnation steht dabei im Mittelpunkt. Deutungen und Sichtweisen von Industriellen und hohen Beamten im Krieg zeugten von der enormen Prägekraft bürgerlicher Einstellungen. Sie verloren keineswegs an Geltung, sondern wurden bekräftigt. Die bürgerlichen Einstellungen waren eng mit der nationalen Identität der ökonomischen und administrativen Eliten verknüpft, wie sich an der Wahrnehmung der Bevölkerung in den besetzten Gebieten besonders deutlich zeigen lässt. »Ordnung« und »Sauberkeit«, Wertvorstellungen, die seit der Wende zum 19. Jahrhundert konstitutiv für den bürgerlichen Normenhaushalt gewesen waren,169 boten in der ungewohnten baltischen oder russisch-polnischen Umgebung eine wichtige Orientierungshilfe, weil sie halfen, die Komplexität der ethnischen Situation auf schlichte Dichotomien zu reduzieren. In den Erfahrungsberichten der Besatzungsverwaltung markierten »Ordnung« und »Sauberkeit« eine intuitiv erfassbare Scheidelinie zwischen deutsch und russisch geprägten Gebieten und trugen dazu bei, den Anspruch auf definitive Herrschaft und Germanisierung zu legitimieren: »Fährt man von Kowno nach Mitau, so bedarf man keines Führers, der einem die Grenze der beiden Provinzen weist. Ordnung und Sauberkeit kennzeichnen den unter dem Einfluß der deutschen Kultur stehenden kurischen Besitz. Die Landwege befinden sich in gutem Zustande, auch die Baulichkeiten der Bauerngehöfte und Landarbeiter machen einen unvergleichlich besseren Eindruck als die der Litauer; die Felder sind sorgsamer bestellt und die Wälder verraten mehr die Pflege des Forstmannes.«170
In der paternalistischen Zielvorstellung einer deutschen Administration, welche die lettische Bevölkerung »streng aber wohlwollend« behandeln und damit gewinnen sollte, schlug sich ebenso eine repressive Variante von Bürgerlichkeit nieder wie in dem mit unterlegener »Kultur und Moral« begründeten Antisemitismus. 171 Stereotypen, die sich im 19. Jahrhundert auf die deutschen Unterschichten bezogen hatten, wurden nun ethnisiert.
169 Vgl. Kocka, Bürgertum, S. 43; Blackbourn, German bourgeoisie, S. 9; Sarasin, Subjekte, S. 149; Frty. 170 Graf v. Keyscrlingk [Regierungspräsident von Königsberg], Denkschrift über die wirtschaftliche Bedeutung der Einverleibung Kurlands und Russisch-Litauens in Preußen (Dezember 1915), GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 875, Nr. 10, Adh. 5, Bd. 4, Bl. 147-168. 171 Ebd.; ähnlich Kurland unter deutscher Verwaltung. Vortrag des Verwaltungschefs anlässlich der Anwesenheit des Herrn Landwirtschaftsministers in Mitau am 8.10.1915, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 875, Nr. 10, Adh. 5, Bd. 4, Bl. 20-29.
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Dieser Zusammenhang lässt sich auch in den ganz im Duktus bürgerlicher Reiseberichte gehaltenen Aufzeichnungen von Honoratioren nachweisen, die als Begleiter von Hilfsgütertransporten Truppeneinheiten besuchten. Der Heilbronner Silberwarenfabrikant und Politiker Peter Bruckmann schilderte das Leben der Besatzer in Russisch-Polen als eine Art Paradies deutscher, insbesondere schwäbischer Gemütlichkeit, vor allem aber als eindrucksvolle zivilisatorische Anstrengung. Überall sei zu sehen gewesen, »wie durch deutsches Wissen, deutsche Ordnung sofort hinter der Front deutsche Art ins Leben trat.«172 Die Deutschen standen dabei in scharfem Kontrast zum indigenen »stumpfen Volk«, das zum Leidwesen des Autors nicht in der Lage schien, den Wert seiner Erziehung im Zeichen »der Ordnung, der Reinlichkeit« zu begreifen.173 Auch Linksliberale wie Bruckmann fanden im besetzten Osteuropa ein ideales Anwendungsfeld bürgerlicher Macht- und Zivilisierungsansprüche, die der Verwirklichung näher schienen als je zuvor im eigenen Land. Die Anwendung des Konnexes von nationalen Stereotypen und repressiver Bürgerlichkeit blieb keineswegs auf die besetzten Gebiete beschränkt. Sie schlug sich auch in den hochgradig konstruierten Wahrnehmungen ausländischer Arbeiter russisch-polnischer oder belgischer Herkunft nieder.174 Unbeeinflusst von rechtsstaatlichen Bedenken befürworteten Industrielle wie hohe Beamte hier frühzeitig die Ausübung disziplinarischer Gewalt, und zwar in einem Maße, das den Übergang von Gast- zu Zwangsarbeitern fließend erscheinen lässt. Paternalistische Bilder der Unterschichten aus dem diskursiven Fundus des 19. Jahrhunderts verbanden sich mit ethnischen Zuschreibungen und verliehen der harten Linie die Legitimation eines Erziehungsprogramms. Die Ansichten über die geeigneten Maßnahmen waren dabei im einzelnen unterschiedlich. So empfahl der Regierungspräsident von Düsseldorf den Landräten und Polizeiverwaltungen seines Bezirks, den russisch-polnischen Arbeitern keinen Barlohn mehr auszuzahlen und so ihren Alkoholkonsum einzudämmen, erhielt aber mehrfach die Antwort, dass dafür keine Notwendigkeit bestehe.175 Konnten solche pragmatischen Gesichtspunkte die administrativen Disziplinierungsambitionen gelegentlich bremsen, dominiert insgesamt deutlich das Bild eines ungehemmten Strebens nach Kontrolle durch Zwang. Zur Durchsetzung von »Zucht und Ordnung« wurde von der Verwaltung die Kasernierung befürwortet, ergänzt durch Arrest für solche Arbeiter, die sich »faul und widerspenstig« zeigten.176 Ganz unverhohlen brach sich hier das Ste172 Bruckmann, S. 16. 173 Ebd., S. 21,37. 174 Zum folgenden vgl. Herbert, Zwangsarbeit; Zunkel, Arbeiter; Thiel, 175 Schriftverkehr in: HStAD, RD, 15057 176 Landrat des Landkreises Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, HStAD, RD, 15057, Bl.80f.; ähnlich Polizeiverwaltung Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, HStAD, RD, 15057, Bl. 93f; Polizeipräsident von Essen an Regierungspräsident von Düsseldorf.
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reotyp der disziplinlosen, »arbeitsscheuen« und daher zur Erfüllung bürgerlicher Verhaltensnormen zu erziehenden Unterschichten Bahn, das auf die Wahrnehmung der ausländischen Arbeitskräfte übertragen und damit ethnisiert wurde. 177 Dazu boten sich Polen und Belgier auch deswegen an, weil derartige Herrschaftsansprüche gegenüber der deutschen Bevölkerung im Krieg immer weniger durchzusetzen waren. Bei den Industriellen, denen die alltägliche Überwachung oblag, kamen konkrete Fremdheitserfahrungen hinzu, die vor dem Hintergrund bürgerlicher Wertvorstellungen besonders stark empfunden wurden, wenn sich etwa polnische Arbeiter »mit vollem Anzug und schmutzigen Stiefeln in die Betten« legten.178 U m auf solche Problemfälle »erzieherisch einzuwirken«, wurden durchaus auch Anreize eingesetzt, zum Beispiel die Möglichkeit, bei Wohlverhalten in deutschen Haushalten zu logieren, wobei dahinter das Bestreben stand, sich im Hinblick auf die Nachkriegszeit einen Stamm an zuverlässigen Arbeitern zu sichern.179 Es überwog jedoch bei weitem die Anwendung harter Zwangsmittel, die sich gerade durch die eher bescheidenen Disziplinierungserfolge fortwährend selbst legitimierte. Gegenüber den ausländischen Arbeitern, die in den Augen der Industriellen nicht nur arbeitsscheu, sondern auch »aufsässig und frech« waren,180 bedurfte dies über Kriegswichtigkeit und Erziehungsanspruch hinaus keiner weiteren moralischen Rechtfertigung. Die praktische Umsetzung dieser Grundhaltung veranlasste sogar die Armee zu gelegentlichen Ermahnungen, den Betroffenen eine »menschenwürdige und gerechte Behandlung« angedeihen zu lassen.181 Es war nur konsequent, dass bedeutende Unternehmer wie Carl Duisberg und Walther Rathenau aktiv und ohne erkennbare Skrupel den Übergang zur Zwangsarbeit betrieben. 182 Antisemitische Stereotypen waren ebenfalls mit bürgerlichen Normen vereinbar. Osteuropäische Juden wurden mit dem Stigma defizitärer Gesundheit und Physis und damit rassisch bedingter Arbeitsuntauglichkeit versehen. 183 16.10.1915, HStAD, RD, 15057, Bl. 97f; Oberbürgermeister von Duisburg an Stellvertretendes Generalkommando VII. Armeekorps Münster, 6.7.1917, HStAD, RD, 15057, Bl. 288f. 177 Vgl. mit Beispielen aus dem Regierungsbezirk Merseburg Thiel, S. 73f. 178 Gewerkschaft Constantin der Grosse an Verein für die bergbaulichen Interessen Essen, 26.10.1915, HStAD, Regierung Düsseldorf, 15057, Bl. 153-157. 179 Steinkohlenbergwerk Graf Bismarck an Königliche Polizeidirektion Gelscnkirchen an Königliche Polizeidirektion Gelsenkirchen, 22.11.1915, HStAD, RD, 15057, Bl. 164f. 180 So der Direktor der Stinneszechcn in Carnap, zitiert in: Landrat von Essen an Regierungspräsident von Düsseldorf, HStAD, RD, 15057, Bl. 175f; ähnlich Nordwestliche Gruppe des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller an Regierungspräsident von Düsseldorf, 3.10.1915, HStAD, RD, 15005, Bl. 10-13. 181 Stellvertretendes Generalkommando VII. Armeekorps an Regierungspräsidenten, 5.11.1915, HStAD, RD, 15057, Bl. 116f; ähnlich Stellvertretendes Generalkommando VII. Armeekorps an Regierungspräsidenten, 5.10.1915, HStAD, RD, 15057, Bl. 71. 182 Vgl. Thiel, S. 33-41. 183 Polizeipräsident von Essen an Stellvertretendes Generalkommando VII. Armeekorps
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Nicht nur die Fremdwahrnehmungen, auch die nationalen Selbstbilder von Industriellen und hohen Beamten waren in noch stärkerem Maße als vor 1914 bürgerlich geprägt. Der Kriegsausbruch schien die eigenen Gesellschaftsideale eindrucksvoll zu bestätigen und den alten Traum von der Einbindung der Arbeiterschaft in eine hierarchische Gesellschaftsordnung zu erfüllen. In den Augen zahlreicher Angehöriger der deutschen Eliten hatten sich die Normen »Vaterland, Heimat, Muttersprache, Familie und wirtschaftsfriedliche Arbeit« endlich durchgesetzt,184 ein Katalog, der sich durch Bildungswerte ergänzen ließ.'85 Diese Sicht beruhte auf einer längerfristigen Disposition. Aus konservativ-autoritärer wie aus sozialreformerischer Perspektive war die Hoffnung auf die Überwindung der Klassenspaltung nie aufgegeben worden. Die scheinbar einhellige und enthusiastische Akzeptanz des Krieges durch alle Bevölkerungsschichten bescheinigte den bürgerlichen Erziehungs- und Integrationsbemühungen des 19. Jahrhunderts den ersehnten Erfolg. Es ist nicht nur auf die staatliche Propaganda, sondern ebensosehr auf diese Nachfrage nach Selbstbestätigung zurückzuführen, dass das Axiom der »Kriegsbegeisterung« so bereitwillig konstruiert und mit erstaunlicher Konstanz beibehalten wurde.186 Gestützt wurde diese Haltung vom Stereotyp der im Grunde gutherzigen, unterordnungswilligen, steuerbaren aber erziehungsbedürftigen »Massen«, das es ermöglichte, das immense und im Laufe des Krieges zunehmende Protestpotential in der deutschen Gesellschaft fatal zu unterschätzen.187 Dass etwa Defizite in der Kinderernährung auf die »Bequemlichkeit oder Nachlässigkeit« der Mütter zurückgeführt wurden oder behauptet wurde, dass die Entbehrungen des Hungerwinters 1916/17 »mit dem guten Mute.., den eine gewisse Eingewöhnung in ein Leben mit knappen Mitteln erzielt« ertragen würden, ist weniger mit böswilligen Verzerrungen als mit dem bürgerlichen Bild der Arbeiterschaft zu erklären, das durch den Krieg noch verstärkt wurde.188 Unruhen und Streiks mussten vor diesem Hintergrund als »frivole und grobe PflichtverMünster, 2.9.1915, HStAD, RD, 15045, Bl.21f.; Polizeiverwaltung Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, 21.6.1915, HStAD, RD, 15045, Bl. 1; Königlich Württembergischer Minister des Innern an Königliche Stadtdirektion Stuttgart und Königliche Oberämter, 11.6.1918, StAL, Ε 170, Bü 1759. 184 Vereinsblatt der Badischen Anilin-& Soda-Fabrik Ludwigshafen a/Rh. 2 (1914/15), S. 57f. 185 Ebd., S. 113f.; AG 1917, S. 4f; Dominkus, S. 21. 186 Die ältere Annahme einer nahezu einhelligen Kriegsbegeisterung der deutschen Bevölkerung ist in den letzten Jahren durch zahlreiche Studien empirisch widerlegt worden; vgl. u.a. die in der Einleitung, Anm. 30 zitierten Arbeiten. 187 Vgl. dazu Kocka, Klassengesellschaft, S. 33-57; Chukering, Imperial Germany, S. 132-167; Davis, 188 AG 1915, S. 57f.; der Artikel gibt zustimmend eine Verfügung des Regierungspräsidenten von Düsseldorf wieder; Monatsschrift der Handelskammer zu Düsseldorf für den Stadt- und Landkreis Düsseldorf 13 (1917), S. 1-11; zur Erfahrung der Lebensmittelknappheit »von unten« vgl. Kocka, Klassengesellschaft, S. 20f.; Chickering, Imperial Gcrmany, S. 140-146; Daniel, Arbeiterfrauen,S.183-232.
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letzung« erscheinen, 189 wurden jedoch primär auf exogene Ursachen zurückgeführt. Wenn die deutsche Arbeiterschaft in ihrem Wesen unterordnungsbereit und patriotisch war, konnten Protesterscheinungen nur »von außenher«, von »geschulten Streikleitern« und der »Propaganda der russischen Revolutionäre« induziert sein. ,90 Aus dem gleichen Grund schien es in den Augen konservativer Industrieller noch kurz vor Ausbruch der Revolution bei den sozialdemokratischen Regierungsmitgliedern zu liegen, »die Massen mit der Einsicht zu erfüllen, was jetzt vom Standhalten abhängt«.191 Die Schuldzuweisung für den Zusammenbruch war somit bereits vorformuliert. Ähnliche Deutungsmuster lassen sich in den Berichten der Verwaltung über die Bevölkerungsstimmung feststellen, die in hohem Maße Konstruktcharakter trugen. Die zunehmende und immer breitere Unzufriedenheit wurde zwar nicht durchweg geleugnet, aber einseitig interpretiert und damit verharmlost, und zwar besonders von den oberen, von den Realitäten des Kriegsalltags entfernteren Beamten. So konnte etwa der Regierungspräsident von Minden das Urteil eines seiner Landräte, dass die Landbevölkerung aufgrund der behördlichen Eingriffe »die Laune verliere«, nicht teilen, da »bei dem vaterländischen Sinne der Landbevölkerung dadurch doch nur vorübergehende Stimmungen ausgelöst« würden. 192 Offenkundig lag dieser Äußerung ein stereotypes, durch bürgerliche Idealisierungen geprägtes Bild der Landbevölkerung zugrunde, die als intakter Kern der Nation erschien.193 Nicht anders projizierten zahlreiche weitere Spitzenbeamte ihre Wunschvorstellung eines von patriotischer Durchhaltebereitschaft bestimmten Volkes auf die Mentalität der Bevölkerung, deren Kriegsbejahung fast durchgehend überbewertet wurde. Auch wo Stimmungsverschlechterungen eingeräumt wurden, rückte man von dieser Einschätzung nicht wirklich ab. Statt der nachlassenden Akzeptanz des Krieges und seiner Opferzumutungen wurden sie äußeren Faktoren zugeschrieben, wobei die Einschätzungen zwischen den Problemen der Lebensmittelversorgung, der Verständigungsbereitschaft signalisierenden Rede des Staatssekretärs Kühlmann oder den Wirkungen sozialdemokratischer Propaganda variieren konnten.194 Die Gemeinsamkeit lag in der essentialistischen Überzeugung, dass 189 AG 1917, S. 57ff. 190 AG 1918, S. 25f. 191 Monatsschrift der Handelskammer zu Düsseldorf für den Stadt- und Landkreis Düsseldorf 14 (1914), S. 618. 192 Regierungspräsident von Minden an Stellvertretendes Generalkommando VII. Armeekorps Münster, 20.8.1917, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 1059, Nr. 3, Beiheft 2, Bd. 1, Bl. 8689. 193 Zu den tatsächlichen Einstellungen der ländlichen Bevölkerung zum Krieg vgl. Ziemann, Augusterlebnis. 194 Regierungspräsident von Arnsberg an Stellvertretendes Generalkommando VII. Armeekorps Münster, 20.8.1917, GStA PK, Mdl, HA I, Rcp. 77, Tit. 1059, Nr. 3, Beiheft 2, Bd. 1, Bl. 8689; Oberpräsident von Magdeburg an Minister des Innern, 9.7.1918, GStA PK, Mdl, HA I, Rep.
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Nationalgefühl eine a priori vorhandene Eigenschaft der »Massen« sei, die von oben nur geweckt oder blockiert werden könne. Das zeigt die im Juni 1918 formulierte Einschätzung des Oberpräsidenten von Magdeburg, dass durch zu seltenes Hissen der Fahnen »das vaterländische Empfinden und der Stolz auf die Großtaten der Heere...geradezu künstlich unterdrückt und verhindert« werde: »Unsere Bürgerschaft blickt, wenn Gerüchte über Erfolge unseres Heeres auftauchen, zunächst nach den öffentlichen Gebäuden; wird auf ihnen geflaggt, so kommen überall die Fahnen heraus, und die festliche Stimmung ist da; die Siegeszuversicht, die Opferfreudigkeit und der energische Wille zum Durchhalten werden in geradezu sichtbarer Weise gestärkt und gefestigt.«195 Diese Wahrnehmungen der Bevölkerungsstimmung sind allerdings auch darauf zurückzuführen, dass die hohen Beamten ihren eigenen Versorgungs- und Propagandaaktivitäten mit realitätsnäheren Einschätzungen ein schlechtes Zeugnis ausgestellt hätten. Zudem zielten die offiziellen Vorgaben für die Formulierung der Berichte darauf, »der Größe und Stimmung der Zeit« zu entsprechen und die »Verzeichnung aller minderwichtigen Tatsachen und Erscheinungen« zu unterlassen, weswegen eine Heranziehung der unteren Behörden verzichtbar sei.196 Der Zusammenhang von Kriegsalltag und Legitimationsverlust des Staates musste so ausgeblendet bleiben. Zwar wurden in den Darstellungen des Hungerwinters 1916/17 die knappheitsbedingte »Erregbarkeit« der Arbeiterschaft und die verbreitete Wahrnehmung eines Gerechtigkeitsdefizits thematisiert, aber die Verwaltung erschien immer noch als erfolgreicher Organisator des sozialen Ausgleichs.197 Ein halbes Jahr danach war die Durchhaltebereitschaft wieder intakt und die politische Brisanz der Versorgungsproblematik verschwunden: »Die Sorge um das tägliche Brot lässt eben die Teilnahme an politischen Dingen völlig zurücktreten.«198 Damit hatte sich erneut das Bild einer nahezu allgemeinen patriotischen Opferbereitschaft behauptet, die mit der Unterstützung des Kurses der Obersten Heeresleitung einherginge. U m so größer musste die Enttäuschung ausfallen, als die verbreitete Friedenssehnsucht wenige Wochen vor Ausbruch der Revolution auch für die Verwaltung nicht mehr zu übersehen war. Der Schluss, dass die »mit so unendlichem Aufwand an Kräften und Mitteln betriebene Aufklärungsarbeit« ihre Ziele verfehlt und sich gegen die »auffallende Stumpfheit gegenüber dem 77, Tit. 1059, Nr. 3, Beiheft 2, Bd. 3, Bl. 3; Regierungspräsident von Münster an Minister des Innern, 30.9.1918, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 1059, Nr. 3, Beiheft 2, Bd. 3, Bl. 616ff. 195 Oberpräsident von Magdeburg an Minister des Innern, 26.6.1918, GStA PK, Mdl, HAI, Rep. 77, Tit. 1059, Nr. 3, Beiheft 2, Bd. 3, Bl. 249-259. 196 Minister des Innern an Regierungspräsidenten, 9.12.1916, HStAD, Regierung Düsseldorf, 29, Bl. 117f. 197 Regierungspräsident von Düsseldorf, Verwaltungsbericht, 30.4.1917, ebd., Bl. 300-303. 198 Regierungspräsident von Düsseldorf, Verwaltungsbericht, 3.11.1917, ebd., Bl. 368-374.
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Ernst der äußeren Lage« nicht durchgesetzt habe, war nun unvermeidbar geworden. m Die gemeinsamen bürgerlichen Einstellungen, die Industrielle und hohe Beamte trotz unterschiedlicher Kriegserfahrungen und Interessenlagen verbanden, schlugen sich in den Kriterien nieder, nach denen die Spitzenbürokraten ihre Vorschläge für die Verleihung patriotischer Auszeichnungen formulierten. Die Tätigkeit in der kommunalen Selbstverwaltung wurde ebenso als Distinktionsmerkmal angesehen wie das Engagement in der Kriegsfürsorge oder die aktive Werbung für die Zeichnung von Kriegsanleihen.200 Auch wenn sich die Verwaltung, wie gezeigt, in Konfliktfällen nicht gegen die Armee durchsetzen konnte und zudem häufig dem Druck »von unten« nachgeben musste, lag darin eine Honorierung und Aufwertung eines zentralen Aspekts des bürgerlichen Werthorizonts.201 Das hatte seine Ursache einmal in der gestiegenen Bedeutung kommunalpolitischer und karitativer Aktivitäten im Krieg, beruhte aber wiederum auf einem paternalistischen Bild der Bevölkerung und ihrer Kollektivmentalität, das dazu führte, den Einfluss lokaler Honoratioren zu überschätzen. So wurde der Oberbürgermeister von Eberswalde für die Verleihung des Eisernen Kreuzes vorgeschlagen, weil er seine Aufgaben »in aufopferndster Weise« erfüllt und damit maßgeblich »zur Aufrechterhaltung der Stimmung sowie zur Unterdrückung unnützer Klagen« beigetragen habe.202 Gleiches galt für einen Charlottenburger Fabrikbesitzer und Stadtverordneten, der sein politisches Gewicht eingesetzt habe, um »in den breiten Massen der Bevölkerung das Verständnis und den Willen zum Durchhalten zu stärken und zu befestigen.«203 Der Konnex von bürgerlichem Engagement und nationaler Distinktion erstreckte sich auch auf weibliche Angehörige der Eliten. Den Vorsitzenden karitativer Vereine, unter denen der Vaterländische Frauenverein eine Vorrangstellung einnahm, trug ihre Tätigkeit häufig den Vorschlag für den Luisenorden ein.204 Wie sehr dadurch gesellschaftliche Hier199 Regierungspräsident von Hildesheim an Stellvertretendes Generalkommando X. Armeekorps Hannover, 24.10.1918, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 1059, Nr. 3, Beiheft 2, Bd. 4, Bl. 46. 200 Regierungspräsident von Düsseldorf an Minister des Innern, 9.2.1917, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 153, Nr. 58, Beiakten 1, Bd. 4; Überpräsident von Westpreußen an Minister des Innern, 29.8.1916, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 153, Nr. 95, Beiakten 2, Bd. 1; Regierungspräsident von Potsdam an Oberpräsident von Brandenburg und Berlin, 17.9.1918, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 153, Nr. 58, Beiakten 1, Bd. 7. 201 Vgl. Kocka, Bürgertum, S. 43; Btackbourn, German bourgeoisie, S. 1 lf. 202 Oberpräsident von Brandenburg und Berlin an Minister des Innern, 21.5.1918, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 153, Nr. 58, Beiakten 1, Bd. 6. 203 Regierungspräsident von Potsdam an Oberpräsident von Brandenburg und Berlin, 17.9.1918, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 153, Nr. 58, Beiakten 1, Bd. 7. 204 Oberpräsident von Posen an Minister des Innern, 24.8.1916, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, T i t 153, Nr. 95, Beiakten 2, Bd. 1; Oberpräsident von Westpreußen an Minister des Innern, 29.8.1916, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 153, Nr. 95, Beiakten 2, Bd. 1.
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archien bekräftigt wurden, lässt sich an Kandidatinnen wie Berta Krupp von Bohlen und Halbach oder der Frau des Düsseldorfer Regierungspräsidenten Kruse ersehen.205 Im Extremfall konnten bürgerliches und patriotisches Engagement von Spitzenbeamten sogar zugunsten der eigenen Ehefrau angeführt und damit auch auf sich selbst bezogen werden. So attestierte der Oberpräsident von Schleswig-Holstein seiner Frau, sich mit »warm teilnehmendem Herzen, hilfsbereitem Rat und stets offener Hand« um Verwundete, Witwen und Waisen gekümmert zu haben und ihnen eine »mütterliche Freundin« gewesen zu sein und setzte sie mit dieser Begründung auf den ersten Platz der Vorschlagsliste für den Luisenorden.206 Die Integration in das lokale Establishment war im Krieg ein wichtiges, bürgerliches Kriterium für die jeweilige Position der Verwaltung zur Frage der nationalen Inklusion und Exklusion, auch wenn sie sich damit gegenüber der Armee häufig nicht durchsetzen konnte. Wenn sich Honoratioren für einen feindlichen Ausländer verbürgten, wurde eine Aufenthaltserlaubnis meist befürwortet.207 Noch deutlicher dominierte dieser Maßstab bei den kommunalen Spitzenbeamten, wie sich am Beispiel von Düsseldorf zeigen lässt. Einem französischen Gerbereidirektor wurde - vor dem Hintergrund eines Dauerkonflikts mit weiten Teilen seiner Belegschaft - seit Kriegsbeginn immer wieder anonym antideutsches Verhalten angelastet.208 So warf man ihm vor, nur aus egoistischen Motiven große Summen für karitative Zwecke zu spenden, in Wirklichkeit aber zu den »feindlichen Großkapitalisten« zu gehören, bei deutschen Siegen »abfällige Bemerkungen« zu machen und als Meister ausschließlich Belgier zu beschäftigen.209 Anfänglich nahm ihn der Oberbürgermeister in Schutz und attestierte ihm mit Hinweis auf eine langjährige persönliche Bekanntschaft loyales Verhalten und eine »deutschfreundliche Gesinnung«, die er mit der Teilnahme an »deutsch-patriotischen Veranstaltungen« und Spenden
205 Oberpräsident der Rheinprovinz an Minister des Innern, 30.8.1916, GStA PK, Mdl, HAI, Rep. 77, Tit. 153, Nr. 95, Beiakten 2, Bd. 1. 206 Oberpräsident von Schleswig-Holstein an Minister des Innern, 28.8.1916, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 153, Nr. 95, Beiakten 2, Bd. 1; als Beispiel eines hohen Beamten, der seine eigene Frau für den Luisenorden vorschlug, vgl. auch Oberbürgermeister von Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, 21.8.1916, HStAD, RD, 463, Bl. 9ff. 207 Königliches Oberamt Esslingen an Stellvertrendes Generalkommando XIII. Armeekorps Stuttgart, 11.8.1914, HStASt, Ε 151/03, Qu 42; Regierungspräsident von Arnsberg an Minister des Innern, 6.4.1916, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 27, Bd. 16, Bl. 65; Regierungspräsident von Düsseldorf an Minister des Innern, 22.11.1917, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 27, Bd. 17, Bl. 29f 208 Oberbürgermeister von Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, 28.8.1914, HStAD, RD, 14994, Bl. l00f. 209 Ein Franzose, der hier in Düsseldorf die größte Freiheit genießt, begeht Handlungen, die als deutschfeindlich anzusehen sind [anonymer Brief an das Stellvertrende Generalkommando VII. Armeekorps Münster, 1917], HStAD, RD, 15008, BL 90-93.
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für diverse »deutsch-nationale Zwecke« unter Beweis gestellt habe.210 Als sich jedoch das Stellvertretende Generalkommando durch eine Vielzahl von anonymen Anzeigen, die dem Gerbereidirektor eine antideutsche Haltung sowie einen verschwenderischen Lebenswandel vorwarfen und gleichzeitig auf seine engen Kontakte zu einem städtischen Beigeordneten hinwiesen, zur Intervention veranlasst sah,211 nahm die Stadtverwaltung einen Kurswechsel vor. Zwar betonte sie, dass keinerlei Anzeichen für eine Spionagetätigkeit vorlägen, vertrat aber nun auch die Ansicht, dass der Fabrikant im Grunde eine »französische Gesinnung« aufweise und nur deshalb für wohltätige Zwecke gespendet habe, um »sich bei Behörden und maßgebenden Personen in ein günstiges Licht zu setzen«. Er verkehre in angesehenen Familien, sei jedoch bei Arbeitern und Angestellten höchst unbeliebt. So habe die äußerst aufwendige und teure Konfirmationsfeier seiner Tochter »erhebliche Missstimmung« hervorgerufen, was die Stadtverwaltung als »verständlich« bezeichnete.212 Damit rückte sie von ihrer ursprünglichen Position ein gutes Stück ab: Angesichts des Drucks von Armee und unterbürgerlicher Bevölkerung konnte sie sich nicht mehr vorbehaltlos mit dem Standpunkt des lokalen Establishments identifizieren. Anders lag der Fall der Witwe des englischen Generalkonsuls, die vor dem Krieg in den »ersten Gesellschaftskreisen« verkehrt, sich aber aufgrund ihrer prononcierten »Engländerei« auch Antipathien eingehandelt hatte. Nach Kriegsausbruch wurde sie zur Zielscheibe anonymer Spionagevorwürfe und verlor jeglichen Rückhalt bei den lokalen Eliten, so dass sie sich gezwungen sah, in die Niederlande zu emigrieren. Obwohl er selbst keinerlei Rechtfertigung für die Anschuldigungen sah, hielt es der Oberbürgermeister doch für »gut, dass sie abgereist ist und dadurch der Beunruhigung und den Verdächtigungen einzelner Kreise der hiesigen Gesellschaft die Nahrung entzogen hat.«213 Anders als im Falle des französischen Gerbereidirektors, dessen Akzeptanz im lokalen Establishment durch den Kriegsausbruch nicht gefährdet wurde, zog es der kommunale Spitzenbeamte also vor, den offensichtlich haltlosen Verdächtigungen nicht entgegenzutreten, um seine Machtposition nicht zu riskieren. Rechtsstaatliche Bedenken traten demgegenüber zurück.
210 Oberbürgermeister von Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, 28.8.1914, HStAD, RD, 14994, Bl. l00f. 211 Stellvertretendes Generalkommando VII. Armeekorps Münster an Regierungspräsident Düsseldorf, 16.8.1917, HStAD, RD, 15008, Bl. 94. 212 Polizeiverwaltung Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, 27.7.1917, HStAD, RD, 15008, Bl 88f. 213 Oberbürgermeister von Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, 17.10.1914, HStAD, RD, 14971, Bl. 52f.; Näheres zu den Anschuldigungen, die von ehemals befreundeten »Damen der Gesellschaft« stammten: Oberbürgermeister von Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, 24.10.1914, HStAD, RD, 14971, Bl. 59-62; vgl. zu der Affäre Hüttenberger, Industrie- und Vcrwaltungsstadt, S. 232f.
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Die beiden Fallbeispiele aus Düsseldorf weisen daraufhin, dass die bürgerliche Ordnung der Kriegsnation nicht zuletzt in den Städten konstruiert und mit gruppenspezifischen und lokalen Identitäten verknüpft wurde. Das verdeutlichen die Selbstdeutungen führender kommunalen Beamter. Diese sahen sich durch den Krieg und seine gesellschaftlichen Folgekosten vor neue Herausforderungen gestellt, die sie mit den Mitteln der städtischen Sozialpolitik zu lösen versuchten. Für Oberbürgermeister und Beigeordnete war damit ein großer Bedeutungsgewinn ihrer »bürgerlichen Pflichten und Arbeiten« verbunden, deren Ausführung sie nun unmittelbarer als j e zuvor als nationale Aufgabe betrachten konnten.214 Da sie im System der Lebensmittelversorgung eine Schlüsselstellung einnahmen, war die Kriegswichtigkeit ihrer Aktivitäten weniger begründungsbedürftig als bei vielen Angehörigen der einzelstaatlichen Verwaltung. Für städtische Beamte wie Fritz Elsas, der im Alter von 25 Jahren zum Leiter des neugegründeten Stuttgarter Mehlhauptamts avancierte und die damit verbundene hohe Arbeitsbelastung mit großem Erfolg bewältigte, eröffneten sich dadurch ungeahnte Möglichkeiten beruflichen Aufstiegs.215 Das Verständnis ihrer Tätigkeit als »Kampf, den auch wir hinter der Front kämpfen«, war sowohl legitimatorisch erforderlich als auch alltagspraktisch plausibel und blieb bis zum Kriegsende ungebrochen.216 Indem sie den Personalmangel »unter Aufbietung ihrer letzten Kraft« ausglichen, leisteten die städtischen Beamten in ihrer Selbstwahrnehmung einen entscheidenden Beitrag zum sicher geglaubten Sieg.217 Mit dieser Sinngebung verband sich die Erwartung einer Stärkung ihrer Machtposition in der städtischen Gesellschaft, denn der Kriegsausbruch verhieß ein frühes Ende des Trends zur Parteipolitik, der vor 1914 auch auf kommunaler Ebene bereits unverkennbar eingesetzt hatte.218 Bei ihren sozialpolitischen Aktivitäten konnten sich die Stadtverwaltungen auf die Organisationen der Kriegsfürsorge stützen, in denen sich das jeweilige lokale Establishment versammelte. Diese setzten die bürgerliche Tradition karitativen Engagements fort und festigten gleichzeitig den Zusammenhalt der städtischen Eliten unter nationalen Vorzeichen. Das zeigt etwa die Mitgliederliste des Stuttgarter Hilfsausschusses, die von den Ehrenbürgern angeführt wurde und königliche und städtische Beamte ebenso wie zahlreiche Industrielle umfass214 Rede des Düsseldorfer Oberbürgermeisters Adalbert Oehler, 4.8.1914, in: Stenographische Verhandlungberichte der Stadtverordneten-Versammlung zu Düsseldorf 1914, S. 161; ähnlich auch der Bericht des Stuttgarter Oberbürgermeisters Karl Lautenschlager an den Gemeinderat, 14.1.1915, StASt, B X 10, Bd. 8, Nr. 16, Fasz. 77. 215 Schmid (Hg.), S. 29-42. 216 Rede des Düsseldorfer Oberbürgermeisters Adalbert Oehler, 25.1.1916, Stenographische Verhandlungberichte der Stadtverordneten-Versammlung zu Düsseldorf 1916, S. 7. 217 So der Stuttgarter Oberbürgermeister Karl Lautenschlager, Öffentliche Sitzung der Gemeindenkollegien vom 18. März 1918. Entwurf des Voranschlags für 1918, StASt, Β Χ 10, Bd. 8, Nr. 19, Fasz. 64. 218 Vgl. für Düsseldorf Ladd.
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te.219 Auch durch informelle Kontakte zur Regelung der kriegsbedingten Probleme näherten sich Stadtverwaltung und württembergischer Staat in den folgenden Jahren an, eine Entwicklung, die schließlich im erstmaligen Besuch des Innenministers im Rathaus ihren symbolischen Ausdruck fand.220 Neben den neugegründeten Organisationen widmeten bestehende Vereinigungen wie der Düsseldorfer Industrieclub nun einen wichtigen Teil ihrer Aktivitäten der Kriegsfürsorge.221 Unternehmen unterstützten ihre im Feld stehenden Belegschaftsmitglieder mit Lebensmittelpaketen, nahmen sich ihrer Angehörigen an und errichteten Lazarette für Verwundete,222 wobei patriotische, paternalistische und personalpolitische Motive untrennbar verbunden waren. 223 Die ideelle Legitimation bürgerlicher Aktivitäten erstreckte sich auch auf weibliche Angehörige der lokalen Eliten, denen der Krieg neue Möglichkeiten nationaler Partizipation eröffnete, die zudem in höherem Maße als zuvor männliche Akzeptanz erfuhren. In Düsseldorf betätigten sich zum Beispiel die Ehefrauen des Regierungspräsidenten, des Oberbürgermeisters, wichtiger Industrieller und zahlreicher anderer Honoratioren an führender Stelle in der Zentralstelle für Liebestätigkeit oder im Vaterländischen Frauenverein.224 Ältere, ursprünglich nicht primär national legitimierte Vereine betonten nun ihre Kriegswichtigkeit. So hob der Württembergische Frauenverein für hilfsbedürftige Kinder, der viele weibliche Angehörige der regionalen Eliten zu seinen Mitgliedern zählte, hervor, dass auch er »dem Vaterland Verteidiger erzogen« habe.225 Mit derartigen Aktivitäten und Sinnstiftungen wurden herkömmliche Geschlechterrollen eher fortgeschrieben als verändert; das Neue bestand darin, dass ihre Erfüllung nun in den Rang einer patriotischen Pflicht erhoben Wurde. 226 Die immer wieder bekräftigte nationale Selbstbestätigung, die zudem staatliche Anerkennung in Form von Auszeichnungen erfuhr, bewirkte also eine Aufwertung von kommunaler Selbstverwaltung und karitativem Engagement und damit zentraler bürgerlicher Wertvorstellungen. Das hatte allerdings seinen Preis, denn es trug maßgeblich dazu bei, die Probleme und Grenzen der städtischen Ernährungs- und Sozialpolitik im Krieg zwar nicht zu übersehen, 219 Amts- und Anzeigenblatt der Stadt Stuttgart 12 (1914), S. 199. 220 Amts- und Anzeigenblatt der Stadt Stuttgart 18 (1918), S. 289f; vgl. aber den Hinweis von Fritz Elsas auf Differenzen der Stadtverwaltung mit einzelnen Staatsbeamten: Schmid (Hg.), S. 43. 221 Düsseldorfer Zeitung, 3.11.1914. 222 Vgl. Berghoff, Untcrnehmcnskultur, S. 196ff.; ders., Patriotismus, S. 278f.; Vierzigjahre zielbewußter Arbeit der Firma Henkel & Cie., S. 125-137. 223 So auch Berghoff, Unternehmcnskultur, S. 198; ders., Patriotismus, S. 279. 224 Oberbürgermeister von Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, 21.8.1916, HStAD, Regierung Düsseldorf, 463, Bl. 9ff.; vgl. Hüttenberger, Industrie- und Verwaltungsstadt, S. 236ff. und am Beispiel des württem bergischen Trossingen Berghoff, Patriotismus, S. 278. 225 Bericht des Württ. Frauenvereinsfiir hilfsbedürftige Kinder 1915, S. 2. 226 So auch Koch.
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aber doch in ihrer Tragweite bei weitem zu verkennen. Dass städtische Beamte und Honoratioren ihre Aktivitäten zu einem integralen Bestandteil der nationalen Kriegsanstrengung stilisierten, konnte eine selbstkritischere Betrachtungsweise nur erschweren. Wie sich am Düsseldorfer Beispiel zeigen lässt, musste so der tiefgreifende Legitimationsverlust ihrer Herrschaft unverstanden bleiben, dessen tiefere Ursache in der Übertragung der zuvor durch den Markt geregelten Ernährungsfrage auf die Stadtverwaltung unter denkbar ungünstigen Rahmenbedingungen lag.227 Der Konnex von bürgerlichen Gesellschaftsbildern und nationaler Identität ermöglichte es, Unmutsäußerungen und Proteste auf antipatriotische Umtriebe und irrationale Stimmungen zu reduzieren. Seit Kriegsbeginn formulierte Oberbürgermeister Adalbert Oehler in seinen Reden bestimmte normative Anforderungen an nationales Verhalten. Dazu zählte einmal eine gemessene, würdige Form von Emotionalität, die sich von Spionagehysterie und der Verbreitung von Gerüchten abgrenzte. Noch immer gelte der aus dem 19. Jahrhundert stammende Satz: »Ruhe ist die erste Bürgerpflicht!«228 Damit eng verbunden war die Erwartung patriotischer Opferbereitschaft, aus der heraus Oehler kritisierte, dass sich die Düsseldorfer Bevölkerung »des Ernstes und der Schwierigkeit der Lage« nicht bewusst sei und mit den vorhandenen Lebensmitteln nicht haushälterisch genug umgehe, ein Missstand, dem er mit der Verteilung von Merkblättern über sparsamere Kochmethoden abzuhelfen versuchte.229 Seine Äußerungen liefern ein weiteres Beispiel für die Prägekraft bürgerlicher Sichtweisen der Arbeiterschaft, die in Bezug auf Gefuhlshaushalt und alltägliches Verhalten als unvernünftig und daher erziehungsbedürftig wahrgenommen wurde. Forderungen von Stadtverordneten des linken Zentrumsflügels, vermehrte Anstrengungen zur Bekämpfung der Not der Düsseldorfer Bevölkerung zu unternehmen, ließen sich so mit dem Hinweis beiseite schieben, »dass die Frauen unserer Arbeiter immer noch leben, wie sie es im Frieden gewöhnt gewesen sind, und dass sie nicht darauf eingehen, ihren Unterhalt etwas einzurichten nach den Bedürfnissen des Krieges.«230 Im Verlaufe des Konflikts trat die Unfähigkeit des Oberbürgermeisters, die wachsende Proteststimmung in einer durch informelle Kommunikation geprägten städtischen Öffentlichkeit mit seinen bürgerlichen Kategorien zu erfassen, immer stärker hervor.231 Er fuhr fort, sich gegen »unrichtige, törichte oder ganz blödsinnige Gerüchte« zu verwahren, die der Stadtverwaltung unter anderem anlasteten, größere Lebensmittelmengen in den Rhein 227 Vgl. Woelk, S.214. 228 StVD 1914, S. 161 (4.8.1914); zur Rolle von Gerüchten und Spionagehysterie zu Beginn des Krieges vgl. Raithet, S. 418f.; Verhey, S. 133ff; Geinitz/Hinz, S. 28-31. 229 StVD 1914, S. 208 (29.12.1914); zu den harten Lebensbedingungen der Düsseldorfer Arbeiterschaft vgl. Tobin. 230 Rede des Oberbürgermeisters Adalbert Oehler, 4.5.1915, StVD 1915, S. 50. 231 Vgl. allg. Daniet, Kommunikation.
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geworfen zu haben, indem er sie auf die allgemeine mentale »Unruhe« und auf feindliche Propaganda zurückführte.232 Die politische Brisanz des Vertrauensverlustes der Stadtverwaltung und ihres auf Rationalität und Besonnenheit pochenden, tatsächlich aber höchst beschönigenden Diskurses musste er so ebenso verfehlen wie seine schwindende persönliche Akzeptanz.233 Die Hauptschuld an den Unruhen im Juni 1917 gab der Oberbürgermeister der Irrationalität und »Verblendung« von Frauen und Jugendlichen und den ausländischen Arbeitern, die »namentlich auch bei gewissen Frauenzimmern Gefolgschaft haben und die Bevölkerung aufwiegeln und hetzen.«234 Dass auch männliche deutsche Arbeiter protestierten und sich den nationalen Opferzumutungen zunehmend verweigerten, blieb jenseits der öffentlichen Sagbarkeitsgrenzen. In den internen Berichten der Polizeiverwaltung über die Bevölkerungsstimmung wurde dies jedoch spätestens seit dem Hungerwinter 1916/17 durchaus erkannt und mit dem Linksrutsch der Düsseldorfer Arbeiterschaft in Zusammenhang gebracht: »Die bürgerlichen Kreise bewahren trotz dieser Mißstände selbst bis zum gegenwärtigen Zeitpunkte Ruhe und zeigen eine nationale Haltung, das Gleiche kann aber von einem großen Teil der Arbeiterschaft nicht gesagt werden.« 235
Auch hier überwog jedoch die Neigung, die konstatierte wachsende »Unzufriedenheit aus politischen Gründen« auf die Rezeption der revolutionären Vorgänge in Russland und die »Tätigkeit einzelner Agitatoren« zu reduzieren. Wenn betont wurde, dass die Linksradikalen »nicht zu der sozialdemokratischen Intelligenz gehören, und zum Teil recht ungebildet, aber in ihrem Wirken deshalb nicht weniger gefährliche Elemente« seien,236 revitalisierte dies die nationale Identität als Distinktionsmerkmal zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft. Zwar konzedierte man den Einfluss der Lebensmittelknappheit auf die Bevölkerungsstimmung, aber der damit verbundene Legitimationsverlust der kommunalen Bürokratie wurde nach wie vor ausschließlich darauf zurückgeführt, »dass infolge einer maßlosen Verhetzung durch die Agitatoren des linken radikalen Flügels der Sozialdemokratie, vielleicht auch durch bezahlte Agenten des Feindes, die Ansicht verbreitet und genährt wurde, dass die städtische Verwaltung an der mangelhaften Nahrungsversorgung die alleinige Schuld trage.« Derart reduktionistische Ursachenanalysen bewirkten, dass die 232 StVD 1916, S. 64 (27.6.1916). 233 Zur Unbeliebtheit Oehlers bei der städtischen Bevölkerung vgl. Kriegsbilder aus Düsseldorf Tagebuchaufzeichnungen von Photograph Emil J . Friderici aus Düsseldorf über die Kriegsjahre 1914-191 [sic], 2.11.1915, StAD, XXIII, 64; 8.6.1916, StAD, XXIII, 65; 28.6.1917, StAD, XXIII, 66. 234 StVD 1917, S. 70 (3.7.1917). 235 Polizei Verwaltung Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, 17.4.1917, HStAD, RD 29, Bl. 246-250. 236 Ebd.
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kommunalen Spitzenbeamten ihr Heil in Bemühungen um »Aufklärung« suchten, mit denen sie wenig Aussicht hatten, sich gegen die »Erregung in den Massen« zu behaupten.237 Das war um so mehr der Fall, als sie sich mit gegensätzlichen Erwartungen konfrontiert sahen. Als die Stadtverwaltung gegen den Schleichhandel vorging, wurde ihr einerseits mangelnder Erfolg vorgehalten, während andererseits die Arbeiterschaft unter den damit verbundenen Einschränkungen der Selbstversorgung der Unternehmen mit Lebensmitteln litt. Da sich die Proteststimmung mit solchen Maßnahmen nicht eindämmen ließ, befürwortete der für die Polizei zuständige Beigeordnete immer ungehemmter die Repression der USPD »mit rücksichtsloser Energie« und »allen zu Gebote stehenden Machtmitteln« und setzte diese Linie auch selbst um, indem er lokale Parteiführer in Sicherheitshaft nehmen ließ.238 Dass die kommunale Selbstverwaltung und ihre Beschwichtigungsrhetorik rapide an Vertrauen verlor, konnte auf diese Weise jedoch nicht verhindert werden. Wenige Wochen vor Kriegsende hatte sich Oberbürgermeister Oehler neuer Gerüchte zu erwehren, die Einquartierungen und daraus resultierende Ernährungsschwierigkeiten, ja, sogar die Verlegung des Großen Hauptquartiers nach Düsseldorf befürchten ließen und wusste sich nicht anders zu helfen, als erneut auf die längst desavouierte »Aufklärung« durch Bürokratie und Presse zu verweisen: »Sie sehen hieran wieder, wie unkontrollierbare Gerüchte entstehen und von Mund zu Mund übertrieben weitergegeben werden. Ich möchte wiederholt warnen, sich zum Träger derartiger Gerüchte zu machen. Ich bitte die Bürgerschaft vielmehr, solchen Gerüchten entgegenzutreten und sich gegebenenfalls an die zuständigen Stellen um Aufklärung zu wenden.«239 Das Emotionalitätsideal, das Oehler propagierte und als Kriterium für patriotisches Verhalten normativ auszeichnete, stand ebenso in der Kontinuität des 19. Jahrhunderts wie die Stereotypen der städtischen Führungsschicht von der Arbeiterschaft. Partiell galt dies auch für die ideellen Gehalte ihres Nationalismus: Obwohl in der Ausweitung seiner Deutungsgrenzen zum Rechtfertigungsmaßstab für nahezu jede Form von Aktivität eine markante Zäsur lag, wurden die Topoi, mit denen vor 1914 lokale bzw. regionale und nationale Identitäten verknüpft worden waren, fortgeschrieben. Das Neue bestand darin, dass man nun den Krieg zur städtischen Selbstdeutung heranzog. Anlässlich der Feier der hundertjährigen Zugehörigkeit Düsseldorfs zu Preußen 1915 wiederholte der städtische Beigeordnete Otto Most einmal mehr die Erzählung vom Aufstieg der Stadt aus biedermeierlichen Anfängen zur pul237 Polizeiverwaltung Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, 15.11.1917, HStAD, RD, 29, Bl. 375-378. 238 Polizeiverwaltung Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, 6.5.1918, HStAD, RD, 29, Bl. 402-405; zur Radikalisierung der Düsseldorfer Sozialdemokraten im Krieg vgl. Nolan, Social Democracy, S. 251-268. 239 StVD 1918, S. 103 (22.10.1918).
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sierenden Industriemetropole und bettete sie in das übergreifende Narrativ vom säkularen Machtgewinn des preußischen Staates ein.240 Dass der Krieg ihre Errungenschaften gefährdete, verlieh dieser Erfolgsgeschichte einen noch höheren identitären Wert als zuvor. Obwohl oder gerade weil die geplante Austeilung zur Hundertjahrfeier abgesagt werden musste, wurden ihre ideellen Grundlagen nicht nur beibehalten, sondern in um so stärkerer Form fortgeschrieben. Oberbürgermeister Oehler identifizierte die Zeit seit 1870/71 mit »44 Jahren des Friedens«, deren Erfolge es gegen die Feinde zu verteidigen gelte.241 Wenn er den Kaiser als Garant der militärischen Sicherheit und Bismarck als Reichsgründer feierte, setzte er damit den Diskurs fort, in dem die städtische Führungsschicht bereits in der Vorkriegszeit ihr nationales Selbstverständnis artikuliert hatte.242 Durch den Krieg sah er sich in seiner Überzeugung bestärkt, »dass wenn wir für unser Vaterland sorgen, wir auch für unsere Stadt sorgen, und dass, wenn wir für unsere Stadt sorgen, wir auch stets unseres Vaterlandes gedenken.«243 Ebenfalls bestätigt fühlten sich die Eisenindustriellen, die darauf verweisen konnten, dass die protektionistische, »nationale« Wirtschaftspolitik, die sie seit langem propagiert hatten, die Grundlage für die ökonomische Selbstbehauptung des Kaiserreichs im Krieg gelegt habe.244 Blieben wesentliche Deutungsmuster des Verhältnisses von Lokal- und Nationalbewusstsein gegenüber der Vorkriegszeit unverändert, lag andererseits eine Zäsur darin, dass der Krieg in konstitutiver Weise aufdie städtische Identität bezogen wurde. Die gefallenen »Düsseldorfer Helden« stellten ein Bindeglied her zwischen den lokalen Eliten, die meist nicht selbst am physischen Kampf beteiligt waren, und dem massenhaften nationalen Opfertod.245 Das »heimatliche Regiment« konkretisierte auch auf einer symbolischen Ebene den Beitrag der Stadt zur fortdauernden Kriegsanstrengung.246 Hinzu kam die visuelle und institutionelle Repräsentation der Erinnerung an den Krieg, mit der bereits vor seinem Ende begonnen wurde. Im Herbst 1915 wurde der Beschluss zur Errichtung eines Kriegswahrzeichens in Gestalt eines Löwen, des Düsseldorfer Wappentiers, gefasst. Dabei legte man Wert darauf, die besonderen Anforderungen zu erfüllen, die sich aus dem Charakter einer »Kunststadt« ergäben, um sich so von den Kriegswahrzeichen anderer Städte abzugrenzen.247 Die von verschiedenen Stellen angelegten Kriegssammlungen sollten in einem »Kriegsarchiv nebst Kriegsmuseum« vereinigt werden, »und zwar so, dass sie den späteren Ge240 241 242 243 244 seldorf 245 246 247
PVB 36 (1915), S. 553ff.; s.o., Kap. I.A.2. StVD 1914, S. 183(13.10.1914). StVD 1915, S. 12 (26.1.1915), 43 (13.4.1915). Ebd., S. 1 (12.1.1915). Monatsschrift der Handelskammer zu Düsseldorf für den Stadt- und Landkreis Düs10 (1914), S. 402-411. Rede des Oberbürgermeisters Adalbcrt Oehler, 17.11.1914, StVD 1914, S. 193. Rede des Oberbürgermeisters Adalbert Oehler, 22.1.1918, StVD 1918, S. 5. Rede des Oberbürgermeisters Adalbert Oehler, 12.10.1915, StVD 1915, S. 79.
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schlechtem ein gutes Bild geben von dem, was Düsseldorfwährend des Krieges gewesen ist, was es geleistet hat, wie es gelebt hat, verwaltet worden ist und gelitten hat.« In dieser Charakterisierung schlug sich die auch 1918 noch intakte Gewissheit der städtischen Führungsschicht nieder, unangefochten die Inhalte der lokalen Kriegserinnerung bestimmen zu können, denn das Kriegsmuseum sollte die Erfolge der kommunalen Verwaltung bei der Bewältigung der sozialen Kriegsfolgen hervorheben und darüber hinaus »zeigen, was die Kriegsindustrie der Stadt Düsseldorf während des Krieges geleistet hat.«248 Überhaupt sollte die Sammlung so geordnet werden, »dass dasjenige ausgemerzt wird, was wir nicht dauernd brauchen, dagegen dasjenige ausgesucht wird, was späteren Geschlechtern über die große Zeit Auskunft geben kann.«249 Den Bemühungen, die lokale Identität durch die Erinnerung an den Beitrag Düsseldorfs zur Kriegsanstrengung zu festigen, stand die Beschlagnahmung bestehender Denkmäler, unter anderem einer Heinegedenktafel, zur Einschmelzung gegenüber. Auch darin konnte ein »schweres Opfer, das unsere Stadt und Bürgerschaft hier bringen muss«, gesehen werden.250 Die nationalen Deutungen der Düsseldorfer Eliten blieben zwar in vieler Hinsicht unverändert, aber der Krieg markierte insofern einen Einschnitt, als er Stadt und Nation enger als zuvor aneinander band. Die Untersuchung des Stuttgarter Falls führt zu ähnlichen Ergebnissen. Auch hier standen die Modi der Verschränkung städtischer, einzelstaatlicher und nationaler Identitäten in der Kontinuität der Vorkriegszeit. Zum fünfundzwanzigjährigen Regierungsjubiläum des Königs 1916 betonte Oberbürgermeister Karl Lautenschlager, wieviel die kulturelle Entwicklung der Stadt der Förderung durch den Monarchen verdanke. Seinem Wunsch, dass ihm »ein langes Leben zum Heil und Segen seines Volkes« beschieden sein möge, fügte er die Hoffnung hinzu, »bald dem glückverheissenden Tag zu nahen, an dem das furchtbare Blutvergiessen ein Ende hat und ehrenvoller, dauernder Friede, der Opfer wert, einer schöneren Zeit Anfang ist.«251 Lautenschlager bettete so die Entwicklung Stuttgarts in eine Erfolgserzählung der königlichen Regierungszeit ein und verband beides mit der nationalen Kriegsanstrengung, wobei er die Sehnsucht nach Frieden in den Vordergrund stellte. Die Industriellen lobten wie in der Vorkriegszeit die Bemühungen des Monarchen, ihnen sowohl »den Kampf im großen deutschen Wirtschaftswettbewerb zu erleichtern«, als auch die Beteiligung an der »Eroberung des Weltmarkts« zu sichern.252 Dabei 248 Rede des Oberbürgermeisters Adalbert Oehler, 19.2.1918, StVD 1918, S. 16. 249 Rede des Oberbürgermeisters Adalbert Oehler, 26.3.1918, ebd., S. 34; allg. zu den Kriegssammlungen vgl. Brandt. 250 Rede des Oberbürgermeisters Adalbert Oehler, 20.8.1918, StVD 1918, S. 77. 251 Auszug aus dem Protokoll des Gemeinderats vom 5.10.1916, StASt, Β I 1, Bd. 5, Nr. 19, Fasz. 58f. 252 Württembergs Groß-Industrie unter der Regierung unseres Königs Wilhelm, StASt, Β11, Bd. 5, Nr. 19.
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bot es sich an, den rapiden Aufstieg der württembergischen Exportindustrie seit etwa 1890 in die Regierungszeit des Königs einzubetten. Die frühere Beschaulichkeit und Gemütlichkeit sei einer expandierenden Industrielandschaft gewichen, die sich mit hohem Tempo aus handwerklich-kleingewerblichen Anfängen entwickelt habe: »So ist im Lauf weniger Jahrzehnte der schwäbische Mechaniker, der Strumpfwirker und so mancher andere Gewerbsmann zum Export-Industriellen emporgewachsen, der von seiner Wirkungsstätte aus mit dem ganzen Weltmarkt in Fühlung steht.«253
Die politische Pointe dieser schwäbisch akzentuierten Erfolgsgeschichte war die Forderung, auch vor dem Hintergrund der Kriegserfahrung an der Exportorientierung der württembergischen Wirtschaft festzuhalten, da deren Zukunft nur in ihrem »Anteil am Weltmarkt« liegen könne. 254 Wie vor dem Krieg wurden Selbstverständnis und Interessen der regionalen Industrie durch die Betonung ihrer bedeutenden Rolle für die deutsche Weltmachtstellung mit nationalem Sinn versehen. Ebenfalls in der Kontinuität der Vorkriegszeit lag die Zeppelinverehrung, deren Topoi anlässlich seines Todes 1917 noch einmal öffentlichkeitswirksam wiederholt wurden. Als Stuttgarter Ehrenbürger symbolisierte der Luftfahrtpionier die enge Verbindung von lokaler Identität, schwäbischem Fleiß und expansiver industrieller Modernität, die durch den Krieg eine erneute Aufwertung erfuhr.255 Wie sein Düsseldorfer Kollege zog auch der Stuttgarter Oberbürgermeister Karl Lautenschlager den Krieg zur Identitätsstiftung seiner Stadt heran, und verlieh ihm auf diese Weise eine auch aus rein lokaler Perspektive plausible Legitimation. Er betonte, dass sich die Solidaritätsverpflichtung gegenüber den Familien der Soldaten daraus begründe, dass letztere die »Fernhaltung des Feindes von Stadt und Land« ermöglichten. Zudem rückte er stilisierte Charakteristika Stuttgarts wie seine ökonomische »Kraft« in den Mittelpunkt und erhob sie in den Rang eines Vorbilds für das nationale Projekt des Krieges: »Möge solche Kraft all überall in deutschen Landen lebendig sein! sie wird sich als der Fels erweisen, an dem die Übermacht der Feinde zerschellt.« 256 Durchhaltewillen, »feste Hoffnung« und »Opfersinn« imaginierte Lautenschlager als integrale Bestandteile der lokalen Mentalität, wobei diese Identitätskonstruktion allerdings immer stärker normative Züge trug, was sich darin äußerte, dass er sie mit beschwörenden Appellen verband: 253 Württemberg und Weltmarkt. Von H.G. Bayer, Syndikus des Verbands Württembergischer Industrieller und des Vereins deutscher Wirkereien, StASt, Β I 1, Bd. 5, Nr. 19. 254 Ebd. 255 Auszug aus dem Protokoll des Gemeinderats und Bürgerausschusses vom 8.3.1917, StASt, Β VIII 6c, Bd. la, Nr. 35, Fasz. 2. 256 Auszug aus dem Protokoll des Gemeinderats und Bürgerausschusses vom 14.1.1915, StASt, Β X 10, Bd. 8, Nr. 16, Fasz. 77.
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»... auch wir in der Heimat müssen zum unerschütterlichen Fels erstarken; spätere Geschlechter sollen sich ihrer Vorfahren nicht schämen. Wir wollen der Opfer unserer Brüder, die zu Millionen für uns gelitten und geblutet haben, zu Hunderttausenden für uns gestorben sind, wert sein.«257 Die auch hier feststellbare schwindende Resonanz der Opferrhetorik kommunaler Spitzenbeamter war nicht das einzige Problem, das die Verbindung von nationalen und Stuttgarter bzw. württembergischen Identitäten aufwarf, wie das Beispiel der Industriellen zeigt. Anders als ihre Kollegen aus dem rheinischwestfälischen Industriegebiet konnten sie den Krieg nicht einfach als Fortschreibung und Gipfelpunkt einer langfristigen Erfolgsgeschichte interpretieren, denn er bereitete besonders den weniger bedeutenden unter ihnen herbe Verluste, weil er die volkswirtschaftlichen Gewichte zuungunsten der verarbeitenden, exportorientierten Industrie verschob. Hinzu kam, dass sie an einem erschwerten Zugang zu wichtigen Rohstoffen litten. Die Abhängigkeit von der teuren Ruhrkohle hatte zwar schon vor 1914 bestanden, gewann aber im Krieg noch an Bedeutung für die identitäre Abgrenzung der württembergischen von der westdeutschen Industrie,258 die den Gegensatz zu den »ostelbischen Junkern« ergänzte. Das wurde deutlich, als Hugo Stinnes im Sommer 1917 im Kohlebeirat die Verlagerung der süddeutschen Munitionsindustrie in die Nähe der Kohlevorkommen, also in das Ruhrgebiet, anregte. Der Vorstoß wurde in Württemberg von Regierung und Industrie als Startschuss zu einer systematischen Verdrängung durch die rheinisch-westfälische Schwerindustrie aufgefasst.259 Eine weitere, mehr politische Trennlinie zu Preußen, die vor dem Hintergrund der Debatten um die Reform des Dreiklassenwahlrechts vermehrt akzentuiert wurde, lag in den Augen linksliberaler Industrieller wie des bereits erwähnten Heilbronner Silberfabrikanten Peter Bruckmann in dem »innerpolitisch so viel aufgeklärteren und vorurteilsfreien Charakter« Württembergs. 260 Konnte die Nation eine gemeinschaftsstiftende Wirkung entfalten, die solche regionalen Gegensätze zumindest partiell überwand? Wie es scheint, trug sie im Gegenteil dazu bei, innerdeutsche Abgrenzungen noch zu vertiefen, weil ihre normativen Ansprüche nicht selten unvorteilhaft mit der Wahrnehmung der preußischen Konkurrenz kontrastierten. Der Verdacht, dass »in Rheinland und Westfalen Eisen und Kohlen zurückgehalten und selbst verwendet, verarbeitet oder ins neutrale Ausland mit hohem Gewinn abgegeben werden« und die württembergische Industrie deshalb leer ausginge, lief auf den Vorwurf unpatriotischen Verhaltens hinaus. 261 Ähnlich ließ sich die Erfahrung, bei der 257 Öffentliche Sitzung der Gemeindekollegien vom 17. März 1917. Voranschlag der Stadtverwaltung für 1917, StASt, BX 10, Bd. 8, Nr. 18, Fasz. 71. 258 Vgl. Mau Kriegswirtschaft, S. 57f. 259 Vgl. ebd.,S. 59f. 260 WI8(1917),S.75. 261 Wilhelm Model, Feuerbach-Stgt. [Stuttgart], Fabrik der »Original-Mode« Hotel- und
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Rohstoffverteilung zu kurz gekommen zu sein, damit erklären, dass die Berliner Großindustriellen »den Krieg als eine vortreffliche Gelegenheit zum Geschäftemachen« verstünden, eine Sicht, die das enttäuschte Fazit nahelegte: »Wo eine solche Stimmung überwiegend ist, wird auf uns Württemberger keine Rücksicht genommen.«262 Ein Ausweg aus der unterlegenen Position gegenüber Preußen lag in der Zusammenarbeit mit den anderen süddeutschen Staaten, die nicht nur auf Regierungsebene zwecks Wahrung der föderalen Struktur des Reiches,263 sondern auch von der Industrie betrieben wurde. In der Zusammenarbeit des Verbands Württembergischer Industrieller mit dem Verband Südwestdeutscher Industrieller und dem Bayerischen Industriellen-Verband zeichnete sich die Konstruktion einer neuen Identität »Süddeutschlands« mit gemeinsamen Interessen und Außenabgrenzungen ab, die vor dem Hintergrund der Kriegserfahrungen plausibel wurde.264 Scheinbar unterschiedlichen und unverbundenen Feldern des Nationalen in den Äußerungen und Aktivitäten der deutschen Industriellen und hohen Beamten im Ersten Weltkrieg war die Prägung durch bürgerliche Normen und Deutungsmuster gemeinsam, die am Vorabend der Revolution eine höhere Plausibilität besaßen als je zuvor. In dem Maße, wie der Krieg neue, komplexe Erfahrungen mit sich brachte, gewannen sie an wahrnehmungsstrukturierender Kraft und ideellem Orientierungswert und wurden umgekehrt durch die wirklichen oder vermeintlichen militärischen und gesellschaftspolitischen Erfolge bekräftigt.265 Das galt zunächst für die identitäre Abgrenzung zu Angehörigen anderer Nationalitäten, die mit Hilfe der Dichotomien »Ordnung« und »Unordnung«, »Sauberkeit« und »Schmutz«, »Fleiß« und »Arbeitsscheu« konstruiert wurde und sich auf die Bevölkerung in den besetzten ostmitteleuropäischen Gebieten ebenso bezog wie auf russisch-polnische oder belgische Arbeiter im Inland. Sie basierte auf einer Übertragung von Bildern und Stereotypen, die das gesamte 19. Jahrhundert hindurch die Sicht der unterbürgerlichen Schichten, besonders der Arbeiterschaft, bestimmt hatten und nun den Anspruch auf Beherrschung, Erziehung und Zivilisierung der neuHaushaltungs-Maschinen an Königliche Zentralstelle für Gewerbe und Handel, 15.3.1918, StAL, E 1 7 0 , B ü 1489. 262 Wilhelm Model, Fcucrbach-Stgt. [Stuttgart], Fabrik der »Original-Mode« Hotel- und Haushaltungs-Maschincn an Königliche Zentralstelle für Gewerbe und Handel, 6.11.1916, StAL, Ε 170, Bü 1489. 263 Vgl. Mai, Kriegswirtschaft, S. 436; dagegen betont Benz, S. 23ff., mit Hinweis auf die Annexionspolitik insbesondere Bayerns, dass es im Krieg keine süddeutsche Solidarität gegeben habe. 264 Verband Württembergischer Industrieller an Königliche Zentralstelle für Gewerbe und Handel, 2.8.1918, HStASt, Ε 151/01, Bü 2865, Qu 664. 265 Zum folgenden vgl. die Kataloge bürgerlicher Einstellungen bei Kocka, Bürgertum, S. 43f; Bhckbeum, Gcrman bourgeoisic, S. 9.
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gewonnenen Kolonialvölker legitimierten.266 Dass dabei ungehemmt Zwangsmaßnahmen gefordert und umgesetzt wurden, verdeutlicht andererseits, dass Bürgerlichkeit im Krieg in einer Weise transformiert wurde, die ihre rechtsstaatlichen und liberalen Bedeutungsgehalte in den Hintergrund drängte.267 Es wäre jedoch irreführend, deshalb von einer Krise oder Erosion zu sprechen, weil so die Stärkung zahlreicher konstitutiver Bestandteile des bürgerlichen Werthorizonts zugunsten einer letztlich normativen Überbetonung seiner zivilgesellschaftlichen Seite unterbelichtet bliebe.268 Das zeigt auch die Untersuchung der nationalen Selbstbilder von Industriellen und hohen Beamten und der in ihnen enthaltenen Wahrnehmungen der unterbürgerlichen Schichten, die als irrational, steuerbar und erziehungsbedürftig imaginiert wurden, deren inhärentes Nationalgefuhl aber durch den Krieg zum Vorschein gebracht schien. Bürgerlich waren auch die Kriterien für die nationale Inklusion und Exklusion, sowie die kriegsbedingte Aufwertung von kommunaler Selbstverwaltung und karitativem Engagement, die in Form patriotischer Auszeichnungen auch staatlicherseits anerkannt wurde. Die Modi der Vermittlung von lokaler, regionaler und nationaler Identität standen ebenfalls in der Kontinuität des 19. Jahrhunderts, wenngleich sie durch den Bezug auf den Krieg auch verändert und in ihrer innerdeutschen Sprengkraft verstärkt wurden. Es war gerade die Verfestigung bürgerlicher Einstellungen und Sichtweisen und ihre enge Verbindung mit der gedachten Ordnung der Nation, die sich für Industrielle und hohe Beamte als ein vorerst kaum bemerktes, geschweige denn reflektiertes Problem erwies. Sie führte nämlich dazu, Friedenssehnsucht und Protestbereitschaft der deutschen Bevölkerung fatal zu unterschätzen. Als im November 1918 die Revolution ausbrach, war dies aus Sicht der ökonomischen und administrativen Eliten ein unerwartetes und mit den eigenen Kategorien kaum zu erklärendes Ereignis.
266 Vgl. ebd., S. 16f, zur konstitutiven Bedeutung der Arbeiterschaft als negativem Referenzpunkt für das Bürgertum im 19. Jahrhundert. 267 Vgl. dazu Kocka, Bürgertum, S. 44. 268 Vgl. die Kritik verschiedener angelsächsischer Historiker an einer Gleichsetzung von Bürgerlichkeit und zivilgesellschaftlicher Liberalität u.a. bei Btackbourn/Eley; Eley, Geschichte, S. 3 3 40; Sperber, Bürger, S. 295f., aber auch die treffende Bemerkung von Jürgen Kocka, dass »gerade an dieser Stelle die idealtypische Beschreibung besonders leicht in ideologische Rechtfertigung« übergehe (Kocka, Bürgertum, S. 44; ders., Muster, S. 18) und den Befund von Schmuhl, S. 236, dass die städtischen Honoratioren die Zielutopie einer umfassenden bürgerlichen Verbesserung wohl niemals geteilt hätten.
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Β. Die deutsche Herausforderung. Deutungen der Kriegsnation in Frankreich Seit Kriegsbeginn sahen sich die französischen Industriellen und hohen Beamten in das Zentrum eines nationalen Abwehrkampfes gestellt und dadurch in ihren Identitäten bestärkt. Die Industriellen reagierten auf die deutsche Herausforderung mit dem Entwurf einer modernen und expansiven Industrienation, die gleichzeitig exklusive Züge trug und nach wie vor bürgerlich-paternalistisch geprägt war. Die Präfekten bemühten sich um einen Kompromiss zwischen republikanisch-unitarischem Nationsverständnis und Konsensstiftung. Dazu gehörte auch, dass sie die Kluft zum lokalen Bürgertum überbrückten, was jedoch im besetzten Nordfrankreich nicht gelang. 1. Konservative Reformvorstellungen, Exklusivität und Konsensstiftung Als im August 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, traten die tiefgreifenden weltanschaulichen Differenzen zurück, die das Frankreich der Vorkriegszeit geprägt hatten. Über die Grenzen der politischen Lager hinweg beruhte die Sinngebung des Konflikts auf einem konsensfähigen Fundament. Es galt, das eigene Land gegen den deutschen Aggressor zu verteidigen. Das erleichterte die Konstruktion nationaler Selbstbilder mit breiter Akzeptanz. Die Überzeugung, dass »droit«, »liberté« und »civilisation« von Barbaren bedroht seien, war so unumstritten wie deutungsoffen. Der neue nationale Zusammenhalt schlug sich in konkreten innenpolitischen Veränderungen nieder. Im Zeichen der »Union sacree« traten sozialistische Minister in die Regierung ein. Klassenkonflikt und religiöse Frage schienen wenn nicht gelöst, so doch entschärft und von ihrer spaltenden Wirkung befreit.269 Allerdings litt der patriotische Konsens mit zunehmender Dauer des Krieges unter Erosionserscheinungen. Die Unzufriedenheit über die Lastenverteilung in der französischen Kriegsgesellschaft wuchs und gipfelte in Streikbewegungen. Die Sozialisten schieden aus dem Kabinett aus; das Leitbild der »Union sacrée« nahm immer stärker konservative Züge an.270 An der Front verschlechterte sich die Stimmung Im Frühjahr 1917 kam es zu einer spektakulären Meuterei. Jean-Jacques Becker hat jedoch gezeigt, dass alle diese Protestäußerungen auf konkrete und begrenzte Ziele gerichtet waren und das Axiom der nationalen Verteidigung letztlich nicht in Frage stellten.271 Die neuere 269 Vgl. RaitM, S. 345-356, 371-381;J-J. Becker, La France, S. 21-60. 270 Vgl. ebd., S. 78-87J.-/ Becker, Union sacrée. 271 Ders., La France, S. 87-122. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35168-1
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kulturhistorische Forschung hat diese Auffassung bestätigt, dabei aber stärker betont, dass der französische Kriegsnationalismus in vieler Hinsicht gewaltsame Züge trug und sich mit unterschiedlichen und konkurrierenden Deutungen verband.272 Dieser Diskussionsstand legt es nahe, zunächst einmal eine grundsätzliche Fragilität des nationalen Konsenses im Ersten Weltkrieg zu unterstellen und dann nach Ausmaß und Bedingungen seiner Herstellung und Wahrung zu fragen. Die Untersuchung der Erfahrungen und Deutungen verschiedener sozialer Gruppen kann dazu wichtige Bausteine liefern.273 Industrielle und hohe Beamte sind in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse, denn Wirtschaft und Staat standen - nicht anders als in Deutschland - im Zentrum der Herausforderungen und Probleme, mit denen der Krieg die französische Gesellschaft konfrontierte. Für die Industrie, die durch den Ausfall weiter Teile Nord- und Ostfrankreichs schwer getroffen war, hatte die Befreiung der besetzten und die Verteidigung der unbesetzten Gebiete existentielle Bedeutung. Darüber hinaus entwarfen ihre Vertreter das Zukunftsbild einer modernisierten Wirtschaftsnation, die durch eine Kombination expansiver und defensiver Züge den deutschen Gegner ökonomisch in Schach halten sollte. Die Gegenwart sah jedoch ernüchternder aus, denn den riesigen Gewinnen großer Rüstungsunternehmen stand oft das Gefühl mangelnder Anerkennung durch Staat und Öffentlichkeit gegenüber. Die Präfekten kämpften im Krieg für ein anderes Nationsverständnis als vor 1914. Der antiklerikale Unitarismus trat gegenüber der Herstellung und Wahrung eines patriotischen Konsenses in den Hintergrund. Das gelang den Präfekten nicht zuletzt deshalb, weil sie darauf verzichteten, ihre bürokratischen Machtmittel zur Verfolgung weitergehender nationalistischer Projekte einzusetzen. Im folgenden werden die Kriegsdeutungen und Kriegsziele der Industriellen untersucht. Territoriale Expansion und handelspolitische Kampfmaßnahmen standen hier ebenso im Mittelpunkt wie die äußere Abgrenzung und innere Struktur einer neuen »France industrielle«. Über ökonomische Aspekte hinaus ging es den Industriellen um tiefgreifende Veränderungen des parlamentarischen Systems, der Immigrations- und Bevölkerungspolitik. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit nationale Selbstlegitimation und politischer Gestaltungsanspruch gegenüber Staat und Öffentlichkeit erfolgreich vertreten werden konnten. Die aus der Nation abgeleitete Rhetorik der Opferbereitschaft und Solidarität hatte auch Konsequenzen für das Verhältnis der Industriellen untereinander. Für die hohe Beamtenschaft ist interessant, wie sie in den Krieg involviert war und welche Folgen sich daraus für ihr Selbstverständnis und ihre politischen Orientierungen ergaben. Das Nebeneinander von republikanischem Unitarismus und nationaler Konsensstiftung lässt sich anhand von 272 Audoin-Rouzeau;ders./A. Becker, Violence. 273 Das ist für Frankreich bislang noch zuwenig geleistet worden.
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Einbürgerungspraxis, lokalen Exklusionsversuchen, Stimmungswahrung und Kriegsanleihenwerbung verfolgen. Wie die übrige Bevölkerung reagierten die französischen Industriellen ohne besondere Begeisterung auf den Kriegsausbruch.274 Zu enthusiastischen Äußerungen gab es auch keinen Anlass, da sie zunächst einen geschäftlichen Einbruch registrieren mussten.275 Außerdem wurden die Industrieregionen Nordund Ostfrankreichs nach kurzer Zeit vom deutschen Heer erobert und blieben vier Jahre lang besetzt. Dieser massive Verlust an ökonomischen Ressourcen war für die Organisation der Kriegswirtschaft von kaum zu überschätzender Bedeutung.276 Die betroffenen Industriellen erfuhren ihn als eine unmittelbare Attacke auf Eigentum und Identität. Für ihre Kollegen der kriegswichtigen Branchen im unbesetzten Gebiet eröffneten sich dagegen neue Absatzchancen, weil der Staat nun auf ihre Produkte angewiesen war. Beides veranlasste sie, sich selbst eine nationale Aufwertung zuzuschreiben und die eigene Existenz ideell zu überhöhen. Die Arbeit mit gesteigerter Intensität fortzuführen, bedeutete in den Augen der Industriellen, sich der Soldaten an der Front würdig zu zeigen und zugunsten des nationalen Wohls eine »âme virile« zu beweisen.277 Ihre patriotische Pflichterfüllung bestand für sie über ihren Schlüsselbeitrag zur Kriegführung hinaus darin, den heimkehrenden Soldaten Arbeit und Auskommen zu verschaffen.278 Opfer erbrachten sie auch in Gestalt gefallener Angehöriger. So betonte etwa der Präsident der Handelskammer von ClermontFerrand, als er den Verlust eines ihm besonders nahestehenden Neffen zu beklagen hatte, dass der Einsatz des eigenen Lebens für das Vaterland nicht, wie häufig angenommen, auf die Arbeiterschaft beschränkt bleibe, »car beaucoup de nos familles ont malheureusement prouvé le contraire.«279 Gestützt wurde diese Grundhaltung durch die Tatsache, dass sich die Industriellen einhellig und problemlos in den antideutschen Feindbildkonsens der französischen Öffentlichkeit integrierten.280 Die Ursache des Krieges sahen sie ausschließlich in seiner langfristigen und methodischen Planung durch den Nachbarn.281 Die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen der Vorkriegszeit wurden 274 Grundlegend, aber ohne besondere Berücksichtigung der Eliten: J.-J. Becker, 1914. 275 So z.B. im Rückblick CCL 1915, S. 2; Barbier, Benard & Turenne. Successeur an Präfckt des Departements Nord, 14.8.1914, ADN, 9 R 102. 276 Zur Kriegswirtschaft vgl. Hardach, Mobilization; ders.,Rüstungspolitik;J.-J.Becker/Berstein, Victoire, S. 69-85. 277 So der Präsident der Handelskammer von Paris, David-Mennet, in: APCCF (22.3.1915), S. 8. 278 FICF 13 (1916), S. 242. 279 APCCF (3.4.1916), S. 10; vgl. auch den Nekrolog des Präsidenten der Handelskammer von Lyon, Jean Coignet, auf den Sohn des Tcxtilindustriellen Auguste Isaac, in: CCL 1915, S. 419f.; am Beispiel der lothringischen Eisenindustriellcn vgl. Moine, S. 395f. 280 Vgl. Jeismann, S. 339-373; Raithet, S. 345-356. 281 Vgl. z.B. Documcnts sur la Guerrc. Bulletin d'information publié par la Chambre de Commerce de Paris, Nr. 8 (März 1915), S. 1.
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so zu einer linearen Vorgeschichte des deutschen Angriffs umgedeutet. Dabei bestanden keine Unterschiede zwischen Protektionisten und den vormaligen Anhängern einer internationalen Verständigung durch ökonomische Verflechtung und Freihandel. Das verdeutlicht ein Artikel im Organ des Comité Républicain du Commerce et de l'Industrie, der das Bild einer langfristigen und erfolgreichen Invasion Frankreichs durch die deutsche Industrie zeichnete, die den militärischen Angriff sorgfältig vorbereitet habe. Die staatliche Bevorzugung ausländischer Unternehmen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge und die unpatriotischen Kaufentscheidungen der Verbraucher trügen dafür die Hauptverantwortung. Zudem hätten die Industriellen selbst der deutschen Invasion nicht ausreichend entgegenwirkt.282 Das Stereotyp der deutschen Methodik und organisatorischen Begabung, das mit dem selbstkritischen Bild der eigenen Sorglosigkeit kontrastierte, prägte nicht nur die Lesart der Vergangenheit, sondern wurde auch auf die Aktualität des Wirtschaftskriegs bezogen. So sah man sich in den Bemühungen, den Exportrückgang aufzuhalten, von den deutschen Handelsvertretern behindert, die in den neutralen Ländern geschickt Spionagetätigkeiten ausübten.283 Das Klischee deutscher Billigwaren und Dumpingpreise, das sich vom Selbstbild gediegener Qualitätsarbeit unvorteilhaft abhob, schrieb den jeweiligen Exportaktivitäten ebenfalls ein hohes Maß an nationalpolitischer Zielgerichtetheit zu.284 Die wichtigste Bestätigung für den Topos der deutschen Methodik war die systematische Ausbeutung der besetzten Industrieregionen.285 Diese Wahrnehmung ging mit dem Bild eines brutalen und barbarischen Nationalcharakters einher, der als treibende Kraft hinter der Zerstörung und Ausplünderung von Minen und Fabriken erschien.286 Vor dem Hintergrund dieses klaren Feindbilds, in dem Österreich-Ungarn nahezu ausgeblendet blieb, überrascht es nicht, dass die Kriegsziele und Zukunftsvorstellungen der französischen Industriellen um das Ziel kreisten, eine erneute ökonomische Dominanz Deutschlands zu verhindern. Das war um so dringlicher, als sich der Gegner durch die Besetzung weiter Teile Nord- und Ostfrankreichs und die systematische Ausplünderung und schließlich Zerstörung ihrer Industrie auch im Hinblick auf die Nachkriegszeit massive Vorteile verschafft hatte. Schon zum bloßen Ausgleich rechtfertigte dies nach einhelli282 BCI 17, Nr. 8/9 (August/September 1915), S. 1-10; ähnlich FICF 13 (1916), S. 253-259. 283 EE 1, Nr. 5 (Oktober 1917), S. 8; zum Stereotyp des methodischen Deutschen im Krieg vgl. Raithei S. 348. 284 BCI 18, Nr. 37-39 (Januar-März 1918), S. 14ff. und 40-42 (April-Juni 1918), S. 5-8; Union des Chambres Syndicales Lyonnaises. Rapport pour le Comité Consultatif ayant pour but de rechercher les moyens de développer les relations commerciales entre la France et la Russie (1915), ADR, I M 144. 285 FICF 13, Nr. 3 (Februar-März 1916), S. 173f. 286 EE 11, Nr. 1 (Januar 1918), S. 50-67.
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ger Auffassung der Industriellen ein weitreichendes Vorgehen nach Kriegsende, denn andernfalls drohe eine Zementierung des deutschen Vorsprungs: »Les destructions causées en France d e v r o n t être causées également en Allemagne, n o n pas par des cruautés inutiles, mais par des ruines économiques, afin de n o u s m e t t r e sur u n pied d'égalité après la guerre. (Applaudissements.)«287
Der erste Schritt zu einem solchen Ausgleich war die vollständige Reparation der Zerstörungen in den besetzten Gebieten in Form von Rohstoffen und Arbeitskräften.288 Zudem eröffnete sich bald die Perspektive territorialer Gewinne. Die prinzipielle Überzeugung vom nationalen Charakter der industriellen Stärkung bewirkte dabei, dass politische Begründungen und Interessenerwägungen in kaum zu trennender Weise einhergingen. Die Rückkehr ElsassLothringens erschien frühzeitig als eine enorme Bereicherung der französischen Wirtschaft.289 Allerdings wurde betont, dass die Steigerung der Metallproduktion das ohnehin schwerwiegende Defizit an einheimischer Kohle noch verschärfen würde. Mit diesem Argument ließ sich die Forderung nach der Annexion des Saarbeckens begründen,290 die zudem als eine »reoecupation« von wesensmäßig französischen, erst 1815 verlorenen Gebieten legitimiert wurde. Hinzu kam die Überlegung, eine zusätzliche Schutzzone für die kriegswichtige Metallindustrie zu errichten, um diese vor einem erneuten deutschen Angriffzu bewahren.291 Mit dem frühzeitig antizipierten Gewinn Elsass-Lothringens war neben dem Kohlemangel auch das Problem hoher Produktionsüberschüsse verbunden, deren Absatz nicht auf normalem Wege möglich sein würde. Darin lag ein Konfliktpotential, denn Vertreter der Industrie Zentralund Westfrankreichs sahen sich wegen der Nähe ihrer Konkurrenten aus Elsass-Lothringen zu den Kohlevorkommen des Saargebiets benachteiligt. Sie verwiesen darauf, im Krieg die Produktion aufrechterhalten und damit den militärischen Widerstand erst ermöglicht zu haben. Außerdem handele es sich bei den Unternehmen der wiederzugewinnenden Gebiete sowohl um grenznahe und daher militärisch gefährdete als auch um deutsch geprägte Firmen, die erst französisch gemacht werden müssten, um ihre nationale Loyalität zu sichern. Dieses Problem, das die patriotische Solidarität mit den elsass-lothringischen Industriellen nach Kriegsende zu strapazieren drohte, suspendierte man vorläufig in der Vision eines Siegfriedens, der dem Gegner die Lasten der Errichtung einer »grande nation métallurgique« aufzuerlegen versprach. 287 So der Präsident der Versammlung der Handelskammerpräsidcnten, David-Mennet, APCCF (24.3.1917), S. 9. 288 Vgl. z.B. APCCF (28.10.1918), S. 25ff.; EE 1, Nr. 1 (Juni 1917), S. 3-27. 289 Vgl. z.B. Comité d'Études Économiques et Administratives relatives à l'Alsace-Lorraine, Notes; CCL 1916,S.38. 290 Comité d'Études Économiques et Administratives relatives à l'Alsace-Lorraine, Rapport sur les Mines. 291 Pinot, La Metallurgie, S. 10f.
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Deutschland solle gezwungen werden, seinen Markt für die Überschüsse der französischen Metallindustrie zu öffnen und lasse sich so dauerhaft ökonomisch schwächen, ein Vorhaben, das man mit dem Hinweis auf die deutschen Kriegsziele rechtfertigte.292 Analog wurde gefordert, die Produktion der elsässisch-lothringischen Textilindustrie zollfrei in das Nachbarland exportieren zu können.293 Die Vorstellungen der Industriellen zur Überwindung der deutschen ökonomischen Vormachtstellung in der Nachkriegszeit waren nicht nur annexionistisch und expansiv, sondern trugen auch einen defensiven, protektionistischen Charakter. Es war nahezu unumstritten, dass sich Frankreich durch die Errichtung hoher Zollschranken vor einer erneuten »invasion« durch die deutsche Industrie zu schützen habe.294 Durch Einschränkungen und Verbote sei der Infiltration durch die feindlichen Handelsvertreter.Vorschub zu leisten. Von einer Kennzeichnungspflicht für ausländische Produkte versprach man sich eine Mobilisierung des Nationalgefuhls der Verbraucher.295 Während des Krieges wurde nur selten der pragmatische Einwand formuliert, dass deutsche Importe nicht zu vermeiden und daher zwar mit hohen, aber nicht mit prohibitiven Zöllen belegt werden sollten.296 Auch bei früheren Freihändlern überwog bei weitem die prinzipielle Abkehr vom ökonomischen »cosmopolitisme«, der vor dem Krieg einen Trend zur deutsch-französischen Annäherung bewirkt habe und nun widerlegt sei.297 Der bedeutende Seidenfabrikant Auguste Isaac fand sich sogar im traditionell exportorientierten und international offenen Wirtschaftsbürgertum Lyons als letzter Mohikaner des Freihandels wieder und schrieb resigniert in sein Tagebuch: »Aujourd'hui, tous sont devenus protectionnistes.«298 Die offensive und die defensive Variante der Kriegszielvorstellungen der Industriellen markierten die beiden Seiten eines Nationsentwurfs, der weit über ihre deutschlandpolitischen Positionen hinausging. Es bestand Einigkeit darüber, dass dem militärischen Konflikt eine »autre revanche« auf dem »nouveau champ de bataille« der Ökonomie zu folgen habe.299 Einen solchen Wirtschaftskrieg erfolgreich zu fuhren, bedingte in dieser Sicht ein systematisches und 292 Ebd., S. 43-49. 293 Comité d'Études Économiques et Administratives relatives à l'Alsace-Lorraine, Rapport sur la Situation. 294 Vgl. z.B. FICF 13. Nr. 3 (Februar-März 1916), S. 173f 295 BCI 17, Nr. 19-21 (Juli-September 1916), S. 2-10; EE 1, Nr. 2 (Juli 1917), S. 81-85; FICF 12, Nr. 1 (Januar 1915), S. 13f. 296 So die Section von Ain des Comité Républicain du Commerce et de I'Industrie, BCI 17, Nr. 19-21 (Juli-September 1916), S. 6. 297 BCI 17, Nr. 8/9 (August/September 1915), S. 1-10; ähnlich BCI 17, Nr. 13-15 (JanuarMärz 1916), S. 10-13. 298 Isaac, Journal, S. 58 (30.9.1916), 299 BCI 17, N r 10-12 (Oktober-November-Dezember 1915), S. 1-5; EE 1, Nr. 2 (Juli 1917), S.68.
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konzertiertes Vorgehen gegen die deutsche Industrie. Dazu erschien es notwendig, das Bündnis mit den Alliierten über den Friedensschluss hinaus fortzuführen. Die Realisierbarkeit dieser Vorstellung stand außer Frage und begegnete nur gelegentlichen, protektionistisch motivierten Bedenken.300 Hinzu kam die Überzeugung, dass Frankreichs Verbündete moralisch verpflichtet seien, dem Wiederaufbau der besetzten und zerstörten Industrieregionen Priorität einzuräumen, weil sie selbst von ähnlichen Kriegsfolgen verschont geblieben waren.301 Zudem läge es im gemeinsamen Interesse, das Bündnis zu perpetuieren, da nur so die erneute schleichende Wiederherstellung der deutschen Dominanz auf wirtschaftlichem Gebiet zu verhindern sei.302 Als Mittel visierte man vor allem die konzertierte Errichtung prohibitiver Zollschranken für einen noch näher zu bestimmenden Teil der deutschen Produktion an.303 Dabei könne es nicht darum gehen, einen Ruin des Kriegsgegners herbeizuführen, da dieser die Reparationen aufbringen müsse und als Abnehmerland unverzichtbar sei; Stärke und Prestige der »industries germaniques« müssten aber gebrochen werden.304 Bereits während des Krieges kündigte sich jedoch an, dass die Zielvorstellung, das Bündnis mit den Alliierten ökonomisch zu perpetuieren, einer doppelten Belastung ausgesetzt sein würde. Zum einen richtete sich der Trend zu protektionistischen Ideen und einer Auffassung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen als Kampf zwischen Nationen der Tendenz nach nicht nur gegen Deutschland.305 Zum anderen war absehbar, dass das Konzept des Wirtschaftskriegs mit dem vielfachen Interesse an einer baldigen Wiederaufnahme der Handelsbeziehungen mit dem Nachbarland in Konflikt geraten würde. Das wurde zwar in der Verbandspublizistik nicht ausgesprochen, aber von einigen lokalen Wirtschaftsvertretern zu Bedenken gegeben. So riet der Präsident der Handelskammer von Saint-Quentin von einer frühzeitigen Festlegung auf ein ökonomisches Bündnis mit den Alliierten ab und erklärte, dass ein dauerhafter Zollkrieg gegen die Mittelmächte darauf hinauslaufen würde, einen erneuten militärischen Konflikt vorzubereiten. Er betonte, dass es unrealistisch sei, nach dem Friedensschluss jegliche Form von Geschäften mit dem Kriegsgegner verbieten und die Welt so in zwei sich auf ewig feindlich gegenüberstehende Lager teilen zu wollen.306 Solche Einwände blieben jedoch gegenüber der Dominanz 300 BCI 17, Nr. 13-15 (Januar-März 1916), S. 10-13. 301 E E l , N r . 1 (Juni 1917), S. 3-27, S. 11. 302 BCI 17, Nr. 16-18 (April-Juni 1916), S. 3f. 303 BCI 17, Nr. 22.24 (Oktober-November-Dezember 1916), S. 2-10. 304 BCI 18, Nr. 40-42 (April-Juni 1918), S. 5-8; ähnlich BCI 18, Nr. 45/46 (Oktober-Dezember 1918), S. 11 f. 305 BCI 17, Nr. 13-15 (Januar-März 1916), S. 10-13; BCI 18, Nr. 25-27 (Januar-März 1917), S. 2-10; Guérin, Bessiére, Vandcsmet & Cie., Comptoir de l'industrie linière an Präfckt des Departements Nord, 24.9.1914, ADN, 9 R 110. 306 APCCF (24.1.1916), S. 76.
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eines weitreichenden ökonomischen Nationalismus chancenlos und konnten sich erst lange nach Kriegsende zunächst auf einer praktischen Ebene durchsetzen. Die Zukunftsvorstellung des Wirtschaftskriegs hatte neben dem außenorientierten auch einen nach innen gerichteten, mit einem reformerischen Impetus verbundenen Aspekt. Ihre Umsetzung erforderte in der Sicht der Industriellen eine Reihe tiefgreifender Veränderungen der Wirtschaftsstruktur, des politischen Systems und der französischen Mentalität, um dem ökonomischen Potential Deutschlands Paroli bieten zu können. Damit ging die Vision einer modernisierten Industrienation einher, die als »France du travail« oder »jeune France industrielle« etikettiert wurde.307 Im einzelnen ließen sich daraus konkrete Forderungen etwa nach niedrigeren Sozialabgaben oder günstigeren Exportkrediten und Verkehrstarifen ableiten.308 Neben der staatlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik erschienen auch die eigenen Einstellungen veränderungsbedürftig, denn der Wille von Industrie und Handel zur ökonomischen Revanche bedürfe der Bündelung und Organisation. Überdies wurde eine kollektive Anstrengung zur Steigerung der französischen Exporte gefordert,309 die eine Umorientierung hin zur Massen- und Billigproduktion bedinge. Hinzu müsse ein ausgeprägter, stärker auf internationale Expansion gerichteter Unternehmergeist kommen.310 Diese Reformvorstellungen basierten auf einer kritischen Sicht des französischen »Systeme de l'inertie«, die an Schlagworte der Vorkriegszeit anknüpfte. Bequemlichkeit und Innovationsscheu vieler Unternehmer erschienen, zusammen mit der traditionellen Ausrichtung auf Luxusindustrien, als Hindernisse für eine Exportoffensive nach Friedensschluss.311 In einer zugespitzten Form wurden solche negativen Eigenschaften auf Defizite der »mentalité française« zurückgeführt, die mit geringem Ehrgeiz und übermäßigem Individualismus verbunden und mit Kollektivgeist und Disziplin der Soldaten an der Front kontrastiert wurde.312 Allerdings ging man nicht so weit, die unrealistische Forderung nach einer völligen Abkehr von der traditionellen Produktion hochwertiger Güter in geringen Mengen zu formulieren, den ihre Lobbyisten als Ausdruck des »génie français« überhöhten.313
307 BCI 17, Nr. 8-9 (August-September 1915), S. 10; FICF 13, Nr. 5 (Juni-Juli 1916), S. 261266, S. 265. 308 BCI 17, Nr. 8-9 (August-September 1915), S. 4f, 10; ähnlich BCI 17, Nr. 13-15 (JanuarMärz 1916), S. 5-9. 309 Ebd.,S. 13ff.;BCI 17, Nr. 6-7 (Juni-Juli 1915), S. 10-14; Comptes rendus des travaux de la Chambre de Commerce de Lyon 1916, S. 469-484. 310 EE 1, Nr. 2 Juli 1917), S. 64ff. 311 FICF 12, Nr. 2 (Januar 1915); S. 5-8. 312 FICF 12, Nr. 4 (April-Mai 1915), S. 44-52, S. 49. 313 Ebd.; ähnlich EE 1, Nr. 1 (Juni 1917), S. 33-119, S. 35.
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Der Entwurf einer modernisierten Industrienation implizierte den Anspruch auf einen politischen Machtgewinn der Unternehmerschaft, der teilweise einen offen parlamentarismuskritischen Charakter trug. Das kam in der Vision einer Überwindung der alten Parteigegensätze zum Ausdruck, an deren Stelle ein ökonomisch orientierter »parti national« zu setzen sei, eine Vorstellung, die auf dem Wissen um die Unverzichtbarkeit der Industrie basierte und ihre Legitimation aus der Gleichsetzung ihrer Interessen mit den »intérêts permanents de notre France« bezog.314 Die Kritik am radikalen Republikanismus, die bereits in der Vorkriegszeit formuliert worden war, wurde hier fortgeführt und im Hinblick auf die Gestaltung der Nachkriegszeit zugespitzt. Dafür bot sich auch die vorbereitende Reflexion über die Integration Elsass-Lothringens an, die den Respekt vor regionalen Traditionen und katholischer Prägung des neuen Gebiets in den Mittelpunkt rückte und sich damit präventiv vom antiklerikalen Unitarismus abgrenzte.315 Die Nation der Zukunft, welche die Industriellen imaginierten, war also nach innen föderal strukturiert, durch industrielle Stärke und Modernität statt durch Parteipolitik und republikanische Weltanschauung definiert und konnte so nach außen expansiv agieren. Andererseits trug sie defensive und exklusive Züge, die das politische Pendant zum Protektionismus darstellten. Mit dem Schreckensbild einer erneuten ökonomischen Invasion ging die Angst vor der Infiltration und Spionage durch deutsche Gastarbeiter einher, deren Tätigkeit nach dem Krieg zu überwachen, in staatlichen Betrieben und militärisch relevanten Branchen sogar ganz zu verbieten sei.316 Diese Abwehrhaltung beschränkte sich nicht auf deutsche Staatsangehörige, sondern wurde auf die Immigration von Ausländern generell übertragen. Darin lag eine deutliche Abkehr vom inklusiven Nationsverständnis, das in der Vorkriegszeit auch von den Industriellen geteilt worden war. Anstelle des Vertrauens auf die Integrationskraft Frankreichs betonte man nun die aus der massenhaften Einwanderung resultierende Gefahr der »denationalisation«. Wenn Deutsche und Österreicher, aber auch Italiener, Levantiner und Chinesen die reproduktionsscheuen Franzosen absorbieren würden, drohe der Verlust des Nationalcharakters: »La France alors ne serait plus la France.« Die Verleihung der französischen Staatsangehörigkeit könne dem nur dann abhelfen, wenn sie eine perfekte Assimilation bewirke. Faktisch laufe sie jedoch auf einen bloßen administrativen Akt hinaus, durch den die Inbesitznahme von Boden, Industrie und Handel erleichtert werde - eine Behauptung, die mit dem Beispiel der eingebürgerten Deutschen untermauert wurde, die als Agenten der ökonomischen Invasion 314 FICF 12, Nr. 4 (April-Mai 1915), S. Stf.; ähnlich FICF 13, Nr. 2 (Dezember 1915-Januar 1916).S. 157-161. 315 Comité d'ÉtudesÉconotniqueset Administratiues relativesàl'Ahace-Lorraine,Rapport sur l'organisation administrative. 316 FICF 13, Nr. 4 (April-Mai 1916), S. 218fT.
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erschienen: »Allemands de race et d'éducation, ils restaient Allemands de coeur ,..«317 Mit dieser Position bewegten sich die Industriellen auf ein ethnisch bestimmtes Nationskonzept zu, das im Krieg generell deutlich an Boden gewann.318 Neben dem Konstrukt einer systematischen Infiltration durch deutsche Einwanderer in der Vorkriegszeit spielte dafür auch die Wahrnehmung der Arbeiter aus den Kolonien eine wichtige Rolle, deren Zuzug die Integrationskraft Frankreichs zu überfordern schien. Anders als Römer, Franken oder Engländer, bei denen es sich um benachbarte Rassen mit ähnlicher Physiognomie und Mentalität gehandelt habe, wurden sie als wesensrnäßig verschieden begriffen. Die Immigration dieser »ouvriers exotiques« in großer Zahl zuzulassen, mache ein System strikter Rassentrennung erforderlich.319 Pragmatischere Stimmen betonten dagegen vorrangig die Probleme, die nach Kriegsende aus dem Arbeitskräftemangel resultieren würden und sprachen sich daher für den Rekurs auf die menschlichen Ressourcen der Kolonien aus.320 Der exklusive Aspekt des Nationsentwurfs der Industriellen ist schließlich daran ersichtlich, dass sie Immigranten in besonderem Maße aufrührerische Gesinnung und Aktivität unterstellten. So gaben sie Ausländern, die »évidemment les agents des puissances ennemies« seien, die Hauptschuld an der Streikwelle des Jahres 1917.321 Als Reaktion sprachen sie sich für verstärkte Identifikations- und Kontrollbemühungen aus. Die Präsidenten der Handelskammer schlossen sich einhellig der Forderung an, Ausländern die Pflicht zum Tragen einer Armbinde in den jeweiligen Landesfarben aufzuerlegen, um sie jederzeit und problemlos erkennen zu können. Erneut stand dabei die Angst vor Infiltration zum Zwecke der Spionage oder der Anstiftung zum Streik Pate322 und diente - ergänzt durch vermeintliche gesundheitliche und moralische Defizite - zur Begründung eines defensiven Verständnisses der französischen Nation.323 Wenn der Integration von Immigranten eine skeptische bis ablehnende Haltung entgegengebracht wurde und andererseits der enorme demographische Aderlass des Krieges ins Bewusstsein drängte, mussten bevölkerungspolitische Fragen an Bedeutung gewinnen. Waren diese trotz der Propagandabemühungen der Alliance Nationale pour I'accroissement de la population frangaise
317 BCI 17, Nr. 8/9 (August/September 1915), S. 10-13; ähnlich FICF 13, Nr. 8 (NovemberDezember 1916), S. 16-24. 318 Vgl. jeismann , S. 349-363; am Beispiel der Diskurse über die Kinder aus Vergewaltigungen durch deutsche Soldaten Audoin-Rouzeau sowie Harris. 319 Lebon, La main-d'oeuvre, S. 192ff.; allg. zu den Arbeitern aus den Kolonien und ihrer Wahrnehmung vgl. Dornel. 320 So z.B. der Präsident der Handelskammer von Orléans, APCCF (22.3.1915), S. 135. 321 EE 1, Nr. 2 (Juli 1917), S. 2. 322 APCCF (25.6.1917), S. 93-97. 323 EE 1, Nr. 1 (Juni 1917), S. 38-42.
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vor 1914 nur auf begrenzte Resonanz gestoßen,324 erhielten sie nun eine ganz neue Dringlichkeit.325 Das galt auch und nicht zuletzt für die Industriellen, auf deren Agenda für die Nachkriegszeit die Bevölkerungspolitik einen vorderen Rang einnahm. Aus ihrer Sicht war die Umkehr des demographischen Trends notwendig, um das Problem des Arbeitskräftemangels ohne Steigerung der Immigration zu lösen. Sie ging aber in ihrer Bedeutung weit darüber hinaus, denn die Bevölkerungszahl wurde zum gesellschaftspolitischen Grundproblem erhoben.326 Sie erschien sogar als eigentliche Kriegsursache: Deutschland, behauptete etwa der Präsident der Handelskammer von Lyon, hätte den Angriff auf Frankreich nie gewagt, wenn es nicht von seiner numerischen Überlegenheit überzeugt gewesen wäre. Dem Arbeitskräfteproblem maß er deshalb eine immense Dringlichkeit bei, weil von seiner Bewältigung der Erfolg des Wirtschaftskriegs nach Friedensschluss und damit auch vitale Interessen der Industrie abhingen.327 Mit ihm forderten verschiedene Handelskammern, der Bevölkerungsfrage politische Priorität einzuräumen. Die vorgeschlagenen Mittel kombinierten Propaganda gegen egoistische Reproduktionsscheu, staatliche Unterstützungsmaßnahmen und Repression des Alkoholismus, eine Mischung, die ein paternalistisches Gepräge trug.328 Das schlug sich auch in der noch vereinzelt bleibenden Forderung nach einer mehrfachen Stimme für Familienväter bei Wahlen nieder, in der sich Bevölkerungspolitik und Demokratieskepsis verbanden und die Konturen eines konservativen Reformprogramms sichtbar wurden.329 In der Nachkriegszeit sollten solche Ansätze von den Handelskammern ausgebaut und auf einer festeren organisatorischen Basis verfolgt werden. Wenngleich dem Nationsentwurf der Industriellen eine gewisse Kohärenz nicht abgesprochen werden kann, resultierten andererseits Spannungen aus der Konfrontation von patriotischem Selbstverständnis und politischem Machtanspruch mit den tatsächlichen Legitimationsproblemen der ökonomischen Eliten im Verhältnis zu Staat und Gesellschaft. Von der Rüstungskonjunktur profitierten die verschiedenen Branchen nicht in gleichem Maße. Hersteller kriegswichtiger Güter konnten teilweise enorme Gewinne verbuchen, die sie geschickt aushandelten und zäh verteidigten.330 Hier war die patriotische Selbststilisierung unproblematisch, weil sie mit der ideellen und materiellen Anerkennung durch den Staat übereinstimmte.331 Erst recht galt dies für neu324 Vgl. Tomtinson, S. 407. 325 Vgl. Huss. 326 BCI 17, Nr. 8/9 (August/September 1915), S. 10-13; EE 2, Nr. 4 (April 1914), S. 44-65. 327 CCL 1915, S. 267-270; ähnlich Chambre de Commerce d'Orléans et du Loiret. 328 Ebd.; Chambre de Commerce de Paris. 329 Chambre de Commerce d'Orléans et du Loiret. Wahlrechtliche Vorteile ohne nähere Beschreibung werden gefordert z.B. in: Chambre de Commerce de Lyon, La question. 330 Vgl. Hardach, Mobilization, S. 69ff.; ders., Rüstungspolitik, S. 102ff. 331 Vgl. etwa Pinot, Les industries, S. 2ff.; ders., Le Comité.
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gegründete Unternehmen, die dem Krieg ihre Existenz verdankten.332 Zu ihrer eigenen Überraschung konnten aber auch die Lyoner Textilindustriellen nach einem anfänglichen Einbruch mit ihren Verkaufszahlen zufrieden sein. Sie exportierten ihre Produkte in großem Umfang nach England und in die Vereinigten Staaten; zudem profitierten sie davon, dass die nordfranzösische Konkurrenz wegen der Besatzung ausfiel.333 Im Konsumgüterbereich übte der französische Staat jedoch eine insgesamt recht effiziente Kontrolle über die Preisgestaltung aus, die nicht immer mit unternehmerischen Interessen übereinstimmte. 334 Zudem sahen sich Vertreter der Luxusindustrien durch die Import- und Exportrestriktionen gegenüber den rüstungsnahen Branchen benachteiligt. Sie wiesen darauf hin, dass ihre Tätigkeit für das Überleben der französischen Wirtschaft nach Kriegsende unverzichtbar sei.335 Lief dies auf eine nationale Legitimation hinaus, traf das erst recht für das Argument zu, dass sich in den Kunstindustrien der »génie créateur« einer Rasse manifestiere.336 Darin lag eine Abgrenzung gegenüber der deutschen Industrie, mit der man billige, minderwertige Produkte verband, wobei dieses rhetorische Vorgehen nicht verhindern konnte, dass der Rüstungswirtschaft weiterhin oberste politische Priorität eingeräumt wurde. 337 Die zunehmend ablehnende Haltung gegenüber dem Staat und dem System der Kriegswirtschaft blieb nicht auf die Hersteller von Luxusgütern beschränkt. Einhellig wehrten sich die Industriellen gegen die ab 1916 erhobene Steuer auf Kriegsgewinne. Der obligate Hinweis auf die eigenen nationalen Leistungen hatte offensichtliche materielle Erwägungen zum Hintergrund, war aber auch mit einem Gefühl mangelnder Anerkennung und ungerechtfertigter Verdächtigung verbunden, das sich in indignierten Äußerungen niederschlug. 338 Als 1917 die Streikwelle und ein Gesetzesentwurf, der dem Staat weitgehende Kontroll- und Mitspracherechte in den Rüstungsbetrieben verschaffte, zusammentrafen, erhob sich ein vielstimmiger Chor, der die patriotischen Motive der Industriellen und die militärische Bedeutung ihrer Tätigkeit betonte. Die Kritik richtete sich dabei gleichermaßen an die Adresse von Regierung und Öffentlichkeit.339 Den wenigsten Menschen sei klar, welche Vielfalt von Produkten für eine erfolgreiche Kriegführung bei gleichzeitiger Versorgung der Zivilbevölke332 Vgl. z.B. Bane-Sarazin. 333 CCL 1915, S. 1-100. 334 Vgl. dazu Godfrey; im Vergleich zu Deutschland Kruse, Systementwicklung, S. 88f. 335 EE 1. Nr. 3/4 (Aucust/SeDtember 1917). S. 1-8. 336 EE 2, Nr. 3 (März 1918), S. 42; ähnlich F1CF 13, Nr. 5 (Juni-Juli 1916), S. 253-259. 337 L'Impôt sur les Objets de Luxe, in: Bulletin mensuel du Commerce et de I'Industrie 18, Nr. 37-39 (Januar-März 1918), S. 14ff. 338 Vgl. z.B. die Rede des Präsidenten der Handelskammer von Saint-Quentin, APCCF (24.1.1916), S. 107f. 339 BCI 18, Nr. 31-33 (Juli-September 1917), S. 5; F1CF 14, Nr. 3 (Mai-Juni 1917), S. 61-66; APCCF (25.6.1917), S. 103f.; EE 1, Nr. 2 (Juli 1917), S. 10-30.
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rung notwendig sei. Deren Herstellung widmeten sich die Industriellen in harter, von Arbeitskräfte- und Rohstoffmangel geprägter Arbeit, die in der jahrhundertealten Tradition einer großen Nation stehe und ihr nach dem Krieg zu einer eindrucksvollen ökonomischen Expansion und politischen Entwicklung verhelfen werde. Dies alles verbiete es, sie als Feinde zu betrachten, die unter staatliche Kontrolle gestellt werden müssten.340 Derartige Enttäuschungen wurde um so bitterer empfunden, als sie mit der Erwartung kontrastierten, aufgrund der nationalen Bedeutung der Industrie in besonderem Maße als Objekt öffentlicher Anerkennung und staatlicher Unterstützung gewürdigt zu werden. Auf dieser Basis sprachen sich die Unternehmer verschiedentlich für die Begrenzung und pragmatische Handhabung antideutscher Maßnahmen aus. So wehrten sie sich gegen die kurz nach Kriegsbeginn erlassene Bestimmung, wonach Schulden bei Firmen aus Feindstaaten nicht beglichen, sondern dem französischen Staat zur Verwaltung übergeben werden sollten. Da gleichzeitig die Rechnungen französischer Gläubiger bezahlt werden müssten, sei mit dieser Regelung eine ungerechtfertigte Benachteiligung von Industriellen verbunden, deren Tätigkeit eine ausschlaggebende Bedeutung für den Kriegserfolg zukomme. 341 Ahnlich wurde das strikte Verbot von Geschäften mit Deutschen kritisiert, weil es Schwierigkeiten beim Handel in neutralen Ländern bewirke. 342 Unter den Handelskammerpräsidenten umstritten war dagegen die Forderung nach der Befreiung von der Gewerbesteuer, die mit dem patriotischen Verdienst, das eigene Unternehmen weiterhin in Betrieb zu halten, begründet wurde. Zwar sprach sich der Präsident der Handelskammer von Orleans gegen diesen Vorschlag aus, da sich die Unternehmer der »période des sacrifices« nicht verweigern dürften. Die Antwort seines Kollegen aus Nizza markierte jedoch die Grenzen patriotischer Opferbereitschaft: »Quand quelqu'un a donné son sang pour la Patrie, peut-on lui demander en plus de payer des droits de patente? On peut être bon patriote, mais, tout de même, il y a des limites!«
Seine Idee, die Steuerschulden zu den allgemeinen Kriegsschulden zu addieren und dadurch zu vergesellschaften, erhielt zwar Applaus, wurde jedoch aus taktischen Gründen nicht zur offiziellen Forderung erklärt, sondern zur Behandlung an die einzelnen Handelskammern zurückverwiesen. 343 Diese Beispiele verdeutlichen, dass sich Patriotismus und Eigeninteresse nicht immer so problemlos in Einklang bringen ließen, wie dies etwa bei der 340 Ebd.,S.11f., 17. 341 Präsident der Handelskammer von Angoulème, APCCF (22.3.1915), S.72f.; Präsident der Handelskammer von Foueères, ebd., S. 77. 342 APCCF (8.11.1915), S. 60f.; Chambre de Commerce de Lyon, Interdiction; Präsident der Association de la Fabrique Lyonnaisean Präfektdes Departements Rhone, 26.10.1914, ADR, 1 Μ 160. 343 APCCF (22.3.1915), S. 122-133.
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Werbung für die Zeichnung von Kriegsanleihen der Fall war, die als exzellente Geldanlage angepriesen wurden. 344 Wenn der Anspruch formuliert wurde, im jeweiligen Konkurrenten nicht mehr einen Gegner, sondern in erster Linie einen Angehörigen derselben Nation zu sehen, dem gegenüber eine Verpflichtung zur Solidarität bestehe, lag darin eine erhebliche Opferzumutung. Eine solche Forderung lief darauf hinaus, herkömmliche Kriterien für Loyalitäten zwischen Unternehmern zugunsten patriotischer Erwägungen zu suspendieren und eigene Interessen hinter der kollektiven Kriegsanstrengung und dem Aufbau einer neuen Industrienation zurückstehen zu lassen.345 Dass solche Appelle die erhoffte Wirkung hatten, erscheint mehr als zweifelhaft. In Konfliktfällen konnten die normativen Ansprüche der Nation im Gegenteil für zusätzlichen Sprengstoff sorgen. So wurde gegen den mächtigsten Interessenverband, das Comité des Forges, welches das Monopol der Eisen- und Stahleinfuhr aus Großbritannien innehatte und Teile der Rohstoffproduktion kontrollierte, eine Untersuchung eingeleitet, die seinen patriotischen Nimbus zu zerstören drohte; veranlasst wurde dieses Vorgehen durch Proteste aus der verarbeitenden Industrie.346 Auf der Ebene der einzelnen Unternehmen prallten zuweilen unterschiedliche Vorstellungen über nationales Verhalten aufeinander. Wenige Tage nach Kriegsbeginn beschwerte sich ein nordfranzösischer Textilhersteller bei seinem Farbstofflieferanten, weil dieser auf Barzahlung bestand, obwohl die Banken Kredite verweigerten. Er verwies darauf, dass die Industriellen ein patriotisches Opfer brächten, indem sie ihre Betriebe trotz der schwierigen wirtschaftlichen Situation aufrechterhielten, um den Belegschaften die Arbeitslosigkeit zu ersparen und fügte entrüstet hinzu: »...est-ce bien une société Française qui prend une pareille mesure?« 347 Das Beispiel verdeutlicht, dass die Nation den Industriellen zwar eine übergeordnete Sinngebung und einen kohärenten Zukunftsentwurf bot, sich jedoch als verbindliche Grundlage für ethisch gerechtfertigtes Handeln nicht durchsetzen ließ. Darin lag trotz ihres Erfolges im Krieg eine wichtige Grenze ihrer normativen Kraft. Wie die Industriellen waren auch die hohen Beamten in exponierter Stellung am Krieg beteiligt; durch den Bedeutungszuwachs des Staates sahen sie ihre gesellschaftliche Position gestärkt.348 Den Präfekten oblag es, auf der Ebene der Departements einen nationalen Konsens herzustellen und zu bewahren. Für die hochrangigen Vertreter des französischen Zentralstaats, die überwiegend 344 Vgl. z.B. den Aufruf des Präsidenten der Versammlung der Handelskammerpräsidenten, David-Mennet, APCCF (8.11.1915, S. 8f 345 Vgl. z.B. die Rede des Präsidenten der Handelskammerversammlung, David-Mennet, APCCF (11.11.1916), S. 138; EE 1, Nr. 1 (Juni 1917), S. 35. 346 Vgl. Hardach, Rüstungspolitik, S. 107. 347 Cousin Frères Comines an A. Minard, 10.8.1914, ADN, 9 R 95. 348 Vgl. allg. Rosanvaüon, S. 226-242; Thuillier/Tulard, S. 82.
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dem Antiklerikalismus der Radikalen nahestanden, bedeutete dies, »pour la sauvegarde du sol sacré de la Patrie« die Abkehr von parteipolitischen Konflikten zu verkünden. Ihr Selbstbild verschob sich damit zumindest auf öffentlicher Ebene vom kämpferischen Protagonisten einer republikanischen Politik zum »Préfet de Defense nationale«,349 ein Wandel, dem ein ideeller und konkreter Machtgewinn korrespondierte. Das verdeutlicht ein Brief des Präfekten des Departements Rhone, in dem er erklärte, dass er es weder für notwendig noch für wünschenswert halte, den zur Armee eingezogenen Unterpräfekten von Villefranche zu ersetzen, sondern es vorziehe, dessen Bezirk von Lyon aus direkt zu verwalten.350 Ihrer Hauptaufgabe des Konsenserhalts vor Ort kamen die Präfekten nach, indem sie statt des zuvor geplanten harten Vorgehens gegen den Antimilitarismus in der Gewerkschaftsbewegung den Schulterschluss mit seinen vormaligen Vertretern suchten. 351 Schwieriger gestaltete sich der Kampf gegen Gerüchte und chauvinistische Hysterie, der in den Ordnungskategorien hochrangiger Bürokraten geführt wurde. Wenn in den Berichten an das Innenministerium die Erfolgsmeldungen dominierten und die Verfasser der Bevölkerung Ruhe, Ernsthaftigkeit und patriotische Entschlossenheit attestierten, standen solche Formulierungen in der Kontinuität der Sprache der Präfekten des 19. Jahrhunderts, die immer auch den Zweck hatte, die eigenen Leistungen herauszustreichen; 352 insgesamt entsprach dieses Bild aber durchaus den Einstellungen der Franzosen zu Kriegsbeginn.353 Andererseits waren Gewaltausbrüche wie die Plünderung deutscher Läden oder die Beschädigung des Gepäcks von Angehörigen der Mittelmächte bei ihrer Evakuierung zunächst nur schwer einzudämmen und machten deutlich, dass sich die Emotionalität der Kriegsnation administrativen Kontrollbemühungen tendenziell entzog.354 In besonderer Intensität wurden die ersten Kriegsmonate von den Beamten der grenznahen Departements erlebt, die sich unmittelbar mit der deutschen Invasion und ihren Folgen konfrontiert sahen.355 Zudem waren Spitzenbeamte in führender Position an der Untersuchung der sog. »atrocités allemandes« beteiligt, Kriegsverbrechen, deren Realität mittlerweile überzeugend nachgewie349 Präfekt des Departements Rhone, Manuskript der Rede vor dem Conseil General, 17.8.1914, ADR, 1 Μ 151. 350 Präfekt des Departements Rhone an Inneminister, 21.9.1914, ADR, 1 Μ 160. 351 Vgl. z.B. Memoires de Felix Trépont, préfet du Nord de 1911 à 1918, ADN, Musée 349, S.21f. 352 Vgl. z.B. Präfekt des Departements Rhone an Minister des Innern, 2.8.1914, ADR, 1 Μ 143; Siwek-Pouydesseau, S. 111. 353 Vgl. grundlegend J.-J. Becker, 1914. 354 Präfekt des Departements Rhône an Minister des Innern, 4.8.1914,ADR, 1 Μ 143;Präfekt des Departements Rhone an Minister des Innern, 6.8.1914, ebd.; ähnlich Präfekt des Departements Nord an Minister des Innern, 5.8.1914, ADN, 9 R 18. 355 Vgl. z.B. Zentralkommissar von Lille an Präfekt des Departements Nord, 5.10.1914, ADN, 9 R 22.
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sen worden ist.356 Die Berichte der zu diesem Zweck eingesetzten Kommission betonten den schmerzlichen Charakter der Aufgabe, zerstörte Dörfer zu besichtigen und Tötungen von Zivilisten und Vergewaltigungen zu registrieren. Auch wenn man ihre propagandistische Zweckgebundenheit in Rechnung stellen muss, artikulierten sie durchaus echte Erschütterung über die Brutalität eines Vorgehens, das umstandslos dem deutschen Nationalcharakter zugeschrieben wurde.357 Die Zeugenaussagen von Beamten über die Zerstörungen verliehen diesem Schreckensnarrativ die Authentizität unmittelbarer Erfahrung. So berichtete der Präfekt des lothringischen Departements Meurthe-etMoselle, Leon Mirman, über das systematische Bombardement seines Amtssitzes Nancy, das bewusst auf die Zivilbevölkerung gezielt hatte. Später sah er Leichen älterer Geiseln und einer vergewaltigten Greisin.358 Während des Krieges bemühte sich Mirman, die deutschen Kriegsverbrechen zu dokumentieren und im öffentlichen Bewusstsein zu verankern.359 Er beklagte, dass die Erinnerung an diese Schrecken schnell verloren gegangen sei und bemühte sich daher um die Unterstützung seines Anliegens durch einflussreiche, lokal verankerte Persönlichkeiten.360 Dabei bewahrte er jedoch eine gewisse Distanz zum ethnischen, biologistischen Nationalismus, denn er sprach sich gegen die Abtreibung von Kindern aus Vergewaltigungen durch deutsche Soldaten aus.361 Auch für die Präfekten der übrigen Departements war die Abgrenzung zum deutschen Feindbild von ebenso großer Bedeutung wie für die Kriegsnation Frankreich generell. Sie entsprach fraglos den eigenen Einstellungen, wurde jedoch auch bewusst instrumentalisiert, um die Durchhaltebereitschaft der Bevölkerung zu fördern. So erklärte der Präfekt des Departements Rhone, in einer Rede »des paroles de haine contre les allemands« ausgesprochen zu haben, um eine »action morale« auf seine Zuhörerschaft auszuüben. Wenngleich aus der Tatsache solcher Verwendungen nicht auf ihren Erfolg geschlossen werden kann, zeigt sie doch, dass sich die Verwaltung nicht darauf beschränkte, die Definition der Nation »von unten« nachzuvollziehen, sondern im Gegenteil versuchte, diese zu beeinflussen. Das verdeutlicht auch ihre Haltung zur Ausländerpolitik. Unabhängig von Ansehen und sozialem Status verlangte sie von Angehörigen anderer Staaten, sich für die französische Nationalität zu entscheiden. Diese Anforderung erstreckte sich auch auf Ausländerinnen, wenn356 Vgl. Kramer. Die Konfrontation mit den »deutschen Greueln« erklärt zumindest teilweise die hohe Plausibilität und Verbreitung des Topos von den deutschen »Barbaren«. Diese Dimension fehlt bei jeismann, S. 339-349. 357 Rapport présenté à Μ. le Président du Conseil, Paris 1915. 358 Ebd.,S. 108, 142. 359 Mirman u.a. 360 [Léon] Mirman, Präfekt des Departements Meurthe-et-Moselle an Präfekt des Departements Rhone, 17.11.1916, ADR, 1 Μ 148. 361 Vgl. Audoin-Rouzeau, S. 132.
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gleich die Ablehnung hier keine Konsequenzen nach sich zog. Für männliche, wehrdiensttaugliche Angehörige anderer Staaten hatte sie jedoch die Ausweisung zur Folge.362 In dieser Linie lag über offenkundige militärische Erwägungen hinaus eine Fortführung des assimilatorischen Nationskonzepts der Vorkriegszeit, das im Krieg einen ausgeprägtjakobinischen Charakter annahm. Die Entscheidung für Frankreich wurde nicht nur ermöglicht, sondern in identitärer Eindeutigkeit und mit allen persönlichen Konsequenzen erwartet; die Möglichkeit, als Angehöriger eines anderen - auch neutralen - Staates geduldet zu werden, bestand nicht. Das bedeutete auf der anderen Seite, dass Personen, die ihre französische Gesinnung glaubhaft machen konnten, nötigenfalls von der Verwaltung in Schutz genommen wurden. So intervenierte der Präfekt des Departements Rhone zugunsten einer Frau, die durch Heirat Österreicherin, aber nach Abstammung und Loyalität Französin war, um sie aus der Lagerhaft zu befreien.363 Mehrfach setzte er sich für deutscher Sympathien beschuldigte Personen ein, indem er auf ihre französische Gesinnung verwies.364 Darin lag ein gewisses Maß an Bereitschaft, seine Autorität gegen lokale Exklusionsversuche zu stellen, das allerdings auch unter dem Aspekt republikanischer Klientelpolitik zu sehen ist. So attestierte der Präfekt einem Deutschlehrer, der Briefe aus Deutschland erhalten hatte, unter anderem deshalb seine Unverdächtigkeit, weil er Gemeinderat war.365 In einem anderen Fall wurde er darauf aufmerksam gemacht, dass ein Bürgermeister - »reactionnaire [sie] bien entendu« - sich weigerte, einer fälschlicherweise als Deutsche bezeichnete Frau ihre französische Nationalität zu bescheinigen und intervenierte sofort und mit Nachdruck.366 Hinzu kam die Nähe zum liberalkonservativen Establishment Lyons, auf das der Präfekt im Krieg verstärkt angewiesen war, um die vielfältigen sozialen Probleme bewältigen zu können. Das wird im Fall eines führenden Seidenindustriellen deutlich, den der Spitzenbeamte gegen den Vorwurf, geschäftliche Beziehungen zu einem Essener Unternehmen zu pflegen, in Schutz nahm, weil er nicht nur eine der meistgeschätzten Persönlichkeiten der lokalen Geschäftswelt, sondern auch »I'âme de diverses oeuvres de guerre ou de groupements philanthropiques« sei.367 362 Verschiedene Beispiele in: AN, F 7 12731. 363 Präfekt des Departements Rhone an Präfekt des Departements Creuse, 14.8.1914, ADR, 1 Μ 143. 364 Präfekt des Departements Rhône an Präfekt des Departements Saône-et-Loire, 9.11.1914, ADR, 1 Μ 143; Präfekt des Departements Rhone an Militärgouverneur von Lyon, 21.12.1915, ADR, 1 Μ 147. 365 Präfekt des Departements Rhone an Militärgouverneur von Lyon, 21.12.1915, ADR, 1 Μ 147. 366 M illet, Beigeordneter von Grigny, an Präfekt des Departements Rhone, ADR, 1 Μ 143; Präfekt des Departements Rhone an Bürgermeister von Grigny, 10.8.1914, ADR, 1 Μ 143. 367 Präfekt des Departements Rhone an Minister des Innern, 21.2.1918, ADR, 1 Μ 150.
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Der Einfluss der Präfekten auf die innere Gestaltung der Nation blieb im Krieg über Inklusions- und Exklusionsfragen hinaus erhalten. Wenn ihnen vom Innenminister die Handhabung der Zensur zugewiesen wurde, war damit die Definitionsmacht über Verstöße gegen die nationalen Interessen verbunden, die sie mittelbar ausübten, indem sie sie delegierten. Im Departement Rhone wurde das Zensorenamt von Juraprofessoren wahrgenommen, die erklärtermaßen dem radikalen Republikanismus nahestanden.368 Deren Praxis rief Klagen der Rechten, aber auch eine Mahnung des Militärgouverneurs zu größerer Strenge hervor,369 gegen die sie der Präfekt jedoch mit dem Argument verteidigte, dass es ihnen gelungen sei, die »unké morale« im Departement zu wahren. 370 Wie eng Patriotismus und Republikanismus für ihn verbunden waren, ist auch an seiner Haltung in manchen lokalen Konflikten ersichtlich. So wurde etwa gegen einen Bürgermeister der Vorwurf erhoben, Kopf einer kleinen Gruppe von Honoratioren zu sein, die den Zutritt zu den verletzten Soldaten auf dem örtlichen Bahnhof monopolisiere, was den Präfekten prompt zu einer Intervention veranlasste.371 Der anschließende Bericht des Spezialkommissariats ergab, dass es sich bei dem lokalen Hilfsverein für Verwundete um eine Vereinigung katholischer Rechter unter Ausschluss der Republikaner handele, die eigennützigen statt patriotischen Erwägungen folge.372 In der Konsequenz dieser Grundhaltung lag es auch, die Demission ausstiegswilliger Bürgermeister - den klassischen Vertretern des Republikanismus in den Gemeinden - abzulehnen und sie mit Nachdruck an ihre patriotischen Pflichten zu erinnern. 373 Die Distanz zur »reaktionären« katholischen Rechten blieb also trotz aller Einheitsrhetorik partiell erhalten. Das galt auch für die Beziehungen des Präfekten zum populistischen, radikalen Nationalismus, wenn er etwa dem Vorsitzenden der Ligue des Patriotes von Lyon verbot, eine Werbeveranstaltung für die Zeichnung von Kriegsanleihen zu organisieren.374 Das republikanische Konzept der nationalen Einheit war auf der anderen Seite mit einer klaren Abgrenzung zu den Resten der antimilitaristischen Lin368 Präfekt des Departements Rhône an Minister des Innern, 8.1.1915; zur Delegation der Zensur Minister des Innern an Präfekt des Departements Rhone, 23.9.1914; Präfekt des Departements Rhone an Dekan der Juristischen Fakultät, 24.9.1914, alle in: ADR, 1 Μ 151. 369 Präfekt des Departements Rhone an Minister des Innern, 8.1.1915; Militärgouverneur von Lyon an Präfekten des Departements Rhone, 26.9.1914, beide in: ADR, 1 Μ 151. 370 Präfekt des Departements Rhone an Minister des Innern, 11.1.1915, ADR, 1 Μ 151 371 Bahnhofskommandant von Givors an Präfekt des Departements Rhone, 6.8.1914; Präfekt des Departements Rhone an Bürgermeister von Givors, 7.8.1914, beide in: ADR, 1 Μ 143. 372 Präfektur des Departements Rhone. Spezialkommissariat, Bericht vom 25.9.1914, ADR, 1 Μ 143. 373 Präfekt des Departements Rhone an Unterpräfekt von Villefranche, 1.10.1918; Präfekt des Departements Rhone an Bürgermeister von Ampuis, 8.10.1918, beide in: ADR, 1 Μ 150. 374 Präfekt des Departements Rhone an Vorsitzenden der Ligue des Patriotes Lyon, 14.11.1917,ADR, 1 Μ 153; zum Radikalnationalismus der Ligue des Patriotes vgl. Sternhell,S. 77 145.
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ken verbunden, deren Versammlungen überwacht bzw. verboten wurden, letzteres auch über den Umweg des Militärgouverneurs. 375 Eine Bedrohung durch regionale Autonomiebewegungen bestand dagegen während des Krieges nicht.376 Die von der Regierung initiierte Debatte über die Schaffung departementübergreifender Verwaltungsregionen bedeutete zwar eine potentielle Machteinbuße der Präfekten, ließ sich aber von diesen umgekehrt auch zur Stärkung der eigenen Stellung instrumentalisieren. Nach seiner Meinung zu diesem Problem befragt, sprach sich der Präfekt des Departements Rhone für eine große südostfranzösische Region um die Metropole Lyon herum aus, deren Konturen er mit der Ähnlichkeit von Temperament, Geschmack und Sitten ihrer Bewohner sowie mit ihrer ausgewogenen ökonomischen Struktur begründete. U m den Posten des »Préfet régional« zu besetzen, halte er es für unnötig, einen neuen Beamten zu ernennen; es sei vielmehr vorzuziehen, dieses Amt dem Präfekten desjenigen Departements anzuvertrauen, in dem die Hauptstadt der neu zu schaffenden Region liegen würde - also ihm selbst. 377 Die administrative Reform schien für den Spitzenbürokraten die Chance zu eröffnen, seine Position auf Kosten seiner Kollegen in den umliegenden Departements zu stärken. Mehr als derartige Zukunftsprojekte erschwerten die besonderen Verhältnisse in einigen Grenzregionen die Umsetzung eines zentralistischen Nationskonzepts. Dazu gehörte die hohe Desertionsrate der Soldaten aus dem baskischen Departement Pyrénées-Atlantiques. Der Präfekt führte sie auf die spezifischen Züge ihrer Mentalität zurück, die mit einer starken Distanz zum französischen Patriotismus und seinen Loyalitätsforderungen verbunden sei. Zur Bewältigung dieses Problems regte er eine Berücksichtigung regionaler Differerenzen und damit eine Modifikation unitarischer Grundsätze an. Konkret schlug er vor, die Basken in Marokko einzusetzen, weil sie sich dort wohler als auf den Schlachtfeldern in Lothringen oder Flandern fühlen würden, stieß jedoch mit seiner Idee im Kriegsministerium auf Ablehnung. 378 Das letzte Beispiel zeigt, dass die Präfekten zur Wahrung des nationalen Konsenses den Anschein allzu großer Repressivst zu vermeiden trachteten und in heiklen Fällen zu einem vorsichtigen und kompromissbereiten Vorgehen tendierten. Generell vermied der französische Staat einen tiefgreifenden Legitimitätsverlust, indem er zugunsten der Verbraucher auch gegen die Interessen 375 Präfekt des Departements Rhone an Militärgouverneur von Lyon, 12.8,1916, ADR, 1 Μ 148; Präfekt an Minister des Innern, 14.8.1916, ADR, 1 Μ 160; verschiedene Polizeiberichte in: ADR, 1 Μ 149. 376 Vgl. Präfekt des Departements Nord an Minister des Innern, 25.4.1917, AN, F 7 13244, zur Erfolglosigkeit der Versuche der deutschen Besatzungsmacht, einen flämischen Separatismus ins Leben zu rufen. 377 Präfekt an Minister des Innern. o.D. [9151]. ADR. 1 Μ 144. 378 Vgl. Pourcher, S. 422-425.
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der Unternehmerschaft intervenierte.379 Konkret bedeutete dies unter anderem, dass die Präfekten in Lohnkonflikten für eine entgegenkommende Haltung gegenüber der Arbeiterschaft votierten, auch wenn in der Sicht der betroffenen Industriellen der nationale Ruin drohte.380 Ging es darum, die lokalen Fabriken in Betrieb zu halten, setzten sie sich dagegen für die Anliegen ihrer Besitzer ein.381 Die konkrete Erfüllung des Konsensstiftungsauftrags folgte den regierungsamtlichen Vorgaben, war aber auch durch unangenehme Erinnerungen an die politischen Folgen früherer Krisenperioden motiviert, die dem Erhalt des inneren Friedens eine zentrale Priorität verliehen. So zog der Präfekt des Departements Rhone nach den ersten Kriegswochen eine zufriedene Bilanz der Bevölkerungsstimmung: »... le calme le plus complet règne dans le Département et, en particulier, dans la ville de Lyon. Notre grande cité, si impressionable, dans laquelle à chaque crise nationale se sont produits les plus graves évènements, est dans un excellent etat moral.«382
In den folgenden Jahren war seine Tätigkeit erkennbar darauf ausgerichtet, den erreichten Grad an innerer Einheit, dessen Fragilität ihm klar vor Augen stand, nicht zu gefährden. Obwohl ein erklärter Anhänger des radikalen, antiklerikalen Republikanismus, bemühte er sich bei national konnotierten Anlässen wie etwa den Empfängen für heimkehrende Verwundete um reibungslose Begegnungen mit dem Erzbischof383 Über die Stimmung in Lyon hielt er sich durch seine Polizeiagenten auf dem Laufenden und versuchte, auf Anzeichen nachlassender Moral zu reagieren und gegen die Verbreiter von Gerüchten und »désordres« vorzugehen. Den Kontakt zur ländlichen Bevölkerung pflegte er über die Bürgermeister, die er regelmäßig aufsuchte und mit Vorträgen auf die Propagierung patriotischer Durchhaltebereitschaft einschwor.384 Ähnliche Methoden setzte der Präfekt ein, um für die Zeichnung von Kriegsanleihen zu werben. Da es hier nötig war, einen größtmöglichen Breiteneffekt zu erzielen und damit die Erwartungen der Regierung in Paris zu erfül379 Vgl. Kruse, Systementwicklung, S. 80ff. 380 Vgl. z.B. Präfekt des Departements Rhone an Minister des Innern, 10.12.1917; Chambre Syndicale des Industries Métallurgiques & Connexes du Departement du Rhone de la Region an Rüstungsminister, 27.11.1917, beide in: AN, F 7 13365; mit ähnlichem Tenor Präfekt des Departements Rhone an Bürgermeister von Bourg-de-Thizy, 14.2.1916, ADR, 1 Μ 160. 381 Präfekt des Departements Rhone an Minister des Innern, 23.10.1914, ADR, 1 Μ 160; Präfekt des Departements Nord an Minister des Innern, 14.8.1914, ADN, 9 R 18. 382 Präfekt des Departements Rhone an Minister des Innern, 6.9.1914, ADR, 1 Μ 160 (Her vorhebung im Original). 383 Präfekt des Departements Rhone an Minister des Innern, 19.7.1915, ADR, 1 Μ 145; zur nationalen Integration der katholischen Kirche im Ersten Weltkrieg vgl. J.-J. Becker, La France, S. 44-47. 384 Präfekt des Departements Rhone an Minister des Innern, o.D. [Juli 1915], ADR, 1 Μ 145; allg. zum diplomatischen Geschick als Bedingung für eine erfolgreiche Ausfüllung des Präfektenamtes vgl. Charte, Les hauts fonctionnaires, S. 85, 90.
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len, ging er weit über seine republikanische Stammklientel hinaus. Er zögerte nicht, den Erzbischof um seine Unterstützung zu bitten und die Mitwirkung von Priestern ausdrücklich zu würdigen. 385 Zudem bemühte er sich, die liberalkonservative Geschäftswelt für die Propagierung und Zeichnung der Kriegsanleihen zu gewinnen.3**6 Dabei war er sich bewusst, dass bloße Appelle an den Patriotismus nicht ausreichten und die Erzielung eines positiven Ergebnisses erforderte, den Interessen der potentiellen Kunden entgegenzukommen. Er setzte sich deshalb dafür ein, den Unternehmerverbänden derjeweiligen Branchen weiterhin einen Rabatt auf die Zeichnung der Anleihen einzuräumen, indem er darauf hinwies, dass andernfalls eine Verweigerungshaltung drohe.387 U m die Partizipation breiter Bevölkerungsschichten zu erreichen, rekrutierte er, vornehmlich unter Anwälten und Juraprofessoren, Referenten für Vorträge.388 Bürgermeister zeichnungsscheuer Gemeinden drängte er, ihren Einfluss propagandistisch geltend zu machen.389 Da überhaupt die Ergebnisse in den ländlichen Teilen des Departements anfänglich eher bescheiden ausfielen, sorgte er nicht nur für die Gründung von Werbekomitees, sondern betrieb auch selbst eine intensive Vortragstätigkeit, die sich an lokale Honoratioren wandte und auf deren Multiplikatorenfunktion setzte. In dieser Strategie konnte sich der Präfekt bestätigt fühlen, da die Summe der gezeichneten Kriegsanleihen in den Orten, in denen er vorgetragen hatte, um ein mehrfaches höher lag als zuvor.390 Der Text seiner Rede legte die Betonung auf die Vereinbarkeit von patriotischer Pflicht und »profit legitime«: »Souscrire à l'Emprunt, c'est concilier son devoir et son intérêt.«391 Über Maßnahmen zur Herstellung und Wahrung des Kriegskonsenses und die Werbung für die Zeichnung von Kriegsanleihen hinaus hielt sich der Präfekt mit Interventionen in nationalen Fragen zurück. Zwar unterstützte er durch seine Ehrenpräsidentschaft den Kampf gegen den »Ennemi de I'Interieur« Alkoholismus und setzte sich für die bevölkerungspolitisch motivierte Einführung eines Muttertags ein.392 Er verzichtete jedoch darauf, seine bürokratischen und polizeilichen Machtmittel zugunsten dieser und ähnlicher Ziele einzusetzen und damit womöglich die fragile Akzeptanz staatlicher Herr385 Präfekt des Departements Rhone an Erzbischof von Lyon, 29.9.1916, ADR, 1 Μ 153. 386 Präfekt des Departements Rhone an Minister des Innern, 21,12.1915; Präfekt des Departements Rhone an Präsident der Handelskammer von Lyon, 30.9.1918, beide in: ADR, 1 Μ 153. 387 Präfekt des Departements Rhône an Finanzministcr, 28.9.1916, ADR, 1 Μ 153. 388 Verschiedene Schreiben im: ADR, 1 Μ 153. 389 Präfekt des Departements Rhone an die Bürgermeister von 16 Gemeinden, 4.12.1917, ADR, 1 Μ 160. 390 Präfekt des Departements Rhone an Minister des Innern, 4.11.1916; vgl. auch Präfekt des Departements Rhone an Finanzminister, 28.9.1916, beide in: ADR, 1 Μ 153. 391 Redemanuskript des Präfekten des Departements Rhone (1915), ADR, 1 Μ 153. 392 Lyon Contre I'Alcoolisme. Section locale de la Ligue Nationale Contre I'Alcoolisme, ADR, 1 Μ 149; Journée des Mères, ADR, 1 Μ 150.
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schaft im Krieg zu gefährden. Es ist nicht zuletzt auf diese vorsichtige und pragmatische Haltung zurückzuführen, dass das Gleichgewicht zwischen Anspruch und Erfolg der administrativen Gestaltung der Nation bis zum Waffenstillstand einigermaßen intakt blieb. Die französischen ökonomischen und administrativen Eliten erfuhren den Krieg als eine Bewährungsprobe ihrer Leistungsfähigkeit und patriotischen Grundhaltung, die sie in ihrer Selbstwahrnehmung eindrucksvoll bestanden. Dabei half ihnen die Eindeutigkeit des antideutschen Feindbildes, das keine Zweifel am Sinn der individuellen und kollektiven Anstrengung aufkommen ließ. In unterschiedlichem Ausmaß wandelten sich im Krieg die jeweiligen Nationsentwürfe: Die Präfekten behielten zwar ihre republikanisch-unitarische Orientierung bei, zeigten sich aber andererseits auch kompromissbereit und behutsam, um den Hauptauftrag der Konsensstiftung zu erfüllen; weitergehende nationale Projekte etwa gesundheits- oder bevölkerungspolitischer Art betrieben sie kaum und visierten ihre Verfolgung auch für die Nachkriegszeit nicht an. Utopischer gefärbt war die Industrienation, die in Unternehmerkreisen imaginiert wurde. Unterstützt von einem ökonomischen Bündnis mit den Alliierten und abgesichert durch ein im konservativen Sinne reformiertes politisches System, sollte sie demographisch wie außenwirtschaftlich expandieren und so das deutsche Machtpotential in Schach halten. Andererseits basierte sie auf einer Abwehrhaltung gegenüber ausländischen Produkten und Immigranten und trug somit einen exklusiven Charakter. Dieses ambivalente Nationskonzept ließ sich jedoch noch nicht umsetzen; die Gegenwart sah spannungsreicher und unbefriedigender aus. So eindrucksvoll die Gewinne mancher Rüstungsfabrikanten ausfielen, sahen sich doch zahlreiche Industrielle vom Staat gegängelt und missachtet. Die nationale Bedeutung der eigenen Tätigkeit ins Feld zu führen, war dagegen nur von begrenztem Nutzen und konnte überdies die Spannungen zwischen den einzelnen Branchen nicht überdecken. Im Gegenteil konnte der Appell Nation Konfliktfälle sogar zuspitzen, weil er sie moralisch überfrachtete und damit kooperative Lösungen erschwerte. Im Krieg traten solche Widersprüche zwischen Anspruch und Realität zwar hervor, wurden aber andererseits in der Öffentlichkeit nur wenig thematisiert. Zudem wurde ihre harmonische Aufhebung von den Industriellen in die helle Zukunft nach dem Sieg gegen den deutschen Gegner projiziert. In der Vision einer verewigten »Union sacrée«, die das definitive Ende der politischen Gegensätze der Vorkriegszeit verhieß, vermischten sich Gegenwartserfahrungen, Wunschvorstellungen und Gesellschaftsbilder. Letztere beruhten auf bürgerlichen Stereotypen und Sichtweisen, die für die Einstellungen der Industriellen, teilweise auch der hohen Beamten prägend waren und im folgenden näher untersucht werden sollen.
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2. Bürgerlichkeit, lokale Identitäten und Besatzungserfahrungen Den verschiedenen Teilen des französischen Bürgertums war gemeinsam, dass sie den Krieg als eine eindrucksvoll bestandene Bewährungsprobe interpretierten. Dafür sprach in der Tat einiges: Angehörige von Mittelschichten und Eliten kämpften in großer Zahl an der Front, und viele von ihnen kehrten nicht lebend zurück. Die Eltern der Toten trauerten um ihre Söhne und konnten daher mit plausiblen Gründen auf patriotische Opferleistungen verweisen. Für die Daheimgebliebenen gestaltete sich die berufliche Tätigkeit oft anstrengender, weil die eingezogenen Kollegen ersetzt und neue Herausforderungen bewältigt werden mussten. Die kriegsbedingten sozialen Probleme mobilisierten breite karitative Aktivitäten. Herkömmliche Formen bürgerlichen Engagements wurden dadurch zu nationalen Leistungen aufgewertet. Die innenpolitischen Veränderungen des Krieges stellten in vieler Hinsicht eine Erfüllung bürgerlicher Wünsche dar. Die tiefgreifenden Konflikte um die religiöse Frage hatten katholische und laizistische Ärzte, Anwälte und Unternehmer voneinander getrennt. Mit der »Union sacrée« rückte die weithin ersehnte konservative Republik ein gutes Stück näher - auch deshalb, weil die revolutionäre Herausforderung, die vor 1914 als Bedrohung empfunden worden war, zugunsten der freiwilligen Integration der Arbeiterschaft in die Nation überwunden schien. Die Forschung hat folgerichtig die patriotische Haltung des französischen Bürgertums betont, ohne dass die Kriegserfahrungen und -deutungen seiner verschiedenen Teile bisher genauer erforscht worden wären.393 Die Untersuchung von Industriellen und hohen Beamten kann zur Behebung dieses Defizits ein Stück beitragen. Denn die Trennlinien, die für das französische Bürgertum der Vorkriegszeit prägend gewesen waren, hatten sich besonders auf die ökonomischen und administrativen Eliten und ihr wechselseitiges Verhältnis ausgewirkt. Im ersten Teil dieser Arbeit konnte gezeigt werden, dass die konservativen bzw. liberalkonservativen, katholischen Unternehmer im nordfranzösischen Industriegebiet und in Lyon dem antiklerikalen Unitarismus des Zentralstaats und seiner bürokratischen Repräsentanten distanziert gegenübergestanden und ihre Deutungen der Nation unter Rückgriff auf lokale und regionale Identitäten formuliert hatten.394 Durch den Krieg verlor dieses Spannungsverhältnis an Bedeutung. Die Präfekten waren zur Bewältigung ihrer neuen sozialpolitischen und konsensstiftenden Aufgaben auf die Mitwirkung der Eliten ihrer Departements angewiesen und näherten sich ihnen im Zeichen der nationalen Einheit auch ideell und diskursiv an. Die Industriellen konnten also ihre vielfältigen karitativen Aktivitäten auch deshalb als patriotische Leistung deuten, weil sie dafür staatliche Anerkennung erfuhren. 393 Vgl. J.-J. Becker, La France, S. 92f.; Daumard, S. 266-272. 394 S.o., S. 83-90.
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Hinzu kam, dass sie sich durch die scheinbar willige Unterordnung der Arbeiterschaft in ihren paternalistischen Gesellschaftsbildern bestätigt sahen. Die nordfranzösischen Unternehmer nahmen die vierjährige deutsche Besatzung nicht nur als massive Attacke auf ihre industriellen Identitäten, sondern auch als Verletzung von bürgerlichen Wertvorstellungen wahr. Anders als in den unbesetzten Gebieten blieb hier das Spannungsverhältnis zum unitarischen Nationsverständnis des Präfekten erhalten und verschärfte sich sogar noch, denn der Spitzenbürokrat warf den lokalen Eliten eine nachgiebige Haltung gegenüber der Besatzungsmacht vor. Die Beziehungen der nordfranzösischen Industriellen zum übrigen Frankreich waren von einem kaum verhüllten Misstrauen gegenüber patriotischen Solidaritätsbekundungen gekennzeichnet und ließen einmal mehr die Konfliktträchtigkeit des Leitbilds der Nation zutage treten. Im folgenden werden zunächst die nationalen Auto- und Fremdstereotypen und die Gesellschaftsbilder der Industriellen auf bürgerliche Züge hin untersucht. Unter derselben Fragestellung sind die bürokratischen Wahrnehmungen der Bevölkerungsstimmung, der Arbeiter aus den Kolonien und des Patriotismus von Individuen zu analysieren. Anhand der Kriegsfürsorge im Departement Rhone wird herausgearbeitet, inwieweit sich der Präfekt nach 1914 den lokalen Eliten annäherte. Das karitative Engagement der Industriellen Lyons ist insofern interessant, als es Aufschluss über die nationale Aufwertung bürgerlicher Werthaltungen und Aktivitäten verspricht. Die lokalen Unternehmer untermauerten und demonstrierten ihre Selbstdeutung als kämpferische Patrioten, indem sie 1916 eine große Messe ins Leben riefen. Hier kam es allerdings zu einer spannungsreichen Konkurrenzsituation mit der Pariser Messe, die durch die Verbindung mit nationalen Solidaritätsansprüchen zusätzliche Sprengkraft erhielt. Für die nordfranzösische Industrieregion stehen die Auswirkungen der deutschen Besatzung auf administrative wie industrielle Identitäten und Interessen im Mittelpunkt. Zudem griffen Deportationen und Einquartierungen tief in die bürgerlichen Normen der persönlichen Integrität und familiären Intimität ein, die dadurch als nationale Werte erscheinen mussten. Schließlich wird anhand des Verhältnisses von Präfekt und lokalen Eliten einerseits und von nordfranzösischen Industriellen und unbesetzten Gebieten andererseits nach den Konsequenzen gefragt, die der Ruf nach patriotischer Einheit und Opferbereitschaft hatte. So sehr der Erste Weltkrieg eine Zäsur in der Geschichte der französischen Nation darstellte, so sehr stand er andererseits in der Kontinuität des 19. Jahrhunderts, dessen kulturelles Erbe er in vieler Hinsicht verfestigte. Das galt nicht zuletzt für die nationalen Fremd- und Autostereotypen der Industriellen, die stärker als zuvor bürgerlich geprägt waren.395 Hinter dem Streben nach der 395 Zur Geschichte des französischen Bürgertums im Ersten Weltkrieg vgl. knapp Daumard, S. 266-272.
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Identifikation und Kontrolle ausländischer Arbeiter396 stand eine Übertragung paternalistischer Sichtweisen der Unterschichten, die als undiszipliniert, aufrührerisch und daher erziehungsbedürftig wahrgenommen wurden. In der Forderung nach der Abwehr von Kranken, Alkoholikern und Prostituierten unter den Immigranten vermischten sich bürgerliche Phantasmen und Xenophobie.397 Das Klischeebild des ausländischen Streikanstifters reduzierte die gefurchtete proletarische Protestbereitschaft auf außerfranzösische Ursachen und grenzte sie damit aus der nationalen Gemeinschaft aus.398 Der enge Konnex von Nation und Bürgerlichkeit lässt sich auch in den Sichtweisen der französischen Bevölkerung nachweisen. Mäßigkeitsnormen und das Stereotyp der trinkenden und entsprechend unbotmäßigen Unterschichten lagen der patriotisch begründeten Propaganda der Industriellen gegen den Alkoholismus zugrunde. Damit verband sich die Vision einer nüchternen Arbeiterschaft, die ihre Interessen sachgerecht und mit ruhiger Überlegung zu vertreten versprach, ohne zu Sabotagedrohungen und politischen Streiks zu greifen.399 In solchen Wunschvorstellungen artikulierte sich ganz unverhohlen der bürgerliche Anspruch auf eine wohlwollende »éducation morale des travailleurs«,400 der auf dem Gefühl einer neuen gesellschaftlichen Autorität der Industriellen im Krieg basierte.401 Ähnliche Äußerungen finden sich auch auf betrieblicher Ebene. Die Werkszeitung des Automobilunternehmens Berliet in Lyon verband ihr Lob des amerikanischen Taylorismus mit einem Hinweis auf die Meriten der Prohibition.402 In mahnenden Worten an die Belegschaft erhob sie die Sorge um die eigene Gesundheit zur patriotischen Pflicht: Nur bei voller Ausnutzung seiner Arbeitskraft durch Hygiene und körperliche Ertüchtigung dürfe sich der Arbeiter mit dem Soldaten vergleichen.403 Alkoholkonsum in großen Mengen sei damit unvereinbar, zerstöre die Familie und führe zu rassischer Degeneration.404 Der letztere Punkt erschien vor dem Hintergrund des Gewichts, das die Industriellen bevölkerungspolitischen Fragen beimaßen, als besonders gravierendes Übel. Dagegen setzten sie die bürgerlichen Normen der Familie, Hygiene und Moral,405 die in manchen Äußerungen durch ein »ideal religieux« ergänzt wurden und dadurch eine katho396 Vgl. dazu oben, S. 160. 397 EE 1, Nr. 1 Juni 1917) S. 38-42. 398 EE 1, Nr. 2 (Juli 1917), S. 2; APCCF (25.6.1917), S. 93-97. 399 Präsident der Union des Chambres Syndicales Lyonnaises an Präsident der Handelskammer von Paris, o.D. [1917], ACCIP, V-1.00 (1). 400 Rapport surI'Alcoolet Akoolisme. S. 13. 401 Rede des Präsidenten der Handelskammer von Orléans, APCCF (8.11.1915), S. 108. 402 L'Effort 1 (1916), S. 153-158. 403 L'Effort 2 (1917), S. 106f.; ähnlich L'Effort 1 (1916), S. 33-36. 404 L'Effort 2 (1917), S. 118f, 155f. 405 Chambre de Commerce de Paris, Rapport, S. 12ff.; Chambre de Commerce d'Orléans et du Loiret, S. 8ff; Chambre de Commerce de Nancy, S. 13.
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lisch-paternalistische Prägung erhielten.406 Es gab auch kritische Äußerungen über die Reproduktionsscheu weiter Teile der »bourgeoisie«, die zudem ihrer gesellschaftlichen Führungsrolle insofern nicht gerecht würden, als sie sich zu wenig gegen Alkoholismus, Pornographie und gesundheitsschädliche Wohnverhältnisse engagierten.407 Darin lag jedoch keine Abkehr vom bürgerlichen Werthorizont, sondern im Gegenteil eine Aufforderung, sich wieder auf ihn zu besinnen und auf dieser Basis eine Vorbildfunktion für die übrigen Bevölkerungsschichten auszuüben. Die innen- und gesellschaftspolitischen Vorstellungen, welche die Industriellen im Krieg formulierten, trugen ebenfalls bürgerliche Züge. In der Vision einer Überwindung der Klassengegensätze aus dem Geist des Schützengrabens schlug sich der alte Traum von der willigen Unterordnung der Arbeiterschaft unter den Herrschaftsanspruch der Eliten nieder, der trotz massiver Streikbewegungen aufrechterhalten wurde.408 Aus dem Bild einer Frontgemeinschaft, in der sich »I'union des coeurs et I'égalité des classes« realisiert habe, leitete man die Fiktion identischer Interessen im Hinblick auf die Wiederaufbauerfordernisse der Nachkriegszeit ab.409 Das Pendant dazu stellte die harmonische Gemeinschaft auf der Ebene des Betriebs dar, der als Pol allseitiger Identifikation verstanden wurde.410 Dabei erhob man den respektvollen Paternalismus, der den französischen Unternehmer kennzeichne, zum Distinktionsmerkmal gegenüber Deutschland, wo die Arbeiter als Maschinen oder Tiere behandelt würden.411 Wenn trotz der »maniére...familiale« der gemeinsamen Arbeit Streiks stattfanden, konnte das a priori nur an der verschwindenden Minderheit der berufsmäßigen Aufrührer liegen.412 Während die Einstellungen und Sichtweisen der Industriellen einen ausgeprägt bürgerlichen Charakter trugen, lässt sich das von den hohen Beamten nicht mit derselben Eindeutigkeit sagen. Die Berichte der Verwaltung über die Bevölkerungsstimmung fielen erheblich differenzierter und wirklichkeitsnäher aus als die einschlägigen Äußerungen von Unternehmern. Die Wahrnehmung von Gerechtigkeitsdefiziten wurde ebenso erkannt und festgehalten wie gesellschaftliche Konflikte. Anfang 1918 konstatierte der Präfekt des Departements Rhone zwar eine verbesserte Moral und Durchhaltebereitschaft, andererseits aber eine verbreitete Unzufriedenheit über Kriegsgewinnler, zu Un406 Rede des Präsidenten der Handelskammer von Limoees, in: APCCF (26.6.1916), S. 136. 407 EE 2, Nr. 4 (April 1918), S. 53f. 408 Vgl. u.a. EE 1, Nr. 2 (Juli 1917), S. 65; BCI 17, Nr. 22-24 (Oktober-Dezember 1916), S. 2-10; Lebon, Les lendemains, S. 35; zur immer bürgerlicheren Prägung der Union sacrée vgl.J.-J. Becker, Union sacrée; ders., La France, S. 78-87. 409 Lebon, Les lendemains, S. 35. 410 L'EfTort 1 (1916), S. 1. 411 L'EiTort2(1917),S.384. 412 Marius Berlietan seine Arbeiter, 12.1.1918, ADR, 1 Μ 150.
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recht ausgemusterte Männer im wehrpflichtigen Alter und öffentlich zur Schau getragenen Luxus. Dass zahlreiche Arbeiter zum Einsatz in der Rüstungsindustrie zurückgestellt würden, während gleichzeitig Bürger und Bauern an der Front stünden, habe in Lyon zu einer Verschärfung der »lutte des classes« geführt. Die Verwendung des Klassenkampfbegriffs verdeutlicht den Unterschied zu den harmonisierenden bürgerlichen Projektionen, die für die Wahrnehmungen der Industriellen typisch waren. Damit verband sich jedoch keine Parteinahme für die Arbeiterschaft; im Gegenteil gelangte der Präfekt zu dem Schluss, dass der Unmut der Öffentlichkeit auf die Ungleichbehandlung von Bauern, Angestellten und Angehörigen der freien Berufe, »qui se battent depuis quatre ans«, einerseits und den freigestellten Arbeitern andererseits zurückzuführen sei, die ihre sozialen und politischen Ziele auch im Krieg rücksichtslos verfolgten.413 Deshalb und wegen der Requisitionen von landwirtschaftlichen Erzeugnissen sei bei der bäuerlichen Bevölkerung ein Nachlassen von Patriotismus und Vertrauen in den Staat festzustellen, das in der Zunahme pazifistischer Tendenzen kulminiere. Im Bürgertum konstatierte der Präfekt einen Trend zu Desinteresse und Skepsis, bei den katholischen Bürgerinnen sogar zu Kriegsmüdigkeit. Der Arbeiterschaft attestierte er insgesamt einen »bon esprit«, wies aber auf die Radikalisierung der Metallarbeiter hin. Schließlich gestand er ein, dass der Erfolg der letzten Kriegsanleihe mit dem Gewinnstreben der Industriellen militärisch wichtiger Branchen zu erklären sei, während er den Rückgang der Anzahl der Zeichner auf die nachlassende Unterstützung für den Krieg zurückführte.414 Die Berichte, die - abhängig von der militärischen Lage und den Konjunkturen der Bevölkerungsstimmung auch erheblich positiver ausfallen konnten, zeigen eine gewisse Distanz zum Arsenal bürgerlicher Stereotypen. Das ermöglichte differenzierte Wahrnehmungen der öffentlichen Meinung, die eine wichtige Grundlage für die behutsamen Maßnahmen zur Konsensherstellung im Departement darstellten. Auf anderen Handlungsfeldern der Verwaltung waren Nation und Bürgerlichkeit jedoch eng verknüpft. Im Ersten Weltkrieg kamen mehrere hunderttausend Arbeiter aus den Kolonien nach Frankreich und wurden von Anfang an zu privilegierten Objekten bürokratischer Klassifikations- und Kontrollbemühungen. Indem der Staat sie in Lager einwies, die nach rassischer Zugehörigkeit getrennt waren, machte er sich zum Motor der Segregation. Damit ging eine Revitalisierung der negativen Variante bürgerlicher Unterschichtenstereotypen einher, die nun ethnisiert wurden: Die Verwaltung richtete ihr besorgtes Augenmerk auf Hygiene, Moral und Alkoholkonsum der fremden Klientel und sah allenthalben schwerwiegende Defizite, die sie durch verstärkte
413 Präfekt des Departements Rhone an Minister des Innern, 11.1.1918, ADR, 4 Μ 234. 414 Präfekt des Departements Rhone an Minister des Innern, 5.1.1918, ADR, 4 Μ 234.
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Disziplinierung einzudämmen oder zumindest in ihrer Außenwirkung zu begrenzen versuchte.415 Für die enge Verbindung nationaler und bürgerlicher Normen in Vorstellungen und Praxis der Verwaltung lassen sich weitere Beispiele anführen. Die Beurteilungen von Einzelpersonen durch das Spezialkommissariat des Departements Rhone, zum Beispiel wenn diese um Unterstützung nachsuchten, legten bürgerliche Kriterien an ihr Verhalten an. Defizite der Sexualmoral (»conduite légère«) oder des emotionalen Haushalts (»habitudes d'intemperance«) reichten aus, um die Betreffenden zu disqualifizieren.416 Idealiter ging eine gute Reputation mit unbezweifelbaren »sentiments patriotiques« einher.417 Akzeptabel war auch ein unauffälliges Benehmen in Verbindung mit einer »attitude correcte, au point de vue national«.418 Das Prädikat »irreprochable« wurde dabei gleichermaßen für die Charakterisierung von Moral und Anstand wie für die Beschreibung der jeweiligen Einstellung zu nationalen Fragen verwendet.419 Verstieß eine Person gegen bürgerliche Verhaltensnormen, erschien sie auch als ungeeignet zur Verfolgung nationaler Projekte. So wurde eine Bitte um Unterstützung für die Gründung eines Hilfswerks für Soldatenwitwen und -waisen mit dem Argument abgelehnt, dass es sich bei dem Initiator um einen notorischen Trinker handele.420 Das Idealbild, das den Maßstab für solche Einschätzungen bildete, war der bürgerliche Patriot von untadeliger Moral und gutem Leumund. Der Konnex von Nation und Bürgerlichkeit bildete auch den ideellen Hintergrund für die Kriegsfürsorge, die einen zentralen Bereich der administrativen Aktivitäten darstellte. Unter tätiger Mitwirkung seiner Ehefrau initiierte und kontrollierte der Präfekt des Departements Rhone diverse karitative Organisationen, die zur Bewältigung der kriegsbedingten sozialen Probleme ebenso beitrugen wie zur Festigung seiner eigenen Machtposition. So rief er auf Anweisung des Kriegsministers das örtliche Oeuvre Nationale des Vêtements d'Hiver ins Leben.421 Vorsitzende war seine Frau, die ihren Amtssitz in der Präfektur hatte, von dort aus die freiwillige Arbeit koordinierte und die Spenden verwaltete.422 Sie war auch die Adressatin der Bitten um Wäsche, was im Er415 Vgl. dazu die Arbeiten von Domel, Home, Workers und Slovall, die jedoch die Verbindung ethnischer und bürgerlicher Stereotypen nicht thematisieren. 416 Spezialkommissariat an Präfekt des Departements Rhone, 20.10.1915, ADR, 1 Μ 145. 417 So z.B. Spezialkommissariat des Departements Rhone, Notiz vom 15.9.1915, ADR, 1 Μ 145. 418 Spezialkommissariat des Departements Rhone, Bericht vom 3.6.1914 [gemeint ist 1915], ADR, 1 Μ 144. 419 Spezialkommissariat des Departements Rhone, Notiz vom 4.8.1916; Präfekt des Departements Rhone an Kriegsminister, 11.12.1916, beide in: ADR, 1 Μ 148. 420 Spezialkommissariat des Departements Rhône, Bericht vom 9.11.1916, ADR, 1 Μ 148. 421 Kriegsminister an Präfekt des Departements Rhone, 22.9.1914; Präfekt des Departements Rhone an Lyon, 25.9.1914, beide in: ADR, 1 Μ 155. 422 M adame Rault, Rundschreiben vom 5.10.1914, ADR, 1 Μ 151.
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folgsfall die Legitimität ihrer Person und damit mittelbar auch die der Verwaltung erhöhte.423 Wurde die Sammlung der Wäsche behindert, etwa weil ein Bürgermeister sie monopolisiert hatte, intervenierte der Präfekt.424 Auf diese Weise stärkte er seine Machtposition, aber unter ausdrücklicher Würdigung der Bemühungen in den ländlichen Gemeinden und der »inépuisable charité lyonnaise«.425 Auf derselben Linie lag die führende Rolle der Präfektengattin bei Empfang und Betreuung von Flüchtlingen aus den Frontregionen oder besetzten Gebieten.426 Diese Aktivitäten stellten jedoch nur einen Teil des Geflechts von Kriegsfursorgeorganisationen unterschiedlicher Provenienz dar, auf deren Tätigkeit die Verwaltung angewiesen war, um ihr Hauptziel der Konsensstiftung nicht zu gefährden. Der Präfekt begrüßte daher auch die Mitwirkung katholischer Vereinigungen. 427 Zur erfolgreichen Erfüllung größerer Aufgaben musste er nicht nur bedeutende Vertreter des liberalkonservativen wirtschaftsbürgerlichen Establishments, sondern sogar Protagonisten des katholisch-konservativen Milieus um ihre Hilfe bitten, was für sein antiklerikal geprägtes Selbstverständnis einen markanten Einschnitt darstellte.428 So wandte er sich an den Anwalt Charles Jacquier und ersuchte ihn um seine organisatorische Unterstützung beim Verkauf von Abzeichen für die Bewohner der besetzten Gebiete, wobei er explizit auf dessen Autorität in den traditionalistischen Kreisen Lyons verwies. 429 Die propagandistische Mitwirkung Jacquiers bei der Werbung für die Zeichnung von Kriegsanleihen war dem Präfekten ebenfalls einen Brief wert. 430 Da die Organisation der Kriegsfürsorge überdies ein zuvor ungekanntes Maß an Kontakten mit den lokalen Industriellen mit sich brachte, näherten er und seine Frau sich den etablierten Eliten Lyons ein Stück weit an. Wie seine positive Beurteilung in der mondänen Presse zeigt, galt das - anders als vor 1914 auch in umgekehrter Richtung.431 So sehr das Nationsverständnis des Präfekten nach wie vor republikanisch-unitarisch geprägt war, erweiterte es sich im Krieg doch um bürgerliche Themen. Sie lagen quer zu den Konflikten in der religiösen Frage, die in der Vorkriegszeit die entscheidende Differenz zum Establish423 Zahlreiche Beispiele für Bitten um Unterstützung in: ADR, 1 Μ 155. 424 R. Merle, Lehrerin in Les Olmes, an Madame Rault, 16.9.1914; Präfekt des Departements Rhone an Bürgermeister von Les Olmes, 27.9.1914, beide in: ADR, 1 Μ 155. 425 Oeuvre Nationale des Vêtements d'Hiver pour les Soldats du Front, Comité du Rhone, Compte-Rendu des Travaux, 25.3.1915, ADR, 1 Μ 154. 426 Präfekt des Departements Rhone an Minister des Innern, 13.3.1915, ADR, 1 Μ 144; Präfekt des Departements Rhone an Generalsekretär des »Secours Nationale«, 14.6.1915, ADR, 1 Μ 155; Präfekt des Departements Rhone an verschiedene Bürgermeister, 9.6.1915, ADR, 1 Μ 158. 427 Präfekt des Departements Rhone an Kriegsminister, 10.10.1915, ADR, 1 Μ 156. 428 Zu den Konflikten der Vorkriegsjahre s.o., Kap. I.B.2. 429 Präfekt des Departements Rhone an Charles Jacquier, ehemaliger Präsident der Anwaltskammer, 30.4.1915, ADR, 1 Μ 154. 430 Präfekt des Departements Rhone an Charles Jacquier, 1.12.1917, ADR, 1 Μ 160. 431 Le Tout Lyon 24, Nr. 3 (Mai 1918), S. 3.
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ment der Stadt markiert hatten. Gemeinsam mit liberalkonservativen Industriellen und dem katholischen Konservativen Jacquier unterstützte der Spitzenbeamte den national begründeten Kampf gegen den Antialkoholismus und bevölkerungspolitische Projekte wie die Einführung eines Muttertags. 432 Das Engagement in der Kriegsfiirsorge oder die Werbetätigkeit für die Zeichnung von Kriegsanleihen waren nicht nur administrativ induziert, sondern ebensosehr Ausdruck bürgerlicher Selbstorganisation, die besonders vom industriellen Establishment Lyons engagiert betrieben wurde. Damit ging eine Bekräftigung der eigenen Wertvorstellungen einher, die sich auch auf lokaler Ebene in einem paternalistischen Bild der Arbeiterschaft äußerte. So nahm sich die Ehefrau eines Chemiefabrikanten, die einer der bedeutendsten nordfranzösischen Industriellendynastien entstammte, ihrer geflüchteten Landsleute aus den besetzten Gebieten an. In ihrer Selbstwahrnehmung war sie deren Freundin, die mit ihnen Bier und Pommes Frites teilte und Volkslieder sangdie tatsächliche soziale Distanz zu den Flüchtlingen und die schweren Arbeitskonflikte der Vorkriegszeit blendete sie dabei aus.433 Der Hauptbeitrag der lokalen Industriellen zum Krieg lag jedoch in ihrer unternehmerischen Tätigkeit, die sich nun direkter als j e zuvor als nationale Aktivität legitimieren ließ und bestens mit den eigenen Interessen harmonierte, weil die Wirtschaft Lyons insgesamt aus dem militärischen Konflikt Profit ziehen konnte.434 Besonders prononciert und weit über die Grenzen der Stadt hinaus sichtbar demonstrierten die lokalen Industriellen ihr nationales Selbstverständnis mit der Foire de Lyon, einer Messe, die ihre Existenz dem Krieg verdankte. Der erste Anstoß zu dieser Großveranstaltung ging von einem örtlichen Fotografen aus, der im November 1914 vorschlug, den deutschen Handel an seiner Basis, der Leipziger Messe, anzugreifen, wozu sich Lyon besonders eigne.435 Der Bürgermeister Edouard Herriot und der Präsident der Handelskammer, Jean Coignet, griffen die Anregung auf und appellierten an die lokalen Industriellen, sich für das Projekt einzusetzen. Zur Begründung verwiesen sie darauf, dass in Frankreich nach Kriegsende neue Branchen entstehen würden. Um die deutsche Konkurrenz ersetzen zu können, benötigten diese einen Ort für Kontakte mit Kunden.436 Als die Messe 1916 eröffnet wurde, verband Coignet in seiner Rede die nationale Leistung der Gegenwart und die Vision eines ungekannten Wirtschaftsaufschwungs in der Zukunft. Die Foire de Lyon zeige, »que I'industrie et le commerce français sont prêts à remplir leur devoir patriotique jusqu'au 432 Lyon Contre I'Alcoolisme. Section localc de la Ligue Nationale Contrc l'Alcoolisme, ADR, 1 Μ 149; Journée des Mères, ADR, 1 Μ 150. 433 Die Äußerung Léonie Gillet-Mottes ist wiedergegeben bei Reverdy, S. 33. 434 CCL 1915, S. 1-100, bes. S. 41; CCL 1917, S. 1-90, bes. S. 32; ebd., S. 391-400; zur positiven Kriegsbilanz der lokalen Industrie vgl. Cayez, S. 332f. 435 Le Réveil National, 1.11.1914 (Exemplar in: ADR, 1 Μ 143); G.-L. Arlaud an Präfektdes Departements Rhone, 8.11.1914, ADR, 1 Μ 143. 436 Appell vom 7.7.1915, abgedruckt in: CCL 1915, S. 387f.
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bout, et à prendre après la guerre un essor, qui, je l'espère, sera merveilleux.«437 In der mondänen Presse erschien die Veranstaltung als Sieg in der ökonomischen Schlacht, die das lokale Wirtschaftsbürgertum kämpfe, während seine Söhne an der Front stünden; auf diese Weise werde dafür gesorgt, dass prosperierende Geschäfte die heimkehrenden Soldaten erwarteten.438 Das Leitmotiv der Veranstaltung, das in den folgenden Jahren immer wieder hervorgehoben wurde und ihr eine unbezweifelbare nationale Legitimation zu verleihen schien, war der Kampf gegen die Leipziger Messe.439 Tatsächlich stieß die Foire de Lyon weit über die Grenzen der Stadt hinaus auf Anerkennung und Resonanz. Interessierten Industriellen bot sie die Möglichkeit, ihre Aktivitäten, etwa zur Beschäftigung von Kriegsversehrten, in den Kontext des Wirtschaftskriegs gegen Deutschland und damit in ein patriotisches Licht zu rücken.440 Darüber hinaus eignete sie sich als allgemeines Symbol der Vitalität der französischen Wirtschaft und ihres erfolgreichen Kampfes.441 Derartige Äußerungen konnten jedoch nicht überdecken, dass die Foire de Lyon für erheblichen Konfliktstoff sorgte. Nicht zuletzt auf Drängen des Handelsministers reaktivierte die Pariser Handelskammer 1917 die Messe in der Hauptstadt, die kurz vor dem Krieg mangels Erfolg eingeschlafen war. Der Lyoner Bürgermeister Herriot, der zur gleichen Zeit die Foire de Lyon vorbereitete, bat um Beistand und sicherte seinerseits zu, das Pariser Messeprojekt zu unterstützen. Die Handelskammer von Paris erklärte ihr Einverständnis und versprach, die Veranstaltung so auszurichten, dass keine Konkurrenz zu Lyon entstehen könne.442 Diese Zusage wurde jedoch in den Augen der dortigen Industriellen nicht erfüllt; sie vermissten eine entsprechende Spezialisierung der Pariser Messe und forderten daher, deren Konzept bis zur Eröffnung noch zu verändern.443 Die Pariser Handelskammer gab ihrem Unverständnis über diese Kehrtwende Ausdruck und wies darauf hin, dass die beiden Messen gemeinsam eine komplette Präsentation der nationalen Produktion leisten würden: »Je ne doute pas ... que n o u s puissions travailler e n s e m b l e , la main dans la main, à I'oeuvre c o m m u n e destinée à favoriser le d é v c l o p p e m e n t de l'industrie française.« 444 437 Rede am 1.3.1916, abgedruckt in: CCL 1916, S. 581. 438 Le Tout Lyon, 5.3.1916; ähnlich EE 2, Nr. 6 (Juni/Juli 1918), S. 66-72. 439 Foire d'Échantillons de Lyon; La Foire de Lyon. 440 Paul Erny an Bürgermeister von Lyon, 25.11.1915, AML, 2 F 037, 0781 WP 002. 441 BCI 18, Nr. 37-39 (Januar-März 1918), S. 10; EE 2, Nr. 6 (Juni/Juli 1918), S. 66-72. 442 Handelsminister an Präsident der Handelskammer von Paris, 6.12.1915; Bürgermeister von Lyon an Präsident der Handelskammer von Paris, 10.11.1915; Präsident der Handelskammer von Paris an Bürgermeister von Lyon, 16.11.1915, alle in: ACCIP, II-2.41 (1). 443 Präsident der Handelskammer von Lyon an Präsident der Handelskammer von Paris, 23.5.1916; Präsident der Handelskammer von Lyon an Präsident der Handelskammer von Paris, 5.6.1916, beide in: ACCIP, II-2.41 (1). 444 Präsident der Handelskammer von Paris an Präsident der Handelskammer von Lyon,
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Durch diesen Appell an nationale Gemeinsamkeiten konnte jedoch der Konflikt nicht gelöst werden. Die Gegenseite betonte immer wieder, dass Lyon der geeignetste Messestandpunkt sei und daher im französischen Interesse Vorrang genießen müsse.445 Zwar nicht auf offizieller, aber doch auf publizistischer Ebene wurde diese Position regionalistisch überhöht. Das Pariser Messeprojekt sei zum Scheitern verurteilt, weil ein »vent de décentralisation« durch das Land wehe und sich Industrie und Handel in der Provinz von der Bevormundung durch die Hauptstadt befreien wollten; Lyon weise dazu den Weg. Im Vorwurf, Pariser Sonderinteressen zu vertreten, wurde die nationale Parole als rhetorische Waffe eingesetzt: »Au-dessus de Paris, M. David-Mennet [Präsident der Handelskammer von Paris], il y a la France!«446 Eine Karikatur unter der Überschrift »Et I'Union Sacrée?« zeigte zwei Mariannenfiguren mit den jeweiligen Städtewappen, die sich um die »Foire Française« stritten, während eine stämmige, mit einer Pickelhaube und der Aufschrift »Leipzig« versehene Germania zufrieden lächelte und sich zur Pariser Kollaboration beglückwünschte.447 Der Streit um den Messestandort verdeutlicht, wie wenig nationale Appelle im Konfliktfall gegen interessenbedingte Gegensätze auszurichten vermochten. Gerade darin lag jedoch ihre Sprengkraft, denn die Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität bewirkte, dass dem jeweiligen Gegner leicht antipatriotisches Verhalten unterstellt wurde. Das Leitbild der Nation entfaltete im Krieg also nicht nur homogenisierende, sondern auch differenzierende Wirkungen. Konnten in Lyon Selbstbilder, Interessen und lokale Identität der Industriellen auf der einen und der republikanische Patriotismus des Präfekten auf der anderen Seite unter dem Rubrum der Kriegsnation einigermaßen harmonieren, war dieses Verhältnis im Departement Nord einer ungleich höheren Belastung ausgesetzt. An der Grenze zu Belgien gelegen, sah sich die Industrieregion um Lille, Roubaix und Tourcoing bereits kurz nach Beginn der Feindseligkeiten militärisch bedroht; im September wurde sie für wenige Tage und im Oktober endgültig okkupiert. Die Kriegserfahrungen der Zivilbevölkerung waren von der vierjährigen, sehr harten deutschen Besatzung bestimmt.448 Das betraf auch und gerade die Präfekten des Departements, die als hochrangige Vertreter des französischen Zentralstaats in besonders exponierter Position und auf direkte Weise mit Invasion und Militärherrschaft konfrontiert waren. Bereits der überfallartige Vorstoß der feindlichen Truppen nach Lille im September 1914 war für den Präfekten Felix Trépont und seinen Generalsekretär 2.8.1916; ähnlich Präsident des Comité de la Foire de Paris an Bürgermeister von Lyon, 17.2.1916; Präsident der Handelskammer von Paris an Senator Poirrier, 5.9.1916, alle in: ACCIP, II—2.41 (1). 445 Bulletin Officiel de la Foire de Lyon 1, Nr. 2 (Juli 1916), S. 12f.; La Foire de Lyon, S. 5f. 446 Le Réveil National, 28.5.1916. 447 Ebd. 448 Zur Besatzungserfahrung in Nordfrankreich vgl. Becker, Oubliés, S. 27-88; ferner Wallart, Le Nord.
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mit einer physischen Attacke und tödlichen Bedrohung verbunden. Ein rabiater Leutnant schlug die Beamten mit Fäusten und setzte dazu an, sie erschießen zu lassen, wovon ihn ein anwesender Germanistikprofessor nur mit Mühe und in letzter Minute abhalten konnte. 449 Dadurch sah sich Trépont subjektiv in das Zentrum des nationalen Abwehrkampfes gerückt, was ihn dazu veranlasste, in der prekären militärischen Lage Regierung und Armee mit zahlreichen Ratschlägen zu bedenken, die jedoch zu seinem Leidwesen kaum Beachtung fanden. 450 Als die Deutschen im Oktober 1914 Lille bombardierten, einnahmen und besetzten, begannen für den Präfekten strapaziöse Monate, die mit gravierenden und demütigen Einschränkungen von administrativen Kompetenzen und persönlicher Freiheit verbunden waren. Seiner Funktionen nahezu beraubt, sah er sich gezwungen, untätig in der Präfektur auszuharren und auf eine baldige Befreiung zu hoffen.451 Bei seinen Ausflügen musste Trépont mitansehen, wie die deutschen Besatzer die Stadt demonstrativ in Besitz nahmen, indem sie die Straßen bevölkerten und eigene Geschäfte einrichteten. Besonders schmerzlich empfand er die Feier des Kaisergeburtstags, zu der die Deutschen das Denkmal, das an die Belagerung der Stadt durch Österreich 1792 erinnerte, mit Girlanden behingen und öffentliche Gebäude anstrahlten.452 Das stellte eine Entweihung zentraler Symbole des republikanischen Nationalstaats dar, zu denen auch das Amt des Präfekten selbst gehörte. Die intransigente Haltung Tréponts gegenüber der deutschen Besatzungsmacht brachte ihm wiederholte Durchsuchungen seiner Amtsräume und eine Anklage wegen Spionage ein.453 Schließlich wurde er im März 1915 inhaftiert, zur Geisel erklärt und nach Deutschland deportiert.454 Im Rückblick interpretierte er seine Tätigkeit wie folgt: »La mission qui m'était confiée dans le Nord m'avaitjeté au coeur même de la sanglante tourmente qui secouait la France jusqu'à la mettre en péril de mort. J'ai vécu dans ma Préfecture les jours les plus sombres de la guerre et de bien noirs s'annonçient encore pour moi... Aux angoisses patriotiques qui m'étreignaient venaient s'ajouter les souffrances morales que me valaient le difficile exercice de mes fonetions dans ces circonstances tragiques. C'é.tait une douloureuse disgrâe de représenter le Gouvernement de la République au milieu des populations du Nord quand l'invasion déferlait sur elles.«455
449 Mémoires de M. Felix Trépont, prefet du Nord de 1911à.1918,ADN, Musée 349, S. 103109; vgl. auch den Bericht von F. Piquet, Professor an der Universität Lille, 5.9.1914, ADN, 9 R 134; Le Progrés du Nord et du Pas-de-Calais, 23.9.1914. 450 Mémoires de M.Félix Trépont, préfet du Nord de 1911à1918, ADN, Musée 349, S. 134, 153,209,242,364ff. 451 Ebd., S. 249, 255f 452 Ebd.,S.287ff.,341. 453 Ebd., S. 262ff, 277. 454 Ebd., S.351f,361f 455 Ebd., S. 363.
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Das Zitat verdeutlicht, dass sich Trépont als heroisches Opfer des Krieges sah, zumal er seine Position als Vertreter einer abwesenden, unerreichbaren und vor Ort besiegten Regierung als höchst prekär empfand - eine Selbstdeutung, die auch von seinen Interimsnachfolgern geteilt wurde. 456 Die Besatzung bewirkte, dass sich die Präfekten in administrativer Identität und Nationalbewusstsein bestärkt fühlten und beides für sie eng verbunden war. Denn die feindliche Präsenz ging mit symbolischen Attacken auf ihren bürokratischen Herrschaftsraum einher, der gerade dadurch noch an Wert gewann. Einer von ihnen, der zwischenzeitlich die Präfektur hatte räumen müssen und bei seiner Rückkehr verwüstete Räume vorfand, konstatierte: »Là apparaissait dans toute sa vérité la ›Kultur‹ germanique!« 457 Nicht anders als die Präfekten hatten die nordfranzösischen Industriellen gute Gründe, sich als Opfer der deutschen Besatzung zu fühlen. 458 Zwar scheint es Versuche gegeben zu haben, sich mit den Feinden pragmatisch zu arrangieren,459 aber insgesamt ließ die harte Militärherrschaft dafür kaum Spielraum. 460 Bereits wenige Wochen nach Beginn der Besatzung begannen die Deutschen mit der Requisition von Rohstoffen aus Textilbetrieben, wobei sie weit über das militärisch Begründbare hinausgingen. 461 Schon bald wurde deutlich, dass diese Maßnahmen darauf abzielten, alle Rohstoffvorräte in deutschen Besitz zu bringen, was um so schwerer wog, als Gewicht und Wert bei der Requisition der Güter nicht schriftlich festgehalten wurden und ein späterer Schadensersatz daher höchst unsicher erschien.462 Zudem ließ dieses Vorgehen für die Zukunft des nordfranzösischen Industriereviers in der Nachkriegszeit insofern Schlimmes befürchten, als es eine rasche Wiederaufnahme der Arbeit unmöglich machte und der Textilindustrie die Kreditbasis entzog.463 Als die deutsche Besatzungsmacht einige Zeit später auch das Kupfer beschlagnahmte, lief dies bereits auf eine nur schwer reversible Teildemontage der jeweiligen 456 Rapport de M. Anjubault sur son administration 1915-1918, ADN, 9 R 208; Occupation allemande. Période du 14 Janvier au 17 Octobre 1918. Rapport de M. Régnier Consciller de Prefecture Préfet du Nord par interim, ADN, 9 R 215. 457 Ebd., S. 71. 458 Vgl. Pouchain, S. 193-210. 459 Vgl. Debarge, S. 306 Anm. 32. 460 Vgl. Becker, Oubliés, S. 48f.; zu den seltenen Fällen von Kollaboration vgl. Martinage. 461 Handelskammer von Roubaix an Präfekt des Departements Nord, 6.11.1914; Auguste Lepoutre et Cie. Roubaix. Peignage, Filature et Tissage de laines an Präfekt, 30.12.1914, beide in: ADN, 9 R 734; Annales de la Chambre de Commerce de Tourcoing 1914, S. 155-158; Rundschreiben der Société Anonyme de Peignage Anciens Etablissements Amédée Prouvost & Cie, 24.11.1914, ADN, 79 J 76. 462 Handelskammer von Roubaix an Präfekt des Departements Nord, 16.11.1914; A. Lepoutre, Peignage de Beaurepaire Roubaix an Präfekt des Departements Nord, 15.1.1915, beide in: ADN, 79 J 76. 463 Handelskammer von Roubaix an Präfekt des Departements Nord, 15.1.1915, ADN, 79 J 76.
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Fabriken hinaus, deren Rohre, Wasserhähne und Heizkessel abgebaut wurden.464 Über den ökonomischen Schaden hinaus war damit für die Betroffenen ein unmittelbar und schmerzlich erfahrener Eingriff in den Ort ihrer beruflichen Identität verbunden, denn die Industriellen hatten ihre Fabriken über viele Jahre aufgebaut und gegen äußere Anfechtungen mit paternalistischer Mentalität verteidigt. Besonders schwer wog auch die Beschlagnahmung wertvoller Mustersammlungen, die unersetzliche Grundlage für die Textilherstellung waren. In ihnen hatten sich Wissen und Gedächtnis mehrerer Industriellengenerationen niedergeschlagen, so dass ihnen gleichermaßen materieller wie identitärer Wert zukam. 465 Den Gipfelpunkt erreichte der gewaltsame Enteignungsprozess, als die Betriebe planmäßig demontiert und schließlich zerstört wurden, eine Maßnahme, die von den Betroffenen als »mort sans phrases« wahrgenommen wurde. 466 Die Darstellung des Zuckerfabrikanten Jules Helot verdeutlicht die psychische Strapaze, die darin lag, die langsame Zerschlagung eines Lebenswerks mitansehen zu müssen. Am Ende hätte er es vorgezogen, wenn die deutschen Besatzer seine Fabrik angezündet hätten, statt sie Stück für Stück zu zerstören.467 Der schrittweise und sich über Jahre hinziehende Angriff auf Eigentum und Identität der nordfranzösischen Industriellen bewirkte, dass sie sich als wichtigste Zielscheibe der deutschen Besatzungsherrschaft betrachteten. Das verlieh ihrem konservativ und paternalistisch geprägten Selbstverständnis einen nationalen Sinn und wertete es dadurch auf Die bereits während des Krieges unermüdlich vorgetragene Forderung nach dem Ersatz der Schäden durch den französischen Staat erhielt so eine Legitimation, die zumindest für ihre Urheber selbst unbezweifelbar schien. Dass die Industriellen ihr Leben unter der Besatzung als patriotische Widerstandstätigkeit interpretierten, lag auch deshalb so nahe, weil der harte Zugriff der deutschen Militärherrschaft weit über die betriebliche Ebene hinausging. Die misslichen Lebensbedingungen und vielfältigen Schikanen, denen die Bevölkerung ausgesetzt war, ließen auch den Alltag des wohlhabenden Wirtschaftsbürgertums nicht unberührt. 468 Zudem gehörten viele Industrielle 464 Alphons Six. Pcignage & Filature de Laines, Tourcoing an Präsident der Handelskammer von Tourcoing, 29.6.1916, ADN, 77 J 3409. 465 Präsident der Handelskammer von Roubaix an Präfekt, 20.9.1917, ADN, 9 R 734. 466 Präsident der Handelskammer von Roubaix an Präfekt, 30.10.1917, ADN, 9 R 837; ähnlich Präsident der Handelskammer von Roubaix an Rittmeister Lucherath, Stab des Generalquartiermeister, 3.11.1917, ADN, 79 J 77; Präsident der Handelskammer von Lille an Kommandant von Lille, 7.7.1917, abgedruckt in: Faucheur, S. 97f. 467 Hèlot, S. 519 (27.9.1917). 468 Vgl. die Hinweise auf die zunehmende Lebensmitteiknappheit bei Jules Scrive-Loyer, Journal écrit à Lille pendant la Grande Guerre 1914-1918, ADN, unverzeichnet, 23.10.1914, 25.10.1914, 26.11.1914; Journal de X, 1914-1918, Privatbesitz [auf Wunsch der Besitzerin des Tagebuchs wurde die Autorin anonymisiert], 16.2.1915, 19.3.1916, 24.8,1916.
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zu den Honoratioren, die 1916 als Geiseln festgenommen und in das niedersächsische Lager Holzminden deportiert wurden.469 Die Eingriffe der deutschen Besatzung in den privaten Lebensraum der nordfranzösischen Unternehmerschaft gingen mit eklatanten Verletzungen von Identitätssymbolen einher. So beschädigten Soldaten das Portrait eines Industriellenvaters durch zahlreiche Schnitte im Gesichtsbereich. Die Empörung darüber war um so größer, als die Familie für das regionale Wirtschaftsbürgertum mit seiner katholisch-traditionalistischen Mentalität von immenser Bedeutung war.470 Zu solchen Übergriffen kamen die zahlreichen Einquartierungen hinzu, die eine Attacke auf die Intimität des bürgerlichen Privatlebens darstellten. Die Betroffenen klagten häufig über tägliche Auseinandersetzungen mit ungehobelten und anspruchsvollen Soldaten.471 Auch die Präsenz höflicherer Deutscher im eigenen Haushalt erwies sich auf die Dauer als lästig und regelrecht zermürbend. So wurden die Nerven des bejahrten Jules Helot durch die jahrelangen Einquartierungen strapaziert. Als die Soldaten in der Silvesternacht 1917 auf der Straße Schüsse abfeuerten, während ihre Vorgesetzten bis in die frühen Morgenstunden melancholische Lieder sangen, zeigte er sich endgültig vom barbarischen Charakter der Deutschen überzeugt.472 Für die junge Tochter eines Industriellen stellten die Einquartierungen einen massiven Angriff auf häusliche Intimität und bürgerliche Moralvorstellungen dar. Sie musste erleben, wie die Deutschen in den Salon eindrangen und vom Garten aus durch das Badezimmerfenster blickten.473 Im Laufe der Besatzungszeit machte sie die Erfahrung sozialer Degradierung, etwa, als die Angehörige einer befreundeten Familie verhaftet und »comme la derniére des voleuses« abgeführt wurde.474 Die Militärherrschaft revitalisierte alte bürgerliche Ängste. Als die Deutschen 1916 eine große Zahl junger Frauen deportierten, fühlte sie sich an die Wagen erinnert, in denen die Jakobiner die Verurteilten zur Guillotine transportiert hatten.475 Und als sich der höfliche Offizier, der zu Kriegsbeginn für kurze Zeit bei ihrer Familie einquartiert war, als Prinz Eitel Friedrich - einer der Söhne Wilhelms II - entpuppte, fragte sie sich, warum sie ihn nicht wie Charlotte Corday Marat mit einem Dolchstoß ermordet habe.476
469 Vgl. Becker, Oubliés, S. 83-87; Wallart, Déportation. 470 Jules Scrive-Loyer, Journal écrit à Lille pendant la Grande Guerre 1914-1918, ADN, unverzeichnet, 27.11.1914; zur identitätsstiftenden Bedeutung der Familie für das nordfranzösische Wirtschaftsbürgertum vgl. B.G. Smith; Pouchain, S. 79-96. 471 Hélot, S. 45 (19.10.1914);Jules Scrive-Loyer,Journal écrit à Lille pendant la Grande Guerre 1914-1918, ADN, unverzeichnet, 9.11.1914, 10.11.1914, 14.11.1914. 472 Héot, S. 468 (1.1.1917). 473 Journal de X, 16.2.1915,7.7.1915. 474 Ebd., 18.5.1915; vgl. zu diesem Zusammenhang Becker, Oubliés, S. 72. 475 Journal de X, 29.6.1916; zu den Deportationen vgl. Becker, Oublies, S. 68-77. 476 Journal de X, 8.12.1914.
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Diese Beispiele zeigen, dass sich für die nordfranzösischen Industriellen die Wahrnehmung der deutschen Militärherrschaft nicht nur mit der Schädigung von Eigentum, Gewinnaussichten und dem Herrschafts- und Identitätsraum der Fabrik verband, sondern auch mit der massiven Verletzung von Familie, Moral und häuslicher Intimität. Dass der Konnex von Nationalbewusstsein und bürgerlicher Kultur gefestigt wurde, war eine der Folgen der Besatzung. Das lag auch daran, dass die paternalistischen Gesellschaftsbilder der Industriellen eine Bestätigung erfuhren - zumindest in ihren eigenen Augen. Die junge Industriellentochter interpretierte die Besatzung als eine erfolgreich bestandene Bewährungsprobe für Opferbereitschaft, Patriotismus und Religiosität der Nordfranzosen.477 Den Textilindustriellen Georges Motte brachte seine Gefangenschaft in einem deutschen Lager in ungewohnten und heiklen Kontakt mit der Arbeiterschaft. Er bewältigte diese Herausforderung, indem er mit paternalistischer Großzügigkeit Zigarren verteilte.478 Sodann versuchte er, »de raisonner les masses«,479 indem er die missliche Lage im Gefangenenlager nutzte, um den Wert von Nation, Armee und Familienleben hervorzuheben und eine Kampagne gegen den Alkoholismus zu führen.480 Aus diesen Erfahrungen zog er den Schluss, dass die Klassenkampfideologie des guesdistischen Sozialismus nur eine oberflächliche Wirkung gehabt habe; der Krieg habe den schlichten und guten Charakter des nordfranzösischen Arbeiters zum Vorschein gebracht.481 Ob Motte mit dieser Einschätzung richtig lag und seine erzieherischen Bemühungen den von ihm unterstellten Erfolg hatten, ist in diesem Zusammenhang weniger wichtig als der Selbstbestätigungseffekt seiner Gefangenschaftserfahrungen, die seine bürgerlichen Stereotypen und Gesellschaftsbilder stabilisierten und verstärkten. Wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, waren für die nordfranzösischen Unternehmer Nationalbewusstsein, industrielle Identität und bürgerliche Kultur eng verbunden. Das konnte jedoch dort zum Problem werden, wo die patriotische Solidarität verlangte, die eigenen Interessen zurückzustellen oder sogar zu opfern. An diesen Punkten traten Spannungen zwischen dem unglücklichen Präfekten Felix Trépont und dem regionalen Wirtschaftsbürgertum zutage. Während Trépont den sozialistischen Gemeindeverwaltungen und den syndikalistischen Bourses du Travail eine beeindruckende patriotische Abwehrhaltung attestierte,482 fällte er über die Textilindustriellen und die ihnen nahestehende Liller Stadtverwaltung unter der Führung des Bürgermeisters 477 Ebd.,30 juin 1915; zum Katholizismus vgl. auch ebd., 3.12.1914, 16.5.1915. 478 Motte, S. 50. 479 Ebd., S. 58. 480 Ebd., S. 57f., 135ff. 481 Ebd.,S.47f. 482 Mémoires de M. Félix Trépont, préfet du Nord de 1911 à1918, ADN, Musée 349, S. 126f., 323, 367; Präfekt des Departements Nord an Minister des Innern, 2.8.1914, ADN, 9 R 18.
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Charles Delesalle ein negatives Urteil. Folgt man seiner Darstellung, waren sie, als sich die deutsche Armee Ende August 1914 Lille näherte, in erster Linie um Stadt und Eigentum besorgt und bestürmten ihn, einen Angriff um jeden Preis zu verhindern, 483 Später warfen sie dem Präfekten vor, auf eine militärisch aussichtslose Verteidigung Lilles hingewirkt und damit das Bombardement der Stadt im Oktober in Kauf genommen zu haben; sie missachteten dabei, dass dieses Vorgehen nötig war, um der französischen Armee wertvolle Zeit zu verschaffen und dadurch Dunkerque und Calais vor der deutschen Eroberung zu retten.484 Schließlich zeigten sich Industrielle und Stadtverwaltung während der Besatzung resigniert und kooperationsbereit und mussten zu einer widerständigeren Haltung gedrängt werden. 485 Es geht hier nicht darum, die Anschuldigungen des hohen Beamten unkritisch zu übernehmen. Seine Aufzeichnungen wurden in ihrer endgültigen Form erst lange nach dem Krieg verfasst und reflektieren seine Bitterkeit darüber, 1918 nicht wieder zum Präfekten ernannt worden zu sein. Zudem sind sie von politischen und - im Hinblick auf einen jüdischen Steuereinnehmer - antisemitischen Ressentiments geprägt.486 Mehr als auf Feigheit oder Kollaboration deuten die Vorwürfe Tréponts auf einen grundsätzlichen Konflikt zwischen der unitarischen Nationsidee des republikanischen Zentralstaats und dem konservativem Lokalismus der Industriellen hin, der bereits vor 1914 virulent gewesen war und unter den Bedingungen des Krieges zum Ausbruch kam. Wenn Trépont dem Wirtschaftsbürgertum seinen »patriotisme local« vorwarf und konstatierte, dass die Stadtverwaltung von Lille zufrieden gewesen sei, sich durch die Besatzung von der ungeliebten Kontrolle des Präfekten befreit zu sehen, hatte er damit ein Stück weit recht.487 Allerdings zeigte sich bald, dass die deutsche Militärherrschaft für die Erprobung lokaler Selbstverwaltung keine günstigen Bedingungen bot. Die normativen Konsequenzen, die aus der Idee der Nation abgeleitet wurden, waren zusätzlich zwischen den nordfranzösischen Industriellen und dem unbesetzten Frankreich kontrovers. Der mahnende Ton, in dem die Erstattung der Kriegs- und Besatzungsschäden gefordert wurde, deutet darauf hin, wie sehr man an der Realisierung der zahlreichen patriotischen Solidaritätsbekundungen zweifelte.488 Zudem erschien der Aufschwung in Süd- und Zentralfrankreich, wo man sich die neuen, aus dem kriegsbedingten Ausfall der nord483 Mémoires de M. Felix Trépont, préfet du Nord de 1911 à 1918, ADN, Musée 349, S. 5861,123, 132. 484 Ebd., S. 49f, 376. 485 Ebd., S. 367-370, 376, 385f. 486 Ebd., S. 52, 95ff. 487 Ebd., S. 213,368; vgl. hierzu Conseil Municipal de Lille. Réunion extraordinaire, Séance du Vendredi 25 Septembre 1914. Rapport de M. le Maire, ADN, 9 R 543; Hélot, S. 60 (5.11.1914), 62 (7.11.1914), 97 (16.12.1914). 488 Journal des réfugiés du Nord, 26.2.1916, 8.3.1916, 22.3.1916.
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u n d ostfranzösischen Industrie erwachsenen Möglichkeiten zunutze machte, als eine B e d r o h u n g der eigenen Position. Die Beobachtung ökonomischer Entwicklungen verband sich mit regionalen Stereotypen und der Konfrontation zwischen Anspruch und Wirklichkeit patriotischer Solidarität: »Le Midi, dans un rayon de soleil, rêve de noires cheminées d'usines parmi ses beaux oliviers d'argent! Le Centre renonce à ses châtaignes si nos industries émigrent vers lui!« 489 Als eine Industriellenvereinigung in der Pyrenäenregion nordfranzösische U n t e r n e h m e n offen zur Ansiedlung aufforderte, warf man ihr vor, der nationalen Aufgabe des Wiederaufbaus der besetzten Gebiete gleichgültig gegenüberzustehen. 4 9 0 Unausgesprochen blieb dabei, dass sich dieser Verdacht auch gegen die nordfranzösischen Industriellen selbst richtete, ohne deren Rezeptionsbereitschaft die Abwerbungsversuche j a ins Leere gelaufen wären. Nach d e m Friedensschluss sollte sich die Befürchtung einer endgültigen und massenhaften A b w a n d e r u n g bald als gegenstandslos erweisen. Die Vorwürfe an das u n b e setzte Frankreich sind jedoch insofern interessant, als sie zeigen, dass die Idee der Nation im Ersten Weltkrieg nicht nur Kohäsion stiftete. Im Gegenteil verschärfte sie a u c h Konflikte, weil sie i m m e n s e Ansprüche und Erwartungen hervorrief, die in einem enttäuschenden Kontrast zur W a h r n e h m u n g realer Interessenunterschiede standen. Die Wertvorstellungen und Sichtweisen, die seit der Wende z u m 19. J a h r h u n dert konstitutiv für das Selbstverständnis des französischen Bürgertums und damit auch der Industriellen gewesen waren, 491 w u r d e n durch den Ersten Weltkrieg massiv angegriffen, erfuhren aber gerade dadurch eine nationale Ü b e r h ö h u n g und gewannen an identitärem Wert. 492 Das zeigte sich besonders an der W a h r n e h m u n g der Arbeiterschaft, deren willige, durch paternalistische Erz i e h u n g s b e m ü h u n g e n erleichterte Einfügung in die ersehnte hierarchische Gesellschaftsordnung bloß noch von ausländischen Streikanstiftern behindert schien. Hinzu kam, dass die Organisation der Kriegsfursorge klassische Form e n karitativen Engagements zur patriotischen Tätigkeit aufwertete. Im besetzten Nordfrankreich attackierten die Deutschen nicht nur durch B e schlagnahmungen und Fabrikzerstörungen Eigentum und industrielle Identität, sondern griffen in Gestalt von Einquartierungen und Deportationen auch tief in die persönliche Freiheit und die Intimität des Familien- und Privatlebens ein. Sie bewirkten damit, dass die Betroffenen nationale Zugehörigkeit und Bürgerlichkeit enger als j e zuvor miteinander verbunden sahen. 489 490 491 492
Ebd., 21.6.1916. Ebd., 25.10.1916. Dazu sehr gut trotz primär sozialhistorischer Ausrichtung Daumard, So auch der Tenor bei Daumard, ebd., S. 266-272.
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Das Spannungsverhältnis zum republikanischen Unitarismus der Präfekten wurde durch den Krieg gemildert und partiell überbrückt. Anstelle des Gegensatzes zwischen Antiklerikalismus und Katholizismus bestimmten nun milieuübergreifende Themen wie die Bevölkerungspolitik, der Kampf gegen den Alkoholismus oder die Bewältigung kriegsbedingter sozialer Probleme die Definition der nationalen Ordnung; auch das bürokratisch konstruierte Idealbild des Patrioten trug bürgerliche Züge. Auf der anderen Seite zeigen die relativ differenzierten Wahrnehmungen der Bevölkerungsstimmung in den Berichten der Verwaltung eine gewisse Distanz zu den einschlägigen Stellungnahmungen der Industriellen. Zudem ließen in Nordfrankreich Invasion und Besatzung den Gegensatz zwischen dem republikanisch-unitarischen Patriotismus der Präfekten als Vertreter des französischen Zentralstaats und dem konservativen Lokalismus der örtlichen Unternehmerschaft deutlich hervortreten, weil sich die jeweiligen Folgerungen für das eigene Handeln erheblich unterscheiden konnten; die deutsche Härte entzog allerdings Tendenzen zum pragmatischen Arrangement rasch den Boden. Die Kriegsnation zeigte hier deutliche Bruchlinien, weil sie konträren Deutungen unterlag und ihre normativen Ansprüche oftmals nur schwer mit der Verfolgung von Eigeninteressen in Einklang zu bringen waren. Das lässt sich auch an der Zuspitzung und nationalen Überhöhung regionaler Gegensätze ersehen, die sich in den nur mühsam überdeckten Spannungen zwischen besetztem und unbesetztem Frankreich ebenso niederschlugen wie in der Konkurrenz um die Veranstaltung einer großen Handelsmesse zwischen Lyon und Paris. Es war vorerst keineswegs ausgemacht, dass diese differenzierende, konfliktverschärfende Wirkung der Nation in der Nachkriegszeit nicht perpetuiert oder sogar verstärkt werden würde.
C. Konstruktion und Verwirklichung der Kriegsnation im Vergleich Vergleicht man die Formen, in denen die deutschen und französischen Industriellen und hohen Beamten im Ersten Weltkrieg die Nation konstruierten und zu verwirklichen suchten, treten primär Gemeinsamkeiten hervor,493 die sich in drei Punkten resümieren lassen. Erstens wurde der Krieg in beiden Ländern in erster Linie aus der Perspektive der jeweiligen sozialen Gruppe wahrgenommen und avancierte umgekehrt zum legitimatorischen Referenzpunkt ihrer Identität. Das galt auch und gerade für Industrielle und hohe Beamte, die sich als Akteure von Wirtschaft und Staat 493 Dieses Ergebnis steht im Einklang mit dem Urteil von Winter, S. 227, der die kulturellen Gemeinsamkeiten zwischen den europäischen Ländern im Ersten Weltkrieg hervorhebt. Die spezifischen Züge der deutschen Kriegsnation betont dagegen z.B. M. Geyer, Stigma, S.
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in das Zentrum des totalen Konflikts gerückt und deshalb in Selbstbildern und konkreter Tätigkeit aufgewertet sahen. Dadurch war es möglich, individuellen Erfahrungen einen patriotischen Sinn zu verleihen, die eigenen Interessen besten Gewissens unter Rekurs auf nationale Argumente zu vertreten und auf dieser Basis Zielvorstellungen für Friedensschluss und Nachkriegszeit zu formulieren. Zweitens bewirkten der Krieg und seine Deutung in nationalen Kategorien eine Stärkung bürgerlicher Sichtweisen und Wertvorstellungen, die am Vorabend des Waffenstillstands zwar insgesamt an gesellschaftlicher Anerkennung verloren hatten, aber bei Industriellen und hohen Beamten noch gefestigter waren als zuvor. Das belegen die Wahrnehmungen von Ausländern ebenso wie die Bilder der eigenen unterbürgerlichen Bevölkerung oder die Kriterien für die nationale Inklusion und Exklusion. Lokale und regionale Identitäten sowie das Engagement für karitative Zwecke oder die Zeichnung von Kriegsanleihen erfuhren ebenfalls einen Bedeutungsgewinn. In Deutschland und Frankreich trug die Kriegsnation der ökonomischen und administrativen Eliten ein bürgerliches Gepräge. Eine weitere Gemeinsamkeit liegt - drittens - in den Spannungen und Bruchlinien, die im Krieg aller patriotischen Rhetorik zum Trotz zwischen den verschiedenen nationalen Deutungen und Selbstlegitimationen aufschienen. In beiden Ländern konnten Interessendifferenzen, lokale bzw. regionale Gegensätze, unter bestimmten Bedingungen auch Konflikte zwischen Verwaltung und Industrie nicht nur nicht überwunden werden. Sie wurden sogar durch die Konfrontation der aus der Nation abgeleiteten normativen Ansprüche mit der ernüchternden Wahrnehmung des Handelns anderer Gruppen und Individuen erheblich verschärft. Bei Industriellen, die unter mangelnden staatlichen Aufträgen und Rohstoffzuteilungen litten, in Deutschland auch bei der höheren Beamtenschaft, kam das Gefühl zu Unrecht verweigerter politischer und gesellschaftlicher Anerkennung hinzu. Da eine Lösung dieses Problems im Krieg nicht möglich war, wurde sie in die Vorstellungen von der Nachkriegszeit verlagert, die teilweise zur Projektionsfläche nationalistischer Wunschbilder erhoben und dadurch mit der schweren Hypothek kaum erfüllbarer Erwartungen belastet wurde. Neben diesen Gemeinsamkeiten dürfen jedoch einige wichtige Unterschiede nicht übersehen werden, die in erster Linie die Konstruktion und versuchte Verwirklichung des Nationsentwurf der hohen Beamten betreffen. In Deutschland erlebten die ethnischen Deutungsmuster, die bereits in der Vorkriegszeit von der Verwaltung vertreten worden waren, eine Konjunktur, während in Frankreich die Substanz des republikanischen Patriotismus der Präfekten erhalten blieb. Zudem bewirkte der generelle Einfluss- und Legitimationsverlust der deutschen Bürokratie, dass sie das, was sie vor dem Krieg an Definitionsmacht über die Nation, über Exklusionsentscheidungen und
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symbolische Anerkennung, besessen hatte, an Armee und Bevölkerung verlor. Viele ihrer hochrangigen Vertreter kompensierten diese missliche Situation, indem sie gegen Fremdwörter und Kontrazeptiva kämpften oder in der Partizipation an der völkischen Neuordnung der besetzten ostmitteleuropäischen Gebiete berufliche Erfüllung suchten, wobei sie sich über die dabei auftretenden Schwierigkeiten mit der Imagination eines nationalistischen Utopia hinwegtrösteten. Die französischen Präfekten waren dagegen mit einigem Erfolg um eine Vermittlung ihres republikanisch-unitarischen Patriotismus mit dem Ziel der nationalen Konsensstiftung bemüht und verzichteten darauf, weitergehende Projekte zu betreiben. Im speziellen Fall des Kampfes der deutschen hohen Beamten um die Definition und Kontrolle der Nation schlug sich auf einer kulturhistorischen Ebene die Diskrepanz zwischen eingeschränkten Ressourcen und weitgespannten Zukunftsvorstellungen nieder, die für die deutsche Kriegführung generell betont worden ist.494 Der maßgebliche Grund hierfür lag darin, dass der Obrigkeitsstaat des Kaiserreichs die Legitimationsprobleme bei der Aushandlung der Kriegsnation schlechter bewältigte als die demokratische Dritte Republik,495 deren hochrangige Repräsentanten überdies eine gewisse Distanz zum jeweiligen lokalen Establishment wahrten. Zudem begünstigte in Deutschland die Kombination von schwindender Systemakzeptanz im Innern und einer militärischen Lage, die bis zum Waffenstillstand die Aussicht auf einen Herrschaftsraum von enormen geographischen Ausmaßen und beeindruckender kolonisatorischer Machtfulle zu eröffnen schien, die Neigung zur utopischen Flucht aus einer vielfach frustrierenden Gegenwart. Dagegen bewirkten in Frankreich Invasion und Besatzung, dass sich die hohe Beamtenschaft auf ihren Beitrag zur nationalen Verteidigung konzentrierte. In den deutsch-französischen Differenzen sind eher Folgewirkungen unterschiedlicher Vorkriegsprägungen und militärischer und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen zu sehen als divergierende Formen der Konstruktion und Umsetzung der Kriegsnation per se. Überhaupt spricht vieles dafür, den Zäsurcharakter des Ersten Weltkriegs für die Kulturgeschichte des Nationalismus zu relativieren. Zweifellos lag ein gravierender Einschnitt in der - zumindest rhetorisch propagierten - Ausdehnung seiner Geltungsgrenzen zur obersten Legitimationsinstanz für nahezu jede Form menschlichen Handelns. Auf der anderen Seite stand die Nation im Krieg in ideen- und diskursgeschichtlicher Hinsicht in der Kontinuität des 19. Jahrhunderts, mit dessen bürgerlichem Erbe sie enger als zuvor verbunden war. Die Ergebnisse dieses Kapitels bestätigen die neuere Tendenz in der Forschung, die Interpretation des Ersten Weltkriegs als kulturellen Umbruch zu modifizieren und stattdessen die Verfesti494 So im Vergleich zu Frankreich und Großbritannien Kruse, Systementwicklung, S. 90. 495 Vgl. W. J . Mommsen, Weltkrieg, S. 31, der die Auffassung vertritt, dass die Isolierung der Eliten von der Bevölkerung in Deutschland besonders ausgeprägt gewesen sei.
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gung und Revitalisierung älterer Deutungsmuster, Repräsentationen und Praktiken in den Vordergrund zu rücken.496 Erst die Nachkriegsjahre sollten in Deutschland einen Wandel bringen, dessen Wirkung um so gravierender ausfiel, als er mit den während des KonfliktsformuliertenZukunftsvorstellungen auf ernüchternde Weise kontrastierte und mit dem Durchbruch eines völkischen Nationsentwurfs einherging.
496 So die Grundthese von Winter, vgl. ferner Audoin-Rouzeau, S. 149; ders/A. Becker, Violencc, S. 256; Reimann, S. 145; für die modernistische Interpretation der Kulturgeschichte des Krieges vgl. u.a. Fussell; Eksteins; Schulin.
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Kapitel III Nachkriegserfahrungen und die Konstruktion der Nation
Nach 1918 standen Staat und Wirtschaft im Mittelpunkt einer erbitterten deutsch-französischen Konfrontation. Gleichzeitig waren ihre Akteure an zentraler Stelle in die innenpolitischen Herausforderungen und Konflikte der Nachkriegszeit involviert. Für Industrielle und hohe Beamte bekräftigten diese Erfahrungen die enge Verbindung ihrer sozialen Identitäten und bürgerlichen kulturellen Prägungen mit der Konstruktion der Nation. Die Ansprüche auf gesamtgesellschaftliche Verbindlichkeit, die sie daraus ableiteten, ließen sich jedoch schwerer denn j e durchsetzen. Überdies bewirkten außenpolitische Rahmenbedingungen und materielle wie mentale Kriegsfolgen, dass sich die Sicht der internationalen Wirtschaftsbeziehungen als Kampfplatz nationaler Gegensätze gegen kooperativere Denkweisen behaupten konnte. Das folgende Kapitel soll unter zwei Aspekten die Frage behandeln, wie sich in beiden Ländern der Zusammenhang von Nationsentwürfen und Nachkriegserfahrungen gestaltete. Erstens wird die Wahrnehmung und Deutung der jeweiligen innergesellschaftlichen Konstellation untersucht. Die Abgrenzung zum linksradikalen, internationalistischen Teil der Arbeiterbewegung war für die ökonomischen und administrativen Eliten hier wie dort von hoher sinnstiftender Bedeutung. In Deutschland und zunächst auch in Frankreich betrachteten sie zudem die Nachkriegszeit als eine Fortsetzung des militärischen Konflikts, in deren Mittelpunkt sie sich selbst und damit auch ihre bürokratischen, industriellen und bürgerlichen Identitäten rückten. Vor diesem Hintergrund ist nach den unterschiedlichen Rahmenbedingungen der Nachkriegszeit und ihren erfahrungsund deutungsgeschichtlichen Konsequenzen zu fragen: Welche Folgen hatten die Revolution und der tiefgreifende Legitimationsverlust der Staats- und Wirtschaftsordnung in Deutschland und die erfolgreiche antirevolutionäre Abwehr und politische Selbstbehauptung in Frankreich für die Konstruktion der Nation durch Industrielle und hohe Beamte? Wie verbanden sie sich mit der Erfahrung von Niederlage und innerer Krise bzw. von Sieg und schnellem Wiederaufbau? Und in welcher Relation standen diese kurzfristigen, exogenen
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Faktoren zu den jeweiligen längerfristigen und gruppenspezifischen Prägungen der ökonomischen und administrativen Eliten? Zweitens blieb die kriegsbedingte zentrale Bedeutung von Außenabgrenzungen für die Definition und Plausibilität der Nation nach 1918 erhalten. Die wechselseitige Beziehung von deutscher und französischer Identität war dabei noch wichtiger als zuvor. Besonders im besetzten rheinisch-westfälischen Industriegebiet nahm sie handfeste Formen an, die auch die persönliche Integrität und familiäre Intimität von Unternehmern und hohen Beamten betrafen. Dagegen spielten die Nachwirkungen des Krieges für die Selbstdeutung der französischen ökonomischen und administrativen Eliten zwar eine kaum weniger wichtige Rolle; es kam jedoch nicht zu der verlängerten bzw. sogar nachholenden Kampferfahrung, die für die Spitzen von Industrie und Verwaltung im Deutschland der frühen Weimarer Republik kennzeichnend war. Erneut sind hier die Auswirkungen dieser unterschiedlichen Konstellationen auf die Konstruktionsweisen der Nation zu untersuchen: Welche Folgen hatte es, dass der Krieg in Frankreich zwar einen zentralen erinnerungspolitischen Stellenwert hatte, aber durch die zügige Rekonstruktion und die relative innere Stabilitätsperiode an lebensweltlicher Brisanz verlor? Wie wirkte sich auf der anderen Seite die nachhaltige Verlängerung der Kriegserfahrung in weiten Teilen des Deutschen Reiches aus, die eng mit der Wahrnehmung einer tiefgreifenden Bedrohung des eigenen Status verbunden war? Gestaltete sich wegen dieser Unterschiede in Frankreich die staatliche Konsensstiftung durch die Nation erfolgreicher als in Deutschland? Lässt sich ein günstigeres Verhältnis von patriotischen Solidaritätsansprüchen und dem Grad ihrer realen Einlösung konstatieren? Dominierten hinsichtlich des Verhältnisses von nationalen und bürgerlichen Identitäten und der Akzeptanz bilateraler und internationaler Kooperation Gemeinsamkeiten oder Differenzen? Die Untersuchung dieser Fragen soll in vergleichender Perspektive die Beziehungen zwischen Nachkriegserfahrungen und politischen Ordnungsvorstellungen klären, die nach 1918 den gegensätzlichen Diskursen über Einheit und Grenzen der Nation zugrundelagen.
A. Identitäten in der Defensive: Deutungen der Nation im Deutschland der zwanziger Jahre Die Erfahrungen der Nachkriegsjahre verdichteten sich für die deutschen Industriellen und hohen Beamten zu einem einzigen Angriff auf ihre Werthaltungen und Interessen. Das galt für Revolution und Streikwelle ebenso wie für die Konfrontation mit Polen, Frankreich und Belgien und ihre konkreten Auswirkungen in den östlichen und westlichen Grenzgebieten des Reiches. Sie 196 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35168-1
reagierten darauf, indem sie sich an ihre bürokratischen, industriellen und bürgerlichen Identitäten klammerten und sie an die Konstruktion der Nation koppelten. Dadurch gelang es ihnen zwar, sich in der Komplexität der Nachkriegszeit zu orientieren und die eigenen Selbstbilder zu bewahren. Der Versuch, ihre nationalen Entwürfe zu verwirklichen, war jedoch in einer polarisierten politischen Kultur, in der die ökonomischen und vor allem die staatlichen Eliten erheblich an Autorität eingebüßt hatten, zum Scheitern verurteilt. 1. Die nachholende Kampferfahrung: Die Nachkriegszeit als nationale Krise In den frühen Jahren der Weimarer Republik waren Politik, Gesellschaft und Kultur von Krisen und Konflikten geprägt. Die in Grenzverschiebungen konkretisierte Niederlage, Revolution und sozialer Protest, Gegenrevolution und der Durchbruch eines völkischen Rechtsextremismus, Hunger und Inflation traten in rascher Folge auf und wurden von den Zeitgenossen kaum auseinandergehalten.1 1923 konnte der Zusammenbruch des Reiches zwar abgewendet werden, aber für eine Reihe von Regionen und sozialen Gruppen war die Nachkriegszeit damit nicht zu Ende. Auch sonst wirkten die Weichenstellungen der frühen Weimarer Republik unter der Decke der scheinbaren Stabilisierung fort, denn das politische Klima blieb polarisiert und von einem hohen Maß an Gewaltbereitschaft geprägt.2 Obwohl dieser allgemeine Befund inzwischen gut untermauert ist, sind viele Aspekte der Nachkriegskrise noch nicht hinreichend erforscht. Besonders ihre Einordnung in die Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ist nach wie vor offen. Martin H. Geyer hat die »verkehrte Welt« der Revolutions- und Inflationsjahre untersucht, in der hergebrachte materielle und ideelle Werte in kurzer Zeit an Geltung verloren und durch neue Orientierungen ersetzt wurden.3 Dieses Ergebnis steht in einem Spannungsverhältnis zu Arbeiten, die statt massenkulturell bedingter Auflösung eine Verfestigung und Stärkung der sozialmoralischen Milieus in der Weimarer Republik konstatieren.4 Für das Bürgertum ist die These formuliert worden, dass unter dem Banner des Nati1 Vgl. die neueren Gesamtdarstellungen von Kolb, S. 1-54; H. Mommsen, Aufstieg, S. 35-218; Peukerty S. 32-86; Winkler, Weimar, S. 33-243 sowie Feldman, Disorder. 2 Vgl. mit unterschiedlichen Akzenten Fritzsche, Germans; Lehnert/Megerle (Hg.); Weisbrod, Gewalt; Wirsching. 3 M.H.Geyer. 4 Vgl. zusammenfassend F. Walter; mit demselben Befund, aber kritischerer Bewertung Tenfelde, Milieus, S. 261 f.; neuere Regionalstudie: Weichlein, Sozialmilieus. Das Forschungskonzept der sozialmoralischen Milieus und die These ihrer Erosion in der Weimarer Republik ist entwickelt worden von Lepsius, Parteiensystem.
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onalismus eine »nachholende Milieubildung« stattgefunden habe.5 Führt man sich die tiefen kulturellen Gegensätze in der Weimarer Republik vor Augen, schließen sich beide Befunde nicht unbedingt aus. Neue Erfahrungen können, müssen aber nicht mit neuen Einstellungen und Sichtweisen einhergegangen sein; a priori kann auch das Gegenteil gegolten haben. Im folgenden geht es um die Frage nach Wandel oder Kontinuität der Wertvorstellungen und Deutungsmuster von Industriellen und hohen Beamten in der Nachkriegszeit. Die administrativen und ökonomischen Eliten waren vom Legitimitätsverlust der Staats- und Wirtschaftsordnung unmittelbar, z.T. sogar physisch betroffen. Durch Revolution und Protestbewegung, Staatsinterventionismus und Bürokratiekritik sahen sie sich auch auf ideeller Ebene massiv attackiert. Daher erschien es plausibel, die eigenen Erfahrungen in das Zentrum der nationalen Krise zu rücken. Die Industriellen reagierten darauf, indem sie einem als feindlich wahrgenommenen gesellschaftlichen Klima die Leitwerte »Arbeit« und »Ordnung« entgegensetzten. Die hohen Beamten kämpften verzweifelt gegen den eigenen Autoritätsverlust an und fanden besonders ausgeprägt in den neuen ostelbischen Grenzgebieten - im Nationalismus Orientierung und Selbstbestätigung. In beiden Fällen waren die Krisendeutungen bürgerlich geprägt. Zunächst wird erörtert, wie die Industriellen Revolution und Aufstandsbewegungen, individuelle und gesellschaftliche Krise wahrnahmen und mit welchen Feindbildern, politischen Vorstellungen und Narrativen sie darauf reagierten. Anschließend soll untersucht werden, mit welchen Erwartungen die hohen Beamten in die Nachkriegszeit gingen und wie sich ihre Erfahrungen dazu verhielten; nur so lässt sich die enge Verbindung politisch-sozialer und ethnischer Feindbilder interpretieren, die die Wahrnehmungen von Regierungspräsidenten und Landräten durchzog. Für die Frage nach dem Verhältnis von administrativer Identität und Nationalismus liefern die zu Grenzregionen gewordenen ostelbischen Gebiete interessante Fallbeispiele. Zum Schluss wird das Verhältnis von Krisendeutungen, Bürgerlichkeit und dem Kampf der hohen Beamten um Anerkennung analysiert. Als der Ausbruch der Revolution im November 1918 das Ende des Kaiserreichs besiegelte, hatten die ökonomischen und administrativen Eliten zunächst Grund zu der Annahme, ihre gesellschaftliche Machtposition in ein erneuertes Deutschland retten zu können. Die höhere Beamtenschaft wurde von der mehrheitssozialdemokratischen Politik weitgehend unbehelligt gelassen und konnte daher Fachkompetenz und bürokratisches Ethos in die Gestaltung 5 So.Matthiesen,Massenbewegung, S.320;vgl.auchders., Radikalisierungen;ders., Bürgertum; Lösche/Walter, S. 478f.; Bieben Koshar, S. 126-166; Fritzsche, Germans, S. 126-136; ders., Rehearsals, S. 75-92; Schumann sowie das Urteil von Klaus Tenfelde, dass sich »in der Wahrnehmung der Menschen die Klassenkluft zwischen Arbeitern und Bürgern nach 1918 eher noch vertieft« habe; ders., Milieus, S. 262.
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der Übergangsperiode einbringen. 6 Die Großindustriellen hofften, mit der Gründung der Zentralarbeitsgemeinschaft die Gefahr von Sozialisierungsmaßnahmen vorerst gebannt und damit ihren Leitbildern und Interessen Geltung gesichert zu haben. 7 Diese glimpfliche Bilanz verschlechterte sich jedoch bereits in der zweiten Revolutionsphase seit Dezember 1918 drastisch. Die Spartakistenaufstände läuteten eine heterogene soziale Protestbewegung ein, mit der sich die ökonomischen und administrativen Eliten ideell und gewaltsam konfrontiert sahen. 8 Aus ihrer Perspektive lief dies auf eine nachholende Kampferfahrung hinaus, welche die diskursive Ausgrenzung der linksradikalen Arbeiterschaft aus der Nation plausibel machte. Ruhrindustrielle wie Stinnes oder Thyssen wurden von den Aufständischen inhaftiert, wobei der kränkende Vorwurf hinzu kam, Deutschland an die Entente verkauft zu haben. 9 Ihr Kollege Paul Reusch empfand im Februar 1919 den »Terror der Spartakisten« als eine Fremdherrschaft, die das Haupthindernis einer wirtschaftlichen Erholung darstellte.10 Ein früherer Fabrikdirektor aus Stuttgart warnte die württembergische Regierung vor Unruhen, von deren Planung durch Spartakisten und USPD er zu wissen glaubte, und versicherte, dass »wir alten gedienten Soldaten aus den Jahrgängen ab 1885 der Staatsregierung auf Aufruf jeder Zeit zur Verfügung stehen.«11 Die Aufstandsbewegung im Ruhrgebiet im Frühjahr 1920 spitzte die Gewaltwahrnehmungen der Nachkriegsjahre zu. Das revitalisierte bürgerliche Schreckensbilder der aufrührerischen und brutalen Unterschichten. Ein Dinslakener Industrieller wurde ermordet, angeblich nachdem er gezwungen worden war, Rüben aus einem Schweinetrog zu essen.12 Nach einer anderen Version ließen sich die beteiligten Rotgardisten vor dem Mord in symbolischer Umkehrung der gesellschaftlichen Hierarchie von der Ehefrau des Opfers bedienen; anschließend wurde der Leichnam tagelang zur Schau gestellt, um von der Bevölkerung verhöhnt zu werden. 13 Unabhängig von Realitätsgehalt und Repräsentativitätsgrad wirkten 6 Vgl. Kluge, S. 79-82; für die Staatssekretäre Eiben. 1 Vgl. Kluge, S. 72fT.; Feldman, Origins; ders./Steinisch. 8 Vgl. Kluge, S. 83-137; W.J. Mommsen, Revolution. 9 Verhaftung Thyssen-Stinnes. Öffentliche Erklärung, M-A, R 1 3503; zu Verhaftungen von Industriellen durch Spartakisten vgl. auch Polizcivcrwaltung Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, 12.4.1919, HStAD, RD, 15974, Bl. 253ff. 10 Paul Reusch an Robert Bosch, 6.2.1919, RBA, 14/101. 11 Oscar Pfaelzer, Fabrikdirektor a.D. Stuttgart an Württembergische Staatsregierung, 8.4.1919, HStASt, Ε 130a, Bü 195, Qu 39. 12 Landrat von Dinslaken an Regierungspräsident von Düsseldorf, 10.4.1920, HStAD, RD, 15980, Bl. 11-16. 13 Bürgermeister von Dinslaken an Regierungspräsident von Düsseldorf, 20.4.1920, HStAD, RD, 15978, Bl. 48-53; vgl. auch Arbeitgeber-Verband von Benrath, Reisholz, Hilden und nächster Umgebung an Regierungspräsident von Düsseldorf, 13.4.1920, HStAD, RD, 15980, Bl. 14-18, zu Gefangennahmen und physischen Bedrohungen von Unternehmern; zum Hintergrund vgl. Feldman, Großindustrie.
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solche Horrorerzählungen als Phantasmen weiter. Sie standen im Kontext schmerzlicher Defensiverfahrungen des Bürgertums, die seine kollektive Identität eher verfestigten als schwächten.14 Ihre Revolutions- und Streikerfahrungen betteten die Industriellen in die Wahrnehmung einer umfassenden gesellschaftlichen, kulturellen und nationalen Krise ein, die sie mit Hilfe einiger schlichter Dichotomien deuteten.15 »Zerrissenheit« und »Unordnung« waren Leitbegriffe eines Diskurses, der in immer neuen Auflagen um die tiefen Konflikte und den Umbruchscharakter der Nachkriegszeit kreiste;16 die Werkszeitung der Firma Henkel sah im Januar 1919 überall »Trümmer und kämpfende, eifernde Menschenknäuel«.17 Hinzu kamen moralische Kategorien, mit denen »Vergnügungs- und Genußsucht« konstatiert und in einen allgemeinen Trend zur »Verweichlichung« eingeordnet wurden.18 Der Topos vom nationalen Zusammenbruch gewann seine Plausibilität nicht zuletzt vor dem Hintergrund individueller Schicksale, denen er umgekehrt einen übergeordneten Sinn verlieh. Eine Reihe von Nekrologen führte den Tod von Industriellen - ob zu Recht oder zu Unrecht - neben allgemeinen gesundheitlichen Gründen auf das bittere, an der Konstitution zehrende Erlebnis der Nachkriegskrise zurück.19 Hinzu kam, dass die intensive Arbeit während des Krieges und die unerwarteten Anforderungen der Revolutionszeit nicht selten als äußerst strapaziös empfunden wurden. Robert Bosch, der im Rückblick seine Physis »durch...den starken Verbrauch der Nerven...auf lange Dauer schwer geschädigt« sah,20 war schon im eigenen Unternehmen kein Einzelfall: Einer seiner Direktoren verbrachte das Jahr nach Kriegsende in einer Nervenheilanstalt, um anschließend einer Lungenentzündung zu erliegen; ein Vorstandsmitglied erlitt als Folge der Nachkriegsbelastungen einen tödlichen Herzinfarkt.21 Die Thematisierung von individueller Krankheit und Erschöpfung trug dazu bei, dass sich die Industriellen in das Zentrum der Nachkriegskrise rückten und zu ihrem eigentlichen Opfer erhoben, das sich in Einstellungen und Werthaltungen von allen Seiten angegriffen sah. Zu den Akteuren dieser Anfechtung gehörte neben der Arbeiterschaft und den Alliierten auch der Weimarer Staat, dessen vermeintlicher Hang zum Interventionismus ihm in der Unter14 Vgl. u.a. Fritzsche, Germans, S. 126-136; ders., Rehearsals, S. 75-92; Matthiesen, Radikalisierungen; ders., Bürgertum. 15 Zur Krise der moralischen Ordnung in der Nachkriegszeit vgl. Bessel, Germany, S. 220-253. 16 Blätter vom Hause 5 (1918), S. 692 und 6 (1919), S. lf.; ähnlich Ehrhardt, S. 109. 17 Blätter vom Hause 6 (1919), S. 25f. 18 Ebd., S. 193f.; ähnlich z.B. Wirtschaft und Verkehr 1 (1923), S. 1ff. 19 MW-Rundschau 1 (1920), S. 3-6; Suhl und Eisen 39 (1919), S. 958ff.; Festschrift aus Anlass desfünfzigjähngen Bestehens der Wayß & Freytag A.-G. 1875-1925, S. 54. 20 Robert Bosch, Fortsetzung des Aufschriebs meiner Lebenserinnerungen, begonnen am 22. Mai 1930, RBA, 14/7. 21 Vgl. Debatin, S. 53, 57ff.
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nehmerschaft weithin Ablehnung und aktive Gegnerschaft einbrachte.22 Auch das trug zur Verlängerung der Kriegserfahrung bei, denn selbst im vergleichsweise ruhigen Württemberg wurde nicht der Waffenstillstand, sondern erst die Rückkehr zur unternehmerischen Freiheit mit dem faktischen Ende der staatlichen Zwangswirtschaft 1920 als Beginn der Friedenszeit wahrgenommen.23 Diese selbstbezogene Perspektive, die bereits in der Vorkriegszeit für die kollektiven Einstellungen der Industriellen konstitutiv gewesen war, stützte die enge Parallelisierungvon individueller, gruppenspezifischer und nationaler Krise. Die Bedrohung durch äußere Gegner wirkte nicht nur fort, sondern wurde von der Unternehmerschaft, die mehrheitlich nicht an der Front gestanden hatte, sogar direkter und massiver erfahren oder zumindest imaginiert als während des Krieges. Durch die Streik- und Protestwelle in die Defensive gedrängt, glaubten die Industriellen überall die subversive Aktivität russischer Agenten zu erkennen. Die Wahrnehmung der Inflationsfolgen ging mit der Angst vor einer »Überschwemmung Deutschlands mit Ausländern« einher, die »alles, was nicht niet- und nagelfest ist, aufkaufen und über die schlecht bewahrte Grenze schleppen.«24 Derartige Phobien waren naheliegenderweise in den grenznahen Gebieten besonders ausgeprägt. Im rheinisch-westfälischen Industriegebiet erschien der reparationspolitische Dauerkonflikt erschreckend konkret, weil er mit der Drohung und schließlich realen Erfahrung der alliierten Besatzung verbunden war.25 Für die oberschlesische Bergbauindustrie schlug sich 1919 der Konnex von sozialer und nationaler Frage in der Absetzung deutscher Direktoren durch die polnischen Belegschaften nieder.26 Dass der bevorstehende deutsche Rückzug ein Vakuum bis zur Besetzung durch die Entente zu hinterlassen drohte, verschlimmerte die Situation noch, weil »bolschewistische Agitatoren, Schmuggler, Schleichhändler und andere unlautere Elemente« die Gelegenheit zum Eindringen nutzen würden.27 Äußerungen dieser Art belegen, wie sehr sich die Industriellen in den Nachkriegsjahren subjektiv in einer Defensivposition und hilflosen Abwehrhaltung gegenüber inneren und äuße22 Die ablehnende Haltung der meisten Unternehmer zum sozialrcformerischen Trend der Nachkriegszeit und zur Weimarer Republik generell ist in zahlreichen Studien herausgearbeitet worden und bedarf daher keiner erneuten Behandlung; vgl. den Überblick von Blaich sowie als Zusammenfassung verschiedener Arbeiten des Autors Feldman, Politische Kultur. 23 Vgl. Hopbach, S. 257ff. 24 Rheinische Wirtschaftszeitung der Handelskammer zu Düsseldorf 19 (1922), S. 3; zur Angst vor russischen Agenten ebd., S. 1; mit ähnlichem Tenor: WI 10,2 (Juli-Dezember 1919), S. 182. 25 S.u., Kap. III.A.2. 26 Oberschlesischer Berghüttenverein an Preußischer Ministerpräsident, 19.4.1919, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 100, Bl. 26. 27 Oberschlesischer Berg- und Hüttenmännischer Verein an Minister des Innern, 8.7.1919, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 100, Bl. 25f; ähnlich die Angst vor Polen und Spartakisten in: Richard Friedländer, Generaldirektor (Oppeln), Bericht vom 5.6.1919, GStA PK, Mdi, HA I, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 100, Bl. 139ff.
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ren Feinden sahen, die ihren betrieblichen Herrschafts- und Identitätsraum ebenso bedrohten wie ihr Verständnis der Nation. Auf den Generalangriff der Nachkriegszeit reagierten die Unternehmer, indem sie ihre hergebrachten Leitbilder nicht etwa aufgaben oder abschwächten, sondern weiterhin und in um so kompromissloserer Form verfochten. Arbeit und Ordnung waren die tragenden Elemente ihres Normenhaushalts, die sie nicht müde wurden, der gesamten Nation als Orientierungsmaßstab anzuempfehlen. Wenn »Arbeitsunlust« als zentrales Krisensyndrom verstanden wurde, auf das sich die Protestwelle der Nachkriegszeit reduzieren ließ, schien die Lösung aller gesellschaftlichen Konflikte einfach zu sein und allein vom guten Willen der Arbeiterschaft abzuhängen. Da die entsprechenden Appelle nicht den gewünschten Erfolg zeitigten, erhoben die Unternehmer den Vorwurf, die Erfüllung der patriotischen Pflicht zu verweigern 28 und die Existenz Deutschlands aufs Spiel zu setzen: »Entweder wir bleiben bei der Arbeit und schaffen uns Lebensmittel, oder wir gehen zu Grunde.« 29 Dass die Bilanz der propagandistischen Verfechtung unternehmerischer Arbeitsethik eher bescheiden ausfiel, zumal im Vergleich mit den daran geknüpften Erwartungen, hinderte die Industriellen nicht daran, sie unermüdlich fortzusetzen. Durch »deutscher Hände deutsche, zähe Arbeit« zum Wiederaufstieg zu gelangen, 30 war ein Leitbild, dessen Attraktivität daraus resultierte, dass es herkömmliche unternehmerische Wertvorstellungen aufvertraute Weise mit einer nationalen Legitimation versah und so in der ungewohnt komplexen Welt der Nachkriegsjahre Orientierung, Sinngebung und Zukunftshoffnung ermöglichte. Es ließ sich gleichermaßen aufVolk, Industrie und Betrieb anwenden und deshalb in teilweise naiv anmutender Form mit den eigenen Wunschbildern und Interessen vereinbaren. 1925, als die konjunkturelle Entwicklung wieder Anlass zu Optimismus gab, hieß es in der Festschrift einer Maschinenfabrik: »... wenn einst deutsche Arbeit und deutscher Wagemut wieder Geltung haben werden in der Welt, dann werden hierzu nicht an letzter Stelle beigetragen haben auch unsere Erzeugnisse, die Fein-Fabrikate.«31
Es war die Kehrseite der erfolgreichen Selbstaufwertung durch ein national überhöhtes Arbeitsethos, dass es den Industriellen nicht gelang, eine Rhetorik zu entwickeln, die zur Vertretung der eigenen Anliegen gegenüber einer selbstbewussten Arbeiterschaft geeignet gewesen wäre. Stattdessen blieben sie in einem dem 19. Jahrhundert entstammenden Ideenhaushalt stecken, der so un28 Vgl. z.B. 25Jahre Handelskammer Coburg 1896-1921, S. 19; Verein Deutscher Holzstoff-Fabrikanten e.V., S. 103. 29 So Hugo Stinnes in der Verhandlung der Arbeitsgemeinschaft Essen, 14.3.1920, M-A, Ρ 1 25 33. 30 Blätter vom Hause 6 (1919), S. 25f. 31 C.& E. Fein Stuttgart, S. 77; für eine ähnliche Parallelisierung von unternehmerischer und nationaler Arbeit AG 11 (1921), S. 85f.
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verzichtbar für die eigene Orientierung in der Krisenperiode der Nachkriegszeit wie hinderlich für ein Agieren unter demokratischen Bedingungen war. Dieses Dilemma lässt sich auch am Gebrauch des Ordnungsbegriffs verdeutlichen, der ebenfalls dazu diente, die Erfahrungen der Nachkriegszeit mit Hilfe eines simplen dichotomischen Deutungsmusters verstehbar zu machen. Die Klage über »Unordnung« und der Ruf nach »innerer Ordnung« gehörten zu den verbreitetsten Topoi unternehmerischer Äußerungen, und zwar auch bei der vergleichsweise liberalen württembergischen Industrie. 32 Dass der Wunsch, »schnell herauszukommen aus diesem Wirrwarr«, vorerst unerfüllt blieb, bewirkte bereits frühzeitig, dass die Hoffnung auf eine ordnungsschaffende und einheitsstiftende Führerfigur laut wurde. 33 Der Schwerindustrielle Paul Reusch äußerte die Überzeugung, dass das deutsche Volk »einen großen Mann, einen zweiten Bismarck« brauche, »der es aus dem Sumpf heraushebt, in dem es gegenwärtig steckt« und fügte hinzu, die Hoffnung noch nicht aufgegeben zu haben, »dass uns dieser Messias eines Tages noch kommen wird.« 34 Mit seinem Brief argumentierte Reusch gegen ein Programm zur nationalen Erneuerung, das sein Freund Robert Bosch mitverfasst hatte. In ihm wurde zwar ebenfalls eine misstrauische Haltung gegenüber den Parteien deutlich, deren Herrschaft der Appell an Gemeinschaftsgefühl und Wiederaufbaustreben gegenübergestellt wurde. Im Unterschied zur Haltung nahezu aller Unternehmer war es jedoch um eine Integration der Arbeiterschaft bei partieller Offenheit gegenüber sozialistischen Forderungen bemüht. 35 Bosch orientierte sich in seinen Ideen zur Überwindung von Klassenkluft und nationaler Zerrissenheit an Amerika und seiner demokratischen Mentalität. 36 Dem deutschen Bürgertum warf er vor, einen »kläglichen Mangel an sozialer Gesinnung« gezeigt zu haben;37 er selbst sprach sich immerhin für die Beibehaltung des Achtstundentags aus.38 Sein Beispiel zeigt, dass reformoffenere Varianten der Suche nach Wegen aus der Nachkriegskrise denkbar waren; Bosch blieb jedoch unter den Industriellen ein Einzelfall. Die Gesellschaftsbilder und Werthaltungen der ökonomischen Eliten stützten sich auf ihre Erinnerung an die jüngste Vergangenheit, deren narrative Vergegenwärtigung sie umgekehrt präformierten. Die Geschichte vom jahrzehntelangen Aufstieg der deutschen Industrie nach 1870/71 wurde nicht nur fortgeschrieben, sondern erschien vor der Folie der Nachkriegserfahrungen in um so lichteren Farben. Demgegenüber wurde der Krieg in Unternehmens32 Verband Württembergischer Industrieller an provisorische Regierung, 20.12.1918, HStASt, Ε 130a, Bü 195, Qu 5. 33 Blätter vom Hause 6 (1919), S. lf.; vgl. allg. Schreiner. 34 Paul Reusch an Robert Bosch, 10.8.1919, RBA, 14/101. 35 Rundschreiben und Richtlinien für ein Programm (Juli 1919), RBA, 14/101. 36 Bosch, Frieden; vgl. Scholtyseck, Robert Bosch, S. 49-86. 37 Robert Bosch an Walther Rathenau, 12.12.1918, RBA, 14/59. 38 Der Bosch-Zünder 3 (1921), S. 1-4.
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festschriften und Werkszeitungen als abrupter Einschnitt und schwierige, aber eindrucksvoll bestandene Bewährungsprobe erzählt. Im Vordergrund stand dabei der Beitrag des jeweiligen Unternehmens zur Rüstungsproduktion, der es erlaubte, Patriotismus und Eigeninteresse retrospektiv zu synonymisieren.39 Eine Betonbaufirma konnte auf zahlreiche öffentliche Aufträge in den besetzten Gebieten zurückblicken, die sie »bis zur Grenze ihrer Leistungsfähigkeit« beschäftigt hatten, so dass sie im Bewusstsein der nationalen Bedeutung ihrer Tätigkeit von sich sagen konnte, dank besonderer »Rührigkeit« hohe Dividenden erwirtschaftet zu haben.40 Zu den Aktivitäten, deren Thematisierung die unternehmerische Kriegserinnerung durchzog, gehörte an zentraler Stelle auch das Engagement in der Kriegsfürsorge in Form von Paketen für die Werksangehörigen an der Front, der Versorgung ihrer Familien oder der Einrichtung von Lazaretten.41 Viele Firmen ehrten zudem die Gefallenen aus ihrer Belegschaft, indem sie auf dem Betriebsgelände Denkmäler oder Gedenktafeln errichteten.42 Stets verband sich damit die Intention, über die Toten an die Gegenwart zu appellieren und zur Abkehr von sozialen und politischen Konflikten aufzurufen. In der Mahnung, ein »einiges, tätiges, deutsches Volk« zu sein, perpetuierte die Kriegserinnerung die nationale Selbstaufwertung der Industriellen und ihres paternalistischen Normenhaushalts.43 Sie hielt die Hoffnung wach, dass die Arbeiterschaft wieder Einsicht zeigen und zur vermeintlichen willigen Unterordnungsbereitschaft der Kriegsjahre zurückfinden würde. Dadurch verhinderte sie, dass die in der Nachkriegszeit erschreckend aktuell gewordene negative Variante bürgerlicher Unterschichtenstereotypen den Traum einer hierarchischen Überwindung aller Klassengegensätze dementierte. Sie trug so dazu bei, eine Öffnung hin zur Anerkennung und kooperativen Austragung von Interessengegensätzen in einer pluralistischen Gesellschaft nachhaltig zu erschweren. Stattdessen fuhren die Industriellen fort, auf Appelle zur nationalen Einheit zu setzen; deren prinzipielle Wirksamkeit in Zweifel zu ziehen, war außerhalb ihres Denkhorizonts. Die Erfahrung der Nachkriegsjahre und ihre Deutung in den Kategorien einer nationalen Krise gestaltete sich für die hohen Beamten in vieler Hinsicht ähnlich wie für die Industriellen.44 Sie trug jedoch auch spezifische Züge, die 39 Vgl. z.B. Stettiner Chamottefabrik Aktiengesellshaft vormals Didier, S. 21f, 35; Matschoß, S. 87, 269. 40 Festschrift aus Anlass desfünfzigjährigen Bestehens der Wavß & Freytag A.-G. 1875-1925, S. 47f 41 Vgl. z.B. Werden & Wirken. Henkel & Cie., S. 34-37. 42 Ebd., S. 201f.; Werkzeitung der Badischen Anilin- & Soda-Fabrik Ludwigshafen a/Rh. 12 (1924), S. 81f.; Borsig-Zeitung 4 (1927), S. 131; verbreitet war auch die Veröffentlichung der Namen der Gefallenen in Werkszeitungen, vgl. z.B. Der Bosch-Zünder 1 (1919), S. 5f. 43 Gedenkbuch, S. 57. 44 Die distanzierte Haltung der hohen Beamtenschaft zur Weimarer Republik ist von der Historiographie immer wieder betont worden und braucht hier nicht erneut dargestellt zu werden; vgl. als Überblick Fenske, Beamtentum.
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im schmerzlichen Kontrast zur Utopie einer nationalistischen Ordnung als Grundlage bürokratischer Machtentfaltung standen, die während des Krieges in unterschiedlichen Varianten formuliert worden war. Das lässt sich exemplarisch am letzten Bericht der Provinzialverwaltung Kurland verdeutlichen, deren Protagonisten bis über den Waffenstillstand hinaus engagiert versucht hatten, »das Land durch eine segensreiche Verwaltungstätigkeit über die Wirkungen des Krieges hinweg zu neuem Leben zu bringen.« Aus diesem Paradies administrativer Selbstverwirklichung wurden sie durch die Niederlage gerissen, die sie sich nur damit erklären konnten, dass die deutsche »Kraft erschöpft« sei. Die unerträgliche Erkenntnis, dass ihre jahrelange Arbeit umsonst gewesen war, leugneten die Bürokraten zugunsten der Überzeugung, dass die neugeknüpften Bande zu Deutschbalten und Letten Bestand haben würden.45 Der Kontrast der Nachkriegserfahrungen der hohen Beamten zu ihren hochgespannten Erwartungen fiel um so ernüchternder aus, als sie sich mit einer umfassenden Legitimationskrise der staatlichen und kommunalen Bürokratie konfrontiert sahen, die sie in vielfältiger und konkreter Weise zu spüren bekamen, aber kaum jemals als solche reflektierten.46 Der spartakistischen Herausforderung standen sie überfordert, teilweise sogar regelrecht hilflos gegenüber, wie das Beispiel des bereits mehrfach erwähnten Düsseldorfer Oberbürgermeisters Adalbert Oehler zeigt. Dieser flüchtete sich vor den Revolutionären in den linksrheinischen Stadtteil Oberkassel, begab sich also unter den Schutz der belgischen Besatzer, womit er sich in der Stadt völlig diskreditierte. Als er einige Tage später zurückkehrte, wurde er von den Spartakisten verhaftet und nach Hamborn verbracht.47 Oehler beschrieb die Herrschaft des Arbeiterund Soldatenrats als einen völligen Umsturz von Recht und Ordnung, der den Werthorizont des kommunalen Spitzenbeamten unterminierte - unter anderem deshalb, weil »überhaupt keine rechtmäßige und geordnete Polizei mehr«48 bestand - und in der massiven Verletzung seiner persönlichen Integrität gipfelte. Über seine Verstörung, die sich in Gefühlen von »Unruhe, Qual und Pein« niederschlug, tröstete er sich hinweg, indem er sie der »Not des ganzen deutschen Vaterlandes« gegenüberstellte, vor der das einzelne Schicksal verblasse. Die Krise der Nation war die Rahmenhandlung für seine individuelle Nieder45 IX. Verwaltungsbericht der Provinzialvenvaltung Kurland (Schtussbericht), Dezember 1918, Zitate S. 6, 43. 46 Vgl. Bessel, State. 47 Oberbürgermeister von Düsseldorf an Minister des Innern, 5.6.1919, GStA PK, Mdl, HA 1, Rep. 77, Tit. 3470, Nr. 1, Bd. 7, Bl. 127-130; zur Flucht Oehlers vgl. Hüttenberger, Industrie- und Verwaltungsstadt, S. 287; allg. zur Revolution in Düsseldorf vgl. ebd., S. 277-294; Nolan, Social Democracy, S. 269-300. 48 Oberbürgermeister von Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, 10.1.1919, HStAD, RD, 15096, Bl. 8; ähnlich Oehlers Rede am 26.11.1918, Stenographische Vcrhandlungsberichte der Stadtverordneten-Versammlung zu Düsseldorf 1918, S. 121.
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lage; die Hoffnung auf ihren Wiederaufstieg eröffnete auch Oehler selbst die Perspektive einer erfreulicheren Zukunft.49 Nicht für jeden hohen Beamten war die Konfrontation mit den Spartakisten gleichbedeutend mit der Erfahrung eigener Schwäche. Sie bot im Gegenteil auch die Chance zur heroischen Selbstbehauptung, wenn etwa der Duisburger Oberbürgermeister Karl Jarres seine wiederholte Weigerung, die rote Fahne in die Hand zu nehmen und einem Demonstrationszug voranzutragen, mit Schlägen auf den Kopf, zerrissenen Kleidern und einer spontanen Wohnungsdurchsuchung bezahlte.50 Wieder anders lag der Fall des Oberbürgermeisters von Stuttgart, der von sich aus zu einer zurückhaltenden Linie tendierte, aber von einer Deputation aus Bürgerkreisen zur Konsequenz gegenüber dem »vaterlandslosen Treiben der Unabhängigen und Spartakusleute« gedrängt wurde.51 Alle diese unterschiedlichen Varianten der Konfrontation hoher Beamter mit der Radikalisierung der Revolution wurden von ihnen als eine spezifische, aus der eigenen Perspektive sogar zugespitzte Form der Kriegserfahrung wahrgenommen. Das ermöglichte es, ihren Werthaltungen über Jahre hinaus eine nationale Überhöhung zu verschaffen, die zwar das notorische Negativimage der Bürokratie nicht verbessern konnte, aber zumindest zur Selbstvergewisserung und Sinnstiftung diente. 1928 hieß es im Organ des Landesverbands der höheren Beamten Sachsens: »Es muss hier einmal auf die Parallele zwischen dem Fronterlebnis des deutschen Soldaten und dem Revolutionserlebnis des Beamten hingewiesen werden.« 52 Es lag in der Konsequenz der Deutung der eigenen Revolutionserfahrung in den Kategorien einer nationalen Krise, dass die hohen Beamten geradezu obsessiv nach ausländischen Agitatoren forschten und sich verzweifelt bemühten, diese schwer fassbaren Konstrukte vom deutschen Territorium fernzuhalten. So sprach sich der Oberpräsident von Ostpreußen dafür aus, die Grenzen seiner Provinz abzuschütten, um der »Einschleppung des Bolschewismus« Vorschub zu leisten.53 Der Regierungspräsident von Düsseldorf sah die Ursache der Protestdisposition der Bevölkerung seines Bezirks zwar in Lebensmittelknappheit, Arbeitslosigkeit und Arbeitsunlust sowie in der »Nervenabspannung und Hemmungslosigkeit« infolge des Krieges, fügte aber hinzu, dass die »rege Tätigkeit zahlreicher zum Teil russischer, kommunistischer Agitatoren«
49 Oehler, S. 20. 50 Regierungspräsident von Düsseldorf an Minister des Innern, 14.1.1919, HStAD, RD, 15974, Bl 118ff. 51 Auszug aus dem Protokoll des Gemeinderats und Bürgerausschusses vom 10. Januar 1919, StASt, Β II 3, Bd. 1, Nr. 2, Fasz. 11. 52 Amt und Volk 2 (1928), S. 17ff. 53 Oberpräsident von Ostpreußen an Minister des Innern, 14.4.1919, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 20, Bl. 5.
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auslösend und verstärkend gewirkt habe.54 Nach der Aufstandsbewegung im Frühjahr 1920 fragte er bei den Oberbürgermeistern und Landräten an, ob ausländische Bolschewisten an den Unruhen beteiligt gewesen seien. Deren Antworten belegen, wie eng Revolutionsfurcht und die durch ethnische Stereotypen präformierte Panik vor äußerer Infiltration verbunden waren. Zwar konnten die Beamten keinerlei Beweise für die Präsenz von Ausländern unter den Aufständischen beibringen, gaben aber zu Protokoll, dass »Persönlichkeiten ausländischen Typs« oder »Personen typisch russisch-jüdischen Charakters« ausgemacht worden seien oder dass die aufgefundenen Leichen »sämtlich ausländischen Typus« zeigten.55 Hinter solchen Einschätzungen stand die - diskursive Kriegsprägungen fortschreibende - Unfähigkeit, die linksradikale Protest- und Gewaltbereitschaft als inneres Problem der deutschen Gesellschaft zu sehen. Der Polizeipräsident von Essen hatte keinerlei Zweifel an der Beteiligung von Russen am Aufstand und schloss daraus, dass ihm »von Ausländern.„der Boden geebnet« worden sei.56 In der Konsequenz dieser Grundhaltung lag auch das Misstrauen der Verwaltung gegenüber der »mit fremden Elementen, hauptsächlich Polen« vermischten Arbeiterbevölkerung mancher Ruhrgebietsstädte. 57 Dem Sterkradener Bürgermeister Otto Most bescherten die Demonstrationszüge aus dem benachbarten Hamborn eine doppelte Fremdheitserfahrung, weil die Teilnehmer kakophonische, bürgerliche Geschmackskonventionen verletzende Blechmusik spielten und »großenteils fremdvölkischer Herkunft« waren. 58 Auch ohne linksradikaler Neigungen verdächtig zu sein, wurde die polnische Bevölkerung von den hohen Beamten im Ruhrgebiet als gefährliche Bedrohung wahrgenommen. Diese Deutung stammte aus dem Kaiserreich, rückte aber nach dem Verlust der klassischen Territorien des Nationalitätenkampfes im ostelbischen Preußen, der die Feindschaft zu Polen zur außenpolitischen Konstante gemacht hatte, noch stärker in den Mittelpunkt bürokratischer Gesellschaftsbeobachtung. Das wurde um so schärfer empfunden, als sich die 54 Regierungspräsident von Düsseldorf an Minister des Innern, Entstehung und Verlauf der Unruhen im Jahre 1919, 5.5.1919, HStAD, RD, 15974, Bl. 334-349. 55 Oberbürgermeister von Essen an Regierungspräsident von Düsseldorf, 12.4.1920, HStAD, RD, 15980, Bl. 79; Oberbürgermeister von Oberhausen an Regierungspräsident von Düsseldorf, 10.4.1920, HStAD, RD, Bl. 107ff; Bürgermeister von Walsum (Rhein) an Regierungspräsident von Düsseldorf, 13.4.1920, HStAD, RD, Bl. 20f.; vgl. auch Oberpräsident von Münster, Halbmonatlicher Lagebericht, 1.7.1920, der berichtet, dass in Bochum »auffallend viele Leute von ausgesprochen russischem Typ« beobachtet worden seien, HStAD, RD, 15981, Bl. 48-51. 56 Polizeipräsident von Essen an Regierungspräsident von Düsseldorf, 11.4.1920, HStAD, RD, 15981, Bl. 122-125. 57 Regierungspräsident von Düsseldorf an Minister des Innern, Entstehung und Verlauf der Unruhen im Jahre 1919,5.5.1919, HStAD, RD, 15974, Bl. 334-349; ähnlich Regierungspräsident von Düsseldorf an Minister des Innern, 28.8.1920, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 327, Bl. 202. 58 Most, Drei Jahrzehnte, S. 26.
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Freude über die vermeintliche nationale Integration einer notorischen Problemminderheit, die während des Krieges den Tenor zahlreicher einschlägiger Verwaltungsberichte bestimmt hatte, nach 1918 auf drastische Weise als verfrüht erwies. Aus Sicht des Bochumer Polizeipräsidenten war die fordernde Haltung der Polen nun von einem »durch den Lauf der Verhältnisse bestärkten«, d.h. von der Warschauer Regierung unterstützten »Machtdünkel« geprägt und ließ nur den Schluss zu, dass sie trotz der Demokratisierungs- und Radikalisierungswelle der Revolutionsjahre »auf nationalpolnischem, dem Deutschtum durchaus abgeneigten Boden« standen. 59 Verschiedene Stimmen sahen eine Zunahme polnischer Agitations- und Organisationsbestrebungen, wobei solche Wahrnehmungen einerseits reale Entwicklungen widerspiegelten, andererseits aber auch durch die Anfälligkeit für ethnische Abgrenzungsdiskurse zu erklären sind. Darauf deuten die Unterschiede in den Einschätzungen der Verwaltungsbeamten hin: Während etwa aus Mülheim an der Ruhr berichtet wurde, dass trotz genauer Überwachung des polnischen Vereinslebens von einer nationalistischen Betätigung nicht gesprochen werden könne, 60 zeichnete die Düsseldorfer Polizeiverwaltung ein düsteres Bild, das die vorgängige Prägung durch Ressentiments und bürokratische Hilflosigkeitsgefühle verdeutlicht: »Die Vereine sind sämtlich politisch und verfolgen rein nationalpolnische, antideutsche Tendenzen. Im einzelnen läßt sich nicht feststellen, bei welcher Gelegenheit solche Tendenzen zum Ausdruck kommen. Es ist aber allgemein bekannt, daß namentlich in der gegenwärtigen Zeit die Anmaßung der Polen nicht nur im Osten, sondern auch hier im Westen ins Ungemessene steigt. Sie fühlen sich als Sieger und tun was sie wollen. Da alle nationalen Schutzbestimmungen aufgehoben sind, namentlich in vereinsrechtlicher Beziehung, besteht auch keine Handhabe, dem Größenwahn der Polen irgendwie ein nennenswertes Gegengewicht entgegenzustellen.« 61
Stand die Wahrnehmung der polnischen Bevölkerung durch die hohe Beamtenschaft im rheinisch-westfälischen Industriegebiet im Kontext der Konfrontation mit Revolution und Aufstandsbewegung, rückte sie in den mit einem Mal besonders exponierten ostelbischen Gebieten in den Vordergrund der ad59 Polizeidirektor von Bochum an Regierungspräsident von Arnsberg, 12.1.1920, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 327, Bl. 96ff. 60 Polizeiverwaltung Mülheim an der Ruhr an Regierungspräsident von Düsseldorf, 6.3.1920, HStAD, RD, 16021, Bl 15; ähnlich Polizeiverwaltung von Duisburg an Regierungspräsident von Düsseldorf, 18.6.1919, HStAD, RD, 15047, Bl. 14; Oberbürgermeister von Solingen an Regierungspräsident von Düsseldorf, 25.6.1919, HStAD, RD, 15047, Bl. 19. 61 Polizeiverwaltung Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, 11.3.1920, HStAD, RD, 15047, Bl. 17f.; im Tenor ähnlich Polizeipräsident von Bochum, Bericht über den Stand der Polenbewegung im Jahre 1919/20, 31.8.1920, HStAD, RD, 15047, Bl. 328-407. Eine Zunahme nationalpolnischer Bestrebungen konstatieren auch die Lageberichte des Oberpräsidenten von Münster aus dem Jahre 1920, HStAD, RD, 15981.
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ministrativen Nachkriegserfahrungen. 62 Der Landrat von Wirsitz in Posen musste im Juli 1919 seine Möbel vor den aufständischen Polen retten, die ihn zur Zielscheibe ihres Unmuts erhoben hatten, äußerte aber die Absicht, »trotz der mir persönlich drohenden Belästigungen auf meinem Posten auszuharren.«63 Seine militärische Wortwahl zeigt, wie sehr er sich in die vorderste Front eines gewaltsamen Nationalitätenkampfes gestellt sah, der ihn in handfesterer Weise involvierte als der Krieg selbst Es blieb ihm jedoch keine Gelegenheit, seinen patriotischen Widerstand fortzusetzen, denn sein Landkreis fiel wenige Tage später an Polen. Der Regierungspräsident von Bromberg sah sich gezwungen, den Abbau der Symbole preußisch-deutscher Herrschaft, der Denkmäler Friedrichs des Großen und Wilhelms L, zu veranlassen und war erkennbar um eine gefasste, würdige Haltung bemüht: »Beim Eintreffen der Polen werden die Landräte und ich den polnischen Machthabern die Amtsgeschäfte ähnlich wie sonst einem Amtsnachfolger übergeben.«64 Auch für den Regierungspräsidenten des oberschlesischen Oppeln war das Jahr 1919 in sehr konkreter Form von der deutsch-polnischen Konfrontation dominiert. Ihm oblag die schwierige Aufgabe der Ordnungswahrung in einer nervösen, von der Sorge, an Polen abgetreten zu werden, geprägten Stimmung. Die Grenze des Industriebezirks sah er durch permanente »Einfälle polnischer Banden« bedroht und rief daher nach militärischen Sicherungsmaßnahmen. Der Ertrag seines unermüdlichen Einsatzes im nationalen Kampf bestand in einer ideellen Aufwertung, die ihn die funktionale und legitimatorische Krise der Bürokratie verdrängen ließ: »Es gibt gegenwärtig wohl an keiner preußischen Regierung ein größeres Bedürfnis nach erfahrenen Verwaltungsbeamten, wie gerade hier, wo so außerordentlich viel von der Tätigkeit der Beamten abhängt.«65
Die Selbstbestätigungsrhetorik solcher Äußerungen konnte jedoch nicht überdecken, dass der deutsche Staat in den neuen Grenzgebieten einen tiefgreifenden Vertrauensverlust erfuhr, den auch das nationale Engagement der örtlichen Beamtenschaft nicht verhindern konnte. Die Bevölkerung des oberschlesischen Kattowitz gab dem mangelnden militärischen Schutz durch die Regierung die Schuld am Ausbruch des polnischen Aufstands und trug sich in großer Zahl mit Auswanderungsgedanken, von denen sie sich auch durch die Ermah-
62 Zum politischen Kontext vgl. Schattkowsky. 63 Landrat von Wirsitz an Regierungspräsident von Bromberg, 3.7.1919, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 1, Bl. 150f. (Hervorhebung im Original). 64 Regierungspräsident von Bromberg an Minister des Innern, 7.7.1919, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 13, Bl. 2-5. 65 Regierungspräsident von Oppeln an Minister des Innern, 8.7.1919, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 856, Nr 100, Bl. 162ff.; zum Gefühl der Bedrohung durch polnische Banden und ihre »Raub- und Mordlust« vgl. auch Regierungspräsident von Oppeln an deutsche Waffenstillstandskommission, 12.7.1919, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 100, Bl. 179f.
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nungen ihres Landrats zum Ausharren nicht abbringen ließ. 66 Ähnliche Sorgen hatte der Oberpräsident von Ostpreußen, der gegen nationale »Erregung« und ein Gefühl der Vernachlässigung durch das Reich anzukämpfen hatte, das sich in separatistischen Bestrebungen niederschlug. 67 Obwohl ihr Einfluss auf die Bevölkerungsstimmung begrenzt blieb, bot der Nationalitätenkampf den hohen Beamten an der polnischen Grenze auch in den folgenden Jahren vielfältige Möglichkeiten der patriotischen Betätigung. Sie konnten Überzeugungsarbeit bei den alliierten Kommissaren in Oberschlesien leisten, die Überwachung polnischer Organisationen auf deutschem Territorium koordinieren, die Lage der deutschen Minderheit in Polen verfolgen oder Propaganda betreiben.68 In der neugegründeten Miniprovinz Grenzmark Posen-Westpreußen kamen administrative Tätigkeit und Nationalismus dem eigenen Selbstverständnis nach sogar zu völliger Deckung. Ihre Existenz wurde damit gerechtfertigt, dass sie schon für sich genommen einen Gedächtnisort darstelle, weil in ihr die Traditionen der verlorenen Gebiete »gepflegt, erhalten und vertieft« würden; da ihre Bevölkerung auf dem Wege sei, sich zum »Grenzposten gegen die nachdrängende slawische Flut« zu entwickeln, müsse sie überdies aus nationalen Zukunftserwägungen erhalten bleiben.69 Mit diesem Argument beschwerte sich der Oberpräsident über die Tendenz, den Namen der Provinz auf »Grenzmark« zu verkürzen, weil dadurch ihr erinnerungspolitischer Zweck beeinträchtigt werde. 70 Daran störte er sich um so mehr, als er bemüht war, mit Hilfe der Polizei und einer aus »national zuverlässigen Persönlichkeiten« bestehenden Beamtenschaft den deutschen »Abwehrkampf« zu führen.71 Im Rückblick erzählte er eine Erfolgsgeschichte der Provinzgründung aus dem Geiste der heroischen Gegenwehr gegen den polnischen Aufstand. Der Aufbau der Verwaltung vollzog sich in einer umfunktionierten Kaserne, wo der Kampf gegen »Eisenbahnwagen voll ungeordneter 66 Landrat von Kattowitz an Reichs- und Staatskommissar für Schlesien in Breslau, 23.8.1919, GStA PK, MdL HA L Reo. 77, Tit. 856, Nr. 100, Bl. 266ff. 67 Oberpräsident von Ostpreußen an Auswärtiges Amt, 20.9.1920, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 256, Bl. 296; Oberpräsident von Ostpreußen an Minister des Innern, 17.11.1919, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 885, Nr. 11, Bl. l ff. 68 Landrat von Rybnikan Regierungspräsident von Oppeln, 22.9.1919, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 101, Bl. 90; Oberpräsident von Niederschlesien an Minister des Innern, 18.2.1921, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 4, Bl. 69f.; verschiedene Berichte aus den Jahren 1923 bis 1927 in: GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 459; Landrat von Lauenburg an Regierungspräsident von Köslin, 27.1.1920, GStA PK, Mdl, HAI, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 336, Bl. 38f. 69 Regierungspräsident von Schneidemühl an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildungjanuar 1922, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 13, Bl. 165-168. 70 Oberpräsident der Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen an Preußische Minister, 16.2.1928, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 15, Bl. 55. 71 Oberpräsident der Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen an Minister des Innern, 21.9.1925, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 336, Bl. 92f.
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Akten« aufgenommen wurde. Aufgrund unzureichender finanzieller Ausstattung und ständigen Personalwechsels gestaltete sich jedoch die Erfüllung der vielfältigen administrativen Aufgaben schwierig.72 Als das Innenministerium die Mittel für die kulturpolitische Arbeit des Grenzmarkdienstes strich, dessen informeller Vorsitzender der Oberpräsident lange Zeit selbst gewesen war, nahm er dies zum Anlass, noch einmal die eigenen Leistungen hervorzuheben: »Der einzig feste Punkt in dieser Erscheinungen Flucht bin ich gewesen.«73 Das Beispiel der Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen und ihres Oberpräsidenten verdeutlicht noch einmal, dass der Nationalitätenkampf an der Grenze zu Polen die Kriegserfahrung der Verwaltung perpetuierte, ja, sogar verschärfte. Damit war zwar eine Aufwertung und Sinngebung der eigenen administrativen Tätigkeit und gesellschaftlichen Stellung verbunden; die äußere Anerkennung durch den Weimarer Staat musste jedoch weit hinter den hohen Erwartungen zurückbleiben. Der bürokratische Nationalismus an der polnischen Grenze eröffnete nur einen partiellen Ausweg aus der Legitimationskrise der hohen Beamtenschaft, der zudem auf eine Minderheit ihrer Vertreter beschränkt blieb. Im verbandspublizistischen Selbstverständigungsdiskurs klafften der Anspruch auf nationale Geltung auf der einen und die Thematisierung von Statuseinbußen und materiellen Verlusten auf der anderen Seite auf schmerzliche Weise auseinander. Obwohl sie in der Revolution »auf ihrem Posten standgehalten« hatten, fanden sich die höheren Beamten in einem unerbittlichen Existenzkampf wieder, an dessen Ende mit fortschreitender Inflation das Schreckensbild »völliger körperlicher Verelendung« zu stehen drohte.74 Vor dem Hintergrund der Dauerkonfrontation mit den Alliierten wurde zwar dazu aufgerufen, wie zur Zeit der Befreiungskriege »den Volksgenossen in der Pflege des Staatsgedankens voranzugehen«, 75 offenkundig fehlte dazu aber das nötige öffentliche Prestige. Ihrem Selbstverständnis nach nahm die Beamtenschaft zwar immer noch eine zentrale Stellung in der Nation ein, weil sie eine »Klammer der Reichseinheit« darstellte, statt politischer Anerkennung erfuhr sie aber demütigende Einschnitte in Form von Beamtenabbau und unzureichender Besoldung. 76 Der Versuch, nationale Deutungsmuster heranzuziehen, um den eigenen Leitbildern und Interessen gesellschaftliche Akzeptanz und politische Berück72 Vortrag des Oberpräsidenten von Bülow in Fraustadt am 19. Juli 1926, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 14, Bl. 182-197. 73 Oberpräsident der Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen an Minister des Innern, 21.2.1928, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 15, Bl. 193ff. 74 Zeitschrift des Bundes höherer Beamter 1 (1919), S. 29ff.; ZRhB 3 (1921), S. 65fT. 75 ZRhB 2 (1920), S. 27. 76 ZRhB 5 (1923), S. 77f; ähnlich ebd., S. 65; zum beamtenpolitischen Kontext vgl. Fenske, Beamtenpolitik; Caplan, Government, S. 14-101.
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sichtigung zu sichern, war also mitnichten von Erfolg gekrönt, weil er sich gegen den tiefgreifenden Ansehensverlust der Bürokratie nicht behaupten konnte. Daraus wurde jedoch keineswegs der Schluss gezogen, herkömmliche Einstellungen aufzugeben oder auch nur in Frage zu stellen. Im Gegenteil hielten die hohen Beamten um so verbissener an ihnen fest, je weiter sie sich von der ersehnten Rückkehr zu ihrem früheren Status entfernten. Zu den schmerzlichen Folgen der materiellen Einbußen gehörte der - reale oder drohende Ausschluss vom bürgerlichen Lebensstil, der gerade dadurch noch an Wert gewann. Gesellschaftliche Verpflichtungen konnten nur noch mit großer Mühe wahrgenommen werden.77 Im erzwungenen Verzicht auf den gewohnten Sommerurlaub, »auch wenn er ärztlich angeordnet war«, konkretisierte sich in besonders spürbarer Weise die Verbindung von sozialer und gesundheitlicher Abstiegserfahrung.78 Auch der Anspruch, »Kulturträger« zu sein,79 stieß an enge Grenzen. Eine Beamtenfrau klagte: »Das Theater ist uns verschlossen; Konzerte hören wir vielleicht noch mal in der Kirche - wenn der Eintritt frei!«80 Das ungebrochene, wenngleich oft hilflos anmutende Festhalten am bürgerlichen Normenhaushalt lässt sich auch an den administrativen Versuchen zur Gestaltung der Kriegserinnerung nachweisen. So beschwerte sich der Landrat von Guben, dass am Volkstrauertag, als »tausende in ergriffenem Schweigen« der Toten gedachten, aus zahlreichen örtlichen Gaststätten »Jazzbandklänge und gröhlende [sie] Stimmen Angetrunkener« erschallten. Er stellte die Frage, ob es nicht möglich gewesen wäre, durch polizeiliche Verbote auf die Bevölkerung »erzieherisch zu wirken«, verband also bürgerliche Moralvorstellungen mit der Klage über die Grenzen, die der Weimarer Rechtsstaat ihrer administrativen Durchsetzung setzte.81 Erfreulicher fiel die Bilanz des Landrats von Flatow in der Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen aus, der stolz darauf verwies, dass es in seinem Kreis gelungen sei, nach intensiver Überzeugungsarbeit bei der Bevölkerung »eine Reihe wertvoller Kriegerdenkmäler« aufzustellen, die sich als »volkstümliche Kunstwerke« vorteilhaft von der üblichen »Fabrikware« unterschieden.82 Obwohl sich der Konnex von Nation und Bürgerlichkeit nur noch in Ausnahmefällen bürokratisch durchsetzen ließ, nahm er für die Identität der hohen Beamten auch in den zwanziger Jahren noch eine wichtige Stellung ein. 77 ZRhB 7 (1925), S. 31f. und 10 (1928), S. 167f. 78 ZRhB 7 (1925), S. 112f.; ähnlich ZRhB 9, Nr. 4 (April 1927), S. 52f. 79 ZRhB 2(1920),S. 13f. 80 ZRhB 7 (1927), S. 74f.; ähnlich ebd., S. 52f. 81 Landrat von Guben an Regierungspräsident von Frankfurt/Oder, 2.3.1926, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 4011, Nr. 3, Bd. 1. 82 Rede des Landrats von Flatow in: Preußischer Landtag, 2. Wahlperiode 1. Tagung 1925/26. Bericht des 23. Ausschusses (für die östlichen Grenzgebiete) über die Bereisung der Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen in der Zeit vom 19. bis 23. Juli 1926, Exemplar im GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 14, Bl. 225-245, hier Bl. 241f.
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Bereits wenige Monate nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs waren die utopischen Erwartungen an die Nachkriegszeit, die viele Industrielle und hohe Beamte noch kurze Zeit vorher formuliert hatten, der deprimierenden Wahrnehmung einer tiefen politischen, gesellschaftlichen und moralischen Krise gewichen. Wie bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert verbanden sich dabei die eigenen Selbstdeutungen und Leitbilder eng mit der Konstruktion der Nation. Die Revolution und die Welle gewaltsamer Unruhen rückten die ökonomischen und administrativen Eliten mit unvorgesehener, als strapaziöse physische Kampferfahrung empfundener Heftigkeit in das Zentrum des tiefgreifenden Legitimationsverlusts von Staat und Wirtschaftsordnung. Da sie sich auch auf kultureller Ebene massiv attackiert sahen, ihnen aber auf der anderen Seite keine alternativen Optionen der diskursiven Selbstbehauptung zur Verfügung standen, hielten sie um so erbitterter an ihren Werthaltungen und Ideen fest. Dazu gehörten »Arbeit« und »Ordnung« als klassische Leitbegriffe des unternehmerischen Normenkanons, ebenso wie bürokratische Herrschaftsansprüche und Gesellschaftsvorstellungen. Beides trug ausgeprägt bürgerliche Züge, die sich überdies an der verzweifelten, realiter kaum noch einlösbaren Orientierung der höheren Beamtenschaft am Lebensstil der Vorkriegszeit mit seinen Sommerurlauben und Theaterbesuchen nachweisen lassen. Dieser Befund ist insofern von übergeordnetem Interesse, als er die verbreitete These einer bereits seit der Jahrhundertwende virulenten, aber durch Krieg, Revolution und Inflation noch erheblich verschärften Krise des bürgerlichen Selbstverständnisses in Frage stellt.83 Zwar ist nicht zu bestreiten, dass die Kultur des Bürgertums, die das 19. Jahrhundert geprägt hatte, in der Nachkriegszeit einen tiefgreifenden gesellschaftlichen und intellektuellen Akzeptanzverlust erfuhr und an Anziehungskraft für neue Berufsgruppen einbüßte.84 Es wäre jedoch verfehlt, daraus auf eine nachlassende Attraktivität bei den im Kaiserreich sozialisierten ökonomischen und administrativen Eliten zu schließen, die sich, gerade weil sie sich in ihrem bürgerlichen Werthorizont angegriffen sahen, regelrecht hinter ihm verschanzten.85 Auch spricht bei näherer Betrachtung wenig für eine enge Parallelisierung von sozioökonomischer und kultureller Ebene.86 Im Gegenteil erhielt Bürgerlichkeit für die hohen Beamten einen um so höheren Stellenwert, je mehr die einschneidenden materiellen Verluste der Nachkriegszeit ihre lebensweltliche Konkretion verhinderten. 83 Vgl. Kocka, Bürgertum, S. 45; Hettling, S. 233-251; ders./Hoffmann, S. 355-359; Tenfelde, Stadt, argumentiert für die Annahme der Kontinuität des Bürgertums als sozialer Formation im 20. Jahrhundert, geht aber ebenfalls von einer Krise des bürgerlichen Selbstverständnisses aus. 84 Vgl. zu letzterem Aspekt Franz. 85 Für das analoge Beispiel des Adels, der nach 1918 ebenfalls unter dem Eindruck widriger Realitäten um so stärker an seinen Deutungsmustern und Wertvorstellungen festhielt vgl. Futuk/ Malinowski, 260-266. 86 So die Tendenz bei Kocka, Bürgertum, S. 45.
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Wenn die Verbindung von Selbstbildern, nationaler Ordnung und bürgerlicher Kultur in der Nachkriegszeit noch einmal an Bedeutung gewann, lag das auch in der Erfahrung des Gegensatzes zu Polen begründet, die ihrerseits durch ethnische Abgrenzungsdiskurse präformiert und verstärkt wurde. Im Ruhrgebiet bewirkte die Weigerung, die linksradikale Protestwelle als Problem der deutschen Gesellschaft anzuerkennen, dass der polnischen Bevölkerung besondere aufrührerische Neigungen unterstellt wurden, wozu die antisemitisch gefärbte Angst vor bolschewistischer Infiltration kam. In den zu Grenzregionen gewordenen ostelbischen Gebieten stemmte sich die Beamtenschaft gegen die mit einem Mal übermächtig erscheinenden Polen, wobei sie zwischen heroischer Selbstbestätigung und bürokratischer Überforderung schwankte. In beiden Fällen wurde die Ordnung der Nation in ihrer ganzen Bedeutung für die eigene Identität angegriffen, aber gerade dadurch nachhaltig gestärkt. Das galt auch für die Besatzung des rheinisch-westfälischen Industriegebiets, welche die Konfrontation mit den westlichen Nachbarn auf drastische Weise erfahrbar werden ließ.
2. Die erfahrene Niederlage: Ruhrbesetzung und internationale Politik In den Augen vieler Deutscher war der Krieg mit Waffenstillstand und Friedensvertrag noch lange nicht beendet. Die Konfrontation mit den Alliierten setzte sich fort und stand in engem Zusammenhang mit den inneren Problemen der Nachkriegszeit. 1923 brachte die Ruhrbesetzung durch Frankreich und Belgien das Reich an den Rand des Zusammenbruchs, weil sie mit Hyperinflation, Hungerprotesten sowie mit kommunistischen, separatistischen und rechtsextremistischen Aufständen einherging; die Katastrophenpolitik hatte sich als Sackgasse erwiesen. In den folgenden Jahren gelanges zwar, mit einem kompromissbereiteren Kurs aus der verfahrenen Lage herauszukommen und die internationale Position Deutschlands maßgeblich zu verbessern.87 Die Neuorientierung hatte jedoch nicht lange Bestand, weil ihr gesellschaftlicher Rückhalt trotz zahlreicher Verständigungsbemühungen gering blieb.88 Die öffentliche Meinung maß die Kooperation mit den Alliierten mehrheitlich am Letibild des nationalen Wiederaufstiegs. Als die erwarteten raschen Erfolge ausblieben, nahm die Zustimmung für eine Politik der Annäherung ab, um in der Weltwirtschaftskrise auf einen erneuten Tiefstand zu fallen.
87 Vgl. umfassend Krüger, Außenpolitik; ders., Versailles. 88 Vgl. Wurm. Für eine weit optimistischere Einschätzung, die jedoch die Representativität der Verständigungsaktivitäten überbetont, vgl. Hagspiel
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Die außenpolitische Konfrontation mit den Alliierten und ihre innenpolitischen Folgewirkungen sind mittlerweile umfassend erforscht.89 Dagegen ist ihre erfahrungs- und deutungsgeschichtliche Dimension kaum behandelt worden. Die belgische und französische Besatzung begann auf der linken Rheinseite bereits mit dem Kriegsende, erstreckte sich seit 1921 auf Düsseldorf, Duisburg und Ruhrort und griff 1923 auf das gesamte rheinisch-westfälische Industriegebiet über. Dass sie mit tiefen Eingriffen in das gesellschaftliche Leben verbunden war, ist zwar bekannt und wird im Rahmen von Stadtgeschichten und Regionalstudien auch thematisiert; 90 die Konsequenzen für den Weimarer Nationalismus sind jedoch noch zuwenig untersucht worden. 91 Industrielle und hohe Beamte waren direkt in die nationale Konfrontation involviert. Denn das Vorgehen Frankreichs und Belgiens zielte auf eine nachhaltige Schwächung von Staat und Wirtschaft des deutschen Gegners ab. Die Besatzungsmächte griffen in ihren betrieblichen und bürokratischen Herrschafts- und Identitätsraum und - in Form von Verhaftungen und Ausweisungen - auch in ihre persönliche Integrität ein. Einquartierungen französischer Offiziere wurden als massive Attacke auf familiäre Intimität, Ordnung und Sauberkeit wahrgenommen. Industrielle und hohe Beamte reagierten darauf, indem sie ihre Wertvorstellungen und Leitbilder überhöhten und sich selbst den Status heroischer Widerstandskämpfer attestierten. Die Ansprüche auf Anerkennung und Einfluss, die sie daraus ableiteten, ließen sich jedoch nicht verwirklichen. Ihre Definitionsmacht über die Nation blieb weit hinter den Erwartungen zurück. Auch in dieser Hinsicht stand am Ende des »Ruhrkampfes« eine bittere Enttäuschung. Neben der Besatzungsproblematik sind die außenpolitischen Vorstellungen der Industriellen insofern interessant, als sie Aufschlüsse über die Geltung des ökonomischen Nationalismus versprechen. Hier ist zu fragen, inwieweit sich die Einstellungen der württembergischen und westdeutschen Industriellen unterschieden. Bei der Ruhrbesetzung steht im Mittelpunkt, welche Auswirkungen sie auf Selbstbilder und nationale Deutungen der betroffenen Unternehmer und hohen Beamten hatte. Dass beide Gruppen nicht nur in ihrer beruflichen Tätigkeit, sondern auch als Bürger von der Besatzung betroffen waren, machen die Einquartierungen besonders deutlich. Zum Schluss wird untersucht, inwieweit sich in den außenpolitischen Vorstellungen der Industriellen seit Mitte der zwanziger Jahre eine Abkehr vom ökonomischen Nationalismus feststellen lässt.
89 Vgl. Krüger, S. 77-206; Bariéty; Schwabe (Hg.); Η M ommsen, Aufstieg, S. 169-218; Winkler, Weimar, S. 186-243. 90 Vgl. etwa Hüttenberger, Industrie- und Verwaltungsstadt, 320-335; Hartewig, S. 308-313; zur Pfalz Kreutz/Scherer (Hg.). 91 Vgl. aber Herbert, Best, S. 29-50, 69-87.
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Der Gegensatz zu den Alliierten, der die außenpolitische Szenerie der Nachkriegszeit dominierte, spielte für den Nationalismus in der Weimarer Republik eine zentrale Rolle.92 Das galt für Industrielle und hohe Beamte vielleicht noch mehr als für andere gesellschaftliche Gruppen, denn Wirtschaft und Staat waren in besonders exponierter Position in die Dauerkonfrontation mit den westlichen Nachbarn involviert. Der Abschluss des Versailler Vertrags wurde von allen Seiten mit großer Erbitterung aufgenommen. So sah das Verbandsorgan der höheren Beamten statt des erhofften Friedens nur die Bedrohung durch die feindliche »Fratze«.93 Es verglich den Vertrag mit einer Gefängnisordnung, die Deutschland jeglichen Entfaltungsspielraums beraube und den Staat zu einer ›»Kampforganisation‹« mache und erhob damit die administrativen Eliten zu quasimilitärischen Akteuren. 94 Ähnlich empört fiel die Reaktion der Industriellen aus, die ebenfalls Ungerechtigkeit und Unterdrückungscharakter der Versailler Friedensordnung anprangerten. 95 Deren Auswirkungen wurden in Gestalt der alliierten Wirtschaftskommissionen, die zu Untersuchungszwecken in ihren betrieblichen Herrschaftsraum eindrangen, bald auf konkrete und unangenehme Weise spürbar.96 Erfahrung und Deutung des fortgesetzten, ja, sogar lebensweltlich intensivierten außenpolitischen Konflikts verliehen in den folgenden Jahren der Auffassung der Weltwirtschaft als eines immerwährenden Kampfes zwischen Nationen ein hohes Maß an Plausibilität. Für die Düsseldorfer Handelskammer stand Deutschland im April 1920 auf sich allein gestellt einer Phalanx von Feinden gegenüber, die sie in der Kontinuität des unternehmerischen Hauptfeindbilds im Krieg als angelsächsischen »Trutzbund« wahrnahm. 97 Der Tenor dieser Einschätzung wurde bestätigt, als in den folgenden Jahren die alliierte Besetzung des rheinisch-westfälischen Industriegebiets in bedrohliche Nähe rückte und im März 1921 in Düsseldorf, Duisburg und Ruhrort Wirklichkeit wurde. Auf der anderen Seite gab es unter den Industriellen auch Befürworter einer ökonomisch fundierten internationalen Annäherung, die beträchtlichen Einfluss auf die deutsche Verhandlungsführung während der Pariser Friedenskonferenz ausüben konnten und ihre Position selbstbewusst begründeten. 98 So for92 Vgl. u.a. H. Mommsen, Nationalismus; Heinemann, sowie den Abriss zur außenpolitischen Ideengeschichte bei Krüger, Versailles, S. 70-87. 93 Zeitschrift des Bundes höherer Beamter 1 (1919), S. 29ff. 94 ZRh B 2 (1920),S.22. 95 Vgl. z.B. WI 10, 2 (Juli-Oktober 1919), S. lf.; Monatsschrift der Handelskammer zu Düsseldorf für den Stadt- und Landkreis Düsseldorf 15 (1919), S. 203. 96 Veröffentlichungen des Reichsverbandes der Deutschen Industrie H. 12 (Mai 1920), S. 60; Blätter vom Hause 6 (1919), S. 426ff.; Ehrhardt, S. 11l f. 97 Monatsschrift der Handelskammer zu Düsseldorf für den Stadt- und Landkreis Düsseldorf 16 (1920), S. 148; ähnlich ebd. 15 (1919), S. 258-268. 98 Vgl. dazu Krüger, Außenpolitik, S. 65-72; den., Rolle.
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mulierte etwa Robert Bosch eine klare Absage an den handelspolitischen Isolationismus: »Es ist ganz ausgeschlossen, daß Deutschland als geschlossener Wirtschaftsstaat durchkommt. Wenn wir unseren Auslandshandel verlieren, dann müssen wir Menschen exportieren, wie wir das im vorigen Jahrhundert taten.«99
Durch den Versailler Vertrag und seine Folgen konnte sich dieser exportorientierte und freihändlerische Standpunkt, den Bosch und die württembergische Industrie generell vertraten, zwar politisch nicht durchsetzen. Er blieb aber dennoch im Kern unverändert. 100 Obwohl die Reparationspolitik der Alliierten mit ihren harten Sanktionen als ein neuer »Wirtschaftskrieg« gesehen wurde, 101 lag der Akzent auf dem allseitigen Interesse an internationaler ökonomischer Kooperation. Diese Position ließ sich mit der Abhängigkeit Württembergs vom Export begründen und damit an die regionale Identität adaptieren.102 Damit verband sich die Hoffnung, dass mit den Zollbestimmungen des Versailler Vertrags noch nicht das letzte handelspolitische Wort gesprochen sei. Es erscheine realistisch, wenn Deutschland sich vom »Ziel der nationalen Abschließung« abwenden und das »Bekenntnis zum weltwirtschaftlichen Gedanken« an seine Stelle setzen würde. 103 Proklamationen dieser Art hatten ein pragmatisches Pendant auf der Ebene exportorientierter Unternehmen, die sich vom gespannten außenpolitischen Klima nicht davon abhalten ließen, wieder an alte Geschäftsfreundschaften anzuknüpfen. 104 Auch der Versailler Vertrag selbst eröffnete Spielräume für konkrete Schritte hin zu einer ökonomisch fundierten Annäherung an die Kriegsgegner. Der für die Wiederaufbauarbeiten in den zerstörten Gebieten zuständige Reichskommissar verwies auf das wechselseitige Interesse an einer deutsch-französischen Kooperation, welches das Rekonstruktionsprojekt zu einem »Denkstein der Verständigung der Völker« werden lassen könne, zumal Deutschland andernfalls die Besetzung seines Industriereviers drohe. Der frühere Industrielle zeigte sich beeindruckt von seinen Begegnungen, unter anderem mit einem Präfekten, der ihm von seiner Gefangenschaft in einem Pferdestall berichtet hatte. Der Wiederaufbau werde sich primär nach den französischen Vorstellungen richten müssen, eröffne aber dennoch die Möglichkeit, »manche schöne Fabrik und manches schöne Kohlenbergwerk« zu schaffen, »das durch deutsche Intelligenz und Fleiß wieder aufgebaut worden ist«.105 99 Robert Bosch an Paul Reusch, 1.2.1919, RBA, 14/101. 100 Vgl. z.B. Robert Bosch an Fritz Röttcher, 31.12.1919, RBA, 14/147; WI 11 (1920), S. 149. 101 WI 12(1921), S. 169f. 102 Ebd.,S.317f., 318f. 103 Ebd.,S.319f. 104 Vgl. z.B. Deutsche Gold- und Silber-Scheideanstalt, S. 23, 29. 105 Stenographische Niederschrift des Vortrages des »Reichskommissars zur Ausführung von Aufbauarbeiten in den zerstörten Gebieten« Herrn Generaldirektors Dr. Hilbenz, gehalten am 20.
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Die außenpolitische Großwetterlage verhinderte zunächst, dass die Verbindung von national legitimierter Unternehmermentalität und pragmatischer Akzeptanz einer internationalen ökonomischen Kooperation über die exportorientierte Industrie hinaus Resonanz fand. In Westdeutschland verstieß die alliierte Besatzung nicht nur in vielfältiger Weise gegen industrielle Interessen, sondern griff auch tief in die unternehmerische Erfahrungswelt ein. Damit verstärkte sie die Überzeugung eines unüberbrückbaren Gegensatzes zu den Alliierten, besonders zu Frankreich, das nun England als Hauptfeindbild ablöste; umgekehrt erschien sie durch den Filter nationalistischer Deutungsmuster in um so düstererem Licht. Bereits die Besetzung des linksrheinischen Gebiets seit 1919 wurde als Demütigung und alltägliche Belastung empfunden. 106 Als die Alliierten nach dem Scheitern der Londoner Konferenz im März 1921 auch Düsseldorf, Duisburg und Ruhrort okkupierten und Strafzölle auf deutsche Exporte sowie eine Zollgrenze um das besetzte Gebiet einführten, hatte dies für die westdeutsche Industrie eine drastische Verteuerung und Behinderung ihres Handels- und Lieferverkehrs zur Folge.107 Als Frankreich und Belgien im Januar 1923 das gesamte Ruhrgebiet besetzten, erhielt die Konfrontation eine neue Qualität, und der Kreis der betroffenen Unternehmer erweiterte sich. 108 Die Beschlagnahmungen und Zwangslieferungen von Kohle verstießen nicht nur gegen die materiellen Interessen der Schwerindustrie, sondern verletzten mit ihrem Eigentum auch einen konstitutiven Bestandteil unternehmerischer Wertvorstellungen.109 Französische Truppen drangen gewaltsam in die Werke ein. Bei Krupp gab es Todesopfer und Verletzte unter den Belegschaftsmitgliedern. 110 Auch weniger spektakuläre
Oktober 1919 in der Sitzung der Vertreter der Länder (Bundesstaaten) über den Stand der Aufbauarbeiten in den zerstörten Gebieten, HStASt, Ε 130a, Bü 1254, Qu la. 106 Blätter vom Hause 6 (1919), S. 338; vgl. Hüttenberger, Industrie- und Verwaltungsstadt, S. 320f. 107 Vgl. u.a. Handelskammer von Solingen an Staatssekretär für die besetzten Gebiete, 31.5.1921, HStAD, RD, 15242, Bl 36-45; Handelskammer von Düsseldorf an Wirtschaftsausschuss der besetzten Gebiete, 11.6.1921, HStAD, RD, 15242, Bl. 47-60; Handelskammer für den Wuppertaler Industriebezirk an Regierungspräsident von Düsseldorf, 19.7.1921, HStAD, RD, 15242, Bl. 101. 108 Die Ruhrbesetzung ist bislang vornehmlich unter außen- und innenpolitischen Aspekten behandelt worden, während ihre Erfahrungsdimension noch weitgehend unerforscht ist; vgl. Schwabe (Hg.); Winkler, Weimar, S. 186-210; H. Mommsen, Aufstieg, S. 169-182; zur französischen Seite vgl. Köhler; zur Lokalgeschichte des Ruhrkampfes vgl. für Düsseldorf Hüttenberger, Industricund Verwaltungsstadt, S. 327-332. 109 Zum analogen Fall der BASF in Ludwigshafen, wo es 1923 zu einer Werksbesetzung sowie zu Verhaftungen und Beschlagnahmungen kam, vgl. Meinzer. 110 Vgl. H. Mommsert, Aufstieg, S. 170, sowie die Protestschreiben des Direktoriums der Friedrich-Krupp-Aktien-Gesellschaft an den Divisionskommandeur von Essen, 31.3.1923, HStAD, RD, 16610, Bl. 3 und des Regierungspräsidenten von Düsseldorf an den Oberdelegierten für die deutsche Zivilverwaltung, Düsseldorf, 3.4.1923, HStAD, RD, 16610, Bl. 9f.
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Fabrikbesichtigungen stellten empfindliche Eingriffe in den unternehmerischen Herrschaftsraum mit seinen wohlgehüteten Geheimnissen dar.111 Verhaftungen und kriegsgerichtliche Urteile, von denen neben Prominenten wie Fritz Thyssen oder Gustav Krupp von Bohlen und Halbach zahlreiche weitere Industrielle betroffen waren, wurden als massive Attacken auf persönliche Integrität und physische wie psychische Unversehrtheit wahrgenommen. So inhaftierten die Franzosen einen Direktor der Gutehoffnungshütte, der sich geweigert hatte, sich der Militärbehörde zur Verfügung zu halten. Seine Gefangenschaft vollzog sich in einem überfüllten Raum, wo er auf einem Strohsack nächtigen musste und »schlechte und unzureichende Gefängniskost« erhielt.112 Hinzu kamen die alltäglichen Übergriffe der Besatzer. Einem Kaufmann und Fabrikdirektor aus dem niederrheinischen Emmerich, der im Zug kontrolliert wurde, gelang es nicht, den belgischen Soldaten von der Korrektheit seiner doppelten Berufsbezeichnung zu überzeugen, was er mit einer körperlichen Attacke bezahlte: »Der Posten wollte eben nicht verstehen, daß ich als Kaufmann auch Fabrikdirektor sein konnte. Ich mußte mich dann mit ›Hände hoch‹ einer körperlichen Visitation unterziehen, wobei ich noch diverse Faustschläge in's [sie] Gesicht erhielt.« 113
Solche und ähnliche Attacken bewirkten eine Stärkung der Identität der westdeutschen Industriellen. Dass sie sich selbst in das Zentrum des nationalen Abwehrkampfes rückten, war nicht nur Ausdruck einer bewussten Strategie, sondern ergab sich ebensosehr aus dem Zusammenwirken von Besatzungserfahrungen und unternehmerischem Selbstverständnis. Dadurch sahen sie sich auch in ihren Gesellschaftsbildern bestätigt, wobei allerdings die Stereotypen der Arbeiterschaft in rascher Folge zwischen Idealisierung und Bedrohung schwankten. Die Hoffnung der Industriellen, dass sich die vermeintliche Einmütigkeit des August 1914 wiederholen würde, schien 1923 zunächst erfüllt zu werden. Angesichts der ablehnenden Haltung der Arbeiterschaft gegenüber der Ruhrbesetzung konstatierte man zufrieden, dass der »viel zähere Ruhrbergmann« erheblich mehr patriotische Abwehrbereitschaft als der »weiche Saarbergarbeiter« beweise. Bereits hier erschien es jedoch nötig, die Kommunisten von diesem Lob auszunehmen.114 Mit fortschreitender Inflation und Lebensmittelknappheit nahm die Protestbereitschaft in der Arbeiterschaft ein immer 111 Vgl. z.B. Besichtigung des Stahl- und Walzwerkes Thyssen & Co. A.G., Mülheim-Ruhr, durch eine französische Kommission am Sonntag, dem 8. Juli 1923, Bericht vom 9.7.1923, M-A, R 1 35 22. 112 Oberbürgermeister von Gclsenkirchen an Regierungspräsident von Essen, 28.2.1923, HStAD, RD, 16618, Bl. 18f. 113 Bericht des Kaufmanns und Fabrikdirektors Adolf Krämer, 10.4.1923, GStA PK, Mdl, HA I,Rep. 77, Tit. 4041, Nr. 179. 114 Schreiben aus Bergbaukreisen, in: Minister für Handel und Gewerbe an Minister des Innern, 18.1.1923, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 4041, Nr 14, Bl. 15-22.
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größeres Ausmaß an.115 Wenn der Schwerindustrielle Ernst Poensgen den besatzungsbedingten Stillstand einer Zeche fürchtete, weil die Arbeiter dann »den ganzen Tag auf der Straße herumlungern oder im Wirtshaus sitzen« würden und dadurch der kommunistischen Propaganda zu erliegen drohten, zeigt dies, dass die negative Variante bürgerlicher Unterschichtenstereotypen in der Ruhrkrise eine bedrohliche Aktualität erhielt.116 Zudem war die Reaktion der Belegschaften auf Betriebsbesetzungen oft nicht dazu angetan, die Fiktion einer abwehrbereiten Werksgemeinschaft mit einheitlicher Interessenlage aufrechtzuerhalten. So verwarf die Belegschaftsversammlung einer Oberhausener Zeche das vom Betriebsrat geschlossene Abkommen mit der französischen Besatzungsmacht, das nach einem anfänglichen Ausstand die Wiederaufnahme der Arbeit vorsah. Kommunistische Redner sprachen sich nicht nur gegen eine Beendigung des Streiks aus, sondern machten »unter Hinweis darauf, dass an den Rombacher Hüttenwerken angeblich in erheblichem Maße französisches Kapital beteiligt sein sollte, der Verwaltung geradezu den Vorwurf des Landesverrats«.117 Umgekehrt konnte ein Industrieller aus Stiepel bei Bochum den örtlichen Behörden »Schlappheit« und dem lokalen Kleinhandel unpatriotische Geschäftstüchtigkeit im Umgang mit den Besatzern vorwerfen, was um so schlimmer wiege, als die Gegend um Bochum »sowieso stark kommunistisch« und die »Einheitsfront« daher fragil sei; im Hintergrund dieser Klage stand offenkundig die Angst um die nahegelegenen Zechen.118 Am Ende des Ruhrkampfes konnten sich die Unternehmer zwar selbst den Status heroischer Widerstandskämpfer attestieren, die Verwirklichung einer hierarchischen Nation jenseits des Klassenkonflikts war jedoch einmal mehr gescheitert. Den hohen Beamten bescherte die Besatzung massive Eingriffe in den administrativen Alltag, die auf der linken Rheinseite bereits mit der militärischen Niederlage begannen.119 Die Düsseldorfer Stadtverwaltung hatte mit zahlreichen und nur schwer erfüllbaren Forderungen des belgischen Kommandanten im Stadtteil Oberkassel zu kämpfen. Der zuständige Beigeordnete erklärte sich schließlich für »seelisch und körperlich zusammengebrochen« und ließ sich beurlauben.120 Der spannungsreiche Verkehr mit der Besatzungsmacht führte 115 Vgl. z.B. Abschrift eines Berichts des Oberbergamts Dortmund vom 11.8.1923, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 4041, Nr. 14, Bl. 294-298; Ernst Poensgen an Fentener van Vlissingen, Utrecht, 4.6.1923, M-A, Ρ 1 25 32. 116 Ebd. 117 Bericht über die Vorgänge auf der Zeche »Concordia«, Schacht IV/V der Rombacher Hüttenwerke Oberhausen, während der Zeit vom 23. Januar bis 4. April 1923, HStAD, RD, 16071, Bl. 84-93. 118 Anonymer Bericht an die Fachgruppe Bergbau des Reichsverbandes der Deutschen Industrie (Februar 1923), GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 4041, Nr. 258. 119 Vgl. zur Pfalz Gembries. 120 Oberbürgermeister von Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, 4.11.1921,
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überdies zu verbalen Auseinandersetzungen, die von den Betroffenen als Missachtung ihrer Stellung wahrgenommen wurden, sowie zu ersten Amtsenthebungen.121 Dem Düsseldorfer Oberbürgermeister bereiteten die Beeinträchtigungen des Rheinverkehrs große Sorgen. Die Probleme wurden nicht geringer, als nach dem Scheitern der Londoner Konferenz im März 1921 die ganze Stadt okkupiert und durch die Errichtung einer Zollgrenze die ökonomisch lebenswichtige Verbindung zum rheinisch-westfälischen Industriebezirk abgeschnitten wurde.122 Mit der Besetzung des gesamten rheinisch-westfälischen Industriegebiets im Januar 1923 rückte die Beamtenschaft in das Zentrum einer erbitterten und gewaltsamen Konfrontation. Ihre Aufgabe war es, die Befolgung der französischen und belgischen Befehle zu verweigern und auf diese Weise passiven Widerstand zu leisten. Dafür zahlten die Angehörigen der Verwaltung einen hohen Preis. Die massenhaften Verhaftungen und Ausweisungen vollzogen sich unter oft demütigenden Umständen, die Rechtsvorstellungen und Statusbewusstsein, teilweise auch persönliche Integrität und familiäre Intimität verletzten. Die höchsten Regierungsbeamten der Pfalz wurden auf freiem Feld ausgesetzt;123 den Düsseldorfer Regierungspräsidenten verhafteten die Franzosen in seiner Privatwohnung und im Beisein seiner Familie.124 Der Duisburger Oberbürgermeister Karl Jarres weigerte sich, dem Ausweisungsbefehl der belgischen Besatzungsmacht Folge zu leisten und nahm nach vergeblichem Protest seine Amtsgeschäfte im Rathaus wieder auf, woraufhin er festgenommen und zu Gefängnishaft verurteilt wurde.125 Nach dem Spartakistenaufstand stellte dies für Jarres eine weitere Gelegenheit dar, die eigene Position durch einen Widerstandsakt von hohem symbolischen Wert zu stärken, so dass ihm die HStAD, RD, 15159, Bl. 162-167, sowie zahlreiche weitere Beschwerden in derselben Akte; vgl. auch Thalmann zur kommunalen Verwaltung im pfälzischen Landau. 121 Landrat des Landkreises Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, 6.4.1920, HStAD, RD, 15155, Bl, 29f; Regierungspräsident von Düsseldorf an Oberdelegierten für die deutsche Zivilverwaltungjuli 1922, HStAD, RD, 16043. 122 Oberbürgermeister von Düsseldorf an Ministerpräsident, 10.4.1921, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 3470, Nr. 1, Bd. 7, Bl. 275-280; ähnlich Oberbürgermeister von Duisburg an Reichskanzler, 14.4.1921, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 3470, Nr. 1, Bd. 7, Bl. 281-286. 123 Der Reichs- und Staatskommissar für die besetzten rheinischen Gebiete an Staatssekretär für die besetzten rheinischen Gebiete, Auswärtiges Amt und Preußischen Minister des Innern, 10.2.1923, GStA PK, Mdl, HA 1, Rep. 77, Tit. 4041, Nr. 14, Bl. 77-91. 124 Regierungspräsident von Düsseldorf an Minister des Innern, 19.2.1923, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 4041, Nr. 119; vgl. auch Regierungspräsident von Münster an Minister des Innern, 9.8.1923, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 4041, Nr. 14, Bl. 258-285, Bl. 268: Ausweisung der Familie des Oberbürgermeisters von Hamm, der nur die Mitnahme von Wäsche und der nötigsten Einrichtungsgegenstände erlaubt wurde; Regierungspräsident von Düsseldorf an Oberdelegierten für die deutsche Zivilverwaltung, 7.4.1923, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 4041, Nr. 118: Ausweisung eines Regierunesassessors und seiner betagten Eltern. 125 Vgl. den Schriftverkehr im GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 4041, Nr. 118.
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Stadtverordnetenversammlung attestierte, »ein leuchtendes Vorbild selbstlosester Pflichterfüllung« zu sein.126 Hohe Beamte, die noch nicht ausgewiesen worden waren oder ihren Dienstsitz außerhalb des besetzten Gebiets verlegt hatten, versuchten, den Widerstand gegen Franzosen und Belgier zu überwachen. Dabei orientierten sie sich an einer gemessenen und würdigen nationalen Emotionalität, die »Selbstbeherrschung« an die Stelle von Provokationen und patriotischen Phrasen setzte: »Vaterlandsliebe heißt selbstlose Hingabe ans Ganze, Opfer, Arbeit, Vertrauen zu Regierung, Volk und Heimat. Die Leiden und Lasten standhaft und trotzig ertragen, wenn notwendig, darben und entbehren, das ist selbstlose Vaterlandsliebe.«127
Regierungspräsidenten und Landräte versuchten, diese Definition auch gegen individuelle Interessen durchzusetzen, was innerhalb der Verwaltung aufgrund ihrer disziplinarrechtlichen Instrumente nicht ohne Erfolg blieb. So zwang der Landrat von Cleve einen Bürgermeister, der mit Rücksicht auf seine kranke Ehefrau dem Ausweisungsbefehl Folge leistete, zur vorübergehenden Rückkehr und empfahl, in ähnlichen Fällen das Gehalt zu sperren.128 Außerhalb ihres administrativen Einflussbereichs stieß die Definitionsmacht der preußischen Bürokratie über die Nation und ihre normative Reichweite jedoch auf enge Grenzen. Das zeigte sich daran, dass sich die in der Bevölkerung herrschende Empörung über die Besatzungsmächte, die die Beamten zunächst mit Befriedigung konstatierten,129 auch gegen sie selbst selbst richten konnte. So wurde einem Landrat »serviles Verhalten« gegenüber den Franzosen angelastet.130 Im Gegenzug warf dieser dem Denunzianten vor, den Nationalismus zugunsten eigener Interessen zu instrumentalisieren. Er beschwerte sich, dass »für das Verhalten der wenigen im besetzten Gebiet noch ausharrenden Beamten vielfach jedes Verständnis« fehle und fasste deren opferreiche Erfahrungen in geraffter Form zusammen: »Seit sieben bis acht Monaten stehen die Beamten ständig ohne jede Ablösung in der vordersten Linie, die Verbindungen sind abgeschnitten, auf Schritt und Tritt werden sie 126 Entschließung der Stadtverordnetenversammlung von Duisburg, 7.2.1923, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 4041, Nr. 118; vgl. auch verschiedene Glückwunschschreiben an den Düsseldorfer Regierungspräsidenten Grützner für seine standhafte Haltung gegenüber den französischen Besatzern im HStAD, RD, 16422. 127 So der Oberpräsident von Westfalen, Niederschrift über die am 17. Januar 1923 im Oberpräsidium zu Münster stattgehabte Besprechung, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 4041, Nr. 14, Bl. 29-35. 128 Landrat von Cleve an Regierungspräsident von Düsseldorf, 9.3.1923, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 4041, Nr. 118. 129 Vgl. z.B. die Äußerung des Landrats des Landkreises Dortmund, Niederschrift über die am 17. Januar 1923 im Oberpräsidium zu Münster stattgehabte Besprechung, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 4041, Nr. 14, Bl. 29-35. 130 Bruno Hochhammer, Hauptmann a.D. an Minister des Innern, 20.7.1923, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 4041, Nr. 258.
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überwacht, keine Ablenkung, keine Zeitung, keine Aufmunterung - dabei stehen sie mit einem Fuße täglich im Gefängnis.«131
Mit zunehmender Dauer der Ruhrkrise wurde deutlich, dass die staatliche Autorität nicht nur durch äußere Einwirkungen geschwächt war, sondern auch unter einer rapiden Fortsetzung ihres ohnehin gravierenden Legitimationsverlusts litt. Kommunistischen Unruhen und separatistischen Bestrebungen stand die Verwaltung hilflos gegenüber.132 Zudem sahen sich die preußischen Spitzenbeamten mit einem Trend zum pragmatischen Arrangement mit den Besatzungsmächten konfrontiert, dem sie sich mit geringem Erfolg entgegenzustemmen versuchten. So warf der Düsseldorfer Regierungspräsident Grützner Stadtverwaltung, Parteien und Gewerkschaften seines Amtssitzes vor, eine zu nachgiebige Linie gegenüber den Ansprüchen der Franzosen zu verfolgen. Seiner Aufforderung zu einer kompromisslosen Haltung hielt der Oberbürgermeister entgegen, »dass nach der Rheinischen Städteordnung ich allein die Verantwortung für die Führung der Geschäfte der Stadtverwaltung trage.«133 Die Besatzung bewirkte also einen Konflikt zwischen staatlicher Autorität und kommunaler Selbstverwaltung, der sich mit zunehmender separatistischer Bedrohung zuspitzte. Grützner monierte, dass die Stadtverwaltung dem französischen Befehl, die städtische Tonhalle dem Rheinischen Unabhängigkeitsbund zur Verfügung zu stellen, nachgekommen sei. Diese verwies auf die Alternativlosigkeit ihrer Entscheidung, da andernfalls der für das öffentliche Leben unentbehrliche Saal beschlagnahmt worden wäre.134 Kurze Zeit später warf der Regierungspräsident den lokalen Entscheidungsträgern vor, keinen Widerstand gegen die geplante große Demonstration der Separatisten zu leisten und klagte sie an, das Interesse, »der Stadt Düsseldorf Komplikationen und Konflikte mit der Besatzung zu ersparen«, über die »Pflicht als deutsche Stadt« zu stellen.135 Grützner, der ausgewiesen worden war und vom unbesetzten Barmen aus agieren musste, hatte aber keine Möglichkeit, gegen diesen Pragmatismus vorzugehen. Seinem Verdacht, dass einige Beigeordnete und Wirtschaftsbürger private Kontakte mit französischen Offizieren pflegten, ging er über 131 Landrat von Königsstein/Ts. an Minister des Innern, 22.8.1923, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 4041, Nr. 258. 132 Vgl. z.B. Regierungspräsident von Münster an Minister des Innern, 9.8.1923, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 4041, Nr. 14, Bl. 258-285, hier BI. 265. 133 Regierungspräsident von Düsseldorf an Oberbürgermeister von Düsseldorf, 21.8.1923, HStAD, RD, 16403, Bl. 1; Oberbürgermeister von Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, 21.9.1923, HStAD, RD, 16403, Bl. 10. 134 Regierungspräsident von Düsseldorf an Oberbürgermeister von Düsseldorf, 2.9.1923, HStAD, RD, 16998, Bl. 71f; Oberbürgermeister von Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, 11.9.1923, HStAD, RD, 16998, Bl. 79. 135 Regierungspräsident von Düsseldorf an Minister des Innern, 28.9.1923, HStAD, RD, 17096, Bl. 6f.
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Mittelsmänner nach, ohne zu eindeutigen Ergebnissen zu gelangen.136 Dass die von der Besatzungsmacht angebotenen Französischkurse besonders von der Geschäftswelt in beträchlichem Umfang besucht wurden, konnte er zwar bedauernd feststellen, aber nicht verhindern. 137 Seinem evidenten Autoritätsverlust zum Trotz beanspruchte der Regierungspräsident also ein patriotisches Wächteramt, das an die Stelle seiner unmöglich gewordenen administrativen Tätigkeit trat. Das schloss jedoch keineswegs aus, den Kontakt zum Gegner zu suchen, um die klassische Verwaltungsaufgabe der Ordnungswahrung zu erfüllen. Als im Mai 1923 kommunistische Unruhen drohten und die Besatzungsmacht den Einsatz der Schutzpolizei verbot, appellierte der sozialdemokratische Spitzenbeamte an den zuständigen General, seine Entscheidung zu revidieren und damit die Sicherung von »Ordnung, Kultur und Zivilisation« zu ermöglichen. Er wies darauf hin, dass es Frankreich nicht vor der Weltöffentlichkeit verantworten könne, der Errichtung einer »Pöbelherrschaft« Vorschub zu leisten, die zudem leicht auf französisches Territorium übergreifen könne. Zur historischen Begründung seines Anliegens führte er an, »dass damals beim Kommuneaufstand das deutsche Oberkommando den französischen Behörden jedes Entgegenkommen zum Zweck der Niederwerfung des Aufstandes in verständnisvollster Weise gezeigt hat.«138 Grützner formulierte damit einen Aufruf zur antirevolutionären Solidarität zwischen deutscher und französischer Staatsmacht, die gegenüber dem nationalen Konflikt den Vorrang einnehmen müsse. Im Kontext der Ruhrpolitik Frankreichs, die auf die nachhaltige Schwächung von Staat und Wirtschaft des deutschen Gegners abzielte, konnte er damit allerdings kein Gehör finden. Wie bereits erwähnt, blieben die Eingriffe der Besatzungsmächte nicht auf den betrieblichen bzw. bürokratischen Herrschafts- und Identitätsraum von Industriellen und hohen Beamten beschränkt, sondern verletzten auch ihre Privatsphäre und persönliche Integrität. Neben Verhaftungen und Ausweisungen geschah dies insbesondere in Form von Einquartierungen belgischer oder französischer Militärs und Verwaltungsbeamter, denen zahlreiche bürgerliche 136 Regierungspräsident von Düsseldorf an Oberregierungsrat Hoche, Düsseldorf, 29.2.1924, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 3470, Nr. 1, Bd. 7, Bl. 22f; Regierungspräsident von Düsseldorf an Peter Winnen, Düsseldorf, 13.2.1924, HStAD, RD, 17083, Bl. 3; vgl. auch seine Mahnung an verschiedene Persönlichkeiten und Institutionen zu äußerster Zurückhaltung im Verkehr mit der Besatzungsmacht: Regierungspräsident von Düsseldorf an Landräte, Oberbürgermeister, Handelskammern und Handwerkskammer des Regierungsbezirks Düsseldorf, 25.3.1924, HStAD, RW 49, 59, Bd. 1. 137 Regierungspräsident von Düsseldorf an Minister des Innern, Wirtschaftliche und kulturelle Durchdringungsbestrebungen der Franzosen und Belgier im Regierungsbezirk Düsseldorf, 24.3.1924, HStAD, RD, 16458, Bl. 63-71; zur breiten Nachfrage nach Französischkursen in Kaiserslautern vgl. Scherer, S. 370. 138 Regierungspräsident von Düsseldorf an Oberdelegierten für die deutsche Zivilverwaltung, 25.5.1923, HStAD, RD, 16759, Bl. 72f.
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Haushalte ausgesetzt waren. So empfand der Landrat von Moers die Tatsache, dass er nicht nur an seinem Dienstsitz, sondern auch in seinem eigenen Haus von Mitgliedern der alliierten Kommission umgeben war, als »ganz besonders drückend und erschwerend«. 139 Besonders wenn es sich über einen längeren Zeitraum erstreckte, konnte sich das erzwungene enge Zusammenleben für die Betroffenen sogar zu einer gesundheitlichen Beeinträchtigung auswachsen. 140 Hinzu kamen handfeste soziokulturelle Differenzen, die für zusätzlichen Sprengstoff sorgten. Der Landrat von Geldern büßte nicht nur seine »drei besten Gesellschaftsräume« ein, sondern musste sich von einem belgischen Leutnant des öfteren als »boche« beschimpfen und physisch bedrohen lassen. Vor Gericht wurde er zu einer Geldbuße wegen Beleidigung verurteilt, erklärte jedoch anschließend, auf eine weitere Auseinandersetzung verzichten zu wollen, da er erfahren habe, dass der unflätige Leutnant »Metzgergehülfe« sei.141 Eine betagte Düsseldorfer Industriellenwitwe musste ihre Villa von 1921 bis 1925 mit ungebetenen Mitbewohnern teilen, die in ihren Augen alles taten, um Ruhe, Sauberkeit und Anstand zu verletzen. Zu ihrem Entsetzen erlitten die kostbaren Möbel, Bilder und Perserteppiche der beschlagnahmten Wohnräume, die eine »alte zuverlässige Dienerschaft« viele Jahre lang gepflegt hatte, durch unsachgemäße Behandlung schwere Schäden. Zudem wurde die Villa auch auf einer symbolischen Ebene degradiert, denn »Festlichkeiten und Liebesmahle französischer Offiziere waren an der Tagesordnung.«142 Die Beispiele verdeutlichen, dass die Einquartierungen mehrere der für die bürgerliche Kultur konstitutiven Normen und Wertvorstellungen gleichzeitig verletzten: Eigentum, Privatleben, Respektabilität, Ruhe, Hygiene und die seit dem späten 19. Jahrhundert als fragil wahrgenommene nervliche Gesundheit.143 Das alles gewann noch an ideeller Bedeutung, gerade weil es durch die Besatzungserfahrung bedroht und angegriffen erschien. Die Einquartierungen waren jedoch auch Gegenstand von lokalen Konflikten, die Risse in der vermeintlichen Opfergemeinschaft freilegten. Das zeigt der Fall eines Düsseldorfer Fabrikdirektors, der sich nicht nur über die beengte Wohnsituation aufgrund der Beschlagnahmung mehrerer Räume seines Hauses beschwerte, sondern auch darüber, dass alle anderen Bewohner der Straße von solchen 139 Landrat von Moers an Regierungspräsident von Düsseldorf, 10.3.1921, HStAD, RD, 15257, Bl. 28-31. 140 Regierungsrat Rasch an Regierungsassessor Dr. Beckmann, 23.3.1925, HStAD, RD, 16355, Bl. 162f.; Netteshcirn & Cie. Krawatten-Fabrik Geldern und Crefeld an Minister für die besetzten Gebiete, 15.7.1925, HStAD, RD, 16273, Bl. 3ff. 141 Landrat von Geldern an Regierungspräsident von Düsseldorf, 7.11.1920, HStAD, RD, 15155, Bl. 56ff. 142 Entwurf zu einer Denkschrift über die Besatzung des rechtsrheinischen Stadtteils Düsseldorf durch die Franzosen, StAD,XXlII, 124, Bl. 66f.; vgl. mit ähnlichem Tenor Die Stadt Essen, S. 107 f. 143 Zum letzteren Aspekt vgl. Radkau.
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Unannehmlichkeiten verschont geblieben seien. Er führte dies auf deren Nähe zur Stadtverwaltung zurück, der er vorwarf, bewusst Industrielle für die Einquartierungen auszuwählen, weil es diesen nicht möglich sei, Düsseldorf zu verlassen. Empört über die Widersprüche zwischen nationaler Gleichheitsrhetorik und realer Lastenverteilung, empfand er seine Lage als tiefe Ungerechtigkeit.144 Weit über das rheinisch-westfälische Industriegebiet hinaus verhalf die Ruhrkrise den ökonomischen und administrativen Eliten zur kollektiven Sinnstiftung in den Kategorien einer nationalen Opfererfahrung. Der Reichsbund der höheren Beamten stilisierte seine Mitglieder im rheinisch-westfälischen Industriegebiet zu Führern des Widerstands gegen den Zerfall des Reiches.145 Ganz explizit verband sich damit die Hoffnung auf eine Verbesserung des schlechten Images der Bürokratie, da ihre Vertreter nun »in vorderster Kampffront« stünden und deshalb Anspruch auf Anerkennung und Berücksichtigung erheben könnten. 146 An diese heroische Erzählung ließen sich Gehaltswünsche anschließen, deren Erfüllung als verdiente Gegenleistung für den patriotischen Einsatz eingefordert wurde. 147 Das blieb jedoch erfolglos; stattdessen sah man sich genötigt, den Vorwurf zurückzuweisen, für die Finanzkrise des Staates verantwortlich zu sein.148 Als im September 1923 der passive Widerstand aufgegeben wurde, musste man sich eingestehen, dass mit dem Kampf gegen die Besatzer auch das Aufbegehren gegen den eigenen Bedeutungsverlust gescheitert war.149 Die Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände rief ihre Mitglieder im besetzten Gebiet dazu auf, sich »unter Einsatz der Persönlichkeit« gegen Franzosen und Belgier zur Wehr zu setzen.150 Damit verlieh sie einem konstitutiven Bestandteil des unternehmerischen Werthorizonts patriotische Weihen, ebenso wie dem gesellschaftspolitischen Ideal einer Abkehr von Klassengegensatz und innerer »Zerrissenheit«, das zur Lehre aus dem Ruhrkampf erhoben wurde. 151 Im Verbandsorgan der württembergischen Industriellen erlebte das Deutungsmuster des Wirtschaftskriegs eine Renaissance, das in den Jahren zuvor bereits der Betonung der Chancen internationaler Kooperation gewichen war.152 Dieser Meinungswandel wirkte sich auch in den folgenden Jahren aus, denn die außenwirtschaftspolitische Linie blieb zwar freihändlerisch, zeugte aber von 144 640ff. 145 146 147 148 149 150 151 152
P. Küborn an Regierungspräsident von Düsseldorf, 16.12.1921, HStAD, RD, 15238, Bl. ZRhB 5 (1923), S. lf. Ebd.,S. 10. Ebd.,S. 17f.,25f Ebd., S. 57f. Ebd., S. 65. AG 13 (1923), S. 49. Ebd., S. 82, 98. WI 14 (1923), S. 65f., 133, 181.
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einem starken Misstrauen gegenüber Frankreich und Belgien. Statt des universellen Interesses an ökonomisch fundierter Verständigung betonte man, dass den Alliierten keine andere Wahl bleibe, als die deutsche Isolation zu beenden.153 Die Handelspolitik erschien weniger als Weg zur Kooperation denn als »einzige Waffe zur Zurückdrängung unberechtigter Interessen des Auslandes«.154 Die Handelsvertragshandlungen Anfang 1925 wurden skeptisch beurteilt; die Warnung vor einer zu nachgiebigen Linie bestimmte den Tenor155 Erst ab 1927 rückte wieder die prinzipielle Kritik am ökonomischen Nationalismus in den Vordergrund, die bis zu paneuropäischen Sympathien reichte.156 Mit dieser Position gerieten die württembergischen Industriellen allerdings schon kurze Zeit später in die Defensive; ihre Kritik am erneuten Trend zum Protektionismus war unter den Bedingungen der Weltwirtschaftskrise zum Scheitern verurteilt.157 Die westdeutschen Schwerindustriellen öffneten sich zwar seit Mitte der zwanziger Jahre einer pragmatisch motivierten Kooperation im europäischen Rahmen, blieben aber dennoch dem Wirtschaftsnationalismus verhaftet. Das galt trotz der Gründung der Internationalen Rohstahlgemeinschaft (IRG) im September 1926, von der in jüngster Zeit betont worden ist, dass sie primär auf die Sicherung von Binnenmarkt und Kartellstruktur abzielte und unter ihrer Decke nationale Gegensätze weiterwirkten.158 Wenn der stellvertretende Vorsitzende der Vereinigten Stahlwerke, Ernst Poensgen, die IRG zum Signum eines beginnenden deutschen Wiederaufstiegs erklärte,159 formulierte er gleichzeitig restriktive Bedingungen für die Akzeptanz internationaler ökonomischer Zusammenarbeit, die bereits in der Weltwirtschaftskrise nicht mehr erfüllt waren. Es lag in der Konsequenz dieser Haltung, dass Poensgen vor den politischen Gefahren einer Abhängigkeit von ausländischen Krediten warnte und sich gegen den Young-Plan aussprach.160 Die konstitutive Bedeutung der Nation für das eigene Selbstverständnis blieb bei den meisten Industriellen der Weimarer Republik nicht nur erhalten, sondern nahm auch eine klare Vorrang153 Wl 15(1924),S.41 ff. 154 Ebd., S. 821 ff. 155 WI 16(1925), S. 21f; ähnlich ebd., S. 129ff. 156 Wl 18 (1927), S.229ff.;WI 19 (1928), S. 317ff; WI 20 (1929), S. 1-4, 13-16. 157 WI 21 (1930), S.373ff 158 So etwa Wurm, S. 154ff; Berghahn, S. 15f. Die Gegeninterpretation von C. Fischer, S. 60f., der im kooperativeren Kurs der deutschen Schwerindustriellen seit Mitte der zwanziger Jahre eine faktische Abkehr vom Konzept der nationalen Souveränität mit Vorläuferfunktion für die Europäische Union sieht, kann nicht überzeugen, weil sie die engen Grenzen übersieht, die dem pragmatisch motivierten Annäherungsprozess nicht zuletzt durch die Persistenz nationalistischer Deutungsmuster gesetzt waren. 159 Düsseldorfer Nachrichten, 16.10.1926. 160 Ernst Poensgen, Aus der Eröffnungsansprache anlässlich der Jubiläumstagung des Arbeitgebe rverban des der Nordwestlichen Gruppe am 2.7.1929, M-A, Ρ 7 55 76.
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Stellung vor der Idee einer wirtschaftlich fundierten internationalen Verständigung ein. Zeitgleich und eng verknüpft mit der gesellschaftlichen Krise der Nachkriegszeit übte die außenpolitische Konfrontation mit den Alliierten tiefgreifende Wirkungen auf Erfahrungswelt und Selbstverständnis von Industriellen und hohen Beamten aus. Das galt besonders für das rheinisch-westfälische Industriegebiet, wo die belgische und französische Besatzung als eine massive Verletzung der eigenen Identitäten wahrgenommen wurde. Indem sie sich gegen Staat und Industrie des deutschen Gegners richtete, festigte sie den engen Konnex von bürokratischen bzw. unternehmerischen Wertvorstellungen und der Konstruktion der Nation. Mit Verhaftungen, Ausweisungen und Einquartierungen griff sie in persönliche Integrität und familiäre Intimität ein und verstieß in vielen Fällen auch gegen Sauberkeits- und Anstandsvorstellungen. Damit trug sie maßgeblich zur Verfestigung und Aufwertung bürgerlicher Deutungsmuster bei, die ihrerseits die Grenze zum nationalen Gegner markierten. Für die ökonomischen und administrativen Eliten verlängerte und erneuerte die Besatzung bis Mitte der zwanziger Jahre die Kriegsnation. Das stellte eine schwere Hypothek für eine internationale Kooperation auf ökonomischer Basis dar, die zwar pragmatisch motivierte Fortschritte machte, aber unter nationalem Vorbehalt stand und nur von einer Minderheit der Industriellen einen Eigenwert zuerkannt erhielt. Ermöglichte die Besatzung einerseits, sich über den gesellschaftlichen Akzeptanzverlust der eigenen Identitäten und Gesellschaftsbilder zumindest vorübergehend hinwegzutäuschen, ließ sie andererseits die Grenzen der integrativen Wirkung und normativen Verbindlichkeit der Nation deutlich hervortreten. Industrielle und hohe Beamte konnten ihre jeweiligen Folgerungen aus der Besatzungssituation für das individuelle und kollektive Handeln häufig nicht durchsetzen. Der Vorwurf des unpatriotischen Verhaltens richtete sich sogar gegen sie selbst. Gleichzeitig fuhren sie fort, die Nation an die eigenen Sichtweisen und Interessen zu adaptieren, so dass moralische Konflikte in ihrer Selbstwahrnehmung gar nicht erst entstehen konnten. Da es den Industriellen vorrangig um die Wiederherstellung ihres unternehmerischen Handlungsspielraums zu tun war, konnten sie gegenüber der Besatzungsherrschaft pragmatisch taktieren bzw. sie sogar gegen ihre Belegschaft instrumentalisieren, ohne darin einen Widerspruch zu ihrem Patriotismus zu sehen.161 Analog be161 Vor diesem Hintergrund sind auch die hier nicht eigens thematisierten Verhandlungen einzelner Unternehmer, wie etwa des Kölner Industriellen Otto Wolff, mit der französischen Besatzungsmacht im Sommer 1923 zu sehen, vgl. Winltr, Weimar, S. 207; C. Fischer, S. 58ff. Zur Instrumentalisierung der Besatzungsmacht gegenüber der eigenen Belegschaft vgl. den Fall eines Fabrikdirektors, der seinem rebellischen Betriebsrat mit Namensnennung bei der französischen Besatzungsbehörde drohte; Regierungspräsident von Düsseldorf an Direktor Oflfermanns, Ratingen, 12.5.1923, HStAD, RD, 17072, Bl. 100.
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mühten sich kommunale Spitzenbeamte und lokale Eliten, die Interessen ihrer Stadt zu wahren und waren dafür auch zu Abstrichen am nationalen Widerstand bereit. Die hohe preußische Bürokratie stemmte sich mit geringem Erfolg gegen diese Tendenz zum pragmatischen Arrangement. Ging es um die Wahrung von Ordnung und staatlicher Autorität gegen kommunistische Unruhen, scheute aber auch sie nicht davor zurück, den Kontakt zur Besatzungsmacht zu suchen und an deren antirevolutionäre Solidarität zu appellieren. Die Erfahrung und Deutung der Besatzung zeigt exemplarisch das Doppelgesicht der Nation in der Weimarer Republik: Einerseits kam ihr immense Bedeutung für die Selbstdeutung von Individuen und Gruppen zu. Andererseits war ihr Anspruch auf Kohäsionsstiftung zum Scheitern verurteilt, weil ihre Interpretationen in einer polarisierten politischen Kultur unüberbrückbar divergent bleiben mussten.
B. Selbstbewahrung und Erfolg: Deutungen der Nation im Frankreich der zwanziger Jahre Für die französischen ökonomischen und administrativen Eliten waren die Nachkriegsjahre trotz aller Probleme eine erfolgreiche Periode. Sieg, Wiederaufbau und das Scheitern der linksradikalen Protestwelle verschafften ihren Leistungen ebenso eine nationale Aufwertung wie ihren industriellen, bürokratischen und bürgerlichen Identitäten. Das galt auch für die Erinnerung an die deutsche Besatzung in Nordfrankreich, die allerdings insofern konfliktträchtig war, als sie vom regionalen Wirtschaftsbürgertum gegen den republikanischen Zentralstaat eingesetzt wurde. Die nachhaltige Präsenz des Krieges in der politischen Kultur der zwanziger Jahre bewirkte, dass das Denken in nationalen Gegensätzen ein hohes Maß an Plausibilität behielt.
1. Die ausgebliebene Krise: Sieg, Wiederaufbau und antirevolutionäre Abwehr Der Ausgang des Ersten Weltkriegs war für Frankreich zweischneidig. Der Freude über militärischen Sieg und territoriale Gewinne stand das Bewusstsein gegenüber, noch lange an den demographischen und ökonomischen Folgen des Konflikts tragen zu müssen. Der Wiederaufbau großer Teile des Landes stellte eine immense Herausforderung dar und erschien aufgrund der Erwartungen in den befreiten Gebieten als spannungsträchtiges Projekt. Die Konsequenzen, die aus dem Krieg für die Ordnung von Politik und Gesellschaft gezogen wer-
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den sollten, waren hochgradig kontrovers.162 Zwischen 1919 und 1924 hatte die Mitte-Rechts-Koalition des Bloe national eine parlamentarische Mehrheitsstellung inne. Sie stand in einer direkten Kontinuität zur konservativ gewendeten Union sacrée der zweiten Kriegshälfte und beanspruchte, den Gegensatz zwischen Katholizismus und Antiklerikalismus endgültig zu überwinden.163 Auf der anderen Seite des politischen Spektrums erfuhr die Arbeiterbewegung einen Radikalisierungsschub, der im Frühjahr 1920 in einem spektakulären Eisenbahnerstreik und der Gründung der Kommunistischen Partei kulminierte.164 Die Hoffnung, dass der siegreich überstandene Krieg die Konflikte in der französischen Gesellschaft beenden würde, hatte sich als Illusion erwiesen. In das Spannungsfeld von Sieg, Wiederaufbauproblemen und linksradikaler Herausforderung waren Industrielle und hohe Beamte an exponierter Stelle involviert. Die Industriellen konnten die Nachkriegsjahre in vieler Hinsicht als eine erfolgreiche Periode betrachten. Dass sie für den Wiederaufbau eine Schlüsselrolle spielten, perpetuierte ihre nationale Selbstaufwertung und verschaffte ihnen staatliche Anerkennung und Unterstützung. Daraus leiteten sie weitreichende politische Gestaltungsansprüche ab, wenngleich deren Erfüllung besonders in Nordfrankreich hinter den hohen Erwartungen zurückblieb. Die revolutionäre Herausforderung zielte auf den Kern unternehmerischer Werthaltungen und Interessen, und deshalb war ihr Scheitern für die Industriellen Anlass zu Erleichterung und Triumphalismus. Auf der Agenda der hohen Beamten nahm der Wiederaufbau die höchste Priorität ein. Im befreiten und weitgehend zerstörten Nordfrankreich ergaben sich daraus gravierende Probleme. Präfekten und Unterpräfekten waren zunächst mit der verbreiteten Enttäuschung über die schleppenden Fortschritte der Rekonstruktion und damit auch den Zentralstaat konfrontiert. Als der Wiederaufbau in Gang kam und überraschend schnelle Fortschritte machte, versuchten sie, die verbesserte Stimmung zu wahren und zu nutzen, indem sie der regionalen Identität der nordfranzösischen Bevölkerung rhetorisch entgegenkamen. In diesem Kapitel wird zunächst die Siegesdeutung der Industriellen behandelt und die Konsequenzen, die sich daraus für ihre politischen Vorstellungen und ihre Selbstdarstellung ergaben. Das Beispiel Lyon zeigt exemplarisch, wie sich der Rekonstruktions- und Wirtschaftskampfdiskurs an lokale Identitäten koppeln ließ. In diesem Zusammenhang sind die nordfranzösischen Industriellen von besonderem Interesse, weil sich hier Regionalbewusstsein, Ansprüche auf nationale Solidarität und konservative Reformvorstellungen verbanden. Bei der Untersuchung der hohen Beamten des Departements Nord steht die Frage im Mittelpunkt, ob und wie sich unitarischer Patriotismus, Konsens162 Vgl. die jüngste Gesamtdarstellung der Nachkriegsjahre von Martin. 163 Vgl. J.-J. Becker, La France, S. 158-170; ders./Audoin-Rouzeau, S. 355-366. 164 Vgl .Kriegel.
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Stiftung und administrative Autoritätswahrung vereinbaren ließen. Zum Schluss werden die Konsequenzen der revolutionären Herausforderung und ihres Scheiterns für Selbstdeutungen und Nationsverständnis der Industriellen herausgearbeitet. Als im November 1918 der Waffenstillstand geschlossen wurde, ging für die französischen Industriellen und hohen Beamten ein Konflikt zu Ende, in dem mit der nationalen Unabhängigkeit auch ihre gesellschaftliche Stellung auf dem Spiel gestanden hatte. Der Sieg stellte einen Deutungsrahmen für die Erfahrungen der folgenden Jahre bereit und überlagerte teilweise die Konflikte und Enttäuschungen, von denen die Nachkriegszeit keineswegs frei war. Die Industriellen sahen sich in ihrer Selbstwahrnehmung und Außenlegitimation, die während des Krieges patriotische Motive und nationale Bedeutung ihrer Tätigkeit betont hatte, eindrucksvoll bestätigt: »Engins de guerre, explosifs, gaz homicides, tout ce qu'une scientifique barbarie nous a forcés é piagier, a été inventé, fabriqué, perfectionné, si bien que nous avons pu nous défendre d'abord, attaquer ensuite, et vaincre finalement.«165
In die Freude über den Sieg mischte sich jedoch die Trauer über tote Kollegen und Söhne, die die Hervorhebung der eigenen Kampferfahrung und patriotischen Opferbereitschaft zusätzlich fundierte.166 Auch in anderer Hinsicht war der Triumph nicht perfekt. Wenn der Textilindustrielle Auguste Isaac in sein Tagebuch notierte, dass sich Frankreich des Erfolgs erst als würdig erweisen müsse, 167 artikulierte sich darin das Bewusstsein, dass das Erreichte fragil und unvollendet war. Mit dem militärischen Sieg rückten für die Unternehmer ökonomische Fragen in das Zentrum eines fortdauernden Konflikts, in dem der Waffenstillstand noch lange nicht in Sicht war. Um den Wirtschaftskampf erfolgreich zu bewältigen, kam es darauf an, das Land wiederaufzubauen und die neugewonnene innere Einheit der Kriegsjahre zu perpetuieren. 168 Mit dieser Grundhaltung ordneten sich die Industriellen in einen breiten Rekonstruktionskonsens ein, der - anders als in der Vorkriegszeit - den Schulterschluss mit den Präfekten ermöglichte. Diese propagierten ebenfalls die Zukunftsvorstellung eines Wirtschaftskriegs, in dem es entscheidend auf die Bewahrung der nationalen Einheit ankomme und erklärten sich selbst zu deren Garant.169 Wenn sie betonten, 165 Fougère, S. 3; ähnlich die Rede des Präsidenten der Handelskammer von Lyon, Jean Coignet, Archives de la Chambre du Commerce et de l'Industrie de Lyon, Procés-verbaux, Séance du 21 Novcmbre 1918. 166 Ebd.; Isaac, Journal, S. 68 (17.11.1918). 167 Ebd., S. 67(11.11.1918). 168 EE 2, Nr. 8 (Oktober-Dezember 1918), S. 3-8, 9-27; Fougère, S. 36. 169 Rede des Präfekten des Departements Rhone vor der Handelskammer von Lyon, Archives de la Chambre du Commerce et de ('Industrie de Lyon, Procès-verbaux, Séance du 21 Novembre 1918.
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dass der Sieg nur durch Arbeit, Ordnung und Disziplin realisiert werden könne, »tout dans un sentiment de haut patriotisme«, lag darin eine prinzipielle Übereinstimmung mit den Industriellen.170 Begünstigt durch den staatlichen Rückenwind, dessen Hintergrund die innenpolitische Dominanz des Bloc national bildete,171 vertraten die Unternehmer selbstbewusst ihre Forderungen, die sie mit den Notwendigkeiten des nationalen Wiederaufstiegs legitimieren konnten. An erster Stelle gehörte dazu die Beendigung des Systems der Kriegswirtschaft und die Wiederherstellung der Handelsfreiheit.172 Die politischen Entscheidungen der Nachkriegsjahre fielen allerdings nicht in jeder Hinsicht im Sinne der Industriellen aus. Die Einführung des Achtstundentags wurde als eine massive Verletzung der eigenen Leitbilder und Interessen empfunden. Ihre Oppositionshaltung begründeten die Unternehmer mit den Auswirkungen des demographischen Aderlasses und der erschwerten Situation in den befreiten Gebieten.173 Diese Argumente hoffte man, auch der Arbeiterschaft nahebringen zu können. Dazu müsse die Regierung an deren Patriotismus in derselben Weise appellieren wie an die Opferbereitschaft der Soldaten in den Schützengräben. 174 Hier artikulierte sich ein ungebrochen paternalistisches Unterschichtenbild, das die Agitation extremistischer »meneurs« für Streiks und sozialpolitische Forderungen verantwortlich machte. Die stabile, aus dem eigenen Beitrag zu Sieg und Wiederaufbau abgeleitete nationale Legitimation prägte in den folgenden Jahren die Selbstdarstellung der Industriellen. Das erschien um so plausibler, als wichtige Neuerungen der Kriegsjahre fortgeführt wurden. So veranstaltete man weiterhin die Foire de Lyon und verstand sie als Gegenprojekt zur Leipziger Messe. Dadurch ließ sich die nationale Einbettung der »cité laborieuse« Lyon und der Zielvorstellungen und Interessen ihrer ökonomischen Elite öffentlichkeitswirksam und symbolträchtig in die Nachkriegszeit verlängern.175 Im Hintergrund stand nach wie vor die Ambition, eine erneute schleichende ökonomische Infiltration durch Deutschland, in der man eine zentrale Kriegsursache sah, durch eigene Expansionsbemühungen zu verhindern. Dazu bedürfe es des Austauschs mit anderen Nationen. Die Messe sei notwendig, um ihre Besucher von der Vielfalt 170 Rede des Präfekten des Departements Rhone vor der Handelskammer von Lyon, in: Réception Offerte par la Chambre de Commerce de Lyon à M. le Général Gouraud, S. 18f. 171 Vgl. Mayeur S. 251-269: J.J. Becker/Berstein, S. 179-241. 172 BCI 19, Nr. 49/50 (April-Juni 1919), S. 36ff.; C C L 1918, S. 201-207; EE 3, Nr. 2 (Februar 1919), S. 60f. Allerdings gab es auch einzelne Stimmen, die eine Fortsetzung des massiven Staatsinterventionismus der Kriegsjahre forderten; sie stammten naheliegenderweise von solchen Industriellen, die sich davon Nutzen versprechen konnten, z.B. Andre Citroen oder Louis Renault, vgl. Fridenson, L'idéologie, S. 54. 173 Vgl. z.B. APCCF (31.3.1919), S. 38-63; EN 2 (1920), S. 109-116. 174 Rede des Präsidenten der Handelskammer von Beifort, APCCF (16.2.1920), S. 106. 175 Rede des Präsidenten der Handelskammer von Lyon, Jean Coignet, in: Battquet Herriot, S.5-8.
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und Qualität der französischen Produkte zu überzeugen, und stelle daher eine wichtige Grundlage des wirtschaftlichen Wiederaufbaus dar.176 Die Sinngebung der Foire de Lyon bewahrte das Selbstverständnis einer alten Handelsstadt mit traditionell internationaler Orientierung und aktualisierte es zugleich in den Kategorien des Nationalismus, weil sie der Messe eine Schlüsselrolle im ökonomischen Kampf gegen Deutschland zuschrieb. Beides ließ sich ohne Schwierigkeiten vereinbaren, denn da man es nur mit einem Gegner zu tun hatte, konnte man sich wie vor 1914 an den Beitrag von italienischen oder spanischen Immigranten zum Aufstieg der eigenen Stadt erinnern. 177 Das Leitbild des Wirtschaftskampfs verlor jedoch in Lyon bereits wenige Jahre nach Kriegsende an identitätsstiftender Bedeutung. 178 Das lag auch daran, dass die Selbstdeutung der lokalen Industriellen bis zur Weltwirtschaftskrise keinen existenzbedrohenden Herausforderungen ausgesetzt war. Vor dem Hintergrund der guten Wirtschaftslage bewiesen sie ökonomische Anpassungsfähigkeit und behielten ihre führende Rolle im gesellschaftlichen Leben der Stadt.179 In immer neuen Auflagen erzählten sie die Geschichte eines stetigen, durch den Krieg nur kurzfristig gestörten Aufstiegs in der Kontinuität »d'un illustre passé commercial«, den die selbstbewusste »élite commerciale et industrielle« zu personnifizieren überzeugt war.180 Die ebenfalls erfolgreichen neuen Branchen der Region, etwa die Metall- und Chemieindustrie, ließen sich in dieses Narrativ integrieren, das auch in politischer Hinsicht nicht wirklich unter Druck geriet. Zwar pochte man gegenüber dem Linkskartell von 1924, in dem die Radikalen das Kabinett stellten und sich von den Sozialisten tolerieren ließen, verstärkt auf staatliche Zurückhaltung und verwies besorgt auf die Gefahren der Inflation.181 Die rasche Stabilisierung durch die Regierung Poincaré im Zeichen der »Union nationale« ab 1926 verhinderte jedoch, dass daraus ein Krisensyndrom erwuchs, das das Selbstverständnis der Industriellen Lyons affiziert hätte. Erleichtert sahen sie nicht nur den Wert der Währung, sondern auch das Ansehen Frankreichs in der Welt wiederhergestellt. 182 Es entsprach diesem positiven Bild, dass es den Lyoner Eliten gelang, ihre soziale Stellung auch in den zwanziger Jahren zu halten.183 Schon bald nach Kriegs176 La Revue des Foires de Lyon 1 (1919), S. 9-20. 177 CCL 1923, S. 533-538. 178 Diese Aussage basiert auf einer Durchsicht der CCL, 1919-1930. 179 Vgl. Cayez, S. 324-334,341 f. Das galt trotz der aufkommenden Differenzen innerhalb des regionalen Liberalismus, denen Unterschiede zwischen traditionellen und moderneren Industriellen entsprachen, vgl. Passmore, The Right, S. 47-50. 180 Rede des Präsidenten der Handelskammer von Lyon, Louis Pradel, in: Chambre de Commerce de Lyon, Réception, S. 5-9. 181 CCL 1925, S. 612; zum Linkskartell vgl. J.-J. Becker/Berstein, S. 242-277 Jeanneney. 182 Rede des Präsidenten der Handelskammer von Lyon, Louis Pradel, in: Réception Offerte parla Chambre de Commerce de Lyon à M. Bokanowski, S. 4-10. 183 Vgl. Pinol, Mobility, S. 132.
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ende kehrten sie zur bürgerlichen Soziabilität der mondänen Bälle und des Vereinslebens zurück.184 Der national eingebettete und an die lokale Identität gekoppelte Fortschrittsoptimismus der Industriellen Lyons ruhte also auf einem ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Fundament, das bis Ende der zwanziger Jahre stabil schien. Erheblicher schwieriger gestaltete sich der Wiederaufbau im befreiten Nordfrankreich, wo die deutsche Invasion und Besatzung zerstörte Fabriken, Minen und Städte hinterlassen hatte. Die regionalen Unternehmer gingen mit weitreichenden politischen Gestaltungsansprüchen in die Rekonstruktionsperiode. Sie verwiesen auf das nationale Interesse an einem raschen Wiederaufbau und leiteten daraus die Forderung ab, selbst in zentralen Punkten an die Stelle des herkömmlichen Verwaltungsapparats zu treten und unter die Leitung eines eigens ernannten Gouverneurs gestellt zu werden.185 Dass sie in dieser Ambition enttäuscht wurden, trug mit dazu bei, die realen Schwierigkeiten und Verzögerungen der folgenden Jahre mit großer Schärfe wahrzunehmen und der bürokratischen Ineffizienz des republikanischen Zentralstaats anzulasten. Indem sie die Solidarität des übrigen, unbesetzt gebliebenen Landes einklagten und ihr Ausbleiben anprangerten, schlossen sie sich einer verbreiteten Deutung an, welche die Vernachlässigung und mangelnde Beachtung des befreiten Nordfrankreich mit Verbitterung thematisierte.186 Die Nation, hieß es programmatisch in der ersten Nummer der Zeitschrift »Le Nord Industriel«, schulde der Region Straßen, Eisenbahnen und Kanäle und müsse statt der paralysierenden Verwaltung stärker die Privatinitiative zum Tragen kommen lassen.187 Vor allem der Kohlenmangel wurde immer wieder beklagt und zum Paradebeispiel für die defizitäre Problemlösungskapazität des Staates erklärt. Das befreite Gebiet, das während der deutschen Besatzung heroisch standgehalten habe und den Wiederaufbau mit Hoffnung und Engagement angehe, werde dadurch in seiner Existenz gefährdet und drohe zum »Nord sacrifié« zu werden.188 Ein weiterer Quell des Ärgers war die schleppende Bearbeitung von Anträgen auf Überlassung ausländischen Materials, die bei den betroffenen Industriellen das Gefühl aufkommen ließ, dass die eigene Heimat vom Staat vernachlässigt werde.189 184 Vgl. Pinol, Les m o b i l é s , S. 148-151; den., Élites, S. 58f.; zur Wiederaufnahme der mondänen Soziabilität vgl. Le Tout Lyon, 1.5.1921. 185 Voeux concernant l'organisation administrative des régions sinistrées pour la période de reconstitution, ADN, 9 R 1214; das Papier stammt vermutlich aus einem Industriellenzirkel in Roubaix um den katholisch-konservativen TextilFabrikanten Eugène Mathon und ist Anfang 1918 verfasst worden; vgl auch Journal des Réfugiés du Nord, 13.11.1918. 186 Vgl. Le Naour. 187 NI (1919), S. 1. 188 NI 2 (1920), S. 2; vgl. auch NI 1 (1919), S. 1l f., 17f. 189 Aciéries & Fonderies d'Art de Haine-Saint-Paire & Metallurgique Lillois an Handelskammer von Lille, 5.2.1920, ADN, 76 J , boîte 197, dossier 16; im Tenor ähnlich bereits kurz nach Kriegsende Handelskammer von Roubaix, Sitzung vom 19.12.1918, ADN, 79J 17.
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Trotz solcher Frustrationen machte die Rekonstruktion Nordfrankreichs bald Fortschritte. Ihre diskursive Begleitung durch die Industriellen hob in zahlreichen, teilweise auch visualisierten Einzelerzählungen die Wiederaufbauleistungen von Städten, Branchen und Unternehmen hervor und integrierte sie in eine lineare Erfolgsgeschichte. Stets wurde dabei die Regenerationskraft der Region betont und der lähmenden Inaktivität des Staates gegenübergestellt. Verantwortlich dafür seien in erster Linie Arbeitsvermögen und Privatinitiative der Unternehmer, die sich allen bürokratischen Hemmnissen zum Trotz behauptet hätten.190 Diese Deutung stand in der Kontinuität der Kritik am unitarischen Nationskonzept des republikanischen Zentralstaats, die bereits in der Vorkriegszeit formuliert worden war. Gestützt durch die eigene Opfererfahrung während des Krieges und das Bewusstsein der eminenten militärstrategischen Bedeutung des nordfranzösischen Industriereviers konnte sich die örtliche ökonomische Elite eine Schlüsselrolle in einer im konservativen Sinne erneuerten Nation zuschreiben, die sich aus privatwirtschaftlichen Kräften und regionalen Identitäten konstituierte und auf dem Weg zu einer ungekannten äußeren Machtstellung schien: »Cette nouvelle aurore de travail fécond montre bien que la France n'est pas morte, et que bientôt, eile se relèvera plus grande, plus forte, plus redoutable que jamais!« 191
Der identitäre Wert des Rekonstruktionsdiskurses lag nicht zuletzt darin, dass er sich gleichermaßen an Modernitätsstreben und Traditionsbewusstsein der regionalen Industriellen koppeln ließ. Der Wiederaufbau wurde vielerorts zur Erneuerung des Maschinenparks genutzt, mit der man nach außen Anpassungsbereitschaft und Flexibilität demonstrierte.192 Gleichzeitig wurde er in die Kontinuität der Tradition kommunaler Eigenständigkeit seit dem spätmittelalterlichen Flandern gestellt, zu der sich besonders die Textilfabrikanten nach wie vor bekannten.193 Die Rekonstruktionserfahrung und ihre diskursive Verarbeitung bestärkten die Industriellen in der Überzeugung, »le jeune élan d'une nation, pourtant bien vieille sous le soleil« bewiesen zu haben und in vorteilhaftem Kontrast zur trägen Beamtenschaft und den Querelen der parlamentarischen Demokratie »la force vivante du pays« zu bilden.194 Die Deutung des Wiederaufbaus diente also zur Begründung eines unverkennbaren Machtstrebens, das darauf abzielte, die gesellschaftliche Stellung der nordfranzösischen ökonomischen Elite politisch abzusichern und ideell zu legitimieren. 190 NI 1 (1919), S. 15; vgl. auch ebd., S. 12, 13-18; NI 2 (1920), S. 182, 1112f; zur privatwirtschaftlichen Organisation des Wiederaufbaus vgl. Kuiset, Capitalism, S. 69fT. 191 NI 1 (1919), S. 18f.; ähnlich NI 2 (1920), S. 604f.; Annales de la Chambre de Commerce de Tourcoing 1920, S. 16-19. 192 NI 1 (1919), S. 13-18; NI 2 (1920), S. 762f; NI 5 (1923), S. 710f. 193 Annales de la Chambre de Commerce de Tourcoing, 1er.Semestre1922, S. 119ff 194 NI 5(1923), S. 2327f.
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Auch für die Präfekten und Unterpräfekten des Departements Nord stellte der Wiederaufbau die oberste Priorität der Nachkriegsjahre dar.195 Dabei wurde bald deutlich, dass die Selbstverpflichtung der Verwaltung zur schnellen Problembewältigung196 kaum einzulösen war. Unmittelbar nach der Befreiung von der deutschen Besatzung dominierten zunächst Freude und Erleichterung. Der Unterpräfekt von Valenciennes, der die vorangegangenen Jahre in Gefangenschaft und auf der Flucht verbracht hatte, äußerte seine innere Bewegung angesichts der deutschen Zerstörungen und forderte dazu auf, die »Union sacrée« in die Rekonstruktionsperiode zu verlängern.197 Der neu in sein Amt eingesetzte Präfekt war darauf bedacht, die Befreiungsfeiern im gleichen Sinne zu gestalten und jeden Misston zu vermeiden.198 Seine Bemühungen um Konsensstiftung gestalteten sich jedoch schwierig. Bei seiner Ankunft fand er eine zerstörte Präfektur vor und litt mangels funktionierender Telegraphenverbindungen unter Informationsdefiziten. Das war um so gravierender, als er mit den Folgewirkungen des Autoritätsvakuums nach dem Abzug der deutschen Truppen, konkret mit Schiebern und »femmes de mauvaise vie«, konfrontiert war und einem verbreiteten Unmut über die schleppende Verbesserung der materiellen Lage gegenüberstand.199 Vor allem letzteres war schwierig zu bekämpfen. Der Präfekt äußerte einerseits Verständnis für die Enttäuschung; andererseits hielt er sie auch für taktisch geschürt und von den Industriellen zur schnelleren Rohstoffbeschaffung instrumentalisiert. Seine Wahrnehmungen verweisen auf den Konflikt zwischen dem unitarischen Patriotismus der hochrangigen Repräsentanten des Zentralstaats und dem regionalistisch gewendeten Anspruch der nordfranzösischen Bevölkerung auf nationale Solidarität. Der Spitzenbeamte musste feststellen, dass für den - erst nach der Befreiung der besetzten Gebiete geschlossenen Waffenstillstand ebensowenig Enthusiasmus empfunden wurde wie für die Annexion Elsass-Lothringens.200 Zudem werde die eigene Lage ausschließlich an der Vorkriegszeit gemessen und dabei verkannt, dass auch das unbesetzte Gebiet mit Versorgungsproblemen zu kämpfen habe.201 Dennoch zeigte sich der Präfekt überzeugt, dass die »âme nationale« intakt sei und war bemüht, die Bevölkerungsstimmung zu verbessern und den Wiederaufbau voranzutreiben. Er versuchte, den Verwaltungsapparat und die Kontakte zu Bürgermeistern und Interessengruppen wiederherzustellen, gegen den Schwarzhandel vorzugehen, 195 196 197 198 199 200 201 149 5.
Vgl. Dedelot, S. 48-54. Erklärung des Präfekten des Departements Nord, 23.10.1918, ADN, 9 R 1187. Unterpräfekt von Valenciennes an Bürgermeister, 11.11.1918, ADN, 9 R 1189. Präfekt des Departements Nord an Bürgermeister, 19.11.1918, ADN, 9 R 1195. Präfekt des Departements Nord an Minister des Innern, 18.11.1918, ADN, 9 R 1190. Präfekt des Departements Nord an Minister des Innern, 23.1.1919, ADN, Μ 149 5. Präfekt des Departements Nord an Minister der befreiten Regionen, 11.1.1919, ADN, Μ
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provisorische Arbeitsämter einzurichten und Streiks zu schlichten. Gleichzeitig forderte er von der Regierung eine Verstärkung der Polizei und ein großes Beschäftigungsprogramm.202 In den folgenden Monaten nahm die Verwaltung des Departements eine heikle Mittlerstellung zwischen Staat und Bevölkerung ein. Immer wieder klagte sie über unrealistische, auf einer Fehleinschätzung der tatsächlichen Probleme beruhende und einzig aus den Leiden der Besatzungszeit abgeleitete Erwartungen, deren Enttäuschung vereinzelt sogar Unruhen befürchten ließ.203 Die Schwierigkeiten der Ordnungswahrung und Konsensstiftung veranlassten einen Unterpräfekten, die Einführung der Pressezensur zu fordern.204 Einer seiner Kollegen äußerte Kritik an der Pariser Bürokratie, weil es ihr an Kenntnissen über das befreite Gebiet mangele und schloss sich damit ein Stück weit der verbreiteten Unzufriedenheit über den Zentralstaat an.205 Der Präfekt selbst führte dagegen die Schwierigkeiten des Wiederaufbaus auf die mentalen Folgen des vierjährigen erzwungenen Müssiggangs zurück und forderte dazu auf, die »idées d'ordre, de prévoyance et de dignité qui étaient l'honneur de la France« wieder erzieherisch zur Geltung zu bringen.206 Das überraschende Tempo des Wiederaufbaus entzog den Befürchtungen der Verwaltung sukzessive den Boden.207 Im April 1921 blickte der Präfekt auf die zerstörerische Hinterlassenschaft der deutschen Besatzung und die Anfangsschwierigkeiten seiner Tätigkeit zurück und konnte erste Erfolge verzeichnen.208 Bereits wenige Monate später sprach er bereits von einer »reconstitution definitive«; er kam dabei den katholischen Wertvorstellungen großer Teile der nordfranzösischen Bevölkerung entgegen, indem er deren Reproduktionskraft und Familiensinn lobte.209 Diese Tendenz wurde noch deutlicher, als der Spitzenbeamte im April 1922 den Wiederaufbau als einen weitgehend abgeschlossenen Prozess darstellen konnte, den er auf Energie und Patriotismus der Bewohner der Region zurückführte.210 In derartigen Äußerungen wurden die Industriellen gewürdigt und die beträchtlichen Konflikte zwischen Staat und Wirtschaft, von denen die Rekonstruktionsperiode gekenn202 Präfekt des Departements Nord an Minister des Innern, 23.1.1919, ADN, Μ 149 5. 203 Unterpräfekt von Valencienncs an Präfekt des Departements Nord, 31.1.1919; mit weniger pessimistischem Tenor Unterpräfekt von Douai an Präfekt des Departements Nord, 3.2.1919; Unterpräfekt von Avcsncs an Präfekt des Departements Nord, 1.3.1919, alle in: ADN, Μ 149 5. 204 Unterpräfekt von Avesnes an Präfekt des Departements Nord,31.3.1919, ADN, Μ 1495. 205 Unterpräfekt von Valenciennes an Präfekt des Departements Nord, 1.4.1919, ADN, Μ 149 5. 206 Präfekt des Departements Nord an Minister der befreiten Regionen, 8.4.1919, ADN, Μ 149 5. 207 Vgl. verschiedene Berichte aus dem Jahr 1921, ADN, Μ 149 und Μ 150. 208 Naudin, Deux ans. 209 Naudin, La Reconstitution, S. 15. 210 Naudin, Trois ans de Reconstitution, S. 3, 9.
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zeichnet war, in einer harmonisierenden Sicht aufgehoben.211 Gestützt durch Wiederaufbau und wirtschaftliche Erholung versuchten die hohen Beamten, die Kluft zwischen unitarischer und regional konstituierter Nation zu überbrücken, indem sie sich der nordfranzösischen Identität rhetorisch annäherten. Das war deshalb möglich, weil sich die Rekonstruktion des Departements in einen nationalen Erholungsprozess einbetten ließ. Dass den ökonomischen und administrativen Eliten in Frankreich die Erfahrung einer Krise erspart blieb, lag nicht zuletzt daran, dass nach 1918 keine Revolution ausbrach. Der Lyoner Textilindustrielle Auguste Isaac stellte befriedigt fest, dass der Versuch, nach der Verkündigung des Waffenstillstands eine rote Fahne zu schwenken, keine breite Nachahmerschaft fand und von einigen Soldaten verhindert wurde. 212 Der Bolschewismus wurde allgemein als antinationale Kraft gebrandmarkt,213 eine reale Bedrohung stellte er jedoch nicht dar. Zwar gewann das Schreckensbild einer Tyrannei der Arbeiter durch das gestärkte proletarische Selbstbewusstsein an Plausibilität und warf bange Fragen nach der Behauptungsfähigkeit des Bürgertums auf, es ließ sich aber auch als Anstoß zu eigenen Organisationsbestrebungen auffassen.214 Als im Frühjahr 1920 eine Streikwelle das Land in Atem hielt, die in einem spektakulären Ausstand der Eisenbahner kulminierte, erreichte die Konfrontation zwischen bürgerlichem Nationsverständnis und Internationalismus ihren Höhepunkt. 215 Das Scheitern der revolutionären Ambitionen wurde von den Industriellen als eindrucksvoller Sieg interpretiert und auf den mehrheitlich intakten Patriotismus und »bon sens« der französischen Arbeiterschaft zurückgeführt. 216 Es ließ sich außerdem zum Beweis einer tragfähigen regionalen Identität erklären. So wurde betont, dass die nordfranzösischen Eisenbahner den extremistischen Lockrufen widerstanden und im Unterschied zu ihren süd- und westfranzösischen Kollegen ihre Pflicht »envers leur Région et envers la Nation« erfüllt hätten.217 Hinzu kam das gestärkte Selbstbewusstsein des Bürgertums, das sich in sogenannten Unions Civiques zusammengeschlossen und die Streikenden ersetzt hatte.218 Eine Kampferfahrung war das nicht, was sich auch in den folgenden Jahren nicht ändern sollte. Die linksradikale Herausforderung griff zwar die Wertvorstellungen der Eliten, nicht aber ihre persönliche Integrität an 211 Morain, S. 53-65; Rede des Präfekten auf der Sitzung der Handelskammer von Roubaix, 16.1.1930, ADN, 79 J 24. 212 Isaac, Journal, S. 66 (10.11.1918), 67f. (17.11.1918). 213 Vgl. u.a. BCI 19, Nr. 49/50 (April-Juni 1919), S. 2f.; CCL 1919, S. 6 1 ; UCIDS 16, Nr. 2 (Februar 1920), S . l ff. 214 UCIDS 15, Nr. 6 (Juni 1919), S. 14ff. 215 Vgl. Kriegel Bd. 1, S. 355-547. 216 Vgl. u.a. La Journée Industrielle, 2.5.1920; NI 2 (1920), S. 569f. 217 Ebd., S. 626.2 218 Ebd.,S. 509f.; UCIDS 16,Nr. 5/6(Mai/Juni 1920), S. 1f; Académie des Sciences, Beltes-Lettres et Ans de Lyon; zur Unterstützung durch die Handelskammer von Lyon ebd., S. 10.
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und wurde von ihnen in ihrer Selbstwahrnehmung höchst erfolgreich in die Schranken gewiesen. Das konservative und bürgerliche Verständnis der Nation, das von den Industriellen propagiert und zur eigenen Identitätsstiftung herangezogen wurde, ging daraus gestärkt hervor. Die Nachkriegsjahre stellten die Problemlösungskapazität der französischen Industriellen und hohen Beamten auf eine harte Probe; sie bescherten ihnenjedoch keine Krisenerfahrung. Die erfolgreiche Bewältigung des Krieges, die den Anstrengungen der vorangegangenen Jahre ein blendendes Zeugnis auszustellen schien und zunächst die Aussicht auf eine ebenso erfolgreiche Fortsetzung im Wirtschaftskrieg gegen Deutschland eröffnete, begünstigte die Konstruktion einer nationalen Aufstiegsgeschichte. Auch wenn die Verbindlichkeit dieses Deutungsmusters für die eigene Selbstinterpretation bald spürbar nachließ, ermöglichte es der schnelle Wiederaufbau, die positive Entwicklung der eigenen Region, Stadt, Branche oder Firma in einen nationalen Rahmen einzubetten. Während dies in Lyon weitgehend reibungslos gelang, gestaltete sich der Rekonstruktionsprozess im befreiten und teilweise zerstörten Nordfrankreich schwieriger. Die Industriellen leiteten aus der Besatzungserfahrung und den Erfordernissen des Wiederaufbaus weitreichende politische Machtansprüche ab, deren Erfüllung ihnen jedoch versagt blieb. Vor diesem Hintergrund sahen sie in den anfänglichen Versorgungsproblemen Versäumnisse eines ineffizienten, die regionalen Bedürfnisse und Interessen missachtenden Zentralstaats und die faktische Verweigerung der Nordfrankreich geschuldeten nationalen Solidarität. Als der Wiederaufbau in Gang kam, schrieben sie ihn ihrem zähen Aufbauwillen und ihrer Privatinitiative zu und reklamierten damit gleichzeitig eine Führungsrolle in der Region. Die hohen Beamten des Departements lavierten im Spannungsfeld zwischen unitarischem Nationsverständnis und den Erwartungen und Enttäuschungen der Bevölkerung und versuchten unter großen Schwierigkeiten, ihrer Aufgabe der Ordnungswahrung und Konsensstiftung nachzugehen. Die Rekonstruktionserfolge begleiteten sie mit einer Rhetorik, die zentralen Komponenten der regionalen Identität Tribut zollte und sich dadurch vom bürokratischen Selbstverständnis der Vorkriegszeit abhob. Da die französischen Eliten keiner Revolutionserfahrung ausgesetzt waren und die linksradikale Herausforderung der Streikwelle von 1920 zumindest in ihrer Selbstwahrnehmung in eindrucksvoller Weise überstanden hatten, gestalteten sich die Nachkriegsjahre für sie erfolgreich. Allen Schwierigkeiten zum Trotz sahen sie sich in ihren Wertvorstellungen, Gesellschaftsbildern und Identitäten bestärkt und blickten optimistisch in die Zukunft Ihr nationales Selbstbild war von der neugewonnenen »vitalite« eines zwar angeschlagenen, aber doch glanzvollen Siegers bestimmt.219 219 Vgl. u.a. FICF 15 (1918), S. 122-125; CCL 1920, S. 21; Schneider, S. 15.
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2. Der lange Schatten: Kriegserinnerung u n d Deutschlandpolitik Das Frankreich der zwanziger Jahre stand im Schatten des Krieges, dessen Spuren noch lange sichtbar blieben. Seine politische Kultur war geprägt von den Nachwirkungen des Konflikts, der das Land an den Rand einer Niederlage gebracht und größte Opfer gefordert hatte.220 Die Erinnerung an den Krieg wirkte für weite Teile der französischen Gesellschaft orientierungs- und identitätsstiftend. Genau deshalb wurde sie unterschiedlich gedeutet und für gegensätzliche Ziele eingesetzt.221 Der gemeinsame Nenner der Einstellungen zu außenpolitischen Fragen, besonders zum adäquaten Umgang mit Deutschland, lag in dem Bestreben, eine Neuauflage des Krieges zu verhindern. Über die Konsequenzen, die aus diesem Axiom gezogen werden sollten, lieferten sich allerdings die Verfechter einer harten Linie und die Anhänger von internationaler Verständigung und Pazifismus erbitterte Kontroversen.222 Ein Konsens über Sinngebung und Ziele der Nation wollte sich auch nach der fundamentalen Erfahrung des Krieges nicht einstellen.223 Industrielle und hohe Beamte waren an den kulturellen und politischen Folgewirkungen des Krieges in spezifischer Weise beteiligt. Insofern ergänzt dieses Kapitel die bisherige Forschung, die sich auf die Untersuchung von Veteranenverbänden, Denkmälern und Feiern konzentriert hat.224 Die ökonomischen Eliten hatten in großer Zahl unter der deutschen Besatzung gelitten. Nach der Befreiung hielten sie die Erinnerung an die Zerstörung ihrer Fabriken wach und leiteten daraus Ansprüche auf finanzielle Entschädigung und nationale Auszeichnungen ab. Die Besatzungserinnerung der Unternehmer untermauerte das Deutungsmuster des Wirtschaftskampfs und war dadurch über Nord- und Ostfrankreich hinaus prägend für ihre deutschlandpolitischen Positionen. Für die hohen Beamten erwies sich die Gestaltung der Kriegserinnerung als heikle Aufgabe, weil sie über die nationale Distinktionswürdigkeit von Individuen zu entscheiden hatten. In Nordfrankreich mussten sie zusätzlich beurteilen, ob bestimmte Personen während der Besatzung kollaboriert hatten. Zur Bewältigung dieser schwierigen Situation orientierte sich die Verwaltung am Ziel der Konsensstiftung und war zusätzlich bestrebt, den regionalen Eliten entgegenzukommen. Im folgenden wird zunächst die Verleihungspraxis der Medaille de la Reconnaissance française behandelt, an der sich das Spannungsverhältnis zwischen dem administrativen Anspruch auf die Definition patriotischen Verhaltens und
220 Vgl. allg. Horne, Schatten. 221 Vgl. die knappe Zusammenfassung bei J.-J. Becker/Berstein, S. 169-178. 222 Vgl. Adamthwaite. 223 J.-J. Becker, La France, S. 191-204. 224 Vgl. u.a. Prost, Les Anciens Combattants; Α Becker, Les Monuments; Sherman.
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der Nachfrage von Honoratioren nach staatlicher Anerkennung analysieren lässt. Wichtig ist dabei die Frage, inwieweit die hohen Beamten bereit waren, nationale und bürgerliche Distinktion aneinander zu koppeln. Danach wird untersucht, wie und mit welchen Folgen sich die nordfranzösischen Industriellen an die deutsche Besatzung erinnerten. Abschließend ist auf die außenpolitischen Vorstellungen der Unternehmer seit Mitte der zwanziger Jahre einzugehen und zu fragen, inwieweit das Feindbild Deutschland gegenüber pragmatischen Geschäftsinteressen einerseits und neuen nationalen Abgrenzungen andererseits an Bedeutung verlor. Nach 1918 versuchten die hohen Beamten, die Erinnerung an den Krieg zur Herstellung und Wahrung des nationalen Konsenses zu nutzen. Im Vorfeld der Feier des Waffenstillstandstags 1920 hielt der Präfekt des Departements Rhone die Bürgermeister dazu an, die Toten mit Kränzen und dem Pflanzen von Freiheitsbäumen zu ehren und dadurch die patriotische und republikanische Orientierung des Landes zu bekräftigen.225 Dass er sich über das Resultat dieser und anderer Feiern zufrieden äußern konnte,226 ist jedoch weniger auf administrativen Druck zurückzuführen als auf die Aktivitäten der Veteranenverbände, die den staatlichen Intentionen entgegenkamen. 227 Größeren Einfluss übten die Präfekten auf die staatliche Bewertung und Anerkennung patriotischer Leistungen aus, die durch die Verleihung der Medaille de la Reconnaissance française zum Ausdruck gebracht wurde. Es war ihre Aufgabe, Listen »par ordre de mérite« der Kandidaten anzulegen. Darin lag nicht zuletzt ein Instrument zur Festigung der eigenen Position. Der Präfekt des Departements Rhone setzte die Ehefrau seines Vorgängers auf den ersten Platz. Gleichzeitig führte er die kriegsbedingte Annäherung des höchsten Verwaltungsbeamten im Departement an die lokalen Eliten fort, deren Vertretern er aufgrund ihrer karitativen Tätigkeit ebenfalls vordere Ränge zuwies. 228 Dadurch wurden bürgerliche Verhaltensweisen honoriert, was jedoch ein Mindestmaß an glaubwürdigem patriotischen Engagement voraussetzte. So attestierte der Präfekt den Verwaltungsratsmitgliedern der Organisation »Souvenir du Soldat«, die mit dem Schmücken von Gräbern befasst war, zwar, »honorablement connues« zu sein, fügte aber nüchtern hinzu, dass ihre Tätigkeit die Verleihung der Medaille nicht rechtfertige.229 Seine Bereitschaft, die Auszeichnung zur gesellschaftlichen Aufwertung des Lyoner Establishments einzusetzen, war also nicht unbegrenzt. 225 Präfekt des Departements Rhône an Bürgermeister, 23.10.1920; Präfekt des Departements Rhone an Bürgermeister, 4.11.1920, beide in: ADR, 1 Μ 183. 226 Präfekt des Departements Rhone an Minister des Innern, 12.11.1920, ADR, 1 Μ 183. 227 Vgl. Prost, Les Anciens Combattants; ders., Les monuments aux morts. 228 Präfekt des Departements Rhone an Minister des Innern, 17.7.1919, ADR, 1 Μ 280; ver schiedene weitere Beispiele in: ADR, 1 Μ 281. 229 Präfekt des Departements Rhone an Minister des Innern, 20.1.1920, ADR, 1 Μ 280.
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Im befreiten Nordfrankreich stand die hohe Beamtenschaft einer Sondersituation gegenüber, in der die staatliche Konsensstiftung mit Hilfe der Kriegs erinnerung erschwert war. Auf rhetorischer Ebene gelang es ihnen noch, den regionalen Deutungsbedürfnissen entgegenzukommen. Die Präfekten riefen in ihren Reden eindringlich die deutschen Zerstörungen ins Gedächtnis.230 Sie näherten sich damit der Erinnerung ihrer Zuhörer an und versuchten, die Erfahrungskluft zwischen besetztem und unbesetztem Gebiet zu überbrücken. Gleichzeitig bildete dieser Topos eine Negativfolie, vor der sich die Erfolge des Wiederaufbaus in glanzvollem Licht präsentieren und auf die Tätigkeit der Verwaltung beziehen ließen. Daneben bot die Erinnerung an die »atrocites allemandes« und ihre Opfer ein Feld, auf dem sich lokale Identität und das Bild eines Frankreich »au Service du Droit« trafen.231 Anders als die öffentliche Beschwörung derartiger unproblematischer Referenzpunkte war die Aufgabe, das Verhalten einzelner Individuen während der Besatzung im Hinblick auf patriotische Standfestigkeit zu bewerten, äußerst heikel. Die Verwaltung musste Kollaborationsvorwürfen nachgehen, deren Wahrheitsgehalt aus den widersprüchlichen Informationen kaum herauszudestillieren war. In einigen Fällen gelangten Unterpräfekten zu dem Schluss, inkriminierten Personen tatsächlich ihr kooperatives Verhalten gegenüber den Besatzern anzulasten. Von einer Bestrafung, etwa in Form einer Amtsenthebung, wurde jedoch aufgrund der unklaren Beweislage fast immer Abstand genommen. 232 Hinzu kam, dass sich die Regierung in einigen Fällen über Einwände der Verwaltung des Departements hinwegsetzte und Honoratioren trotzdem öffentlich belobigte.233 Bei der Verleihung der Medaille de la Reconnaissance française ging es darum, patriotische Leistungen angemessen einzuschätzen und zu würdigen. Die Verwaltung stand einer breiten Nachfrage nach symbolischer Distinktion seitens der Honoratioren des Departements gegenüber, die sich in großer Zahl selbst für die Auszeichnung vorschlugen. Sie untermauerten ihren Anspruch meist mit dem Hinweis auf karitatives Engagement oder eine Gefangenschaft als Geisel. Eugène Mathon, ein Textilindustrieller aus Roubaix, erzählte von »toutes sortes d'ennuis et vexations« bis hin zu physischen Bedrohungen. Seine Ehefrau hatte sieben Monate im Lager Holzminden verbracht und ihre kranke
230 Naudin, Deux Ans, S. 6f; Morain, S. 9-14. 231 Rede des Unterpräfekten von Hazebrouck in Le Doulicu, 30.9.1923, ADN, 74 J 226. 232 Unterpräfekt von Cambrai an Präfekt des Departements Nord, 8.9.1919; Präfekt des Departements Nord an Unterpräfekt von Cambrai, 11.9.1919; Unterpräfekt von Cambrai an Präfekt des Departements Nord, 17.10.1919, alle in: ADR, 9 R 1193; verschiedene ähnliche Beispiele in: ADN, 9 R 1229; zur seltenen Bestrafung von Kollaborateuren vgl. Martinage. 233 Unterpräfekt von Valenciennes an Präfekt des Departements Nord, 23.9.1919, ADN, 9 R 1193.
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Mutter zurücklassen müssen.234 Ein anderer Industrieller blickte auf die Zerstörung seiner Fabrik, seine Resistenz und Geiselnahme zurück; dass er abschließend Leistungen und Opferbereitschaft der »classe dirigeante & ouvrière de Roubaix & Wattrelos« hervorhob und damit zur Begründung seines eigenen Anliegens heranzog, zeigt, wie sehr er sich auch retrospektiv in das Zentrum der Besatzungserfahrung gestellt sah.235 Zweifellos diente die Medaille der Repräsentation und Legitimation nach außen; sie wurde aber auch zum Zwecke der innerfamiliären, privaten Kriegserinnerung angestrebt. So schrieb etwa Amédée Prouvost, ein weiterer bedeutender Textilindustrieller aus Roubaix: »Ce n'est pas par ambition personnelle que je le fais mais comme Souvenir pour mes enfants qui se souviendront ainsi de ma fameuse captivité en Allemagne où j'ai bien souffert pour la France. Je vous prie de vouloir bien faire instruire ma demande.« 236
Dass sich der letzte Satz nicht an den Präfekten, sondern an den Minister für die befreiten Regionen richtete, weist darauf hin, dass die Entscheidungen für die Verleihung der Auszeichnung auch durch politischen Druck motiviert waren. Mehrfach intervenierten Senatoren zugunsten bestimmter Kandidaten.237 Hinzu kam die Lobbyarbeit der Vereinigung der Geiseln, deren Liste sich wie ein regionales Who is who liest. Sie forderte für ihre 900 Mitglieder die nationale Anerkennung in Form der Medaille de la Reconnaissance française.238 Die Regierung gab diesem Wunsch prinzipiell statt, allerdings unter der Bedingung, dass sich die Kandidaten bereits vor ihrer Internierung Verdienste erworben hatten. Der Präfekt beharrte zunächst auf einer strikten Auslegung dieser Bestimmung und akzeptierte keinen automatischen Nexus zwischen Zugehörigkeit zur Honoratiorenschaft und nationaler Distinktionswürdigkeit. Er verwies lapidar darauf, »que les otages avaient été choisis par les allemands en raison de leur Situation sociale, mais que bien peu avaient à leur actif des actions méritoires.«239 Keine besonderen Verdienste aufweisen zu können, bedeutete auch, dass die Bindung zu Frankreich a priori nicht enger war als bei Nordfranzosen geringerer sozialer Stellung.240 Wenige Monate später vertrat der Prä234 Eugène Mathon an Präfekt des Departements Nord, 5.3.1923; Louise Gruniaux 0233pouse Eug, Mathon an Präfekt des Departements Nord, 17.6.1922, beide in: ADN, Μ 127 103. 235 Jules d'Halluin an Präfekt des Departements Nord, 28.1.1929, ADN, Μ 127 99. 236 Amédée Prouvost an Minister der befreiten Regionen, 9.7.1920, ADN, Μ 127 104. 237 Senator Jean Trystram an Präfekt des Departements Nord, 4.11.1919, ADN, Μ 127 98; Senator Paul Hayez an Präfekt des Departements Nord, 24.12.1923, ADN, Μ 127 100. 238 Georges Guilbaut, Präsident der Association des Otages Franqais de Représailles an Präfekt des Departements Nord, 24.3.1923, ADN, Μ 127 94. Eine Liste der im niedersächsischen Holzminden internierten Geiseln für den Zeitraum von November 1916 bis April 1917 bei Wallart, Deportation, S. 445-448. 239 Medaille de la Reconnaissance française, undatierte Notiz des Präfekten aus dem Jahre 1923, ADN, Μ 127 94; ähnlich Präfekt des Departements Nord an Justizminister, 8.3.1923, ADN, Μ 127 92. 240 Ebd.
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fekt jedoch die entgegengesetzte Position und schrieb dem Justizminister, dass die Geiseln »non seulement en leur qualité de notables, mais aussi et surtout, comme représentants de la Nation Française« interniert worden seien und die Auszeichnung daher in jedem Fall verdient hätten.241 Zwar lag zwischen den konträren Schreiben des Präfekten die Intervention der Geiselvereinigung,242 es ist aber dennoch aus den Akten nicht ersichtlich, worauf der Gesinnungswandel des Spitzenbeamten zurückzuführen ist. Letztlich ließ sich wohl sein Versuch, die Erfüllung patriotischer Verhaltensnormen von der bloßen Tatsache einer gesellschaftlichen Führungsposition zu unterscheiden, nicht mit den Bemühungen um einen Wiederaufbaukonsens vereinbaren. Weil der Präfekt auf den Schulterschluss mit den regionalen Eliten nicht verzichten konnte, waren bürgerliche und nationale Distinktion im Ergebnis eng verbunden. Allerdings schloss das nicht aus, dass andere Faktoren die Verleihung der Auszeichnung zumindest verzögerten. Dazu gehörte vor allem die lokale öffentliche Meinung, sofern sie ein negatives Echo befürchten ließ. So sprach sich der Unterpräfekt von Avesnes gegen die Verleihung der Medaille an einen Gemeinderat aus, der zwar Geisel gewesen war, dessen Verhalten während der Besatzung aber zu Kollaborationsvorwürfen Anlass gegeben hatte.243 Ein Jahr danach wurde seine Auszeichnung trotzdem befürwortet.244 Ähnlich lag der Fall eines Industriellen aus Avesnes, dem besonders die Arbeiterschaft Kooperationsbereitschaft gegenüber den Deutschen anlastete. Wieder riet der Unterpräfekt, vorerst auf eine Verleihung der Medaille zu verzichten.245 Erst sieben Jahre nach seinem Antrag, als die Verwaltung das Problem offensichtlich entschärft sah, erhielt der Industrielle die Auszeichnung.246 Daran zeigt sich, dass die administrative Distinktionspolitik im Departement Nord dem Primat der Konsenswahrung unterlag. Die Nachfrage der nordfranzösischen Industriellen nach symbolischer Distinktion durch den Staat verweist auf die enorme Bedeutung der Besatzungserinnerung für ihre Selbst- und Außenlegitimation.247 Die deutschen Zerstörungen wurden im Nachkriegsjahrzehnt in verschiedenen Formen 241 Präfekt des Departements Nord an Justizminister, 14.6.1923, ADN, Μ 127 94. 242 Georges Guilbaut, Präsident der Association des Otages Français de Représailles an Präfekt des Departements Nord, 24.3.1923, ADN, Μ 127 94. 243 Unterpräfekt von Avesnes an Präfekt, 18.7.1928, ADN, Μ 127 99. 244 Proposition en faveur de M . Desquesne, Chéri, rentier residant à Etroeungt (Nord), 16.10.1929, ADN, Μ 127 99. 245 Unterpräfekt von Avesnes an Präfekt des Departements Nord, 25.2.1924; Unterpräfekt von Avesnes an Präfekt des Departements Nord, 26.6.1928; so auch Präfekt des Departements Nord an Minister des Innern, 29.6.1928, alle in: ADN, Μ 127 106. 246 Präfekt des Departements Nord an Unterpräfekt von Avesnes, 8.1.1930; vgl. Paul Thomas an Sekretär der Association des Otages Français de Représailles, 10.3.1923, beide in: ADN, Μ 127 106. 247 Zur Besatzungserinnerung in Nordfrankreich vgl. A. Becker, Oubliés, S. 359-376; dies.. Memoire.
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repräsentiert und bildeten die Negativfolie, vor der die eigenen Wiederaufbauleistungcn um so eindrucksvoller erscheinen mussten. Immer wieder riefen Reden und Artikel »génie de la destruction« und »rage destructive« der Feinde in Erinnerung, die sich mit der bewussten Ausschaltung der französischen Konkurrenz gepaart hätten.248 Ausländische wie einheimische Delegationen wurden in zerstörte und wiederaufgebaute Fabriken und Minen geführt.249 Die Präsenz dieser Ruinen im Diskurs der nordfranzösischen Industriellen wurde durch Photographien untermauert,250 die bald Bildern rekonstruierter Werke gegenübergestellt werden konnten und so die Wiederaufbauleistungen der Nachkriegszeit visualisierten.251 Auf individueller Ebene erinnerten Gedächtnistafeln, Jubiläumsschriften, Erinnerungen und Nekrologe an die Erfahrung von Krieg und Besatzung.252 Die Handelskammern verbanden sie mit dem lokalen Gedächtnis.253 All diesen Varianten war gemeinsam, dass sie die Besatzungserfahrung als heroisch bestandene Herausforderung konstruierten, deren Höhepunkt die Fabrikzerstörungen und deren definitive Bewältigung die Wiederaufbauleistungen darstellten: »Mais, dans cette rage de destruction, les boches ne purent annihiler une réputation qui avait été acquise par un travail soigné et robuste.«254
Die Kriegserinnerung erschöpfte sich jedoch nicht in rhetorischer Selbstbestätigung, sondern verband sich mit handfesten Interessen. Die nordfranzösischen Industriellen insistierten auch deshalb so hartnäckig auf Opfererfahrung und Zerstörungsfolgen, weil sich damit die Forderung nach vollständigem Ersatz der Schäden legitimieren bzw. ihre unzureichende faktische Erfüllung anprangern ließ.255 Vor dem Hintergrund dieses Zusammenhangs von Kriegserinnerung und Interessenverfolgung formulierten sie ihre deutschlandpolitische Position, die bis Mitte der zwanziger Jahre von nahezu völliger Intransigenz gekennzeichnet war. Die Deutschen blieben vorerst »nos ennemis«, und der Wiederaufbau erschien als »heure d'émancipation« von ihrer ökonomischen Dominanz.256 Derart selbstbewusste Töne standen jedoch in einem Spannungsverhältnis zur Angst vor einer Niederlage auf ökonomischem 248 NI 1, Nr. 4 (1.11.1919), S.9f und Nr. 11 (20.12.1919), S. 6f. 249 NI 1 Nr. 1 (11.10.1919), S. 5; NI 4 (1922), S. 838-843; NI 7 (1924), S. 630; Union des Societes Industrielles de France, S. 350-353, 357-375. 250 NI 2 (1920), S. 182; NI 3 (1921), S. 34f. 251 Vgl. u.a. NI 2 (1920), S. 601 f., 1112 f.: NI 5 (1923), S. 748ff. 252 Vgl. den Text einer Gedächtnistafel, NI 2 (25.9.1920), S. 1113; Lorthiois-Leurent & Fils 1780-1930, S. 23ff.; Centenaire d'Alfred Motte-Grimonprez 1827-1927, S. 24, 57; NI 10 (1928), S. 1620ff.; Hebt; Motte; Annalcs de la Chambrc de Commerce de Tourcoine 1922, S. 183f. 253 Vgl. u.a. Faucheur, Louis Delattre, La Chambre de Commerce de Lille (Mai 1923), ADN, 76 J 1689; Rede des Präsidenten der Handelskammer von Roubaix, 17.11.1927, ADN, 79 J 22. 254 NI 1, Nr. 7(22.11.1919), S. 19. 255 NI 3 (1921), S. 1087f.; NI 5 (1923), S. 1083f.; NI 6 (1924), S. 281f; NI 7 (1925), S. 161 lf 256 NI l,Nr. 10 (13.12.1919), S. 4 und Nr. 7 (22.11.1919), S. 18f.
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Feld,257 der übermächtig anmutende Figuren wie Hugo Stinnes Plausibilität verliehen.258 Das Deutungsmuster des Wirtschaftskriegs blieb nicht auf die nordfranzösische Unternehmerschaft beschränkt, sondern prägte in den Nachkriegsjahren die deutschlandpolitische Grundhaltung der meisten Industriellen. Die Zerstörungen in den besetzten Gebieten bildeten auch hier den legitimatorischen Referenzpunkt.259 Dagegen blieben pragmatischere Stimmen, die auf das französische Interesse an einer Wiederaufnahme der Handelsbeziehungen mit Deutschland hinwiesen, zunächst in der Minderheit. 260 Die Annahme, dass wirtschaftliche Verflechtung ohne erneutes deutsches Übergewicht möglich sei, erschien allzu optimistisch. Vorherrschend war die Angst vor deutschen Produkten, deren zunehmende Einfuhr das Schreckensbild der ökonomischen Infiltration revitalisierte.261 Dieser Topos stand auch hinter der breiten Ablehnung des Wiesbadener Abkommens im Oktober 1921, dessen Umsetzung der Industrie des Kriegsgegners eine Beteiligung am Wiederaufbau der zerstörten Gebiete verschafft und damit gegen die eigenen Interessen verstoßen hätte. Besonders in Nordfrankreich opponierte man gegen ein kooperatives Modell der Kriegsfolgenbewältigung, weil es gegen das Gebot verstoße, den Wirtschaftskrieg mit einer »mentalité de vainqueur« zu führen.262 Es war die Verbindung von Kriegserinnerung und Formulierung der eigenen Interessen, die Ansätzen zur Verständigung vorerst wenig Spielraum ließ. Stattdessen herrschte die Ansicht vor, dass sich Frankreich zu milde und großzügig gezeigt habe.263 Das Ziel, Deutschland zur Zahlung zu zwingen und damit das Übergewicht seiner Industrie zu brechen, war allerdings insofern schwer zu verwirklichen, als sich die im Krieg gehegte Hoffnung auf eine ökonomische Fortsetzung des Bündnisses mit den Alliierten schon bald als illusionär erwies. Das war für die traditionell protektionistischen nordfranzösischen Industriellen besonders spürbar, die sich nicht nur von der Deutschlandpolitik Großbritanniens, sondern auch von der mangelnden Unterstützung des Wiederaufbaus enttäuscht zeigten, auf die sie aufgrund der Kriegszerstörungen einen moralischen Anspruch zu haben glaubten.264 Hinzu kam, dass sie mit der Konkurrenz engli257 NI 2 (1920), S. 373; ähnlich z.B. ebd., S. 1419. 258 NI 3(1921), S. 86f., 557. 259 Vgl. u.a. EE 5 (1921), S. 18-28; EN 3 (1921), S. 208-222; UCIDS 17, Nr. 3 (März 1921), S. 3-14. 260 La Journée Industrielle, 11.3.1920; CCL 1919, S. 238-246; BCI 19, Nr. 53/54 (OktoberDezember 1919), S. 2f. 261 EE 4 (1920), S. 1-11; NI 3 (1921), S. 13; Handelskammer von Roubaix, Sitzung vom 2.12.1921, ADN, 79J 19. 262 NI 3 (1921), S. 1189f; ähnlich NI 4 (1922), S. 169f.; zum Kontext vgl. Krüger, Außenpolitik, S. 146f. 263 Vgl. u.a. EN 4 (1922), S. 181-189; UCIDS 18, Nr. 1 (Januar 1922), S. 2-13; CCL 1922, S. 624-627. 264 NI 1, Nr. 8 (29.11.1919), S. 16; NI (1920), S. 59, 322.
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scher Importe zu kämpfen hatten, was den Vorwurf aufkommen ließ, von den Folgen der Besatzung zu profitieren.265 Diese konfliktträchtige Konstellation führte dazu, das Deutungsmuster einer »bataille économique« nicht nur auf die Beziehungen zu Deutschland, sondern auch auf Frankreichs Außenwirtschaftspolitik insgesamt zu beziehen.266 Beides, die Propagierung eines harten Kurses gegenüber dem deutschen Kontrahenten und die zunehmende Entfremdung von Großbritannien, kulminierte in der Ruhrkrise. Der Einmarsch der französischen Truppen wurde auch von eher pragmatisch-freihändlerisch orientierten Industriellen unterstützt.267 Allenthalben forderte man eine konsequente Durchführung der Operation, die den Wirtschaftskrieg der vorangegangenen Jahre siegreich beenden sollte.268 Die nordfranzösischen Industriellen zogen zusätzlich die Erinnerung an die deutschen Zerstörungen zur Legitimation und als Maßstab für die Höhe der zu erzwingenden Reparationszahlungen heran. 269 Damit wurde die Wahrnehmung der bilateralen Beziehungen als unüberbrückbarer nationaler Gegensatz, in dessen Zentrum die Industrie stand, noch einmal bekräftigt. Die Ruhrmagnaten standen für das Machtpotential Nachkriegsdeutschlands, das unbedingt gebrochen werden müsse. 270 Gleichzeitig spitzte sich die Enttäuschung über die mangelnde britische Unterstützung zu und gipfelte in der Invektive, »que l'Anglais a un carnet de bank-notes à la place du coeur.«271 Dass die deutsche Regierung schließlich den passiven Widerstand aufgab, schien die harte Linie zu bestätigen. Das Deutungsmuster des Wirtschaftskriegs war intakt, wie sich an den Reaktionen auf den Sturz des Franc wenige Monate später zeigte. Zahlreiche Stimmen erklärten ihn mit dem paranoid anmutenden Szenario einer Einwirkung des deutschen Feindes und beschrieben ihn in militärischer Rhetorik als »bataille du franc«.272 Das tiefe Misstrauen gegenüber dem gefürchteten Gegner überdauerte auch den diplomatischen Annäherungsprozess der folgenden Jahre, der in manchen Äußerungen als deutscher Bodengewinn im Wirtschaftskrieg und Anlauf zu einer neuen Offensive interpretiert wurde. 273 Die Verhandlungen, die den Ab265 NI 4 (1922), S. 471f. Der Begriff der »invasion« ausländischer Textilprodukte z.B. in: Präsident der Handelskammer von Roubaix an Handelsminister. 29.12.1920, ADN, 79 I 19. 266 NI 2 (1920),S.784. 267 CCL 1923, S. 720; BCI 23, Nr. 98-100 (August-Oktober 1923), S. 3-6. 268 Vgl. z.B. ebd.; L.R., UCIDS 19, Nr. 9-11 (September-November 1923), S. l l f; EN 5 (1923), S. 423-426; La Journée Industrielle, 16.1.1923. 269 Handelskammer von Roubaix, Sitzung vom 12.10.1923, ADN, 79J 20; NI 5 (1923), S. 173f. 270 Vgl. z.B. ebd.; NI 5 (1923), S. 535f., 1813f 271 Ebd., S. 1499f.; ähnlich ebd., S. 1225f. 272 NI 6 (1924), S. 521f.; EE 8, Nr. 1 (Januar 1924), S. 1-5; Rede des Präsidenten der Handelskammer von Lyon, Louis Pradel, 10.1.1924, CCL 1924, S. 498-501; zur Rolle der Germanophobie in der französischen Öffentlichkeit der Nachkriegsjahre vgl. Adamthwaite, S. 79. 273 EN 7 (1925), S. 562-567; NI 5 (1925), S. 1695f.
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Schluss des Handelsvertrags von 1927 vorbereiteten, stießen ebenfalls auf große Skepsis. Vor dem Hintergrund der Erinnerung an die Vorkriegszeit, in der die angebliche Invasion deutscher Produkte eine folgenschwere Schlüsselstellung einnahm, erschien die Aussicht einer erneuten Unterlegenheit realistisch und bedrohlich. 274 Das vielfache konkrete Interesse an der Wiederherstellung normaler Wirtschaftsbeziehungen setzte sich jedoch zunehmend gegenüber solchen prinzipiellen Bedenken durch. Als 1927 der deutsch-französische Handelsvertrag unterzeichnet wurde, gab es zwar nach wie vor mahnende Stellungnahmen, aber manche Autoren hoben auch die Vorteile für die eigene Industrie hervor.275 Im Organ der konservativen Föderation des Industrieis et des Commerçants Français stand ein Leitartikel, der das Deutungsmuster des Wirtschaftskampfes fortschrieb, neben zahlreichen Anzeigen in einer Rubrik, die praktische Hilfe für die Anknüpfung von Geschäftsbeziehungen zu deutschen Unternehmen anbot.276 Zwischen diesen beiden Polen bewegten sich die deutschlandpolitischen Positionen der französischen Industriellen in den späten zwanziger Jahren. Bei aller faktischen Kooperation wurden immer wieder Misstrauen und Wachsamkeit gegenüber dem Nachbarland propagiert. In Nord- und Ostfrankreich blieb das Trauma der Invasion wach und begründete den Ruf nach militärischer Sicherung der Grenzen.277 Zudem wurden von verschiedenen Seiten protektionistische Bestimmungen gegen die deutsche Konkurrenz gefordert,278 wie überhaupt die Verständigung seit Mitte der zwanziger Jahre eine »emprise financière« oder sogar eine »Pax Germanica« befürchten ließ.279 Auf der anderen Seite wurden die Fortschritte in den bilateralen Beziehungen durchaus auch als solche gewürdigt. 280 Frühere Konfliktsymbole wie die Leipziger Messe nahm man nun unter pragmatisch-geschäftlichem Blickwinkel wahr.281 Das langsame Zurücktreten des Gegensatzes zu Deutschland im Unternehmerdiskurs hing auch damit zusammen, dass andere nationale Abgrenzungen an Bedeutung gewannen. Für die nordfranzösischen Textilindustriellen avancierte ab Mitte der zwanziger Jahre Großbritannien zum wichtigsten handelspolitischen Gegner, dem attestiert wurde, »la guerre à leur façon« gegen 274 EN 8 (1926), S. 271-275; Le Redressement Français 2, Nr. 10 (1.4.1927), S. 1; NI 8 (1926), S. 329. 275 Ebd., S. 1293; Annales de la Chambre de Commerce de Tourcoing 1927, S. 219-228; CCL 1927, S. 286-292. 276 EN 9 (1927), S. 73-79; ebd., S. 107ff.; vgl. auch die Betonung des unternehmerischen Kooperationsinteresses in: NI 9 (1927), S. 109. 277 Annales de la Chambre de Commerce de Tourcoing 1928, S. 56-59; Rede des Präsidenten der Handelskammer von Nancy, APCCF (15.3.1927), S. 15. 278 NI 9 (1927), S. 1077ff.; NI 12 (1930), S. 1192; CCL 1930, S. 621f. 279 CCL 1929, S. 675; EN 9 (1927), S. 578-587, S. 578. 280 EN 10 (1929), S. 448-451; CCL 1928, S. 649; NI 10 (1928), S. 333. 281 NI 12 (1930), S. 324f
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Frankreich zu fuhren.282 Dieser Konflikt wurde um so schärfer wahrgenommen, als er vor dem Hintergrund der tiefgreifenden Differenzen in der Deutschlandpolitik als ein weiteres Signum der aufgekündigten Solidarität eines ehemaligen Alliierten gesehen wurde. Schon bald kamen Ressentiments gegen die Vereinigten Staaten hinzu, deren ökonomischer Hintergrund in der Doppelung von amerikanischen Exporten und Zollschranken lag.283 Dieser Konflikt ließ die düstere Aussicht auf eine Hegemonie näherrücken und gegenüber der deutschen Gefahr an Bedrohlichkeit zunehmen. 284 Das Bewusstsein der eigenen Unterlegenheit förderte die Offenheit gegenüber den von Außenminister Briand betriebenen Plänen eines vereinten Europas, das als eine protektionistische Abwehrgemeinschaft verstanden wurde: »L'idée des États-Unis d'Europe est lancée et à la veille de prendre corps. Notre vieux continent, malgré ses lézardes apparentes, n'est point si gravement endommagé qu'on le suppose outre-Atlantique. Les assises en sont robustes et le tout, solidement aggloméré grìce à la solidarité économique internationale, est encore de tulle à résister aux assaults de la jeune et ambitieuse concurrence américaine.«285
Dieselbe protektionistische Grundhaltung zahlreicher Industrieller bewirkte jedoch, dass gegenüber dem Projekt einer europäischen Zollunion Distanz gewahrt wurde. Die Handelskammer von Lille begründete ihre ablehnende Position mit dem Argument, dass die Vielfalt Europas das Ziel einer Aufhebung der Zollschranken illusionär mache. 286 Am Vorabend der Weltwirtschaftskrise kam der Deutung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen in den Kategorien nationaler Gegensätze eine zwar verminderte, aber im Kern intakte Überzeugungskraft zu. Die Konstruktion der Nation durch die französischen Industriellen und hohen Beamten war in den zwanziger Jahren in mehrfacher Hinsicht von der Erinnerung an den Krieg geprägt. Die Präfekten nutzten sie zur Konsensstiftung, was auf rhetorischer Ebene vergleichsweise einfach war, sich dagegen bei der Entscheidung über die retrospektive Auszeichnung patriotischen Verhaltens durch die Verleihung der Medaille de la Reconnaissance française als heikel erwies. 282 NI 7 (1925), S. 955f.; vgl. auch mit militärischem Vokabular: ebd., S. 1751, 2041. 283 NI 11 (1929), S. 1019; NI 12 (1930), S. 1123. 284 EN 9 (1927), S. 578-587; CCL 1929, S. 675. 285 NI 11 (1929), S. 1113f.; vgl. auch ebd., S. 953; Annales de la Chambre de Commerce de Tourcoing 1929, S. 95-107. Diese Position blieb nicht auf die traditionell protektionistischen nordfranzösischen Unternehmer beschränkt, sondern wurde z.B. auch von den modernen und prima facie amerikafreundlichen Autoindustriellen vertreten, vgl. Fridenson, L'idéologie, S. 56. Einflussreich für die Konstruktion eines zukünftigen Gegensatzes zwischen Europa und Amerika war das Buch des Publizisten Lucien Romier (Romier); vgl. die positive Besprechung in: NI 9 (1927), S. 1791f. 286 NI 11 (1929), S. 1699ff.;skeptisch-distanzicrtauch NI 12 (1930), S. 1401f.;EN 12(1930), S. 272-277.
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Trotz einiger Distanzierungsversuche prämierte die Verwaltung vorrangig karitatives Engagement und Geiselerfahrung von Honoratioren und festigte damit den Konnex von bürgerlicher und nationaler Distinktion. Allerdings nahm sie auf Kollaborationsvorwürfe in der Öffentlichkeit, die in den befreiten Gebieten häufig erhoben wurden, Rücksicht und zögerte in solchen Fällen die Auszeichnung der inkriminierten Person hinaus, bis eine positivere Aufnahme zu erwarten war. Wie sich an ihrer großen Nachfrage nach staatlicher Distinktion sowie an Reden, Schriften und Bildern ersehen lässt, legitimierten die nordfranzösischen Industriellen Identität und gesellschaftliche Machtposition mit der Erinnerung an ihre patriotisch erduldeten Opfer während der deutschen Besatzung. Zudem bildeten die Ruinen zerstörter Fabriken und Minen den Hintergrund für die Darstellung der eigenen Wiederaufbauleistungen ebenso wie für die Forderung nach vollständigem Ersatz der okkupationsbedingten Schäden. Die Erinnerung an Invasion, Besatzung und Zerstörung wirkte über Nordfrankreich hinaus in den außenpolitischen Einstellungen der Industriellen nach, die bis in die späten zwanziger Jahre vom Leitbild des Wirtschaftskriegs gegen Deutschland dominiert und mit Ansätzen zum kooperativen Interessenausgleich unvereinbar blieben. Es war das vielfache, handfeste Interesse an Geschäftsbeziehungen zu Unternehmen des Nachbarlandes, das zu einer Annäherung drängte. Hinzu kam, dass sich Ende der zwanziger Jahre die handelspolitische Abgrenzung zu den Vereinigten Staaten in den Vordergrund der unternehmerischen Außenwahrnehmung schob und die Vorstellung einer gemeineuropäischen Abwehr attraktiv werden ließ. Das Projekt, Europa über eine Zollunion zu konstituieren, stieß jedoch auf breite, protektionistisch motivierte Skepsis. Am Vorabend der Weltwirtschaftskrise war die Deutung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen als Kampfplatz nationaler Gegensätze weit davon entfernt, sich überlebt zu haben. Der lange Schatten des Krieges hatte zur Perpetuierung dieser Sichtweise maßgeblich beigetragen.
C . Bürgerliche Nationsentwürfe in der Nachkriegszeit im Vergleich Nach 1918 war die Konstruktion der nationalen Ordnung in Deutschland wie in Frankreich eng an die Erfahrungen der Nachkriegszeit gekoppelt, wobei sich dieser Zusammenhang in höchst unterschiedlicher Weise manifestierte. Erstens bewirkten in Frankreich Sieg und zügiger Wiederaufbau, dass Industrielle und hohe Beamte nicht nur eine positive Bilanz ihrer Kriegsleistungen zogen, sondern sich auch als Führungsgruppen einer restituierten Großmacht sehen konnten. Demgegenüber kontrastierte in Deutschland die Niederlage, die in
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Form von Besatzung und Grenzverschiebung konkret erfahren wurde und im Schreckensszenario einer tödlichen ethnischen Infiltration vollendet zu werden drohte, in drastischer Form mit den während des Krieges formulierten nationalistischen Utopien. Zweitens konnten sich die französischen Eliten durch das Ausbleiben einer Revolution und die erfolgreiche Bewältigung der Streikwelle von 1920 in ihren Identitäten bestärkt und gesichert fühlen. Dagegen war die Nachkriegszeit für die deutschen Industriellen und hohen Beamten von linksradikalen Aufstandsbewegungen und dem tiefgreifenden Legitimationsverlust der Staats- und Wirtschaftsordnung überhaupt dominiert; sie trug den Charakter einer nachholenden Kampferfahrung, die meist drastischer empfunden wurde als der Krieg selbst und folglich in den Kategorien eines nationalen Konflikts gedeutet wurde.287 In diesem Punkt lag auch die Besonderheit der Besatzung in Westdeutschland, deren identitäre Konsequenzen ansonsten denen der deutschen Okkupation Nordfrankreichs zwischen 1914 und 1918 ähnelten. In beiden Fällen erfuhren industrielle, bürokratische und bürgerliche Wertvorstellungen und Deutungsmuster in der Konfrontation mit der Fremdherrschaft und ihren Eingriffen in Eigentum, administrative Kompetenz, persönliche Integrität und häusliche Intimität eine Verfestigung und nationale Aufwertung; hier wie dort geriet andererseits die pragmatische Verteidigung der lokalen Interessen durch Industrielle und Stadtverwaltung in Konflikt mit den rigoristischen ethischen Ansprüchen und unitarischen Prioritäten der hochrangigen Staatsbeamten. Nur in Deutschland verband sich jedoch die Besatzungserfahrung mit der schmerzlichen Wahrnehmung von sozialem Protest und Separatismus, wodurch der enge Zusammenhang von äußerer und innerer Krise verstärkt wurde.288 Den beiden vergleichenden Argumenten ist gemeinsam, dass sie die unterschiedlichen Konstruktionsweisen der Nation bei den deutschen und französischen Eliten der Nachkriegszeit mit kurzfristigen und exogenen Faktoren, mit Sieg und Scheitern der radikalen Linken hier, Niederlage und Revolution dort erklären. Längerfristige Vorprägungen oder die diskursive Eigendynamik der hier untersuchten gesellschaftlichen Gruppen treten demgegenüber in den Hintergrund, soweit es um die Analyse deutsch-französischer Differenzen geht. Kontrafaktisch betrachtet spricht wenig dafür, dass in Frankreich Industrielle und hohe Beamte auf eine Kombination von Niederlage und Revolution mit grundsätzlich verschiedenen Deutungen reagiert hätten. Die nationalen Idealisierungen der Arbeiterschaft gehörten ebenso zum diskursiven Erbe der Kriegsjahre wie utopische Erwartungen an die zukünftige Machtposition des eigenen Landes oder die Angst vor äußerer Infiltration. Allerdings bedarf dieses 287 Vgl. Krumeich, La place, der die spezifischen Züge der Nachkriegsperiode in Deutschland betont. 288 Vgl. auch Fötlmer, Conscience.
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Urteil im Hinblick auf die höhere Bürokratie einer Einschränkung, denn in Deutschland wirkte sich die Gleichzeitigkeit von obrigkeitlichen Ansprüchen auf gesellschaftliche Steuerung und kulturelle Superiorität und massivem Legitimitätsverlust der staatlichen Ordnung seit Beginn des Krieges in fataler Weise auf das Verhältnis zum radikalen Nationalismus nach 1918 aus, der besonders ausgeprägt in den Grenzgebieten - zahlreichen Beamten als eine Art letzter Rettungsanker für den Erhalt ihres Status erschien. Es lässt sich zumindest vermuten, dass die Kombination von Demokratieakzeptanz, kriegsbedingter Konsensorientierung und vergleichsweise intaktem gesellschaftlichen Ansehen die französischen hohen Beamten für ähnliche Herausforderungen besser gerüstet hätte. Zudem stellten in Deutschland Aufstiegsnarrativ, Siegesglaube und Weltmachtträume eine schwerwiegende Hypothek für die Erfahrung und Verarbeitung der Nachkriegskrise dar, die in Frankreich in dieser Form nicht gegeben war. So markant sich nach 1918 die deutsch-französischen Unterschiede ausnahmen, so wenig dürfen andererseits zwei grundlegende Gemeinsamkeiten übersehen werden, die für den Zusammenhang von Nachkriegserfahrungen und nationaler Ordnung hier wie dort kennzeichnend waren. Erstens perpetuierten Kriegserinnerung, Besatzungswahrnehmung und außenpolitische Konfrontation die Sicht der internationalen Wirtschaftsbeziehungen als Kampfplatz, die auch durch den Kooperationstrend seit Mitte der zwanziger Jahre nicht delegitimiert wurde. Zweitens wurde der enge Konnex von Nation und Bürgerlichkeit in beiden Ländern stabilisiert. Stereotypen der Arbeiterschaft, hierarchische Gesellschaftsbilder und die Wertvorstellungen der Arbeit, Ordnung und Sauberkeit behielten in den Nachkriegsjahren ihre orientierungs- und identitätsstiftende Kraft.289 Die entscheidende Differenz lag in den Modi, in denen die bürgerliche Ordnung der Nation vor dem Hintergrund der jeweiligen Nachkriegserfahrungen konstruiert wurde: Die erfolgreiche Selbstbehauptung in Frankreich stand im Kontrast zur Krisendeutung der deutschen Eliten. Das manifestierte sich auch in den Diskursen, die in unterschiedlichen Ausdrucksformen um die Themen der nationalen Einheit und Inklusion kreisten und Gegenstand des folgenden Kapitels sind.
289 Vgl. auch d i e - w e n n auch auf die politische Sozialgeschichte bezogene - Grundthese des Klassikers von Maier, die von der deutschen Bürgertumsforschung erstaunlich wenig rezipiert worden ist.
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Kapitel IV Diskurse der Nation nach 1918 Die nationalen Diskurse des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts wurden im Krieg in Deutschland und in Frankreich partiell redefiniert. Nach 1918 setzte sich dieser Prozess unter dem Eindruck neuer Erfahrungen und Herausforderungen fort und schlug sich in veränderten Konstruktionsweisen der Nation nieder, die sich bei allen Differenzen auf ähnliche Grundprobleme konzentrierten. In beiden Ländern galt es, Antworten auf die revolutionäre Kampfansage, die sozioökonomische Fragilität, die Akzeptanzschwierigkeiten des Staates, die Immigration und die vermeintlichen Defizite des parlamentarischen Systems zu finden. Die Bemühungen von Industriellen und hohen Beamten kreisten dabei um zwei Kristallisationspunkte, die im Mittelpunkt des folgenden Kapitels stehen. Erstens versuchten die deutschen und französischen ökonomischen und administrativen Eliten, die Einheit der Nation zu definieren und durchzusetzen. Sie knüpften dabei an die Rhetorik der Kriegsjahre an, welche die Überwindung der politischen und gesellschaftlichen Konflikte im Zeichen des Abwehrkampfes propagiert hatte.1 In beiden Ländern versprachen sie sich davon Alternativen zu parlamentarischer Demokratie und kooperativem Interessenausgleich; allerdings nahm diese Grundkonstellation unterschiedliche ideelle und metaphorische Formen an. Hier ist in erster Linie zu fragen, wie sich die gegensätzlichen erfahrungsgeschichtlichen Rahmenbedingungen der Nachkriegsjahre auf den jeweiligen Diskurs der nationalen Einheit auswirkten. Was hatte es für Konsequenzen im Hinblick auf die Chancen und Grenzen innerer Konsensstiftung, dass Industrielle und hohe Beamte in Deutschland eine Revolution und einen generellen Legitimationsverlust der Staats- und Wirtschaftsordnung erleben mussten, während den französischen ökonomischen und administrativen Eliten ähnliche Enttäuschungen erspart blieben? Inwieweit beeinflussten Grenzverschiebung und Besatzung hier und das baldige Ende der Kriegserfahrung dort das Verhältnis zwischen Anspruch und Wirklichkeit nationaler Einheit und Solidarität? Zweitens waren Immigration und Einbürgerung von Ausländern besonders für die hohen Beamten eng mit Grenzen und Definition der Nation verbun1 Vgl. allg.Weisbrod, Politik, S.31ff.
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den. In beiden Ländern basierte die administrative Inklusion und Exklusion auf einem Mischungsverhältnis ethnischer, politischer, ökonomischer und soziokultureller Kriterien, das sich jedoch unterschiedlich gestaltete. Diese Differenzen werden herauszuarbeiten und zu erklären sein, wobei die verschiedenen Entscheidungsebenen und Zuwanderergruppen zumindest ansatzweise berücksichtigt werden müssen. Wiederum ist nach den Auswirkungen der Nachkriegserfahrungen zu fragen, die letztlich den positiven oder negativen Einschätzungen des Immigrationsbedarfs zugrundelagen. Gleichzeitig ist der Rolle längerfristiger Faktoren nachzugehen, besonders des völkischen Erbes der Bürokratie des Kaiserreichs bzw. der integrativen einwanderungspolitischen Tradition des französischen Staates. Zum Schluss wird gefragt, inwieweit sich die komparative Untersuchung der Diskurse über die nationale Einheit und Inklusion auf einen gemeinsamen Nenner bringen lässt und was sie über den Anfälligkeitsgrad der deutschen und französischen politischen Kultur der zwanziger Jahre für rechtsradikale Bewegungen aussagt. A. Antworten auf die Krise: Der Durchbruch des »Volkes« in Deutschland Die Krisenerfahrungen der Nachkriegsjahre veränderten die Konstruktionsweisen der deutschen Nation. Völkische Deutungsmuster brachen massiv durch und lösten bei Industriellen und hohen Beamten die ideelle Orientierung an Staat und Reich ab. Das Leitbild der nationalen Einheit wurde nun als »Volksgemeinschaft« entworfen, die eine konfliktfreie, von patriotischer Solidarität getragene Gesellschaft verhieß, aber in scharfem Kontrast zu den tiefen Interessengegensätzen der Weimarer Republik stand. Die Grenzen der Nation definierte man nach ethnischen Kriterien, was Immigrationspolitik und Einbürgerungspraxis ebenso prägte wie die Wahrnehmung der deutschsprachigen Bevölkerung außerhalb des Reiches.
1. Die fragile »Volksgemeinschaft«: Der Diskurs der nationalen Einheit2 Die »Volksgemeinschaft« war eines der verbreitetsten und wirkungsmächtigsten Leitbilder der Weimarer Republik. Der aus dem 19. Jahrhundert stammende Begriff gewann im Ersten Weltkrieg an Resonanz, erlebte aber seinen 2 Für eine ausführlichere Fassung dieses Kapitels, die auch auf die Jahre nach 1930 eingeht, vgl. Föllmer, »Volksgemeinschaft«.
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eigentlichen Durchbruch mit Niederlage und Revolution, als der vertraute Deutungsrahmen des kaiserlichen Nationalstaats mit seinen Erfolgsgeschichten und optimistischen Zukunftserwartungen abrupt wegbrach. 3 Die volksgemeinschaftliche Utopie war attraktiv, weil sie die Überwindung der tiefgreifenden Orientierungskrise einer von massiven kulturellen, politischen und sozioökonomischen Konflikten geprägten Gesellschaft versprach. Ihre inhaltliche Vagheit tat dem keinen Abbruch, sondern ermöglichte es im Gegenteil, sie mit unterschiedlichen und nicht selten konträren Interpretationen und Hoffnungen zu füllen. Eine Vielzahl gesellschaftlicher Gruppen bemühte sich, sie zur Legitimation der eigenen Ziele einzusetzen. Mit »Volksgemeinschaft« wurde der Traum einer hierarchischen sozialen Ordnung ebenso verbunden wie der Ruf nach Gleichheit und Partizipation.4 Gemeinsam war diesen Vorstellungen das Unbehagen an Interessengegensätzen und politischen Trennlinien und ihrer Repräsentation durch Verbände und Parteien. Die »Zerrissenheit« der Gegenwart wurde am Maßstab einer engen Verbindung von Nationalismus und Antipluralismus gemessen - und musste dabei in um so düstererem Licht erscheinen. Aus dem Leitbild der »Volksgemeinschaft« leitete man zudem einen ethischen Anspruch auf patriotische Opferbereitschaft und Solidarität ab, der sich ebenso an Individuen wie an Gruppen richtete. Der Ruf nach nationaler Erneuerung war eng mit dem Bewusstsein einer fundamentalen moralischen Krise verbunden. 5 Das Spannungsverhältnis zwischen volksgemeinschaftlicher Utopie und der ernüchternden Erfahrung und Wahrnehmung einer hochfragmentierten Gesellschaft war kennzeichnend für die Diskurse, in denen Industrielle und hohe Beamte die eigenen Erfahrungen, Zielvorstellungen und Interessen zur Nation in Beziehung setzten. Beide Gruppen scheiterten mit dem Versuch, die Adressaten ihrer Forderungen durch Appelle an den Patriotismus zum opferbereiten Nachgeben zu bewegen. Während aber die Industriellen ab Mitte der zwanziger Jahre offensiv einen Konnex von »Werks-« und »Volksgemeinschaft« propagierten, fehlte den hohen Beamten das Prestige und Selbstbewusstsein, um nationale Leitbilder in ähnlich stringenter Weise an die eigenen Deutungsbedürfnisse zu adaptieren. Darüber hinaus verweist auch die Problematik der verlorenen, okkupierten oder bedrohten Gebiete im Osten und Westen des Reiches auf die Grenzen der Integrationswirkung und Handlungsrelevanz der »Sprache der nationalen Verpflichtung«6 in der deutschen Nachkriegsgesellschaft. 3 Vgl. Sontheimer, S. 250ff.; Notte, Ordnung, S. 166-171; Mai, »Verteidigungskrieg«, S. 593ff.; Matthiesen, Massenbewegung, bes. S. 321 f. 4 Zu letzterem Aspekt vgl. Fritzsche, Germans; allg. Langewiesche, Nationalismus. 5 Vgl. Bessel Germany, S. 220-253; Usborne, Frauenkörper, S. 99-111; M.H. Geyer, S. 3 1 5 318. 6 M. Geyer, Kriegsgeschichte, S. 147.
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Im folgenden wird zunächst untersucht, wie sich der anfängliche Machtgewinn der Gewerkschaften und die Trendwende seit Mitte der zwanziger Jahre einerseits und der anhaltende Legitimations- und Autoritätsverlust der Bürokratie andererseits auf die Bemühungen von Industriellen und hohen Beamten auswirkten, das Leitbild der »Volksgemeinschaft« für sich zu reklamieren. In einem zweiten Schritt wird analysiert, inwiefern die neuen regionalen Konflikte der Weimarer Republik die ökonomischen und administrativen Eliten betrafen und welche Konsequenzen dies für das Problem der nationalen Einheit und Solidarität hatte. Zum Schluss ist zu fragen, wie die Zeitgenossen die Defizite der »Volksgemeinschaft« wahrnahmen und inwieweit sich daraus eine Erklärung für die Radikalisierung des Nationalismus in der Weimarer Republik ergibt. Vielleicht noch mehr als für andere Gruppen gilt für Industrielle und hohe Beamte, dass ihre Aneignung der »Volksgemeinschaft« eine Folge der Krisenerfahrungen der frühen Weimarer Republik war. Denn bis zum November 1918 hatten sie unverdrossen am etablierten diskursiven Repertoire festgehalten, mit dem sie bereits um die Jahrhundertwende ihre Selbstdeutungen in einen nationalen Rahmen eingebettet und damit ideell überhöht hatten.7 Der vermeintliche Burgfrieden hatte das auf bürgerlichen Massenstereotypen basierende Vertrauen in die hierarchische Integrierbarkeit der Arbeiterschaft durch das gemeinschaftsstiftende Potential der Nation noch verstärkt. An diesem Axiom hielt man auch nach der gewaltigen Enttäuschung der Revolution fest, aber der Zusammenbruch des Kaiserreichs zwang dazu, es in neuer Weise zu formulieren und dabei Anschluss an die breite Popularität völkischer Deutungsmuster zu suchen. Die Erfahrung des tiefgreifenden Klassengegensatzes der Nachkriegsjahre, der beide Gruppen zudem ohne den vertrauten Rückhalt des kaiserlichen Staates ausgesetzt waren, war traumatisch.8 Auch wenn man berücksichtigt, dass sich mit ihrer öffentlichen Präsentation bestimmte Interessen verbanden, hatte sie einen realen Kern. Wenn der Vorsitzende der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Ernst von Borsig, ausrief, dass es »kein Vergnügen« sei, »sich immer und immer wieder dem Ruf des ›Reaktionärs‹ und ›Scharfmachers‹ auszusetzen«, wird man ihm Glauben schenken können.9 Das Leitbild der »Volksgemeinschaft« schien einen Weg aus der Konfrontation mit Revolution, sozialem Protest und staatlichem Akzeptanzverlust zu eröffnen, ohne zur Revision der eigenen Überzeugungen zu zwingen. Seine Adaptation und rhetorische Instrumentalisierung gelangjedoch den Industriellen ungleich besser als den hohen Beamten. Mit der Gründung der Zentralarbeitsgemeinschaft (ZAG) zwischen Industriellenverbänden und Gewerk7 S.o., S. 98-150. 8 S.o.,S. 197-208. 9 AG 17(1927), S. 129-132.
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Schäften im November 1918 rückte die Sprache der Gemeinschaft in den Mittelpunkt des unternehmerischen Deutungshorizonts.10 Dabei wurde von Beginn an deutlich, dass die ZAG auch aus diskursiven Gründen einen fragilen Kompromiss darstellte, denn die Industriellen verstanden sie als Gegenpol zum Staat und betonten den Erfolg, der in der Anerkennung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung durch ihre bisherigen Gegner liege.11 Der unverkennbare Machtgewinn der Arbeiterschaft gab jedoch bald Anlass zu dem Vorwurf, dass diese im Begriff sei, sich aus der »Volksgemeinschaft« herauszulösen oder Keile in Gestalt von Betriebsräten in sie hineinzutreiben.12 In solchen Äußerungen trat die grundlegende Ambivalenz des nationalen Gemeinschaftsdiskurses hervor, die in der Weimarer Republik zu keinem Zeitpunkt aufgehoben werden konnte. Er bot einerseits eine antipluralistische Utopie von immenser Attraktivität, die die Überwindung aller gesellschaftlichen und politischen Gegensätze zugunsten der ersehnten Verwirklichung der eigenen Herrschaftsansprüche verhieß.13 Andererseits erwies sich seine ständige Propagierung an die Adresse der Arbeiterschaft als Misserfolg, weil ihr seitens der Industriellen keine hinreichende Kompromissbereitschaft entsprach. Das stellte eine schwere Hypothek für die ZAG dar, die nicht als institutioneller Rahmen zur kooperativen Austragung von Interessendifferenzen akzeptiert, sondern am utopischen Sinngehalt des Gemeinschaftstopos gemessen wurde und vor diesem Maßstab eklatant versagen musste.14 Entsprechend artikulierten die Industriellen immer wieder ihre Enttäuschung über die bescheidene Bilanz ihrer Bemühungen um die nationale Einheit, in denen sie sich seitens der Linken missverstanden sahen: »Mit solchen Einwänden, solchem Mißtrauen überall wird man allerdings kaum eine Volksgemeinschaft zusammenbringen, sie höchstens auseinanderreden und -schreiben.«15
Auf die formelle Aufkündigung der ZAG durch die Gewerkschaften im Januar 1924, die den Schlusspunkt unter einen längerfristigen Auflösungsprozess setzte,16 reagierten die Industriellen mit einer offensiven Umdeutung der Arbeitsgemeinschaftsidee und ihres normativen Gehalts. Sie wurde nun zu einer Ziel10 Zum Hintergrund vgl. Feldman/Steinisch. 11 Vgl. z.B. Blätter vom Hause 6(1919),S.219f.;Carl Duisberg, Hauptversammlung in Berlin 1919. Ansprache, gehalten bei der Eröffnung der Sitzung am 25.10.1919, in: ders., Abhandlungen, S. 561-574, hier S. 574. 12 Wirtschaftszeitung der Handelskammer zu Düsseldorf 17 (1920/21), S. 219; Generaldirektor Langen, in: Veröffentlichungen des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, H. 9 (Januar 1920), S. 27. 13 Vgl. z.B. AG 1920, S.1ff.und 1922, S. 2ff. 14 Vgl. z.B. AG 1922, S. 186-190. 15 Ebd., S. 284f. 16 Vgl. Feldman/Steinisch, S. 124ff; Winkler, Revolution, S. 722iT.
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Vorstellung erklärt, deren Verwirklichung die ungehemmte Entfaltung der unternehmerischen Handlungsfreiheit zur Bedingung hatte. Eingebettet wurde sie in das Leitbild einer »nationalen Volksgemeinschaft«, die nur mittels Mehrarbeit und staatlicher Autorität erreicht werden könne, womit die Voraussetzungen für eine weitere Kooperation mit den Gewerkschaften fixiert waren.17 Darin schlug sich das wiedergewonnene Selbstvertrauen der Industriellen nieder, das in den folgenden Jahren ihre Interessenpolitik und Diskursstrategie prägte.18 Der Ort, an dem die Gemeinschaftsrhetorik umgesetzt werden sollte, war der Betrieb. Die »Arbeitsgemeinschaft« interpretierte man nun als »Werksgemeinschaft ... im Rahmen einer nationalen Volksgemeinschaft«, die zum Gegenmodell zum bestehenden System der Arbeitsbeziehungen erklärt wurde.19 Dabei waren sich die Protagonisten dieser Zielvorstellung zwar der Schwierigkeiten bewusst, die ihrer Verwirklichung entgegenstanden, setzten aber optimistisch auf die Integration der Arbeiterschaft auf Unternehmensebene, in der sie die Voraussetzung für die Einheit der Nation sahen.20 Zu den Instrumenten gehörten neben betrieblichen Sozialprogrammen Werkszeitschriften, in denen werksgemeinschaftliche Ideen propagiert und in einen nationalen Rahmen eingebettet wurden.21 So versuchte die Firma Henkel, ihre Beschäftigten zu einer gefühlsmäßigen Bindung an den Betrieb zu bewegen, indem sie ihn zur »Keimzelle jenes neuen deutschen Vaterlandes..., das wir alle als gesegnete Heimat einer wahren Volksgemeinschaft ersehnen und mit erreichen helfen möchten«, erhob.22 Dass der Erfolg dieser Strategie weit hinter den hohen Erwartungen zurückblieb, hielt die Industriellen nicht davon ab, den Gemeinschaftsdiskurs, der ihre gesellschaftspolitischen Vorstellungen bündelte und die betriebliche mit der nationalen Ebene verband, dem Modell des Klassenkampfes gegenüberzustellen.23 Die unternehmerische Rhetorik der nationalen Einheit war nicht alternativlos, wie ein Blick auf die württembergischen Industriellen zeigt. Diese suchten ebenfalls intensiv nach Wegen aus den tiefgreifenden gesellschaftlichen Konflikten der Nachkriegszeit, ihre Positionen unterschieden sich jedoch erheblich von denen ihrer Kollegen etwa im rheinisch-westfälischen Industriegebiet. So vertrat Robert Bosch zwar das Ideal eines einigen Volkes »mit einheitlich gerichteten Zielen«, setzte aber auf gegenseitige Anerkennung und Kooperation 17 AG 14(1924), S. 161f., 221ff. 18 Vgl. Weisbrod, Schwerindustrie; Nolan, Visions, S. 154-178. 19 AG 14 (1924), S. 268; ähnlich ebd., S. 386f., 500f. 20 AG 15(1925), S. 1f., 149f. 21 Vgl. z.B. Phoenix-Zeitung 1, Nr. 1 (4.7.1925), S. 1 und 2, Nr. 1 (2.1.1926), S. 1; Nolan, Visions, S. 196-200. 22 Blätter vom Hause7 (1927), S. 2ff. 23 Borsig-Zeitung 7 (1930), Nr. 8/9, S. 6.
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zwischen Unternehmern und Arbeitern im Rahmen einer demokratischen Gesellschaft, wie er sie in Amerika verwirklicht sah.24 Andere Stimmen betonten stärker die Annäherung über geistige Gemeinsamkeiten;25 der Zigarrenfabrikant Emil Molt stellte die Werkszeitung seines Unternehmens in den Dienst der anthroposophisch inspirierten Suche nach spiritueller Gemeinschaft.26 Beide Varianten unterschieden sich deutlich von der Werks- und Volksgemeinschaftsrhetorik der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie und der von ihr dominierten Spitzenverbände der Unternehmerschaft, was zweifellos mit den liberalen und demokratischen Traditionen Württembergs zu erklären ist.27 Auch den hohen Beamten ermöglichte es die »Volksgemeinschaft«, den eigenen Selbstdeutungen, Gesellschaftsbildern und Interessen eine ideelle Einbettung und nationale Aufwertung zu verschaffen. Landräte attestierten sich, eine ausgleichende Rolle in ihrem konfliktreichen Innern zu spielen und erzieherisch zu ihrer Schaffung beizutragen.28 Kommunale Spitzenbürokraten überhöhten die Gemeinde als »örtliche Volksgemeinschaft«.29 Die Lektüre der Verbandspublizistik zeigt jedoch, dass sich der Einsatz des Gemeinschaftsdiskurses erheblich schwieriger gestaltete als für die Industriellen. Ihrem gesellschaftlichen Ansehensverlust zum Trotz hielt die höhere Beamtenschaft am Anspruch auf eine führende Rolle in der Nation fest und begründete damit interessenpolitisches Engagement und Gehaltsforderungen.30 Zudem blieb sie dabei, als »Mittler...zwischen Staat und Volk« fungieren zu wollen.31 Es konnte jedoch selbst ihren zweckoptimistischsten Vertretern nicht verborgen bleiben, dass sie mit dieser Selbststilisierung der Durchsetzung ihrer Interessen nicht näher kam. Der beschwörende Hinweis, dass die Angriffe auf die Beamtenschaft ebenso schädlich im Sinne des »Volksganzen« seien wie ihre materiellen Einbußen,32 blieb ohne Wirkung. Die Erfüllung des nationalen Einheitsideals rückte so in immer weitere Ferne: »Auf diesem Weg darf es nicht weitergehen, wenn nicht das Volk völlig zerspalten werden soll.«33 24 Der Bosch-Zünder 2 (1920), S. 185-189; vgl. Scholtyseck, S. 49-86. 25 Vgl. z.B. Daimler Werkzeitung 1919, S. 1ff. und 2 (1920), S. 87-91. 26 Waldorf-Nachrichten 1 (1919), S. 81ff, 118-124, 290ff. 27 In den Zeitschriften Der Bosch-Zünder (1919-1930), Württembergische Industrie (19191930), Württembergische Wirtschaftszeitschrift (1921-1929), Waldorf-Nachrichten (1919-1921) und Daimler Werkzeitung (1919/20) findet sich der Begriff »Volksgemeinschaft« kein einziges Mal. 28 Constanitn/Stein (Hg.), Bd. 1, S. 181, 214, 790. 29 Paul Mitzlaff, Die Selbstverwaltung der Gemeinden, in: Stenographischer Bericht über die Verhandlungen des Städtetages der Provinz Sachsen und des Freistaates Anhalt am 29. und 30. August 1924 zu Erfurt, Magdeburg o.J., S. 24 (zit. nach Bajohr, S. 78). 30 ZRhB 4 (1922), S. 21 und 6 (1924), S. 9. 31 ZRhB 6 (1924), S. 27ff. und 9 (1927), S. 89f. 32 ZRhB 7 (1925), S. 71f. und 8 (1926), S. 45f., 77f. 33 ZRhB 9 (1927), S. 17f
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Das Gefühl einer fundamentalen Missachtung der eigenen Bedürfnisse durch Politik und Öffentlichkeit schlug sich sogar in den Verwendungsweisen der Sprache der Gemeinschaft nieder. So gelangte das Organ des Landesverbands der höheren Beamten Sachsens zu dem ernüchternden Schluss, »dass das Beamtentum nicht sozial in die Volksgemeinschaft eingeordnet ist« und lastete diese missliche Lage letzterer an.34 Gleichzeitig reklamierte man aber immer noch eine Führungsrolle bei der ersehnten Überwindung aller gesellschaftlichen Differenzen in einer neuen nationalen Einheit: »Liegt nicht doch vielleicht der Punkt der stärksten Beziehungskreuzungen bei uns, der Punkt, von dem aus die zerrissenen Verbindungsfäden zwischen den einander fremd gewordenen Teilen unseres Volkes am ehesten wieder geknüpft werden können?« 35
In ihrer zögerlichen Diktion spiegelt die Äußerung die Problematik des nationalen Machtanspruchs der hohen Beamten wider, an dessen Realisierung sie selbst nur noch mit Mühe glauben konnten. Indem sie sich die Rhetorik der »Volksgemeinschaft« aneigneten, legitimierten sie sich zwar vor sich selbst, es gelang ihnen jedoch nicht, daraus eine schlagkräftige rhetorische Strategie zu entwickeln, die ihnen öffentliche Anerkennung verschafft hätte und damit auch der Verfolgung ihrer Interessen dienlich gewesen wäre. Das Beispiel der administrativen Eliten verdeutlicht exemplarisch die häufigen Misserfolge der Instrumentalisierung nationaler Deutungsmuster in einer Zeit, in der ihre Verwendung längst inflationär geworden war. Die Bilanz der Aneignung der »Volksgemeinschaft« fiel für Industrielle und hohe Beamte unterschiedlich aus, blieb jedoch in beiden Fällen hinter den hohen Erwartungen zurück. Diese Feststellung verweist auf die tiefe Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit nationaler Solidarität in der Weimarer Republik. Aller Einheitsrhetorik zum Trotz traten zahlreiche gesellschaftliche Trennlinien unter den Bedingungen der Nachkriegskrise in zugespitzter Form hervor. Dazu gehörten nicht zuletzt massive regionale Gegensätze, die sich auch in den Äußerungen der ökonomischen und administrativen Eliten niederschlugen. So sah man in Württemberg vor dem Hintergrund des Trends zum Unitarismus keinen Anlass, das im Krieg gewachsene Misstrauen gegenüber dem Reich und Berlin abzubauen. Zahlreiche Stimmen artikulierten ihren Unmut über die mangelnde Berücksichtigung der eigenen Interessen im politischen Milieu der Hauptstadt.36 Spitzenbürokraten lehnten die Erzbergersche Steuerreform 34 Amt und Volk 4 (1930), S. 161ff. 35 Amt und Volk 3 (1929), S. 314f.; ähnlich ebd. 2 (1928), S. 38f. 36 Vgl. z.B. die Äußerung des Stuttgarter Bürgermeisters Dollinger, Niederschrift über eine Besprechung von Vertretern der Württembergischen Regierung, der Stadt Stuttgart und Württembergischen Abgeordneten zur Verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung am 10. Dezember 1919 im Reichstagsgebäude, HStASt, Ε 130a, Bü 1166, Qu 723c; vgl. auch einen Bericht
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ab, weil sie drohe, Württemberg »landesfremde Steuerbeamte« zu bescheren.37 Anschuldigungen wie etwa der Vorwurf der Industrie, dass die Rohstoffverteilung durch die Berliner Behörden nur aufgrund persönlicher Beziehungen erfolge,38 gewannen durch den Diskurs der nationalen Solidarität noch an Schärfe. Denn diese Rhetorik schuf und perpetuierte einen normativen Maßstab, vor dem die Realität regionaler Interessenkonflikte zu um so größeren Enttäuschungen führen musste. »Berlin« wurde so zu einem Symbol für Klientelwirtschaft und Egoismus und damit zur unpatriotischen Negativfolie der ersehnten moralischen Erneuerung. Noch mehr Sprengkraft lag in denjenigen Gegensätzen, die erst durch die Folgewirkungen der Niederlage bedingt und daher auf direkte Weise mit der Frage der nationalen Solidarität und ihrer Reichweite verknüpft waren. Die Wahrnehmung einer verbreiteten Vergnügungssucht im Nachkriegsdeutschland stand in scharfem Kontrast zur Situation in den abgetretenen, besetzten oder gefährdeten Gebieten und den daraus abgeleiteten ethischen Konsequenzen; statt patriotischer Opferbereitschaft schienen Egoismus und Hedonismus vorzuherrschen.39 Viele Deutsche, die sich nach dem Friedensvertrag auf polnischem Territorium wiederfanden, fühlten sich von ihrem Heimatland alleingelassen. Für sie habe man, klagte ein Posener Unternehmer, »nichts weiter als ein paar schöne Abschiedsworte gehabt«. Konkret wandte er sich gegen das Vorhaben, die polnische Währung mit einem Valutazuschlag zu belegen, weil dadurch die Einfuhr von Eisen aus dem Reich verteuert und die deutsche Industrie in den verlorenen Gebieten geschädigt würde. Er baute dabei aber nicht auf solidarische Unterstützung aus nationalen Motiven, sondern versprach sich von seiner Eingabe allenfalls insofern Erfolg, als sie auf das Eigeninteresse der Unternehmer im Reich zielte: »Wir sind im voraus überzeugt, daß unsere Darlegungen an der Sachlage nichts ändern werden, wenigstens so weit es sich um den Apell [sie] an den Patriotismus handelt, der ja bekanntlich bei dem größten Teil der Bevölkerung nur soweit geht, als er sich mit den Portenmonnaie-Interessen [sic] verträgt.«40
über ähnliche, zudem antisemitische Äußerungen Düsseldorfer Unternehmer: Polizeiverwaltung Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, HStAD, RD, 15085, Bl. 305f. 37 So der Ministerialdirektor Erlenmeyer, Sitzung der Staatsregierung Württembergs, Stuttgart, 147.1919, HStASt, Ε 130b, Bü 214. 38 Vgl. z.B. Wirtschaftsstelle der Württembergischen Nahrungsmittelindustrie E.V. Stuttgart an Conrad Haußmann, 10.11.1920, HStASt, Q 1/2 (Nachlass Conrad Haußmann), Bü 94. 39 Vgl. u.a. die Erinnerungen des späteren Mannesmanndirektors Zangen, S. 53; PVB 43 (1922), S. 171ff. 40 Gebrüder Lesser, Fabrik landwirtschaftlicher Maschinen, Posen an Verein der Fabrikanten landwirtschaftlicher Maschinen und Geräte, 6.10.1919, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 1,B1. 137-140.
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Ähnliche Äußerungen finden sich bei den hohen Beamten der durch den Friedensvertrag zu Grenzregionen gewordenen ostelbischen Gebiete, wo die Konfrontation mit Polen im Zentrum der Nachkriegserfahrungen stand.41 Die Verwaltung der neugegründeten Miniprovinz Grenzmark Posen-Westpreußen sah sich zwar in die vorderste Front eines erbitterten Nationalitätenkampfes gestellt; die äußere Anerkennung durch den Weimarer Staat kontrastierte jedoch schmerzlich mit dieser Selbsteinschätzung und den daraus abgeleiteten Erwartungen. Das verdeutlicht ein Schreiben des Oberpräsidenten, der für seine Beamten eine Sonderzulage forderte, »damit endlich einmal...das harte Wort von der immer wieder vergessenen Grenzmark verschwindet.«42 Nicht anders sah das Verhältnis zwischen den besetzten Gebieten an der westlichen Grenze und dem unbesetzten Deutschland aus, das ebenfalls unter dem Widerspruch zwischen den immensen Ansprüchen an die nationale Solidarität und ihrer mangelnden Einlösung litt. So beschwerten sich saarländische Unternehmer, dass ihre rechtsrheinischen Kollegen nicht nur keine Rücksicht auf ihre schwierige Lage nahmen, sondern sie in Konfliktfällen sogar als »Französlinge« beschimpften.43 Im rheinisch-westfälischen Industriegebiet warf man 1923 den übrigen Deutschen vor, die mit dem Ruhrkampf verbundenen materiellen und psychischen Lasten gering zu schätzen und deren Träger nicht ausreichend zu unterstützen.44 Zahlreiche Unternehmer zeigten sich enttäuscht über das Verhalten ihrer Geschäftspartner im unbesetzten Gebiet. Allen Solidaritätsappellen zum Trotz beharrten diese auf der genauen Erfüllung vertraglich fixierter Lieferverpflichtungen, ohne zu berücksichtigen, dass die Transportbedingungen wegen der Besatzungsherrschaft erschwert waren. Wurde nicht pünktlich geliefert, zögerten sie nicht, den Vertrag zu kündigen oder die Zahlung zu verweigern. Eine betroffene Düsseldorfer Firma gab sich entschlossen, »diesen Fall evtl. zum Präzedenzfalle zu machen, ob wir im Ruhrgebiet nach jeder Seite die Geschädigten sein müssen«, erhob die Auseinandersetzung mit ihrem früheren Geschäftspartner also zu einem Test für die patriotische Hilfsbereitschaft des unbesetzten Deutschland.45 Für ein anderes Unternehmen war diese Frage wenige Monate später geklärt: »Von einer Unterstützung kann überhaupt keine Rede sein, man möchte manchmal daran zweifeln, daß das Rhein. Westf [sie] Gebiet überhaupt noch zu Deutschland
41 S.o., S. 208-211. 42 Oberpräsident der Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen an Minister des Innern, 26.1.1924, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 14, Bl. 32. 43 Württembereische Winschafts-Zeitschrift 1, Nr. 10 (Oktober 1921), S. 14f. 44 Reinhard Poensgen an Josef Wilden, 12.4.1923, HStAD, RW49, 60, Bd. 2. 45 Gebrüder Schwarz, Chemische Fabrik,DüW49,61,Bd.1;vgl.auchdieBriefevom6.2.und 22.2.1923 sowie verschiedene ähnliche sseldorf an Firma Grafitverwertungsgesellschaft m.b.H., München, 7.2.1923, HStAD,RBeschwerdenebd.
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gehört. Die ganzen Firmen im unbesetzten Gebiet, insbesondere die von Thüringen und Sachsen, geben sich nicht die geringste Mühe, irgend etwas zu tun.«46 Die Äußerung verweist darauf, dass die ohnehin erheblichen kulturellen, politischen und sozioökonomischen Gegensätze der Weimarer Gesellschaft durch die Rhetorik der nationalen Einheit und Solidarität nicht überbrückt, sondern ideell aufgeladen und massiv verschärft wurden. Die defizitäre Unterstützungsbereitschaft von Unternehmern gegenüber ihren Kollegen im rheinischwestfälischen Industriegebiet wurde von den Betroffenen als Verweigerung der nationalen Solidarität gegenüber dem besetzten Gebiet gedeutet, statt sie als bloßen Ausdruck eines Interessenkonflikts zu verstehen. Wie im letzten Kapitel herausgearbeitet worden ist, kamen analoge Konstellationen innerhalb des Ruhrgebiets hinzu, als sich linksradikale Arbeiter und pragmatische lokale Eliten den Interpretationen der »Volksgemeinschaft« verweigerten, die von Schwerindustriellen und Regierungspräsidenten propagiert wurden. Fasst man die bisherigen Ausführungen zusammen, lag die Attraktivität des Leitbilds der »Volksgemeinschaft« darin, dass es sich zur Sinngebung und Aufwertung eigener Erfahrungen, Zielvorstellungen und Interessen heranziehen ließ. Zur Legitimation nach außen, gegenüber einer polarisierten Öffentlichkeit, war es jedoch weniger geeignet. Der Versuch der hohen Beamten, mit Hilfe nationaler Rhetorik gegen ihren Ansehensverlust anzukämpfen, erwies sich als glatter Misserfolg. Die weit selbstbewussteren Schwerindustriellen propagierten zwar offensiv einen engen Konnex von »Werks-« und »Volksgemeinschaft«, konnten aber ihren eigentlichen Adressaten, die Arbeiterschaft, nicht dazu bewegen, sich dem unternehmerischen Führungsanspruch unterzuordnen. Dass sich der Diskurs der nationalen Solidarität an gruppenspezifische Deutungsmuster und Interessenlagen adaptieren ließ, machte nicht nur seinen Erfolg aus, sondern markierte auch die Grenzen seiner Geltung. Wer zu etwas nicht bereit war, ließ sich nur in den seltensten Fällen durch den Appell an die »Volksgemeinschaft« vom Gegenteil überzeugen. Gebietsverlust, Grenzproblematik und Besatzungsherrschaft zeigten das in unübersehbarer und schmerzlich empfundener Weise, denn die Unterstützungsbereitschaft des übrigen Deutschland blieb - von der Politik der Reichsregierung bis zu den Beziehungen zwischen Geschäftspartnern - weit hinter den aus dem Diskurs der nationalen Solidarität abgeleiteten Ansprüchen zurück. Das Problem der begrenzten normativen Reichweite der Nation wurde die ganze Weimarer Republik hindurch geradezu obsessiv thematisiert.47 Für die Mehrheit der Industriellen und hohen Beamten war es undenkbar, den Anspruch auf die ersehnte »Volksgemeinschaft« aufzugeben oder auch nur zurück46 Industrie-Kontor G.m.b.H., Düsseldorf an Handelskammer von Düsseldorf, 9.7.1923, HStAD,RW 49,61, Bd. 1. 47 Vgl. z.H. Borsig-Zeitung 1 (1923), S. 193; PVB 45 (1923), S. 85f.
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zuschrauben; im Gegenteil hielten sie ungebrochen an seiner ethischen Überhöhung fest. Die utopischen Züge des Diskurses der nationalen Einheit und Solidarität traten so immer stärker hervor. Seine Verwirklichung blieb in weiter Ferne, und es drohte sogar der Rückfall in pränationale Zustände. Ein Barmener Holzfabrikant konstatierte in einem selbstverfassten wirtschaftspolitischen Programm: »Wir haben verlernt deutsch zu handeln, denn sonst hätte die Entwicklung der Dinge uns nicht so tief herunter gebracht.«4*1 Und der Chemieindustrielle Fritz Henkel zog nach einem Rückblick auf die Zeit vor der Reichsgründung das bittere Fazit, »dass es auch heute keine Deutschen gebe, dass alle nur ihrer Partei, ihren Sonderinteressen leben.«49 Einen Gegenpol zu solchen Selbstdeutungen bildete Amerika, das von den Propagandisten der Rationalisierung nicht nur als reiches und effizient wirtschaftendes Land, sondern auch als Volk mit überlegenem Gemeinschaftssinn und Nationalgefuhl bewundert wurde.50 Weit wichtiger war jedoch die Unterstützung radikalerer Versionen der »Volksgemeinschaft«. Wenn Appelle an die Opferbereitschaft und Solidarität der Deutschen erfolglos blieben, musste es ihren Autoren verlockend erscheinen, die Einheit der Nation auf andere Weise herzustellen. Die Inklusion im Wege einer perfektionierten Massenpolitik und die Exklusion durch die Eliminierung vermeintlicher innerer Feinde waren die beiden Seiten der neuen »Volksgemeinschaft«, die nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise den Kern des nationalsozialistischen Angebots ausmachte. Das genügte zwar nicht, um die unterschiedlich motivierten Vorbehalte von Industriellen und hohen Beamten zu überwinden, ermöglichte aber 1933 den diskursiven Übergang in das NS-Regime.51 Zahlreichen Industriellen und hohen Beamten der Weimarer Republik bot die »Volksgemeinschaft« ein Leitbild von immenser Attraktivität. Denn vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Nachkriegsjahre, die von der Konfrontation mit Revolution, sozialem Protest und staatlichem Akzeptanzverlust geprägt waren, bot sie die Utopie einer konfliktfreien Nation an. Zudem verhieß die »Volksgemeinschaft« die Wiederherstellung und Neustiftung von Hierarchie und Autorität und eignete sich daher hervorragend zur Einbettung und ideellen Überhöhung des eigenen Selbstverständnisses. Genau darin lag jedoch andererseits das Problem, das ihre erfolgreiche Verwendung in einer polarisierten Öffentlichkeit erheblich erschwerte. Weite Teile der deutschen Gesellschaft versprachen sich nämlich von der »Volksgemeinschaft« das präzise Gegenteil, nämlich Gleichheit und Partizipation und waren keineswegs bereit, sich die 48 Johann Deninger-Barmen. Holz-, Hornwaren-, Spazier- und Schirmstock-Fabrik an Regierungspräsident von Düsseldorf, 16.1.1924, HStAD, RD, 16446, Bl. 188-192. 49 Wiedergegeben in: Blätter vom Hause 10 (1930), S. 7 (Hervorhebung im Original). 50 Vgl. z.B. Köttgen, S. 59f, 65f 51 Vgl. föllmer, »Volksgemeinschaft«, S. 294.
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konträren Deutungen der ökonomischen und administrativen Eliten zu eigen zu machen. 52 Den Industriellen gelang es zwar, mit Hilfe der Gemeinschaftsrhetorik die Deutung ihres betrieblichen Identitätsraums an das Ideal der nationalen Einheit zu koppeln; der Versuch, dies der Arbeiterschaft nahezubringen, war jedoch, gemessen an den hohen Erwartungen, ein glatter Misserfolg. Noch negativer sah die Bilanz für die hohen Beamten aus, die zwar ihren gesellschaftlichen Führungsanspruch unverdrossen in der Sprache der Gemeinschaft formulierten, aber gleichzeitig ihren geschwächten Status innerhalb der Nation beklagten. Mit Ausnahmen, wie etwa den württembergischen Industriellen mit ihrer größeren Offenheit gegenüber Demokratie und kooperativer Konfliktregelung, waren beide Gruppen außerstande, aus diesen Fehlschlägen die Konsequenz einer Modifikation ihrer Einstellungen zur Nation zu ziehen. Zu groß war die Prägekraft bürgerlicher Gesellschaftsbilder und Machtansprüche, die trotz der in der Aneignung der Volksgemeinschaftsrhetorik liegenden diskursiven Zäsur einen kulturellen Hintergrund bildeten, dem in der tiefen Krise der Nachkriegszeit ein hoher orientierungsstiftender Wert zukam. Neben Klassengegensatz und bürokratischem Legitimationsverlust verliehen weitere, durch die politischen Rahmenbedingungen der Weimarer Republik hervorgerufene Gegensätze dem Widerspruch zwischen Interessenverfolgung und nationaler Gemeinschaftsrhetorik zusätzliche Schärfe und wurden durch ihn umgekehrt vertieft. Vor dem Hintergrund des Spannungsverhältnisses von regionalen Identitäten und unitarischen Entwicklungstendenzen wurde das Agieren der Berliner Behörden nicht nur kritisch beäugt, sondern - mit negativem Resultat - am Maßstab der Nation gemessen. Die Abtrennung und Besetzung weiter Teile des Reichs bewirkte, dass sich die Betroffenen allein gelassen fühlten, weil die Unterstützung des übrigen Deutschlands ihren hohen Erwartungen mitnichten entsprach. Diese Wahrnehmung erstreckte sich auch auf das Handeln von Individuen, wie hier am Beispiel der Geschäftsbeziehungen zwischen Unternehmern des besetzten und des unbesetzten Gebiets gezeigt werden konnte. Erstere klagten Solidarität und patriotisch motivierten Interessenverzicht ein, sahen sich aber in diesem normativen Anspruch enttäuscht. Auch über solche besonders konfliktträchtige Konstellationen hinaus wurde in der Weimarer Republik das Scheitern der nationalen Ethik wieder und wieder vermerkt und mit großer Erbitterung aufgenommen. Noch vor Beginn der Weltwirtschaftskrise schien die ersehnte »Volksgemeinschaft« in immer weitere Ferne zu rücken, wurde aber nicht aufgegeben, sondern um so verzweifelter propagiert. Erst der Nationalsozialismus sollte für dieses Problem eine Lösung anbieten.
52 Vgl. Fritzsche, Germans, bes. S. 107-114; Mai, »Verteidigungskrieg«; allg. Langewiesche, Nationalismus.
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2. Ethnizität und Integration: Die umstrittenen Grenzen der Nation Ethnozentrismus war bereits im 19. Jahrhundert ein zentraler Aspekt des deutschen Nationalismus;53 in der Weimarer Republik wurde er wichtiger als jemals zuvor. Die Kombination von äußerer und innerer Krise verlieh den Gegenwartsdiagnosen und Zukunftsvorstellungen völkischer Propagandisten eine neue Plausibilität. Die frühen Organisations- und Wahlerfolge des Rechtsextremismus verweisen ebenso auf Kontinuitäten zum Nationalsozialismus wie die studentische Sozialisation der späteren Elite der Vernichtungspolitik.54 Die Anziehungskraft des ethnischen Nationalismus ging jedoch über die völkische Rechte hinaus. Im Stereotyp des »Ostjuden« verdichteten sich zeittypische Ängste und Ressentiments.55 Das Leitbild einer ethnisch homogenen Nation genoss in weiten Teilen von Gesellschaft und Politik axiomatische Verbindlichkeit.56 Die Konstruktion der deutschen Identität durch völkische Abgrenzungen war in der Weimarer Republik ein hegemonialer Diskurs. Unter den Bedingungen einer tiefgreifenden Autoritätskrise des Staates die nationale Inklusion und Exklusion zu kontrollieren, gehörte zu den schwierigsten Aufgaben der Verwaltung in den zwanziger Jahren. Die hohen Beamten sahen sich an der neuen Grenze zu Polen und bei der Abwehr osteuropäischer, besonders ostjüdischer Immigranten im Landesinnern in die Defensive gedrängt. Auf beiden Feldern nahm die Überzeugungskraft ethnischer Deutungsmuster zu. Sie waren auch für die Einbürgerungspraxis bestimmend, wenngleich sie in einem Mischungsverhältnis zu den Kriterien der wirtschaftlichen Lage, soziokulturellen Integration und subjektiven Identifikation standen. Für kommunale Spitzenbeamte und Industrielle war dagegen die ideelle Erweiterung der nationalen Grenzen attraktiv, denn die Förderung der Auslandsdeutschen oder das Eintreten für den Anschluss Österreichs ließen sich an eigene Zielvorstellungen und Interessen, lokale und regionale Identitäten anbinden. Wie die Grenzen der Nation konstruiert wurden und welche Rolle dabei ethnischen Deutungsmustern zukam, ist die Leitfrage dieses Kapitels, unter der zunächst die bürokratische Wahrnehmung des polnischen Gegners einerseits und der osteuropäischen, besonders ostjüdischen Immigranten andererseits untersucht wird. Bei der Rekonstruktion der Einbürgerungspraxis ist die Differenzierung zwischen verschiedenen Inklusionskriterien und Entscheidungsebenen, aber auch zwischen Preußen und den süddeutschen Staaten wichtig. Schließlich wird am Beispiel der Stuttgarter Stadtverwaltung und der württem53 54 55 56
Vgl. Kaschuba, Nationalismus. Vgl. u.a. M.H. Geyer, S. 371-378; Lohalm; Herbert, »Generation« Vgl. Maurer- D. Walter, bes. S. 52-79. Vgl. Gosewinket, Homogenität.
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bergischen Exportindustriellen gefragt, warum es plausibel war, eine erweiterte, ethnisch definierte Nation zu entwerfen. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg war das Nationsverständnis der hohen Beamten von ethnischen Deutungsmustern geprägt gewesen, die allerdings in einem Mischungsverhältnis zu staatsnationalen Ideen gestanden hatten. Vor dem Hintergrund der Nachkriegserfahrungen traten sie stärker in den Vordergrund und gewannen an identitätsstiftender Bedeutung. Das galt besonders für die Gebiete an der neuen Grenze zu Polen, wo sich die Verwaltung verzweifelt gegen einen übermächtig und bedrohlich erscheinenden Gegner stemmte. 57 Die Hoffnung auf die Integration der polnischen Bevölkerung in die deutsche Nation, die durch den Krieg neue Nahrung erhalten hatte, wich nun endgültig der Überzeugung eines unüberbrückbaren ethnischen Gegensatzes. Die hohe Beamtenschaft der neugeschaffenen Miniprovinz Grenzmark Posen-Westpreußen definierte sich über ihren Kampf gegen die »nachdrängende slawische Flut« und damit auch die eigene »völkische Not«.58 In einem Vortrag vor Ministerialbeamten und Abgeordneten verglich der Oberpräsident den Konflikt mit dem Nationalitätenkampf in Schleswig-Holstein, wo sich »2 germanische Stämme, 2 hohe starke Kulturen« gegenüberstünden. Während die dortige Konfrontation »eine gewisse Poesie« aufweise, herrsche in der Grenzmark Posen-Westpreußen »eisige Prosa«, da im zähen Kampf gegen die polnische »Kulturlosigkeit« keine raschen und glanzvollen Erfolge möglich seien. Aufgrund der engen ethnischen Verwandtschaft komme in Schleswig-Holstein dem voluntaristischen Aspekt eine entscheidende Rolle zu, im Unterschied zum ganz anders gelagerten Konflikt an der polnischen Grenze: »Bei uns dagegen eine starre strenge Scheidung der beiden Nationalitäten. Nur sehr wenige Menschen gibt es, die auf der Grenze stehen und um die es sich zu ringen lohnt. Rassisch, völkisch tut sich ein unüberbrückbarer Abgrund zwischen Deutschen und Polen auf Blick, Wesen, Gebärden alles läßt sofort den großen Unterschied der beiden Nationalitäten erkennen. Vollkommen einander fremd, ohne verwandte Beziehungen, so stehen sich fast ohne gegenseitiges Verstehen leider in tiefem Haß zwei Nationalitäten gegenüber.«59 Die Abgrenzung in völkischen Kategorien blieb nicht auf die Wahrnehmung der Polen jenseits der Grenze beschränkt, sondern erstreckte sich auch auf die Sicht von Einwanderern osteuropäischer, besonders ostjüdischer Herkunft. »Ostjude« nahm den Charakter eines Symbols für Krisenerfahrung und Infiltrationsangst der Nachkriegszeit an. Bei dieser Konstruktion spielte die Verwaltung eine aktive Rolle. Sie übernahm nicht nur antisemitische Stereotypen, die 57 S.o., 208-211. 58 Regierungspräsident von Schncidemühl an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildungjanuar 1922, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 5, Bl. 165-168. 59 Ebd.
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den osteuropäischen Juden »unlautere Geschäfte«, »Skrupellosigkeit« und »Schiebertum«60 sowie eine besondere Disposition zu revolutionärer Gesinnung und Aktivität unterstellten,61 sondern machte sie auch zur Grundlage ihrer einwanderungsindpolitischen Praxis. Die Forderung nach einer verschärften, speziell gegen das Eringn von Ostjuden gerichteten Überwachung der Grenzen62 wurde von einiegen Stimmen sogar durch den Vorschlag ergänzt, besondere Stellen zur heimlichen Abschiebung einzurichten.63 Ein Landrat regte an, für »lästige Ausländer« ein - ursprünglich für Kriegsgefangene errichtetes Lager bei Paderborn wieder in Betrieb zu nehmen, in dem die äußeren Bedingungen für eine »Segen bringende Kulturarbeit« gegeben seien.64 Das wichtigste administrative Anwendungsfeld völkischer Stereotypen war die Einbürgerungspraxis, die besonders gegenüber Ostjuden von einer rigiden Abwehrhaltung bestimmt war.65 Das heißt aber nicht, dass ökonomische Lage, soziokulturelle Integration und subjektive Identifikation ohne Bedeutung gewesen wären. Im Gegenteil spielten diese Kriterien für die Naturalisierungsentscheidungen eine wichtige Rolle. Sie unterlagen jedoch einer ethnischen Hierarchie, in der deutschstämmige Kandiaten an erster und Antragsteller ostjüdischer Herkunft an letzter Stelle standden. Das lässt sich exemplarisch an der Einbürgerungs Abspraxis der Düsseldorfer Polizeiverwaltung zeigen, die Bewerber deutschertammung privilegierte,66 sofern nicht zu befürchten 60 Reichskommissar für Zivilgefangene und Flüchtlinge, Denkschrift betreffend Abänderung der Bestimmungen über die Meldepflicht und die Behandlung der Ausländer, 30.10.1920, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 1814, Nr. 4, Bl. 83-92; ähnlich Regierungspräsident von Düsseldorf an Minister des Innern, 24.2.1921, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 4, Bl. 93; Polizeiverwaltung Elberfeld an Regierungspräsident von Düsseldorf, 23.5.1919, HStAD, RD, 15169, Bl. 146. 61 Regierungpräsident von Münster an Minister des Innern, 6.11.1920, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 1814, Nr. 4, Bl. 273f; Oberbürgermeister von Oberhausen an Regierungspräsident von Düsseldorf, 10.4.1920, HStAD, RD, 15980, Bl. 107ff. 62 Niederschrift über das Ergebnis der am 16. Februar 1920 im Reichsministerium des Innern abgehaltenen Beratung betreffend fremdenpolizeiliche Maßnahmen zur Eindämmung der Zuwanderungvon Ausländern, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 1814, Nr. 3, Bl. 9-17; Regierungspräsident von Düsseldorf an Minister des Innern, 24.2.1921, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 4, Bl. 93; Regierungspräsident von Arnsberg an Minister des Innern, 18.11.1920, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 1814, Nr. 4, Bl. 276. 63 Regierungspräsident von Breslau an Innenministerium, Landesgrenzpolizei Osten, 21.5.1921, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 1814, Nr. 4, Bl. 260; Regierungspräsident von Frankfurt/Oder an Innenministerium, Landesgrenzpolizei Osten 23.5.1921, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 1814, Nr. 4, Bl. 261. 64 Landrat von Wiedenbrück an Minister des Innern, 25.4.1920, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 1814, Nr. 3, Bl. 45f.; zu den realen Internierungslagern für Ausländer vgl. D. Walter, S. 70-75. 65 Vgl. Gosewinkel, »Unerwünschte Elemente«, S. 99-104. 66 Vgl. zahlreiche Einzelbeispiele von Anträgen deutschstämmiger Kandidaten mit österreichischer, tschechoslowakischer oder russischer Staatsangehörigkeit, die zur »Erhaltung des Deutschtums« befürwortet wurden, aus den Jahren 1920 bis 1921 im HStAD, RD, 47938 und 47939.
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stand, dass sie aufgrund von Armut das kommunale Wohlfahrtswesen belasten würden.67 In der ethnischen Zugehörigkeit wurde ein klares Indiz für Integrationsaussichten und subjektive Identifikation gesehen. So unterstellte man einem deutschstämmigen tschechoslowakischen Staatsangehörigen, »dass er eine dem Deutschtum zuneigende Gesinnung besitzt, da er deutscher Abstammung ist.«68 Angehörige anderer Nationalitäten konnten ihr Manko durch einen längeren Aufenthalt sowie durch deutsche Sprachkenntnisse und »Gesinnung« kompensieren, was sogar osteuropäischen Kandidaten gelang.69 Dieser Weg zur Naturalisierung blieb jedoch unsicher: Im Zuge des restriktiveren Kurses der preußischen Staatsbürgerschaftspolitik seit 1921 verhinderte die ethnische Zugehörigkeit in manchen Fällen, dass Integrationsleistungen der Antragsteller anerkannt wurden. Zum Beispiel wurde einem Polen die Einbürgerung verweigert, obwohl gute Deutschkenntnisse und »angeblich eine dem Deutschtum zugeneigte Gesinnung« für ihn sprachen. Die distanzierte Formulierung weist darauf hin, dass dem zuständigen Beamten die Annahme einer subjektiven Identifikation mit der deutschen Nation ohne entsprechende Abstammung widersinnig erschien.70 Die Situation jüdischer Kandidaten war prinzipiell ähnlich, wurde jedoch durch das antisemitisch motivierte Misstrauen der Verwaltung, das in den Nachkriegsjahren besonders ausgeprägt war, zusätzlich erschwert. Die Stereotypen der Eigennützigkeit und Habgier trugen ihnen in vielen Fällen den Verdacht ein, am »Schleichhandel« beteiligt zu sein71 und deshalb zu denjenigen »Elementen« zu gehören, »die aus der Not des deutschen Volkes ein Geschäft machen.«72 Dieses Negativklischee fand jedoch keine Anwendung auf solche 67 Beispiel für die Ablehnung eines deutschstämmigen Kandidaten aufgrund von Armut: Polizeiverwaltung Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, 10.10.1921 (Österreicher Leopold Fuchs), HStAD, RD, 47939. 68 Polizeivcrwaltung Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, 4.5.1921, HStAD, RD, 47939. 69 Vgl. u.a. Polizeiverwaltung Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, 17.3.1919 (katholischer Galizicr Johann Singer), HStAD, RD, 47937; Polizciverwaltung Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, 7.12.1920 (Slowene Laurentius Izda); Polizeiverwaltung Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, 7.12.1920 (Tscheche Karl Kawan), beide im HStAD, RD, 47938; Polizciverwaltung Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, 24.1.1921 (Tscheche Albert Sklebena), HStAD, RD, 47939. 70 Polizciverwaltung Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, 8.3.1922, HStAD, RD, 47940; für den ähnlichen Fall eines tschechoslowakischen Antragstellers vgl. Polizei Verwaltung Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, 28.7.1922, HStAD, RD, 47941; zum Kurswechsel der preußischen Staatsangehörigkeitspolitik 1921 vgl. Gosewinkel, »Unerwünschte Elemente«, S. 99-102. 71 Polizeiverwaltung Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, 11.11.1919, HStAD, RD, 47937; ähnliche Fälle: Polizeiverwaltung Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, 23.1.1922; Polizeiverwaltung Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, 16.3.1922, beide im HStAD, RD, 47940. 72 Polizeiverwaltung Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, 21.6.1921, HStAD, RD, 47938.
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jüdischen Einbürgerungskandidaten, die gesellschaftlich integriert waren oder im Krieg für Deutschland gekämpft hatten; ihre Anträge wurden in der Regel zur Annahme empfohlen.73 Allerdings war auch ihre Stellung - wie die nichtjüdischer Osteuropäer - fragil und unterlag zudem einem spezifisch antisemitischen Generalverdacht. Das zeigt das Beispiel eines polnischen Juden, der sich als selbständiger Kaufmann niedergelassen hatte und von der Düsseldorfer Polizeiverwaltung zunächst als »erwünschter Bevölkerungszuwachs« betrachtet wurde, »da er nicht mit denjenigen jüdischen Elementen zu vergleichen ist, die nur dunkle Geschäfte betreiben.«74 Als aber das preußische Innenministerium aufgrund eines bayerischen Einspruchs um eine Überprüfung dieser Einschätzung nachsuchte, änderte die Polizeiverwaltung ihre Meinung und behauptete nun, dass der Antragsteller »nur persönliche Vorteile zu erreichen« versuche.75 Anders als in ihrer ersten Beurteilung übertrug sie ein klassisches antisemitisches Stereotyp auf den Kaufmann, ohne dass dafür konkrete Anhaltspunkte vorgelegen hätten. Auf der nächsthöheren Ebene der Regierungspräsidien beruhten die Entscheidungen über Einbürgerungsanträge auf einem ähnlichen Mischungsverhältnis ethnischer, soziokultureller, ökonomischer und subjektiver Kriterien. Der Nachweis nationaler Gesinnung und gesellschaftlicher Integration eröffnete hier ebenfalls Kandidaten nichtdeutscher Abstammung, auch Juden, gute Chancen auf ein positives Votum.76 Einschätzungen wie »angesehene Persönlichkeit«77 verweisen auf die Nähe der preußischen Verwaltung zu den lokalen Eliten, die - anders als in der Vorkriegszeit - für ihre Naturalisierungs73 Vgl, Polizeiverwaltung Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, 12.12.1919, HStAD, RD, 47937; Polizeiverwaltung Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, 31.5.1921, HStAD, RD, 47939; Polizeiverwaltung Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, 9.2.1922, HStAD, RD, 47940; Polizeiverwaltung Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, 23.8.1922; Polizeiverwaltung Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, 10.5.1922, beide im HStAD, RD, 47941. 74 Polizeiverwaltung Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, 2.5.1921, HStAD, RD, 47940. 75 Polizeiverwaltung Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, 9.2.1922; vgl. Minister des Innern an Regierungspräsident von Düsseldorf, 22,11.1921, beide im HStAD, RD, 47940. In einem ähnlichen Fall befürwortete die Polizeiverwaltung zunächst den Einbürgerungsantrag eines staatenlosen Juden, der seit 20 Jahren ein Möbelgeschäft betrieb, relativierte jedoch ihre Einschätzung auf die Nachfrage des Regierungspräsidenten, indem sie bemerkte, dass die Familie nicht als - von den Richtlinien geforderter - »besonders wertvoller Bevölkerungszuwachs« angesehen werden könne; Polizei Verwaltung Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, 9.2,1922; Regierungspräsident von Düsseldorf an Oberbürgermeister von Düsseldorf, 20,2.1922; Polizeiverwaltung Düsseldorf an Regierungspräsident von Düsseldorf, 20.3.1922, alle im HStAD, RD, 47940. 76 Zahlreiche Beispiele für diese Argumentation, auch in Bezug auf jüdische Antragsteller, finden sich u.a. im GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 70, Bd. 2; GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 2770, Nr. 3 R , Bd. 1. 77 Regierungspräsident von Gumbinnen an Minister des Innern, 2.12.1921, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 27, Bd. 18, Bl. 98f.
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entscheidungen stark ins Gewicht fiel. Das lässt sich auch an den Beurteilungen von ökonomischer und gesellschaftlicher Stellung der Antragsteller ersehen. Während ein jüdischer Bankangestellter als »tüchtiger und anständiger Mensch« und daher als erwünschter Bevölkerungszuwachs bezeichnet wurde,78 verstieß ein tschechoslowakischer Staatsbürger, der die Absicht hatte, sich als Färber selbständig zu machen, gegen wichtige lokale Interessen. Nach Rücksprache mit der Handwerkskammer sprach sich der Regierungspräsident von Merseburg dafür aus, seinen Antrag abzulehnen, um den örtlichen Mittelstand vor unerwünschter Konkurrenz zu schützen: »Für die verhältnismäßig kleine Stadt Eisleben ist eine Färberei vollständig ausreichend.« 79 Nicht anders als auf der Ebene der Stadtverwaltungen begründeten die Regierungspräsidien eine Ablehnung dann mit ethnischen Kriterien, wenn es sich bei den Kandidaten nicht um integrierte und etablierte Persönlichkeiten handelte. In solchen Fällen schlugen sich antisemitische Stereotypen in den Einschätzungen der zuständigen Beamten nieder.80 Die Wahrnehmung nationaler Gegensätze außerhalb der deutschen Grenzen konnte ebenfalls ins Gewicht fallen und sogar, vermischt mit einer allgemeinen Krisendeutung, die eigenmächtige Festsetzung von Entscheidungskriterien legitimieren. So sprach sich der Regierungspräsident von Lüneburg dafür aus, den Einbürgerungsantrag eines seit 16 Jahren im Land lebenden tschechoslowakischen Staatsangehörigen abzulehnen, weil »die Tschechen in Böhmen der deutschen Bevölkerung gegenüber eine sehr feindliche Stellung einnehmen und die tschechische Regierung wohl nicht im Entferntesten daran denken würde, Naturalisationsanträgen von deutschen Einwanderern stattzugeben.« Die schlechte wirtschaftliche Situation und die Arbeitslosigkeit in Deutschland stellten einen weiteren Grund dar, die Naturalisierung »wenigstens solcher Ausländer, die nicht deutscher Abstammung sind«, pauschal abzulehnen, um die Kandidaten bei einer weiteren Verschlechterung der Lage ausweisen zu können.81 Auf die Bitte des Innenministeriums um eine Stellungnahme erklärte der Oberpräsident von Hannover, der frühere Reichswehrminister Gustav Noske, dass er es ebenfalls 78 Regierungspräsident von Gumbinncn an Minister des Innern, 13.2.1922, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 2770, Nr. 3 R , Bd. 1. 79 Regierungspräsident von Merseburg an Minister des Innern, 19.8.1926, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 2770, Nr. 3 S , Bl. 4, Bl. 80. Diese Begründung fand allerdings vor den Augen des zuständigen Beamten im preußischen Innenministerium keine Gnade: Minister des Innern an Regierungspräsident von Merseburg, 12.7.1926, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 2770, Nr. 3s, Bl. 79f. 80 Vgl. z.B. Regierungspräsident von Alienstein an Minister des Innern, 25.10.1919, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 68, Bd. 1; Regierungspräsident von Breslau an Minister des Innern, 29.8.1921, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 2770, Nr. 3 R , Bd. 1; Regierungspräsident von Magdeburg an Minister des Innern, 8.3.1922, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 2770, Nr. 3 S , Bd. 1. 81 Regierungspräsident von Lüneburg an Minister des Innern, 9.5.1921, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 70, Bd. 2, Bl. 257.
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für klug halte, sich die spätere Ausweisung derjenigen »fremdländischen Arbeiter«, die deutschen Staatsangehörigen die Arbeitsplätze wegnähmen, vorzubehalten. Ohne nähere Begründung fügte er hinzu, dass die Einbürgerung des Antragsstellers auch sonst nicht im preußischen Interesse liege. Noskes Stellungnahme trug dem Kandidaten die Ablehnung seines Gesuchs ein.82 Aufgrund ihrer Wahrnehmung des Nationalitätenkonflikts in Böhmen sprachen sich auch mehrere Landräte im Regierungsbezirk Breslau für die pauschale Ablehnung aller Naturalisierungsanträge tschechoslowakischer Staatsangehöriger aus, was allerdings vom Regierungspräsidenten als übermäßig hart bewertet und nicht übernommen wurde. 83 Den entscheidenden Beitrag zur Durchsetzung des Abstammungskriteriums in der preußischen Einbürgerungspraxis leistete das Innenministerium, dessen Beamte in einer Vielzahl von Fällen die Integrations- und Identifikationsargumente der Regierungspräsidenten zurückwiesen und die mangelnde Erfüllung der Mindestniederlassungsdauer monierten. 84 Bei der Interpretation dieser Haltung ist zu berücksichtigen, dass sie im Einklang mit den Rahmenrichtlinien des Reiches von 1920 stand, die auf dem Prinzip der ethnischen Abwehr beruhten. Überdies kam sie den voraussehbaren Einwänden Bayerns und Württembergs gegen die Einbürgerung »fremdstämmiger« Ausländer zuvor. Auf der anderen Seite schwenkte auch Preußen zwischen 1921 und 1925 auf eine restriktive Linie ein, nachdem es zuvor für einige Jahre eine vergleichsweise liberale Position gegenüber der Einbürgerung jüdischer wie nichtjüdischer Osteuropäer vertreten hatte.85 Die Ministerialbürokratie wirkte daran über die bloße Umsetzung vorgegebener Richtlinien hinaus aktiv mit, was sich vor allem in der Sprache niederschlug, in der die Einbürgerungsanträge bearbeitet wurden. Die skeptischen Randbemerkungen, mit denen der zuständige Ministerialrat häufig positive Voten der Regierungspräsidenten versah, zeugen von einem angestrengten Bemühen um trennscharfe ethnische Identifikation. Typisch waren Formulierungen wie »fremdstämmiger Ostausländer, kaum 15 Jahre im Inlande, Ehefrau auch fremdstämmig, beide Kinder im Auslande geboren«, die darauf abzielten, die Integrationsvermutung zu widerlegen. 86 82 Oberpräsident von Hannover an Minister des Innern, 10.6.1921, GStA PK, Mdl, HAI, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 70, Bd. 2, Bl. 254; Oberpräsident von Hannover an Minister des Innern, 9.7.1921, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 70, Bd. 2, Bl. 252; Minister des Innern an Franz Babista, 8.8.1921, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 70, Bd. 2, Bl. 264. 83 Regierungspräsident von Breslau an Minister des Innern, 30.11.1921, GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 70, Bd. 3, Bl. 69. 84 Zahlreiche Einzelbeispiele im GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 70, Bd. 2; GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 2770, Nr. 3 R , Bd. 1. 85 Vgl. Gosewinkel, »Unerwünschte Elemente«, S. 99-102. 86 Randbemerkung zu: Regierungspräsident von Stade an Minister des Innern, 12.4.1921 (katholischer Mähre Anton Mikala), GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 70, Bd. 2, Bl. 35f; zahlreiche weitere Beispiele in ders. Akte und im GStA PK, Mdl, HA I, Rep. 77, Tit. 2770, Nr. 3R, Bd. 1.
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1925 erfolgte eine vom preußischen Innenminister Grzesinski initiierte liberale Wende, die auf eine vorsichtige, in der Begriffsprägung des »Kulturdeutschen« gipfelnde Abkehr vom Abstammungsprinzip hinauslief 87 Dem lag die Intention zugrunde, die in Deutschland ansässigen Einwanderer osteuropäischer Herkunft nicht länger als »Fremdkörper« zu betrachten, sondern zu versuchen, »sie restlos in den Volkskörper einzugliedern«. 88 Dieser Versuch einer integrationistischen Umdeutung des Volksbegriffs stieß jedoch auf den energischen Widerstand der meisten übrigen Länder, von denen besonders Bayern und Württemberg auf dem Primat der Ethnizität beharrten. Sie verwiesen auf die Gefahren, die der »völkischen Geschlossenheit« des Reiches durch die forcierte Einbürgerung »fremdstämmiger Ostausländer« drohten. 89 Nach dem Krieg habe Preußen seine diesbezügliche Zurückhaltung aufgegeben, was zu »Einbürgerungslisten mit langen Reihen fremder, die östliche Abstammung und den fremden Volksstamm unzweideutig dartuender Namen« geführt habe, noch dazu in einer Zeit ungesicherter Grenzen. 90 Dementsprechend erhoben Bayern und Württemberg, aber auch Bremen und Lübeck in zahlreichen Fällen Einspruch gegen die Naturalisierung osteuropäischer, besonders ostjüdischer Antragsteller durch Preußen, wenngleich sie im Reichsrat in der Regel überstimmt wurden. 91 Das württembergische Beispiel zeigt allerdings, dass sich die Kriterien für die Befürwortung oder Ablehnung von Einbürgerungsanträgen auf unterer Ebene nicht wesentlich von denen in Preußen unterschieden. Auch hier wurde maßgeblich auf eine materiell gesicherte Stellung, subjektive Identifikation und soziokulturelle Integration abgestellt.92 Sah die Verwaltung grundlegende Ordnungs- und Sittlichkeitsnormen verletzt, sprach sie sich für die Ausweisung aus. 93 Nicht anders als in Preußen war es auch in Württemberg das Innenministerium, das das Abstammungskriterium propagierte und gegen Integrations87 Vgl. zum folgenden Gosewinkel, »Unerwünschte Elemente«, S. 102f. 88 Referat des [preußischen] Ministerialdirektors Dr. Badt in der Innenministerkonferenz vom 13. Juli 1929 über »Einbürgerungsfragen«, HStASt, Ε 130b, Bü 1016, Qu 185. 89 So der württembergische Ministerialrat Knapp, Niederschrift über die am 13. Juli 1929 im Reichsministerium des Innern abgehaltene Besprechung der Herren Innenminister über Einbürgerungsfragen, HStASt, Ε 130b, Bü 1016, Qu 184. 90 So der bayerische Vertreter, Ministerialrat Frhr. v. Immhoff, Niederschrift über das wesentliche Ergebnis der am 7. Juli 1927 im Reichsministerium des Innern abgehaltenen kommissarischen Beratung von Fragen des Reichs- und Staatsangehörigkeitsrechts, HStASt, Ε 130b, Bü 1016, Qu 146a. 91 Verschiedene Beispiele im HStASt, Ε 130b, Bü 1030; vgl. Gosewinkel, Homogenität, S. 187. 92 Oberamt Kirchheim an Regierung des Donaukreises, 3.4.1923, StAL, Ε 179 II, Bü 3783; Württembergische Regierung des Donaukreises an Minister des Innern, 27.3.1922, HStASt, Ε 151/ 02, Bü 1100. 93 Oberamt Blaubeuren an Minister des Innern, 13.1.1926, HStASt, Ε 151/03, Bü 44; Polizeipräsidium Stuttgart an Minister des Innern, 14.8.1925; Polizeipräsidium Stuttgart an Minister des Innern, 26.8.1929, beide im HStASt, Ε 151/03, Bü 45.
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gesichtspunkte durchsetzte. Es versuchte, Arbeitgeber zu veranlassen, ihre ausländischen Beschäftigten durch deutsche Staatsangehörige zu ersetzen.94 Kreisregierungen, die sich für die Einbürgerung von Osteuropäern ausgesprochen hatten, wies es an, »neben der Staatsangehörigkeit genau die Abstammung (Nationalität) festzustellen« und Anträge von Angehörigen der »Oststaaten« mit besonderer Strenge zu prüfen.95 Auch wenn die Administration auf allen Ebenen die Vorurteile gegen »Ostjuden« übernahm, wurde das Kriterium der ethnischen Zugehörigkeit für die Staatsbürgerschaftspolitik der zwanziger Jahre insgesamt stärker »von oben«, von Ministerialbürokratie und Regierungspolitik, als von Stadtverwaltungen, Regierungspräsidien und Kreisregierungen forciert. Neben dem Nationalitätenkampf an der polnischen Grenze und der Einwanderungs- und Staatsbürgerschaftspolitik gab es in den zwanziger Jahren noch eine Reihe weiterer Felder, auf denen ethnische Deutungsmuster unverkennbar an Bedeutung gewannen. Das lässt sich etwa am prononcierten Interesse württembergischer kommunaler Spitzenbeamter und Industrieller für das Auslandsdeutschtum bzw. den Anschluss Österreichs nachweisen. Beiden Themen war gemeinsam, dass sie eine Nation entwarfen, die über das alte und neue Territorium des Reiches hinauswies und sich gleichzeitig an die lokale bzw. regionale Identität anbinden ließ. Dieser Zusammenhang konkretisierte sich im Deutschen Auslands-Institut in Stuttgart, das den Beziehungen zu den - als völkische Außenposten verstandenen - Auslandsdeutschen gewidmet war und sich von Beginn an der Unterstützung durch die Stadtverwaltung erfreuen konnte.96 Oberbürgermeister und Bürgermeister setzten gegen Widerstände im Gemeinderat wiederholt durch, dass die hohen Geldforderungen des Instituts erfüllt wurden. Stets argumentierten sie dabei mit dessen großer Bedeutung für die Stadt Stuttgart.97 Würde der Beitrag gesenkt, trügen konkurrierende Städte mit Museen von nationalem Rang den Nutzen davon:
94 Polizeiabteilung des Innenministeriums an Arbeitsminister, 6.12.1920» HStASt, Ε 151/03, Bü59. 95 Minister des Innern an Regierung des Neckarkreises, 22.10.1920, StAL, Ε1731, Bü 480, Qu 186. 96 Vgl. z.B. die Rede des Stuttgarter Oberbürgermeisters Karl Lauten Schlager, Bericht über die Weihe des Hauses des Deutschtums und die damit verbundenen Veranstaltungen sowie über die Tätigkeit des Deutschen Auslands-Instituts im Jahre 1924/25, erstattet in der Sitzung des Verwaltungsrats vom 22. Mai 1925 im Sitzungssaal des Instituts im Hause des Deutschtums durch den Vorsitzenden des Vorstands Generalkonsul Dr. phil. h.c. Theodor G. Wanner, StASt, ΒII 8, Bd. 2, Nr. 9, Fasz. 65. 97 Rede des Bürgermeisters Klein, Stenogramm, Nichtöffentliche Sitzung des Gemeinderats vom 1 .Juli 1926, StASt, ΒII8, Bd. 4, Nr. 19, Fasz. 269; Rede des Bürgermeisters Klein, Auszug aus der Niederschrift des Gemeinderats vom 2. Februar 1928, StASt, Β II 8, Bd. 4, Nr. 19, Fasz. 325; Rede des Oberbürgermeisters Karl Lautenschlager, Stenogramm, Nichtöffentliche Sitzung des Gemeinderats am 19. Mai 1930, StASt, Β II 8, Bd. 4, Nr. 19, Fasz. 379a.
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»Aber die lachenden Erben sind München mit dem Deutschen Museum, Nürnberg mit dem Germanischen Museum, ›Deutsche Arbeit‹ in Leipzig, das Hygiene-Museum in Dresden und das Neue Reichsmuseum in Düsseldorf.«98
Stand hier das städtische Interesse an einer repräsentativen und öffentlichkeitswirksamen nationalen Institution im Vordergrund, ließ sich die Stuttgarter Kolonialausstellung von 1928 mit zentralen Elementen einer schwäbischen Identität verbinden, wie sie bereits lange vor dem Krieg formuliert worden waren. In seiner Begrüßungsrede betonte der Oberbürgermeister Karl Lautenschlager, dass die immer schon wanderfreudigen »Söhne Schwabens« an vorderster Front an der Kolonialisierung beteiligt gewesen seien und damit zur Versorgung der heimischen Industrie mit Rohstoffen beigetragen hätten." Neben der Stuttgarter Stadtverwaltung verbanden auch die württembergischen Unternehmer ihre Interessen mit einem nationalen Thema, nämlich dem Anschluss Österreichs an Deutschland. Sie traten dafür ein, indem sie einen Wirtschaftsverband Schwaben-Vorarlberg gründeten, der einen engeren Zusammenschluss der beiden Regionen anvisierte und »einen deutschen, in der Durchführung einen allschwäbischen Charakter« haben sollte.100 Bald weiteten sie ihn zu einem Forum für die Propagierung des Anschlusses aus. Aufder Herbsttagung 1926 sprach sich der Syndikus der Handelskammer Stuttgart für eine »Arbeits- und Wirtschaftsgemeinschaft« in Gestalt einer Zollunion aus, die dem staatlichen Zusammenschluss vorangehen solle. Er begründete seine Position mit der Notwendigkeit, neue Absatzgebiete für den deutschen Export zu schaffen, wobei implizit mitschwang, dass sich die württembergische Industrie davon besonderen Nutzen versprechen konnte.101 Über mögliche Wege zu einer Zollunion fanden zudem Verhandlungen zwischen deutschen und österreichischen Handelskammern statt, die aufgrund ihrer politischen Brisanz vertraulich gehalten wurden.102 Die Unterstützung von Zollunions- und Anschlussplänen unter den württembergischen Industriellen wurde zwar in der Öffentlichkeit zurückhaltend artikuliert, war aber bereits lange vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise groß. Die Definition der Grenzen der Nation war in der Weimarer Republik so umkämpft wie nie zuvor. Dabei gewann das Konzept einer ethnischen Abwehr98 Ebd. 99 Oberbürgermeister Karl Lautcnschlagcrin: Der Kolonialdcutsche. Deutsche Übersee-und Kolonialzeitung 8, Nr. 11 (1.6.1928), S. 171 (Exemplar im StASt, Β II 8, Bd. 3, Nr. 16, Fasz. 99). 100 Bericht über die konstituierende Versammlung des »Wirtschaftsverbandes SchwabenVorarlberg« am 7. Juli 1920, 15.7.1920, WABW, Α 5, Bü 120. Anwesend waren u.a. Vertreter der Handelskammern von Ravensburg, Stuttgart und Ulm. 101 Oberschwäbische Volkszcitung, Ravensburg, 6.9.1926 (Ausschnitt im HStASt, Ε 151/02, Bü 15, Qu 10). 102 A. Gummersbach, Syndikus der Handelskammer Ravensburg an Dr. Siegert, Deutscher Industrie- und Handelstag, 17.6.1929, WABW, Α 5, Bü 120.
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gemeinschaft gegenüber einem integrationsoffenen Nationsverständnis unverkennbar an Boden. Das galt besonders für die hohe Beamtenschaft an der östlichen Grenze des Reiches, wo der defensive Nationalitätenkampf dem Bild eines unüberbrückbaren völkischen Gegensatzes zwischen Deutschen und Polen eine enorme Plausibilität verlieh. Hinzu kam das Konstrukt des schieberei- und subversionsverdächtigen »Ostjuden«, dessen orientierungsstiftende Kraft aus dem Zusammenwirken älterer antisemitischer Stereotypen mit der Krisenwahrnehmung und Infiltrationsphobie der Nachkriegszeit resultierte. Eine ethnisch definierte Abwehrhaltung gegenüber Osteuropäern, besonders osteuropäischen Juden, prägte auch Politik und Praxis der Einbürgerung. Vor allem auf lokaler Ebene spielten allerdings materielle Lage, soziokulturelle Integration und subjektive Identifikation der Antragsteller ebenfalls eine wichtige Rolle, wenngleich sie einer ethnischen Hierarchisierung unterlagen: Die Benachteiligung von jüdischen oder nichtjüdischen Einbürgerungskandidaten osteuropäischer Herkunft konnte durch gesellschaftliche Stellung sowie deutsche Sprachkenntnisse und »Gesinnung« kompensiert werden. In zahlreichen Fällen wurden jedoch die positiven Voten von Stadtverwaltungen und Regierungspräsidenten durch das Beharren der Ministerialbürokratie auf strikter Beachtung des Kriteriums der ethnischen Zugehörigkeit konterkariert. Als sich Preußen Mitte der zwanziger Jahre einem integrationistischen Nationsverständnis öffnete und den inklusiven Begriff des »Kulturdeutschen« entwickelte, stieß es damit auf entschiedenen Widerstand besonders Bayerns und Württembergs. Es waren in erster Linie die Ministerialbürokratien und mehrheitlich auch die Regierungen, die dafür verantwortlich zeichneten, dass in der Einbürgerungspolitik und -praxis ein Abstammungsprinzip mit unverkennbar antisemitischen Zügen beibehalten und verstärkt zur Geltung gebracht wurde. Darin lag eine Wendung gegen die bürgerliche Ordnung der Nation, denn Einkommen, Status und soziokulturelle Integration änderten für die Anhänger einer Einbürgerung nach rigiden ethnischen Kriterien nichts an ihrer ablehnenden Haltung gegenüber osteuropäischen, besonders ostjüdischen Antragstellern. Auf der anderen Seite war der ethnische Nationalismus in vieler Hinsicht ein Produkt der bürgerlichen Kultur des 19. Jahrhunderts;103 hinzu kam, dass er sich in der Einbürgerungspraxis der zwanziger Jahre nur teilweise durchsetzen konnte, weil er mit anderen Prinzipien konkurrierte. Wie am Beispiel der Unterstützung des institutionalisierten Auslandsdeutschtums durch die Stuttgarter Stadtverwaltung und und der Vision eines deutsch-österreichischen Zusammenschlusses durch die württembergischen Industriellen gezeigt worden ist, ließ sich die ethnische Ausweitung der nationalen Grenzen zudem an herkömmliche Formen lokaler und regionaler Identität anbinden. Die Konstruktion ihrer Grenzen durch hohe Beamte und Industrielle verlieh 103 Vgl. Chickering, We Men; Eley, Geschichte, S. 48f
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der Nation am Vorabend der Weltwirtschaftskrise noch immer starke Züge einer bürgerlichen Ordnung. B. Kontinuität und Reform: Einheit und Integration in Frankreich Nach 1918 konnten die Diskurse, in denen die französische Nation konstruiert wurde, sowohl an Traditionslinien des 19. Jahrhunderts als auch an Konstellationen des Krieges anknüpfen; gleichzeitig reagierten sie auf neue politische und gesellschaftliche Probleme. Für Industrielle und hohe Beamte stellten innere Ordnung und äußere Grenzen der Nation zentrale Prioritäten dar. Die administrativen Eliten versuchten, die »union nationale« durch staatliche Konsensstiftung zu perpetuieren, während zahlreiche Unternehmer sie mit antiparlamentarischer und regionalistischer Stoßrichtung neu definieren wollten. Aus der verstärkten Einwanderung ergaben sich Konsequenzen für die Definition der Nation, deren integrativer Charakter beibehalten, aber an die Erfüllung moralischer, politischer und ethnischer Bedingungen geknüpft wurde. 1. Die »union nationale«: Staatliche Konsensstiftung, Antiparlamentarismus und Regionalismus Politisches System und Sinngebung der Dritten Republik, wie sie sich im ausgehenden 19. Jahrhundert etabliert hatten, zeigten in den zwanziger Jahren unverkennbare Ermüdungserscheinungen. Im siegreichen Ergebnis des Krieges lag nur scheinbar ein Erfolg für parlamentarische Demokratie und republikanische Kultur, denn beides stieß in der französischen Öffentlichkeit auf wachsende Skepsis. Parteienkritik, Staatsreform und ökonomische Modernisierung waren bereits lange vor der Weltwirtschaftskrise zentrale Themen der politischen Debatte.104 Der Rekurs auf das einheitsstiftende Erlebnis des Krieges verband sich mit unterschiedlichen Strömungen und verlieh ihnen einen gemeinsamen antipluralistischen Grundzug. Er konkretisierte sich in parlamentarischen Mehrheitskonstellationen wie dem Bloc national (1919-1924) oder der Union nationale (1926-1929), in den Veteranenverbänden ebenso wie in der Rhetorik zahlreicher anderer Gruppen.105 Demgegenüber blieben die Radikalen zwar eine staatstragende und einflussreiche Partei; ihr dezidiert laizistischer Republikanismus hatte sich aber abgenutzt, und der Versuch seiner 104 Vgl. J.-J. Becker/Berstein, S. 390-415; exemplarisch Kuisel, Ernest Mercier. 105 Vgl J . - J . Becker/Berstein, S. 179-241, 278-313; Prost, Les Anciens Combattants.
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Revitalisierung im Linkskartell (1924-1926) war ein Misserfolg.106 Insofern spricht vieles für die pointierte Formulierung Julian Jacksons, dass im November 1918 die Nation und nicht die Republik gewonnen habe.107 Wie in den ersten beiden Teilen dieser Arbeit gezeigt worden ist, hatte die Mehrheit der ökonomischen Eliten bereits vor 1914 Parlamentarismus, Zentralstaat und republikanischer Kultur distanziert gegenübergestanden und während des Krieges konkrete Vorstellungen über die Neuordnung der Nation formuliert. Nach 1918 war einerseits das öffentliche Klima für solche Bestrebungen günstig, aber andererseits hielt die institutionelle Struktur der Dritten Republik allen Reformversuchen stand. Auf diese Situation reagierten die Industriellen, indem sie das Leitbild der Nation offensiv zur Zurückdrängung von parlamentarischer Demokratie und Zentralstaat einsetzten, eine Grundhaltung, die besonders im ökonomischen Regionalismus über die republikanische Gegenwart hinauswies. Dazu gaben vor allem Linkskartell und Inflation Anlass, während die anschließende Stabilisierung unter der Führung von Ministerpräsident Poincare die »union nationale« als realisierbares Ideal erscheinen ließ und damit die Hinnahme des politischen Systems erleichterte. Die hohen Beamten verabschiedeten sich nach 1918 definitiv vom antiklerikalunitarischen Nationskonzept der Vorkriegszeit. Sie näherten sich regionalen Deutungsbedürfnissen und Hierarchien an und nahmen gegenüber dem Kommunismus eine scharfe Abwehrhaltung ein, wenngleich sie in den zwanziger Jahren keinen Anlass zu akuten Bedrohungsszenarien hatten. Der Weg zur »union nationale« war durch Konsensstiftung markiert. Zu Beginn dieses Kapitels wird das bürokratische Einheitsideal daraufhin untersucht, inwieweit und unter welchen Voraussetzungen seine Umsetzung erfolgreich war. Bei den Industriellen steht die Frage nach ihrem nationalen Selbstbild und den aus ihm abgeleiteten politischen Vorstellungen im Vordergrund. Dabei ist besonders auf den ökonomischen Regionalismus einzugehen und herauszuarbeiten, inwieweit er sich mit den Reformvorstellungen einiger Spitzenbeamter überschnitt. Schließlich wird am Beispiel der nordfranzösischen Industriellen gefragt, welchen Belastungen die nationale Einheit ausgesetzt war und welcher Stellenwert ihnen in den zwanziger Jahren zukam. Die Definition, Herstellung und Wahrung der nationalen Einheit war in den zwanziger Jahren eine der zentralen diskursiven Prioritäten der französischen Industriellen und hohen Beamten. Sie knüpften damit an Ideen des 19. Jahrhunderts an, versuchten aber in erster Linie, die konservativ gewendete »Union sacrée« der zweiten Kriegshälfte fortzuschreiben und für die eigenen Zielvorstellungen in Anspruch zu nehmen. Fragt man zunächst nach dem Charakter des bürokratischen Einheitsideals, lässt sich eine Abkehr vom antiklerikalen Unitarismus der »Republique radicale« zugunsten einer stärkeren Konsens106 Vgl. BersteinJ.-J. Becker/ders., S. 242-277; Jeanneney. 107 Jackson, S. 213.
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Orientierung feststellen. Den innenpolitischen Hintergrund für diesen Umschwung bildete die Dominanz des Bloc national zwischen 1919 und 1924, in den zeitweise auch die katholische Rechte integriert war.108 Wie am Beispiel der Indienstnahme und Gestaltung der Kriegserinnerung gezeigt werden konnte, zielten Präfekten und Unterpräfekten auf die Stiftung eines gesellschaftlichen Konsenses ab, der den lokalen Eliten eine wichtige Position zuerkannte, und zwar auch dann, wenn sie - wie etwa in Nordfrankreich - seit jeher katholischkonservativ geprägt waren.109 Überhaupt spielte das Bestreben, »klerikale« und »reaktionäre« Bestrebungen zu identifizieren und einzudämmen, keine Rolle mehr. Dagegen wurden rechtsradikale Kräfte wie die monarchistische Action Française und ihr gewalttätiger Zweig Camelots du Roi zwar nach wie vor observiert. Sie wuchsen sich in den zwanziger Jahren aber nicht zu einer systemgefährdenden Bedrohung aus, die den prinzipiellen Erfolg der administrativen Konsensstiftungsbemühungen in Frage gestellt hätte.110 Wichtiger war die Beobachtung der Kommunistischen Partei, die in den Verwaltungsberichten der Zwischenkriegszeit breiten Raum einnahm. Vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise wurde sie jedoch zu keinem Zeitpunkt als echte Gefahr für die staatliche Autorität wahrgenommen. Die Erklärung für ihre geringe Resonanz in der Bevölkerung glaubte man in dem durch den Krieg gefestigten Patriotismus gefunden zu haben, an dem die internationalistische Rhetorik abpralle.111 So konnte etwa der Unterpräfekt von Hazebrouck während der Ruhrkrise berichten, dass die Atmosphäre der »concorde nationale« den kommunistischen Bestrebungen entgegenwirke.112 Sein Kollege in Valenciennes reduzierte einige Jahre später deren Anhänger auf eine Minderheit von »mauvais ouvriers, ceux qui ont l'habitude de se plaindre de tout et de recriminer contre tout« und äußerte die Überzeugung, dass sich der Bolschewismus niemals »à l'esprit et au tempérament français« anpassen würde.113 Das Einheitsideal der Verwaltung definierte sich also vorrangig durch die scharfe Abgrenzung von Kommunismus und Internationalismus, während es gegenüber dem Katholizismus einen konsensorientierten Charakter trug. Es 108 Vgl.Mayeur, S.251-269;J . - J . Becker/Berstein, S. 179-241; Maier, S. 91-109, sowie Rousselier. 109 S.o., S. 241-244. 110 Vgl. z.B. Präfekt des Departements Nord an Minister des Innern, 23.10.1922, ADN, Μ 154 236a; Präfekt des Departements Nord an Minister des Innern, 22.10.1930, ADN, Μ 154 237; Präfekturdes Departements Rhone, Spezialkommissariat Lyon, Monatlicher Bericht, April 1926, 4.5.1926, AN, F 7 12746. 111 Unterpräfekt von Valencienncs an Präfekt des Departements Nord, 18.12.1921, ADN, Μ 154 191; zur Erfolglosigkeit der Kommunistischen Partei vgl. auch verschiedene Berichte des Präfekten des Departements Nord aus den Jahren 1924 bis 1928 (AN, F 7 12744), sowie des Präfekten des Departements Rhone aus den Jahren 1924 bis 1927 (AN, F 7 12746). 112 Unterpräfekt von Hazebrouck an Präfekt des Departements Nord, 10.4.1923, ADN, Μ 159 17a. 113 Unterpräfekt von Valencienncs an Präfekt des Departements Nord, 31.7.1928, ADN, Μ 149 8.
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konnte sich zudöm auf eine positive Wahrnehmung der Einstellungen in der breiten Bevölkerung stützen. Zufrieden berichtete der Unterpräfekt von Valenciennes, dass die Gemeinden seines Bezirks, »fidèles aux principes d'Union Sacrée et désireuses de maintenir la conciliation entre Français de toute opinion« seien und daher das Fest der Jeanne d'Arc feiern würden, das für die Annäherung von Republik und Katholizismus im Zeichen der nationalen Einheit stand.114 1926, auf dem Höhepunkt der Inflation und der Agonie des Linkskartells, konstatierte sein Kollege in Avesnes, dass dieselbe Feier trotz der lokalen Dominanz des radikalen Republikanismus mit größerer Anteilnahme begangen worden sei als der 14. Juli und fügte in offensichtlich stark von eigenen Sichtweisen vorgeprägter Formulierung hinzu: »On ne peut se defendre de voir là une manifestation silencieuse mais significative du desir d'union nationale qui se traduit en presence des périls financiers, sociaux et extérieurs.«115
Da das administrative Einheitsideal auch von den aufkommenden regionalistischen und separatistischen Strömungen zwar herausgefordert, aber nicht wirklich gefährdet wurde,116 konnte es die zwanziger Jahre insgesamt unbeschadet überdauern. Das galt jedoch nur dort, wo die Beamten konsensorientiert agierten und vorhandenen Einstellungen entgegenkamen. Dagegen versuchte die Verwaltung in Elsass-Lothringen, zur Refranzösisierung der mehrheitlich deutschsprachigen Bevölkerung ein unitarisches Leitbild der nationalen Einheit zu exekutieren, stieß damit aber auf hartnäckige Resistenz, die sich in einem prononcierten Autonomismus äußerte. Erst als die Pariser Regierung Ende der zwanziger Jahre einen konzilianteren Kurs einschlug, verlor der Widerstand an Resonanz.117 Der Erfolg des administrativen Einheitsideals im übrigen Frankreich ist also nicht mit der Ausübung von Druck, sondern im Gegenteil mit der überwiegenden Zurückhaltung der hohen Beamten zu erklären, die sich regionalen Bewusstseinslagen und Hierarchien eher anpassten, als sie beeinflussen oder gar steuern zu wollen. Im Unterschied zu den hohen Beamten verbanden zahlreiche Industrielle mit dem Leitbild der nationalen Einheit eine positive politische Vision, die auf eine Begrenzung und Zurückdrängung von parlamentarischer Demokratie und republikanischem Zentralstaat abzielte. Besonders deutlich war dies in Äußerungen aus dem befreiten Nordfrankreich, die für den Wiederaufbau statt des Präfekten einen Generalgouverneur forderten, der mit den quasimilitärisch 114 Unterpräfekt von Valenciennes an Präfekt des Departements Nord, 4.5.1921, ADN, Μ 160 34. 115 Unterpräfekt von Avesnes an Präfekt des Departements Nord, 11.5.1926, ADN, Μ 1496. 116 Vgl. z.B. Präfekt des Departements Finistère an Minister des Innern, 13.9.1927; Präfekt des Departements Finistère an Minister des Innern, 17.11.1927, beide in: AN, F 7 13244. 117 Vgl.Goodfeüow.
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verstandenen Qualitäten »d'un grand chef d'industrie«118 und der Machtfiille eines »dietateur« und Generals ausgestattet sein sollte: »Nous voulons notre Foch civil, notre Foch reconstrueteur, notre Foch de la Reconstitution.«119 Wenngleich diese Forderung nicht erfüllt wurde und aufgrund des raschen Wiederaufbaus auch bald wieder in den Hintergrund trat, gehörte ein national begründeter Antiparlamentarismus fest zum Ideenbestand der nordfranzösischen Industriellen, die damit ihre bereits in der Vorkriegszeit ausgeprägte Distanz zum politischen System der Dritten Republik fortschrieben. Die hierarchische Einheit zwischen Unternehmern und Arbeitern erschien ihnen als notwendige Bedingung der ökonomischen Rekonstruktion.120 Die Nation definierten sie über die Abgrenzung zum »étatisme« des französischen Zentralstaats.121 Diese Haltung war zwar in ihrer prinzipiellen Schärfe außerhalb der befreiten Gebiete weniger verbreitet, weil die dortigen Industriellen nicht mit ähnlich großen, von enttäuschten Erwartungen an staatliche Hilfeleistungen begleiteten Übergangsproblemen zu kämpfen hatten. Auch hier wurde jedoch, etwa bei der Einführung des Achtstundentags, die nationale Parole gegen politische Interventionen in Anschlag gebracht.122 Blieb in den vom Bloc national beherrschten Nachkriegsjahren die Zufriedenheit mit der Politik weitgehend intakt, änderte sich das mit der Regierung des Linkskartells zwischen 1924 und 1926.123 Die Gleichzeitigkeit von Inflation und einem von Radikalen gebildeten Kabinett strapazierte die ohnehin fragile Akzeptanz der parlamentarischen Republik bei den Unternehmern. Der Textilindustrielle und frühere Handelsminister Auguste Isaac sah sich von Revolution und Freimaurertum bedroht.l24 Zahlreiche Stimmen interpretierten den rapiden Wertverlust des Franc als nationale Gefahr,125 und die Klagen über den Staat, der die Kräfte des Landes ersticke, wurden lauter.126 Nur die Einheit der Nation, argumentierte man, könne die der Inflation zugrundeliegende Vertrauenskrise überwinden.127 In dieser Vorstellung artikulierte sich ein optimistisches nationales Selbstbild, das in scharfem Kontrast zur negativen Staats- und Politikwahrnehmung stand. So sehr die Linke in der Sicht der Industriellen die Einheit des Landes aufs Spiel setzte, blieben »pays« und »peuple« letztlich doch intakt und erhielten 118 119 120 121 122 123 124 125
Journal des réfugiés du Nord, 13.11.1918; ähnlich ebd., 25.12.1918. Ebd., 23.4.1919; ähnlich ebd., 16.7.1919. NI l , N r . 1 (11.10.1919), S. 21; NI 3 (1921), S. 1377f. NI 1, Nr. 5 (8.11.1919), S. 1; NI 2 (1921), S. lf. EN 3 (1921), S. 78-81. Vgl. Mayeur, S. 271-283; J.-J. Becker/Berstein, S. 242-277;Jeanneney. Isaac, Journal, S. 79 (10.6.1925), 83 (26.7.1926). Vgl. z.B. NI 8 (1926), S. 829f.; Syndicat des Fabricants de Soieries de Lyon, S. 16f.
126 Ebd.;NI 6(1924),S. 1777f. 127 NI 7 (1925), S. 339f.; NI 8 (1926), S. 507f., 791f.
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die Hoffnung auf eine Besserung der Lage aufrecht.128 Die parlamentarische Politik hinke der dynamischen Entwicklung des Landes hinterher.129 Zwar sei sie »la pire ennemie de la nation«, aber glücklicherweise habe das Ende ihrer Dominanz begonnen: »... la Nation n'entend pas sombrer avec l'État Comme elle a plus de ressort que le Parlement, eile veut guider celui-ci et, si besoin, se substituer à lui pour se sauver.«130
Der Legitimationsverlust von Zentralstaat und parlamentarischer Demokratie konnte also das nationale Selbstbild der Industriellen nicht in Frage stellen. Das lag allerdings in erster Linie daran, dass der linken Regierung und damit auch dem zugespitzten Krisendiskurs keine lange Dauer beschieden war, also an einem situativen und kontingenten Faktor. 1926 wurde das Linkskartell von einer Mehrheit der rechten Mitte unter Führung des Ministerpräsidenten Raymond Poincare abgelöst, die unter dem Banner der »Union nationale« bis 1929 die Regierung bildete und bereits nach kurzer Zeit die Währung stabilisieren konnte.131 Damit war mit der Inflation auch die Vertrauenskrise besiegt, die ihr aus Sicht der Industriellen zugrundelag. Poincare entsprach ihren Idealvorstellungen eines »homme«, der sich von den verachteten »politiciens« höchst vorteilhaft abhob und die ersehnte nationale »reconciliation« symbolisierte.132 Befriedigt konnte ein »apaisement des querelles deprimantes entre Français« konstatiert werden, in dem die Grundlage für Vertrauen und damit für stetige Arbeit liege.133 Zwar blieb der neugewonnene Konsens fragil, weil man ihn bald wieder von linken »ennemis du pays« angegriffen sah.134 Wichtiger war jedoch, dass es sich bei dem Ideal der nationalen Einheit um ein Leitbild handelte, dessen Einlösung sich als möglich erwiesen hatte. Auf die staatlichen und parlamentarischen Anfechtungen reagierten die Industriellen nicht bloß defensiv, sondern auch mit eigenen, teilweise zukunftsorientierten Vorstellungen. Zunächst einmal beschworen sie die »collaboration sincère« mit der Arbeiterschaft, deren Chancen um so größer seien, je prononcierter die »bourgeoisie« ihr neugewonnenes, aus den Leistungen der Kriegsjahre geschöpftes Selbstbewusstsein beibehalten würde.135 Die Einheit, welche 128 EN (1926), S. 438-444; NI 6 (1924), S. 2285f.; ähnlich NI 8 (1926), S. lf.; EE 9, Nr. 1/2 (Januar/Februar 1925), S. 11. 129 NI8(1926),S. 633f. 130 Ebd., S.43f. 131 Vgl. Mayeur, S. 284-290; J.-J. Becker/Berstein, S. 278-313. 132 NI 8 (1926), S. 1253f.; ähnlich ebd., S. 1749f.; Assemblée générale de la Confédération Generale de la Production Françaisc du 18 Mars 1927, abgedruckt in: Duchemin, S. 27-34. 133 NI9(1927),S. lf. 134 Ebd., S. 965f.; ähnlich ebd., S. 363f. 135 EN 2 (1920), S. 219; vgl. auch als typisches Beispiel für den harmonisierend-paternalistischcn Duktus des Einheitsdiskurses NI 9 (1927), S. 2064f.
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die Industriellen konstruierten, definierte sich durch die starke Stellung von Eliten.136 Allerdings war damit keine bloße Rückkehr zu einem imaginären paternalistischen Idyll gemeint; vielmehr wurde immer wieder betont, dass es vermehrter Organisations- und Koordinationsbemühungen bedürfe, um sich den Anforderungen der Gegenwart gewachsen zu zeigen.137 Zudem schlug sich der gesellschaftspolitische Gestaltungsanspruch der Unternehmer während der Inflation in der Forderung nieder, eine Expertenkommission zu bilden, welche die Finanzkrise unter breiter Beteiligung der Industrie überwinden sollte.138 Weniger punktuell war die Vision eines »parlement économique«, die damit begründet wurde, dass die bestehende Kammer nicht die Nation, sondern bloß deren politische Seite repräsentiere und daher ergänzungsbedürftig sei.139 In eine ähnliche Richtung zielte der ökonomische Regionalismus, dessen Ursprünge in der Vorkriegszeit lagen und der durch die 1917 von Handelsminister Clementel initiierte Schaffung von Wirtschaftsregionen einen Schub bekommen hatte.140 In den zwanziger Jahren avancierte er zu einem zentralen Aspekt der politischen Ideen der Industriellen, ohne dass die mit ihm verbundenen Ansprüche verwirklicht werden konnten. Die Forderung, die Macht des Zentralstaats und damit auch der Präfekten durch Dezentralisierung und »régionalisme administratif« zu begrenzen, erfreute sich in ihren Verbandsorganen breiter Zustimmung.141 Komplementär dazu verhielt sich der Trend zu unternehmerischen Zusammenschlüssen vor Ort, in dem das spezifische Profil des ökonomischen gegenüber dem literarischen und politischen Regionalismus gesehen wurde.142 Beides zusammen sollte den Industriellen einen drastischen Machtgewinn einbringen. Mit der Zielvorstellung einer längerfristigen Abschaffung der Departements zugunsten von mit Autonomiebefugnissen ausgestatteten »regions administratives« wurde eine nachhaltige Schwächung der 136 UCIDS 17, Nr. 5 (Mai 1921), S. 20ff.; NI 6 (1924), S. 2329f.; Association Industrielle, Commerciale et Agricole de Lyon et de la Region, S. 5, 10. Diese konservative Position überschnitt sich allerdings mit den Vorstellungen liberaler Demokraten zur pluralistischen Modernisierung des politischen Systems der Dritten Republik; vgl. dazu Sick. 137 EE 7, Nr. 7/8 (August/September 1923), S. 1-5; EE 9, Nr. 1/2 (Januar/Februar 1925), S. 1ff. 138 Annales de la Chambre de Commerce de Tourcoing 1926, S. 49f.; Handelskammer von Roubaix, Sitzung vom 16.1.1926, ADN, 79J 21. 139 NI 3 (1921), S. 863f; NI 6 (1924), S. 835ff.; ähnlich Peyerimhoff, S. 24f; RF 2, Nr. 10 (1.4.1927), S. 20-23. 140 Rundschreiben des Handels- und Industrieministers an Präsidenten der Handelskammern, 25.8.1917, ADN, 76J, boite 90, dossier 74b; Ministère du Commerce; vgl. Kuisel, Capitalism, S.
46. 141 EN 5 (1923), S. 397-116; UCIDS 21, Nr. 1 (Januar 1925), S. 1-10, S. 7; RF 1, Nr. 4 (1.10.1926), S. 2f. 142 EN 3 (1921), S. 301f.; EE 4, Nr. 10 (Dezember 1920), S. 24-28; Lajournée Industrielle, 16.3.1921.
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Pariser Regierung anvisiert, deren Kompetenzen auf die Regelung von genuin nationalen Fragen beschränkt werden sollten. Der ökonomische Regionalismus sah vor, die neuen Verwaltungseinheiten unter Rekurs auf bestehende Wirtschaftsräume, aber auch auf ethnische und historische Kriterien festzulegen, was in vielen Fällen gleichbedeutend mit einer Revitalisierung der Provinzen des Ancien Regime war. So betonte etwa der Präsident der Handelskammer von Beifort, dass die Franche-Comté eine eigene Region bilden müsse, »car elle se sépare de la Bourgogne à tous égards: race, culture pastorale et forets resineuses avec petites industries, au lieu de la vigne, de la grande culture et du commerce.«143 Solche Vorstellungen liefen auf das Konzept einer Nation heraus, die sich aus regionalen Gemeinschaften mit jeweils eigenen wesensmäßigen Identitäten zusammensetzte und knüpften damit an einen Topos an, der sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert über die Rechte hinaus verbreitet hatte.144 Neu war der prononcierte Ökonomismus, der den konservativen Regionalismus vereinnahmte, ihm eine dezidiert modernistische Wendung verlieh und sich dadurch hervorragend zur Bündelung und Konkretisierung des politischen Gestaltungsanspruchs der Industriellen eignete. Das verdeutlicht eine Stellungnahme der Handelskammer von Dijon, die auf dem Höhepunkt der Inflation und der Agonie des Linkskartells forderte, die »forces économiques« der Wirtschafts- und Berufsverbände und Handelskammern auf regionaler Ebene zusammenzuschließen. Sodann sei aus diesen Organisationen ein »Comité Économique National« zu bilden, mit dem Auftrag, das Land »tout doucement à la prédominance des questions économiques sur les questions politiques« zu gewöhnen und schließlich in Wirtschafts- und Steuerfragen an die Stelle des Parteienstreits zu treten.145 Der ökonomische Regionalismus traf sich in vieler Hinsicht mit einer Strömung unter den hohen Beamten, die in der Zwischenkriegszeit die Forderung nach einer Stärkung der Pariser Spitzenbürokratie mit der Kritik am etablierten französischen Zentralstaat und seiner parlamentarisch rekrutierten Führung verbanden.146 Ihre Anhänger waren durchgängig Vertreter der sogenannten grands corps mit ihrer traditionell elitären Rekrutierung.147 Im Vergleich zu den direkt vom jeweiligen Innenministerium abhängigen Präfekten genossen sie eine größere Eigenständigkeit und neigten dazu, den Ausbau ihrer Machtposition auf Kosten der parlamentarischen Demokratie zu fordern. So wurde 143 Maître,S. 14. 144 Vgl. Lebovics, True France. 145 Chambre de Commerce de Dijon, Délibération du 24 Mars 1926, Projet d'Organisation Économique. Sous l'Égide des Regions Économiques. Rapport présenté par Monsieur Lafont ViccPresident, Exemplar in: ADN, 76 J , boîte 123, dossier 75. 146 Vgl. z.B. Clerc, S. 7-22, sowie die Zeitschrift L'État Moderne (1928-1930); Rosanvallon, S. 234f; Chagnollard, S. 192. 147 Vgl. Charle, Les grands corps.
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etwa angeregt, den Conseil d'État, der sich am ehesten als oberstes Verwaltungsgericht ohne judikative Autonomie charakterisieren lässt, dem Ministerpräsidenten zuzuschlagen und so dessen Stellung zu stärken. Gleichzeitig sollte jedes Ministerium mit einem permanenten, also von Wahlergebnissen und Regierungsbildung unabhängigen Unterstaatssekretär versehen werden. Ergänzt wurde dieses Reformprojekt durch eine Dezentralisierung, die administrative Befugnisse auf die Regionen verlagern und dadurch den Einfluss der Präfekten beschneiden sollte.148 Zur Begründung betonte man, dass die Erfüllung dieser Forderungen die Lebens- und Identitätsfremdheit von parlamentarischer Politik und Zentralstaat durch eine administrative Struktur ersetzen würde, die der sinnstiftenden Kraft der nationalen Tradition und der »petite patrie« gerecht zu werden verspreche.149 Für den Conseiller d'État Rene Favareille war die Überwindung des »étatisme administratif« der Radikalen durch Selbstverwaltungselemente auf Gemeinde- und Departementsebene die Konsequenz aus der Einsicht, dass Frankreich nicht in der Revolution begonnen habe, sondern ebensosehr von der Monarchie des Ancien Regime geformt sei, der es gelungen sei, »unite nationale« und »variété provinciale« zu verbinden. 15° Der Unterschied zum ökonomischen Regionalismus der Industriellen bestand darin, dass die reformerischen Spitzenbürokraten zwar regionale Vertretungen von Interessengruppen befürworteten, aber am Primat des Staates als Garant der nationalen Einheit und Unabhängigkeit festhielten.151 Der ökonomische Regionalismus erhob den Anspruch, eher einen nationalen Konsens herstellen und sichern zu können als parlamentarische Demokratie und zentralistischer Staat. Wie schon in der Vorkriegszeit wurde er von den katholisch-konservativen Industriellen Nordfrankreichs besonders bereitwillig rezipiert. Sie rekurrierten dabei auf die Erinnerung an das spätmittelalterliche Flandern mit seiner kommunalen Eigenständigkeit, die sie »théorie« und »abstraction« der Pariser Regierungspolitik gegenüberstellten.152 Gleichzeitig leiteten sie aus dem Beitrag der nordfranzösischen Industrieregion zum nationalen Wohlstand die Forderung ab, in Ruhe und Sicherheit arbeiten zu können, d.h. möglichst von staatlichen Interventionen und Steuerlasten verschont zu bleiben.153 Nordfrankreich sei in der parlamentarischen Politik, gemessen an seinem eigentlichen Gewicht, unterrepräsentiert, was nur durch die Einführung regionaler Autonomiebefugnisse geändert werden könne.154 148 So der Conseiller d'État Raphael Alibert, RF 2, Nr. 11 (1.5.1927), S. 17-20. 149 La Reforme administrative, S. 8-12. 150 Favareille,S. 102. 151 Ebd., S. 26. 152 Rede des Präsidenten der Handelskammer von Roubaix, Georges Motte, 5.1.1928, ADN, 79 J 22. 153 Chambre de Commerce de Lille, S. 5-10. 154 NI 9(1927), S. 1555f.
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In dieser Position lag beträchtlicher Konfliktstoff, denn ihre Verwirklichung hätte längerfristig eine Umverteilung öffentlicher Gelder auf Kosten anderer Teile des Landes bedeutet. Da es dazu nicht kam, ließ sich die Vision der Rekonstruktion der nationalen Einheit auf der Basis regionaler Selbstbestimmung aufrechterhalten, ohne von den Folgen einer Umsetzung in die Realität strapaziert zu werden. Die nordfranzösischen Industriellen erhoben sie zum Königsweg in eine Zukunft jenseits von Parlamentarismus und Zentralstaat, und zwar für sich selbst wie für alle anderen Landesteile.155 Das Organ der konservativen Fédération des Industrieis et des Commeçants Français begrüßte Zusammenschlüsse von Industriellen zur Interessenvertretung in den Alpen oder in Dijon als Ausdruck eines neuen »régionalisme«,156 dessen unterstellte einheitsstiftende Wirkung nie wirklich erprobt wurde. Abseits der regionalistischen Zukunftsvorstellungen wurden allerdings Bruchlinien in der vermeintlichen nationalen Einheit deutlich, wofür gerade die nordfranzösischen Industriellen zahlreiche Beispiele lieferten. Sie definierten ihre Identität in Abgrenzung zu Südfrankreich, dessen Bewohnern sie überdies ein Defizit an nationaler Solidarität anlasteten. So warfen sie etwa den dortigen Winzern vor, sich trotz günstiger materieller Situation gegen die Abschaffung ihres Steuerprivilegs zu wehren und damit einen angemessenen Beitrag zum Wiederaufbau zu verweigern.157 Der Süden, in dem der verhasste radikale Republikanismus seine stärksten Bastionen hatte, wurde mit den Unbillen des Parlamentarismus identifiziert.158 Ausschließlich mit dem Weinbau beschäftigt, ignoriere er die Bedürfnisse des befreiten und zerstörten Nordens. 159 Diese Äußerungen zeigen, dass das Ideal der nationalen Einheit mit den aus ihm abgeleiteten Solidaritätsansprüchen in ernüchterndem Kontrast zur Wahrnehmung realen Verhaltens stand und daher regionale Gegensätze eher verschärfte als zu überwinden half Hinzu kam, dass die nordfranzösischen Industriellen den Vorwurf, gegen den normativen Maßstab der Nation zu verstoßen, nicht auf die Südfranzosen beschränkten, sondern auf das unbesetzt gebliebene Frankreich überhaupt bezogen. Immer wieder beklagten sie, dass dem Wiederaufbau keine hinreichende Priorität beigemessen werde, obwohl das »sentiment de l'intérêt national« dies gebiete.160 In der aufkommenden Kritik an den Entschädigungen für die Opfer der deutschen Zerstörungen wurde die 155 So der Präsident der Société Industrielle du Nord, Louis Nicolle, Le congrès annuel, à Lille, de la Fédération régionalistc du Nord et du Pas de Calais, in: La Dépêche, 14.12.1925 (Exemplar in: ADN, 76 J , boîte 122, dossicr 71c); Handelskammer von Roubaix, Sitzung vom 1.12.1920, ADN, 79J 18. 156 EN 5 (1923), S. 317-322; EN 9 (1927), S. 56ff.; ähnlich auch EE 4, Nr. 10 (Dezember 1920), S. 24-28 (Association Industrielle, Commerciale et Agricole in Lyon). 157 NI 5 (1923), S. 1035f.; NI 6 (1924), S. 783f. 158 Ebd., S.379f, 1221f. 159 Ebd., S. 1819f. 160 NI5(1923),S.773f.
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Tendenz gesehen, den Krieg ebenso zu vergessen wie die Schuld Frankreichs gegenüber den besetzten Gebieten.161 Analogen Problemen begegnete der Ruf der traditionell protektionistischen nordfranzösischen Industriellen nach der Wiederkehr des »consommateur national« der Kriegsjahre, mit dem auf die Wahrnehmung einer verbreiteten Präferenz für ausländische Produkte reagiert wurde. 162 Der Vorwurf, aus »snobisme« keine französischen Güter zu kaufen, richtete sich dabei auch an die Industriellen selbst, die häufig deutsche oder englische Maschinen den französischen vorzögen.163 Die Klagen über die realen Defizite der Nation, die in den zwanziger Jahren die Begleitmelodie des Rekonstruktionsdiskurses der nordfranzösischen Industriellen bildeten, verweisen auf die Fragilität des patriotischen Zusammenhalts, die überhaupt hinter der Einheitsrhetorik aufschien. Sie war jedoch in den befreiten und zerstörten Gebieten besonders virulent, weil hier bereits im Krieg hohe Ansprüche an die nationale Solidarität des unbesetzt gebliebenen Frankreich formuliert worden waren, deren Erfüllung hinter den Erwartungen zurückbleiben musste. In anderen Regionen des Landes waren vergleichbare Konstellationen weniger ausgeprägt und blieben auf bestimmte Felder beschränkt, in denen sich das Problem der normativen Verbindlichkeit der Nation in besonderem Maße stellte. Das traf zunächst auf die unmittelbare Nachkriegszeit zu. So beschwerte sich ein Unternehmer über die Privilegien der Rüstungsindustriellen bei der Rohstoffzuteilung und forderte die Rückkehr zur wirtschaftlichen Freiheit. Er selbst sah sich benachteiligt, obwohl er an der Front gestanden hatte und warf die Frage auf, ob es sich bei dem zuständigen Ministerium überhaupt um ein »ministère national, c'est-à-dire ouvert à tous les Francais« handele.164 Wiederaufbau und Normalisierung, überhaupt die günstige Wirtschaftslage in den zwanziger Jahren ließen solche Klagen bald an Bedeutung verlieren. Sie erfuhren allerdings eine gewisse Revitalisierung auf dem Höhepunkt der Inflation zwischen 1924 und 1926, die, wie bereits erwähnt, häufig in militärischen Metaphern gedeutet wurde. Manche Stimmen führten den Verfall des Franc auf eine deutsche »attaque directe« zurück, die durch eine Reihe von Franzosen unterstützt werde. 165 Der Versuch, die Finanzkrise durch eine von patriotischen Appellen begleitete Kampagne für die freiwillige Entrichtung eines Geldbetrags zu bekämpfen, stieß nur auf geringe Resonanz. Wie der Unterpräfekt von Valenciennes feststellte, beteiligten sich die örtlichen Industriellen nur aus 161 Ebd., S. 817f.; NI 6 (1924), S. 281 f. 162 NI 2(1920), S. 1221f. 163 NI 11 (1929),S. 1435f.; derselbe Vorwurf ohne besonderen Bezug auf lndustrielle ebd. 12 (1930), S. 1119f. 164 Briefeines Industriellen an die Zeitung Le Temps, 12.12.1918, abgedruckt in: BCI 19, Nr. 47/48 (Januar-März 1919), S. 2f. 165 CCL 1924, S. 498-501.
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Angst vor dem öffentlichen Vorwurf egoistischer Zurückhaltung. Die Arbeiterschaft verhalte sich gegenüber dem »appel de la nation« erst recht indifferent; soweit sie kommunistisch sei, reagiere sie sogar mit Gegenpropaganda.166 Die Bilanz der Kampagne fiel also ernüchternd aus; da wenige Monate später die Währung stabilisiert werden konnte, bedurfte es jedoch keiner weiteren Proben der patriotischen Solidarität und Opferbereitschaft der Bevölkerung. Die relative Friedlichkeit, Stabilität und Prosperität bewirkte, dass das Ideal der nationalen Einheit trotz einzelner Bruchlinien realisierbar erschien. Die »union nationale« war im Frankreich der zwanziger Jahre ein Leitbild von enormer Verbreitung und Zugkraft. In der Kontinuität des Krieges und im Zeichen der innenpolitischen Annäherung zwischen Republik und Katholizismus löste die konsensorientierte Herstellung und Wahrung der inneren Einheit auf der Agenda der Präfekten und Unterpräfekten endgültig die Bekämpfung »klerikaler« und »reaktionärer« Umtriebe ab. Da dies bedeutete, den Einstellungen und Hierarchien der Bevölkerung soweit als möglich entgegenzukommen, waren sie damit auch erfolgreich. Wo sie allerdings - wie in Elsass-Lothringen - versuchten, das hergebrachte unitarische Nationskonzept durchzusetzen, stießen sie rasch auf die Grenzen administrativen Gestaltungsvermögens und sahen sich bald zu einem kompromissbereiteren Kurs genötigt. Der Suche nach einem Konsens mit der Rechten stand die scharfe Abgrenzung von Kommunismus und Internationalismus gegenüber. Da es jedoch in den zwanziger Jahren trotz Streiks und linksradikaler Systemopposition nicht zu einer revolutionären Bedrohung kam und überhaupt die Bevölkerungsstimmung zu optimistischen Einschätzungen Anlass gab, konnte die »union nationale« aus Sicht der hohen Beamten als Erfolgsmodell gelten. Das galt cum grano salis auch für die Mehrheit der Industriellen, die, bestärkt durch den siegreich beendeten Krieg, »nation« und »pays« zum Gegenmodell zu parlamentarischer Demokratie und zentralistischem Staat erhoben. Dieses Leitmotiv nahm während des Zusammentreffens von Inflation und Regierung des Linkskartells besonders schrille Töne an; die Währungsstabilisierung und die Kabinette der »Union nationale« unter der starken Führung Raymond Poincares kamen ihm jedoch entgegen und ließen seine Verwirklichung näherrücken. Die Industriellen verbanden zudem mit dem Ideal der nationalen Einheit positive Zielvorstellungen, die ihnen institutionalisierte Formen der Mitbestimmung und damit einen politischen Machtgewinn versprachen. Am attraktivsten erschien der ökonomische Regionalismus, der konservative und moderne Komponenten vereinte. Aus den ebenso historisch gewachsenen wie wirtschaftsgeographisch definierten, politisch von Handelskammern und Industrieverbänden dominierten Regionen sollte eine Nation konstituiert wer166 Unterpräfekt von Valenciennes an Präfekt des Departements Nord, 11.5.1926, ADN, Μ 149 6.
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den, in der die Probleme der Gegenwart besser bewältigt würden als unter der Herrschaft von parlamentarischer Demokratie und Pariser Bürokratie. Dieses weitreichende Konzept überschnitt sich zwar mit den zentralismuskritischen Reformvorstellungen einiger Spitzenbeamter aus dem Conseil d'État, ließ sich aber trotzdem nicht verwirklichen. Angesichts des regionalen Gegensatzes zwischen Nord- und Südfrankreich, der durch frustrierte Erwartungen an die patriotische Solidaritätsbereitschaft verschärft wurde, ist seine reale Einlösbarkeit auch zu bezweifeln. Aufgrund der raschen Überwindung der Nachkriegsprobleme und überhaupt der ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Stabilität in den zwanziger Jahren verlor die normative, ethische Aufladung der Nation merklich an Bedeutung. Das Leitbild der »union nationale« hatte seine Beharrungskraft erwiesen, innere Konflikte überdauert und schien am Vorabend der Weltwirtschaftskrise seiner Verwirklichung nähergekommen zu sein. 2. Bedingte Offenheit: Immigration, Einbürgerung und die Definition der Nation Einwanderung und Integration von Ausländern waren im Frankreich der zwanziger Jahre breit debattierte Themen.167 Es bestand Konsens darüber, dass der demographische Aderlass des Krieges, dem vor 1914 eine jahrzehntelange Stagnation der Bevölkerungsentwicklung vorausgegangen war, kompensiert werden musste. Dazu bot es sich einmal an, die assimilationsche Tradition der französischen Staatsbürgerschaftspolitik fortzusetzen und durch Naturalisierung aus Ausländern Franzosen zu machen. Diese Option erschien attraktiv, denn nach 1918 kamen über eine Million Immigranten nach Frankreich. Auf der anderen Seite wirkte die im Krieg eingeübte Abwehrhaltung gegenüber äußeren Einflüssen fort; zudem waren bestimmte Zuwanderergruppen mit verbreiteten Ressentiments konfrontiert.168 Beides legte es für weite Teile der französischen Öffentlichkeit nahe, die massenhafte Einbürgerung skeptisch zu sehen und zur Lösung des demographischen Problems auf bevölkerungspolitische Maßnahmen zu setzen. Auch Industrielle und hohe Beamte bewegten sich in diesem Spannungsfeld. Die ökonomischen Eliten waren einerseits an preisgünstigen Arbeitskräften interessiert und insofern Immigrationsbefurworter. Andererseits gehörte die Angst vor Wirtschaftsspionen und ausländischen Streikanstiftern zur diskursiven Hinterlassenschaft des Krieges. Auch sonst befürchtete man, dass eine forcierte Einbürgerung die nationale Substanz aufs Spiel setzen könne und propa167 Vgl. Schor, Histoire, S. 63-80 und ausführlich ders., L'Opinion. 168 Vgl. Ponty: Schor, Histoire, S. 50ff.
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gierte eine konservativ-paternalistisch gefärbte Bevölkerungspolitik:. Die hohen Beamten vertraten einen stärkeren Assimilationsoptimismus, der sowohl ihre Wahrnehmung von Ausländern europäischer Herkunft als auch die Einbürgerungspraxis bestimmte. Dagegen sprachen sie außereuropäischen Arbeitern jegliche Integrationsfähigkeit ab. Zu dieser ethnischen Grenzziehung kamen Antikommunismus und bürgerliche Moralvorstellungen als weitere Ausschlusskriterien hinzu. Die folgende Darstellung beginnt mit den immigrations- und einbürgerungspolitischen Vorstellungen der Industriellen, wobei der bevölkerungspolitische Diskurs der Handelskammern als Kontrastfolie einbezogen wird. Anschließend wird die Einbürgerungs- und Ausweisungspraxis der hohen Beamten im Hinblick auf das Verhältnis von Assimilationsbereitschaft und politischen, soziomoralischen und ethnischen Exklusionskriterien untersucht. In beiden Fällen steht die Frage im Vordergrund, welches Verständnis der französischen Nation den jeweiligen Positionen zu Immigration und Einbürgerung zugrundelag. Unternehmerverbände und Handelskammern standen der verstärkten Immigration der zwanziger Jahre mit einer Mischung von Befürwortung und Skepsis gegenüber. Für ersteres sprach das Interesse an einem verfügbaren und preisgünstigen Arbeitskräftereservoir, das angesichts der demographischen Konsequenzen des Krieges nicht anders zu verwirklichen schien.169 In vielen Fällen wurde dieses ökonomische Motiv durch eine optimistische Sicht der assimilatorischen Kraft Frankreichs ergänzt, die sich in der Forderung nach erleichterter Einbürgerung und staatlich geforderter nationaler Identifikation der neuen Staatsbürger niederschlug.170 Das integrative Nationsverständnis hatte allerdings einen Gegenpol in der Angst vor äußerer Infiltration, die im Krieg besonders virulent gewesen war und die Geheimaktivitäten deutscher Agenten zu einem zentralen Moment seiner Vorgeschichte erhoben hatte. Diese Angst wirkte nach 1918 in einer Abwehrhaltung fort, die in unterschiedlichen Varianten artikuliert wurde. So plädierte etwa die Handelskammer von Lyon dafür, die Zahl der ausländischen Verwaltungsratsmitglieder zu begrenzen, um eine Übernahme französischer durch deutsche Unternehmen zu verhindern.171 Andere Stimmen schrieben Streiks der Untergrundtätigkeit zugewanderter Agitatoren zu.172 Auch über solche anlassbedingten Äußerungen hinaus wurde das Ausmaß der Immigration in der Zwischenkriegszeit teilweise als zwar kurzfristig unvermeidbar, aber längerfristig problematisch empfunden.173 Das galt besonders für 169 170 171 172 173
Vgl.ders Histoire, S.49,65 und als Beispiel für diese Argumentation NI 11 (1929),S.827. Vgl. z.B. UCIDS 15, Nr. 5 (Mai 1919), S. 8; CCL 1926, S. 320-323. Rede des Präsidenten der Handelskammer von Lyon, in: APCCF, (31.3.1919), S. 71ff. Vgl. z.B. EE 9, Nr. 1-2 (Januar-Februar 1925), S. 11; NI 9 (1927), S. 767f. Vgl. z.B. RF 1, Nr. 5 (1.11.1926), S. 19ff.,28.
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die Protagonisten der Bevölkerungspolitik unter den Industriellen, die ihre Position nicht zuletzt mit den Gefahren einer veränderten ethnischen Zusammensetzung der französischen Nation begründeten. Die Handelskammern veranstalteten ab 1919 einen jährlichen Congrès National de la Natalité, auf dem Vorschläge zur Steigerung der Geburtenrate formuliert wurden. Ihre Argumentation basierte auf einem reduktionistischen Deutungsmuster, das die Stärke einer Nation aus der Größe ihrer Bevölkerung ableitete und sich gleichermaßen auf Vergangenheit und Zukunft des eigenen Landes bezog. Der Präsident des Congres National de la Natalité, der Textilindustrielle Auguste Isaac aus Lyon, betonte immer wieder, dass Deutschland erst durch seine relative demographische Stärke militärisch und mental in der Lage gewesen sei, den westlichen Nachbarn anzugreifen.174 Wegen der geringen Bevölkerungszahl laufe Frankreich Gefahr, nach dem siegreich überstandenen Krieg den Frieden zu verlieren. Aufgrund von demographisch bedingtem Arbeitskräfte- und Nachfragemangel drohe die Niederlage im Wirtschaftskampf und damit der »suicide national«.175 Nach Meinung der bevölkerungspolitisch engagierten Unternehmer gab es zur Erhöhung der Geburtenrate keine Alternative. Aus ihrer Sicht war die Option einer massenhaften Immigration und anschließenden Einbürgerung mit gravierenden Risiken behaftet, zu denen nicht zuletzt eine mögliche Infiltration von außen gehörte. Die Integration ausländischer Staatsangehöriger sei zwar prinzipiell möglich und wünschenswert, stoße jedoch in der gesellschaftlichen Wirklichkeit auf Grenzen. Zudem stelle die Einwanderung langfristig eine Bedrohung für die ethnisch verstandene Substanz der französischen Nation dar.176 Daher hielt man es für erforderlich, durch eine katholisch-paternalistisch gefärbte Kampagne zum moralischen Wandel den demographischen Trend umzukehren. Wie überhaupt in den zwanziger Jahren, erfreuten sich die Industriellen auch hier der Unterstützung durch die Verwaltung.177 174 Eröffnungsrede Auguste Isaacs in: Le Premier Congrès, S. 5-20, hier S. 8f.; Isaac, La Natalité, S. 11f. 175 Präsident des Congrès National de la Natalité, Auguste Isaac an Präsidenten der Handelskammern, 30.4.1922, ADN, 76 J , boîte 69, dossier 13h; ähnlich ders., Congrès National de la Natalité et de la Population. Organise par la Chambre de Commerce de Nancy, undatiertes Rundschreiben [ 1919], ADN, 76J, boîte 69, dossier 13h; Sociétépour la Defense du Commerce et de I'Industne de Marseille, bes. S. 11ff. 176 Isaac, La Natalité, S. 4f; ders., 5me Congrès National de la Natalité (Marseille 27-30 Scptembre 1923). Appel aux congressistes; ders., VIe Congrès National de la Natalité, Strasbourg, 25-28 Septembre 1924. Appel aux congressistes, beide in: ADN, 76 J , boîte 69, dossier 13h. 177 So gehörte es zu den Aufgaben der Präfekten, den »Journec des mères des familles nombreuses« zu unterstützen und die »Medaille de la Familie Fraçaise« zu verleihen; Präfekt des Departements Rhone an Bürgermeister, 1.3.1920, ADR, 1 Μ 154; verschiedene Vorschläge für die Verleihung der Medaille in: ADN, Μ 127 108; ADN, Μ 127 109. Im Departement Nord schlug sich das Bestreben des Präfekten, sich den regionalen wirtschaftsbürgerlichen Eliten unter dem Banner des Wiederaufbaus anzunähern, im gemeinsamen Projekt einer Ausstellung zu demogra-
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Der Ausweg aus dem Spannungsfeld von Einwanderungsbefürwortung und Einwanderungsskepsis schien in einer kontrollierten, auf einer klaren Hierarchisierung der Herkunftsregionen beruhenden Immigrationspolitik zu liegen. Asiaten und Afrikaner wurden in scharfer Abgrenzung zu Arbeitern europäischer Herkunft zu »étrangers inassimilables« erklärt.178 Die Industriellen verlangten also die Erfüllung ethnischer Kriterien und teilten die verbreitete Abwehrhaltung gegenüber außereuropäischen Immigranten. Der Zuwanderung und nationalen Integration europäischer Ausländer standen sie zwar nicht ablehnend gegenüber, waren aber skeptisch gegenüber ihren längerfristigen Folgen. Ausländerpolitik und Einbürgerungspraxis der hohen Beamtenschaft orientierten sich an ähnlichen Leitbildern. Auch hier unterlag die prinzipiell assimilationsfreundliche Linie einer ethnischen Hierarchie, welche die Grenze des Vertrauens in die Integrationskraft der französischen Nation markierte. An ihrem Ende standen Asiaten und Afrikaner, deren Präsenz die betroffenen Bürokraten mit einer Mischung von rassischen Stereotypen und Fremdheitserfahrungen gegenüberstanden. Das verdeutlicht ein Bericht des Präfekten des Departements Loire, der sich positiv über die ansässigen Italiener äußerte und auch die Assimilationsperspektiven der polnischen Bevölkerung längerfristig optimistisch einschätzte, aber kriminelle Disposition und mangelnde polizeiliche Kontrollierbarkeit der afrikanischen Immigranten beklagte: »Chez les Africains conflit permanent, définitif et irréductible. II y a entre eux et nous un fossé que rien ne comblera. Nous ne devons du reste pas le souhaiter. Moralement et physiquement ces étrangers, que minent la tuberculose et la Syphilis, ne peuvent rien donner du bon. S'ils s'adaptent, c'est dans la mesure oü ils partagent les vices et non pas les qualites de la civilisation.«179
Für den Präfekten des Departements Nord stellte die Konfrontation mit den Arbeitern maghrebinischer Herkunft eine kulturelle Überforderung dar, die ein ganzes Spektrum von Vorurteilen aktivierte. Ihre unsesshafte und kollektive Lebensweise, die in seinen Augen nicht nur von Unsauberkeit, sondern auch von einer Gesundheit, Moral und rassische Konstitution der regionalen Bevölkerung bedrohenden Promiskuität bestimmt war, veranlassten ihn, ein baldiges Ende ihres Aufenthalts zu fordern.180 phischen Problemen nieder; vgl. Préfecture du Nord, Commission Departementale de la Natalité, RapportàMessieurs les Presidents des Chambres de Commerce du 1 er Groupement Économique Regional, en vue de l'Exposition de la Natalite du Departement du Nord (Visite de M. Millerand à Lille - Mai 1921), ADN, 77 I 2162. 178 RF 2, Nr. 15 (1.9.1927), S. 22ff.; ähnlich EN 10 (1928), S. 301. Die Unterscheidung zwischen erwünschten europäischen und unerwünschten asiatischen und afrikanischen Immigranten war in den zwanziger Jahren Konsens, vgl. Schot, Histoire, S. 50ff. 179 Präfekt des Departements Loire an Minister des Innern, 6.3.1925, AN, F 7 13518. 180 Präfekt des Departements Nord an Minister des Innern, 23.10.1924, ADN, Μ 208 124.
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Das Gegenbild zu dieser Problemgruppe waren die belgischen Arbeiter, die im grenznahen Nordfrankreich besonders zahlreich vertreten waren. Aufgrund ihres ruhigen Temperaments und ihrer »affinite de race, de moeurs et d'interet« seien sie nicht nur willkommene Arbeitskräfte, sondern bereits im Begriff, mit den Franzosen zu verschmelzen. Etwas schwieriger gestaltete sich aus Sicht des Präfekten die Situation der polnischen Einwanderer, die teilweise eine gewisse Resistenz gegenüber der staatlichen Autorität an den Tag legten, deren Integrationschancen aber aufgrund der fortschreitenden Assimilation der Kindergeneration positiv zu bewerten seien. Schließlich hätten sich auch die Italiener trotz ihres lebhaften Temperaments nicht unangenehm bemerkbar gemacht, obwohl ein großer Teil von ihnen kommunistische Sympathien hege.181 Der letztere Punkt verweist auf den Konnex von Immigration und Linksradikalismus, der in den Wahrnehmungen der Bürokratie eine wichtige Rolle spielte.182 Der überproportionalen Beteiligung der ausländischen Arbeiterschaft an den Streikbewegungen im nordfranzösischen Kohlerevier wollte der Präfekt mit einer Doppelstrategie begegnen, die repressive und integrative Elemente kombinierte. Er fährte die angebliche Anfälligkeit von Einwanderern für revolutionäre Parolen auf ihre schlechte Sprachbeherrschung und mangelnde Anpassung an französische Sitten zurück, die ihrerseits Folgen des isolierten Lebens in eigenen Siedlungen seien. Er schlug vor, ausländische und einheimische Bevölkerung in Wohnvierteln, Vereinsleben, Schulwesen und Erwachsenenbildung zu mischen. Gleichzeitig seien die Propagandisten des Kommunismus unter den Immigranten auszuweisen, 183 wobei diese Haltung nicht auf programmatische Äußerungen beschränkt blieb, sondern in reale Exklusionsentscheidungen mündete.184 U m ausgewiesen zu werden, brauchten ausländische Staatsangehörige keineswegs Führungspersönlichkeiten der linksradikalen Arbeiterbewegung zu sein. Vielmehr reichte es aus, entsprechende Einstellungen zu vertreten, besonders dann, wenn sie mit einem aus bürgerlicher Sicht defizitären Lebenswandel verbunden waren. So wurde ein Belgier ausgewiesen, weil er wiederholt im betrunkenen Zustand kommunistische Parolen ausgestoßen hatte.185 Einem britischen Staatsbürger russischer Herkunft, der nicht nur der Spionage 181 Präfekt des Departements Nord an Minister des Innern, 23.10.1924, ADN, Μ 208 124. 182 Vgl. verschiedene Beispiele aus dem Departement Nord: AN, F 7 12744. 183 Präfekt des Departements Nord an Minister des Innern, 19.6.1923, ADN, Μ 208 133; ähnlich Unterpräfekt von Valenciennes an Präfekt des Departements Nord, 16.3.1923; Unterpräfekt von Douai an Präfekt des Departements Nord, 9.3.1923, beide in: ADN, Μ 208 135. 184 Vgl. z.B. die Ausweisungeines polnischen Kommunisten, Präfekt des Departements Nord an Minister des Innern, 14.12.1926, ADN, Μ 154 202b; zum prinzipiellen Misstrauen der Verwal tung gegenüber politischen Aktivitäten von Ausländern vgl. Lawrence, S. 207-213. 185 Präfekt des Departements Nord an Minister des Innern, 12.10.1928, ADN, Μ 154 202a.
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für Moskau, sondern auch des Betrugs an seiner Frau verdächtig war, wurde nach einem Besuch in der Sowjetunion die Wiedereinreise verwehrt. Dass es für eine Agententätigkeit keinerlei Beweise gab, die französische Ehefrau die Rückkehr des Inkriminierten wünschte und er drei im Inland geborene Kinder hatte, änderte an der Entscheidung nichts.186 Der Konnex von Antikommunismus und bürgerlichen Moralvorstellungen überwog gegenüber rechtsstaatlichen Bedenken und im Konfliktfall auch gegenüber Integrationserwägungen. Die für die hohe Bürokratie des nordfranzösischen Industriegebiets bestimmenden Deutungsmuster und Leitprinzipien lassen sich im Departement Rhone ebenfalls vielfach nachweisen. Auch hier richtete sich die Observation revolutionärer Umtriebe nicht zuletzt gegen die ansässigen Ausländer.187 Die italienischen Immigranten, die in Lyon besonders zahlreich vertreten waren, wurden misstrauisch beobachtet und ausgewiesen, sofern sie sich anarchistischer oder kommunistischer Aktivitäten schuldig gemacht hatten.188 Dabei griff der Präfekt dankbar auf Hinweise und Informationen der Regierung Mussolini zurück, die ihm über das örtliche Konsulat vermittelt wurden.189 Seine wohlwollende Neutralität gegenüber dem italienischen Faschismus stand in einem deutlichen Kontrast zur kompromisslosen Abwehr von Anarchismus und Kommunismus. Den obersten Rang auf der bürokratischen Werteskala nahm jedoch die Wahrung der öffentlichen Ordnung ein, gegen die ausländische Staatsbürger bei Strafe der Ausweisung nicht verstoßen durften. So sprach sich der Präfekt für die Abschiebung eines emigrierten russischen Ehepaars aus, das auf der Lyoner Messe zwei Angestellte der sowjetischen Delegation beleidigt und geohrfeigt hatte und begründete seine Stellungnahme mit der Abschreckungswirkung einer solchen Entscheidung.190 Die Behandlung von Einbürgerungsanträgen und Abschiebungsfällen in beiden Departements gibt Aufschluss über die bürokratische Konstruktion der nationalen Identität, die politische, soziale, moralische und affektive Kriterien zu einem Bild des idealen Franzosen bündelte. Die Kandidaten wurden auf ihre »conduite et moralité« geprüft, die bürgerlichen Vorstellungen zu genügen hatte, was zum Beispiel dann nicht der Fall war, wenn ein Antragsteller in einer 186 Präfekt des Departements Nord an Minister des Innern, 16.2.1929, ADN, Μ 208 133. 187 Vgl. u.a. Präfekt des Departements Rhone an Minister des Innern, 26.2.1921, ADR, 1 Μ 183; Präfekt des Departements Rhone an Sicherheitschef und Spezialkommissar, 19.5.1923, ADR, 1 Μ 184; Präfekt des Departements Rhone an Kommandant der Friedenswächter, 27.7.1924, ADR, 1 Μ 184; Präfekt des Departements Rhone an Sicherheitschef, 15.2.1926, ADR, 1 Μ 185. 188 Vgl. z.B. Präfekt des Departements Rhone an Minister des Innern, 8.3.1924, ADR, 4 Μ 234; Präfekt des Departements Rhône an Minister des Innern, 25.4.1925; Präfekt des Departements Rhone an Minister des Innern, 20.6.1928, beide in: ADR, silo 1, travée 154 et suivantes, carton 2. Für den Hinweis auf die letztgenannte Akte danke ich Mary Lewis (Cambridge, Mass). 189 Präfekt des Departements Rhone an Minister des Innern, 15.2.1923, ADR, 8 MP 65; derselbe Befund bei Lawrence. S. 210. 190 Präfekt des Departements Rhone an Minister des Innern, 21.3.1925, ADR, 8 MP 64.
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unehelichen Beziehung lebte.191 Ein diesbezügliches Manko verband sich im administrativen Diskurs häufig mit patriotischen oder politischen Defiziten. So konnten etwa einer Belgierin nicht zuletzt deshalb keine »garanties morales« attestiert werden, weil ihr Haus während der Besatzungszeit regelmäßig von deutschen Soldaten besucht worden war.192 Im Departement Rhone wurden drei spanische »anarchistes« festgenommen und unverzüglich ausgewiesen, die sich des Vagabundierens und des Widerstands gegen die Staatsgewalt schuldig gemacht hatten.193 Um zu beurteilen, ob die Einbürgerungskandidaten die moralischen Kriterien erfüllten, griffdie Verwaltung auf das Urteil von Nachbarn und Arbeitgebern zurück, wodurch die bürgerliche Komponente der Persönlichkeitsprüfung unterstrichen wurde.194 Die politischen Einstellungen der Antragsteller waren idealiter republikloyal, aber parteifern bis indifferent, wie folgende Einschätzung verdeutlicht: »...ne fait pas de politique. Paraît devoué aux institutions républicaines.«195 Das Mindesterfordernis war, weder einer prorevolutionären Bewegung anzugehören noch sich zu »theories subversives« zu bekennen.196 Beides galt auch für die Anforderungen an den Patriotismus der Kandidaten, die sich mit den politischen Kriterien überschnitten.197 In Nordfrankreich kam das Verhalten gegenüber der deutschen Besatzung während des Krieges hinzu, das standfest statt kooperationsbereit gewesen zu sein hatte.198 Unter der Voraussetzung, dass die genannten Mindesterfordernisse erfüllt waren, war das Nationsverständnis der Bürokratie integrativ und gestand glaubhaften emotionalen Bindungen an Frankreich ein hohes Maß an Überzeugungskraft zu.199 So hieß es über einen Arbeiter polnischer Herkunft im nordfranzösischen Kohlerevier: »II s'est assimilé à nos moeurs; il 191 Polizcikommissarvon La Madeleine an Präfekt des Departements Nord, 20.6.1925, ADN, W 76453. 192 Zentraler Polizeikommissar von Tourcoing an Präfekt des Departements Nord, 25.4.1926, ADN, W 76478. 193 Präfekt des Departements Rhone an Unterpräfekt von Villefranche, 10.12.1923, ADR, Ζ 56 252. 194 Vgl. z.B. Dossier Fernand Joseph Chéron, 26.6.1925, ADN, W76453; Polizeikommissar von Villefranche an Unterpräfekt von Villefranche, 6.1.1925, ADR, Ζ 56 252. 195 Dossier Louis-J oseph Delobel, 30.6.1925, ADN, W 76453. 196 Polizeikommissar von Villefranche an Unterpräfekt von Villefranche, 31.1.1930, ADR, Ζ 56 252. 197 Ebd.: keine prorevolutionären Einstellungen; Unterpräfekt von Avesnes an Präfekt des Departements Nord, 4.11.1927, ADN, W 76503. 198 Unterpräfekt von Avesnes an Präfekt des Departements Nord, 13.4.1928, ADN, W 76603 (positives Beispiel); Polizeikommissar des 2. Bezirks von Roubaix, Bericht vom 31.1.1927, ADN, W 76553 (negatives Beispiel). Bezeichnenderweise kam es im letzteren Fall dem konsensorientierten Präfekten in erster Linie darauf an, keinen Unmut in der Umgebung des Inkriminierten hervorzurufen, Präfekt des Departements Nord an Zentralen Polizeikommissar von Roubaix, 27.10.1927, ADN, W 76553. 199 Vgl. z.B. Polizeikommissar von Villefranche an Unterpräfekt von Villefranche, ADR, Ζ 56 252.
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ne fréquente que des Français et ses sentiments sont sincèrement francophües.«200 Die Integration von Immigranten war in den zwanziger Jahren für die Konstruktion der Nation durch die französischen hohen Beamten von zentraler Bedeutung und beschäftigte auch viele Industrielle. Programmatische Stellungnahmen und die Praxis von Einbürgerungen und Ausweisungen verweisen auf ein Mischungsverhältnis unterschiedlicher Kriterien, das sich jedoch insgesamt als kohärentes Leitbild verstehen lässt. Dieses Nationskonzept war zunächst einmal integrativ, denn es basierte auf einer positiven und optimistischen Grundeinstellung gegenüber der Einbürgerung zugewanderter Arbeitskräfte. Viele Industrielle meldeten zwar Bedenken gegenüber den langfristigen Folgen von Immigration und Integration für die nationale Substanz an. Aber die administrativen Eliten hielten trotz der räumlichen Verdichtung von Zuwanderern in den Industrieregionen, die mit einem lebensweltlichen Rückzug auf das eigene Herkunftsmilieu verbunden war, an ihrem Glauben an die Assimilationskraft Frankreichs fest. Wenn die Integration der aktuellen ausländischen Arbeitskräfte nicht mehr vollumfänglich gelingen sollte, würden doch die Sozialisationsinstanzen Schule, Militärdienst und Vereinswesen ihre Kinder zu Franzosen machen. War die emotionale Bindung an die neue Heimat bereits bei Angehörigen der ersten Generation glaubhaft vorhanden, befürworteten die zuständigen Beamten die Einbürgerung. Diese Integrationsoffenheit fand jedoch dort ihre Grenze, wo bestimmte moralische, politische und ethnische Kriterien nicht erfüllt waren. Neben Kriminellen hatten auch Ehebrecher und andere Kandidaten mit zweifelhaftem Lebenswandel wenig Aussicht, die französische Nationalität zu erlangen. Ferner klärte die Verwaltung durch Rücksprache mit dem Arbeitgeber, ob der Antragsteller ein fleißiges und unterordnungswilliges Profil aufwies. In politischer Hinsicht hatten die einzubürgernden Ausländer idealiter eine neutrale Grundhaltung mit der Loyalität zum bestehenden System zu verbinden. Die Mindestanforderung war, keine prorevolutionären Einstellungen zu äußern oder Aktivitäten zu verfolgen. Dass der Präfekt des Departements Rhone auf entsprechende Hinweise des italienischen Konsulats zurückgrifFund damit seine relative Präferenz für den Faschismus deutlich machte, unterstreicht den Verlust an republikanischer Substanz, der für das bürokratische Nationsverständnis der zwanziger Jahre kennzeichnend war und den ideellen Brückenschlag zu den Industriellen ermöglichte. Schließlich unterlag die Wahrnehmung der verschiedenen Einwanderergruppen und die Einschätzung ihrer Integrationsperspektiven bei den administrativen wie bei den ökonomischen Eliten einer ethnischen Hierarchisierung. Die Assimilation von Belgiern, Itali200 Unterpräfekt von Douai an Präfekt des Departements Nord, 20.6.1928, ADN, W 76503.
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enern und Polen war aus ihrer Sicht wünschenswert und möglich, während die kulturelle Fremdheit von Afrikanern und Asiaten, deren Erfahrung durch rassische Stereotypen verstärkt wurde, unüberbrückbar schien. Der Diskurs von Industriellen und hohen Beamten über die Grenzen der Nation stand in der integrativen französischen Tradition, beschränkte jedoch ihren Geltungsbereich auf diejenigen Individuen und Gruppen, die konservativen Inklusionskriterien genügten. C. Einheit und Grenzen der Nation in Deutschland und Frankreich nach 1918 In Deutschland und in Frankreich wurden Einheit und Grenzen der Nation nach 1918 breit und kontrovers diskutiert, wobei die Positionen von Industriellen und hohen Beamten auf die spezifischen Herausforderungen der Nachkriegsjahre reagierten. Die gegensätzlichen erfahrungsgeschichtlichen Rahmenbedingungen bewirkten, dass sich dieser Zusammenhang in unterschiedlicher Weise konkretisierte. Erstens wurde die Einheit der Nation 2war in beiden Ländern in der Kontinuität der Kriegsjahre zum Gegenbild zu parlamentarischer Demokratie und kooperativem Interessenausgleich erhoben; in Deutschland war jedoch die Distanz zu den enttäuschenden Erfahrungen der Nachkriegszeit mit ihren tiefgreifenden politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Gegensätzen immens. Das verlieh der Utopie der »Volksgemeinschaft« Resonanz, die den ökonomischen und administrativen Eliten zur Orientierung und Sinnstiftung verhalf, wenngleich es nur ersteren gelang, sie in stringenter Form zur rhetorischen Legitimierung der eigenen Ziele einzusetzen. Allerdings stand ihr normativer Gehalt, der im Zeichen von Grenzverschiebung und Ruhrbesetzung in die Nachkriegszeit verlängert wurde und hohe Solidaritätsansprüche begründete, in scharfem Kontrast zum tatsächlich sehr begrenzten Ausmaß an patriotischer Opferbereitschaft, was entscheidend dazu beitrug, dass in der Weimarer Republik die Defizite der »Volksgemeinschaft« immer wieder beklagt wurden. Demgegenüber war das Einheitsideal im siegreichen und revolutionsresistenten Frankreich keinen vergleichbaren Belastungsproben ausgesetzt und ließ sich daher leichter in konkrete Vorstellungen und Maximen überfuhren.201 Die hohen Beamten definierten die »union nationale« in Abgrenzung zum kommunistischen Internationalismus, suchten in ihrem Zeichen den Konsens mit den katholisch-konservativen lokalen Eliten und hatten mit dieser Neuorientierung einigen Erfolg. Die Industriellen sahen die Einheit zwar durch Parlamentarismus und Zentralstaat bedroht, aber die insgesamt vorteilhafte innenpoliti201 So im Hinblick auf die parlamentarische Politik der Nachkriegszeit auch Raithel, S. 508.
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sche Konstellation ließ ihre mittelfristige Verwirklichung im Wege begrenzter Systemkorrekturen, zu denen vor allem regionalistische Reformen zählten, realistisch erscheinen. Zudem bewirkte das zügige Ende der Kriegserfahrung durch Sieg und Wiederaufbau, dass die normative Aufladung der Nation an Bedeutung verlor. So zentral das Leitbild der nationalen Einheit in der französischen politischen Kultur der zwanziger Jahre war, gab es doch kein Pendant zur Utopie der »Volksgemeinschaft« in der Weimarer Republik. Zweitens beschäftigten Immigration und Einbürgerung von Ausländern in beiden Ländern nicht nur die öffentliche Meinung, sondern waren von entscheidender Bedeutung für die bürokratische Definition der Nation. Die dabei zugrundegelegten Leitbilder verbanden ethnische, politische und soziokulturelle Inklusionskriterien, wobei jedoch Mischungsverhältnis und Prioritätenfolge unterschiedlich aussahen. In Deutschland dominierten bei der Entscheidung über die Einbürgerung der Antragsteller völkische, nämlich antislawische und antisemitische Prinzipien. Zwar griffen diese naturgemäß nur gegenüber einem Teil der Kandidaten und konnten zudem auf Gemeinde- und Regierungsbezirksebene durch wirtschaftliche Unabhängigkeit, gesellschaftliche Stellung und kulturelle Integration kompensiert werden. Ihre Durchsetzung wurde aber von Regierungen und Ministerialbürokratien erfolgreich betrieben. Der preußische Versuch, das ethnische Kriterium durch die Einführung des Begriffs des »Kulturdeutschen« abzulösen, stieß auf den hartnäckigen Widerstand besonders Bayerns und Württembergs. Trotz einiger Differenzierungen bleibt also festzuhalten, dass in Deutschland Politik und Praxis der Einbürgerung ein vorrangiges Anwendungsgebiet völkischer Deutungsmuster darstellten. In Frankreich blieb dagegen ein integrationsoffenes Nationsverständnis vorherrschend, das auf einem ungebrochenen Vertrauen in die eigene Assimilationsfähigkeit basierte. War der Antragsteller revolutionärer Sympathien oder Aktivitäten unverdächtig und genügte auch in sozialer und moralischer Hinsicht bürgerlichen Respektabilitätsvorstellungen, standen seine Chancen auf Naturalisierung gut. Ausgeschlossen blieben allerdings Immigranten afrikanischer und asiatischer Herkunft, die von Bürokraten wie Industriellen aufgrund von Fremdheitserfahrungen und rassischen Stereotypen zu »étrangers inassimilables« erklärt wurden. Dennoch waren ethnische Gesichtspunkte von deutlich geringerer Bedeutung für die administrative Aufnahmebereitschaft als im Nachbarland. Die Erklärung für diese Differenz ist einmal in den unterschiedlichen Nachkriegserfahrungen zu suchen, deren krisenhafter Charakter in Deutschland Überschwemmungs- und Infiltrationsängsten eine enorme Plausibilität verlieh. Unter diesen Bedingungen wirkte zum andern die völkische Hinterlassenschaft der Bürokratie des Kaiserreichs, die die deutsche Staatsbürgerschaftspolitik bereits vor 1914 von der französischen unterschieden hatte, mit erhöhter Stoßkraft fort. Dagegen erstreckte sich in Frankreich das neugewonnene Selbstbewusstsein auch auf die Einschätzung der eigenen
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Integrationsfähigkeit. Hinzu kamen demographische Schwäche und Arbeitskräftebedarf, die starke Argumente für eine forcierte Immigrations- und Einbürgerungspolitik lieferten und - anders als in Deutschland - einer Konzeption der Nation als ethnischer Abwehrgemeinschaft wenig Raum ließen. Drittens lässt sich diese unterschiedliche Bilanz um einen weiteren, in der vorliegenden Arbeit nicht näher behandelten Aspekt ergänzen, nämlich die divergierenden Diskurse der nationalen Erneuerung.202 In Deutschland verliehen die Krisenerfahrungen der Nachkriegszeit der Diagnose einer nationalen »Krankheit« Plausibilität, die von Industriellen und hohen Beamten übernommen wurde und nur durch die ersehnte »Gesundung« heilbar erschien. Dagegen war die Substanz der französischen Nation für die ökonomischen und administrativen Eliten intakt, was einen Erneuerungsbedarf keineswegs ausschloss, aber ihn auf konkrete Politikfelder begrenzte. Das lässt sich sowohl an der technokratischen Suche nach Wegen zur modernen und expansiven Industrienation als auch an den Appellen der konservativen Bevölkerungspolitiker unter den Unternehmern zur moralischen Umkehr nachweisen. In beiden Fällen fehlte eine Parallele zum Phantasma des »kranken Volkskörpers«, das in Deutschland das Reden über die Erneuerung der Nation durchzog. Dass der massive Durchbruch völkischer Deutungsmuster infolge der Krisenerfahrungen der Nachkriegszeit den deutschen vom französischen Fall unterschied, ist das wichtigste Ergebnis des Vergleichs der nationalen Diskurse nach 1918. Fragt man darüber hinaus, inwieweit es den ökonomischen und administrativen Eliten beider Länder gelang, die Nation einerseits zur eigenen Orientierungsstiftung heranzuziehen und andererseits zur Legitimation ihrer Zielvorstellungen und Interessen einzusetzen, lässt sich eine weitere Differenz konstatieren. Weit davon entfernt, ihren Anspruch auf eine gesellschaftliche Führungsrolle einlösen zu können, sahen sich die hohen Staatsbeamten in Deutschland aus »Volksgemeinschaft« und »Volkskörper« herausgedrängt und nahmen die diskursive Überlegenheit der Industriellen mit Erbitterung wahr. Im Kontext der Weimarer Republik verschärfte sich für sie die bereits zuvor massive Diskrepanz zwischen tiefgreifendem Legimationsdefizit und nationalen Machtambitionen. Dagegen gestaltete sich das Verhältnis der Spitzenbürokratie zur Nation in Frankreich günstiger, weil sie wie im Krieg ihre entsprechenden Aktivitäten auf die Konsensherstellung und -Wahrung beschränkte und damit angesichts ihres vergleichsweise ungebrochenen Einflusses auch erfolgreich war. Die Annäherung an die katholisch-konservativen lokalen Industriellen löste nun definitiv den unitarischen Konfrontationskurs der Präfekten der »République radicale« vor 1914 ab. Diese positive Bilanz verband sich allerdings mit einem Verlust an republikanischer Substanz, der sich nicht zuletzt an der Gleichzeitigkeit von scharfem Antikommunismus und weltan202 Vgl. zum folgenden Föllmer, »Volkskörper«, S. 47f.
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schaulicher Indifferenz gegenüber dem italienischen Faschismus zeigte. Überhaupt verweist der hier vertretene Vorrang des kurzfristigen Faktors der Nachkriegserfahrungen für die Erklärung der Unterschiede zwischen den jeweiligen nationalen Diskursen auf die prinzipielle Anfälligkeit der französischen politischen Kultur der Zwischenkriegszeit für illiberale und antidemokratische Lösungen, die von der Forschung in letzter Zeit vermehrt betont worden ist.203 Das belegt ein Blick auf den veränderten Kontext der dreißiger Jahre, als ein verbreitetes Gefühl der nationalen Schwäche das Selbstbewusstsein der Nachkriegsjahre ablöste und bei zahlreichen Industriellen zu rechtsradikalen Sympathien und Aktivitäten führte.204 Über die Ergebnisse des deutsch-französischen Vergleichs hinaus unterstreicht die Analyse der Diskurse der Nation nach 1918 deren zerstörerisches Potential für die liberale Demokratie.
203 Vgl. zusammenfassend Passmore, Third Republic; fernerJackson. 204 Vgl. Passmore, Third Republic, S. 440-443.
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Schlussbetrachtung
Die Nation war das wirkungsmächtigste Leitbild der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ihre Deutungsmacht erstreckte sich nicht zuletzt auf Staat und Industrie. Nationalstaat und Nationalökonomie hatten sich im 19. Jahrhundert etabliert, aber im Zeichen von Imperialismus, Weltkrieg und Revolution rückten sie vollends in das Zentrum erbitterter äußerer und innerer Konflikte. Vor diesem Hintergrund gewann die Nation für die administrativen und ökonomischen Eliten noch an Bedeutung. Warum, wie und mit welchen Konsequenzen sie von ihnen adaptiert und konstruiert wurde, war die Leitfrage dieser Arbeit. Um sich einer Antwort zu nähern, mussten Erfahrungen, Deutungsbedürfnisse und Interessen, soziale, lokale und regionale Identitäten in die Analyse einbezogen werden. In Deutschland und in Frankreich rückten sich Industrielle und hohe Beamte, nicht anders als etwa Historiker oder Ärzte, in das Zentrum nationaler Erfolgsgeschichten, Konfrontationen und Krisen. Sie verschafften sich so eine übergeordnete Sinnstiftung und Legitimation, die sich auch auf ihre Existenz als städtische und regionale Eliten und auf ihre bürgerlichen Werthaltungen beziehen ließ. Die gedachte Ordnung der Nation war attraktiv, weil sie an mehrere Teilidentitäten gleichzeitig gekoppelt werden konnte und deshalb eine umfassende und immer neue Selbstbestätigung ermöglichte. Sie ließ sich flexibel an die jeweiligen Deutungsbedürfnisse anpassen und zur Begründung der eigenen individuellen oder kollektiven Zielvorstellungen und Interessen einsetzen, ohne dass darin ein moralisches Problem oder gar ein Widerspruch gesehen wurde. Im Gegenteil gingen solche Ansprüche mit ehrlichen Erwartungen an die patriotische Opferbereitschaft und Solidarität anderer Personen oder Gruppen einher, die allzuoft enttäuscht wurden. Der Einsatz für die Nation war gleichzeitig ein Kampf um gesellschaftliche Anerkennung. Beides, die zentrale Bedeutung der Nation für die eigene Sinngebung und die Diskrepanz zwischen den daraus abgeleiteten Ansprüchen und ihrer mangelnden Einlösung, war immer dann von hoher und konfliktträchtiger Bedeutung, wenn äußere Bedrohung und innere Gegensätze zusammentrafen. Das war im Ersten Weltkrieg, der Staat und Wirtschaft in ungeahntem Maße involvierte und bis über die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit hinaus forderte, in besonderem Maße der Fall, prägte aber - mit unterschiedlicher Dauer und Intensität - auch die umstrittene Deutung der Nation in der Nachkriegszeit. 301 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35168-1
Nicht nur deshalb bestimmte der Krieg den Aufbau dieser Arbeit, denn für die Zeit vor, während und nach der »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« (George F. Kennan) fallen die Ergebnisse des deutsch-französischen Vergleichs unterschiedlich aus. Im Jahrzehnt vor 1914 lässt sich eine gemeinsame Logik der Nation ausmachen, der allerdings signifikante, durch Differenzen der institutionellen Ordnung und politischen Kultur bedingte Unterschiede gegenüberstehen. Zwischen 1914 und 1918 überwogen die Ähnlichkeiten der Kriegskultur, auch wenn sich die Legitimationsprobleme des kaiserlichen Obrigkeitsstaates in spezifischer Weise auswirkten. Für die Zeit nach 1918 treten die Unterschiede in den Vordergrund, denn anders als in Frankreich kam es in Deutschland zu einer inneren und äußeren Krise, die dem Leitbild des »Volkes« zum Durchbruch verhalf Diese komparativen Ergebnisse werden im folgenden ausführlich zusammengefasst und begründet. Zum Schluss werden zwei übergreifende Thesen formuliert, die zum einen den Bedeutungsgewinn zentraler Elemente der bürgerlichen Kultur im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, zum anderen das spannungsreiche Verhältnis von Erfolgen und Grenzen der Nation betreffen. Die komparative Betrachtung der Nationsentwürfe von Industriellen und hohen Beamten im Jahrzehnt vor 1914 verweist zunächst einmal auf einige grundsätzliche Gemeinsamkeiten. In Deutschland und in Frankreich waren die Sichtweisen und Leitbilder der eigenen Gruppe ebenso prägend wie lokale und regionale Identitäten. Der Rekurs der Industriellen auf nationale Interessen legitimierte protektionistische Forderungen, aber auch freihändlerische Positionen und begründete Appelle an das Kaufverhalten von Verbrauchern. Machtansprüche und konkrete Aktivitäten von Spitzenbürokraten bezogen ihren Sinn aus einem Nationsverständnis, dessen Definition sie umgekehrt bestimmten - die Staatsnation war genausowenig die Besonderheit eines Landes wie die Kulturnation.1 Fragt man, mit welchen Deutungsmustern und Wertvorstellungen die Nation darüber hinaus verbunden wurde, sticht die konstitutive Rolle der bürgerlichen Kultur des 19. Jahrhunderts ins Auge, die am Vorabend des Ersten Weltkriegs weit weniger von Krisenerscheinungen heimgesucht war als häufig angenommen. 2 Schließlich betteten die deutschen und französischen Eliten die eigene individuelle und kollektive Existenz in Rahmenerzählungen eines langfristigen nationalen Aufstiegs ein. Aus all diesen Gründen erscheint es 1 So auch die Kritik der neueren Nationalismusforschung, vgl. u.a. Tacke, Denkmal, S. 16, 289, 296; dies., Symbole, S. 132, 139f, 150f.; Kallscheuer/Leggewie\ Singer, zu den staatsnationalen Zügen des Kaiserreichs vgl. bereits Schieder, S. 16, 32, 49f. 2 Es soll hier keineswegs bestritten werden, dass die bürgerliche Kultur seit der Jahrhundertwende vielfältigen Herausforderungen ausgesetzt war. Die Wirkung von Krisendiagnosen und Reformbewegungen war jedoch weniger tiefgreifend und verunsichernd, als es von zahlreichen Arbeiten nahegelegt wird; vgl u.a, H. Mommsen, Auflösung, S. 289f; Hettling, S. 233-241; dersj Hoffmann, S. 352; Galt, S. 603; Hardtwig, Bürgertum, S. 218.
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gerechtfertigt, im Einklang mit neueren vergleichenden Studien eine gemein same Logik der Nation zu konstatieren. 3 Auf der anderen Seite halten jedoch auch diejenigen Arbeiten, die in den vergangenen Jahren die Ähnlichkeiten zwischen Deutschland und Frankreich betont haben, daran fest, dass die Nation des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts jeweils von unterschiedlichen staatlichen und politischen Rahmenbedingungen geprägt war.4 Deren Auswirkungen treten in der vorliegenden, an den Ideen und Diskursen bestimmter sozialer Gruppen interessierten Studie stärker hervor als in symbol- oder ritualorientierten Ansätzen. Sie manifestierten sich in inhaltlicher Ausprägung und politischer Konsensfähigkeit der Nationen von Industriellen und hohen Beamten, die zwischen Deutschland und Frankreich in einigen wesentlichen Punkten divergierten. Zunächst einmal wurde die Nähe der deutschen administrativen Eliten zum organisierten Radikalnationalismus und überhaupt zu völkischen Deutungsmustern zwar von staatsnationalen Einstellungen gebremst, war aber dennoch signifikant. Der Nationalitätenkonflikt im Osten und der offizielle Antisemitismus der preußischen Staatsbürgerschaftspolitik wurden von hohen Beamten nicht nur exekutiert, sondern auch aktiv betrieben. Hinzu kam, dass die nationalistischen Verbände trotz ihrer regierungskritischen Stoßrichtung nicht als Gegner wahrgenommen wurden, weil ihre Mitwirkung im Kampf gegen Linksliberalismus und Sozialdemokratie unverzichtbar erschien. Dagegen gab es in Frankreich nicht nur keine den preußischen Polen vergleichbare nationale Minderheit; die assimilatorische Tradition der staatlichen Politik seit der Französischen Revolution verhinderte auch die Übernahme ethnischer Deutungsmuster in die Einbürgerungspraxis. 5 Zudem stellte der antisemitische integrale Nationalismus, der während der Dreyfus-Affäre seinen Kulminationspunkt erreichte, eine radikale und gewaltsame Herausforderung des republikanischen Systems dar und wurde daher von der hohen Beamtenschaft observiert und bekämpft. Die größere Bedeutung völkischer Ideen für die deutsche Bürokratie war also ebensosehr Folge der Nationsbildungspolitik des preußischen Staates wie Ursache ihrer fortschreitenden Radikalisierung. Dagegen bildeten in Frankreich revolutionäre und napoleonische Traditionen, vor allem aber die politische Kultur der Dritten Republik starke Barrieren gegen die Adaptation eines ethnischen Nationsverständnisses durch die hohe Beamtenschaft. Hinsichtlich des Verhältnisses von Wirtschaftsbürgertum und Staat auf lokaler und regionaler Ebene lässt sich zeigen, dass in Deutschland ein weitreichender Konsens zwischen Industriellen und hohen Beamten bestand, der sich nicht zuletzt in kompatiblen, auf parallelen Narrativen beruhenden Nations3 Vgl.Jeismann; Tacke, Denkmal; Fraçois u.a. (Hg.); Vogel, Nationen, bes. S. 284-288. 4 Vgl. z.B. ebd., S. 280-284; Tacke, Denkmal. 5 Vgl. Brubaker, S. 121-155, den die vorliegende Untersuchung zumindest für die Einstellungen der hohen Beamtenschaft zu Ausländern und Einbürgerung bestätigt.
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entwürfen niederschlug. Das ist darauf zurückzuführen, dass die föderale und kommunale Prägung des Kaiserreichs den Leitbildern und Interessen der urbanen Eliten beträchtliche Entfaltungsspielräume sicherte, zumal sie mit den Zielvorstellungen der staatlichen und erst recht der städtischen Beamtenschaft im wesentlichen übereinstimmten. Überdies konnten bei der Führungsschicht der rapide expandierenden Städte des rheinisch-westfälischen Industriegebiets ältere lokale Erinnerungsstränge schon deshalb nicht mit dem preußischen Staat zusammenstoßen, weil sie für die erst wenige Jahrzehnte zuvor zugewanderten Unternehmer und die auswärtigen kommunalen Spitzenbeamten gar keine Bedeutung hatten. In Frankreich standen sich dagegen auf lokaler Ebene die politischen Einstellungen und damit auch die Nationsentwürfe von Industriellen und hohen Beamten in konfliktträchtiger Form gegenüber. Wie hier am Beispiel von Lyon und dem nordfranzösischen Industrierevier gezeigt worden ist, definierte das alteingessene Wirtschaftsbürgertum seine kollektive Identität durch den Rekurs auf regionale oder städtische Traditionen, die mehrere Jahrhunderte zurückreichten und kommunale Eigenständigkeit ebenso betonten wie katholischen Glauben. Vor diesem Hintergrund konstruierte es die Nation in einer Weise, die mit der jeweiligen lokalen Identität vereinbar war: In der Erinnerung der Lyoner Seidenfabrikanten blieben religiöse Prägung und Kolonialpolitik des vorrevolutionären Frankreich, aber auch der Beitrag ausländischer Immigranten zum örtlichen Wirtschaftsleben präsent, während für die nationalen Ideen der nordfranzösischen Textilindustriellen der Protektionismus eine konstitutive Rolle spielte. Das unitarische Nationskonzept der Präfekten, der hochrangigen Vertreter des republikanischen Zentralstaats in den Departements, musste damit zusammenprallen, weil es sich seit der Verschärfung des Dauerkonflikts zwischen Laizismus und Katholizismus in der Dreyfusaffäre mit dem regierungsamtlichen Antiklerikalismus der République radicale verband. Der unterschiedliche Grad der Konsensfähigkeit der Nation zwischen den Industriellen und hohen Beamten in Deutschland und Frankreich erklärt sich mithin aus Differenzen der institutionellen Ordnung und politischen Kultur. Hinzu kamen ökonomische Ursachen, denn die geringere industrielle Dynamik in Frankreich bewirkte, dass Unternehmer älterer Branchen mit entsprechend langfristigen Traditionsbindungen anders als etwa in Westdeutschland nicht von zugewanderten Aufsteigern verdrängt wurden und daher als Konfliktpotential erhalten blieben. Schließlich war der Konnex von außenwirtschaftlichem wie imperialem Expansionsstreben und bürgerlichen Partizipationsansprüchen eine deutsche Besonderheit, die aus dem Zusammenwirken politischer, ideeller und ökonomischer Faktoren resultierte. Die Diskrepanz zwischen dem rasanten, mit einem ausgeprägten Bewusstsein der eigenen nationalen Stärke verbundenen wirtschaftlichen Aufstieg und der bescheidenen Bilanz der wilhelminischen »Weltpolitik« wurde besonders von Exportindustriellen als unerträglich emp-
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funden und sowohl der Regierung als auch dem »Neid« des Auslands zur Last gelegt. Hinzu kam die - etwa vom Hansa-Bund oder der württembergischen Industrie artikulierte - Deutungskonkurrenz dieser dezidiert modernen Elite mit dem ostelbischen Adel, dem sie die Definition der Nation streitig machte. In Frankreich gab es nicht nur kein Pendant zu dieser Konstellation. Es wurde auch von exportorientierten Industriellen republikanischer wie liberalkonservativer Provenienz das Leitbild einer ökonomisch fundierten internationalen Kooperation formuliert, das die Konfliktträchtigkeit des Imperialismus zumindest der Tendenz nach milderte. Das Verhältnis von ökonomischer Potenz, außenpolitischen Zielvorstellungen und dem realen Umfang des überseeischen Besitzes, dessen Nutzbarmachung zudem erst in den Anfängen steckte, war ausgewogener als in Deutschland. In der begrenzten Perspektive dieser Arbeit erweist sich die Nation im Wilhelminischen Deutschland also als ethnischer, nach außen aggressiver, vor allem aber bürgerlicher als im Frankreich der République radicale. 6 Die industriellen Eliten waren staatsnäher, allerdings weniger aufgrund einer obrigkeitstreuen Mentalität 7 als deshalb, weil die föderale und kommunale Prägung des Kaiserreichs, die sich aufWahlrechtsbeschränkungen stützen konnte, ihren Deutungsbedürfnissen und Interessen entgegenkam. Dagegen stand der Staat der demokratischen Dritten Republik mit seinem unitarischen und antiklerikalen Nationskonzept in einer scharfen Frontstellung zum konservativen Lokalismus des katholischen Wirtschaftsbürgertums. Da die Nation von Industriellen und hohen Beamten trotz dieser Differenzen eine gemeinsame Logik aufwies, hielten sich im Jahrzehnt vor 1914 die deutsch-französischen Ähnlichkeiten und Unterschiede insgesamt die Waage. Im Ersten Weltkrieg änderte sich dieses Bild, denn nun traten die Gemeinsamkeiten der Konstruktion und versuchten Verwirklichung der Nation in den Vordergrund. 8 Das lässt sich auf drei Feldern besonders deutlich zeigen. Die Tatsache, dass die ökonomischen und administrativen Eliten den Konflikt in hohem Maße aus der Perspektive ihrer jeweiligen sozialen Gruppe wahrnahmen und gleichzeitig als Akteure der Heimatfront starken legitimatorischen Zwängen ausgesetzt waren, bewirkte, dass sie ihrer individuellen und kollektiven Existenz eine entscheidende nationale Bedeutung zuschrieben. In Deutschland wie in Frankreich verliehen Industrielle und hohe Beamte ihren Erfahrungen einen patriotischen Sinn, indem sie sich in das Zentrum der Kampfanstrengung rückten, und leiteten daraus die Forderung nach materiel-
6 Vgl. dagegen Kaelble, Bürgertum; ders., Nachbarn, S. 59-86, der in sozialhistorischer Perspektive die These vertritt, dass in den Jahrzehnten vor 1914 Frankreich bürgerlicher als Deutschland gewesen sei. 7 So z.B. Hardtwig, Bürgertum, S. 208. 8 Vgl. Winter, S. 227, der die gemeineuropäischen Züge der Kriegskultur hervorhebt.
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ler Interessenbefriedigung und symbolischer Anerkennung durch Staat und Gesellschaft ab. Die Kriegsnationen der Industriellen, überwiegend auch die der hohen Beamten trugen in beiden Ländern ausgeprägt bürgerliche Züge. Das lässt sich besonders an den konstruierten Wahrnehmungen ausländischer Arbeiter nachweisen, aber auch an den Sichtweisen der eigenen unterbürgerlichen Bevölkerung oder den Kriterien für die nationale Inklusion und Exklusion. Ordnung, Sauberkeit, Arbeitswilligkeit und kulturelle Überlegenheit bildeten die Trennlinie zwischen Deutschen und Nichtdeutschen, Franzosen und Nichtfranzosen. 9 In Frankreich bewegten sich die Präfekten auf das wirtschaftsbürgerliche Establishment zu und stellten im Zeichen der »Union sacrée« den Antiklerikalismus der Vorkriegszeit zugunsten der Herstellung und Wahrung eines patriotischen Konsenses zurück. Lokale und regionale Identitäten und karitatives Engagement erfuhren in beiden Ländern eine nationale Aufwertung; die bürgerliche Kultur gewann im Krieg an orientierungsstiftender Kraft Der Preis dafür war, dass Friedenssehnsucht und Protestbereitschaft breiter Bevölkerungsschichten von den ökonomischen, in Deutschland auch von den administrativen Eliten in paternalistischer Selbstgewissheit unterschätzt wurden - eine Konstellation, die sich für das Kaiserreich am Ende als fatal erweisen sollte. Eine weitere Gemeinsamkeit der Kriegsnationen der deutschen und französischen Industriellen und hohen Beamten bestand darin, dass aus der Gleichzeitigkeit von hohen normativen Erwartungen und der vielfach desillusionierenden Wahrnehmung realer Solidaritätsverweigerung erhebliche Spannungen resultierten. Interessengegensätze zwischen gesellschaftlichen Gruppen, Regionen und Individuen wurden moralisch überhöht und gewannen dadurch an Sprengkraft. Hinzu kam, dass sich Industrielle, die nicht von Heeresaufträgen und Rohstoffzuteilungen profitieren konnten, verbittert über die mangelnde staatliche und gesellschaftliche Anerkennung ihrer Kriegsanstrengung zeigten, die sie selbst als bedeutendes patriotisches Verdienst verstanden. Gleiches galt in Frankreich für das wirtschaftsbürgerliche Establishment der besetzten Gebiete, in Deutschland für die hohen Staatsbeamten. Vor dem Hintergrund kriegsbedingter Konflikte konnte der mit der Nation verbundene Anspruch auf gesellschaftliche Kohäsion und normative Verbindlichkeit aller Gemeinschafts- und Solidaritätsrhetorik zum Trotz nicht eingelöst werden. Seine Verwirklichungwurde in die Nachkriegszeit verlagert, deren politische Gestaltung dadurch mit schwer erfüllbaren Hoffnungen belastet wurde. Den deutsch-französischen Gemeinsamkeiten steht jedoch eine unterschiedliche Ausprägung der Kriegsnation der hohen Beamten gegenüber. In Deutschland konkurrierten die bereits vor 1914 virulenten ethnischen Ideen 9 Vgl. die Kataloge bürgerlicher Einstellungen bei Kocka, Bürgertum, S. 43f.; Blackbourn, German bourgeoisie, S. 9.
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zwar nach wie vor mit staatsnationalen Deutungsmustern, gewannen aber insgesamt deutlich an Resonanz und Zugkraft. In der Verwaltung und Zukunftsplanung der besetzten osteuropäischen Gebiete, die im Krieg zahlreichen höheren Beamten Karriereoptionen und Selbstverwirklichungschancen eröffnete, fanden sie ihr vorrangiges Anwendungsfeld. Verbanden sich hier völkische Nationsentwürfe mit bürokratischen Machterfahrungen und Herrschaftsambitionen, denen erst die Niederlage den Boden entziehen sollte, war die Realität an der Heimatfront weit von einer solchen scheinbaren Erfolgsbilanz entfernt. Denn im Zuge ihres massiven Legitimitätsverlusts konnte die Verwaltung nicht nur ihren Anspruch auf gesellschaftliche Anerkennung nicht verwirklichen, sondern musste sogar ihre bereits vor dem Krieg brüchige Definitionsmacht über die Nation vollends an Armee und Bevölkerung abtreten. Die Distinktion in Form öffentlicher Auszeichnungen oder die nationale Inklusion und Exklusion durch Einbürgerung bzw. Ausweisung ausländischer Staatsangehöriger konnte sie nur noch nachvollziehen, aber nicht mehr selbst steuern. Der Kampf gegen Fremdwörter und Kontrazeptiva schien eine Möglichkeit zur bürokratischen Gestaltung der Kriegsnation zu eröffnen, stieß j e doch in der Praxis auf enge Grenzen. Über solche Frustrationen tröstete man sich mit der Hoffnung hinweg, dass mit dem Wegfall kriegsbedingter Hemmnisse ein tiefgreifender Wandel eintreten würde. Dagegen waren in Frankreich die Präfekten mit einigem Erfolg bemüht, ihr unitarisches Nationsverständnis mit dem Hauptziel der Herstellung und Wahrung eines patriotischen Konsenses in den Departements in Einklang zu bringen; auf die Verfolgung weitergehender Projekte etwa bevölkerungspolitischer Art verzichteten sie. Ethnische Deutungsmuster beeinflussten zwar die Wahrnehmungen der Arbeitskräfte aus den Kolonien, aber anders als in Deutschland stellten sie keine ideelle Grundlage für bürokratische Zukunftsvorstellungen dar. Diese Differenzen erklären sich in erster Linie daraus, dass der Obrigkeitsstaat des Kaiserreichs die Legitimationsprobleme bei der Aushandlung der Kriegsnation erheblich schlechter bewältigte als der Staat der demokratischen Dritten Republik,10 dessen hochrangige Funktionsträger bei aller ideellen und politischen Verbürgerlichung eine gewisse Distanz zum jeweiligen lokalen Establishmentwahrten. Zudem bewirkte in Deutschland die Gleichzeitigkeit von massiven Akzeptanzschwierigkeiten im Innern und einer scheinbar günstigen militärischen Situation, die zudem für viele hohe Beamte bis zum Waffenstillstand die Aussicht auf eine immense kolonisatorische Machtfülle eröffnete, dass die Frustrationen des bürokratischen Alltags in der Imagination eines nationalistischen Utopia suspendiert wurden. 11 Dagegen konzentrierten sich die 10 Vgl. W.J. Mommsen, Weltkrieg, S. 31, der die These formuliert, dass die Isolierung der Eliten von der Bevölkerung in Deutschland besonders ausgeprägt gewesen sei. 11 Vgl. dazu auch Föllmer, Machtverlust.
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französischen Präfekten schon deshalb auf ihren Beitrag zur nationalen Verteidigung, weil ihr Land teilweise Kriegsschauplatz bzw. besetztes Territorium war. Der Vergleich mit Frankreich verdeutlicht also, dass die Diskrepanz zwischen enormen Ambitionen und begrenzten Ressourcen, die für die deutsche Kriegführung kennzeichnend war,12 auch die Konstruktion und versuchte Verwirklichung der Nation durch die hohe Beamtenschaft prägte. Zwar hatten unterschiedliche Vorkriegsprägungen und militärische Rahmenbedingungen während des Krieges wichtige erfahrungs- und diskursgeschichtliche Differenzen zur Folge, aber insgesamt rückt die gemeinsame Logik der Nation in den Vordergrund, die in Deutschland und Frankreich ähnlichen Herausforderungen ausgesetzt war. Über die komparative Analyse hinaus bestätigt die vorliegende Untersuchung die Tendenz der jüngsten kulturhistorischen Forschung, die modernen Züge der Kriegskultur zu relativieren und verstärkt die Verfestigung und Aufwertung älterer Deutungsmuster und Praktiken zu betonen.13 Denn obwohl in der totalen Ausrichtung der Nation auf den militärischen Konflikt und der - zumindest rhetorisch propagierten unbeschränkten Ausweitung ihres normativen Geltungsbereichs fraglos eine Zäsur lag, stand sie andererseits in ideen- und diskursgeschichtlicher Hinsicht in der Kontinuität des 19. Jahrhunderts und seiner bürgerlichen Kultur. Vergleicht man, wie sich in Deutschland und Frankreich der Zusammenhang von Nachkriegserfahrungen und der Konstruktion der Nation gestaltete, kehrt sich die Hierarchie von Gemeinsamkeiten und Unterschieden um. Auf zwei eng miteinander verbundenen Feldern stechen die spezifischen Züge der deutschen Entwicklung nach 1918 ins Auge.14 Die frühen Jahre der Weimarer Republik standen im Zeichen der Niederlage, die weniger verdrängt15 als vielmehr in Form konkreter lebensweltlicher Konsequenzen erfahren wurde. Das galt besonders in den östlichen und westlichen Teilen des Reiches, in denen die Nachkriegszeit von Grenzverschiebung und Besatzung geprägt war. Als hochrangige Repräsentanten des Staates sahen sich die hohen Beamten in den Mittelpunkt eines nationalen Abwehrkampfes gestellt, in dem ihre bürokratische Identität unter massiven äußeren Druck geriet. Im rheinisch-westfälischen Industriegebiet machten die Unternehmer, die in der Ruhrkrise mit gewaltsamen Eingriffen der Besatzungsmächte in ihren betrieblichen Herrschaftsraum konfrontiert waren, analoge Erfahrungen. In beiden Fällen kamen Attacken auf persönliche Integrität und familiäre Intimität hinzu. Sie bewirkten, dass diese bürgerlichen Werte an Bedeutung gewannen. In Frankreich konnten sich die ökonomischen und administrativen 12 So im Vergleich zu Frankreich und Großbritannien Kruse, Systementwicklung, S. 90 13 Vgl. Winter; Audoin-Rouzeau, S. 149; ders./A. Becker, S. 256; Reimann, S. 145; für die ältere modernistische Sicht der Kulturgeschichte des Krieges vgl. u.a. Fussell; Einsteins; Schulin. 14 Vgl. Krumeich, La place, der die Besonderheiten der Nachkriegszeit in Deutschland betont. 15 So der Titel des Buches von Heinemann.
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Eliten dagegen in das Zentrum eines Sieges rücken, der die Anstrengungen des Krieges belohnte, ihre gesellschaftspolitische Machtposition legitimierte und zunächst eine langfristige Dominanz der eigenen Nation verhieß. Auch wenn sich seine Perpetuierung im Wege eines Wirtschaftskriegs nicht verwirklichen ließ und als Zielvorstellung bald an Resonanz und Verbindlichkeit verlor, gab es nach 1918 wenig Anlass für neue Bedrohungsszenarien. Der zügige Wiederaufbau trug ein übriges dazu bei, dass die gruppenbezogene und nationale Erfolgsbilanz kaum bezweifelt wurde. Hinzu kam, dass die deutschen ökonomischen und administrativen Eliten einem tiefgreifenden Legitimationsverlust der Staats- und Wirtschaftsordnung gegenüberstanden, der in Revolution und linksradikaler Protestwelle seinen markantesten Ausdruck fand. Da sie subjektiv im Zentrum der Nation standen, interpretierten sie diese massive Attacke auf ihre politische, gesellschaftliche und ideelle Stellung folgerichtig in den Kategorien eines nationalen Konflikts. Das war auch deshalb plausibel, weil sie physische Angriffe erlebten, von denen sie während des Krieges als Akteure der Heimatfront verschont geblieben waren und die sie nun als eine Art nachholender Kampferfahrung deuteten. Demgegenüber gestaltete sich für die französischen Industriellen und hohen Beamten die Nachkriegszeit erfolgreich, weil sie keiner Revolution begegnen mussten und die linksradikale Herausforderung der Streikwelle von 1920 zumindest in ihrer Selbstwahrnehmung eindrucksvoll bewältigten. Der Konnex von innerer und äußerer Krise der Nation erscheint mithin als deutsche Besonderheit, und zwar auch dann, wenn man zeitversetzt die jeweiligen Besatzungserfahrungen und -deutungen vergleicht. In Westdeutschland kam es nach 1918 zwar ebenso zu einer Verfestigung und nationalen Aufwertung industrieller, bürokratischer und bürgerlicher Identitäten wie in Nordfrankreich während des Krieges; auch lag eine Gemeinsamkeit im Spannungsverhältnis zwischen pragmatischer Interessensicherung der lokalen Führungsschicht und den im Namen eines unitarischen Nationsverständnisses vertretenen normativen Ansprüchen der hohen Staatsbeamten. Aber nur im deutschen Fall kam eine innere Krisenerfahrung in Form von Separatismus und gewaltsamem sozialen Protest hinzu, auf die die ökonomischen und administrativen Eliten angesichts der äußeren Bedrohung mit großer Erbitterung reagierten.16 Wenn hier die weitreichenden Konsequenzen der doppelten Erfahrung von Niederlage und innerer Krise für die nationalen Ordnungen von Industriellen und hohen Beamten in der Weimarer Republik hervorgehoben werden, liegt darin hinsichtlich der Erklärung deutsch-französischer Unterschiede eine Privilegierung spezifischer Faktoren der Nachkriegszeit gegenüber längerfristigen Ursachen. Die gemeinsamen Züge der Kriegsnationen verweisen darauf, dass die Eliten in Frankreich den Herausforderungen nach 1918 mit einem in 16 Vgl. auch Föllmer, Consciencc.
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vieler Hinsicht ähnlichen Diskurs- und Erfahrungshaushalt wie in Deutschland begegneten. Es spricht wenig dafür, dass ihre nationalen Deutungen im Falle einer analogen inneren und äußeren Krisenerfahrung grundsätzlich anders ausgefallen wären. Dieses Urteil bedarfjedoch einer Einschränkung, die die hohe Beamtenschaft betrifft. Die Kombination von massiven Einbußen an Legitimation und politischer Definitionsmacht einerseits und umfassenden nationalen Gestaltungsambitionen andererseits, die während des Krieges den deutschen Fall gekennzeichnet hatte, setzte sich nach 1918 in zugespitzter Form fort.17 Das führte dazu, dass sich besonders in den Grenzgebieten viele Angehörige der hohen Bürokratie regelrecht an den Nationalismus klammerten, weil er einen Ausweg aus Sinnkrise und Bedeutungsverlust zu eröffnen schien. Allgemein erschwerte in Deutschland die spezifische Verbindung von Siegesgewissheit und Herrschaftsträumen der Kriegsjahre, die den Gipfelpunkt einer jahrzehntelangen Erfolgsgeschichte markierte, die Verarbeitung der Niederlage nach 1918. Sosehr die unterschiedlichen Nachkriegserfahrungen divergierende Deutungen der Nation zur Folge hatten, gab es doch auch zwei wesentliche deutsch-französische Gemeinsamkeiten. Im Zeichen von Kriegserinnerung, Besatzung und außenpolitischer Konfrontation hielt man hier wie dort daran fest, die internationalen und erst recht die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen als Kampf zwischen Nationalstaaten zu interpretieren und stellte diese Sicht auch nach Beginn des Annäherungsprozesses seit Mitte der zwanziger Jahre nicht wirklich in Frage. Ansätze zu einer prinzipiellen, über eine bedingte Aussetzung des Gegensatzes hinausgehenden Akzeptanz wechselseitiger Kooperation blieben minoritär. Außerdem wurden bürgerliche Wertvorstellungen und Leitbilder trotz der divergierenden Nachkriegserfahrungen im Ergebnis in beiden Ländern stabilisiert. Sie blieben für die Ordnungen der Nation prägend, wenngleich sie in den unterschiedlichen Modi der inneren Krise und der erfolgreichen Selbstbehauptung artikuliert wurden. Die abweichenden Erfahrungen der Nachkriegszeit schlugen sich in den Diskursen nieder, die nach 1918 in beiden Ländern um die Definition und Verwirklichung der nationalen Einheit, Inklusion und Erneuerung kreisten. Ideeller Gehalt, Metaphorik und politischer Impetus unterschieden sich ebenso wie das Verhältnis von konkreten Reformvorstellungen und utopischen Projektionen. In Deutschland erlebten völkische Deutungsmuster einen Durchbruch, zu dem es in Frankreich kein Pendant gab. Unter dem Eindruck der Nachkriegskrise eigneten sich die deutschen Industriellen und hohen Beamten das Leitbild der »Volksgemeinschaft« an. Auf diese Weise fanden sie Sinn und Orientierung und integrierten ihre jeweiligen Zielvorstellungen und Interessen in das Streben nach Wiederherstellung der 17 Vgl. ders., Machtverlust, S.596ff.
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vermeintlichen nationalen Einheit der Kriegsjahre. Das gelang allerdings nur den Industriellen in stringenter Form, während sich die hohen Beamten aufgrund ihres notorischen Negativimages eingestehen mussten, nur eine Randstellung in der »Volksgemeinschaft« einzunehmen. In beiden Fällen war aber die Diskrepanz zwischen den Ansprüchen auf Opferbereitschaft und Solidarität, die im Zeichen von Grenzverschiebungen und Besatzungserfahrungen aus dem Leitbild der Nation abgeleitet wurden, und den erbitterten Interessenkonflikten und politischen Trennlinien einer hochfragmentierten Gesellschaft immens und wurde mit großer Enttäuschung wahrgenommen. Die Politik der Reichsregierung, sozialer Protest, regionale Gegensätze, sogar das Verhalten von Individuen - etwa von Unternehmern aus dem unbesetzten Gebiet während der Ruhrkrise - wurden mit desaströsem Resultat am Maßstab der »Volksgemeinschaft« gemessen und folgerichtig als verweigerte patriotische Pflichterfüllung bewertet. Das führte dazu, dass die Defizite der Nation die gesamte Weimarer Republik hindurch geradezu obsessiv thematisiert wurden, ohne dass alternative diskursive Optionen denk- und sagbar geworden wären. Das Leitbild der »union nationale«, das für die französischen Industriellen und hohen Beamten nach 1918 von zentraler Bedeutung war, wies zwar insofern ParaHelen zur »Volksgemeinschaft« auf, als es ebenfalls zum Gegenpol zu parlamentarischer Demokratie und kooperativem Interessenausgleich erhoben wurde. Es war jedoch keinen analogen Belastungsproben ausgesetzt und ließ sich daher leichter in konkrete Vorstellungen und Maximen transformieren. 18 Die Präfekten definierten die »union nationale« in scharfer Abgrenzung zum revolutionären Internationalismus, verstanden sie aber andererseits konsensuell und waren mit einigem Erfolg um eine Annäherung an die lokalen Eliten bemüht, und zwar auch dann, wenn diese katholisch-konservativ geprägt waren. Für zahlreiche Industrielle war die Einheit der Nation - besonders unter dem Linkskartell Mitte der zwanziger Jahre - durch Parlamentarismus und Zentralstaat bedroht. Vorteilhafte innenpolitische Konstellationen wie die Mehrheit des Bloc national zwischen 1919 und 1924 oder die Regierung der Union nationale unter der Führung Raymond Poincarés von 1926 bis 1929 rechtfertigten jedoch die Hoffnung, dass die vermeintlichen Defizite des politischen Systems überwindbar waren. Zu den einschlägigen Reformkonzepten gehörte vor allem der ökonomische Regionalismus, der für die Industriellen deshalb attraktiv war, weil er die Kritik am Zentralismus mit der Verfolgung eigener Machtambitionen verband. Generell bewirkte das baldige Ende der Kriegserfahrung, dass die normative Überhöhung der Nation an Bedeutung verlor. Ihre Verwirklichung wurde daher nicht in eine utopische Vision verlagert, die der »Volksgemeinschaft« in der Weimarer Republik analog gewesen wäre. 18 Das betont mit Bezug auf Regierungsbildung und parlamentarische Politik auch Raithel, S. 508.
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Inklusion und Exklusion ausländischer Staatsangehöriger basierten zwar in beiden Ländern auf einer Kombination ökonomischer, soziokultureller, politischer und ethnischer Gesichtspunkte; Mischungsverhältnis und Hierarchie dieser Kriterien fielen jedoch sehr unterschiedlich aus. In Deutschland rückte vor dem Hintergrund der Nachkriegskrise mit ihren Infiltrationsängsten die Abwehr osteuropäischer, besonders ostjüdischer Einwanderer in den Mittelpunkt der bürokratischen Bemühungen um die Definition der Nation und nahm eine zentrale Bedeutung für die Einbürgerungs- und Duldungsentscheidungen ein. Wirtschaftliche Unabhängigkeit und gesellschaftliche Integration waren zwar ebenfalls wichtige Beurteilungsmaßstäbe, die auf Gemeinde- und Regierungsbezirksebene die ethnische Benachteiligung kompensieren konnten. Aber Regierungen und Ministerialbürokratien betrieben die administrative Durchsetzung eines völkischen Nationsverständnisses. Als Preußen Mitte der zwanziger Jahre davon abging und das ethnische Inklusionskriterium durch den integrationsoffenen Begriff des »Kulturdeutschen« zu ersetzen versuchte, setzten vor allem Bayern und Württemberg dieser Neuorientierung hartnäckigen Widerstand entgegen. Politik und Praxis der Einbürgerung stellten in Deutschland ein vorrangiges Anwendungsfeld völkischer Ideen dar. Dagegen hatte in Frankreich vor dem Hintergrund des demographisch bedingten Arbeitskräftemangels die assimilatorische Tradition der Staatsbürgerschaftspolitik Bestand. Durch den siegreich bewältigten Krieg in ihrem Vertrauen in die Strahlkraft der eigenen Nation bestärkt, betrieb die hohe Beamtenschaft die Integration ausländischer Staatsangehöriger mit optimistischer Grundhaltung. Sie befürwortete Einbürgerungen, sofern die Antragsteller in politischer, sozialer und moralischer Hinsicht bürgerlichen Respektabilitätskriterien genügten. Auch hier gab es eine rassisch bestimmte Grenze der Inklusionsbereitschaft, die Einwanderer afrikanischer oder asiatischer Herkunft ausschloss. Aber insgesamt hatte Ethnizität für die bürokratische Definition der Nation eine geringere Bedeutung als im deutschen Fall. Die unterschiedlichen Konstellationen der Nachkriegszeit sicherten den jeweiligen diskursiven Traditionen Resonanz und Attraktivität: dem integrativen Nationsverständnis der hohen Beamtenschaft im republikanischen Frankreich und dem völkischen Ideengut der Bürokratie im Wilhelminischen Deutschland. Dass der massive Durchbruch des »Volkes« eine deutsche Besonderheit war, lässt sich an einem weiteren Aspekt verdeutlichen, nämlich den unterschiedlichen Diskursen der nationalen Erneuerung.19 In Deutschland deuteten die ökonomischen und administrativen Eliten die Krise der Nachkriegszeit als »Krankheit«, die nur durch eine tiefgreifende innere »Gesundung« überwunden werden könne. Sie waren bestrebt, ihre Zielvorstellungen und Interessen 19 Zu dieser Problematik, die in der vorliegenden Arbeit nicht näher behandelt worden ist, vgl. Föllmer, »Volkskörper«, bes. S. 47f.
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in der Sprache der nationalen Regeneration zu formulieren und propagierten deshalb Sport und Sozialhygiene. In Frankreich verhinderten dagegen Sieg und antirevolutionäre Selbstbehauptung, dass die Überzeugung von der gesunden Substanz und bewährten »vitalité« der Nation in Frage gestellt wurde. Stattdessen beschränkten sich der technokratisch-moderne ebenso wie der katholischkonservative Erneuerungsdiskurs auf die Reform ihres ökonomischen, politischen und kulturellen Überbaus; bei allen autoritären Zügen blieben sie frei von den völkischen Gesundungsmetaphern, die für den deutschen Fall kennzeichnend waren. Was folgt aus diesen Ergebnissen für die Frage nach dem Verhältnis des Nationalismus zum Nationalsozialismus einerseits, zum französischen Rechtsextremismus der dreißiger Jahre und zur Ideologie des Vichy-Regimes andererseits? Industrielle und hohe Beamte spielten, so sehr die meisten von ihnen das Ende der Weimarer Republik herbeisehnten, für die Machtübertragung an die Nationalsozialisten keine zentrale Rolle.20 Die Industriellen hätten fast durchweg eine autoritäre Herrschaftsform à la Papen vorgezogen, weil sie ihre Vorbehalte gegenüber populärem Stil und wirtschaftspolitischen Vorstellungen der NSDAP trotz der Annäherungsversuche Hitlers nicht ablegten.21 Unter den hohen Beamten nahmen zwar während der Weltwirtschaftskrise die Anhänger der wichtigsten rechtsextremen Oppositionsbewegung stark zu,22 aber angesichts des Legimitations- und Autoritätsverlusts der Bürokratie wird man darin keinen ausschlaggebenden Beitrag zum Januar 1933 sehen können. Gerade deshalb ist es jedoch wichtig und aufschlussreich, über politische Einflussanalysen hinaus die Felder in den Blick zu nehmen, auf denen die ökonomischen und administrativen Eliten mit dem Nationalsozialismus übereinstimmten. Denn 1933 begrüßten die allermeisten von ihnen die politische Wende; sie projizierten ihre Selbstdeutungen, Gesellschaftsbilder und Wunschvorstellungen auf das neue Deutschland, das dadurch in lichten Farben erschien. Obwohl in den folgenden Jahren viele ihrer Hoffnungen enttäuscht wurden, hielten sie an der Loyalität zum NS-Regime und seinen grundlegenden Axiomen fest.23 Die Schnittmenge, die den ideellen und diskursiven Übergang in den Nationalsozialismus ermöglichte, war in erster Linie durch spezifische Varianten des Nationalismus markiert. In ihnen nahmen völkische Leitbilder eine zentrale Stellung ein. Der Nationalsozialismus versprach die Überwindung aller Konflikte in einer geeinten »Volksgemeinschaft«, die ethnische Homogenisierung der Nation und die »Wiederherstellung eines gesun20 Das wird insbesondere dann deutlich, wenn man sich das Gewicht anderer Faktoren, etwa der Mobilisierung des populistischen Nationalismus, vor Augen fuhrt; vgl. dazu Fritzsche, Germans; Matthiesen, Massenbewegung. 21 Vgl. die Zusammenfassung des Forschungsstands bei Kolb, S. 226-230. 22 Vgl. H. Mommsen, Stellung; ders., Staat. 23 Vgl. allg. Fritzsche, Nazis.
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den, nationalen und schlagkräftigen deutschen Volkskörpers«.24 Diese Ideen hatten seit 1918, teilweise auch schon vorher, einen Deutungsrahmen für die Agenden von Industriellen und hohen Beamten bereitgestellt; ihre Einlösung war aber weit hinter den hohen Erwartungen zurückgeblieben und schien nun greifbar nahe zu sein. Die Anziehungskraft des Nationalsozialismus lag nicht in seiner programmatischen Originalität, sondern in der Radikalität, mit der er die Durchsetzung völkischer Leitbilder in Angriff nahm. Dabei war er erfolgreich genug, um alternativlos zu erscheinen, aber nie so erfolgreich, um die radikalnationalistischen Ideen ihres utopischen Überschusses zu berauben. Der Kampf von Individuen und Gruppen um die Verwirklichung des »Volkes« und um die eigene Geltung sollte das Dritte Reich bis zu seinem Ende prägen.25 Im Frankreich der Nachkriegszeit gab es, wie gezeigt, kein Pendant zum Durchbruch völkischer Leitbilder in der frühen Weimarer Republik. Die Frage ist, inwieweit darin eine grundsätzliche Resistenz gegenüber rechtsextremen Strömungen oder bloß die Folge bestimmter situativer Bedingungen zu sehen ist Der Blick auf die dreißiger Jahre kann hier als Test dienen, denn mit der relativen Stabilität und Prosperität war es nun ebenso vorbei wie mit der konservativen Wünschen entgegenkommenden innenpolitischen Konstellation.26 Das Selbstbewusstsein der Nachkriegsjahre wich einem Gefühl der nationalen Schwäche.27 Die autoritären Reformbestrebungen, die sich besonders mit der Regierung Tardieu (1932-1934) verbanden, scheiterten; die Arbeiterbewegung erschien nicht mehr als unterlegener Gegner, sondern als reale Bedrohung. 1936 ging die Volksfrontregierung mit Betriebsbesetzungen einher, die die Industriellen - im Unterschied zur Streikwelle von 1919/20 - als Revolution wahrnahmen und deuteten.28 Ähnlich wie in Deutschland nach Kriegsende verfestigten sich daraufhin ihre Werthaltungen und verbanden sich mit einer Mentalität des inneren Kampfes.29 Die Krisenerfahrungen der dreißiger Jahre schlugen sich in radikalisierten Vorstellungen der Nation nieder. Die rechtsextremen Croix de Feu, die mehr Mitglieder zählten als jede andere Organisation oder Partei und für deren Klassifizierung als faschistische Bewegung vieles
24 Adolf Hitler, Rede vor dem Industrie-Club in Düsseldorf, 26. Januar 1932, abgedruckt in: Hitler, S. 74-110, hier S. 110; vgl. Föllmer, »Volksgemeinschaft«, S. 293f; ders., »Volkskörper«, S. 66f; allg. Dülffer sowie die Interpretation des Dritten Reiches bei M. Geyer, Stigma, S. 91-101. Problematisch ist der Versuch von Dann (S. 274-296), Nationalismus und Nationalsozialismus begrifflich scharf von Nation und Nationalstaat abzugrenzen, weil so die Schnittmengen und Grauzonen zwischen beidem nicht erfasst werden können; vgl. dazu die kritischen Bemerkungen bei Langewiesche, Nation, S. 196f. 25 Vgl. hier nur die Beiträge in: Herben (Hg.). 26 Vgl. den Überblick von Borne/Dubief. 27 Vgl. Passmore, Third Republic, S. 440f. 28 Vgl. Kotboom, Bd. 1, S. 61-103. 29 Vgl. ebd., S. 172-178, 212-216.
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spricht,30 erfreuten sich der Unterstützung namhafter, und zwar sowohl paternalistisch-konservativer als auch technokratisch-moderner Industrieller. Zwar blieb das Verhältnis aufgrund des unternehmerischen Misstrauens gegenüber Populismus und wirtschaftspolitischen Vorstellungen der Croix de Feu distanziert. Aber die Diskurse der nationalen Einheit und Erneuerung stellten - ähnlich wie im deutschen Fall - eine Schnittmenge zwischen Industriellen und Rechtsextremismus dar.31 Auch die hohen Beamten passten sich dem veränderten politischen Klima der dreißiger Jahre ein großes Stück weit an. Die Verwaltung nahm die Xenophobiewelle in Form von Abschiebungen auf und betrieb damit die Konstruktion und Umsetzung eines exklusiveren Nationsverständnisses.32 Nach 1940 steigerte sich diese Abkehr von der republikanischen Tradition zur bürokratischen Partizipation an der ethnischen Staatsbürgerschaftspolitik des Vichy-Regimes und an der Deportation von Juden.33 Überhaupt stellte die Ideologie des »État français« mit ihren Leitbildern »ordre«, »autorité« und »revolution nationale« ein attraktives Deutungsangebot für die hohe Beamtenschaft dar, das sie mehrheitlich auch wahrnahm.34 Ähnliches gilt für die Industriellen, denn das Vichy-Regime sprach sowohl die konservativen Paternalisten als auch die technokratischen Reformer unter ihnen an.35 Der Ausblick auf die dreißiger und frühen vierziger Jahre verweist also darauf, dass der Nationalismus auch in Frankreich ein zerstörerisches Potential für die liberale Demokratie darstellte, obwohl es nach 1918 noch nicht zum Ausbruch kam. Demgegenüber verlor die politische Kultur des Republikanismus bei den hier untersuchten Gruppen merklich an Bedeutung. Wie Julian Jackson pointiert formuliert hat, gewann die Nation und nicht die Republik den Krieg.36 Fasst man die Ergebnisse des deutsch-französischen Vergleichs noch einmal zusammen, so hielten sich im Jahrzehnt vor 1914 Ähnlichkeiten und Unterschiede die Waage. Im Ersten Weltkrieg überwogen die Gemeinsamkeiten. Erst in der Nachkriegszeit traten die Differenzen in den Vordergrund, die sich allerdings durch den Ausblick auf das Frankreich der dreißiger Jahre erheblich rela30 So Irvine; Soucy; Passmore, Right Die Gegenposition ordnet die Croix de Feu in die bonapartistische Tradition ein und kommt folgerichtig zu dem Ergebnis, dass der Faschismus im Frankreich der dreißiger Jahre ein marginales Phänomen gewesen sei; vgl. bes. Remond, S. 195-230; Milza,S. 133-142. 31 Vgl. Passmore, Third Republic, S. 442-445; Kuisel, Ernest Mercier, S. 104-113. 32 Vgl. Schor, Histoire, S. 120-134. 33 Ebd., S. 167-174; Weil,S. 41-53. 34 Vgl. Burrin, S. 78; Chagnollard, S. 234ff.; Mazey/Wright; Baruch. 35 Vgl. Burrin, S. 233-266; Haupt, Sozialgeschichte, S. 285; Kuisel, Ernest Mercier, S. 144ff. Vitien vertritt zwar die These, dass die Industrie dem Vichy-Regime mehrheitlich distanziert gegenübergestanden habe, stellt aber keineswegs die grundsätzlichen ideellen und diskursiven Gemeinsamkeiten in Abrede. 36 Jackson, S. 213.
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tivieren. Welche übergreifende komparative Bilanz lässt sich daraus ziehen? Zunächst sprechen die Befunde dieser Arbeit einmal mehr gegen die Annahme eindeutiger Unterschiede zwischen beiden Ländern. Blickt man auf die ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts und bezieht zusätzlich die dreißiger Jahre ein, werden gemeinsame Charakteristika und Zäsuren des deutschen und französischen Nationalismus deutlich. Seine Anschlussfähigkeit an eine Vielzahl von Identitäten, seine Verbindung mit der bürgerlichen Kultur, seine konfliktträchtige Ausweitung zur Legitimationsinstanz für eine große Bandbreite menschlicher Aktivitäten - das alles war in beiden Länder prägend, wenngleich Ausmaß und Formen aufgrund unterschiedlicher Rahmenbedingungen variierten. Eine weitere Gemeinsamkeit liegt in den Folgen des Ersten Weltkriegs, der republikanische und liberale Deutungen der Nation nachhaltig schwächte. Das galt auch für die Zwischenkriegszeit, deren krisenhafte Züge für beide Länder ins Auge springen, wenngleich sie in der Weimarer Republik in besonders verdichteter Form auftraten.37 Autoritäre Lösungen und rechtsextreme Bewegungen, in denen der Nationalismus eine zentrale Stellung einnahm, stießen in Deutschland wie in Frankreich auf hohe Akzeptanz. Diese allgemeinen Feststellungen treffen auch auf den übergreifenden Vergleich der Deutungen der Nation durch die deutschen und französischen Industriellen zu. Zwar gab es in Frankreich vor 1914 eine dezidiert republikanische Minderheit unter den Unternehmern, die zudem - ähnlich wie etwa die liberalkonservativen Seidenindustriellen Lyons - eine internationale Verständigung auf ökonomischer Basis befürwortete. Aber zum einen verlor beides durch den Ersten Weltkrieg stark an Bedeutung; zum anderen überwog insgesamt die konservative Mehrheit der Industriellen, die bereits vor 1914 aus ihrer Distanz zu parlamentarischem System und republikanischer Kultur kein Hehl machte und ihre Machtansprüche in Krieg und Nachkriegszeit mit gestärktem Selbstbewusstsein verfocht. Demgegenüber erscheinen die Unterschiede zum deutschen Fall entweder - wie der katholische Paternalismus und die stärkere Traditionsverankerung vieler französischer Unternehmer - als nachrangig oder - wie das distanziertere Verhältnis zum Staat vor 1914 ebenfalls als zeitlich begrenzt. Im Vergleich der nationalen Ordnungen der hohen Beamtenschaft treten die deutsch-französischen Differenzen jedoch stärker hervor. Die republikanischen Einstellungen der französischen Präfekten, die sich vor 1914 mit ihrem unitarischen Nationsverständnis verbunden hatten, verloren zwar im Krieg und dann noch einmal verstärkt in der Nachkriegszeit an Substanz und Bedeutung und wichen zunehmend der Orientierung an patriotischer Konsensstiftung und konservativem Bürgertum. Wie anhand der assimilatorischen Staatsbürgerschaftspolitik gezeigt worden ist, verschwanden sie aber nicht völ37 Vgl. Peukert und mit stärkerer Betonung des Nationalismus Fritzsche, Weimar.
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lig und bewirkten, dass radikalnationalistische Leitbilder auch in den dreißiger Jahren erheblich weniger Durchschlagskraft entwickeln konnten als in der deutschen Bürokratie.38 Letzteres ist auch darauf zurückzuführen, dass die französische Beamtenschaft durch die Mischung von Demokratieakzeptanz und Konsensorientierung einen Legitimationsverlust vermeiden konnte. Das war in Deutschland anders. Das Kaiserreich zeichnete sich durch eine starke Nähe von Staat und Bürgertum aus, die in der vorliegenden Arbeit eher mit der Orientierung des Staates an bürgerlichen Deutungsbedürfnissen, Zielvorstellungen und Interessen als mit einer obrigkeitstreuen Mentalität des Bürgertums erklärt worden ist.39 Das entscheidende Problem des deutschen Staates war aber nicht der Grad seiner Bürgerlichkeit, sondern sein Defizit an demokratischer Legitimation in einer Epoche der Fundamentalpolitisierung, das bereits im Kaiserreich virulent war,40 im Ersten Weltkrieg offen zutage trat und von der Weimarer Republik als fatale Hinterlassenschaft übernommen wurde.41 Dieser Zustand wurde von den administrativen Eliten zunehmend als unbefriedigend und frustrierend empfunden. Der Nationalismus, und zwar besonders der ethnische Nationalismus, schien einen Ausweg aus ihrer verfahrenen Situation zu eröffnen. Er ermöglichte Orientierung, Sinnstiftung und Zukunftshoffnung, und er begründete Ansprüche auf ideelle wie materielle Anerkennung, auch wenn ihre Einlösung weit hinter den Erwartungen zurückblieb. Dieser Zusammenhang lässt sich von der wilhelminischen Polenpolitik über die Partizipation vieler Beamter an der Neuordnung des okkupierten Ostmitteleuropas oder das Vorgehen gegen Fremdwörter und Kontrazeptiva im Ersten Weltkrieg bis zum »Grenz-« und »Ruhrkampf« in der Weimarer Republik verfolgen.42 In quantitativ wie qualitativ neuen Dimensionen fand er während des Zweiten Weltkriegs seine mörderische Fortsetzung. Ohne die Eigendynamik von Krieg und Nachkriegszeit verkennen zu wollen, lagen die Ursprünge dieser fatalen Entwicklung im Kaiserreich. Auch und gerade in komparativer Perspektive sprechen gute Gründe dafür, an einer kritischen Sicht des kaiserlichen Staates und seiner Beziehung zur Nation festzuhalten. 38 Diese Feststellung gilt übrigens auch und gerade dann, wenn man die politische Landschaft im Frankreich der Zwischenkriegszcitiinsgesamt in den Blick nimmt; vgl. das Resümee eines größeren komparativen Forschungsprojekts bei Kittel u.a., S. 830f., sowie Passmore, Third Republic, S. 448f, der betont, dass die französischen Besonderheiten weniger im Charakter des Rechtsextremismus lagen als im erheblichen Widerstand, der ihm in den dreißiger Jahren entgegengesetzt wurde. 39 Letzteres betonen dagegen: Kocka, Deutsche Geschichte, S. 111; ders., Muster, S. 50-55; ders., Bürgertum und Sonderweg, S. 105ff.; Hardtwig, Bürgertum; Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3 , 5 . 7 6 8 , 7 7 1 f. 40 Wichtig in diesem Zusammenhang: Blackboum, »Wenn ihr sie wieder seht...«, S. 403—415 sowie die Studie von Friedeburg zum ländlichen Antietatismus, bes. S. 117-223. 41 Vgl. dazu Bessel, State. 42 Vgl. Föllmer, Machtverlust, S. 597f.
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Über den Vergleich hinaus lassen sich aus dieser Arbeit zwei allgemeinere Schlussfolgerungen ziehen. Erstens verweist die Untersuchung der Konstruktion der Nation durch Industrielle und hohe Beamte auf die bleibende Bedeutung der bürgerlichen Kultur im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts.43 Ordnung und Arbeit, Hygiene und Gesundheit, persönliche Integrität und familiäre Intimität gewannen an orientierungsstiftender Kraft, gerade weil sie durch Kriegserfahrung, Besatzungsherrschaft und sozialen Protest massiven Herausforderungen und Angriffen ausgesetzt waren. Der Konnex von Nation und Bürgerlichkeit war vor 1914 für die Industriellen, in Deutschland auch für die hohen Beamten allen Krisendiagnosen und Reformbewegungen zum Trotz zentral und wurde besonders im Kaiserreich mit großem Selbstbewusstsein artikuliert. Der Kriegsausbruch änderte dies keineswegs, sondern bewirkte im Gegenteil eine Verfestigung und subjektive Bestätigung bürgerlicher Normen, Deutungsmuster und Gesellschaftsbilder. Kommunale Selbstverwaltung, karitatives Engagement und berufliche Tätigkeit wurden stärker und direkter als zuvor zu nationalen Aktivitäten aufgewertet und - nun auch in Frankreich - vom Staat anerkannt. Die Wunschvorstellungen vom zwar irrationalen und erziehungsbedürftigen, aber im Grunde gutherzigen, unterordnungswilligen und patriotischen Charakter der »Massen« schienen in Erfüllung gegangen zu sein. Die negative Variante bürgerlicher Unterschichtenstereotypen wurde auf die Bevölkerung in den besetzten Gebieten und auf Arbeiter aus Russisch-Polen, Belgien oder den französischen Kolonien übertragen, die man als unordentlich, unhygienisch, arbeitsscheu und kulturell unterlegen wahrnahm. Bürgerliche Einstellungen blieben auch in den veränderten Diskursen der Nation nach 1918 präsent und wurden durch Demokratisierung und Revolution in Deutschland genausowenig dementiert wie durch Sieg und Wiederaufbau in Frankreich.44 Anders als in der Vorkriegszeit wurden sie nun von den französischen Präfekten übernommen und waren konstitutiv für die bürokratische Definition des idealen Staatsbürgers. In Deutschland wäre das Leitbild der »Volksgemeinschaft« ohne den hierarchischen Traum einer fleißigen und unterordnungswilligen Arbeiterschaft ebensowenig möglich gewesen wie die Sprache der nationalen Regeneration ohne die Werte der Hygiene und Gesundheit. Zwar ist unbestreitbar, dass in der Weimarer Republik zahlreiche Angehörige der jüngeren Generation, am prononciertesten die Intellektuellen der Konservativen Revolution und viele Nationalsozialisten, den Konnex von Nationalismus und Bürgerlichkeit erbittert attackierten, aber darin liegt weniger ein Indiz für seine Auflösung als vielmehr für seine partielle Zählebigkeit. Bei den Indus43 Zum folgenden v g l . die Kataloge bürgerlicher Einstellungen bei Kocka, Bürgertum, S. 43f; Blackbourn, German bourgeoisie, S. 9. 44 V g l . für das analoge Beispiel der adligen Kultur Furuk/Malinowski, S. 244, 260-266.
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triellen und hohen Beamten hatte die enge Verbindung mit der nationalen Identität zur Folge, dass sich der Universalisierungsanspruch der bürgerlichen Kultur, so wenig er realiter eingelöst werden konnte, verstärkte. Das wirkte sich hemmend auf die Akzeptanz von Demokratie und Pluralismus aus. In der Weimarer Republik, in den dreißiger Jahren auch in Frankreich, erwies sich diese Konstellation als politisch fatal.45 Zweitens ist in dieser Arbeit immer wieder der Zusammenhang von Erfolgen, Grenzen und Radikalisierung des Nationalismus betont worden. Die Attraktivität der Nation resultierte in erster Linie aus ihrer Fähigkeit, individuellen und kollektiven Selbstdeutungen und Zielvorstellungen eine ideelle Einbettung und übergeordnete Legitimation zu verleihen. Darin lag allerdings nicht nur die entscheidende Bedingung ihres Erfolges, sondern umgekehrt auch ein erhebliches Potential für Misserfolge, Frustrationen und Konflikte. Denn dass sich die Nation flexibel an partikulare Deutungsbedürfnisse adaptieren ließ, bewirkte, dass Industrielle und hohe Beamte, nicht anders als zahlreiche andere Individuen und Gruppen, dazu tendierten, sich selbst in ihr Zentrum zu rücken. Entsprechend weitreichend waren die Ansprüche auf Unterstützung und Solidarität, die daraus abgeleitet wurden. Dieser Kampf um ideelle wie materielle Anerkennung wurde mit großer Überzeugung und Erbitterung geführt, aber die Erfolge blieben allzuoft hinter den hohen Erwartungen zurück. Das Gefühl, dass die eigenen patriotischen Opferleistungen von Öffentlichkeit und Staat missachtet würden, zieht sich durch eine Vielzahl von Äußerungen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Allerdings ist dabei zwischen unterschiedlichen historischen Konstellationen zu unterscheiden: Vor 1914 blieb der Anwendungsbereich der Nation begrenzt; die patriotische Opferbereitschaft ließ sich auf rituelle Bekundungen beschränken und wurde nicht wirklich auf die Probe gestellt. Bereits hier klafften allerdings Anspruch und Wirklichkeit auseinander, denn die magere Bilanz der Polenpolitik des Kaiserreichs, der natio45 Der verbreiteten Annahme eines Bedeutungsrückgangs bürgerlicher Einstellungen und Werthaltungen in Krieg und Nachkriegszeit kann zumindest für die hier untersuchten Gruppen nicht gefolgt werden; vgl. u.a. Korka, Bürgertum, S. 45; Hettling, S. 241-251; ders./Hoffmann, S. 355359; Tenfelde, Stadt, argumentiert zwar für die Annahme der Kontinuität des Bürgertums als sozialer Formation im 20. Jahrhundert, geht aber ebenfalls von einer Krise des bürgerlichen Selbstverstandnisses aus; vgl. auch die Kritik verschiedener angelsächsischer Historiker an einer Gleichsetzung von Bürgerlichkeit und zivilgescllschaftlicher Liberalität u.a. bei Blackbourn/Eley; Eley, Geschichte, S. 33—40; Sperber, Bürger, S. 295f., aber auch die treffende Bemerkung von Jürgen Kocka, dass »gerade an dieser Stelle die idealtypische Beschreibung besonders leicht in ideologische Rechtfertigung« übergehe (Kocka, Bürgertum, S. 44; ders., Muster, S. 18). Die These vom engen Zusammenhang von Nation und Bürgerlichkeit konnte hier nur auf einer begrenzten empirischen Basis entwickelt werden und bedarf sicherlich weiterer Überprüfung. Allerdings scheint sie mir sowohl von den im weiteren Rahmen dieser Untersuchung gesichteten Quellen von Anwälten oder Vereinsvorständen als auch von den Arbeiten von Koshar, Fritzsche (Rehearsals; Germans), Matthiesen (Bürgertum; Massenbewegung; Radikalisierungen) und Schumann zu bürgerlichen Milieus in der Weimarer Republik bestätigt zu werden.
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nalen Rhetorik vieler Interessenverbände oder der Aufrufe zu patriotischem Kaufverhalten riefen Frustrationen hervor. Im Ersten Weltkrieg erhielt diese Problematik eine neue Dimension; die normative Geltung der Nation wurde nun auf rhetorischer Ebene enorm erweitert. Leben und Tod, Geschlechterbeziehungen und Sexualität, Produktion, Handel und Konsum sollten dem obersten Ziel des siegreichen Kampfes untergeordnet werden. Dieser hohe ethische Anspruch stand in schmerzlichem Kontrast zu den tiefen inneren Konflikten, von denen die Kriegsgesellschaften geprägt waren. Unter denkbar ungünstigen Bedingungen mussten Opferbereitschaft und Solidarität hinter den Erwartungen zurückbleiben. Die Folge war, dass sich zahlreiche gesellschaftliche Gruppen und sogar Individuen gegenseitig vorwarfen, die patriotische Pflichterfüllung zu verweigern. Während dieses Spannungsverhältnis in Frankreich nach 1918 an Bedeutung verlor, blieb es in der Weimarer Republik zentral. Die zahlreichen Gegensätze der deutschen Nachkriegsgesellschaft wurden durch den Appell an die Nation nicht überwunden, sondern massiv verschärft. Gebietsverlust, Grenzproblematik und Besatzungsherrschaft schufen neue regionale Konflikte, die auf direkte Weise mit der Frage der patriotischen Solidarität und ihrer Reichweite verknüpft waren. Die Bilanz fiel enttäuschend aus, und die Defizite der vermeintlichen »Volksgemeinschaft« wurden die gesamte Weimarer Republik hindurch geradezu obsessiv thematisiert. Dieser Befund ist deshalb von methodischem Interesse, weil er im Widerspruch zu einem einflussreichen Verständnis der gesellschaftlichen Wirkung von Ideen steht. Nach Max Weber bestimmen Weltbilder zwar nicht unmittelbar das menschliche Handeln, haben aber doch »sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte«.46 Folgt man der Weiterentwicklung des Weberschen Ansatzes durch Mario Rainer Lepsius, sind Ideen insoweit gesellschaftlich wirksam, als sie kausal für menschliches Handeln verantwortlich sind: Die »Sozialrelevanz« von Ideen besteht in ihrer »Handlungsrelevanz«. 47 Auf diesem Wege lassen sich aber die Konsequenzen des Leitbilds der Nation nicht adäquat analysieren, weil ihm, wie gezeigt, realiter nur eine geringe individualmoralische Verbindlichkeit und handlungsmotivierende Kraft zukam. Zwar wäre es sicherlich überzogen zu behaupten, dass patriotische Opfer- und Hilfsbereitschaft überhaupt nicht existierten. Entscheidend ist jedoch, dass ihr Ausmaß begrenzt blieb und die durch die Rhetorik der nationalen Solidarität genährten Erwartungen nicht annähernd erfüllen konnte. Spätestens seit 1914 konnte das Leitbild der Nation auch nicht mehr als »Weichensteller« dienen, der heterogene Interessen gebündelt und ihnen einen gemeinsamen Richtungssinn verliehen hätte. Im Gegenteil blieb es in die Trennlinien und Konflikte hochfragmentierter Kriegs- und 46 Weber, Wirtschaftsethik, S. 252. 47 Lepsius, Interessen.
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Nachkriegsgesellschaften involviert, für die ein »spannungsreiches und labiles Verhältnis zwischen Sozialstruktur und normativen Erwartungen« noch prägender war als für moderne Gesellschaften generell.48 Möglicherweise hat Weber in seinem Protestantismusaufsatz also nicht die »Art, in der überhaupt die ›Ideen‹ in der Geschichte wirksam werden« behandelt, sondern einen bestimmten Unterfall, dessen Struktur nicht unbesehen verallgemeinert werden darf49 Statt in seiner Handlungsrelevanz bestand eine der wichtigsten gesellschaftlichen Konsequenzen des Leitbilds der Nation in der Diskrepanz zwischen den daraus abgeleiteten Geltungsansprüchen und der enttäuschenden Wahrnehmung des Verhaltens anderer Individuen und Gruppen. Dass die Erfüllung nationaler Verhaltensnormen vielfach eingeklagt wurde, aber sich nicht durchsetzen ließ, erwies sich als folgenreich. Der Nationalsozialismus war nicht zuletzt deshalb attraktiv, weil er eine Lösung für dieses Grundproblem anbot. Er versprach die Aufhebung aller Differenzen und Konflikte in einer »Volksgemeinschaft«, die auf der gewaltsam hergestellten Verbindlichkeit ihrer Gebote basieren sollte. Dass er 1933 zur Erfüllung dieses Versprechens ansetzte und die vermeintlichen inneren Feinde durch Verfolgung und Terror ausschaltete, sicherte ihm Akzeptanz und Partizipation. Insofern waren es gerade die Grenzen und Misserfolge der Nation, die maßgeblich zur Ermöglichung des Nationalsozialismus beitrugen.50
48 Giesen/Schmid, S. 98. 49 Weber, Ethik, S. 82; vgl. die Weberkritik von Swidler. 50 Vgl. Föllmer, »Volksgemeinschaft«, S. 293ff.
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Abkürzungen ACCIP Archives de la Chambre du Commerce et de Tlndustrie de Paris ADN Archives Departementales du Nord ADR Archives Departementales du Rhone AfS Archiv für Sozialgeschichte AG Der Arbeitgeber AHR American Historical Review AML Archives Municipales de Lyon AN Archives Nationales APCCF Assemblee des Présidents des Chambres de Commerce de France BCI Bulletin mensuel du Commerce et de l'Industrie CCL Comptes-rendus des travaux de la Chambre de Commerce de Lyon DI Deutsche Industrie DIZ Deutsche Industrie-Zeitung EE L'Expansion Économique EN L'Économie Nouvelle FH French History FICF Federation des Industrieis et des Commergants Frangais. Bulletin mensuel GG Geschichte und Gesellschaft GStA PK Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz GWU Geschichte in Wissenschaft und Unterricht HA Historische Anthropologie HB Hansa-Bund HStAD Hauptstaatsarchiv Düsseldorf HStASt Hauptstaatsarchiv Stuttgart HZ Historische Zeitschrift JMH Journal of Modern History M-A Mannesmann-Archiv Mdl Ministerium des Innern MKI Mitteilungen des Kriegsausschusses der deutschen Industrie NI Le Nord Industriel PVB Preußisches Verwaltungs-Blatt RBA Robert Bosch Archiv RD Regierung Düsseldorf RF Le Redressement Frangais StAD Stadtarchiv Düsseldorf StAL Staatsarchiv Ludwigsburg StASt Stadtarchiv Stuttgart
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StVD UCIDS VfZ WABW WI ZfG ZRhB
Stenographische Verhandlungsberichte der Stadtverordneten-Versammlung zu Düsseldorf Union du Commerce et de l'Industrie pour la Defense sociale Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg Württembergische Industrie Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zeitschrift des Reichsbundes der höheren Beamten
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