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German Pages 140 Year 2018
Katrin Solhdju Die Versuchung des Wissens
Edition Kulturwissenschaft | Band 160
Katrin Solhdju (Dr. phil.), geb 1978, Kulturwissenschaftlerin, ist Forschungsprofessorin des belgischen Fonds de la recherche scientifique (FNRS). Sie lehrt am Fachbereich Soziologie und Anthropologie der Université de Mons und ist Gründungsmitglied des Kollektivs »Dingdingdong. Institut zur Koproduktion von Wissen über die Huntington-Krankheit«. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen bei der Geschichte und Theorie des Lebenswissens sowie dem Pragmatismus und den Medical Humanities.
Katrin Solhdju
Die Versuchung des Wissens Vorschläge für einen gemeinschaftlichen Umgang mit prädiktiver Gen-Diagnostik Mit einem Vorwort von Isabelle Stengers
Das dieser Publikation zugrunde liegende Forschungsvorhaben wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01UG0712 gefördert.
© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagkonzept und Umschlagabbildung: Sophie Toporkoff für Dingdingding, Paris, 2015, © Éditions Dingdingdong Druck: docupoint GmbH, Magdeburg Print-ISBN 978-3-8376-4130-1 PDF-ISBN 978-3-8394-4130-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Vorwort von Isabelle Stengers | 7 Einleitung | 17 Vorher/Nachher | 17 Krankheiten und ihre Milieus | 19 Die Büchse öffnen | 23 Erster Teil: Die vielen Leben eines Tests | 27 Huntington/Dingdingdong | 27 Eine neue Form des Zukunftswissens | 31 Der Test vor dem Test | 40 Die Guidelines und ein Fall ihrer Umsetzung | 47 Zweiter Teil: Erkundungen | 55 Der Test – eine neue Spezies oder wie man ein Problem konstruiert | 55 Reprise | 62 Erstes Gelände: Die Trennung des Kranken von seiner Krankheit | 67 Zweites Gelände: Diagnose als Datierung | 71 Drittes Gelände: Disqualifikationen | 77
Dritter Teil: Zukunftskünstler | 89 Eine »spekulative Erzählung« | 89 Naturgeschichte umschreiben | 98 Autonomie? | 109 Was sagen uns die Orakel? | 114
Schluss | 125
Literaturverzeichnis | 129 Danksagung | 137
Vorwort Isabelle Stengers
Ich schreibe dieses Vorwort im Jahr 2017, genau fünf Jahre nach der Etablierung des Kollektivs Dingdingdong. Institut zur Ko-Produktion von Wissen über die Huntington-Krankheit, an dessen Gründung Katrin Solhdju sowie ich gemeinsam mit Alice Rivières, Valérie Pihet, Émilie Hermant, Vinciane Despret, Fabrizio Terranova, Didier Debaise, Anne Collod u.a. beteiligt waren. Mitglied des Kollektivs Dingdingdong zu sein, ist eine Erfahrung, die all diejenigen verwandelt, die daran partizipieren – ganz unabhängig davon, was ihre jeweilige Praxis ist. Denn es gilt, diese Praktiken auf Arten und Weisen zu mobilisieren, die dazu in der Lage sind, die Gemeinschaft derjenigen zu interessieren, die von der Huntington-Krankheit betroffen sind. Das aber heißt, dass es darum geht, uns aktiv und erfinderisch als Teile dieser Gemeinschaft zu situieren, insofern diese Krankheit und die Fragen, die sie aufwirft, auch uns angehen – uns beund anrühren. Katrin Solhdjus Die Versuchung des Wissens ist das Werk einer Historikerin und Wissenstheoretikerin der Medizin und ihrer experimentellen Praktiken, aber es ist zugleich – und ohne Widerspruch – ein engagiertes Buch, das ›in Anwesenheit‹ derjenigen gedacht und geschrieben ist, die sich dazu entschieden haben, den genetischen Test in Anspruch zu nehmen, der sie als Trägerinnen der für die Huntington-Krankheit (HD) verantwortlichen Genmutation identifizieren wird. Es befragt eine Diagnose, deren prädiktive Mächtigkeit zwangsläufig Verzweiflung auslöst; antwortet doch in diesem Falle auf das »von nun an können wir wissen« keinerlei »und entsprechend können wir handeln«. Die Vorstellung, dass der Identifizierung von Krankheitsursachen die Therapie auf dem Fuße folge, ist innerhalb der Medizin alles andere als ad acta gelegt. Die
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Forschung geht weiter. Aber der zeitliche Horizont ist im Fall der HD bei weitem zu unüberschaubar, als dass diejenigen, die diese Diagnose übermitteln, ihr hoffnungsvolle Aussichten zur Seite stellen könnten. Die auf ein Faktum reduzierte Diagnose – Sie sind Trägerin oder Sie sind es nicht – kann eine Person, auch wenn sie ihren genetischen Status kennen wollte, geradezu zermalmen. Alice Rivières, die am Anfang von Dingdingdong steht, hat die Übermittlung ihres Testresultats als ein extrem gewaltsames Urteil erlebt. Der Mediziner weiß, was ihr zustoßen wird, und dieses Wissen ist ausweglos: Sie kann nichts Anderes tun, als darauf zu warten, was passieren muss; das Auftauchen erster Symptome, mit dem der Beginn eines progressiven Verfalls eingeläutet sein wird. Katrin Solhdju erinnert uns daran, dass diejenigen Propheten genannt werden, die im Namen einer Macht sprechen, die ihren Diskurs legitimiert oder autorisiert. Der Mediziner prophezeit im Namen der Macht wissenschaftlicher Wahrheit. Aber es handelt sich hier um eine Wahrheit, die Alice Rivières aufgrund der Tatsache, dass die Medizin über keinerlei therapeutische Handhabe bezüglich der Huntington-Krankheit verfügt, jeglicher Möglichkeit des Zugriffs auf ihr eigenes Leben beraubt. Wir haben Dingdingdong ausgehend von Alice Rivières’ Weigerung gegründet, sich von dieser Wahrheit zermalmen zu lassen. Es geht uns nicht darum, diese Wahrheit zu leugnen, sondern darum, die Welt, die sie verwüstet hat, aufs Neue zu bevölkern. Katrin Solhdju plädiert für eine Ökologie der Diagnose, das heißt für einen Ansatz, der die Diagnose nicht abgespalten von dem Milieu denkt, das ihr Bedeutung verleiht und durch das ihre Folgen strukturiert werden. Dabei ist es wichtig zu unterstreichen, dass ein solcher Ansatz nicht in dem Sinne kritisch ist, als er darauf zielen würde, die Diagnose auf eine einfache Milieufunktion zu reduzieren, die es zu entlarven gelte. Getragen von einem Therapeuten ist die Diagnose vielmehr aktiv, sie ist ein Verwandlungsvektor und als solcher Teil der therapeutischen Kunst. Entsprechend erklärt das Milieu nicht die Diagnose, vielmehr verhält es sich – so könnte man zuspitzen – anders herum: Die Diagnose erklärt das Milieu. Jenes bezeichnet all das, was diese Diagnose bedingt, aber auch, wozu sie verpflichtet. Für Katrin Solhdju ist die ökologische Vorgehensweise insofern ›problematisch‹, als ein solcher Ansatz jegliche Position der Exteriorität oder Gleichgültigkeit ausschließt. Es geht ihr darum, ein ›gut gestelltes‹ Problem zu konstruieren, ein Problem also, das es nicht zum Verschwinden zu bringen, sondern vielmehr in einem Modus zu
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entfalten gilt, der seine Relevanz und seine irreduzible Tragweite zum Vorschein bringt. Man könnte sagen, dass Katrin Solhdju auf ihre Art dem von Bruno Latour in seinem berühmten Text Das Elend der Kritik lancierten Aufruf antwortet. Nachdem Bruno Latour aufzeigt, wie die »Händler des Zweifels« (merchants of doubt) die kritische Argumentationsweise gekapert und in ihrem Sinne verfälscht haben, fragt er: »Haben wir ein wirksames deskriptives Instrument zur Verfügung, eines, das mit Dingen von Belang arbeitet und dessen Bedeutung nicht mehr darin besteht, zu entlarven, sondern zu schützen und zu pflegen, wie Donna Haraway sagen würde? Sollte es möglich sein, das kritische Anliegen in das Ethos von jemandem zu verwandeln, der Wirklichkeit zu den Tatsachen addiert, anstatt sie von ihnen zu substrahieren?«1 Die Resonanz ist kein Zufall, sondern vielmehr Zeichen eines geteilten Engagements: Die ›Tatsache‹, dass die Beobachtungen und Modelle der Klimatologen es ihnen erlauben zu schlussfolgern, dass anthropogene Faktoren der Grund für die klimatische Unordnung sind genauso wie die ›Tatsache‹, dass eine genetische Besonderheit die präsymptomatische Diagnose der Huntington-Krankheit ermöglicht, müssen uns als Dinge von Belang engagieren. Es kann aber nicht darum gehen, uns vor ihnen wie gegenüber einem Befehl zu beugen. Sie müssen mehr Wirklichkeit erhalten als die abstrakte Form eines ›die Wissenschaft hat festgestellt‹. Denn als solche sind diese Tatsachen bezüglich der Konsequenzen ihres Nachweises stumm. Es ist im Übrigen genau in dieser Hinsicht, dass sie von experimentellen Fakten unterschieden werden müssen. Katrin Solhdju ruft ins Gedächtnis, dass der Erfolg einer experimentellen Tatsache in der Möglichkeit des Experimentators liegt, sich zurückzuziehen und so zu verdeutlichen, dass es das Dispositiv ist, das es dem befragten Phänomen erlaubt, ›für sich selbst zu sprechen‹. Aber: Diejenigen, zu denen es spricht, die anderen Experimentatoren, werden keinem Verdikt unterworfen. Für sie ist die neue Erkenntnis vielmehr insofern von Belang, als sie es ihnen erlaubt, die Konsequenzen des Erfolgs ihres Kollegen zu erkunden und das heißt, der neuen Tatsache Wirklichkeit hinzuzufügen. Der von Katrin Solhdju vorgeschlagene ökologische Ansatz arbeitet einen starken Kontrast zwischen dem Milieu einer experimentellen und demjenigen einer klinischen Tatsache heraus, während die so genannte 1 | Bruno Latour, Das Elend der Kritik, Zürich/Berlin 2007, S. 22.
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evidenzbasierte Medizin eine enge Verwandtschaft zwischen ihnen behauptet. In beiden Fällen sind die Fakten aktiv, halten zum Handeln an, aber nicht in gleicher Weise. Denn unter dem Vorzeichen eines starken Kontrastes, wie ihn Die Versuchung des Wissens unterstreicht, muss sich die Medizinerin zum Mittler und das heißt zum Schöpfer einer Verbindung zwischen ›Tatsache‹ und Krankem machen, einer Verbindung, die eine therapeutische Bestimmung verfolgt, und zwar indem sie es erlaubt, der ›Tatsache‹ dasjenige ›hinzuzufügen‹, das es ihr erlaubt, zur Zutat eines Pflegeverhältnisses zu werden. Unter dem Vorzeichen der engen Verwandtschaft beider sind die Tatsachen hingegen insofern aktiv, als sie es dem Mediziner erlauben, sich als einfaches Zwischenglied2 zu verstehen, als Sprachrohr eines Urteils, das von einem Wissen anderer Ordnung, einem so genannten objektiven Wissen zeugt, das ebenso objektiv definiert, woran der Patient leidet. Natürlich kann der Mediziner im Normalfall sein Vertrauen in eine Therapie teilen, deren Effizienz auf ebensolchen Tatsachen gründet, und man ist sich allgemein darüber einig, dass er in jedem Falle seine ›Menschlichkeit‹ unter Beweis stellen muss. Aber weiter kann er nicht gehen, und zwar weil, daran erinnert uns Katrin Solhdju eindrücklich, eine weitere aktive Figur die Szene bevölkert, diejenige des Scharlatans, dessen Kunst dazu imstande ist, therapeutische Effekte zu erzielen, die die Medizin auf ihre ›schandhafte‹ Vergangenheit zurückverweisen. In diesem Milieu, das vom Mediziner fordert, er müsse ein getreuliches Zwischenglied sein, das den Fakten keinerlei Wirklichkeit hinzufügt, wenn er nicht als Scharlatan deklariert werden möchte, löst das Eindringen des prädiktiven Tests zum Nachweis der Huntington-Krankheit, wie Katrin Solhdju es qualifiziert, eine »ökologische Krise« aus. Als ließe die Anwesenheit dieses neuen Wesens eine Unordnung sprießen, die uns zur Neuproblematisierung von Rollen und Haltungen verpflichtete. Indem sie dieses Wesen »die Kreatur« nennt, evoziert sie unwiderstehlich Frankensteins Kreatur, dieses unglückliche, von seinem Schöpfer gehasste Lebewesen. Und sie sensibilisiert uns dafür, dass es dieser Hass ist, die Weigerung des ›Vaters‹, die Mittel zu erfinden derer es bedürfte, um sie
2 | Den Begriff des Zwischengliedes ebenso wie den des Mittlers verwende ich hier im Sinne Bruno Latours, wie er ihn etwa in Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2007 entwickelt.
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in Empfang nehmen zu können, der dazu führt, dass die Kreatur bösartig wird. Wie ließe Hippokrates’ Gebot des Primum nihil nocere, das die erste Pflicht des Mediziners definiert, sich mit dieser bösartigen Effizienz vereinbaren, die die faktische Information anzunehmen droht, wenn Mediziner sich dazu gezwungen sehen, als getreue Zwischenglieder zu fungieren? Natürlich kann der Mediziner vorgeben, dass nicht zu schaden in diesem Fall darin bestehe, die Autonomie des Subjekts zu respektieren, das der nackten Wahrheit ins Auge sehen müsse. Eine solche Haltung impliziert allerdings zugleich, ebendieses Subjekt müsse in sich selbst die Fähigkeit finden, Trauerarbeit bezüglich jeglicher Hoffnung auf ein normales Leben zu leisten. Ein merkwürdiger Taschenspielertrick, durch den sich das Zwischenglied als Direktor des Bewusstseins aufspielt, der verlangt, der Patient solle ›zu seinem Besten‹ jeder tröstenden Illusion abschwören. Wahrhaftig haben wir es hier mit einer ökologischen Krise zu tun: Die Tatsache gerinnt zur Pflicht. Die Bestimmung des Kollektivs Dingdingdong besteht nicht darin zu denunzieren, vielmehr geht es die Wette ein, dass andere Erzählungen als diejenigen vom ausweglosen Verfall, andere Erfahrungen als diejenige einer irreversibel sich vergrößernden Entfremdung, anderes Wissen als dasjenige von sich auflösenden Verbindungen existieren und dass diese – belebt man sie – aktiv werden und die Vorstellungskraft derjenigen wieder bevölkern können, die als Trägerinnen, Kranke, Angehörige oder Pflegende ein Verhältnis mit der Huntington-Krankheit unterhalten. Katrin Solhdjus ökologischer Ansatz bezüglich einer ›positiven‹ Diagnose ist Teil dieser Wette. Nichts kann dazu führen, dass die Verkündung eines solchen Befundes keine Zerreißprobe wäre – für die Person, die nun weiß, ob sie Trägerin ist oder nicht, für ihr Umfeld, aber auch für die Mediziner, die dieses Wissen vermitteln müssen. Aber »die Kreatur« bleibt gegenüber der Natur dieser Zerreißprobe stumm. Und was in ihrem Namen spricht, ist vor allen Dingen das Wissen des Arztes angesichts medizinischer Machtlosigkeit. In einem von Dingdingdong 2013 produzierten Video erhält dieser Arzt den Namen Doktor Marboeuf, der seine Konfrontation mit der Schwester Alice Rivières’ erzählt, die ihm vorwirft, dass er nicht dazu in der Lage ist zu sagen, dass er nicht weiß. Sicher, es gibt Statistiken, die aber bezüglich dessen, was ihrer Schwester im Besonderen passieren wird, ebenfalls stumm seien. Katrin Solhdju fügt den schwesterlichen
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Ausführungen folgende Radikalisierung hinzu: »Geben Sie zu, dass die Wahrheit über unsere Krankheit Ihnen nicht gehört, zumindest nicht Ihnen allein!« Sie verleiht so denjenigen eine Stimme, denen die Zerreißprobe in einem Modus übermittelt wurde, der ihnen vorhersagte, was sie werden erdulden müssen, wobei es doch der Mediziner ist, der die Erfahrung der eigenen Unfähigkeit zu handeln macht. Spekulative Erzählung! Anstatt sich im guten Gewissen dessen ›der kein Scharlatan ist, weil er sich an die Tatsachen hält‹ einzurichten, beginnt Doktor Marboeuf sich dafür zu interessieren, dass anderswo (in den Niederlanden etwa) die ›Wahrheit der Krankheit‹ ausschließlich in der Pflege, der Einrichtung von Räumlichkeiten, der Erfindung lebenserleichternder Techniken, in Modi der Aufmerksamkeit gesucht wird, das heißt in all den Elementen, die dazu in der Lage sind, diese Krankheit soweit als möglich zu dedramatisieren. Eine andere Ökologie der Krankheit wäre also möglich, eine Ökologie, die aktive Dispositive vervielfacht, nicht um Wunder zu wirken, sondern schlicht, um Lebenswegen, die würdig sind gelebt zu werden, so viele Gelegenheiten zu bieten wie irgend möglich. Heute formt sich eine Vielzahl von Patientenkollektiven – mit oder ohne Medizinerinnen –, die ein neues Milieu, eine neue Ökologie für die Krankheiten herstellen, an denen sie leiden, oder auch mit dem Ziel, das spezifische Syndrom, das sie betrifft, zu depathologisieren. So lehnen es etwa die Stimmenhörer ab, die gehörten Stimmen der psychopathologischen Kategorie der Schizophrenie zuzuschlagen. Dingdingdong lehnt seinerseits bezüglich der Huntington-Krankheit die Qualifikation ›neurodegenerativ‹ ab, kann ›neuro-evolutiv‹ akzeptieren, weigert sich aber, das Neurologische als eine von den vielfältigen Milieus, die sich permanent re- und neukonfigurieren, unabhängige Größe zu akzeptieren. Können wir uns einen Mediziner vorstellen, der aus einem ›positiven‹ Test die Verkündung eines metamorphotisch-Werdens, der Notwendigkeit, »die Seele auszustatten« macht, damit diese Metamorphose »trotz intensiver Turbulenzen, die sie fraglos mit sich bringen wird so gut wie möglich von statten geht«?3
3 | Dieses Zitat entnehme ich: Composer avec Huntington. La maladie de Huntington au soin de ses usagers, Forschungsbericht des gleichnamigen von der Fondation de France finanzierten Projektes, einzusehen unter: https://dingdingdong. org/wp-content/uploads/Composer-avec-Huntington-2017.pdf
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Können wir uns darüber hinaus einen Mediziner vorstellen, der die letzten Seiten der Versuchung des Wissens lesen und ernst nehmen würde, auf denen Katrin Solhdju es wagt, sich den orakulären Praktiken der del phischen Pythia zuzuwenden? Auch die Pythia war ein Zwischenglied, aber innerhalb einer Welt, in der man wusste, dass der Kontakt mit ihrem Gott Apollon das Risiko einer destruktiven Besessenheit in sich barg und dass die rituellen Vorsichtsmaßnahmen unumgänglich waren, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Einer Welt, in der man ebenso wusste, dass jede nackte prophetische Rede gefährlich ist – weswegen sie zumeist in Rätseln auftrat – und dass die Intervention von Mittlern absolut notwendig war, um dieselbe zu interpretieren. Heute gibt es keine Orakel mehr, aber Hellseherinnen existieren sehr wohl. Eine von ihnen, Maud Kristen, hat sich neulich bereit erklärt, die spekulative Erzählung des Doktor Marboeuf weiterzuspinnen, indem sie ihm einen Brief schrieb, der hier ausschnitthaft zitiert sei: »Ihre Praktiken, wie die meinen, befragen die Zukunft, indem sie Daten bezüglich verschiedener Marker interpretieren. Sie befragen und interpretieren Proben, so wie ich es auch mache […] Ihre Träger sind das Blut und andere Sekrete. Meine sind Initialen, Bilder, Karten und Fotos. Wahrsagerei oder biologische Untersuchungen bringen Verdikte hervor. Aber haben sie nicht vergessen, dass einzig ihre Patienten oder meine Klienten aus diesem Verdikt ein ›Geschick‹ machen werden? Dass sie keineswegs auf die schlechte Nachricht, die sie überwältigt, reduziert werden können? Doktor, wir sind, sie und ich, Besitzer einer Diagnose. Das ist alles. Und das ist schon viel. Aber niemals sind wir im Besitz dessen, was sie aus und mit ihren ›schlechten Nachrichten‹ weben werden, niemals im Besitz dessen, was ihr Leben nach der Verkündung sein wird, noch des Sinns oder Unsinns, den all das für sie haben wird. Unnütz also, sie davon zu überzeugen, dass alles hinüber ist. Das was vielleicht oder wie ich zugebe sogar wahrscheinlich hinüber ist, ist ein valides Leben insofern es nicht andauern wird, aber nicht die Frau oder der Mann vor Ihnen, von dem sie nicht das geringste wissen.« 4
Katrin Solhdju wusste, dass die Frage der Diagnose zum Nachweis der Huntington-Krankheit sie dazu verpflichtete, die Position der kritischen Analystin zu verlassen. Nicht um deren Strenge, wohl aber deren 4 | Der Volltext des Briefes ist nachzulesen unter: https://dingdingdong.org/ departements/narration-speculative/lettre-de-maud-kristen-au-dr-marboeuf/
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Unbeteiligtheit aufzugeben. Sie wusste, dass sie dieser Frage die Form eines Rätsels geben musste, das zum Denken zwingt und dazu, die Vorstellungskraft in Bewegung zu versetzen. Das aber hieß, wie sie schreibt, dass es galt, ihre »begrifflichen, historischen und empirischen Forschungen auf deren propositionelles Potential hin zu befragen«. Um »das Problem gut zu stellen«, um ihm eine Realität zu verleihen, die dazu angetan sein würde mit denjenigen geteilt werden zu können, die dieses Problem angeht, hat sie es gewagt, die Frage ernst zu nehmen, die diese Diagnose uns aufzwingt. Diese Frage ist nicht diejenige nach der Prädiktion im Allgemeinen, sondern diejenige nach der Position derjenigen, die Zukunft vorhersagen, die Zukunft einer Person, die sie um diese Vorhersage gebeten hat. Dass Katrin Solhdju diese Frage unabhängig davon angeht, welche Materialien für solche Vorhersagen Verwendung finden (die Genetik, Apollon oder Karten und Fotos) ist kein Zeichen von Respektlosigkeit, beweist keinen Willen dazu, diejenigen zu skandalisieren, die sagen würden, einzig die medizinische Vorhersage sei objektiv. Denn die Frage lautet nicht, wozu ein solches Wissen autorisiert, sondern vielmehr wodurch sich die Zerreißprobe auszeichnet, mit der dieses Wissen konfrontiert. Die Besonderheit des Mediziners, der das Ergebnis des Tests übermittelt, besteht vielleicht darin, dass das medizinische Milieu weder dazu geneigt ist, eine schützende Kultur bereitzustellen, derer die Position des Zukunftsvorhersagens bedarf, noch dazu, der Notwendigkeit Rechnung zu tragen, die Mittler zu vervielfachen, die der genetischen Tatsache Wirklichkeit hinzufügen. Im Falle Alice Rivières’ war die einzige Frage, die das medizinische Team zu besorgen schien, ob die Person, die wissen wollte, dazu in der Lage sein würde, die Vorhersage einer Zukunft zu verkraften, die vielleicht die ihre sein würde. Eine schlechte Frage – denn die genetische Tatsache ist nicht ihre Zukunft. Eine Frage, die das Drama einer Logik des Zwischengliedes verdeutlicht: Was es zu wissen gibt, kann den Selbstmord nach sich ziehen, aber das Zwischenglied selbst kann nur dieses Wissen in all seiner Grausamkeit übermitteln. Der ökologische Ansatz, den Katrin Solhdju verfolgt, fordert natürlich nicht, dass Medizinerinnen von göttlichen Mächten beherrscht sein oder Nachrichten in Karten lesen sollten. Aber sie fordert eine Ko-Produktion von Wissen und Praktiken aller Art, die gemeinsam die Landschaft zeichnen, innerhalb derer die Träger der Huntington-Krankheit ihren Weg gehen müssen. Sie fordert, dass Mediziner die Person, der sie eine
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schlechte Nachricht überbracht haben, nicht in der Wüste eines Lebens alleine zurücklassen, das jeglicher Möglichkeit beraubt ist. Vielmehr gelte es, der überbrachten Nachricht den Ton einer Einladung dazu zu geben, sich für diese Landschaft zu interessieren, die von Gelegenheiten des Austauschs, der Begegnung, des Werdens und von Geschichten bevölkert ist. Denn es ist diese Landschaft, die der Diagnose ihre Wahrheit geben wird, die Wahrheit eines Lebens, das es trotz allem wert sein kann gelebt zu werden.
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Einleitung V orher /N achher Die Wahrheit einer Vorstellung ist keine feststehende Eigenschaft, eine, die ihr inhärent wäre. Wahrheit passiert einer Vorstellung. Sie wird wahr, sie wird durch Ereignisse wahr gemacht. Ihre Wahrheit ist tatsächlich ein Ereignis, ein Prozess: der Prozess nämlich, in dem sie sich selbst wahr macht, ihre Verifikation. W illiam James1
Medizinische Akte des Diagnostizierens verwandeln, teilen das Leben in ein Davor und ein Danach. Sie führen auf dramatische Weise vor Augen, dass biologische Lebendigkeit (zoe) und Leben im Sinne der Biographie einer Person (bios) untrennbar miteinander verschränkt sind; ist ersteres in Gefahr, so stellt dies auch die Person und den gesamten Verlauf ihres Daseins infrage. Der hochgradig prekäre Charakter diagnostischer Situationen rührt daher, dass sie gebieten, ein durch naturwissenschaftliche Verfahren produziertes, objektives Tatsachen-Wissen – etwa den genetischen Status eines lebendigen Organismus betreffend – in eine an jemanden adressierte Verkündigung zu übersetzen. Nicht selten wohnt ihnen eine gewaltsame, ungezähmte, ja ›wilde‹ Verwandlungsmacht inne, von der die betroffene Person in all ihren Aspekten erfasst wird. Wenn medizinische Diagnosen aber mit der Macht einhergehen, diejenigen, die sich ihnen unterziehen, existentiell in Frage zu stellen, dann gilt es Dispositive, Techniken und Taktiken zu entwickeln, die es den involvierten 1 | William James, Der Pragmatismus. Ein neuer Name für eine alte Denkweise, Darmstadt 2001, S. 133.
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Personen – und es sei unterstrichen, dass damit nicht nur professionell-medizinisches Personal, sondern ebenso die Patientinnen selbst gemeint sind – ermöglichen, die mit einer solchen Macht einhergehende Verantwortung (im Sinne von Antwortfähigkeit) zu übernehmen. Dies ist besonders im Fall von Diagnosen diffizil, die die Medizin insofern mit ihren eigenen Grenzen konfrontieren, als die diagnostizierten Krankheiten und ihre Symptome zwar bekannt sind und ein Patient bzw. sein Blut, sein Urin, seine Haut oder seine Gliedmaßen daher mithilfe von Bluttests, Gentests, Ultraschall, Röntgentechnik und anderen Verfahren auf sie hin getestet werden kann, Therapieansätze aber zumindest noch nicht existieren. Bei der Diagnose unheilbarer Krankheiten also, bezüglich derer die medizinische Praxis als Heilkunst nicht oder allenfalls sehr eingeschränkt wirksam werden kann, denen sie machtlos gegenübersteht. Diese Handlungsunfähigkeit geht mit einer von Ärztinnen, Patienten2 und Angehörigen gleichermaßen erlebten Ratlosigkeit einher, ja versetzt sie nicht selten, jeden und jede für sich in eine Art Angststarre. Nur selten wird dieses – wenn auch aus unterschiedlichen Perspektiven – von allen Beteiligten erlebte Drama allerdings artikuliert und als eine geteilte, sie potentiell verbindende Erfahrung thematisiert. Stattdessen ist es durchaus an der Tagesordnung, dass ein ratloser Arzt seinen ebenso ratlosen Patienten mit hochgradig verstörenden, sein aktuelles und künftiges Leben determinierenden Informationen konfrontiert, ohne auch nur den geringsten konstruktiven Vorschlag für das Danach, die Phase nach der eigentlichen Diagnose formulieren zu können. Die Diagnose einer unheilbaren Krankheit ist nicht einfach in-formativ, sie ist trans-formatierend, sie verwandelt nicht nur jeden einzelnen der implizierten Akteure, sondern auch deren Verhältnisse zueinander. Zwar kann sie, wenn etwa quälenden Symptomen nach langer erfolgloser Suche endlich ein Name gegeben wird, erleichternd wirken, weil sie eine Unsicherheit beendet, die nicht selten unerträglicher ist als die Sicherheit, an einer schweren Krankheit zu leiden. In anderen Fällen aber, und dies gilt in besonderer Weise für präsymptomatische Tests, wie sie durch die zeitgenössische Genetik möglich geworden sind, droht die Diagnose, die klare Benennung der prognostizierten Krankheit, in ein Urteil oder wie wir sehen werden sogar in einen Fluch umzuschlagen; einen Fluch, 2 | Weibliche und männliche Formen werden im gesamten Text alternierend verwendet.
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der auf unkontrollierbare Weise nicht nur die Zukunft, sondern retroaktiv auch die Vergangenheit der betroffenen Person erfasst. Denn die Medizin kann in solchen Fällen zwar die Frage nach dem Ja oder Nein der Anwesenheit dieser oder jener Krankheit oder ihrer Anlage in einem konkreten Organismus wissenschaftlich-faktisch beantworten. Es fehlt ihren Praktikern aber häufig an angemessenen Dispositiven und Formen zur Verkündigung solcher Diagnosen, die den Anforderungen der Komplexität ihres Wissens und seiner vielfältigen Implikationen gewachsen wären. Dieses Manko kann nicht oder zumindest nicht ausschließlich dem Versagen einzelner Mediziner, ihrer unzureichenden Empathie oder psychologischen Ungeschicklichkeit zugerechnet werden. Vielmehr lassen sich die Gründe für diesen Missstand, so meine Hypothese, als Effekte einer der modernen Medizin inhärenten epistemologischen Lage interpretieren, die erst ein genauer Blick auf einige Aspekte ihrer Geschichte begreif bar werden lässt.
K r ankheiten und ihre M ilieus Ein Dilemma der modernen Medizin besteht darin, dass sie in ein aus epistemologischen, ethisch-moralischen und juristischen Elementen zusammengesetztes Regime eingespannt ist, das nicht aufhört, sie auf die strenge Trennung zwischen wissenschaftlich-neutralen Fakten auf der einen und subjektiven Werten auf der anderen Seite zu verpflichten. Für diesen Umstand ist die seit ihren historischen Anfängen anhaltende Schwierigkeit der Medizin konstitutiv, sich als naturwissenschaftliche Disziplin neben Physik, Chemie und Biologie zu behaupten. Aber bei genauem Hinsehen und entgegen einer ersten Intuition tragen auch die seit den 1960er Jahren für Medizinethik und -recht zentralen Kategorien von Autonomie und informiertem Einverständnis zu dieser permanent perpetuierten Opposition bei. Zwar haben diese dazu geführt, dass als autonom konzipierte Patientinnen sich den Behandlungsvorschlägen ihrer – idealiter nicht länger paternalistischen – Ärzte verweigern konnten. Die Möglichkeit, gestaltend auf die Realität ihrer jeweiligen Krankheiten zu- und in dieselbe einzugreifen, wurde ihnen damit aber noch lange nicht eingeräumt. Die Krankheitsexpertise blieb vielmehr auf Seiten der Ärzteschaft; Patienten hatten und haben auch heute in den meisten Fällen höchstens eine Art Veto-Recht.
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»Patient autonomy, rather than being corrosive of professional privilege, may actually reenforce physician authority: autonomy tends to be a negative right (in that a person has the right to refuse treatment) rather than a positive right (a person cannot generally demand a particular treatment). […] Indeed, physicians have incorporated informed consent into their practice as a means of improving patient satisfaction, and perhaps most importantly, in shifting responsibility to the patient, they offer a potent tactic to combat malpractice suits.« 3
Trotz dieser ebenso treffenden wie ernüchternden Feststellung haben sich in den letzten Jahrzehnten bezüglich ganz verschiedener Krankheiten eine ganze Reihe kollektiver Unternehmungen formiert, deren Akteure angetreten sind, sich der eigenen Krankheitserfahrungen zu ermächtigen und zu ihren aktiven Gestaltern zu werden. Die Arbeit solcher Patientenkollektive verdeutlicht zunehmend, dass es möglich ist Konstellationen herzustellen, die es erlauben, Krankheiten als Phänomenen zu begegnen, die sich verwandeln, ja dass es sogar möglich ist, mit anderen als im strengen Sinne naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und Techniken Einfluss auf ihre Naturgeschichten 4 zu nehmen. Zwar handelt es sich um Phänomene, die fraglos da und schmerzhaft sind, ihre Erfahrungsrealität steht aber keineswegs unabänderlich fest. Im Gegenteil werden ihre Wirklichkeiten immer wieder aufs Neue experimentell verhandelt und ihre Wahrheiten erweisen sich entsprechend als mehrdimensional und milieuabhängig. Zu denken ist etwa an die ›Stimmenhörer‹.5 Dabei handelt es sich um einen Verband, dessen Mitglieder von psychiatrischer Seite in den allermeisten Fällen als schizophren diagnostiziert wurden. Schon indem sie sich als Stimmenhörer bezeichnen, weisen sie die Angemessenheit der Schizophrenie-Diagnose entschieden zurück. Die besondere Stärke des Netzwerks besteht allerdings darin, dass die in ihm versammelten Personen sich nicht darauf beschränken, den medizinischen Zugriff auf ihre Erfahrungswelten 3 | Alfred I. Tauber, Patient Autonomy and the Ethics of Responsibility, Cambridge (MA) 2005, S. 60. 4 | Naturgeschichte ist hier im doppelten Sinne zu verstehen: 1. meint der Begriff historische Wandlungen einer Krankheit; 2. meint Naturgeschichte auch den klinischen Verlauf einer Krankheit. 5 | Für den deutschsprachigen Raum siehe etwa: www.stimmenhoeren.de/dasnest-stellt-sich-vor/
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zu kritisieren, sondern der medizinischen Zuschreibung vielmehr Formen des konstruktiven Zusammenlebens mit den gehörten Stimmen entgegensetzen. Zur Weitergabe und Perfektionierung der dazu nötigen Techniken gekonnter Zähmung haben sie ein System der gegenseitigen Ausbildung entwickelt – von Stimmenhörerin zu Stimmenhörer. Zentral ist dabei die einigermaßen überraschende Ausgangsbeobachtung, dass ein Großteil der Betroffenen durchaus nicht alle, sondern nur einzelne der vernommenen Stimmen als unangenehm oder bedrohlich wahrnimmt. Das Ziel des Trainings besteht entsprechend darin, jede/n von ihnen mit einem präzise auf die jeweiligen persönlichen Bedürfnisse abgestimmten Know-how auszustatten, das es ihnen erlaubt, die eigene, besondere Fähigkeit – nämlich Stimmen zu hören, die anderen verborgen bleiben – gezielt zu kultivieren, statt sie radikal und möglichst vollständig psychopharmakologisch zum Schweigen zu bringen. Konkret setzen die Stimmenhörer darauf, von Fall zu Fall eine individuelle, genauestens ausgeklügelte und im Laufe der Zeit zunehmend präzise abgestimmte Mischung aus Pharmakotherapie und fortgesetzbeiten. tem, aber kontrolliertem, gezähmten Stimmenhören zu erar Der Erfolg der Stimmenhörer zeigt sich nicht zuletzt darin, dass in zunehmendem Maße Psychiater an den für sie von den international etablierten Netzwerken angebotenen Fortbildungen teilnehmen. Diese Medizinerinnen gehen also zugespitzt formuliert bei den Usern der von ihnen behandelten Krankheiten in die Lehre, um neue Techniken zu erlernen und so die eigene medizinische Praxis zu bereichern. Spätestens an diesem Punkt wird deutlich, dass die Arbeit der Stimmenhörer sich nicht darauf beschränkt, ihren je persönlichen Umgang mit der eigenen Krankheit zu verändern, sondern sie zunehmend beginnen, die Naturgeschichte der Schizophrenie erfolgreich in ihrem ganz konkreten klinischen Verlauf nachhaltig zu beeinflussen. Damit beerben sie andere Initiativen, die angetreten sind, um sich durch kollektive und ko-konstruktive Zusammenarbeit unter und mit den Usern aktiv in die Realität etwa von Taubstummheit oder Autismus einzumischen. Symptomatiken, die von ihnen im extremsten Falle nicht länger als Krankheiten und damit als Störenfriede konzipiert und gelebt werden, die es mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln auszuschalten gilt, sondern als Eigenheiten u nter anderen. Solche Kollektive zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine ganz eigene Form der Expertise hervorbringen, die es ihnen erlaubt, auf fundamentale
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Art und Weise die Medizin6 auf den Prüfstand zu stellen. Denn immer wieder gelingt es ihnen, eines deutlich zu machen: Dass nämlich die klinischen, pflegerischen und selbstbestimmten Umgangsweisen und Erfahrungen mit Krankheiten nicht nur deren gesellschaftlich kolportierte Bilder oder Repräsentationen verändern, sondern vielmehr zugleich deren Naturgeschichten nachhaltig mitschreiben oder anders und im Anschluss an Étienne Souriau und Bruno Latour formuliert, ganz reale Effekte auf deren Existenzweisen zeitigen.7 Was eine spezifische Krankheit aber zu einem bestimmten Moment und in einem konkreten Milieu nicht nur als medizinisch-wissenschaftliche, sondern auch als Erfahrungssache ist, muss mindestens ebenso wie das diagnostische Prozedere und Setting selbst als konstitutiver Teil ihres diagnostischen Milieus – oder oikos (Haushalts) – verstanden werden. Eine Ökologie des Diagnostischen wäre entsprechend angehalten, Rechenschaft über all die Elemente abzulegen, aus denen ein solches Milieu sich zusammensetzt. Mit Blick auf eine konkrete Diagnose formuliert: Die Diagnose ›Autismus‹ bleibt nicht konstant dieselbe, je nachdem ob man annimmt, diese Symptomatik sei durch einen Mangel an mütterlichen Affekten ausgelöst und unheilbar – man denke an die Rede von den so genannten Kühlschrankmüttern. Oder ob man – die zunehmend öffentlich agierende Community Betroffener ernst nehmend, die jede Bestimmung der ihren Mitgliedern eigenen Existenzweise als krank emphatisch ablehnt – davon ausgeht, dass es sich bei Autismus um eine Eigenheit, ja um eine eigenständige Kultur handelt. Die Autismus-Diagnose bleibt dann ebenso wenig dieselbe wie diejenige einer Lungenentzündung vor und nach der Entdeckung von Antibiotika, die Diagnose ›Diabetes‹ vor und nach der Synthetisierung von Insulin oder die Diagnose ›Multiple Sklerose‹ vor und nach der Entwicklung pharmakologischer Angebote, die diese zwar nach wie vor nicht
6 | Siehe dazu und insbesondere für den Bereich der Psychiatrie etwa die Dokumentation der Konferenz La Psychothérapie à l’épreuve de ses usagers, organisiert vom Centre Georges-Devereux, 2006 in Paris: www.ethnopsychiatrie.net/ textcolloq.htm 7 | Siehe zu dem Begriff der Existenzweisen: Étienne Souriau, Die verschiedenen Modi der Existenz, übersetzt von Thomas Wäckerle, Lüneburg 2015 sowie Bruno Latour, Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen, übersetzt von Gustav Roßler, Frankfurt a.M. 2014.
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heilen können, den Verlauf derselben allerdings effektiv zu kontrollieren und zu verzögern in der Lage sind. Unter diesen Vorzeichen aber kann eine Diagnose nicht als Einszu-eins-Übertragung eines Wissens aus dem Labor ins Sprechzimmer begriffen werden, das zwar gegebenenfalls psychologisch-subjektive Nebenwirkungen zeitigt, an und für sich aber neutral ist. Jede Diagnose muss vielmehr als Fakt-Wert-Komplex konzipiert werden, der von den vielschichtigen Existenzweisen einer Krankheit durchdrungen ist. Eine Arbeit an den Modi und damit an dem spezifischen Milieu dieser oder jener Diagnose muss dann inhärenter Teil des Nachdenkens darüber sein, wie dramatische diagnostische Akte, deren Gewaltpotential a priori das Vorstellungsvermögen aller Beteiligten übersteigt, sich Schritt für Schritt in Gelegenheiten dazu ummünzen lassen, angesichts einer Krankheitserfahrung, wenn auch keine unbeschwerte, so doch eine Form metamorphotischer Vitalität zu ermöglichen.
D ie B üchse öffne n Wie kann man sich denkend in die Lage versetzen, von einem Zustand passiver Perplexität gegenüber Diagnosen, die drohen, regelrecht toxisch zu wirken, zu Prozessen der aktiven Konstruktion neuer Möglichkeiten überzugehen? Ein vielversprechender Weg scheint mir darin zu bestehen, die diagnostische Situation vorsichtig, wie die Büchse der Pandora zu öffnen. Eine historisch-genealogische Herangehensweise erlaubt es, besser zu verstehen, wie aktuelle diagnostische Settings entstanden sind und welche disziplinären, epistemologischen, ethischen, aber auch juristischen Ideale und Regelungen in ihnen zusammenspielen. Damit wird die Grundlage geschaffen, von der aus eine konstruktive Kritik all dieser Elemente und ihres Zusammenspiels beginnen kann. Dabei geht es mir nicht primär darum, die moderne Medizin und ihre Praktiker zu denunzieren, sondern zunächst darum, für die Vielfalt derjenigen Elemente zu sensibilisieren, von denen extreme diagnostische Situationen determiniert werden, Situationen, die uns in letzter Konsequenz dazu herausfordern, völlig neu über die adäquate Verteilung von Handlungsmacht nachzudenken. Davon dass vor allem auch unter Medizinern dringender Bedarf besteht, über das ›Wie‹ diagnostischer Akte nachzudenken, zeugt nicht
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zuletzt die Vielzahl an Publikationen mit Titeln wie Das schwere Gespräch; Breaking Bad News etc.8 Sie belegen fraglos den authentischen und guten Willen ihrer Autorinnen, zeugen aber vor allen Dingen von der Notwendigkeit, bezüglich der Fragen, die sie zu verhandeln wagen, immer wieder neu anzusetzen, quer zu denken. Eine solche Denkarbeit muss sich zwingend aus vielfältigen Praktiken und Wissensfeldern speisen, die Kompetenzen ganz unterschiedlicher Disziplinen mobilisieren, um damit beginnen zu können, sich auf ein kollektives Nachdenken über bzw. ko-konstruktives Realisieren von weniger stereotypen und reduktionistischen Versionen von Krankheiten und ihren Diagnosen zuzubewegen. Das Gelingen eines solchen Unterfangens setzt, so scheint mir, zumindest dreierlei voraus: Ein erster Schritt besteht fraglos darin, Situationen herzustellen, die es allen beteiligten Akteuren – Ärzten, Patientinnen, Angehörigen und Pflegenden – ermöglichen, ihre relative Machtlosigkeit gegenüber einer Diagnose und deren Folgen miteinander zu teilen. Zweitens gilt es die Vorstellung einzuklammern, der zufolge die Medizin und ihre Praktiker allein für ein angemessenes Wissen über Krankheiten und das Leben mit ihnen zuständig und verantwortlich seien. Und drittens gilt es sich auf bereits erprobte Praktiken einzulassen und von ihnen zu lernen – ich denke hier etwa an die von Tobie Nathan begründete klinisch-therapeutische Variante der Ethnopsychiatrie. Nathan insistiert wiederholt auf der Notwendigkeit, ›das Symptom von der Person zu entkleben‹. Allerdings nicht im Namen einer neutralen Isolierung von Krankheitseinheiten; vielmehr geht es der von ihm initiierten therapeutischen Technik zentral darum, Personen auf neue Arten und Weisen (wieder) mit den ihren jeweils spezifischen Universen eigenen und krankheitsunabhängigen Zugehörigkeiten und Anhänglichkeiten in Verbindung zu setzen. Diese und andere a-moderne (Heil-)Praktiken können insofern instruktiv sein, als sie sich darauf verstehen, dem der ›modernen‹ Logik inhärenten Risiko zu widerstehen, im Namen so genannter
8 | Siehe beispielsweise: Edlef Bucka-Lassen, Das schwere Gespräch. Patientengerechte Vermittlung einschneidender Diagnosen, Köln 2005; Christian Lüdke und Peter Langkafel, Breaking Bad News. Das Überbringen schlechter Nachrichten in der Medizin, Heidelberg 2008.
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universeller Naturgesetze Personen von all dem abzuschneiden, was die Konsistenz ihrer Wirklichkeit ausmacht.9 Ausgehend von dem präzisen Bericht einer Betroffenen, geht der erste Teil des Buches der Genealogie einer sehr spezifischen Diagnostik nach: dem präsymptomatischen Gentest für die Huntington-Krankheit. Dessen epistemisch wie auch ethisch prekärer Status bringt es mit sich, dass diagnostische Gewalt sich in seinem Zusammenhang in besonders zugespitzter Form manifestiert. In einem zweiten Teil soll daran anschließend aufgezeigt werden, inwiefern solche Gewaltmanifestationen auf ganz verschiedenen Ebenen untrennbar mit einer Geschichte der modernen Medizin verzahnt sind. Ich werde versuchen, diese Geschichte oder eher diese Geschichten hinsichtlich der Frage zu erzählen, wie sich aktuelle Diagnosedispositive sowie die ihnen inhärenten Fallstricke herausgebildet haben. Parallel dazu gilt es, dabei erste Hinweise dafür zu sammeln, wie es möglich werden könnte, denselben entgegenzuwirken oder zu entkommen. Die Aufgabe besteht hier also – über den Entwurf einer klareren Sicht auf die vielfältigen Verstrickungen gegebener Situationen hinaus – darin, identifizierte Schwierigkeiten neu und anders zu problematisieren. Darauf auf bauend tritt der dritte Teil des Textes die Herausforderung an, vorsichtig erste Vorschläge zu formulieren, die drauf zielen, sich mit anderen als medizinischen Mitteln in das außergewöhnliche Feld prädiktiver medizinischer Praxis einzumischen. Ein Feld, das sich durch die radikale Asymmetrie eines Wissens und seiner totalen Macht, Personen existentiell zu transformieren einerseits und völliger therapeutischer Machtlosigkeit andererseits auszeichnet. Diese Vorschläge können nicht den Gestus von Rezepten haben, nicht ansagen, wie die Dinge in Zukunft zu laufen haben – dafür ist die Lage bei Weitem zu komplex. Wohl aber verstehen sie sich als Angebote oder auch als Propositionen in Alfred North Whiteheads Sinne von »lures for feeling«.10 Köder, deren Aufgabe darin besteht, das Vorstellungsvermögen derjenigen, die solchen Situationen in der einen oder anderen Rolle ausgeliefert sind, zu bereichern oder 9 | Tobie Nathan, »Manifeste pour une psychopathologie scientifique«, in: Tobie Nathan und Isabelle Stengers, Médecins et sorciers, Paris 1995, S. 5-115, hier S. 57. So nicht anders markiert, stammen die Übersetzungen aus dem Französischen im gesamten Text von der Autorin. 10 | Alfred North Whitehead, Process and Reality. An Essay in Cosmology, New York 1978, S. 184.
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auch anzulocken. Köder, deren erklärtes Ziel es ist, der in Formen erstarrten Leere diagnostischer Milieus neue Konsistenzen entgegenzusetzen. Kurz, Köder, deren Stichhaltigkeit sich daran wird erweisen müssen, inwieweit es ihnen gelingt, an der Verwirklichung einer besseren »Ökologie des Diagnostischen« zu partizipieren.
Erster Teil: Die vielen Leben eines Tests H untington /D ingdingdong Meine Wette ist, dass die Huntington-Krankheit eine Gelegenheit ist, das Denken wachsen zu lassen. Alice Rivières 1
Die Dringlichkeit, ein ökologisches Denken bezüglich des Diagnostischen zu entwickeln, hat sich mir infolge meiner persönlichen Begegnung mit Alice Rivières und dem Austausch über ihre Erfahrungen mit dem Prozedere rund um den Gen-Test zum Nachweis der Huntington-Krankheit aufgedrängt. »Wir sind nicht dazu bestimmt, unser Schicksal zu kennen. Aber wenn wir dennoch die Möglichkeit haben, etwas darüber zu wissen, werden wir von einem Moment zum anderen ein bisschen anders, ein anderer Mensch«,2 schreibt die junge Französin, die vor einigen Jahren der verlockenden Sogwirkung, die der präsymptomatische Gentest auf sie ausübte, ›erlegen ist‹ im Manifeste de Dingdingdong. »Die schlichte Tatsache seiner Existenz«, heißt es dort weiter, »machte ihn für mich zu einem unwiderstehlichen Vorschlag. […] Da der Test existierte, konnte ich nicht länger ohne ihn auskommen, wenn es darum ging auch nur die geringste stabile Annahme bezüglich meiner Zukunft zu konstruieren.«3 Angesichts der verführerischen Macht des Tests, der verspricht die eigene Zukunft zumindest scheinbar genauer kennen zu können, entschied sie, sich dem medizinisch-psychologisch-psychiatrischen Evaluations1 | Manifeste de Dingdingdong précédé de »De la chorée« de George Huntington, Paris 2013, S. 21. 2 | Ebd., S. 64. 3 | Ebd., S. 72.
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Prozedere, das seiner eigentlichen Durchführung vorausging, sowie dann auch dem Gentest selbst zu unterziehen – oder auch zu unterwerfen. Um all die Schwierigkeiten in den Blick nehmen zu können, die ein solcher prädiktiver Gentest mit sich bringt, ist es nicht damit getan zu vermerken, dass die Huntington-Krankheit (HD) bis heute unheilbar geblieben ist. Darüber hinaus muss es vielmehr gelingen, diese Krankheit mit all ihren Besonderheiten auf die eine oder andere Weise zu definieren. Aus dieser Notwendigkeit ergibt sich im Rahmen eines Kollektivs wie Dingdingdong – dessen zentrales Anliegen darin besteht, Gegengifte zu eingeübten, ausschließlich düsteren Sichtweisen auf diese Krankheit zu entwickeln, zu erfinden, zu durchdenken und in Umlauf zu bringen – allerdings erst einmal eine Fragenkaskade: Wie lässt sich eine Krankheit präsentieren, deren aktive Transformation vermittels ausgefeilter Formen der ›Koproduktion von Wissen‹ das erklärte Ziel unserer kollektiven Arbeit ist? Können wir in Anbetracht unserer kritischen Haltung gegenüber den eingefahrenen Definitionen, Diskursen und Praktiken rund um die Huntington-Krankheit und angesichts unseres Anliegens Schritt für Schritt interessantere Formen des Umgangs und Lebens mit dieser Krankheit zu implementieren, überhaupt auf biomedizinisches Wissen bzw. genetische und neurologische Definitionen zurückgreifen, und wenn dann wie? Wenn unsere Aufgabe darin besteht neue, weniger trostlose Versionen von HD wahr und das heißt reell werden zu lassen, müssen wir die Frage, was HD eigentlich ist, dann nicht auf unbestimmte Zeit verschieben? Streng genommen ist dies vielleicht der Fall und wir müssten uns entsprechend zumindest im Moment weigern, die Huntington-Krankheit unsererseits zu definieren. Es ergibt sich dann allerdings die Crux, dass unser Vorgehen damit zugleich an Schärfe verliert; gewinnt das Unternehmen Dingdingdong doch gerade durch Kontraste zu etablierten Versionen4 der HD seine Schlagkraft. Es wäre allerdings falsch daraus zu schließen, es ginge uns darum, die Genauigkeit biomedizinischen Wissens über diese Krankheit infrage zu stellen. Wogegen wir antreten ist einzig die Annahme, das Leben mit dieser (und anderen) Krankheit(en) gehe in dem wissenschaftlich-medizinischen Wissen über dieselben auch nur annähernd auf.
4 | Zu den sich fundamental wandelnden Versionen einer Krankheit siehe etwa: Ludwik Fleck, Erfahrung und Tatsache, Frankfurt a.M. 1983.
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In Bezug auf das Diagnostische bildet die Huntington-Krankheit insofern eine Ausnahme, als sie prädiktiv, und das heißt vor dem Eintritt jedweder Symptome, detektiert werden kann. Risikopersonen kann mittels eines ›einfachen‹ Bluttests mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit 5 vorhergesagt werden, ob sie von den vielfältigen Symptomen dieser ›neurodegenerativen‹6 Krankheit betroffen sein werden; und damit auch, ob ein Risiko für ihre Kinder und Kindeskinder besteht. Stellt sich nämlich heraus, dass eine Person kein Träger besagter Genmutation ist, so kann sie dieselbe auch nicht weitergeben – die Erb- oder Traditionslinie bricht ab. Eine Tatsache, die damit zusammenhängt, dass die Huntington-Krankheit autosomal dominant vererbt wird, monogenetisch ist und sich durch vollständige Penetranz auszeichnet. Ersteres besagt entsprechend genetischer Regeln, dass jede Person, die einen von dieser Krankheit betroffenen Elternteil hat, mit 50 %-iger Wahrscheinlichkeit das defekte Gen erbt; Zweites bedeutet, dass die HD von einem einzigen veränderten Gen ausgelöst wird und Drittes, dass all diejenigen, die Träger des betreffenden Gendefekts sind, nicht nur ein statistisch erhöhtes Erkrankungsrisiko haben, sondern auf jeden Fall früher oder später die Symptome der Krankheit entwickeln werden – es sei denn, sie sterben zuvor aus anderen Gründen. Die Nosologie der HD wurde erstmals 1872 durch den amerikanischen Mediziner George Huntington beschrieben – er differenzierte diese hereditäre im Kontrast zu anderen Formen so genannter Chorea – und war infolgedessen lange Zeit als Chorea Huntington bekannt. Auch wenn chorea-artige Bewegungen oftmals die ersten äußerlich sichtbaren 5 | Es hat sich in den letzten Jahren auf der Grundlage erster längerfristiger Studien seit der Einführung des Tests herausgestellt, dass es eine Art genetischer Grauzone gibt, die allerdings verschwindend klein ist. Siehe dazu unter anderem: http://en.hdbuzz.net/027; aber auch: Regine Kollek und Thomas Lemke, Der medizinische Blick in die Zukunft. Gesellschaftliche Implikationen prädiktiver Gentests, Frankfurt a.M./New York 2008. 6 | ›Neurodegenerativ‹ steht hier in Anführungszeichen, weil Dingdingdong, im Anschluss an Gespräche sowohl mit erkrankten Personen als auch mit ihren Angehörigen und Pflegenden, die Meinung vertritt, dass der HD-Verlauf wenig treffend als Degeneration im strengen Sinne beschrieben werden kann, sondern vielmehr als ein sich im Zickzack schlängelnder Evolutionsprozess in den Blick genommen werden muss.
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Zeichen der HD darstellen, setzt sich diese Krankheit aus einer Vielzahl motorischer, kognitiver und das Verhalten betreffender Veränderungen zusammen, die sich im Laufe der Jahre in einem Auf und Ab, einem wenig kalkulierbaren Hin und Her entwickeln. Bei ihren Trägern bricht sie zumeist zwischen dem vierten und fünften Lebensjahrzehnt aus. Unwillkürliche, ruckartige Muskelzuckungen im gesamten Körper – Chorea, vom griechischen choreia, also Tanz, genannt –, zunächst beinahe unmerkliche psychische Auffälligkeiten und schleichend sich entwickelnde Persönlichkeitsveränderungen markieren häufig den Beginn des oft sehr langwierigen Verlaufs dieser Krankheit, die schließlich zum Tod der betroffenen Person führt. Obwohl natürlich einzelne Symptome u.a. durch Neuroleptika, Psychopharmaka, Ergo-, Physiotherapie und Logopädie gelindert werden können, sind bis heute keinerlei heilende oder auch nur stabilisierende Therapieansätze bekannt. Die beängstigende Kombination aus einer beträchtlichen Anzahl an Symptomen, wie Gleichgewichtsstörungen, die Transformation und Verlangsamung kognitiver Fähigkeiten, schwerwiegende Störungen des Schluckapparats und Sprechvermögens, aber auch diverse psychische Schwierigkeiten von depressiven bis hin zu psychotischen Episoden, hat dazu geführt, dass die Huntington-Krankheit, die umgangssprachlich auch unter dem Namen Veitstanz bekannt ist – also mit einer Form der Besessenheit assoziiert wird –, häufig als die ›schrecklichste‹, ›monströseste‹ und ›grausamste‹ aller Krankheiten bezeichnet wird. Solche, nicht selten auch von Medizinern kolportierten, Diabolisierungen erklären sich nicht zuletzt aus dem erblichen Charakter der HD, der zwangsläufig dazu führt, dass die Beobachtungen, die potentiell Betroffene, so genannte Risikopersonen an Familienmitgliedern machen, immer schon als Vorboten, ja wortwörtlich als Vorahmungen7 der eigenen Zukunft wahrgenommen werden. Beinahe jede Risikoperson erlebt, lange bevor sie selbst medizinische Betreuung in Anspruch nehmen wird, die eine oder andere Variante des Krankheitsverlaufs sowie die mehr oder weniger ausgeprägte medizinische Ohnmacht den Symptomen gegenüber bereits über Jahre hinweg mit. Schon bevor sie selbst erkranken, erachten die Personen sich daher als Zeugen der eigenen drohenden Zukunft, des eigenen Leidens und Sterbens. Denn Huntington begleitet ganze Familien über Genera7 | Diese Wortwahl ist Hans Blumenberg entliehen: »Nachahmung der Natur«, in: Ders., Wirklichkeiten, in denen wir leben, Stuttgart 1986, S. 93.
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tionen hinweg und lässt sie nicht selten – aus der Innen- ebenso wie aus der Außenperspektive – als verflucht erscheinen. Entsprechend begründet diese Krankheit die Identität der betroffenen Familien substantiell mit – oftmals in Form eines Tabus, dessen unheilvolle Macht durch die unleugbare Präsenz der Symptome bei Großeltern, Eltern, Tanten, Onkeln, Cousinen, Cousins und Geschwistern beharrlich insistiert. Ein wohlgehütetes Familiengeheimnis, unantastbar und unaussprechlich, das doch immer wieder an die Oberfläche drängt und seinen Platz im Bereich des Sicht- und Erfahrbaren einfordert. Der präsymptomatische diagnostische Akt birgt daher das Risiko, als Verdopplung eines bereits vorhandenen Fluchs erlebt zu werden. Im Umgang mit ihm ist entsprechend besondere Vorsicht geboten.
E ine neue F orm des Z ukunf tswissens Der technischen Einfachheit des genetischen Tests korrespondiert eine wirre, extrem komplexe Gemengelage außerhalb des faktenproduzierenden molekularbiologischen Labors. Nicht nur für direkt Betroffene, sondern ebenso für Ärzte, Sozialarbeiter, Psychotherapeuten, Ethiker und andere Akteure, die in die Prozedur rund um den Test involviert sind, ergeben sich schon aus der schieren Möglichkeit, die Zukunft zu kennen, eine ganze Reihe offener Fragen. Etwa nach den Bedingungen der Zugänglichkeit eines solchen Tests, aber auch nach der adäquaten Gestaltung des Moments der Ergebnisvermittlung, in dem die Labor-Information in den klinischen Zusammenhang zwischen Arzt und Patient bzw. Risikoperson eingeschleust oder übersetzt werden muss. Fragen bezüglich der mannigfaltigen – möglichen und gefürchteten – Effekte dieser Übersetzungsleistung sind aufgrund der besonderen genetischen und klinischen Sachlage in diesem Fall auf die Spitze getrieben. Der Gentest zum Nachweis der Huntington-Krankheit wurde und wird nicht nur aufgrund seiner historisch frühen ›Entdeckung‹, sondern auch wegen besagter Radikalität, mit der sich ethische und moralische, familiäre, politische und gesundheitsrechtliche Fragen8 in Anbetracht dieser Krankheit stellen, 8 | Die Huntington-Krankheit ist eine der wenigen Krankheiten mit spätem Symp tombeginn, die vor ihrem Ausbruch festgestellt werden kann – wobei es sich nicht im eigentlichen Sinne um eine Früherkennungsmaßnahme handelt, weil auch
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immer wieder als Modellfall herangezogen; und zwar sowohl von Medizinern und Genetikern als auch von Soziologen, Psychologen, Bioethikern und Gesundheitspolitikern. Der direkte Gentest für die Huntington-Krankheit wurde infolge der Forschungsarbeiten einer Gruppe amerikanischer Wissenschaftlerinnen 1992 mit der präzisen Lokalisierung des für diese monogenetische Krankheit verantwortlichen Gens auf dem kurzen Arm des vierten Chromosoms möglich. Sie fanden heraus, dass eine Anzahl von mehr als 36 Repetitionen des Basentriplets CAG (Cytosin, Adenin, Guanin) für die Trägerschaft des Gens verantwortlich ist und anhand der Feststellung seiner Präsenz daher das Ausbrechen der HD in einem Organismus vorhergesagt werden kann. Wie die Rede vom direkten Gentest schon impliziert, ging ihm ein indirekter Test voraus. Dieser war zehn Jahre zuvor infolge der Entdeckung eines Markers, »der mit dem Huntington-Gen gekoppelt ist«, durchführbar geworden und versetzte die Humangenetik bereits in die Lage, »mit hoher Wahrscheinlichkeit die Anlage bei Risikopersonen feststellen«9 zu können. Allerdings bedurfte es zur Durchführung dieser Variante prädiktiver Diagnostik nicht einzig des genetischen Materials der Risiko-Person selbst, die wünschte, ihren genetischen Status aufzuklären; vielmehr war bis zur präzisen Lokalisierung des Gens 1992 eine solche Klärung nur dann möglich, wenn es gelang, durch den Vergleich bzw. die überkreuzende Analyse genetischen Materials von Mitgliedern derselben Familie aus mehreren Generationen zu ermitteln, von welcher Familienseite eine Person die Allele, die als Sitz dieses Markers identifiziert worden war, geerbt hatte. Dieser indirekte Gentest war entsprechend nur in einer relativ begrenzten Anzahl von Fällen durchführbar, da eigentlich nur Großfamiliweiterhin keinerlei präventive oder kurative Therapien zur Verfügung stehen. Diese Krankheit ist Ursache einer radikalen sozialen Segregation. Diejenigen, die erfahren, dass sie Trägerinnen sind, entwickeln daher – und zwar nicht selten den Ratschlägen ihrer Ärzte folgend – Verheimlichungsstrategien bezüglich ihres genetischen Status. Sei es auch nur, um sich sozial vor den administrativen und finanziellen Konsequenzen zu schützen – etwa der Verweigerung eines Kredits oder einer Krankenversicherungspolice –, die eine Offenlegung desselben nach sich zu ziehen droht. 9 | Thomas Lemke, Veranlagung und Verantwortung. Genetische Diagnostik zwischen Selbstbestimmung und Schicksal, Bielefeld 2004, S. 31.
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en das notwendige genetische Material zur Verfügung stellen konnten – eine Aufgabe, die zudem durch die komplexen Effekte erschwert wurde, die solche Ermittlungsprozesse im Innern der betroffenen Familien auslösten. So spiegelte sich in dieser ersten Variante des Tests zur Erkennung der Huntington-Mutation noch klar und deutlich die für diese Krankheit so zentrale Rolle der Familie wider, die dazu führt, dass aus der Perspektive von Betroffenen die HD oft eine, wenn auch negative, identitätsstiftende Funktion einnimmt, durch die sie auf besondere Art und Weise mit ihrer Verwandtschaft verbunden sind. So ist es auch kein Zufall, dass Familienbande schon für die medizinische Unterscheidung der HD von anderen Krankheiten eine zentrale Rolle gespielt hatte: Als George Huntington 21-jährig im letzten Teil seines Artikels On Chorea die später nach ihm benannte HD klar von anderen Formen der (vor allem kindlichen und infektiösen) Chorea abgrenzte und für sie die Bezeichnung Hereditäre Chorea vorschlug, war dies nämlich nur dadurch möglich, dass er auf generationsübergreifende Aufzeichnungen betreffs der Erkrankten und ihrer Familien in seiner Stadt zurückgreifen konnte. Ebendieser Umstand aber hatte seinerseits familiäre Gründe: Hatten doch vor ihm bereits sein Großvater (Abel Huntington) und dessen Sohn, Georges Vater (George Lee Huntington) als Ärzte in derselben Gemeinde praktiziert. Huntington hatte deren Archive geerbt und bezüglich der zuvor oft als Veitstanz bzw. Saint-Vitus-Dance, lakonisch auch als »that disorder«10 bezeichneten Symptomatik eingehend studiert und analysiert. Der Zugriff auf diese stringent geführten Patientenakten der immer gleichen Familien vor Ort versetzten den jungen George Huntington in die Lage – beinahe zeitgleich zu Mendels durch Versuche an Erbsen gewonnenen Erkenntnissen, allerdings in völliger Unkenntnis derselben –, eine zentrale biologische Regel der Vererbung zu formulieren, die später die Bezeichnung dominant erhalten sollte: »But if by any chance these children go through life without it, the threat is broken and the grandchildren and great-grandchildren of the original shakers may rest assured that they are free from the disease.«11 Huntington nimmt 1872 noch an, seine Beschreibung der hereditären Chorea habe für seine Kollegen keine »great practical importance«, sondern sei eher eine »merely […] medical curiosity, and as 10 | George Huntington, »On Chorea«, in: The Medical and Surgical Reporter, 26, 15, 13. April 1872, S. 317-321, hier S. 320. 11 | Ebd.
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such [it] may have some interest«.12 Ein Jahrhundert später hingegen sollte gerade die Tatsache des erblichen Charakters dieser Krankheit für ihre genetische Erforschung eine essentielle Rolle spielen und sie damit zugleich zu einem Modellfall der humangenetischen Forschung und deren vielfältiger Effekte avancieren lassen. Im Rahmen einer Veranstaltung anlässlich des 100. Jahrestages von George Huntingtons Artikel 1972 in Ohio zeigte der venezolanische Psychiater Ramón Ávila-Girón einen kurzen Schwarz-Weiß-Film, den sein Kollege Americo Negrette in einem kleinen Dorf an den Ufern des Sees Maracaibo in Venezuela gedreht hatte, in dem die HD häufiger als irgendwo anders in der Welt auftritt. Die junge Psychologin Nancy Wexler, die selbst aus einer von der Huntington-Krankheit betroffenen Familie stammte und die bei den weiteren Entwicklungen der genetischen Erforschung von HD eine entscheidende Rolle spielen sollte, nahm an dieser Filmvorführung teil. Der Film beeindruckte nicht nur aufgrund seiner aufrüttelnden Bilder, sondern mindestens ebenso dadurch, dass eine derart hohe Konzentration von HD-Kranken in einer Region dieselbe als eine Art natürliches Reservoir und Laboratorium zur Wissensproduktion über die Funktionsmechanismen der Krankheit erscheinen ließ. Inspiriert durch Forschungen an Homozygoten – das heißt an Personen, die ein defektes Gen von Vater und Mutter zugleich geerbt haben13 –, die bezüglich familiärer Hypercholesterinämie durchgeführt worden waren, initiierte Nancy Wexler gemeinsam mit ihren Kolleginnen ab 1979 ein Forschungsprojekt am Maracaibo-See, in der Hoffnung, hier homozygote Träger der HD zu finden und mit ihrer Hilfe grundlegende Erkenntnisse gewinnen zu können.14 Ihre Hypothese sollte sich als fruchtbar erweisen, denn es ist vor allem dem während ihrer Forschungsaufenthalte in Venezuela aufwändig gesammelten genetischen Material zu verdanken, dass
12 | Ebd. 13 | Homozygote haben in der Geschichte der Genforschung wiederholt eine zentrale Rolle gespielt, da sich genetische Krankheiten an ihnen gewissermaßen in Reinform studieren lassen. 14 | Diese Forschung wurde von der Congressional Commissison for the Crontrol of Huntington’s and its Consequences finanziert, die Nancy Wexler auch heute noch leitet. Sie ist ebenfalls Präsidentin der Hereditary Disease Foundation, die von ihrem Vater, Milton Wexler, ins Leben gerufen wurde.
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die Forscherinnen in den darauffolgenden Jahren den HD-Marker ausfindig machen konnten.15 Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass die damit vorhandene erste Form des Tests weitaus häufiger als der spätere direkte Gentest zu fehlerhaften und häufiger noch zu nicht-informativen und das heißt in diesem Zusammenhang zu Ergebnissen führte, die als uneindeutig und damit zu unverlässlich gelten mussten, um gegenüber der Risikoperson eine diagnostische Vorhersage zu rechtfertigen. Nancy Wexler, Michael Conneally, David Housman und James Gusella, die allesamt Teil des für die Entdeckung des Markers und später auch für die exakte Verortung der Genmutation verantwortlichen Forscherteams waren, hielten denn auch entsprechend fest, dass es sich dabei lediglich um eine »way station« handele. Um eine Zwischenstation also auf der langen Reise hin zu umfassenderem, und – so die implizite Hoffnung – praktisch umsetzbarem Wissen über oder auch im Kampf gegen die Huntington-Krankheit. Carlos Novas bringt den impliziten Gehalt des Ausdrucks »way station« rückblickend noch einmal sehr treffend auf den Punkt, wenn er schreibt: »The journey which they speak about involves the search for a potential treatment or cure, a journey which may hopefully not only alleviate the suffering caused by this disease, but also transform predictive genetic testing into a gateway for access to therapeutic regimes, and not, as it is at present, a complex technology for the management of genetic fate by those who are at risk.«16
Doch trotz der genauen Lokalisierung des Huntington-Gens blieb die besagte ›Reise‹ auch nach 1992 weit davon entfernt, abgeschlossen zu sein. Diese Entdeckung ging nämlich keineswegs mit einschneidenden therapeutischen oder präventiven Neuerungen einher. »The treatments for HD today are not so different from those available to my mother in the 1960s.
15 | Ich greife für diese Details auf die bemerkenswerte Studie der Historikerin und Schwester Nancy Wexlers, Alice Wexler, zurück. Siehe: Alice Wexler, Mapping Fate. A Memoir of Family, Risk, and Genetic Research, Berkeley 1996. 16 | Carlos Novas, Governing ›Risky‹ Genes. Predictive Genetics, Counselling Expertise and the Care of the Self, Doctoral Thesis, British Library Document Supply Centre 2003, S. 200.
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They were inadequate then and are even more so today«,17 schreibt Wexler noch 2012. Wie bei so vielen Unternehmungen der in den 1980er und 1990er Jahren explosionsartig anwachsenden genetischen Forschung wurde die von Genetikern, Medizinern und Betroffenen geteilte Hoffnung auf eine möglichst effiziente Inkontrollnahme biologisch determinierter Schicksale, deren Eintreten nun bereits im Vorhinein prophezeit werden konnte, auch im Fall der Huntington-Krankheit bis auf Weiteres enttäuscht. Genetisches Wissen konnte und kann auch heute nur sehr bedingt in wirksame therapeutische Maßnahmen umgesetzt werden. Bei genauerem Hinsehen stellt sich allerdings heraus, dass zumindest auf Seiten der Wissenschaftlerinnen eine naive Hoffnungshaltung schon in Zeiten des Booms keineswegs einstimmig geteilt wurde. So beschrieb Nancy Wexler bereits 1992 das bis heute andauernde Drama, nämlich den tiefen Abgrund der zwischen einem sich immer weiter entwickelnden Stand genetischen Wissens einerseits und dem auch weiterhin andauernden Unvermögen seiner klinischen Umsetzung andererseits klafft: »[T]he natural trajectory of human genome research is toward the identification of genes, genes that control normal biological functions and genes that create genetic disease or interact with other genes to precipitate hereditary disorders. Genes are being localized far more rapidly than treatments are being developed for the afflictions they cause, and the human genome project will accelerate this trend. The acquisition of genetic knowledge is, in short, outpacing the accumulation of therapeutic power – a condition that poses special difficulties for genetic knowing.«18
Zwar lassen sich immer mehr Krankheiten schon frühzeitig und mit immer größerer Zuverlässigkeit feststellen; dieses Wissen geht allerdings in 17 | Nancy Wexler, »Huntington’s Disease. Advocacy Driving Science«, in: The Annual Review of Medicine, Vol. LXIII, 2012, S. 1-22, hier S. 15. Abrufbar unter: www.hdfoundation.org/PDF/Annual_Review_Medicine_Wexler_01-12.pdf 18 | Nancy Wexler, »Clairvoyance and Caution. Repercussions from the Human Genome Project«, in: Daniel J. Kevles und Leroy E. Hood (Hg.), The Code of Codes. Scientific and Social Issues in the Human Genome Project, Cambridge (MA) 1992, S. 211-243, Zitiert nach: www.hdfoundation.org/html/clair.php (Hervorhebung K.S.).
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den allermeisten Fällen keineswegs automatisch oder auch nur vermittelt mit einem ihm korrespondierenden therapeutischen oder präventiven Handlungsvermögen einher. Wexlers frühe Reflexionen verdeutlichen diese – ihr zufolge für das Feld der Genetik geradezu konstitutive – Asymmetrie, die spätestens der Abschluss des großangelegten Humangenomprojekts im Jahre 2003 auch der breiten Öffentlichkeit mit radikaler Deutlichkeit vor Augen geführt hat. Diese Tatsache ändert jedoch nichts daran, dass die HD nicht länger unabhängig von einer Welt gedacht werden kann, in der jene neue Art des Zukunftswissens zugänglich geworden ist, dessen bloße Existenz die Krankheit sowie die von ihr Betroffenen affiziert. Kein Element ist mehr dasselbe wie vor der Lokalisierung des Gens. Denn betroffene Personen sind gezwungen, sich zu der Möglichkeit, wissen zu können, selbst dann zu verhalten, wenn sie sich gegen den Test und damit dafür entscheiden, nicht wissen zu wollen.19 Und sie werden mit der Entscheidung für oder gegen dieses Wissen zwangsläufig zu moralischen Akteuren.20 Das Vorhandensein des Tests veränderte entsprechend nicht nur den medizinischen Umgang mit der Huntington-Krankheit, vielmehr durchkreuzte es nicht selten auch Praktiken der Weitergabe eines Wissens um das Risiko, wie sie innerhalb betroffener Familien über Generationen hinweg kultiviert worden waren – Praktiken der Anspielung, des Zauderns und Herantastens, mit denen vielschichtige Formen des Experimentierens und Tricksens mit Halbwahrheiten bezüglich des eigenen Risikostatus’
19 | Siehe zum Recht auf Nichtwissen den Text des deutschen Gendiagnostikgesetzes, das online nachgelesen werden kann. Siehe kommentierend dazu u.a. Gunnar Duttge, »Rechtlich-Normative Implikationen des Rechts auf Nichtwissen in der Medizin«, in: Peter Wehling (Hg.): Vom Nutzen des Nichtwissens. Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld 2015, S. 75-92. Siehe außerdem Katrin Solhdju, »Rätselhafte Zukunft. Medizinische Prädiktionen zwischen Wissen und Nichtwissen«, in: Alexander Friedrich, Petra Gehring u.a. (Hg.): Technisches Nichtwissen, Jahrbuch Technikphilosophie, Baden-Baden 2017, S. 147-168. 20 | Zu diesen Fragen siehe die Arbeiten von Lotte Huniche und besonders: »Moral Landscapes and Everyday Life in Families with Huntington’s Disease. Aligning Ethnographic Description and Bioethics«, in: Social Science & Medicine, Vol. LXXII, no 11, 2011, S. 1810-1816.
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einhergingen.21 Aber auch Fragen nach dem Recht auf Wissen und Nicht-Wissen sowie auf Anonymität stellen sich im Licht dieses Tests auf sehr spezifische Art und Weise. Die radikalen Umwälzungen, die mit der neuen Form des Zukunftswissens und den daran geknüpften persönlichen sowie ethischen und gesellschaftlichen Dilemmata einhergehen, sind in mitreißender Weise von der Schwester Nancy Wexlers, der Historikerin Alice Wexler, in ihrer Studie Mapping Fate. A Memoir of Family, Risk, and Genetic Research aus dem Jahre 1996 beschrieben worden. Wie Nancy ist auch Alice Wexler mit den Ängsten und der emotionalen Zerreißprobe, wie sie mit dem Risiko-Status für die Huntington-Krankheit einhergeht, aus der Innenperspektive vertraut. Denn die Mutter der beiden war in den 1950er Jahren symptomatisch geworden und 1968 verstorben. Alice Wexler schreibt also nicht aus der Distanz einer Unbeteiligten, vielmehr erhebt sie das eigene Involviertsein in das behandelte Thema zur engagierten Methode ihrer historiographischen und genealogischen Recherche. Besonders eindrücklich sind dabei die von ihr zitierten Passagen eigener Tagebuchnotizen aus der Phase direkt nach Entdeckung des Markers im Jahre 1983 und den daraus folgenden Wirren. Sie verdeutlichen, wie die beiden Schwestern – eine direkt an der naturwissenschaftlichen Forschungsfront, die andere, sie selbst, aus ihrer Perspektive als Historikerin und beide als Töchter ihrer Mutter – ungeduldig auf eben diesen Moment gewartet, ja ihn hoffnungsvoll erwartet hatten. Aber sie vermitteln mindestens ebenso die einsetzende Panik im Moment der Zugänglichkeit dieses Wissens: »The immensity of it scares me shitless. The idea of really knowing – and what if it is positive? Or if Nancy is? Once we know, there is no going back.«22 Solange der Test nur virtuell existierte, waren beide Schwestern davon überzeugt, ihn so schnell wie möglich an sich selbst durchführen zu wollen – überzeugt, wissen zu wollen. Sobald aus der abstrakten Hoffnung allerdings eine reelle Option geworden war, erwies sich die Situation als 21 | Siehe für eine genauere Auseinandersetzung mit diesen familiären ›Techniken‹: Composer avec Huntington. La maladie de Huntington au soin de ses usagers. Une recherche exploratoire. Forschungsbericht über eine explorative Recherche über das Erfahrungswissen der Nutzer der HD; durchgeführt zwischen 2013 und 2015 durch Dingdingdong. Abrufbar unter: http://dingdingdong. org/a-propos/composer-avec-huntington/ 22 | Alice Wexler, Mapping Fate, a.a.O., S. 224.
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weitaus komplexer als erwartet und das nicht zuletzt, weil nun mit aller Gewaltigkeit deutlich wurde, dass ein solches Wissen keineswegs nur die jeweils getestete Person, sondern ihre gesamte familiäre und soziale Konstellation betreffen würde: »Dad says he’s quite happy with things as they are, he could live the rest of his life very content, feeling confident we don’t have the illness. He told Diane [einer Journalistin, K.S.] ›What I have now is joyousness. If I knew they were free of the disease, I’d fell ecstasy. It’s not that great a gain. But there’s an immense difference between joy and discovering one of them carried the gene. It’s not worth the gamble.‹ Diane kept asking about the value of certainty, the importance of knowledge for its own sake. Nancy says, ›Yes, I’ve always believed in knowledge for its own sake. And it is ironic that after working for precisely that, I’m now finding it much more complex than I ever thought it would be.‹ Diane: ›Did you think you’d take the test when the linkage was discovered?‹ Nancy: ›Absolutely. Yes. I never doubted it. And now I’m not sure.‹« 23
Zwischen der abstrakten Idee, ein Wissen über die eigene Zukunft könnte zugänglich werden, und der konkreten Möglichkeit, auf dieses Wissen zuzugreifen, klaffte nicht nur für die Wexler-Schwestern, sondern auch für viele andere Mitglieder der Huntington-Community ein unüberbrückbarer Abgrund. Davon zeugt nicht zuletzt die Tatsache, dass, nachdem der von den Betroffenenverbänden selbst ausgeübte Druck zur freien Zugänglichkeit des Tests geführt hatte, nur ein sehr geringer Anteil von Risiko-Personen dafür optierte, das jetzt bestehende Angebot in Anspruch zu nehmen und sich tatsächlich testen zu lassen.24 Allein dieser breitflächige Umschwung von der enthusiastischen Verteidigung des Tests hin zu einer eher reservierten Inanspruchnahme desselben bezeugen mehr als deutlich, dass die HD sich mit der Existenz des präsymptomatischen Gentests radikal verwandelt hatte. Es handelte sich offenbar
23 | Ebd., S. 233f. 24 | Bis heute variieren die Statistiken. Aber es lässt sich festhalten, dass maximal 20 % der betroffenen Risiko-Personen sich im Laufe ihres Lebens für den Test entscheiden. Siehe dazu ausführlich: Novas, Governing »Risky« Genes, a.a.O.; sowie Nikolas Rose und Carlos Novas, »Genetic Risk and the Birth of the Somatic Individual«, in: Economy and Society, 29, 4, 2000, S. 485-513.
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nicht länger um dieselbe Krankheit, ihre Naturgeschichte hatte eine neue Wendung genommen. Die mit dem Test real gewordene neue Form des Zukunftswissens brachte und bringt in familiärer, medizinischer und ethischer Hinsicht Schwierigkeiten der Anbindbarkeit an eingeübte Praktiken mit sich oder anders formuliert, bringt diese und die Verhältnisse derjenigen, die in sie verwickelt sind, aus dem Gleichgewicht. Familien, die oft im Laufe von Generationen ausgeklügelte Strategien kultiviert haben, die Krankheit mehr oder weniger ausdrücklich eher zu evozieren denn direkt zu adressieren werden durch die Anwesenheit dieser neuen Maschine zur Produktion von Zukunftswissen auf den Kopf gestellt. Aber ebenso irritiert wird der Schauplatz klinischer Praxis, deren klassische Dramaturgie als Dreiakter aus Diagnose, Therapie und Prognose in diesem Zusammenhang nicht mehr wirklich greift. Denn während der Dreiakter strukturell mit einem wenn auch offenen, so doch mehr oder weniger glücklichen Ausgang rechnet und mit dem Ziel antritt, diesen aktiv herbeizuführen, kommt der Zukunft im präsymptomatischen Diagnoseszenario (zumindest im Falle eines ungünstigen Testergebnisses) einzig die Rolle einer abgeschlossenen Erzählung mit negativem Ende zu. Indem aber die Existenz des zunächst indirekten und dann direkten präsymptomatischen Tests auf diese Weise die Grundlagen des Arzt-Patienten-Verhältnisses umstürzt, lässt sie die medizinische Epistemologie selbst aus den Fugen geraten. Und insofern die Medizinethik ihrerseits eine mehr oder weniger stabile medizinische Epistemologie voraussetzt, macht die neue Form des Zukunftswissens auch auf diesem Schauplatz ein Um- und Neudenken unumgänglich, zwingt die Verfügbarkeit solchen Wissens doch nicht zuletzt dazu, zentrale bioethische Kategorien wie Autonomie und informiertes Einverständnis auf ihre Adäquatheit hin zu überprüfen.
D er Test vor dem Test Nicht nur die genetische Forschung nahm infolge der Beschreibung der DNA-Struktur als Doppelhelix durch Watson und Crick im Jahre 1953 rasant zu. Neben der Molekularbiologie lässt sich etwa zeitgleich auch ein erster Aufschwung der Neurowissenschaften konstatieren, die auf ihre Weise zu einem wachsenden Verständnis der Huntington-Krankheit und ihrer Symptome beigetragen haben. 1966 wurde in Harvard das erste
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Zentrum für Neurobiologie gegründet, 1968 die Society for Neuroscience ins Leben gerufen. Innerhalb dieser neuen Wissenschaftsinstitutionen und -zusammenschlüsse entstand eine besonders vielversprechende Forschungsrichtung, die sich für so genannte Neurotransmitter interessierte. Dabei handelt es sich um chemische Substanzen wie Dopamin, Serotonin oder Endorphine, die von einer Nervenzelle zur nächsten weitergegeben werden und, wie sich herauszukristallisieren begann, entsprechend ihrer jeweiligen Natur und Quantität die elektrische interzelluläre Reizweiterleitung entweder beschleunigen oder hemmen. Im Rahmen eines der frühen Forschungsprojekte zu und an solchen Neurotransmittern, das sich der Parkinson-Krankheit widmete, stellte sich heraus, dass deren Fortschreiten mit einer abnehmenden Dopaminausschüttung im Gehirn der Patientinnen einhergeht. Da Dopamin zur Klasse der stimulierenden Neurotransmitter zählt, erklärte ein Mangel dieser Substanz einen großen Teil des Symptom-Clusters, aus dem sich die Parkinson-Krankheit zusammensetzt und das Tremor und Steifheit ebenso umfasst, wie die Schwierigkeit, Bewegungen zu initiieren. Der Versuch, den Mangel an natürlichem Dopamin durch die Gabe synthetisierten Dopamins zu kompensieren, stellte sich allerdings als ineffizient heraus, weil diese chemische Substanz offenbar nicht dazu in der Lage war, die Blut-Gehirn-Schranke zu durchbrechen. Eine chemische Vorform des Dopamins, L-dopa, erwies sich in der Folge als wirksame Alternative; diese Substanz wird vom Körper selbst in Dopamin umgewandelt und anschließend ins Gehirn aufgenommen. »If the L-dopa is administered in high enough doses, it can lead to a dramatic reduction of the symptoms. From a catastrophic illness that is seriously debilitating and often fatal, Parkinson’s became an illness that can be partially controlled, even if it cannot be cured.«25 War die verschriebene Dosis zu hoch, das beobachteten Neurologen bei der Behandlung von Parkinson-Patienten mit L-dopa, führte dies nicht selten zu chorea-ähnlichen Symptomen, wie sie bei Huntington-Kranken auftreten.26 Deren motorische Symptome ließen sich entsprechend auch 25 | Alice Wexler, Mapping Fate, a.a.O., S. 98. 26 | Es handelt sich um dieselbe Substanz, die Ende der 1960er Jahre auch spektakuläre Effekte auf Patienten der Schlafkrankheit hatte. Diese Geschichte ist auf faszinierende Art und Weise von Oliver Sacks beschrieben worden. Siehe dazu sein Buch Awakening. Zeit des Erwachens, Reinbek 1991.
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durch Dopaminhemmer zumindest teilweise kontrollieren, wenngleich unklar blieb, ob HD-Kranke wirklich zu viel Dopamin produzieren oder eher hypersensibel auf diese Substanz reagieren – fand man doch in obduzierten Gehirnen HD-Kranker im Vergleich zu solchen neurologisch gesunder Menschen keinerlei Hinweise auf einen Dopaminüberschuss. Wie dem auch sei, aus der klinischen Konstellation, in der nicht wenige Neurologen sowohl mit Huntington als auch mit Parkinson in Kontakt kamen, entstand die Auffassung, beide Krankheiten könnten als Spiegelbild der jeweils anderen begriffen werden. In einem weiteren Schritt entstand aus dieser Idee von der Spiegelbildlichkeit eine Hypothese, die zu einem allerersten prädiktiven Test – nicht zu verwechseln mit dem bereits ausführlich vorgestellten indirekten Test – zum Nachweis der HD führen sollte, einer Testvariante, die in der Folge völlig in Vergessenheit geraten ist. Diese Hypothese besagte, dass »administering L-dopa to people at risk for Huntington’s might produce chorea-like symptoms in those who actually carried the gene.«27 Zu Beginn der 1970er Jahre führten zwei Neurologen, André Barbeau und Harold L. Klawans, in Chicago ein darauf aufbauendes Experiment mit 30 asymptomatischen Risiko- und 25 Kontrollpersonen durch. Allen Versuchspersonen wurden während der Laufzeit des Experiments hohe Dosen L-dopa verabreicht. Mit dem Ergebnis, dass unter dieser Medikamentierung ein Drittel der Risikopersonen, jedoch keine einzige Kontrollperson vorübergehend choreische Symptome entwickelte. Experimente bezüglich des provokativen Effekts von L-dopa wurden während der 1970er Jahre in kleinerem Rahmen auch andernorts durchgeführt – etwa an Homozygoten, also Kindern, bei denen beide Elternteile aus Huntington-Familien stammten. Für unseren Zusammenhang ist Barbeaus und Klawans Experiment vor allen Dingen deshalb interessant, weil die Publikation ihrer Forschungsergebnisse im British Journal of Medicine 1972 eine aufschlussreiche Debatte auslöste, die es sich schlaglichtartig zu vergegenwärtigen lohnt. Nicht nur insofern sie als Teil des Milieus begriffen werden kann, auf das 1983 der indirekte genetische Test traf. Sondern auch, weil im Lichte der Argumente, die diese Debatte dominierten – ihre impliziten Vorannahmen und Wertungen – die 1990 in einer ersten Fassung publizierten International Guidelines zur präzisen Sanktionierung der Durchführung des zunächst indirekten präsymptomatischen Gentests für die HD, ganz 27 | Alice Wexler, Mapping Fate, a.a.O., S. 99.
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neue Bedeutungen gewinnen. Von diesen Richtlinien wird noch ausführlich die Rede sein. Schon im Juni 1973 reagiert etwa Michael Hemphill mit seinem Artikel »Pretesting for Huntington’s Disease: An Overview« im Hastings Center Report28 auf die Publikation der experimentellen Ergebnisse von Barbeau und Klawans. Darin kritisiert Hemphill zunächst Ungenauigkeiten in der Publikation der beiden Forscher hinsichtlich der Kommunikationsstrategien, die sie bezüglich der gewonnenen Ergebnisse mit den Risikopersonen verfolgt hatten. »Were they told the disease was now inevitable?«, wenn sie choreische Symptome entwickelt hatten? Und wenn nicht, sagte man ihnen sie seien damit »off the hook«?29 Im Zentrum von Hemphills Text steht allerdings eine Pro- und Contra-Liste, für und gegen die Verfügbarmachung der invasiv provokativen prädiktiven Diagnostik mittels L-dopa. Die drei von ihm angeführten Argumente für die Verfügbarmachung des Tests, die er als Bestandsaufnahme in Medizinerkreisen zirkulierender Meinungen präsentiert, sind in aller Kürze folgende: 1. Wenn alle, deren Test ›positiv‹ ausfiele sich nicht reproduzieren würden »or were constrained from doing so«, würde die Krankheit nur noch im Falle sehr seltener Neumutationen auftreten. 2. Wäre ein Test möglich, müssten Risikopersonen nicht länger in falscher Hoffnung und Unsicherheit leben. 3. Präsentiert Hemphill die durch und durch aufklärerische Position, der zufolge Wissen und die Übernahme moralischer Verantwortung fraglos aneinander gekoppelt sind: »For some ethicists, such knowledge would be regarded as good per se because it increases the carrier’s humanity. An analogy to the state of lost innocence could be made – where one could previously act without full knowledge of the consequences and thus avoid responsibility, one is now given the necessary knowledge to act responsibly. Thus to some to be fully human is to be responsible in this sense.« 30
Gegen die Einführung des Tests sprechen Hemphill zufolge auf der anderen Seite zumindest vier Argumente: 1. Eine Frühdiagnose sei im Falle 28 | Michael Hemphill, »Pretesting for Huntington’s Disease. An Overview«, in: Hastings Center Report, Vol. III, Nr. 3, Juni 1973, S. 12f. 29 | Ebd., S. 13. 30 | Ebd.
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von Krankheiten, für die eine Therapie oder effiziente Prophylaxe bekannt ist, sinnvoll, was für HD nicht zutreffe. Wissen oder Nicht-Wissen mache hier eigentlich keinen Unterschied. 2. Der L-dopa-Test sei fragwürdig, weil er die Betroffenen vorzeitig aus der Innenperspektive mit ihren späteren Symptomen bekannt mache. 3. Es bestehe eine Unklarheit bezüglich der psychologischen Motivationen von Risikopersonen, sich dafür zu entscheiden, sich testen zu lassen. 4. Die Testergebnisse könnten Probleme beim Abschluss von Versicherungspolicen sowie für das Zustandekommen von Ausbildungs- und Anstellungsverhältnissen nach sich ziehen. Abschließend bemerkt Hemphill warnend, die Implikationen eines präsymptomatischen Tests für HD seien im Vorfeld einer großflächigen Einführung ausführlich abzuwägen. Denn es bestehe die nicht zu unterschätzende Gefahr, dass eine solche Verfügbarmachung einzig deswegen eingefordert werde, weil potentielle Genträger herausfinden wollen, dass sie verschont bleiben werden, während sie ein ungünstiges Testergebnis nicht ertragen könnten. »Ultimately, the question is one of minimizing suffering in a situation with very few alternatives to suffering. Our responsibility for the ethical issues at hand is to ensure that all the parameters for decision-making are explored and that human sensitivity is not blunted by our concern to assimilate data or diagnose disease.«31 Einen ganz anderen Ton schlägt Frank R. Freemons in seiner Reaktion auf Hemphills Artikel in der September-Ausgabe des Hastings Center Report aus demselben Jahr an: »It seems to me his [Hemphills, K.S.] rejection of early diagnosis and prognosis damns much of modern medicine«, schreibt der offensichtlich aufgebrachte Autor. Denn, so Freemons, erkläre man Barbeaus und Klawans Experiment aufgrund seiner ethischen und psychologischen Implikationen für illegitim, so würde man das Kind mit dem Bade ausschütten und einen nicht geringen Teil medizinischer Forschungen für nichtig erklären, die eine ähnliche ethische Gratwanderung implizierten – eine Position, gegen die er sich heftig verwehrt. Darüber hinaus, argumentiert er weiter, sitze Hemphill einer geläufigen Fehlkonzeption auf, die darin bestehe, den therapeutischen Aspekt der medizinischen Praxis überzubewerten. Dagegen gelte: »Acutally the doctor’s role as a counselor is just as important as his role as pharmacologist or surgeon. Accurate and early diagnosis is important because then we
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can give accurate prognosis«.32 Es wird allerdings schnell deutlich, dass das hier erwähnte Counseling aus Freemons Perspektive mit der Idee von einer bereichernden Praxis des beratenden Austauschs zwischen Arzt und Patient nichts zu tun hat. Ihm geht es vielmehr um eine unidirektionale Aufklärungsveranstaltung von oben nach unten, bei der ein Mediziner, gleich einem Lehrer, seinen Patienten-Schüler darüber belehrt, wie die Dinge wirklich stehen. Naive Patienten – durch ungerichtete Lektüre und aufgeschnappte Gerüchte oftmals gehörig fehlinformiert, sowie auch deren Verwandte, die »sometimes so terrified of the unknowns of the illness« seien »as to be virtually paralyzed with hysteria«33 – sollen durch eine akkurate Prognose des Arztes, die weder übermäßig dramatisiert noch verharmlost, sondern vielmehr objektiviert, beruhigt, vielleicht aber doch eher ruhig gestellt werden. Die Vermittlung einer solchen Ruhe gelinge dem Arzt Freemon zufolge unter anderem dadurch, dass er »always hold out a ray of hope, usually based on future research«.34 Die hier thematisierte Hoffnung auf das unbestimmt Zukünftige aber steht in krassem Gegensatz zum Ideal von der Patientenautonomie und mehr noch zu Praktiken des aktiven und aktivierenden Patienten-Empowerment, die sich dadurch auszeichnen, gemeinsam engagierte Strategien und Taktiken für ein möglichst gelungenes Leben mit der je diagnostizierten Krankheit zu entwickeln. Denn indem diese Art von Hoffnung an der klaren Trennung von unwissenden Patienten auf der einen und, wenn auch nur potentiell, wissenden Medizinern auf der anderen Seite festhält, erklärt sie implizit die Medizin und ihre Forschungen zur einzig legitimen Gestalterin von Krankheit. Eine experimentelle, kokonstruktive Erkundung von Krankheit, in deren Verlauf sowohl Medizinerinnen als auch Patienten gemeinsam Techniken und Tricks erlernen, die ganz konkret und situativ den Kranken entlasten, ist hier also keineswegs vorgesehen. Ganz im Gegenteil, der Arzt soll Freemons zufolge seine Patienten vor allem gegen die Gefahren schützen, die mit einer ›naiven‹ Haltung einhergehen: »[A]n understanding and frank discussion allows the patient and his family to prepare for the future, to stop the endless round of specialist after specialist, and to minimize the patient’s natural tendency to squander his 32 | Frank R. Freemon, »Pretesting for Huntington’s Disease. Another View«, in: Hastings Center Report, Vol. 3, Nr. 4, September 1973, S. 13. 33 | Ebd. 34 | Ebd.
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resources on faith healers and charlatans.«35 Die wirkliche Hoffnung hat der wahren Wissenschaft zu gelten, auch wenn deren Ergebnisse in den Sternen stehen! Denn einzig und allein sie – und wir werden die wuchtige Genealogie einer solchen Haltung im zweiten Teil dieses Textes in den Blick nehmen – ist dazu autorisiert, aus ›guten Gründen‹ zu heilen. Zwei weitere Aspekte springen in der Debatte um einen prädiktiven Test zum Nachweis von HD mittels L-Dopa ins Auge: Die Perpetuierung eines Bildes dieser Krankheit als Horrorszenario und der nicht selten explizite Rückgriff auf eugenische Ideologie. Während es bei Hemphill gerade heraus heißt: »In the late stages of dementia the patient presents the pitiful picture of the complete ruin of a human being«,36 wird der Horror der HD etwa in S. Thomas’ Aufsatz im British Medical Journal von 1982 zwar subtiler verpackt, gewinnt allerdings durch die direkte Korrelierung mit eugenischem Gedankengut eine noch weitaus destruktivere Kraft. Dort heißt es unverhohlen: »[T]he distress and inefficiency of those counselled in the first stages of their illness make some of them incapable of using effective measures of birth control. On this view, as on the view that the urge and determination to procreate in the face of the possibility of the disease is almost a prodromal symptom of the disease itself, any reduction in family size as a result of counselling is likely to come preferentially from those who do not have the mutant gene.« 37
Der Autor beschränkt sich also nicht darauf, an HD erkrankte Personen als hochgradig irrational und unzurechnungsfähig darzustellen, sondern unterstellt ihnen darüber hinaus einen pathologischen Willen zur Reproduktion. Und das in einer Phase der Krankheitsentwicklung, die im Limbus zwischen präsymptomatischer und symptomatischer, nämlich im so genannten Prodromalstadium der HD liegen soll, einer Phase, in der die Betroffenen für gewöhnlich als vollständig zurechnungsfähig gelten können. Thomas’ Argumentation macht natürlich nur Sinn, insofern das Ideal von der »Reduktion der Familiengröße«, ein feiner Ausdruck, hinter dem sich mehr schlecht als recht eine platt eugenische Attitude verbirgt, als moralische Norm auf Anerkennung stößt. Und die Notwendigkeit die35 | Ebd. 36 | Hemphill, »Pretesting for Huntington’s Disease«, a.a.O., S. 12. 37 | S. Thomas, »Ethics of a Predictive Test for Huntington’s Chorea«, in: British Medical Journal, Vol. CCLXXXIV, Nr. 6326, Mai 1982, S. 1383-1385, hier S. 1384.
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ser ›Reduktion‹ wirkt selbstverständlich besonders dann überzeugend, wenn HD zugleich ohne Wenn und Aber diabolisiert wird. Offenbar war ein solcher mehr ex- als impliziter eugenischer Standpunkt in den frühen 1970er Jahren, zumindest die HD betreffend, durchaus salonfähig. Dieser Eindruck drängt sich etwa auch bei der Lektüre der Richtlinien auf, die drei Forscher für die von ihnen durchgeführten L-dopa-Experimente an Homozygoten aufgestellt haben.38 Neben anderen Vorsichtsmaßnahmen heißt es dort: »We would add that a prediction test is useful only for those who have to choose between marriage and celibacy, procreation or interruption of the line of descendants, since no preventive medical treatment can yet be recommended to potential choreic individuals. Bearing this in mind, application of the test to a 50 year old woman seems useless.«39
D ie G uidelines und ein F all ihrer U mse t zung Die prophetische Rede kündigt eine unmögliche Zukunft an, oder sie macht aus der Zukunft, die sie ankündigt und weil sie sie ankündigt, etwas Unmögliches, das nicht in unser Erleben eingeht und das alle verlässlichen Daseinsvoraussetzungen umstürzt. Wenn die Rede prophetisch wird, ist es nicht die Zukunft, die uns gegeben ist; sondern es ist die Gegenwart, die uns entzogen wird. M aurice B lanchot40
Ein Diskurs über mögliche Risiken und Konsequenzen der Zugänglichkeit eines prädiktiven Tests zum Nachweis der HD hatte seine Anfänge 38 | H. Husquinet, G. Franck und C. Vranckx, »Detection of Future Cases of Huntington’s Chorea by the L-dopa Load Test. Experiment with Two Monozygotic Twins«, in: Advances in Neurology, 1973, I, S. 301-310. 39 | Zitiert nach: C. J. Brackenridge, »Ethical Aspects of Plans to Combat Huntington’s Disease«, in: Journal of Medical Ethics, Vol. 7, Nr. 1, Mar. 1981, S. 24-27, hier S. 25. 40 | Maurice Blanchot, Der Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur, München 1962, S. 111.
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also schon vor Abschluss der ersten Forschungsphase auf der Suche nach dem genetischen Marker im Jahr 1983 genommen. Als der indirekte GenTest dann möglich wurde, führte dies schon nach einer ersten Phase seines mehr oder weniger unkontrollierten Einsatzes im Rahmen klinischer Studien, die vor allem seine Zuverlässigkeit unter Beweis stellen sollten, zu der von Medizinern sowie Vertreterinnen der Huntington-Community geteilten Einsicht, dass es unerlässlich wäre, ein Regelwerk für seine Handhabung zu entwerfen. Die Entscheidung dazu, ein Komitee mit der Aufgabe zu betrauen, entsprechende Richtlinien zu formulieren, war 1985 bei den parallel zueinander laufenden Konferenzen der International Huntington Association und der World Federation of Neurology in Lille gefallen. Ein erster Textentwurf wurde dann vier Jahre später, im Juli 1989, in Vancouver vorgestellt. Die erste Fassung der daraufhin von einem interdisziplinären Komitee – das neben Vertretern der involvierten wissenschaftlichen Disziplinen auch Betroffene umfasste – konzipierten und redigierten Richtlinien erschien erstmals 1990. Auf die Möglichkeit des direkten Tests reagierend, wurden diese Richtlinien 1994 in überarbeiteter Fassung erneut veröffentlicht, und zwar beinahe zeitgleich in zwei führenden Zeitschriften der für die HD besonders relevanten medizinischen Fachrichtungen Genetik und Neurologie: in dem Journal of Medical Genetics und in Neurology.41 Sie weisen sich als »recommendations concerning the use of a predictive test for the early detection of Huntington’s« aus. Ihre Aufgabe, so hieß es in den einführenden Bemerkungen schon 1990, bestehe darin, »realistic ethical principles based on current knowledge and techniques in molecular genetics« bereitzustellen, um so »to govern the application of the predicitve test« und »to protect at risk subjects«. 1994 wird ein weiterer Aspekt hinzugefügt; die Richtlinien sind nun ebenso »intended to assist clinicians, geneticists, and ethical committees as well as lay organizations to resolve difficulties arising from the application of the test«. Vor dem Hintergrund der Debatte um den L-dopa-Test dürfte deutlich geworden sein, dass die Richtlinien damit vor allem das Ziel verfolgten, Schadensbegrenzung innerhalb eines von eugenischem Gedankengut dominierten Diskurszusammenhangs zu leisten.
41 | »Guidelines for the molecular genetics predictive test in Huntington’s Disease«, in: Neurology, 1994, Vol. 44, S. 1533-1536 sowie in: Journal of the Medical Genetics, Vol. 31, 1994, S. 555-559.
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Die Guidelines sind in neun Rubriken, mit je einer Reihe von Unterpunkten gegliedert und durchgehend zweispaltig gedruckt, wobei links die Empfehlungen, rechts die Kommentare zu finden sind. Abgesehen von Änderungen in der Reihenfolge sowie bezüglich der mit der Entdeckung des exakten Genlokus verbundenen neuen Gegebenheiten, bleiben die Formulierungen in beiden Fassungen relativ konstant.42 Sie definieren unter anderem präzise, wer wann und unter welchen Umständen Zugriff auf den Test hat. Vor allem aber schlagen sie eine Reihe von Funktionen und Verantwortlichkeiten vor, die im Prozedere vor, während und nach der Durchführung des Gentests selbst eine konstitutive Rolle spielen sollen. Die erste Empfehlung lautet kurz und bündig: »All individuals who may wish to take the test should be given up-to-date, relevant information so that they can make an informed, voluntary decision«. Punkt zwei legt unter anderem fest, dass »[t]he decision to take the test is solely the choice of the individual concerned« sowie dass – mit Ausnahme von Fällen der pränatalen Bestimmung des genetischen Status’ ungeborener Risikopersonen – ausschließlich volljährige Individuen dazu berechtigt sind, sich dem Test zu unterziehen. Kurz, schon eine Lektüre der ersten beiden Rubriken macht ohne Umschweife deutlich, dass das Autorenkollektiv die für den medizinethischen Diskurs – wie er zuerst in den USA im Laufe der 1960er und 70er Jahre entstanden war – konstitutiven Prinzipien von Patienten-Autonomie, Recht auf Wissen und informiertes Einverständnis zugrunde legt. Zentral wird auch darauf verwiesen, dass »individuals should not be discriminated against in any way as a result of genetic testing for HD«. Zudem wird empfohlen, dass ein speziell ausgebildeter Berater (counselor) den gesamten Testvorgang begleiten soll und zwar als Teil eines multidisziplinären Counseling-Teams, das einen Genetiker, einen Neurologen, einen Sozialarbeiter, einen Psychiater sowie eine in medizinethischen Fragen kompetente Person umfassen soll. Zu diesen Rollen kommt noch diejenige einer begleitenden Person hinzu, die, ausgesucht von der R isikoperson, in allen Stadien des Testprozederes und bei allen Terminen unterstützend präsent sein kann und soll. Punkt drei und 42 | Ich beziehe mich daher im Folgenden durchgehend auf die 1994er-Version, die auch aktuell noch in Gebrauch ist, da eine erneute Reedition im Jahre 2012 keine bemerkenswerten Veränderungen mit sich gebracht hat.
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vier führen vor allem die Rolle des Counselors in dieser Konstellation von Akteuren en Detail aus. »The counseling unit should plan with the participant a follow-up protocol that provides for support during the pre- and post-test stages regardless of whether the participant chooses a companion«. Ebenfalls in den Aufgabenbereich des Counselors fällt es, auf eine mögliche Kontaktaufnahme mit dem lokalen Huntington-Verband hinzuweisen sowie in Zusammenarbeit mit den medizinischen Spezialisten über die technischen Aspekte des Tests aufzuklären, aber auch den aktuellen Mangel therapeutischen Know-hows zu erläutern. Explizit wird darauf hingewiesen, dass er dazu angehalten ist »[i] formation on alternatives the applicant can consider«, zur Diskussion zu stellen, so etwa die Möglichkeit, »not to take the test for the time being«. Während Punkt 6 und 7 für den hier verhandelten Zusammenhang weniger relevant sind – sie diskutieren gegebenenfalls durchzuführende neurologische Vortests sowie den Fall pränataler prädiktiver Diagnostik –, ist Punkt acht absolut zentral. Mit »The test and delivery of results« übertitelt, legt er zunächst die einzuhaltende Zeitspanne von mindestens einem Monat zwischen einer ersten Konsultation und der Entscheidung für den Test fest und vermerkt, dass das Ergebnis darauf hin sobald wie möglich, an einem zuvor vereinbarten Termin, übergeben werden soll. Wie genau die Ergebniskommunikation zu gestalten ist, lassen die Richtlinien offen. Sie empfehlen allerdings, dass: »[T]he manner in which the result will be delivered should be discussed by the couseling team and the individual«. Eines legen sie unwiderruflich fest: »The results of the test should be revealed in person by the counselor to the individual and his or her companion.« Auch in der Phase nach dem Test, so Punkt 9, sollte der Counselor zumindest zu Beginn in regelmäßigem Kontakt mit der getesteten Person stehen. Die Richtlinien reagieren damit auf die mit der Existenz des prädiktiven Tests für die HD entstandene Vielzahl psychologischer, generationeller, ethischer, ökonomischer und gesundheitspolitischer Fragen. Sie dienen zumindest in allen europäischen Ländern sowie in den USA auch heute als Leitfaden der klinischen Durchführung des Tests. Wie innerhalb der diversen Institutionen sowie Gesundheits- und Krankenhaussysteme allerdings ihre je konkrete Umsetzung aussieht, hängt von einer ganzen Reihe an Parametern ab. Nicht zuletzt kommt es darauf an, wie, nicht nur personell, sondern auch disziplinär, die empfohlenen Rollen – und zentral diejenige des Counselors – besetzt werden. Ganz wie im Falle
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eines Theaterstücks variiert dies nicht nur von Land zu Land, sondern auch von Institution zu Institution.43 Die Inszenierung der Richtlinien, mit der sich Alice Rivières an einer französischen Klinik im Jahre 2003 konfrontiert sah, erwies sich für sie als hochgradig zerstörerisch. Das gesamte Prozedere stellte sich ihr als starre Routine dar. Innerhalb des pluridisziplinären Teams schien etwa der Psychologin weniger die Aufgabe zuzukommen, Alice zu beraten und zu unterstützen, als vielmehr die Pflicht, sie als Risikoperson daraufhin zu testen bzw. dahingehend zu begutachten, ob sie nach streng definierten Kriterien dazu in der Lage sein würde, ein mögliches ›positives‹ Testergebnis zu verkraften:44 »Sie zeigen nicht gerade viele Emotionen, sie müssen Ihre Gefühle rauslassen«45 lautete die implizite Botschaft, die ihr die Psychologin im Verlauf der Vorbereitungsphase auf den eigentlichen Gentest vermittelte. »Ich habe den Eindruck, es sei meine mündliche Abitur-Prüfung, als müsse man bestimmte Voraussetzungen erfüllen; es muss mir gelingen, dass sie mich als stark genug wahrnimmt, um ihre Angst davor, ich könnte mich ihretwegen umbringen zu entschärfen und zugleich muss man sich betroffen genug zeigen, um nicht als emotional verkümmert eingestuft zu werden; eine ganz schön komplizierte Parade, die es da aufzuführen gilt, aber ich kriege das ganz gut hin, schließlich räumt man mir das Recht ein, meine Ergebnisse zwei Monate nach Beginn des Protokolls zu erhalten, was so etwas wie die Auszeichnung für eine gute Schülerin ist.« 46
Am Tag des Testergebnisses nimmt Alice ihren Termin, ganz wie ihr geraten wurde, nicht allein, sondern gemeinsam mit ihren zwei besten Freundinnen wahr. Ihr Bericht über diesen Moment spricht Bände:
43 | Die deutsche Übersetzung dieser zuerst 1993 in englischer Sprache verabschiedeten Richtlinien ist online abrufbar unter www.curado.de/files/gentest_ huntington_richtlinien.pdf 44 | Diese Form der Evaluation dient nicht zuletzt als Versicherungsmaßnahme der Medizin gegen die eigene Verwandlungsmacht; begutachtet wird hier vor allem, inwiefern im Falle eines ungünstigen Ergebnisses mit einem eventuellen Suizid der Person zu rechnen ist, die ihren Genstatus zu kennen wünscht. 45 | Manifeste de Dingdingdong, a.a.O., S. 67. 46 | Ebd.
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Die Versuchung des Wissens
»Die Neurogenetikerin sprach das Urteil in Form meiner CAG-Wiederholungen aus [CAG für »Cytosin, Adenin, Guanin«. Oberhalb von 36 offenbart die Wiederholung dieses Glutamin-Tripletts auf dem rechten Arm des vierten Chromosoms die Genmutation, die HD auslöst]: 44. Keinerlei Doppeldeutigkeit ist möglich. Diese Zahl liegt eindeutig oberhalb der Grenze, die Träger der Krankheit von solchen Personen unterscheidet, die es nicht sind. Dann wendet sie sich Emmanuelle [einer der beiden Freundinnen K.S.] zu und sagt ihr, wie unerträglich das für die Angehörigen werden wird und dass sie sich schleunigst Hilfe suchen muss. Unzufrieden darüber mich verflucht zu haben, überschüttete sie nun auch noch meine Freundinnen mit ihrem Fluch.« 47
Was in Alices Bericht den radikal aggressiven Charakter der diagnostischen Situation ausmacht, ist nicht so sehr die schlichte Nennung der Anzahl der CAG-Wiederholungen, 44, und damit die Information, zweifelsfrei Trägerin des defekten Gens zu sein – dieses Gens, das sie von ihrer bereits in einem fortgeschrittenen Stadium erkrankten Mutter geerbt hat, diese wiederum von ihrem Vater, jener von seiner Mutter etc. Die Gewaltsamkeit verbirgt sich mindestens ebenso in den Gesten und Sätzen, die diese Information umgeben. Die Ärztin wendet sich von ihr ab und der sie begleitenden Freundin zu, um diese darüber zu informieren, dass die Situation für sie und alle anderen Angehörigen unerträglich werden wird. So spricht sie schon gar nicht mehr mit, sondern nur noch über Alice. Es ist also nicht – oder zumindest nicht nur – die Tatsache, dass sie ihre Mutter genetisch beerbt, die den Verfluchungscharakter der Diagnose ausmacht, sondern vielmehr der Umstand, dass dieser sicheren Prognostik eine weitere zur Seite gestellt wird, die ebenso zweifelsfrei zu definieren bzw. vorzuschreiben vorgibt, wie sich dieses Erbe manifestieren wird. Die Zukunft scheint vollendet: Die Wirkungen der Genmutation werden rein destruktiv und katastrophal sein, sie Schritt für Schritt reduzieren, und daran lässt sich leider nichts ändern – denn schließlich ist, zumindest bisher, keine Therapie für Huntington-Kranke bekannt. In der Affirmati andlungsunfähigkeit aller on einer absoluten und nicht hinterfragbaren H Beteiligten gipfelt die radikale, ›ungezähmte‹ Gewalt dieser konkreten Situation diagnostisch-prädiktiven Prophezeiens. Einige Jahre später bringt Alice die existentielle Bedrohung, die dem Gentest zum Nachweis der HD innewohnt, auf den Punkt: 47 | Ebd., S. 70f.
Erster Teil: Die vielen Leben eines Tests
»Dieser Test ist eine Maschine, die Schicksal konstruiert. Sich diesem Test zu unterziehen, heißt, der radikalen und instantanen Transformation der eigenen intimen, aus tausend einander gegenseitig zum Rauschen bringenden Blättern bestehenden Wahrheit in eine ganz einfache beizuwohnen – diejenige der medizinischen Definition.« 48
Denn, zumindest so praktiziert, vermittelt die diagnostische Situation den Betroffenen, dass ihnen im Falle eines ungünstigen Testergebnisses nur eine Option bleibt: Warten auf den Beginn des Verfalls. Schon bevor erste Symptome zu konstatieren sind, wird die Diagnostizierte im wortwörtlichen Sinne in eine Patientin verwandelt: eine geduldig Erduldende. Natürlich lässt sich der fatale Charakter der von Alice beschriebenen diagnostischen Situation nicht verallgemeinern. Dennoch zeigt ihr Fall in aller Deutlichkeit die Gefahren auf, die mit der Übersetzung zwangsläufig recht allgemein gehaltener (internationaler) Richtlinien in institutionell rektifizierte Routinen einhergehen, in Prozeduren also, die von den je konkret betroffenen Personen nicht mehr mit ausgehandelt werden können. Derart erstarrte Vorgehensweisen erweisen sich hier im Zusammenspiel mit verfestigten Annahmen nicht nur über die Wahrheit einer Krankheit und ihre Diagnose, sondern parallel dazu auch über das psychosoziale Funktionieren so genannter autonomer, informiert einwilligender Subjekte, die mit einem Recht auf Wissen ausgestattet sind, im wahrsten Sinne des Wortes als lebensgefährlich. Die Dramatik des von Alice Rivières geschilderten diagnostischen Prozesses, der in dem Sprechakt der diagnostischen Offenbarung gipfelt, reduziert die zuvor unendlich scheinenden Formen, die ein Leben potentiell annehmen kann, auf eine einzige. Eine einzige Form, die obendrein grauenhaft und hoffnungslos ist und mit unausweichlicher Sicherheit eintreten wird, ohne dass irgendjemand, weder der Arzt oder die diagnostizierte Person selbst noch ihre Angehörigen auch nur den geringsten Einfluss darauf nehmen könnten. Die fragwürdige Besonderheit einer solchen Wahrheit, mit der zwar keinerlei therapeutisches Know-how einhergeht, die aber dennoch an der Vorstellung festhält, die Medizin sei die einzig legitime Hüterin des Wissens von Krankheit, besteht darin, dass sie sich trotz der eigenen Handlungsunfähigkeit dazu autorisiert, alle anderen Wahrheiten regelrecht zu zermalmen. 48 | Ebd., S. 73.
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Alices Geschichte führt eine hochproblematische Situation vor Augen, die dazu einlädt, sie nicht nur ausgiebig und bis ins Detail zu analysieren, sondern die vor allem dazu verführt, vorschnell und einseitig die Medizin sowie die anderen involvierten Disziplinen und ihre Vertreterinnen zu verurteilen. Die eigentliche Herausforderung, mit der diese und ähnliche Situationen uns konfrontieren, scheint mir allerdings darin zu bestehen, einen Schritt weiter zu gehen und unsere begrifflichen, historischen und empirischen Forschungen auf ihr propositionelles Potential hin zu befragen. Oder bescheidener formuliert, es geht darum, die aus ihr ableitbaren Mittel dafür zu identifizieren, diese Situation nicht allein als schwierig und unerträglich zu beklagen, sondern sie vielmehr in eine Gelegenheit zu verwandeln, das Denken zugleich umzuformen und wachsen zu lassen. Denn erst wenn es gelingt, dieser sowie auch anderen ausweglos erscheinenden Situationen die Macht zuzusprechen, uns vertraute Kategorien und Denkgewohnheiten in Frage zu stellen, können wir beginnen, sie auf neue, vielversprechendere Weisen zu problematisieren. Wodurch aber zeichnet sich ein ›gut gestelltes Problem‹ aus und welche Art der Problematisierung mag sich für taktvollere Zugriffe auf die hier zentral thematisierte neue Form des Zukunftswissens als stichhaltig erweisen?
Zweiter Teil: Erkundungen D er Test – eine neue S pezies oder wie man ein P roblem konstruiert O Frankenstein, sei nicht nur anderen gegenüber gerecht und tritt nicht nur auf mir herum; auf mir, dem vor allem deine Gerechtigkeit, ja sogar deine Milde und Zuneigung gebührt! Erinnere dich daran, daß ich dein Geschöpf bin; dein Adam – und doch bin ich viel eher ein gefallener Engel, den du grundlos von jeder Lebensfreude ausgeschlossen hast. […] Wenn selbst Du mich verabscheust, was kann ich dann von deinen Mitmenschen erwarten, die mir nicht verpf lichtet sind? M ary S helley1
»Ein Problem existiert nicht unabhängig von seinen Lösungen. Weit davon entfernt zu verschwinden, insistiert es und dauert fort in seinen Lösungen. Ein Problem wird in eben dem Moment bestimmt, in dem es gelöst wird«,2 schreibt Gilles Deleuze in seinem Bergson-Buch. Problem und Lösung ko-existieren nach dieser Logik, auch wenn das eine nicht im anderen aufgeht, sie sich nicht aufeinander reduzieren lassen: »Ein Problem darf nicht mit seiner Lösung verwechselt werden, die beiden Elemente unterscheiden sich ihrer Natur nach und die Bestimmung des Problems ist wie die Genese der sie begleitenden Lösung.«3 Wenn man 1 | Mary Shelley, Frankenstein, Frankfurt a.M. 1988, S. 135. 2 | Gilles Deleuze, Henri Bergson, Hamburg 1989, S. 27. 3 | Ebd.
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ernst nimmt, was Deleuze schreibt, müsste man so weit gehen zu behaupten, es gäbe keine Probleme ohne Lösungen oder anders formuliert, nur ein gut formuliertes – und das heißt auf eine Lösung hin angelegtes – Problem verdient seinen Namen. Gemeinhin als Probleme bezeichnete Sachlagen hingegen, die außerhalb ihrer Lösungen existieren, identifiziert er im Anschluss an Bergson als ›falsche Probleme‹. Die Rolle der Philosophie aber, darauf hatte schon Bergson emphatisch hingewiesen, könne nicht darin bestehen, so genannte Probleme hinzunehmen, sich ihnen auszuliefern. Bleibe die Philosophie nämlich bei der Wiederholung bereits vorgefertigter Probleme stehen, »verurteilt [sie] sich [also] im Voraus dazu, eine fix und fertige Lösung anzunehmen oder im günstigsten Fall einfach zu wählen zwischen den zwei oder drei möglichen Lösungen, die mit der Stellung des Problems gleich ewig gegeben sind. Es würde dasselbe bedeuten, wie wenn man sagte, daß jede Wahrheit virtuell schon bekannt ist, daß ihr Vorbild gleichsam schon in einer Verwaltungskartei deponiert ist, und dass die Philosophie ein Geduldsspiel ist, bei dem es sich darum handelt, aus den Stückchen, die die Gesellschaft uns liefert, die Zeichnung zusammenzusetzen, die sie uns vorenthält. Es hieße dasselbe, wie wenn man dem Philosophen die Rolle und Haltung des Schülers zuweist, der die Lösung sucht und sich sagt, daß ein indiskreter Blick auf das Aufgabenbuch des Lehrers sie ihm zeigen würde. Aber die Wahrheit ist, daß es sich in der Philosophie und selbst anderswo weit mehr darum handelt, das Problem zu finden und es infolgedessen richtig zu stellen, als es zu lösen. Denn ein spekulatives Problem ist gelöst, sobald es richtig gestellt ist.« 4
Bergson und Deleuze halten also dazu an, auf das Vermögen des Denkens zu vertrauen, nicht so sehr auf ihm vorgängige Probleme zu antworten, als vielmehr gute Probleme zu konstruieren, die das Wirkliche ins Wanken zu bringen, zu revitalisieren in der Lage sind und somit an der Schaffung neuer Möglichkeitsräume partizipieren. Eine Situation, wie schwierig und unerträglich sie auch sein mag, ist demzufolge noch kein Problem. Gleiches gilt für eine Frage. Denn wenn wir eine Frage stellen oder uns mit einer Situation konfrontiert sehen, sind wir noch vollständig abhängig von der Realität, wie sie uns gegeben ist. Um von der passiven 4 | Henri Bergson, Denken und schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge, Hamburg 2008, S. 66.
Zweiter Teil: Erkundungen
Kraft der Frage bzw. Situation und deren Kritik zu einer aktiven Kraft überzugehen, dank derer wir verändernd auf die Realität einwirken können, genügt aber kein ›Blick ins Aufgabenbuch des Lehrers‹. Die konstruktive Problem-Arbeit kann vielmehr etwa mit dem Malen einer Landschaft, der Inszenierung eines Theaterstücks oder auch dem Schreiben einer Geschichte verglichen werden; Praktiken also, die neue Elemente schaffen und zugleich die bereits bekannten in überraschende ein- oder ausschließende, kausale oder auch Einfluss-Beziehungen zueinander bringen und damit neu disponierte Handlungsräume komponieren und Spielräume eröffnen.5 Dabei kann es sich beispielsweise schlicht um einen Begriff oder eine Abstraktion handeln, die einer Situation gleich eines Attraktors hinzugefügt werden und die in ihr versammelten Elemente in neuer Weise zueinander ausrichten respektive es ihnen erlauben, sich zu reartikulieren. Was etwa passiert, wenn eine Krankheit nicht als Fluch, sondern unter dem Vorzeichen des Auserwähltseins fokussiert wird; nicht als degenerativer Verlustprozess, sondern als Erfahrungsform mit ganz eigenen Qualitäten? Zentral für die Konstruktion eines gut gestellten Problems scheint in jedem Fall das Einhalten einer Regel des Takts. Auf eine Formel gebracht, kann ein Problem aber nur dann als taktvoll gelten, wenn es der Tendenz widersteht, die von ihm problematisierten Akteure durch zuvor festgelegte Kategorien und Kriterien zu artikulieren. Stattdessen muss es ihnen die Möglichkeit eröffnen, sich aktiv am Problematisierungsprozess zu beteiligen. Vielleicht konzentriert sich die Medizin im Falle der HD auf ein falsches Problem, ein »beängstigendes und unlösbares«6 Problem, das sich nicht auf das bezieht, »was ist, sondern auf das, was nicht ist«:7 ihre Unheilbarkeit. Damit aber stellt sie im Hinblick auf diese Krankheit die eigene Unfähigkeit, als Heilkunst aktiv zu werden, ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit und so eine Situation, die zumindest bisher ohne Lösung geblieben ist. Die Falschheit des Problems, ließe sich diese Vermutung präzisieren, beruht vielleicht auf der darin implizierten Polarisierung von heilbar und unheilbar. Folgt diese Annahme doch der allgemein anerkannten Auffassung, dass medizinische Lösungen kurativer oder zumindest – 5 | Siehe hierzu etwa: Claude de Jonckheere, 83 mots pour penser l’intervention en travail social, Genf 2012, S. 321-324. 6 | Henri Bergson, Denken und schöpferisches Werden, S. 78. 7 | Ebd.
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etwa im Falle chronischer Krankheiten – behandelnder Natur sein müssen. Fällt diese Option aus, »gehen wir […] weiter zurück von Ursache zu Ursache; und wenn wir irgendwo stehen bleiben, dann nicht, weil unsere Intelligenz nicht mehr darüber hinaus weiter suchte, sondern, weil unsere Vorstellung schließlich die Augen schließt wie vor einem Abgrund, um dem Schwindel zu entgehen.«8 Eine Relektüre des so genannten ›Kamelproblems‹ kann verdeutlichen, wie zentral das Offenhalten der Vorstellungskraft sowie aller anderen Sinne für das Gelingen einer scheinbar unmöglichen, schwindelerregenden Problem-Lösungs-Konstruktion ist. Diese Geschichte, die eine ganze Reihe von Denkerinnen9 und nicht zuletzt zwei Gründungmitglieder des Kollektivs Dingdingdong, Vinciane Despret und Isabelle Stengers, fasziniert und angeregt hat, gewinnt noch einmal eine ganz eigene Prägnanz hinsichtlich einer Krankheit wie der HD, für die die Frage der Heredität zentral ist. Bevor der Wüstenfürst Ali stirbt – so besagt die Geschichte –, beschließt er, seine Kamelherde von 17 Tieren an seine drei Söhne zu vererben. Doch er gibt ihnen zugleich ein Rätsel auf: Der Älteste bekommt die Hälfte, der Zweitgeborene ein Drittel und der Jüngste ein Neuntel der Erbschaft. Ehe Ali für immer von seinen Söhnen scheidet, müssen diese ihm zwei Dinge versprechen: kein Tier zu töten und sich bei der Erbteilung ausschließlich friedvoller Mittel zu bedienen. Nach Alis Tod stehen die Söhne vor einer unmöglichen Divisionsaufgabe. Ein Erbstreit scheint unabwendbar. Ihrem Vater treu suchen die drei Söhne in diesem Dilemma einen betagten Weisen im Nachbardorf auf und fragen ihn um Rat. Dieser sagt: »Ich kann das Problem nicht lösen. Alles, was ich tun kann, ist Euch mein altes Kamel zu geben. Es ist alt und dünn und auch nicht mehr sehr mutig, aber es wird Euch helfen, Euer Erbe zu teilen.« Die drei Brüder haben nun 18 Kamele. Der Älteste bekommt, wie vom Vater vorgesehen, die Hälfte der Herde, also neun Tiere, der Zweite
8 | Ebd. 9 | Siehe dazu: Pierre Ageron, »Le partage des dix-sept chameaux et autres exploits arithmétiques attribués à l’imam’Alî: mouvance et circulation de récits de la tradition musulmane chiite«, in: Revue d’histoire des mathématiques, 19, 2013, S. 1-41: https://irem.unicaen.fr/IMG/pdf/3pbsarabes.pdf. Meine Relektüre spinnt zentral die Interpretationen von Vinciane Despret, Ces émotions qui nous fabriquent. Ethnopsychologie des émotions, Paris 2001 weiter.
Zweiter Teil: Erkundungen
bekommt ein Drittel also sechs und der Dritte ein Neuntel also zwei. Das Kamel, das übrigbleibt, geben sie dem Weisen zurück. Die Lösung des vom Vater hinterlassenen Rätsels lässt sich keineswegs – wie es auf den ersten Blick scheinen mag – auf die schlichte Ergründung eines mathematischen Rechenwegs reduzieren. Das Rätsel fordert die drei Brüder vielmehr dazu heraus, darüber nachzudenken, was sie mit ihrem Erbe tun können. Sie müssen sich des Vertrauens würdig erweisen, das der Vater ihnen entgegengebracht hat, indem er ihnen etwas hinterließ, das sie erst noch gemeinschaftlich konstruieren müssen. Was hier auf dem Spiel steht, ist also die erfinderische Produktion eines Milieus für das Vermächtnis des Vaters, ohne dieses zu betrügen. Die Söhne erben nicht einfach 17 Kamele, vielmehr sind diese zugleich Produkte und Vehikel dieses Erbes, das sich – mithilfe des 18. Kamels – in eine Problem-Lösung verwandelt. Diese Transformation bewältigen sie allerdings nicht allein; erst indem sie ihre komplizierte, innerfamiliäre Situation öffnen, sie also gezielt ›sozialisieren‹ und sich einer außenstehenden Person anvertrauen, die der familiären Konstellation etwas hinzufügt, werden sie dazu in die Lage versetzt, sich das väterliche Erbe anzueignen. So verstandene Probleme liegen nicht auf der Straße herum, wir finden sie nicht vor. Vielmehr benötigen sie eine umsichtige und zugleich phantasievolle Konstruktionsarbeit, deren Ergebnis – die Problemstellung – alle implizierten und von ihr affizierten Akteure handlungsfähig werden lässt. In eben diesem Sinne ist die Lösung, wie es bei Deleuze heißt, ständiger Begleiter bei der Konstruktion eines Problems. Ohne noch eine konkrete Form, eine präzise Fassung zu haben, so könnte man sagen, ist sie es, die jede Arbeit am Problem anspornt und ausrichtet; die Akteure, die sie um sich versammelt, dazu verpflichtet, sich für sie zu engagieren. Wären mit dem genetischen Wissen, das den präsymptomatischen Test für die HD möglich macht, zugleich auch effiziente Formen der Therapie bzw. Prophylaxe verfügbar geworden, so hätte sich vermutlich ein Gleichgewicht hergestellt, das durchaus innerhalb einer medizinischen Logik und Praxis handhabbar gewesen wäre, so wie dies etwa für die Multiple Sklerose in den letzten Jahrzehnten möglich geworden ist. In Anbetracht des anhaltenden therapeutischen Unwissens bezüglich der Huntington-Krankheit hat sich der präsymptomatische Test allerdings seit den 1980er Jahren von einer ›unwillkommenen Nebenerscheinung‹
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und ›vorübergehenden Zwischenstation‹ in eine Hauptfigur mit ganz eigener Konsistenz und ungezähmtem Eigenleben verwandelt. Noch in einem Zeitungsinterview von 2000 sagt Nancy Wexler in Bezug auf den Test mit einer anhaltenden Unruhe: »Manchmal frage ich mich, was für eine Kreatur wir da in die Welt gesetzt haben.«10 Es scheint mir lohnenswert, diese Formulierung Wexlers beim Wort zu nehmen und ihrer Einladung zu folgen, den präsymptomatischen Test als eine neue Kreatur in den Blick zu nehmen, die zu den eingeübten epistemologischen sowie ethisch-moralischen Wissensformen hinzutritt, ein Wesen, dessen Anwesenheit die Kapazitäten dieser Praktiken und ihrer Begriffssysteme sprengt und sie dazu herausfordert, sich zu transformieren. Analog dem Auftauchen einer neuen, bis dato unbekannten Spezies innerhalb eines biologischen Milieus, bedarf die Konstruktion gut oder angemessen gestellter Probleme in Bezug auf die Verhältnisse zwischen dieser Kreatur und jenen Praxis- sowie Begriffssystemen, einer ökologischen Perspektivierung. Ganz wie in der wissenschaftlichen Ökologie von Ökosystemen, bestünde die Aufgabe einer solchen Perspektive auf das Diagnostische darin, Fragen »of process, namely, those likely to include disparate terms« zu stellen. »Like scientific ecology it could and should, for example, take into account the consequences, for a given milieu, of the appearance of a new technical practice just as it does for the consequences of climate change, or the appearance or disappearance of a new species.«11 Wenn wir den präsymptomatischen Test für die HD behandeln wie die Ökologie eine neue Spezies, die mit jeweils spezifischen Konsequenzen in die verschiedenen Ökosysteme (oikoi = Haushalte) oder Milieus (Familie, Klinik, Ethik) eindringt, dann erfordert eine Recherche, die nach Elementen zur guten Problemkonstruktion sucht es zunächst, die Genese dieser Milieus zu erkunden. Aus einer solch historisierenden Perspektive können diejenigen Praxis- und Begriffsspezies sichtbar werden, die durch die Test-Kreatur verdrängt, verschoben, ersetzt und zerstört worden sind. Ihre Aufgabe bestünde darin, die Werte, Evaluationsformen und Bedeutungsproduktionen jeder einzelnen Praxis zu begreifen 10 | Das in der ZEIT erschienene Interview ist nachzulesen unter: www.zeit. de/2000/42/Wissen_ist_Ohnmacht/komplettansicht 11 | Isabelle Stengers, Comopolitics I, Minneapolis 2010, S. 33, apropos der von ihr vorgeschlagenen ›Ökologie der Praktiken‹.
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und darüber Rechenschaft abzulegen, inwiefern, wie und unter welchen Umständen sie für jemanden von Bedeutung sind, der in ihrem Namen spricht oder agiert. Eine so verstandende ›Ökologie der Praktiken‹ lässt sich weder auf eine Perspektive des Urteilens noch der Toleranz reduzieren. Weder eine Perspektive, die sich selbst dazu autorisiert, auf Basis genereller Annahmen die jeweilige Praxis zu be- oder verurteilen, ohne sich auf ihr spezifisches Wert-Fakt-Universum einzulassen, noch eine Perspektive des ›anything goes‹. Die Aufgabe beim Betrachten von Praktiken bestünde für Ökologinnen vielmehr darin, die je spezifischen Bedingungs- und Verpflichtungszusammenhänge ernst zu nehmen, in die jede konkrete Praxis eingespannt ist und sie auf der Grundlage dessen, was für sie zählt, nicht entsprechend allgemeiner Rationalitätsideale zu (be-)werten.12 Wie gesagt, verführt die Szene der Diagnose-Übermittlung an Alice Rivières allzu leicht dazu, die Verantwortung für den fraglosen Fehlschlag ihrer Durchführung ausschließlich auf Seiten der Medizin, und mehr noch, der ganz konkreten darin involvierten Praktikerinnen, zu suchen. Der entscheidende Vorteil einer ökologischen Sichtweise liegt demgegenüber darin, dass sie uns dazu zwingt, innezuhalten, zu zaudern und genauer hinzusehen statt vorschnell zu (ver-)urteilen. Denn sie fordert dazu heraus, uns der Kreatur Schritt für Schritt aus ganz verschiedenen Perspektiven anzunähern, aus den Perspektiven all derjenigen Akteure und ihrer Praktiken nämlich, für die sie auf die eine oder andere Weise relevant ist, auch wenn ihre Wert-Fakt-Universen alles andere als kongruent sind. Vor diesem Hintergrund kann dann gefragt werden, was die vielfältigen Ungezähmtheiten dieser Kreatur genau ausmacht? Welche Fäden der Entregelung laufen in ihr zusammen oder werden durch sie verkörpert? Und weitergehend: Wie ließe sich ein Diagnosemilieu fabulieren und herstellen, das zumindest erste Elemente beinhaltet, von denen aus die Betroffenen – Patienten, Ärztinnen, Angehörige und Pflegende – beginnen können, von einem Zustand passiver Perplexität zur aktiven Konstruktion ihres Problems überzugehen? Wie kann es gelingen, eine Ökologie des 12 | Siehe für eine Auseinandersetzung damit auch Karin Harrasser und Katrin Solhdju, »Wirksamkeit verpflichtet. Herausforderungen einer Ökologie der Praktiken«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, 2016, Nr. 14, Medienökologien, S. 72-86.
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Diagnostischen zu kultivieren, die alle involvierten Akteure in die Lage versetzt, möglichst handlungsfähig zu werden?
R eprise Es müssen also Kamele her, Kamele, die handlungsfähig machen, insofern sie dem Milieu der Kreatur namens Huntington-Gentest etwas hinzufügen, das es erlaubt, dieses vereinsamte Wesen gebührlich in Empfang zu nehmen, es hegen und schätzen zu lernen und zugleich zu zähmen.13 Kamele also, deren konstruktive Funktion nicht erst dort einsetzt, wo es um Schadensbegrenzung in Bezug auf die zerstörerischen Effekte bereits durchgeführter Tests und verkündeter Befunde geht, sondern die uns vielmehr Schritt für Schritt dazu in die Lage versetzen, das Milieu der Test-Kreatur künftig neu zu konfigurieren. Bleibt die Frage, wo wir diese Kamele hernehmen sollen. Denn sie halten sich nicht selten an Orten auf, die durch Unwägbarkeiten die Suchbewegung erschweren. Ganz wie bei dem Unternehmen, auch die entlegensten Stellen eines unbekannten Geländes auf mögliche Wege und Verstecke hin zu erkunden, ohne sich dabei heillos zu verlaufen, wird es hilfreich sein, meinen Faden an einer strategisch relevanten Stelle festzubinden und ihn hinter mir abrollend vorwärts zu laufen, um so gegebenenfalls immer wieder zum Ausgangspunkt zurückzufinden. Als ein solcher Fixpunkt soll im Folgenden der Moment dienen, in dem Alice Rivières 2003 ihr Testergebnis mitgeteilt wird und als Gelände die moderne Medizin: »Die Neurogenetikerin sprach das Urteil in Form meiner CAG-Wiederholungen aus: 44. Keinerlei Doppeldeutigkeit ist möglich. Diese Zahl liegt eindeutig oberhalb der Grenze, die Träger der Krankheit von solchen Personen unterscheidet, die es nicht sind. Dann wendet sie sich Emmanuelle [einer der Freundinnen K.S.] zu und sagt ihr, wie unerträglich das für die Angehörigen werden wird und dass sie sich schleu-
13 | Siehe zu der Notwendigkeit, unsere Technologien zu umsorgen: Bruno Latour, »Love Your Monsters«, online abrufbar unter: http://thebreakthrough.org/index. php/journal/past-issues/issue-2/love-your-monsters
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nigst Hilfe suchen muss. Unzufrieden darüber mich verflucht zu haben, überschüttete sie nun auch noch meine Freundinnen mit ihrem Fluch.«14
Die ›reine‹ genetische Information, die sich hinter der Zahl 44 verbirgt, besagt, dass bei Alice 44 Wiederholungen des CAG-Glutamins auf dem kurzen Arm des vierten Chromosoms und genauer auf dem Lokus für das Huntington-Gen festgestellt wurden und dass sie damit Trägerin der genetischen Mutation ist, die zur Huntington-Krankheit führt. Bei dem Wissen um diesen Grenzverlauf handelt es sich um eines, das die anwesenden Personen – spätestens seit den vorausgehenden Beratungsgesprächen mit einem Vertreter der Neurogenetik – miteinander teilen und das daher nicht weiter erklärt werden muss. In dem was folgt aber, dass sich nämlich die Neurologin von Alice ab- und Emanuelle zuwendet, um ihr mitzuteilen, dass es für alle Beteiligten unerträglich werde und sie sich schleunigst Hilfe suchen sollten, wird die genetische Information der Trägerschaft durch eine einfache Geste und scheinbar ohne Registerwechsel in eine Erklärung der zukünftigen Effekte dieser Trägerschaft umgemünzt. Ganz so, als handele es sich bei der persönlichen Erfahrung mit den noch dazu von Fall zu Fall extrem variablen Effekten der HD, deren symptomatischer Beginn zudem in den Sternen steht, und der genetischen Information »44« um dieselbe Art stabilen, faktischen Wissens. Zwei Prognosen werden hier aneinandergeheftet, als würden sie dieselbe Art neutralen Wissens kolportieren, als gehörten sie ein und demselben Register an: »44« und »es wird unerträglich werden«. Keinerlei Zögern oder Zaudern, das offen ließe, auf welche Weise und mit welchen Mitteln Alice, Emanuelle und andere Angehörige das, was ihnen zustoßen wird, gemeinsam kultivieren, sich aneignen und damit komponieren werden. Das übergebene Erbe wird nicht als Rätsel formuliert. Im Gegenteil, die Zahl 44 nimmt hier die Form eines Fluches mit unerbittlich sicheren Folgen an. Wie aber lässt sich analytisch präzisieren, was nun beginnt, sich als die gefährliche Annäherung zweier fundamental zu unterscheidender Register abzuzeichnen? John Austins Unterscheidung zwischen konstativen und performativen Sprechakten gibt ein erstes Instrument an die Hand, wenn es darum geht, den Skandal der Situation besser zu umreißen. Eine konstative Äußerung zeichnet sich ihm zufolge nämlich dadurch aus, dass sie etwas benennt, das »grundsätzlich verifizierbar [ist]. Wenn sie sich auf die 14 | Manifeste de Dingdingdong, a.a.O., S. 70f.
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Zukunft bezieht, wird aus der Feststellung eine Prognose. […] Dagegen ist eine performative Äußerung, obwohl auch sie etwas aussagt, weder verifizierbar noch zeitlich bestimmbar.«15 Da Performativa etwas tun, anstatt nur etwas zu sagen, werden sie von Austin als Handlungsvollzüge definiert. Performativa sind nicht wahr oder falsch, sondern erfolgreich oder nicht, ›geglückt‹ oder ›missglückt‹. Das fraglos bekannteste Beispiel für einen solchen Sprechakt ist der Satz: ›Hiermit erkläre ich Euch zu Mann und Frau‹ der – durch einen Geistlichen oder Standesbeamten ausgesprochen – mit der augenblicklichen Metamorphose der Adressaten in Eheleute einhergeht. In diesem Vokabular lässt sich dann sagen, dass in der Resultatverkündung gegenüber Alice Rivières zumindest unter der Hand eine keineswegs unverfängliche Vermischung dieser grundsätzlich unterschiedenen Sprechakttypen am Werke ist. Angesichts dieser Ambiguität ist es aber absolut unerlässlich, jedes konstativ-prognostische Sprechen auf seinen performativen Überschuss hin unter Kontrolle zu halten, riskiert es doch, in Situationen, wie sie hier auf dem Spiel stehen, allzu schnell den Charakter einer self-fulfilling prophecy anzunehmen. Es sind vielleicht die Texte des Alten Testaments, die am eindrücklichsten verdeutlichen, wie schwerwiegend Gefahren sein können, die der Macht prophetischen Sprechens inhärent sind. Das Buch Jeremia etwa, dessen gesamter Textvollzug zentral um die Frage nach dem Unterschied zwischen richtiger und falscher Prophetie kreist, berichtet unter anderem von dem Moment, in dem Jeremia Hananja seinen baldigen Tod prophezeit: »Darum – so spricht der Herr: Siehe: Ich schaffe dich vom Erdboden fort. Noch in diesem Jahr bist Du tot.« (Jer 28,16) Zwei Monate später stirbt Hananja. Daher scheint es sich bei Jeremias Prophezeiung auf den ersten Blick um eine prognostische Prophetie zu handeln, eine Prophetie also, die frühzeitig etwas konstatiert, das in jedem Fall eintreffen wird und über das der Gottgesandte lediglich im Vorhinein Bescheid weiß und informiert. »Auf den zweiten Blick zeigt sich allerdings, dass Jeremia hier kein überlegenes Wissen um die Zukunft, sondern seine sprachliche Übermacht zur Schau stellt. Denn es ist nicht klar, ob Hananja auch gestorben wäre, wenn Jeremia seine Pro15 | Herbert Marks, »Der Geist Samuels. Die biblische Kritik an prognostischer Prophetie«, in: Stefan Willer und Daniel Weidner, Prophetie und Prognostik. Verfügungen über Zukunft in Wissenschaften, Religionen und Künsten, München 2013, S. 99-121, hier S. 105f.
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phezeiung nicht verkündet hätte […]. Bereits im und durch das ihn persönlich betreffende Wort, das Jeremia nicht an, sondern auf Hananja richtet, erfüllt sich die Prophezeiung: sie auszusprechen heißt, sie unmittelbar in die Tat umzusetzen.«16
Denn Pro-pheten sprechen nicht nur über die Zukunft, also nach vorne (pro) gerichtet, sie sprechen vielmehr immer auch für (pro) und das heißt im Namen von jemandem oder etwas, das ihre Rede autorisiert – handele es sich um eine göttliche Macht oder die Wissenschaft. Wenn wir dabei stehen bleiben, das offensichtlich nicht besonders ausgeprägte Kommunikationsgeschick der Ärztin im Fall Alice Rivières zu beklagen, zu kritisieren und zu denunzieren, bleibt uns nichts anderes übrig, als das Misslingen dieser diagnostischen Situation an persönlichen Mängeln festzumachen. Demgegenüber scheint mir eine symptomatische Lektüre angezeigt, die darauf abzielt, die Wissens- und Informationsregime genauer in den Blick zu nehmen, die diese Situation konstituieren. Die Geste, mit der die Medizinerin sich von Alice abwendet, indiziert die Passage von einem konstativen (»44«) zu einem zumindest potentiell performativen (»es wird unerträglich werden«) Sprechen. Anders allerdings als im Falle Jeremias, der weiß, dass er im Namen Gottes spricht und daher auf die performierende Macht seiner Rede vertrauen kann, gleitet die Praktikerin in dieser ohnehin schon prekären Situation und zwar im Namen ihrer professionell und deontologisch verbrieften Verpflichtung, ihre Gesprächspartner ›objektiv‹ zu informieren, unversehens ins performative Register ab. Ein Blick in die Ratgeber-Literatur von Medizinern für Mediziner, auf die ich bereits angespielt habe, bestätigt den typischen Charakter dieses verschleierten Registerwechsels. Ob Breaking Bad News oder Das schwere Gespräch, zeugen diese Schriften von einer Art totem Winkel, dessen konsequente Ausblendung ihre Reflexionen über die eigene Praxis zu hemmen scheint. Dieser besteht, kurz gesagt, in der geteilten impliziten Annahme, es handele sich bei dem weiterzugebenden diagnostischen Wissen um an sich neutrale Fakten, wenn auch mit wertgeladenen Effekten. Diese Annahme wirkt in dem analog zum neutralen Wissen konzipierten Informationsbegriff weiter, dem zufolge Diagnosen in konstativen Sprechakten ihren adäquaten Ausdruck finden. Das Recht eines Patienten auf Wissen und freie Wahl, das in ethischen und juristischen 16 | Ebd., hier S. 107f.
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Zusammenhängen unter dem Label des informierten Einverständnisses in Umlauf ist, folgt derselben Logik: Mediziner verfügen über an sich wertfreies diagnostisches Wissen, das mit wissenschaftlichen Mitteln der objektiven Faktenproduktion etwa im Labor hergestellt wird und über das sie ihre Patienten ebenso unverfälscht unterrichten müssen wie über gegebenenfalls mögliche, verschiedene Behandlungsoptionen.17 Das heißt natürlich nicht, dass die Form der Vermittlung dieser Tatsachen keine Rolle spielt. Ganz im Gegenteil, Mediziner sind dazu angehalten, Informationen empathisch, einfühlsam, patientengerecht etc. zu ver- und übermitteln. Dann ist aber die Psychologie oder eher noch das psychologische Geschick des Einzelnen dafür zuständig und verantwortlich, was jenseits der objektiven Fakten lauert. Die Medizin selbst ist von diesen unheimlichen Begleitern entlastet, nicht aber ihre Praktikerinnen. Denn wenn diagnostische Fakten als Informationen und damit als neutrale, wertfreie Entitäten konzipiert werden, dann kann einzig das persönliche, von Mediziner zu Medizinerin zwangsläufig stark variierende Kommunikationsgeschick bewertet werden. Aktuell findet die Notwendigkeit eine gewisse Patientennähe bzw. empathische Haltung (wieder) zu erlernen durchaus Anerkennung: So wird psychologische Feinfühligkeit etwa im Rahmen des Medizinstudiums in pädagogisch ambitionierten Rollenspielen trainiert und unterrichtet. Trotz guter Intentionen entpuppen sich diese Anstrengungen jedoch häufig eher als Trostpflaster, die die Ränder der Wunde mehr recht als schlecht zu bedecken wissen denn als wahrhaftige Anstöße, das (Um-)Denken im Kontakt mit diesen Situationen wachsen zu lassen. Und diese Lage wird sich vermutlich zumindest solange nicht verändern, als die Medizin an einen Wissensbegriff gebunden bleibt, mit dem sie spätestens seit dem 19. Jahrhundert begonnen hat, ihren Vorbildern in Sachen idealer wertfreier Wissenschaft, der Physik und der Chemie nachzueifern – eine Entwicklung, die derzeit im Dogma von der evidenzbasierten Medizin gipfelt. Die Geste, mit der die Medizinerin im Fall Alices die genetische Information und das Horrorszenario des Krankheitsverlaufs miteinander identifiziert, mag man dann nicht länger einzig dem psychologischen 17 | Diese Denkbewegung spiegelt die moderne Trennung von Krankheit und Patient wieder, die George Canguilhem als Gründungsgeste der Medizin als wissenschaftlicher Disziplin bezeichnet hat. Siehe Ders., Écrits sur la médecine, Paris 2002.
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Ungeschick oder, radikaler gesprochen, der habituell gewordenen Unmenschlichkeit einer einzelnen Person zuzuschlagen geneigt sein, die tagtäglich diese und ähnliche lebensverändernde Diagnosen prophezeit. Vor dem Hintergrund einer Auseinandersetzung mit einigen zentralen Aspekten der Geschichte moderner Medizin und Diagnostik lässt sie sich vielmehr als Kristallisationspunkt begreifen, in dem eine ganze Reihe impliziter, selbstverständlich gewordener Annahmen in geronnener Form vorliegen. Das heißt keineswegs, dass die Entscheidung dafür, die Szene angesichts einiger Aspekte der Geschichte der modernen Medizin noch einmal auszuloten, darauf zielt, das Verhalten dieser konkreten Ärztin in dieser konkreten Situation zu rechtfertigen oder zu relativieren. Wohl aber geht es mir darum, ihr (Fehl-)Verhalten als in vielerlei Hinsicht kohärente Folge einiger zentraler, die moderne medizinische Wissensproduktion begründender Operationen zu reflektieren, die, zur Selbstverständlichkeit geworden, aus unserem Blickfeld zu verschwinden drohen.
E rstes G el ände : D ie Trennung des K r anken von seiner K r ankheit »Die heutige Medizin«, heißt es bei Georges Canguilhem, dessen Arbeiten zur Geschichte der Medizin die folgenden Überlegungen maßgeblich anleiten, »hat sich mit einer Effektivität, die man ihr zugestehen muss, auf der progressiven Trennung der Krankheit von dem Kranken errichtet und sie hat dabei eher gelernt, den Kranken durch die Krankheit zu charakterisieren als ausgehend vom Kranken eine Krankheit anhand spontan auftretender Symptombündel zu identifizieren.«18 Oder genauer, die zunächst heuristische Abtrennung des Kranken von seiner Krankheit und ihrer gleichzeitigen Identifikation im Sinne diagnostischer und therapeutischer Methoden hat unter der Hand eine Tendenz zur radikalen Entpersonalisierung in der Klinik nach sich gezogen; eine Beobachtung, die besonders in unter Medizinern geläufigen Redeweisen wie ›Die Lungenentzündung in Zimmer 12‹ oder ›Der Blinddarm im Aufwachraum‹ zum Ausdruck kommt. Aber wie kam es zu dieser durchaus nicht selbstverständlichen Trennung? Die vormoderne Medizin – und damit ihre Krankheitsbegriffe – richtete sich auf den je singulären Kranken, dessen 18 | Ebd., S. 35.
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Symptome sowohl ihr diagnostisches als auch therapeutisches Vorgehen anleiteten. Anders die moderne Medizin. Im Zuge ihres Strebens nach Wissenschaftlichkeit begann sie zunehmend, ihre Bemühungen um das zentrale Ziel herum zu organisieren, stabile und das hieß vom individuellen Organismus relativ unabhängige Krankheitseinheiten zu definieren, zu benennen und zu kategorisieren – und zwar sowohl in diagnostischer als auch therapeutischer Hinsicht. Krankheiten wurden im Zuge der Etablierung der Medizin als Wissenschaft unter anderen Wissenschaften zu Entitäten mit Eigenleben, mit einer relativ autonomen Existenzweise jenseits der konkreten Körper, in denen sie auftraten und mehr noch jenseits der Personen, die von ihnen betroffen waren. Nur so ließ sich ein gewisser universeller Anspruch medizinischen Wissens etablieren. Im Rahmen dieser Bemühungen wurde der je konkrete Patient zu einem Fall im eigentlichen Sinne, eines Besonderen nämlich, von dem aus sich aufs Allgemeine, die objektive Natur dieser oder jener Krankheit, sowie ihren Verlauf schließen ließ: ihre Naturgeschichte. Erst wenn diese detailliert und möglichst unzweideutig beschrieben war, konnte eine solche Definition die Wiedererkennung dieser oder jener Krankheit anhand der ihr eigenen Symptome und Zeichen anleiten. Zum anderen aber konnten jetzt an neuen Fällen gemachte Beobachtungen diese Definitionen erweitern, präzisieren und gegebenenfalls auch widerlegen. Zwar wurde innerhalb der Medizin die Adäquatheit eines solchen – vor allem im Bereich von Physik und Chemie operationellen und diesen Disziplinen entliehenen – Modells der Wissens- und Evidenzproduktion für die eigene Praxis seither regelmäßig infrage gestellt. So bemerkte etwa John Robertson schon 1827: »Whether a nosological arrangement, the fruit of modern pathology, is a hopeless expectation, remains yet to be seen.« Denn: »The degree to which diseases are modified by constitution, season, climate, and an infinite variety of accidental circumstances renders it at least doubtful.«19 Allerdings sollte sich eine Sicht durchsetzen und institutionell verfestigen, die dem Einfluss der Umwelt oder den multiplen Milieus jeder Krankheit, deren Einzigartigkeit von Organismus zu Organismus, von Person zu Person und von Ort zu Ort nur wenig Relevanz einräumte und für ihr Gelingen stattdessen ganz auf die zentrale 19 | Zitiert nach: Charles E. Rosenberg, Our Present Complaint, Baltimore 2007, S. 17f.
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Rolle eindeutiger und unabhängiger Ätiologien und Nosologien setzte. In diesem Sinne vertrat etwa der britische Mediziner Thomas Trotter 1804, dass »[t]he name and definition of a disease are perhaps of more importance than is generally thought. They are like a central point to which converging rays tend: they direct future inquirers how to compare facts, and become, as it were, the base on which accumulating knowledge is to be heaped«.20 Solche Namen und Definitionen aber konnten erst auf der Grundlage klarer klinischer Zeichen, die als Ursachen identifiziert wurden und ihnen korrespondierender diagnostischer Methoden vergeben und aufgestellt werden. Ganz nach dem Vorbild physikalischer Experimente sollten diese universell gültig, und das heißt von Raum und Zeit ebenso unabhängig sein, wie von den involvierten Experimentatoren bzw. Medizinern und ihren Patienten. Das heißt, es galt Methoden und Technologien zu entwickeln, die nicht nur die subjektiven Wahrnehmungen der Mediziner für zweitrangig erklärten, sondern die ebenso die persönlichen Auskünfte von Patienten bestenfalls als richtungsweisend, nicht aber als zentrale Elemente auf dem Weg zur diagnostischen Erkenntnis gelten lassen würden. Patienten mussten wie Objekte ins Visier genommen werden, Mediziner – wie Experimentatoren im Labor – eine distanzierte Haltung kultivieren, die ihnen die Glaubwürdigkeit von Produzenten wertfreier, vom forschenden Subjekt unabhängiger Tatsachen verlieh. Spätestens seit Galileo gilt für die moderne Definition eines wissenschaftlich einwandfreien Experiments eine distanzierte Haltung als konstitutiv. Als maßgeblich muss dabei der Moment erachtet werden, in dem sich der Experimentator von der Experimentalanordnung, die er geschaffen hat, zurückzieht. Erst diese Geste des Rückzugs autorisiert das Experiment als Wahrheitsereignis. Denn sie zeigt, dass es der Person des Experimentators für das Gelingen seines Experiments keineswegs bedarf, sie ist transparent und die Natur spricht für sich selbst.21 Wenn sich der diagnostisch-therapeutische Prozess auf ein solches Ideal von Wissenschaftlichkeit verpflichtet, das auf distanzierte Neutralität setzt, nimmt damit der Mediziner aber strenggenommen die Rolle des Experimentators ein, der sich entsprechend bezüglich des von ihm 20 | Ebd. 21 | Siehe dazu eindrücklich: Isabelle Stengers, Die Erfindung der modernen Wissenschaften, Frankfurt a.M. 1997.
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untersuchten Objekts möglichst transparent machen muss. Er schiebt zwar einen Prozess an, indem er zum Beispiel ein Medikament verordnet, zieht sich dann aber auf einen abwartenden Beobachterposten zurück. Im gleichen Zuge verwandelt sich der Patient in einen Ausschnitt der Natur; sein Körper bringt jetzt, etwa in Form automatisch geschriebener Puls-, Blutdruck- und Atemfrequenzkurven, ganz ohne im eigentlichen Sinne zu sprechen, die Effekte einer gut anschlagenden Medikation zum Ausdruck. Im Zentrum eines solchen Vorgehens stehen denn auch weniger Patienten mit ihren Erfahrungen und Leiden als vielmehr Krankheitseinheiten, Funktions- und Verlaufsmechanismen sowie deren Reaktionen auf die je gegen sie ins Feld geführten Therapiemaßnahmen. »Krankheit verweist eher auf Medizin als auf Leiden. Wenn ein Mediziner von der Basedowschen Krankheit spricht, und das heißt von einem Exophtalmus, bezeichnet er damit eine endokrinologische Dysfunktion. Die Formulierung der Symptome, die ätiologische Diagnose, die Prognose sowie die therapeutische Entscheidung stützen sich dabei allesamt auf eine Folge klinischer und experimenteller Forschungen in deren Verlauf die Kranken nicht wie Subjekte ihrer Krankheit, sondern wie Objekte behandelt worden sind.« 22
Was hier von Canguilhem als Verdinglichung apostrophiert wird, erweist sich zunächst als eine Art unwillkommener Nebeneffekt der Durchsetzung einer fraglos in vielerlei Hinsicht effizienten Epistemologie und auf die von ihr angeleiteten Praktiken. Zugespitzt formuliert sind Patienten innerhalb dieses Regimes nicht länger die eigentlichen Gegenstände der Medizin.23 Denn bei den Methoden und ihren materiellen Korrelaten, die es ermöglichen, generalisierbare Fakten zu produzieren, handelt es sich in wachsendem Maße um solche, die schon für ihr materiell-technisches Gelingen der immer weiter anwachsenden Distanz zwischen Arzt und Patient bedürfen und zwar insofern ihre Anwendung eines direkten Kontaktes immer weniger bedarf. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beginnt sich mit Präzisionsinstrumenten wie Stethoskop und 22 | Canguilhem, Écrits sur la médecine, a.a.O., S. 35. 23 | Eine solche Haltung wird etwa in der Fernsehserie Dr. House auf die Spitze getrieben. Hier wird dem Zuschauer auch die fundamentale Ambivalenz dieses Regimes vor Augen geführt, das konstitutiv zwischen beeindruckender Effizienz und dem Ausfall menschlicher Verbindungen oszilliert.
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Thermometer eine Kluft zu öffnen, die mit dem Einsatz von Blut- bzw. Urinchemie, Mikroskopie und nicht zuletzt durch die Institutionalisierung der klinisch pathologischen Konferenz stetig anwuchs. Letztere hatte bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert die systematische Korrelation der Symptome eines Kranken zu Lebzeiten mit den pathologischen bzw. Obduktionsbefunden betrieben und damit »underscored the ultimate meaningfulness of discrete disease entities and the social centrality of their diagnosis by focusing on the connection between clinical signs and postmortem appearances«.24 Ab den 1920er Jahren wird diese etablierte Praxis durch Blutdruckmessgeräte, Elektrokardiogramm und -enzephalogramm, aber auch durch die Röntgentechnik erweitert. Sie alle, wie auch ph-Wert-Messungen, Blutzellenzählungen und nicht zuletzt genetische Tests, bringen die von Canguilhem auf den Punkt gebrachte, uns allzu selbstverständlich gewordene Trennung des Kranken von seiner Krankheit überhaupt erst hervor und reproduzieren sie zugleich von Fall zu Fall immer wieder aufs Neue. Denn den genannten diagnostischen Methoden und Technologien ist eines gemein: Sie basieren auf der Annahme, dass der abgehörte Körperausschnitt, die herausgetrennte Biopsieprobe, der ausgeschiedene Urin, das abgenommene Blut oder das ins Bild gesetzte Körperinnere den Organismus repräsentieren und zugleich die Krankheit unabhängig von ihm detektierbar machen. »Allenthalben erweist sich die Wissenschaftlichkeit des ärztlichen Tuns in der symbolischen Ersetzung des Sprechzimmers durch das Versuchslabor. Gleichzeitig verändert sich der Maßstab der Darstellungsebene für Krankheitserscheinungen und verschiebt sich vom Organ zur Zelle und von der Zelle zum Molekül«,25 dann weiter vom Molekül zum Gen.
Z weites G el ände : D iagnose als D atierung Die immer kleineren Einheiten, deren spezifische Beschaffenheit und Konstellation auf diese oder jene Krankheit verweisen bzw. sie anzeigen, konnten ihre Funktion als Repräsentanten des Gesamtorganismus nur dadurch wahrnehmen, dass sich parallel zu den an ihnen entwickelten 24 | Rosenberg, Our Present Complaint, a.a.O., S. 23. 25 | Georges Canguilhem, Grenzen medizinischer Rationalität. Historisch-epistemologische Untersuchungen, Tübingen 1989, S. 75f.
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diagnostischen Methoden ein mechanistischer Krankheitsbegriff herausbildete. Erst dieses Zusammenspiel definiert dann auch, was innerhalb einer solchen medizinischen Logik von diagnostischem Sprechen zu erwarten ist: Es wird zu einer Praxis der Datierung, die das Eintreten des Patienten in die Chronologie des jeweiligen klinischen Verlaufs seiner Krankheit markiert. In der vormodernen Medizin wurden Krankheiten anhand individuell auftretender Symptome identifiziert und blieben damit flüchtig, idiosynkratisch und labil. »Diseases were seen as points in time, transient moments during a process that could follow any one of a variety of possible trajectories.«26 Im Gegensatz dazu waren Krankheiten gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu klar definierten Einheiten geworden, die sich durch zweierlei auszeichneten. Sie hatten einen mehr oder weniger eindeutig umrissenen Mechanismus und einen klinischen Verlauf. Diese Sichtweise hatte im Zusammenhang einer Medizin ihren Anfang genommen, die sich in zunehmendem Maße für Infektionskrankheiten interessierte und – dank der bakteriologischen Entdeckungen etwa von Louis Pasteur in Frankreich und Robert Koch in Deutschland – begann, deren Verläufen effizient entgegenwirken zu können. Allerdings, schreibt Rosenberg, »[p]erhaps more fundamentally, germ-theories constituted a powerful argument for a reductionist, mechanism-oriented way of thinking about the body and its felt malfunctions. These theories communicated metaphorically the notion of disease entity as ideal type, abstracted from its particular manifestations«.27 Die zunächst mit Blick auf infektiöse Krankheiten entwickelte Konzeption wurde allerdings schnell und ohne Vorsichtsmaßnahmen bezüglich der möglichen Auswirkungen einer solchen Übertragung auch für alle anderen Krankheitstypen zum Modell. Jeder nosologisch klar beschriebenen Krankheit korrespondierte jetzt »a natural history that – from both the physician’s and the patient’s perspective – formed a narrative. The act of diagnosis inevitably placed the patient at a point on the trajectory of that predetermined narrative«.28 Der ideale diagnostische Akt bestand entsprechend darin, den Patienten in Elemente zu unterteilen, von denen ausgehend es möglich werden sollte, seinen Zustand auf dem Zeitstrahl der mehr oder weniger eindeutigen Chrono26 | Rosenberg, Our Present Complaint, S. 18. 27 | Ebd., S. 19. 28 | Ebd.
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logie einer spezifischen Krankheit, ihrer so genannten Naturgeschichte, zu verorten. Diese Entwicklung ist auch als eine Verschiebung der diagnostischen Aufmerksamkeit weg von Symptomen und hin zu diskreteren Zeichen oder Signa beschrieben worden: »Die Erfindung des Stethoskops und die im Traité (d’auscultation von Laennec) von 1819 kodifizierte Praxis der indirekten Auskultation führten nämlich dazu, daß das Symptom hinter dem Signum verschwand. Das Symptom wird präsentiert, dargeboten vom Kranken. Das Signum wird gesucht und gefunden durch ärztlichen Kunstgriff. Von nun an wird der Kranke als Träger und häufig auch Kommentator von Symptomen gleichsam eingeklammert. Es kommt ja vor, daß das Signum die Krankheit offenbart, noch ehe ein Symptom sie ahnen läßt.« 29
Was diese Variante präsymptomatischer diagnostischer Früherkennung nicht zuletzt verdeutlicht, ist, dass der Patient als Person, als jemand, der eine Krankheit erleidet, zumindest für die medizinische Wissenskonstruktion und deren epistemischen Status eine zunehmend weniger zentrale Rolle spielt. Diese Entwicklung spitzt sich noch zu, als man zu Beginn des 20. Jahrhunderts, zunächst in Bezug auf den Typhus, einen neuen Patiententypus entdeckt: den gesunden Träger einer Krankheit. Ein Konzept, das im Zusammenhang der genetischen Forschung an Tragweite gewinnen wird. Diese Kranken sind Zeitbomben, im einen Fall für ihre gesamte Umgebung, im anderen für ihre Nachkommenschaft. Und diese »infizierten aber symptomfreien Individuen, diese ›versteckten‹ Träger gilt es aufzuspüren«.30 Die Ausblendung oder – wie Canguilhem es nennt – ›Einklammerung‹ des Patienten zugunsten einer Konzentration auf die Krankheiten selbst muss dann als eine der konstitutiven Existenzbedingungen moderner, wissenschaftlicher Medizin gelten; die Konzeption und Umsetzung einer Gesundheitsvorsorge, deren Gegenstände nicht länger Individuen, sondern vielmehr statistisch zu bewältigende Bevölkerungen bildeten, als eine andere.
29 | Canguilhem, Grenzen medizinischer Rationalität, a.a.O., S. 75. Siehe zu dieser historischen Verschiebung ausführlich auch: Michel Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt a.M. 1988. 30 | Jean-Paul Gaudillière, La médecine et les Sciences. XIX et XX siècles, Paris 2006, S. 44 (Übersetzung K.S.).
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Innerhalb eines so zugeschnittenen Wissensregimes können entsprechend einzig solche Krankheitszustände diagnostiziert und behandelt werden, die, ob bereits symptomatisch oder nur in diskreteren Zeichen präsent, einer mechanistisch-kausalen, kalkulierbaren Logik gehorchen. Leiden, die dies nicht tun, werden von nun an zu ›eingebildeten‹ – seit den 1930er Jahren auch ›psychosomatisch‹ genannten – Krankheiten degradiert, der Psychologie zugewiesen und damit aus dem Zuständigkeitsbereich der Medizin im strengen Sinne ausgeschlossen. Als ebenso wenig handhabbar erweisen sich Krankheiten, die sich zwar erklären und detektieren lassen, für die aber (noch) keine therapeutischen Vorgehensweisen bekannt sind oder die ein Stadium erreicht haben, das den Kranken zum Sterbenden macht. Zwingen sie doch die Medizin dazu, sich ihre eigenen Grenzen zumindest bewusst zu machen. Allzu oft ziehen solche Diagnosen allerdings den beharrlichen Einsatz langwieriger, wenn auch aussichtsloser Therapieversuche nach sich. Vor dem Risiko, auf diese Weise nicht mehr zu leisten als das Leiden von Patienten künstlich in die Länge zu ziehen, warnte gegen Mitte des 19. Jahrhunderts schon das Diction naire de médecine von Littré und Robin. Unter dem heute unüblich gewordenen Stichwort »Kakothanasie« liest man dort: »Angewohnheit mancher Ärzte, sämtliche pharmazeutische Mittel, selbst die drastischsten, auszuschöpfen, obgleich nicht die geringste Wahrscheinlichkeit besteht, daß der Kranke zu retten ist, so daß sie ihn dergestalt in den letzten Augenblicken, die er noch zu leben hat, quälen und ihm das Sterben schwerer machen.«31 Der Kampf gegen die theoretisch sorgfältig vom Patienten getrennte Krankheit droht in solchen Szenarien praktisch in einen Kampf gegen den Kranken umzuschlagen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts institutionalisiert sich der Imperativ wissenschaftlicher Neutralität auch im Bereich der Entwicklung neuer therapeutischer Maßnahmen. Die Doppelblindstudie wird in diesem Zeitraum zur Norm der klinischen Phase pharmakologischen Experimentierens erklärt, zuerst in den USA, dann auch in Europa. Diese Entwicklung geht mit aufwändigen Bemühungen einher, Patientinnen mit schwerwiegenderen Krankheiten möglichst flächendeckend in Kohorten in eben solche klinischen Studien einzuschleusen. Im Doppel blindverfahren erreicht allerdings nicht nur die Trennung der Kranken von ihren Krankheiten ihren Höhepunkt, auch die von Canguilhem als 31 | Zitiert nach: Canguilhem, Grenzen medizinischer Rationalität, a.a.O., S. 54.
Zweiter Teil: Erkundungen
Parallelphänomen beschriebene »Suspendierung des Arzt-Patienten-Dialogs« tritt hier in zugespitzter Form auf den Plan. Denn »innerhalb dieses Modells maximaler Kontrolle und externalisierter Beurteilung, entschieden diejenigen Mediziner, die die Patienten sahen ebenso wenig über die Behandlung wie über deren Ablauf oder die Analyse ihrer Wirkungen.«32 Die medizinische Rationalität erreicht, schreibt wiederum Canguilhem, ihre höchste Form erst dort, wo sie in der Lage ist, ihre eigenen Grenzen anzuerkennen, »wobei mit dieser [Anerkennung] nicht das Scheitern einer Ambition, die so viele Beweise ihrer Rechtmäßigkeit geliefert hat, sondern die Verpflichtung gemeint ist, das Register zu wechseln. […] Man muß endlich einräumen können, daß der Kranke mehr und anderes ist als ein besonderes Terrain, in dem die Krankheit sich festsetzt, daß er mehr und anderes ist als ein grammatisches Subjekt, das durch ein (der gerade aktuellen Nosologie entnommenes) Attribut näher bestimmt wird.« 33
Bis hierher folge ich Canguilhems Argumentation und stimme auch seiner Warnung vor einer »vernunftlosen Durchrationalisierung« der medizinischen Praxis, die er unter anderem als Auslöser für die »Forderung nach Autonomie des einzelnen in der Frage der Beurteilung und Pflege seiner Gesundheit« identifiziert, zu. Wenn er allerdings bekennt, dass diese Beobachtungen bei ihm vor allem eines auslösen, nämlich eine nervöse Angst vor dem »Wiedererstarken prä-rationaler Medizin«,34 kann ich diese Ansicht nicht teilen. Vielmehr scheint mir, dass diese Angst ihrerseits als Symptom einer klassischen epistemologischen Position identifiziert werden kann, die Canguilhem selbst einmal wortwörtlich als »Nachhut«35 wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse bezeichnet hat und die entsprechend, deren Fußstapfen folgend, zuweilen auch in dieselben Fallen tappt wie jene. Eine solche Falle aber stellt der fortlaufend perpetuierte Argwohn gegenüber all jenen Praktiken dar, die Krankheiten mit anderen als den Mitteln der westlichen, allopathischen Medizin erfolgreich behandeln – ob sie nun heilen oder in die 32 | Gaudillière, Science et Médecine, a.a.O., S. 90. 33 | Canguilhem, Grenzen medizinischer Rationalität, a.a.O., S. 61. 34 | Ebd., S. 56. 35 | Siehe dazu: François Bing und Jean-François Braunstein, »Entretien avec Georges Canguilhem«, in: Interdisciplines 1, 1984, S. 21-34 (Übersetzung K.S.).
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Lage versetzen, einen guten Umgang mit der Krankheit zu pflegen. Alles geht so vor sich, als ob die ›endlich wissenschaftlich‹ gewordene Medizin – in der Absicht, sich in radikaler Opposition zu allen Formen der von nun an als ›vormodern‹ bezeichneten Scharlatanerie zu behaupten und so für immer dem Vorwurf der Irrationalität zu entkommen – sich gezwungen gesehen hätte, diesen Erzfeind in ihre eigenen Methodologien zu inkorporieren. Und so verfolgt er sie immerfort wie ein Schatten, der sich nicht abschütteln lässt. Wenn die Trennung des Kranken von der Krankheit und die sie begleitende Suspendierung des Arzt-Patienten-Dialogs nämlich in dem Vorgehen klinisch-pharmakologischer Doppelblindstudien kulminiert, dann kann diese Praxis etwas anders perspektiviert werden. In diesem neuen Licht stellt sich heraus, dass gerade jene nervöse Angst vor der lauernden (eigenen) Irrationalität oder genauer, die bedrohliche Befürchtung, getäuscht zu werden, ihr Gravitationszentrum bildet. Die zu bezwingenden Verkörperungen dieser Bedrohung, gegen die es eines ausgefeilten Abwehrzaubers bedarf, sind ungehorsame, irrationale Patientenkörper auf der einen und unwissenschaftliche Heiler, die man von nun an Scharlatane tauft, auf der anderen Seite. Diese Störenfriede, die der modernen Medizin aus zwei Richtungen kommend das Leben bis heute immer wieder schwer machen, gilt es also möglichst f lächendeckend in Schach zu halten, wenn es darum geht, eine naturwissenschaftliche Medizin als einzig glaubwürdige Statthalterin eines universell gültigen Experten-Wissens über Krankheiten in Stellung zu bringen. Dieser defensive Abwehrzauber, angekurbelt von der Angst, getäuscht zu werden auf der einen und dem Willen zur Monopolisierung von Krankheitswissen auf der anderen Seite, hat allerdings einen nicht zu unterschätzenden Preis: In seinem Namen wird eine ganze Reihe von Praktiken prinzipiell disqualifiziert und das unabhängig davon, ob diese sich gegen das eine oder andere konkrete menschliche Leiden als effektiv erwiesen haben, erweisen könnten oder nicht.
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D rit tes G el ände : D isqualifik ationen Ich hatte das große Glück, nach Erhalt der vergiftenden Rede sehr schnell Worte zu erhalten, die als Gegengift funktionierten. Sie kamen aus einem meiner Herkunft absolut fremden Universum zu mir, aus dem Mund eines großen Peul-Heilers, Thierno Sadou Ba […]: »Bei uns, in Afrika gibt es dieses Leiden schon seit langer Zeit und manche leben ein ganzes Leben mit ihm während andere schnell daran sterben. Die Weißen haben diesen Unsichtbaren mit ihren Apparaten gerade erst entdeckt und die Offenbarung dieser Erkenntnis wird durch die Angst, die sie auslöst mehr Menschen töten als das Leiden selbst.« J ulie 36
Die modernen Wissenschaften haben ihre eigenen Beweiskriterien hervorgebracht. Ihre materiellen Zeugen zeichnen sich nämlich dadurch aus, dass sie, sobald sie einmal wirklich geworden sind und das heißt als Wissensobjekte existieren, eine von ihren Erzeugern und den Umständen ihrer Erzeugung unabhängige, autonome und überzeitliche Existenzweise für sich in Anspruch nehmen können. Die Bewegungsgesetze, das Atom, aber auch Entitäten wie das Neutrino oder die DNA stehen für diese Art des experimentellen Erfolgs, der sich allgemein gesprochen durch die »Erfindung des Vermögens, den Dingen das Vermögen zu verleihen, dem Experimentator das Vermögen zu verleihen, in ihrem Namen zu sprechen«37 auszeichnet. Auf Galileo Galileis experimentum crucis mit der schiefen Ebene, das zu den Bewegungsgesetzen führen sollte, habe ich bereits kurz verwiesen. Es soll hier noch einmal genauer in den Blick genommen werden, um von ihm ausgehend einige Schwierigkeiten aufzuzeigen, die sich bei dem Versuch der Übertragung experimenteller Ideale aus der Physik auf den Bereich des Lebendigen und besonders des Pathologischen ergeben. 36 | Zeugnis von Julie für Dingdingdong anlässlich ihrer HIV-positiv-Diagnose in den 1980er Jahren. Siehe: http://dingdingdong.org/temoignages/julie/ 37 | Stengers, Die Erfindung der modernen Wissenschaften, a.a.O., S. 135.
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Wie alle modernen Experimentalsysteme war schon Galileis, das ihnen bis heute als Vorbild dient, hochgradig artifiziell. Ging es in seinem Experiment doch effektiv nicht darum, fallende Körper zu beobachten, sondern darum, eine Situation herzustellen, die es erlauben würde festzustellen, wie sich ihre Fallbewegung charakterisieren und manipulieren ließe: Eine makellos glatte schiefe Ebene auf der die ebenfalls blitzblank polierten Kugeln rollten (es galt, ein Maximum an Reibung auszuschließen). Dieses Dispositiv erlaubte es, die Abwärtsbewegung der Kugeln variieren zu lassen und verwandelte auf diese Weise den ›natürlichen‹ Fall in ein kontrollierbares Phänomen, das aktiv befragt werden konnte. Was Galilei damit als Erster erfunden hatte ist eine »Versuchs-Anordnung im modernen Sinne des Begriffs […], eine Anordnung, deren Autor, im eigentlichen Sinne des Wortes, Galilei ist, denn es handelt sich um eine artifizielle, vorsätzliche Montage, die ›Kunstfakten, Artefakte im positiven Sinne erzeugt. Und die Besonderheit dieser Anordnung besteht, […] darin, dass sie ihrem Urheber erlaubt, sich zurückzuziehen, die Bewegung an seiner Stelle Zeugnis ablegen zu lassen. […] Die Anordnung bewirkt also zweierlei: Sie bringt das Phänomen ›zum Sprechen‹, um die Rivalen ›zum Schweigen zu bringen‹.« 38
Nachdem Galilei die Variablen festgelegt hatte (Ausgangspunkt der Kugel, Neigung der Ebene etc.), zog er sich entsprechend zurück und ließ die Bewegung der Kugeln selbst auf die gestellte Frage antworten. Kurz, das Ereignis bestand darin, dass von nun an die Natur den epistemisch entscheidenden Anteil der experimentellen Arbeit alleine tun würde. Dem Experimentalsystem aber war damit die Macht übertragen worden, matters of fact, also Tatsachen zu produzieren, in deren Namen der Experimentator im Nachhinein seine Kollegen würde überzeugen können. Dieses Vorgehen avancierte in der Folge nicht nur zur Norm wissenschaftlichen Experimentierens; parallel dazu etablierte sich auch eine Konzeption wissenschaftlicher Fakten als neutral, universell und unabhängig von räumlichen und zeitlichen Einflüssen, unabhängig auch von Meinungen und persönlichen Interpretationen. Denn indem der Experimentator zurücktritt und damit transparent wird, beweist er nicht nur, dass sein Experiment reüssiert, sondern zugleich auch, dass es seiner Person für diesen Erfolg keineswegs bedarf. 38 | Ebd., S. 130.
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Es ist an dieser Stelle wichtig festzuhalten, dass diese Art experimenteller Neutralität nicht im Gegensatz zur hochgradigen Künstlichkeit jedes Experimentalsystems und der von ihm produzierten Fakten steht – les faits sont faits. Mindestens ebenso wichtig ist es aber, vor dem vorschnellen Schluss zu warnen, der die Anerkennung der konstitutiven Gemachtheit jeder Tat-sache mit dem relativistischen Argument verwechselt, demzufolge Fakten nur konstruiert und insofern wirklichkeits- und wertlos seien. Ganz im Gegenteil, Tatsachen müssen, gerade weil es sich bei ihnen um historisch spezifische und technisch anspruchsvolle Arte-Fakte handelt, nicht als weniger wirklich, sondern gewissermaßen als hyper-wirklich im Sinne von wirksam verstanden werden. Ereignisse aber, die ein »new being or a new method of measurement«39 zur Existenz bringen, gilt es als Produkte einer neuen Wirkkraft oder einer neuen, zuvor nicht dagewesenen Form von Bedeutsamkeit hochzuschätzen, ja, wie Isabelle Stengers vorschlägt, zu feiern. Worin aber bestünde eine solche Feier? Sie könnte dem ähneln, was Bruno Latour einmal als Kult der Faktische apostrophiert hat.40 Mit dem Neologismus Faktisch erinnert er zunächst daran, dass entgegen unserer eingeübt aufklärerischen Sicht auf so genannte ›abergläubische‹ Praktiken, diejenigen, die Fetische verehren, keineswegs blind gegenüber der Gemachtheit ihrer Kultgegenstände sind, sondern im Gegenteil minutiös deren – präzisen Regeln unterliegende – Fabrikationsprozesse kennen, befolgen und weitergeben. Zumindest in dieser Hinsicht, so Latour, können wir von ihnen lernen. Lernen, eine Haltung zu gewinnen, die dem Entweder-Oder, entweder wirklich oder gemacht zu entgehen weiß. Eine Haltung also, die nicht darin bestünde, Fakten entweder zu universell gültigen Waffen gegen alle anderen Formen der Wissens- und Wirklichkeitsproduktion in Stellung zu bringen oder aber sie aufgrund ihrer Konstruiertheit zu reinen Chimären herabzuwürdigen. Oder noch einmal anders formuliert, eine Haltung, die es erlauben würde, gute oder stichhaltige Konstruktionen von Fall zu Fall, nicht aber abstrakte Normen zu feiern. Die Würdigung der geglückten Produktion wirksamer wissenschaftlicher Artefakte oder auch Faktische aber könnte dann im Zentrum eines Kultes – im Sinne einer neuen Form der Kultivierung – stehen. 39 | Stengers, Cosmopolitics I, a.a.O., S. 32. 40 | Siehe dazu: Bruno Latour, Sur le culte moderne des dieux faitiches, suivi de Iconoclash, Paris 2009.
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Die Aufgabe und Verantwortung eines solchen Kults bestünde zugleich darin, fortwährend an die Zugehörigkeit dieser Fakten zu einer spezifischen Wissenskultur und deren Praktiken – den wissenschaftlichen – zu erinnern und das heißt ihre konstitutive Situiertheit und damit auch Begrenztheit lebendig und bewusst zu halten. Es ginge also darum, die Kunst des Experimentierens wertzuschätzen und gerade nicht darum, eine ironische Distanz gegenüber den produzierten Fakten einzunehmen. Der Kult müsste vielmehr deutlich machen, dass die Fakten ihr Gelingen und ihre Wirkungsmacht eben jenen sehr spezifischen und situierten Bedingungen und Produktionszusammenhängen – etwa einem Labor – verdanken. Gerade durch seine Affinität zu den konkreten Praktiken der Wissens- und Faktenproduktion könnte er sich dann als effektive Schutzmaßnahme gegenüber der Gewaltsamkeit des Universalismus-Anspruchs einer modernen, imperialistischen Pose erweisen, die in spezifischen Zusammenhängen produzierte Fakten ohne Rücksicht auf Verluste als für jeden und überall relevant, richtig und gleichermaßen gültig erklärt. Läuft doch diese mit einer ›modernen‹ Haltung einhergehende Geste darauf hinaus, all diejenigen Praktiken zu disqualifizieren, die ihren Anforderungen nicht gehorchen, sich ihnen nicht beugen. Gefeiert würde also die weltverändernde Kraft, die ein neues Artefakt konkret ausmacht, ohne diese Feier in eine Veranstaltung zu verwandeln, die alle anderen für wertlos erklärt. Damit aber würde ein solcher Kult auch präsent halten, dass keiner unserer Faktische die Fähigkeit besitzt, autonom zu existieren, sondern dass vielmehr jeder von ihnen der aufmerksamen Pflege bedarf, um seinen je eigenen Wert durch und nicht in Abstraktion von denjenigen praktischen Relationen zu gewinnen, die wir mit ihm eingehen. Das heißt aber, dass wissenschaftliche Fakten – oder Faktische – eine instabilere Existenz führen als wir gemeinhin annehmen. Ja, ihre Existenzweise scheint vielleicht derjenigen eines Pharmakons (griechisches Wort, das zugleich Gift, Droge und Medikament bezeichnet) am nächsten zu kommen. Ein Pharmakon ist vieldeutig, es kann sich – abhängig vom Zustand des Medikamentierten, seiner Umwelt, aber auch der gewählten Dosierung – als schädlich, giftig oder heilend erweisen. Ganz analog dazu hängt auch die verändernde Kraft eines Arte-Fakts konstitutiv davon ab, inwiefern es einem spezifischen Milieu neue Relevanzen oder eine neue Form der Stichhaltigkeit hinzuzufügen in der Lage ist oder nicht. Der Kult der Faktische muss dann zugleich auch pharmako-logisch sein. Das heißt, seine Aufgabe bestünde darin, das Risiko der impliziten Naturalisierung für uns relevanter Fakten
Zweiter Teil: Erkundungen
strikt zu vermeiden und vielmehr die ausgeklügelte, situierte Kultur einer wissenschaftlichen Praxis mit ihren ganz spezifischen Bedingungen und Verpflichtungen zu würdigen und dabei der Verführung zu widerstehen, diese im gleichen Atemzug zu universellen Normen zu erheben. Denn wenn eine Praxis den situierten Charakter ihrer Produktionen aus den Augen verliert und sich zum Besitzer des Wissens von der ›wahren‹ Natur des Pharmakons erklärt, wird sie damit unausweichlich »incapable of the pharmakon’s very exigency, a culture of usages«.41 Diese Praktiken der Kultivierung oder auch Gebrauchsweisen aber sind schon allein deswegen immer relational und situiert, weil sie eines hohen Grades an kollektiv ausgeloteter technischer Raffinesse bedürfen. Die Beurteilungskriterien solcher Gebrauchsweisen, die Evaluation dessen, was sie möglich machen, lassen sich per definitionem nicht im Vorhinein, sondern allenfalls im Futur II bestimmen: Es wird möglich geworden sein. Nicht die instabile Ambiguität des Pharmakons, die ihm eigene Struktur der Offenheit, stellt ein spezifisch westliches Problem dar, sondern vielmehr die unerträgliche Verunsicherung, die eine solche Mehrdeutigkeit in uns auslöst. Die Einzigartigkeit unserer Tradition besteht in »the intolerance […] in the face of this type of ambiguity, the anxiety it arouses. We require a fixed point, a foundation, a guarantee. We require a stable distinction between rational pedadogy and suggestive influence, between reason and opinion.«42 Wie wiederum Isabelle Stengers gezeigt hat, der ich hier noch ein weiteres Mal folgen möchte, kann der Fall Anton Mesmers (1734-1815) als repräsentativ für die Risiken stehen, die mit der Diskreditierung solcher Praktiken durch die Medizin einhergehen, deren Wirkungen nicht eindeutig zuzuordnen sind. 1784 stellte Anton Mesmer einen Antrag auf Evaluation der von ihm vertretenen Heilpraxis – den animalischen Magnetismus – durch die Académie Française. Nach einer ganzen Reihe von Experimenten kamen die daraufhin eingesetzten Kommissionen zu folgendem Schluss: »Das Fluidum ohne die Vorstellungskraft ist machtlos, während die Vorstellungskraft ohne das Fluidum sehr wohl die Effekte produzieren könnte, die dem Fluidum zugesprochen werden.«43 Kurz, sie erklärten das Fluidum für inexistent und Mesmer selbst zum Scharlatan. 41 | Stengers, Cosmopolitics 1, a.a.O., S. 29. 42 | Ebd. 43 | Zitiert nach: Isabelle Stengers, »Le médecin et le charlatan«, in: Nathan und Stengers, Médecins et sorciers, a.a.O., S. 124.
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Denn sein Erfolg war ihrem Urteil zufolge ausschließlich der Vorstellungskraft zuzurechnen. Das Fluidum konnte nicht in einen zuverlässigen Zeugen verwandelt werden, musste entsprechend als rein fiktional eingestuft und somit disqualifiziert werden. Der animalische Magnetismus, so das Ergebnis ihrer Experimente, heilte zwar, doch offenbar heilte er mit unzuverlässigen, in ihrer Kausalität fragwürdigen Mitteln oder anders, seine Heilerfolge galten als schlecht begründet. Diese ›schlechten‹ – wenn auch wirksamen – Gründe konnten nicht lokalisiert werden: unmöglich zu bestimmen, ob sie der Praxis des Heilers, der Imagination der Patienten oder aber ihrer Relation zueinander entsprangen. Eine ähnliche Geschichte ließe sich etwa über Samuel Hahnemanns (1755-1843) beinahe zeitgleichen Bestrebungen erzählen, der Homöopathie einen Platz im Reich der modernen Medizin zu sichern. Schon sein Grundsatz des similia similibus curentur – Ähnliches durch Ähnliches heilen – und zwar mit beinahe unnachweisbar geringen Dosierungen, stand im radikalen Widerspruch zu einer medizinischen Epistemologie des Eindeutigen, die sich zeitgenössisch zu etablieren suchte. Auch diese Heilpraxis traf und trifft auf anhaltende Skepsis aus den Reihen der Vertreter einer allopathisch ausgerichteten Medizin. Schin Meyers Konversationslexikon aus den 1880er Jahren lesen wir unter dem Lemma Homöopathie etwa: »Es würde zu weit führen, das mystische, überall den Erfahrungen der Chemie, Physik und Pathologie widersprechende System, das, anstatt auf Beobachtungen, auf gänzlich unbewiesenen Glaubenssätzen aufgebaut ist, hier auszuführen, zumal eine treue Wiedergabe bei den vielfachen Änderungen, welche die H. täglich erfährt, ganz unmöglich wäre. […] Diese Probe dürfte ausreichen, um zu zeigen, daß die H. dem gesunden Verstand mehr als dem kranken Körper zumutet«. 44
Beide Fälle verdeutlichen, dass die moderne Medizin ihre Identität von Beginn an grundlegend aus einer Ablehnungshaltung gegenüber so genannten Scharlatanen wie Mesmer oder auch Hahnemann und ihren Praktiken bezieht, die ›schlecht‹ begründet heilen. Parallel dazu lässt sich aber eine regelrechte Opposition gegen die lebendigen, leidenden Körper der Patienten erkennen, die ihrerseits nur selten prädeterminierten Kategorien folgen und die, wenn sie aus Gründen gesunden, die innerhalb 44 | Lemma »Homöopathie«, in: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage. Band 8, Leipzig/Wien 1885-1892, S. 697.
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eines Wissensregimes, das auf Neutralität und Objektivität setzt, nicht erklärbar sind, zu Komplizen der Scharlatanerie werden. Während andere Wissenschaften, wie etwa die Physik, auf dem Erfolg gebaut sind, den ihre Praktiken erzielt haben, scheint sich die moderne Medizin – zugespitzt formuliert – dadurch auszuzeichnen, auf einer Frustration zu gründen: Der Frustration, dass lebendige Körper eine Tendenz haben, sich zu weigern, als glaubwürdige und das heißt eindeutige und stabile Zeugen zu fungieren. Eine Frustration darüber, dass Patienten wie Ärztinnen Interessen, Hoffnungen und Vorstellungen unterhalten, die den therapeutischen Prozess unkontrolliert zu beeinflussen drohen. Die Kommissionen, die den animalischen Magnetismus evaluierten, gaben in ihrem Abschlussbericht drei mögliche Gründe dafür an, warum Mesmer trotz der durch sie konstatierten Inexistenz des Fluidums erfolgreich sein mochte: 1. Die heilenden Kräfte der Natur; 2. Die Tatsache, dass Mesmers Patienten ihre zuvor eingenommenen, oftmals hochgradig giftigen Medikamente absetzten und 3. Das Vertrauen der Patientinnen in Mesmers Praxis. Zumindest der dritte Grund bleibt auch mit Blick auf aktuelle medizinisch-pharmakologische Praktiken virulent. Bildet er doch die antreibende Kraft von Prozeduren, die der offiziellen Anerkennung einer neuen Substanz vorausgehen. Bekannt unter dem Namen Placeboeffekt ist die kurative Kraft von Vertrauen, Hoffnung und Glaube, heute integraler Bestandteil derjenigen Protokolle, die über die Zulassung eines neuen Medikaments entscheiden. Die zeitgenössische Medizin erkennt diese Parameter auf dem Weg zur Heilung also offiziell an. Sie tut dies allerdings in einem Negativmodus. Denn die Doppelblindstudie, bei der weder der Patient noch der Mediziner wissen, ob es sich bei der verabreichten Behandlung um das experimentell untersuchte Medikament (verum) oder um ein Placebo handelt, soll es ja gerade ermöglichen, die Effekte, die dem subjektiven Glauben oder der Hoffnung des Patienten zuzurechnen sind, feinsäuberlich von jenen zu trennen, die der chemischen Substanz als solcher zukommen. Mittels dieser Triage soll die Gefahr wertgeladener Einflüsse gebannt und kontrolliert werden, die den Fortschritt der Medizin zu stören drohen. Die implizite Strategie der Doppelblindstudie besteht folglich darin, den Feind zu inkorporieren, um sich in die Lage zu versetzen, seiner Herr zu werden. Der Placeboeffekt, so könnte man dann sagen, ist das exakte Korrelat des Scharlatans und seiner Heilerfolge im Inneren zeitgenössischer klinischer Pharmakologie.
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Die Fragwürdigkeit des Placebos (lat. placebo = »ich werde gefallen«), das hat Philippe Pignarre45 gezeigt, besteht allerdings nicht so sehr in seiner technischen Funktion als heuristisch wirkungsloser Substanz, die als Referenzpunkt zu Vergleichszwecken innerhalb klinischer Studien mit dem Ziel der Entwicklung eines neuen Medikaments dient. Problematisch werde das Prozedere von Doppelblindstudien vielmehr dann, wenn dieses technisch-methodische Instrument zur politischen Formel gerinnt. Was ist damit gemeint? Es sei schnell deutlich geworden, dass der so genannte degree zero eines Placebos keine absolute Größe ist. Sind doch die Gruppen von Patientinnen, die Placebos erhalten, nach der experimentellen Behandlungsphase generell in einem besseren gesundheitlichen Zustand als solche Patienten, die keinerlei Behandlung erfahren. In Anbetracht dieser Beobachtung aber kam zwangsläufig die Frage auf, wer für diese ›irrationalen‹ Besserungen verantwortlich sein könnte. Die Antwort war schnell gefunden, ›Wir, die Ärzte! Unser Einfluss ist der Grund!‹ Erst diese Antwort macht aus dem Placebo-Effekt eine politische Formel. Denn sie erlaubt es den Vertretern der modernen westlichen Medizin, nicht nur ihre eigene, naturwissenschaftlich verbürgte Bedeutung für die Heilung von Patienten aufzuwerten, sondern zugleich alle anderen Therapieformen und ihre Praktiker ein weiteres Mal zu disqualifizieren. Denn die Formel impliziert folgende Annahme: ›Ihr behauptet, geheimes Wissen zu besitzen, das Euch in die Lage versetzt, in die Körper Eurer Patienten einzugreifen. Wir können genau das Gleiche!‹ Damit aber maßt sich die moderne Medizin den gleichzeitigen Besitz zweier Joker an: Sie heilt wie die traditionelle Medizin und mittels ihrer wissenschaftlichen Agenten – nichts davon ist doppeldeutig oder geheimnisvoll. Von nun an gilt es als dringliche Pflicht von Medizinerinnen, ihre leichtgläubigen Patienten ›aufzuklären‹ und sie vor all den ›Scharlatanen‹ zu warnen, die Wirkungen, die sich als schlichte Placebo-Effekte entschleiern lassen, als exklusive Stärke der eigenen Praxis vermarkten. Aber, fragt Pignarre provokativ: »Wenn es Praktiker gibt, die Placebo-Effekte zu ›maximisieren‹ wissen, verdienen sie es dann nicht, anders benannt zu werden [denn als Scharlatane], mit Worten 45 | Siehe unter anderem: Philippe Pignarre, Le Grand Secret de l’industrie pharmaceutique, Paris 2003; Ders., Les Deux Médecines. Médicaments, psychotropes et suggestion thérapeutique, Paris 1995 sowie Ders. mit François Dagognet, 100 mots pour comprendre les médicaments. Comment on vous soigne, Paris 2005.
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ernst genommen zu werden, die nicht disqualifizieren? Muss man sich nicht darum bemühen, diese Praktiker zu begleiten um die Besonderheit ihrer jeweiligen Praxis zu verstehen, anstatt sie zu verurteilen? Gibt es nicht Kulturen, die wissen wie sich eine Kunst der Weitergabe dieser Techniken entwickeln lässt?« 46
Sind die Gefahren solcher disqualifizierenden Gesten nicht weitaus schwerwiegender als eine stringente Anerkennung der ›Grenzen medizinischer Rationalität‹ es auf allen Ebenen sein könnte? Schließlich steht hier das Verschwinden einer ganzen Reihe von Praktiken auf dem Spiel, die dazu in der Lage sind, Dinge zu tun, deren instruktives Potential sich nur schwer leugnen lässt. Ganz gleich, ob sie okzidentalen oder anderen Kulturen entstammen, sie können uns gerade deshalb als Inspirationsquelle dienen, wie Tobie Nathan formuliert, weil sie »die Dinge, wenn man das so sagen kann, andersherum denken als die Medizin. Häufig gehen sie etwa davon aus, dass Krankheit eine Art von Auserwähltsein anzeigt, zugleich Botschaft und erstes Ereignis innerhalb eines Initiationsprozesses der Person ist.«47 Auch wenn die aufgerufenen Praktiken schwere Krankheiten nicht unbedingt zu heilen verstehen, stellen sie doch situierte Techniken dafür bereit, ein Leben auch mit solchen Krankheiten auf konstruktive Weise zu komponieren, denen gegenüber die moderne Medizin aufgrund ihrer gegenwärtigen Unheilbarkeit einzig mit dem Verweis auf mögliche zukünftige Forschungserkenntnisse zu reagieren weiß. Ein solcher Verweis auf die unbestimmte Zukunft zeugt aber vor allem von der schlecht verstandenen Forderung nach einer Bewussthaltung der eigenen Grenzen, die hier keineswegs als prinzipielles, sondern lediglich als vorübergehendes Phänomen in den Blick geraten. Wir wissen noch nicht, können diese oder jene Krankheit noch nicht heilen, aber das wird sich ändern! Es gilt lediglich geduldig abzuwarten und weiterzumachen, bis irgendwann ein zuverlässiges Heilverfahren auf den Markt kommt! Diese defensive Haltung gegenüber dem eigenen Unwissen ist eine, die medizinische Forschungen zwar immer weiter antreibt, das Jenseits des eigenen Wissens allerdings als einen Ort konzipiert, der potentiell eroberbar ist. Dabei wird schlicht übergangen, dass jede neue Entdeckung, so umwälzend sie sein mag, doch immer auch neue Residuen 46 | Pignarre und Francois, 100 mots pour comprendre les médicaments, a.a.O., S. 250. 47 | Tobie Nathan, Psychothérapies, Paris 1998, S. 96.
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und Wissensdesiderate nach sich zieht. Richtig verstanden müsste ein Agieren im Bewusstsein der eigenen Begrenztheit sich hingegen dadurch auszeichnen, parallel zur medizinischen Forschung immer auch über die sich im Laufe der Zeit verschiebenden Grenzen hinaus zu blicken und so die eigene Praxis für Einmischungen und Handreichungen aus anderen Bereichen offenzuhalten. Für den Zusammenhang der präsymptomatischen Diagnostik unheilbarer Krankheiten aber ist in diesem Sinne vielleicht weniger der sich zunächst aufdrängende Blick in Richtung Bioethik sinnvoll, die schon Niklas Luhmann treffend als »Beruhigungsmittel« identifiziert hat, das sich die Gesellschaft gewissermaßen selbst verschreibt, »während die Moralisten bereits Amok laufen«.48 Ein Beruhigungsmittel, das den klaren Blick auf neue Technologien und deren Gefahren nicht selten eher verstellt denn aufklärt, ja sogar dazu tendiert, diese, wenn auch auf Umwegen, zu legitimieren. »Der Glaube an das wissenschaftlich-technisch ›Mögliche‹ wird«, so Petra Gehring im Anschluss an Luhmann, durch Bioethik »nicht gebrochen, sondern reflexiv verstärkt« und so partizipiert sie häufig mehr oder weniger gut kaschiert an fragwürdigen Praktiken biopolitischer governance.49 Aber diese Kritikpunkte genügen nicht, wenn es darum geht zu verstehen, warum es notwendig ist, einen ganz anderen Weg einzuschlagen. Um einen Schritt weitergehen zu können, scheint es mir angezeigt, zwei grundlegende Voraussetzungen der Bioethik infrage zu stellen. Und zwar erstens, ihren Willen aufzuklären, mit dem sie sich in eine Geschichte der Aufklärung einschreibt und aufgrund dessen sie entsprechend souveräne, bewusste und autonome, kurz einsame Subjekte adressiert. Gerade dieses Erbe nämlich macht es ihr unmöglich, Situationen ausgehend von und durch ihre Milieus hindurch zu kultivieren – eine Praxis, derer jede kollektive Vorgehensweise bedarf. Die zweite Voraussetzung hängt mit den Entstehungsbedingungen der Bio- bzw. genauer der Medizinethik zusammen. Da diese als Reaktion auf neue Technologien ins Leben gerufen wurde, neigt sie dazu, ihre Rolle als eine ausschließlich nachträgliche 48 | Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1990, S. 697. 49 | Petra Gehring, »Fragliche Expertise. Zur Etablierung von Bioethik in Deutschland«, in: Michael Hagner (Hg.), Wissenschaft und Demokratie, Frankfurt a.M. 2012, S. 112-139.
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zu begreifen, ganz so als handele es sich bei ihr um eine Agentin, deren Aufgabe sich darauf beschränkt mögliche Kollateralschäden zu regulieren und zu minimisieren. Oder anders formuliert, sie begnügt sich allzu oft damit, Lösungen auf ›fix und fertige‹ Probleme zu suchen, die von außen an sie herangetragen werden. Diese Haltung geht mit einem Mangel an Imagination respektive mit dem Umstand einher, dass die bioethische Praxis sich nicht dazu autorisiert, ein ihr eigenes Vorstellungsvermögen zu entwickeln, zu experimentieren und dessen Potentiale unter Beweis zu stellen. Sie schreibt sich damit in eine epistemologische und institutionelle Logik ein, die sie daran hindert, sich die Mittel verfügbar zu machen, die es ihr erlauben würden, neue Problemstellungen zu konstruieren anstatt auf vorgefertigte Probleme zu reagieren. Um in dem dritten und letzten Teil dieses Büchleins damit zu beginnen, Vorschläge für die Konstitution eines adäquateren, reicher bevölkerten Milieus zu formulieren, eines Milieus, das in der Lage wäre, unsere Kreatur, den präsymptomatischen Test in Empfang zu nehmen, scheint es mir daher vielversprechender, unsere Aufmerksamkeit von der Bioethik ab- und anderswo hinzulenken. Dieser zweite Teil hat durch eine Reihe historischer und begrifflicher Landschaften geführt und uns auf dem Weg erlaubt, einige Gabelungsmomente zu umreißen. Momente, die vordergründig vor allen Dingen verdeutlichen, wie wir dort angelangt sind, wo wir heute sind. Zumindest undeutlich lassen diese Momente aber auch die Möglichkeit aufscheinen, dass die Dinge anders hätten verlaufen können und wichtiger noch, vielleicht in Zukunft anders verlaufen können, wenn wir uns dazu entscheiden und dafür engagieren andere, in Vergessenheit geratene Aspekte unserer eigenen Geschichte von Heil und Heilung zu reaktivieren und damit zu beginnen, diese aktiv zu beerben. Kurz, die historisch-genealogischen Rückblenden verfolgten das Ziel, einige Elemente dingfest zu machen, die uns als Kamele dienen könnten oder anders, als Werkzeuge bei der Konstruktion neuer Problem-Lösungen. Leider wird es sich dabei nicht um das eine gute Kamel handeln, das, wenn auch abgemagert und feige, die Lage ein für alle Mal klärt, sondern eher um den Auftakt zu einer Sammlung von Kamelen, die im Innersten der Praktiken selbst genährt, gepflegt und gezähmt werden müssen. Im dritten und letzten Teil dieses Buches möchte ich versuchen, erste tastende Vorschläge in Richtung einer besseren Konstruktion dieser Probleme vorzustellen. Die im Folgenden diskutierten Perspektiven beanspruchen für sich keineswegs Rezeptcharakter. Es ist auch nicht mein
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Ziel, eine neue Version der International Guidelines for the molecular genetics predictive test in Huntington’s Disease zu formulieren. Die Vorschläge werden ihren Sinn vielmehr dann erfüllt haben, wenn es dem einen oder anderen unter ihnen gelingt, das Vorstellungsvermögen der Akteure, die in das Prozedere um den präsymptomatischen Test zum Nachweis der HD verstrickt sind – und damit das Milieu unserer Kreatur –, mit neuen, weniger beängstigenden und morbiden, dafür aber gastfreundlicheren Wesen zu bevölkern.
Dritter Teil: Zukunftskünstler E ine » spekul ative E rz ählung « Stories are much bigger than ideologies. In that is our hope. D onna H araway1
Tippt man auf YouTube die Suchanfrage »Huntington’s Disease« ein, trifft man grob gesagt auf zwei Arten von Dokumenten. Zum einen sind dort kurze Filme zu sehen, die das Format der Informationsbroschüre reproduzieren – sie erklären die genetischen Hintergründe der HD anhand von Schaubildern und geben in möglichst neutraler Tonlage Auskunft über Symptome, klinischen Verlauf und Pflegeoptionen. Zum anderen klickt man sich durch einen Reigen qualitativ mittelmäßiger, privat gedrehter Dokumentationen, die einem Gruselkabinett in nichts nachstehen: Düstere Räume, in denen eine bis aufs Skelett abgemagerte Frau auftaucht, die wahnwitzig-irrende, in ihrer offenbaren Hilflosigkeit beängstigende Tanz-Fall-Torkel-Bewegungen vollführt, werden hier von Narrativen juveniler Formen der HD überboten, in denen sich Kleinkinder von niedlichen rennenden Wesen in ununterbrochen zappelnde und letztlich bewegungslose Schwerstkranke verwandeln – begleitet von den Kommentaren der vor Angst und Verzweiflung erstarrten Kinder, Eltern oder Geschwister. Dem ärztlich und kulturell eingeübten Bilder-Sprechen über HD als einer monströsen Form moderner Besessenheit ohne Aus- und Umwege wird hier unter teils gutgemeint aufklärerischer, teils schlicht verzweifelt einsamer Mitarbeit von Betroffenen gewissermaßen die Krone aufgesetzt. 1 | Donna Haraway, The Companion Species Manifesto. Dogs, People, and Signi ficant Otherness, Chicago 2003, S. 17.
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Im Oktober 2013 hat sich zu diesen filmischen Materialien ein ganz anderes Video hinzugesellt, nämlich die erste Communication du Docteur Olivier Marboeuf.2 Dabei handelt es sich um den Monolog eines Neurologen, der über die Gründungsgeschichte der von ihm geleiteten experimentellen, pluridisziplinären Forschungseinrichtung berichtet, die von Pflegenden und Betroffenen gemeinsam erdacht wurde und sich mit der HD sowie dem sie betreffenden Test auseinandersetzt. Während des gesamten Kurzfilms sieht man den Arzt in seinem Sprechzimmer am Schreibtisch sitzen, er spricht offenbar zu seinen ›Peers‹ einerseits und zu von dieser Krankheit auf die eine oder andere Weise Betroffenen – Risikopersonen, Familienangehörigen und Pflegenden – andererseits. Dr. Marboeuf erzählt zunächst, dass er als Mitarbeiter eines der so genannten Referenzzentren, die den präsymptomatischen Test in Frankreich anbieten, immer wieder in die Situation gerät, Risikopersonen für die Huntington-Krankheit mit ihren Testergebnissen konfrontieren zu müssen. Er wolle, sagt Dr. Marboeuf, von der Begegnung mit einer Patientin und deren Schwester sowie den Effekten, die diese Begegnung auf ihn hatte, Zeugnis ablegen. Im letzten Jahr hätten ihn die beiden Frauen auf eine ihm bis dahin unbekannte Weise dazu herausgefordert, die eigene Praxis, aber auch sein stabil geglaubtes Wissen über die Huntington-Krankheit selbst, ihre Symptome, ihre Dramatik und ihre Verlaufsformen in Frage zu stellen. Alles habe damit begonnen, dass er die junge Frau über ihren ungünstigen genetischen Status informiert, ihr die Anzahl ihrer CAG-Wiederholungen mitgeteilt und ihr die gewohnten Hinweise für verfügbare sowohl medizinische als auch psychologische und sozialfürsorgliche Hilfestellungen vermittelt hat. Aber diese Patientin reagierte anders als alle, die er zuvor erlebt hatte: mit einem Wutausbruch. In harschen, aber klaren Worten habe sie ihm zu verstehen gegeben, dass sie keinesfalls wünsche jemals wieder mit ihm oder seinem Team in Kontakt zu treten oder gar ihre Hilfsangebote in Anspruch zu nehmen, woraufhin sie türknallend den Raum verlassen und ihn vollkommen fassungslos zurückgelassen habe. Einige Monate später, so Dr. Marboeuf, habe ihn dann die Schwester eben dieser Patientin angerufen und um einen Termin gebeten. Zu diesem Termin seien die zwei Frauen gemeinsam erschienen, das Ge2 | Siehe: https://www.youtube.com/watch?v=S1WqbRB9a6Q (englisch unter titelt).
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spräch aber habe die Schwester der Getesteten geführt. Auch sie, erzählt der Arzt weiter, klagte ihn ganz explizit an. Immer wieder insistierte sie auf einer einzigen variierten Frage: »Wie können Sie wissen, was meiner Schwester zustoßen wird?«, »Wie können sie genau wissen, was ihr zustoßen wird«, »Wie können sie wissen, was genau meiner Schwester zustoßen wird?« Dr. Marboeuf berichtet, wie er sich zu rechtfertigen versucht habe, wie er defensiv reagiert und deutlich gemacht habe, dass es seine Pflicht als Spezialist sei, mit Genauigkeit zu informieren, klar zu sein, keine falschen Hoffnungen zu wecken etc. »Warum sagen Sie nicht, dass Sie nicht wissen?«, konterte die Schwester. Das sei seiner Position als Arzt nicht angemessen, antwortet er. »Es gibt aber Leute, die sagen, dass sie nicht wissen«, reklamierte sie. Dann habe sie ihm von dem auf Huntington-Kranke spezialisierten Atlant-Institut im niederländischen Apeldoorn berichtet, das sie besucht habe. Die dort geleistete Pflege sei auf allen Ebenen ganz phantastisch und die Huntington-Kranken, die in diesem Zentrum lebten, seien trotz fortgeschrittener Krankheitsentwicklung keineswegs in desolaten Zuständen, sondern wirkten durchaus lebenslustig. Als Dr. Marboeuf die beiden Frauen am Ende des Gesprächs mit einem »bis hoffentlich bald« verabschiedete, habe die Schwester ihre Forderung in aller Konsequenz deutlich auf den Punkt gebracht: »Wir kommen erst wieder, wenn Sie dazu in der Lage sein werden zu sagen, dass Sie nicht wissen!« Frustriert und auch ein wenig genervt habe er die beiden Frauen ziehen lassen und sich gesagt, dass er sie aller Wahrscheinlichkeit nach nie wiedersehen würde. Dennoch, diese denkwürdige Begegnung hatte seine Neugierde geweckt. Als er im Juni 2013 an einem Kongress in den Niederlanden teilnahm, habe er beschlossen, seinen Aufenthalt um einen Tag zu verlängern, um besagtes Atlant-Institut in der Stadt Apeldoorn zu besuchen. »Das ist schon beeindruckend«, gibt er zu, wie dort der Alltag der Kranken gestaltet ist – maßgeschneidert nennt er die vor Ort praktizierte Pflege. Zurück in Frankreich stellt sich Dr. Marboeuf die Frage, »was ich tun kann?« Denn in Anbetracht der Erfahrungen, die er im Atlant-Institut gesammelt hat, erscheinen ihm die Ansprüche seiner Patientin und ihrer Schwester weniger extravagant. Er muss vielmehr zugeben, dass sie mit ihrer Forderung »nicht ganz Unrecht haben«. Daraufhin, so endet dieses erste Video, habe er beschlossen, bei seiner Klinikverwaltung einen Antrag auf Finanzierung einer kleinen experimentellen Forschungseinheit zu stellen, in deren Rahmen sich Mediziner und Pflegepersonal
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gemeinsam mit Patienten und deren Familien mit unterschiedlichen Aspekten der Huntington-Krankheit und ihrer Diagnose auseinandersetzen sollen. Diese Einheit, die den Namen Alice Rivières trägt, sei im September 2013 von der Klinikleitung bewilligt worden und habe im März 2014 die Arbeit aufgenommen. Und dies, so Dr. Marboeuf, sei erst der Anfang! Als Abspann des Films ein einziger Satz: »Posté depuis un monde possible à construire ensemble, Septembre 2014«, d.h. »Gepostet aus einer möglichen Welt, die es gemeinsam zu konstruieren gilt, September 2014«. Allein dieser Satz weist den gesehenen Film nicht als Dokumentation, sondern eindeutig als Fiktion aus. Und zwar zunächst durch den zeitlichen Index. Zuerst in einer Plenarsitzung des World Congress of Huntington’s Disease 2013 in Rio de Janeiro gezeigt und im Anschluss daran auf YouTube gestellt, spielte die Erzählung des Dr. Marboeuf sich offensichtlich in der Zukunft ab. Forscht man genauer nach, stellt sich heraus, dass weder Dr. Marboeuf noch die Unité Alice Rivières außerhalb dieses Videos existieren. Ein Hoax also? Nein: ein Köder! Bei besagtem Video handelt es sich um das Ergebnis einer Zusammenarbeit des Filmemachers Fabrizio Terranova, Mitglied von Dingdingdong – Institut zur Koproduktion von Wissen über die Huntington-Krankheit – und des Performance- und Erzählkünstlers Olivier Marboeuf. Gemeinsam haben sie ebenso wie ich für dieses Buch, die Geschichte Alice Rivières zum Anlass für ihre Arbeit genommen und sie auf ihre Art und Weise aufgegriffen. Damit folgen sie einem Arbeitsprinzip, das sich für Dingdingdong als konstitutiv erwiesen hat. Diesem Prinzip zufolge gilt es Ideen, die uns am Herzen liegen, im wortwörtlichen Sinne zum ›schäumen‹ zu bringen. Neue Ideen werden von den Mitgliedern des Kollektivs nicht schlicht zur Kenntnis genommen, sondern unter anderen Vorzeichen und mit diversen Mitteln aufgegriffen, wiederholt und variiert, um ihnen auf diesem Wege eine Konsistenz, eine eigene Dichte zu verleihen. Diese Arbeit der wiederholten Aufnahmen und Reprisen, davon sind wir überzeugt, ist unabdingbar, wenn es darum geht, unsere Vorschläge weiter zu präzisieren und sie im Zuge dessen zunehmend wirklicher werden zu lassen. Während Alices Erzählung mich dazu verpflichtet hat, in die Geschichten des präsymptomatischen Tests einzutauchen und mich mit verschiedenen Aspekten einer Geschichte der modernen Medizin auseinanderzusetzen, um das, was in der diagnostischen Situation auf dem Spiel steht, besser begreifen zu können, ist sie für Terranova und Marboeuf zur Gelegenheit geworden, ein neues Genre zu kultivieren: Die
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›spekulative Erzählung‹. Die zentrale narrative Strategie dieses Genres besteht, so ließe es sich auf den Punkt bringen, darin, jene Bedingungen zu versammeln, derer es bedarf, um eine noch unverbürgte Idee wahr werden zu lassen. Und zwar nicht im Allgemeinen, sondern stets in Bezug auf ganz konkrete Konfliktsituationen. Spekulatives Erzählen zeichnet sich dadurch aus, prädeterminierten Verläufen alternative Versionen entgegenzusetzen, sie zu irritieren und zu beeinflussen.3 Anders als in den meisten Science-Fiction-Geschichten, liegt der Ausgangspunkt der marboeufschen Erzählung denn auch weder zeitlich noch situationell in der fernen Zukunft. Vielmehr nimmt er eine reale Erfahrung zum Ausganspunkt und spinnt diese an verschiedenen Stellen durch kleine Verschiebungen und vorsichtige Ergänzungen lediglich minimal, dabei aber doch entscheidend weiter. Zwischen der aktuellen und der erzählten Realität klafft also kein Abgrund, es werden keine unwahrscheinlichen oder unmöglichen Begebenheiten geschildert. Es handelt sich weder um den Entwurf einer Utopie (eines Unorts) oder Uchronie (einer Unzeit) noch um ein Gedankenexperiment, das die Effekte einer oder mehrerer kontrafaktischen Annahmen durchspielen würde. Vielmehr fabuliert der Erzählkünstler Marboeuf alias Dr. Marboeuf vor laufender Kamera eine in der nahen Zukunft gelegene Situation, in der mehrere der aktuellen Realität entnommene Elemente – die Wut der Getesteten und ihrer Schwester, Reflexionen zum Recht auf Wissen und 3 | Der Ansatz, von dem hier die Rede ist, unterscheidet sich radikal von Ansätzen der so genannten narrativen Ethik und Medizin. Diese zieht soweit ich es überblicke mehr oder weniger kanonische literarische Texte heran, um durch deren Analyse ethische bzw. moralische Exempel zu statuieren. Die Macher des hier analysierten Films hingegen verstehen ihren Film explizit als eine Form der politisch/ ethischen Einmischung in das Feld der präsymptomatischen Diagnostik in Form einer ›narrativen Spekulation‹, ein Genre, das vor allem Fabrizio Terranova auch jenseits dieser spezifischen Thematik zu instaurieren bemüht ist. 2011 habe ich gemeinsam mit Terranova, Yvan Flasse und Didier Debaise das gleichnamige Masterprogramm an der École de Recherche Graphique in Brüssel ins Leben gerufen. Der in diesem Zusammenhang erarbeitete Begriff der Spekulation wiederum ist grundlegend durch die Forschungen der Groupe d’études constructivistes an der Université Libre de Bruxelles inspiriert. Siehe zuletzt: Didier Debaise und Isabelle Stengers (Hg.), Gestes speculatifs, Paris 2015, darin u.a. Katrin Solhdju, »L’oracle et le médecin«, S. 277-292.
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Nicht-Wissen, die Erfahrungen im Atlant-Institut – miteinander konspirieren. Durch ihr synergetisches Zusammenwirken wird es in dieser Wirklichkeit möglich geworden sein, ein Forschungslabor zu gründen, das es sich zur Aufgabe macht, neue Versionen der Huntington-Krankheit zu erforschen und zu implementieren. Schritt für Schritt zeichnet seine Erzählung den Weg nach, auf dem sich dieses Zusammentreffen ergeben haben könnte, und verfolgt so eine Taktik der narrativen Sensibilisierung, die trotz der Situierung in der Zukunft der bekannten, konfliktreichen Wirklichkeit radikal die Treue hält. Allerdings nicht ohne durch ebenso situiertes und konsequentes Weiterdenken am »Aufflackern eines anderen Lebens«4 der Huntington-Krankheit und ihrer Tests zu arbeiten. Der Erzählkünstler hat seinen Bericht ausgehend von Elementen konstruiert, die ihm ›vorgegeben‹ waren – Marboeuf war mit der HD nie zuvor in Berührung gekommen und orientierte sich an dem Material, das wir ihm vorlegten. Dennoch ist es ihm improvisierend gelungen, auch seine Stichwortgeberinnen zu überraschen und ihren Reflexionen neue Dimensionen bzw. Zugriffe zu eröffnen. Dies ist vor allem mit Blick auf Marboeufs entscheidenden Vorschlag der Fall, der Schwester die so außergewöhnliche Forderung in den Mund zu legen, der zufolge der Mediziner zuzugeben lernen soll, dass er nicht wisse, was seiner Patientin zustoßen wird. Diese von Marboeuf erfundene Forderung, die das narrative Gravitationszentrum seiner Rede bildet, lässt mindestens drei Lektüren zu. Die erste Lesart dreht sich um die Weigerung der beiden Schwestern, passive Opfer eines zur absoluten Wahrheit stilisierten medizinischen Wissens zu werden. Dr. Marboeuf soll nicht vorgeben, es handele sich bei dem prädiktiven Wissen, das er vermittelt, um »die sichere Antwort auf eine von aller Ewigkeit her gestellte Frage«. Die von der Schwester formulierte Forderung verpflichtet Dr. Marboeuf vielmehr dazu, die Diagnose »wie eine unsichere Antwort auf eine im Willen um provisorisches Wissen erfundene und hervorgerufene Frage«5 zu behandeln, die zwar
4 | Karin Harrasser, »Treue zum Problem. Situiertes Wissen als Kosmopolitik«, in: Astrid Deuber-Mankowsky und Christoph F.E. Holzhey (Hg.), Situiertes Wissen und regionale Epistemologie, Wien 2013, S. 241-259, hier S. 243. 5 | Paul-Loup Weil-Dubuc, »Les servitudes du droit de savoir. Autour du diagnostic présymptomatique«, in: La Vie des idées, 15 oct. 2013. Abrufbar unter: www. laviedesidees.fr/Les-servitudes-du-droit-de-savoir.html
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richtungsweisend ist, nicht aber mit einer eindeutigen und abschließenden Erklärung verwechselt werden darf. Auf einer zweiten, verwandten Ebene lässt sich das Drängen der Schwester als Erinnerung daran lesen, dass der Verlauf der HD von Person zu Person stark divergiert. Sie ermahnt Dr. Marboeuf wenigstens implizit dazu, das objektive Wissen über eine Krankheit nicht mit der subjektiven Erfahrung eines Lebens mit dieser Krankheit gleichzusetzen. Im Englischen bringt dies die etablierte Unterscheidung zwischen den Begriffen disease und illness auf den Punkt: Während disease eine medizinisch definierte Krankheitseinheit »im Gegensatz zu anderen Krankheiten« adressiert, verweist der illness-Begriff auf die je konkrete Patientenperspektive, darauf also, »was Patienten erleben und beschreiben«. Disease wird ärztlich diagnostiziert, illness ist »das subjektive Gefühl fehlender Gesundheit einer Person«.6 Nimmt man diese Differenzierung und damit zugleich die Vieldeutigkeit oder den multiperspektivischen Charakter jeder Krankheit ernst, zwingt dies zu einer Reihe von Veränderungen. Zunächst einmal macht die Anerkennung des Unterschieds es notwendig, eine Haltung zu etablieren, von der aus es gilt, auch solche Patienten ernst zu nehmen und therapeutisch zu begleiten, die an Symptomen – etwa an chronischen Schmerzen – leiden, ohne dass es gelingt, diese auf der disease-Ebene auf anerkannte, objektive, einer Kausallogik gehorchende Gründe zurückzuführen. Andererseits aber lässt die Unterscheidung von disease und illness auch solche Situationen denkbar werden und vielleicht sogar auslösen, in denen das Krankheitserleben weniger dramatisch verläuft, als die medizinische Diagnose/Prognose es vorzuschreiben scheint. Das Insistieren auf der systematischen Differenzierung von disease und illness – vor allen Dingen innerhalb des pflegewissenschaftlichen Diskurses – ist denn auch weniger ontologisch denn pragmatisch motiviert und konzentriert sich entsprechend auf ihre ganz konkreten Wirkungen bzw. Realitätseffekte. Der fundamentalste und allgemeinste dieser Effekte besteht sicher darin, dass eine solche Distinktion es nicht nur theoretisch, sondern auch in der Praxis allen betroffenen Akteuren erlaubt, eine Position einzunehmen, von der aus sie gemeinsam ein vieldeutiges Wissen bezüglich der sie betreffenden Krankheit komponieren können. Und zwar ohne dabei 6 | Henrike Hölzer, »Die Simulation von Arzt-Patienten-Kontakten in der medizinischen Ausbildung«, in: Walter Bruchhausen und Céline Kaiser (Hg.), Szenen des Erstkontakts zwischen Arzt und Patient, Bonn 2012, S. 107-117, hier S. 112.
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wissenschaftliches oder medizinisches Wissen entweder auszuschließen oder aber zu privilegieren. Vielmehr sind in einem derart symmetrischen Denk- und Handlungsraum Patienten (von lat. pati = erleiden, erdulden) nicht länger darauf reduziert, ihre Krankheit passiv hinzunehmen, während deren aktive Handhabung allein der Medizin vorbehalten bleibt. Im Gegenteil fungieren sie jetzt als Experten eines konstitutiven Aspekts eben dieser Krankheit: Der Erfahrung und der Umgangsweisen mit der von ihnen gelebten und ausschließlich durch sie vermittelbaren illness. »Wir kennen den Slogan ›mein Bauch gehört mir‹, und man kann sicher seinen individualistischen und vereinfachenden Charakter kommentieren. Aber wenn man hört, was die Frauen dazu gebracht hat, sich in Bewegung zu setzen, dann ging es eher darum, dass ›mein Bauch Ihnen nicht gehört‹. Und schon verschwindet alle individualistische Vereinfachung. Der Schrei ist dann nämlich an diejenigen gerichtet, die sich sei es im Namen von Staatsinteressen, sei es im Namen der Moral, den Bauch der Frauen aneignen.« 7
In analoger Weise kann man vor dem Hintergrund der Differenz von disease und illness in der schwesterlichen Forderung an Dr. Marboeuf nun auch folgende Bedeutungsnuance mithören: »Geben Sie zu, dass die Wahrheit über unsere Krankheit Ihnen nicht gehört, zumindest nicht Ihnen allein!« Noch eine dritte Lektüre der schwesterlichen Forderung an Dr. Marboeuf – »Wir kommen erst wieder, wenn Sie dazu in der Lage sein werden zu sagen, dass Sie nicht wissen!« – ist möglich. Sie kann nämlich auch als fabelhafte Umwendung oder Persiflage auf das vieldiskutierte Recht von Risikopersonen auf (Nicht)-Wissen verstanden werden. Dieses Recht findet im Falle der HD etwa innerhalb der weiter oben ausführlich diskutierten Guidelines in einem auf den ersten Blick erschreckenden Ratschlag seinen Ausdruck: Man solle einen Embryo nur dann pränatal auf HD testen lassen, wenn die Eltern sicher sind, im Falle eines ungünstigen Testergebnisses zur Abtreibung bereit zu sein. Andernfalls beraube man das bereits mit der Diagnose geborene Kind seines Rechts auf Nicht-Wissen, würde es doch als identifizierter Träger des HD-Gens und nicht als 7 | Isabelle Stengers, »Usagers: Lobbis ou création politique?«, Vortrag gehalten am 13. Oktober 2006 im Rahmen der Tagung La psychothérapie à l’épreuve de ces usagers, abrufbar unter: www.ethnopsychiatrie.net/stengusagers.htm
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Risikoperson auf die Welt kommen. Ausgehend von der narrativen Korrelation einer invertierten Fassung dieses Rechts auf Nicht-Wissen und der ungebändigten Wut der Patientin, gelingt es Marboeuf, eine interessante Version der Pflicht des Mediziners zu fabulieren, die Begrenztheit der eigenen Praxis nicht nur bewusst zu halten, sondern ganz explizit zur Schau zu stellen, mit seinen Patientinnen zu teilen. Erst wenn er dazu bereit sein wird, so das Argument, wird er seiner Patientin würdig sein. Ihre Treue zum Konflikt, und darin besteht eine ihrer großen Stärken, hält Marboeufs Rede dadurch aufrecht, dass sie den Kurswechsel des Mediziners keineswegs als plötzliches Bekehrungserlebnis darstellt, sondern ihn vielmehr als recht langwierigen und umwegigen Prozess dramatisiert. Denn der Forderung, »ich weiß nicht« zu sagen, begegnet Dr. Marboeuf nicht nur im ersten Augenblick mit persönlich motivierter Skepsis. Er macht vielmehr deutlich, dass diese Forderung mit seinen Loyalitäten gegenüber einem institutionell etablierten medizinischen Berufsethos kollidiert. Er müsse informieren, insistiert er, es sei seine professionelle Pflicht. Damit ruft er einen Konflikt auf, in den Ärzte sich nicht selten verwickelt sehen, einen »conflict of interest between, for example, the individual physician’s duties to a patient and his loyalty to the profession, as when his conduct is criticized as ›unprofessional‹ for harming, not his clients, but rather his colleagues«.8 Marboeufs Erzählung gewinnt ihre spekulative Kraft also genau daraus, dass er die Verpflichtungen gegenüber der medizinischen Profession, die seine Praxis anleiten, nicht leichtfertig hinter sich lässt – etwa vor lauter überbordendem Mitgefühl oder auch in Form eines einmaligen und halbherzigen Lippenbekenntnisses »ich weiß nicht«. Ein neues Mögliches kommt vielmehr zum Vorschein, wenn Marboeuf der Provokation, mit der er zunächst nichts anfangen kann, erlaubt zu insistieren, ihn zögern zu lassen. Es bleibt letztlich offen, ob er zu irgendeinem Zeitpunkt wirklich »ich weiß nicht« gesagt hat. Als entscheidender erweist sich die narrative Wendung, der zufolge er sich die provokante Forderung auf seine Art und Weise angeeignet, ihr erlaubt oder sie autorisiert hat, für ihn zu einem Aufruf und mehr noch, zu einer Berufung zu werden, seine zuvor stabilen Definitionen und Überzeugungen in Frage zu stellen. Er hat Zeit und Mittel dafür aufgewandt, einen Antrag zu stellen, mit dessen Hilfe es ihm gelungen ist, die 8 | Stephen Toulmin, »How Medicine Saved the Life of Ethics«, in: Perspectives in Biology and Medicine, 25, 4, Sommer 1982, S. 736-750, hier S. 744.
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zunächst unverständliche Forderung der Schwester konstruktiv zu wenden. Und als erstes Ergebnis dieser Wendung kann er mit der Gründung eines streng koproduktiv organisierten Forschungslabors aufwarten, das es all denjenigen, die in die HD verwickelt sind erlaubt, ihre jeweiligen – professionellen, familiären, moralischen etc. – Verpflichtungen gemeinschaftlich auf ihre Haltbarkeit und ihr Zusammenwirken hin zu befragen. Kurz, die von Dr. Marboeuf fabulierte Institution, die auf einer möglichen, gemeinsam zu konstruierenden Wirklichkeit basiert, gründet auf der Erfahrung, dass es zuweilen notwendig sein kann, sich und »das, woran wir hängen«9 zu kompromittieren, wenn es darum geht, der eigenen Praxis und ihren Gegenständen gegenüber verantwortlich – und das heißt wortwörtlich antwortfähig, – zu werden.
N aturgeschichte umschreibe n »Die moralische oder politische Sorge, die den Pragmatismus durchdringt, besteht eben darin, die maximale Handlungsfähigkeit eines Subjekts, sein Vertrauen in eine mögliche Aktion zu erhalten.« D idier D ebaise 10
Es erscheint auf den ersten Blick merkwürdig, dass der Erzählkünstler Olivier Marboeuf gerade dem Personal einer Einrichtung, die just auf die Pflege von HD-Patienten spezialisiert ist, den Satz »wir wissen nicht« in den Mund legt. Man könnte doch annehmen, dass das hier angestellte, erfahrene Pflegepersonal besonders genau und in allen Details weiß, was HD-Kranke erwartet. Sein Vorschlag kommt allerdings nicht von ungefähr, sondern beruht auf durchaus handfesten Hinweisen darauf, dass ein solches »wir wissen nicht« von den Pflegenden im Apeldoorner Atlant 9 | Émilie Hache, Ce à quoi nous tenons. Propositions pour une écologie pragmatique, Paris 2011. 10 | Didier Debaise, »La pensée laboratoire. Une approche pragmatique de la connaissance«, in: Ali Benmakhlouf und Nicolas Piqué (Hg.), Éduquer dans le monde contemporain. Les savoirs et la société de la connaissance, Casablanca 2013, S. 63-74.
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Institut zumindest gesagt werden könnte, insofern es ihrer Praxis nicht widerspräche. Die kollektive Arbeit, die das Herzstück des Projekts Dingdingdong bildet, zielt darauf ab, die HD nicht nur auf andere Weisen zu erfassen, sondern neue Versionen dieser Krankheit zu realisieren. In diesem Prozess greift zwar jeder und jede von uns auf die je eigenen Arten und Weisen des Forschens, die je eigenen Formen, Bericht zu erstatten, zurück. Erst der Zusammenklang all dieser Perspektiven sowie ihrer in inhaltlicher, methodischer sowie ästhetischer Hinsicht differierenden Produktionen aber lässt dieses Unternehmen lebendig werden. Sie bilden ein von immer vielgestaltigeren Wesen bevölkertes Biotop, in das keiner von uns sich alleine, sondern immer in engem Austausch mit dem Kollektiv begibt – und sei es nur, um den eigenen Appetit für Informationen und Erfahrungen zu stillen, die es zum Sprechen zu bringen gilt. Auf eben diese Weise kam es dazu, dass Dr. Marboeuf auf die Berichte zweier Besuche in Apeldoorn, die von uns dort gemachten Begegnungen und geführten Gespräche sowohl mit der Belegschaft als auch mit einzelnen Patienten zurückgreifen konnte.11 Wenn der Heemhof – der auf die Langzeitpflege HD-Kranker spezialisierte Ableger des Atlant-Instituts in Apedoorn – sich uns während dieser Aufenthalte als ›Huntington-Paradies‹ darstellte, dann nicht etwa, weil die Krankheit an sich dort etwas Angenehmes wäre, sondern weil die vor Ort konsequent gemeinsam mit den Kranken und ihren Angehörigen koproduzierte Pflege, bemerkenswert ist. Sie ist in jedem Moment in erster Linie auf das Wohlbefinden derjenigen gerichtet, die man hier ›Bewohner‹ nennt, und nicht vorwiegend auf die Betreuung von Patienten und ihren Symptomen. In Apeldoorn kultiviert man die Pflege wie eine nach Maß durchdachte und geschneiderte Kunst. Einige ihrer Aspekte, die wir im Laufe unserer beiden Besuche entdecken durften, können verdeutlichen, inwiefern diese Kunst mit einem strategischen ›Nicht-Wissen‹ über die HD einhergeht. Wenn der Erzählkünstler Olivier Marboeuf nämlich die eingeforderte Fähigkeit des Mediziners zuzugeben, dass er ›nicht wisse‹ was passieren wird, in den Mund der Pflegenden am Atlant-Institut legt, setzt er 11 | Im Oktober 2013 habe ich gemeinsam mit zwei weiteren Mitgliedern des Kollektivs Dingdingdong das Atlant Institut besucht. Zuvor hatte Alice R. Apeldoorn bereits 2012 besucht. Die folgenden Darstellungen beziehen Informationen beider Besuche ein.
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damit eine ganze Reihe von Beobachtungen in Szene, die wir bezüglich bestimmter Details vor Ort machen konnten: Etwa die fein austarierten, zuweilen raffinierten Tricksereien im Umgang mit den Kranken oder das gemeinsam kultivierte extrem sensible Gespür im experimentellen Komponieren mit den Rätseln der HD. Jedenfalls ist festzuhalten, dass die Art und Weise, auf die man in Apeldoorn mit den Huntingtonkranken umgeht und lebt, eine weitaus weniger dramatische, traurige und grauenvolle Version dieser Krankheit real werden lässt. Tatsächlich setzt man hier alles daran, für die Kranken in jedem Stadium ihrer HD die Gelegenheit offen zu halten, Akteure und Erfinderinnen der eigenen Krankheit oder genauer, des Lebens mit ihr zu bleiben oder zu werden. Die Entscheidung, in diesem Kapitel unter Rückgriff auf Beobachtungen und dort geführte Gespräche recht detailliert von diesem Ort zu berichten, basiert auf der Überzeugung, dass die jeweiligen Pflegesituationen mindestens ebenso wie epistemologische und ethische Verordnungen, die den Bereich des Medizinischen strukturieren, daran beteiligt sind, dem Milieu der Test-Kreatur seine Konsistenz zu verleihen. Man kann sich jedenfalls leicht vorstellen, dass ein Wissen um die eigene Huntington’sche Zukunft mit Aussicht auf einen Aufenthalt im Heemhof als weitaus weniger bedrohlich erfahren wird als mit der Aussicht, auf einer nicht speziell für diese Krankheit ausgerichteten psychiatrischen Station oder in einem ebenso wenig adäquaten Heim für Schwerstbehinderte zu landen – eine Aussicht, die leider für die Mehrzahl von HD-Patientinnen und Risikopersonen aktuell weiterhin die wahrscheinlichste ist.12 Die am Atlant-Institut praktizierten Formen der Hilfe und Pflege, dank denen es gelingt, die Huntington-Erfahrung nicht nur akzeptabel, sondern lebenswert zu gestalten, sind die Frucht langjähriger Erfahrung. Das Atlant-Institut wurde vor ungefähr 40 Jahren gegründet, die Huntington-Einheit im Jahr 1992. Seither wurden hier eine ganze Reihe von Pflegetechniken und Formen der Unterstützung erdacht und ausgetüf12 | Während nämlich die Niederlande jeweils im Umkreis von 100 km flächendeckend Pflegezentren nach dem Modell des Atlant-Instituts eingerichtet haben, gibt es beispielsweise in Frankreich, aber auch in Deutschland nur sehr bedingt Institutionen, die eine auf spezielle Krankheiten ausgerichtete Pflege anbieten. In den Niederlanden ist dieses Modell hingegen sehr ausgeprägt. So liegt nur wenige Kilometer vom Heemhof entfernt u.a. ein Pflege-Zentrum für Patientinnen mit Korsakow-Syndrom.
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telt, die gemeinsam von Personal und Bewohnerinnen bis heute stetig weiterentwickelt und adaptiert werden. Innerhalb dieser Praxis lassen sich mehrere Ebenen – und geknüpft daran verschiedene Zeitlichkeiten der Intervention – ausmachen. Die Beziehung zu einem neuen ›User‹ beginnt häufig und bevorzugt zu einem Zeitpunkt, zu dem der Betroffene sich noch in den ersten Stadien der Krankheit befindet. Nicht selten sind es die Angehörigen, die in dieser Phase bereits explizit Hilfe in Anspruch nehmen möchten, während die oder der Kranke den Kontakt mit medizinischen Angeboten noch radikal ablehnt. »Hier hat man sehr gut verstanden, dass den Angehörigen dabei zu helfen, den Kranken zu helfen, zugleich die Kranken und die Angehörigen entlastet und dass man so viele Krisen vermeiden kann.«13 In dieser Phase werden vor allen Dingen die so genannten CaseManager aktiv. Sie dienen als Interface zwischen Patienten, Familien und der Institution; ihre Aufgabe kann zuallererst als eine diplomatische bezeichnet werden. Sie halten Kontakt zu den Familien aufrecht, statten Hausbesuche ab und unterstützen die Angehörigen dabei, den Kranken auf die Notwendigkeit pflegerischer Hilfestellungen vorzubereiten. »Wir finden immer eine Lösung«, sagt R., auf deren Visitenkarte zu lesen ist: Case-Manager, Huntington. Sie betreibt eine Praxis von Fall zu Fall, »eine Kasuistik im eigentlichen Sinne: Aus jedem Fall ein Ereignis machen«.14 Damit dies gelingt, muss sie erfinderisch sein und immer den richtigen Ton treffen, die angemessene Geste finden, den passenden Einfallswinkel identifizieren: »Es gibt immer irgendetwas bei dem man helfen kann, auch wenn es ein winziges Detail ist. Von dort ausgehend kann man etwas auf bauen.« So erzählt sie uns von einem Kranken, der jeden Kontakt mit ihr kategorisch verweigerte, dessen Familie aber um Hilfe gebeten hatte. Da sie weiß, dass er regelmäßig in die Stadt geht, um Einkäufe zu erledigen und bei der Bank Geld abzuheben, entscheidet sie, ihn bei diesen Tätigkeiten abzufangen, um dort mit ihm in Kontakt und ins Gespräch zu kommen. Auf den ersten Blick erscheint dieses Vorgehen möglicherweise als übergriffige und respektlose Einmischung, die einer Ethik des Einverständnisses fundamental widerspricht: Einem Kranken, der den Kontakt ablehnt beim Einkaufen auflauern? Bei genauerem 13 | Alice Rivières’ Reportage über einen ersten Besuch in Apeldoorn im Jahr 2012 siehe: http://dingdingdong.org/reportages/apeldoorn-2012/ 14 | Ebd.
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Hinsehen ist hier allerdings etwas am Werke, das sich vielleicht am treffendsten als die vorsichtige und taktvolle Konstruktion einer ›Ethik der Situation‹ beschreiben ließe. Eine solche Ethik zeichnet sich, das hat Antoine Hennion im Rahmen seiner Forschungen zur häuslichen Pflege auf den Punkt gebracht, dadurch aus, »sich im Verlauf der Handlungen selbst zum Ausdruck zu bringen. Um es unverblümt zu sagen, ›die Ethik ist schon drin‹. Die Akteure sind moralische Akteure und zwar auch dann, wenn sie keinen Prinzipien gehorchen, die sich auf losgelöste, generelle oder absolute Art und Weise formulieren lassen.«15 Denn jede Pflegesituation ist von einander widerstrebenden Anforderungen durchzogen. Es ist die Aufgabe der Pflegenden, Sicherheit und Wohlbefinden der Pflegebedürftigen zu gewährleisten und ihre Autonomie zu respektieren; zugleich aber kommen sie nicht umhin, die zu Pflegenden immer wieder dazu zu bringen, Dinge zu tun ( faire faire), die diese ablehnen oder für unnötig erachten. Dazu erweisen sich in der Praxis nicht selten kleine Lügen, Listen und Tricks als Mittel der Wahl. Wohldosiert zum Einsatz gebracht, erweisen sich diese Verfahren als Teil einer Praxis, die ihre Verpflichtungen immer wieder aufs Neue induktiv bestimmt, nicht aber an abstrakten, normativen und entsprechend unsituierten Prinzipien bemisst. Ihre ethischen und epistemischen Beurteilungskriterien können entsprechend nie a priori existieren, sondern haben sich in pragmatistischer Manier von Fall zu Fall streng an den je konkreten Wirkungen bzw. Konsequenzen auszurichten: »Es handelt sich nicht um eine Handlung ohne Prinzip, deren Begründungen zufällig und in Bezug auf die jeweiligen Umstände variieren würden, sondern um eine Handlung, deren Prinzipien sich im Verlauf der Handlung selbst aktualisieren.«16 Eine andere Phase des Kontakts zwischen Kranken, Angehörigen und dem Personal des Atlant-Instituts betrifft Situationen, in denen der oder die Kranke einer Zusammenarbeit mit dem Pflegepersonal zugestimmt 15 | Antoine Hennion, Pierre Vidal-Naquet, Franck Guichet und Léonie Hénaut, »Une ethnographie de la relation d’aide: de la ruse à la fiction, ou comment concilier protection et autonomie. Treize récits de cas sur l’intervention du réseau des proches, des aidants et des soignants auprès de personnes atteintes de troubles psychiques ou cognitifs«, in: MiRe (DREES), 2012. Online-Version unter: https:// hal.archives-ouvertes.fr/file/index/docid/722277/filename/AHPVN-HandiColl 2012.pdf 16 | Ebd.
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hat, aber weiterhin zu Hause wohnt. Gemeinsam mit den Betroffenen erarbeitet die zuständige Case-Managerin ein individualisiertes Programm für die nötige häusliche Unterstützung sowohl in personeller als auch in materieller Hinsicht. Neben Wasch-, Putz- und Kochdienst werden hier auch Ergotherapie, Logopädie und psychiatrische oder psychologische Betreuung erwogen. Aber auch die Frage danach, welche technischen Hilfsmittel – Spezialbett, Gehhilfen, Rollstuhl, Waschstuhl etc. – benötigt werden und zu beantragen sind, wird besprochen. Einige der Kranken entscheiden sich jetzt dazu, die Angebote des Day-Care-Zentrums, das sich im Zentrum der Stadt Apeldoorn befindet und diverse Hilfestellungen sowie Freizeitaktivitäten anbietet, in Anspruch zu nehmen. Auch in dieser Phase, die keineswegs konfliktfrei abläuft, muss R.s Praxis flexibel bleiben, Stabilität gibt es nicht. Sie muss permanent aufmerksam sein, kleine Dysfunktionen frühzeitig erspüren und identifizieren, um möglichst schnell adäquate Vorschläge für das weitere Vorgehen entwickeln zu können. Dabei handelt es sich zwangsläufig um Vorschläge, die insofern riskant sind, als ihr Gelingen nicht garantiert ist. Sie lassen sich prinzipiell erst an ihren Effekten messen, daran, ob sie sich im Verlauf ihrer praktischen Implementierung als Gelegenheiten oder ›lebendige Hypothesen‹17 zur besseren Reartikulation der Situation erweisen. Vorschläge also, die immer auch die Gefahr eines Misslingens in sich bergen und so ggf. dazu zwingen, neue Richtungen einzuschlagen. Eine in diesem Sinne pragmatistische Pflege zeichnet sich also durch permanente Unwägbarkeiten aus und erprobt so die Kunst eines kenntnisreichen und taktvollen Umgangs mit Nicht-Wissen. In vielen Fällen stellt sich irgendwann die Frage, ob die Kranke dazu bereit ist, in den Heemhof überzusiedeln, um dort eine der fortgeschrittenen Symptomatik angemessene Pflege in Anspruch zu nehmen und gleichzeitig die Angehörigen zu entlasten. Betritt man diese etwas außerhalb der Stadt gelegene Pflegeeinrichtung, ist man sofort positiv überrascht. Denn weder die Lichtverhältnisse noch die Geräuschkulisse oder auch die Gerüche erinnern an bekannte Eindrücke aus Krankenhäusern und Pflegeheimen. Lichtdurchflutete breite Flure, die ein Carré bilden und von denen sowohl die Einzelzimmer der Bewohner als auch die Küche und drei große gemeinschaftlich genutzte Wohn- und Fernsehzimmer 17 | Diesen Ausdruck schlägt William James vor und zwar in: William James, The Will to Believe and Other Essays in Popular Philosophy, New York 1956.
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sowie diverse Technik-Räume abgehen, bestimmen das Bild. Die Bewohner bewegen sich – entsprechend ihrer Mobilität – frei, laufen oder rollen über die Flure, sehen fern, rauchen auf den dafür vorgesehenen Terrassen. Das eigene Zimmer kann jeder nach Belieben und persönlichem Geschmack einrichten. Auch die Haltung von Kleintieren ist erlaubt, sofern deren Pflege durch den Kranken oder seine Familie übernommen wird – wir treffen auf Hasen, Hamster und Wellensittiche. Wir erfahren, dass im Heemhof ebenso viele Pflegende arbeiten wie Patienten dort wohnen. Unter Berücksichtigung der Arbeitszeiten des Personals bedeutet diese Symmetrie, dass tagsüber mehr als ein Pflegender auf drei Patienten kommt. Pro Patient und Tag erhält der Heemhof vom niederländischen Staat ca. 300 Euro, für den Rest der Kosten kommen die Patientinnen und ihre Familien je nach Einkommensverhältnissen selbst auf. Auf drei Aspekte der weitaus vielfältigeren Pflege- und Lebenspraxis im Heemhof möchte ich noch etwas ausführlicher eingehen: Das System der Farben zum kollektiven Umgang mit Krisen, den Einsatz so genannter Video Interaction Guidance und die Panoplie der versammelten Gegenstände zur Bewältigung des Alltags. All diese Techniken erweisen sich als Elemente, die in der hier praktizierten Pflege-Kunst »of attuning to, respecting, nourishing and even enjoying mortal bodies«18 zusammenspielen. Über das Drei-Farben-System unterrichtet uns vor Ort einer der Psychologen, der eng mit den Pflegenden des Heemhof, aber auch mit den Case-Managern zusammenarbeitet und sich entsprechend sowohl um Bewohner als auch um weiterhin zu Hause lebende Patienten und ihre Familien kümmert. Das System der Farben erlaubt ihm zufolge eine effiziente Kollaboration des permanenten Pflegepersonals mit Medizinern, Psychologen und Angehörigen. Wir sollen uns eine dreifarbige Ampel vorstellen. Wenn alles gut läuft, ist sie grün – das wird in den täglich ausgefüllten Krankenakten durch einen grünen Farbklecks vermerkt. Laufen Kleinigkeiten schief, machen sich Frustration, Wutausbrüche oder Ungeduld bemerkbar, springt die Ampel auf Orange um. Rot indiziert eine ausgewachsene Krise. Die wichtigste Farbe innerhalb dieser Trias ist das Orange, denn es zeigt den Moment an, der das Team und die Angehörigen dazu anhält, aufmerksam zu werden, nachzudenken und sich klar zu machen, was vor sich geht, was genau und warum es schiefläuft, 18 | Annemarie Mol, The Logic of Care. Health and the Problem of Patient Choice, London 2008, S. 14.
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und abzusprechen, was zu tun ist, um so einer größeren Krise möglichst auszuweichen und zu Grün zurückzukehren. Spaziergänge, eine Sitzung mit dem Psychologen, ein Ausflug in die Stadt, ein Wochenende zu Hause – das alles und vieles mehr können angezeigte Manöver sein, die im Fall Orange in Betracht gezogen werden müssen. Das Drei-Farben-System dient also als permanenter Begleiter des multidisziplinären Teams und der Angehörigen, insofern es eine durchgängige Einschätzung der Situation jedes einzelnen Patienten ermöglicht und damit als effiziente Methode zur kollektiven Krisenantizipation und -prävention fungiert. Eine zusätzliche Form des Krisenmanagements ist der regelmäßige Einsatz der Video-Interaction-Guidance-Technik (VIG). Dabei handelt es sich um eine Methode, die in den 1980er Jahren von dem niederländischen Psychologen Harrie Biemans und seinen Kollegen entwickelt und dann federführend von dem Ethologen Colwyn Trevarthen an der Edinburgh-University weiterentwickelt und theoretisch untermauert wurde. Bieman selbst interessierte sich vor allem für frühe Mutter-Kind-Interaktionen und ging der Frage nach, wie sich Dysfunktionen innerhalb dieser vorsprachlichen Beziehung erfassen ließen, um ihnen so möglichst gezielt entgegenwirken zu können.19 Mittlerweile kommt die Methode in England und den Niederlanden, aber auch in Kanada in je leicht veränderter Form auch in ganz anderen Zusammenhängen – etwa in Schulen, Krankenhäusern, Angestelltenverhältnissen – zum Einsatz. Konkret werden dabei Sequenzen aus dem jeweiligen Kontext (zu Hause oder in der Institution) gefilmt, dann von dem so genannter Guider auf bereitet, um in einem weiteren Schritt von ihm und allen oder einer Auswahl der Betroffenen und gefilmten Akteure gemeinsam angesehen und analysiert zu werden. Interessant ist, dass der Fokus dabei schon während der Auswahl des Filmmaterials weniger auf Krisenmomenten und Fehlhandlungen denn auf Prozessen gelungener Kommunikation bzw. Interaktion 19 | Auf der Homepage der Association for Video Interaction Guidance UK heißt es: »The concept is to use principles which promote successful interactions between mothers and infants in the earliest months as a framework for identifying positive moments in communicative exchanges. These moments are selected by focusing on the way in which children’s communicative initiatives are responded to by adults. These principles are fundamental to video interaction guidance and are known as the principles for attuned interactions and guidance.« Siehe: www. videointeractionguidance.net/page-1798526
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liegt. Die Videotechnik erlaubt es dabei – etwa ausgehend von einer Szene gemeinsamen und entspannten Lachens von Mutter und Kind – zurückzuspulen, um dank der präzisen Analyse von Handlungsfrequenzen nachvollziehbar und beschreibbar werden zu lassen, wie es zu dieser angenehmen, vielleicht aber extrem seltenen Situation gekommen ist, welche Körperhaltungen, Gesten, Worte, Handgriffe etc. sie herbeigeführt haben. Diese gezielte Bewusstmachung des Wie gelungener Interaktionen soll die Akteure auf lange Sicht dazu in die Lage versetzen, ein Set an Verhaltensweisen zu generieren und zu stabilisieren, das dabei hilft, solche Momente zu vervielfältigen und Krisensituationen besser zu meistern. In Apeldoorn kommt diese Methode des Krisenmanagements mit zwei Zielen zum Einsatz: um die Aufmerksamkeit der Beteiligten auf Momente geglückter Interaktion zu lenken und um dramatische Situationen in Momente gemeinsamen Lernens umzumünzen. Wenn sich etwa eine der betroffenen Familien darüber beklagt, dass sich die Krisen zu Hause häufen, wird ein in VIG ausgebildetes Team zu ihnen geschickt, das ihren Alltag filmend begleitet. Das so gewonnene Videomaterial wird anschließend von allen involvierten Akteuren, der Kranken, den Angehörigen, dem Pflegeteam und dem Guider gemeinsam angesehen und besprochen, um herauszufinden, was zu den Krisen führt, wer darin welche Rolle spielt etc. In diesem Fall dient das zu Hause aufgenommene Videomaterial als Diskussionsgrundlage und Inspirationsquelle, um misslingende Interaktionen besser reflektieren und gemeinsam angemessenere Taktiken im Umgang mit den identifizierten Schwierigkeiten entwickeln zu können. Dieser Prozess wird, wenn nötig, mehrmals wiederholt. An den VIG-Sitzungen nehmen vor allen Dingen auch neue Mitarbeiter des Heemhofs teil, für die die Sichtung des Filmmaterials und dessen Diskussion zugleich eine aus- bzw. fortbildende Funktion übernimmt. Im Anschluss an die abgeschlossene Analyse werden die Videos aus Gründen der Diskretion zerstört. Schließlich kommen dem Leben mit Huntington im Heemhof die verfügbaren materiellen Ressourcen zugute, auf die abschließend ein Blick geworfen werden soll. Den Bewohnern steht hier ein beeindruckender Fundus an Equipment zur Verfügung, das es erlaubt, den Kranken solange wie möglich erstaunlich große Bewegungs- und Handlungsspielräume offen zu halten. Neben Fahrradkutschen für Angehörigen-Patienten-Ausflüge sowie diversen anderen rollenden Gerätschaften im Sessel-,
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Liegen- und Stehformat kann jeder Kranke einen so genannten personal communicator erhalten. Dabei handelt es sich um ein lernfähiges und auch noch in fortgeschrittenen Stadien der Krankheitsentwicklung leicht zu bedienendes Tablet, das die Huntington-Kranken im Atlant-Institut – wenn sie es wünschen – von den Frühstadien ihrer Erkrankung an begleitet. Auf diese Weise bildet der Apparat eine Art persönliches Gedächtnis aus, das es dank einer integrierten synthetischen Stimme erlaubt, sich auch lange nachdem das organische Sprechvermögen nicht mehr zur Verfügung steht, auszudrücken und, wenn auch langsam, zu unterhalten.20 Obwohl dieses System bereits extrem ausgeklügelt ist, das sei am Rande bemerkt, träumen wir bei Dingdingdong davon, die Qualität dieses communicators noch um vieles zu verbessern! Das Team ist darauf bedacht, die Bewohner vorsichtig davon zu überzeugen, sich nicht nur mit dieser Computer-Technik, sondern auch mit dem Rollstuhlfahren möglichst frühzeitig vertraut zu machen. Denn, so ihre Erfahrung, je länger man wartet, umso schwieriger wird es, diese Kompetenzen zu erlernen. Wer hingegen regelmäßig ein paar Runden mit dem elektrischen Rollstuhl dreht, auch wenn er noch gehen kann, behält diese Kompetenz zumeist um vieles länger und zwar auch in den fortgeschrittenen Stadien der Krankheitsentwicklung. Während unseres Besuchs im Heemhof haben wir unter anderem einen Bewohner getroffen, der entschieden hatte, sich eine Magensonde legen zu lassen. Aufgrund gravierender Schluckbeschwerden hatten seine Mahlzeiten sich in langatmige und quälende Prozeduren verwandelt, während derer er an der eingenommenen Nahrung regelmäßig zu ersticken drohte – ein in den späten Stadien der HD sehr häufiges Phänomen. Auch gelang es ihm auf diesem Wege nicht mehr, die notwendigen Kalorien aufzunehmen, sodass er bis auf die Knochen abmagerte. Seit er sich die notwendigen Kalorien über die Sonde zuführt, konnte er sich zum einen der quälenden Tätigkeit des Essenmüssens entledigen, die ihm zufolge den »Charakter einer Zwangsstopfung« angenommen hatte. Zum anderen ist es ihm aber dank der Magensonde jetzt auch wieder möglich, besonders geschätzte Geschmäcker zu genießen. Essen ist keine notwendige Tätigkeit mehr, die systematisch mit der Gefahr des eigenen 20 | Die motorischen Symptome der HD bringen Schwierigkeiten im Bereich des phonetischen Apparats mit sich, so etwa ausgeprägte Störungen des Sprech- und Schluckvermögens.
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Erstickens assoziiert wäre; vielmehr hat der Kranke die Möglichkeit der Nahrungsaufnahme als Genuss wiederentdeckt. Besonders Bier und Fritten, erzählt er uns verschmitzt, schnabuliert er mit Vergnügen langsam und in kleinen Portionen. Seine Entscheidung zum Tragen einer Magensonde bringt uns etwas Entscheidendes bei: Es ist möglich, diese Ernährungstechnik nicht grundsätzlich mit palliativer Pflege am Lebensende zusammenzubringen, sondern sie ganz einfach in das Leben selbst einzuschreiben. Zusätzlich zu diesen Hightechmaterialien spielen aber auch diverse vor Ort zusammengebastelte lowtech-Gegenstände eine für den Alltag unentbehrliche Rolle im Heemhof. Besonderen Eindruck hinterlassen die mit vorgefundenen Materialien hergestellten Aschenbecher, die es den nicht selten nikotinabhängigen Bewohnern ermöglichen, gefahrlos ihrer Sucht zu frönen. Auf einen Standardaschenbecher wird dazu ein Ring gelötet, durch den das ca. 20 cm lange Stück einer gastrischen Sonde gefädelt wird, in die man die Zigarette hineinstecken kann, sodass die Asche sicher im metallenen Reservoir landet. An ihrem anderen Ende wird die gastrische Sonde mit einer etwa gleichlangen Rektalsonde verbunden, die als Mundstück dient. Anschließend wird der Aschenbecher auf einen Tisch geschraubt und mit einem Namen versehen. So können die Bewohnerinnen auch in weit fortgeschrittenen Stadien der Krankheit und trotz heftiger choreischer Bewegungen an ihren Tischen auf der Terrasse sitzen und rauchen, ohne das Risiko einzugehen, dabei versehentlich Feuer zu legen. Ich denke es ist deutlich geworden, dass die Huntington-Krankheit im Atlant-Institut nicht einfach nur anders behandelt wird als anderswo, an und für sich aber dieselbe bleibt wie überall auf der Welt. An diesem außergewöhnlichen Ort wird vielmehr auf allen Ebenen eine andere Version der HD realisiert und kultiviert. Damit aber greift man in Apeldoorn aktiv in ihre Naturgeschichte ein – nicht nur metaphorisch, sondern auch im streng medizinischen Sinne des klinischen Verlaufs der Krankheit. Das wird vielleicht am sinnfälligsten in Bezug auf zwei Symptome: Anosognosie und Demenz. Beide gelten in Großteilen der medizinischen Literatur als unumgänglicher Teil der HD. Anosognosie bedeutet, dass sich der Betroffene seiner Symptome nicht bewusst ist. Sie begleite, so heißt es, auf die eine oder andere Weise den gesamten Krankheitsverlauf. Zur Demenz hingegen komme es erst in den späten Phasen. In einer Diskussion mit den Pflegenden in Apeldoorn wird deutlich, dass keiner von
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ihnen diese Symptome an den dortigen Patienten beobachtet. Diese seien zwar zunehmend langsamer und man brauche manchmal viel Geduld, ehe man etwa Antwort auf eine gestellte Frage erhalte, aber dement oder anosognostisch? Nein, davon könne nicht die Rede sein. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Abwesenheit der genannten Symptome vor allem damit zusammenhängt, dass Demenz und Anosognosie im Atlant-Institut keine Chance gegeben wird. Und zwar weil man hier HD-Patienten niemals so adressiert, als hätten sie Erscheinungen einer der beiden. Im Gegenteil dazu setzen die Mitarbeiterinnen in dieser Einrichtung alles daran, Personen ebenso wie Situationen von ihren jeweiligen Stärken her anzugehen und das heißt vor allen Dingen, ihren Bewohnern so viele Gelegenheiten wie irgend möglich zu geben, »ein Maximum an Handlungsfähigkeit zu bewahren«,21 Akteure dessen zu bleiben, was ihnen zustößt. All das macht das Atlant-Institut für uns zu der bewundernswerten Produktionsstätte eines moralischen und politischen Pragmatismus in Aktion.
A utonomie ? Den Kindern [ihren Neffen, die alle Träger der HD sind] sage ich: Seid stolz. Ihr seid außergewöhnlich. Ihr habt eine seltene, unbekannte Krankheit. Ihr seid außergewöhnlich. C atherine 22
Die Einführung des Autonomiebegriffs, der dem verbrieften Recht auf Wissen (und Nicht-Wissen) sowie informiertem Einverständnis zugrunde liegt, muss historisch betrachtet als Effekt eines berechtigten Misstrauens gegenüber einer zunehmend technologisch aufgerüsteten Hightech-Medizin und ihren Praktikern beschrieben werden. Wie wir gesehen haben, tendiert das epistemologische und methodische Regime der modernen Medizin seit seinen Anfängen dazu, nicht nur Patienten 21 | Debaise, »La pensée laboratiore«, op.cit. 22 | Auszug eines von Dingdingdong initiierten Gesprächs mit Catherine, die aus einer seit mindestens drei Generationen von Huntington betroffenen Familie stammt. Siehe dazu: Composer avec Huntington, a.a.O.
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von ihren Krankheiten zu ab-strahieren, sondern parallel dazu auch Ärztinnen und Patienten voneinander zu distanzieren. Ärzte behandeln allzu oft diagnostizierte Krankheitseinheiten (diseases) und nicht so sehr Kranke mit ihren vielfältigen und differierenden Erfahrungen (illnesses). Eine Entwicklung, die sich mit dem wachsenden technologischen Know-how von Intensiv-, Transplantations- und lebenserhaltender Medizin seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zugespitzt hat und die ihren Höhepunkt in aktuellen Systemen eines Versicherungswesens erreicht, das präzise vorschreibt, welche finanziellen – und das heißt zugleich zeitlichen, personellen und pharmakologischen – Ressourcen für diese oder jene Diagnose aufgewandt werden dürfen. In den USA begann der organisierte Protest gegen eine verstärkt hochtechnologisierte, von Marktinteressen diktierte, autoritäre und ›entmenschlichte‹ Medizin, innerhalb derer es für Empathie, Nähe und die Werthaltigkeit medizinisch-diagnostischer Fakten immer weniger Platz gab, bereits in den 1960er Jahren. Die neue Disziplin der Bio- bzw. Medizinethik war zugleich einer der Effekte und zentraler Akteur dieses Protests. Sie trat mit Forderungen nach Patientenautonomie und dem Recht auf informiertes Einverständnis an – Begriffe, die für sie bis heute essentiell geblieben sind. Autonomie bot sich als begründendes Prinzip nicht nur deswegen an, weil es sich aus anderen Bereichen, namentlich der politischen Autonomiebewegung extrapolieren ließ, sondern auch, weil die Sicherstellung der Patientenautonomie ein klares, stabiles Gegenmittel im Kampf gegen das wachsende Misstrauen bezüglich der modernen Medizin zu liefern schien. »Whereas trust had hitherto been the implicit moral understanding governing physician behaviour and patient delegation of authority, in the age of Johnson and Nixon, patient confidence required both new definition and novel substitues.«23 Der Autonomiebegriff erweist sich allerdings bei näherem Hinsehen und mit Blick auf seine aktuellen Ausprägungen in mehrfacher Hinsicht als problematisch, ja nicht selten als kontraproduktiv. Basiert doch die von ihm zugrunde gelegte Konzeption eines Patienten auf dem Modell eines mündigen, aufgeklärten, souveränen Bürgers bzw. eines handlungs- und entscheidungsfähigen, selbstbewussten, selbstbeherrschten und das heißt nicht-relationalen Subjekts. Entsprechend führt er aber radikal gesprochen das Risiko mit sich, die von ihm kritisierten Tendenzen der mo23 | Tauber, Patient Autonomy and the Ethics of Responsibility, a.a.O., S. 43.
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dernen Medizin nicht nur unberührt zu lassen, sondern ihnen auf seine Weise sogar noch Vorschub zu leisten. Denn »autonomy as configured in its individualistic stance facilitates the isolation required for positivism to operate freely.«24 Damit läuft der bioethische Diskurs in letzter Konsequenz Gefahr, ein liberales Patienten-Subjekt zu modellieren, das zwar analog eines Bürgers gegenüber dem Staat mit Rechten gegenüber einer vertrauensunwürdig gewordenen Medizin ausgestattet ist, diese Mündigkeit allerdings mit dem Preis seiner konstitutiven Einsamkeit bezahlt. Denn lag das Misstrauen zu Beginn auf Seiten der Patienten, sind es jetzt vor allen Dingen Ärzte, die ihren Patienten misstrauen, insofern diese zu potentiellen Klägern geworden sind. Schriftstücke, die autonome Subjekte über die Risiken der angezeigten Behandlung, etwa eine Operation, informieren und deren Einverständnis durch die Unterschrift des Patienten bestätigt werden muss, dienen heute in erster Linie der Absicherung des Arztes und der Institution gegenüber drohenden Klagen. Ein ähnliches Umschlagen lässt sich für das eng an den Autonomiebegriff geknüpfte Recht auf Wissen beobachten. Das wird etwa immer dort augenfällig, wo dieses Recht sich unter der Hand in eine Anweisung oder einen Imperativ zu Wissen verwandelt: Nur indem man das bekannte eigene genetische Risiko auf HD oder andere Krankheiten wie Hypercholersteoromie, Alzheimer und diverse Myopathien durch die Inanspruchnahme existierender Tests in eine Sicherheit verwandelt und daraus die angezeigten Konsequenzen für die eigene Lebensführung ziehe, erweise man sich als verantwortliches, moralisches Subjekt. Eine zweite, ebenfalls der Unzufriedenheit mit den etablierten Gesundheitssystemen entsprungene Entwicklung hat seit den 1960er Jahren immer wieder weitaus interessantere Wendungen genommen: Die Patientenvereinigungen. Oder genauer, ein ganz bestimmter Typus des Patientenkollektivs, der sich dadurch auszeichnet, den eigenen Aktionsradius nicht länger darauf zu beschränken, Fundraising für die medizinische und pharmakologische Forschung an der eigenen Krankheit zu betreiben – eine Aktivität, die eingeübte hierarchische Logiken bezüglich der Wissensproduktion weiterhin bedient. Die gemeinten Patientenkollektive hingegen experimentieren mit anderen Formen der Intervention, die sich vor allen Dingen dadurch auszeichnen, dass Mitglieder systematisch eigene Kompetenzen in Bezug auf ihre Krankheiten kultivieren. Von 24 | Ebd., S. 13.
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einem Beispiel dafür, dem Projekt der ›Stimmenhörer‹, war bereits früher die Rede. Aber auch Taubstumme, Autisten und Parkinson-Kranke haben sich in den letzten Jahrzehnten in zunehmendem Maße kollektiv organisiert. Mit dem Motto »Nicht für uns ohne uns« platzieren diese Bewegungen den Nutzer im Zentrum ihrer Reflektionen und Aktionen und zwar nicht im Sinne eines ›Konsumenten‹ des Medizinbetriebs, sondern im Sinne eines Ko-Konstrukteurs im Prozess der gemeinschaftlichen Ausarbeitung von Gebrauchskulturen mit der ihnen eigenen Krankheit oder Behinderung. »Anders als die durch eine Diagnose gerechtfertigten oder auf einen Zweck hin gerichteten Anwendungen, ist die Gebrauchskultur ein kollektives Problem. Sie bedarf eines kollektiven Wissens, eines Wissens im Sinne einer kollektiven Expertise im alten Sinne des Wortes demzufolge Expertise zunächst einmal ein aus der Erfahrung gewonnenes und im Zusammenhang mit der Erfahrung kultiviertes Wissen bezeichnete. […] Und für diese Erfahrung ist das Eigenwissen, das Nutzervereinigungen konstruieren können vital. Denn es ist eben dieses Wissen, das jenseits seines Eigenwertes, die anderen Wissensformen dazu zwingen kann anzuerkennen, dass sie alle um etwas herum versammelt sind – ein Wesen? Eine Kraft? –, das keinem gehört, das keiner sich zu eigen machen oder repräsentieren kann.« 25
Mit solchen Formen kollektiver Wissensproduktion bezüglich eines möglichst gelingenden Lebens mit dieser oder jener Krankheit, geht es weniger darum, medizinisches Wissen infrage zu stellen, als vielmehr darum, ihm stichhaltige Expertisen anderer Art hinzuzufügen. Und anstatt sich mit einem Opferstatus zu begnügen, leisten die Aktivisten dieser Initiativen Widerstand gegen institutionell eingeübte und sanktionierte Subjektivierungsverfahren, indem sie die Produktion ihrer Zukunft kollektiv in die Hand nehmen. Indem sie sich selbst und der eigenen Krankheit Interesse entgegenbringen und durch die gemeinsame Auseinandersetzung mit ihr neue Praktiken oder auch Gebrauchsformen (usages) generieren, setzen sie darauf, dass es auf diesem Wege gelingen kann, auch das Interesse anderer für das zu wecken, was sich aus ihrer Sicht als stichhaltig erweist. Das ist etwa dann der Fall, wenn Psychiater sich von Mitgliedern der ›Stimmenhörer‹ weiterbilden lassen. Die Wahrheit, die solche Kollek25 | Isabelle Stengers, »Usagers: lobbies ou création politique?«, in: Nathan und Stengers, Médecins et sorciers, a.a.O., S. 175-202, hier S. 199.
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tive hervorbringen, erschöpft sich also nicht darin, auf die Dramatik der sie betreffenden Krankheit oder des sie betreffenden Syndroms aufmerksam zu machen. Wahrheit scheint hingegen in dem Prozess auf, »durch den [diese Personen], auf den ihnen eigenen Wegen zu etwas anderem werden als zu Opfern; sie liegt in der Art und Weise wie sie sich in den Prozess, der sie zu Opfern macht einmischen und ausgehend davon nicht Klagen und Ressentiments sondern Formen des Werdens und der Fabulation erschaffen.«26 Wir haben mit einem Blick in das Atlant-Institut gesehen, dass sowohl der Autonomiebegriff als auch derjenige des informierten Einverständnisses für den Zusammenhang von Pflegesituationen eher blockierend als hilfreich sein können. Denn gelungene Pflege entwickelt sich gerade nicht in Bezug auf isolierte Subjekte, sondern durch ein permanentes Hin und Her zwischen Patienten, Pflegenden, Ärzten und Angehörigen und berücksichtigt entsprechend all diese Akteure und ihre jeweiligen Interessen und Bedürfnisse. Keiner von ihnen ist im strengen Sinne autonom. Vielmehr lernen sie alle von- und miteinander im Prozess einer hochgradig relationalen und ko-konstruierten Pflegepraxis. Aber auch zur Beschreibung der Praxis von Patientenkollektiven, die wie die Stimmenhörer oder auch Autisten ihre Kraft und Produktivität gerade aus der Kollektivierung des sie versammelnden Wesens beziehen, scheint der Autonomiebegriff wenig angemessen. Etwas schematisch ließe sich vielleicht sagen, dass Autonomie im einen Falle zu hoch angesetzt ist, weil die Sicherstellung des relativen Wohlergehens der gepflegten Kranken häufig gerade ein situatives Unterlaufen ihres im strengen Sinne ›autonomen‹ Willens notwendig machen. Zur Beschreibung der Unternehmungen von Patientenkollektiven – die im extremsten Falle eine ihren Mitgliedern eigene Kultur überzeugend für sich beanspruchen, deren Begründer sie selbst sind –, hängt ein auf informiertes Einverständnis reduzierter Autonomiebegriff hingegen bei weitem zu niedrig. Man könnte nun einwenden, ein mittlerer Autonomie-Begriff sei gerade im Zusammenhang mit präsymptomatischer Diagnostik dennoch haltbar. Denn schließlich bezieht er sich hier auf eine Person, die noch nicht krank, noch a-symptomatisch ist und insofern, wie ein Bürger vom Staat, nämlich als selbstbewusstes und selbstbeherrschtes, souveränes 26 | Isabelle Stengers, »Une politique de l’hérésie«, in: Vacarme, Nr. 19, 2002, S. 4-13, online unter: www.vacarme.org/article263.html
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Subjekt, ausgestattet mit einem Recht auf Wissen (und Nicht-Wissen), zu behandeln ist. Aber auch hier stößt man schnell auf Stolpersteine. Wer sagt etwa, dass dieses Recht die Betroffenen freier macht? Wie ist es um das vielschichtige Evaluationsprozedere bestellt, das der Ausübung dieses Rechts – wie Alice Rivières Geschichte ausführlich vor Augen geführt hat – vorausgeht? Und inwieweit kann davon die Rede sein, dass das Ergebnis eines solchen Tests Sicherheit und nicht vielmehr neue Formen der Verunsicherung generiert? Wenn man alledem zum Trotz an dem Begriff der Autonomie festhalten möchte, müsste er dann nicht zumindest mit einer jedem zugänglichen Bereitstellung von Denk-Instrumenten einhergehen, die es erlauben würden, das medizinische Wissen im wortwörtlichen Sinne zu relativieren, d.h. es in Relation zu anderen Praktiken der Wissensproduktion – wie etwa denjenigen von Patientenkollektiven – zu setzen?
W as sagen uns die O r akel? Ein divinatorisches Dispositiv ist immer ein Akt der Kreation. Es instituiert die Schnittstelle der Universen, macht sie greif bar und dann denkbar. Tobie N athan 27
Der Vergleich mit antiken Orakeln und Hellsehern liegt in Bezug auf den HD-Test und allgemeiner hinsichtlich der Techniken präsymptomatischer Diagnostik auf der Hand. Nicht nur die Massenmedien bedienen sich zur Beschreibung und Analyse genetischen Zukunftswissens dieser Topoi, sie tauchen auch in der Fachliteratur regelmäßig auf. So legte etwa 2001, also noch vor Abschluss des Humangenomprojekts, das Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim deutschen Bundestag eine diesbezügliche Studie unter dem Titel »Das genetische Orakel. Prognosen und Diagnosen durch Gentests – eine aktuelle Bilanz«28 vor. Aber auch von Seiten 27 | Nathan und Stengers, Médecins et sorciers, a.a.O., S. 17 (Übersetzung K.S.). 28 | Leonhard Hennen, Thomas Petermann und Arnold Sauter, »Das genetische Orakel«. Prognosen und Diagnosen durch Gentests – eine aktuelle Bilanz, Berlin 2001.
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der Protagonistinnen der Forschung wird die Bezugnahme auf Orakel und Hellseherkunst hinsichtlich des Wissens, das hier verhandelt und verkündet wird, immer wieder aufgerufen. Nancy Wexler etwa publizierte zwischen 1983 und 1992 mit Blick auf den präsymptomatischen Gentest für die HD mindestens drei Artikel, die schon im Titel eine solche Verknüpfung herstellen: »The Gene-Oracle«, »Clairvoyance and Caution« und »The Teresias Complex«. »The blind seer Tiresias«, beginnt dieser 1992 erschienene Artikel, »confronted Oedipus with the quintessential dilemma of modern genetics: »It is but sorrow to be wise when wisdom profits not.«29 In all diesen Fällen beziehen sich die Autoren auf das von den antiken Stimmen der Zukunftsprophetie vorhergesagte Unglück, deren Verwünschungscharakter und die menschliche Machtlosigkeit ihm gegenüber. Der Bezug ist also durchgängig ein negativer, pejorativer.30 Das Orakel figuriert als Metapher für nicht abgesichertes, vor allem aber existentiell gefahrvolles Wissen. Die konkreten Orakel-Praktiken und ihre metikulösen Regularien geraten dabei nicht in den Blick. In diesem abschließenden Kapitel möchte ich die intuitiv wahrgenommene Verbundenheit zwischen Orakeln und prädiktiver Medizin weiterverfolgen, sie jedoch anders wenden. Meine Hypothese ist, dass die antiken Orakel bei näherem Hinsehen dabei instruktiv sein können, Elemente für die Konstruktion der so dringlich benötigten, besser ausgestatteten Empfangsmilieus für unsere Test-Kreatur zu versammeln. Dieser Vorschlag kann allerdings erst dann verständlich werden, wenn wir den Fokus auf konkrete Orakel-Praktiken und ihrer materiellen Kulturen richten. Insbesondere gilt es, an die in den Orakelstätten kultivierten vielfältigen Vorsichtsmaßnahmen und Proben zu erinnern, denen sich etwa in Delphi alle in die Produktion und Vermittlung des Zukunftswissens verwickelten Akteure unterziehen mussten. 29 | Nancy Wexler, »The Tiresias Complex. Huntington’s Disease as a Paradigm of Testing for Late-Onset Disorders«, in: FASEB Journal, vol. VI, 10, 1992, S. 28202825. 30 | Eine bemerkenswerte Ausnahme bilden die beiden Aufsätze »DNA-Horoskope« und »Prädiktive Vernunft. Das Orakel und die prädiktive Medizin als Erfahrungsbereiche für Rationalität« von Christoph Rehmann-Sutter; beide erschienen in: Ders., Zwischen den Molekülen. Beiträge zur Philosophie der Genetik, Tübingen 2005, S. 83-108 und S. 243-265.
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Besonders greifbar wird die existentielle Funktion der Vorsichtsmaßnahmen für die antike Wahrsagekunst und ihre Produktion prophetischen Wissens anhand der Überlieferung einer misslungenen Orakelkonsultation. Im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung – wohl in den 80er oder frühen 90er Jahren – kam es im Apollo-Tempel zu Delphi zu einem dramatischen Unfall, der den Tod der Priesterin, die die göttliche Rede übermittelte, nach sich zog. Die Pythia war während einer Konsultation des Orakels wie besessen schreiend und tobend aus dem Adyton – dem Allerheiligsten – in Richtung Tempelausgang gestürzt und nur wenige Tage darauf verstorben. Dieser Vorfall löste nicht nur unter den Bewohnern von Delphi eine enorme Irritation aus – stellten ihre Familien doch dem Tempel regelmäßig seine Pythien –, er beschäftigte auch das Tempelpersonal nachhaltig. Darauf lässt zumindest die Tatsache schließen, dass Plutarch, dessen Freund Nicander zu dieser Zeit das Amt eines der beiden in römischer Zeit am Heiligtum beschäftigten Priester (prophetes) innehatte, in »Ueber den Verfall der Orakel« noch viele Jahre später ausführlich und offensichtlich nachhaltig betroffen über diesen Vorfall berichtet: »Zuletzt war sie ganz verwirrt, stürzte unter furchtbarem Geschrei der Thüre zu und warf sich auf die Erde, so daß nicht blos die das Orakel Befragenden, sondern auch der Prophet [Oberpriester] Nicander und die anwesenden Hosier die Flucht ergriffen. Doch gingen sie bald nachher wieder hinein, und ließen das Weib, das ohne Bewußtsein war, wegbringen. Aber sie überlebte den Vorfall nur wenige Tage.« 31
In welchem Zusammenhang stand dieses dramatische Ereignis? Welche Vorkommnisse waren ihm vorausgegangen und wodurch war der beängstigend heftige Ausbruch der Pythia verursacht worden, der alle Anwesenden in Furcht und Schrecken aus dem Tempel und sie selbst letztlich in den Tod trieb? Plutarch, der nur einige Zeit später seinerseits das Priesteramt in Delphi antreten und 30 Jahre lang ausüben sollte, gibt auf diese Fragen mehr als nur vage Hinweise. Der Tod der Pythia wird von ihm eindeutig als Effekt unzulässiger Manipulationen der die Zukunftsschau vorbereitenden Opferrituale durch das Tempelpersonal beurteilt. »Es waren Leute aus der pferthier aber blieb, so Fremde gekommen, das Orakel zu befragen, das O sagt man, bei dem ersten Begießen unbeweglich und ohne Empfindung; 31 | Plutarch, »Ueber den Verfall der Orakel«, in: Ders., Moralia, Band 1, Wiesbaden 2012, 30. Stück, S. 706-747, hier 746f.
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als aber die Priester alle Mühe anwendeten, gab es zuletzt, wie mit einem Regen überschüttet und überschwemmt, ein Zittern von sich.«32 Wie so oft in Delphi war also eine Delegation von weither angereist, um das Orakel in staatstragenden Angelegenheiten zu befragen. Auch hatten die Gesandten wohl das Recht der Pro-mantie, das heißt ein Recht darauf, die Pythia vor allen anderen Ratsuchenden zu befragen. Und offenbar wollte man diese politisch relevanten Persönlichkeiten nicht enttäuschen, sie nicht auf eine spätere Konsultation vertrösten, auch wenn die Zeichen ungünstig standen und damit die divinatorische Befähigung der Pythia – die als Instrument oder Sprachrohr des Gottes Apollon fungierte – mehr als fraglich war. Die so genannten Präliminarien, die rituellen Vorbereitungen und Vorkehrungen also, die vor jeder pythischen Beratung getroffen werden mussten, hatten innerhalb der delphischen Liturgie eine zentrale Stellung. Sie bestanden aus einer ganzen Reihe von Schritten, die nicht zuletzt vor Augen führen, dass es sich bei jedweder Divination um eine enorm heikle Angelegenheit handelt, die präzise, wachsam und mit Bedacht vorzubereiten und durchzuführen ist. Der erste dieser der eigentlichen Befragungspraxis vorausgehenden Schritte bestand in der Festlegung eines Befragungskalenders. Während in der Frühzeit des Orakels »nur einmal jährlich, am Geburtstag des Gottes (Apollon), Orakel erteilt« wurden, konnte die Pythia später »am siebten Tag jedes Monats und im Sommer auch an den darauf folgenden Tagen«33 konsultiert werden. »Daneben konnte man auch Sondertermine vereinbaren, immer vorausgesetzt, dass die Opfer günstig ausfielen und dadurch anzeigten, dass der Gott bereit war, mit seiner Priesterin in Verbindung zu treten.«34 Um also sicher zu gehen, dass die Zeichen günstig standen und das Orakel in Betrieb genommen werden durfte, musste vor jeder Befragung der Pythia ein Tier geopfert werden. Aber diese Opferung fand wiederum erst nach Präliminarien statt, also Riten, die das jeweilige Tier einer spezifischen Probe unterzogen, um festzustellen, ob der nächste Schritt überhaupt angezeigt war. »Denn das Opferthier muß rein an Leib und Leben seyn, unverletzt und unverdorben; das Leben aber prüft man, indem man den Stieren Mehl, den Ebern Cerebin32 | Ebd., S. 746. 33 | Marion Giebel, Das Orakel von Delphi. Geschichte und Texte, Stuttgart 2001, S. 16. 34 | Ebd.
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then vorsetzt; jedes Thier, welches davon nicht kostet, hält man für ungesund. So prüft man auch die Ziegen mit kaltem Wasser; weil die Unempfindlichkeit bei dem Begießen für ein Zeichen angesehen wird, daß das Leben nicht in seinem natürlichen Zustande sich befindet.« 35
Nur wenn die Ziege springend die Nackenhaare aufgestellt, der Stier Mehl beziehungsweise der Eber Kichererbsen gefressen hatte, konnte davon ausgegangen werden, dass die Omen für eine Konsultation der Pythia sprachen. Erst wenn das Opfertier also in Form klar festgelegter Zeichen gewissermaßen sein Einverständnis erteilt hatte, ging man zu dessen Opferung über. Denn nur dann konnte man davon ausgehen, dass die Pythia in der Lage war, mit dem Gott Apollon in Verbindung zu treten und dieser seinerseits bereit, seinem Instrument, der Priesterin die notwendige Inspiration einzugeben, ihr den Enthusiasmus, den Atem einzuhauchen. Ehe die Pythia letztendlich wirklich befragt werden durfte, mussten allerdings auch die Ratsuchenden selbst eine ganze Reihe von Präliminarien verrichten: sich reinigen, einen Opferkuchen verbrennen und in späteren Zeiten ein Geldopfer erbringen sowie den Obolus für ein weiteres Vor opfer an die Opferdiener entrichten. Erst nach Erfüllung all dieser Rituale wurden sie in das Allerheiligste des Apollotempels eingelassen. Aber auch die Pythia hatte, ehe sie auf dem Dreifuß im Adyton Platz nahm, eine Serie ritueller Handlungen durchlaufen: »Sie hatte in der Quelle Kastalia ein rituelles Bad genommen, aus der Kassotisquelle getrunken, Blätter vom Lorbeerbaum gekaut und Weihrauch entzündet.«36 Für den erfolgreichen Vollzug des delphischen Orakels muss das Zusammenspiel all dieser vorbereitenden Maßnahmen mit ihren jeweiligen Anforderungen als konstitutiv gelten. War auch nur eine der vorgeschriebenen Bedingungen nicht gegeben, so konnte und durfte normalerweise keine Befragung stattfinden. Denn »[w]enn nun die Einbildungs- und Weissagekraft mit der Mischung des Hauches, gleichwie eines Arzneimittles [pharmakon, K.S.], in gehörigem Verhältniß steht, so muß noth wendig bei den Wahrsagern die Begeisterung [enthousiasmós = von Gott besessen oder erfüllt, K.S.] entstehen, im andern Falle aber entweder gar nicht, oder es entsteht eine ungeordnete, unzeitige und verworrene
35 | Plutarch, »Ueber den Verfall der Orakel«, a.a.O. S. 745. 36 | Giebel, Das Orakel von Delphi, a.a.O., S. 18.
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Begeisterung.«37 Als sich der geschilderte außerordentliche Vorfall ereignete, waren die geopferten Ziegen, wie bereits zitiert, nicht springend erzittert. Diese Warnung ignorierend, war das Tempelpersonal dennoch das Risiko eingegangen, eine Konsultation der Pythia zu erlauben. Die Deregulierung ihres Enthusiasmus’ hatte sich denn offenbar auch bereits von Beginn der Sitzung an bemerkbar gemacht: »Sie trat, so erzählt man, in das Heiligthum, wider ihren Willen und ohne Lust ein und schon bei ihren ersten Antworten merkte man aus der rauhen Stimme, daß sie, wie ein von Winden fortgerissenes Schiff sich nicht halten könne, wie sie von einem die Sprache hindernden bösen Wind erfüllt war.«38 Der Fall der toten Pythia verdeutlicht, welche Gefahren drohten, wenn man versuchte, Zukunftswissen zu erzwingen und ein ratloses Orakel zum Dienst drängte. Das Geschenk (gift) der Einbildungskraft oder göttlichen Inspiration schlug nur allzu schnell in ein Gift (poison) um. Diese pharmako-logische Beschaffenheit des Vorhersagens künftiger Ereignisse, innerhalb derer gelungene und todbringende Verbindungen mit dem Gott erschreckend nah beieinander lagen – einzig durch eine Variation der Dosierung voneinander getrennt –, strukturierte das delphische Orakel konstitutiv. Vielversprechendes Wahrsagen (mantein) und regelloses, existentiell riskantes Wahnsagen (manie) lagen hier gefährlich nah beieinander. »Deßwegen sieht man darauf, daß die Pythia ihren Leib rein vom Beischlaf halte und mit Fremden in keinem Verkehr lebe; man achtet daher auch, ehe man das Orakel befragt, auf die Zeichen, weil man glaubt, daß es der Gottheit am ersten bekannt sey, wann die Pythia in der erforderlichen Stimmung sich befinde, um ohne Nachtheil die Begeisterung auszuhalten. Denn die Kraft des Hauches wirkt nicht bei Allen, ja nicht einmal bei Denselben stets auf dieselbe Weise […].« 39
Jede Befragung der Pythia ging demnach zumindest mit dem geringfügigen Risiko einer Deregulierung der Beziehung zwischen der Gottheit (Apollon) und seiner Prophetin einher – derjenigen also, die für (pro) ihn sprach oder in seinem Namen. Denn auch an Tagen, an denen die Zeichen gut standen und die Pythia nicht »wie ein von Winden fortgerissenes Schiff« wankte, »weil sie von einem die Sprache hindernden, bösen Wind erfüllt« 37 | Plutarch, »Ueber den Verfall der Orakel«, a.a.O. S. 746. 38 | Ebd. 39 | Ebd., S. 747.
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war, konnte man ihr anmerken, dass die mantische Aktivität hochgradig anstrengend und aufreibend für sie war: »Sobald sie sich vom Dreifuß und vom mantischen Atem entfernt, findet sie ihre Ruhe und Ausgeglichenheit wieder.«40 Die Priester und anderen Tempelangestellten hatten dafür Sorge zu tragen, dass die riskante Beziehung zwischen dem Gott Apollon und der Pythia, zwischen göttlichem Vorwissen und der ausgesprochenen Vorhersage, möglichst reibungslos verlief. Dies allerdings setzte eine genaue Einhaltung der liturgischen Regeln voraus. Die Pythia zu zwingen Fragen zu beantworten, Zukunft vorherzusagen und Ratschläge zu erteilen, obwohl alle Zeichen dafürsprachen, dass sie nicht antwortfähig (und wortwörtlich unverantwortlich) war, erwies sich als tödliches Spiel. Es ist leicht vorstellbar, dass Abweichungen von den Regularien, wie sie dem Tod besagter Pythia vorausgingen, nicht nur das Wahrsagemedium in existentielle Gefahr brachten, sondern auch all diejenigen, die zugegen waren. Einerseits, weil die Ratsuchenden infolgedessen womöglich ihre Handlungen an einem nicht autorisierten, einem ›ratlosen‹ Orakel ausrichteten, was im Einzelfall fatale Folgen haben konnte – beeinflusste das delphische Orakel doch nicht selten etwa kriegerische Entscheidungen von großer Tragweite. Andererseits, weil die durch keinerlei rituelle Techniken gemäßigte Freisetzung wilder göttlicher oder dämonischer Wesenheiten – womöglich erzürnt über den unbotmäßigen Umgang mit den Vorschriften – die Gefahr barg, von ihnen auf ebenso regellose Weise gewaltsam in Besitz genommen, besessen zu werden. Auch andere Orakelpraktiken waren strengen Regeln unterworfen und bedurften ausgiebiger Einübung. Ob bei der Beobachtung des Vogelflugs, dem Entziffern von Öltropfen auf einer Wasseroberfläche oder dem Studium der Lebern geopferter Tiere zu divinatorischen Zwecken, die »Beratungskompetenz […] [korrespondierte mit] der Lesefähigkeit«.41 Diese aber musste erlernt werden und so stellte man etwa tönerne und bronzene Lebermodelle her, die detailliert beschriftet waren und an denen die Adepten das anatomische Studium sowie die Suche nach Zeichen, die sich als Korrespondenzen zwischen Makro- und Mikrokosmos dechiffrieren ließen, en detail erlernen konnten. 40 | Ebd. 41 | Thomas Macho, »Was tun? Skizzen zur Wissensgeschichte der Beratung«, in: Thomas Brandstetter, Claus Pias und Sebastian Vehlken (Hg.), Think Tanks. Die Beratung der Gesellschaft, Berlin 2010, S. 59-85, hier S. 63.
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»Wie im medizinischen Diskurs wurden Symptome zu Diagnosen, und Diagnosen zu Prognosen verdichtet. […] Die Ergebnisse mussten ausgewertet und präzis festgehalten werden; denn nicht selten wurde der Irrtum des Beraters grausam bestraft. Nach Herodots Bericht wurden die gescheiterten Wahrsager der Skythen, die mit Weideruten zu operieren pflegten, auf Ochsenkarren geschnallt und mit ihren Reisigbündeln bei lebendigem Leibe verbrannt.« 42
Im Angesicht der Bedrohung, die das falsche Wahrsagen darstellte, »haben Berater schon früh versucht, die Qualitäten ihrer Ratschläge von den Konsequenzen der empfohlenen Taten abzulösen.« 43 In diesem Sinne nahmen Ratschläge und Prophezeiungen, so etwa auch in Delphi, in den meisten Fällen die Form eines Rätsels an. Denn dadurch war sichergestellt, dass auf die eigentliche Vorhersage eine Phase ihrer Deutung folgen musste, für die das Orakel selbst nicht verantwortlich gemacht werden konnte. Der Divinationsprozess erfolgte in mindestens zwei Schritten: »Im ersten Teil wurden mediale, beispielsweise tranceinduzierte, charismatische Kommentare abgegeben, im zweiten Teil wurden diese Kommentare interpretiert.« 44 Weil der eigentliche Hellseher respektive die göttlich inspirierte Pythia oder Sybille in Rätseln sprachen, fanden sich um Delphi und andere Orakelstätten herum ganze Stäbe von Spezialisten der Lektüre, Übersetzung und Interpretation der rätselhaften Auskünfte. Ihren eigentlichen Sinn und ihre Dynamik gewann eine Prophezeiung entsprechend erst, nachdem sie durch mehrere Hände gegangen, also gewissermaßen kollektiviert worden war. Dabei erwies es sich als unabdingbar, die Rollenverteilung genauestens einzuhalten, verteilte sie doch zugleich die Verantwortung für das Vorhergesagte. Sowohl die Vor- als auch die Nachbereitung der Produktion immer schon prekären Zukunftswissens setzte in diesen Kontexten demnach auf die strategische Multiplikation von Akteuren und Rollen ohne deren koordinierte Intervention sich dieses Wissen gar nicht erst generieren, geschweige denn verkünden ließ. Aus diesen Überlegungen lassen sich dann wenigstens zwei Mindestanforderungen an prädiktive Praktiken präziser fassen: Im Gegensatz zur Prognostik, deren Hauptinstrument darin besteht, ein 42 | Ebd., S. 64. 43 | Ebd., S. 65. 44 | Ebd.
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Wahrscheinlichkeitskalkül auf die Entität anzuwenden, deren zukünftige Entwicklung ermittelt werden soll, dürfen divinatorische Techniken nicht denjenigen ins Zentrum stellen, der eine Frage an sie adressiert. Im Gegenteil, sie müssen eine ganze Reihe an menschlichen und nicht-menschlichen Elementen – kurz die ökologische Gemengelage – in Betracht ziehen, um beurteilen zu können, ob diese auf hinreichend abgesicherte Art und Weise miteinander konspirieren als dass eine Prädiktion gewagt werden kann. Die zweite Mindestanforderung bezieht sich auf den Status der Divination selbst. Im Kontrast zu einer Diagnose bezieht sie sich weder auf eine aktuell noch auf eine virtuell vollendete Wirklichkeit oder radikaler formuliert, sie weiß nichts über die Realität. Vielmehr konfrontiert sie all jene, die in den Prozess ihrer Produktion impliziert sind, mit einem Rätsel, von dem aus mithilfe elaborierter Interpretationstechniken im besten Fall tastend begonnen werden kann, Zukunft gemeinsam zu komponieren. Plutarchs Analyse nimmt noch eine andere aktuelle Färbung an, wenn man sie zu heutigen nicht westlichen divinatorischen Heilpraktiken ins Verhältnis setzt. Denn diese Praktiken zeichnen sich dadurch aus, dass sie Krankheitssymptome je eigenständigen – zuweilen menschlichen, in den meisten Fällen allerdings nicht-menschlichen – Wesen zuschreiben, die es sorgfältig zu identifizieren gilt. Eine Diagnose gilt innerhalb solcher Systeme entsprechend dann als richtig gestellt, wenn ein solches oder mehrere solcher Wesen identifiziert wurden: Worin besteht seine Natur, was sind seine Intentionen, wie lässt es sich bezähmen und bezwingen? Die Antworten auf diese Fragen sind für die Behandlung entscheidend, ja machen diese aus. Divinationskünstler stützen sich nicht »auf die Zeugnisse der Menschen um ihre Identität zu kennen«, so als handele es sich bei deren Identität um eine stabile Entität. Im Gegenteil konzentrieren sie sich darauf, ihnen äußerliche Wesenheiten zu befragen, »die Nicht-Menschen der Welten aus denen die Personen herkommen«.45 Diese nicht- psychologisierende Vorgehensweise hat einen entscheidenden Vorteil: Sie denkt und praktiziert durch das Milieu; ihr Ziel besteht vor allen Dingen darin, einen Zusammenhang herzustellen, der auf eine Weise ›gestimmt‹ ist, die es der Person erlaubt neue, ›gesündere‹ Verbindungen zu den Wesen ihrer Welt einzugehen und zu unterhalten. Entsprechend gibt es hier 45 | Tobie Nathan, À qui j’appartiens? Écrits sur la psychothérapie, sur la guerre et sur la paix, Paris 2007, S. 112f.
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auch keinen fundamentalen Unterschied zwischen der Natur einer Diagnose und derjenigen einer Prognose oder Therapie. Denn die Benennung des identifizierten, schadenbringenden Wesens ist bereits der entscheidende Schritt, Teil des Aus- oder Verhandlungsprozesses mittels dessen es seine Gewaltsamkeit zu beenden bzw. zumindest einzuhegen gilt. Und so sind sie alle Teil der stets erneut und gemeinschaftlich erprobten Arten und Weisen, die anspruchsvolle Kunst der Verhandlung mit diesen Unsichtbaren zu praktizieren.46 Plutarchs Text geht allerdings einer noch breiter angelegten Fragestellung nach. In »Ueber den Verfall der Orakel« diskutieren eine Reihe von Gesprächspartnern, die sich in Delphi zusammengefunden haben und denen Plutarch seine Gedanken in den Mund legt gemeinsam darüber, warum zu ihrer römischen Zeit, verglichen mit der griechisch dominierten Antike, immer mehr Orakel versiegt seien. Ihre Diskussion darüber beginnt wie folgt: »Kaum hatte Ammonius zu reden aufgehört, so versetzte ich: O Cleombrotus, erzähle uns lieber von dem Orakel, welches von Alters sehr im Rufe der Heiligkeit stand, jetzt aber, wie mir scheint, in Abnahme ist. Da schwieg Cleombrotus und schlug die Augen nieder, und nun fuhr Demetrius fort: wir haben gar nicht nöthig über die dortigen Orakel uns in eine Untersuchung einzulassen. Da wir sehen, daß auch hier zu Lande die Orakel abgenommen, und sämmtlich, bis auf zwei oder drei, aufgehört haben; wir wollen daher lieber fragen, von welchem Grunde ein solcher Verfall herrührt. Wir brauchen nicht von andern Orakeln zu reden, da Böotien einstens wegen seiner Orakel berühmt war, während sie jetzt, gleich Quellen, ganz ausgegangen sind und eine gewaltige Dürre der Weissagekunst im Lande herrscht.« 47
Die abnehmende Bevölkerungszahl in den Regionen mit den wichtigsten Orakelstätten, die zu einer geringeren Nachfrage geführt habe, ist nur eines der angeführten Argumente. Mit dem Rückzug der zuständigen Wesen (daimones) von den Orakelstätten habe man nämlich zugleich verlernt, die Orakel richtig zu bedienen, ganz so wie man verlerne, auf einem einstmals virtuos beherrschten Instrument zu spielen, wenn man es zu lange hat ruhen lassen. Die Pythia, die mit rauer Stimme spricht 46 | Nathan und Stengers, Médecins et sorciers, a.a.O.; siehe auch: Tobie Nathan, L’Étranger ou le pari de l’autre, Paris 2014. 47 | Plutarch, »Ueber den Verfall der Orakel«, a.a.O. S. 709.
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und wie eine Furie aus dem Tempel stürzt, betritt erst gegen Ende dieser Diskussion die Szene und versinnbildlicht eindringlich die Gefahren, die bezüglich so prekärer Phänomene wie dem Zukunftswissen mit kollektiven Unaufmerksamkeiten einherzugehen drohen. Das Orakelwesen, wie Plutarch es uns präsentiert, stellt sich hinsichtlich einer Ökologie der diagnostischen Prädiktion geradezu als Präzedenzfall heraus, der Tod der Pythia als ökologische Krise.
Schluss
Am Anfang dieses Textes stand eine doppelte Herausforderung: Die erste bestand darin, nicht bei der Kritik des von Alice Rivières als so gewaltsam erlebten und geschilderten diagnostischen Aktes stehenzubleiben, dabei, ihn als Fehltritt eines einzelnen Mediziners oder einer einzelnen Institution zu beklagen und zu verurteilen. Vielmehr galt es, ihn als Effekt eines epistemologischen und deontologischen Regimes begreif bar werden zu lassen. Die zweite Herausforderung bestand darin, der verbreiteten Logik zu widerstehen, der zufolge neue Technologien als Einheiten begriffen werden müssen, die durch ihre Existenz allein bereits klar definierte Probleme mit sich bringen, auf die es mittels ethischer und juristischer Maßnahmen zu reagieren gilt – etwa durch die Erstellung von Richtlinien, die Zugangsbedingungen und andere Aspekte ihrer Handhabung regulieren. Entgegen dieser Tendenz habe ich vorgeschlagen, eine ökologische Perspektive einzunehmen, die dazu verpflichtet, ausgehend von neuen technischen Wesen, die unsere Welt bevölkern, adäquate – und das heißt für den aktiven Umgang mit ihnen stichhaltige – Probleme überhaupt erst zu konstruieren. Die entscheidende Frage lautete unter diesen Prämissen dann weniger, ob eine Technik an und für sich zulässig ist oder nicht, sondern vielmehr, wie sich Milieus bzw. ökologische Situationen einrichten lassen, innerhalb derer diejenigen Bedingungen gegeben wären, die erforderlich sind, um eine Kreatur wie den präsymptomatischen Test zum Nachweis der HD auf möglichst angemessene Weise in Empfang nehmen zu können. Die moderne Medizin hat im Namen des ihr eigenen Strebens nach Anerkennung als Wissenschaft nicht nur das Verhältnis zwischen Arzt und Patient suspendiert. Sie gründet zugleich auch auf der epistemologischen Annahme einer radikalen Trennung zwischen Fakten und Werten, die es ihr erlaubt, allen im modernen Sinne nicht-wissenschaftlichen
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Zugriffsweisen auf Krankheit die Legitimation abzusprechen. Innerhalb der Geschichte dieser Medizin blieb nur wenig Platz für die Stimmen von Patientinnen. War doch die Reduktion der Relevanz der Patientenperspektive für die diagnostische Erkenntnis sowie für die angezeigte Therapie auf ein Minimum konstitutiv für das möglichst reibungslose Funktionieren einer so ausgerichteten medizinischen Praxis. Nur auf diese Weise ließ sich die angestrebte Verwissenschaftlichung, und das hieß eine systematische Universalisierung medizinischen Wissens im strengen Sinne, etablieren. Die Annahme, Patientinnen oder auch andere medizinisch unqualifizierte Interessierte könnten gerade dank der besonderen Qualität ihrer Erfahrungen oder auch mittels künstlerischer, historischer oder philosophischer Expertisen aktiv an der Formung dieser oder jener Krankheit partizipieren, in deren Naturgeschichte eingreifen, hat innerhalb einer solchen Systemlogik schlicht keinen Ort. Können doch, radikal formuliert, die betroffenen Personen selbst strenggenommen gar nicht als die eigentlichen Gegenstände einer so aufgestellten Medizin gelten. Dies hängt nicht zuletzt mit der in zunehmendem Maße zentralen Rolle quantitativer Methoden im Bereich des Gesundheitswesens zusammen. Im Bereich der Hygienebewegung des 19. Jahrhunderts entstanden, hat sich die umstandslose Verknüpfung von medizinischem und statistischem Wissen mittlerweile in allen medizinischen Subdisziplinen durchgesetzt. Ja unter dem Banner der seit den 1990er Jahren so genannten ›evidenzbasierten Medizin‹ ist statistisch einwandfrei belegtes Wissen zu dem gültigen Wahrheitskriterium überhaupt avanciert. Man könnte so weit gehen zu sagen, dass ein Patient aus statistischer Sicht gar keine Person ist: Es handelt sich nicht um Jemanden, sondern – um auf einen von Tobie Nathan geprägten Ausdruck zurückzugreifen –, vielmehr um einen Jedermann (quiconque).1 Die Wahrheitsspiele der modernen Medizin aber sind eng gebunden an eine Praxis der Verjedermannung. Wenn der Mediziner im Anschluss an Alices Urteil von »44« CAG-Wiederholungen verkündet, »es wird unerträglich werden«, dann kann dieser Sprechakt auch als Effekt einer derart statistisch angeleiteten Verwandlung der Person in einen Jedermann verstanden werden. Die hier zum Zuge kommende Form der Evidenz, die unversehens von der kon1 | Tobie Nathan, »En psychothérapie: malades, patients, sujets, clients ou usagers?«, Vortrag gehalten am 12. Oktober 2006 im Rahmen der Tagung La Psychothérapie à l’épreuve de ses usagers, a.a.O.
Schluss
stativen Aussage »44« zum performativen »unerträglich« gleitet und so beide miteinander identifiziert, verdeckt nämlich etwas Entscheidendes: Bei diesem »unerträglich« handelt es sich um ein statistisches Grauen, demzufolge Jedermann mit 44 Wiederholungen eine unterträgliche Zukunft erleben wird. Wobei in Vergessenheit gerät, dass mit dieser probabilistischen Vorhersage noch keinerlei Aussage über Alices tatsächliche Zukunft getroffen ist. Es ist zweifelsohne Stephen J. Gould, der in seinem kurzen, aber einschlägigen Text mit dem sprechenden Titel »The Median isn’t the Message«2 die Fallstricke und potentiell desaströsen Effekte statistischen Wissens im Zusammenhang folgenschwerer Diagnosen am eindrücklichsten auf den Punkt gebracht hat. Gould berichtet darin, dass er im Jahre 1982 »learned I had abdominal mesothelioma, a rare and serious cancer«. Beunruhigt von dieser Diagnose beschloss er, sich in die neueste medizinische Literatur über diese Krebsart einzulesen. Das Ergebnis, schreibt er, »couldn’t have been more brutally clear: mesothelioma is incurable, with a median mortality of only eight months after discovery«. Gould erklärt dann, wie er seine aus der Evolutionsbiologie stammenden Kenntnisse über die Funktionen und Grenzen von Statistik dafür eingesetzt hat, sich davon zu überzeugen, dass diese wissenschaftlich gesicherte Information keineswegs bedeutete, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach in acht Monaten tot sein würde. Unser platonisches Erbe, so sein Hauptargument, mit seiner Vorliebe für klare Differenzen und Schnitte, verleite uns dazu, statistische Erhebungen falsch zu interpretieren, nämlich »indeed opposite to the appropriate interpretation in our actual world of variation, shadings, and continua«. Anstatt nämlich die Variationen als »the hard reality« und Durchschnitts- und Mittelwerte als Abstraktionen anzusehen, verleite uns diese eingeübte Weltsicht zum genauen Gegenteil. Wir seien daran gewöhnt, »means and medians as the hard ›realities‹ and the variation that permits their calculation as a set of transient and imperfect measurements of this hidden essence« zu begreifen. Genau dort liege der grundlegende und existentiell bedrohliche Fehler. Wenn nämlich »the median is the reality and variation around the median just a device for its calculation, the ›I will probably be dead in eight months‹ 2 | Stephen Jay Gould, »The Median isn’t the Message«, abrufbar unter: www.stat. berkeley.edu/~rice/Stat2/GouldCancer.html. Alle folgenden Zitate sind eben diesem Text entnommen.
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may pass as a reasonable interpretation«. Statistiken, das wird hier sehr deutlich, sind in Zahlen übersetzte totale Abstraktionen, die für den Einzelnen nur sehr bedingt einen Aussagewert haben. Der quasi automatischen Transformation von Mittelwerten in Evidenzen für den konkreten Fall, ohne diesem auch nur annähernd in seiner jeweiligen Besonderheit gerecht zu werden, muss daher dringend Einhalt geboten werden. Legt man nämlich den Fokus auf die Variationen, dann stirbt ausschließlich Jedermann, dieser Jedermann, der streng genommen eine rein statistische Existenz führt, innerhalb von acht Monaten. Die Arbeit an der Konstruktion eines Milieus, das dazu in der Lage wäre, unsere präsymptomatische Test-Kreatur zu empfangen, wäre vor diesem Hintergrund dann zuallererst eine Arbeit des Widerstandes gegen die Vereinnahmung durch den Jedermann. Einer solchen Vereinnahmung zu widerstehen setzt in diesem Zusammenhang aber zunächst die Fähigkeit voraus, sich einzugestehen, dass ein Testergebnis, das in abstrakten Formen – wie etwa der Zahl »44« – daherkommt, nichts erklärt, sondern, sobald es sich nicht an Jedermann, sondern an eine konkrete Person richtet, vor allem eines ist: ein Rätsel. Es bleibt die Herausforderung bestehen, sich eines solchen Rätsels kollektiv anzunehmen und sich auf dem Weg dahin von all den überschäumenden Formen möglichen Werdens instruieren zu lassen, die es in sich birgt.
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Danksagung
Dieses Buch ist aus der Wette geboren, mit der Dingdingdong begonnen hat: Ausgehend von der Huntington-Krankheit das Denken wachsen lassen. Das Kollektiv war ebenso während der ersten tastenden Forschungen wie zu Zeiten intensiven Schreibens mein treuer Begleiter und ich bin seinen Mitgliedern unendlich dankbar für das unermüdliche Vertrauen, das sie mir entgegengebracht haben! Ganz besonders möchte ich Émilie Hermant danken, die immer ein offenes und geduldiges Ohr hatte und mir zugleich stetig vor Augen hielt, was mit dem Schreiben dieses Buches für das Kollektiv, aber wichtiger noch, für die Betroffenen der HD selbst auf dem Spiel stand. Ohne die wertvollen Kommentare und Vorschläge von Vinciane Despret, Isabelle Stengers und Valérie Pihet wäre dieses Buch nicht was es ist. Didier Debaise möchte ich dafür danken, dass er in allen Phasen des Forschens und des Zauderns aber auch der Entscheidungen, die zu diesem Buch geführt haben, aufmerksam darauf geachtet hat, dass ich mich nicht verliere. Ich danke meinen Freundinnen Karin Harrasser und Kornelia K aschke-Kısaarslan dafür, während der eigentlichen Schreibphase quasi im Minutentakt die erste Fassung des Manuskripts kommentierend mitgelesen zu haben und für so vieles mehr. Mein Dank gilt zudem den Mitgliedern der Groupe d’études constructivistes an der Université Libre de Bruxelles und besonders David Jamar und Benedikte Zitouni für extrem furchtbare gemeinsame Diskussionen ausgehend von einer noch unfertigen Fassung des Manuskripts. Danke Marianne Van Leeuw-Koplewicz und Thomas Peressino für ihre aufmerksame Relektüre der endgültigen Fassung des französischen und Kaja Ruhwedel für das Lektorat des vorliegenden deutschen Textes.
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Das Zentrum für Literatur- und Kulturforschung hat es mir erlaubt, mich diesen Forschungen zu widmen und ich danke ganz besonders seiner damaligen Direktorin, Sigrid Weigel, für das absolut außergewöhnliche Maß an wissenschaftlicher Unterstützung und persönlichem Vertrauen, das sie mir ohne Unterlass entgegengebracht hat.
Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Paul Mecheril (Hg.)
Die Dämonisierung der Anderen Rassismuskritik der Gegenwart 2016, 208 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-3638-3 E-Book PDF: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3638-7 EPUB: 15,99€ (DE), ISBN 978-3-7328-3638-3
Fatima El-Tayeb
Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft 2016, 256 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3074-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3
Arianna Ferrari, Klaus Petrus (Hg.)
Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen 2015, 482 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-2232-4 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2232-8
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Kulturwissenschaft Rainer Guldin, Gustavo Bernardo
Vilém Flusser (1920–1991) Ein Leben in der Bodenlosigkeit. Biographie September 2017, 424 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4064-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4064-3
Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)
POP Kultur & Kritik (Jg. 6, 2/2017) Oktober 2017, 176 S., kart., zahlr. Abb. 16,80 € (DE), 978-3-8376-3807-3 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3807-7
Sonja Hnilica, Elisabeth Timm (Hg.)
Das Einfamilienhaus Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2017 Juli 2017, 176 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3809-7 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3809-1
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