Die Versuchung der schönen Form: Spannungen in ›Erbauungs‹-Konzepten des Mittelalters [1 ed.] 9783666363917, 9783525363911


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German Pages [326] Year 2019

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Die Versuchung der schönen Form: Spannungen in ›Erbauungs‹-Konzepten des Mittelalters [1 ed.]
 9783666363917, 9783525363911

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Susanne Köbele / Claudio Notz (Hg.)

Die Versuchung der schönen Form Spannungen in ›Erbauungs‹-Konzepten des Mittelalters

Historische Semantik Herausgegeben von Bernhard Jussen, Christian Kiening, Klaus Krüger und Willibald Steinmetz

Band 30

Susanne Köbele / Claudio Notz (Hg.)

Die Versuchung der schönen Form Spannungen in ›Erbauungs‹-Konzepten des Mittelalters

Mit 8 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Mohammad Reza Kazemi, Shiraz / Iran. © 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Daniela Weiland, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-2953 ISBN 978-3-666-36391-7

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Susanne Köbele (Zürich) aedificatio. Erbauungssemantiken und Erbauungsästhetiken im Mittelalter. Versuch einer historischen Modellbildung . . . . . . . . . 9

›Erbauung‹: Semantiken, Konzepte, Verfahren Jens Haustein (Jena) lêren und bezzern. Zur historischen Semantik von erbûwen und Verwandtem im Spätmittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Cornelia Herberichs (Freiburg / CH) qui destruit templum et in triduo illud reaedificat (Mt 27,40). Zur Semantik von ›Erbauung‹ im Tempelwort Jesu sowie dessen Rezeption im volkssprachigen Passionsspiel des Mittelalters am Beispiel der Hessischen Passionsspielgruppe . . . . . . . . . . . . . . . 53

Zwischen Bild und Begriff. Interne Spannungen Aleksandra Prica (Chapel Hill) Nüchterne Trunkenheit. Methodisch kontrollierte ›Erbauung‹ auf amplifiziertem Fundament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Regina Toepfer (Braunschweig) Erbauung und Begehren. Spannungen im Dramenbuch Hrotsviths von Gandersheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Susanne Spreckelmeier (Münster) Erbauung und Zweifel in Marien Himmelfahrt-Versdichtungen . . . . . . 115

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Inhalt

Marius Rimmele (Zürich) Die Erneuerung des Schmerzensmanns in der Druckgraphik des frühen 16. Jahrhunderts: Semantische Verdichtung zwischen erbaulicher Funktion und künstlerischem Selbstzweck . . . . . . . . . . . 133

Überblendungen, Umbesetzungen, interkulturelle Dynamiken Bernd Roling (Berlin) Cantat luscinia: die Chiffre der Nachtigall zwischen Liebe und Auferstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Coralie Rippl (Zürich) Erbaulicher Verfall? Interferenzen von höfischer Minne und christlicher Ehe-Allegorese am Beispiel Sigunes in Wolframs »Parzival« und »Titurel« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Maximilian Benz (Zürich) / Julia Weitbrecht (Kiel) Honicmaeziu maere. Zur Welthaltigkeit legendarischen Erzählens bei Rudolf von Ems und Reinbot von Durne . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Bruno Quast (Münster) Religiöse Erbauung, höfisch. Lutwins »Eva und Adam« . . . . . . . . . . . 267 Jan-Dirk Müller (München) Erbauung und die Auratisierung des literarischen Autors. Zum Bibelepos der Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Andreas Nehring (Erlangen) »Teilnehmende Aufmerksamkeit«. Religionswissenschaftliche Überlegungen zum tanzenden Shiva . . . . . 311

Vorwort

Der Großteil der in diesem Band versammelten Beiträge geht zurück auf Vorträge im Rahmen des interdisziplinären Kolloquiums »Die Versuchung der schönen Form. Spannungen im mittelalterlichen Konzept des ›Erbaulichen‹«, das am 4. und 5. November 2015 an der Universität Zürich stattfand. Unser Dank gilt den Vortragenden für ihre intensive Auseinandersetzung mit dem Tagungsthema sowie allen Moderatorinnen und Moderatoren, die die Diskussion sehr bereichert haben: Burkhard Hasebrink (Freiburg i. Br.), Andreas Kraß (Berlin), Lena Oetjens (Zürich), außerdem Jens Haustein (Jena), Marius Rimmele (Zürich) und Coralie Rippl (Zürich), die darüber hinaus nachträglich Aufsätze für diesen Band beigesteuert haben.1 Unser Dank gilt ferner den Zürcher Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für ihren großen Einsatz bei der Vorbereitung und Durchführung der Tagung, vor allem Kathrin Rabe und Brigitte Königs im Sekretariat. Außerdem danken wir Julia Frick, Tim Gallusser, Tim Huber, Julia Buser und Julia Sjöberg für ihre engagierte Unterstützung bei der Redaktionierung der Beiträge. Dank gebührt darüber hinaus der Zürcher Hochschulstiftung, dem Zürcher Universitätsverein sowie dem UZH-Doktoratsprogramm ›Medialität – Historische Perspektiven‹, die die Finanzierung des Kolloquiums großzügig unterstützt haben. Wir danken den Herausgebern der ›Historischen Semantik‹, insbesondere Christian Kiening, für die Aufnahme in die Reihe sowie Kai Pätzke vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für die professionelle und geduldige Betreuung der Drucklegung. Im Februar 2019

1 Zu den auf der Tagung gehaltenen Beiträgen vgl. die Tagungsberichte von Claudio Notz, in: NCCR Mediality Newsletter 15 (2016), S. 20–21, und Thomas Poser, in: ZfdPh 135 (2016), S. 421–427.

Susanne Köbele (Zürich)

aedificatio. Erbauungssemantiken und Erbauungsästhetiken im Mittelalter. Versuch einer historischen Modellbildung

In der christlichen Ästhetik gilt Schönheit als Verheißung von Wahrheit. Als Kunst schönen Scheins birgt sie freilich auch Risiken. Denn die Wahrheit der Schönheit versteht sich nicht von selbst. In einer berühmten Predigt lässt Meister Eckhart Kritiker aus den Reihen seiner Hörer zu Wort kommen: Nû sprechent etlîche liute: ›ir saget uns schœne rede, und wir enwerden des niht gewar‹ (»[…] Ihr predigt uns schöne Sätze, aber wir werden ihrer nicht gewahr«).1 Das hermeneutische Risiko der Schönheitsmetaphysik ist hier auf den Punkt gebracht: Ästhetischer Glanz und Selbstevidenz können auseinandertreten. In derselben Predigt treibt Eckhart seine schœne rede dann in maximale Paradoxien religiöser Selbstüberschreitung2 – reiche Gelegenheit für seine Kritiker, an der Wahrheitsverheißung der schönen Form zu scheitern. Zur Ehre Gottes kann Schönheit nicht schön genug sein? In jüngster Zeit hat der Dirigent Teodor Currentzis die Spiritualität seiner Mozart-Requiem-Interpretation mit der kategorischen Ablehnung »schönen« Musizierens begründet: »Meine Absicht war, es nicht schön zu musizieren, um es asketisch und spirituell zu machen«.3 Das Argument »nicht schön, sondern spirituell« ist vor dem Hintergrund einer Tradition, die das Nichtschöne, Deformierte als Modus genuin christlicher Erhabenheit und Schönheit (formosa deformitas)4 immer schon umzudeuten verstanden hat, zwiespältig. Anders gesagt: Auch der emphatische Currentzis kann und will sich nicht dagegen wehren, dass die dezidiert »nichtschöne« Form seines Musizierens von Fall zu Fall ihre eigene raue, süße Schönheit entfaltet. 1 Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, hier Bd. II, S. 80,1–3. 2 Vgl. Hasebrink, Einleitung, S. 9–30, zur zitierten metakommunikativen Äußerung ­Eckharts bes. S. 1–3. Burkhard Hasebrink und Jan-Dirk Müller danke ich für ihre kritische Durchsicht dieses Beitrags. 3 Interview, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 64 vom 17.3.2017, S. 13. 4 Jauß, Die klassische und die christliche Rechtfertigung des Hässlichen in mittelalterlicher Literatur, S. 143–168; Michel, Formosa deformitas. Zu hermeneutischen Fallen im Umgang mit dieser Dialektik auch der Beitrag von Coralie Rippl, in diesem Band.

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Was die beiden Eingangsbeispiele verbindet, liegt auf der Hand: Formvollen­ dung kann religiöse Glaubwürdigkeit zugleich steigern und gefährden. Dahinter steht eine komplexe Konzeption von Medialität,5 die sich selbstwidersprüchlich als Vermittlungsmodell und Grenze der Vermittlung zugleich versteht. Sinnüberschuss und Sinndefizit, Formfaszination und Formskepsis können unvermittelt ineinander umschlagen, und genau diese Grundambivalenz der christlichen Ontologie und Ästhetik ist es, die auch die Frage verkompliziert, welche Reichweite Formansprüche gegenüber dem Inhalt haben: Setzt religiöse Formkritik überhaupt an der schönen Form an  – oder nur an deren Selbst­ überschätzung? Im Mittelalter, das religiöse und ästhetische Funktion nicht strikt ausdif­ ferenziert, wirkt sich die Ambivalenz des Gläubig-Schlichten6 auf allen Ebenen der Autorschafts-, Form- und Stilkonzepte, der Hermeneutik und Pragmatik von Kunst aus. Dieser unauflösliche Hintergrundkonflikt generiert eben jene notorische Vieldeutigkeit der religiösen Schlüsselkategorie ›Erbauung‹ (lat. aedifi­catio), die für das Mittelalter eine Revision verdient.7 Hier setzt der vorliegende Sammelband an. Während der biblische und spätantike Begriffs­ gebrauch von ›Erbauung‹ bereits umfassend erschlossen ist und ›Erbauung‹ in der Frühen Neuzeit medienübergreifend gerade in jüngerer Zeit interdisziplinär breit rekonstruiert worden ist,8 fehlt für das Mittelalter vergleichbare Forschung. Dem internen Konfliktpotential des historisch voraussetzungsreichen Begriffs der ›Erbauung‹ soll hier für das Mittelalter erstmals systematisch auf den Grund gegangen werden, mit semantischen Analysen und exemplarischen Fallstudien. Nur so kann der suggestiven Rückprojektion neuzeitlich entgrenzter,

5 Kiening, Fülle und Mangel. 6 Köbele, Die Ambivalenz des Gläubig-Schlichten; Dies., Die Illusion der ›einfachen Form‹; Haug, Die Voraussetzungen. 7 Ein erster Vorstoß zur Revision des Erbauungsbegriffs im Mittelalter bei Köbele, ›Erbauung‹ – und darüber hinaus. Zentrale Sprechakte von Erbauung sind Trost (consolatio) und Mahnung (adhortatio), doch besteht weiterer Differenzierungsbedarf, denn auch wenn die historischen Objekte (sei es im gelehrten theologischen Diskurs, sei es im literarischen, auch volkssprachlich-laikalen Medium) ›Erbauung‹ nicht selten als kontinuierlich gestuften Aufbau beschreiben, fallen doch auch gegenläufige Prozesse ins Auge: Diskontinuitäten, Überlagerungen, Überschreitungen, Eigendynamiken. So formuliert die mittelalterliche Mystik auf z. T. spektakulärem Niveau die immanente Grenze religiöser Erbauungskonzepte, indem sie den gerichteten Aufstieg umschlagen lässt in Modelle von Sturz ins Nichts. Statt Heilszuversicht (Exegese oder literarische Texte) auf solidem Grund stufenweise in anagogische Höhen zu bauen, ergeben sich hier Risiken eines je neuen Tieferlegens der Fundamente. 8 Zur innerbiblischen und frühchristlichen Geschichte des Erbauungsbegriffs bereits Vielhauer, Oikodome. In interdisziplinärer Perspektive für die Frühe Neuzeit Solbach (Hg.), Aedificatio; begriffsklärend hier vor allem der Beitrag von Franz Eybl.

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insbesondere pietistischer Semantik von ›Erbauungsliteratur‹ widerstanden werden (»volksnahes religiöses Gebrauchsschrifttum aller Epochen mit religiösmora­lischer Wirkungsabsicht«), die in der Tat als literaturwissenschaftliche Kategorie »wenig brauchbar« ist: »Was ›Erbauung‹ inhaltlich bedeute, wird von der Literaturwissenschaft als bekannt oder notorisch unbekannt vorausgesetzt«.9 Statt von einem neuzeitlich affizierten, vorgegebenen ›Erbauungs‹-Begriff auszugehen, richtet unser Blick sich auf ambivalente Semantisierungsstrategien, mit denen im Mittelalter sehr differenzierte Vorstellungen, Konzepte und Verfahren von ›Erbauung‹ jeweils entworfen bzw. umgesetzt werden.10 Deren historische Prägnanz kann sich, wie wir meinen, nur zeigen, wenn erstens bei Analysen der Erbauungssemantiken das Spannungsfeld von Metapher und Begriff berücksichtigt wird,11 und zweitens bei Analysen der Erbauungspoetiken die eingangs angedeuteten Konflikte zwischen ästhetischen, religiösen und hermeneutischen Ansprüchen nicht absorbiert werden vom vagen Funktionsbereich des ›sogenannten Erbaulichen‹.12 Um den Umschlag zwischen pauschalem Wertbegriff (›bloß erbaulich‹13) und deskriptivem Funktionsbegriff (›er­baulich‹, aber in welchem Sinn?) methodisch kontrollierbar zu machen, sollen im Folgenden interne Spannungen der mittelalterlichen Erbauungsästhetik möglichst synchron wahrgenommen und bis in die Dynamik der metaphorisch oft überdeterminierten, terminologisch unterdeterminierten Semantiken von ›Erbauung‹ verfolgt werden, in der Hoffnung auf Differenzierungsgewinn sowohl nach der Seite der noch nicht geleisteten Erschließung des mittelalterlichen Wort- und Begriffsgebrauchs wie auch nach der Seite exemplarischer Text- bzw. Bildanalysen. Nicht nur der ›Erbauungs‹-Begriff, auch der gleichfalls titelgebende ›Form‹Begriff steht in der Gefahr anachronistischer Reprojektion. So ambivalent im christlichen Mittelalter der an Proportion und Ordo-Transparenz geknüpfte Schönheitsdiskurs ist,14 so uneindeutig ist auch der ›Form‹-Begriff. Ab der 9 Dazu im konzisen Überblick Mennecke-Haustein, Art. ›Erbauungsliteratur‹, hier S. 233. Zur genaueren Auseinandersetzung mit dem Begriff unten. 10 Zu historischer Semantik zwischen Kollokation, Text und Diskurs vgl. Kiening, Gegenwärtigkeit; Hasebrink, Einleitung. 11 Metaphorisches Hintergrundmodell ist die schon biblische Vorstellung der Auferbau­ung (aedificatio) des Glaubens im Sinn einer Konsolidierung (mhd. sterken) von Heilszu­ versicht. 12 Kritisch Brückner, Thesen zur Struktur des sogenannten Erbaulichen. 13 Über die Tendenz zur Verflachung, Schematisierung und Sentimentalisierung des Erbauungsbegriffs Mennecke-Haustein, Art. ›Erbauungsliteratur‹, S. 238. Über die Grenze zwischen mittelalterlichem und neuzeitlichem Erbauungsbegriff der Beitrag von Jan-Dirk Müller zum Bibelepos der Renaissance, in diesem Band. 14 In philosophisch-theologischer Hinsicht Speer, Kunst und Schönheit; aus kunstwissenschaftlicher Perspektive Krüger, Grazia, bes. S. 16 f.

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Mitte des 12. Jahrhunderts überlagern sich für die basale Frage, welche Form (Struktur, Gestalt, Stil) der Materie (dem Stoff, dem Inhalt, der Materialität) zukomme, Aptum-basierte rhetorisch-poetologische Kriterien mit philosophi­ schen Form-Vorstellungen antiker, vor allem neuplatonischer Provenienz, denen zufolge Formen als präexistierende Ideen gelten, die jeder substantiellen Materia ihre genuine Form garantieren.15 Erst im Akt der Formgebung vollende sich Materie, realisiere sich Substanz, im ontologisch wie poetologisch heiklen Spannungsfeld von Vorfinden und Erfinden. Diese über die Schule von Chartres breit rezipierte, platonisch imprägnierte Form-Metaphysik gerät im Laufe des 13. Jahrhunderts unter den Bedingungen der Aristoteles-Rezeption erneut in Bewegung. Es ist bekannt, dass wechselnde Hintergrundontologien dieser Art auf die literarischen Formpraktiken und Formreflexionen (innere, äußere Form) durchschlagen, um so mehr, je enger ohnehin Dichtung und Gegenstand (verba und res) korrespondieren.16 Konflikte sind mit Händen zu greifen. So bringen sich im Laufe des Mittelalters die heterogenen (kosmologischen, schöpfungstheologischen, poietischen, ästhetischen) Formdiskurse immer wieder explizit oder implizit in Konkurrenz. Schon im Spätmittelalter setzt sich formale (etwa: geblümte)  Überdetermination, die als Überfülle durchaus wahrheitsfähig und spezifisch ›erbaulich‹ bleiben wollen kann, dem Verdacht bloßen unverbindlichen Spiels aus. Im Blick auf die religiöse Funktionskategorie Erbauung sind also unsichere Subjekt-Objekt-Relationen – die Konkurrenz von gött­lichem und menschlichem ›Baumeister‹  – mit einzubeziehen: Wer erbaut wen? Sebald ­Behams »Schmerzensmann mit Kelch und Hostie« (vgl. Abb. 8) kann um 1520 die Ambivalenz dieses ikonographischen Typus zwischen Er15 Im Überblick Schildknecht, Art. ›Form‹; zu idea als göttlichem Urbild der Schöpfung und der Hintergrundvorstellung der idea domus vgl. Stolz, ›Tum‹-Studien, S. 135–138. Analog zur Tätigkeit des Weltschöpfers beansprucht auch der Dichter eine genuine Formvorstellung für das Dichtgebäude als idea domus, die dem vorgefundenen Material aufgeprägt wird. 16 Der Zusammenhang von Dichtkunst und Baukunst ist poetologisch prominent. Im Marienlob »Der Tum« Heinrichs von Mügeln aus der Mitte des 14. Jahrhunderts ist die titelgebende tum-Vokabel mit der Bedeutung ›herrschaftliches Gebäude‹ zugleich Maria und der Dichtung zugeordnet (vgl. Str. 176,1: Diß buch, das heißt der tum). Stolz, ›Tum‹-Studien, bespricht den Werktitel Tum als Objekt- und Metakategorie mit rang- und raumsemantischem Doppelaspekt (als domus majestatis mit sieben Säulen S. 375–393, hier v. a. S. 382 f.). »tum bezeichne ›Macht‹ und ›Würde‹, fungiert als Nominalkompositum und evoziert wie lateinisch domus die Vorstellung eines Gebäudes« (S. 381). tum ist bezogen einerseits auf Maria als Haus und Tempelheiligtum Gottes, zugleich auf das Werk selbst, als Wortkunstwerk, eine wegen der exegetischen Maria-Ecclesia-­Parallele immer schon naheliegende Kongruenz; in historisch mediologischer Perspektive Kiening, Fülle und Mangel, bes. S. 273–280 (›Ein Tempel des Unverfügbaren‹); in allegoriehistorischer Sicht: Mertens Fleury, Zeigen und Bezeichnen. Vgl. außerdem Cowling, Building the Text.

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bauungsfunktion und ostentativer Artifizialität geradezu zu einem Gruseleffekt steigern: Indem der lebendig-tote Erlöser zum »gespenstischen« Schmerzensmann wird, überlagert der spektakuläre ästhetische Effekt den Erbauungseffekt (vgl. den Beitrag von Marius Rimmele). Noch die expansive Allegorik und Anagrammatik der Barocklyrik balanciert auf der Grenze zwischen Ludischem und Hermeneutischem.17 Fallabhängig wird für die polare Spannung von Schlichtheit (simplicitas, humilitas) und Erhabenheit (sublimitas) mehr stoffbezogen argumentiert, im Sinne einer ›materialen‹ Ästhetik, oder mehr rezipientenorientiert, im Sinne einer primären Wirkungsästhetik. Das Folgende geht davon aus, dass es sich die mittelalterliche religiöse Ästhetik nicht einfach macht mit der ›schönen Form‹. Wenn die als Wahrheits-Chronisten auf einen kunstlosen Stil verpflichteten Legendenerzähler trotzdem ›schön‹, ›höfisch‹, ja ›honigsüß‹ dichten wollen oder umgekehrt Marienepiker bloß ›schön‹ im modus poeticus loben zu wollen vorgeben (als könnten sie sich damit dogmatisch unangreifbar machen),18 entstehen in den Texten elementare Spannungen: zwischen Inspirations- und Kompetenzmodellen von Autorschaft, zwischen der Traditionsbindung von Stoffen (der Offenbarungsevidenz ›heiliger‹ Materie)  und der je neuen Lust am Formexperiment. Nicht zuletzt entstehen Spannungen zwischen verschiedenen wirkungsästhetischen Kalkülen: Wie vergnüglich darf der religiöse Nutzen sein? Nicht langweilig und betulich, aber um Gottes willen nicht zu kurzweilig. Wieviel religiöse Rührung verträgt die Ratio des Glaubens, ohne aus der ›Form‹ zu gehen? Und wieviel Affektrhetorik braucht umgekehrt religiöse Diskursivität, um nicht als kalte Spekulation formal leerzulaufen? Unschwer ist zu erkennen, wie heikel die Konkurrenz zwischen religiösen und ästhetischen19 Ansprüchen auf Wahrheit sein kann. Angezielt sind mit dem vorliegenden Band poetisch und diskursiv produktive Überschneidungen von Konkretion und Abstraktion, Terminologisierung und (Re-)Metaphorisierung von Erbauung, in der Überzeugung, dass die zugrunde­ liegenden Interferenzen von Gattungs-, Form- und Stilansprüchen epochen­ typisch innere Haltung, Reflexionsmodus sowie ästhetische und religiöse Praxis zugleich betreffen. Erst wenn Erbauung sich aus einer engen Begriffsdefinition (und überhaupt aus ›reiner‹ Begrifflichkeit) befreit, lassen sich auch für das

17 Föcking, Manierismus und Anagramm. 18 Vgl. Köbele, Die Illusion der ›einfachen Form‹; vgl. auch den Beitrag von Benz und Weitbrecht, in diesem Band. 19 Zu diesem Gegenstands- und Theoriefeld der mediävistischen Literaturwissenschaft aus unterschiedlichen Perspektiven: Quast, Vom Kult zur Kunst; Strohschneider (Hg.), Literarische und religiöse Kommunikation im Mittelalter und Früher Neuzeit; Köbele und Quast (Hg.), Literarische Säkularisierung im Mittelalter; Quast und Spreckelmeier (Hg.), Inkulturation; Krüger, Grazia, bes. S. 7–26.

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Mittelalter »ihre Geschichte und ihre Metamorphosen bis in die Gegenwart verstehen«.20 Zwar wurde der Grundkonflikt der christlichen Ästhetik (seine »unausschöpf­ bare Paradoxie«) seit Auerbachs21 vieldiskutierter Sermo humilis-Abhandlung je neu hergeleitet und punktuell beschrieben, doch als synchrone Spannung bislang nicht umfassend differenziert und systematisch interpretiert. In den meisten Fällen hat man mit der allgemeinen Nomenklatur ›Erbauung‹ einen Dachbegriff gesucht für ein unübersichtlich breites Spektrum religiöser Funktionen bzw. Texttypen (›Erbauungsliteratur‹).22 Problemöffnend für die christliche ›Erbauungs‹-Poetik zwischen Auslegung (Allegorese, Exegese) und poetischer delectatio in der christlichen Spätantike waren die Überlegungen von Reinhart Herzog, der den Übergang vom exe­ getischen zum literarischen Konzept aedificatio für das Frühmittelalter exemplarisch verfolgt hat. Unkenntnis bzw. Unterschätzung des mittelalterlichen Erbauungsbegriffs haben, so Herzog, in der Forschung lange Zeit den Blick verstellt auf den poetologischen Rang des Erbauungskonzepts im Mittelalter.23 In interdisziplinärer Perspektive hat für die Frühe Neuzeit Andreas Solbach24 Erbauung und ihre »Metamorphosen bis in die Gegenwart« aus Gattungs­fragen – und das heißt: aus der pauschalen Klassifizierung ›Erbauungsliteratur‹ – gelöst, im Blick auf ihre medial und historisch-anthropologisch vielgestaltige Wirkungsweise, auch mit Thesen zur Performanz des Erbaulichen. Dagegen fehlt Vergleichbares für die mediävistische Forschung, die ›Erbauung‹ überwiegend in gattungs­bezogenen Spezialuntersuchungen verfolgt.25 Aus kunst- und kirchen20 Solbach, Aedificatio, Vorwort, S. IX . »Das Phänomen der Erbauung ist den Kultur­ wissenschaften seit langem wohl bekannt: Erste grundlegende Arbeiten zur Deutung der Erbauung wurden von Theologen und Religionswissenschaftlern vorgelegt, und ein überwältigender Teil der Forschung auf diesem Gebiet widmet sich der Untersuchung des protestantischen Erbauungsbuches im engeren Sinn. Doch hier macht sich eine Entwicklung bemerkbar, die sich auch außerhalb der germanistischen Forschung beobachten lässt und sich zudem in den Fachlexika spiegelt: Durch eine Verengung der Fragestellung wird die Sache und der Begriff der Erbauung zunehmend auf die Gattung der Erbauungs­ literatur im strengen Sinn begrenzt« (ebd.). 21 Auerbach, Sermo humilis, hier S. 28. 22 Mennecke-Haustein, Art. ›Erbauungsliteratur‹; außerdem Schedl und Moser, Art. ›Erbauungsliteratur‹, S. 484–488. 23 Zu heterogenen Erbauungskonzepten Herzog, Die Bibelepik der lateinischen Spätantike; Herzog, Exegese – Erbauung – Delectatio. Doch der Begriff des Erbaulichen wurde dabei partiell, »nur für eng umgrenzte Gattungen bis zu einiger deskriptiver Deutlichkeit gebracht«, in Absehung von seiner umfassenden Begriffsgeschichte und Diskursivierung (Herzog, Exegese – Erbauung – Delectatio, S. 62); diese Lücke besteht bis heute. 24 Vgl. Solbach, Aedificatio. 25 In literaturwissenschaftlicher (germanistischer bzw. mittellateinischer) Perspektive etwa für ›erbauliche‹ Dingallegorese Schmidtke, Studien zur dingallegorischen Erbauungsliteratur des Spätmittelalters; für ›erbauliche‹ Dekalog-Erklärungen Störmer, Zu Gattungs-

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historischer Sicht ging man der Frage v. a. für den Aspekt der aedificatio sancti loci nach, für den Zusammenhang von religiöser Bildtheologie und Bildpraxis oder von Universitätstheologie und Laienfrömmigkeit.26 Die Problematik des ›Erbauungs‹-Begriffs liegt in seiner unscharfen Verwendungsweise als Sammelbegriff für eine umfassende Heteronomie religiöser Kunst. Wenn ›Erbauungsliteratur‹ Texte umfasst, »die dem Christen zur Bekräftigung im Glauben, zur Vergegenwärtigung der Heilsgeschichte und zur Anleitung in christlicher Lebensführung dienen« wollen,27 wird bereits aus dieser knappen Definition klar, dass die Kernbestimmung von ›Erbauung‹ auf ein sowohl intellektuelles, imaginatives wie moralisches Instruieren und Affizieren hinausläuft – und schon wird es kompliziert. Denn die zu erbauenden religiösen Affekte gelten zugleich als theologische ›Tugenden‹, die auch durch ästhetische Effekte im Sinn christlicher delectatio zum Modus von Heilspartizipation werden. Schlüsseltext für die mittelalterliche Erbauungsästhetik bleibt Augustinus, der in seiner Predigttheorie die Exegese an deren Vermittlung knüpft (De doctr. christ. 1,35,39 ff.) und die paulinische Trias Glaube, Liebe, Hoffnung rezeptionsästhetisch wendet (quisquis igitur scripturas divinas intellexisse sibi videtur ita ut eo intellectu non aedificet caritatem dei et proximi, nondum intellexit 1,36,40).28 Die Frage nach Spannungen in mittelalterlichen Konzepten von ›Erbauung‹ führt also in sehr weitreichende Problemdimensionen der historischen Semantik, Pragmatik und Ästhetik religiöser Literatur. Denn als Medium von ›Erbauung‹ im Mittelalter gilt eine umfassend verstandene instructio morum, die Risiken auffangen muss: die Versuchung der schönen Form, die Versuchung der subtilitas und die der übertriebenen Heilszuversicht. Dabei steht der Lakonismus der Begriffsverwendung von ›Erbauung‹ auf der Metaebene quer zu einer problemen der spätmittelalterlichen Erbauungsliteratur am Beispiel der Dekalogerklärungen; allgemeiner Schmidt, Zur deutschen Erbauungsliteratur des späten Mittelalters. Dagegen für systematische Relationen wie ›Erbauung‹, Imitatio, Trost, religiöse Didaxe vgl. Schulmeister, Aedificatio und imitatio; zuletzt auch Weitbrecht: Imitatio und Imitabilität; von Moos: Consolatio; Lähnemann und Linden (Hg.), Dichtung und Didaxe; zu einer Pragmatik ›spiritueller Kommunikation‹ Stridde, Verbalpräsenz und göttlicher Sprechakt; für den Aspekt Liturgie und Literatur Herberichs, Kössinger und Seidl (Hg.), Liturgie und Literatur. Historische Fallstudien; Heinzer, Figura zwischen Präsenz und Diskurs; in historisch-mediologischer Perspektive zwischen »Fülle und Mangel« Kiening; für heterogene Wunderdiskurse Roling, Physica Sacra. 26 Smith, Aedificatio sancti loci; Ganz und Lentes, Ästhetik des Unsichtbaren. Zur kunst­ wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Kult- und Erbauungsbild als ›Andachtsbildwerk‹ und imago pietatis vgl. Rimmele, in diesem Band. Außerdem allgemein Burger, Aedificatio, fructus, utilitas. In intermedialitätstheoretischer Perspektive vgl. zuletzt Koch und Schlie (Hg.), Orte der Imagination – Räume des Affekts, hier bes. einschlägig der Beitrag von Logemann, Baupläne der Andacht. 27 Schedl und Moser, Art. ›Erbauungsliteratur‹, S. 484. 28 Vgl. Herzog, Exegese – Erbauung – Delectatio, S. 62 mit Anm. 78.

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unüberschaubaren Vielfalt der damit angezielten Phänomene. Deren immanente Spannungen – ästhetische, kognitive und affektive Eigendynamiken – werden leicht übersehen, unter anderem deswegen, weil der inflationär eingesetzte Erbauungsbegriff der mediävistischen Forschung oft bestimmt ist von der Semantik der Neuzeit, die ›Erbauung‹ reduziert auf Innerlichkeit, diskursive Schlichtheit und reine Positivität. Gibt man hingegen der Kategorie für das Mittelalter historische Kontur, hellhörig für das, was solche retrospektiven Systematisierungen unterschlagen, können gerade Erbauungskonzepte aufschlussreich sein zur Identifizierung der vielschichtigen Semantiken, Pragmatiken und ästhetischen Eigenlogiken von Erbauung: indem sie diese beobachtbar und einschätzbar machen, ohne sie auf der Objektebene damit aus der Welt zu schaffen. Vor diesem Hintergrund kommt es für einen Versuch historischer Modellbildung – ›Erbauung‹ im Mittelalter als Bild- bzw. Begriffsgeschichte, Verfahrensund Funktionsgeschichte – darauf an, (I) Objekt- und Metaebene analytisch zu differenzieren und die je verschieden bewerteten Erbauungskonzepte nicht kurzzuschließen; (II) interne mediale und epistemologische Spannungen von Erbauung zwischen Metapher und Begriff, Bild und Text, Latinität und Volkssprache nicht zu unterschlagen und zugleich einzukalkulieren, dass die Ebene der Referenz (besprochene Erbauung) und die Ebene erbaulicher Performanz nicht ineins­ fallen, Erbauung als Medium und Erbauung als Ziel also widersprüchlich auseinandertreten können; (III) eine grundsätzliche perspektivische Reziprozität einzubeziehen nach der Seite religiöser Ästhetik wie ästhetischer Religion,29 und dabei, statt gattungs­ poetologisch ›Erbauungsliteratur‹ als historische Abstraktion zu isolieren, so weit wie möglich historische Kontexte, Umbesetzungen und Diskursinterferenzen mit in den Blick zu nehmen.30

29 Vgl. Krüger, Grazia, S. 7–14. 30 So findet das Bibelepos in der apologetischen Situation der Spätantike andere Erbauungsbedingungen vor als die Bibelepik im höfischen Mittelalter oder im Humanismus (vgl. den Beitrag von Jan-Dirk Müller, in diesem Band).

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1. ›Erbauung‹: Semantiken, Konzepte, Verfahren Spitzbögiger Zenit erhebt den Geist; Solch ein Gebäu erbaut uns allermeist. (Faust II)

›Erbauung‹ ist demnach ein so gängiges wie undeutliches Prädikat der mediävistischen Forschungsliteratur. Wie eklatant der mittelalterliche und der neuzeitliche Erbauungsdiskurs auseinanderfallen können, zeigt exemplarisch der sogenannte »Große Seelentrost«, entstanden wohl in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts.31 Weit verbreitet in Mittel- und Norddeutschland, in den Niederlanden (hier noch bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts als religiöse Un­ terweisungsliteratur in Umlauf) und Skandinavien, kann der von einem geistlichen Anonymus an religiöse Laien adressierte niederdeutsche Text als universale Kompilation unterschiedlicher geistlicher Standardliteratur der Zeit gelten (Libellus iste collectus est de diuersis libris32). Seine Besonderheit bezieht der Text daraus, dass er die disparaten Erzähltraditionen (Historienbibel, Anekdoten, Visionen, Viten, Legenden, Speculum-Literatur u. a.) zum Zweck praktischer Unterweisung in eine üppige Exempelsammlung (mehr als 200 Exempla) inte­ griert, die systematisch, nämlich entlang der zehn Gebote, sortiert und darüber hinaus als Lehrdialog zwischen Beichtvater und Beichtkind inszeniert ist.33 Der Text gilt der Forschung, schon im Titel der Edition, als das »Erbauungsbuch« des Spätmittelalters schlechthin. Im »Großen Seelentrost« freilich fehlt der Terminus ›Erbauung‹. Der aus verschiedenen Gattungen kompilierte Text versteht sich selbst vorrangig als »Trost«-Literatur. Der lateinisch-volkssprachliche Prolog erläutert allerdings ein sehr breites funktionales Spektrum angestrebter Textwirkungen zwischen Belehrung und Unterhaltung,34 die sich im Textverlauf dann prompt in die Quere kommen,35 als Symptom genereller Spannungen 31 Schmitt, Der Große Seelentrost. 32 So der lateinische Prolog, S. 1, Z. 1. 33 Vgl. Palmer, Art. ›Seelentrost‹. 34 Ziel (lat. intentio) der Sammlung ist eine möglichst umfassende (erzählerische, aber auch gebetslyrische) Exemplifizierung der zehn Gebote, und zwar, wie im lateinischen Prolog angegeben, nach vier Richtungen: Intentionis mee est colligere et conscribere quidcumque est vtilius ad docendum, quidcumque deuocius ad legendum, quidcumque delectabilius ad audiendum, quidcumque facilius ad intelligendum (Schmitt, Der Große Seelentrost, S. 1, Z. 6–8). 35 Bei der Textlektüre zeigt sich für die aus verschiedenen Gattungstraditionen übernommenen Exempel, »dass keine mit den katechetischen Zwecken völlig übereinstimmende Nutzanwendung aus ihnen abgeleitet werden kann« (ebd., S. 140*), was besonders deutlich am Umgang des Textes mit der Alexandersage zu sehen ist. Diese soll dem Verfasser als

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im religiösen Erzählen, das sich durchaus von historischen Stoffen der Welt­ geschichte unterhalten (»erfreuen«) lassen darf, jedoch die Kontrolle darüber, dass das Vergnügliche dabei im Dienst des Nützlichen zu stehen habe, nicht selten dem Leser überlassen muss. Diese rezeptionsästhetische Differenzierung aus dem »Seelentrost«-Prolog vereint gängige Funktionsbeschreibungen religiöser Literatur: nützliche Belehrung, fromme Lektüre, vergnügliches Zuhören, leichte Verständlichkeit. Die Reihe wirkt unauffällig, verbindet sie doch das übliche mediale Nebeneinander von Lesen und Hören (ad legendum, ad audiendum) mit der traditionellen Doppelfunktion unterhaltsamer Nützlichkeit (vtilius, delectabilius), wobei neben das Belehren zusätzlich der laienkatechetisch36 typische Anspruch leichter Fasslichkeit tritt (facilius ad intelligendum). Der Prolog geht vom Lateinischen dann in die Volkssprache über und fasst zusammen: Der Seele Trost liege an heiliger Lehre und Betrachtung der Heiligen Schrift (Der sele trost leghet an hiliger lere vnde an betrachtunge der hilgen scrift, S. 1, Z. 15), auf dass die Seele genährt und gestärkt werde (vp dat dyn sele gespiset werde vnde gesterket to allen guden dingen, S. 1, Z. 22 f.), wie der im Tempel sitzende Jesus von den Schriftgelehrten (vnde nym eyn bilde an vnseme heren Jhesu Christo, de sat in dem temple mangk den wysen mesteren vnde vragede vnde horde van der hilgen scrift, S. 1, Z. 23–25). Die Semantiken sind: Getröstet und Gestärktwerden, wobei der bildlogisch parallele Schritt zum Erbautwerden als Tempel Gottes hier nicht umgesetzt ist. Stattdessen taucht aber in der Sekundärliteratur ein (ein­ geschränkter) Begriff von ›Erbauung‹ auf, drei Mal auf engem Raum: Der erste Beleg findet sich anlässlich des Plädoyers des Verfassers für das Beten des Paternosters in der Volkssprache (zum vierten Gebot, Exempel 36 und 37 = S. 157–158). Der Gläubige solle in der Kirche beten, weinen und sich mit Beispiel für Weltverfallenheit dienen, gleichwohl dominieren in der einschlägigen Exempel- und Episodenkette die ritterlichen Tugenden und Kriegstaten Alexanders, und auch das Salomon-Exempel »lenkt durch seine ausführlichen Schilderungen nicht nur vom Lehrprogramm ab, sondern widerspricht ihm geradezu« (ebd., S. 140*), wenn einerseits zur Überwindung sinnlicher Begierden Askese exemplifiziert wird, anderseits und zugleich Salomons Reichtum, Lust an Frauen und Luxus ausführlich beschrieben werden. Ist das nun, wie die Herausgeberin nahelegt, »ein Widerspruch, der den ungebildeten Leser verwirrt haben muß« (ebd., S. 141*)? »Daß er jedoch die Historien vollständig aus den Quellen übernahm, erklärt sich aus seiner Absicht, den Leser nicht nur zu belehren, sondern auch zu unterhalten und dadurch von der Lektüre weltlicher Bücher abzulenken. Der Verfasser selbst scheint allerdings historischen Stoffen nicht abgeneigt gewesen zu sein, denn sonst hätte er wohl kaum seine Lehre derartig von ihnen überwuchern lassen. […] gerade die handlungsgefüllten Historien mit ihren anschaulichen Schilderungen und dramatischen Zuspitzungen machen die Lektüre des GST reizvoll« (ebd., S. 141*). Vgl. Zum selben Strukturproblem Toepfer in diesem Band (zur Inszenierung der Sünderheiligen Maria) sowie Prica (zur Kontrollbedürftigkeit von Entgrenzung) und Benz und Weitbrecht (Minne und Heiligkeit). 36 Vgl. Wachinger, Der Dekalog als Ordnungsschema für Exempelsammlungen.

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inniger Anteilnahme das Leiden Christi vergegenwärtigen; es komme dabei vor allem auf die Aufrichtigkeit des religiösen Affekts an (beter is eyn Pater noster myt innicheit wan dusent ane innicheit; vgl. S. 157, Z. 5). Die Herausgeberin des Textes kommentiert dieses Zitat wie folgt: »Die religiöse Betrachtung soll jedoch mehr sein als Erbauung [Hervorhebung SK]. Sie soll eine Geisteshaltung wecken und festigen, die den Menschen befähigt, als Christ in der Welt zu wirken« (S. 142*). Hier verrät sich ein neuzeitlich verengter Erbauungsbegriff (inniges Gefühl), der den intellektuellen Habitus (»Geisteshaltung«) und das aus ihm hervorgehende »Wirken« in der Welt der ›Erbauung‹ abspricht, während der Text selbst durchaus ein komplexes Funktionsspektrum entwirft, dabei von ›Erbauung‹ aber gerade nicht ausdrücklich spricht. Der zweite Verweis der Herausgeberin auf ›Erbauung‹ verwendet den Begriff als Kompositum substantivierter Adjektive und reduziert die Reichweite des Begriffs erneut (»Neigung zum Populär-Erbaulichen [Hervorhebung SK]«, der dritte Beleg bleibt erst recht eine vage Gattungsbezeichnung: »die religiöse Bildung der Laien durch Predigt und erbauliche Literatur [Hervorhebung SK]«). Schon daraus wird ersichtlich, dass es sich für Fragen der Funktionsbeschreibung religiöser Literatur empfiehlt, verschiedene Ebenen möglichst genau zu unterscheiden: 1. die Objektebene, als Selbstbeschreibung des Textes, 2. die Objekt­ebene als das, was der Text jenseits seiner ausdrücklichen Programmatik (und fallweise auch gegen sie) tut, 3. die Metaebene der literaturwissenschaft­ lichen Forschung bzw. gegebenenfalls deren außerwissenschaftliche Erweiterung im allgemeinen Sprachgebrauch.37 Im Unterschied zu anderen religiösen Schlüsselbegriffen – auch im Unterschied zum sekundären Nomen ›Erbaulichkeit‹ – ist ›Erbauung‹ ein Prozessbegriff mit hohem metaphorischem Potential, was in der mittelalterlichen Literatur sowohl als metaphorisch initiierte Begrifflichkeit wie als begrifflich durchlässige Metaphorik umgesetzt sein kann. Haustein (in diesem Band) zufolge ist das religiöse Abstraktum erbûwunge im Mittelhochdeutschen kaum bezeugt, während die vielfältigen Semantiken von erbûwen sowohl auf der proprie- wie improprie-Ebene diskursübergreifend nachweisbar sind. Wenn also das Nomen ›Erbauung‹ im deutschen Mittelalter weitgehend eine wortsemantische Lücke bleibt, macht es erst recht keinen Sinn, ›Erbauung‹ auf ein

37 Den Status der Kompilation kommentiert die Herausgeberin so: »Durch die Verschiedenartigkeit der Quellen ergab sich für die besondere Schwierigkeit, die ihrem Wesen nach oft auseinanderstrebenden Stoffe einem Formprinzip zu unterwerfen. Es war daher recht geschickt, dass er von den durch literarische Vorbilder gebotenen formalen Möglichkeiten die günstigste, die Dialogform, auswählte und die Exempel mittels eines durchlaufenden Kommentars verband. Nur so konnte eine primitive Aneinanderreihung vermieden« und ein einheitlicher Erzählstil durchgehalten werden, »nicht ohne ein gewisses Formgefühl« (Schmitt, Der große Seelentrost, S. 137*f.).

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lexikalisches oder begriffsgeschichtliches Spezialsystem zu verengen. Vielmehr kann sich vor diesem Hintergrund die Aufmerksamkeit dafür schärfen, dass die Begriffsgeschichte von ›Erbauung‹ von ihren innerbiblischen Anfängen an immer auch eine Metapherngeschichte ist (zunächst mit ekklesiologischer Kernbedeutung: ›Erbauung‹ als Erbauen der Kirche als Gemeinschaft: exstructio /  aedificatio). ›Erbauung‹ als Konkretum (etwas erbauen) wurde zum begrifflichen Abstraktum (jemanden ›erbauen‹) überhaupt erst  – und zwar schon innerbiblisch  – mittels Übertragung.38 Anders, als es auf der Metaebene die lexikographische Forschung mit ihren systematisch getrennten Rubriken von wörtlichem und übertragenem Begriffsgebrauch suggeriert,39 können auf Objektebene Begriffslogiken in Bildlogiken umschlagen, und umgekehrt, und es scheint gerade diese bild- und begriffslogische Synchronie, die mittelalterliche Erbauungskonzepte bevorzugt ausspielen, während sie sich in der Neuzeit zunehmend verliert. Wie begriffs- und textanalytisch aufschlussreich es sein kann, Wortfeld-Analysen mit parallel geführten Bildfeldanalysen zu verbinden, zeigt der Beitrag von Herberichs (in diesem Band). Wenn oikodome / aedificatio bibelintern gerade nicht als innerlich-private »Erbauung des individuellen homo religiosus« verstanden wurde, »sondern als Bau der Una sancta catholica« in Form öffentlicher, kollektiver, wechselseitiger Belehrung, Ermahnung und Tröstung (zur Trias von aedificatio, exhortatio, consolatio, vgl. 1 Cor 14,3), muss der moderne Sprachgebrauch schon im Blick auf biblisch-spätantike Quellen geradezu als Pseudomorphose gelten.40 Die lateinische gleitende Synonymik verrät bei genauerem Hinsehen signifikante Differenzierungen zwischen Erbauen, Wiederaufbauen, Errichten, Aufrichten: Gilt Erbauung als Wiederaufbauen, steckt darin eine brisante (im Beitrag von Herberichs: reaedificare, excitare) Dynamik von Alt und Neu. Gilt Erbauung als Aufrichten, ist der Weg zu seelischer Erhebung und zum Consolatio-Anspruch nur kurz. Und wenn im erbauten Haus der Weisheit die sieben Säulen zugleich als blühende und fruchttragende Bäume imaginiert und ausgelegt werden, mit dem mittleren als künftigem Kreuzbaum, zeigt das die immense poetische und

38 Bornkamm, Die Erbauung der Gemeinde. Nicht zufällig hat ›Bauen‹ einen Eintrag im Wörterbuch der philosophischen Metaphern: Böhringer, Art. ›Bauen‹. Dynamiken von (Re-)Terminologisierung und (Re-)Metaphorisierung gehen in der Geschichte des mittelalterlichen Begriffsgebrauchs von Erbauung Hand in Hand, je neu kann das Metaphernpotential unhörbar gemacht (habitualisiert) oder aber neu aktiviert werden. 39 Vgl. etwa die Auflistung von einerseits konkretem Erbauen (Land und Feld erbauen, Häuser und Tempel erbauen) und anderseits übertragenem Erbauen (innerlich erbauen, bis hin zur berühmten Erbauungsdefinition von Kant: »die moralische folge aus der andacht auf das subject«, ²DWB , Art. ›Erbauen‹, Sp. 705–707). 40 So Vielhauer, Oikodome, hier S. 164, auch zum breiten lateinischen Begriffsfeld von (re-) aedificare, superaedificare, fabricare, struere, restaurare, erigere.

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diskursive Produktivität allegorischer Synchronisierung von Heilszeitverlauf.41 Als logisches  – ontologisch striktes  – Subjekt von Erbauung wird stets Gott gedacht, der uns zum geistlichen Haus erbaut (1 Pt 2,5), doch auch wir bauen im Glauben über dem Fundament der Propheten und Apostel (superaedificati) die Kirche Christi, die als Gemeinschaft der Gläubigen gedacht ist, mit Christus als Eckstein, als ein nicht abgeschlossener Vorgang. In der Semantik des lateinischen Begriffs aedificatio greifen Resultat (Aufbau: Bau, Gebäude) und Prozess (Auferbauung) eng ineinander. Nimmt man für die religiöse Literatur und Bibelexegese hinzu, dass in analogischer Korrespondenz von Dichtung und Gegenstand auch das vom Dichter / Exegeten gebaute Formkunstwerk (artificium) als Tempel, Arche oder Stadt zu Ehren Gottes einen Erbauer (artifex) als Urheber hat42 und rekursiv der Bau – die Stadt Jerusalem – auch das allegorische Verfahren selbst (den vierfachen Schriftsinn) verbildlichen kann, wird klar: Das Subjekt und Objekt von Erbauung variiert beständig, qua Übertragung oder Distinktion. Der Tempel ist lesbar als Buch aus Steinen, und der Text (auch die Bibel selbst, bis in die Tektonik von Synopse-Seiten) ist imaginierbar als Tempel aus Worten, in spezifischer Konkordanz von Dichtkunst, Auslegungskunst und Baukunst, mit je neu kontrollierter Unterscheidung von Selbsterbauung und Erbautwerden. Schon als metaphorisch fundierter Begriff ist ›Erbauung‹ in sich spannungsvoll: So schließt Gott mit Abraham den Bund, »das Haus Israel aufzubauen« (2  Sam  7,27), als Tempel- oder Archebau, der dann im Bau der Kirche (der Gemeinde wie des Einzelnen) und endzeitlich im Bau des himmlischen Jerusalem Erfüllung finde.43 Doch für den angezielten Sachverhalt der ›(Glaubens-) Stärkung‹ kann das Bildfeld der Architektur (›Erbauen‹ eines Gebäudes, mit Fundament, Anbauten, Aufbauten)44, wie oben angedeutet, auch übergehen in das Bildfeld der Agrikultur (›Bebauen‹: Pflanzen, Wachsen, Ernten, Nähren; vgl.

41 Prica, Heilsgeschichten, mit Bezug auf Hugo von St. Viktor, vgl. auch den Beitrag von Prica in diesem Band zum Weinkeller-Gleichnis, einem Architektur und Agrikultur zusammenführenden Modell; reduplikative und rekursive metaphorische Mutationen zwischen organologischen und konstruktiven Modellen mit Blick auf christusallegorische Mythen im syrischen Christentum bereits bei Vielhauer, Oikodome, S. 161: Zum Weizen, der in die Höhe wächst, »als ob er Bausteine heraufgezogen hätte, und hat seine langen Blätter ausgestreckt wie Windungen an einer Säule«. Vgl. dazu auch das Bild des iranischen Photographen Mohammad Reza Kazemi auf dem Cover des vorliegenden Buches. 42 Für Heinrich von Mügeln vgl. Stolz, Tum-Studien, v. a. Kap. 6.  2. Zur komplexen Verschränkung von Literatur und Architektur Ernst, Text als Architektur – Architektur als Text; Krause und Zemanek (Hg.), Text-Architekturen. 43 Angemaier, Art. ›Erbauung‹; Pohlmann, Art. ›Erbauung‹. 44 Iogna-Prat, La Maison Dieu.

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Jer 31,28 ut aedificem et plantem),45 mit unterschiedlichen Referenz- und Adres­ satenbereichen, auch mit unterschiedlichen Axiologien. Mehr oder weniger verdeckte Hierarchien kommen zur Geltung in der Anwendung der ErbauungsMetaphorik auf die Heilige Schrift selbst: Die mittelalterliche Exegese ›überbaut‹ die Bibel mit dem vierfachen Schriftsinn, mit historia als Fundament, allegoria als Mauern, tropologia als Inneneinrichtung und anagogia als Dach,46 was eine nicht immer transparente, schwankende Hierarchie von Oben und Unten, Außen und Innen suggeriert. Nur wenn Gott selber als Bau gedacht wird und als deus altissimus in der bekannten Doppelsemantik von Hoch und Tief dessen Dach und Fundament zugleich bezeichnet, ist das ein Absolutheitsindex (dieser Sangspruchdichtungs-Topos findet sich auch im Schöpferlob des Prologs zum Passional: du bist ob aller ho ein dach / und aller tufe ein vullemunt).47 Gott kann aber im selben Vorstellungsbereich auch als Fundament für den Bau der Dichtung beansprucht werden (So wil ich uf in buwen / Allhie daz werc […]).48 Spannungen dieser Art können als aufschlussreiches »figuratives Wissen«49 gelten. Im 126 Verse umfassenden Prolog zu einer spätmittelalterlichen deutschen Version der Judith-Geschichte,50 die ihre Materia nah am biblischen Prätext in die Volkssprache überträgt, wohl aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, findet sich eine für solch interne Bilddynamik und Subjekt-Objekt-Interaktion von Bau, Erbauen, Erbauung, Überbauen signifikante Passage. Nach Einzelanrufungen an den trinitarischen Gott V. 1–39 initiieren die Überleitungsverse 40–44 (die um Hilfe bitten, um das werc vollbringen zu können uf der tugende berc, vgl. V. 43 f.) eine Bau-Allegorie. Bauen hat dabei ein Doppelsubjekt (Autor und Gott: mit dir buwen), wobei der wahre, dreifach göttliche Baumeister dem Autor durch seine Machtfülle (volleist) beistehen solle: »Wahrer Gott, wo deine Hilfe nicht zugleich Fundament und Dach ist, bleibt das Bauen bzw. das Gebaute instabil«:

45 Bach, Bauen und Pflanzen, außerdem der Beitrag von Bruno Quast (mit Bezug auf die Arche, die in der exegetischen Tradition für das aufzubauende Haus Israel steht [2 Sam 7,27], S. 11) sowie Coralie Rippl, in diesem Band, S. 199–244, zur Ein-Leib-Metaphorik, die bei Paulus mit den Bildbereichen des Wachstums und des Architektonischen überblendet wird (Eph. 4,16). 46 Brinkmann, Die Exegese als Bau. 47 Passional. Buch I: Marienleben. V. 12 f. 48 Väterbuch. Prolog V. 96 f. Der Übergang von Architektur in Natur ist noch als Nachklang greifbar in Legendenwundern (vgl. im Beitrag Benz und Weitbrecht, S. 259, den Hinweis auf das Wunder in Reinbots »Georg«: Auf die Aufforderung eines Engels hin umarmt Georg den das Dach seiner Herberge tragenden Balken, der daraufhin schöner als jeder Baum im Mai erblüht). 49 Konersmann, Vorwort: ›Figuratives Wissen‹. 50 Judith. Aus der Stuttgarter Handschrift HB XIII 11.

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Vater, sun, heilic geist! warer Got, wa din volleist nicht vullemunt ist unde dach, da ist die buunge swach. (V. 45–48)

Der Autor beansprucht, zusammen mit Gott sein Werk auf den Berg zu bauen (vgl. Dan 2,34 und 44 f.) als stabiles Fundament, zugleich möchte er unter dem Dach Schutz finden, was die lateinisch inserierte und kombinierte PsalmenMetapher vom Schatten der Flügel (Ps 56,2 »Im Schatten Deiner Flügel suche ich Zuflucht« und Ps 35,8 »Zuflucht finden die Menschen im Schatten deiner Flügel«) variiert durch Überlagerung mit dem Bildfeld Bauen (»unter dem Dach deiner Flügel«): nu wil ich alhie diz werc mit dir buwen uf den berc, da von ane hant gehouwen wart hie vor der stein in gotes art. ouch under deme dache buwe ich ez der vitache [›Fittich‹, ›Schutzschild‹], da von hie vor David sprach, als ichz in im geschriben sach: ›in tegmine alarum tuarum sperabo‹. daz lutet zu dute also: ›ich hoffe in diner vitchen dach.‹ (V. 49–59)

Die Bau-Allegorie wird abgeschlossen mit einem Lob des Inneren des göttlichen Gebäudes (»herrliche Wohnung«), welches erneut den göttlichen Zusammenfall von Fundament und Dach sowie Innenraum und Außenraum als Begründungsfigur heranzieht: o welch wunnenclich gemach in dir, herre, buwen ist, wand vullemunt und dach du bist. (V. 45–62)

Die die Anschauung zunächst verwirrende Gleichzeitigkeit von Mit-dir-Bauen als In-dir-Bauen (springende Bildlogik: wer erbaut was mit wem worin?) wird nachträglich mit einer Art liturgischer Präpositionenmetaphysik (»durch dich, in dir, mit dir«-Bauen, vgl. V. 63) diskursiviert und die Paradoxie so retrospektiv erläutert: durch dich, in dir, mit dir ich hie / beginne und ube und ende und zie / diz werc […] (V. 63–65) – ohne dass die Erbauungsfunktion des Textes auf den (terminologischen) Begriff gebracht würde, wohl aber mit der Implikation, dass die Seele selbst traditionell exemplarisch als aufzubauendes, auszu­ schmückendes Gebäude gilt, unter Anlehnung an biblische Exegesemuster (Tempel, Bundeslade, Arche, Jerusalem), und vor dem Hintergrund, dass Er-

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bauung immer schon auch auf sich selbst angewendet wird als Modell für Textproduktion und Texthermeneutik. Offenbar kann in der Literatur die Spannung von Subjekt und Objekt, Aktivität und Passivität, Vorgang und Resultat (also die Aspekte Bauen, Erbautwerden, Erbauung, Gebäude) von Fall zu Fall hohe allegorische Energie entfalten und geradezu textgenerativ sein, besonders prominent in einer Reihe von allegorischen, narrativen und exegetischen Texten, die mithilfe komplexer Inklusions- und Teilhaberelationen den Bau eines Tempelgebäudes zugleich erzählen und auslegen. In Prudentius’ »Psychomachie« (Mitte des 4. Jahrhunderts) konsolidiert sich nach dem Kampf zwischen Tugenden und Lastern der Sieg im Bau eines prächtigen Seelentempels, der die christliche Heilsperspektive im buchstäblichen und übertragenen Sinn ›aufbaut‹, durch Kombination von allegorischer Narration und ekphrastischer Allegorie.51 Erst recht im 12. und 13. Jahrhundert werden hochdetailliert Gesamtarchitekturen zum Gegenstand von Auslegung und Erzählung, mit fließenden bildimaginativen Übergängen zwischen Innen- und Außen-Räumen, Materialität und Signifikanz, Abstraktion und Konkretion. Singulär ist im »Jüngeren Titurel« (um 1270) die hyperbolische Beschreibung des Gralstempels als Rotunde mit 72 spiegelnden Chören, gedeutet als Seelentempel, samt selbstreduplikativem Bau im Bau, der zugleich von einem spektakulären weiteren Tempel zu Ehren Marias überboten wird.52 Neben dem schon zitierten »Tum« Mügelns ist Hermanns von Sachsenheim allegorischer »Goldener Tempel« (1455) hervorzuheben, ein vielschichtiges, mit edlen Kräutern »durchpflanztes« Marien-Sinngebäude (V. 1180 f.), Von synnwerck, nit von stein,53 in dem die Bewohner sowohl der intra- wie der extradietegischen Welt auf- und absteigen können, mit Tendenz zur Selbstreferenzierung und heilsgeschichtlicher Synchronisierung. Damit es dem »Bau aus Worten« (V. 1294 f.) nicht durchs Dach regne (V. 852), ruft der Autor je neu Maria um Hilfe an, den kunstvollen Tempel zu subtyln, aber auch zu kürtzwiln (V. 101 f.)  – ein rarer Schlüsselreim für die gattungstypisch angestrebte Kongruenz von delectatio und aedificatio in Form kurzweiliger Subtilität. Durch solche Vervielfältigung des Objektbereichs ergibt sich für das Bauen einerseits ein Textmodell (ein differenziertes Textgebäude), anderseits ein text­ hermeneutisches Modell (der vierfache Schriftsinn als Erbauen eines Gebäudes 51 Vgl. Mertens Fleury, Zeigen und Bezeichnen, S. 136–146. Hier auch zum Haus der Natur bei Alanus und zum »Jüngeren Titurel«. 52 Albrechts von Scharfenberg »Jüngerer Titurel«. 53 Hermann von Sachsenheim, Der goldene Tempel, hier V. 632. Dazu zuletzt Kiening, Fülle und Mangel, S. 270–287, zum Tempel als »Hypermedium« S. 278: Es bleibe offen, »wie sich ein materieller Reichtum, der nicht ins Spirituelle übersetzt werden soll, auf eine weltlich orientierte Tugendlehre beziehen lässt«. Vgl. auch Whitehead, Castles of the Mind, mit reicher Literatur zur Architektur des Heiligen.

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vom Fundament bis hinauf zum Dach), jeweils mit vielschichtigen Verweis­ zusammenhängen auf Mariologie, Ekklesiologie, christliche Anthropologie (Maria, die Kirche und die Seele als Bau), drittens das Modell einer umfassenden religiösen Wirkungsästhetik (›Erbauung‹), das zugleich durchlässig bleibt auf ein poetologisches Modell (Bauen ist neben Weben eine der prominentesten Dichtungsmetaphern). Aufgrund dieser epochenspezifischen Korrespondenz von Dichtungs-, Auslegungs- und Baukunst sind im Mittelalter religiöse und ästhetische Praxis komplex miteinander vermittelt. Der semantisch-lexikographische Befund  – die wortsemantische Lücke im volkssprachlichen Bereich und der mhd. Alternativbegriff bezzerunge  –54 ist offenbar mit dem (undeutlichen?) Doppelstatus von ›Erbauung‹ genau zwischen Bild und Begriff in Zusammenhang zu bringen, der Erbauung bzw. erbauen von Anfang an in (Re-)Metaphorisierungs- und (Re-)Terminologisierungsschleifen bringt, so, dass zwar das Abstraktum Erbauung im Sinn einer Konsolidierung des Glaubens und Aufrichtung der Seele im Mittelalter zurücktritt, jedoch das Wortfeld Erbauen bzw. Erbauung um so üppiger in allegorisch-exegetisch-poetologisch-narrativer Expansion je neu seine transgressive Kraft und Bedeutung entfalten kann. Das zeigt der vorliegende Band, der entsprechend differenzierte Vorschläge zur Beantwortung der Frage macht, »was denn mittelalterliche volkssprachliche Erbauungsliteratur stricto sensu sein könnte« (Haustein, S. 48). Eine umfassende lateinische Begriffsgeschichte von aedificatio in wechselnden Kontexten ist für das Mittelalter nach wie vor ein Desiderat. Wie verhält sich die gleitende ›Erbauungs‹-Synonymik des Lateinischen (aedificatio, adhortatio, consolatio, imitatio, incitatio, perfectio etc.) zu volkssprachlichen Äquivalenten? Für lat. aedificatio gibt es auch mhd. ein gleitend synonymisches Feld (erbûwunge, bezzerunge, underwîsunge, trost, gedinge, lere, nutze, lêren, wîsen, bezzern, sterken etc.), dessen spannungsreiches affektives und intellektuelles, moralisches und vor allem ästhetisches Potential für das Mittelalter erst noch auszuschöpfen ist. In diesem Sinn grundlegend behandelt Jens Haustein Semantiken des Erbauens im Vorfeld der eigentlichen Wortbildung von erbûwunge: »lêren und bezzern. Zur historischen Semantik von erbûwen und Verwandtem im Spätmittelalter«. Haustein geht von der Diskrepanz von Meta- und Objektebene aus mit der Beobachtung, »dass oft genug eigentlich die Gesamtheit religiöser Literatur als ›erbaulich‹ begriffen wird, ohne dass es eine entsprechend ausgebaute, volkssprachlich-zeitgenössische Begrifflichkeit größerer Belegdichte 54 Vielleicht aufgrund erhöhter Deutlichkeit des Parallelbegriffs bezzerunge, so Haustein, im vorliegenden Band, S. 48, im 16. Jahrhundert wohl auch aus frömmigkeitsgeschichtlichen Gründen, vgl. ebd.

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gäbe« (S. 41). Vor diesem Hintergrund verfolgt er die Frage, »wo, wann und vor allem mit welcher Bedeutung sich erbûwen, aber auch das Simplex bûwen sowie das Substantiv erbûwunge von der konkreten, vielfach belegten Bedeutung ›jmd. (er-)baut etwas (Konkretes)‹ lösen« (ebd.). Ergebnis seiner semantisch-lexikographischen Rekonstruktion ist eine überraschende Inversion der Beleglage: Während in der weltlichen Literatur des 13. bis 15. Jahrhunderts der übertragene Wortgebrauch von Erbauen etwa im Liebeskontext durchaus mehrfach belegt ist (das Frauenlob, das Gemüt, den Trost erbauen, S. 43), sind in geistlichen Texten des Spätmittelalters nur sporadisch Belege nachweisbar (die Christenheit erbauen, die aus gläubigen Christen erbaute Kirche, S. 44), häufig in synonymischer Variation mit bessern bzw. bezzern. Erst recht das Abstraktum (er)bûwunge ist Haustein zufolge im Mittelhochdeutschen schwach bezeugt  – der auf das 14. Jahrhundert datierte Erstbeleg für bûwunge stammt aus einem mittelniederdeutschen Nonnenspiegel –, erneut in auffälligem Nebeneinander von bûwunge und bezzerunge, ein offenbar »deutlicher« (S. 48) konturierter Konkurrenzbegriff, den auch spätmittelalterliche Legendenromane geradezu als Leitbegriff für ihr wirkungsästhetisches Anliegen einsetzen.55 In der vorlutherischen gedruckten Bibel des 15. Jahrhunderts hingegen finden sich für bûwunge mehr Belege, doch wird schon im reformatorischen 16. Jahrhundert der vermehrt mit Werkgerechtigkeit in Verbindung gebrachte Begriff ›Erbauung‹ hinter dem der ›Besserung‹ wieder zurückgestellt (so bei Luther und Zwingli). Auch die spätmittelalterliche Lexikographie übersetzt aedificatio mit bezzerunge, entsprechend schmal bleibt für das Abstraktum bûwunge insgesamt die Beleglage. Im Fazit: »Die Karriere dieses Begriffs beginnt erst im 17. Jahrhundert« (S. 46). Umso spannender die Rekonstruktion der Spielräume, die der uneindeutige Bild-­Begriff-Status von Erbauung jenseits der lexikographischen Lücke eröffnet. An eben diesem schillernden Zwischenstatus von Erbauung zwischen Bild und Begriff setzt der Beitrag von Cornelia Herberichs zum Geistlichen Spiel an, der sich der Semantik und Symbolik von ›Erbauung‹ über das Antonym des ›Zerstörens‹ und ›Wiedereinreißens‹ nähert, Erbauen als Wiederaufbauen im Sinn eines Überbietungsverhältnisses von Alt und Neu thematisiert und darüber hinaus einbezieht, dass die innerbiblische Vielschichtigkeit der (re-)aedificatio-Semantik zugleich als pragmatische Spannung zu Buche schlagen kann: »qui destruit templum et in triduo illud reaedificat (Mt 27,40). Zur Semantik von ›Erbauung‹ im Tempelwort Jesu sowie dessen Rezeption im volkssprachigen Passionsspiel des Mittelalters am Beispiel der Hessischen Passionsspielgruppe«. 55 Dazu Benz und Weitbrecht, in diesem Band; außerdem die demnächst abgeschlossene Dissertation von Claudio Notz: Kunstlose Kunst. Legendarisches Erzählen an seinen Grenzen, im Kontext des Teilprojekts »Immediatisierung der Form. Grenzfälle christlicher Ästhetik« des vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Nationalen Forschungsschwerpunkts »Medialität. Historische Perspektiven«.

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Herberichs zeigt in synchron-diachroner Doppelperspektive exemplarisch auf, wie die Autoren der von ihr untersuchten Passionsspiele die Vielschichtigkeit des neutestamentlichen Erbauungsdiskurses – mit seinem »inhärenten Aspekt der transformierenden Kraft« von ›Erbauung‹ (S. 69) – jeweils gezielt reduzieren, indem sie die eschatologische Dimension des Tempelworts zugunsten der christologischen zurücknehmen. Zwar messen die Spiele durch auffällige Wiederholung des Tempelworts in hoher Frequenz dem Erbauungsthema eine gesteigerte Bedeutung zu, legen aber anderseits die differenzierte alttestamentliche Semantik des Begriffs (zwischen aedificatio, reaedificatio und excitatio) konsequent auf die Dimension der Wieder-Erbauung fest (reaedificatio: mhd. wider buwen, wider machen, wider stellen), um den Juden anhaltende Blindheit für die christologische Neusemantisierung von aedificatio zu unterstellen. Die Vereindeutigung von aedificatio in den Spielen gehe einher mit der Verschärfung der texttypischen antagonistischen Pragmatik zwischen Jesus und den Juden. Herberichs Synopse macht deutlich, dass der Semantik der ›Erbauung‹ im späten Mittelalter eine höchst bedeutsame Rolle zuerkannt wurde für die Christologie des Passionsspiels. Zugleich sollten in pastoraler Absicht die Zuschauer ihrerseits als christliche communitas ›erbaut‹ werden. »Die Frage nach der Erbauung als einem Motiv sowie zugleich als einer Funktion des Spiels führt so in die zentralen Dynamiken von Sinn- und Gemeinschaftsbildung dieser Gattung.« (S. 55)

2. Zwischen Bild und Begriff. Mediale und epistemologische Spannungen dese boweten hie mit toten steinen, gene boweten dort mit lebenden beinen. (Brun von Schonebeck, Das Hohe Lied)

Im christlichen Mittelalter gilt Erbauung als umfassend verstandene, ästhetisch, kognitiv und affektiv ansetzende instructio morum, die von Fall zu Fall Risiken nach mindestens drei Seiten auffangen muss: Versuchungen der schönen Form, der allzu subtilen Spekulation und der übertriebenen Heilszuversicht. Nicht zu schön, aber süß. Nicht zu subtil, aber instruiert und rational. Nicht zu zuversichtlich, aber nicht desperat. Erbauung ist dabei zugleich Medium und Ziel, was charakteristische performative Schleifen produzieren kann. Von solchen wirkungsästhetischen, medialen und epistemologischen Spannungen ist im Folgenden die Rede. Wie schon bei Cornelia Herberichs geht auch der Beitrag von Aleksandra Prica für den herangezogenen Text aus dem Umkreis der Tischgespräche Anselms von Canterbury (um 1200) von der Auslegung eines Bibelverses aus (hier:

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Cant 2,4); wieder spielen neben diskursiven zugleich textperformative Prozesse eine wichtige Rolle: »Nüchterne Trunkenheit. Methodisch kontrollierte ›Erbauung‹ auf amplifiziertem Fundament«. Das hier verhandelte WeinkellerGleichnis aus dem Hohenlied wurde in der Regel verstanden als Anleitung zu Erbauung durch Bibelauslegung (in der Tradition allegorischer Beschreibung von Bibelexegese als Weiterbauen am Bau Gottes: der Keller als Kirche, in der der Wein des Evangeliums lagere). Prica geht einen Schritt weiter und liest das Weinkeller-Gleichnis nicht nur als texthermeneutisches, sondern auch als textproduktives Modell, das zwei Ebenen spezifisch ineinanderführe: die besprochene Entfaltung der erbaulichen exegetischen Methode und diejenige der Anwendung dieser Methode. Diese Ebenenverschränkung treibe eine durchaus prekäre Problemkonstellation hervor, die das zugrundeliegende Konzept der Erbauung, so Prica, überhaupt erst Kontur gewinnen lasse: indem »Erbauung gewissermaßen zwischen Verbindlichkeit und Übertretung des Bibeltextes aufgerieben wird« (S. 79). Das titelgebende Oxymoron »Nüchterne Trunkenheit« bezeichne genau diesen heiklen Punkt, nicht »im Rahmen eindeutiger erbau­ licher Ziele« (S. 88) als beruhigte Balance von Beschränkung und Entgrenzung auf der höchsten Stufe der vierfachen Schriftauslegung, sondern im Gegenteil als kontrollbedürftiges Risiko von Überfülle und Übertretung im Rausch übermäßiger Textproduktion, als das »gefährdende und zugleich produktive Moment der ›Erbauung‹ (S. 88). Regina Toepfer eröffnet eine Reihe von Beiträgen, die internen  – theologischen, frömmigkeitspraktischen und wirkungsästhetischen  – Spannungen in christlichen Erbauungskonzepten nachgehen: »Erbauung und Begehren. Spannungen im Dramenbuch Hrotsviths von Gandersheim«. Im Mittelpunkt bei Toepfer steht die Kategorie des Begehrens, gefasst als »Streben nach einem anthropologischen, religiösen und ästhetischen Ideal […] im Bewusstsein einer defizitären Ausgangssituation« (S. 93), mit der These, »dass die Spannungen im Konzept des Erbaulichen letztlich in der dialektischen Struktur dieses Begehrens wurzeln« (S. 93). Toepfer rekonstruiert sodann widersprüchliche Dynamiken auf verschiedenen Analyseebenen der Textrezeption, Textproduktion und Textpoetik exemplarisch für das vierte der sechs Dramen Hrotsviths, das, adressiert an Kanonissen und Ordensleute, mit der Sünderheiligen Maria für eine keusche Lebensführung wirbt. Im Blick auf die Praefatio zum Dramenbuch kann Toepfer zusätzlich Ambivalenzen religiöser Textproduktion und Textrezeption herausarbeiten. Ihre analytische Differenzierung von ästhetischem Begehren der Rezipienten, poetischem wie pastoralem Begehren der Autorin und imitativem Begehren der dramatischen Personen sucht nicht nur für das Gesamtprofil des Textes nuancierte Befunde, sondern auch für die Einschätzung des Textes durch die Forschung als Erbauungsliteratur. Über die gängige Trias von Glaubens­ stärkung durch Heilsvergegenwärtigung und Unterweisung hinaus reformuliert

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Toepfer das Funktionsspektrum durch analytische Unterscheidung verschiedener Ebenen, auf denen das »Begehren nach Heil und Heiligkeit, Vollkommenheit und Vervollständigung« (S. 110) entfacht werde. Das spannungsvolle Verhältnis von Erzählung und Erbauung verhandelt Susanne Spreckelmeier: »Erbauung und Zweifel in Marien Himmelfahrt-Versdichtungen«. Sie setzt nicht wie Herberichs am bildlogischen, sondern begriffslogischen Gegenteil von Erbauung an (Verunsicherung, Zweifel, Verzweiflung) und rekonstruiert eine paradoxale Erzählkonfiguration: Glaubenszweifel als Mittel gegen Glaubenszweifel. Im Fokus ihres Beitrags stehen Konrads von Heimesfurt »Unser vrouwen hinvart« und die anonyme »Rheinfränkische Marien Himmelfahrt« (1258/1269), die Zweifel an der Himmelsaufnahme und Heilsgewissheit in Form erzählerischer »Komplexisierung« (S. 129) jeweils ausstellen, um sie dann narrativ zu bändigen und schließlich zu überwinden. Die Erbaulichkeit des volkssprachlichen bibelepischen Erzählens sei in Konrads höfischem Entwurf bereits konzeptionell vorausgesetzt, der Zweifel und seine Überwindung dienen hier in der angefügten Thomas-Episode der (doppelten) Beglaubigung des Geschehens der Himmelfahrt. In der »Rheinfränkischen Marien Himmelfahrt« sei der Zusammenhang von Erbauen (bevesten) und Zweifeln wirkungsästhe­ tisch konzeptualisiert. Erbaulichkeit erscheint als Effekt des affektiven Nachvollzugs der marianischen Perspektive auf Rezipientenseite. In beiden Fällen funktioniere, so Spreckelmeier, erbauliches, d. h. den Abbau von Zuversicht überwindendes Erzählen über autopoetische Verfahren, die Ästhetik und Heilsvermittlung verbinden: »Die Erbaulichkeit der Erzählung setzt hier das Erzählen vom Zweifel ebenso voraus wie seine narrative Überwindung« (S. 130). Spannungen zwischen religiösen und ästhetischen Effekten verbindet Spreckel­ meiers Überlegungen mit dem Beitrag von Marius Rimmele »Die Erneuerung des Schmerzensmanns in der Druckgraphik des frühen 16. Jahrhunderts: Semantische Verdichtung zwischen erbaulicher Funktion und künstlerischem Selbstzweck«, mit dem zugleich die Dimension von Visualität und Medienwechsel ins Spiel kommt. Rimmele untersucht über ein paradigmatisches Bild-TextCorpus den Rezeptionswandel der komplexen Figur des Schmerzensmanns, wie sie sich seit dem 13. Jahrhundert im Westen etabliert hat. Die aus der paradoxen Konfiguration des lebendig-toten Erlösers resultierende irritierende Komplexität dieses ikonographischen Musters verdichte sich, so Rimmele, gerade um 1500 in einer Phase des Übergangs zwischen religiöser Repräsentation und Kunstproduktion zu neuen Experimenten. Während Dürers Schmerzensmann als Hybride von apollinischem Idealkörper und Kadaverkopf religiöse Funktion, Kunstanspruch und durchaus auch ökonomische Interessen in neuer Synthese konvergieren lasse, oszilliere Hans Baldungs Schmerzensmann uneindeutig zwischen Erbauung und ästhetischem Eigenwert. Wenige Jahre später führe schließlich Sebald Behams ästhetisch überdeterminierter »gespenstischer«

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Schmerzens­mann in eine geradezu schaurige Persiflage. Die visuellen »Verdichtungen« theologischer Sachverhalte und erbauungsästhetischer Effekte versteht Rimmele für alle drei Paradigmen als epochale Umbruchssymptome: Im neuen Medium der Druckgraphik (d. h. unter beschleunigtem Innovationsdruck) für eine literarisch versierte, kunstinteressierte Öffentlichkeit bewirke die Konkurrenz von traditionellen, eucharistisch-passionskontemplativen Erbauungsfunktionen und ostentativer Artifizialität für den Bildtypus Schmerzensmann im frühen 16. Jahrhundert eine historisch neue Komplexitätssteigerung.

3. Überblendungen, Umbesetzungen, interkulturelle Dynamiken Religiöse und ästhetische Transgressionen gehen im Mittelalter Hand in Hand, jedoch nicht symmetrisch. In dieser Grenzzone kann zum Beispiel Antirhetorik zu einem rhetorischen Kunstmittel werden, können Artefakte ihren prekären Formanspruch in paradoxen Operationen zugleich ostentativ vorführen, verbergen und transgredieren. Vor dem Hintergrund der ambivalenten Grundeinstellung der christlichen Ästhetik zur Rhetorik führt das Erzählen vom Höfisch-Heiligen immer wieder zu Überschreitungen. Zu diesen gehört neben dem Umschlagen der Sprecherrollen (der Erzähler als Subjekt und Medium göttlicher Selbstauslegung), der Sprechakte (u. a. zwischen Lob, Narration, Exegese) und Stildispositionen (humilitas, sublimitas) auch die Vermittlung verschiedener Zeit- und Zeichenperspektiven (der Perspektive heilsgeschichtlicher Linearität und figuraler Simultaneität). Die ersten vier der folgenden Beiträge verbindet für unterschiedliche Text­ gattungen die Beobachtung von Irritationen im Spannungsfeld von Religion und Minne, deren Register56 von Fall zu Fall ineinandergreifen können. So widmet sich der komparatistisch angelegte Beitrag von Bernd Roling »Cantat luscinia: die Chiffre der Nachtigall zwischen Liebe und Auferstehung« mit der Nachtigall dem »vielleicht erfolgreichsten Liebes- und Botenvogel der Literatur­geschichte« (S. 178), dessen zwiespältige Natur quer durch die Epochen nicht nur eine eminente literarische Produktivität auslöst, sondern auch und vor allem einen regelrechten Kampf um seine Deutungshoheit. Da die Nachtigall als Liebes- und Auferstehungsvogel zugleich Dichtervogel ist und mit ihrem vollkommenen Gesang Inbegriff der schönen Form, kann dieses »bipolare Symbol« (S. 184 und 186) geradezu als »Paradigma« der Versuchung der schönen Form gelten, »die sich verselbständigte, und um deren Wiedereingrenzung man sich von geistlicher Seite gezielt bemühte« (S. 178). Roling demonstriert 56 Zum Versuch, bibelepisches Wiedererzählen registerpoetologisch zu fassen, vgl. Köbele, Registerwechsel.

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für den Zeitraum vom 9. Jahrhundert bis in die Frühe Neuzeit die Eigendynamik, mit der die Nachtigall als zunächst »zutiefst erbauliches Symbol« (S. 178) säkularisiert, resakralisiert und erneut säkular umbesetzt wird, in von allusiver Intertextualität geprägten, wechselnden Kontexten zwischen Volkssprache und Latein, zwischen Naturkunde, Theologie und Liebesdiskurs. Unter den zahlreichen lateinischen und volkssprachlichen Gedichten zur Nachtigall der Frühen Neuzeit greift Roling abschließend ein besonders schillerndes Beispiel (von ­Nicolaus Baer) heraus, »das sich um die erbauliche Nutzanwendung der Nachtigall bemüht, ohne die sinnliche Ambiguität des Vogels dabei zur Gänze aus den ­Augen zu verlieren« (S. 193). Rolings detailgenaue Rekonstruktion der ambivalenten Nachtigallen-Chiffre führt zugleich vor (wie auch der folgende Beitrag von Jan-Dirk Müller), dass der Weg zwischen Erbaulichkeit und »Betulichkeit« kurz sein kann (S. 195) – und dass, wenn die Kriterien transparent sind, Wertungen dieser Art durchaus eine Erschließungsfunktion haben können. Der Beitrag von Coralie Rippl »Erbaulicher Verfall? Interferenzen von höfischer Minne und christlicher Ehe-Allegorese am Beispiel Sigunes in Wolframs ›Parzival‹ und ›Titurel‹« zielt auf das Überschneidungsfeld von ›weltlichem‹ und ›geistlichem‹ Erzählen, wie es bei Wolfram spezifisch wird. Auch Rippl setzt an einem Gegenbegriff zu Erbauung an, den sie als paradoxe Figur reformuliert: ›erbaulicher Verfall‹, und ins höfische Milieu überträgt. Während ältere Forschung den »Parzival« als »mittelalterliche[n] Erbauungsroman« mehr oder weniger geradlinig allegorisiert und Parzivals Weg tropologisch als Heilsweg des Menschen gedeutet hat, hingegen jüngere Forschung die Frage nach dem Religiösen häufig auslagert durch Reduktion der Figuren auf Erzählfunktionen, differenziert Rippl die Problemlage durch eine detaillierte Analyse des Verhältnisses von Metapher und Erzählung. Für die vier Begegnungen Parzivals mit Sigune und deren Rollenwechsel (höfisch Liebende und Inkluse) rekonstruiert sie ›Ebenensprünge‹ zwischen Handlung und Metapher, die zugleich das Verhältnis von immanenter und transzendenter minne / triuwe sowie Hierarchien von außen und innen, unten und oben betreffen. Sie kann zeigen, »dass hier tatsächlich eine dialektische Prozessualität von ›Zerstören und Aufbauen‹ narrativiert wird, die die Stationen der Sigune-Geschichte entscheidend prägt« (S. 205). Über die semantischen Felder des pflanzlichen Wachstums und des Bauens werde eine spezifische »Dialektik äußeren Verfalls und innerer Erbauung« eingespielt (S. 204) sowie signifikante Transgressionen von minne und triuwe zwischen den Sphären ›weltlich‹ und ›geistlich‹. Das Problemfeld genuin literarischer Säkularisierung verbindet Rippls Ausführungen mit dem Beitrag von Maximilian Benz und Julia Weitbrecht »Honicmaeziu maere. Zur Welthaltigkeit legendarischen Erzählens bei Rudolf von Ems und Reinbot von Durne«. Benz / Weitbrecht wenden sich zwei literarhistorisch benachbarten Erzählungen vom Höfisch-Heiligen zu, Rudolfs »Barlaam und

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Josaphat« und Reinbots »Heiligem Georg«. Beide spätmittelalterlichen Texte verbinde, dass, durchaus unter dem Eindruck höfischer Meisterschaft, die schöne Form eine Herausforderung (Verheißung und Verführung zugleich) sei, »der sich beide – wenn auch in der Wahl der Mittel durchaus unterschiedlich – mit einer gewissen Lust stellen«, spannungsreich, aber ohne Geltungsverlust (S. 263) im Sinn einer affektstimulierenden Erbauungsästhetik. Während Rudolf deutlich markiere, wie er mit der heiklen »Welthaltigkeit« legendarischen Erzählens vom Weltabschied ästhetisch verfährt, und dabei das Potential unterschiedlicher Medialisierungsstrategien auslote, verlasse sich Reinbot weitgehend auf (verspiegelte, also verwechselbare)  Effekte von Glanz und Blendung; Benz / Weitbrecht fassen sie als Effekte einer vielschichtigen ästhetischen Säkularisierung (S. 259 f.). Im Zentrum des Beitrags stehen Spannungen zwischen positiver und negativer Bewertung weltimmanenter, »honigsüßer« Schönheit und deren (Dys-)Funktionalität für das legendarische Erzählen. Benz / Weitbrecht beschrei­ ben die Spannungen als »Phänomene einer Erbauungspoetik«, die, auf bezze­ runge zielend, »mit den zur Verfügung stehenden sprachlichen Ausdrucksmitteln der Zeit die Erwartungen eines an der höfischen Literatur geschulten Publikums […] bedienen, um es zu affizieren – in moralischer ebenso wie in ästhetischer Hinsicht« (S. 247). Erbauung, höfisch? Wie die Beiträge von Spreckelmeier, Rippl und Benz /  Weitbrecht beschäftigt auch Bruno Quast das Verhältnis von Erbauung und Erzählung: »Religiöse Erbauung, höfisch. Lutwins ›Eva und Adam‹«. Auch ihm geht es um die riskante Koexistenz von Askese und höfischer Minneethik (Welt­ absage im Modus von Weltevokation), um die Frage der Übersetzbarkeit der unterschiedlichen Axiologien. Quast widmet sich der mittelalterlichen Kreuzholzlegende in Form der höfisch imprägnierten Wiedererzählung der apokryphen »Vita Adae et Evae« durch Lutwin. Gegen die ältere Forschung liest er den Text nicht als Effekt einer planen, einlinigen Säkularisierung, sondern rekonstruiert spannungsvolle Amalgamierungen von religiöser Vorlage und höfischer Überformung als »erzählerische Syntheseleistung« (S. 276), die verschiedene Plau­sibilisierungsstrategien aggregativ nebeneinanderstelle. Ohne Versuchung kein Heil, weswegen auch auf der Ebene des Erzählens der riskante Widerpart der höfischen Perspektive das seinerseits erzählte Versuchungsgeschehen meta­ poetisch spiegele. Ästhetische delectatio und spirituelle aedificatio, so Quast, verbinden sich als »genuines Signum religiöser Erbauung im höfischen Kontext«: »Paradies, Versuchung und Erlösung begegnen bei Lutwin in den Bildern von den Zweigen im Heilsraum der Arche, die in der christlichen Auslegungstradition spätestens seit Augustinus sowohl die Kirche als auch das Herz des Gläubigen bezeichnen kann. […] Lutwins Heilsraum der Arche ist dabei indes in erster Linie ein Heilsraum des Erzählens, eines Erzählens, das darum weiß, dass es Heil nur um den Preis der Versuchung geben kann« (S. 279 f.).

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Jan-Dirk Müllers Beitrag »Erbauung und die Auratisierung des literarischen Autors. Zum Bibelepos der Renaissance«, der mit grundsätzlichen Überlegungen zum Bibelepos bis in die Renaissance und abschließend noch zum Spätwerk von Clemens Brentano führt, markiert die Grenze, an der der mittelalterliche ›Erbauungs‹-Begriff dem neuzeitlichen Platz macht, der vorwiegend eine gefühlig-sentimentale Einstellung zu religiösen Gehalten im Auge habe (S. 283). Für den Übergang bzw. Traditionsbruch macht Müller eine einschneidende Veränderung verantwortlich: Der Funktionsprimat literarischer Texte verschiebe sich vom Text und seinem Gegenstand »auf dessen ›Gemachtheit‹ und seine ästhetische Qualität und deren Herstellung und Garantie durch den literarischen Autor« (ebd.). Die christliche Epik der Frühen Neuzeit ordne sich zwar explizit immer noch religiöser Programmatik unter, aber diese, so Müller, sei nicht ihr einziges Ziel, gehe es doch vor allem um poetischen Wettstreit mit der Antike und deren Überbietung, kurz: um Autor-Auratisierung. Brentanos »Betrachtungen der gottseligen Anna Katharina Emmerich« bilden dann gewissermaßen die Schwelle zur Eliminierung des Autors als »Konsequenz der prätendierten Kunstlosigkeit der neuzeitlichen Erbauungsliteratur« (S. 308). »Texte, die sich dem poetischen Wettstreit entziehen, sind nur erbaulich« (ebd.). Die neuzeit­ liche Erbauungsliteratur und das Begriffsfeld des ›Erbaulichen‹ entstehen also, so Müllers These, im Zuge einer Emanzipation der Literatur von übergeordneten Zwecken. Andreas Nehrings Beitrag »›Teilnehmende Aufmerksamkeit‹. Religionswissenschaftliche Überlegungen zum tanzenden Shiva« ist mit seiner interkulturellen und dezidiert methodologischen Dimension eine willkommene Ergänzung zu den vorausgehenden Fallstudien. Nehring interessiert sich für die Veränderung visueller Bildpraxen und Repräsentationsformen (»wie sich die Aufmerksamkeit verschiebt, wenn ein Gegenstand aus einem lokalen Kontext enthoben und globalisiert wird«, S. 319). Als Synthese von Religionsästhetik und Bild­ anthropologie wird hier die Kategorie der Aufmerksamkeit religionswissenschaftlich reformuliert und definiert als »Medium der Übersetzung zwischen implizit performativen und explizit-reflexiven Erfahrungs- und Handlungs­ dimensionen« (S. 323). Mit ihr kann neues Licht auf Eigenlogiken ästhetischer Artefakte fallen (kontrastparallel zum kunsthistorischen Beitrag von Rimmele, der nach semantischen Verdichtungsprozeduren fragt). Auch für die vorausgehenden Fallstudien zu konkurrierenden Wirkungskalkülen im christlichen Mittelalter kam es auf eine charakteristische Spannung von aktiver und passiver Beteiligung an (sich erbauen lassen gegenüber Selbsterbauung). Nehring analysiert exemplarisch wechselnde Aufmerksamkeitsressourcen und Wahrnehmungsformen anlässlich einer doppelten Dekontextualisierung des tanzenden Shiva: einerseits als Ikone orientalistischer Museums- und Repräsentations­ politik, anderseits als kommodifizierte Figur in populärreligiösen Zusammen-

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hängen westlicher Gesellschaften. »Was geschieht, wenn bestimmte ›ästhetische Eigendynamiken‹ der Artefakte und Systeme die Aufmerksamkeit okkupieren und wie wird dies kulturell in den jeweiligen Kontexten abgebildet?« (S. 319). Die Versuchung der schönen Form ergibt sich, so Nehring, je neu dort, wo ästhe­tische, mentale, visuelle, imaginative oder intellektuelle Aufmerksamkeit zerstreut bzw. vom genuin religiösen Ereignis abgelenkt oder transformiert wird. Auf der historischen Objektebene betreffen die Spannungen in mittelalterlichen Erbauungskonzepten, wie sich gezeigt hat, durchaus brisante Aspekte der christlichen Theologie, Anthropologie und Texthermeneutik: erstens die Spannung von Subjekt und Objekt (wer erbaut wen?), zweitens die Spannung von Prozess und Resultat (wie unabschließbar ist die Erbauung des  – bereits erbauten?  – Baus?) sowie drittens die Spannung von Metapher und Begriff (­etwas erbauen oder jemanden erbauen?) im Zuge fortwährender riskanter Überschreitung (Überbauung oder Überdachung?) des Fundaments des wörtlichen Schriftsinns. Der vorliegende Band demonstriert aus literaturwissenschaftlicher, bildtheologischer und kunsthistorischer sowie religionswissenschaftlicher Perspektive, wie wichtig es für die Rekonstruktion historischer Erbauungsvorstellungen ist, Wort- und Begriffsgeschichte, Verfahrens- und Funktionsgeschichte jeweils differenziert aufeinander zu beziehen. Auf diese Weise kann sich hinter aller Erscheinungsvielfalt die von uns gesuchte Epochenprägnanz zeigen. Schon viel wäre gewonnen, wenn es gelänge, den Gebrauch des Begriffs ›Erbauung‹ in der Mediävistik seiner (scheinbaren) Selbstverständlichkeit zu entheben. Unabdingbar müssen dabei die unterschiedlichen Erbauungskonzepte des Mittelalters oder der Frühen Neuzeit einerseits, solche der mediävistischen Forschung anderseits kritisch auf den Punkt gebracht und miteinander abgeglichen werden.

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›Erbauung‹: Semantiken, Konzepte, Verfahren

Jens Haustein (Jena)

lêren und bezzern. Zur historischen Semantik von erbûwen und Verwandtem im Spätmittelalter

Die Probleme mit den Begriffen ›erbauen‹, ›Erbauung‹ und dann auch ›Erbauungsliteratur‹ sind notorisch und haben ihre Ursache in der Begriffsgeschichte1 selbst. Für die Zeit des Pietismus und späterer Epochen erhält ›Erbauung‹ eine Bedeutung, die auf eine innerliche Frömmigkeit zielt, in der sich (Selbst-)Erbauung des Gläubigen in Andacht und Lektüre frommer Literatur einzeln oder besser noch in der Gemeinschaft Gleichgesinnter gegenseitig bedingen. Wolfgang Brückner hat diese Form der Frömmigkeit »religiöse Gefühligkeit« genannt.2 Für das Mittelalter und v. a. das Spätmittelalter verschärfen sich die Probleme dadurch, dass oft genug eigentlich die Gesamtheit religiöser Literatur als ›erbaulich‹ begriffen wird, ohne dass es eine entsprechend ausgebaute, volkssprachlich-zeitgenössische Begrifflichkeit größerer Belegdichte gäbe.3 Der folgende Beitrag geht der Frage nach, wo, wann und vor allem mit welcher Bedeutung sich erbûwen, aber auch das Simplex bûwen sowie das Substantiv erbûwunge von der konkreten, vielfach belegten Bedeutung ›jmd. (er-)baut etwas (Konkretes)‹4 lösen. 1 Schon die Verwendung des Terminus ›Begriff‹ ist problematisch. Im Kontext pietistischer und auch späterer Frömmigkeit, wo ›Erbauung‹ auch auf die Ebene von Werkbezeichnungen gehoben worden ist, könnte man ihn wohl sinnvoll gebrauchen; für die vorreformatorische Zeit scheint er mir unangemessen zu sein. 2 Brückner, Thesen zur literarischen Struktur des sogenannt Erbaulichen, hier S. 499. 3 Symptomatisch der Artikel ›Erbauungsliteratur‹ von Wodtke in der ersten Auflage des ›Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte‹: »Zur E.-L. gehören alle die volkstüml. geistl. Schriften in Vers und Prosa, die […] dazu dienen, dem Einzelnen oder der Gemeinschaft das Heilsgut bewußt zu machen, den Glauben zu stärken, die Seele zu erheben und das Leben nach den Grundsätzen der Religion durchzugestalten« (S. 393); ähnlich Mohr in seinem Artikel ›Erbauungsliteratur II und III‹ in der ›Theologischen Realenzyklopädie‹: »Erbauungsliteratur, als welche im Grunde die gesamte christliche Literatur gelten kann, die auf Frömmigkeit als die Gesamtheit des religiösen Verhaltens sowohl innerhalb der Gemeinde als auch im persönlichen Bereich abzielt […]« (S. 43). – Kritisch dazu v. a. Schedl und Moser, Art. ›Erbauungsliteratur‹. 4 Ich verwende im Weiteren folgende Abkürzungen: AWB (Althochdeutsches Wörterbuch, hg. von Karg-Gasterstädt und Frings); MWB (Mittelhochdeutsches Wörterbuch, hg. von Gärtner, Grubmüller und Stackmann); BMZ (Mittelhochdeutsches Wörterbuch); DWB

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Bekanntlich gibt es bereits in den Briefen des Paulus einen Übergang von der konkreten Bedeutung von gr. oikodomé bzw. für die Vulgata von lat. aedificatio und den dazugehörigen Verbformen zu einer übertragenen. Zum einen kann Paulus Gott als Baumeister der Kirche bezeichnen: quod aedificationem ex Deo habeamus (II Cor 5,1); so gebraucht, sind aedificare und fabricare Synonyme (etwa Hbr 3,3 und 4). Diese Verwendungsweise wird aber schon dann modifiziert, wenn – wie in Eph 2,20–22 – der Bau der Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen gedacht ist, in der wir wohnen, die auf dem Grund der Propheten und Apostel erbaut ist (superaedificati) und zu der Jesus Christus der Eckstein (angularis lapis) ist.5 Durch Christus werden wir zum geistlichen Haus erbaut (I Pt 2,5), aber auch wir bauen im Glauben die Kirche Christi. Noch einen Schritt weiter geht Paulus im Korintherbrief, wenn er auf die Umstände des Erbauens eingeht und auf die Differenz von Prophetie und Glossolalie zu sprechen kommt. Das Zungenreden, die Glossolalie, führt nur zur Selbsterbauung (I Cor 14,4); das prophetische Reden hingegen, gemeint ist das Predigen, führt aber zur Erbauung der Gemeinde (qui autem prophetat ecclesiam aedificat). Alles gottesdienstliche Geschehen, stets im Bemühen um Verständlichkeit und nie vollendet, führt zum ›Erbauen‹ der Gemeinde als Kirche. »Echtes gottesdienstliches Reden also ist nicht nur ein Reden mit Gott [Glossolalie, die Paulus in ihrer Bedeutung an anderer Stelle nicht bestreitet, Anmerkung JH], sich selbst zur ›Erbauung‹ (14,4), sondern ein Füreinanderdasein und erfordert darum das verständliche Wort.«6 Wer so als Prediger redet, der redet den Menschen zur Erbauung und zur Mahnung und zur Tröstung (nam qui prophetat hominibus loquitur aedifcationem et exhortationem et consolationes I Cor 14,3). Dieses Amt der Erbauung, das auf Ermahnung und Trost ausgerichtet ist, kann von jedem an jedem wahrgenommen werden (propter quod consolamini invicem et aedificate alterutrum

(Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm); ²DWB (Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Neubearbeitung); FWB (Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, hg. von Anderson, Goebel und Reichmann).  – Zu erbûwen im konkreten Sinn s. BMZ 1, S. 291 und vor allem MWB 1, Sp. 1829–1831, ebd. Sp. 1163–1174 zu bûwen; der Artikel ›erbauen‹ im FWB ist noch nicht erschienen, mir aber freundlicherweise von der Göttinger Arbeitsstelle des FWB zur Verfügung gestellt worden; er ergibt kaum ein anderes Bild als für die mhd. Zeit; erbûwunge ist offenbar mhd. gar nicht bezeugt; auch frühnhd. ist das Lemma sehr schwach belegt und stärker erst im 17. Jahrhundert; auf den einen mir bekannten Beleg wohl aus dem späteren 14. oder gar erst dem 15. Jahrhundert komme ich unten zurück (Anm. 26). 5 Vgl. hierzu allgemein Bornkamm, Erbauung der Gemeinde. Speziell zu dieser Stelle auch Friedrich, Art. ›Erbauung I‹, besonders S. 19. 6 Bornkamm, Erbauung der Gemeinde, S. 115. Ganz ähnlich auch: Surkau, Art. ›Erbauen‹: »Durch 1. Kor. 14 ist allem ›erbaulich Reden‹ im heutigen Sinne des Wortes das Lebensrecht in der Gemeinde Jesu Christi endgültig abgeschnitten. Ein wirklich erbauendes Reden kann also nur darin bestehen, daß Christus und sein Tun bezeugt wird.« (S. 114)

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I Th 5,11). Das gegenseitige Belehren und Auslegen der Schrift führt gerade-

wegs in die ›Erbauung‹ (omnia ad aedificationem fiant I Cor 14,26). Für Paulus ist ­aedificatio also gerade keine fromme Innenkehr, kein sich selbst auf Gott Hinwenden, sondern ›öffentliche‹ Belehrung und Ermahnung, Auslegung der Schrift und Trost in der Anfechtung zum Zweck der – nicht abgeschlossenen und nicht abschließbaren – ›Erbauung‹ der Kirche, die gleichzeitig die religiöse ›Erbauung‹ des Einzelnen in der Gemeinschaft darstellt. Deshalb kann man sich auch selbst erbauen – aber bezeichnenderweise nur im Plural: vos autem carissimi superaedificantes vosmet ipsos sanctissimae vestrae fidei (Iud 20). Welches Bedeutungsspektrum können mhd. und frühnhd. (er-)bûwen und (er-)bûwunge vor diesem paulinischen Hintergrund in religiösen Texten des Mittelalters haben? Eine Verwendung von erbûwen im religiösen Sinne, die über eine Konstruktion wie ›einer erbaut etwas Konkretes (Kirche, Haus, Stadt, Burg)‹ hinaus geht, setzt freilich voraus, dass eine allgemeine Konstruktion wie ›einer erbaut etwas Abstraktes (Lob, Klage, Freude)‹ im Sinne von ›etwas erschaffen‹ bzw. in passivischer Konstruktion ›etwas ist entstanden‹, ›etwas wird erhoben‹ o. ä. überhaupt möglich ist. Das MWB belegt diese Konstruktion nun schon für das 13. Jahrhundert. In einem Lied Reinmars von Brennenberg heißt es etwa ir [das der Frauen, Anmerkung JH] lob ist wol erbouwen;7 im »Lohengrin« kann das herze des Königs durch manic stolze vrouwen seinen muot […] hôch erbouwen; in der »Krone« ist die Klage um die entführte Ginover wol erbowen. Auch das Spätmittelalter kennt solche Konstruktionen: In einem Lied aus dem »Liederbuch« der Clara Hätzlerin (1471) klagt der enttäuschte Liebhaber, dass er kain trost vf erd erpawen kann.8 Dieser zwar nicht üppigen, aber doch belegten Verwendungsweise in weltlichen Texten steht im Bereich geistlicher Texte9 hingegen nichts Vergleichbares zur Seite. Die beiden frühesten Belege stammen offenbar erst aus der Mitte des 14. Jahrhunderts. In einer Predigt aus Weingarten10 zum neunten Sonntag post pentecosten11 über das Gleichnis vom unehrlichen Verwalter (Lc  16,1–9), der, da sein Herr ihn entlassen will, dessen Schuldnern teilweise die Schulden erlässt, damit sie ihn später aus Dankbarkeit in ihre Häuser aufnehmen, findet sich folgende Auslegung: der schaffenær [Verwalter, Anmerkung JH] den er da hete, der im [dem Herrn, Anmerkung JH] sin g ůt hete ode ͤ geleit, dc ist ain ieglich lerær, 7 Dieser und die beiden folgenden Belege im MWB 1, Sp. 1831 mit Nachweisen. 8 Liederbuch der Clara Hätzlerin, S. 9 (I,10, V. 5). 9 Diese problematische Dichotomie hat selbstredend nur einen heuristischen Wert. 10 Vgl. Morvay und Grube, Bibliographie der deutschen Predigt, S. 26 f. (T 33); Ladisch-Grube, Art. ›Weingartner Predigten‹, Sp. 817 f. mit Hinweis auf Cruel, Geschichte der deutschen Predigt, S. 194–198. 11 Vgl. Schiewer, Die deutsche Predigt, S. 373–378 (T49) mit weiteren Predigten zu diesem Gleichnis.

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der sin cristenheit versûmet vnde si niht erbvwet mit der gotes lere.12 Mit seiner Auslegung stellt der Verfasser die Auslegung bei Lukas geradezu auf den Kopf, wird doch dort betont, dass man den Mammon verschwenden solle, um sich Freunde zu machen, die einen am Ende in die ewigen Hütten (in aeterna tabernacula)  aufnehmen können. Dem Prediger war offenbar aus der Auslegungstradition heraus13 das Verschenken oder gar Verschwenden von Gut jedoch nur als Versäumnis vorstellbar, das er hier ganz im Sinne des Paulus als niht erbûwen und das meint letztlich: als ›nicht ermahnen und belehren‹ der christlichen Gemeinschaft und damit der Kirche auslegt. Die Weingartener Handschrift (Stuttgart, LB, cod. HB I 86)14 wird auf die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts datiert. Nach »Stil und Inhalt« seien die Predigten aber »ins 12. Jh. zu datieren«.15 Damit ist freilich nicht belegt, dass erbûwen im Sinne von ›die Kirche oder die Gläubigen erbauen, weiter aufbauen‹ schon für diese Zeit verwendbar war. Die Parallelsammlungen aus der Zeit um 1200 wie die des Priesters Konrad16 oder die »Millstätter Predigten«17 kennen kein erbûwen. Auch die (bislang überhaupt erst) zweite Verwendungsweise im gesuchten Sinne begegnet (mehrfach, aber stets vergleichbar) in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts  – beim sogenannten Österreichischen Bibelübersetzer18, der sich in zwei Verteidigungsschriften veranlasst sah, seine (nahezu vollständige) Übersetzung der (lateinischen) Bibel in die Volkssprache zu rechtfertigen.19 Im Kontext seiner Polemik gegen die ungelehrten philosopheier20, die ihm zusetzen, zitiert er zunächst Salomon, wohl in Anlehnung an den Titulus zum 95. Psalm im Psalmenkommentar des Nikolaus von Lyra21: Wer den stain vberwirfftt, der wirt von jm verseret und legt diesen Satz dann folgendermaßen aus: Der stain beczaichent die glaubhëfftigen kristen, da die heilig krisstenhait mit erpawn [hsl. 12 MWB 1, Sp. 1830; Text: Altdeutsches Uebungsbuch zum Gebrauch an Hochschulen, S. 188. 13 Vgl. Schiewer, Die deutsche Predigt, S. 374 mit Hinweis auf andere Predigten, die ebenfalls den Verwalter auf Personen der geistlichen Obrigkeit und deren Versäumnisse hin auslegen; ebd. auch ganz andere Auslegungen, etwa auf das Almosenspenden u. a. 14 Autenrieth und Fiala, Die Handschriften der ehemaligen Hofbibliothek Stuttgart, S. 153–155. 15 Ladisch-Grube, Art. ›Weingartner Predigten‹, Sp. 817; ähnlich auch Cruel, Geschichte der deutschen Predigt und Schiewer, Die deutsche Predigt. 16 Altdeutsche Predigten, hg. von Schönbach, speziell S. 141 die Auslegung auf das Spenden von Almosen. 17 Die Millstätter Predigten, hg. von Schiewer, S. 138 f. 18 Gärtner, Art. ›Klosterneuburger Evangelienwerk‹, und Kornrumpf, Österreichischer Bibelübersetzer (um 1330). 19 Den Beleg verzeichnet das MWB 1, Sp. 1831; die beiden Vorreden ediert von Löser und Stöllinger-Löser, Verteidigung der Laienbibel. 20 Ebd., S. 283. 21 Im einzelnen ebd. S. 301.

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Varianten: erpawet, gebauwet] ist, als sannd Pauls sprichtt [vgl. Eph  2,19–22, s. o.]. Wer die selben stain vberwı rfftt, ͤ das er durch geittigkait vnd durch vnchunst mit argem vorpild von gutem fürsacz vnd von rechtter andacht schaitt, dem wirt das wort »Wee euch« nachuolgunden.22 Hinter der Passage steht offenbar die Vorstellung, dass der Bau der Kirche, der aus den gläubigen ›Menschensteinen‹ erbaut ist, durch schlechtes Vorbild Schaden nehmen kann. Auch an anderer Stelle in der Auslegung von Mt 5,14 spricht der Österreichische Bibelübersetzer davon, dass die Stadt Gottes die christenhait sei, die auf den hohen perch Jhesum christum gebawen ist und auf die Schriften der Propheten und Apostel gegründet wurde, da von sol sie offenleich gechundet werden vnd gepraittet vnd gevestent mit gueten werchen vnd mit rechter lere.23 Augenfällig auch hier ist die Bezugnahme auf die vorbildhaften Werke und die rechte Lehre, mit der die auf Christus gebaute christenhait gefestigt und ausgebreitet werden soll. Auch das weitere Wortfeld von erbûwen mit dem Simplex bûwen und der Substantivierung (er-)bûwunge oder auch bûwære bietet für das spätere 14. Jahrhundert nur wenig Material, das zudem an der bislang beobachteten Semantik wenig ändert. Der in der Literatur öfters genannte und auf das 14. Jahr­ hundert datierte Erstbeleg24 für bûwunge25 stammt – bezeichnenderweise – aus einem mittelniederdeutschen Nonnenspiegel (in der Form bûwinge)26; erbûwunge 22 Ebd., S. 284 und 301 (Kommentar). – Da wir vom Österreichischen Bibelübersetzer (bislang) keine Übersetzung der paulinischen Briefe haben, ist auch nichts darüber zu sagen, wie er andere Stellen mit aedificare / aedificatio (v. a. I Cor 14,4 ff.), die weniger dicht an der konkreten Vorstellung von ›erbauen‹ liegen, übersetzt hätte. Eine Übersetzung der paulinischen Briefe aus dem 14. Jahrhundert in einer Salzburger und einer Gothaer Handschrift, die auch die Verteidigungsvorreden des Österreichischen Bibelübersetzers enthält (vgl. Löser und Stöllinger-Löser, Verteidigung der Laienbibel, S. 263, dort Anm. 58), hat Eph 2,20 ebenfalls gepawet, an allen anderen einschlägigen Stellen aber konsequent bessern bzw. besserunge. Vgl. Vollmer, Verdeutschung der Paulinischen Briefe, S. 128–228. 23 Ebd., S. 294 und S. 312, Zitat auf S. 312. 24 Wodtke, Art. ›Erbauungsliteratur‹, S. 393; Schedl und Moser, Art. ›Erbauungsliteratur‹, S. 488. 25 bûwunge / bûwinge ist eine schwach bezeugte wohl eher nd. und omd. Nebenform zu erbûwunge; vgl. DWB 1, Sp. 1201 (die beiden dort genannten »Passional«-Stellen verwenden das Wort im konkreten Sinn); 2DWB 4, Sp. 353 f.; Lexer 1, Sp. 404 f. (›Wohnung‹, ›Bau‹); MWB 1, Sp. 1171 (mit mehreren Belegen aus dem »Passional« für ›Wohnung‹, ›Bauwerk‹); FWB 3, Sp. 321–323 (v. a. 3). 26 Nonnenspiegel und Mönchsvorschriften, hg. von Ahldén. Der Text stellt eine für den Gebrauch von Nonnen angepasste Übersetzung der Formula novitiorum (De exterioris et interioris hominis compositione I.1) Davids von Augsburg dar. Die von Ahldén edierte Handschrift der Uppsalaer Universitätsbibliothek (Cod. C 802) wird von ihm im Anschluss an Conrad Borchling auf das Ende des 14. Jahrhunderts datiert, im Uppsalaer Bibliothekskatalog von Anderssen-Schmitt, Hakan Hallberg und Monica Hedlund (Literaturangabe und digitaler Zugang über den Handschriftencensus) hingegen auf das 15. Jahrhundert. – bûwinge steht zweimal für lateinisch aedificatio, beide Male bezeichnenderweise in einer Konjunktionskonstruktion, die die Unsicherheit im Umgang mit

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scheint bis 1350 gar nicht belegt zu sein, danach bis einschließlich zum 16. Jahrhundert erstaunlich schwach. Die Karriere dieses Begriffs beginnt erst im 17. Jahrhundert. Einen Beleg von bûwære im Sinne von als Vorbild dienender ›christlicher Lehrer‹ bietet das Spruchwerk Heinrichs von Mügeln, dem man früher den »Psalmenkommentar« zugesprochen hat, der heute aber als Werk des Österreichischen Bibelübersetzers (s. o.) gilt: ›Lat gut werk lüchten uwer‹, / sprach zu der jünger schar / Cristus, ›so sit ir buwer / rechts und der lere war‹.27 Für das 15. Jahrhundert steht mit der vorlutherischen gedruckten Bibel (14 oberdeutsche und 4 niederdeutsche Bibeldrucke)  und ihrer Übersetzung der paulinischen Briefe ein deutlich angewachsenes Material zur Verfügung. Die oberdeutschen Bibeln (ab ca. 1466)28 bieten übereinstimmend und ausschließlich bauwen und bauwung für aedificare und aedificatio: Dorumb trost ͤ einander vnd pauet einander (I Th 5,11); Der do rett in der zungen der bauwet sich selber: wann der do weyssagt der bauwet die kirchen (I Cor 14,4); iegleicher geualle seim nechsten in der gúte: zů der pawung. Wann cristus der geuiel nit im selber (Rm 15,2 f.). Dieser konsequenten Übersetzung von aedificare / aedificatio in den oberdeutschen steht in den niederdeutschen Bibeln (ab 1478)29 ein offenbar semantisch durchaus differenzierter Gebrauch von einerseits bûwen /  bûwinge und anderseits underwîsen / underwîsunge gegenüber. Wenn die konkrete Bedeutung im Hintergrund steht, wird bûwen bevorzugt, sonst, wenn mit der Kirche die Gemeinschaft der Gläubigen im Vordergrund steht, underwîsen: gebuwet (Eph 2,20); bouwinghe der kerken (I Cor 14,12); aber: vnderwyset een den anderen (I Th 5,11); vnderwyset de kerke (I Cor 14,4). Außerhalb der Bibelübersetzungen bleibt die Beleglage von bûwunge für aedifi­catio im 15. Jahrhundert schmal. Das DWB bietet einen vereinzelten Beleg für um 1440: zü […] buwunge und besserunge des cristlichen volkes30. Dieses Nebeneinander von bezzerunge und erbûwunge wird besonders deutlich in den Übersetzungen der Franziskanerregel aus dieser Zeit, wenn es um die Rolle der Prediger im Gottesdienst geht: Moneo […] ut in praedicatione quam faciunt sint ›examinata et casta‹ eorum eloquia, ad utilitatem et aedificatione populi wird diesem Begriff spiegelt: Zum einen (25v18) lautet die Übersetzung buwynghe edder lere, zum andern (27r11) buwynghe edder de ynnycheit. innicheit, das auch (27v12) allein für aedificatio stehen kann, sonst meist für devotio verwendet wird, meint im Kontext eines Novizenspiegels ein Sichabwenden von den äußeren Dingen und eine Konzentration auf ein geistliches Leben. Die Verbform aedifico wird bezeichnenderweise mit beteren (18v10) oder mit ghebetert vnde gheleret (23v2) übersetzt. 27 Die kleineren Dichtungen Heinrichs von Mügeln. 1. Abteilung, S. 451, Nr. 371, V. 1–4. 28 Die erste deutsche Bibel, Zweiter Band (Briefe, Apostelgeschichte, Offenbarung), hg. von Kurrelmeyer. 29 Die niederdeutschen Bibelfrühdrucke […], hg. von Ising. 30 ²DWB 4, Sp. 354; Text: Eberhart Windeckes Denkwürdigkeiten zur Geschichte des Zeitalters Kaiser Sigmunds, hg. von Altmann, S. 259.

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einmal mit […] ir rede zů notcbarkait und erbauung des uolkes, ein andermal: […] in der predigote, dy sy thün, czu nütcze vnd besserunge des volkes31 übersetzt. bezzerunge begegnet schon seit dem Althochdeutschen in geistlichen Texten im Sinne von ›geistlicher Belehrung‹, aber auch von ›Buße, Umkehr‹ und ist seit dieser Zeit als Übersetzung von aedificatio vielfach belegt – an prominenter Stelle auch seit dem 12. Jahrhundert in den Übersetzungen der ›Benediktinerregel‹32 – oder wird wie in der deutschen Franziskanerregel synonym mit erbûwunge verwendet. Vor diesem Hintergrund ist es überraschend, dass die oberdeutschen vorlutherischen Bibeln bezzerunge nicht kennen. Ein abschließender Blick sei auf das reformatorische 16. Jahrhundert und sein Verhältnis zum Begriff der ›Erbauung‹ getan, auch wenn ›Erbauung‹ »kein zentrales Anliegen und kein Wort der Reformationszeit« ist. »Ja, diese hat sogar Vorbehalte gegen das Wort und die Sache gehabt, denn das Bild schließt ein im Mittelalter als verdienstlich gewertetes Wachstum in den christlichen Tugenden ein.«33 Von daher wird verständlich, warum ›Erbauung‹ in Luthers Bibel­übersetzung nicht begegnet, wohl aber ›Besserung‹. Gemeint ist damit keine vordergründig moralische Besserung im Sinne des Verdienens durch gute Werke, sondern die Hinwendung auf das Wort Gottes im geoffenbarten Glauben. Gerade die einschlägigen Stellen aus dem Korintherbrief werden zumeist mit ›bessern‹ oder ›Besserung‹ übertragen: vom Weissagen (Predigen) wird die Gemeinde gebessert (I Cor 14,5, jeweils 1522 und 154634); derjenige, der das Gebet des Predigers nicht versteht, wird auch nicht gebessert (I Cor 14,17); wenn die Gläubigen zusammen sind, sollen sie einander Bibelworte vortragen zu besserung; DArumb lasset vns dem nachstreben, das zum Friede dienet, vnd was zur besserung vnternander dienet (Rm 14,19; ebenso Rm 15,2 oder I Cor 14,26). Daneben gebraucht Luther in seiner Bibelübersetzung ganz vereinzelt auch ›(er-)bauen‹ (z. B. I Th 5,11; Iud 20), aber eben nicht ›Erbauung‹, das erst 1964 31 Wolf, Regionale und überregionale Norm im späten Mittelalter, S. 54 f. (die Hss. M 3 und Am). – Ein weiterer, vereinzelter Beleg zu bûwen stammt aus dem »Spiegel der Sitten« Albrechts von Eyb (verfasst 1474, gedr. 1511): die lieb gottes pauwet zů tugent (vgl. ²DWB 4, Sp. 300). 32 Middle high german translations of the Regula sancti Benedicti, hg. von Selmer, jeweils in Kap. 38 zur Tischlektüre, die, wenn sie wirken soll, knapp sein muss, wird pro aedificatione mit vm (durch) bezzirunge u. ä. übersetzt. Einer der Belege auch MWB 1, Sp. 771. – Die nicht wenigen ahd. Belege AWB 1, Sp. 950 f. 33 Mennecke, Zur protestantischen Erbauungsliteratur, speziell S. 95.  – Im Genesis-Kommentar von 1527 (Nachschrift!) heißt es dazu: Wir aber haben so gesagt, das der eusserliche Gottes dienst dazu diene, das man ymer die schrifft lere und treibe und bawe den glauben damit, und das niemand so beten noch lesen sol, das er wo lͤ le damit ein gut werck thun, sondern das gewissen zu bawen und den glauben zu stercken (WA 24, S. 402,3–6; vgl. auch 2 DWB 4, Sp. 300). 34 WA DB , Bd. 7.

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neben ›Auferbauung‹ in die Luther-Bibel gekommen ist.35 ›Besserung‹ heißt für Luther, jeden im Glauben zu unterweisen und so die Kirche, die auf dem Wort Christi gebaut ist, weiter aufzubauen.36 Ganz auf dieser Linie liegt auch ein Zwingli-Beleg von 1522: so söllen wir, die starck im glouben sind, die Schwachen dulden und nit uns selbs wol gfallen, sunder sol ein ieder under uns sinem nächsten wolgefallen, zů gůtem zů erbuwen oder beßrung.37 Auch wenn sich noch der eine oder andere erbûwen / erbûwunge-Beleg in spätmittelalterlicher oder frühneuhochdeutscher geistlicher Literatur finden wird, am hier vorgestellten Befund dürfte sich grundsätzlich nichts ändern: erbûwen wird für das, was aedificare im biblisch-paulinischen Sinne meint, im Spätmittelalter und bis ins 16. Jahrhundert hinein nur zögerlich und vereinzelt benutzt. Das wird vermutlich daran liegen, dass mit lêren, wîsen und vor allem mit bezzern sowie deren Substantivbildungen Begriffe zur Verfügung standen, die das Gemeinte deutlicher ausdrückten. Wenn erbûwen bzw. erbûwunge überhaupt Verwendung finden, dann sehr häufig in Konjunktionskonstruktionen mit lêren / lêre oder bezzern / bezzerunge, die gerade auf die Unsicherheit in der Verwendung von erbûwen oder erbûwunge verweisen. Auch die spätmittelalterliche Lexikographie übersetzt aedificatio bündig mit bezzerunge.38 Stellt man sich von diesem semantisch-lexikographischen Befund her die Frage, was denn mittelalterliche volkssprachliche Erbauungsliteratur stricto sensu sein könnte, ist vielleicht doch eine gewisse Gradierung möglich. Ins Zentrum des Begriffs könnte dann beispielsweise, abgesehen von Novizentraktaten und Ordensregeln, Ottos von Passau »Die 24 Alten« (14. Jahrhundert) rücken39, unterweist doch in diesem Text belehrend, tröstend, aber auch mit negativen Beispielen drohend eine Gruppe von geistlichen Lehrern eine um Rat suchende Seele auf ihrem Weg zum richtigen und gefestigten Glauben in der Gemeinschaft der Glaubenden.40 Das gilt auch für vergleichbare Texte: etwa Johannes Niders »Die 24 goldenen Harfen«. Erbauungsliteratur in diesem Sinne schließt übrigens mystische Belehrung dann nicht aus, wenn sie über die auditive und visionäre Selbsterfahrung oder die spekulative Durchdringung göttlicher Geheimnisse hinaus ihren belehrenden Charakter behält. Selbst in Ottos von 35 Vgl. Mennecke, Zur protestantischen Erbauungsliteratur, S. 98. Von daher kann man das luthersche Erbauungsschrifttum geradezu von seinem glaubensunterweisenden Duktus her beschreiben und die beiden Katechismen und die Sermones mit ihrem belehrenden Charakter ins Zentrum stellen; vgl. Schilling, Art. ›Erbauungsschriften‹, S. 295–305. 36 Die Belege im einzelnen bei Krause, Art. ›Erbauung II‹, speziell S. 23 f. Außerhalb der Bibelübersetzung begegnet ›Erbauung‹ vereinzelt im konkreten Sinn. 37 ²DWB 8, Sp. 1583. 38 Diefenbach, Glossarium latino-germanicum, S. 195. 39 Vgl. auch Mennecke-Haustein, Art. ›Erbauungsliteratur‹, speziell S. 235. 40 Otto kennt das Lemma ›erbauen‹ nicht, wohl aber – und das gehäuft – besserunge und bessern.

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Passau »Die 24 Alten« beabsichtigt der 16. Alte die minnende sele darin zu unterrichten, wie sie zu einem schowende[n] leben gelange, das überaus núcze ist und der besserunge dient – um nur dieses Beispiel zu nennen. In den engeren Umkreis dieses Verständnis von Erbauungsliteratur würde dann wohl auch die aszetische, handlungsanweisende Literatur mit ihrer Spiegelliteratur (v. a. die Gruppe von Texten unter dem Titel »Spiegel der Laien«41 u. ä.) gehören oder etwa ein Text wie der »Große (und »Kleine«) Seelentrost«42 aus dem 14. Jahrhundert, der weniger trösten als helfen und (auch durch Exegese und Allegorese) belehren will. Gerade er, aber natürlich auch zahlreiche andere Texte, arbeiten verstärkt mit Exempla, die ein gottgefälliges, der Aufrichtung dienendes Vorbild in Heiligenund Altväterviten bieten.43 In der stets als Klassiker der Erbauungsliteratur bezeichneten »Imitatio Christi« (1420–1441) des Thomas a Kempis kommen diese beiden Belehrungsformen der bezzerunge zusammen: durch Unterrichtung und durch das Vorbild Christi.44 Abschließend sei die Frage gestellt, ob von dieser semantisch begründeten Begriffsbestimmung von ›erbauen‹ und ›Erbauung‹ ein Weg zu den Texten führt, die wir der höfischen Literatur zurechnen. Eine Antwort darauf sei nur an einem Beispiel andeutungsweise gesucht  – an Rudolfs von Ems »Barlaam und Josaphat«.45 Josaphat wird, ausgehend von seiner Frage, ob es ein Leben nach dem Tod gebe, vom christlichen Lehrer Barlaam ausführlich und über mehrere tausend Verse hin in den katechetischen Grundlagen des Christentums unterrichtet. Auf diese Weise gefestigt kann er auch andere überzeugen. Der heidnische Vater, der Josaphat, um ihn wieder in ein weltliches Leben zu führen, sein halbes Reich überlassen hat, ist am Ende selbst von der Überlegenheit des Christentums überzeugt, nicht zuletzt deshalb, weil Josaphats Reichshälfte prosperiert. Dieser – geradezu elegant erzählte – Roman diene, so Rudolf im Epilog, zur bezzerunge der kristenheit (V. 16103). bezzerunge und bezzern, die hier ganz im Sinn des spätmittelalterlichen Verständnisses von erbûwunge und erbûwen verwendet sind, werden geradezu zu Leitwörtern des Epilogs: diz mære […], ez wære alsô gewære / an süezer lêre und alsô guot, / daz ez vil lîhte maneges muot / ze bezzerunge kêrte / und bezzerunge lêrte. / ûf die gedinge und ûf den wân / diz mære ich sus getihtet hân, / swer ez hœre oder lese, / daz er sich bezzernde wese (V. 16058–16078). Die Geschichte von Barlaams Wendung zum Christentum und sein Bemühen, dieses zu verbreiten, wird als Exemplum (vorbilde, V. 16082) für alle Hörer und Leser bezeichnet, nebenbei auch als Bußleistung (buoze) für Rudolfs weltliche Erzählung vom »Guten Gerhard«, die so 41 Roth, Art. ›Spiegel der Laien‹. 42 Palmer, Art. ›Seelentrost‹. 43 Dazu Schulmeister, Aedificatio und Imitatio. 44 Van Geest, Bauer und Wachinger, Art. ›Thomas Hemerken von Kempen‹. 45 Rudolf von Ems, Barlaam und Josaphat, hg. von Pfeiffer.

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weltlich ja nun auch wieder nicht ist (V. 16129–16143). In aller ihm zu Gebote stehenden, topischen Bescheidenheit fragt sich Rudolf selbst: ob ich hân iht gebezzert mich: / des weiz ich niht (V. 16138 f.). Es gibt freilich noch einen anderen mehrfach wiederholten Begriff im Epilog: den der wârheit. Rudolf versucht seine eigene Befürchtung, dass die Tatsache des Erzählens von der Wahrheit abgeführt haben könnte, durch die Versicherung aufzufangen, dass jede Zugabe seinerseits in der Schrift ihre Beglaubigung habe: zuo der gewæren wârheit / hân ich anders niht geleit / wan des ich geschriben vant (V. 16083–16085) und nur wenig später die Variation dazu: Hab ich ouch iht dar zuo geleit / daz ist sô gar von wârheit, / daz ich ez âne valschen wân / von der schrift urkünde hân (V. 16089–16092). Rudolf macht hier auf das spannungsvolle Verhältnis von Erzählung und Erbauung aufmerksam. Die Erzählung kann – und diese Gefahr besteht für alle heilsgeschichtlich-erbaulichen Romane des 13. und 14. Jahrhunderts im Grundsätzlichen – eben dadurch, dass sie erzählt, eine erbauliche Intentionalität unterlaufen, von der ›reinen‹ Verkündigung und Erläuterung des Gotteswortes abführen und so die Aufmerksamkeit der zu Belehrenden in unterschiedliche, womöglich auch falsche Richtungen lenken. Aber gerade das macht Werke wie Rudolfs »Barlaam und Josaphat« für eine Diskussion dessen, was ›erbaulich‹ in und an der Dichtung des Mittelalters sein kann, ja so spannend.46

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46 Für freundliche Hinweise habe ich Anja Lobenstein-Reichmann, Carola Redzich und Oskar Reichmann (Göttingen, FWB), Jonas Richter (Göttingen, MWB), Freimut Löser (Augsburg) und Ute Mennecke (Bonn) sehr herzlich zu danken.

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Cornelia Herberichs (Freiburg / CH)

qui destruit templum et in triduo illud reaedificat(Mt 27,40). Zur Semantik von ›Erbauung‹ im Tempelwort Jesu sowie dessen Rezeption im volkssprachigen Passionsspiel des Mittelalters am Beispiel der Hessischen Passionsspielgruppe Destructio vnius est reedificatio alterius.1

Spricht die Bibel von aedificatio, so ist damit häufig ›Wieder-Erbauung‹ gemeint.2 Re-aedificatio hat mithin als eine semantische Extension des aedificatio-Begriffs zu gelten: Im Rahmen dieser Wortverwendungen ist zumeist das ›Erbaute‹ sowohl in einem Wiederholungs- und Ersetzungs- als auch in einem Überbietungsverhältnis zum Verlorenen konzipiert. In signifikanten Kontexten des Neuen, aber auch schon des Alten Testaments können der Akt und das Werk der aedificatio zugleich als eine Neuschöpfung3 wie auch als eine Transformation und Steigerung des Bestehenden gelten. Im Neuen Testament ist es insbesondere das Tempelwort Jesu, das bezüglich der Semantik des (Wieder-)Aufbauens eminente Fragen nach der Referenz der Metapher aufwirft. Insgesamt sechs Mal erwähnt das Neue Testament Jesu Tempelwort: Ein Mal wird es Jesus selbst in den Mund gelegt, fünf Mal wird es, zumeist von seinen Gegnern, als sein Logion zitiert. Damit stellt es innerhalb 1 Sprichwort in einer Dicta-Sammlung, Massachusetts, Harvard University, The Houghton Library, MS Ger 74, fol. 21v. 2 Besonders prägnant verdichtet sich diese Dialektik von Zerstörung und Aufbau in Ier 31,28: et sicut vigilavi super eos ut evellerem et demolirer et dissiparem et disperderem et adfligerem sic vigilabo super eos ut aedificem et plantem ait Dominus (»Und so, wie ich gewacht habe über sie, um auszureißen und niederzureißen und zu zerstreuen und zu zerstören und zu beschädigen, so werde ich wachen über sie, um aufzubauen und zu pflanzen, spricht der Herr«), vgl. auch Ps 28,5. Zum Zusammenhang von ›Zerstören‹ und ›(Wieder-) Erbauen‹ im Alten Testament vgl. die Hinweise bei Vielhauer, Oikodome, S. 6–8. Reinhart Herzog hat für die spätantike Bibelepik einen Diskurs herausgearbeitet, der aristotelische Kategorien der Wirkungsästhetik aufgreife und wonach die Zerstörung (kathartische Erschütterung, miseratio) als Voraussetzung der aedificatio (Herzog, Die Bibelepik der lateinischen Spätantike, S. 64) angestrebt werde. 3 Die Bedeutungsdimension des ›Schöpferischen‹ im Begriff des ›Bauens‹ ist ebenfalls schon im Alten Testament belegt, vgl. Vielhauer, Oikodome, S. 8 f.

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des Neuen Testaments das »meistzitierte Herrenwort«4 dar. Die Deutungen, welche die neutestamentlichen Schriften bezüglich dieses Logions nahelegen, divergieren beträchtlich: Christologische und theologische, eschatologische und ekklesiologische Semantiken wirken hier zusammen.5 Für die Semantik von aedificatio ist das Tempelwort allerdings nicht nur in einem begriffsgeschichtlichen Sinne bedeutsam; indem es synchron unterschiedliche Bedeutungsebenen und verschiedene diachrone Bedeutungstraditionen integriert, macht es die Spannungen im neutestamentlichen Konzept der ›Erbauung‹ besonders deutlich sichtbar.6 Ein Hinweis auf die enorme inhärente Vieldeutigkeit liegt schon darin, dass bereits im Evangelium des Johannes im Zusammenhang mit dem Tempelwort explizit die Verstehensbedingungen mitthematisiert werden. Im Folgenden entfalte ich in einem ersten Schritt die polyvalente Semantik von aedificatio im Kontext des neutestamentlichen Tempelworts und stelle die darin enthaltene explizite Reflexivität auf den metaphorischen Status desselben vor. In einem zweiten Schritt frage ich nach der Rezeption dieses Motivs in den spätmittelalterlichen Passionsspielen anhand einer exemplarischen Auswahl volkssprachiger Texte, welche Jesu Passionsgeschichte einem größtenteils laikalen Publikum vor Augen führen. Um die Passionsgeschichte als eine stringente Handlung zu inszenieren, werden die Evangelien in den Spielen narrativ ›harmonisiert‹,7 wobei sich die Spielautoren stofflich jeweils aus den durchaus unterschiedlichen Evangelienberichten bedienen. Für den Einsatz des Tempelworts bedingt dies verschiedene konzeptionelle Entscheidungen seitens der Verfasser. Die Spiele zeigen durch ihre voneinander abweichende Integration des Tempelworts zum einen, dass sie mit je unterschiedlichen Strategien auf die zugrundeliegenden Ambivalenzen des Erbauungsbegriffs reagieren. Trotz dieser Unterschiede kann dennoch textübergreifend zum anderen herausgearbeitet werden, dass das volkssprachige Massenmedium die Komplexität und Mehrdeutigkeit des semantischen Potentials der aedificatio einerseits reduziert und dass es ihm andererseits zugleich eine verschärfte antagonistische Pragmatik in der Opposition zwischen Jesus und den Juden verleiht. Eine Synopse dieses Motivs in unterschiedlichen Passionsspielen macht deutlich, dass der Semantik der ›Erbauung‹ im späten Mittelalter offensichtlich eine höchst bedeutsame 4 Paesler, Das Tempelwort Jesu, S. 9. 5 Vgl. die zusammenfassenden Bemerkungen bei Angemaier, Art. ›Erbauung‹, Sp. 960; Pohlmann, Art. ›Erbauung‹, Sp. 1049 f. 6 Zu semantischen, aber auch pragmatischen Spannungen im Konzept der Erbauung vgl. grundsätzlich Köbele, ›Erbauung‹ – und darüber hinaus; den programmatischen Überlegungen dieses Beitrages (v. a. S. 420–429) verdankt die vorliegende Studie die wesentlichen Impulse. 7 Zu Begriff und Technik der ›Evangelienharmonisierung‹ vgl. Wünsch, Art. ›Evangelienharmonie‹.

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Rolle zuerkannt wurde für die Christologie des Passionsspiels. In pastoraler und institutioneller Absicht sollten die Zuschauer zugleich auch als christliche communitas ›erbaut‹ werden. Die Frage nach der Erbauung als einem Motiv sowie zugleich als einer Funktion des Spiels führt so in die zentralen Dynamiken von Sinn- und Gemeinschaftsbildung dieser Gattung.

1. Zu Semantik und Symbolik des Tempelworts in den Evangelienberichten Das Tempelwort, in welchem Jesus ankündigt, den niedergerissenen Tempel innerhalb von drei Tagen (wieder-)aufzubauen, findet sich in drei der vier Evangelienberichte, jedoch mit signifikanten Unterschieden zwischen den synoptischen Texten (Mc 14,57 f. par. und 15,29 par.) einerseits und dem Johannes-Evangelium (Io 2,19 f.) andererseits. Das Lukas-Evangelium als einziges überliefert an keiner Stelle dieses Logion; allerdings findet sich eine weitere Referenz darauf in der Apostelgeschichte im Bericht vom Martyrium des Stephanus (Apg 6,14),8 aber auch hier erfolgt der Rekurs auf das Tempelwort mit einer signifikanten inhaltlichen Differenz zu den Evangelien. Bevor nun diese Textstellen nach ihrer jeweiligen Semantik von aedificatio befragt werden, sei hier noch eine weitere, für die Deutung des Logions wichtige Aussage mit in Betracht gezogen, die sich bei allen Synoptikern in Jesu ›Reden über die Endzeit‹ findet:9 Von seinen Jüngern auf das ›Gebäude des Tempels‹ angesprochen (aedificatio […] templi, Mt 24,1 parr.), kündigt er in einer apokalyptischen Vision dessen völlige Vernichtung an: non relinquetur hic lapis super lapidem qui non destruatur (Mt 24,2 parr.).10 Zeichenhaft steht dabei der 8 Die Frage, ob das Lukas-Evangelium und die Apostelgeschichte vom selben Autor stammen, ist für meine Fragestellung nicht relevant, vgl. zur Verfasserfrage und zur Authentizität der Apostelgeschichte zusammenfassend Schmithals, Die Apostelgeschichte des Lukas. 9 Eine adäquate theologische Interpretation der neutestamentlichen Stellen zur Zerstörung und zum Aufbau des Tempels hätte freilich auch die zahlreichen alttestamentlichen Aussagen in Betracht zu ziehen, die eine messianische Erwartung an den Tempelaufbau artikulieren; doch schon im Alten Testament sind die Implikationen und Deutungshorizonte für den Tempelbau alles andere als homogen, so dass die Frage nach dem Widerhall dieser Stellen und Semantiken im Neuen Testament in den Bibelkommentaren unterschiedlich beantwortet wird. Zu diesem weiten Feld vgl. Ådna, Jesu Stellung zum Tempel, S. 25–87. Für die mittelalterliche volkssprachige Rezeption des Tempelworts im Passionsspiel, die im Fokus dieses Beitrags steht, kann dieser alttestamentliche Hintergrund insofern ausgeklammert werden, als die Spielautoren konkret nur die neutestamentlichen Textstellen berücksichtigen und allenfalls theologische Deutungen derselben aus den Homilien anlehnen. 10 »Hier wird kein Stein auf dem anderen bleiben, der nicht wird zerstört werden.«

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zerstörte Tempel für die Verwüstungen am Jüngsten Tag; die Implikationen dieser Metonymie allerdings sind unspezifisch, was genau also mit dem Tempel zerstört wird – die jüdische Gemeinde, die Stadt Jerusalem oder die ganze Welt11 – bleibt offen. So definitorisch die konkrete räumliche (hic), so vage ist die metaphorische Referenz des Tempels in Jesu Worten, doch im Kontext der Parusierede haftet dem Bild von der Tempelzerstörung eine eschatologische Dimension konstitutiv an. Und diese endzeitliche Aufladung der Semantik bleibt auch für das Verständnis des Tempelworts innerhalb der Evangelien nicht ohne Konsequenz.12 Im Tempelwort Jesu kündigt dieser nicht nur an – wie dies in der Parusierede der Fall ist –, dass der Tempel zerstört werde, sondern dass er den zerstörten Tempel binnen drei Tagen wiederaufbauen könne. Anders als bei Johannes wird das Logion vom Wiederaufbau bei Markus und Matthäus nicht von Jesus selbst geäußert, sondern es wird von seinen Widersachern gegen ihn vorgetragen: Beim Verhör vor den Hohepriestern treten Zeugen auf, die behaupten, diese Ankündigung aus Jesu Mund tatsächlich gehört zu haben. Doch die Authentizität des Tempelworts steht bei den Synoptikern auf unsicherem Fundament; ›falsche‹ Zeugen sind es nämlich, die das Tempelwort im Sinne einer Anklage vorbringen: Et quidam surgentes falsum testimonium ferebant adversus eum dicentes quoniam nos audivimus eum dicentem: ego dissolvam templum hoc manufactum et per triduum aliud non manufactum aedificabo. et non erat conveniens testimonium illorum. (Mc 14,57–59)13

Diskreditiert werden die Aussagen der Zeugen nicht nur, insofern sie einander direkt widersprechen (Mc 14,59); verglichen mit dem Wortlaut der Endzeitrede wird ein weiterer Widerspruch deutlich: Indem die Zeugen Jesus unterstellen, 11 Vgl. zu den Implikationen des von Jesus verlassenen Tempels Luz, Das Evangelium nach Matthäus, S. 387. 12 Historisch-bibelkritisch ergibt sich daraus die Frage, ob Jesus tatsächlich vom Wiederaufbau, oder – gemäß Mt 23,1 parr. – nur von der Zerstörung des Tempels gesprochen hat. Die (moderne) Frage nach der historischen Authentizität des Tempellogions soll hier freilich nicht verfolgt werden. Die Auffassung, dass das Tempelwort erst nachösterlich in die Evangelienberichte eingefügt worden sei, wird u. a. von Paesler, Das Tempelwort Jesu vertreten. 13 »Und einige der falschen Zeugen, die gegen ihn vortrugen, standen auf und sagten: Wir haben ihn sagen hören: Ich werde diesen [von Menschenhand, Anmerkung CH] gemachten Tempel zerstören und in drei Tagen einen nicht [von Menschenhand, Anmerkung CH] gemachten erbauen. Aber ihre Zeugenaussagen stimmten nicht überein.« Sehr ähnlich überliefert Matthäus den Vorwurf: Novissime autem venerunt duo falsi teste et dixerunt hic dixit possum destruere templum Dei et post triduum aedificare illud (»Zuletzt kamen zwei falsche Zeugen und sagten: Er hat gesagt: Ich kann den Tempel Gottes niederreißen und in drei Tagen aufbauen«, Mt 26,60 f.). Gegenüber Marcus fehlt hier der Nachsatz, dass die Zeugenaussagen widersprüchlich seien.

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er habe angekündigt, den Tempel selbst zu zerstören (ego dissolvam), deckt sich dies nicht mit Jesu eigener Ankündigung der Zerstörung in einer passivischen Formulierung (destruatur).14 Obgleich unter das Signum der Lüge gestellt, verweist die von Annas’ Zeugen referierte Unterscheidung zwischen einem ›von (Menschen-)Hand gemachten‹ (manufactum) und einem ›nicht von Menschenhand gemachten‹ (non manufactum)15 Tempel jedenfalls auf eine eminente symbolische Bedeutung des Tempelaufbaus.16 Die angekündigte Errichtung eines nicht von Menschenhand erbauten Tempels mag als inhaltliche Vorbereitung des Vorwurfs möglicher Zauberei gedeutet werden können.17 Zugleich ist sie als Hinweis zu verstehen, dass angesichts der übernatürlichen Konstruktionsweise kein steinerner, irdischer, sondern ein jenseitiger Tempel gemeint sein muss. Doch auch diese Deutung wird überblendet, und zwar durch eine christologische Dimension: Mit der symbolischen Dauer von drei Tagen enthält die Ankündigung aedificabo eine deutliche Anspielung auf die Auferstehung Jesu nach drei Tagen. Die Zerstörung des Jerusalemer Tempels, die symbolisch auch die Beendigung des jüdischen Kults impliziert, ist zugleich zwar in ihrem anti-jüdischen Gehalt brisant: »Die polemische Spitze gegen die jüdische Ordnung«, die im von Menschenhand gemachten Tempel angesprochen wird, ist unüberhörbar.18 Mit dieser Überblendung entstehen derart nicht nur mehrfache Semantiken des aedificatio-Begriffs, sondern neue Interdependenzen zwischen den einzelnen Bedeutungsschichten: Die (Wieder-)Erbauung muss »auf die christliche Gemeinde, die ihre Existenz auf die Auferstehung des Herrn nach drei Tagen zurückführt, bezogen werden«.19 14 Erschiene diese »Aussage des gesetzestreuen Jesus ziemlich unerhört«, so könnte sie doch bereits unterstreichen, dass Jesus »übernatürliche Kräfte« hat; diese Aussage alleine klassifiziert also die Zeugenaussagen nicht per se als unzuverlässig, so Luz, Das Evangelium nach Matthäus, S. 176. 15 Die Parallelstelle bei Matthäus 26,60 f. enthält den Hinweis auf die Gemachtheit (manu­ factum) nicht; damit ist dort die metaphorische Qualität des Tempelworts dezidiert schwächer markiert. 16 Die Symbolizität dieser Aussage hat in der modernen Bibelwissenschaft dazu geführt, dass diese Stelle »in überlieferungsgeschichtlicher Hinsicht […] unter den Verdacht [geraten ist, Anmerkung CH], sekundär zu sein«, Ådna, Jesu Stellung zum Tempel, S. 122. 17 Grundmann, Das Evangelium nach Markus, S. 301. 18 Im Handlungskontext der Zeugenaussage spielt diese Dimension allerdings »nur eine untergeordnete Rolle«, Ernst, Das Evangelium nach Markus, S. 441. 19 Ernst, Das Evangelium nach Markus, S. 441. Während Ernst annimmt, dass beide Deutungshorizonte sich ergänzen, spielt Gnilka in seinem Kommentar diese Deutungsmöglichkeiten gegeneinander aus: »Worauf sich der Neuaufbau eines nicht von Händen gemachten Tempels bezieht, ist nicht klar. Vielfach deutet man ihn auf die christliche Gemeinde, wofür man sich auf Paulus und eine ähnliche Vorstellung in den Qumranhandschriften berufen kann. Die drei Tage legen es aber näher, daß an die Auferstehung Christi gedacht ist. Der erhöhte Herr wird den Tempel ersetzen bzw. überflüssig machen«, Gnilka, Das Evangelium nach Markus, S. 280.

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Die Polyvalenz des aedificatio-Begriffs bestätigt sich auch in den weiteren Verwendungen: An einer zweiten Stelle, erneut von seinen Widersachern ge­ äußert, wird das Tempelwort zitiert, als vorbeigehende Spötter den Gekreuzigten zu Gesicht bekommen: Et praetereuntes blasphemabant eum moventes capita sua et dicentes: va qui destruit templum et in tribus diebus aedificat (Mc 15,29 par.).20 Abermals, wie schon vor Gericht, behaupten also Jesu Widersacher, er selbst habe den Tempel eigenmächtig einreißen wollen, um ihn sodann wieder zu errichten. Das unmittelbar anschließende supranaturale Zeichen, indem der Vorhang des Tempels zerreißt (Mc 15,38), »bekundet das apokalyptisch geprägte Interesse am Tempel« in der Markusperikope21 und lädt auch das unmittelbar vorausgehende Hohnwort mit dieser Emphase auf. Die Spottverse können derart als Ankündigung Jesu, »daß er den neuen Tempel, die eschatologische Gottesgemeinde errichten wird (Mk  14,57f; vgl. 15,29)«, verstanden werden.22 Die Provokation der Spötter denunziert die Gotteslästerer zugleich auf mehreren Ebenen, nicht nur aufgrund ihres mitleidlosen Hohns sind ihre Äußerungen ›blasphemisch‹ (blasphemabant): Die provokative »Aufforderung zum Schauwunder rückt die Worte [der Spötter zudem, Anmerkung CH] nahe an die Versuchungsgeschichte heran.«23 Die Reizrede der Vorübergehenden trägt damit implizit gar diabolische Züge. In der Parallelstelle bei Matthäus lautet die Hohnrede beinahe identisch, doch mit einer kleinen Differenz: qui destruit templum et in triduo illud reae­ dificat (Mt 27,40). Mit dem Begriff des Wieder-Aufbauens (reaedificat, Mt 27,40) implizieren die Spötter, dass sie von einer buchstäblichen Wiederherstellung des identischen Tempels ausgehen und sie derart Jesu Ankündigung in einem magischen Sinn fehldeuten. Dem transformierenden Prozess der (re)aedificatio, auf den der biblische Erbauungsbegriff referiert, wird im Gebrauch des Wortes durch die Feinde Jesu folglich gerade widersprochen. Die Spannungen innerhalb der Semantik von ›Erbauung‹ werden in der neutestamentlichen Kontrastierung der Verwendungsweisen in ein krasses Gegensatzverhältnis umgemünzt. In einem kurzen Zwischenresümee zu den beiden synoptischen Berichten möchte ich festhalten: Aufgrund der paradigmatischen Struktur in den Evangelien, also durch die motivische Verknüpfung mit der Endzeitrede, legen Matthäus und Markus eine eschatologische Dimension des Tempelwortes nahe. 20 »Und die Vorübergehenden lästerten ihm, schüttelten ihr Haupt und sagten: Ha, [Du, Anmerkung CH] der den Tempel zerstört und in drei Tagen aufbaut«; Die Spötter »halten Jesus sein Tempelwort in vergröberter Form vor«, Luz, Das Evangelium nach Matthäus, S. 326. 21 Gnilka, Das Evangelium nach Markus, S. 320. 22 Friedrich und Krause, Art. ›Erbauung I u. II‹, S. 19. 23 In diesem Sinne äußert sich zur Parallelstelle Wiefel, Das Evangelium nach Matthäus, S. 480; vgl. ebenso Luz, Das Evangelium nach Matthäus, S. 326.

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Doch die Ankündigung des Wiederaufbaus in drei Tagen überblendet den eschatologischen Deutungshorizont mit einem christologischen.24 Das jeweils nur von Jesu Widersachern zitierte Tempelwort changiert also nicht nur zwischen einem wahren und einem falschen Gehalt der Aussage, sondern oszilliert zugleich zwischen verschiedenen metaphorischen Bedeutungen, die von den Evangelisten bemerkenswerterweise nicht vereindeutigt werden. Liest man dagegen das Tempelwort im Johannesevangelium, so werden höchst signifikante Unterschiede zu Matthäus und Markus nicht nur in der kontextuellen und situationsspezifischen Einbettung und seinem Ort innerhalb der Handlungsstruktur des Evangeliums deutlich, sondern es verändert sich auch in entscheidendem Maße das Verständnis der metaphorischen Referenz von destructio und aedificatio des Tempels. Johannes macht zudem den allegorischen Status des Logion explizit. Johannes hat textchronologisch, im Gegensatz zu den Synoptikern,25 die Tempelreinigung Jesu an den Beginn seines Wirkens in Jerusalem gestellt, und im Rahmen dieser Handlung lässt er ihn – ebenfalls im Gegensatz zu den Synoptikern –, das Tempelwort selbst aussprechen. Einzig hier also spricht Jesus selber die Prophezeiung aus, dass er den Tempel, würde er denn niedergerissen werden, in drei Tagen wiederaufzubauen imstande sei, wobei als potentielle Verursacher der Zerstörung – abermals im Widerspruch zu Markus und Matthäus – explizit die Juden namhaft gemacht werden. Das Tempelwort äußert Jesus, als sich während seiner Vertreibung der Händler aus dem Gotteshaus ein Disput mit den Juden entzündet: Responderunt ergo Iudaei et dixerunt ei: quod signum ostendis nobis quia haec facis. Respondit Iesus et dixit eis: solvite templum hoc et in tribus diebus excitabo illud, dixerunt ergo Iudaei: quadraginta et sex annis aedificatum est templum hoc et tu tribus diebus excitabis illud? ille autem dicebat de templo corporis sui. cum ergo resurrexisset a mortuis recordati sunt discipuli eius quia hoc dicebat et crediderunt scripturae et sermoni quem dixit Iesus. (Io 2,18–22)26 24 Zur topischen ›Dreitagesfrist‹, die im Neuen Testament – mit wenigen Ausnahmen – stets eine Rekurrenz auf die Auferstehung Jesu besitzt und damit von einer christologischen Semantik geprägt ist, vgl. Paesler, Das Tempelwort Jesu, S. 172–176. 25 Bei den Synoptikern findet die Tempelreinigung jeweils am Ende des Wirkens Jesu, kurz vor seiner Festnahme statt, vgl. Mt 21,12–17; Mc 11,15–19; Lc 19,45–48. – Man hat die johanneische Version als eine nachträgliche Rekonstruktion gedeutet, wobei die syntagmatische Verknüpfung von Tempelreinigung und Tempelwort bei Johannes als gezielte Strategie gewertet worden ist: »Es ist leicht begreiflich, daß sich dieses Wort und die Geschichte von der Tempelreinigung gegenseitig angezogen haben und zu einer spannungsvollen Einheit verbunden wurden«, Bultmann, Das Evangelium des Johannes, S. 86. 26 »Da stellten ihn die Juden zur Rede: Welches Zeichen lässt du uns sehen als Beweis, dass du dies tun darfst? Jesus antwortete ihnen: Reißt diesen Tempel nieder, in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten. Da sagten die Juden: Sechsundvierzig Jahre wurde an

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Als Jesus von den empörten Juden aufgefordert wird, mit einem ›Zeichen‹ seine Autorität zu legitimieren (quod signum ostendis nobis quia haec facis),27 tut er dies gerade nicht in Form einer zeichenhaften Handlung, sondern in Form einer verbalen Prophetie: et in tribus diebus excitabo illud. Als zeichenhaft fungiert also die allegorische Rede, nicht eine sichtbare Tat. Von den Juden wird aber das Logion keineswegs als das von ihnen geforderte ›Zeichen‹ interpretiert, die Aussage erscheint ihnen vielmehr geradezu grotesk, und sie rechnen unter Maßgabe handwerklicher Bauexpertise vor, wie viele Jahre ein solcher Aufbau tatsächlich in Anspruch nehmen müsste (quadraginta et sex annis aedificatum est templum).28 Johannes operiert hier mit einer signifikanten lexikalen Differenzierung: Verwendet Jesus für den Aufbau des Tempels das Verb excitare, so referieren die Juden auf den uneigentlichen Tempelbau, indem sie von aedificare sprechen.29 Der lateinische Text reagiert hier auf seine griechische Vorlage und dessen »subtiles Wortspiel mit den unterschiedlichen semantischen Dimension des Begriffs έγείρω (egeirō)«.30 Sind die synoptischen Korrespondenztexte zu Io 2,19 konsequent von der Gegenüberstellung der Begriffe ›zerstören‹ (καταλύω; kataluō) und ›auferbauen‹ (οίκοοδομέω; oikodo-meō) geprägt, beziehungsweise in der Vulgata von destruere und aedificare, so verwendet das johanneische Logion für die metaphorische Dimension des Wiederaufbauens konsequent jenes Verb, welches im Neuen Testament zumeist auf ein Auferstehungsgeschehen Bezug nimmt (egeirō).31 Die Ungläubigen überhören jedoch die entscheidende semantische Verschiebung und halten, als sie Jesu Worte wiederholen, die Verben aedificare und excitare für bedeutungsgleich.

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diesem Tempel gebaut, und du willst ihn in drei Tagen wieder aufrichten? Er aber meinte den Tempel seines Leibes. Als er von den Toten auferstanden war, erinnerten sich seine Jünger, dass er dies gesagt hatte, und sie glaubten der Schrift und dem Wort, das Jesus gesprochen hatte.« Die Umgestaltung der Tempelreinigung bei Johannes ist auch darin weitreichend: Die Forderung der Juden nach einem signum für Jesu Legitimation kennt nur der johanneische Bericht dieser Szene. Die Berichte über die Tempelreinigung bei Matthäus, Markus und Lukas erzählen zwar ebenfalls von einer Empörung der Juden über Jesu brachiales Vorgehen, doch findet bei den Synoptikern hier jeweils kein Dialog statt. Die Anzahl der 46 Jahre lässt verschiedene Deutungen zu, vgl. zu den Deutungsversuchen schon der Kirchenväter: Theobald, Das Evangelium nach Johannes, S. 234 f.; doch »die Zahl entzieht sich einer Überprüfung«, Becker, Das Evangelium nach Johannes, S. 149. Dies hat seine Entsprechung auch im griechischen Evangelientext, vgl. Theobald, Das Evangelium nach Johannes, S. 233 f. Popkes, Jesus als der neue Tempel, S. 711. Popkes, Jesus als der neue Tempel, S. 712, mit Belegen: »allgemein zur Totenauferstehung vgl. Mt 10,8; Mk 5,41 par.; 1 Kor 15,15–17.20.29.32 etc.; speziell zur Auferstehung Jesu vgl. Mk 16,6 par.; Lk 24,34; Mt 27,64; Röm 4,25; 6,4.9; 2 Kor 5,15 etc.«.

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Doch noch in weiteren Hinsichten ist dieser Abschnitt für die Semantik von aedificatio bemerkenswert, denn ungewöhnlich ist die proleptische Struktur der Narration: Nach dem kurzen Wortgefecht greift der Evangelist in einem Erzählerkommentar in die Zukunft vor. Das Tempelwort wird von Johannes explizit als eine Allegorie klassifiziert, wonach der Tempel als Metapher für den Körper Christi verstanden werden soll: ille autem dicebat de templo corporis sui. Der »vierte Evangelist formt das Tempelwort um zu einem Bildwort«,32 geradezu »zu einem christologischen Rätselwort«.33 Das von den Ungläubigen geforderte Zeichen liegt in Jesu Antwort selbst, in der Zeichenhaftigkeit von dessen Tempelwort: Gerade in seiner prophetischen Qualität ist es ›Zeichen‹ für Jesu Autorität, doch dies kann erst in der Zukunft erkannt werden, beziehungsweise von den Lesern, die den narrativen Text aus einer rückblickenden Perspektive übermittelt erhalten. Unterschieden wird das (künftige) Verständnis der Jünger – und das (gegenwärtige) der Leser – einerseits und das der Ohrenzeugen des Logions andererseits. Das vieldeutige und ambivalente Wort Jesu wird in der Allegorese des Johannes explizit auf nur eine einzige metaphorische Aussage festgelegt, die allerdings dennoch in ihren christologischen Dimensionen mehrdeutig ist. Denn der getötete und auferstandene Körper werden nicht identisch, die ›Wiederherstellung‹ des Tempels wird zugleich dessen Transformation sein. Und auch die soziale Komponente des Tempelworts ist bei Johannes trotz der Exegese des Logions mehrdeutig: Denn erst die Erinnerung der Jünger (recordati sunt) ermöglicht die Erkenntnis der prophetischen Qualität des Tempelwortes, und dessen Wahrheit bedingt schließlich wiederum den wahren Glauben. Die Erzählung des Johannes thematisiert also neben der Semantik des Wiederaufbaus im Sinne von Wiederauferstehung implizit eine weitere Form der aedificatio, der Gründung einer Glaubens- und Erinnerungsgemeinschaft: et crediderunt scripturae et sermoni quem dixit Iesus (Io 2,22). Diese soziale Komponente der Erbauung vollzieht sich in Johannes’ Erzählerkommentar performativ aufgrund der adäquaten Exegese des jesuanischen Bildwortes. Somit kann zwar durchaus von einer »christologische[n] Zuschärfung des ›Tempelwortes‹«34 im Johannesevangelium gesprochen werden,35 doch unterläuft auch hier eine polyvalente Semantik, die zwischen der excitatio (von Christi 32 33 34 35

Popkes, Jesus als der neue Tempel, S. 711. Theobald, Das Evangelium nach Johannes, S. 233. Theobald, Das Evangelium nach Johannes, S. 227. Deshalb wird in der modernen Bibelkritik als Hypothese erwogen, dass der Johannes-Bericht nachträglich das Tempelwort Jesu in den Mund gelegt habe und dass sich als Kontext für dieses Wort die Szene der Tempelreinigung thematisch geradezu angeboten habe, vgl. Schnackenburg, Das Johannesevangelium, S. 368–370; zur Diskussion vgl. auch Theobald, Das Evangelium nach Johannes, S. 226–229.

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Leib) und einem mehrschichtigen Rekurs auf die Semantiken der aedificatio (von der christlichen Gemeinschaft und in einem eschatologischen Sinn) changiert, die vermeintliche Eindeutigkeit der Allegorese. Weder im Prozess gegen Jesus noch während seiner Kreuzigung fällt bei Johannes das Tempelwort aus dem Mund seiner Widersacher. Die Frage, ob Jesus selbst angekündigt habe, den Tempel einzureißen, wird im Rahmen seines Evangeliums deshalb nicht einmal aufgeworfen: Jesus zeigt im johanneischen Tempelwort explizit sein freiwilliges Einverständnis mit seinem zukünftigen, gewaltsamen Tod, ja sogar die heilsgeschichtliche Notwendigkeit desselben spricht sich in seinen an die Juden gerichteten Imperativ aus (solvite templum). Damit schwächt Johannes die implizite Aggression gegen den Kult der Juden, die sich in der (vermeintlichen) Ankündigung der Zerstörung des Tempels ausdrückt.36 In der Apostelgeschichte wiederum wird das Tempelwort in eben diesem Sinne, und nur in diesem, zitiert, und nur hier ist die Semantik dezidiert verengt: Wenn bei der Hinrichtung des Stephanus ebenfalls das Tempelwort verwendet wird, zielt es direkt und eindeutig auf die Vernichtung des jüdischen Kults (audivimus enim eum dicentem quoniam Iesus Nazarenus hic destruret locum istum et mutabit traditiones quas tradidit nobis Moses Act 6,14).37 Die neutestamentlichen Textstellen offenbaren eine theologisch, christologisch und ekklesiologisch hoch bedeutsame Semantik der aedificatio im Tempelwort, deren Facetten an den einzelnen Stellen kaum voneinander zu scheiden sind. In dieser enormen Vielschichtigkeit und zugleich aufgrund seiner hohen theologischen Signifikanz38 verdichten sich im Tempelwort essentielle Spannungen in der Semantik von aedificatio. Die hier versuchte Offenlegung dieser spannungsreichen Vielschichtigkeit vermag den Blick dafür zu schärfen, unter welchen veränderten Bedingungen im Mittelalter dieses Motiv in die Passionsspiele aufgenommen wurde.

2. Adaptationen des Tempelworts in den Passionsspielen Die mittelalterlichen Passionsspiele harmonisieren die Evangelien bekanntlich zu einer stringenten Narrationsfolge. Die jeweilige Auswahl und Kombination der Bibelstellen ist der je spezifischen dramaturgischen, aber auch der theologischen und paränetischen Intention der Spielautoren / -veranstalter geschuldet sowie von lokalen und liturgischen Traditionen bedingt. Zahlreiche Spiele 36 Vgl. Becker, Das Evangelium nach Johannes, S. 149. 37 »Wir haben ihn nämlich sagen hören: Dieser Jesus, der Nazarener, wird diesen Ort zerstören und die Bräuche ändern, die uns Mose überliefert hat.« 38 Dies erklärt die theologische Brisanz des Tempelworts, die es vor allem im Frühchristentum besaß, vgl. Paesler, Das Tempelwort Jesu, S. 181.

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enthalten auch das Tempelwort, jedoch in unterschiedlicher Frequenz, mit spezifischen inhaltlichen Varianten und in je unterschiedlichen volkssprachigen Übertragungen der lateinischen Bibelstellen. Welche inhaltlichen Konzeptionen sich anhand des jeweiligen Einsatzes des Tempelworts beobachten lassen, und vor allem die dadurch je aktualisierten heterogenen Semantiken von Zerstörung wie auch (Wieder-)Aufbau des Tempels stehen im Fokus der folgenden exemplarischen Spieltextlektüren. Die Hessische Passionsspielgruppe kann als ein Beispiel dafür gelten, wie auch innerhalb einer Gruppe miteinander verwandter Spieltexte39 jeweils unterschiedlich aus den verschiedenen Evangelien die neutestamentlichen Tempelwortszenen kombiniert und zueinander korreliert werden. In Bezug auf das Tempelwort Jesu bewirkt die Kompilationstechnik, dass die Aussage Jesu im Tempel vor und die (Falsch-)Aussagen während seiner Passion jeweils paradigmatische Strukturen erzeugen. Symbolträchtig wird in den meisten Vertretern dieser Gruppe ein motivischer ›Dreischritt‹ erzeugt, wenn das Tempelwort jeweils in drei Szenen Verwendung findet: das erste Mal gemäß der Johanneischen Tradition im Anschluss an die Tempelreinigung, das zweite Mal im Anschluss an Markus und Matthäus als Aussage der falschen Zeugen vor Cayphas und schließlich als Hohnwort unter dem Kreuz. Trotz des gemeinsamen ›Dreischritts‹ variiert die Anzahl der Wiederholungen des Tempelworts innerhalb einer Szene, aber auch konzeptionell gibt es in der jeweiligen Semantisierung des Erbauungskonzepts Unterschiede in den einzelnen Spielen. Das »Frankfurter Passionspiel« bettet das Logion gemäß Johannes in die Tempelreinigungsszene ein, wenn Jesus mit ihm die Forderung der Juden nach einem tzeuchen (FP 810) beantwortet:40 Brechet ir diesen tempel nidder, / am dritten tage mach ich en widder (FP 814 f.). Unmittelbar anschließend an Jesu Rede unterbricht der Spielleiter Augustinus die Szene und deutet das Jesuswort aus: 39 Im Fokus stehen im Folgenden das »Frankfurter«, das »Alsfelder«, das »Heidelberger« und das – der Hessischen Passionsspielgruppe nahestehende, wenngleich nicht direkt mit ihr verwandte – »St. Galler (mittelrheinische)« und das »Wormser Passionsspiel«. Zu den Verwandtschaftsverhältnissen vgl. die Einführung von Janota in: Die Hessische Passionsspielgruppe, S. IX–XI, darin der hier zitierte des »Frankfurter Passionsspiels« (FP); weitere zitierte Ausgaben der Reihe: Bd. 2: Alsfelder Passionsspiel; Bd. 3: Heidelberger Passionsspiel; St. Galler (mittelrheinisches) Passionsspiel, (GP). 40 Die »Frankfurter Dirigierrolle«, welche dem »Frankfurter Passionsspiel« zeitlich vorausgeht, enthält die Szene nach Io 2,19 nicht, für die Gestaltung der Szene »mußten F[rankfurter] P, A[lsfelder] P und H[eidelberger] P[assionsspiel, Anmerkungen CH] bei der Formulierung je eigene Wege gehen«, Wolf, Kommentar, S. 582. Im »Frankfurter Passionsspiel« wird schon in einer einleitenden Rede des Augustinus auf die Zeichenforderung aufmerksam gemacht (FP 415–420); Jesus beantwortet die Forderung mit dem typologischen Hinweis auf Jonas im Walfisch (FP 479–488, zur Eigenständigkeit dieser Szene vgl. Wolf, Kommentar, S. 545). Die Zeichenforderung im Tempel erscheint hier demnach als Element einer Wiederholungsstruktur.

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Augustinus ad populum: Diese wart mircket alle gar eben, die Cristus den Iudden hat gegeben, he sprach, das sie den tempel nidder brechen, he wulde yn machen widder. da mit meynt er den lichnam, den he von syner mutter nam. wan sie den nidder slugen toit, dar nach erstee er von siner noit. (FP 823a–831)

Hat der Autor des Spiels41 die gesamte Tempelreinigungsszene nach dem lateinischen Johannesbericht gestaltet,42 so ist doch ein eigenständiger Umgang mit dem Bibeltext und sind inhaltliche Abweichungen davon zu verzeichnen, die auf die veränderte Kommunikationssituation im aufgeführten Spiel im Vergleich mit dem Bibelbericht zu beziehen sind: Die exegetische Rede des Augustinus besitzt die proleptische Funktion des Erzählerkommentars im Johannesevangelium. Seine Auslegung distinguiert performativ alle, die dem Spiel beiwohnen, von den Iudden, an die das Logion intradiegetisch gerichtet war (FP 824 f.). Für die Kommunikationssituation der Spielaufführung bedeutet dies: Nur die christliche Gemeinde wird über die allegorische Bedeutung des Tempelworts aufgeklärt, und dies zeitlich unmittelbar. Das »Frankfurter Passionsspiel« mit seiner bekannten, ausgeprägten antijüdischen Tendenz43 nimmt an dieser Stelle eine religiöse Differenzierung vorweg, die sich im Evangelienbericht erst nach der Auferstehung vollziehen wird, wenn die Jünger rückblickend die Metaphorizität der Rede erkennen werden. In der Kompetenz, die Rätselrede zu dechiffrieren, konstituiert sich hier unmittelbar und performativ eine Gemeinschaft der Wissenden, welche die Juden exkludiert.44 Augustinus verengt dabei die 41 Autor des Spiels war vermutlich der Stadtschreiber Johannes Kremer, vgl. Wolf, Kommentar, S. 300. 42 Wolf, Kommentar, S. 581 f. unterstreicht, dass der Spielautor in »Übersetzungsarbeit (aus der lateinischen Bibel)« diese Szene gestaltet hat. Auch die »predigthafte Auslegung des Augustinus (V. 824–831) ist schon johanneisch (2,21–22)«, fasst Wolf in seinem Kommentar zum »Frankfurter Passionsspiel« zusammen, ohne allerdings auf die inhaltlichen Differenzen zum Evangelienbericht einzugehen. 43 Zur judenfeindlichen Tendenz der Hessischen Passionsspielgruppe vgl. generell Schulze, Teufel und Juden, S. 132–147; und zum im FP gemachten Vorwurf, die Juden seien ›Kinder des Teufels‹, vgl. Wolf, Kommentar, S. 442. 44 Mit welch einfachen Mitteln im Medium des Theaters sich die christologische Referenz vereindeutigen lässt, illustriert das »Donaueschinger Passionsspiel«. Mit einer Handgeste identifiziert Jesus den ›Tempel‹ mit seinem Körper und macht explizit auf den Status seiner Ankündigung als exempel aufmerksam: Dar vff antwürt der saluator vnd / tüttet mit der hand vff sich / selber vnd spricht / wend ir sehen ein exempel / So entledigen vnd brechen disen tempel / den will ich wider in drÿen tagen / hie vff richten vnd lond üch sagen (Das Donaueschinger Passionsspiel, V. 1148–1152).

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allegorische Bedeutung des Tempelwortes auf die leibliche Auferstehung Jesu,45 eine semantische Reduktion, die jedoch durch die weiteren im Spielverlauf geäußerten Referenzen auf das Logion konterkariert wird. Als Jesus vor Cayphas von einem Falschzeugen angeklagt wird (FP 2496–2501, gemäß Mt 26,60 f.), ergänzt und präzisiert dieser abweichend von der Bibel seinen Vorwurf dahingehend, dass Jesus das Logion an einem Sabbat ausgesprochen habe. Der primus falsis testis behauptet: vff eynen sabaoth hört ich, daz Ihesus sprach vor vns allen vnd gach: »den tempel solt ir brechen nidder. den wil ich gantz buwen widder ee der dritte tag ergehe, das he aber stet als ee.« (FP 2496–2501)

Mit dieser (Falsch-)Aussage verschärft er den Antagonismus zwischen Jesus und den Juden, wobei im Spieltext die Semantik der Tempelzerstörung als Beendigung des jüdischen Kults deutlich in diese Szene hineinspielt. Doch nicht nur vor Cayphas, sondern zusätzlich auch vor Pilatus wird das Tempelwort am zweiten Spieltag zitiert.46 Ganze drei Mal schließlich dient das Tempelwort dann noch den Juden zur Verspottung Jesu am Kreuz. Im Wortlaut schließt es dabei jeweils an die Evangelien von Marcus und Matthäus an, wird aber hier zum Vorwurf verzerrt, Jesus selbst habe den Tempel einreißen wollen: Sage an, wo brichestu nu den tempel (FP 3849 f., vgl. auch 3865–3868, 3872–3874). Die Wiederholungen steigern eindeutig die feindselige und gewaltsame Tendenz, die das (falsch zitierte) Tempelwort im Mund der Spötter zur Anschauung bringt. Mit der Kombination der drei biblischen Szenen in eine paradigmatische Struktur innerhalb einer Spielhandlung und der repetitiven Frequenz des Tempelworts innerhalb der einzelnen Szenen lenkt das »Frankfurter Passionsspiel« schon in quantitativer Hinsicht große Aufmerksamkeit auf die Motive Zerstö­ rung und Erbauung. Durch die christologische Ausdeutung des Logions bei dessen erster Verwendung erscheinen die gleichermaßen insistierenden wie falschen Verwendungen seitens der Juden von besonderer Aggressivität, während

45 Augustinus’ Betonung, Jesus habe den Körper gemeint, der ihm von syner mutter gegeben sei, erfolgt in diesem Spieltext hier nicht singulär, sondern steht im Kontext weiterer metadramatischer Kommentare, die die Zweinatur Jesu, der väterlicherseits göttlich und mütterlicherseits menschlich sei, hervorheben (vgl. FP 313–325; 1904–1910; vgl. außerdem FP 1066–1071). 46 Der falsche Zeuge namens Sinagogus bringt vor: Er saget vns: werffet den tempel nidder, / in drien tagen wil he in buwen widder (FP 3264 f.).

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an Differenzierungen der vielschichtigen Semantik ganz offensichtlich kein Interesse besteht. Anders fällt der Umgang mit der Signifikanz und Semantik von Tempelzerstö­ rung und -wiederaufbau im »Alsfelder Passionsspiel« aus. Schon im Wortgefecht mit den Juden macht dort Jesus selbst unverhohlen darauf aufmerksam, dass er ihn mit gotlichen sachenn, / in dryen tagen wylde widder machenn (AP 2668 f.).47 Der an der Vergangenheit orientierte, ungläubige Einwand der Juden, dass dieser Akt sechsundvierzig Jahre in Anspruch nehmen würde, wird dramaturgisch konsequenterweise als Verkennen dieses gotlichen Aspekts des (neuen) Tempelbaus inszeniert. Endet der Dialog in der Bibel mit dem Einspruch der Kontrahenten Jesu, so kontert dieser im Spiel wie folgt: Saluator dicit: Hat er dan myn redde vornummen? die worheit vch hyr nach wirt kommen vnd werdet bedencken yn kurczer frist, das vch die warheyt gesaget ist. (AP 2673a–2677)

Keine extradiegetische Figur, sondern Jesus selbst äußert sich hier in prolep­ tischer Form. Ohne die Auferstehung als das Ereignis zu benennen, woran yn kurczer frist der Wahrheitswert seines Logions offenbar würde und ohne das Wunder desselben, die gotlichen sachen der Tempelerneuerung, zu spezifizieren, differenziert er die Rezeptionsmodi seiner Worte als zeitliches Nacheinander, als redde in der Gegenwart einerseits und als warheit in der Zukunft andererseits. Der metaphorische Status wird insofern auch hier, wie im Johannesevangelium, explizit gemacht, doch muss die Ankündigung in der Handlungswelt des Spiels unverstanden beziehungsweise unbeantwortet bleiben. Das wird unterstrichen, indem die jüdischen Ohrenzeugen seiner Worte sich aus dem Tempel zurückziehen (AP 2677a), um gegen ihn zu beraten. Das Tempelwort dient im Spiel hauptsächlich dazu, das Unverständnis der Juden zu demonstrieren. Bereits in ihrer Beratung wird das Tempelwort wiederholt (AP 2681 f.) und gibt Anlass zu Gelächter: mer mogen woil der alwysze lachen (AP 2683). In der Anklage vor Annas – und auch in diesem Spiel ein weiteres Mal vor Pilatus  – tragen dann die Juden Besagk beziehungsweise Sauel das Tempelwort vor; sie illustrieren dabei die Unzuverlässigkeit der Juden, indem sie das Tempelwort in voneinander abweichenden Aussagen wiedergeben: Nur der zweite Ankläger behauptet, Jesus habe sich als potentieller Aggressor inszeniert: hie sprach, hie wilde den tempel dort / zubrechen (AP 4363). In dieser Version

47 Sinnentstellend heißt es in der Parallelszene im »Heidelberger Passionsspiel« statt mit gottlichen dort: mitt hofflichenn sachen (HP 2719).

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wird der Vorwurf auch unter dem Kreuz nochmals laut (AP 5760–5764).48 Die Unehrlichkeit der Zeugen wird im »Alsfelder Passionsspiel« zusätzlich demonstriert, indem die ›realistische‹ Zeit einer Tempelerbauung einmal mit sechsundvierzig (AP 2670), ein andermal mit dreißig Jahren (AP 4367) angegeben wird. Der Rekurs auf das Tempelwort dient hier wohl vornehmlich dazu, zu demonstrieren, wie die Juden sich in Widersprüche verwickeln. Trotz der strukturellen Gemeinsamkeiten der hier exemplarisch vorgestellten Passionsspiele sind deren unterschiedliche Strategien in der dramatischen Umsetzung des Tempelworts und der jeweiligen Funktion für die dramaturgische und christologische Pragmatik der Spiele bemerkenswert. Der mögliche Spielraum im Umgang mit dem Tempelwort kann am abschließenden Beispiel des »St. Galler (Wormser) Passionsspiels«, das textuelle Übereinstimmungen mit Spielen der Hessischen Passionsspielgruppe aufweist,49 demonstriert werden. Es enthält nur die beiden Referenzen auf das Tempelwort gemäß den Evangelien von Matthäus und Markus; das johanneische Logion aus Jesu Mund findet sich hier nicht:50 Als Falschzeuge im Prozess tritt Rufus auf. Das »St. Galler Passionsspiel« unterstreicht bereits durch die Redundanz zu Beginn von dessen Rede die Frage nach dem Wahrheitswert seiner Behauptung. Zwei Mal setzt Rufus an mit seiner übelwollenden Aussage, mit der Wiederholung der identischen Worte lenkt er das Gewicht auf die Wahrheitsfrage seiner Rede: Respondet rufus: Ich wil bezůgen hie vorwar, daz er geredet hat vffenbar. Et cantet ›Solvite templum hoc‹ et dicat: Ich wil bezůgen hie vorwar, daz er geredet hat vffenbar daz man den tempel breche nider. So wolt er in machen wider in drin dagen ganz als e (GP 807a–814).

48 Einzig das »Heidelberger Passionsspiel« hat den Text gegen die Bibel kohärent gestaltet; die Falschzeugen sagen also genau das aus, was Jesus tatsächlich gesagt hat (HP nach 2716–2720 und nach 3982–3988). Damit entsteht jedoch eine Spannung zwischen dem lateinischen und dem deutschsprachigen Diskurs des Spieltextes: Entgegen der im Spieltext wörtlich zitierten Vulgatastellen wird in der wörtlichen Rede in der Volkssprache Kohärenz mit dem Wortlaut des Tempelworts nach Johannes hergestellt, wie es in der Tempelreinigungsszene wiedergegeben wird. 49 Zur von der früheren Forschung vertretenen These, dass Parallelstellen Abhängigkeiten belegten, vgl. Bergmann, Studien zu Entstehung und Geschichte der deutschen Passionsspiele des 13. und 14. Jahrhunderts, S. 91–94. 50 Ein weiteres Beispiel dieses Typs stellt das »Admonter Passionsspiel« dar; es enthält ausschließlich die Aussagen der falschen Zeugen (vgl. AdP 580–584 und 1033–1035).

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Mit identischem Wortlaut behauptet Rufus die Wahrheit seiner Aussage zwei Mal – unterbrochen von einem hier überraschend eingefügten Gesang des tatsächlichen jesuanischen Tempelworts aus der (im »St. Galler Passionsspiel« nicht enthaltenen) Tempelreinigungsszene des Johannesberichts: Solvite templum.51 Problematisch an der Tatsache, dass die Antiphon aus Rufus’ Mund ertönt, ist, dass sie »a sympathy and an explicitly Christian theological insight quite unsuited to the hostile Rufus«52 zu offenbaren scheint. Der Spielautor verdeutlicht mit diesem ›quite unsuited‹ Jesus-Zitat im Mund des Falschzeugen allerdings wohl weniger ein vermeintlich korrektes theologisches Verständnis des Falschzeugen, sondern demonstriert vielmehr in degradierender Absicht, dass den Juden, obwohl sie Kenntnis vom korrekten Wortlaut des Logions haben, die Voraus­ setzungen für ein adäquates Verständnis desselben fehlen.53 An der zweiten Stelle in diesem Passionsspiel ist es nun Annas selbst, der unter dem Kreuz stehend behauptet, das Tempelwort mit eigenen Ohren gehört zu haben.54 Auch Annas wiederholt tatsächlich wahrheitsgemäß, also gemäß Io 19,20, dass Jesus seine Widersacher aufforderte, den Tempel zu zerstören; abweichend von den Evangelienberichten wird demnach hier im Hohnwort nicht fälschlich behauptet, Jesus habe dies selbst zu tun angekündigt. Die jüdischen Figuren übermitteln stattdessen wörtlich das tatsächliche johanneische Logion,55 doch als Spottrede. Das Unverständnis der Juden wird angesichts des ›echten‹ Logions hier umso offensichtlicher herausgestellt; dessen metaphorische Dimension entgeht den Juden des »St. Galler Passionsspiels« völlig. Die Zahl der Spiele, die das Tempelwort je unterschiedlich zitieren und kombinieren, ließe sich vermehren; doch deutlich geworden ist bereits aufgrund der aufgeführten Beispiele, dass die Spielautoren jeweils innovativ und mit unterschiedlichen Freiräumen das Tempelwort einsetzen und mit stets klar erkennbaren Bearbeitungstendenzen auf die verschiedenen Versionen der Evangelien und die vielschichtige Semantik des Logions reagieren. Bei allen Unterschieden 51 Zur möglichen Melodie, mit welcher die Antiphon zu unterlegen ist, vgl. Macardle, The St. Gall Passion Play, S. 281–284. 52 Ebd., S. 283; Macardle macht auch auf die Herkunft des lateinischen Textes aus dem Johannes-Evangelium aufmerksam, die hier »technically wrong« verwendet erscheine (ebd., S. 282). 53 Zu den vielschichtigen Funktionen, welche die lateinischen Gesänge in Geistlichen Spielen einnehmen können, vgl. den wegweisenden Aufsatz von Müller, Die lateinischen Gesänge im Innsbrucker Osterspiel zwischen Theater und Liturgie. 54 Tunc dicat annas: / Dirre ist, den ich horte sprechen, / man sal den tempel brechen. / So wolt er in in drier dagen frist / ganz machen, als er ist (GP 1117–1120). 55 Der erst Iudde sprichtt: / Vach, qui destruis templum dej / Nu sehent, ist das der gottes sonn, / der das groyß zeychen woltt thun? / er hoitt vß freyem mut gesprochen, / wer der tempell gancz zcurbrochenn, / er woltt inn in dreyen tagenn widder machen. / soltt einer nitt der boczenn lachenn? (HP nach 5466–5472).

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zeigt sich doch in der Zusammenschau, dass in den Passionsspielen insbeson­ dere die eschatologische Dimension des biblischen Tempelworts zugunsten einer christologischen zurückgedrängt wird. Offenbart der neutestamentliche Diskurs eine komplexe Reflexion im Umgang mit dem Erbauungsbegriff, der auf alttestamentliche Tempelsemantiken zurückgeht, und differenziert auf der Textoberfläche zwischen unterschiedlichen Lexemen, so zeigen die volkssprachigen Passionsspiele für diese Vielschichtigkeit kein Interesse. Das offenbart sich auch darin, dass die deutschsprachigen Entsprechungen für aedificatio beziehungsweise excitatio keinen nennenswerten Unterschied machen zwischen wider b­ uwen, wider machen und wider stellen.56 Die hohe Frequenz der Tempelwortwieder­ holungen misst der Thematik der aedificatio dabei indirekt zwar eine gesteigerte Bedeutung zu, legt die Semantik aber zugleich fest auf die Dimension der Wieder-Erbauung, der re-aedificatio. Die Konsequenz, mit welcher nämlich in den hier diskutierten Spieltexten die deutschsprachige Wiedergabe des biblischen aedificare (bzw. excitare / reaedificare) erfolgt, sowohl aus Jesu Mund wie auch in den Reden seiner Widersacher, ist durchaus aufschlussreich: Mit dem Verbpräfix wider wird die ›neue‹ Qualität des Erbauten konsequent ausgeblendet und stattdessen die vermeintlich bloße Wiederherstellung des Alten betont,57 und so eliminieren die Spieltextautoren damit zugleich den inhärenten Aspekt der transformierenden Kraft der ›Erbauung‹. Die Widersprüche, die sich in den Referenzen auf das Logion durch die falschen Zeugen ergeben, dienen im spätmittelalterlichen Passionsspiel zweifelsohne dazu, die Juden in ihrer anhaltenden Blind- und Falschheit zu denunzieren. Indirekt und auf einer pragmatischen Ebene aber verstärkt die repetitive Verwendung des Logions einen bei Io 2,19 nur latent enthaltenen Aspekt der Erbauungssemantik: die Inklusion der Christenheit als eine Glaubens- und Verstehensgemeinschaft, die sich aggressiv durch die Exklusion der unverständigen Juden vor den Augen des Publikums konstituiert.58 Um diesen Effekt zu 56 Die Differenzierung in der Vulgata (aedificare vs. excitare)  wird in den allermeisten Passionsspielen nicht übernommen, auch dort, wo mit der Übersetzung bauen dem lateinischen Text näher entsprochen wird (vgl. das »Admonter Passionsspiel«, in welchem aedificare bzw. reaedificare nach Mt 27,40 konsequent wiedergegeben wird mit widerum Aufpauen, AdP 583; pauen wider, AdP 1035). 57 Daraus erklärt sich auch die gelegentliche Präzisierung, Jesus wolle den Tempel ›identisch‹ wiedererbauen, das hie aber stehet als ee (AP 3461; vgl. ebenso FP 2501). Diese missverstandene Ankündigung der Wieder-Erbauung belegt implizit die ›magische‹ Lesart des Logions seitens der Juden. 58 Diese antagonistische Dynamik der Gattung ist in mehreren Beiträgen von Jan-Dirk Müller eingehend untersucht und subtil beschrieben worden, vgl. u. a. Müller, Das Gedächtnis des gemarterten Körpers im spätmittelalterlichen Passionsspiel. Die Begriffe Inklusion und Exklusion verwendet in diesem Zusammenhang Kasten, Ritual und Emotionalität.

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erzielen, wird hier die vielschichtige Semantik von aedificatio reduziert und nivelliert. Gleichzeitig ist für diesen performativen Prozess der ›Erbauung‹ freilich eine spezifische exegetische Kompetenz der christlichen Zuschauer erforderlich. Nur unter dieser Voraussetzung kann die metaphorische Dimension der aedificatio im Rahmen des Tempelworts in ihrer neutestamentlichen Bedeutungsverschiebung und christologischen Neusemantisierung verstanden werden.59

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Zwischen Bild und Begriff. Interne Spannungen

Aleksandra Prica (Chapel Hill)  

Nüchterne Trunkenheit. Methodisch kontrollierte ›Erbauung‹ auf amplifiziertem Fundament  

»Im Menschen«, so heißt es bei Schelling in der »Philosophie der Offenbarung«, »soweit ihm ein Strahl von Schöpfungskraft verliehen ist, finden wir […] eine blinde, ihrer Natur nach schrankenlose Produktionskraft, der eine besonnene, sie beschränkende und bildende, eigentlich also negierende Kraft in demselben Subjekt entgegensteht […]. Nicht in verschiedenen Augenblicken, sondern in demselben Augenblick trunken und nüchtern zu seyn, diess ist das Geheimniss der wahren Poesie.«1 Das Interesse der folgenden Ausführungen lässt sich mit ähnlichem Pathos, wenn auch nicht mit derselben universalanthropologischen Ambition formulieren. Es geht um weniger als die Entdeckung der Wahrheit über das schöpferische Prinzip im Menschen, aber um nicht weniger als eine Annäherung an das mutmaßlich unbegriffene Geheimnis des vermutlich poetologisch signifikanten Widerspruchs zwischen Nüchternheit und Trunkenheit. Gegenstand der Überlegungen ist eine Anleitung zur Auslegung des Bibeltextes nach dem vierfachen Schriftsinn aus dem Kontext der Tischgespräche Anselms von Canterbury.2 Die Entstehung lässt sich in den letzten Jahrzehnten des 11. bzw. in den ersten des 12. Jahrhunderts vermuten. In der »Patrologia Latina« mit »Similitudo cellerarii«, zu Deutsch: »Gleichnis vom Weinkeller« überschrieben, steht sie am Ende des sogenannten »Liber de similitudinibus«,3 einer Sammlung von allegorischen Erklärungen, Exempla und Lehrstücken zur Natur des Willens4

1 Schelling, Philosophie der Offenbarung, S. 25. 2 Vgl. Michel und Forster (Hg.), Significatio, S. 43–48. Bei Michel und Forster ist der Text der Migne-Edition abgedruckt, nach der ich im Folgenden zitiere. Zitate im Lauftext sind anhand der Abkürzung SC (Similitudo cellerarii) und unter Angabe der Seitenzahl bei Michel und Forster nachgewiesen. Ich biete außerdem die deutsche Übersetzung des lateinischen Textes von Michel und Forster. – Alle übrigen Übersetzungen aus dem Lateinischen stammen, wo nicht anders angegeben, von mir. 3 Vgl. auch die Ausgabe von Southern und Schmitt, Anselm of Canterbury 1969. 4 Vor allem der erste Teil des »Liber de similitudinibus« ist bis Kapitel 38 der Natur des Willens gewidmet.

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sowie zu Tugenden und Lastern des klösterlichen Lebens.5 Der Text nimmt den Hoheliedvers 2,4 Introduxit me rex in cellam vinariam (»Der König führte mich in seinen Weinkeller«)6 zum Anlass, um daran eine Erweiterung über die Umsicht des klugen Kellermeisters zu knüpfen, der seine Fässer, vier an der Zahl, nach der Qualität des Inhalts im Keller anordnet. Das Fass mit dem besten Wein versteckt er im hintersten Winkel und lässt nur diejenigen davon trinken, die er besonders liebt (quem autem plurimum diligit; SC , S. 44). Das Fass mit dem schlechtesten Wein, den er auch an geringer Geschätzte (quem enim parum diligit; SC , S. 44) ausschenkt, steht der Tür am nächsten. Auf ebendiese Weise birgt die Heilige Schrift vier Gefäße unterschiedlichen Inhalts. Historie, Allegorie, Moral und Anagoge werden der gläubigen Seele vom König der Könige gemäß ihren Verdiensten im Glauben und in der demütigen Liebe zu Gott verabreicht.7 5 Die Verfasserfrage des »Liber de similitudinibus« ist ungeklärt. Die Texte werden aber in der Regel Anselm von Canterbury selbst oder den ihm nahestehenden Benediktinern Eadmer und Alexander von Canterbury zugeschrieben, in deren Werken sie zum Teil wiederkehren bzw. deren Werken sie entstammen, so in der »Vita Anselmi« und den »Dicta Anselmi«, vgl. Kauffmann, New Images, S. 88. Michel und Forster, Significatio, S. 43, identifizieren Alexander und Eadmer, eine Setzung, die ich hier mit Southern und Kauffmann relativieren möchte, vgl. Southern, Biographer, hier S. 221 f., sowie Kauffmann, New Images, S. 87.  – Wer die Sammlung zusammengestellt hat, entzieht sich ebenfalls unserer Kenntnis. Die älteste bekannte Handschrift aus dem Kloster Llanthony in Wales stammt aus der Zeit zwischen 1110 und 1130. Llanthony, ursprünglich als Einsiedelei im Jahr 1103 gegründet, scheint auf Vorschlag Anselms 1108 in ein Augustinerkloster umgewandelt worden zu sein, vgl. Kauffmann, New Images, S. 88. Die Handschrift ist mit »De humanis moribus per similitudines« betitelt und enthält mit 146 Kapiteln eine kürzere, dem »Liber« wahrscheinlich vorausgehende Version. Man hat vermutet, dass Alexander von Canterbury für sie verantwortlich ist, so Kauffmann, New Images, S. 87. Das älteste Manuskript der längeren Version, die heute als »Liber de Similitudinibus« bekannt ist und die hier interessierende Passage enthält, stammt aus dem Jahr 1137, ebenfalls aus Llanthony. Die Ergänzungen zu »De humanis moribus« hat möglicherweise Robert de Braci vorgenommen, der von 1130 bis 1137 Abt des Klosters war, so Kauffmann, New Images, S. 88. Eine Häufung der Zahl der Handschriften lässt auf eine besonders breite Wirkung des Buches beim geistlichen Publikum des 13. Jahrhunderts schließen. An ihr lässt sich auch Anselms wachsender Einfluss auf die Scholastik ablesen. Ungewöhnlich ist im Rahmen der Überlieferung der Werke Anselms (bzw. der ihm zugeschriebenen Werke), dass es vom »Liber« Handschriften aus Canterbury erst aus dem 13. Jahrhundert gibt, vgl. Southern, Biographer, S. 221 f. – Die »Similitudo cellerarii« war in der ältesten Handschrift somit nicht vorhanden. Mit Bruun, Parables, S. 157, möchte ich aber betonen, dass es mir nicht um die anselmische Herkunft des Textes geht, sondern um eine poetologische Frage (analog interessiert Bruun sich für eine stilistische Frage). 6 Den lateinischen Bibeltext zitiere ich nach der Vulgata-Ausgabe von Weber: Weber (Hg.), Biblia sacra iuxta vulgatam versionem. Der deutsche Bibeltext ist zitiert nach der Einheitsübersetzung: Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung, Freiburg, Basel, Wien 2008. 7 Vgl. Michel und Forster, Significatio, S. 48: Quisquis igitur in cellario Domini de omnibus doliis, id est de historia, de allegoria, de moralitate, de contemplatione sufficienter bibere desiderat, rectam fidem cum summa humilitate habere studeat (»Jeder also, der im Keller

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Und während die einfachen Erzählungen der Historia sehr süß schmecken (Valde dulcis potus est historia; SC , S. 45), die Glaubensunterweisung der Allegorie süßer (sed et dulcior in allegoria; SC , S. 45) und die Sittenlehre der Moral am süßesten (dulcissimus vero in moralitate; SC , S. 45), so versagt angesichts der Süße der Anagoge jegliche Beschreibung (incomparabiliter dulcior in anagoge; SC , S. 45). Wer von ihr trinkt, befindet sich auf dem Weg der Erkenntnis (intellectus tendens ad superiora; SC , S. 45), die in der Kontemplation (in anagogen, id est in contemplatione; SC , S. 45) zur liebenden Vereinigung mit Gott führt (suavissimus divini amoris affectus, cujus ineffabili dulcedine, […] anima nostra […] summae divinitati quodammodo unitur; SC , S. 46). Wer von diesem Wein kostet, wird von der kleinsten Menge trunken (quantulumcunque inde gustaverit, statim ob miram ipsius potus dulcedinem ebrius erit; SC , S. 46).8 Er erlebt einen biblisch sanktionierten Rausch, denjenigen nämlich, zu dem der Bräutigam im Hohelied 5,1 lädt, wenn er sagt: »Esst und trinkt und berauscht euch, meine liebsten Freunde.«9 Der Rausch der Anagoge macht gegen die Stürme der Welt, so heißt es, unempfindlich: Quicunque etenim de potus hujus dolii suavissimo sapore inebriatur, mox ad mundi hujus turbines, tanquam ebrius, insensibilis redditur.10 Die folgenden Überlegungen begeben sich auf die Spur dieser anagogischen Trunkenheit. Dabei liegt schon auf der Problemstellung eine ungleich größere Begründungslast als im Falle der idealistischen Variante. Schelling hat mit seiner Position historischen wie diskursiven Boden unter den Füßen. Zum Zeitpunkt ihrer Äußerung hat sich eine ›dichtungstheoretische‹ Perspektive auf die ›nüchterne Trunkenheit‹ bereits etabliert. Insofern könnte man etwas pointiert behaupten, dass das Geheimnis, das Schelling an die oxymorische Wendung knüpft, gar keines mehr ist; jedenfalls aber ist es als in erster Linie poetologisches erkannt.11 Dagegen muss für den Zusammenhang, der hier im Blick ist, das

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des Herrn von allen Fässern, d. h. von der Historia, von der Allegorie, von der Moral und von der Kontemplation ausreichend zu trinken verlangt, strebe danach, den rechten Glauben zusammen mit der höchsten Demut zu besitzen.«). Michel und Forster, Significatio, S. 45 f. In der Vulgata lautet die Stelle: Comedite amici bibite et inebriamini carissimi, im Weinkeller-Gleichnis: Comedite, amici, et bibite, et inebriamini, charissimi (SC , S. 46). Michel und Forster, Significatio, S. 46 f.: »Denn wer auch immer durch den besonders süßen Geschmack des Trunks aus diesem Fass sich berauscht, er wird gegen die Stürme dieser Welt – wie berauscht – unempfindlich.« Die Romantiker haben Pseudo-Longinus’ Schrift »Vom Erhabenen« rezipiert und mit ihr die Verbindung von »Enthusiasmus und klarem Bewusstsein« als Manifestation geballter dichterischer und rednerischer Kraft, vgl. Hühn, Art. ›Trunkenheit / Nüchternheit‹, Sp. 1530. Schlegel hat in der Schrift »Über das Studium der griechischen Poesie« Sophokles als Prototypus einer maßvollen dichterischen Mitte zwischen dionysischer Trunkenheit und apollinischer Besonnenheit beschrieben, vgl. Schmidt, Kommentar zu Nietzsches Die Geburt der Tragödie, S. 94 f.

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Geheimnis als zumindest auch poetologisches überhaupt erst kenntlich gemacht werden. Ausgangspunkt ist die naheliegende Annahme, dass das Weinkeller-Gleichnis gemeinhin als Anleitung zur Erbauung auf der Grundlage exegetischer Methode, mithin also als Lehre und Instruktion zur richtigen Auslegung der Bibel mit dem Ziel des vollkommenen christlichen Lebens verstanden werden kann – und auch so verstanden worden ist. Ohne die Niederungen mittelalterlicher similitudo-Konzeptionen ausloten zu können, sei an dieser Stelle auf die Tradition der Gleichnisrede als »rhetorische Technik des Erklärens, des Beweisens […] und der Veranschaulichung« sowie als »Technik […] religiöse[r] Erbauung und Belehrung« verwiesen.12 In Villers »Dictionnaire de Spiritualité« von 1937 bezeichnet Mähler in seinem Artikel zu Anselm den »Liber de similitudinibus«, den er Anselm zuschreibt, als »recueil d’instructions«, als Sammlung von Instruktionen, zur moralisch-praktischen Ausbildung der Seele. Diesen Gedanken verbindet er mit einer Bau- bzw. Erbauungsmetaphorik, in der das klösterliche Leben als Burg inmitten einer auf die Kirche gedeuteten Stadt erscheint. Die Burg ist umgeben vom Festungsbau (donjon) des englischen Lebens, zu dem diejenigen aufsteigen, die den Krieg meiden, der die Stadt erschüttert.13 Von fern klingt hier die Stelle in der »Similitudo cellerarii« an, in der davon die Rede ist, dass die Anagoge als vollendetste Form der Schriftauslegung vor den Stürmen des Lebens schütze.14 Auf den ersten Blick scheinbar etwas unmotiviert, gewinnt die Vorstellung an Plausibilität, wenn man sie vor dem Horizont der Verbindung von Exegese und Gebäude-Metaphorik betrachtet, in welcher der Anagoge die Funktion des Dachs vorbehalten ist.15 Die These, der hier nachgegangen werden soll, lautet, dass es sich im Falle des Weinkeller-Gleichnisses bei näherem Zusehen um einen Text handelt, in dem alles auf die Zuordnung der mittelalterlichen Schlüsselkategorie der ›Erbauung‹ und der Figur der ›nüchternen Trunkenheit‹ ankommt. Diese treibt eine Pro­ blemkonstellation hervor, in der das Risiko eine zentrale Rolle spielt und in deren Rahmen das Konzept der Erbauung überhaupt erst Konturen gewinnt. Folgt man Böhringers Artikel in Konersmanns »Wörterbuch der philosophischen Metaphern«, dann ist Exegese, verstanden als »Weiterbauen am Bau Gottes«, von poiesis nicht zu trennen.16 Böhringer spricht von Erbauung als »literarische[r] Verstärkung, Ausmalung, Ausdeutung und Ausdichtung der heiligen Schrift«, die stets in Gefahr ist, »den Bezug zum biblischen Begriff des Bauens« – will 12 Vgl. hierzu Zymner, Art. ›Gleichnis‹, S. 725. 13 Vgl. Mähler, Art. ›Anselme de Cantorbéry‹, Sp. 694 f. 14 Vgl. Michel und Forster, Significatio, S. 46 f.: Quicunque […] de potus hujus […] inebriatur, mox ad mundi hujus turbines […] insensibilis reditur. 15 Ohly, Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter, S. 15. 16 Böhringer, Art. ›Bauen‹, S. 40.

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heißen: zum Sprechen und Hören des Wortes Gottes – zu verlieren und in bloße Rhetorik abzugleiten.17 An dieser Position ist für die folgenden Überlegungen bedeutsam, dass sie die Möglichkeit impliziert, dass Erbauung gewissermaßen zwischen Verbindlichkeit und Übertretung des Bibeltextes aufgerieben wird. Dabei wäre das noch näher zu erörternde ›Risiko‹ auf der Seite der Übertretung anzusiedeln. Die im Weinkeller-Gleichnis verhandelte Problematik muss allerdings zugleich von Böhringers Problemverständnis unterschieden werden.18 Paul Michel hat beobachtet, dass der Verfasser des Weinkeller-Gleichnisses die Auslegung weder als Methode aus der Heiligen Schrift gewinnt, noch an dieser praktiziert, was deshalb überraschend ist, weil der Aufbau des Gleichnisses genau diesen Erwartungshorizont entwirft. Der Einstiegssatz führt den Hoheliedvers 2,4 als Referenzstelle ein, die später noch einmal wiederholt wird: Dicit itaque sponsa: Introduxit me rex in cellam vinariam.19 Statt jedoch vom Eingangszitat ausgehend den vorliegenden Bibeltext zu interpretieren, erweitert der Verfasser diesen und gründet die Erbauung auf der Allegorese der Erweiterung.20 So gesehen scheinen Historia und Allegorie von vornherein korrumpiert. Die allegorische Auslegung ist Bestandteil ihrer eigenen Begründung,21 ihr Gegenstand ist ein Text, der über den historischen Schriftsinn hinausführt.22 Hierin deutet sich schon an, dass im Weinkeller-Gleichnis zwei Ebenen ineinandergreifen: Diejenige der Entfaltung der Methode, die zur Erbauung führt, und diejenige der Anwendung dieser Methode. Das zeitigt beträchtliche Schwierigkeiten auf der Beschreibungsebene und Differenzierungsprobleme bei der Zuordnung spezifischer Textstrategien. Daher ist auch der Charakter des Risikos, das oben als ein zentrales Textelement postuliert wurde, keiner, der von vornherein feststünde.23 Andererseits versprechen die Verzahnung beider Ebenen und die dadurch produzierten Irritationsmomente Einblicke in die Funktionsweisen 17 Ebd. 18 Kritisch zu beurteilen bzw. zu historisieren ist außerdem Böhringers historisch einigermaßen unspezifischer Zugriff. 19 Vgl. Michel und Forster, Significatio, S. 43 f., Zitat S. 44. Die Wiederholung des Hoheliedverses steht zwischen der Erweiterung des Bibeltextes und der Auslegung (vgl. das Folgende) und scheint damit sowohl die Erweiterung zu rahmen, als auch die Auslegung einzuleiten. 20 So auch ebd., S. 48. 21 Bei Michel und Forster, Significatio, S. 48 ist der Zusammenhang wie folgt beschrieben: »Die Methode der allegorischen Auslegung wird auf eine (expandierte) Bibelstelle abgestützt, die er [der Verfasser, Anmerkung AP] zu diesem Zweck allegorisch auslegt […].« 22 Dass der historische Schriftsinn das gesamte Mittelalter hindurch als Bezugspunkt der Lektüre verbindlich bleibt, hat in jüngerer Zeit Bernd Roling gezeigt, vgl. Roling, Physica sacra. 23 In der Terminologie dieses Bandes wäre mit dem Risiko die titelgebende ›Versuchung‹ angesprochen. Ob diese ästhetischer Natur ist, mithin also ein Risiko, das sich aus der ›schönen Form‹ ergibt, muss sich erst erweisen.

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eines sogenannt erbaulichen Textes, die möglicherweise zur Forschung genauso quer stehen wie das Weinkeller-Gleichnis zu anderen Vertretern dessen, was gewöhnlich als ›Erbauungsliteratur‹ bezeichnet wird. Im Folgenden soll das Gleichnis mit Fokus auf das Oxymoron der nüchternen Trunkenheit betrachtet werden, und zwar vor dem Horizont der Tradition. Dabei ist zunächst von Bedeutung, dass das Auftreten des Oxymorons im Text zum einen mit dem Erreichen der höchsten Stufe der Erbauung, der Anagoge, koinzidiert und zum anderen – wie bereits erwähnt – mit der Stelle zusammenfällt, an der die Erbauungsmetaphorik zumindest annäherungsweise explizit wird. Von hier aus soll einerseits versucht werden, Trunkenheit als Quintessenz der Erkenntnis zu profilieren, die aufgrund von Unterweisung in der Methode erreicht werden kann. Dies ist vielleicht der selbstverständlichere, da traditionsgeschichtlich breit abgestützte Aspekt der Argumentation. Ebenfalls nicht überraschend ist unter traditionsgeschichtlicher Perspektive, dass Trunkenheit andererseits ein Moment des Übermaßes bezeichnet, welches inhaltlich stets die Schwelle zum Unkontrollierbaren zu überschreiten droht. Auf deutlich weniger Präzedenzfällen dürfte dagegen die Tatsache beruhen, dass das Risiko des Übermaßes im Gleichnis auf Textproduktion bezogen ist, und diese steht – so wird zu zeigen sein – kontrapunktisch zur Nüchternheit einer Orientierung am Bibeltext. Es soll also zunächst um die historische Semantik des Oxymorons ›nüchterne Trunkenheit‹ gehen, wobei vorweg zwei methodische Konzessionen einzu­ räumen sind: Zum einen liegt bei der Aufarbeitung der Tradition der Fokus auf der lateinischen Patristik, genauer auf Ambrosius und Augustinus. Für den Bereich der Hoheliedexegese wird ein Seitenblick auf Origenes geworfen.24 Zum anderen werden hinsichtlich der Deutung des Weinkellers auf die Heilige Schrift Zugeständnisse an die Lückenlosigkeit der Traditionskette gemacht. Gemäß Ohly ist die Verbindung bei Heymo von Halberstat angelegt,25 mithin also in den ersten Jahrzehnten des 9. Jahrhunderts. Heymo deutet den Keller des Hohe­liedes als Kirche, in welcher der Wein der Lehre des Evangeliums lagert.26 Als Zeugen für die direkte Deutung des Kellers auf die Heilige Schrift nennt Ohly außer Anselm Hildebert von Lavardin, Johannes von Mantua, Honorius Augustodunensis, Rupert von Deutz, Robert von Tumbalenia, Alan von Lille, Thomas Cisterciensis und Bruno von Segni.27 Wann allerdings die Fässer und 24 Meine Auseinandersetzung mit der Tradition orientiert sich sehr eng an Lewy, Sobria ebrietas. Bei Lewy sind sämtliche Textstellen zusammengetragen und nachgewiesen, die für meine Argumentation zentral sind. 25 Das St. Trudperter Hohelied, S. 685. 26 Vgl. ebd., S. 685. Außer Heymo nennt Ohly Martin von Leon und Williram. 27 Vgl. ebd., S. 685. – Vgl. hierzu die Vorstellung eines »Dreischritt[s] der Unterweisung«, die Ambrosius von Origenes übernimmt. Gemäß diesem vertreten die salomonischen Bücher

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ihre Deutung auf die Schriftsinne ins Spiel kommen, entzieht sich bislang meiner Kenntnis. Der Bogen der Ausführungen führt daher von Augustinus direkt zum Weinkeller-Gleichnis des »Liber de similitudinibus«, ein Vorgehen, das seine Berechtigung vorläufig darin finden soll, dass mit guten Gründen angenommen werden kann, dass man die Positionen von Ambrosius und Augustinus im anselmischen Umfeld gekannt hat. Als Augustinus im Jahr 384 vom römischen Präfekten Quintus Symmachus nach Mailand entsandt wurde, um in der Stadt als Rhetoriklehrer zu wirken, konnte er bei seiner Ankunft noch nicht wissen, dass Rettung im Anzug war. Dem Nichtsahnenden stand nicht nur der Bruch mit seinen manichäischen Freunden bevor,28 die ihn für die neue Stelle empfohlen hatten, sondern es sollte in einem Mailänder Garten sein Werdegang auch die berühmte endgültige Wendung hin zum christlichen Glauben nehmen.29 Diese war durch die Begegnung mit Ambrosius, dem damaligen Bischof von Mailand, auf den Weg gebracht worden. In der Retrospektive der »Confessiones« erscheint das Zusammentreffen von Schüler und Lehrer subtil orchestriert durch die unendliche Weitsicht göttlicher Vorsehung. Denn Augustinus, der sich zunächst in eigennütziger Absicht nur für die namhafte Eloquenz der ambrosianischen Reden interessiert, kommt nicht umhin, durch die Fügung Gottes von der Kraft der Form überwältigt, nach und nach auch den christlichen Inhalten zu erliegen.30 Die erste Beschreibung des Meisters in den »Bekenntnissen« würdigt ihn als einen, dem der Ruf vorauseilt, dass er das Volk mit seinen Ansprachen zu sättigen versteht, und zwar, wie je einen Schriftsinn (moralis, naturalis und mysticus), wobei das Hohelied die Krönung darstellt. Der sensus mysticus ist die Allegorie im Sinne der typologisch-heilsgeschichtlichen Deutung. Es lässt sich fragen, ob in dieser Vorstellung die Deutung des Kellers auf die Schrift, ebenso wie die Bilderweiterung auf die Fässer, angelegt ist. Bei Ambrosius ist der sensus mysticus, der durch das Hohelied vermittelt wird, derjenige Sinn, mit dem sich »die Geheimnisse eröffnende Liebe des Gotteswortes in die Seele« senkt. Sie führt zur »Erleuchtung der Sinne mit dem Geist der Erkenntnis«, vgl. Ohly, Hohelied-Studien, S. 33 und S. 36. 28 Vgl. Augustinus, Confessiones / Bekenntnisse, V,13.23, wo Augustinus über seine Freunde sagt, sie hätten sich »an den leeren Einbildungen der Manichäer berauscht […]« (eos ipsos Manichaeis vanitatibus ebrios). 29 Vgl. ebd., v. a. V,13.23 und VIII,12.25. 30 Vgl. ebd., V,13.23: »Ich wurde freilich von dir ohne mein Wissen zu ihm [Ambrosius, Anmerkung AP] geführt, um durch ihn wissend zu dir geführt zu werden. […] Eifrig hörte ich zu, wenn er in der Öffentlichkeit sprach, freilich nicht mit der Absicht, mit der ich hätte zuhören sollen, sondern um gleichsam zu ermitteln, ob seine Beredsamkeit mit dem Ruf, der ihr vorausging, zusammenstimmte oder ob ihre Wirkung größer oder kleiner war […]; voller Aufmerksamkeit hing ich an seinen Worten [verba], doch gleichgültig und mit Verachtung blickte ich auf die Inhalte [res] […]«. 14.24: »[…] [O]bwohl mir nichts daran lag, in Erfahrung zu bringen, was er sagte, sondern nur daran, zu vernehmen, wie er es sagte […], drangen doch zugleich mit den Worten, die mir gefielen, auch die Inhalte, die ich unbeachtet ließ, auf mich ein; denn ich konnte das eine nicht vom anderen trennen.«

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es heißt, mit dem »Mark« von Gottes »Weizen […] « (adipe frumenti), seinem »Freudenöl« (laetitia olei) und der »nüchterne[n] Trunkenheit« seines »Weines« (sobria vini ebrietas).31 An diesem Punkt, da die Figur der ›nüchternen Trunkenheit‹ (sobria ebrietas; μέθη νηφάλιος) Augustinus zur Charakterisierung des Kerns der göttlichen Botschaft dient, die nur ein im Wortsinne begnadeter Redner erfolgreich – und das heißt in diesem Kontext ›allegorisch‹32 – zu vermitteln versteht, hat sie, aus­gehend von Philon von Alexandrien über Origenes und die Origenes-Rezeption der Westkirche, längst Eingang in die lateinische Patristik gefunden. Bei Ambrosius laufen die Fäden der Tradition sowohl des lateinischen als auch des philonischen und origenischen Schrifttums in einer außergewöhnlich häufigen Verwendung des Oxymorons zusammen.33 Die sechste Strophe des ihm zu­geschriebenen Hymnus »Splendor paternae gloriae«34 bezeugt geradezu exem­ plarisch die Überlieferungskontinuität ebenso wie das Ergebnis eines jahrhundertelangen semantischen Transformationsprozesses, wenn es heißt: Christusque nobis sit cibus / potusque noster sit Fides, / laeti bibamus sobriam / ebrietatem Spiritus (»Und möge Christus unsere Nahrung, der Glaube unser Trank sein, lasst uns fröhlich die nüchterne Trunkenheit des Geistes in uns aufnehmen / trinken«).35 Den Versen liegt die alexandrinische symbolisch-spirituelle Auffassung der Eucha­ristie zugrunde, bei welcher mit den Sakramenten die Lehre des Logos geistig angeeignet wird.36 Die ›göttliche‹ oder ›nüchterne Trunkenheit‹ steht dort in engem Anschluss an Philon von Alexandrien37 für den enthusiastischen oder ekstatischen Zustand während des Herrenmahls, der aber nicht etwa mit einer 31 Ebd., V,13.23. 32 Die Überzeugungskraft des Ambrosius liegt bekanntlich vor allem auch darin begründet, dass er Augustinus mit der allegorischen Bibelauslegung bekannt macht, vgl. etwa Confessiones, V.19.24. 33 Vgl. Lewy, Sobria ebrietas, S. 146. 34 Ebd., S. 147, verweist Lewy in Fußnote 1 auf die positiv entschiedene Echtheitsfrage durch Kayser. Es handelt sich um einen Tageszeitenhymnus, von der christlichen Gemeinde montags zur Laudes in der ersten und dritten Woche des Vierwochenpsalters gesungen. 35 Vgl. Patrologia Latina 16, 1411. Bei Migne ist der Hymnus unter Hymnus VII abgedruckt. Zitiert bei Lewy, Sobria ebrietas, S. 146. 36 Bei Philon kann zwischen einem erkennenden und einem mitteilenden Logos unterschieden werden, vgl. Otte, Das Sprachverständnis bei Philo von Alexandrien, S. 132. – Der philonische Logostrank wird in der Patristik auf den christlichen Logos übertragen, und die philonische Beschreibung der ›himmlischen Nahrung‹ und des ›himmlischen Tranks‹ wird auf das Abendmahl bezogen. Im Anschluss verstehen die Spiritualisten mit ihrem Hauptvertreter Origenes den Genuss der Sakramente als »geistige Aneignung des Logos« (Lewy, Sobria ebrietas, S. 114), die Realisten verstehen die Trunkenheit als Wirkung eines realen Trankes, vgl. ebd., S. 113–117. 37 Das Oxymoron ›nüchterne Trunkenheit‹ ist bei Philon eines der Bilder, welche die mystische Vereinigung der Seele mit Gott darstellen, und es ist »durch keine Parallele in der griechischen Literatur zu belegen«, ebd., S. 1.

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Trübung des Verstandes einhergeht, sondern zu höchster Erkenntnis befähigt.38 Diese ist allerdings gemäß Philon »kein Denkakt des autarken Nous, sondern ein Geschenk der Gottheit«39, eine Gnadengabe. In seiner Schrift über den Rausch gibt Philon fünf allegorische Deutungen des Weines und der Trunkenheit. Über die Identifizierung von Samuels Mutter Hanna mit der Gnade, welche diese in ihrem freudigen Zustand als betrunken erscheinen lässt, kontrastiert er die »echte […] Gottbegeisterung« der Asketin und die Trunkenheit der trunksüchtigen Frevler. »Die Charis wird hier als ein göttliches Fluidum geschildert, das in den Sterblichen eindringt und ihn« zum Sprechen prophetischer Worte »inspiriert […].«40 Bei Ambrosius liegt nun auf der Gnade bzw. vor allem auf dem Glauben aus Gnade noch stärkerer Nachdruck. Letzterer scheint an die Stelle des Logos zu rücken, denn im Unterschied zur alexandrinischen Tradition ist bei Ambrosius die fides nicht mehr Mittel zum Zweck eines Aufstiegs »des Intellekts zur ›Gnosis‹«, in der sich schließlich das Ziel eines vollkommenen christlichen Lebens realisiert, sondern die Erfüllung liegt jetzt im Rausch des Glaubens, einer geistgewirkten crapula fidei. In deren Stand wird man durch eine Lebenshaltung der Nüchternheit versetzt (sobria vita).41 Doch da der Bischof in Bezug auf das Oxymoron in erster Linie nach dem Muster von Übernahme, Erweiterung und Modifikation verfährt, bleibt der Aspekt der Erkenntnis auch bei ihm wesentlich. Oft wird der direkte Rückgriff auf Philon mit Ergänzungen und freien Interpretationen angereichert, die eigenständig oder durch Origenes vermittelt sind.42 In dessen Schriften ist der Gebrauch des Oxymorons zwar nicht überliefert,43 sein Werk tradiert aber viele der Motiv- und Vorstellungskomplexe, die bei Philon im Zusammenhang mit der ›nüchternen‹ bzw. ›göttlichen Trunkenheit‹ eine Rolle spielen.44 Dies gilt etwa für den Fall der Hoheliedallegorese. Origenes verbindet das Motiv vom Gastmahl der Weisheit aus den Proverbien (Prov. 9,5): 38 39 40 41

Vgl. ebd., S. 10 und S. 115. Ebd., S. 10. Ebd., S. 5–7. Ebd., S. 148. Die Diagnose eines »Entintellektualisierungsprozess[es]«, welche Lewy der Patristik nach Origenes und insbesondere deren lateinischem Zweig gestellt hat, bezieht sich unter anderem auf diese Substitution, vgl. ebd., S. 118. 42 Vgl. ebd., S. 150–154. 43 So ebd., S. 125. Lewy orientiert sich allerdings an Baehrens’ Ausgabe der lateinischen Origenes-Übersetzung von Rufinus, vgl.: Baehrens, Origenes Werke. Der Begriff ›Übersetzung‹ muss dabei mit Vorsicht behandelt werden, sind die lateinischen Texte von Hieronymus und Rufinus doch keine eigentlichen Übersetzungen, sondern eher »getreue Adaptationen«. Über die »ursprünglichen Ausdrücke« lässt sich damit »keine Sicherheit« gewinnen, vor allem nicht dort, wo es um »dogmatische Fragen« geht, Auf der Maur, Das Psalmenverständnis des Ambrosius von Mailand, S. 442, Anm. 14. – Ich zitiere im Folgenden den lateinischen Text der Ausgabe von Baehrens. 44 Vgl. Lewy, Sobria ebrietas, S. 125.

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»Kommt esst von meinem Mahl / und trinkt vom Wein, den ich mischte« mit der Hoheliedstelle über das Weinhaus, die da in der Einheitsübersetzung lautet: »In das Weinhaus hat er [mein Geliebter] mich geführt« (Cant. 2,4).45 In dem Origenes vorliegenden Text formuliert die Braut dagegen einen an ein Kollektiv gerichteten Imperativ: »Führt mich in das Weinhaus« (Introducite me in domum vini).46 Die Braut (die Seele), so der Exeget, sehne sich danach, den Wein der Freude im Weinhaus zu genießen, wohin sie von den Freunden des Bräutigams geführt zu werden wünsche.47 Die Freunde werden von Origenes mit den Propheten und anderen Übermittlern des Wortes Gottes identifiziert, und der Wein, zu dessen Genuss sie gewissermaßen den Weg bahnen, ist aus den Lehren der Weisheit gewonnen.48 Von ihm berauscht zu sein, ist wünschenswert.49 Diese ›gute, nüchterne Trunkenheit‹ steht im Gegensatz zum Rausch der Frevler, die sich am Wein schädlicher Lehren und falscher Weisheit laben (Prov. 4,17).50 Ambrosius bedient sich in seinem Traktat »De Cain et Abel« der Motive der origenischen Hohelied-Allegorese sowie vor allem auch der Kombination mit den Proverbia-Stellen und führt die Vorlage weiter.51 Das Gastmahl der Weisheit im Weinhaus wird zum Gastmahl der Kirche im Paradies (in horto, hoc est in paradiso est conuiuium ecclesiae)52, bei welcher Gelegenheit die Gastgeberin 45 Vgl. hierzu wie zum Folgenden ebd., S. 124 f. 46 Baehrens, Origenes, S. 184, Anm. 27. 47 Vgl. ebd., S. 184, Anm. 27: Sponsae adhuc verba sunt, sed ad amicos et familiares sponsi […] a quibus videtur exposcere, ut introducant eam in domum laetitiae […]. 48 Vgl. ebd., S. 185, Anm. 27: Supra iam diximus amicos sponsi prophetas et omnes, qui ministra­verunt Verbum Dei ab initio saeculi, intelligendos, ad quos recte vel ecclesia Christi vel anima Verbo Dei adhaerens dicat, ut se introducant in domum vini, id est ubi sapientia muscuit in cratere vinum suum […] (»Oben haben wir schon gesagt, dass unter den Freunden des Bräutigams die Propheten und alle, die seit Anbeginn mit dem Wort Gottes umgehen, zu verstehen sind, zu denen zu Recht entweder die Kirche Christi oder die Seele, die dem Wort Gottes anhängt, sagen soll, dass sie sie ins Weinhaus führen sollen, das heißt dorthin, wo die Weisheit in ihrem Krater den Wein mischt«; meine Übersetzung orientiert sich an Lewy, Sobria ebrietas, S. 124, Anm. 17). Der Empfang der Weisheit als Trunk aus einem Weisheitskrater (d. h. einem Gefäß, in dem Wein und Wasser gemischt wurden) ist v. a. philonisch geprägte Vorstellung, vgl. Lewy, Sobria ebrietas, S. 90. 49 Vgl. ebd., S. 185, Anm. 27: Istud est vinum, quo etiam inebriari iustis et sanctis quibusque optabile ducitur (»Von diesem Wein berauscht zu sein, gilt selbst für die Gerechten und Heiligen als wünschenswert«). 50 Vgl. ebd., S. 185 f., Anm. 27: Sciendum sane est quia, sicut est istud vinum, quod de dogmatibus veritatis pressum commiscetur in cratere sapientiae, ita est et contrarium vinum, quo inique inebriantur peccatores et hi, qui falsae scientiae dogmata perniciosa suscipiunt (»Man muss aber allerdings wissen, dass es so, wie jener Wein, der aus den Lehren der Weisheit gepresst im Gefäß der Weisheit gemischt wird, auch einen gegenteiligen Wein gibt, von dem die falschen Sünder berauscht werden und jene, welche für die schädlichen Lehren der falschen Weisheit empfänglich sind«). 51 Vgl. hierzu wie zum Folgenden ebd., S. 155–157, sowie Ambrosius, Cain. 52 Ambrosius, Cain, S. 356.

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die Gäste dazu auffordert, sich am gereichten Wein zu berauschen.53 Was die Gäste zu sich nehmen, ist nun wiederum in Anlehnung an »Proverbia« der Trank des Verstandes (potus mentis)54. Die resultierende Trunkenheit macht nüchtern (haec ebrietas sobrios facit)55, sie erfreut und lässt einen nicht schwanken. An anderer Stelle nimmt Ambrosius den origenischen Gedanken vom Wein als Lehre auf und weist dazu an, zuerst das Alte, dann das Neue Testament zu trinken. Während das Trinken des Alten lediglich Linderung des Dursts bringt, führt das Trinken des Neuen zu (übermäßiger) Sättigung. Wer diese neutestamentliche Wahrheit trinkt, wird davon berauscht. Das ist die gute Trunkenheit, die den Gang des nüchternen Verstandes festigt.56 Zusammenfassend lassen die semantischen Merkmale, welche die ›nüchterne Trunkenheit‹ bis zu Ambrosius auf sich zieht, einen deutlichen Schwerpunkt im Bereich der Möglichkeiten von Erkenntnis verzeichnen. Dies trotz einer Tendenz im lateinisch-patristischen Umfeld, die Perspektive von der Weisheitslehre auf die Glaubenslehre, vom Logos auf die Pistis zu verschieben.57 Trunkenheit verbindet sich außerdem mit dem Motiv der Wortvermittlung, die den Kern der biblischen Lehre kolportiert, und sie verweist auf ein Übermaß, das als Risiko in den Blick kommt und immer wieder neu durch den Verweis auf Nüchternheit in die Schranken gewiesen werden muss. Es war, wie Lewy in seiner Untersuchung zur »Geschichte der antiken Mystik« feststellt, eine »besonders feinsinnige« Geste von Augustinus, seinen Lehrer ausgerechnet mit jener Wendung zu ehren, die im Zentrum von dessen Denken stand.58 Auch in seinem eigenen Anschluss an Ambrosius drückt sich die Wertschätzung für den Vermittler der nüchternen Trunkenheit von Gottes Wort aus. Die enge Orientierung am Vorbild lässt allerdings auch subtile Abweichungen 53 Bei Ambrosius lautet die Stelle aus Cant 5,1: manducate, proximi mei, et bibite et inebriamini, fratres mei (»Esset, meine Freunde, und trinkt und berauscht euch, meine Brüder«) vgl. Lewy, Sobria ebrietas, S. 155, sowie Ambrosius, Cain, S. 355. 54 Ambrosius, Cain, S. 357. 55 Ebd., S. 355. 56 Ambrosius, Explanatio Psalmorum XII ., S. 28 f.: […] bibe primum uetus testamentum, ut bibas et nouum testamentum. nisi primum biberis, secundum bibere non poteris. bibe primum ut sitim mitiges, bibe secundum ut bibendi satietatem haurias. […] qui biberunt in typo satiati sunt, qui biberunt in ueritate inebriati sunt. […] bona ebrietas, quae sobriae stabiliret mentis incessum […]. […] et tu bibis poculum sapientiae, (»Trinke zuerst das Alte Testament, um dann auch das Neue Testament zu trinken. Wenn du nicht zuerst das erste getrunken hast, wirst du das zweite nicht trinken können. Trinke das erste, um den Durst zu lindern, trinke das zweite, um (übermäßige Sättigung) in Bezug auf das Getrunkene zu erreichen. […] Diejenigen, die im Typus tranken, wurden gesättigt, diejenigen, die in der Wahrheit tranken, wurden berauscht. […] Gut ist diejenige Trunkenheit, die den Gang des nüchternen Verstandes festigt […]. […] auch du trinkst den Becher der Weisheit«). 57 Vgl. oben, Anm. 36. 58 Lewy, Sobria ebrietas, S. 158.

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desto aussagekräftiger erscheinen. Es sollen diesbezüglich zwei Textstellen hervorgehoben werden, deren Synopse ein Bild von der Spezifik des augustinischen Verständnisses ergeben, das für das Weinkeller-Gleichnis von Bedeutung ist.59 In Sermo 34 über die Notwendigkeit des Gotteslobs, spricht Augustinus in Abschnitt 2 über Johannes, den Jünger, der bei Jesu Gastmahl an dessen Brust gelegen und bei dieser Gelegenheit himmlische Geheimnisse getrunken habe: Ille est Apostolus, qui super pectus domini discumbebat et in eo conuiuio caelestia secreta bibebat. Unter dem Einfluss des Trankes und der glückseligen Trunkenheit, sei der Beginn des Johannesevangeliums, »Im Anfang war das Wort«, aus ihm herausgebrochen (Ex illo potu et ex illa felici ebrietate ructauit: In principio erat uerbum). Augustinus qualifiziert das Verhalten des Johannes als »stolze Demut und nüchterne Trunkenheit« (Humilitas excelsa et ebrietas sobria).60 Lewy hat treffend darauf hingewiesen, dass der Interpret hier in origeneisch-ambrosischer Manier das Herrenmahl und die Rolle des Johannes mit dem Gastmahl der Kirche identifiziere, bei dem Christus der Seele, die nach Erkenntnis dürste, »den Wein der Weisheit kredenz[e]«.61 Im vorliegenden Zusammenhang kommt es allerdings zusätzlich darauf an, dass der Erkenntnisdurst des Jüngers und die auf das Labsal aus Jesu Brust folgende nüchterne Trunkenheit offensichtlich mit Textproduktion verbunden sind. Man könnte sagen, dass es eine Art Inspiration durch Erkenntnis ist, die Johannes sein Evangelium in Worte fassen lässt. Die zweite Textstelle findet sich in der Predigt zu Psalm 35 und verhandelt die Bedeutung von Vers 9: Inebriabuntur ab ubertate domus tuae.62 Wie hier zu übersetzen ist, wird aufgrund von Augustinus’ Deutung klar. Warum, so fragt er sich und seine »Brüder« (fratres mei), fühlte David die Notwendigkeit, diesen Satz auszusprechen? Mit der Antwort tut der Exeget sich schwer, denn, so sagt er, die Sache sei unbegreiflich und in der Vergangenheit selbst für heilige Zungen und Herzen eine zu große Herausforderung gewesen, um sie zu verstehen und verständlich zu machen. Es sei ihnen gemäß dem 1. Korintherbrief ergangen, in dem einerseits von der eingeschränkten irdischen Erkenntnisfähigkeit die Rede ist, während er andererseits auf eine dereinstige vollständige Schau »von Angesicht zu Angesicht« Hoffnung macht. Indem Augustinus sich im Folgenden vorzustellen versucht, was es zukünftig heißen wird, von Angesicht zu Angesicht zu schauen, nähert er sich einer Erklärung der Aussage Davids an. Diesem sei daran gelegen gewesen, über menschliche Dinge zu sprechen. Und weil er die 59 Die Stellen werden auch bei Lewy besprochen, allerdings zieht er andere Schlüsse, vgl. S. 160–162. 60 Lambot, Sancti Aurelii Augustini Sermones de Vetere Testamento, S. 424. 61 Lewy, Sobria ebrietas, S. 160. 62 Ich folge hier dem Text der Migne-Ausgabe, PL 36, 351. Eine Übersetzung wird an diesem Punkt bewusst nicht geboten, da sie aus der Argumentation von Augustinus gewonnen werden soll.

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Menschen sich in den Rausch habe stürzen sehen wie in einen Strudel (ingurgitantes se in ebrietate), weil er ihren maßlosen Weinkonsum (accipere (autem?) vinum immoderate) und das parallele Schwinden ihres Verstandes beobachtet habe, sei ihm die richtige Redeweise aufgegangen. Denn das Empfangen jener unaussprechlichen Freude, mit der nun offenbar die unvermittelte Schau (der Wahrheit) gemeint ist, bewirke das Vergehen des menschlichen Verstandes, der göttlich werde und sich berausche, am Überfluss des Hauses Gottes (vidit […] quia cum accepta fuerit illa ineffabilis laetitia, perit quodammodo humana mens, et fit divina, et inebriatur ab ubertate domus Dei).63 Augustinus betont Fülle und Übermaß des Rausches und die Überwältigung des Verstandes durch das Zuviel. Von Ambrosius unterscheidet ihn, dass er der Trunkenheit die mit Verstandestätigkeit und Erkenntniskraft verbundene Nüchternheit christlicher Lebensführung nicht als Korrektiv entgegenstellt, sondern den Vorgang der Berauschung direkt an die Einsicht bindet, die im ›Dort‹ möglich werden soll. Es scheint an dieser Stelle um einen Akt der Imagination zu gehen, der Überfluss, Einbildungskraft und Erkenntnis kurzschließt. Ähnliches geschieht im Weinkeller-Gleichnis, allerdings auf zwei Ebenen. Trunkenheit, so wurde bereits ausgeführt, hängt inhaltlich mit der Anagoge zusammen, dem vierten Schriftsinn, der eine Erkenntnis meint, die zu Höhe63 Augustinus, Enarrationes in Psalmos, PL 36, 351: Nescio quid nobis magnum promittit. […] Audeo dicere, fratres mei, etiam de sanctis linguis et cordibus, per quas nobis veritas nuntiata est, nec dici potest quod anuntiabant, nec cogitari. Res enim magna est et ineffabilis: et ipsi ex parte in aenigmate viderunt, sicut dicit Apostolus: Videmus nunc ex parte in aenigmate, tunc autem facie ad faciem (1 Cor XIII, 12). Quales erimus, cum viderimus facie ad faciem […]? Quae enim necessitas fuerat ut diceret: Inebriabuntur ab ubertate domus tuae? Quaesivit verbum unde loqueretur de rebus humanis, quod diceret: et quia vidit homines ingurgitantes se in ebrietate, accipere autem vinum immoderate, et mentem perdere; vidit quid diceret, quia cum accepta fuerit illa ineffabilis laetitia, perit quodammodo humana mens, et fit divina, et inebriatur ab ubertate domus Dei (»Ich weiss nicht, was er uns Grosses verspricht. […] Auch von heiligen Zungen und Herzen, durch die uns die Wahrheit verkündet wird, höre ich sagen, meine Brüder, dass weder gesagt noch verstanden werden kann, was sie angekündigt haben. Die Sache ist nämlich groß und unaussprechlich: Und sie selbst haben teilweise [die Dinge] in rätselhafter Gestalt gesehen, so, wie der Apostel gesagt hat: Wir sehen nun [die Dinge] teilweise in rätselhafter Gestalt, dann aber werden wir [sie] von Angesicht zu Angesicht sehen (1 Cor XIII, 12). Wie werden wir beschaffen sein, wenn wir von Angesicht zu Angesicht gesehen haben werden […]? Welche Notwendigkeit gab es zu sagen: Sie werden vom Überfluss deines Hauses berauscht werden? Er suchte ein Wort, mit dem er über menschliche Dinge sprechen konnte, das heißt: als er nämlich die Menschen sich in den Rausch hat stürzen sehen wie in einen Strudel, als er sie den Wein maßlos hat zu sich nehmen und den Verstand verlieren sehen, da sah er, was er sagen musste. Denn wenn jene unaussprechliche Freude empfangen werden wird, vergeht irgendwie der menschliche Verstand und wird göttlich und wird trunken vom Überfluss des Hauses Gottes«). – Auch Ambrosius spricht im Zusammenhang der Auslegung von Proverbienstellen und Hohelied von der Größe des Hauses Gottes, er bringt diese aber nicht direkt mit der Trunkenheit in Verbindung, vgl. Ambrosius, Cain, S. 356 f.

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rem führt bzw., vor dem Horizont der Psalmauslegung von Augustinus, auf ein jenseitiges Dort bezogen ist. Es ist eine Trunkenheit, die gegen die Stürme des Irdischen immun macht, und insofern ist sie auch die höchste Stufe der Erbauung. Die Entfaltung dieses Zustandes und der Methode, mittels derer er erreicht werden kann, ist mit Textproduktion verbunden und dieser haftet, wie abschließend gezeigt werden soll, das Stigma des Risikos an – oder anders gesagt: Das Übermaß wird als prekär gekennzeichnet. Interessanterweise lässt das Weinkeller-Gleichnis nämlich das eine oxymorische Glied unerwähnt. Von Nüchternheit ist nicht die Rede. Stattdessen wird auf den Hoheliedvers 5,1 verwiesen und darauf, dass dieser von der Art der anagogischen Trunkenheit die rechte Vorstellung gibt: Man muss aber wissen, dass jeder, der vom vierten Fass getrunken hat, […] berauscht sein wird, selbstverständlich von jener Trunkenheit, zu welcher der Bräutigam seine Auserwählten im Hohelied (Ct 5,1) einlädt: Esst und trinkt und berauscht euch, meine liebsten Freunde.64

Neben dem Umstand, dass hier biblisch begründet wird, von welcher Form des Rausches die Rede ist, scheint vor dem Hintergrund der Tradition ein weiterer Aspekt zentral: Die direkte Erwähnung der Nüchternheit wird durch den Verweis auf den Bibeltext ersetzt, der gewissermaßen in kanonischer Mäßigung als Korrektiv zum Rausch übermäßiger Textproduktion erscheint. Dies und die Allegorese der Weinfässer zeigt, dass das Gleichnis vom Weinkeller über den historischen Schriftsinn, den in diesem Sinne nüchternen Wortlaut, hinausgegangen ist. Der Schritt zur Trunkenheit ist immer schon vollzogen. So gesehen erfolgt Erkenntnis auf der Basis der Einbildungskraft und diese scheint im Sinne des unkontrollierbaren Übermaßes das gefährdende und zugleich produktive Moment der ›Erbauung‹ zu sein. Gegenüber der augustinischen Zusammen­ führung von Inspiration, Erkenntnis und Textproduktion, ist hier die Hierarchie sogar umgedreht: Die Textproduktion geht voraus. Erst auf dieser Grundlage folgt die Inspiration zur Erkenntnis von Höherem. Man mag die Funktion des Oxymorons ›nüchterne Trunkenheit‹ lakonisch als ein Austarieren von Entschränkung und Beschränkung im Rahmen eindeutiger erbaulicher Ziele beschreiben: Für Schelling wäre das Geheimnis der darin implizierten ›Poesie‹ wohl von entscheidender verführerischer Kraft gewesen.

64 Michel und Forster, Significatio, S. 46.

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Regina Toepfer (Braunschweig)

Erbauung und Begehren. Spannungen im Dramenbuch Hrotsviths von Gandersheim

Hrotsvith von Gandersheim gilt als erste deutsche Dichterin und Begründerin des mittelalterlichen Dramas. In dem an literarischen Zeugnissen vergleichsweise armen 10. Jahrhundert schuf die Kanonisse im Stift Gandersheim ein beeindruckendes Werk, das aus acht Legenden, sechs Dramen und zwei historischen Dichtungen besteht.1 Die zahlreichen Superlative, die der gelehrten Autorin seit ihrer humanistischen Wiederentdeckung durch Conrad Celtis zugeschrieben wurden,2 sollen hier nicht erweitert werden, aber ihre Bedeutung für die Thematik dieses Sammelbandes sei herausgestellt: Hrotsvith dürfte eine der ersten mittelalterlichen Autoren sein, die die Problematik einer christlichen Ästhetik thematisiert und die Ambivalenz des Erbaulichen reflektiert. Hrotsviths Werk liegt ein klarer poetischer Gestaltungswille zugrunde. Sie hat ihre Texte selbst geordnet, in drei Bücher untergliedert und redigiert. Auch wenn man nicht sämtliche Motivdoppelungen und strukturelle Korrespondenzen als intendiert ansehen muss,3 zeugen die Vorworte und Begleitschreiben von einem überlegten Gesamtkonzept. Wiederholt stellt Hrotsvith innerhalb ihres Oeuvres Bezüge her und propagiert das Ideal der virginitas in den verschiedenen Textsorten. Legt man die Definition des »Reallexikons der deutschen Literaturwissenschaft« zugrunde, lassen sich ihre Legenden, Dramen und Geschichts1 Zu Hrotsvith vgl. Brown und Wailes (Hg.), A Companion to Hrotsvit of Gandersheim; Dronke, Women Writers of the Middle Ages, S. 55–83 und 293–297; Düchting, Art. ›­Hrotsvit‹, Sp. 148 f.; Langosch, Nachwort, S. 53–64; Nagel, Hrotsvit von Gandersheim; Rädle, Art. ›Hrotsvit von Gandersheim‹, Sp. 196–210. – Als Textgrundlage ziehe ich die von Walter Berschin herausgegebene Gesamtausgabe und die Übersetzung von Helene ­Homeyer heran, vgl. Hrotsvit, Opera Omnia, hg. von Berschin; Hrotsvitha von Gandersheim, Werke in deutscher Übertragung. Mit einem Beitrag zur frühmittelalterlichen Dichtung von Helene Homeyer. 2 Zu Hrotsviths frühneuzeitlicher Rezeption vgl. Cardelle de Hartmann, Die Roswitha-Edition des Humanisten Conrad Celtis; Finckh und Diehl, ›Monialis nostra‹; Nagel, Hrotsvit, S. 4–9. 3 Diese Ansicht vertrat Kuhn, Hrotsviths von Gandersheim dichterisches Programm, hier bes. S. 189 f. und S. 194. Zu den Strukturen des Werks vgl. auch Wilson, Hrotsvit of Gandersheim, S. 16–27.

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dichtungen unter dem Begriff ›Erbauungsliteratur‹ subsumieren. Hrotsviths Werke erfüllen die zentralen Kriterien, die Susanne Schedl und Dietz-Rüdiger Moser für diese Hypergattung angeben: Bestärkung im Glauben, Vergegenwärtigung der Heilsgeschichte und Anleitung zur christlichen Lebensführung.4 Diese allgemeinen Gattungsziele lassen sich für Hrotsvith präzisieren: Die Autorin richtet sich primär an Kanonissen und Ordensleute, sie verlängert die Heilsgeschichte bis in die jüngste Gandersheimer Vergangenheit und wirbt für eine keusche Lebensführung.5 Als Vorbilder präsentiert Hrotsvith biblische und legendarische Figuren, Märtyrerinnen, Heilige und die Gründerinnen des Stifts. Ungeachtet aller paränetischen Motivationen verfolgt Hrotsvith ästhetische Interessen. Ihre Legenden und historischen Dichtungen sind überwiegend in leonischen Hexametern verfasst, die Dramen in gereimter Prosa. Damit gerät Hrotsvith in den von W ­ alter Haug beschriebenen Grundkonflikt christlicher Literaturtheorie: Die hohe Form wird einerseits bejaht und als würdiges Ausdruckmittel transzendentaler Erkenntnis angesehen, andererseits ist es dem Menschen grundsätzlich unmöglich, die göttliche Größe adäquat zu beschreiben und die religiöse Offenbarung genau wiederzugeben.6 Erbauungsliteratur ist keineswegs auf eine schlicht-gläubige Präsentationsweise zu reduzieren, wie Susanne Köbele am Beispiel von Legenden offengelegt hat.7 Anspielend auf André Jolles macht Köbele darauf aufmerksam, dass die ›einfache Form‹ eine Illusion ist und die Legende durchaus ein Risiko kennt – sowohl in religiöser als auch in ästhetischer Hinsicht. Die Legende erzähle gegen den Zweifel an Heilszuversicht an, ohne ihn je aufheben zu können, selbst wenn sich der Erzähler sehr heilsgewiss gebe.8 Der »demütige Rhetorik-Verzicht« konkurriere »mit der eminenten Rhetorik-Faszination«, so

4 Vgl. Schedl und Moser, Art. ›Erbauungsliteratur‹, S. 484. Auch im engeren Sinne gehören Hrotsviths Schriften nach Schedl und Moser zur Erbauungsliteratur, die die Gefühlsebene des Einzelnen anspreche und die Hinwendung zu Gott erleichtere. Im weitesten Sinne wird alles zur Erbauungsliteratur gezählt, »was der Förderung und Pflege des geistlichen Lebens dient«, vgl. Brückner, Art. ›Erbauung, Erbauungsliteratur‹, Sp. 111.  – Für eine grundlegende Revision des Begriffs in der Mediävistik plädiert Susanne Köbele. Weil Erbauung »eine zugleich theologische, frömmigkeitspraktische und wirkungsästhetische (funktionale) Kategorie« sei, dürfe sie nicht auf Gattungsfragen beschränkt bleiben. Vgl. Köbele, ›Erbauung‹ – und darüber hinaus, S. 427. 5 Zur zentralen Bedeutung der Keuschheit für Hrotsviths Werk vgl. Macy, Hrotsvit’s Theology of Virginity and Continence, S. 63–82; Newman, Violence and Virginity in Hrotsvit’s Dramas; Weston, Virginity and other Sexualities. 6 Vgl. Haug, Literaturtheorie, S. 23. 7 Vgl. Köbele, Illusion.  – Zur »gläubig-schlichte[n] Erzählweise« der Legende vgl. auch Kunze, Art. ›Legende‹, S. 390. 8 Vgl. Köbele, Illusion, S. 368. Vgl. auch Jolles, Einfache Formen.

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dass ein »subtile[s] Wechselspiel von Rhetorisierung und De-Rhetorisierung«, Evidenz und Evidenz-Verlust zu beobachten sei.9 Diese für die Erbauungsliteratur charakteristischen Ambivalenzen kennzeichnen auch das Dramenbuch Hrotsviths von Gandersheim. Um die dem Werk inhärenten Spannungen genauer zu erfassen, konzentriere ich mich auf die Kategorie des Begehrens. Mein Untersuchungsgegenstand ist das vierte der sechs Dramen, das vom Fall und der Bekehrung Marias, der Nichte des Einsiedlers Abraham, erzählt.10 Die Geschichte stammt aus den »Vitae Patrum« und handelt von einer Sündenheiligen, wie die Perioche ankündigt: Nachdem Maria zwanzig Jahre in frommer Einkehr verbracht hat, lässt sie sich verführen. Sie verliert ihre Keuschheit, kehrt in die Welt zurück und verdingt sich zwei Jahre als Prostituierte, bevor der Onkel sie findet und in die Zelle zurückbringt. Maria erweist sich als reuige Sünderin, sie weint, wacht, fastet, betet und büßt so zwanzig Jahre lang für ihre Sünden. Schon Marias Tätigkeit im Bordell lässt darauf schließen, dass das Begehren in diesem Drama eine wichtige Rolle spielt. Ich beziehe die Kategorie des Begehrens jedoch nicht nur auf erotische Komponenten und beschränke sie nicht einmal auf die Handlungsmotivation der Figuren. Vielmehr nehme ich auch das Begehren der Rezipienten und der Autorin in den Blick, wozu sich Hrotsvith in den einleitenden Paratexten explizit äußert. Begehren definiere ich in einem minimalen Sinne und verstehe darunter das Streben nach einem anthropologischen, religiösen und ästhetischen Ideal, das im Bewusstsein einer defizitären Ausgangssituation wurzelt. Meine These ist, dass die Spannungen im Konzept des Erbaulichen letztlich in der dialektischen Struktur dieses Begehrens wurzeln.11 Wie sich diese Ambivalenzen in der Textrezeption, der -produktion und auf der Handlungsebene von Hrotsviths Drama niederschlagen, soll im Folgenden untersucht werden.

9 Köbele, Illusion, S. 369 f. und S. 373. 10 Obwohl bei Hrotsviths Titelformulierung Maria im Mittelpunkt steht, benennt Celtis das Werk nach der männlichen Hauptfigur. Anknüpfend an die editio princeps von 1501 trägt das Drama auch in den meisten modernen Editionen den Titel »Abraham«, erst Berschin greift wieder auf die Wortwahl des Argumentums zurück. Vgl. Opera Hrosvite Illustris Virginis Et Monialis Germane Gente Saxonica Orte Nuper A Conrado Celte Inventa. Nürnberg, Sodalitas Celtica 1501 (= VD16 H 5278, meine Titelangabe folgt den Richtlinien des VL 16). Vgl. auch Berschin, Passio und Theater, S. 3; Cardelle de Hartmann, Roswitha-Edition, S. 143. 11 Meine Beobachtungen sind inspiriert von der Dialektik des Begehrens bei Lacan, ohne dass ich sämtliche psychoanalytischen Implikationen auf das mittelalterliche Konzept des Erbaulichen übertragen möchte. Vgl. Lacan, Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freud’schen Unbewussten. – Zu dem aus der Erfahrung des Mangels resultierenden Begehren vgl. auch Pagel, Jacques Lacan zur Einführung, S. 66.

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1. Rezeptionsästhetisches Begehren Der Titel des Sammelbandes »Die Versuchung der schönen Form« scheint wie für Hrotsvith bestimmt. Die Beobachtung, dass religiöse Rezipienten ansprechende Formulierungen schätzen, nimmt die Gandersheimer Autorin zum Ausgangspunkt ihres Dramenbuchs. Hrotsvith problematisiert im Vorwort, dass viele Christen die pagane Literatur den heiligen Schriften vorziehen: Plures inveniuntur catholici […] qui pro cultioris facundia sermonis ∙ gentilium vanitatem librorum utilitati praeferunt sacrarum scripturarum […].12 Die gepflegte Ausdrucksweise der heidnischen Klassiker fasziniert literaturaffine Gläubige, wohingegen der sermo humilis der Bibel abschreckend wirkt.13 Auf diese Weise entsteht eine Diskrepanz zwischen inhaltlicher Relevanz und äußerer Schönheit, die die religiöse Wertigkeit konterkariert. Obwohl die Schriften der Heiden vergänglich sind und nicht zum Heil führen, beschäftigen sich Christen lieber mit ihnen, statt ihre Aufmerksamkeit religiösen Werken zu widmen. Hrotsvith verurteilt dieses ästhetische Begehren nicht, sondern schließt sich in den Kreis forminteressierter Leser ein. Auch sie selbst könne sich nicht davon freisprechen, lieber pagane Klassiker als heilige Schriften zu lesen.14 Eine Sonderstellung unter den antiken Autoren spricht Hrotsvith Terenz zu. Der antike Komödiendichter gehörte zum mittelalterlichen Schulkanon und muss auch in der Gandersheimer Stiftsbibliothek vertreten gewesen sein, aus der Hrotsvith ihr Wissen schöpfte.15 Als einzigen Klassiker erwähnt sie Terenz namentlich und erklärt seine Dramen für hoch attraktiv:16 Sunt etiam alii sacris inhaerentes paginis ∙ qui licet alia gentilium spernant ∙ Teren­ tii tamen fingmenta frequentius lectitant ∙ et dum dulcedine sermonis delectantur ∙ nefandarum notitia rerum maculantur∙17 12 Opera, lib. II, praefatio, 1. Vgl. Werke, S. 176: »Viele rechtgläubige Christen gibt es […] die wegen der gepflegteren Sprache die weltlich eiteln Bücher der Heiden dem Nutzen der Heiligen Schriften vorziehen.« 13 Vgl. Auerbach, Sermo humilis. 14 Opera, lib. II, praefatio, 1: cuius nos penitus expurgare nequimus facti […]. 15 Im Vorwort zum Legendenbuch berichtet Hrotsvith davon, dass sie auf die Handschriften des Stifts zurückgriff. Vgl. Werke, S. 64. 16 In Hrotsviths Werken finden sich Anklänge an zahlreiche weitere Autoren, vgl. Nagel, Hrotsvit, S. 42 f.; Homeyer, ›Imitatio‹ und ›aemulatio‹ im Werk der Hrotsvitha von Gandersheim, S. 970–973. Durch übernommene Vergil-Zitate erscheine Maria, argumentiert Newlands, als »an Aeneas-like figure who has to learn the virtues of endurance and of pietas«. Vgl. Newlands, Hrotswitha’s Debt to Terence, S. 381. 17 Opera, lib. II, praefatio, 2. Vgl. Werke, S. 176: »Daneben gibt es auch andere, die, frommer Lektüre ganz ergeben, zwar alle anderen heidnischen Werke verachten, aber die Phantasieschöpfungen des Terenz immer wieder lesen und, während sie sich an der Anmut seiner Sprache ergötzen, sich durch die Kenntnis des gottlosen Inhalts mit Sünde beflecken.«

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Selbst diejenigen, die sich normalerweise nur mit religiöser Lektüre beschäftigten und pagane Literatur ablehnten, könnten Terenz nicht widerstehen. Seine erfundenen Dichtungen werden von überzeugten Christen in einer Intensität gelesen, die zur Verinnerlichung der Lektüre führt: Obwohl der Inhalt der Terenz’schen Dramen moralisch höchst bedenklich ist, werden sie wieder und wieder rezipiert. Dies führt zu einer ambivalenten Lesesituation: Während sich Christen an der Anmut der Sprache erfreuen, beflecken sie sich durch die Rezeption heilloser Liebesaffären mit Sünde.18 Sowohl der Autor als auch die dramatis personae können mit Worten verführen. Während jener die christlichen Leser von der Lektüre mit der Heiligen Schrift abhält, animieren diese zum Ehebruch. Hier setzt Hrotsvith ein und bietet Hilfe an: Sie will christliche Leser aus diesem Dilemma befreien und ihnen adäquaten Ersatz verschaffen. Ihr paränetisch-ästhetisches Anliegen lässt sich auch als eine literarische Selbsttherapie begreifen; Hrotsvith will sich von Terenz lösen, indem sie sein Gattungsformat adaptiert. Die performative Dimension der Dramen bleibt dabei außer Acht. Hrotsvith nimmt die antiken Komödien ausschließlich über die schriftgestützte Rezeption wahr19 und äußert sich auch nicht zur Aufführbarkeit ihrer eigenen Werke,20 weshalb sie weder als Erneuerin des antiken Theaters noch als Initiatorin der mittelalterlichen Spiele gelten kann. Wie für ihr Legendenbuch greift Hrotsvith auch bei den Dramen auf hagio­ graphische Quellen und die Viten der Väterliteratur zurück, wobei sie die Handlung der Heiligen in dialogische Rede transferiert.21 Die dramatische Form ist die Voraussetzung, eine christliche Alternative zur römischen Palliata zu entwickeln und eine gereinigte Lektüre anzubieten. Deutlich zu erkennen ist Hrotsviths Orientierung an Terenz etwa an der Sechszahl der Dramen, an 18 Die Kritik an heidnischer Dichtung, insbesondere dem antiken Drama, hat eine lange Tradition, die bis in das frühe Christentum zurückreicht, vgl. z. B. Schnusenberg, Das Verhältnis von Kirche und Theater. 19 Dies belegen das Verb lecticant und das folgende legendo, vgl. Opera, lib. II, praefatio, 2 f. Zur mittelalterlichen Rezeption der Terenz’schen Komödien als Lesedramen vgl. auch Borcherdt, Das europäische Theater im Mittelalter und in der Renaissance, S. 79–83; Bastert, Wissenschaft, S. 177 f. 20 Zu den Gründen, die gegen eine Inszenierung von Hrotsviths Dramen sprechen, vgl. Nagel, Hrotsvit, S. 68–75. Zumindest eines ihrer Dramen weist einen Aufführungsbezug auf: Der ›Gallicanus‹ ist in der Münchner Handschrift clm 2552 (12. Jh.) in einer szenisch aufbereiteten Form überliefert. Vgl. Rädle, Hrotsvit, Sp. 199. 21 Hrotsviths Legenden und Dramen unterscheiden sich primär durch ihre formale Gestalt, weshalb letztere als dialogisierte Legenden bezeichnet worden sind. Vgl. z. B. Nagel, Hrotsvit, S. 55 f.; Schütze-Pflugk, Herrscher- und Märtyrerauffassung bei Hrotsvit von Gandersheim, S. 8. Ermöglicht wird dies durch die Offenheit des Legendenstoffs, der die Ästhetik anderer Gattungen übernehmen kann. Vgl. Wyss, Legenden, S. 40. – Zu Hrotsviths Vorlagen vgl. Opera, S. 298 f.; Werke, S. 222 f.; Berschin, Passio.

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den Periochen oder der eröffnenden Gesprächskonstellation des »Abraham«.22 Während sich die Autorin in formaler Hinsicht auf Terenz beruft und ihn als stilistisches Vorbild würdigt, markiert sie in inhaltlicher Hinsicht eine starke Differenz: Ausdrücklich betont sie, keine verderblichen heidnischen Blendwerke vorzutragen. Der antike Komödienautor behandle die schändlichen Vergehen lüsterner Frauen, wohingegen sie die lobenswerte Enthaltsamkeit heiliger Jungfrauen preise.23 Hrotsviths Wunsch, Keuschheit zu loben, generiert jedoch neue Spannungen: Der Beweis von Tugendhaftigkeit verlangt deren Erprobung. Obwohl ­Hrotsvith die frevelhafte Leidenschaft durch ein christliches Kontrastprogramm ersetzen will, kann sie nicht ganz auf die Liebesdarstellungen nach Art eines ­Terenz verzichten. Triumphieren können ihre frommen Jungfrauen nur, wenn ihre Standhaftigkeit zuvor auf die Probe gestellt worden ist. Hrotsvith benötigt also ebenfalls lüsterne und übergriffige Frevler, damit ihre keuschen Heldinnen s­ exuelle Avancen zurückweisen können.24 Wie heikel diese Verführungsszenen aus Sicht der christlichen Moraldidaxe sind, veranschaulicht Hrotsvith an ihrem eigenen Empfinden. Sie berichtet von einem Schamgefühl, das sie vor sexuellen Imaginationen zurückschrecken und erröten ließ. Lüsterne Reden, die nicht einmal für ihre Ohren bestimmt seien, hätte sie in Gedanken erwägen und mit dem Griffel aufzeichnen müssen.25 Hrotsvith präsentiert sich also nicht nur als Urheberin, sondern auch als erste Rezipientin ihrer Dramen. Den Affekt der Scham nimmt sie in Kauf, um illegitime Liebe als verabscheuungswürdigen Wahn darzu­stellen. Ob es ihr gelingt, die Rezeption ihrer Dramen auf eine asketisch-monastische Deutung festzulegen, ist jedoch fraglich. Literarische Werke eröffnen einen breiten Interpretationsspielraum, den Leser individuell gestalten können. Das erotische Begehren, das Hrotsvith als abscheulich deklariert, mag manchen Rezipienten gerade gefallen haben. Ein Spannungsverhältnis besteht auch zwischen der Schwäche der keuschen Protagonistinnen und der Stärke ihrer Widersacher, deren Machtverhältnis sich dank göttlicher Unterstützung ins Gegenteil verkehrt. Heiligkeit resultiert aus 22 Zum Verhältnis von Hrotsvith und Terenz vgl. Bastert, Wissenschaft, S. 173; Berschin, Passio, S. 1; Cardelle de Hartmann, Kreative Imitation; Homeyer, ›Imitatio‹, S. 975–977; Newlands, Hrotswitha’s Debt to Terence; Wilson, Hrotsvit, S. 72–86. 23 Vgl. Opera, lib. II, praefatio, 3: […] quo eodem dictationis genere ∙ quo turpia lascivarum incesta feminarum recitabantur ∙ laudabilis sacrarum castimonia virginum iuxta mei facultatem ingenioli celebraretur. 24 Vgl. Newman, Violence. – Zur Bedeutung diverser Sexualpraktiken in Hrotsviths Dramen als Form christlicher Prüfung vgl. Classen, Sex on the Stage, bes. S. 175. 25 Vgl. Opera, lib. II, praefatio, 4: Hoc tamen facit non raro verecundari ∙ gravique rubore perfundi ∙ quod huiusmodi specie dictationis cogente detestabilem inlicite amantium dementiam ∙ et male dulcia colloquia eorum ∙ quae nec nostro auditui permittuntur accomodari ∙ dictando mente tractavi ∙ et stili officio designavi.

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einem Wechselspiel von gefährlicher Bedrängnis und wundersamer Errettung, wie Hrotsvith expliziert: Je schmeichlerischer die Verführer lockten, umso größer erweise sich der Ruhm des göttlichen Helfers und umso glanzvoller der Sieg der Jungfrauen, vor allem wenn weibliche Schwachheit siege und männliche Stärke unterliege.26 Diese invertierte Hierarchie, die geltende Maßstäbe außer Kraft setzt, gehört zu den Grundprinzipien christlichen Glaubens. Im Alten Testament finden sich zahlreiche Geschichten, in denen das erwählte Volk wider alle Wahrscheinlichkeit dank göttlicher Hilfe gerettet wird. Im Neuen Testament werden diese Erfahrungen aufgegriffen und Leitlinien aufgestellt, die die übliche Rangordnung verkehren: So verkündet Christus, dass die Ersten einst die Letzten sein werden (Mt 19,30), und Paulus verklärt das Kreuz, das in den Augen der Welt als Torheit erscheint, als Zeichen des Heils (1 Cor 1,18–31).27 Vor diesem Hintergrund erhält auch die Genderthematik eine religiöse Bedeutung. Hrotsvith kontrastiert weibliche Schwäche mit männlicher Stärke, um das Paradox des christlichen Glaubens zu verdeutlichen.28 In der Praefatio zum Dramenbuch geraten demnach mehrere grundlegende Ambivalenzen der Rezeption von Erbauungsliteratur in den Blick: Zunächst beschreibt Hrotsvith das Begehren christlicher Leser nach ästhetisch ansprechender Literatur, was zu einer unseligen Konkurrenz von paganen und heiligen Schriften führt. Obwohl die Beschäftigung mit Terenz negative Folgen für das Seelenheil haben kann, erliegen fromme Rezipienten der Versuchung der schönen Form. Doch auch Hrotsviths dramatische Alternative bleibt nicht ohne Spannungen. Denn welchen Anteil die Jungfrauen an ihrem Triumph haben und inwiefern der göttliche Beistand sie vor dem Sündenfall bewahrt, bleibt letztlich ungeklärt. Zudem werden Sünden ausgemalt, die man besser nicht kennen sollte, um zu Buße und Besserung anzuhalten. Dabei ist nicht auszuschließen, dass die Darstellung der Sünden auf größeres Interesse stößt als die Bekehrung und der Aufruf zur Umkehr eine konträre Wirkung entfaltet. Die mittelalterliche Erbauungs­literatur geht in ihrer moralisch-paränetischen Funktion keineswegs auf. Bei der Untersuchung dieser Hypergattung ist daher eine ähnliche Entwicklung zu erwarten wie in der Spielforschung. Nachdem die geistlichen Spiele aus der engen Verklammerung mit der religiösen Didaxe gelöst worden waren, 26 Vgl. Opera, lib. II, praefatio, 5: […] quia quanto blandicię amentium ad illiciendum promptiores ∙ tanto et superni adiutoris gloria sublimior ∙ et triumphantium victoria probatur gloriosior presertim cum feminea fragilitas vinceret ∙ et virilis robur confusioni subiaceret. 27 Zur biblischen Inversionsfigur und ihrer Bedeutung in der Mystik vgl. auch Köbele, ›Erbauung‹, bes. S. 431 f. 28 Während Hrotsvith die Genderhierarchie verkehrt, stellt sie Statusunterschiede nie in Frage. Dies entspricht der strikt ständisch ausgerichteten Anlage des Gandersheimer Stifts, in das nur hochadlige Damen aufgenommen wurden. Vgl. Goetting, Art. ›Gandersheim. Kanonissenstift‹, Sp. 1102 f.

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öffnete sich der Blick für gegenläufige Rezeptionsmöglichkeiten.29 Ebenso bietet die Erbauungsliteratur verschiedene Interpretationsangebote, die ein Lesebegehren wecken können.

2. Poetisch-rhetorisches Begehren Wie das Rezeptionsinteresse weist auch die Autorschaftskonzeption in Hrotsviths Dramenbuch Brüche auf, die aus dem Spannungsfeld von göttlicher vs. menschlicher Urheberschaft erbaulicher Rede erwachsen. Eine fromme Lektüre muss ihre Autorität letztlich von Gott selbst herleiten, nicht aus dem Genius eines Menschen. Dies führt zu einem Ideal religiöser Autorschaft, bei dem fehlende Gelehrsamkeit als Authentizitätsbeweis verstanden wird. Je unfähiger ein Sprecher erscheint, umso wahrscheinlicher gilt, dass die Rede von Gott stammt. Die Bescheidenheitstopoi der antiken Rhetorik erhalten daher im christlichen Kontext eine zusätzliche Bedeutung:30 Sie sollen nicht nur das Wohlwollen der Rezipienten erregen, sondern auch den Glauben an den Inhalt einer Rede stärken. Für gelehrte Frauen stellt sich die allgemeine Legitimationsproblematik in verschärfter Weise. Sie müssen nicht nur das Verfassen religiöser Werke rechtfertigen, sondern ihre literarische Tätigkeit überhaupt legitimieren.31 Das paulinische Schweigegebot, mulier taceat in ecclesia (1 Cor 14,34), verbietet ihnen einerseits, in religiösen Angelegenheiten das Wort zu ergreifen. Andererseits liefert die christliche Wertinversion beste Argumente für weibliche Autorschaft: Wenn Gott im Schwachen mächtig ist, sind Frauen privilegierte Empfängerinnen göttlicher Rede. Diese Auffassung bildet meines Erachtens den Hintergrund von ­Hrotsviths Selbstbezeichnung ego Clamor Validus Gandeshemensis.32 Zwar spielt die Auto­ rin mit ihrem Namen, der sich in die Bestandteile hrot-swith zerlegen lässt

29 Diese Entwicklung lässt sich besonders an neueren Forschungspositionen zur Gewaltthematik ablesen. Während die grausamen Folterungen Jesu lange nur als Mittel zur Erzeugung von Compassio verstanden wurden, öffnete Warning den Blick für gegenläufige Rezeptionsmöglichkeiten. Vgl. Warning, Funktion und Struktur. Vgl. auch Müller, Das Gedächtnis des gemarterten Körpers im spätmittelalterlichen Passionsspiel; Eming, Gewalt im Geistlichen Spiel; Dietl, Schanze und Ehrstine (Hg.), Power and Violence in Medieval and Early Modern Theater. 30 Haug, Literaturtheorie, S. 22, erklärt, dass die traditionelle Formel, der Größe und Bedeutung eines Gegenstandes nicht gerecht werden zu können, in der christlichen Literatur zutiefst wahr werde. 31 Zu den Topoi weiblicher Schreiblegitimation vgl. Spanily, Autorschaft und Geschlechterrolle, S. 306–363. 32 Vgl. Opera, lib. II, praefatio, 3.

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und ruhmstark bedeutet.33 Doch erinnert die ›kraftvolle Stimme‹ zugleich an ­Johannes den Täufer und die alttestamentlichen Propheten, die im Namen Gottes zu Buße und Umkehr aufriefen.34 Hrotsviths Selbstvorstellung ist unterschiedlich interpretierbar und changiert zwischen dem Selbstbewusstsein einer starken Rednerin und der Ergebenheit einer Magd Gottes. Da eine Selbstaufwertung dem christlichen humilitas-Ideal widerspricht, fügt Hrotsvith ihrem Verkündigungsanspruch diverse Einschränkungen hinzu. Ihre zahlreichen Bescheidenheitstopoi beziehen sich zunächst auf die ambi­ tionierte Terenz-Imitation.35 Hrotsviths primäre Sorge gilt nicht der Unmöglichkeit, die Größe Gottes zu preisen, sondern den römischen Dramatiker angemessen nachzuahmen. Die Kritik, dass ihre Dramen kaum an das antike Vorbild heranreichten, nimmt die Gandersheimer Autorin selbst vorweg. Manche könnten ihr vorhalten, dass ihre Darstellung viel armseliger und karger ausfalle und nicht mit Terenz zu vergleichen sei.36 Eilfertig gibt Hrotsvith den imaginierten Kritikern recht und betont die eigene Bedeutungslosigkeit: Sie wolle nicht so kühn sein, sich mit jenen zu messen, die sie an Kompetenzen weit überträfen.37 Diese Entschuldigung lässt sich in gleicher Weise auf Terenz wie auf potentielle Kritiker beziehen. Hrotsvith übt sich im Gestus von Bescheidenheit und Demut und erweist sich darin sowohl als versierte Rhetorikerin als auch als Jüngerin Christi. Ausdrücklich beteuert sie, nicht so überheblich zu sein, sich auch nur mit dem geringsten Schüler solcher Meister vergleichen zu wollen.38 Ihre Demutsbekundung ist jedoch nicht als Bereitschaft zum Schweigen zu interpretieren, wie Hrotsvith unverzüglich klarstellt: Ihr alleiniger Wunsch sei 33 Vgl. Langosch, Nachwort, S. 53. Zu Hrotsviths Selbstverständnis vgl. Gössmann, Die Selbstverfremdung weiblichen Schreibens im Mittelalter, S. 194–197; Spanily, Autorschaft und Geschlechterrolle, S. 60–66. 34 Zur möglichen Anlehnung an die biblische Selbstaussage des Täufers, ego vox clamantis (Joh 1,23), vgl. Brown, Hrotsvit’s Apostolic Mission, S. 245; Dronke, Women Writers, S. 70; Spanily, Autorschaft und Geschlechterrolle, S. 65. 35 Zu Hrotsviths literarischer Verfahrensweise vgl. Cardelle de Hartmann, Kreative Imitation; Homeyer, ›Imitatio‹. – Zu den konkurrierenden imitatio-Begriffen in der Erbauungsliteratur allgemein, die sich teils auf rhetorische und ästhetische, teils auf moralische Aspekte beziehen, vgl. Weitbrecht, Imitatio und Imitabilität, S. 205. Zur Überlagerung von christlicher Nachfolge und literarischer Nachahmung vgl. auch de Rentiis, Die Zeit der Nachfolge. 36 Vgl. Opera, lib. II, praefatio, 6: Non enim dubito mihi ab aliquibus obici ∙ quod huius vilitas dictationis multo inferior ∙ multo contractior ∙ penitusque dissimilis eius quem proponebam imitari ∙ sit sententiis. 37 Vgl. Opera, lib. II, praefatio, 6: Concedo ∙ Ipsis tamen denuncio ∙ me in hoc iure reprehendi non posse ∙ quasi his vellem abusive assimilari ∙ qui mei inerciam ∙ longe praecesserunt in scientia sublimiori. 38 Vgl. Opera, lib. II, praefatio, 7: Nec enim tantę sum iactantię ∙ ut vel extremis me presumam conferre auctorum alumnis.

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es, das empfangene Talent gut einzusetzen.39 Hrotsvith bedient sich eines weiteren Topos, der ebenfalls biblische Wurzeln aufweist und sie zum Schreiben verpflichtet. Mit der Anspielung auf das Gleichnis von den geliehenen Talenten verdeutlicht sie, dass eine von Gott geschenkte Fähigkeit genutzt werden muss.40 Dieses Selbstverständnis steht in einer gewissen Spannung zum prophetischen Autorschaftskonzept schreibender Frauen. Hrotsvith führt ihre literarischen Fähigkeiten zwar auf einen metaphysischen Ursprung zurück, doch präsentiert sie sich nicht als Sprachrohr Gottes, sondern als Verwalterin eines anvertrauten Talents. Damit übernimmt sie Verantwortung für ihre literarischen Produkte und macht sich unabhängig vom Urteil anderer Menschen. Selbst wenn man sie tadle, werde sie nicht aufs Schreiben verzichten.41 Die literarische Nachahmung des Terenz stellt Hrotsvith als eine gottgewollte Tätigkeit dar, wohingegen sie ängstliche Zurückhaltung als Akt gottloser Eigenliebe entlarvt. Allerdings ist Hrotsvith vor einer anderen Form der Selbstbezogenheit nicht gefeit. Durch die Freude an dem, was sie selbst geschaffen hat, emanzipiert sie sich auch vom göttlichen Ursprung ihrer Rede.42 Dem allgemeinen Vorwort folgt ein Widmungsbrief an die namenlosen Gönner des Buches, gegenüber denen Hrotsvith die hierarchische Differenz betont.43 Sie charakterisiert ihre Adressaten als hochgelehrt, erfahren, großzügig und philosophisch hochgebildet, sich selbst hingegen bezeichnet sie als unwissend, wertlos und untüchtig. Den so errichteten Hierarchieunterschied macht Hrotsvith für ihr Dramenbuch fruchtbar. Sie beruft sich darauf, dass die hochgestellten Adressaten ihr Werk gelobt, sie als Autorin beglückwünscht und ihre – für eine Frau höchst ungewöhnlichen  – literarischen Fähigkeiten bewundert hätten.44 Während Hrotsvith in der Praefatio eine selbstbewusste und selbstbestimmte Autorposition einnimmt, betont sie in der Epistola die Notwendigkeit kritischer Förderung. Hrotsvith bietet einen Einblick in den Produktionsprozess ihrer Dramen; sie legt offen, dass sie von Rückmeldungen profitierte, und dankt ihren Adressaten für wichtige Anregungen. 39 Vgl. Opera, lib. II, praefatio, 7: sed hoc solum nitor ∙ ut […] supplici tamen mentis devocione acceptum in datorem retorqueam ingenium. 40 Vgl. Mt 25,14–30. Zu dem Exordialtopos, der Besitz von Wissen verpflichte zur Mitteilung, vgl. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 97 f. 41 Vgl. Opera, lib. II, praefatio, 8: Ideoque non sum adeo amatrix mei ∙ ut pro vitanda reprehensione Christi qui in sanctis operatur virtutem quocumque ipse dabit posse cessem praedicare. 42 Vgl. Opera, lib. II, praefatio, 9: Si enim alicui placet mea devotio ∙ gaudebo ∙ si autem ∙ […] nulli placet ∙ memet ipsam tamen iuvat quod feci ∙ – Nur bedingt wird dieser Anspruch durch die abschließenden Bescheidenheitstopoi gemindert, in denen Hrotsvith noch einmal ihre Unwissenheit hervorhebt und ihre Arbeit als minderwertig bezeichnet. 43 Vgl. Opera, lib. II, epistola eiusdem ad quosdam sapientes huius libri fautores. 44 Vgl. Opera, lib. II, epistola, 3 f.

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In diesem Widmungsbrief reflektiert Hrotsvith noch einmal die Ambivalenz religiöser Autorschaft, wobei sie von widerstreitenden Gefühlen berichtet. Einerseits freue sie sich aufrichtig über das von Gott verliehene Talent, mit dem sie ihn preisen könne, andererseits fürchte sie sich vor Anmaßung und Selbstüberschätzung ihrer poetischen Fähigkeiten.45 Da eine von Gott geschenkte Gabe weder vergeudet noch vorgetäuscht werden darf, befindet sich die Autorin in einem Dilemma. Dieses Dilemma entspricht der Grundproblematik theologischer Anthropologie, wird aber poetologisch spezifiziert. Wie religiöse Menschen einer grundlegenden Spannung zwischen Glauben und Zweifel, Hoffnung und Angst, Heilszuversicht und Heilssorge ausgesetzt sind,46 befindet sich die Autorin in einer Situation nicht zu bewältigender poetischer Unsicherheit zwischen Begnadung und Selbsterhebung. Hrotsvith setzt diesem literarischen Zweifel das Vertrauen in Gott und in religiöse Autoritäten entgegen. Nur dank der Gnade Gottes sowie der Förderung durch Lehrerinnen und Gönner hätte sie ihr Werk verfassen können.47 Da sie vom göttlichen Ursprung ihrer Fähigkeiten überzeugt ist, hält Hrotsvith es für ihre Pflicht, literarisch tätig zu sein. Sie formuliert ein poetisch-rhetorisches Schuldbekenntnis und beklagt, ihr von Gott verliehenes Talent durch eigene Trägheit und Untätigkeit vernachlässigt zu haben.48 Mit dieser Argumentation kehrt Hrotsvith das Legitimationsproblem weiblicher wie religiöser Autorschaft erneut um; ihr zufolge muss nicht das Schreiben, sondern das Schweigen gerechtfertigt werden. In den Paratexten zum Dramenbuch werden demnach mehrere Ambivalenzen der Produktion von Erbauungsliteratur ersichtlich.49 Die religiöse Rede steht in einem Spannungsverhältnis von göttlicher und menschlicher Urheberschaft, Schweigen und Sprechen, Hybris und Demut, Selbstanmaßung und Befähigung. Hrotsvith rechtfertigt ihr rhetorisch-poetisches Begehren, indem sie sich auf das von Gott verliehene Talent und eine Gebrauchspflicht beruft. Die Bedeutung weiterer Legitimationsinstanzen ist textsortenabhängig. Während 45 Vgl. Opera, lib. II, epistola, 6: Inter hęc diversis affectibus gaudio videlicet et metu in diversum trahor ∙ Deum namque cuius solummodo gratia sum id quod sum in me laudari cordetenus gaudeo ∙ sed maior quam sim videri timeo ∙ quia utrumque nefas esse non ambigo et gratuitum dei donum negare ∙ et non acceptum accepisse simulare. 46 Zu den beiden Polen der Erbauungsliteratur, dem »Aufbau von Heilszuversicht« und dem »Abbau des Zweifels an Heilszuversicht«, vgl. Köbele, Illusion, S. 374. 47 Vgl. Opera, lib. II, epistola, 4 und 8. Zur Bedeutung von Hrotsviths Lehrerinnen Rikkardis und Gerberga II . vgl. auch Opera, lib. I, praefatio; Düchting, Hrotsvit, Sp. 148. 48 Vgl. Opera, lib. II, epistola, 8: Perspicax quoque ingenium divinitus mihi collatum esse agnosco ∙ sed magistrorum cessante diligentia incultum ∙ et proprię pigricia inertię torpet neglectum. 49 Zu den verschiedenen Graden und Formen religiös inspirierter Autorschaft vgl. Cardelle de Hartmann, Kreative Imitation, S. 361–364. Zum Sonderstatus prophetischen Schreibens vgl. Meier und Wagner-Egelhaaf, Einführung, bes. S. 27–30.

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Hrotsvith im allgemeinen Vorwort ihre eigene Schaffensfreude genügt, billigt sie den Adressaten ihres Widmungsbriefs ein Mitspracherecht zu. Das Verhältnis zwischen göttlicher Redepflicht und menschlicher Approbation ist ebenfalls ambivalent. Hrotsvith schließt mit der Erklärung, ihr Dramenbuch nur wegen der Ermutigung ihrer Adressaten öffentlich freizugeben, und bittet um Prüfung und Verbesserung.50 Damit wechselt die Autorrolle von der talentierten, unabhängigen Schreiberin zur gelehrigen Schülerin. Obwohl Hrotsvith sich punktuell an die göttlich inspirierte Rede der Propheten anlehnt, dominiert die Vorstellung von Autorschaft als einem erlernbaren Handwerk, das der Korrektur bedarf.

3. Abrahams pastorales Begehren Wie das ästhetische Begehren der Rezipienten und das poetische Begehren der Autorin ist auch das Begehren der dramatischen Personen Spannungen ausgesetzt. Die männliche Hauptfigur, der Einsiedler Abraham, verfolgt ein dezidiert pastorales Anliegen. In der Exposition berichtet er seinem Mitbruder Ephrem von einer verwaisten Nichte, die er in seine Obhut nehmen will.51 Aus Sorge, der Glanz ihrer Schönheit könne vom Schmutz der Welt besudelt werden, will er das siebenjährige Mädchen aufziehen und sie zu einer Braut Christi machen. ­Abraham präsentiert sich als wohlmeinender geistlicher Vater, insofern er um seinen Schützling besorgt ist. Sein Wunsch erwächst aus einem negativen Weltbild, das durch einen Hell-Dunkel-Kontrast gezeichnet ist. Dem Glanz christlicher Reinheit steht der Schmutz weltlicher Freuden gegenüber, weshalb ein geistlicher Rückzug als beste Option irdischen Lebens erscheint. Gemeinsam suchen beide Eremiten, das junge Mädchen vom Keuschheitsideal zu überzeugen.52 Abraham apostrophiert Maria als geliebte Tochter und etabliert so ein hierarchisches Nahverhältnis, bevor er ihr eine Vermählung mit Christus empfiehlt: O adoptiva filia ∙ o pars animę Maria ∙ cede meis paternis monitionibus ∙ […] et nitere ∙ ut auctricem virginitatis ∙ quam ęquivoco aequiperas nomine ∙ imiteris et castitate ∙53 50 Vgl. Opera, lib. II, epistola, 11 f. 51 Das Gespräch der Eremiten ist in der hagiographischen Vorlage nicht vorhanden, entspricht aber der typischen Eingangskonstellation bei Terenz. Vgl. Newlands, Hrotswitha’s Debt to Terence, S. 374 f. 52 Wailes bewertet diese Exposition als sehr problematisch. Abraham kenne keine größere Gefahr als gelebte Sexualität und beschränke seine religiöse Erziehung darauf, Maria vor solchen Erfahrungen zu schützen. Vgl. Wailes, Spirituality, S. 165. 53 Abraham, II .1. Vgl. Werke, S. 226: »O Pflegetöchterlein, Teil meiner Seele, Maria, folge meinen väterlichen Ermahnungen […] und strebe danach, das Vorbild jungfräulicher Reinheit – du trägst seinen Namen – auch in der Keuschheit nachzuahmen.«

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Die beiden Einsiedler weihen Maria in das Geheimnis ihres Namens ein und appellieren, sie möge ihrer Namenspatronin in Jungfräulichkeit nacheifern. Wer wie die Gottesgebärerin heiße, dürfe sich nicht im Schmutz der Welt wälzen. Sie eröffnen dem Mädchen die Option, sich schon zu Lebzeiten dem Überirdischen anzunähern. Durch Keuschheit könne sie das Vergängliche hinter sich lassen, in den Himmel emporsteigen und ein engelgleiches Leben führen.54 In dem monastischen Werbegespräch wird die Ambivalenz von Vergänglichkeit und Unsterblichkeit, Schmutz und Reinheit, Körperlichkeit und Körperlosigkeit verhandelt. Mit Marias Zustimmung beschließen die Eremiten, ihr eine kleine Zelle in Abrahams Nähe zu bauen.55 Die freie Bewegung in der Weite des Himmels, die Maria in Aussicht gestellt wird, steht im Kontrast zu der engen Zelle, in die sie eingemauert wird. Den einzigen Zugang bildet ein Fenster, durch das Abraham das Kind in der Heiligen Schrift unterweisen will. Abrahams Wunsch scheint zunächst erfüllt, dann jedoch gescheitert. Anschaulich beschreibt der Eremit in der nächsten, zwanzig Jahre später spielenden Szene, wie er vergeblich an Marias Fenster klopfte. Furcht und Schmerz hätten ihn überwältigt, als er ihr Verschwinden bemerkte und erfuhr, dass sie sich der vanitas ergeben habe.56 Abrahams pastorales Begehren gewinnt durch Marias Flucht an neuer Intensität. Bedauernd kontrastiert er sein ursprüngliches, ideales Vorhaben mit dem aktuellen, defizitären Zustand: Diejenige, die er Christus als Braut versprach, besitzt viele andere Liebhaber. Um die verlorene Tochter zurückzugewinnen, ist Abraham zum zeitweiligen Verzicht auf seine Gelübde bereit. Er tauscht sein asketisches Gewand mit einer Rüstung, versteckt seine Tonsur unter einer Kopfbedeckung, nimmt ein Pferd und steckt Geld ein. In ­Gestalt eines Freiers (sub amatoris specie)  will er zu Maria gehen und sogar Fleisch und Wein konsumieren, damit seine Maskerade nicht auffällt. Ephrem lobt den Freund ausdrücklich für diesen Einsatz; die gute Intention erlaube, die strenge Mönchsregel zu lockern.57 Im Wirtshaus spielt Abraham seine Rolle überzeugend und täuscht vor, in Liebe zu der schönen Prostituierten entbrannt zu sein. Sein sexuelles Interesse 54 Vgl. Abraham, II.2–5. – Seit frühchristlicher Zeit gilt die Jungfräulichkeit als Möglichkeit, den verlorenen paradiesischen Anfangszustand wiederherzustellen und das Himmelreich vorwegzunehmen. – Zum christlichen Keuschheitsideal vgl. Brown, Die Keuschheit der Engel; Götz, Der geschlechtliche Mensch – ein Ebenbild Gottes, S. 80–92. 55 Vgl. Abraham, II .7.  – Auf die Problematik sozialer Isolation weist Wailes, Spirituality, S. 170–172, hin. 56 Vgl. Abraham, III .12–15. – Nach Wailes, Spirituality, S. 172–174, ist Abrahams emotionale Reaktion auch durch seine Mitverantwortung zu erklären. Nur weil er Maria nicht besser vorbereitet, aufgeklärt und beaufsichtigt habe, hätte sie überhaupt verführt werden können. Für Wailes’ These, auch Abraham mache eine Entwicklung durch und lerne aus seinen Erziehungsfehlern (ebd., S. 177), finden sich keine Anhaltspunkte im Text. 57 Vgl. Abraham, III .16 f.

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äußert er so deutlich, dass sich der Wirt über den Alten wundert und Hrotsvith beim Verfassen dieser Zeilen in Schamesröte versunken sein mag. Das Motiv der Überbietung vom Beginn des Dramas wird wieder aufgegriffen, aber ins Weltliche gewendet. Maria überstrahlt alle Frauen an erotischer Schönheit. Als Abraham seinen Schützling als Hetäre wiedersieht, muss er sich zusammenreißen, um nicht von Affekten übermannt zu werden. Er versteckt seine Trauer, heuchelt Freude und verlangt einen Vorgeschmack auf den Geschlechtsakt: da mihi osculum.58 Dieser Kuss wird zum synästhetischen Ereignis und löst bei Maria Bestürzung aus. Was sie bislang als Ausdruck sexueller Begierde und Wollust erlebte, lässt in ihr die Erkenntnis von Heiligkeit und Keuschheit aufblitzen. Von dem verkleideten Eremiten geht ein Wohlgeruch aus, der Maria an ihr früheres Leben erinnert.59 Abraham lässt die junge Frau nicht lange zur Besinnung kommen, will er doch sein Vorhaben nicht durch vorzeitige Reue gefährden. Sein wahres Anliegen verkehrend, verlangt er die Erfüllung seiner Wünsche. Nicht um ihre Sünden zu beweinen, sondern um mit ihr zu schlafen, sei er gekommen.60 Seine Identität enthüllt Abraham erst, nachdem die Tür zum Liebeslager verriegelt ist. Während Maria noch glaubt, der alte Mann wolle ihre erotischen Dienste in Anspruch nehmen,61 legt dieser seine Verkleidung ab und gibt sich zu erkennen. Väterlich spricht Abraham sie als geliebte Tochter an und erinnert an ihre Vermählung mit Christus: O adoptiva filia ∙ o meę pars animę Maria ∙ agnoscisne me senem ∙ qui te paterno more nutrivi ∙ qui te cęlestis regis unigenito desponsavi?62

In einer Art Beichtgespräch sucht Abraham den Grund ihres frevelhaften Verhaltens und ihres religiösen Falls herauszufinden. Detailliert erkundigt er sich, was geschehen sei, wer sie verführt habe und wo ihre Keuschheit geblieben sei. In diesem religiösen Verhör konfrontiert er Maria mit dem, was sie verloren hat,63 um sie erneut für ein geistliches Leben zu gewinnen. 58 Abraham, VI.2. 59 Vgl. Abraham, VI.3: Quid sentio? quid stupendę novitatis gustando haurio? Ecce odor istius flagrantię praetendit flagrantiam mihi quondam usitate abstinentię. 60 Vgl. Abraham, VI.5: Non ut tua tecum peccata plangerem adveni ∙ sed ut tuo iungerer amori. 61 Maria antizipiert den Sexualakt, indem sie Abrahams Blick auf das Bett als Ort der Liebesvereinigung lenkt. Das biblische ecce homo wird zu einem lasziven ecce triclinium verkehrt. Vgl. Abraham, VII .1: Ecce triclinium ad inhabitandum nobis aptum ∙ ecce lectus haut vilibus stramentis compositus. 62 Abraham, VII .2. Vgl. Werke, S. 233: »O Pflegetochter, Teil meiner Seele, Maria! Erkennst du mich, den Greis, der dich väterlich betreute und dich dem eingeborenen Sohn des Himmelskönigs weihte?«– Abrahams Worte stimmen weitgehend mit seiner ersten Ansprache von Maria überein, doch wird die Intensität durch die Hinzufügung des Possessivpronomens (o meę pars animę) gesteigert. 63 Vgl. Abraham, VII .3–5.

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Mit seiner eindringlichen Argumentation gelingt es Abraham schließlich, seinen Schützling von der Möglichkeit zur Umkehr und Buße zu überzeugen, indem er sein eigenes Verhalten instrumentalisiert. Er hält Maria vor Augen, dass er nur für sie die vertraute Klause verließ, die Mönchsregel vernachlässigte, am Gastmahl teilnahm und scherzte statt zu schweigen. Abraham machte sich mit den Sündern gemein, um Maria heimzuholen.64 Damit signalisiert er seiner Nichte einerseits, wie wichtig sie ihm ist. Andererseits hat er sich durch seinen Aufenthalt im Bordell selbst befleckt und überbrückt so die Kluft zwischen Sündern und Heiligen, Jungfrauen und Prostituierten, Eremiten und Freiern, die Maria für unüberwindbar hielt. Sie weiß seine Mühen zu schätzen und deutet ihre Geschichte rückblickend mit Hilfe des biblischen Narrativs des guten Hirten.65 Dass Hrotsvith nicht das Gleichnis vom verlorenen Sohn, sondern vom guten Hirten heranzieht, verleiht Abrahams pastoralem Begehren besonderes Gewicht. In gewisser Weise ist der maskierte Eremit auch ein Sinnbild für ihr eigenes literarisches Schaffen. Hrotsvith verleiht hagiographischen Stoffen eine andere Gestalt, kleidet sie in ein schönes sprachliches Gewand und benutzt die Form paganer Klassiker, um das Keuschheitsideal zu propagieren.

4. Marias imitatives Begehren Wie sich Abrahams pastorales Begehren auf Maria richtet, so erwidert und spiegelt diese seine religiöse Leidenschaft, indem sie ihn imitiert. Zu Beginn des Dramas wird Maria als kleines Mädchen eingeführt, das sich leicht für die asketische Bewegung gewinnen lässt. Nachdem die Eremiten die Vorteile einer Vermählung mit Christus in leuchtenden Farben geschildert haben, stimmt das Kind sofort zu. Es will das Irdische verachten, um himmlische Freuden zu genießen.66 Ungeachtet des Willens, keusch wie ein Engel zu leben, bleibt Maria aber ein fehlbarer Mensch. Die Grundspannung religiösen Lebens, dass Gläubige trotz bester Vorsätze scheitern können, wird an ihrem Sündenfall vor Augen geführt. Wie sich Maria bei der Entscheidung für die Jungfräulichkeit von ihrem Onkel beeinflussen ließ, so wird auch ihr Verstoß gegen das Keuschheits64 Vgl. Abraham, VII .8. 65 Vgl. Abraham, VII .15: Tuum est pater amande ut ad instar boni pastoris ∙ praecedas repertam ovem ∙ et ego paribus incedens vestigiis ∙ subsequor praecedentem – Abraham macht diesem Vergleich alle Ehre: Er lässt die reuige Sünderin auf seinem Pferd zurückreiten und läuft selbst neben her. – Wiethaus arbeitet heraus, wie stark Hrotsviths Weiblichkeitskonzept von patriarchalen Maßstäben geprägt ist; ihre Heldinnen müssen sich allesamt männlichen Autoritäten unterordnen. Vgl. Wiethaus, Pulchrum Signum? bes. S. 135. 66 Wailes, Spirituality, S. 167, bemerkt treffend, dass die Szene nach lebensweltlichen Handlungsmustern konzipiert sei: »a young child will try to please its elders«.

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gelübde einem äußeren Einfluss zugeschrieben. Abraham berichtet, dass ein heuchlerischer Mönch erst als Beichtvater Marias Vertrauen errang und sie dann zur Flucht veranlasste.67 Zum zweiten Mal gelingt es einer geistlich-väterlichen Autorität, die junge Frau zur Erfüllung eigener Wünsche zu bewegen. Marias Geschichte zeigt die Ambivalenz religiöser Gefolgschaft. Imitatives Begehren kann für das Seelenheil förderlich sein, wenn es sich an frommen Menschen orientiert. Wird es aber von Sündern oder gar teuflischen Verführern bestimmt, führt dies zum Heilsverlust. Problematisch ist, dass sich beide Gruppen nicht immer voneinander unterscheiden lassen. Wie sich mancher Beichtvater erst im Nachhinein als falscher Mönch erweisen mag, kann sich unter der Gestalt eines Freiers auch eine geistliche Autorität verbergen. Ebenso stellt sich bei einem begabten Autor erst später heraus, ob er christliche Leser mit der schönen Form seiner Sprache in Versuchung geführt und zur Sünde verleitet hat. Hrotsviths Wissen um die Imitabilität des Begehrens erklärt wohl, weshalb sie Marias Verführung nur im Botenbericht darstellte. Die Dramatikerin wollte vor allem zeigen, wie Keuschheit standhaft verteidigt wird. Zwar lernen ihre Leserinnen an Marias Beispiel, sich vor asketischer Überheblichkeit und Heilsgewissheit zu hüten und wachsam zu bleiben. Doch erfahren die Rezipienten nur von der potentiellen Verführbarkeit aller Menschen, erhalten aber keine Anleitung zur Verführung von Jungfrauen. Auf der Erzählebene des Dramas erweist sich Abrahams Ideal als normativ. Sobald Maria ihr Vergehen bewusst wird, bereut sie ihr Handeln zutiefst.68 Weil sie die langjährige Unterweisung des Onkels verinnerlicht hat, löst ihr sexueller Fehltritt eine Identitätskrise aus. Die junge Frau klagt, nicht mehr jene zu sein, die sie gewesen sei. Alles Wachen, Beten und Fasten scheint vergeblich. Statt in Reue zu verharren und Beistand bei Abraham zu suchen, stürzt Maria in tiefe Verzweiflung. Sie meint, ihr Seelenheil durch eigenes Verschulden verspielt zu haben, und gibt sich dem weltlichen Leben hin. Ihre Verhaltensweise ist in den Augen anderer so verwerflich, dass es kaum auszusprechen ist.69 Marias Prostitution wird freilich nicht damit begründet, dass sie Gefallen am Verkehr mit Männern gefunden hat und von sexueller Lust erfüllt ist. Vielmehr orientiert sich die junge Frau auch bei ihrem Weltleben ganz an der Leidenschaft anderer. Deutlich wird die mimetische Anlage ihres Begehrens bei der Begegnung mit Abraham. Als der vermeintliche Freier ihre Dienste beanspruchen will, erklärt sich Maria sofort dazu bereit: Quicumque me diligunt ∙ ęqualem amoris 67 Vgl. Abraham, III .4. – Köbele, Illusion, S. 376, stellt heraus, dass Weltflucht und Weltleben in der Legende eng zusammenhängen. Jede noch so radikale Abkehr erzeuge eine entsprechende Gegenbewegung. Der Heilige sondere sich ab, doch die Welt komme zu ihm. 68 Vgl. Abraham, III.5 f. – Bemerkenswerterweise bleibt diese Deutung Abraham vorbehalten. 69 Dem namenlosen Freund, der Maria in Abrahams Auftrag aufgespürt hat, kommt ihr Aufenthaltsort nur schwer über die Lippen: Quia dictu miserabile ∙ (Abraham, IV.2).

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vicem a me recipiunt.70 Zwar wird sie kurzzeitig vom heiligen Wohlgeruch des Alten aus der Fassung gebracht, doch lässt sie sich schnell wieder auf das ero­ tische Spiel ein. Nachdem Abraham ihre reuevollen Klagen für unpassend erklärt und sexuelle Freuden gefordert hat, verspricht Maria die Erfüllung seiner Wünsche. Ihr Begehren steht in einem Spiegelverhältnis zu dem ihrer männlichen Bezugspersonen. Nur bei der Anagnorisis findet Maria zeitweilig keinen Haltepunkt mehr, an dem sie sich orientieren kann. Abraham konfrontiert sie mit ihrem religiösen Normbruch, der die größte metaphysische Fallhöhe zur Folge habe. Mit dem Verzicht auf das engelgleiche Leben sei sie aus der Höhe des Himmels in die Tiefe der Hölle gestürzt.71 Abrahams Verabsolutierung der Keuschheit, die Maria internalisiert hat, war jedoch ausschlaggebend für ihre Flucht: Als Sünderin wagte sie nicht, ihm in seiner Heiligkeit zu nahen.72 Marias Scheu gegenüber Abraham offenbart die Ambivalenz von Heiligkeit, die sowohl eine integrierende als auch eine exkludierende Wirkung auf Sünder ausüben kann. Die Begegnung mit Heiligen kann Menschen einerseits veranlassen, Zuflucht zu ihnen zu suchen und auf ihre Fürsprache zu hoffen, andererseits ihr Schuldbewusstsein vergrößern und die eigene Sündhaftigkeit unerträglich werden lassen. Diese Spannung zwischen Schuldbewusstsein und Erlösungsglauben tariert Hrotsvith in ihrem Drama genau aus. Verantwortlich für ihre Verführung macht Maria nicht etwa den falschen Mönch, sondern den Teufel, der schon die ersten Menschen zu Fall gebracht habe.73 Ihre Furcht, als unkeusche Braut Christi keine Vergebung finden zu können, erklärt Abraham für unberechtigt. Kein Mensch, ausgenommen der menschgewordene Gottessohn, sei ohne Sünde, katechetisiert er. Marias Fall und Verzweiflung setzt Hrotsvith auch performativ in Szene. Getroffen von der Mahnung, Sünden zu begehen sei menschlich, darin zu verharren aber teuflisch,74 stürzt Maria zu Boden. Ihr Fall verweist zeichenhaft auf ihren Abfall vom keuschen Leben, woraufhin der geistliche Vater ihr die Absolution erteilen kann. Abraham fordert seine Nichte auf, sich zu erheben, doch diese wird noch immer von Affekten bestimmt; Angst und Schuldbewusstsein hindern sie am 70 Abraham, VI.2. Vgl. Werke, S. 232: »Wer mir Liebe schenkt, von mir gleiche Liebe empfängt.« 71 Vgl. Abraham, VII .4: cum velut lapsa ab altitudine cęli ∙ dimersa es in profundum inferni? – Kuhn, Programm, S. 188, bietet eine genderdifferenzierende Interpretation ihres Sündenfalls. Während für männliche Christen das schlimmste Vergehen darin bestehe, ein Bündnis mit dem Teufel zu schließen, sei es für Frauen der tiefste Fall, ihre Jungfräulichkeit zu verlieren. 72 Vgl. Abraham, VII .5: Postquam lapsa in peccatis corrui ∙ tuę sanctitati polluta proximare non praesumpsi. 73 Vgl. Abraham, VII .3. 74 Vgl. Abraham, VII .6: Humanum est peccare ∙ diabolicum est in peccatis durare.

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Aufstehen. Selbst als Abraham seine Liebe betont und appelliert, sie möge ihre Furcht aufgeben, bleibt Maria gehemmt: Nequeo.75 Nicht einmal die Augen wagt sie zu heben, weil sie sich so schuldig fühlt. Marias Erstarrung und Handlungsunfähigkeit zeigen, dass ihr Verstoß gegen das Keuschheitsgelübde längst von einer größeren Sünde überlagert ist: Die desparatio drückt sie zu Boden und hält sie von einer conversio ab.76 Am religiösen Tiefpunkt ist Maria nicht angelangt, weil sie die Leidenschaft zahlreicher Liebhaber stillt, sondern weil sie selbst keinerlei Begehren mehr empfindet. Erst als es Abraham gelingt, ihr religiöses Begehren neu zu wecken, wirkt sich die Begegnung mit dem Heiligen heilsam auf Maria aus. Er fordert sie auf, den Kairos der Gnade zu nutzen, erklärt die Verzweiflung für die schlimmste Sünde und verspricht, ihre Schuld mitzutragen.77 Wie zu Beginn des Dramas macht Maria schließlich den Wunsch des Onkels zu ihrem eigenen. Sie übernimmt wieder die Rolle der gehorsamen Tochter und ist bereit, in ihre Zelle zurückzukehren. Ausdruck ihrer willigen Unterordnung ist, dass Maria Abraham ihren erarbeiteten Besitz übereignet. Er solle entscheiden, was mit ihrem Gold und ihrer Kleidung zu geschehen habe.78 Ein zweites Mal wird der Rückzug aus der Welt durch den Verzicht auf materielle Güter eingeleitet. Das – aus religiöser Perspektive – höchst erfreuliche Ende spiegelt sich in Himmelsbild und Tageszeit, als das ungleiche Paar beim Anbruch des neuen Tages gemeinsam aufbricht.79 Das traditionelle Motiv vom Ende einer Liebesnacht wird religiös überformt und durch die Morgenröte an die Bedeutung von Marias Namen erinnert. Die junge Frau zeigt sich vom liebevollen Verhalten ihres geistlichen Vaters tief berührt und will künftig nur noch nach dem Willen Gottes leben. Am Ende des Wirtshausdialogs kann es Maria nicht schnell genug gehen: Sie will den Ort ihrer Sünde sofort verlassen und in ihr altes Leben zurückkehren.80 Nach dem Abschied vom Bordell wird Maria jedoch erneut mit ihrem Sündenfall konfrontiert. Der Anblick der verlassenen Zelle löst bei ihr Angst und Bestürzung aus, weil sie an den Verlust ihrer Keuschheit erinnert wird.81 Abraham bestärkt sie in dieser Furcht und weist ihr einen neuen Aufenthaltsort im Inneren der Zelle zu. Eine erneute Verführung soll durch restriktivere Maßnahmen 75 Abraham, VII .7. – Zu den Spannungen im Konzept von Heiligkeit, das zwischen Aktivität und Passivität changiert, vgl. Köbele, Illusion, S. 376 und 396. Der Protagonist einer Legende dürfe einerseits nur als passiver Held seine virtus zeigen, andererseits werde von ihm mehr als reine Hingabe, nämlich ein klarer Entschluss zur Umkehr verlangt. 76 Mehrfach werden die Worte desperare und desparatio verwendet, vgl. Abraham, VII.9–11. 77 Vgl. Abraham, VII .11 f. 78 Vgl. Abraham, VII .14. 79 Vgl. Abraham, VII .15. 80 Vgl. Abraham, VII .17. 81 Die vorherige Begegnung im Liebesgemach wird gespiegelt, indem nun die Zelle statt dem Bett fokussiert wird. Abraham fordert seinen Zögling auf: Ecce tua deserta cellula ∙ (Abraham, VIII .1).

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unterbunden werden. Maria wird zum zweiten Mal in die Klause eingeführt, nun allerdings in einen Raum, der keine Begegnung mit der Welt mehr ermöglicht. Gehorsam setzt Maria alle Vorgaben um, wie Abraham abschließend Ephrem berichtet. Sie führt das Leben einer Büßerin, trägt ein härenes Gewand, wacht, fastet und kasteit ihren Leib. Durch ihre Reue wandelt sich Maria von einem negativen zu einem positiven Exempel. Während sie vorher andere zum Verderben führte, gilt sie nun als Vorbild für religiöse Umkehr.82 Ausdrücklich betont Abraham den beispielhaften Charakter ihres Verhaltens, was sich in den affektiven Reaktionen aller Rezipienten ihrer Geschichte spiegle. Ihre Klagen und ihre Buße träfen jene, die davon hörten, ins Herz.83 Marias Sündhaftigkeit und Vorbildlichkeit stehen nach Ansicht der Eremiten in einem reziproken Verhältnis. Eine conversio verdiene umso mehr Lob, je weniger sie zu erwarten gewesen sei; je unreiner Maria früher gewesen sei, umso strahlender erscheine sie jetzt.84 Als Vorbild für religiöse Umkehr kann Maria nun selbst imitatives Begehren wecken – innerhalb wie außerhalb des Dramas.85 In meinem Beitrag habe ich die Bedeutung des Begehrens in Hrotsviths Dramenbuch herausgearbeitet und verschiedene Formen des Begehrens identifiziert: Ein Begehren ist nicht nur der entscheidende Antrieb für Abrahams Suche nach der verlorenen Tochter und Marias Bekehrung, sondern auch für ­Hrotsviths Rezeption paganer Klassiker und ihre Dramenproduktion. Rezeptionsästhetische und rhetorisch-poetische, pastorale und imitative Interessen, die sich systematisch unterscheiden lassen, greifen auf synchroner Ebene ineinander und überlagern sich. Hrotsviths »Abraham« zeigt exemplarisch, dass die Ziele der Erbauungsliteratur nicht nur in Bestärkung, Tröstung und Unterweisung bestehen. Neben der Festigung im Glauben und der Vergegenwärtigung des Heils geht es vielmehr darum, das Begehren nach Gott und einem engelgleichen Leben zu wecken und zu stärken. Lässt das religiöse Begehren nach, verschiebt es sich auf ein weltliches Objekt oder kommt gänzlich abhanden, gerät das Seelenheil in Gefahr. Marias Fall demonstriert, dass der heillose Zustand der

82 Vgl. Abraham, IX .4: Elaborat pro viribus ut quibus causa fuit perditionis ∙ fiat exemplum conversionis. 83 Vgl. Abraham, IX .3: Quisquis eius lamenta intellegit ∙ mente vulneratur ∙ quisquis compunctionem sentit ∙ et ipse conpungitur. 84 Vgl. Abraham, IX .4: Nititur ut quanto extitit foedior ∙ tanto appareat nitidior. 85 Das Leben von (Sünder-)Heiligen bleibt letztlich inkommensurabel, doch besteht ihre Imitabilität im frommen Streben. In der Legendarik erhalten Gläubige keine Handlungsanweisung, wie sie selbst zu Heiligen werden können, sondern das imitative Begehren soll zur Triebkraft frommen Handelns werden.  – Zur Beispielhaftigkeit von Heiligen und der Wirkkraft hagiographischer Texte vgl. Weitbrecht, Imitatio, bes. S. 207–209; Strohschneider, Weltabschied. – Zum Werbungszweck und Propagandaaspekt von Konversionserzählungen allgemein vgl. Riesebrodt, Cultus und Heilsversprechen, S. 211–226.

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Verzweiflung nur überwunden werden kann, wenn das religiöse Begehren neu entfacht ist. Die Kategorie des Begehrens ist nicht nur für Hrotsviths Dramenbuch, sondern für die Erbauungsliteratur insgesamt relevant. Der christliche Glaube basiert auf der Vorstellung von einer grundlegenden Defizienz menschlicher Existenz, was ein Begehren nach Heil und Heiligkeit, Vollkommenheit und Vervollständigung hervorruft. Ursprung dieses Begehrens ist die grundsätzliche Differenz zwischen Mensch und Gott, Immanenz und Transzendenz, die von Gläubigen als Mangel erfahren wird und auch auf Seiten des biblischen Gottes immer neue Bemühungen zur Überwindung dieser Kluft hervorbringt. Paradigmatisch in Szene gesetzt ist die unstillbare Sehnsucht von Gott und Mensch in den ersten Kapiteln des Buches Genesis: Das menschliche Begehren manifestiert sich im Wunsch, Gott möglichst ähnlich zu sein, der in den Sündenfall mündet. Das göttliche Begehren hingegen äußert sich im Bangen des Schöpfers um sein Geschöpf und kulminiert im Ruf »Wo bist du?« (Gen 3,9). Dieses wechselseitige Begehren bildet die produktive Ursache allen Redens von und mit Gott und schlägt sich auch im Ringen um eine angemessene religiöse Sprache nieder. Die Erbauungsliteratur reagiert auf das nie endende Suchen nach Wegen zum Heil, ohne die theologisch-anthropologischen Ungewissheiten je ganz rhetorisch oder narrativ bewältigen zu können. Die Spannungen im Konzept des Erbaulichen resultieren meines Erachtens aus der dialektischen Struktur dieses Begehrens und sind der christlichen Poetik wie der theologischen Anthropologie inhärent. Erbauungsliteratur sollte daher auch, so mein Resümee, als Literatur religiösen Begehrens gelesen werden.

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Susanne Spreckelmeier (Münster)

Erbauung und Zweifel in Marien Himmelfahrt-Versdichtungen

Zweifel ist in der biblischen Erzählung – man denke nur an die Apostel Petrus und Thomas – vielfach Voraussetzung für Gewissheit, die Figur der Zweifelsüberwindung zugleich die Figur der Glaubensfestigung. Wird ›Erbauung‹ als Bestärkung im Glauben gefasst,1 die auf Glaubensgewissheit abzielt,2 dann liegt nahe, dass jene wesentlich auf der Auseinandersetzung mit Zweifeln, mithin auf ›Vereindeutigungen‹ basiert.3 Das mittelalterliche Konzept des ›Erbaulichen‹ ist 1 Der vor allem durch Paulus geprägte Begriff von ›Erbauung‹ (aedificatio) im Neuen Testament zielt auf »die von Gott und Christus ausgehende, von den Aposteln und Propheten, von den Christen untereinander und von jedem einzelnen Gemeindemitglied beim Nächsten und bei sich selbst zu befördernde, als dauernder Prozeß gedachte und besonders im Kultus geschehende Mehrung und Stärkung der Gemeinde Christi und des Glaubens des Einzelnen als eines Gliedes der Gemeinde« ab (Krummacher, Art. ›Erbauung‹, Sp. 601). Vgl. auch die Definition von ›Erbauungsliteratur‹, die Susanne Schedl und Dietz-Rüdiger Moser ansetzen: Es handle sich um »Literatur, die dem Christen zur Bekräftigung im Glauben, zur Vergegenwärtigung der Heilsgeschichte und zur Anleitung in christlicher Lebensführung dienen will« (Schedl und Moser, Art. ›Erbauungsliteratur‹, S. 484). 2 Vgl. Hbr 11,1: est autem fides sperandorum substantia rerum argumentum non parentum. 3 Der semantische Kern von mhd. zwîvel bezeichnet eine Ungewissheit der Geltung in Bezug auf eine Mehrzahl von Optionen, das Schwanken »zw[ischen] mindestens zwei einander konträr oder kontradiktor[isch] entgegengesetzten Urteilen« (Mojsisch, Art. ›Zweifel‹, Sp. 718), und damit eine gewisse Unfähigkeit des Entscheidens (im Sinne einer Vereindeutigung). Im BMZ wird unterschieden zwischen (1) einer allgemeinen (eher unpersönlichen) Ungewissheit und der Unfähigkeit, eine Entscheidung über eine Wahrheit zu treffen, (2) einer »peinliche[n] ungewisheit, unfähigkeit zu entscheiden was man thun oder lassen soll«, (3) einem besorgten Zweifeln in der Nähe des Verzweifelns, (4) dem »gegentheil von beharrlichkeit […]. synonyme ausdrücke sind wanc, unstæte, untriuwe, verzagetheit« sowie schließlich (5) Rechtstermini in Schuldverfahren (Lemma ›zwîvel‹, in: BMZ 3 [1861], S. 959–961). Vgl. zur Thematik des Zweifels zudem das Kapitel »Semantische Beobachtungen zu ›Zweifel‹ im Mittellateinischen und Mittelhochdeutschen«, in: Weltecke, »Der Narr spricht: Es ist kein Gott«, S. 296–309; Lorenz, Art. ›Zweifel‹, Sp. 1520–1527, sowie Beiner, Art. ›Zweifel. I. Systematisch-theologisch‹, S. 767–772. – In der mediävistischen Forschung zur höfischen Literatur werden in Bezug auf die Thematik des Zweifels insbesondere die Eingangsverse des »Parzival« Wolframs von Eschenbach diskutiert (vgl. z. B.  Haug, Das literaturtheoretische Konzept Wolframs von Eschenbach im ›Parzival‹-Prolog, v. a. S. 159–167); auch im »Tristan« Gottfrieds von Straßburg ist die Thematik in Bezug auf den

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dabei in das Spannungsfeld der zwischen Wahrheit und Form vermittelnden christlichen Ästhetik eingeschrieben und mit der (ästhetisch) bearbeitenden Vermittlung von Offenbarung verbunden, die sich einer Vielzahl von »Risiken« und »Spannungen«4 aussetzt. ›Erbaulich‹ ist, so könnte man aus der Perspektive des Zweifels formulieren, was Zweifel ausräumt, Gewissheiten begründet und den Glauben an die Offenbarung stärkt – gleichzeitig erscheint der erzählerische Gegenstand der Erbauung vielfach narrativ wie rhetorisch verdichtet und komplexisiert, eine »anschauliche Darbietungsweise« stützt die sprachliche Vermittlung »erbauliche[r] Intentionen«.5 Eine paradoxe Konfiguration tritt dabei im Besonderen hervor: Die Ausräumung des Zweifels bedarf des Zweifels – durch die Ausstellung und Überwindung von Zweifel stellt sich eine ›Erbaulichkeit‹ des Erzählens ein, die eine schlichte Ausgrenzung des Zweifels, die Darstellung idealer Glaubensgewissheit (vgl. das Beispiel Abrahams in Rm 4,20 f.), nicht in gleichem Maße zu erzielen vermag. Im Folgenden soll am Beispiel von Konrads von Heimesfurt »Unser vrouwen hinvart« und der anonymen »Rheinfränkischen Marien Himmelfahrt« dem Zusammenhang zwischen der narrativen Darstellung von Zweifel und dem erbaulichen Effekt bibelepischen Erzählens von Tod und Himmelsaufnahme Mariens nachgegangen werden. Die früheste Traditionslinie von mittelalterlichen volkssprachlichen Marien Himmelfahrt-Versdichtungen6 greift auf den apokryphen lateinischen Bericht »Transitus Mariae B« (in den Fassungen B1 und B2) des Pseudo-Melito von Sardes zurück, der vermutlich im Ausgang des 6. Jahrhunderts entstanden ist und das »im Abendland am weitesten verbreitete Apokryph vom Tod und der Aufnahme Mariens« darstellt.7 Der »Transitus Mariae B« setzt an der Überantwortung am Kreuz nach Io 19,25–27 an und berichtet dann von den letzten Erdentagen Mariens, von der verkündigungsanalogen Ankündigung ihres Todes durch einen

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Zweifel des Marke und die Konstitution von Minne relevant, vgl. hierzu Dröse, Scham und Zweifel, v. a. zum Zweifel S. 161–163. Vgl. zum Erbauungsbegriff mit einem Forschungsüberblick Köbele, ›Erbauung‹ – und darüber hinaus; vgl. zum weiteren Spannungsfeld ›erbaulichen‹ Erzählens Köbele, Die Illusion der ›einfachen Form‹. Brückner, Thesen zur literarischen Struktur des sogenannt Erbaulichen, S. 502. Zu den Traditionslinien volkssprachlicher Marien Himmelfahrt-Versdichtungen, die auf den »Transitus Mariae« des Pseudo-Melito (Fassungen B1 und B2), die »Vita beate virginis Marie et salvatoris rhythmica« sowie das Assumptio-Kapitel der »Legenda Aurea« des Jacobus de Voragine zurückgehen, vgl. Kern, Art. ›Marien Himmelfahrt (deutsche Versdichtungen)‹, Sp. 1270–1276 mit dem Nachtrag in 2Verfasserlexikon 11 (2004), Sp. 968–969. Die Datierung ist umstritten. Vgl. für eine Edition und Aufarbeitung der Fassung B2 Haibach-Reinisch, Ein neuer »Transitus Mariae« des Pseudo-Melito, hier S. 32. Vgl. zur spezial- und interdiskursiven Rezeption des Transitus-Narrativs demnächst meine Dissertationsschrift »Bibelepisches Erzählen vom ›Transitus Mariae‹ im Mittelalter. Diskurshistorische Studien«.

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Engel und schließlich vom Tode Mariens im Kreise der Apostel. Nach der Aufnahme ihrer Seele umsorgen die Apostel den heiligen Leichnam und bereiten den Leichenzug vor. Nachdem der Zug von einem Übergriff durch Juden gestört wurde, setzen die Apostel den Leib in einem Grab bei. Christus trifft nach drei Tagen am Grab ein und berät mit den Aposteln über das Schicksal Mariens. Das Urteil fällt auf die leibseelische Aufnahme, die umgehend ins Werk gesetzt wird. Die Seele wird in den Leib zurückgegeben und letzterer erweckt – beides vollzieht sich im »Transitus B«, dies ist eine Besonderheit in der lateinischen »Transitus«-Tradition, noch auf Erden. Die Apostel werden im »Transitus B« Augenzeugen der leibseelischen Aufnahme. Der Bericht schließt mit der gemeinsamen Auffahrt Christi und Mariens in den Himmel.8

1. Vom Zweifel zur Begnadung: Zur Thomas-Episode in Konrads von Heimesfurt Unser vrouwen hinvart Konrad von Heimesfurt bearbeitet den lateinischen Bericht in der Fassung B29 im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts nach den Maßstäben höfischen Erzählens10  – seine Bearbeitung wird den bekanntesten Werken höfischer Literatur beigeordnet.11 Konrad sucht den Anschluss an höfische Literatur der Zeit nicht nur rhetorisch-stilistisch, sondern auch durch konzeptionelle Eingriffe. Er rahmt den apokryphen Bericht zum einen durch einen metapoetischen Pro- und Epilog, zum anderen durch den Kontrast von irdischem (Mit)Leid und himmlischer Freude über die Aufnahme und fügt der Erzählung darüber hinaus Handlungselemente hinzu, die der lateinische »Transitus B2« nicht aufbietet: Neben ausschmückenden Exkursen in der Haupthandlung, die auf eine ästhetische 8 Vgl. für den Text der Fassung B2 Haibach-Reinisch, Ein neuer »Transitus Mariae«, S. 63–87. 9 Vgl. zum Nachweis der Fassung B2 als Hauptquelle Konrads Hoffmann, Konrad von ­Heimesfurt, S. 23–33 sowie Haibach-Reinisch, Ein neuer »Transitus Mariae«, S. 260–271. 10 Zur Orientierung Konrads an der »höfischen Literatursprache« (vor allem Hartmanns von Aue) Hoffmann, Konrad von Heimesfurt, hier S. 8; zur ästhetischen Überformung des Stoffs bei Konrad vgl. Köbele, Die Ambivalenz des Gläubig-Schlichten; vgl. auch Masser, Bibel- und Legendenepik des deutschen Mittelalters, S. 100. 11 Eine solche ›Beiordnung‹ vollzieht sich zum einen in der literarischen Reflexion von Zeitgenossen, zum anderen tritt sie in Überlieferungssymbiosen zutage. Konrad von Heimesfurt wird so im Dichterkatalog des »Alexander« Rudolfs von Ems hinter Heinrich von Veldeke, Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach und Gottfried von ­Straßburg eingereiht (vgl. Rudolf von Ems, Alexander, V. 3189–3191). Die Eingliederung der ­Hinvart in den für die höfische Literatur bedeutenden Codex Sangallensis 857 (im Übrigen gemeinsam mit Konrads von Fußesbrunnen »Kindheit Jesu«) belegt die »Einbeziehung religiöser Erzählungen in den Benutzungsrahmen höfischer Geselligkeit und adlig orientierter Sammeltätigkeit« (zu Überlieferungssymbiosen von Marien- und Jesus-Dichtungen Henkel, Religiöses Erzählen um 1200 im Kontext höfischer Literatur, hier S. 19).

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Durchformung des Stoffes abzielen, sind dies im Abschluss der Dichtung der höfische Einzug des herrscherlichen Brautpaars in den Himmel, die Verbindung der Himmelsaufnahme mit einem Descensus Christi ad inferos und eine Episode um den zu spät kommenden Apostel Thomas, der die Assumptio ­Mariae in Analogie zum neutestamentlichen Zweifel an der Auferstehung Christi durch seine Augenzeugenschaft und den Empfang des Gürtels Mariens bestätigt. Sowohl die ­ icodemi« geErgänzung eines Descensus, wie er im apokryphen »Evangelium N schildert wird,12 das Konrad in seinem zweiten Werk »Diu Urstende« bearbeitet, als auch die Beglaubigung durch den Apostel Thomas setzen das AssumptioGeschehen um Maria in enge Verbindung mit der Himmelfahrt und der Auferstehung Christi. Das Anliegen einer analogisierenden Engführung zeigt bereits der lateinische »Transitus B«  – durch die Eingliederung der ThomasEpisode verstärkt Konrad nun den Eindruck, dass an Maria als Exemplum der vorzeitigen leibseelischen Erlösung das christologische Zentralereignis noch einmal in Form eines Gnadenaktes vollzogen wird. Als Vorlage zumindest struktureller Art kommt hinsichtlich der abschließenden Anfügung der Thomas-Episode unter den lateinischen Transitus-Berichten nur der vermutlich im 7. Jahrhundert im ägyptischen Raum entstandene und in Textzeugen ab dem 13. Jahrhundert überlieferte »Transitus« des Pseudo-­Joseph von Arimathäa in Betracht.13 In der bereits im Kerngeschehen abweichend vom »Transitus B« gestalteten Pseudo-Joseph-Schrift fungiert die Episode des zu spät hinzueilenden und schließlich im Besonderen begnadeten Thomas als Kompensation der fehlenden Augenzeugenschaft der Apostel: Gleißendes Licht verhindert in diesem Bericht die Schau der Aufnahme des Leibes durch Engel. 12 In den Hss. Z und E des »Transitus B2« folgt das »Evangelium Nicodemi« (Gesta Salvatoris, quae invenit imperator Theodosius) dem »Transitus Mariae«, vgl. Haibach-Reinisch, Ein neuer »Transitus Mariae«, S. 57 f. 13 Eine Auflistung der mittelalterlichen Textzeugen bietet Mimouni, Dormition et assomption de Marie, S. 289, Anm. 123, der für eine Entstehung im 7. Jahrhundert aufgrund der Nähe zu koptischen Transitus-Texten und aufgrund von Ähnlichkeiten mit dem »Pseudo-Matthäusevangelium« argumentiert (vgl. ebd., S. 293 mit Anm. 135). Hoffmann, Konrad von Heimesfurt, S. 33–35, setzt die Pseudo-Joseph-Schrift als weitere Quelle der »Hinvart« an. Dabei zieht er zwei Möglichkeiten in Betracht: Konrad könnte entweder die ganze Schrift oder einen »Transitus B2 -«Textzeugen gekannt haben, der um die Episode des zu spät kommenden Thomas nach dem »Transitus« des Pseudo-Joseph von Arimathäa ergänzt worden ist. Ein solcher Fall ist mit der B2-Hs. P4 belegt (vgl. hierzu Haibach-Reinisch, Ein neuer »Transitus Mariae«, S. 58). – Vgl. für den Text: [Pseudo-Joseph von Arimathäa:] Transitus Mariae A. De Transitu beatae Mariae virginis, S. 113–123, die Thomas-Episode findet sich S. 119,17–121,15 (zitiert nach Seite und Zeile). Von Tischendorf hält den »Transitus«, dessen Verfasser sich als Joseph von Arimathäa ausgibt, für älter als den »Transitus Mariae B« des Pseudo-Melito, den er ebenfalls ediert, und ordnet der Pseudo-Joseph-Schrift aus diesem Grund den Buchstaben »A« zu. Deshalb wurde der Text als »Transitus A« bezeichnet, was bisweilen zu Verwechslungen mit einem von Antoine Wenger edierten »Transitus A« führt; auf diese Bezeichnung wird deshalb hier verzichtet.

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Thomas, aus India zurückkehrend, wird als einziger der Apostel Augenzeuge der leibseelischen Himmelsaufnahme und ruft der Aufstrebenden die Bitte um ihren Segen nach. Er erhält daraufhin ihren Gürtel, der zu ihm herabgeworfen wird, und trifft auf die Apostel. Petrus – noch in Unkenntnis über die besondere Erfahrung des Thomas – findet in der (hier als notorisch gesetzten) incredulitas des Thomas den Grund, weshalb Gott ihn nicht an der Begleitung des Marien­ todes und ihrem Begräbnis habe teilhaben lassen: Vere semper durus et incredulus fuisti, quia pro incredulitate tua non placuit deo ut esses nobiscum ad sepeliendam matrem salvatoris14 – der in der Perikope um den ungläubigen Thomas in Io 20,19–29 eröffnete Kontrast von incredulus / fidelis scheint hier deutlich durch. Thomas entschuldigt sein damaliges Verhalten und erfragt schließlich den Verbleib des Marienleibes. Während die Apostel auf das Grab verweisen, gibt Thomas an, dass sich der Leib dort nicht befinde. Petrus ruft daraufhin erneut den Zweifel des Thomas am Bericht von der Auferstehung Christi in Erinnerung,15 Thomas jedoch hält an seinem nur vermeintlich duplizierten Zweifel fest. Erzürnt öffnen die Apostel das Mariengrab: Den Leib finden sie nicht. Thomas berichtet nun erst von seiner Augenzeugenschaft und zeigt den Gürtel, den die Apostel als Bestandteil des Leichenkleides erkennen, als Beweis, woraufhin die Mitapostel den Begnadeten um Verzeihung bitten. In Konrads »Hinvart« hingegen, in der die Apostelschar das Geschehen der Himmelsaufnahme verfolgt, kommt der Thomas-Episode eine veränderte Funktion zu und, wie zu zeigen ist, erfordert die sinnvolle Eingliederung in das Erzählen eine aufwendige Umgestaltung der Szene,16 die auch hier über die narrative Einbettung des kanonischen Zweifels des Thomas an der Auferstehung Christi erreicht wird. In der »Hinvart« sind die Apostel nach dem Brautzug des himmlischen Paares – Dô diz allez was geschehen (Hinv., V. 1053)17 – im Begriff sich zu zerstreuen, und wieder an die Orte ihrer Predigt zurückzukehren, von denen sie zur Begleitung des Marientodes auf wundersame Weise entrückt worden sind. Konrads Dichtung könnte hier ihren Abschluss finden, doch der Aufbruch der Apostel wird unterbrochen: wâ! dort her îlende quam / der nôtgestallen einer (Hinv., V. 1060 f.). Thomas kommt hinzu und wird von den übrigen Aposteln mit einem süezen schalle (Hinv., V. 1066) empfangen. Unter Verweis auf die Augenzeugenschaft der Apostel wird das Geschehen, das der Hinzueilende ver14 Pseudo-Joseph von Arimathäa, Transitus, S. 120,6–9. 15 Ebd., S. 120,15–19: Tunc ait beatus Petrus ad eum [Thomam, Spre]: Iam alia vice resurrectionem nostri magistri et domini credere noluisti nobis, nisi digitis tuis palpares et videres; quomodo credes nobis ut corpus sanctum hic esset? 16 Vgl. Hoffmann, Konrad von Heimesfurt, S. 33; vgl. hierzu schon Haibach-Reinisch, Ein neuer »Transitus Mariae«, S. 274–277. 17 Ich zitiere nach Konrad von Heimesfurt, Unser vrouwen hinvart. Das Werk wird im Folgenden mit Hinv. abgekürzt.

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passt hat, zusammengefasst – man vergleiche das kanonische vidimus Dominum (Io 20,25).18 Thomas trifft der Vorwurf der Unbeständigkeit – dû bist uns gar ze wilde; / swâ wir sîn, dâne bist dû niht (Hinv., V. 1084 f.). Aus der Perspektive der Mitapostel wiederholt sich hier der Zweifel des Thomas an der Auferstehung Christi, obschon Thomas ihren Bericht nicht in Frage stellt: diz gelîchet der geschiht, diu dir wîlen ê geschach, dô er uns den zwîvel brach sîner heiligen urstende. (Hinv., V. 1086–1089)

Diese ›Rückblende‹ wird im Folgenden als geschiht in der Geschichte umgesetzt,19 wobei zunächst die Apostel aus ihrer Sicht vom Erkennen des Auferstandenen berichten, auch hier der Vorwurf nû herre, wâ wære dû dô? (Hinv., V. 1096), und Thomas selbst schließlich das Ereignis um seinen Unglauben und sein ›Begreifen‹ zu Ende erzählt. In die auf strukturelle Umrisse reduzierte ­Adaption der Thomas-Episode nach der Pseudo-Joseph-Schrift wird somit wiederum die biblische Geschichte des ungläubigen Thomas eingebettet. Die Apostel erklären, Christus an seinen Wunden an Seite, Händen und Füßen erkannt zu haben (vgl. Io 20,20),20 woraufhin Christus ausgesprochen habe: »nû seht daz ich ez bin« (vgl. Hinv., V. 1094 mit Lc 24,39a: videte manus meas et pedes quia ipse ego sum). Thomas sei zu spät hinzugekommen und habe dann dem Bericht der Mitapostel keinen Glauben geschenkt.21 Der Zweifler bestätigt das damalige Geschehen, ›ir saget mir wâr, / leider! ich bin vil laz […]‹ (Hinv., V. 1102 f.), und erzählt im Anschluss von der Gnade Gottes, die ihm durch seine Erfahrung zuteilwurde. Der Bericht greift die Perikope des Johannesevangeliums, vor allem die Passage Io 20,26–28, mehrfach auf: ir wizzet wol, in churzer zît dô ich in mit iu allen sach [vgl. Io 20,26] und er zuo mir einem sprach: »Thômâ, tuo dîn zwîvel hin und sich daz ich es selbe bin, recke dînen vinger her« [vgl. Io 20,27], – dô greif ich dâ im mit dem sper 18 Die »Vulgata« wird zitiert nach: Weber und Gryson (Hg.), Biblia sacra. – Vgl. insg. Hinv., V. 1070–1081. Hinv., V. 1079–1081: dô chuhte er [Christus, Spre] si, daz sâhe wir, / und fuor selbe mit ir / ze vrônhimelrîche. 19 Vgl. insg. Hinv., V. 1086–1131. 20 et hoc cum dixisset ostendit eis manus et latus | Gavisi sunt ergo discipuli viso Domino. 21 ›[…] dô wart dir alles des verjehen / des wir dâ hêten gesehen. / des gelouptest uns dû niht umb ein hâr‹ (Hinv., V. 1099–1101).

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diu sîte was durchstochen, mit nageln durchbrochen hende und füeze. sîn genâde was sô süeze daz er mich si grîfen liez und mich güetlîchen hiez daz ich nû geloubic wære und den zwîvel gar verbære [vgl. Io 20,27]. des vreute ich mich und sprach alsus: »dominus meus et deus meus [vgl. Io 20,28], dû bist mîn herre und mîn got.« (Hinv., V. 1106–1122) Et post dies octo iterum erant discipuli eius intus et Thomas cum eis venit Iesus ianuis clausis et stetit in medio et dixit pax vobis | deinde dicit Thomae infer digitum tuum huc et vide manus meas et adfer manum tuam et mitte in latus meum et noli esse incredulus sed fidelis | Respondit Thomas et dixit ei Dominus meus et Deus meus (Io 20,26–28).

Das Erkennen Christi (die Aufgabe des zwîvel) und des Dogmas (das geloubicWerden) fallen bei Konrad wie im johanneischen Bericht zusammen. Insbesondere in der Wiedergabe der Jesus-Worte, die im »Transitus« des Pseudo-Joseph von Arimathäa vollständig fehlen, greift Konrad auf den neutestamentlichen Bericht zurück. In der »Hinvart«, die Ungläubigkeit und Zweifel engführt – eine wörtliche Entsprechung zu zwîvel (etwa dubitatio, dubitare) bietet die »Vulgata« hier nicht22 –, schließt sich nun der Bericht des Thomas von seiner Zeugenschaft der Himmelsaufnahme Mariens an. Er habe die Himmelsaufnahme gehört und gesehen und darüber hinaus den Gürtel Mariens als Beweiszeichen erhalten: […] ich hôrte manigen süezen dôn ûzer dem berge ze Syôn und sach wünne überchraft, dô diu himelischiu herschaft der engel chüniginne enphie. dise gürtel si ir enphallen lie, dâ mite ich ez bewæren sol. (Hinv., V. 1137–1143)

Da dem Bericht des Thomas kein Zweifel am Assumptio-Geschehen vorausgeht, muss in der zuvor installierten neutestamentlichen ›Rückblende‹ eine narrative 22 Vgl. aber im Kontext von Jesu Gang auf dem Wasser (Mt 14,22–34) den von Jesus attestierten Zweifel des Petrus: et continuo Iesus extendens manum adprehendit eum et ait illi modicae fidei quare dubitasti (Mt 14,31).

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Inszenierung von Zweifel und im Bericht des Thomas eine reine Bestätigung der Himmelsaufnahme erkannt werden: Die in kanonischer Analogisierung inszenierte Zweifelsüberwindung erscheint ohne konkreten Zweifel als reine Beglaubigung im Gewand der spannungsreichen Erzählung. Die verschachtelte Ergänzung antizipiert einen Zweifel am Assumptio-Geschehen, der in der »Hinvart« selbst nicht explizit artikuliert wird. Die Thomasfigur, geradezu die Personifikation des Zweifels, löst allein durch ihre Präsenz die Unterstellung erneuten Zweifels aus, obschon sie in diesem Fall nicht zweifelt. Die von Thomas empfangene Gürtelreliquie,23 die mit den Händen begriffen werden kann, fungiert als Pendant zur haptischen Erfahrung der Wunden Christi. Petrus könne, so fährt Thomas fort, den Gürtel erkennen, denn er selbst habe ihn dem Marienleib angelegt – hier ist Konrad wieder ganz bei der ­Pseudo-Joseph-Schrift. Das Totengewand der Maria sei nun durch ein Engelsgewand ersetzt worden:24 Der Gürtel ist damit nicht nur Urkunde der Zeugenschaft, sondern auch Symbol der Überwindung des Todes, indem sich Maria dieses Bestandteils ihres Totenkleides entledigt. Die Beurkundung der Assumptio – die Mitapostel erkennen, daz er in die wârheit / mit urchünde hæte geseit (Hinv., V. 1153 f.) – wird als Begnadung des Thomas verstanden, den Gott vor ihnen allen ausgezeichnet habe.25 Der als notorischer Zweifler Gezeichnete wird zum Begnadeten, das Versäumnis als gottgewirkter Plan zur Ehrentat: Konrad stellt das Schauendürfen des Thomas sowohl in Bezug auf die Himmelfahrt Christi als auch die Himmelsaufnahme Mariens in den Vordergrund. Die von den Mitaposteln im Eingang der besprochenen Passage als Vorwurf formulierte ›Wildheit‹ bzw. Unbeständigkeit des Thomas (dû bist uns gar ze wilde, Hinv., V. 1084) erscheint nach der Aufdeckung der Prädestination ›domestiziert‹, gezähmt; die Episode um den zu spät kommenden Apostel wird mit einem Gebet an Gott, der sô wilden herzen zame (Hinv., V. 1168), abgeschlossen. 23 Die Gürtelreliquie wird seit dem 12. Jh. in Prato, in der Nähe von Florenz, aufbewahrt. Daneben kennt die Ostkirche ein Fest der Gürtelübertragung; auch in Byzanz existiert eine eigene Legendentradition. Teile des in Konstantinopel verehrten Mariengürtels ­haben (neben weiteren Belegen im Abendland) Eingang in den Aachener Heiltumsschatz gefunden (vgl. hierzu Tschochner, Art. ›Gürtel Mariae‹, S. 54). Die Gürtelspende wird ­darüber hinaus zu einem eigenen Bildtypus der Assumptio-Ikonographie. Schiller erkennt in der Gürtelspende Mariens eine motivische Analogie »zu Elias, der bei seiner Himmelfahrt den Prophetenmantel Elisa zuwarf« (Schiller, Ikonographie der christlichen Kunst, S. 88). Die Gürtelspende ist vor allem in Italien ein beliebtes Bildmotiv. Vgl. zu Gürtelreliquie und -spende auch Gerhardt und Reinhardt, Madonnas Erdenblick. 24 Vgl. Hinv., V. 1144–1150. 25 Vgl. hier auch das Sprichwort, das die Apostel an Thomas verwirklicht sehen: swen got fürdern wil, / dem er ganzer êren gan, / daz sich der niht versûmen chan (Hinv., V. ­1164–1166). Zum Sprichwort und zur Bedeutung von genâde in der Thomas-Episode vgl. Hoffmann, Konrad von Heimesfurt, S. 74.

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Resümiert man die Orientierung Konrads am »Transitus« des Pseudo-Joseph von Arimathäa auf der einen und am kanonischen Bibeltext auf der anderen Seite, so wird Folgendes deutlich: Konrad setzt den Bericht über die Augenzeugenschaft des Thomas nicht wie die Pseudo-Joseph-Schrift zu Beginn der Szene ein. Zudem wird, anders als im apokryphen Bericht, eine Zusammenfassung der Geschehnisse von den Aposteln vorgetragen, worin eine Annäherung an den Bericht des Thomaszweifels im Johannesevangeliums zu erkennen ist – ob der Zweifel des Thomas dupliziert wird, wird somit in der »Hinvart« zunächst spannungsreich in der Schwebe gehalten: Wird Thomas dieses Mal glauben oder erneut zweifeln? So steht zunächst die Augenzeugenschaft der Apostel (und der Rezipienten), die erst im Nachhinein von der besonderen Schau des Thomas erfahren, im Kontrast zum säumigen Nachzügler. Auch hinsichtlich der Begnadung des Thomas durch den Empfang des Gürtels entfernt sich Konrad vom »Transitus« des Pseudo-Joseph von Arimathäa: Dort nämlich fordert Thomas explizit ein Zeichen ein, in der »Hinvart« wird es ihm ohne Bitten zuteil. Während die Pseudo-Joseph-Schrift auf einen engen Anschluss an die Perikope des Johannesevangeliums verzichtet, wird in der »Hinvart« durch die angefügte Thomas-Episode nicht nur die Analogie zwischen christologischem und mariologischem Dogma gesucht, sondern auch durch die Anknüpfung an die Erscheinung Christi im Kreise der Jünger, die als Ereignis in churzer zît figuriert wird, der apokryphe Transitus-Stoff eng mit kanonischem Geschehen verbunden.

2. Von der Glaubens- zur Heilsgewissheit: Zur Inszenierung des Zweifels in der »Rheinfränkischen Marien Himmelfahrt« Die 1258 oder 1269 im Raum Mainz entstandene »Rheinfränkische Marien Himmelfahrt« eines unbekannten Verfassers erzählt – wie Konrad von Heimesfurt in »Unser vrouwen hinvart« – die »Assumptio Mariae« nach der Vorlage des »Transitus Mariae B2« des Pseudo-Melito.26 Die Versbearbeitung, die zumindest vordergründig rhetorisch-stilistisch Anschluss an höfisches Erzählen sucht,27 weist im Vergleich zum lateinischen Bericht eine Vielzahl von Einschüben, Auslassungen und Zusätzen auf, die sich vor allem im Beginn und Abschluss verdichten. Besondere Anliegen der Schrift sind die Eingliederung der abschließend vollzogenen leibseelischen Himmelsaufnahme Mariens in einen bereits mit dem Prolog eröffneten und bis zu Adam und Eva zurückreichenden heilsgeschichtlichen Rahmen sowie die Herausstellung der heilsindividuellen 26 Vgl. zum Nachweis der Abhängigkeit Haibach-Reinisch, Ein neuer »Transitus Mariae«, S. 239–259. 27 Vgl. Norman, Notes on a Middle High German ›Marien Himmelfahrt‹.

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Bedeutung der Einsetzung der höchsten Fürsprecherin. Kennzeichnend ist der Zug der direkten Ansprache der Rezipienten, die im Kern auf den Nachvollzug der marianischen Christus-Beziehung in Leid, Freude und Minne abzielt und in der abschließenden Aufforderung im Epilog zur Abkehr von allem Weltlichen kulminiert. Die ›Wahrheit‹ der leibseelischen Aufnahme, die in Konrads höfischem Entwurf durch die Anfügung der Thomas-Episode Bestätigung erfährt, wird in der geistlichen rheinfränkischen Mariendichtung vorausgesetzt: Die Auseinandersetzung mit möglichen Zweifeln bezieht sich hier nicht auf das Gesamtgeschehen der Himmelsaufnahme, sondern auf die Gewissheit über die endliche Verkehrung von irdischem Leid in himmlische Freude, demonstriert am Beispiel marianischen Mitleidens und idealisierter Christusnachfolge. Wie ein roter Faden durchzieht die Narration der Dualismus von Freude und Leid in der Erfahrung Mariens. Zum einen werden Umschlagpunkte der Gefühlslagen rhetorisch markiert, zum anderen wird die Ambivalenz des Geschehens ausgestellt, das stets freudvoll und leidvoll zugleich ist. Eine erste Gelegenheit zur komplexisierenden Ausformung bietet sich der »Rheinfränkischen Marien Himmelfahrt« zu Beginn der Haupterzählung: Wie auch der »Transitus Mariae B2« setzt die rheinfränkische Dichtung mit der Stabat mater-Szene ein. Während der lateinische Bericht über den Textbestand von Io 19,25–27 kaum hinausgeht, wählt die Versdichtung eine Intensivform religiöser Anteilnahme dialogischer Struktur. In einer ausführlichen Marienklage (RMH, V. 231–360)28 betrauert Maria das Schicksal ihres Sohnes. Sie resümiert dabei nicht nur das Passionsgeschehen, sondern reflektiert auch ihre eigene Situation. Die Aufforderung dv vf din ovgen vn̄ sich / mich armen Marien (RMH, V. 310 f.) scheint sich über die Anrufung Christi hinaus auch an die Rezipienten zu wenden. Die Dichtung leitet im Anschluss an die Klage, die bereits durch ihren visuellen Schwerpunkt die Rezipienten die wechselseitigen Blicke zwischen Christus und Maria einnehmen lässt, zum meditativen Nachvollzug des marianischen Leidens im Herzen an: swer nu die iamerberende not vn̄ die swere herzeser dez kindez vn̄ der mvter her wil wiszen, wie die were do die vil rvwebere mit iamers ovgen weide sach ir einiges kint verscheiden bit solicher wunden smerzen, der denke insime herzen wi ime zv mvde were 28 Ich zitiere nach Marien Himmelfahrt. Hg. von Weigand und kürze den Werktitel mit RMH ab.

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zv svlcher herze swere, obime daz leit geschehe daz er vor sinen ovgen gesehe sin kint in solichen noden so iemerliche doden vn̄ moht doch ime kein helfe dvn. (RMH, V. 364–379)

Die Rezipienten der »Rheinfränkischen Marien Himmelfahrt« werden damit durch das Ausgreifen des Erzählers in die Perspektive Mariens präsentisch einbezogen, obschon gleichzeitig die Inkommensurabilität der Beziehung zwischen Christus und Maria herausgestellt wird, die sich menshen herze vn̄ sin (RMH, V. 386) entzieht. Was hier bereits als offerierte Option innerlich-geistlicher Erbauung erscheint, bleibt jedoch in seiner Ausrichtung auf den Nachvollzug des Leidens noch uneindeutig, ›ungelenkt‹. Hinzu tritt notwendig die Perspektive der endlichen Erlösung, der Auflösung des Leides in Freude, die Maria in der Dichtung in Aussicht gestellt wird und die in ihrer Glaubensgewissheit, die sie von den Jüngern unterscheidet, eine Reflexionsfolie findet. Aus der Momentaufnahme der Passion resultiert der Glaubenszweifel der Apostel, die aus Angst vor den Juden fliehen – man vergleiche in der Rückschau auf die Thematik der Thomas-Episode auch Io 20,19.29 Maria hält in größter Verunsicherung am Glauben fest: aller selden vrhab, Maria, folgit ime indaz grab, daz sie sich nie von ime schiet dvrch angest vor der Jvden deit. groz angest doch die apostel tvanc, daz sie mit zvivel worden cranc an deme gelovben algemeine. sie flvhen alle, wen aleine die reine maget ivnge. irs herzen vestenvnge trvc dez gelovben sterke svnder zvivel merke der deme gelovben dede schach. (RMH, V. 404–416)

angest und zvivel werden in einen kausalen Zusammenhang gestellt: Während der Glaube im Herzen Mariens einen sicheren Grund findet, unbehelligt von 29 Cum esset ergo sero die illo una sabbatorum et fores essent clausae ubi erant discipuli ­propter metum Iudaeorum […]. Vgl. auch Io 20,26.

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Zweifeln, die dem Glauben zusetzen, schwächt der in angest begründete zvivel der Apostel ihre Glaubensgewissheit. Erst durch den zvivel wird ein Entscheiden zwischen Beständigkeit und Flucht eröffnet. Mit der Bezeichnung des Herzensgrundes Mariens als vestenvnge liegt dabei eine ähnliche Verschränkung der Bedeutungsdimensionen vor wie im Begriff der aedificatio.30 Damit wird die Zielrichtung des einfühlenden Nachvollzugs der Rezipienten in der rheinfränkischen Dichtung mit einem an Maria exemplifizierten Ideal der unerschütterlichen Glaubensgewissheit und -festigkeit verbunden. Maria offenbart sich in der geistigen Nachfolge als wahre Verwandte Jesu im Sinne der Verwandtenperikopen des Neuen Testaments.31 Es ist vor allem Mariens vorzeitiges Wissen um das Evangelium, das zvivel vollständig ausschließt. Durch ihre Glaubensgewissheit wird sie zum leidestap der Apostel: sie wiste daz alleine waz kvnftecliche solde irgan, wie ir svn solde irstan. sie wiste ovch wol sin himel vart dvrch daz an ir bevesten wart dez gelovben vrhab. sie waz der ivngeren leidestap: ir aller gelovbe an ir bestvnt: die gotes craft was ir wol kvnt. (RMH, V. 419–427)

Im Wissen um die Auferstehung und die Himmelfahrt Christi ist Maria durch eindeutige Gewissheit der zweifelnden Ungewissheit der Jünger enthoben. Die Heilsgeschichte erscheint so als Verkettung eröffneter Zukunftsperspektiven – bereits durch die Verkündigung, die (wie überhaupt prophetisches Sprechen) mit der produktiven Spannung von Gegenwart und Zukunft im Zuge der Exposition zukunftsrelevanten Wissens arbeitet, ist Maria die Perspektive auf die Heilsgeschichte eröffnet worden. Ihre Gewissheit wirkt wiederum bestärkend und ›erbauend‹ auf den Glauben zurück (bevesten). Ebenso wird, nachdem den Jüngern durch die Auferstehung Christi der Zweifel genommen und selbige zur Predigt in die Welt gesandt wurden, in der Figurenrede Mariens die Stärke im Glauben unter besonderer Betonung des Nicht-Zweifelns ausgestellt. Als Maria die Sehnsucht nach ihrem Sohn überkommt, befürchtet sie, dass er sie, nun von den Aposteln verlassen, indisem ellende (RMH, V. 527) vergessen habe. Eilig wird 30 Vgl. zur Baumetaphorik und den korrespondierenden Bildfeldern Scholtissek, Art. ›Erbauung. I. Im Verständnis der Schrift‹, Sp. 738 f. 31 Vgl. Mc 3,31–35 und Parallelstellen mit RMH, V. 417 f.: dez volgete sie ime alles nach, / die getrvwe vn̄ ovch die reine.

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der Klage die Versicherung der Glaubensfestigkeit angeschlossen: nv virzvivelt ich doch nie / an dinen svnlichen trvwen (RMH, V. 532 f.); auch bekräftigt Maria: min gelovbe waz ie veste / andiner heren godeheit (RMH, V. 536 f.). Die Versicherung mündet schließlich in einem Glaubensbekenntnis: ich weis wol daz din mensheit / amme crvce doch irstarb, / vn̄ doch din gotheit nit virdarb […] (RMH, V. 538–540).32 Auf diese Weise schafft die rheinfränkische Dichtung ein Doppeltes: Sie provoziert die Einübung des Credos und inszeniert die Figur der Maria als Ideal der Glaubensgewissheit. Daneben zeigt auch eine sich der Verkündigung des Todes an Maria anschließende Ansprache der Rezipienten durch den Erzähler, dass sich Erbauung in dieser Mariendichtung vor allem durch Arbeit am Zweifel vollzieht: Wer sich nun frage, ob der Tod für Maria ein freudiges oder ein leidvolles Ereignis sei, der werde nun Gewissheit erlangen. Dem Erzähler kommt die Funktion des bescheidens zu: dez kvnde ich vch wol bescheiden / den zvivel von den beiden (RMH, V. 993 f.). Selbige changiert damit zwischen der Wiedergabe der wahren Geschichte und der gewissermaßen aus dem Text greifenden geistlichen Seelsorge. Wiederum wird eine Uneindeutigkeit, basierend auf der Dichotomie von Freude und Leid, die Ausdruck in mehreren Sentenzen erfährt, die sinnbildlich für die Erwartungshaltung der Rezipienten stehen könnten, im Rekurs auf die Glaubensgewissheit Mariens vereindeutigt. Am Ende überwiegt im antithetischen Abschluss der Passage die Freude, die, geschöpft aus glaubensbasiertem Zukunftswissen, das Mitleiden der Passion überwindet: dvrch daz kvnfticliche heil wart ir frovde ein michel teil merre dvrch daz ewige leben dan ir trvrens mohte geben dez dodez kvrzes ende in disem ellenden. (RMH, V. 1019–1024)

Die unbedingte Zuversicht wird in der Ausrichtung auf daz ewige leben vom immanenten Erfahrungsraum gelöst. Im Epilog der »Rheinfränkischen Marien Himmelfahrt«, der sich wiederum direkt an die Rezipienten wendet, wird diese Priorisierung auf das Weltliche rückprojiziert. Der Epilog der Dichtung differenziert unter dem Leitwort minne33 zwischen weltlicher auf der einen und Marien- wie Gottesminne auf der anderen Seite. Im Gewand höfischer Dichtung 32 Vgl. auch RMH, V. 715–719, im Rahmen des Gebets Mariens auf dem Ölberg: min gelovbe ist noch vil stete, / dez ich ie gelovben hete, / daz dv bist ein gewarer got / vn̄ dine craft vn̄ din gebot / nieman mac gewenden. 33 Vgl. die Passage RMH, V. 1771–1844.

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wird der Geltungsanspruch des literarischen Entwurfs Hoher Minne abgetragen und auf die Minne zu Maria übertragen. Weltliche Minne wird als Produzentin unendlichen Leides gegen zweifelhaften Lohn ›enttarnt‹: svs ist dir von minnen bereit / gein eime liebe dvsent leit.34 Wiederum fungiert der Erzähler als Wegweiser zwischen zwei Optionen. Das Verspielen des Seelenheils ist die arme zvvirsiht des Menschen, der sich auf weltliche Liebe einlässt: Alsvs virdinet ir hi vn̄ dort dez libes vn̄ der selen mort. daz ist die arme zvvirsiht, ey, selic mensche, dv so niht: laz von der minne die dich lat svnder helfe svnder rat, vn̄ minne da dv wirdes gewert alles des din herze gert an aller slahte leide, als ich dich wol bescheide. (RMH, V. 1693–1702)

Der Aufforderung zur Abkehr folgt eine Beschreibung dessen, zu dem sich der Rezipient hinwenden soll: zur hohe[n] werde[n] minne (RMH, V. 1705) der leibseelisch aufgenommenen Himmelskönigin Maria. Auch Minne wird als Beziehungsmodell mit möglicher zweifacher Referenz (Welt / Gott) der Vereindeutigung zugeführt; dementsprechend eindeutig fällt die (im Vergleich zum literarischen Modell umfassend gewährte)  ›Gegenminne‹ Mariens aus: swer si minnet den minnet sie (RMH, V. 1710). Während Marienminne eine über die Wechselfälle weltlicher Minne erhabene Zweifelsfreiheit in Aussicht stellt, wird letztere als der Erbauung entgegengesetzte Selbstdestruktion abqualifiziert. Die Vorstellung der leibseelischen Präsenz Mariens am himmlischen Thron und ihrer Einflussnahme auf göttliches Entscheiden35 überführt im Abschluss der rheinfränkischen Dichtung die exemplarisch ausgestellte Glaubensgewissheit Mariens in ein über ihre Fürsprache erwirktes Vermittlungsmodell individueller Heilsgewissheit,36 das den Rezipienten angetragen wird: Maria selbst trägt so zur Zerstreuung des menschlichen Zweifels über die Gewissheit des Seelenheils bei.

34 Vgl. hiermit in Gottfrieds von Straßburg »Tristan«: War umbe enlite ein edeler muot / niht gerne ein übel durch tûsent guot, / durch manege vröude ein ungemach? Zitiert nach Gottfried von Straßburg, Tristan, V. 201–203. 35 Vgl. hierzu RMH, V. 1817–1831. 36 Vgl. zur Unterscheidung von Glaubensgewissheit und Heilsgewissheit Müller, Art. ›Glaubensgewißheit‹, Sp. 662 f.

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3. Schluss Sowohl in Konrads von Heimesfurt »Unser vrouwen hinvart« als auch in der »Rheinfränkischen Marien Himmelfahrt« werden Zweifel in einer Komplexi­ sierung des Erzählens ausgestellt, um schließlich durch Vereindeutigung überwunden zu werden: Erbaulichkeit wird durch Vereindeutigung erzielt. In beiden Fällen begegnet die paradoxe Konfiguration des erzählten Zweifels als Mittel gegen den Zweifel. Während Konrad, in dessen bibelepischem Erzählen von der Himmelsaufnahme Mariens Zweifel außerhalb der hier untersuchten Thomas-Episode keine Rolle spielen, unter Referenz auf die kanonische Ungläubigkeit des Apostels Thomas eine Beglaubigung des Assumptio-Geschehens erwirkt, strebt die »Rheinfränkische Marien Himmelfahrt« die Zerstreuung von Glaubenszweifeln als erbaulichen Effekt der Dichtung durch einen intendierten affektiven Nachvollzug auf Rezipientenseite an. Es begegnet somit zum einen der zwîvel als Unglaube, zum anderen als Ungewissheit. In beiden Fällen wird die sinnliche Erfahrung zur Grundlage der Überwindung von Zweifeln; autoptische Verfahren, die eine Eindeutigkeit erfahren lassen, greifen sowohl auf Figuren- als auch auf Rezipientenebene. Während Konrad den biblischen Bericht heranzieht, ist die Auflösung von Zweifeln in der »Rheinfränkischen Marien Himmelfahrt« mit einer besonderen Ermächtigung des Erzählers verbunden (dez kvnde ich vch wol bescheiden, RMH, V. 993). Hier tritt Erbauung als Effekt des Erzählens von Glaubenszweifeln und Glaubensgewissheit eindrücklich zutage, ebenso steht im Einbezug der Rezipienten die präsentische und heilsindividuelle Bedeutung des marianischen Vorbilds im Fokus der Erzählung. In Konrads »Hinvart« hingegen scheint die Ausstellung des Zweifels, die einen unausgesprochenen Zweifel an der ›Wahrheit‹ des Assumptio-Geschehens kunstvoll inszeniert, neben der spannungsvollen Anreicherung des Erzählens auch auf eine Reflexion des A ­ pokryphitätsstatus des »Transitus Mariae« abzuzielen. Einem potentiellen Zweifel an der Himmelsaufnahme wird durch die als Geschichte in der Geschichte präsentierte Referenz auf die kanonische Ungläubigkeit des Thomas und seine Glaubenserkenntnis ebenso zuvorgekommen wie durch die sinnliche und materielle Bezeugung der Aufnahme Mariens durch ebendiesen Apostel. Dieser Schluss liegt nahe, da die Thomas-Episode den apokryphen Stoff an neutestamentliches Geschehen zurückbindet,37 die Analogie von christologischem und mariologischem Dogma provoziert und darüber hinaus bereits Bestandteil der frühen Transitus-Tradition und insofern mit einer Verteidigung des ungeschriebenen Dogmas verbunden ist – man vergleiche in 37 Vgl. auch die Nivellierung von wâren und mislichen Geschichten aus der Perspektive der Erbaulichkeit ihres Inhalts im Prolog der »Hinvart« (Hinv., V. 65).

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diesem Zusammenhang auch die abschließende beglaubigende Referenz auf die Assumptio-Vision der Elisabeth von Schönau im »Marienleben der Königsberger Hs. 905«38 und im Assumptio-Kapitel der »Legenda Aurea«. Der Zusammenhang von Erbauung und Zweifel könnte somit in der »Hinvart« auch in der grundsätzlichen Bestätigung des erbaulichen Potentials und der Offenbarungsqualität des Transitus-Apokryphs liegen. In beiden Marien Himmelfahrt-Versdichtungen erscheinen Zweifel, Erbauung und die Form des Erzählens vom »Transitus Mariae« funktional wie konzeptionell verschränkt: Die Erbaulichkeit der Erzählung setzt hier das Erzählen vom Zweifel ebenso voraus wie seine narrative Überwindung.

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Marius Rimmele (Zürich)

Die Erneuerung des Schmerzensmanns in der Druckgraphikdes frühen 16. Jahrhunderts: Semantische Verdichtung zwischen erbaulicher Funktion und künstlerischem Selbstzweck

Rahmenbedingungen: Rezeptionswandel einer komplexen Figur Das von der Kunstgeschichte wohl im Anschluss an den vir dolorum aus Jesaja 53 »Schmerzensmann« benannte1 ikonographische Grundmuster, wie es sich seit dem 13. Jahrhundert im Westen etabliert hat, unterscheidet sich von seinen oft sehr ähnlichen ikonographischen Nachbarn, etwa der sogenannten ›Herrgottsruh‹ während der Misshandlungen, dem ›Christus im Elend‹ kurz vor der Kreuzigung oder dem isolierten Ecce-homo-Christus durch das Vorhandensein der Wundmale, was notwendig eine überzeitliche Bedeutung impliziert.2 Von Darstellungen der Kreuzabnahme, Grablegung und Beweinung wiederum hebt sich die Belebtheit ab, die zumindest in der aufrechten Position, oft jedoch auch Bewegungen und vor allem im deutschen Raum in offenen Augen zum Ausdruck kommt.3 Eine treffende Formulierung spricht hinsichtlich des prinzipiellen Bildgedankens von einem »Allwesenheitsbild« Christi.4 Da es eigentlich nicht möglich ist, die Figur als Illustration eines bestimmten historischen ­Moments zu verstehen, macht sie zumindest potentiell ihre Auslegung erforderlich. Vom »Schmerzensmann« spricht man hinsichtlich des halbfigurigen Typs der byzantinischen und frühen italienischen Tradition ebenso wie im Blick auf ganzfigurige Ausprägungen. Ein Exemplar (von ca. 1300) des halbfigurigen (›gregorianischen‹) Ikonentyps, der nach mehrheitlicher Meinung im 12. Jahrhundert entstand, wurde bekanntlich in Rom zum Gegenstand einer ›Invention 1 Eine erst nachträgliche Verknüpfung mit dieser Stelle, die den Terminus in deutschen Übersetzungen nicht enthält, vermutet Hecht, Der Schmerzensmann, hier S. 130. Eine enge Verknüpfung des Schmerzensmannskonzepts mit dieser Bibelstelle besteht unabhängig davon durch ihre zentrale typologische Funktion hinsichtlich Passion und Erlösung, vgl. Berliner, Bemerkungen zu einigen Darstellungen, hier S. 194. 2 Vgl. Hourihane, Defining Terms. 3 Vgl. Ebd., S. 23 f. 4 Vgl. Schrade, Beiträge zur Erklärung des Schmerzensmannbildes, S. 164.

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of Tradition‹ und als spätantike Verbildlichung einer Vision des bildaffinen Papstes Gregor des Großen ausgegeben.5 Die ganzfigurigen Versionen etablierten sich hingegen im 14. Jahrhundert vor allem im germanischen Sprachraum.6 Trotz ihrer je eigenen Entwicklungslinien sind beide Typen im 15. Jahrhundert bis zu einem gewissen Grade austauschbar geworden, etwa im Zusammenhang von Darstellungen der sogenannten ›Gregorsmesse‹, die eigentlich richtiger ­»Vision Gregors des Großen« heißen müsste.7 Versucht man, unter dem Vorzeichen der ›Erbauung‹ das Bildformular des isolierten Schmerzensmanns daraufhin zu untersuchen, wie Denkprozesse  – vorrangig die Erinnerung an Bibelstellen und übergeordnete heilsgeschicht­ liche bzw. soteriologische Zusammenhänge – und konkrete bildliche Gestaltung aufeinander bezogen sind, stößt man, anders als wenn man etwa nur auf die Affektivität der Figuren fokussierte, in vielen Kontexten auf wenig anregende Ausprägungen. Funktionale Erklärungen bieten sich an: Das Formular findet sich nicht selten mehr oder minder als bloßes Zeichen verwendet, vor allem im Zusammenhang der Eucharistie, wo es auf das sich erneut vollziehende Opfer Christi verweist.8 Fraglos hat sich zudem im späten Mittelalter über Formulare wie die ›Gregorsmesse‹, Interzessionstreppen oder Darstellungen des Weltgerichts der entblößte, mit den finalen Wunden versehene Körper auch als typisches Vorstellungsbild eines im Himmel befindlichen Christus etabliert. Nicht zufällig erscheint Christus in zahlreichen Visionen in dieser ikonographisch vorgebildeten Form.9 Spätestens am Ende des 14. Jahrhunderts, so Heike Schlie, war der typische Schmerzensmann zum ›Porträt‹ eines im Gebet adressierbaren Gegenüber, zum »gegenwärtigen Erscheinungsbild Christi« geworden.10 5 Vgl. Hecht, Der Schmerzensmann, bes. S. 130 f. geht von einer Entstehung erst nach der Besetzung von Konstantinopel durch lateinische Auftraggeber aus; Kritik an dieser Spätdatierung äußert jüngst Jurkowlaniec, The Rise and Early Development of the Man of Sorrows, hier S. 73, Anm. 35. Eine kritisch reflektierende Zusammenfassung (und Anerkennung) des vor allem durch Belting, Das Bild und sein Publikum im Mittelalter, vertretenen traditionellen Forschungsstandpunkts findet sich bei Ridderbos, The Man of Sorrows. Zum Einzelfall der Mosaikikone von Santa Croce in Gerusalemme vgl. jüngst (mit älterer Literatur) Schlie, Erscheinung und Bildvorstellung. 6 Vgl. Panofsky, »Imago Pietatis«, bes. S. 280, S. 293; Mersmann, Art. ›Schmerzensmann‹, Sp. 94. 7 Zur Austauschbarkeit vgl. Falkenburg, Hieronymus Bosch’s Mass of St. Gregory, hier S. 186 f. Allg. zur Gregorsmesse und ihrer Neubewertung vgl. die weiteren Beiträge jenes Sammelbandes. 8 Diese Dimension betonte jüngst noch einmal Hecht, Der Schmerzensmann. Die Forschung nach Panofsky, »Imago Pietatis«, hat gezeigt, dass eucharistische Bedeutungen zwar früh möglich, nie jedoch zwingend mit dem Bildtypus verbunden waren, vgl. zur Multifunktionalität jüngst Merback, The Man of Sorrows. 9 Vgl. Osten, Der Schmerzensmann, hier S. 182, 209, 210 und 229. 10 Schlie, Erscheinung und Bildvorstellung, S. 103.

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Zwar hat die Bilderfindung weder als einsinniges Zeichen oder gar schlichtes Abbild eines Himmlischen begonnen, noch lässt sich im Nachvollzug ihrer wechselhaften Geschichte eine konstante Festlegung in einem der beiden Sinne beobachten.11 Bei allen Schwierigkeiten, in den Bedeutungsvariationen eines massenhaft variierten und kombinierten Motivs signifikante Entwicklungen zu isolieren, scheint es jedoch durchaus so, als habe zumindest phasenweise die Ubiquität des Bildes vom lebendig-toten Erlöser dessen ursprüngliche paradoxale Widerständigkeit abgeschliffen und mit dieser den ›Aufhänger‹ zum Verständnis einer einstmals wesentlichen inneren Komplexität.12 In der Wissenschaftssoziologie hat sich für strukturell ähnliche historische Entwicklungen der eingängige Begriff des ›blackboxing‹ etabliert. Bei diesem Prozess handelt es sich um »das Unsichtbarmachen wissenschaftlicher und technischer Arbeit durch ihren eigenen Erfolg […]. Wenn eine Maschine reibungslos läuft, wenn eine Tatsache feststeht, braucht nur noch auf Input und Output geachtet zu werden, nicht mehr auf ihre interne Komplexität. Daher das Paradox: Je erfolgreicher Wissenschaft und Technik sind, desto undurchsichtiger und dunkler werden sie.«13 Mit Blick auf die Sprachgeschichte ließe sich als weitere Parallele an die im vermehrten Gebrauch vollzogene Lexikalisierung ursprünglich hermeneutisch fordernder Metaphern denken, die von kleinen Rätseln zu Vokabeln erstarren. Ab einem bestimmten Zeitpunkt begnügt man sich mit dem bloßen Wortlaut als Bezeichnung eines Sachverhalts, anstatt sich noch auf die ursprünglich implizierte innere Widersprüchlichkeit und damit verbundene Komplexität der Aussage einzulassen.14 Auch wenn dieser sprachgeschichtliche Prozess dem Schicksal des Schmerzensmanns aufgrund der gemeinsamen hermeneutischen Vorzeichen sicher näher kommt, ist das wissenschaftsgeschicht­ liche Bild der undurchsichtig werdenden Kiste durchaus erhellend, insofern es den Blick auf einen für uns wesentlichen Aspekt der Rezeption lenkt. Es impliziert zudem die Möglichkeit, dass sich unter einer vermeintlich opaken Oberfläche durch Störungserfahrungen (siehe Zitat) jederzeit wieder ein verdeckter Raum eröffnen kann, der dicht vollgepackt ist mit »interner Komplexität«.

11 Vgl. neben der bisher genannten Literatur: Bauerreiß, Pie Jesu; Schiller, Ikonographie der christlichen Kunst. Aufschlussreiche Einzelstudien: Camille, Mimetic Identification; Ders., Seductions of the Flesh; Schmidt, Inneres Bild und äußeres Bildnis; Rimmele, Der verhängte Blick; Fricke, Artifex ingreditur in artificium suum. 12 Die Idee einer sich historisch abnutzenden Irritationswirkung bereits bei Ridderbos, The Man of Sorrows, S. 159. 13 Latour, Die Hoffnung der Pandora, S. 373 (Glossar). 14 Vgl. Kohl, Metapher, bes. S. 58 f. Zur inneren Spannung und dem hermeneutischen Anspruch innovativer Metaphern vgl. Ricœur, Die lebendige Metapher, bes. S. VI, 165 f., 181–186, 195 f. und 226 f.

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Dürers Schmerzensmann von 1500: Synthetizität neu ausgestellt Dürers erster bekannter druckgraphisch verbreiteter Schmerzensmann von ca. 1500 (Abb. 1)15 kombiniert den in langwierigen Proportionsstudien erarbeiteten apollinischen Idealkörper eines göttlichen Wesens  – mit Anne-Marie Bonnet lässt sich von einer »Form-Ikonographie« sprechen – mit dem schauerlichen Kopf eines lebendigen Kadavers.16 Die geschlitzten Augen liegen so tief in den Höhlen, dass sich beim kupferstich-typischen konzentrierten Hinsehen ein Totenschädel abzeichnet. Es wäre der zweite im Bild, neben dem Schädel Adams zu Füßen des Kreuzes: eine ganz neue Strategie, das typologische Erfüllungsverhältnis zu Adam auszudrücken. Vier Jahre später, mit Erscheinen des großen anatomischen Schaustücks »Der Sündenfall« (Abb. 2), musste wirklich jedem Sammler, der die beiden ähnlichen Männerkörper verglich, dämmern, dass bereits der Idealkörper als solcher einen Bezug zum (prälapsalen) Adam als Ebenbild Gottes hatte – ebenso wie die beiden ›Bäume‹ jeweils daneben sich unter den Vorzeichen der Lebensbaumtypologie aufeinanderbeziehen ließen. Unabhängig von diesen typologischen Implikationen variiert Dürer durch seinen neu forcierten Kontrast das grundlegende semantische Konzept des Typus, das von byzantinischen Künstlern mit der Kreuzung zwischen dem toten Christus einer Kreuzigung (bzw. der Grablegung) und dem aufrecht gegebenen Herrscher (Pantokrator) in imperial konnotierter Halbfigur kreiert worden war.17 Entsprechend zog es einander diametral entgegengesetzte Titel an: Das Bildformular wird gewöhnlich Akra tapeinosis, also »tiefste Erniedrigung« genannt, oft tragen die Bilder aber eine Inschrift mit den Worten Basileus tès doxès, »König der Herrlichkeit«, ein liturgisches Zitat.18 Dieser besonderen Ikonographie dürfte von Anfang an – trotz früh rekonstruierbarer funktionaler Ausdifferenzierung – die Aufgabe zugefallen sein, »antithetische theologische Konzepte 15 Germanisches Nationalmuseum Nürnberg (Hg.), Albrecht Dürer, S. 83 f., Nr. 26 (mit älterer Literatur); vgl. zuletzt Bonnet, ›Akt‹ bei Dürer, S. 253; Schoen, Albrecht Dürer: Adam und Eva, S. 64 f. 16 Bonnet, ›Akt‹ bei Dürer, verwendet den Begriff »für die zutiefst ikonographische Bestimmtheit der Form bei Dürer«, S. 252 f. Sie ist allerdings etwas widersprüchlich in der Frage, ob hier ein apollinischer Idealkörper inszeniert wird, insofern sie diesen Dürers Christusdarstellungen prinzipiell eher abspricht, dem vorliegenden Beispiel aber »Idealität / Klassik / Konstruktion« (für den Körper) im Kontrast mit »dem Ausdruck des Schmerzes« (Kopfbereich) zugesteht (ebd.), was wohl erst zusammen die Abweichung produziert. Von einem »apollinischen Körperideal« spricht im Blick auf unser Bild Schoen, Albrecht Dürer: Adam und Eva, S. 64. 17 Vgl. Ridderbos, The Man of Sorrows, S. 158 f.; zu den herrschaftlichen Implikationen der Halbfigur vgl. Ringbom, Icon to Narrative, S. 40–44. 18 Vgl. Ridderbos, The Man of Sorrows, S. 158. Ich danke an dieser Stelle auch meiner byzantinistischen Kollegin Sophie Schweinfurth (Zürich) für hilfreiche Erläuterungen.

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Abb. 1: Albrecht Dürer, Schmerzensmann mit ausgebrei­ teten Armen, ca. 1500, Kupferstich, New York, The Metro­ politan Museum (The Metropolitan Museum, Fletcher Fund, 1919).

in rhetorischer Weise zu visualisieren«.19 Das in ein Bild verschmolzene Widersprüchliche mussten die Betrachter fürderhin zusammendenken – zumindest bis der Anblick alltäglich geworden war. Vergleicht man Dürers ostentativen Hybriden mit einem repräsentativen Einblattdruck des späten 15. Jahrhunderts (vgl. Abb. 3), erweist er sich als so neuartig und verstörend, dass ihm mit dem oben angesprochenen zeitgenössischen Vorverständnis von der ›Erscheinungsgestalt Christi‹ und selbst mit der vagen Vorstel19 Ridderbos, The Man of Sorrows, S. 157 (»rhetorical visualisation of antithetical theological concepts«).

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Abb. 2: Albrecht Dürer, Adam und Eva, 1504, Kupferstich, New York, The Metropolitan Museum of Art (©bpk | The Metropolitan Museum of Art).

lung eines ›Passionschristus‹ nicht mehr beizukommen war. Gerade das Gesicht, mit dem man Kontakt aufnehmen wollte, erwies sich als wie in Verwesung begriffen – und dennoch gespenstisch belebt. Wie lange war dieser Kopf schon tot, wie lange dagegen der Körper? Die grundlegenden theologischen Wissensbestände mussten neu durchforstet werden, um die Bildidee zu verstehen. Der konzeptuelle Ausgangspunkt früherer Schmerzensmänner drängte sich wieder ins Bewusstsein, die Idee, den Tod des menschlichen und die Fortexistenz des göttlichen Anteils in Christus in einem Anblick zu präsentieren, der zugleich »die Summe allen Leidens«20 vorstellt und so künstlich war wie eine Personifikation oder eine 20 Panofsky, »Imago Pietatis«, S. 280.

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Abb. 3: Ulmer Werkstatt, Der Schmerzensmann mit den Arma Christi, ca. 1465–80, kolorierter Holzschnitt, Chicago, The Art Institute of Chicago (https://commons.wikimedia.org/ wiki/File:Man_of_Sorrows_-_Google_Art_Project.jpg).

mnemotechnische imago agens.21 »Tod und Leben spielen sich auf zwei verschiedenen Ebenen ab und sind in Kunstwerken nur der Veranschaulichung halber verbunden, ohne daß rationale Beschreibung dieser dargestellten Verbindung in Worten den wirklichen Zustand, in dem Christi Körper sich befindet, beschreiben soll.«22 Das Grundkonzept der Figur bringt also nicht zuletzt die Zweinaturenlehre zum Ausdruck.23 In ihrer paradoxalen Verfasstheit bot sie prinzipiell und bietet sie bei Dürer im Besonderen die Möglichkeit, die Undarstellbarkeit des 21 Vgl. Parshall, The Art of Memory and the Passion; Rimmele, Der verhängte Blick. 22 Berliner, Bemerkungen zu einigen Darstellungen, S. 201. 23 Vgl. ebd., S. 208; Belting, Das Bild und sein Publikum, S. 12; für Dürer vgl. Bonnet, ›Akt‹, S. 251.

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Göttlichen in Christus thematisch zu machen.24 Dennoch ist damit eine spezifische Präsenzerfahrung nicht ausgeschlossen, sondern sogar erwünscht. Der über Gebühr vom Tode betroffene Kopf verdichtet pars pro toto noch einmal die grundlegende Spannung zwischen lebendig und tot auf einen beunruhigenden, ja Abscheu erregenden Anblick: »Er hatte keine Gestalt noch Schöne; wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, daß man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet.« (Is 53,2–3) Dürer konfrontiert den Betrachter auf einem neuen Weg mit den genannten Empfindungen. Zugleich konnte dieser aufgrund des möglicherweise als nicht schriftkonform empfundenen Verfalls die Überlegungen von einer allgemein theologischen auf eine persönliche Ebene verschieben: War der grauenvolle Zustand des klagenden Gegenübers vielleicht dem zu lange anhaltenden Unwillen geschuldet, ihn für sich zu verlebendigen? Sollte man – in welchem Sinne auch immer – nicht endlich die Rute ergreifen, anstatt sich (weiterhin) abzuwenden?25 Das Leiden Christi als eigene Schuld zu begreifen und ihm durch Mitleid und Nachfolge Linderung zu verschaffen, war ein Allgemeinplatz der Passionsliteratur. Dürer selbst lässt seine Schmerzensmänner der »Großen« und »Kleinen Passion« diesen Gedanken artikulieren.26 Auch das Vorweisen der Handwunden kann, mit diesem Kopf kombiniert, kaum anders denn als Anklage und Angebot zur Erinnerung bzw. Wundenverehrung verstanden werden. Die Situation hingegen als tröstliche Begegnung mit einem fürbittenden Himmlischen27 zu verstehen, ist ebenso unmöglich wie eine anekdotische Auflösung auf einen Moment der Passionsgeschichte hin. Es handelt sich um ein monstrum im ursprünglichen Sinne, ein sprechend deformiertes Zeichen, das etwas vor Augen führen will.28 24 Vgl. Bonnet, ›Akt‹, S. 251. Radikale Ausprägung findet dieser Aspekt bei der von hinten gezeigten Schmerzensmannfigur Sebald Behams von 1519, vgl. Merback, …pis im Got geben well, hier S. 114–123. 25 In Ulrich Pinders »Speculum Passionis« (1507), illustriert von der Dürerwerkstatt, wird die Geißelung zusätzlich dahingehend ausgelegt, dass wir Schicksalsschläge bereitwillig annehmen und Christus nicht weiter mit Sünden geißeln sollen. Vgl. den Reprint der deutschen Übersetzung von Salzburg 1663, kommentiert von Junghans und Dreißiger, S. 161. Zu Appellstrukturen rund um Rute und Geißel als Bußinstrumente und deren Ort in der spätmittelalterlichen Frömmigkeitspraxis und -theorie vgl. Rimmele, Heilsleitern, hier S. 218 f.; Ders., Geordnete Unordnung, hier S. 232. 26 Die lateinischen Texte sind übersetzt bei Appuhn (Hg.), Die Kleine Passion von Albrecht Dürer, S. 87; Ders. (Hg.), Albrecht Dürer: Die drei großen Bücher, S. 142. 27 Zur prinzipiellen Überdeterminiertheit des Wundenweisens, das oft auch als Fürbitte aufgefasst werden kann, vgl. Panofsky, »Imago Pietatis«, S. 283–289. 28 Vgl. Grübel, Die Hierarchie der Teufel, bes. 130; in diesem Sinne jüngst auch: Ochsner, DeMONSTRAtion. Ein frühneuzeitliches Spiel mit der doppelten Bedeutung des Begriffs (monströs / anzeigend), bezogen auf Dürers Darstellung von Adam und Eva (als Zwerge!)

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Nicht nur die Rute, auch andere Objekte gewinnen so ebenfalls leichter ihre Sprachkraft als Merkzeichen (Arma)  und als Symbole zurück; der kognitive Appell, der von der verstörenden Figur und dem ungewöhnlichen Detail des Adamsschädels ausgeht, kann sogar die Wahrnehmung des partiell entrindeten Kreuzesholzes erfassen, das parallel zu Augen, Seitenwunde, Genitalbereich und Knie ein Fußnagelloch, ein Astloch, einen Einschnitt und einen Knoten reiht. Dies mag an in der deutschen religiösen Dichtung variierte Allegorien erinnern, die Kern und Borke eines Baumes mit Gottvater und Christus als zwei Personen der Trinität verknüpfen:29 War durch die Passion die irdische Borke entfernt worden und das Innere, Göttliche zu Tage getreten? Insbesondere die Parallele von Seitenwunde und ins Bauminnere führendem Astloch legt diesen Gedanken nahe. Steht der erste singuläre Schnitt auf Genitalhöhe für die Beschneidung, die bekanntlich als erstes Blutvergießen Christi gewertet wurde?30 Natürlich wirken solche benachbarten Zuordnungen, wie bereits die Gestaltung des Gesichts, nicht nur als zu rekonstruierende Metaphorik auf einer rein intellektuellen Ebene. Das eckige, auf Ebene der Augenhöhlen in den Stamm gehämmerte Nagelloch verleitet durch seine suggestive Äquivalenz zu einer irrationalen, unmittelbareren Form der Übertragung und verschärft so die Schaurigkeit weiter: Leicht ›verrutschen‹ die Entstehungsumstände des einen Lochs unterhalb der Bewusstseinsschwelle für einen kurzen Moment auf die beiden anderen. Die trotz Affektivität ausgestellte Auslegungsbedürftigkeit infiziert auch den Raum, der dem Betrachter die Rute ebenso suggestiv naherückt wie die Würfel, welche nicht zuletzt durch die Nähe zur Signatur Anspruch auf Signifikanz erheben.31 Wie so oft sind die Übergänge zwischen Schmerzensmann und A ­ rma-Christi-Bild fließend.32 Als Kontext ist damit deutlich die Passionsfindet sich bei Marino, La Galeria del Cavalier Marino, S. 64. München, Bayerische Staatsbibliothek (Sign. P.o.it. 595 d). 29 Vgl. Kern, Trinität, Maria, Inkarnation, S. 56–59. Die auf den zweiten Blick anatomisch befremdliche ›Abtrennung‹ des rechten Unterarms bzw. besser: die Aufnahme der Kreuzeskontur auch im Arm, legt es nahe, den Unterarm als Ast des Kreuzesbaums zu betrachten, was zu denjenigen trinitarischen Baumallegorien in der Nachfolge des Augustinus zurückführt, die Stamm und Ast als wesenhaft voneinander untrennbare Teile ins Verhältnis setzen. 30 Das Beschneidungsmesser kann deshalb auch Teil der Arma Christi sein, vgl. Suckale, Arma Christi, hier S. 25. 31 Die Würfel finden sich häufig in Arma-Christi-Darstellungen oder Gregorsmessen suggestiv dem Betrachterraum angenähert, Quellen zur tropologischen Auslegung dieses Details sind mir allerdings – im Gegensatz zu anderen Arma – nicht bekannt. Es ist zu vermuten, dass der Gewinn des Kleides Christi damit verknüpft werden kann, mit all dem, was im ungenähten Rock von Gottebenbildlichkeit über ungeteilte Liebe bis Nachfolge und Ablegen von Irdischem metaphorisch impliziert sein kann. Vgl. z. B. Pinder, Speculum Passionis, S. 188 f. und 204 f. 32 Vgl. Suckale, Arma Christi, S. 25 und 27.

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meditation aufgerufen.33 Das Bild bedient den skrupulösen Blick eines Kupferstichkäufers und verheißt zugleich Gewinne für denjenigen, der dabei fromme Gedanken entwickelt. Seine suggestiven Details zwingen noch den heutigen Betrachter, seine theologischen Wissensbestände zu durchforsten, um den offenkundig vorhandenen Pointen Dürers auf die Spur zu kommen. Unter ökonomischen Gesichtspunkten besehen war hier etwas schockierend Neues und Originelles zu erwerben. Schon wenige Jahre später hatte sich der Idealkörper, den Dürer zunächst bekanntermaßen für Göttliches und Tugendheroen reserviert hielt,34 in diversen Sujets seiner Nachahmer so etabliert, dass einige Nuancen dieser Strategie wohl einfach verpufft wären. Die zu beobachtenden immer neuen Varianten sind insbesondere einer medienbedingten erhöhten Zirkulation von Bilderfindungen geschuldet. Schneller und schneller waren neue Irritationsmomente nötig, wenn mit diesen noch erbauliche Wirkung erzielt werden sollte – und natürlich aus kunstimmanenten wie ökonomischen Gründen. Auch weitere Schmerzensmänner aus dem frühen 16. Jahrhundert reaktivieren und akzentuieren in einem Kontext frommer Erinnerungsarbeit (und auf der Basis ökonomischer Implikationen des Druckwesens) bestimmte Grundzüge, welche ursprünglich die Erfindung des Formulars beziehungsweise seine baldige Anreicherung im Westen geprägt haben.35 Vor allem aber werden die Körper bewusst verstörender konzipiert und stellen trotz der vielfach erkannten neuartigen Präsenzeffekte ihre genuine Artifizialität ostentativ aus, um das Denken erneut herauszufordern. Diese kognitive Beanspruchung hat wiederum zwei Ebenen: Neben bildgeleiteter Meditation zielt sie auf eine Praxis kennerhafter Bildanalyse, die von Künstlern neue Pointen erwartet, die auch und gerade im Konzeptuellen deren Qualität bemisst. Religiöse Funktionalität und künstlerischer Anspruch konvergieren in einer gelungenen inventio36 und sind, zumindest bei Dürer noch, schwer auseinanderzudividieren. 33 Vgl. ebd., S. 37. 34 Vgl. Bonnet, ›Akt‹ bei Dürer, S. 275. Berliners, Überzeugung, dass »keine inhaltliche Verbindung zwischen der Idealisierung des Körpers und dem Sinngehalte beabsichtigt« (Berliner, Bemerkungen zu einigen Darstellungen, S. 211) war, ist demnach zu widersprechen. 35 Die exakten Ursprünge liegen im Dunklen. Belting, Das Bild und sein Publikum im Mittelalter, und Ridderbos, The Man of Sorrows, vermuten eine ursprüngliche paradoxe Konzeption des Bildes bereits in Byzanz; Hecht, Der Schmerzensmann, S. 132 f., sieht die implizite Komplexität als Folgeerscheinung einer westlichen Umdeutung eines älteren byzantinischen Formulars des auf dem Grabtuch liegenden Christus, das wohl wiederum eine Reliquie in der Art des Turiner Tuchs reproduzierte. So oder so entstand zu einem bestimmten Zeitpunkt eine paradoxe Konstellation aus einem herrschaftlich konnotierten aufgerichteten und einem toten Christus in einer verdichtenden Darstellung. Nach Hecht, Der Schmerzensmann, S. 134, ist gerade diese Paradoxie »in der östlichen Sakralikonographie eine Ausnahmeerscheinung«. 36 Der aus den Produktionsstadien der Rhetorik vertraute Terminus findet sich bezeichnenderweise sowohl im Kontext künstlerischer Erfindungsgabe (etwa in Albertis »De

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Hans Baldungs Schmerzensmann an der Säule (1517): Oszillation zwischen religiöser Funktion und künstlerischem Eigenwert Frank O. Büttner spricht von einer besonderen, für die Druckgraphik »gattungs­ spezifischen Qualität ikonographischen Formulierens«, die in den Einzelblät­ tern zu Beginn des 16. Jahrhunderts in radikaler Form zu Tage tritt und deren bis dahin übliche »handwerkliche Schlichtheit« und Reduktivität überwindet.37 Perspektiviert auf die Geschichte des Schmerzensmanns als visuelle Verdichtung theologischer und frömmigkeitstheoretischer Sachverhalte lautet hingegen die unsere Analysen historisch rahmende These: In der Generation Dürers und bei einigen seiner Nachfolger wird einer dem ›blackboxing‹ vergleichbaren Entwicklung – die sicher immer, gerade im Kontext der bildbasierten Meditation, auch ihre Ausnahmen hatte38 – kunstvoll gegengesteuert, um neue Erfolge in der kognitiven Beanspruchung zu erzielen und die Komplexität zu steigern.39 Fokussiert man nur auf die religiöse Ebene, ließe sich festhalten, dass aus einer allzu bekannten Figur wieder eine dezidierte figura im Sinne eines exegetische Verknüpfungen aktivierenden Gedächtniszeichens werden soll, wie es Georges Didi-Huberman magistral beschrieben hat.40 Das Gedächtnis an die Passion und ihren heilsgeschichtlichen Überbau zu schulen, ist bekanntlich eines der wichtigsten Ziele der Frömmigkeitspraxis kurz vor der Reformation.41 Die einschlägigen Anleitungen dazu kompilieren, um tieferes Verständnis bemüht, ältere theologische Texte und popularisieren auf diese Weise exegetisches Denken.42 pictura«) wie auch im Zusammenhang theologischer Exegese bzw. monastischer Gedächtnispraxis. Vgl. Carruthers, The Craft of Thought, bes. S. 19–22. 37 Büttner, Extreme Züge des Christusbildes, hier S. 75. 38 Zum Beispiel bei zur Meditation geeigneten Bildern im monastischen Kontext, vgl. Rimmele, Der verhängte Blick. 39 Ganz in diesem Sinne, mit Blick speziell auf sitzende Schmerzensmänner und deren christlich-neostoische Implikationen, Merback, The Man of Sorrows, S. 97: »Around 1500, ambitious artists found in the multiple transposable types of the late medieval Man of Sorrows a license to invent, explore, and test a wide new range of ›metaphorical statements‹, to use Bernhard Ridderbos’s term.« 40 Didi-Huberman, Fra Angelico, bes. S. 10–12, vgl. mit Blick auf den Schmerzensmann auch Rimmele, Der Schmerzensmann. 41 Vgl. allg. z. B. Elze, Züge spätmittelalterlicher Frömmigkeit in Luthers Theologie, sowie die Beiträge in Haug und Wachinger (Hg.), Die Passion Christi in Literatur und Kunst des Spätmittelalters; Köpf, Passionsfrömmigkeit. Die konkreten literarischen Anleitungen zur Passionsfrömmigkeit als Hintergrund künstlerischer Praxis kurz nach 1500 breitet Bushart, Sehen und Erkennen, S. 13–15, aus. 42 Vgl. Bushart, Sehen und Erkennen, S. 15; zur Entwicklung der Passionsliteratur mit ihren Einflüssen auf die Bilder insgesamt siehe Marrow, Passion Iconography, bes. S. 7–26.

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Schon länger hatte sich zudem die Passionshandlung selbst durch eingegliederte typologische Details angereichert, eine Form der Vernetzung mit verschiedensten Bibeltexten, die zumindest teilweise in den populären Traktaten expliziert wurde.43 Genau vor diesem Hintergrund scheint ein Bildtypus nach einer Phase der Opakwerdung seine ursprüngliche Transparenz zurückzuerlangen. Nicht die vermeintliche Transparenz auf ein reflexhaft an die Stelle des Bildzeichens tretendes Signifikat ist damit gemeint, sondern der vielsagende Einblick in die ureigene Synthetizität des Signifikanten selbst. Es scheint, anders gewendet, als ob unter dem Einfluss des Künstlers im Auge und Denken des Betrachtenden aus einem bloßen Wort wieder ein differenziert argumentierender Text werden sollte. Statt einer virtuellen Person oder einem bekannten Zeichen begegnet ein anregendes Skript für Denkprozesse. Der Nebeneffekt, dass die »Maschine« ihre »Reibungslosigkeit« (siehe obiges ›blackboxing‹-Zitat) verliert und als solche, als konstruiertes Mittel, wieder bewusst wird,44 ist ein bedeutsamer Mehrwert in Zeiten (vor)reformatorischer Bildkritik. Bereits vor Luther gerät das Bild gegenüber der Heiligen Schrift unter Rechtfertigungsdruck.45 Künstler, die sich in humanistischen Kreisen bewegen, begegnen dem mit einer Erhöhung des Zeichencharakters und / oder bildtheoretischen Implikationen: »Als signa hatten sie [die Bilder nach Vorstellung der Reformtheologen, Anmerkung MR] in erster Linie instrumentellen Charakter; man durfte sich durch ihre sinnlichen Qualitäten affizieren, keinesfalls aber gefangen nehmen lassen.«46 Der Anspruch der Künstler muss vor diesem Hintergrund sein zu zeigen, dass das Bild sich gegen zu naive Rezeption verwehren und zugleich zur produktiven Frömmigkeit anleiten kann. Die summierende und

43 Vgl. Marrow, Passion Iconography. 44 Vergleichbare Zyklen der Erneuerung hatten auf allgemeiner Ebene bereits die russischen Formalisten ins Visier genommen und dabei ebenfalls die Dimension der Selbstbezüglichkeit thematisiert: »Die Evolution der Kunst […] wird von ihnen so erklärt, dass neue Wahrnehmungen der äußeren Realität für die Künstler zu einer Motivation werden, eingeschliffene, ›automatisierte‹ Wahrnehmungen, die sich in der Kunst zu verfestigen beginnen, ›desautomatisierend‹ bzw. verfremdend aufzubrechen, um so wiederum rückwirkend die außerästhetische Wahrnehmung (also die Alltagswahrnehmung) zu intensivieren und / oder auch fiktionalitätssprengend die Kunstmittel selbst bewusst zu machen.« Held und Schneider, Grundzüge der Kunstwissenschaft, S. 324 f. 45 Besonders pointiert zu greifen sind solche Diskurse etwa bei Erasmus von Rotterdam, vgl. Bushart, Sehen und Erkennen, S. 16–20, mit einschlägigen Zitaten. Zur vorreformatorischen Bildkritik vgl. Schnitzler, Ikonoklasmus – Bildersturm; Ders., Von der Fragwürdigkeit der Bilder. 46 Bushart, Sehen und Erkennen, S. 17; Büttner, Extreme Züge des Christusbildes, weist für sein Korpus von Christusdarstellungen des frühen 16. Jahrhunderts komplementär auf einen zunehmenden Entzug des Anblicks Christi hin, der durch explizite Betrachtungsakte als Bildhandlung kompensiert wird, vgl. bes. S. 77.

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paradoxale Repräsentation des lebendig-toten Christus bietet dazu besonders gute Voraussetzungen. Um die neuen Qualitäten zu erfassen, genügt es nicht, wie so oft nur auf die affektiven Momente abzustellen  – diesbezüglich ist im 14. und 15. Jahrhundert vieles unternommen worden, um das Leiden noch plastischer und blutiger vor Augen zu stellen. Schmerzensmänner lassen sich unter diesen Vorzeichen kaum von den allgemeinen Tendenzen bei der Darstellung des Leidens Christi abgrenzen. Hinsichtlich des hier postulierten Umschwungs vor allem in der dezidiert künstlerischen Druckgraphik um 1500 sei zumindest erwähnt, welche Rolle dabei die technische Beschränkung eines nunmehr ernst genommenen Schwarz-Weiß-Mediums spielen könnte. Ein symptomatischer Fall ist die Darstellung des Blutes bei Urs Grafs »Schmerzensmann mit Arma« (Abb. 4) von 1503–06.47 Unter den Füßen lässt sich beobachten, wie Blut im Modus des Hochdrucks ganz neu artikuliert werden musste: als höchst aufwendig herausgeschnittener ›organischer‹ Verstoß gegen das Formraster des Holzschnitts mit seinen gezogenen Linien, seinen Inseln und Stegen. Denkt man an die Zeichnungen des Künstlers mit ihren charakteristischen Schnörkeln, beansprucht dieses auf die Signatur zustrebende Blut eine ganz ähnliche autographische Qualität. Es macht damit die Beschränkungen des Druckverfahrens, durch die hindurch es sich behauptet, als Kontrastfolie seiner Auffälligkeit thematisch. Blut, so wird deutlich, ist eigentlich kein geeignetes Sujet für Druckgraphik. Natürlich wurden Drucke nicht selten nachkoloriert, auch noch nach Dürer.48 Zieht man ein solches nachkoloriertes Exemplar des Graf’schen Schmerzensmannes bei, zeigt sich, dass gerade die ›Blutschnörkel‹ in der Nähe der Signatur dabei ausgelassen wurden, dass also die Modi der Repräsentation nicht vereinbar waren.49 Ohnehin ließen sich künstlerische Lorbeeren durch nachträgliche Kolorierung schwerlich erringen. Erasmus von Rotterdam, von dem das Lobpreis auf Dürers Schwarz-Weiß überliefert ist, hielt eine nachträgliche Fassung für ein »Unrecht«.50 Es fällt entsprechend auf, dass die Ebene artistischer Intervention nun tendenziell eine andere ist, als die über rotes Blut, morbide Hauttönungen und tränennasse Augen gestaltete Betonung des Leidens und Sterbens. Die hier interessierenden Neuerungen sind vielmehr im Bereich der Verschränkung von Körperbild und theologischem Wissen anzusiedeln. Dabei 47 Vgl. Worringer, Graf: Die Holzschnitte zur Passion; Scribner, Graf, Schmerzensmann, S. 92; Dupeux, Jezler und Wirth (Hg.), Bildersturm, S. 278. 48 Vgl. Mende, Hans Baldung Grien, S. 15. 49 Vgl. Bern, Historisches Museum, Abb. bei Dupeux, Jezler und Wirth (Hg.), Bildersturm, S. 278. 50 Mende, Hans Baldung Grien, S. 16. Vgl. auch Panofsky, The Life and Art of Albrecht Dürer, S. 44.

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Abb. 4: Urs Graf, Schmerzensmann mit Arma Christi, ca. 1503–06, Holzschnitt, Wien, Albertina.

ist es wohl kein Zufall, dass der bildliche Körper genau in dieser Zeit unter kunsttheoretischen Vorzeichen zu etwas dezidiert Konstruiertem wird, einem künstlerischen Produkt, und dass gerade die Druckgraphik die Erfolge in diesem Bereich ebenso propagiert, wie sie die Sensibilität für Allusionen durch zusammengesetzte Figurenzitate stark erhöht.51 Die Druckgraphik mag auch hinsichtlich ihres gegenüber der Malerei noch weniger determinierten Raumkonzepts prädestiniert gewesen sein: Isolierte Figurendarstellungen mit abbreviierten Räumen war man dort noch gewohnt und hatte so die Lizenz, die 51 Zur Konstruiertheit der Körper vgl. z. B. Bonnet, ›Akt‹, S. 267 f. Zu ubiquitären Figurenzitaten vgl. besonders die Forschungen von Jürgen Müller, paradigmatisch in: Müller und Schauerte (Hg.), Die gottlosen Maler von Nürnberg.

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immer mächtiger werdende Logik eines plausiblen Einheitsraumes zu ver­ weigern.52 So bieten gerade gedruckte Einzelblätter Gelegenheit zu einem Zusammenspiel von artifizieller Figur, Attributen und sprechendem Hintergrund, ganz im Sinne des durch Didi-Huberman rekonstruierten figura-Konzepts. ­Figurae im traditionell theologischen Sinne erkennen die scharfe neuzeitliche Grenzziehung zwischen handelnden Figuren und deren Bühnenraum als ›Behälter‹ nicht an, sondern entwickeln gerade in den zahlreichen Verknüpfungen zwischen Körper und Ort ihre besondere Bedeutungsdichte.53 Ein schönes Beispiel für beide Aspekte, Konstruiertheit der Körper und Indienstnahme der Szenerie, ist noch der auf 1517 datierte schreitende »Schmerzensmann vor einer Säule« von Hans Baldung Grien (Abb. 5).54 Frank O. Büttner hat diesen unter eine Gruppe »auffallend originell[er]« dürerzeitlicher Christusdarstellungen gerechnet, deren »extreme Lösungen« für ihn Ausdruck eines erhöhten künstlerischen Innovationsdrucks um 1500 sind, welcher letztlich einen »Zeitstil« hervorbringt. Dieser ist jedoch, wie oben erwähnt, zugleich begrenzt auf einen »Gattungsstil« künstlerischer Druckgraphik, die um ihre Käufer buhlen muss.55 Büttner nennt vor allem Objektifizierung, Situativität und unhierarchische Darstellungsmodi als Neuerungen.56 Die inhaltliche Dichte der Figur einschließlich der als zentrale Bildidee wirkenden Auseinandersetzung mit der ererbten Synthetizität darf jedoch keinesfalls aus dem Blick geraten, wenn man ihre Neuartigkeit angemessen charakterisieren möchte. Setzt Dürer seinen neuen Schmerzensmann aus göttlichem Idealkörper und einem verwesenden Kopf zusammen, so verfolgt sein Schüler Baldung eine ähnliche Strategie. Sie basiert ebenfalls darauf, die in der Kunstfigur verschweißten Nähte zwischen lebendem Gott und totem Menschen wieder neu offenzulegen. Baldungs ›verwilderter‹ Schmerzensmann scheint vertikal wie horizontal in verschiedene Grade der Lebendigkeit geteilt. Am auffälligsten ist der horizontale Schnitt zwischen dem schreitenden bzw. vorwärts stolpernden Unterkörper und dem Oberteil, das von einer Kreuzabnahme herzustammen scheint. Bezeichnenderweise ist damit nicht gemeint, dass sich der Künstler im Sinne der imitatio artis bei einem als passend oder vorbildlich empfundenen Vorbild bedient hätte, das er im Sinne der geltenden Kunsttheorie zur Erschaffung einer neuen Figur 52 Das neuzeitliche Bildkonzept übt nach Hecht, Der Schmerzensmann, S. 136, einen hohen Plausibilisierungsdruck auf das Bildformular des Schmerzensmannes aus, was zu narrativierten, in Passion oder Grablegungskontexte eingepassten Subtypen bzw. Varianten führt, die letztlich keine Schmerzensmänner mehr sind. 53 Vgl. Didi-Huberman, Fra Angelico, S. 21–26. 54 Mende, Hans Baldung Grien, S. 47, Nr. 41. Vgl. Osten, Ikonographie, S. 179–187, bes. S. 181 f.; Marrow und Shestack (Hg.), Prints and Drawings, S. 207 f.; Büttner, Extreme Züge des Christusbildes, S. 83 f.; Vlachos, Deformation und Verfremdung, S. 231–233. 55 Büttner, Extreme Züge des Christusbildes, S. 69, 74 und 75. 56 Ebd., S. 69 f.

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Abb. 5: Hans Baldung gen. Grien, Christus an der Martersäule, 1517, Holzschnitt, Basel, Kunstmuseum, Kupferstichkabinett (Kunstmuseum Basel, Martin P. Bühler).

nutzte.57 Vielmehr handelt es sich hier wohl um ein ikonographisches Zitat. Der verstörende Körper ist anschaulich wie konzeptuell aus verschiedenen Bildmustern zusammengesetzt und die ›Naht‹ ist durch die groteske Verdrehung zwischen Bauch und Rippenbogen, die eine tiefe schwarze Linie (zugleich eine Elaboration der Seitenwunde) erzeugt, nachdrücklich markiert. Die stolpernden Beine mögen, gerade zusammen mit der irritierenden Geißelsäule, an Szenen erinnern, in denen der Gepeinigte ›von Pontius zu Pilatus‹ geschleift wird. (Natürlich muss die Säule nicht die Geißelsäule bleiben, als die sie das an Passionsdarstellungen gewöhnte Auge gleich identifiziert. Ist die Brüchigkeit des 57 Vgl. Irle, Der Ruhm der Bienen.

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inhaltlichen Bezugs realisiert, mutiert sie aufgrund ihrer zentralen Bildposition und der Überschneidung nach oben leicht zum aus Verkündigungen bekannten Gottessymbol, das zugleich die Verbindung von Erde und Himmel in der Inkarnation anzeigt.)58 Neben dem vom Kreuz Abgenommenen und dem die Passion gerade Durchleidenden blitzt vermittels des Kinderengels auch das in Frankreich entwickelte Formular einer eucharistisch konnotierten ›Engelpietà‹ mit auf.59 Zu Recht weist Büttner darauf hin, dass die Tätigkeit des Engelchens zwischen Stützen und Präsentieren changiert.60 Auch wenn er ihn zugleich fast schon feindselig anzustarren scheint: Er hilft vorbildlich dem Gequälten, führt uns unser Opfer und zugleich unser Heilmittel vor Augen, verehrt seine göttliche Substanz manibus velatis. Zusammengenommen artikulieren diese Bestandteile wesentliche Implikationen eines Schmerzensmanns: das Leiden, das vollzogene Sühneopfer und die ewig fortdauernde Präsenz von beidem durch anhaltende Sünden bzw. Ignoranz und die Messe. Beginnt man die Frage nach im Körper verbundenen Bestandteilen einmal zu verfolgen, zeigen sich auch vertikal signifikante Differenzen. Unbestreitbar irritierend ist der Unterschied zwischen dem im rigor mortis erstarrten linken Arm eines ans Kreuz Gehefteten und dem erschlafften gestützten Arm, bei dem lediglich die Hand noch eine Verkrampfung aufweist. Wenn man will, kann man diese Differenz zwischen links und rechts auch auf die in verschiedene Richtungen strebenden Füße ausweiten, die gleichwohl beide über die Dornen schreiten, die die irdische Welt dem Erlöser bereitet hat.61 In der Tat wirkt der linke Unterschenkel ähnlich widernatürlich aus der Achse verdreht wie der Brustkorb bzw. der Bauch. Was macht ein Betrachter mit diesen irritierenden Angeboten, außer sich der Konstruiertheit nicht nur dieses Körpers, sondern des Schmerzensmannes als Formel erneut bewusst zu werden? Sieht er konkret mehrere Stadien der Passion verbildlicht und versucht den Körper als eine Art Gedächtnisparcours zu narrativieren? Man könnte beim steifen Arm der Kreuzigung beginnen und, nach dem Stützmotiv und dem hängenden Arm einer Kreuzabnahme, beim gehenden Fuß anlangen, der den Auferstandenen und dessen Erdenwandel assoziieren lässt. Schließlich könnte der nach hinten wegstrebende zweite Fuß an das endgültige 58 Vgl. Didi-Huberman, Fra Angelico, S. 152–158. 59 Vgl. Marrow und Shestack (Hg.), Prints and Drawings, S. 207; Zur Engelpietà vgl. Von der Osten, Art. ›Engelpietà‹. 60 Vgl. Büttner, Extreme Züge des Christusbildes, S. 84. 61 Vgl. z. B. Hes 2,6 (Dornen und Skorpione). Die gezeigte Stachelpeitsche wird in der Bibel (1 Reg 12,11) und bei den Römern als ›Skorpion‹ bezeichnet. Pinder, Speculum Passionis, verweist anlässlich der Dornenkrone auf die damit typologisch aufgehobenen »Dornen und Disteln« von Adam nach dem Sündenfall (Gen 3,18).

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Verlassen der Erde erinnern, mit dem sich die Hoffnung auf Rückkehr verbin­ det – und zugleich eine Bedrohung für diejenigen, die nicht präpariert sind. Oder beginnt der Betrachter direkt die tropologischen Implikationen auszuloten, die sich durch die verschiedenen Konstellationen der Körperteile mit Objekten und Engel ergeben? Wird ihm für die Betrachtung des Kreuzestodes (linker Arm) eine aus Darstellungen des Hl. Bernhard bekannte geistliche Umarmung (amplexus) versprochen, fühlt er sich über die alludierte ›Engelpietà‹ zudem zur Eucharistiefrömmigkeit aufgerufen?62 Die linke Hand gibt in auffälligem Kontrast zu anderen Schmerzensmännern, etwa demjenigen Dürers, keine Wunde zu erkennen, ebenso der linke Fuß. Verweigert die geschlossene ›tote‹ Hand dem Betrachter eine Gabe, den heilsstiftenden Blick in die Wunde? Erblickt er also, einer aus Gerichtsdarstellungen vertrauten Symbolik folgend, in linker und rechter Körperseite die Polarität von (reziproker) Nähe und Abweisung, die Alternative zwischen Gottesnähe und ewigem Tod? In seiner populären Meditationsanleitung »Speculum passionis« von 1507, illustriert unter anderem von Baldung selbst, unterscheidet Ulrich Pinder zwischen der Betrachtung von linker und rechter Handwunde, linker und rechter Fußwunde.63 Wenig überraschend bedeuten die Hände in alter exegetischer Tradition körpermetaphorisch die »Werck«, die Füße hingegen »die Naigungen vnd Begierden / mit denen die Seel geht / welche gemainiglich in vns linck / in Christo aber alle recht seynd«.64 Die linke Hand bedeute nach Hieronymus die Ergreifung des Todes am Kreuz, die rechte hingegen sei diejenige, »mit deren er nach der Lehr Hieron. das Leben / so verlohren war / wider gefunden«.65 Auf keinen Fall muss man Baldungs Bildordnung als ›Illustration‹ der additiven Betrachtungen Pinders verstehen, die mit allerhand theologischen Zitaten in Wundenverehrung und Aufrufe zum Einlegen der Anfechtungen / Sünden bzw. Wohltaten in die Wunden ausfasern. Seine eigene, visuelle Argumentation ist wesentlich konziser. Beiden allerdings liegt die Grundordnung von links und rechts, Tod und Leben zugrunde. Bei Baldung treten Geschenk / Entzug der Wunde als Heilsöffnung hinzu, darin die alte Ambivalenz des Wundenweisens

62 Vgl. Altermatt, Lactatio und Amplexus; zur Überlagerung von Kreuzabnahme und Umarmung bei früheren Schmerzensmännern vgl. Belting, Das Bild und sein Publikum, S. 120. Dass eine auf Passionsmeditation und individuelle Erbauung gerichtete Auseinandersetzung mit dem Bibeltext auch immer wieder fließend in Eucharistiefrömmigkeit übergehen kann, belegt etwa Pinder, Speculum Passionis, S. 168, wo die Bespuckung mit Blick auf unwürdigen Genuss des Sakraments ausgelegt wird (abschließendes Gebet). Eine eucharistische Lesart bei Osten, Ikonographie, und Mende, Hans Baldung Grien, S. 47, zurecht kritisiert bei Marrow und Shestack (Hg.), Prints and Drawings, S. 208. 63 Vgl. Pinder, Speculum Passionis, S. 193–200. 64 Ebd., S. 194, 197 f. 65 Ebd., S. 196.

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neu und drängend offenlegend.66 In diesem polaren Ordnungssystem hat sich der Künstler mit seiner Signatur neben einer Torlaibung, zur Rechten des Erlösers und unter dem Zipfel seines Tuches, hoffnungsfroh platziert.67 Die gesamte ›diagrammatische‹ Bildordnung68 wird letztlich von der grundlegenden künstlerischen Entscheidung gespeist, das im Bildkonzept ursprünglich Amalgamierte zu explizieren, indem es visuell neu auseinanderdividiert wird. Das ›Unterteil‹ ist demnach von vergleichbar moralisierenden Denkbewegungen nicht ausgenommen: Denkt der Betrachter, die auf der ›Erde‹ gehenden Füße metaphorisierend, daran, Christus nachzufolgen, um über Mitleid mit der erniedrigten ›höchsten Krone‹ selbst die ›Siegeskrone‹ ewigen Lebens zu erringen? Beides sind gängige Allegorien, die auch in einem kurzen von Dürer verfassten Passionstext (1510) greifbar werden.69 Wie bewertet er dabei die Verteilung der Wunden, die Zuordnung zu den beiden Polen, das Wegstreben nach hinten? Ist der Körper erst einmal als fragmentiert erkannt, kann er als Cluster meditationswürdiger Details begriffen werden und zieht diejenigen allegoretischen Reflexe auf sich, die sich, vermittelt über die einschlägigen Passionstexte, ohnehin mit Arma wie der Säule, der Geißel oder der Dornenkrone verbinden. Noch interessanter wird die Zusammenschau mit dem Hintergrund, der zwei unvereinbare räumliche Konstruktionen just hinter der Säule aufeinanderprallen lässt. Links bietet ein tiefer angesetzter heller Torbogen ein Moment der Öffnung, rechts – also auf der linken, ›toteren‹ Seite des Schmerzensmanns – scheint die Frontseite einer auf uns zustrebenden Mauer unseren Blick mit einer dunklen Netzschraffur zu blockieren. Mögen die Wände auch denselben Tonwert haben und vergleichbare Risse aufweisen: Wie sich die beiden architektonischen Elemente plausibel zueinander im Raum verhalten könnten, erschließt sich nicht. Sie spiegeln auf einer zweiten Ebene die ostentative Zusammengestückeltheit des Körpers und stoßen jeden Betrachter darauf, dass er es im Gesamten mit einer paradoxen Bildfindung zu tun hat.70 Ob sie darüber hinaus den verschieden 66 Die ausschließlich dem Betrachter gezeigten Wunden können gleichermaßen »Mitleid heischen und die Sicherheit ewigen Lebens versprechen, zur Buße mahnen und Gnade verkünden, das gläubige Gewissen beruhigen und mit den Schrecken des Jüngsten Gerichtes bedrohen.« Panofsky, »Imago Pietatis«, S. 289 (mit Erläuterung der theologischen Hintergründe). 67 Diese Art der Einschreibung wurde bei Dürer analysiert von Fehl, Dürer’s Literal Presence. 68 Vgl. zum Konzept des diagrammatischen Bildes: Bogen und Thürlemann, Jenseits der Opposition von Text und Bild. 69 Andachtsflugblatt mit Kreuzigung und Gedichten von Dürer (1510), reproduziert in: Germanisches Nationalmuseum Nürnberg (Hg.), Albrecht Dürer, S. 161. 70 Vgl. auch Büttner, Extreme Züge des Christusbildes, S. 84: »Zum paradoxen Gehalt des Blattes gehört noch die architektonische Situation. Ihr Zusammenhang ist ebenso unwirklich wie die Bewegung der Körper, seien diese nun lebendig, entseelt oder, wie das Tuch, überhaupt tote Materie.« Vgl. ähnlich Vlachos, Deformation und Verfremdung, S. 232.

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konnotierten Körperregionen zugeordnet werden können und deren Botschaften metaphorisch verstärken oder gar explizieren, bleibt dem Betrachter überlassen, der sich einen Reim auf all das offenkundig gewollt Irritierende machen muss. Für sich genommen jedenfalls sprechen sie in dramatischer Weise von Passage und Ausschluss und rufen damit die eschatologischen Abb. 6: Hans Baldung gen. Grien, Christus an der MarterKonsequenzen jeder christlichen Lebensführung säule, 1517, Holzschnitt, Basel, ins Gedächtnis. Dies umso mehr, als die beiden Kunstmuseum, KupferstichWände offensichtlich gleichermaßen von Verfall kabinett (Kunstmuseum Basel, betroffen sind, während die Säule, die womögMartin P. Bühler). lich weiter nach oben reicht, makellos glänzt. In jedem Fall spornt der Hintergrund dazu an, die Figur auf keinen Fall auf die leichte Schulter zu nehmen. Das verstörend Gespenstische der grell ausgeleuchteten Szenerie trägt das Seinige bei, um den Betrachter zu packen. Die basale, vom Bildganzen in rhetorischer Weise neu thematisierte Dichotomie zwischen Leben und Tod bleibt gleichwohl im Körper des Schmerzensmanns, per Tradition ein lebendiger Toter, vereint. Das wird nicht nur in einem durch Vorwärtsbewegung rauschenden und flatternden Grabtuch expliziert, sondern auch in den Augen, die einen entscheidenden Ausschlag zum Verständnis der Figur geben könnten. Hofft man, gleich so vielen Ikonographen, in diesen die Antwort auf die Frage nach dem ›tatsächlichen‹ Zustand der Figur an der Säule zu finden, so wird man zumindest von den besseren Abzügen71 auf raffinierteste Art enttäuscht (Abb. 6): Bei genauerer Betrachtung der Augenregion ergibt sich eine mehrfache Lesbarkeit, entweder leicht geöffnet, direkt unter den Brauen nach schräg oben blickend, oder aber geschlossen. Baldung hat seinem Formschneider offenbar eine Vorzeichnung vorgelegt, die ein Spiel mit den für einen Holschnitt seiner Zeit typischen zahlreichen parallelen Linien vorsah. Diese Linien konnten nach Dürer Schraffur oder aber Kontur sein, mussten also für sich alleine genommen nichts bezeichnen, konnten es aber durchaus.72 Die erste dünne Linie unterhalb der Brauen, auf beiden Augäpfeln in ähnlichem Abstand, als einzige am Auge ganz durchgezogen, sowie eine angedeutete Pupille direkt unter der Braue im linken Auge definieren den 71 Der im Folgenden beschriebene Effekt weicht im Detail bei diversen Abzügen naturgemäß leicht voneinander ab, findet sich jedoch noch durchaus häufig, z. B. bei den Versionen in Basel (hier abgebildet), New York und Regensburg (abgebildet bei Vlachos, Deformation und Verfremdung). Die schlechteren Abzüge in Amsterdam und Straßburg weisen den Effekt hingegen nicht auf. 72 Zu dieser Austauschbarkeit als Erfindung Dürers, vgl. Panofsky, The Life and Art of ­A lbrecht Dürer, S. 47 f.

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geöffneten Zustand. Den geschlossenen hingegen zwei dickere schwarze Linien unter den beiden Augen, die dann als Lidkanten mit Wimpern, im anderen Fall nur als Schatten unter den hochgezogenen, runzlig geschwollenen Unterlidern über den Tränensäcken aufgefasst werden können. Es gibt verschiedene Zeichnungen Baldungs aus den Jahren 1516–19, die Männer mit genau einem solchen runzligen Augentyp mit ausgeprägtem Unterlid zeigen.73 Auch bei genauestem Betrachten ist keine Variante auszuschließen, vielmehr springt es nach Belieben um; das Ganze ähnelt einer Kippfigur des Typs ›junges Mädchen / alte Frau‹. Wie Baldung hier das Medium mit seinen Limitationen, oder besser: mit seinem spezifischen Set von zur Form koppelbaren kleinsten Einheiten, in den Dienst einer konzeptuell anspruchsvollen Kunst stellt, offenbart sehr schön, wie sich semantische Verdichtung auch an eine konkrete visuelle Dichte binden kann. Im Flirren der letztlich vom Gestaltsehen abhängigen Linien entsteht eine Überdeterminiertheit des Bildes, die geeignet ist, mehrere einander widersprechende Repräsentationen ineinander zu schieben. Auch die Augen sind demnach potentiell beides, lebendig und tot, de facto abhängig vom Blick des Betrachters. Er kann Christus als Lebenden ›sehen‹, ihn also gleichsam zum Leben erwecken oder ihn tot und in der Obhut des Engels belassen. Doch was für ein Leben ist das? Sieht man die Augen offen, ist der Blick allerdings keineswegs freundlich. Erlösung, Frieden, Tröstung bekommt man nicht als Bildeffekt geschenkt. Die Alternative ist stimmungsmäßig eher diejenige zwischen ganz tot und untot. Im Verbund mit den zusammengezogenen, von einer Stirnfalte und trotzigen Lippen flankierten ›widerspenstigen‹ Augen des Engels eröffnen sich verschiedene weiter reflektierbare Szenarien des Blicktauschs bzw. der Blickverweigerung. Das Bild bleibt in jedem Fall irritierend. Mit dem namensgebenden vir dolorum oder den byzantinischen Inschriften bereits aufgerufen ist die gelegentlich auch durch Inschriften nachweisbare Verknüpfung des Bildformulars mit liturgischen Texten und diversen Bibelstellen. Rudolf Berliner nennt für die »Vorstellungen und Gefühle, die mit der Veranschaulichung des ›Schmerzensmannes‹ verbunden waren« neben den Evangelien im Wesentlichen »folgende biblische Grundlagen: Hiob 16, v. 7–18; Psalm 22; Jesaias 53; Klagelieder Jeremiae 1,12 und Verse in Kap. 3; die Herrenworte über den panis vivus in Johannes 6; Römer 8,17; 2. Korinther 5,15 und 21; Philipper 3,10 und 11; 2. Thimoteus [sic!] 2,12; 1. Petrus 2,24; Hebräer 9,28 und 13,12.«74 Zwischen diesen Stellen entwickelte sich das soteriologische Konzept »des durch die furchtbarsten menschlichen Leiden Gegangenen, der sie unserer Sünden halber stellvertretend auf sich nahm, damit wir erlöst werden können, wozu wir durch 73 Vgl. Bernhard (Hg.), Handzeichnungen, S. 185, 186, 190, 191, 192, 193 und 200. 74 Berliner, Bemerkungen zu einigen Darstellungen, S. 194.

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mitfühlende Versenkung in die Einzelheiten der durch uns mitverschuldeten Passion auch selbst beitragen können.«75 Diese breite textuelle Fundierung des Bildtyps ist für die Frage nach visueller Verdichtung und kognitiver Stimulanz höchst bedenkenswert. Der Schmerzens­ mann verdankt sein grauenvolles Äußeres eben nicht nur der Passion, wie sie in den Evangelien geschildert wird, sondern auch der Streckbank alttestamenta­ rischer Textstellen, auf die hin seine Leiden passend gemacht wurden. Baldungs schmerzhaft verdrehte und überstreckte Glieder, auch der sichtbare Rippen­ bogen direkt unter dem Schlüsselbein lassen an die voneinander gelösten, zählbaren Knochen des Psalters (22,15 und 18) denken, das Stolpern an ein Zum-Opfer-Geführt-Werden über Dornen nach den Sühnevorschriften in Deuteronomium 21,4 (et ducent eam ad vallem asperam).76 Von dem Opferkalb dort mag Baldungs Schmerzensmann auch seine beiden symmetrisch aufgerichteten Hörner-Locken haben. Sicher wäre es zu forciert, das über die Maßen Versehrte an so vielen dieser fiktiven Körper vorrangig als spätes Symptom hermeneutischer Gewaltakte zu lesen, eben der Absorption alttestamentarischer Formulierungen. Aber gerade Baldungs Bildfindung legt in besonderer Weise offen, dass das Verstörende der Erscheinung nicht zuletzt aus dem Zusammenzwingen heterogener Prätexte in einen Körper resultiert. Auch der Hintergrund und die Anordnung der Arma mussten für die Zeitgenossen ein stetes Gemurmel erzeugen. Lasen sie sogar Texte, während sie das Bild betrachteten? Bibelstellen wie der Psalm 22 (damals 21), der traditionell – sogar vom Gekreuzigten selbst – gebetet wurde, aber auch Hiob, Jesaja und die Klagelieder waren so nahe an der zentralen Erlösungs- und Passionsthematik, dass zumindest die Gebildeteren unter den Betrachtern sie zweifelsohne gelegentlich lasen und Teile davon auswendig kannten. Anleitende Texte wie das genannte »Speculum passionis« Ulrich Pinders zitieren einschlägige Stellen ganz explizit, vor allem Jesaja und die Psalmen. Die anspruchsvollste einzuplanende Zielgruppe solcher religiöser ›Kunststücke‹ waren theologisch versierte Humanisten, man erinnere sich an das anspruchsvolle Humanistenlatein, mit dem Chelidonius Dürers gedruckte Passionsfolgen vervollständigte.77 Es besteht kein Zweifel, dass viele Zeitgenossen die Angleichung des Schmerzensmannes an Hiob beim ›Christus in der Rast‹ 75 Ebd. 76 Vgl. ebd., S. 206–207, zur Relevanz der ersten Stelle; Marrow, Passion Iconography, S. ­96–109, zur Bedeutung der zweiten für die Passionserzählungen. 77 Zu Anspruchsniveau und Kundenkreis avancierter Kunstgraphik am Beispiel Altdorfers, vgl. Bushart, Sehen und Erkennen, S. 47 f.; zum humanistischen Anspruchsniveau von Baldungs Kunst vgl. Weber am Bach, Marienbilder in der Reformation; Brinkmann (Hg.), Hexenlust und Sündenfall. Zum Autor Chelidonius vgl. Scherbaum, Albrecht Dürers Marienleben, S. 117–122.

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oder bei Dürers ›melancholischen‹ sitzenden Schmerzensmännern einordnen konnten, dass sie den Anruf O vos omnes qui transitis […] aus den Klageliedern schon auf Christusdarstellungen gelesen hatten und um die theologische Relevanz der Beschreibung des vir dolorum in Jesaja 53 wussten.78 Baldung selbst war bekanntlich ein lateinkundiger pictor doctus aus einer Akademikerfamilie. Als Illustrator eines Passionstrakts kannte er diese Texte ohnehin.79 Ein mitgedachtes variables Zusammenführen von Text und Bild stellt nicht zuletzt sicher, dass die auf zwei Figuren reduzierte Graphik immer wieder neu mit erbaulichem Gewinn (oder Anerkennung der konzeptuellen Raffinesse) betrachtet werden kann. Der wiederholten Bildkritik z. B. eines Erasmus von Rotterdam, der gerade im Jahr zuvor gegen die bloßen »Umrisse des Körpers« die unauslotbare Tiefe der Schrift in Stellung brachte, konnte mit Schriftgesättigtheit zudem der Wind aus den Segeln genommen werden.80 Beigefügte Bibelzitate, die man auf zur Bildmeditation gebrauchten Holzschnitten finden kann, waren hier sozusagen bereits inkorporiert.81 Magdalena Bushart hat für den Zeitgenossen Albrecht Altdorfer eine Fülle von auf konkrete Formulierungen abzielenden Bilddetails rekonstruiert. Die Berechtigung derartiger, oft kaum narrativer religiöser Bilder, so Bushart, gründete gerade auf dem in Gang gesetzten kognitiven Prozess.82 Explizit vergleicht sie Altdorfers Ansatz auch mit Baldung. Die neuen Qualitätsansprüche der Kunst stellten sich für beide »nicht als Bruch mit der religiösen Bildtradition dar, sondern als Aufforderung, die Zeichenhaftigkeit mittelalterlicher Kunst in die neuen Formen zu überführen und sie so den veränderten Erwartungen einer literarisch versierten und zugleich kunstinteressierten Öffentlichkeit anzupassen.«83 Baldungs Bild ist nicht schön, 78 Vgl. zu Christus als Hiob: Panofsky, The Life and Art of Albrecht Dürer, S. 93; von der Osten, Christus im Elend; von Borries, Albrecht Dürer: Christus als Schmerzensmann, S. 15–18; jüngst Merback, The Man of Sorrows, S. 97–112; zum Jeremiasvers: Belting, Das Bild und sein Publikum, bes. S. 289: »Der Vers war ein Topos, wie das Bild ein Typus. Er ist nicht nur den verschiedensten Passionsbildern (z. B. Kreuzigung und Beweinung) beigeschrieben, die er in eine einheitliche Perspektive lenkt. Mehr noch: er wurde, von der Liturgie und den Passionsspielen bis hin zu religiösen Kampfreden oder Plädoyers bei Gerichtsprozessen, als eine Formel zitiert, die nach Bedarf paraphrasiert und interpretiert werden konnte.« 79 Zur Rolle Baldungs im Illustrations-Projekt für Ulrich Pinders »Speculum Passionis« vgl. Bernhard (Hg.), Handzeichnungen, S. 21 f. 80 »Was kann jenes sonst als die Umrisse des Körpers zeigen, wenn es überhaupt etwas von jenem zeigt. Diese [die Evangelientexte, Anmerkung MR] jedoch bringen dir das lebendige Bild jenes hochheiligen Geistes und Christus selbst, wie er redet, heilt, stirbt, aufersteht, und machen ihn schließlich so in seiner Fülle gegenwärtig, daß du weniger sehen würdest, wenn du ihn mit Augen schautest.« Erasmus von Rotterdam, In Novum Testamentum Praefationes I, S. 36 f., Zitat S. 37. 81 Vgl. Bushart, Sehen und Erkennen, S. 89; zur Praxis vgl. Schmidt, Beschriebene Bilder. 82 Bushart, Sehen und Erkennen, S. 21. 83 Ebd., S. 23.

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nicht naturwahr, nicht einmal die Passion aktualisierend, aber es gibt zu denken und es packt den Betrachter mit seiner Atmosphäre. Es gibt viele, zu viele Sätze in den Klageliedern Jeremias (1 und 3) und vor allem bei Hiob 16–19, die einzelnen Bilddetails zu mehr Bedeutung verhelfen und den verblüffenden Eindruck erwecken, sie hätten die Genese des Bildes beeinflusst – was für alle kaum denkbar ist. Liest man beide Texte, zeigen sich jedoch auch Parallelen, die in der Toposhaftigkeit der alttestamentarischen Klage über göttliche Vernichtung begründet sind. Zunächst sind es die Körperbilder: Ausgehungerte Rippen, zerstörte Arme, Verwundungen, Altern der Haut und so fort werden als Folge göttlicher Gewalt beschrieben.84 Und mehr noch, auch die dramatische Beleuchtungssituation,85 bauliche Blockaden, klaustrophobische Räumlichkeit, das Laufen über Dornen und Fallen, verstörende Momente der Ablehnung durch Vertraute, wie sie möglicherweise im Verhältnis zum Engelchen erkannt wurden  – auf all das konnte der zeitgenössische Betrachter sich auch in lediglich diffuser Erinnerung an die Bildwelten des Alten Testaments einen groben Reim machen. Verglichen mit Dürers »Schmerzensmann an der Geißelsäule« (1509) aus der Kupferstichpassion, die als ein Vorbild genannt wird,86 weist die Räumlichkeit Baldungs eine ganz eigene traumartig-irrationale Qualität auf, die deutlich über die Kellerräume etc. der Passionsberichte hinausführt und sich offenbar gerade den archaischen Sprachbildern des Alten Testaments verdankt. Jenes diffuse Erinnern, der Nachhall bestimmter Formulierungen, wird die Quote jener erhöht haben, die irgendwann tatsächlich nach dem Text griffen. Gab es da z. B. nicht etwas mit einem versperrten Weg und einer heruntergefallenen Krone? Semitam meam circumsepsit, et transire non possum: et in calle meo tenebras posuit. Spoliavit me gloria mea, et abstulit coronam de capite meo (Hiob 19,8–9).87 Vielleicht bemerkte man nach der Lektüre erst, wie schmerzhaft 84 Vgl. z. B. Hiob 16,8–9 und 14–15; besonders interessant ist 18,12: Attenuetur fame robur ejus, et inedia invadat costas illius. Devoret pulchritudinem cutis ejus, consumat brachia illius primogenita mors. In zeitgenössischer Übersetzung (s. u.): »Sein krafft wirt gekrenkt mit dem hunger / vnnd die armkeyt angange sein rippen. Sein haut verwülte die schöne / vnd dem erstgeborn tod der verwüst sein arm.« Fraglos war der linke Arm des Erstgeborenen durch dessen Tod »verwüst«. Parallel siehe die Schilderungen in Klgl 3,1–16. 85 Vgl. Hiob 17,12 spricht von (in den Reden der Freunde invertierter) Helligkeit und Dunkelheit: Noctem verterunt in diem, et rursum post tenebras spero lucem. Hier fügen sich Klgl 3,2 (Me minavit, et adduxit in tenebras, et non in lucem.) und 3,6 (In tenebrosis collocavit me, quasi mortuos sempiternos.) Für Baldungs Verhältnisse ist die Dunkelheit des Sujets nicht besonders ausgeprägt, doch kann man sich die Intensität der Beleuchtung kaum anders denn bei Nacht vorstellen. Entsprechend hat sich seine Bildfindung zum Nachtstück weiterentwickelt (siehe Abb. 8). 86 Vgl. Marrow und Shestack (Hg.), Prints and Drawings, S. 208. 87 Wörtlich: »Er hat meinen Weg umschlossen und ich kann nicht hinübergehen, und auf meine Straße hat er Dunkelheiten gesetzt. Entkleidet hat er mich meiner Ehre und weggenommen die Krone von meinem Haupt« (eigene Übers.).

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Christus mit seinem verdrehten Arm sich am ›umschließenden‹ Bildrahmen stoßen muss. Doch führte umgekehrt das Bild auch den Text in eine neue, die tropologische Dimension: Der offenkundig versperrte Weg ist derjenige des Betrachterblicks in die Tiefe des Torbogens. Sein transire ist es, das letztlich zur Disposition steht.88 Die besondere Auswirkung, die solche Anknüpfungsmöglichkeiten auf das Denken und die Interpretation des Bildes haben, können also nur im Blick auf konkrete Beispiele erläutert werden. Dabei ist es nicht ganz problemlos zu bestimmen, wie die Worte der Vulgata konkret verstanden wurden. Da es zum Teil auf einzelne Formulierungen ankommt, greifen wir auf Günther Zainers Straßburger Vulgata-Übersetzung von ca. 1475/76 zurück.89 Die gebildeteren Zeitgenossen Baldungs wussten aus einigen der Sätze wohl dennoch Sinnvolleres zu machen.90 Beginnen wir mit einigen Auszügen aus der von Berliner genannten Kernpassage Hiob 16, deren Verse jedoch allesamt auf den Schmerzensmann und sein Verhältnis zum Betrachter umgemünzt werden könnten. 16,10 Collegit furorem suum in me, et comminans mihi, infremuit contra me dentibus suis: hostis meus terribilibus oculis me intuitus est. (»Er hatt gesamet seinen grymmigen zoren wider mich vnd wöend mir hatt er grysgramt mit seinen zenen wider mich. Mein feind der sach mich an mit vorchtsamen [gemeint: schrecklichen, Anmerkung MR] augen.«)91 16,13 Ego ille quondam opulentus, repente contritus sum: tenuit cervicem meam, confregit me, et posuit me sibi quasi in signum. (»Ich was etwen vol reychtumb ich bin zerknischet gächlich / er hielt mein halsader [eigtl. Hals, Genick, Anmerkung MR]. Vnd zerbrach mich / vnd saczt mich im als zum eim zeychen.«)92 16,15–17 Saccum consui super cutem meam, et operui cinere carnem meam. Facies mea intumuit a fletu, et palpebræ meæ caligaverunt. (»Ich näet den sack auf mein

88 Ähnliches ergibt sich, wenn man Klgl 3,5–9 auf das Bild projiziert, besonders den letzten Vers: Conclusit vias meas lapidibus quadris; semitas meas subvertit. 89 Verwendet wurde ein Exemplar in der Bayerischen Staatsbibliothek (BSB -Ink B-485 – GW 4298), persistenter Identifier: urn:nbn:de:bvb:12-bsb00025978–3. 90 Zum besseren Sinnverständnis dient die revidierte Lutherübersetzung in den folgenden Anmerkungen, die jedoch bekanntlich korrigierend auf ältere Überlieferungen als die Vulgata zurückgreift. 91 »Sein Grimm hat mich zerrissen, und er war mir Feind; er knirschte mit den Zähnen gegen mich; mein Widersacher funkelt mich mit seinen Augen an.« 92 Ich war in Frieden, aber er hat mich zunichte gemacht; er hat mich beim Genick genommen und zerschmettert. Er hat mich als seine Zielscheibe aufgerichtet. Vgl. auch 17,6: Posuit me quasi in proverbium vulgi, et exemplum sum coram eis.

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haut / vnd ich bedackt mein fleysch mit aschen. Mein antlitz geschwal von dem weynen / vnnd meine augbrawen oder augen die ertunckelten.«)93 16,21–22 Verbosi amivi mei: ad Deum stillat oculus meus atque utinam sic judicaretur vir cum Deo, quomodo judicatur filius hominis cum collega suo! (»[V]ol rede seyen mein freund. Mein aug tropffet zů got. Vnd ich wolt das der man wirt geurteylt mit got Wie wirt geurteylet der sun des menschen mit seinem gesellen.«)94 16,23. Ecce enim breves anni transeunt: et semitam per quam non revertar ambulo. (»wann sich die kurczen iar die vergangen / vnnd ich gee den steyg durch den ich nit widerkere.«)95 Ist es nicht das, was Baldung sich offensichtlich vorgenommen hat: die Figur erneut zu zerbrechen und sie dann wider alle Natur wieder aufzurichten, als ein Zeichen? (Mottoqualität hat auch 17,6: Posuit me quasi in proverbium vulgi, et exemplum sum coram eis.)96 Weshalb sieht man die geschlossenen Zähne im kaum geöffneten Mund? Immerhin ist die Hauptfigur zugleich Opfer und drohender Gott selbst, der also durchaus selbst knirschen kann. Sind seine Augen uns feind? Wie im Weisen der Wunden in vielen Fällen zugespitzt,97 ist der Schmerzensmann auch eine Drohfigur für den Betrachter. Trotz der uralten Verehrungsgeste der verhüllten Hände scheint auch das Verhältnis zum Engel keineswegs eindeutig. Packt dieser mit seiner Linken als Vertreter der handelnden Macht nicht wahrscheinlich das Genick – und agiert damit laut Text das ›Zerbrechen‹, offenkundig aber das ›Aufstellen‹ im Bild aus? Auch hier wird man möglicherweise auf etwas aufmerksam, das eine intensive Bildbetrachtung auch alleine ins Bewusstsein heben könnte: dass das Engelchen als Präsentationsfigur den Künstler vertritt. Die zitierten Textstellen geben Anreize, die merkwürdige emotionale Beziehung zwischen Engel und Schmerzensmann weiter zu hinterfragen. Traditionell spiegeln die um Christus bemühten Kinderengel die Emotionen der Betrachter.98 Bereits bildimmanent also könnte so die stets im Schmerzensmann angelegte ambivalente Bewertung des Betrachters markiert sein: Nimmt er das Opfer an und 93 Ich habe einen Sack um meinen Leib gelegt und mein Haupt in den Staub gebeugt. Mein Antlitz ist gerötet vom Weinen, auf meinen Wimpern liegt Dunkelheit. 94 Meine Freunde verspotten mich; unter Tränen blickt mein Auge zu Gott auf, dass er Recht verschaffe dem Mann bei Gott, dem Menschen vor seinem Freund. 95 Denn nur wenige Jahre noch und ich gehe den Weg, den ich nicht wiederkommen werde. 96 Zainer-Bibel: Er saczt mich als zů einem sprichwort des volcks / vnd ich bin ein ebenbild fur in. 97 Vgl. Anm. 66. 98 Vgl. Panofsky, »Imago Pietatis«, S. 266–268, 279 f.; Held, Engel, S. 35 f.

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identifiziert sich oder weist er ab? Verschlimmert er das Leiden oder verschafft er Linderung? Ist der Engel, sind wir iniquus und inpius, ungerecht und gottlos, Feind (hostis) oder ausgesöhnter collega? Wütend funkelnde Augen, Schatten irgendwo auf dem Lid und zugleich ein Blick nach oben, all das ist im Dialog mit dem Engelchen und dem Unschärfe-Spiel um die Augen Christi – deren Blick der Betrachter am Ende der Zeit ersehnt! – angelegt. Und droht nicht der linke Fuß anschaulich einen Weg zu beschreiten, der endgültig von uns wegführt? Liest der Bildbetrachter seinen Hiob weiter, so sind bis inklusive 19 die Mehrzahl der Stellen ebenso klar typologisch auf Passion und damit Schmerzensmann beziehbar, wie sie sich zu Baldungs Graphik fügen. Insbesondere werden gegen Ende die impliziten Dimensionen Auferstehung und Gericht aufgerufen, welche die tiefere Bedeutung des Fortlebens und die Dringlichkeit der Betrachtung begründen. Wir greifen nur noch einige heraus, die mit konkreten Gestaltungsweisen oder Irritationsmomenten seiner Bildfindung in Beziehung gebracht werden können; zunächst 17,3, wo die Rechts-Links-Frage zumindest indirekt zu greifen ist, zudem verknüpft mit Händen: Libera me, Domine, et pone me juxta te, et cujusvis manus pugnet contra me (»O her erlöß mich vnd setz mich bei dir / vnd wöllichs hand du wilt die streit wider mich.«) Auch hier kann der Text eine innerbildliche Argumentation absichern oder erst in die Aufmerksamkeit des Betrachtenden rücken. Besonders interessant für die Objekte am Boden ist die Bedrohung Hiobs als potentiell Gottloser in 18,7–11: Arctabuntur gressus virtutis ejus, et præcipitabit eum consilium suum. Immisit enim in rete pedes suos, et in maculis ejus ambulat. Tenebitur planta illius laqueo, et exardescet contra eum sitis. Abscondita est in terra pedica ejus, et decipula illius super semitam. (»Die genge seyner krafft werden geengert vnd sein rat der vmbsturczt in / wann er ließ sein füß in das netze / und er geet in seinen maschen / sein sol wirt behabt mit dem strick vnd der durst brinnt wider in. Sein fůßband ist verborgen auf der erde vnd sein wolfßual [Wolfsfalle, Anmerkung MR] auff dem steyg.«)99 Man erinnert sich bei consilium womöglich daran, dass das Stolpern der nahezu auf einer Linie positionierten Füße nicht nur einen ›Fall‹ impliziert, sondern dass diese Abstiegs- und Erniedrigungsbewegung einem göttlichen Erlösungsplan folgt und die individuelle Chance zur Erhöhung einschließt. Mit diesem Satz ergibt nicht nur das rätselhafte Detail der funktionswidrig (zu maculae) geflochtenen Geißelstränge einen Sinn, auch die an die Füße gerückte Krone bekommt potentiell noch eine weitere Dimension, 99 Seine kräftigen Schritte werden kürzer, und sein eigener Plan wird ihn fällen. Ins Garn bringen ihn seine Füße, und über Fanggruben [eine Abdeckung mit Flechtwerk, Anmerkung MR] führt sein Weg. Das Netz wird seine Ferse festhalten, und die Schlinge wird ihn fangen. Sein Strick ist versteckt in der Erde und seine Falle auf seinem Weg.

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als zweite Falle. Ähnelt sie nicht, mit dem Gelesenen im Hinterkopf, plötzlich einem aufgespannten Fangeisen oder ist sie die genannte Schlinge für den Fuß? Dienen solche neuen Zuordnungen nur als memoria verborum (wozu der Aufwand für eine eher unwichtige Passage?) oder kann z. B. die Dornenkrone, kann eine Krone schlechthin eine Falle sein? Die aufs Bild treffenden Worte, durch sein eigenes Gemurmel gleichsam herbeigerufen, vermögen Details in ein ganz neues Licht zu setzen und potentiell weitere Überlegungen zu befördern. Am wahrscheinlichsten jedoch ist, dass man schlicht den Künstler dafür bewundert, wie er mithilfe von Textbezügen ein gleichermaßen wirkungsvolles wie ›tiefes‹ Bild generiert hat. (Und sich selbst dafür gratuliert, einige der ›murmelnden‹ Details aufgelöst zu haben.)100 Verwandte, Freunde, Untergebene, so betrauert Hiob, hätten sich von ihm abgewendet, als ob sie ihn nicht mehr erkennen würden, in ihren Augen sei er wie ein Fremder (sicut alienum bzw. peregrinus,101 19,15). Im Nicht-Erkennen könnte eine Erklärung für das struppige, für Christus untypisch kurze und dicke Haupthaar liegen, das seinen Kopf einem wilden Mann annähert und auf der atmosphärischen Ebene viel zur Originalität des concetto beiträgt. Es zeigt sich, wie ergiebig die Kombinatorik von Bild und Text gerade vor dem Hintergrund der oszillierenden Bezugsverhältnisse des Schmerzensmanns ist. Wie zu zeigen war, dienen nicht wenige dieser dem Alten Testament entlehnten Metaphern als Konnex zwischen Schmerzensmann und Betrachter, betreffen potentiell beide. Zugleich erlaubt das Verfahren, das Vermögen des Künstlers zu feiern, aus biblischer Sprachlichkeit eine adäquate neue Form frommer Bildlichkeit zu prägen. Das könnte sich bis auf die grelle Lichtführung erstrecken, die den Schmerzensmann von oben erfasst. Bei der Lektüre von Klgl 1,13 kann dieses Licht semantisiert werden: De excelso misit ignem in ossibus meis, et erudivit me: expandit rete pedibus meis, convertit me retrorsum; posuit me desolatam, tota die mœrore confectam. (»Er sant das feur von der höch in meinen beynen vnd leret mich. Er spien auff [spannte auf, Anmerkung MR] ein netz meinen füssen vnd keret mich zerugk. Er saczt mich wüst den gantzen tag verzört mit trauren.«) So lässt sich auch die starke Ausleuchtung, von der der Schmerzensmann den Kopf abwendet, die ihn dem Text zufolge umzuwerfen droht,102 als Metapher der göttlichen Strafe auffassen, die besondere Helligkeit des überstreckten Arms mithin als Zeichen des Schmerzes in den Knochen. In derselben Stelle aber, unmittelbar an den berühmten Vers 1,12 anschließend, konnte man über den gänzlich ›unerbaulichen‹ Bildwitz stolpern, der 100 Vgl. Belting, Bild und Kult, S. 523. 101 Zum Topos der Pilgerschaft Christi in der Welt vgl. Falkenburg, Joachim Patinir, S. 98 f. 102 Kurz zuvor hatte Baldung eine Bekehrung des Saulus ausgeführt, vgl. Mende, Hans Baldung Grien, Nr. 42.

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auch in immisit enim in rete pedes suos (Hiob 18,8) steckt: Just unter den Füßen befindet sich, eng begrenzt, eine der wenigen netzartigen Kreuzschraffuren im Bild. Ähnlich wie beim Spiel mit dem Auge oszilliert auch die textgeleitete Bildwahrnehmung plötzlich zwischen den Dingen und ihrer materiellen Vermittlung. Vergleichbares Potential hat eine Stelle wie et operui cinere carnem meam (Hiob 16,16), denn das wurde vor dem Abdruck getan: der künstliche Körper mit der Asche der Druckerschwärze bedeckt. So wurden natürlich auch die tenebras auf dem Weg gesetzt (Hiob 19,8). Anfügen ließe sich, auf die konzeptuelle Ebene wechselnd, die Autorfrage beim »Zerbrechen und Als-Zeichen-Setzen« (Hiob  16,13). Der Künstler – alter deus oder ein widerspenstiger Engel? Doch vermeiden wir es auch im Blick auf künstlerische Selbstreflexivität, den Textstellen eine exklusive Schlüsselfunktion zuzuschreiben, die sie nicht haben. Das Bild selbst führt den Betrachter im Zentrum zu einer Reflexion über seine Materialität. Es ist der ostentative ›Schnitt‹ zwischen Oberkörper und Unterkörper – eine Art über Gebühr gestreckte Seitenwunde – der die tiefste Schwärze des Bildes aufweist. Die Assoziation mit der Seitenwunde führt insofern ins Leere, als keine umgrenzte Öffnung und kein Blut zu sehen ist, nur Druckerschwärze. Überhaupt ist der gepeinigte Körper vor der ›Geißelsäule‹, von den zwei als Öffnung umso bedeutenderen Nagelwunden abgesehen, blut- und wundenfrei. Dafür ist er von unzähligen schwarzen Strichen  – Schnitten  – bedeckt. Oder richtiger: von weißen Schnitten. In einem Hochdruckverfahren bedeutet eine Zone tiefster Schwärze ja, dass es sich dabei de facto um die unverletzteste Stelle des Körpers handelt. Am schlimmsten traktiert wurde hingegen da, wo das Licht den Körper trifft, am toten Arm etwa. (Womit wir potentiell wieder bei der Umkehrung von dunkel und hell wären, die Hiob beklagt, oder dem Feuer vom Himmel, das in den Knochen wütet.) Nehmen wir solche innerbildlichen und vielleicht auch die textuell herantragbaren Aufhänger zur medialen Reflexion ernst, dann kippt an verschiedensten Stellen die Sättigung des Bildes mit erbaulichen Details in eine zunehmende Selbstbezüglichkeit, eine Dynamik, die das Äquilibrium zwischen künstlerischer und religiös motivierter Artifizialität nachhaltig stören kann. Ergänzend wäre auf Baldungs »Heiligen Sebastian« von 1512 (Abb. 7)103 zu verweisen, der eine männliche, gequälte Figur an einer ›Säule‹ mit flatterndem Tuch, Putten und einer in vielen Aspekten ähnlichen Körperhaltung einschließlich Fußverdrehung, aufweist. Die Übereinstimmungen zwischen den Bildern lassen sich nicht mit künstlerischer Limitation erklären, sie verdanken sich vielmehr einem bewussten kreativen Prinzip und zielen auf einen Vergleich. Die im Kontext einer Graphiksammlung gut zu vollziehende Gegenüberstellung von Werken des Künstlers mag noch – wenngleich rückwirkend, für das ältere 103 Vgl. Mende, Hans Baldung Grien, Nr. 29.

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Abb. 7: Hans Baldung gen. Grien, Hl. Sebastian, 1512, Holzschnitt, Amsterdam, Rijksmuseum (Rijksmuseum Amsterdam).

Bild – einer vertieften religiösen Einsicht in die imitatio Christi des Märtyrers dienstbar gemacht werden und dessen Schrittstellung deutlicher als geplanten Übertritt in eine andere Sphäre ausweisen. Doch ist man ehrlich, wirkt auch diese nachträgliche Pendantbildung wie eine selbstzweckhafte Spielerei, ein von Baldung mehrfach104 praktizierter Kniff, das Sammeln seiner Bilder besonders lohnenswert zu machen. Die sprechende Wiederaufnahme von Motiven und 104 Erkannt ist bereits die sprechende Parallelität eines weiteren Schmerzensmannes von 1511 (ebd., Nr. 27) mit einer formatgleichen Darstellung der Lucretia (Nr. 72). Vgl. Marrow und Shestack (Hg.), Hans Baldung Grien: Prints and Drawings, S. 156; eine vergleichbare Übertragung eigener Kompositionen findet sich auch in Gemälden, vgl. Shestack, An Introduction to Hans Baldung Grien, S. 17. Zum Verfahren einer vorgesehenen Pendantbildung von Druckgraphiken bereite ich einen Aufsatz vor.

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Kompositionen in Dürers durchblätterbaren Passionszyklen105 ist hier in die Logik des Einblattdrucks übertragen worden. Komplexität ist dabei nur noch eine Frage künstlerischer inventio. Die frappierende Parallele zwischen der Bauchfessel des Sebastian und dem beschriebenen tiefschwarzen Einschnitt unter den Rippen lässt uns nicht rückwirkend etwa eine Seitenwunde bei Sebastian sehen, sondern stellt vielmehr die künstlerische Genese des Schmerzensmanns als Variation auf den Sebastian als letzte Pointe aus. Eine weitere mögliche selbstbezügliche Dimension sei zumindest angetippt: Jürgen Müller hat in überzeugender Weise eine Frontstellung zwischen Dürer und den aus der Höhe kunsttheoretischer Regelwerke auf ihn herabschauenden italienischen Neider rekonstruiert, auf die der Deutsche mit ironischen Kommentaren antwortet. So produziert er zum Beispiel ›bildunwürdige‹ Bauernfiguren, die gleichwohl nach antiken Vorbildern konstruiert sind.106 Baldungs überzogene, groteske Zerteilung des Körpers kann ebenfalls vor diesem Hintergrund in Italien geprägter Vorstellungen der imitatio artis mit ihrer Praxis auswählender Übernahme von Körperteilen und Posen verstanden werden. Was anfangs als eine Art Zeitgeist erwähnt wurde, der möglicherweise die neuen Strategien zum Umgang mit dem Schmerzensmann nahelegte, könnte so betrachtet zugleich Ziel eines bissigen Kommentars geworden sein. Insbesondere vergeht sich Baldung ostentativ an dem Postulat, alles in einen harmonisch konstruierten Körper zusammenzuschmelzen. Dazu passt sein perspektivisch ›gescheiterter‹ Hintergrund als selbstbewusste Provokation. Nicht nur die ihm bekannten Sammler mit ihrem in erasmisch-frommem Humanismus gegründeten Interesse an neuen, genuin christlichen Bildsprachen waren hier also möglicherweise Ziel eines Meta-Kommentars, sondern auch die Welschen.107 Betrachten wir die analysierten Schmerzensmänner nochmals als Umbruchs­ symptome, so verweisen diese neben dem Prozess des Einander-Ablösens von Innovation und Gewöhnung noch auf eine größere Entwicklung, nämlich das adaptive Wechselspiel zwischen Form und Funktion. Bernhard Ridderbos, darin Hans Belting folgend, sieht dieses bereits mit der Aufnahme des neuen östlichen Bildtypus im Westen beginnen: Eine Bildform zieht neue Funktionen (Stichwort ›Andachtsbild‹) auf sich und erfährt entsprechend dieser Funktionen weitere 105 Vgl. Hass, Two Devotional Manuals. 106 Vgl. Müller, Ein anderer Laokoon, S. 389–414, 436–455. 107 »Nahezu das gesamte intellektuelle Umfeld Baldungs bestand aus Anhängern des Erasmus von Rotterdam.« Weber am Bach, Marienbilder in der Reformation, S. 65. Zu den neuen Bildidealen des keineswegs atheistischen Humanismus vgl. Bushart, Sehen und Erkennen, S. 19–23; allg. zu erasmischen Bildkonzepten und der Suche nach einem christlichen Bildstil: Müller, Das Paradox als Bildform. Eine kritische Auseinandersetzung des ›Manieristen‹ Baldung mit Renaissance-Standards bemerkt Shestack, An Introduction to Hans Baldung Grien, hier S. 12.

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Akzentuierungen.108 Dabei gerät auch für ihn die künstlerische Leistung notwendig in den Fokus: »The optimalising of the iconographical form as an instrument for personal devotions stimulated the development of artistic forms as means of expression of this iconographic form, and these in turn drew attention to themselves as proofs of artistic skill.«109 Es mag eine Binsenweisheit sein, dass sich dann gerade zwischen Dürer und Baldung Fissuren abzeichnen, die immer deutlicher offenbaren, dass das ganze System auch im Norden bereits im 15. Jahrhundert begonnen hat, von reflektierter religiöser Repräsentation langsam auf Kunstproduktion umzustellen. Interessanter jedoch ist es, auf den Spezialfall Schmerzensmann zu fokussieren. Dürer wird sich mit Christus, mit dem Schmerzensmann im Besonderen, tatsächlich stark identifiziert haben, wie ein frühes Gemälde in Karlsruhe und eine späte Zeichnung (ehemals Bremen) nahelegen, die beide des Künstlers Züge erkennen oder zumindest erahnen lassen.110 Darüber hinaus jedoch erteilt diese Figur in einer schwierigen Phase des Übergangs zwischen religiöser Repräsentation und Kunstschöpfung die Lizenz zur völligen Freisetzung künstlerischer Phantasie. Sie ist ein Einfallstor für das neue Bildkonzept, insofern sie dem Künstler auch für ein religiöses Thema dichterische Freiheit zuspricht.111 Die Aufgabe verspricht sogar doppelte Unabhängigkeit, von den alten und neuen Zwängen der Wahrhaftigkeit: Auch die kunsttheoretischen Anforderungen an Naturwahrheit lassen sich ignorieren, was insbesondere Baldung offenbar zu schätzen wusste. Mit Dürers Wiederanreicherung der Figur in völliger Konvergenz religiöser, künstlerischer und ökonomischer Interessen bahnt sich keimhaft bereits die nächste Volte an: Die skizzierte Rückwendung auf den sprechenden Körper als offenkundige inventio eines Künstlers (statt Abbild eines Himmlischen oder etabliertes Zeichen des Messopfers) scheint eine Eigendynamik zu gewinnen, in der Interessantheit und Innovativität zum Selbstzweck werden. Bezeichnenderweise lässt sich eine Akzelerierung in dieser Richtung im Moment eines sich etablierenden konkurrenzbasierten Kunstsystems beobachten, und zwar nicht zufällig gerade im Medium der Druckgraphik. Wie keine andere Kunstform zielt diese schon früh auf Sammlung und damit Vergleich; sie muss zudem unbestimmte Käufer ködern und produziert aufgrund schneller Distribution in immer kürzeren Intervallen Feedbackschleifen motivischer Variation.112 In diesem System

108 Vgl. Belting, Das Bild und sein Publikum, S. 13; Ridderbos, The Man of Sorrows, S. 151. 109 Ridderbos, The Man of Sorrows, S. 151. 110 Vgl. Bonnet, ›Akt‹ bei Dürer, S. 262–267; Merback, The Man of Sorrows, S. 106–111. 111 Vgl. Belting, Bild und Kult, S. 511. 112 Zur Konkurrenz vgl. Müller und Pfisterer (Hg.), Der allgegenwärtige Wettstreit in den Künsten der Frühen Neuzeit; Prochno, Konkurrenz und ihre Gesichter in der Kunst. Zur Dynamisierung der druckgraphischen Produktion unter den Vorzeichen der imi-

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kann das unter den Vorzeichen der ›Erbauung‹ wiedererweckte, auch ästhetisch reizvolle Irritationspotential der wandelnden Toten gänzlich freigesetzt werden. Insbesondere dann, wenn die religiösen Implikationen nicht mehr unhinterfragt Gültigkeit beanspruchen können – in Momenten totaler Skepsis.

Sebald Behams gespenstischer Schmerzensmann Steht die religiöse Produktivität des Bildes, die bei Dürer noch als Motor kreativer Innovation begriffen werden kann, bei Baldung nach unseren Analysen immerhin noch außer Frage, so eröffnen sich starke Zweifel, wenn man sich Sebald Behams »Schmerzensmann mit Kelch und Hostie« (Abb. 8) betrachtet.113 Er greift offenkundig die erfolgreiche Mixtur zwischen schauriger Stimmung, zeitloser, also nicht unmittelbar auf die Passion zu beziehender Örtlichkeit und gezielter Entstellung des Körpers auf. Das Ergebnis ist ein fesselnder ästhetischer Effekt, womöglich auch eine nicht unkomplexe Argumentation, jedoch kein Skript kognitiver Prozesse im Sinne der Passionsmeditation mehr. Das Bild murmelt noch, etwa von einem verworfenen Eckstein (Ps 118,23; 1 Petr 2,4–10) außerhalb der Stadtmauern (oder der Kirche), es eröffnet frappierende Analogien zwischen den Muskeln des Unterschenkels und einem plötzlich organisch wirkenden metallenen Kelch. Doch solche Gleichungen sind  – zusammen mit einer Hostie  – theologisch so simpel wie sie visuell verstörend sind. Nimmt man das von Dürer entlehnte Motiv des verworfenen Ecksteins114 zur Grundlage, lässt sich die Situation so verstehen, dass Christus gezwungen ist, außerhalb der fortifizierten, aber bereits rissigen Kirche fortzuschreiten. Damit wäre das Bild zumindest für Protestanten als Allegorie annehmbar, aber letztlich entschärft.115 Radikaler ist die, wenn man es sich denn zu denken traut, kaum von der Hand zu weisende Idee, dass hier ein Wesen des Nachts aus dem Kreuz heraus steigt und sein eigenes Blut in einen Kelch sprudelnd um die Stadt schleicht.116 Der von Dürer affektiv produktiv gemachte Schauder bleibt, doch statt einer vielfach lesbaren synthetischen figura hat sich der Schmerzensmann wieder in etwas tatio und aemulatio bzw. eines Wettbewerbs um neue, attraktive Bildfindungen in der Generation nach Dürer vgl. z. B. Bushart, Sehen und Erkennen, S. 55–67, und Müller und Küster, Der Prediger als Pornograf? bes. 28–30. 113 The Illustrated Bartsch, Bd. 15, hg. von Koch, S. 49, Nr. 26. 114 Vgl. Schneider (Hg.), Dürer. Himmel und Erde, S. 56. 115 Vgl. ähnlich Zschelletzschky, Die ›drei gottlosen Maler‹ von Nürnberg, S. 172 f. 116 Elemente, die in diese Richtung eines »zombie Christ« (Merback, …pis im Got geben well, S. 127) weisen, wurden bereits erkannt, einschließlich des Aus-dem-Kreuz-Tretens (Didi-Huberman, Hans Sebald Beham, hier S. 257) jedoch bezeichnenderweise nie unsublimiert als mögliche Botschaft des Bildes akzeptiert.

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Abb. 8: Sebald Beham, Schmerzensmann mit Kelch und Hostie, 1520, Kupferstich, Amsterdam, Rijksmuseum (Rijksmuseum Amsterdam).

gänzlich Einsinniges verwandelt, nämlich in ein veritables Gespenst. Das seit Baldung greifbare Gespenstische des Schmerzensmanns scheint radikal ernst genommen und auf die Konzeption eines sich in der Eucharistie als instantanem Gnadenmittel reproduzierenden Christus angewendet. Die Aufhebung der Differenz von tot und lebendig, die dem Konzept immer eingeschrieben war, hypostasiert sich zur Figur eines Untoten, der ausweislich seines wulstig verwachsenen Rückens lange Zeiten in einem engen Grab verbringt,117 aber nicht endlich zur Ruhe kommen darf. Mit seinen Schläfenlocken zieht er wie Ahasver ruhelos durch die Welt, vom Licht weg ins Dunkel und weist seinen schaurigen 117 Ähnlich bereits Merback, …pis im Got geben well, S. 127.

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Apparat vor, der unter diesen Vorzeichen als das offenbar wird, was er bei objektiver Betrachtung immer hätte sein können: eine an archaische magische und anthropophagische Vorstellungen gemahnende Abtrennung seines Körpers. Die traditionelle Nähe zwischen Sinnbild und Monster scheint hier raffiniert für eine neuartige inventio ausgebeutet. Versucht man, die Entstellungen auf der neuen Basis zu ›lesen‹, ist der Diskurs plötzlich ein anderer als die bekannte Sühneopferthematik. Wie die Gestraften bei Dante, die etwa ihren Kopf in der Hand tragen, um ein Bild ihrer Schuld abzugeben,118 leuchtet sich der Bucklige, Ding gewordene Körperteile in der Hand tragend, mittels einer »unförmig«119 wabernden Aura seinen Weg. Ist es zulässig, 1520 bereits die Umbesetzung der Idee des Gespensts in der Reformation mitzudenken, von der nach Erlösung strebenden, mahnenden und bittenden Seele aus dem Fegefeuer zum bloßen Dämon?120 Der ganze kirchliche Erlösungsapparat, so scheint es jedenfalls, wird in diesem Bild zum Teil eines Gruselmärchens erklärt. Eine solche, das zu Sehende wörtlich nehmende Lesart klingt atemberaubend ahistorisch. Doch es ist ebenso unvorstellbar und doch in Gerichtsakten belegt, dass Sebald Beham selbst unter Androhung von Folter und in Inkaufnahme gravierender sozialer Konsequenzen die Wirksamkeit der Eucharistie, ja sogar die Existenz von Christus in der von der Kirche gepredigten Form rundheraus abgeleugnet hat.121 Von seinem jüngeren Bruder wird fünf Jahre nach Entstehung des Bildes kolportiert, »er kenn keynen Cristum. Wiß nichts von ime zu sagen, sey ime eben als wan er hore von hertzog Ernsten sagen, der in berg gefaren soll sein.«122 Das trifft exakt die hier unterstellte Pointierung als Märchenfigur. Die beiden Brüder gehörten nachweislich zu jenen, die in den Umbrüchen der frühen Reformation bereit waren, alles in Frage zu stellen. Die meisten Käufer, die das Bild goutierten, können es nicht aufgrund dieser radikalen Botschaft des Zwanzigjährigen getan haben. Mitchell B. Merback hat jüngst eine voraussetzungsvolle Lesart als geheime Ergänzung der Erlösungs118 Gemeint ist Bertran de Born, Inf. XXVIII, V. 118–123. Zu Dantes sprechendem Konzept der angemessenen Bestrafung vgl. Pasquazi, Art. ›Contrapasso‹, S. 181–183. 119 Didi-Huberman, Hans Sebald Beham, S. 257. 120 Vgl. Missfelder, Nichts als Gespenster. 121 In den Vernehmungsakten werden die Antworten von Sebald und seinem Bruder Barthel auf einige gezielte Fragen als gleichlautend festgehalten: Ob sie an Gott glauben: ja; was sie von Christus halten: nichts; ob sie dem heiligen Evangelium glauben: wissen sie nicht recht; was sie vom Sakrament des Altars halten: nichts; von der Taufe: nichts; Anerkennung der weltlichen Obrigkeit: nein. Sebald in einer früheren Vernehmung: »[…] er konn nit glauben, das in der gestalt des weins und brots der leib und pluet Christi da sey.« Akten zum Verfahren gegen Sebald Beham und Barthel Beham sowie Georg Pencz, in: Müller und Schauerte (Hg.), Die gottlosen Maler von Nürnberg, S. 45–48, Zitat S. 46. Vgl. auch Schwerhoff, Wie gottlos waren die ›gottlosen Maler‹? Dort (S. 35) wird erläutert, dass die zweite Befragung nach Verhaftung in der Folterkammer stattfand (ohne Tortur). 122 Schwerhoff, Wie gottlos waren die ›gottlosen Maler‹?, S. 38.

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arbeiten während der dreitägigen Grabesruhe vorgelegt, einschließlich bewusster Anklänge an pagane Opferriten, für die die Humanisten großes Interesse zeigten, und auch protestantische Diskussionen um den Laienkelch als Referenz nicht ausgeschlossen.123 Vermutlich haben die meisten einfach ein besonders gewagtes eucharistisches Christusbild in der Tradition des Baldung Grien oder eine papstkritische Allegorie mit ›Christus‹ in der Hauptrolle erworben.124 In jedem Fall hätte eine Synthetizität der Hauptfigur für sie allenfalls noch in Referenzen auf Dürervorlagen wie den Profilkopf aus der Verspottung Christi der »Kupferstichpassion« bestanden,125 vielleicht auch eine Art Persiflage auf den gekrümmten Rücken des Schmerzensmanns der »Großen Passion« eingeschlossen. Die Lesbarkeit des Körpers war nun endgültig eine andere, keine figura zur Passionsmeditation mehr, auf dieser Ebene also wieder opak, dafür offen für sehr heterogene andere Ebenen der Auslegung. Wenn Beham über einen engsten Kreis von Gleichgesinnten hinaus eine solche Graphik vertreiben konnte, musste der Typus auch im Feld der künstlerischen Druckgraphik in eine erneute Stufe der Gewöhnung eingetreten sein  – als etablierter Gegenstand künstlerischer Experimente.126

Literaturverzeichnis I. Texte und Quellen Akten zum Verfahren gegen Sebald Beham und Barthel Beham sowie Georg Pencz, in: Jürgen Müller und Thomas Schauerte (Hg.), Die gottlosen Maler von Nürnberg. Konvention und Subversion in der Druckgrafik der Beham-Brüder, Ausstellungskatalog, Nürnberg, Albrecht-Dürer-Haus 2011, Emsdetten 2011, S. 45–48. Andachtsflugblatt mit Kreuzigung und Gedichten von Dürer (1510), reproduziert in: Germa123 Vgl. Merback, …pis im Got geben well, bes. S. 123–132. 124 Man konnte das Bild bis zu einem gewissen Punkt auch mit Hebr 13,12–14. deuten: »Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.« 125 Vgl. Merback, …pis im Got geben well, S. 124. In der »Kupferstichpassion« findet sich zudem die fortifizierte Stadtmauer (Kreuztragung) und das Kreuz mit Leiter (Beweinung) wieder, wie meine Studentin Carolina Horvath bemerkt hat. Schmidt bezieht in einem Katalogeintrag (Mayer, Von Schongauer zu Rembrandt, S. 56), zudem das Hell-Dunkel und die allgemeine Körperauffassung auf die Kupferstichpassion. Die ostentative Referenz auf Dürervorlagen ist ein Kennzeichen der allermeisten druckgraphischen Schmerzensmänner dieser Zeit, was für eine großflächige Verschiebung des Diskurses in Richtung Kunst spricht. 126 Die Zeit ›hochkünstlerischer‹ Schmerzensmänner scheint dann Mitte des 16. Jahrhunderts beendet, »eine Weiterentwicklung des Bildtypus ist nicht mehr zu beobachten«, Mersmann, Schmerzensmann, Sp. 95.

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II. Forschung Altermatt, Alberich M., Lactatio und Amplexus – Die beiden zentralen Themen der Bernhardikonographie, in: Bernhard von Clairvaux. Der Zisterzienserheilige zur und in der Kunst, Ausstellungskatalog, Abteimuseum Kloster Eberbach, Eberbach 2003, S. 24–41. Appuhn, Horst (Hg.), Die Kleine Passion von Albrecht Dürer, Dortmund 1985, S. 87. –, Albrecht Dürer: Die drei großen Bücher, Dortmund 1979. Bauerreiß, Romuald, Pie Jesu. Das Schmerzensmann-Bild und sein Einfluß auf die mittelalterliche Frömmigkeit, München 1931. Belting, Hans, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 72011. Belting, Hans, Das Bild und sein Publikum im Mittelalter. Form und Funktion früher Bildtafeln der Passion, Berlin 1981. Berliner, Rudolf, Bemerkungen zu einigen Darstellungen des Erlösers als Schmerzensmann (1956), in: ders., »The Freedom of Medieval Art« und andere Studien zum christlichen Bild, hg. von Robert Suckale, Berlin 2003, S. 192–212. Bernhard, Marianne (Hg.), Hans Baldung Grien. Handzeichnungen, Druckgraphik, München 1978. Bogen, Steffen und Thürlemann, Felix, Jenseits der Opposition von Text und Bild. Überlegungen zu einer Theorie des Diagramms und des Diagrammatischen, in: Alexander Patschovsky (Hg.), Die Bildwelt der Diagramme Joachims von Fiore, Ostfildern 2003, S. 1–22. Bonnet, Anne-Marie, ›Akt‹ bei Dürer, Köln 2001. Brinkmann, Bodo (Hg.), Hexenlust und Sündenfall: die seltsamen Phantasien des Hans Baldung Grien, Ausstellungskatalog, Frankfurt a. M., Städel Museum, Petersberg 2007. Bushart, Magdalena, Sehen und Erkennen. Albrecht Altdorfers religiöse Bilder, München, Berlin 2004. Büttner, Frank O., Extreme Züge des Christusbildes in der deutschen Druckgraphik zu Beginn des 16. Jahrhunderts, in: Silvia Glaser und Andrea M. Kluxen (Hg.), Musis et Litteris, Fs. für Bernhard Rupprecht zum 65. Geburtstag, München 1993, S. 69–92. Camille, Michael, Mimetic Identification and Passion Devotion in the Later Middle Ages. A Double-sided Panel by Meister Francke, in: Alasdair MacDonald u. a. (Hg.), The Broken Body. Passion Devotion in Late-Medieval Culture, Groningen 1998, S. 183–210. Camille, Michael, Seductions of the Flesh. Meister Francke’s Female ›Man‹ of Sorrows, in: Klaus Schreiner (Hg.), Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen, München 2002, S. 243–270. Carruthers, Mary J., The Craft of Thought. Meditation, rhetoric and the making of images, 400–1200, Cambridge 1998. Didi-Huberman, Georges, Fra Angelico. Unähnlichkeit und Figuration, München 1995.

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Überblendungen, Umbesetzungen, interkulturelle Dynamiken

Bernd Roling (Berlin)

Cantat luscinia: die Chiffre der Nachtigall zwischen Liebe und Auferstehung 

1. Einleitung Dass poetische Metaphern auch in der mittelalterlichen Dichtung von ihrer Ambiguität lebten und zu Kippfiguren und mehrdeutigen Chiffren werden konnten, ist sicher kein Geheimnis. Vor allem die Liebesdichtung hat von dieser Doppelbödigkeit gelebt.1 Als Walafrid Strabo aus Ovid-Versen ein Mariengedicht montierte,2 war vielleicht wenig mehr als der Fleiß des Universitätsgelehrten am Werk, doch niemand störte sich im neunten Jahrhundert an der paganen Fundgrube, solange das wohlklingende Ergebnis seinen erbaulichen Charakter besaß. Die langen Attributketten, die der Heiligen Jungfrau Maria als erster und vollkommenster unter den Frauen von der Schule des Anselm von Canterbury zugeschrieben wurden,3 waren jedoch im 11. Jahrhundert schon zu selbstevident, um nicht von den Scholaren aus dem Hörsaal der Theologen in die Straßen von Paris und zu Füßen ihrer Donna getragen zu werden. Petrus Abelard rühmte sich in seiner »Historia calamitatum« noch Jahre nach seiner persönlichen Katastrophe, dass die Verse, die er als Student der Philosophie geschrieben hatte, auf den Gassen der Metropole gesungen worden waren.4 Keines dieser Gedichte ist unter seinem Namen überliefert worden, doch sollten die eindeutig geistlichen Hymnen, die der Gelehrte für das Parakleten-Kloster Heloises geschrieben hatte, diesen Status später nicht mehr erreichen.5 Der Austausch zwischen Universität und Minnegarten musste also erheblich gewesen sein. Doch ging der Transfer der Bilder wirklich in beide Richtungen? Waren alle Beteiligten mit dieser Fluktuation der Metaphern einverstanden? Wie verhielt es sich mit dem Willen zur Eindeutigkeit? 1 Für Anregungen bei der Erstellung dieses Beitrages danke ich Paul Smith (Leiden) und Dorothee Huff (Göttingen). 2 Walafrid Strabo, De beata Maria virgine, Nr. 52, S. 399. 3 Als Beispiel Eadmer von Canterbury, Liber de excellentia Virginis Mariae, dort bes. c. 1, Sp. 557–559, und Ders., De quattuor virtutibus, que fuerunt in Beata Maria, eiusque sublimitate, dort bes. c. 8, Sp. 584–586. 4 Petrus Abelardus, Historia calamitatum, S. 73, Zeile 351–359. 5 Zu Abelard als geistlichem Dichter ist grundlegend Jussila, Peter Abelard on imagery.

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Wie reagierten die Gelehrten, deren lateinische Kaskaden den Weg in die Volkssprache gefunden hatten, auf die Adaptation ihrer Formulierungen? Im Folgenden soll ein Beispiel für eine Chiffre des Liebesdiskurses gegeben werden, ein Bild, um das tatsächlich in Gedichten gerungen wurde, die Nachtigall, den vielleicht erfolgreichsten Liebes- und Botenvogel der Literatur­geschichte, dessen zwiespältige Natur noch bei Keats nachklingt, der von ihm gesagt hatte: »Darkling I listen; and, for many a time / I have been half in love with easeful Death.«6 Tatsächlich lässt sich in ihrem Fall gut zeigen, wie ein bis etwa 800 noch zutiefst erbauliches Symbol zu einem festen Bestandteil des Liebesdiskurses werden konnte, doch diese Transformation von Seiten der Universitäts-gelehrten nicht unbeantwortet blieb. Die Nachtigall kann also als Paradigma einer ›Versu­ chung der schönen Form‹ gelten, die sich verselbständigte, und um deren Wiedereingrenzung man sich von geistlicher Seite gezielt bemühte.

2. Naturkunde und christliche Dichtung: die Nachtigall als Christussymbol Natürlich könnte eine Untersuchung der Nachtigall bei Ovid ihren Anfang machen und bei Prokne und Philomena, die erklären konnten, warum der Gesang der Nachtigall so traurig war, dass sich noch englische Romantiker veranlasst sahen, an den Tod zu denken.7 Auch Vergil hatte die Episode in der »Georgica« noch einmal in Erinnerung gerufen.8 Ovid jedoch hatte, wie schon Wendy Pfeffer in ihrer noch immer bemerkenswerten Studie »The Change of Philomel« festhält, weniger Spuren in der mittelalterlichen Terminierung der Nachtigall hinterlassen, als man es angesichts der Allgegenwart dieses Dichters hätte erwarten können.9 Die Suche nach der Nachtigall und ihrer Ambiguität sollte daher mit den Realien beginnen und damit bei den Naturkunden des Mittelalters. Plinius hatte dem Vogel in seiner »Historia naturalis« einige bemerkenswerte Eigenschaften zugeschrieben. Die luscinia oder philomena konnte fünfzehn Tage ununterbrochen singen; ihr Gesang war von berückender Musikalität, durchlief alle erdenklichen Modulationen und wechselte vom leisen Zwitschern zum voll6 7 8 9

John Keats, Poetical Works, Ode to a Nightingale, S. 257–260, dort Zitat Str. 6, V. 51 f. Ovid, Metamorphosen, Liber VI, V. 412–674. Vergil, Georgica, Liber XI, V. 78–81. Pfeffer, The Change of Philomel, S. 10–13, Schnoor, Das lateinische Tierlobgedicht, S. 86 f., und ebenso Luff, Philomena  – Roussignol  – Nahtigal, hier S. 40 f. Eine Rezeptionsgeschichte der Prokne-Episode für das Mittelalter liefert Behmenburg, Philomela. Zu ihrer Rezeption in der Renaissancedichtung jetzt außerdem in einer gründlichen Studie zur Rolle der Nachtigall in der Frühen Neuzeit Mathieu-­Castellani, Le Rossignol poète, S. ­25–30, S. 67–88.

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tönenden getragenen Wohlklang, dessen Laute der Vogel ausgiebig zu dehnen imstande war. Die Vögel sangen um die Wette, wie Plinius wusste, und gaben ihre Kunst an ihre Küken weiter. Zwei Dinge erscheinen dem Gelehrten besonderer Erwähnung würdig. Die Nachtigall starb oft eher, als dass sie ihren Gesang einstellte. Und nach dem Anbruch des Sommers verstummte sie und wechselte sogar ihre Farbe. Die sedulitas des Tiers, sein Fleiß, korrelierte also mit seiner Begabung, sein Künstlertum verband sich mit Ekstase und Hingabe, ja einem Selbstopfer, dem ein unscheinbarer Habitus und äußerste modestia zur Seite standen.10 Die mittelalterlichen Enzyklopädisten beeilten sich, diese Angaben zu wieder­ holen und einzuordnen. Ambrosius weiß, dass die Nachtigall ihre Eier in ihrem Schoße wärmte und des Nachts ihre Melodien erklingen ließ, um sich selbst in ihrer Schlaflosigkeit zu trösten. Ihr Gesang entsprang also ihrer Liebe, wie Ambrosius betont; sie selbst glich jener Frau, die in der Nacht am Webstuhl saß, für ihre Kinder die Spindel kreisen ließ, und sich nur durch ihren Gesang über die Armut hinwegzuhelfen wusste. Wer die Nachtigall also als Christ nicht in ihrer suavitas nachahmen konnte, so Ambrosius, hatte zumindest in ihrer ­sedulitas pietatis, in ihrem Glaubenseifer, ein Vorbild.11 Diese Passage ließ sich im Bestiarium Pseudo-Hugos ein weiteres Mal lesen,12 aber auch bei Thomas von Cantimpré, der sie Plinius zur Seite stellt. Thomas weiß darüber hinaus noch zu berichten, dass die Nachtigall so gut wie keine Nahrung zu sich nehmen musste, was der Topik ihrer Entsagung und ihrem konkreten Erschöpfungs-Tod in der Ekstase des Gesangs noch besonderen Vorschub leistete.13 Vinzenz von Beauvais trägt beiden Motiven Rechnung, dem plötzlichen Tod des Vogels und seiner aufopferungsvollen Liebe zu den Küken.14 Bei Konrad von Megenberg schließlich heißt es, die Nachtigall singe bis zum Einbruch des Sommers, doch im Winter nimmer.15 Si singt gar ämsicleich und gar fräuenleich über ir kraft alsô grœzleich, daz si sô krank wirt, daz si sterben muoz, und welt ê den tôt, ê daz si von irm ­gesang lâz. Wenn sie, wie Konrad noch hinzufügt, geunkäuscht hatte, verlor sie die Gabe ihres Gesangs. Ihr entsprachen die Schriftgelehrten, die sich zur Gänze dem Studium widmeten, wie Hrabanus Maurus schon angedeutet hatte, und die zu Häretikern werden mussten, wenn sie sich mit Frauen eingelassen hatten.16 10 Gaius Plinius Secundus, der Ältere, Naturalis historiae libri XXXVII, Bd. 10, Liber X, c. 43, §§ 81–85, lateinisch und deutsch, S. 62–67. 11 Ambrosius, Hexaemeron, Liber V, c. 24, Nr. 85, Sp. 254, B–C. 12 Ps.-Hugo von Folieto, De bestiis et aliis rebus libri IV, c. 33, Sp. 96, B. 13 Thomas von Cantimpré, Liber de natura rerum, De avibus, Nr. 76, S. 213, Nr. 108, S. 224. 14 Vinzenz von Beauvais, Speculum naturale, c. 102, Sp. 1215 f. 15 Ausführlich bespricht Konrads Darstellung der Nachtigall Luff, Philomena, S. 37–45. 16 Konrad von Megenberg, Das Buch der Natur, Nr. 62, S. 220 f., dazu Hrabanus Maurus, De universo, Liber VIII, Sp. 247, A–B.

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Die Nachtigall lieferte für diese Autoren also, wie sich leicht erkennen lässt, ein Signum des gottesfürchtigen Christen, der sich in liebender Hingabe für seinen Nächsten aufopferte, und dabei, wie Plinius angedeutet hatte, auch den Tod in Kauf nahm. Sie agierte selbstlos, der Kunst geweiht und stellte ihre Gabe in den Dienst des Göttlichen. Ein Blick auf die ersten lateinischen Gedichte, die den Vogel zum Thema machen, zeigt deutlich, dass diese Attribute und ihre christliche Deutung im Zentrum standen. Zugleich lag nahe, wo der letzte Referenzpunkt der Nachtigall liegen musste, in jener Figur, die ebenfalls ihr Leben für ihre Schützlinge hingegeben hatte, in Christus. Eugenius von Toledo, der in der Mitte des siebten Jahrhunderts das vielleicht erste wirkliche Nachtigallengedicht schrieb, schlägt den direkten Bogen vom Vogel zum Erlöser, doch rechnet die Attribute der Nachtigall noch nicht zur Gänze mit Christus auf. Ein Vorbild war die Nachtigall durch ihre Brutpflege. Die Schönheit ihres Gesanges, in dem sich die Schönheit der ganzen Schöpfung artikulieren konnte, war ein Labsal für ihre Zuhörer, seine Melodien ließ alle anderen Vögel weit hinter sich. Ihre Gaben jedoch verdankte sie Gott, der seinen Dienern die Charismata zuteil werden ließ: Gloria summa tibi, laus et benedictio, Christe, / qui praestas famulis haec bona grata tuis.17 Eugenius’ Gedicht konnte noch einmal von seinem Landsmann Paulus Alvarus imitiert werden, doch hatte Alvarus dem Sujet nicht wirklich Neues hinzuzufügen. Alle Musen transzendierte die Nachtigall mit ihrem Gesang, alle Instrumente verstummten neben ihr. Sie selbst jedoch wies auf Christus, den wahren Urheber ihrer Fähigkeiten; ihm, der sich gleich einer Nachtigall um den Menschen sorgte, gebührte zum Ende alle Ehre: Gloria magna Deo nostro, qui sede perenni. / Regnat perpetue, nos pie, juste fovens.18 Als Alkuin sein berühmtes Nachtigallengedicht in zwanzig Distichen schreibt, kann er die Motive seiner Vorgänger zu einem Gesamtbild vereinigen, das die Angaben bei Plinius und den Gottesbezug des Vogels zu gleichen Teilen miteinbezieht.19 Mit dem unscheinbaren Äußeren kontrastierten die akustischen Fähigkeiten des Vogels, die er seiner winzigen Kehle abringen konnte. Für Alkuin waren sie eine Quelle der steten Freude. Ihr Gesang gebührte dem Schöpfer wie der Gesang der Engel, ihre von Selbstlosigkeit getragene und unvergleichliche Hingabe an Gott ließ sie Nahrung und den Wunsch nach Gemeinsamkeit mit anderen Vögeln vergessen. Mit ihrem natürlichen Instinkt, der sie zum Lobpreis Gottes anzustacheln wusste, wurde die Nachtigall so zum mahnenden Zeichen für jeden Christen, seinem Schöpfer zu huldigen. Wenn die luscinia schon ohne

17 Eugenius von Toledo, Item Carmen Philomelaicum, Nr. 23 (S. 254), V. 19 f. 18 Paulus Alvarus, Carmen Philomelae, und Ders., Aliud philomelaicum carmen, Sp. 555 f., C–D. 19 Zu Alkuins Nachtigallengedicht auch Pfeffer, The Change of Philomel, S. 32–34, Schnoor, Das lateinische Tierlobgedicht, S. 95–98.

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Verstand und Geist ihren Urheber zu preisen wusste, um wieviel mehr war dann der Mensch angehalten, Gott zu loben: Quod tu fecisti, rationis et inscia sensus, / Indice natura nobiliore satis, / Sensibus hoc omnes, magna et ratione vigentes / Gessissent aliquod tempus in ore suo.20

3. Lateinische und volkssprachliche Usurpation: der Vogel der Liebe Es ist seit den Arbeiten von Pfeffer, J. L. Baird und schon Werner Hensel allgemein bekannt, dass die mittelalterliche Literaturgeschichte der Nachtigall eine andere Position bereitgehalten hatte, die Rolle des Liebesvogels, der als morgendlicher Bote zur donna ausgesandt wurde, um die Sehnsucht des Poeten zu artikulieren.21 Die Nachtigall war der Vogel, mit dem der Liebende Zwiesprache hielt. Sie wurde zum idealen Alter Ego des Dichters und zu seiner – oft schon ironisierten  – Projektionsfläche. Schon J. L.  Baird hatte zurecht darauf aufmerksam machen können, dass wohl nicht zuletzt die von Plinius fixierte markanteste Eigenschaft des Vogels, sein Opfertod im Gesang, für die ersten volkssprachlichen Troubadoure und Trouvere zur Schlüsselqualifikation und zum Anknüpfungspunkt werden musste. Alle materiellen Güter hatte der Vogel der Kunst und zugleich seiner Liebe geopfert. Natürlich konnte der vollkommene und zugleich so wehmütige Gesang des Vogels, den schon Ovid konstatiert hatte, den Affekthaushalt des Liebenden verdichten und manifestieren; zum Identifikationssymbol musste der Vogel jedoch wegen des Erschöpfungstodes werden, der ihn gerade aufgrund seiner übergroßen Liebe ereilt hatte. Aus ihm ließ sich ein zur Gänze neues Bild generieren, das zwar aus der geistlichen Tradition Elemente übernommen hatte, wie die ambrosianische Bezugnahme auf die liebende Mutter, doch nun als Metapher der säkularen Liebe diente. Schon die lateinische Liebesdichtung und die frühe Poesie der Goliarden, deren paradigmatische Bedeutung für die Volkssprache seit den Arbeiten Peter Dronkes außer Zweifel steht, hatte sich dieses Motiv zueigen gemacht und Schritt für Schritt zu 20 Alkuin, De luscinia, Nr. 13, mit englischer Übersetzung S. 144 f., Zitat, V. 23–26, kurz dazu auch Godman, ibid., Introduction, S. 20. Der Originaltext in: MGH, Poetae latini Aevi Carolini, Nr. 61 (S. 274 f.). Ähnlich gelagert ist Gedicht Nr. 23, ebd., S. 243 f. 21 Rossignol, an edition and translation, with introductory essay by Baird, dort Einleitung S. 30–39, und mit einer Zusammenstellung von provenzalischen und mittelfranzösischen Gedichten Pfeffer, The Change of Philomel; Hensel, Die Vögel, dort S. 597–614, und darüber hinaus z. B. Shippey, Listening to the Nightingale, hier S. 49–52, und Luff, Philomena, S. 46–61. Maßgebend zur Metaphorik des Vogelgesangs in der mittelalterlichen Dichtung allgemein ist jetzt die beeindruckende Studie von Hochkirchen, Präsenz des Singvogels im Minnesang und in der Trouvèrepoesie, auch dort zur Nachtigall S. 146–151.

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einer abrufbaren Chiffre werden lassen.22 Zu Beginn des 13. Jahrhunderts war die Nachtigall längst zu einem Topos geworden. In den »Carmina Burana«, wo sie als philomena und luscinia gleichermaßen erscheint, ist die Nachtigall an vielen Stellen anzutreffen. Den Liebesgarten ­orchestriert ihr Wohlklang, den beginnenden Frühling leiten ihre Melodien ein, ja ihr Gesang kann synonym als Ende der winterlichen Kälte verstanden werden. Im berühmten Gedicht 62 »Dum Diane vitrea« heißt es: Fronde sub árboris aména, / dum querens cánit philoména, / suave est quiescere. In Aussicht gestellt wird das Vergnügen, im gleichen frühlingshaften Blütenreigen, den die Nachtigall alludiert, auch einem Mädchen beizuwohnen; der Gesang des Vogels antizipierte die sexuellen Vergnügungen. Sein leicht klagendes Jubilieren verwandelte sich in die Lustschreie, die noch folgen sollten. Gleiches galt für die Ekstase und den Tod, die mit dem geläufigen minderschweren Tod der erotischen Leidenschaft zusammenfallen mussten.23 Eine ähnliche Motivkomposition lässt sich für das bekannte Gedicht »Tempus est iocundum« festhalten, in dem sich der entflammte Liebesfuror des Sängers und der Gesang der Nachtigall aufeinander abbilden konnten.24 Mit enormer Reichweite adaptierten die okzitanischen und französischen Poeten die lateinischen Vorgaben. Das »Oci, Oci, Oci« der Nachtigall, das den Tod schon verbatim mit sich führte, der Gesang des Rossignol, durchläuft die Gedichte der Troubadoure wie der Hintergrundton einer Drehleier. J. L. Baird und Wendy Pfeffer haben zahlreiche Beispiele versammelt, deren Fundus sich nur kurz in Erinnerung rufen lässt, ohne ihm allzuviel hinzuzufügen.25 Bei ­Bernard de Ventadour wird die Nachtigall zu einer Manifestation der Lebensfreude, die sich mit der beginnenden Vegetation des Frühlings einstellt; mit den Wohlklang des Rossignol setzt auch die Lust ein, der vielbeschworene joy, das wie mit Glückshormonen gesättigte elementare Vergnügen, das die in allen Bereichen zur Fruchtbarkeit drängende Naturordnung auf die Donna projizieren kann. Auch die unglückliche Liebe artikuliert sich für den Sänger in der Nachtigall; seine eigene Schlaflosigkeit wird von ihrem einsamen Gesang orchestriert. Während er nicht einmal zu singen imstande ist, glückt dies dem Vogel unvermindert. Der Rossignol singt und durchlebt die Leidenschaft, die auch dem

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Dronke, Medieval Latin and the Rise of European Love-Lyric, dort bes. Bd. 1, S. 264–331. Carmina Burana, Nr. 62, Bd. 1/2, S. 19–23, Zitat Str. 7, V. 1–3. Ebd., Nr. 179, Bd. 1/2, S. 298 f. Rossignol, S. 30–39; Pfeffer, The Change of Philomel, S. 73–114; Hensel, Die Vögel, S. 597–614, außerdem Hochkirchen, Präsenz des Singvogels, S. 149 f., S. 218 f. Zum ›Oci, oci‹ noch einmal bes. Hensel, Die Vögel, S. 607–609, und mit Bezug auf Peckham, der unten verhandelt wird, schon Kohler, Oci, Oci als Nachtigallengesang.

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Dichter jede Ruhe rauben musste.26 Zu sich selbst kommt der Vogel als Botenvogel, der zwischen Geliebter und Poeten als Mittler in Erscheinung treten darf. Peire d’Alvernhas Nachtigallengedichte, vor allem sein erstes »Rossinhol«, das unseren Vogel schon im Incipit führt, waren hier für alle weiteren vergleichbaren Texte symptomatisch. Die Nachtigall wird schon in der ersten Zeile aufgefordert, sich auf den Weg zur Donna zu machen; sie allein kann der Dame die Liebe des Dichters offenbaren, sie allein vermag es auch, in die geheimen Gemächer der Dame einzudringen und die Antwort der Geliebten wieder retournieren zu lassen. Der Rossignol wird zur Chiffre der Liebe, manifestiert den Dichter recht selbstevident in seinem ungestillten Verlangen und verkörpert zugleich Melodie und Verse des Gedichtes, die das Objekt der Sehnsucht erreichen und bekehren sollen. Auch genuin phallische Konnotationen möchte der catullerprobte Leser nicht zur Gänze ausschließen.27 In den großen französischen Minneallegorien, die das Setting der Troubadoure in der Mitte des 13. Jahrhunderts in eine komplexe Bildarchitektur transformieren konnten, ist die Nachtigall denkbar oft anzutreffen.28 Im »Fablel dou Dieu d’Amors«, einer der klassischen Minneallegorien der Zeit, findet sich der Sprecher in einem locus amoenus und umgeben von tausenden von Vögeln wieder, einer Erweiterung des klassischen Minne- und Venusgartens, wie ihn schon Andreas Capellanus im Anschluss an Claudian entworfen hatte. Von allen gefiederten Freunden ist es die Nachtigall, die sich an den Erzähler wendet und sich zum Fürsprecher der Liebe aufschwingt. Die Erzählerfigur steht ihr zunächst skeptisch gegenüber, viele Vögel artikulieren ihre Hypothesen zum Zustand der höfischen Liebe, dann ergreift wieder der Rossignol das Wort; die höfische Liebe verdient unbedingte Anerkennung, sie erst adelt den Menschen.29 In einem anderen Text, der »Venus déesse d’Amor«, stoßen wir auf ein vergleichbares Szenario, einen Paradiesgarten und ein Vogelkonzil. Die Nachtigall referiert dem Besucher die Signa der aristokratischen Liebe, dann erst wird sie zum Boten. Nicht die Donna, sondern Aphrodite erscheint, von der Nachtigall

26 Bernard de Ventadour, Chansons d’amour, dort z. B. Nr. 20 (Can l’erba fresch’ e·lh folha par), Str. 1 (S. 136), Nr. 33 (Tuih cil que·m preyon que’eu chan), Str. 2 (S. 186), Nr. 42 (Can lo boschatges es floritz), Str. 1 (S. 224), und öfter. 27 Peire d’Alvernha, Liriche, Nr. 1 (Rossinhol, el seu repaire), S. 16–22, und in einer neuen Ausgabe Peire d’Alvernhe, Poesie, Nr. 19, S. 144–152. 28 Zu den provenzalischen und französischen Minneallegorien allgemein unter anderem Ruhe, Le dieu d’amours; Stierle, Untersuchungen zur Formgeschichte, S. 66–143, und Jauß, Entstehung und Strukturwandel der allegorischen Dichtung, hier S. 224–244, und Ders., Genèse et structure des genres allégorique, hier S. 265–280. Zur Nachtigall im ­»Rosenroman« darüber hinaus z. B.  Kay, Parrots and Nightingales, S. 91–105. Aus allgemeiner Perspektive ist grundlegend Schnell, Causa amoris, S. 391–451. 29 Le fablel dou dieu d’amors, dort bes. Str. 6–11.

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sekundiert, um im Anschluss die Nachricht des Dichters direkt dem Gott der Liebe zukommen zu lassen.30

4. Die geistliche Wiedereroberung eines säkularisierten Symbols Binnen weniger Dekaden hatte sich die säkulare Liebesdichtung ab etwa dem elften Jahrhundert also einer Chiffre angenommen, die wie so viele Bilder der christlichen Liebe in der Karolingerzeit noch anders konnotiert war. Aus dem in die Transzendenz greifenden Vogel der selbstlosen Nächstenliebe war der Vogel der erotischen, wenn auch im Regelfall sublimierten Freuden geworden und des amour courtois. Die von den Naturkundlern vorgelegten, bei Plinius noch wertneutralen Realien waren in eine andere, säkulare Richtung gewendet worden. Viele Beispiele ließen sich noch vorbringen, um den langen Atem des säkularen Liebesvogels abzusichern. Wie aber gingen die Apologeten der christlichen Askese und der Weltabwendung mit der Okkupation ihres Symbols um? Wie reagierten sie auf die Erweiterungen, die das eher höfische Milieu vorgenommen hatte? Die Bipolarität der amourösen Bilder, die immer zwischen spiritueller Erfahrung und Erotik schillern mussten, war schon von Vertretern des mittelalterlichen Mönchtums konstatiert worden. Kaum zufällig empfand man die Transformation des alten Bildmaterials als geistigen Diebstahl. Der Zisterzienser Gerard von Lüttich hatte in der Mitte des 13. Jahrhunderts in zwei Traktaten, die schon Peter Dronke herangezogen hatte,31 das Dilemma artikuliert, in dem sich die Befürworter der rein geistigen Liebe befanden. Ihre Deutungshoheit über das ererbte Material war ihnen entglitten; seine Zeichen waren regelrecht umkodiert worden.32 Gerard liefert in seiner Abhandlung zu den »Heilmitteln gegen die weltliche Liebe« eine Reihe von gewöhnlichen Ratschlägen. Der Christ hatte sich von den Einflüsterungen Satans fernzuhalten, sich Frauen auf Distanz zu halten und der Schlange abzuschwören, die ihn zur weltlichen Liebe verführen wollte.33 Fast durchgehend jedoch verziert Gerard seinen Text mit Zitaten aus der französischen Minnedichtung, mit Wortverbindungen, die nun, gleichsam wieder auf ihren Ursprung zurückgeführt, trotz ihrer französischen Sprache, nur noch als Formularium der monastischen und gottzentrierten Liebe begriffen werden konnten. Ein weiterer Traktat, der, wie es heißt, fünf Anregungen, Gott 30 De Venus la déesse d’amor, Str. 3–30, S. 1–5. Quelle dieses Textes ist in weiten Teilen das mittelfranzösische Gedicht Dou vrai chiment d’amours, S. 205–219, Text S. 208–218. Zu ähnlichen Beispielen auch Lachet, Le jugement des oiseaux, hier bes. S. 79–84. 31 Dronke, Medieval Latin and the Rise of European Love Lyric, Bd. 1, S. 59–63. 32 Les traités de Gérard de Liège sur l’amour illicite et sur l’amour de Dieu. 33 Gerhard von Lüttich, Septem remedia contra amorem illicitum valde utilia, S. 183–205.

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zu lieben, geben möchte, greift vor allem auf Bernhards Canticum-Kommentar zurück.34 Er offeriert einen langen Lobpreis der Gottesliebe, des amor spiritualis, der wiederum bewusst mit Versatzstücken der französischen Liebesdichtung aufgefüllt wird. Zwangsläufig schildern sie nicht mehr die Sehnsucht nach der Donna, sondern die, wie Gerard glaubt, dauerhafte und wahre Liebe der Seele zu ihrem Schöpfer und Christus, dessen Umarmungen, Küsse, Liebkosungen und finale consummatio nur noch spirituelle Metaphern sein konnten. Die von den weltlichen Dichtern depravierten Formulierungen waren, wie Gerard glaubte, wieder ihrem ursprünglichen Zweck zugeführt worden; Gerard hatte sie gleichsam entsäkularisiert.35

4.1 Johannes Peckhams »Philomena« Tatsächlich verfolgte einer der berühmtesten Hymnen der Liturgiegeschichte, das Philomena-Gedicht des Johannes Peckham,36 Erzbischof von Canterbury und einer der großen Franziskanertheologen des 13. Jahrhunderts, den gleichen Zweck wie die sondierenden Versuche Gerards von Lüttich. Es sollte das Bild der Nachtigall wieder in den Schoß des Christentums zurückführen und die Bilder, die die weltliche Dichtung aus ihrem, wie man glaubte, genuinen Kontext gelöst hatte, wieder in Besitz nehmen. Nachtigallen waren auch vorher durchaus in der Tradition der liturgischen Dichtung zur Geltung gekommen. Im Gefolge des Plinius hatte Venantius Fortunatus in einem Osterhymnus Auferstehung, Frühling und den Gesang der philomena zu einem Bild vereinigt, in dem der Vogel einfach jene gnadenhafte Wiederherstellung des Menschen einfangen konnte, die sich mit der Auferstehung des Erlösers verbinden musste.37 Nachfolgende Sakral-­Poeten wie Otloh von Sankt-Emmeran konnten auf diese Vorlage zurückgreifen.38 Für andere Hymnendichter artikulierte sich in der Nachtigall einfach jener universale Lobgesang der Schöpfung, den schon Alkuin beschworen hatte. So heißt es in einem bekannten Marienhymnus: Gaude, dulcis philomena, / Cuius vox amore plena, / Tua suavis cantilena / Laus sanctorum est amoena / Et gaudium angelicum.39 Peckham jedoch geht einen entscheidenden 34 Gerhard von Lüttich, Quinque incitamenta ad deum amandum ardenter, S. 205–247. 35 Ebd., c. 3, S. 222–228, c. 4, zum visus § 1, S. 237–241, zur allocutio § 2, S. 241–244, zum amplexus § 3, S. 244 f., zum osculum § 4, S. 245–246, zur consummatio der Liebenden am Ende § 5, S. 246 f. Als Grundlage Bernhard von Clairvaux, Sermones super Cantica Canticorum (Opera 1–2), Sermo 83, S. 298–302. 36 Johannes Peckham, Philomena, Nr. 308, S. 602–610, mit Apparat und kurzem Kommentar S. 610–616. 37 Venantius Fortunatus, Opera poetica, Liber III, Nr. 11, dort V. 29–34 (S. 60). 38 Otloh von St. Emmeran, In resurrectione Domini, Nr. 252, S. 325 f., V. 48, S. 326. 39 De beata Maria virgine, Nr. 63, S. 92–99, Str. 21, V. 7–10, S. 94.

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Schritt weiter. Er hatte in Frankreich studiert und musste mit den französischen Nachtigallengedichten vertraut gewesen sein. Sein Nachtigallenhymnus ist nie aus dem Gedächtnis der Kirche verschwunden und liefert, von den Gedichten Richard Rolles of Hampole vielleicht abgesehen, einen der erfolgreichsten ­poetischen Gegenentwürfe zur Sprache der höfischen Liebe.40 Die 87 Strophen des Gedichtes arbeiten nicht nur mit massiven Verweisen auf die säkulare Symbolik der Philomena, sie sind überhaupt nur zu erklären, wenn man sie als bewusste Rekonfiguration eines nun bipolaren Symbols begreift, das für die Kirche zuvorderst spiritueller Natur war, doch, wie man glaubte, zwischenzeitlich seiner Erbaulichkeit entkleidet und in die Hände der weltlichen Liebesdiskurse gefallen war.41 Peckham beginnt seinen Hymnus wie ein Nachtigallengedicht der Troubadoure. Die Philomena kündigt den Frühling an; sie besänftigt die Menschen kraft der Schönheit ihrer Melodien. Sie soll daher, wie Peckham einleitet, dem amicus dilectus mitteilen, was die Worte allein nicht aussagen können, ihm sein Herz offenbaren, denn die Nachtigall ist, wie bekannt, der ideale Botenvogel: Ergo, pia, suppleas / meum imperfectum / Salutando dulciter / unicum dilectum / Eique denunties, / qualiter affectum / Sit cor meum iugiter / eius ad prospectum.42 Bis zur vierten Strophe hätte jeder Freund des amour courtois seine Leidenschaft in Worte fassen können. Statt des erwartbaren Hinweises auf das sinnliche Vergnügen und die donna ruft Peckham jetzt das Gedicht Alkuins in Erinnerung. Der anschließende Kontrast ist intendiert. Der Gesang der Nachtigall war ein Reflektor der himmlischen Musik, wie Peckham unterstreicht; er sollte den Menschen zur Verehrung Gottes anleiten: Nam si cantum volucris / huius serves mente, / Eius imitatio / spiritu docente / Te caelestem ­musicum / faciet repente.43 Dann folgen die von Plinius festgeschriebenen Attribute der Nachtigall, die dem Vogel in der weltlichen Dichtung eine so große Karriere verschafft hatten. Die luscinia hatte bis zur tödlichen Erschöpfung gesungen. Die Hingabe der Nachtigall erstreckte sich, wie die weiteren Strophen zeigen, über den ganzen Tag. Mit dem grauenden Morgen erhob sie ihre Stimme, zur Terz, der dritten Stunde, schwoll ihr Gesang weiter an, gen Mittag, wenn die Sonne ihren Zenit erreichte, 40 Als Beispiel Richard Rolle of Hampole, Canticum Amoris de Beata Virgine, S. 442–448. Auch Rolle spricht an anderer Stelle vom Nachtigallengesang, nämlich Rolle, Incendium amoris, S. 277. 41 Die einzige ausführliche Analyse des Textes liefert Raby, Philomena praevia temporis amoeni, hier S. 444–448. Kurz bisher zu Peckhams »Philomena« außerdem Pfeffer, The Change of Philomel, S. 39–41, und Rossignol, S. 47–53, ebenso Schnoor, Das lateinische Tierlobgedicht, 104–106. An einer Interpretation des Gedichtes, die das Augenmerk auf die Refunktionalisierung der Bildsprache der Liebesdichtung legt, fehlt es bislang. 42 Peckham, Philomena, Prooemium, Str. 1–3, S. 602, Zitat Str. 3. 43 Ebd., Prooemium, Str. 4–5, S. 602, Zitat, Str. 5, V. 3–8.

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ließ sie ihre Oci, Oci erschallen, in der neunten Stunde jedoch erstarb sie.44 Die Auslegung lässt Peckham in den nächsten Strophen folgen. Natürlich stand die Philomena für den Erlöser, zugleich jedoch auch für die Seele, die seinem Beispiel folgte. Die Matutin entsprach der Schöpfung des Menschen, die erste Stunde der Inkarnation, die dritte dem Wirken des Heilandes in der Welt, die sechste, die Mittagsstunde, der Passion, die neunte dem Tod und der Grablegung. Nicht der Liebestod und die weltlichen Freuden hatten in der Figur der Nachtigall ihre Gestalt gewonnen, sondern das Erlösungsgeschehen, und mit ihm eingeschlossen die Entgrenzung der Seele, die in Christus ihre Erfüllung finden musste.45 Die anschließenden Werkteile setzen das Programm in die Tat um. Der erste Gesang des Vogels erklang, wie Peckham deutlich macht, im Paradies, als die Seele in sich noch das reine Bild Gottes getragen hatte. Die angelische Süße des Garten Eden und die Vereinigung der Seele mit Gott, die ihr in Aussicht gestellt war, kann die Nachtigall besingen. Dass es nicht mehr eine weltliche Vereinigung sein konnte, lag für den Zuhörer auf der Hand.46 Der Gesang der Prim, so Peckham weiter, rief die Menschwerdung Christi in Erinnerung. Wieder war die Liebe sein Gegenstand, doch nun die mütterliche Liebe zum Gotteskind, von dem die Erlösung der Welt ihren Ausgang nehmen musste. Fast beiläufig integriert Peckham hier das Attribut der Philomena, das schon bei Ambrosius christlich konnotiert war, ihre mütterliche Fürsorge.47 Zur Gänze vergeht die Seele in Liebe, wenn sie nur den kindlichen Heiland betrachten darf: Tunc liquescit anima / tota per amorem, / Pavida considerans / omnium auctorem / Vagientem puerum / iuxta nostrum morem, / Ut curaret veterem / servuli languorem.48 Die Rede ist von osculari und ioculari, von jener iocunditas und venustas, die auch die Troubadoure eingefordert hatten, doch gebühren alle Küsse und Liebkosungen nun dem Gotteskind.49 Die Terz, die den Heiland als Ganzen zum Thema hat, führt die Liebe auf eine weitere Stufe. Der Erlöser, dessen Wirken in der Welt das Evangelium beschreibt, hatte der Welt ein Vorbild gegeben. In übergroßer Liebe hatte er die Ehebrecherin Magdalena aufgenommen und ihr die Sünden vergeben. Die Gnade hatte ihre Vergehen getilgt. Auf die Unkeuschheit, die aus dem falschen amor hervorging, musste eine wahre christliche Liebe antworten, so die Botschaft Peckhams, die keine Sinnlichkeit mehr kannte.50 Im Zentrum des ganzen Hymnus stehen die Strophen 47–77, die das Passionsgeschehen behandeln. Mit dem nun noch hefti44 45 46 47 48 49 50

Ebd., Str. 6–10, S. 602. Ebd., Str. 11–16, S. 602 f. Ebd., Cantus in Diluculo, Str. 17–24, S. 603 f. Ebd., Cantus ad Primam, Str. 25–34, S. 604 f. Ebd., Str. 26, S. 604. Ebd., Cantus ad Primam, Str. 32, V. 5–8, S. 605. Ebd., Cantus ad Tertiam, Str. 35–46, S. 605 f.

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ger vorgetragenen »Oci, Oci«, das nun endgültig keine amouröse Entgrenzung, sondern den Tod des Heilands annonciert, kann das Heilsmysterium zur Vollendung gelangen; die Seele nimmt das Kreuz in Augenschein. Die Nachtigall stirbt wie das Lamm Gottes, von der Liebe wie von einem Geschoß durchbohrt, einer Liebe, die auch den Tod nicht scheut. Das iaculum, das Geschoß Cupidos, das den Liebenden der Troubadoure trifft, verwandelt sich in die Nägel des Kreuzes und die Lanze, die seine Seite zur Mittagszeit durchbohrt hatte, wie Peckham mit Nachdruck unterstreicht: Sed circa meridiem / calor cum augetur, / Ut amoris iaculo / tota perforetur, / Mox ab illa passio / Christi recensetur.51 Ganz in der Sprache des Canticum, die sich für Peckham auf diese Weise aus ihrer säkularen Ummantelung befreien lässt, fährt er fort. Neuer mustus und überquellende Süße können den alten Leib, das carnis dolium, durchfließen und zum vas venustum formen. Wie ein Vogel hat der Heiland den Brocken der Nächstenliebe aufgenommen und den darin verborgenen Haken nicht gescheut; die Seele, die ihn liebt, wird sein Schicksal teilen.52 Die Sinne verlassen sie, die Sprache erstirbt; sie findet sich wie die Nachtigall nach ihrem Selbstopfer in völliger Erschöpfung wieder, von übergroßer Leidenschaft für ihren Geliebten durchdrungen liegt sie ermattet und wie krank auf ihrem Lager: Post haec dulcis anima / plus et plus fervescens / Sensu tota deficit, / corpore tabescens / Iam vix loqui suffict, / sed affectu crescens / Suo lectu recubat / utpote languescens. Eine Geliebte, die sich keuchend und voller Sehnsucht auf ihrem Bett wälzt.53 Das sexuelle Formularium, das diese Verse, wenn man sie isoliert, freisetzen, liegt auf der Hand. Peckham muss sich im vollauf Klaren darüber gewesen sein, dass die Idiomatik der Liebesdiskurse hier sein Vokabular begründet hatte. Nur aus dem Kontext des ganzen Gedichtes heraus lassen sich seine Iunkturen als jene spirituellen Metaphern begreifen, in die sie Peckham wieder transformieren möchte. Die Liebe und das Consummatum est des Heilandes überwinden den Tod, die Liebe hat das Fleisch in seine Schranken gewiesen; der Tod des Erlösers hat die Tore des Himmels wieder geöffnet.54 Das Canticum kann den Hymnus auch zu einem Ende bringen, wie seine letzten Strophen zeigen. Aus dem Requiem ist ein Gaudeamus geworden, wie Peckham unterstreicht. Glücklich ist die Rose, die Narzisse des Tals. Die Seele genießt die Umarmungen des Bräutigams, wird mit seinem spiritus vereinigt und schöpft die honigsüßen Küsse aus, die ihr nun zuteil werden. Felix, quae iam frueris / requie cupita, / Inter sponsi brachia / dulciter sopita / Eiusque spiritui / fortiter unita, / Ab eodem recipis / oscula mellita.55 51 52 53 54 55

Ebd., Cantus ad Meridiem, Str. 47–52, S. 606 f., Zitat Str. 48, V. 3–8, S. 606. Ebd., Str. 53–70, S. 607 f. Ebd., Str. 71–77, S. 609, Zitat Str. 73, S. 609. Ebd., Cantus ad Nonam, Str. 78 f., S. 609. Ebd., Str. 80–87, S. 610, Zitat Str. 83.

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Es sind die gleichen von Bernhard geadelten Formulierungen, die auch schon in den Meditationen Wilhelms von Saint-Thierry zum geistigen Kuss, im Traktat »De amicitia« Aelreds von Rivaulx oder bei Arnulf von Lisieux zu lesen waren.56 Schon dort schillerten sie in einem Zwischenreich zwischen sinnlicher und geistlicher Liebe, das von seiner Ambiguität lebte, doch deutlich geistlich terminiert worden war und seinen letzten Zweck nie verleugnet hatte. Auch Peckham sieht es wenig anders als seine zisterziensischen Vorgänger.

4.2 Volkssprachliche Aufarbeitungen Peckhams Peckhams Nachtigallengedicht rekonvertiert also das Symbol des Vogels und hebt es, wenn man möchte, auf eine neue dialektische Stufe. Die säkulare Antithese, die die Troubadoure zum sakralen Liebeskonzept entwickelt hatten, hatte sich aufgehoben, und war auf eine höhere Ebene geführt worden. Das sinnliche Echo klang nach, doch in einem wieder eindeutig geistlichen Schalltrichter. Wie erfolgreich Peckham mit diesem Text war, offenbaren die zahlreichen Übersetzungen, die ihm im Folgenden zuteil werden. Eine französische Übertragung, die lange Zeit Pierre d’Ailly zugeschrieben wurde, entsteht schon einige Jahre später. Ihre einfachen Reime scheinen der Sprache der Troubadoure noch näher zu stehen, doch greift der Übersetzer in den Gehalt des Textes nur an wenigen Stellen ein. Die Passage, in der Peckham die finale Ermattung der liebeskranken Seele verhandelt hatte, erscheint französisch als Adonc l’ame dévote est d’aimer plus fervente, / Tout le sens li deffault et le corps s’agravente, / A paines poeut parler mais le désir augmente, / Sur son lit se couche langoureuse et dolente. Das tabescere Peckhams hatte Pierre mit s’aggraver durchaus korrekt übersetzt, beim Zuhörer allerdings musste die mit diesem Verb verbundene Allusion der Schwangerschaft noch deutlicher die körperliche Erotik in Erinnerung rufen.57 Weitere Übersetzungen der »Philomena«, die auch unter dem Namen Bonaventuras und Bernhards verbreitet wurden, folgen auf dem Fuße; die ersten deutschen Varianten erscheinen erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts.58 Am be56 Aelred von Rievaulx, De spiritali amicitia libri III, Liber II, §§ 22–27 (S. 306–308), und in der Schedula mit den verschiedenen Redaktionsstufen S. 428–436, dazu als Grundlage in weiten Teilen Wilhelm von St.-Thierry, Meditationes devotissimae, Meditatio VIII, §§ 6–9 (S. 48 f.). Ähnlich gelagert ist auch das Gedicht von Arnulf von Lisieux, Die Gedichte, dort Carmen VII: Ad iuvenem et puellam affectuosius se invicem intuentes, lateinisch und deutsch, S. 48 f. 57 Rossignol, S. 61–91, Zitat Str. 73, S. 86. Eine weitere Ausgabe dieses Textes liegt vor als Le livre de Rossignolet, dort zur Genese und Autorenfrage ausführlich S. 7–21, Zitat Str. 73, lateinisch und französisch S. 74 f. 58 Conrad Vetter, Paradeißvogel, das ist, Himmelische Lobgesang, und solche Betrachtungen, dardurch das menschliche Hertz mit Macht erlustiget […], S. 50–80.

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kanntesten ist sicher die lateinische »Paraphrasis poetica«, die Jacob Balde noch 1645 verfasst hatte und die Peckhams Strophen in einer Fülle von Versmaßen variieren konnte, ohne am Inhalt allzu viel zu verändern.59 Dass Peckham auch aus apologetischer Perspektive erfolgreich war, offenbaren weniger die Übersetzungen, als seine unmittelbaren Adaptationen, die in diesem Kontext bisher kaum gewürdigt wurden. John Lydgate schreibt um 1450 zwei Nachtigallengedichte, die sich eng an Peckham lehnen, doch den apologetischen Gehalt, den Peckhams Verse hatten, noch weiter hervorheben.60 Das erste Gedicht aus 59 Strophen führt die Nachtigall als Vogel ein, der auch des Nachts zu singen imstande ist. Der Dichter hört die nyghtingale, die wie bei Peckham zunächst als Vogel des Frühlings und der lusty seson in Erscheinung tritt. Danach erkennt der Sprecher jedoch, dass die wahre Bedeutung des Vogels eine andere war, eine Bedeutung, die ein latyn […] boke well versed preisgegeben hatte, eben die »Philomena« seines Landsmann Peckham.61 Vierzig Strophen dienen dann der Paraphrase der lateinischen Vorlage, die noch um weitere heilsgeschichtliche Episoden erweitert wird. Im zweiten Gedicht, das aus 54 Strophen besteht, ist die Frontstellung der alten, säkularen und der neuen spirituellen Deutung der Nachtigall noch eindeutiger. Der Dichter findet sich in einer Juninacht wieder, lauscht den lieblichen Melodien des Vogels und fragt nach seiner Deutung. Es scheint, als ob der Vogel als Legatin der Lady Venus singt, um die wahren von den falschen Freunden der Liebe zu trennen, und Aphrodites wahre Diener, ganz wie in den großen Minneallegorien, in trewe affectioun in das, wie es heißt, diamantenbesetzte Kastell der Liebe zu geleiten.62 Dann schläft der Dichter ein und ihm erscheint nicht, wie es naheläge, ein Gesandter Cupidos, sondern ein Engel: And than me sempte that from the god of love / To me was sent an vnkouth messangier – / Nought from Cupide, but fro the lord above. Nichts hatte die Nachtigall mit dem gardyn of the Rose zu tun, wie ihm eröffnet wird, im Gegenteil, ihr »Oci, Oci« musste eine ganz andere Dimension freilegen.63 Der Vogel starb, als er seinen Gesang auf die Spitze getrieben hatte. Sein Tod hatte keine erotische Note, wie der Engel unterstreicht, jede Fleischlichkeit musste sich verbieten: Feynt and vntriew thyne exposicioun, / Thyn vndrestondyng, thy conceyt both[e] two. / This bridde, in soth, ne meanyth nothyng so: / For hir synggyng – who-so takith heede – / Nothyng Resownyth vnto flesshlyhede. Stattdessen repräsentierte 59 Jacob Balde, Paraphrasis lyrica in Philomelam Bonaventurae, dort zum eigentlichen ›Liebestod‹ Nr. 27, S. 50 f. Eine ausführliche Analyse dieses Gedichtes und seiner Verarbeitung Peckhams liefert Thill, La Philomela de Jacobus Balde. 60 John Lydgate, Lydgate’s Minor Poems, dort zur Genese und dem Umfeld der Texte die Einleitung S. XI–XLVI. 61 Lydgate, The Nightingale (I), in: Ebd., S. 1–15, dort Str. 7–16, S. 3–5. 62 Lydgate, The Nightingale (II), in: Ebd., S. 16–28, dort Str. 1–6, S. 16 f. 63 Ebd., Str. 7–8, S. 17 f.

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die Nachtigall, wie Lydgate mit Peckham wiederholt, den Tod und die Auf­ erstehung Christi.64 Die folgenden vierzig Strophen liefern dann wieder die eng an den Philomena-Hymnus gelehnte Interpretation des Nachtigallengesangs im Ablauf der Gebetszeiten eines Tages; sie alle standen in direktem Bezug zu den Mysterien der Heilsgeschichte, deren Bedeutung für die Rettung des Menschen der Gesang der Nachtigall in Erinnerung rufen musste.

5. Ausblick: Nachtigallen in der lateinischen Dichtung der Frühen Neuzeit 5.1 Die Naturkunde der luscinia Ein Blick in die Zoologie der Frühen Neuzeit, etwa hundert Jahre nach Lydgate, offenbart uns, dass die Auswahl an Eigenschaften, die Plinius für die Nachtigall versammelt hatte, vergleichsweise bruchlos tradiert werden konnte. Conrad Gesner referiert in seiner »Historia animalium« Plinius und seine mittelalterlichen Bearbeiter und erinnert vor allem an den Erschöpfungstod des Vogels und seine Gewohnheit, die Farbe seines Gefieders zu wechseln. Gesner weiß um eine Fähigkeit der Nachtigall, die den moralischen Nimbus des Tiers, zumindest in seinen Augen, noch weiter verstärken konnte. Ein Freund von ihm hatte in einem Raum übernachtet, in dem der Besitzer des Hauses drei Käfige mit Nachtigallen postiert hatte. Als der junge Mann nicht schlafen kann, stellt er fest, dass die Vögel sich in beharrlichem Gezwitscher zu unterreden schienen, und zwar in deutscher Sprache. Die Tiere hatten, so scheint es, die Gespräche des Vortages memoriert und gaben die Brocken wieder, die ihnen offensichtlich im Gedächtnis geblieben waren. Ähnlich gelagert war, was einem Gastwirt in Regensburg wiederfahren war. Er hatte sich, wie Gesner berichtet, mit seiner Frau gestritten, zwei Nachtigallen hatten die Kontroverse gehört und repetierten sie in der darauf­folgenden Nacht mit enormer Liebe zum Detail und sehr zum Missfallen der beiden Eheleute. Die Tiere schienen also die Wahrheit zu lieben, zugleich trugen sie nach außen, was die Menschen gern verschwiegen hätten.65 Wenig anders präsentieren sich die Lemmata, die nachfolgende Gelehrte für die Nachtigall reserviert hatten. Plinius dominiert auch die Darstellung Edward Wottons aus dem Jahre 1557. Vermehrt um die drolligen Beobachtungen Conrad Gesners findet das Porträt der Nachtigall mit ihrem Selbstopfer Eingang in

64 Ebd., Str. 9–15, S. 18 f., Zitat Str. 12, V. 80–84, S. 19. 65 Conrad Gesner, Historia animalium, Bd. 3, Liber III, qui est de avium natura, De Luscinia, S. 569–575, dort bes. S. 570 f.

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die Ornithologie Ulysses Aldrovandis66, die Physik Michael Neanders67 und selbst in die berühmte Vogelkunde Francis Willoughbys aus dem Jahre 1676,68 die so gern als Meilenstein der modernen Ornithologie apostrophiert wird. Die l­utherische Tierallegorese hielt an der Moralisierung der Nachtigall fest. Wolfgang Franz in seiner »Historia animalium sacra«, dem Standardwerk der universitär-schulphilosophischen Zoologie, das im 17. Jahrhundert mehr als ein Dutzend Auflagen hatte, begreift sie vor allem als Idealbild des christlichen Gelehrten.69 Ihre Verachtung für die äußeren Güter musste den Studenten als Vorbild dienen, ihre Sparsamkeit und auch ihre Bereitschaft, erst eine Mahlzeit zu sich zu nehmen, wenn die Arbeit schon getan war.70 Athanasius Kircher wiederum lässt den Vogel sezieren, wie er in seiner »Musurgia« berichtet. Seine Zunge war denkbar kurz, der Kehlkopf jedoch sehnig und extrem muskulös. Aus den zahllosen Sehnen und Fibern der Larynx des Tiers musste sich der enorme Klangkörper erklären, mit dem die luscinia ausgestattet war, während er seine Zunge wie ein Plektrum nutzen konnte. Hier war das Geheimnis der außergewöhnlichen Triller und der langangehaltenen Töne des Nachtigallengesangs – Kircher nennt sie Glazismen und Pigolismen – zu suchen, die den Hörer so in ihren Bann ziehen konnten. Der Jesuit liefert noch Notenbeispiele, mit deren Hilfe sich die wichtigsten Klangfiguren und Melodiebögen veranschaulichen ließen.71 Der Sonderstellung des Tiers konnte diese Analyse nicht abträglich sein, im Gegenteil.

5.2 Nicolaus Baers »Ornithophonia« Es gab Humanisten, die nur zu gern den Anschluss an die mittelalterliche Tradition suchten und mit Ovid im Rücken dem mittelalterlichen Liebesvogel neues Leben einflößen wollten. Tito Vespasiano Strozzi, um nur ein Beispiel zu nennen, das auch Gesner geläufig war, feiert die Nachtigall in seinem »Erotikon«, seiner Elegiensammlung, als den Vogel, dessen Melodien ebenso wie seine Unermüdlichkeit ihn erst zu seinen eigenen Gedichten, die seiner Dame gewidmet waren, inspirieren mussten.72 Es wundert so vielleicht nicht, dass das Anliegen 66 Ulysses Aldrovandi, Ornithologiae, hoc est de avibus historiae libri, Bd. 2, Liber XVIII, c. 2, S. 771–798, dort die Exegesen S. 792 f., ähnlich auch kurz Edward Wotton, De differentiis animalium, Liber VII, c. 142, fol. 127v. 67 Michael Neander, Physice, Pars I, S. 419–422. 68 Francis Willoughby, Ornithologiae libri tres, Liber II, c. 9, S. 161 f. 69 Eine Synopse dieses in seiner Reichweite kaum zu überschätzenden Werkes gibt Roggen, Biology and Theology, Bd. 1, S. 121–146. 70 Wolfgang Franz, Historia animalium sacra, c. 27, S. 554–565. 71 Athanasius Kircher, Musurgia universalis, Liber I, § 4, S. 28–30. 72 Tito Vespasiano Strozzi, Carmina, Eroticon libri VI, Ad Philomelam, fol. 180v–184r.

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Peckhams, die bewusste Rekonfiguration der Nachtigall, ebenfalls nicht an Berechtigung verlieren konnte. Unter den vielen lateinischen und volkssprachlichen Gedichten zur Nachtigall, die man in der Frühen Neuzeit noch findet, soll hier nur eines noch heraus­ gegriffen werden, das sich um die erbauliche Nutzanwendung der Nachtigall bemüht, ohne die sinnliche Ambiguität des Vogels dabei zur Gänze aus den Augen zu verlieren. Es ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Es zeigt, dass sein Verfasser um die überkommene säkulare Liebessymbolik der Nachtigall wusste, und sie bewusst transzendieren wollte. Es macht reichen Gebrauch von den zoologischen Schriften seiner Zeitgenossen, nutzt ihre Realien als symbolischen Fundus, und hat doch noch immer Plinius in seinem Zentrum; und es kontrastiert die sinnliche Lesart des Vogels mit einer christologischen Deutung. Die Rede ist vom Nachtigallengedicht des Bremer Poeten Nicolaus Baer, dem Auftaktgedicht seiner »Ornithophonia« aus dem Jahre 1695, einer ganzen Serie von Vogelgedichten.73 Baer aus dem schwedischen Bremen und Verden war ein recht produktiver Poet gewesen. Tiergedichte waren seine Spezialität. Unter seinen Werken lässt sich als Beispiel seine deutsche »Phalainodia et Crocodilophonia« aus dem Jahre 1702 nennen, ein Großgedicht auf Wale und andere große Wassertiere, das aus Anlaß eines bei Hamburg gestrandeten Wals zu Papier gebracht wurde.74 Baers »Luscinia« hat 111 Strophen und ist wie alle Gedichte seiner Sammlung auch mit einer deutschen Fassung gedruckt worden. Es liest sich wie eine Enzyklopädie der Gedichte, die wir schon kennengelernt haben, mit eindeutiger Ausrichtung, mit Referenzen Vergils, Alkuins und Peckhams, und mit einer besonderen Pointe am Ende. Fast allen Eigenschaften der Nachtigall, derer Baer aus der Fachliteratur habhaft werden konnte, von Plinius bis zu Gesner, kann der Bremer dabei Rechnung tragen. Kaum zufällig druckt Baer im Appendix seines Gedichtes das eindeutig säkular konnotierte Gedicht Strozzis ab, um seinen eigenen Versen die Kontrastfolie zu liefern.75 Auch bei Baer übertrifft die Nachtigall, kaum verwunderlich, alle anderen Vögel in der Schönheit ihres Gesanges.76 Auch seine gefiederte Muse singt über den Jahreskreis hinweg, um den Tod zu finden. Ihre Stimme scheint wie ein Magnet, der keinen Zuhörer unberührt lassen konnte, ja die luscinia hatte aus dem

73 Nicolaus Baer, Ornithophonia sive Harmonia Melicarum avium. Eine in jeder Hinsicht exzellente neue Ausgabe liegt vor von Beichert, Nicolaus Bähr, dort ausführlich zu Leben und Werk S. 1–62, der Text des Nachtigallengedichtes mit Einleitung S. 86–112, Schnoor, Das lateinische Tierlobgedicht, 122–127. 74 Nicolaus Baer, Phalainodia et Crocodilophonia, dort S. 1–48. Darüber hinaus existieren z. B. Nicolaus Baer, Kynophonia, ders., Korakophonia, oder ders., Arctophonia. 75 Baer, Ornithophonia, lateinisch, S. 18 f., deutsch, S. 50 f. 76 Ebd., Str. 4–6, lateinisch, S. 2, deutsch, S. 21; Beichert, Nicolaus Bähr, S. 91 f.

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Brunnen des Pegasus getrunken.77 Mit ihrem Gesang war sie imstande, die Zeit nach ihrem Belieben zu beschleunigen und wieder anzuhalten; ihre Melodien konnten die ganze Natur in eine Ekstase versetzen und ließen selbst die Blumen nicht unberührt: Dum cuncta communi quasi / Tolluntur extra se exstasi / Vireta cum rosetis.78 Der kleine Vogel liebte die Musik so sehr, dass sich Baer gar nicht verblüfft zeigt, als er in Bremen eine Nachtigall sieht, die sich während eines Konzertes auf das Instrument eines Harfisten setzt.79 Zugleich aber verfügte die Nachtigall, wie Baer vermerkt, auch über jene Gabe die Gesner ihr zugestanden hatte. Sie repetierte die Gespräche ihrer Umgebung und trug sie so nach außen.80 Ihr wahrer Charakter aber war geistlicher Natur, ihr Erschöpfungstod war theologisch konnotiert. Der Nachtigall hatte Gott die Gabe verliehen, das Wesen seiner Gnade zu offenbaren. Er verlieh, wie Alkuin schon gezeigt hatte, seine Charismata den Geringen, um seine eigene Größe unter Beweis zu stellen. Dass der Vogel im Käfig verstummte und nach kurzer Zeit verendete, zeigte, so Baer, wie bedeutsam in dieser Gottesunmittelbarkeit der Gnade die Freiheit war. Wieder mutiert die Nachtigall zur theologischen Metapher. Im Glauben auf die gratia des Schöpfers hin ausgerichtet, konnte der Mensch, wie Baer ausführt, die Welt hinter sich lassen. Unterwarf er sich ihren Belangen, ging er an ihr zugrunde wie die Nachtigall in ihrem Käfig.81 Hinter dem Gesang der Nachtigall, ihrem Verstummen im Sommer, und dem anschließenden Wechsel ihres alten Gefieders stand auch für Baer wie für Peckham vor ihm die Passion des Erlösers. Die Nachtigall vergegenwärtigte seinen Opfertod; sie lehrte den Menschen, dass er auf die gleiche Weise wie die Nachtigall das Kreuz auf sich zu nehmen hatte, um das ewige Leben zu erreichen. Adumbrat poenitentiam / DEIque reverentiam / Mutatio colorum: / Mortem vult occultatio / Vitam redintegratio / Signare mortuorum. Und Deutsch: »Und dass der Frühling dich kan wieder frölich machen / Zeigt an, dass man gewiß wird nach dem Tod erwachen. / Und dass durch Leiden, Creuz und schließlich durch den Tod / Man endlich kommen wird aus aller Angst und Not.«82 Wie der Vogel im Frühling mit dem alten Federkleid wiederkehrt, steht am Ende die Auferstehung. Der Bremer Baer, der seine Vögel scheinbar wirklich liebte, ging jedoch noch einen entscheidenden Schritt weiter und gelangt zu einem vielleicht ungewöhnlichen Schluss. Nicht nur Christus hatte den Weg aus dem Grab gefunden, 77 Baer, Ornithophonia, Str. 39, lateinisch, S. 6, deutsch, S. 31, Str. 53, lateinisch, S. 8, deutsch, S. 35; Beichert, Nicolaus Bähr, S. 98, S. 101. 78 Baer, Ornithophonia, Str. 76, V. 1–3, lateinisch, S. 21, deutsch, S. 46; Beichert, Nicolaus Bähr, S. 105. 79 Baer, Ornithophonia, Str. 96, lateinisch, S. 13, deutsch, S. 44; Beichert, Nicolaus Bähr, S. 109. 80 Baer, Ornithophonia, Str. 58–61, lateinisch, S. 9, deutsch, S. 36; Beichert, Nicolaus Bähr, S. 101 f. 81 Baer, Ornithophonia, Str. 22–25, lateinisch, S. 4, deutsch, S. 27; Beichert, Nicolaus Bähr, S. 95. 82 Baer, Ornithophonia, Str. 89, lateinisch, S. 12, deutsch, S. 42; Beichert, Nicolaus Bähr, S. 107.

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und der Seele, die ihn liebte, wie bei Peckham, den Weg zum ewigen Leben eröffnet. Auch die Nachtigall selbst, so postuliert es Baer ganz zum Ende seines Gedichtes, wird auferstehen. Im ewigen Elysium, dem Garten Eden, wird sie ihre Stimme neu erheben, wie in einem neuen Minnegarten, unter einer neuen Sonne und im ewigen Frühling des Paradieses. Nicht mehr als weltliches Abbild der Engel wird sie dort dann singen dürfen, sondern mit ihren Chören gemeinsam. Perenne tu decus chori, / Camoena te vetat mori, / Quin ipsa tu Camoena, / Divina vox amabilis, / Post fata praedicabilis, / Tempe coles amoena. / Tenebis arva florida, / Novo sub sole rorida, / Semper manente Vere! / Hic laeta cum cohortibus, / Tu concines consortibus, / Queis aura vult favere. Oder kürzer deutsch: »Im steten Lenzen wirst du singen ohne Scheu / Wenn durch des Schöpffers Hand ist alles worden neu.«83 Baers Verse sind kein Meisterwerk wie die »Philomena« des Erzbischofs von Canterbury, doch zeigen sie, dass die Transformation des ekstatischen Liebestodes in eine Auferstehungsmetapher, die sein Gedicht ausgezeichnet hatte, ihre Attraktivität bewahren konnte. Die Bilder und Formulierungen, die für manche Zuhörer Peckhams womöglich noch in doppelbödiger Sinnlichkeit knistern konnten, mussten bei Nicolaus Baer, bei dem allenfalls Gebetbücher im Hintergrunde raschelten, fast notwendig ins Betuliche abgleiten. Das Bedrohungspotential der Troubadoure, das vom zeitgenössischen Kampf um die Deutungshoheit über Metaphern lebte, war längst vergessen, oder war andere Wege gegangen. Das Echo dieser Kontroverse freilich konnte, wie der Gesang der Nachtigall selbst, durch die Epochen getragen werden.

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Coralie Rippl (Zürich)

Erbaulicher Verfall? Interferenzen von höfischer Minne und christlicher Ehe-Allegoreseam Beispiel Sigunes in Wolframs »Parzival« und »Titurel«  

1. Der Status des ›Religiösen‹ im »Parzival« und die Frage nach der christlichen ›Erbauungs‹-Poetik des Mittelalters Wolframs von Eschenbach »Parzival« wurde von prominenten Stimmen der älteren Forschung als religiöse Kunst betrachtet.1 Mag die geistige Situation der Kriegs- und Nachkriegszeit auch viel zur Fokussierung der älteren Arbeiten beigetragen haben, so ist angesichts des intertextuellen Anspielungsreichtums des »Parzival« die Hoffnung, einen theologischen Gehalt (ob bernhardisch, thomistisch oder augustinisch) dingfest machen zu können, zumindest nicht ganz unverständlich. Eine ernsthafte Beschäftigung mit dem »Parzival« kann die Frage nach dem Status des Religiösen nicht ausblenden, sodass die ›religiösen Probleme‹ (Bumke)2 nach wie vor ein Dauerbrenner der »Parzival«-Forschung sind. Die Gretchenfrage ›Parzival / »Parzival« / Wolfram, wie hast du’s mit der Religion?‹3 ist jedoch ohne befriedigende Antwort geblieben und man hat aufgehört, sie in dieser Weise zu stellen.4 Die Distanzierung von solcher religiösen Inhalts- und Gehaltsemphase und die Verschiebung der Aufmerksamkeit hin auf das Erzähltechnische, auf die narrative Inszenierung des Verhältnisses von ›Weltlichem‹ und ›Geistlichem‹ kann neue Perspektiven eröffnen, dies zeigt die jüngste Studie zum Thema von Susanne Knaeble, die mit einem narratologisch modifizierten systemtheoretischen Zugriff die religiösen Aspekte (Gott, Gral, Sünde etc.) konsequent zu Funktionen höfischen Erzählens erklärt.5 Der in seiner Entschlossenheit schätzenswerte Beitrag zu diesem schwierigen Forschungsfeld erkauft die Eingängigkeit seiner Thesen jedoch mit einem verhältnismäßig 1 Mit großer Wirkung etwa Wapnewski, Wolframs Parzival. 2 Vgl. Bumke, Die Wolfram von Eschenbach Forschung seit 1945, S. 11. 3 Vgl. schon Wapnewski, Wolframs Parzival, S. 74. 4 Vgl. in diesem Sinne den Tenor des Abschnitts im neuesten Wolfram-Handbuch von Schirok, Themen und Motive, 5. Religion, S. 388–394. 5 Knaeble, Höfisches Erzählen.

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starren Denken in zweistelligen Modellen.6 Stets ist es der ›theologische Text‹, dessen kategorial anderen Anspruch Knaeble gegen denjenigen des ›literarischen Textes‹ ausspielt.7 Die mittelalterliche Vielfalt von Formen religiöser Literatur, religiösen Erzählens (legendarisches, bibelepisches, etc.) kommt dabei so wenig in den Blick wie der für das Themeninteresse des vorliegenden Bandes zentrale Umstand, dass sich im höfischen Kulturkontext auch wesentlich eindeutiger ›geistliche‹ Texte als der »Parzival« an den Spannungen zwischen spirituellen und ästhetischen Ansprüchen, zwischen Welthaltigkeit und Transzendenzbezug, zwischen biblischen und höfischen Axiologien abarbeiten.8 Die Annahme eines sozial- wie literarhistorisch kaum konkretisierten Paradigmas »höfische[r] Laientheologie«9 scheint für solche Fragestellungen wenig weiterführend. Die Rede von der ›Laientheologie‹ diente schon Hugo Kuhn als Lückenfüller für jenes ›zwischen‹ des »Parzival« (bei ihm eines von Mythos, Glaube und Dichtung)10, den er als Chiffre für dessen »Selbständigkeit«11 einsetzte.12 Nun dürfte es aber mit der ›Laientheologie‹ im »Parzival« ähnlich problematisch sein wie mit dem ›Quasi-Typologischen‹ im »Tristan« – die Anführungszeichen und Attribuierungen zeigen einen Abstand zum terminologischen Gebrauch der Begriffe an, ohne diesen Abstand jedoch genauer in den Blick zu nehmen.13 Die aktuelle Forschung hat dagegen gezeigt, dass es überaus fruchtbar sein kann, sich zur Bestimmung mittelalterlicher Literarizität und Poetizität um ein Aus6 Einerseits betont Knaeble immer wieder die »Durchdringung von Höfischem und Religiösem« (ebd., S. 295), andererseits scheint aber bereits vorab ausgemacht, dass ›das Höfische‹ stärker in Verbindung steht mit dem ›Erzählen‹ und der ›Literatur‹ als ›das Religiöse‹: So möchte Knaeble »den Zusammenhang und das Zusammenspiel von Religion und höfischem Erzählen in der Textanalyse anschaulich« machen oder spricht von der »Literarisierung des Religiösen« und der »Beobachtung des Religiösen im Erzählen« (S. 96). Zustande kommt diese Kategorisierung durch die Anwendung des Luhmannschen funktionalen Begriffs von Kunstautonomie auf die höfische Kultur und Literatur (vgl. S. 66 f.), ein methodisch nicht unproblematischer Schritt, so auch Dallapiazza, Rezension zu Susanne Knaeble, Höfisches Erzählen von Gott, S. 119 f. 7 So z. B. Knaeble, Höfisches Erzählen, S. 107. 8 Vgl. im vorliegenden Band etwa die Beiträge von Quast, Religiöse Erbauung, und von Benz und Weitbrecht, Honicmaeziu maere. 9 Knaeble, Höfisches Erzählen, S. 33 f. Angesichts des funktionalen Religionsbegriffs (nach Luhmann) ist die Pointe der ›höfischen Laientheologie‹ doch etwas überraschend. 10 Vgl. Kuhn, Parzival, S. 174, zur Mühe der Forschung mit dem ›zwischen‹-Status des Religiösen im »Parzival«: »Wer leugnet, daß im Gral christliche Kult- und Sakrament-Analogien sprechen, […] muß die Augen zumachen. Aber wer [ihn] direkt christlich, kirchlich, theologisch interpretiert, tut es auch.« 11 Ebd., S. 173. 12 Ebd.: Ein »in der mittelalterlichen Theologie ganz übersehenes Laiendenken, eine Laientheologie des Menschen in der irdischen Welt, von der uns fast nur die volkssprachliche Dichtung Zeugnis gibt.« Knaeble, Höfisches Erzählen zit. Kuhn nicht. 13 Vgl. zum »Tristan« Köbele, iemer niuwe, S. 101, mit Referat der Forschungsdebatte.

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messen eben dieses Abstands zu bemühen – und zwar im ständigen Bewusstsein um die Heuristik unserer Kategorienbildungen wie ›weltlich  – geistlich‹, ›immanent  – transzendent‹ oder ›profan  – heilig‹ und die Setzungen, die sie implizit transportieren: Der Vorschlag von Susanne Köbele und Bruno Quast, Säkularisierung für das Mittelalter »dezidiert als Literarizitätsphänomen«14 zu denken und damit die Aufmerksamkeit auf prozessuale Phänomene der semantischen und konnotativen Umbesetzung (etwa Dynamiken von De- und Re-Sakralisierung) zu lenken, bietet wertvolle Anregungen, wie die sich eröffnenden Spielräume ausgelotet werden könnten.15 Mit dem Interesse für »die notorische Vieldeutigkeit der Schlüsselkategorie der ›Erbauung‹ (lat. aedificatio)«, welches gerade auf die »Spannungen zwischen ästhetischen, religiösen und hermeneutischen Ansprüchen« fokussiert (vgl. Einleitung S. 10 f.), zielt die vorliegende Fragestellung nach der ›Versuchung der schönen Form‹ auf eben dieses Überschneidungsfeld von ›weltlichem‹ und ›geistlichem‹ Erzählen, Religion, Theologie und Literatur. Für den »Parzival« sind, soweit ich sehe, solche Ansätze und Sichtweisen noch kaum erprobt worden.16 Gerade im Wissen darum, dass der intrikaten Gemengelage von ›Weltlichem‹ und ›Geistlichem‹ im »Parzival« nicht so leicht beizukommen ist, scheint es daher aussichtsreich, ihn für die Fragestellung nach den Spezifiken einer mittelalterlichen Erbauungspoetik heranzuziehen. Umso mehr, als zur Kategorisierung des »Parzival« der Begriff der ›Erbauung‹ ins Spiel gebracht wurde: Alois M. Haas bezeichnet 1965 im Anschluss an Walter Johannes Schröder17 den »Parzival« als »mittelalterliche[n] Erbauungsroman« und hat eben die pragmatische Funktionskategorie religiöser Kunst, die »Auferbauung, aedificatio, der menschlichen Person« im Blick, wenn er Parzivals Weg allegorisch, letztlich tropologisch als Heilsweg des Menschen liest.18 Damit zielt Haas bereits auf einen Begriff mittelalterlicher ›Erbauung‹ jenseits der pietistischen Einengung auf diskursive Schlichtheit und Innerlichkeit.19 Vor dem Hintergrund geistlicher Zeugnisse über die ›erbauliche‹ Wirkmächtigkeit von Artusromanen rückt er die Amalgamierungen ›weltlicher‹ und ›geistlicher‹ Referenzierung im »Parzival« in den Blick. Hier lässt sich anschließen, mit gesteigerter 14 Köbele und Quast, Perspektiven, S. 14. 15 Vgl. die Beiträge des Bandes Köbele und Quast, Perspektiven, auch die Rez. von Weitbrecht zu Köbele und Quast; weiterhin seien nur stellvertretend genannt Köbele, Die Illusion; Koch, Zwischenstufen; Weitbrecht, Häusliche Heiligkeit; Hammer, Erzählen vom Heiligen; sowie bereits Köbele, Umbesetzungen, und Hasebrink, Ein einic ein. 16 Im einschlägigen Band von Köbele und Quast, Perspektiven, etwa ist der »Parzival« nicht vertreten. 17 Schröder, Die Soltane-Erzählung, S. 91. 18 Haas, Laienfrömmigkeit, S. 122; siehe auch Ders., Parzivals tumpheit. 19 Den Anstoß zu einer grundsätzlichen Revision des Erbauungsbegriffs für das Mittelalter gibt Köbele, ›Erbauung‹ – und darüber hinaus.

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Aufmerksamkeit für die im vorliegenden Kontext interessierenden Spannungen im mittelalterlichen Konzept des Erbaulichen selbst sowie die vielfältigen Formen und Funktionen von Erbauungsphänomenen, deren »ästhetische, kognitive und affektive Eigendynamiken«.20 Um Differenzierungen dieser Art vornehmen zu können, möchte ich mich im Folgenden auf die Figur Sigune konzentrieren. In der Forschung ist betont worden, dass wir mit der Geschichte Sigunes einen Handlungsstrang in den »Parzival« inseriert finden, der gegen den Rest des Romans dezidiert christlich konnotiert zu sein scheint: »Deutlich ist, daß es verschiedene Wege zu Gott gibt. Deutlich ist auch, daß der Weg über Askese, Buße, Selbstverleugnung, Weltabkehr und Tod, also Sigunes Weg, der eigentlich christliche Weg ist.«21 Die über Visualisierungsstrategien prominente Bildebene des Handlungsgeschehens hat wiederholt Anlass gegeben zu der Vermutung, es seien hier Konstellationen christlicher Ikonographie aus der bildenden Kunst narrativiert.22 Bisher kaum beachtet für die Analyse und Interpretation der Figur Sigune wurde jedoch die Dimension des Metaphorischen: Bezieht man auch die auf sprachlicher Ebene über Responsionsphänomene gestifteten semantischen Potentiale mit ein (Metaphernfelder), lässt sich ein neuer Blick auf ›Ebenensprünge‹ gewinnen: zwischen metaphorischem Sprechen und der Realisierung der Metapher auf Handlungsebene, zwischen immanenter und transzendenter minne / triuwe, oder auch zwischen außen und innen, unten und oben. Ich möchte deshalb zunächst lediglich Beobachtungen zur Konnotation der Bildfelder machen, die über die in den Sigune-Szenen (sowohl vom Erzähler als auch von den Figuren) eingesetzten Worte aufgerufen werden. Dies scheint mir eine Chance, methodisch kontrolliert, weil schlicht texthermeneutisch, die Semantisierungen und Referenzsetzungen der Sigune-Szenen zu untersuchen. Anstatt vorschnelle Festschreibungen vorzunehmen, soll anhand genauer Detailbeobachtungen zu den betreffenden Stellen und den jeweils aufgerufenen semantischen Kontexten vielmehr gefragt werden, wie die für den »Parzival« insgesamt charakteristischen Doppelreferenzierungen zwischen ›weltlich‹ und ›geistlich‹ zustande kommen, über welche erzähltechnischen Verfahren also und wie genau die Semantisierungen gesteuert werden. Anschließen kann ich für die Untersuchung der Metaphorik u. a. an die Arbeiten von Stephan Fuchs-Jolie, der die Bedeutung von Metapher und Meto20 Vgl. Köbele, in diesem Band, S. 16. Diese Aspekte und Differenzierungen des Erbauungskonzepts selbst sind bei Haas vorzeitig abgeblendet, weil auch er ›Erbauung‹ als Äquivalent einer relativ unspezifischen ›Laienfrömmigkeit‹ setzt, als deren Ausdruck er Wolframs »Parzival« begreift. 21 Bumke, Wolfram von Eschenbach, S. 120. 22 Für die ältere Forschung nenne ich lediglich Pinder, Die dichterische Wurzel der Pietà; Schwietering, Sigune auf der Linde; Bertau, Regina Lactans; mit methodisch weiterführendem rezeptionsästhetischem Ansatz Wenzel, Herzeloyde und Sigune.

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nymie für die spezifische Bildsprache Wolframs untersucht.23 Obwohl die poetologische Relevanz von Bildsprache und Sprachbildern für Wolframs »­ Titurel« erwiesen ist24, blendet die jüngere, narratologisch orientierte »Parzival«-­Forschung diesen Aspekt allzu oft aus.25 Während Fuchs-Jolie vor allem kleinräumig (im Umkreis benachbarter Verse und Strophen) argumentiert, möchte ich großräumig den metaphorischen Einsatz von bestimmten semantischen Feldern untersuchen, wie das Anna Kathrin Bleuler für die Nahrungsthematik im »Parzival« getan hat.26 Dabei interessiert mich der rezeptionsästhetische Aspekt, d. h., wie genau über den Einsatz von Bildfeldern bestimmte Vorstellungen beim Rezipienten aufgerufen werden.27 Die Geschichte Sigunes im »Parzival« wird erzählt in vier Begegnungen mit Parzival, die ich im Folgenden als Sigune I–IV bezeichne. Situiert sind die als Szenen im Sinne einer Einheit von Ort, Zeit und Handlung zu begreifenden Begegnungen im 3. Buch (138,9–142,2), 5. Buch (249,9–256,10), 9. Buch (435,1– 442,26) und 16. Buch (804,8–805,17). Die »Technik einer Erzählung als Kette von Einzelbildern«28 formt den »statischen, schaubildlichen Eindruck: eine Frau mit einer Ritterleiche im Schoß […], zu einer Geschehensfolge aus, die nicht viel epischen Spielraum mehr kennt. Zeit vergeht – Sigunes Beharren auf ihrer Klage ist dem Vergehen der Zeit jedoch widerständig.«29 Bezieht man die Metaphorik in die Analyse mit ein, so erweist sich die Zeitlichkeit der Sigune-Szenen bei näherem Hinsehen als komplexes Verhältnis von 23 Fuchs-Jolie, Metapher und Metonymie bei Wolfram. 24 Kiening und Köbele, Wilde Minne. 25 Auch Richter, Spiegelungen, blickt kaum auf bildsprachliche Phänomene, da sie sich auf Wiederholungsstrukturen inhaltlich-thematischer Natur konzentriert und weniger auf der sprachlichen Mikroebene des Textes bewegt. Wiederholt hingewiesen auf die Bedeutung dieser spezifischen Narrationstechnik des »Parzival« hat Schmid, weindiu ougn hânt süezen munt. 26 Bleuler, Essen – Trinken – Liebe, untersucht systematisch das Vorkommen von Wörtern aus dem semantischen Feld der Ernährung und den Verweischarakter ihrer Wiederholungen. 27 Man mag einwenden, die Vortragssituation der akustischen Rezeption stehe einer solchen, teilweise weiter auseinanderliegende Stellen aufeinander beziehenden Interpretation entgegen, das sei nur eine durch unsere modernen Mittel ermöglichte philologische Spielerei. Dieser Einwand unterschätzt zum einen die Leistungsfähigkeit des menschlichen Gedächtnisses (v. a. wenn man sich den Vortrag durch Mimik, Gestik oder Melodie unterstützt vorstellt; alles Mittel, die nachweislich die Memorierbarkeit fördern), zum anderen hat man sicherlich mit einer mehrmaligen Wiederholung des Rezeptionserlebnisses zu rechnen, die Aufmerksamkeit schafft für noch nicht bewusst Wahrgenommenes. Schließlich ist offensichtlich, dass die Metaphorik Wolframs durch eine Kreativität, die mitunter zur Reaktivierung selbst konventionalisierter Metaphern führt, sowie durch die auffällige Rekurrenz bestimmter Signalwörter in hohem Maße wiedererkenn- und damit memorierbar ist. Sie scheint geradezu dafür ausgelegt, Bedeutungsnetze auch über größere textuelle Distanzen hinweg zu knüpfen. 28 Wehrli, Wolframs »Titurel«, S. 10 f. 29 Glauch, An der Schwelle zur Literatur, S. 206.

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Prozessualität und Statik des Immergleichen: In diesem Sinne möchte ich die Aufmerksamkeit zunächst auf eine für die Figur Sigune über die semantischen Felder des pflanzlichen Wachstums und des Bauens eingespielte Dialektik äußeren Verfalls und innerer Erbauung lenken. Die Metaphorik leistet nicht nur eine Blicklenkung von außen nach innen, sondern verursacht durch die spezielle Bildgebung auch den Eindruck einer Transgressivität von minne und triuwe zwischen den Sphären ›weltlich‹ und ›geistlich‹ (II). Die Spezifik der Pflanzenmetaphorik für Sigune, insbesondere des agrikulturellen Aspekts als Bildspender für ihre (durch die Gralsfamilie disponierte) Eigenschaft der ›Kultivierung‹ innerer Werte wie minne und triuwe wird durch eine vergleichende Analyse des Einsatzes pflanzlicher Metaphorik im »Titurel« und »Parzival« erarbeitet (III). Von hieraus kehre ich zur dritten Sigune-Szene des »Parzival« zurück, welche mit dem Bildfeld der Ehe und der Inszenierung Sigunes als einer besseren ›Witwe von Ephesus‹ die prinzipielle Übergängigkeit von minne und triuwe in die Formel christlicher Ehe-Allegorese kleidet (IV). Ich schließe mit einigen weiterführenden Überlegungen zum Einsatz von Erbauungsmetaphorik in den Sigune-Szenen (V).

2. Sigune und die ars humilis? Der dialektische Prozess äußeren Verfalls und innerer Erbauung »Am ehesten mit dem Konzept der ars humilis vergleichbar ist Wolframs wohl gleichermaßen faszinierendste wie auch änigmatischste Figur, Sigune. Sie ist die einzige Frau neben Cundrie, die nie mit irgendeinem Schönheitsepitheton benannt wird. Ihr Mund, einst dick heiz rôt gevar (Pz 435,26) ist jetzt erblichen unde bleich (Pz 435,27), und kurz darauf heißt sie: diu juncfrouwe bleich gevar (Pz 437,20). Ihr tiefes Leid hat alle Schönheit in dem Maße aus ihr vertrieben, in dem ihre triuwe wuchs. An diese Schönheit wird einzig als vergangene erinnert, durch eben die nicht nur für Wolfram typische erotische Metapher des roten, heißen Mundes. Ihr nicht-schönes Äußeres setzt sich mit seinem bleich gevar dem lieht gevar aller höfischen Frauen entgegen. Sie ähnelt Herzeloyde, die ihre Größe auch erst erreicht, als sie nach jâmer nu gevar geworden (Pz 104,22), also ebenfalls jenseits von Schönheit angelangt ist.«30 Ich möchte den Blick auf eine Dynamik der Sigune-Szenen lenken, die Michael Dallapiazza mit seiner Formulierung »Ihr tiefes Leid hat alle Schönheit in dem Maße aus ihr vertrieben, in dem ihre triuwe wuchs« andeutet, jedoch nicht genauer ausführt. Woher kommt der Eindruck, es handle sich einerseits beim Verlust von Sigunes Schönheit um einen (destruktiven) Prozess, und dieser 30 Dallapiazza, Häßlichkeit und Individualiät, S. 410.

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werde, andererseits, mit einem zweiten, produktiv-konstruktiven (›Wachsen‹ der triuwe) gekoppelt? Bezieht man zusätzlich zur Handlungsebene die metaphorische Dimension der Sprache in die Analyse mit ein, so wird deutlich, dass hier tatsächlich eine dialektische Prozessualität von ›Zerstören und Aufbauen‹ narrativiert wird, die die Stationen der Sigune-Geschichte entscheidend prägt, sie als ein ›Werden aus dem Sein‹ erscheinen lässt. Ich möchte diese im Folgenden nachzeichnen. Auf der Handlungsebene unmittelbar einsichtig ist zunächst, wie Sigune kurz nach dem Tod ihres Geliebten Schionatulander, als Parzival sie zum ersten Mal trifft31, ihren Körper malträtiert: sus kom unser tœrscher knabe geriten eine halden abe. wîbes stimme er hôrte vor eines velses orte. ein frouwe ûz rehtem jâmer schrei: ir was diu wâre freude enzwei. der knappe reit ir balde zuo. nu hœret waz diu frouwe tuo: dâ brach frou Sigûne ir langen zöpfe brûne vor jâmer ûzer swarten. (138,9–19) (»So kam unser törichter Junge einen Abhang hinuntergeritten. Er hörte eine weibliche Stimme vor einer Felskante. Eine Dame schrie aus echter Verzweiflung: Die wahre Freude war ihr zerbrochen. Der Knabe ritt geschwind zu ihr hin. Jetzt hört, was die Dame tut: Frau Sigune riss sich da ihre langen braunen Zöpfe vor Jammer und Leid aus der Kopfhaut.«)32

Die Zugehörigkeit Sigunes zur höfischen Sphäre wird deutlich betont, indem sie dreimal als frouwe bezeichnet wird (138,13.16.17).33 Ihrem dagegen unhöfischen Aufenthaltsort am Berghang (halde, 138,10) am Rand eines Felsens (velses orte, 138,12) entspricht dabei, dass das Programmwort freude (138,14) gleich ex nega31 Der zeitliche Rahmen ist indirekt erschließbar, denn Parzival trifft Sigune am selben Tag wie Jeschute, genauer, gleich nach seinem Aufbruch von Jeschute, wo Orilus erwähnt hatte, er habe an diesem Morgen einen Ritter getötet (135,21–24); wenn dann Sigune erzählt, Schionatulander sei durch Orilus getötet worden (141,8 f.), kann man den Bezug herstellen. 32 Zit. wird nach der Ausgabe Wolfram von Eschenbach, Parzival. Studienausgabe; vergleichend herangezogen habe ich die Ausgabe Wolfram von Eschenbach, Parzival. Nach der Ausgabe Lachmanns rev. u. komm. von Nellmann, auf die Benutzung des dortigen Kommentars wird gesondert verwiesen. Die Übersetzungen sind von mir. 33 Der das biologische Geschlecht kennzeichnende Ausdruck wîbes stimme (138,11) erklärt sich dadurch, dass hier intern fokalisiert Parzivals Rezeptionseindruck erzählt wird, der offenbar zunächst nur die Stimme hört.

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tivo eingeführt wird: Die wâre freude ist ein für Sigune unerreichbarer Zustand, sie ist zerbrochen (enzwei, 138,14). Die Metapher von der entzweigebrochenen freude setzt nicht nur einen nicht sichtbaren, ›inneren‹ psychischen Vorgang ins Bild34, indem sie das topische gebrochene herze variiert, die elliptische Konstruktion verknüpft diesen Vers auch mit 138,17, wo das zuvor ausgesparte brechen nun als äußerlich sichtbarer Gewaltakt Sigunes gegen sich selbst zeichenhaft wird: Sigune reißt sich, so ist es formuliert, ihre Zöpfe aus der Kopfhaut. Eine offensichtliche Trauergeste, denkt man etwa an Enites Klagen angesichts von Erecs Scheintod, wo es ebenfalls heißt: daz hâr si vaste ûz brach (5760).35 Doch ist es diesmal die Spezifikation der langen zöpfe, deren Ausreißen das topische ›Haareraufen‹ variiert.36 Man hat sich mit der Stelle schwergetan und mit dem Argument der Unwahrscheinlichkeit gegen die wörtliche Bedeutung und für ein übertragenes Verständnis plädiert, nach welchem die Zöpfe »als totum pro parte für einzelne Haare« stünden.37 Mir scheint das ein Verkennen des im »Parzival« gerade auf der Mikroebene beobachtbaren virtuosen Spiels mit Sprache zu sein. Wie viele Haare genau sich nun Sigune auf einmal ausreißt, ist nebensächlich, entscheidend dagegen ist, dass die synekdochische Wendung den topischen Gestus in zweierlei Hinsicht für den Fortgang von Sigunes Geschichte spezifisch und damit aussagekräftig macht: Sie transportiert nicht nur die Drastik der auto-aggressiven Trauer Sigunes  – gesteigert noch durch den Zusatz ûzer swarten (138,19) –, sondern auch die Abwendung Sigunes von der höfischen Welt: Die langen Zöpfe sind höfische Mode, sie kennzeichnen die höfische vrouwe, die Minnedame.38 An ihnen wird im »Parzival« des Öfteren die Brüchigkeit höfischer Ideale zeichenhaft vorgeführt, man denke an Herzeloydes 34 Vgl. zu dieser Funktion metaphorischen Sprechens im höfischen Erzählen Müller, Höfische Kompromisse, S. 355–361. 35 Hartmann von Aue, Erec. 36 Vgl. Eichholz, Kommentar zur Sigune- und Ither-Szene, S. 17, mit Hinweis auf Belegstellen und Literatur. 37 Ebd., S. 15; ebenso Nellmann, Kommentar, S. 529 f.: »Daß Sigune sich ihre Zöpfe ganz ausreißt (so die Übersetzungen), ist nicht anzunehmen«; Eichholz wie Nellmann verweisen auf eine Stelle in der zweiten Gauvain-Partie von Chrétiens »Perceval«, an der die um den schwerverwundeten Greoreas klagende pucele die Finger in ihre Zöpfe gesteckt hat um ihre Haare zu zerraufen (Chrétien de Troyes, Perceval, V. 6544 f.: Mais ele ot ses dois en sa trece / Fichiez por ses chaveus detraire). Zurecht sieht Eichholz hier die mögliche Vorlage für die Stelle bei Wolfram, zumal die Situationen, in denen beides Mal der jeweilige Held auf eine höfische Dame mit einem todwunden Ritter in den Armen trifft, auffällige Parallelen zeigen, und Wolfram an der entsprechenden Stelle (505, 10–26) das Haareraufen ausspart. Dies alles ist m. E. jedoch kein Argument dafür, dass hier die wörtliche Lesart eine Art abwegiges Nebenprodukt des variierenden Wiedererzählens der Vorlage sei, im Gegenteil: Die Absicht den Ausdruck, die Drastik dieser Gebärde zu intensivieren, wird schon anhand der von Eichholz selbst angeführten Beobachtung deutlich, dass bei Wolfram Sigune tatsächlich tut, was die pucele bei Chrétien lediglich vorhat zu tun. 38 Vgl. Nellmann, Kommentar, S. 510 ad 104,4; Belege bei Eichholz, Kommentar, S. 17.

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Drachentraum vor der Nachricht über Gahmurets Tod, in dem sie ihre langen Zöpfe brennen sieht, Cunneware, die von Keye verprügelt wird, indem er sie an ihren langen Zöpfen festhält, oder Cundrie, die, fleischgewordene Allegorie des täuschend schönen Scheins, trotz Zopffrisur das Gegenbild der Minnedame, die Festfreude des Artushofs sprengt. Der Erzähler hebt mit einer Apostrophe an das Publikum Sigunes Tun eigens hervor, sodass der Kontrast von Konstruktion und Destruktion des Bildes der höfischen Dame markiert ist: nu hœret waz diu frouwe tuo (138,16). Das Ausreißen der Zöpfe wird somit lesbar als diskursiv durch die sprachliche Formung des Erzählers bereits zu Beginn von Sigunes erstem Auftritt in der Geschichte gesetztes Zeichen für ihre Weltabkehr: Sigune reißt die Fassade der höfischen Minnedame herunter. Dass sich bis zur zweiten Begegnung Parzivals mit Sigune ihr Aussehen noch weiter verändert hat, erfahren wir durch dessen Reaktion. Zunächst erkennt er sie überhaupt nicht (249,21–23), als er dies tut, bricht er in eine Klage aus über den Verlust von rotem Mund und Haar: ›ôwê war kom dîn rôter munt? bistuz Sigûne, diu mir kunt tet wer ich was, ân allen vâr? dîn reideleht lanc prûnez hâr, des ist dîn houbet blôz getân. zem fôrest in Brizljân sah ich dich dô vil minneclîch, swie du wærest jâmers rîch. du hâst verlorn varw unde kraft. (252,26–253,5) (»O weh, was ist mit deinem roten Mund geschehen? Bist du es, Sigune, die mir Auskunft gab, wer ich sei, ohne jede Hinterlist? Dein lockiges, langes, braunes Haar ist fort von deinem Kopf, er ist kahl. Im Wald von Brizljan sah ich dich damals so minneschön, auch wenn du großen Kummer hattest. Du hast Farbe und Kraft verloren.«)

Der Verlust von varw unde kraft (253,5) bezieht sich auf das minneclîche Äußere (253,3), das durch das Rot des Mundes und das Braun der Haare gekennzeichnet war.39 Parzivals Rede ruft mit den Versen 252,29 f. explizit die drastische ­Formulierung des Zöpfeausreißens wieder auf und stellt das dort noch zwischen 39 Dass Sigune braunes Haar hat, ist angesichts des höfischen Idealbilds blonder Haare ungewöhnlich, vgl. Eichholz, Kommentar, S. 17 f. Man kann die braune Haarfarbe als Markierung von Sigunes transgressivem Potential deuten, genauso wie die Orte, an denen Sigune anzutreffen ist, Übergänge, Grenzen zwischen den Bereichen Wildnis und höfische Kultur, Gralsburg und Artushof sind (Sigune I ist situiert im Wald von Brizljan auf Parzivals Weg vom Ödland von Soltane an den Artushof; Sigune II zwischen Gralsburg und Artushof; Sigune III im Umkreis der Gralsburg, die Parzival sucht, als letzte Bastion menschlicher Zivilisation in der Wildnis, ähnlich Trevrizent; Sigune IV wieder auf dem

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Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit schwebende Bild in einem radikalen Ergebnis still: Die Haare sind weg, Sigunes Kopf ist kahl.40 Sie ist nun nicht mehr als schöne Minnedame erkennbar, was sie bei der ersten Begegnung rückblickend aus Parzivals Perspektive noch war. Als die beiden dann zum dritten Mal aufeinandertreffen, ist wiederum mittels Responsionstechnik das Ergebnis eines Prozesses konkretisiert, der in Sigune II angedeutet war (vgl. 252,26; 253,5), diesmal in Bezug auf den roten Mund: ir dicker munt heiz rôt gevar was dô erblichen unde bleich, sît werltlîch freude ir gar gesweich. (435,26–28) (»Ihr voller Mund von brennendheißer roter Farbe war nun erblichen und blass, da die irdische Freude ganz und gar aus ihr gewichen war.«)

Der Erzähler selbst setzt hier das Verblasstsein des roten Mundes als Ergebnis eines irreversiblen Prozesses (vgl. das Hendiadyoin erblichen unde bleich, das die Komplexität von Vor- und Nachzeitigkeit einfängt) in eine kausale Relation zum endgültigen (gar, 435,28) Verlust werltlîcher freude. Die juncfrouwe bleich gevar (437,20) hat damit ihre Erscheinung der Leichenblässe ihres Geliebten angeglichen, sie stirbt ihm nach.41 Doch hatte sich während der ersten und zweiten Begegnung Sigunes Äußeres sozusagen durch sukzessive Subtraktion des einmal Vorhandenen verändert, so ist die Szene Sigune III durch das Hinzukommen von Neuem bestimmt. Dies kündigt sich bereits programmatisch an durch die klôsen niwes bûwes (435,7), die Parzival dort stehen sieht, wo er zu Beginn der zweiten Begegnung Sigune mit dem einbalsamierten Schionatulander in den Armen auf der Linde sitzend antraf.42 Angesichts der in Sigune II und III betonten Wildnis von Sigunes Aufenthaltsort (waste, 250,5; walt, 435,4, wilde, 438,25) und dessen Weg vom Artushof zur Gralsburg); zu Sigune als ›Schwellenfigur‹ vgl. auch Schuler-Lang, Wildes Erzählen, S. 187–189. 40 Auch hier hat die passivische Konstruktion von V. 252,30 Anlass zu Überlegungen ge­ geben, es sei unwahrscheinlich, dass Sigune sich alle Haare ausgerissen habe, vielmehr habe sie sich geschoren in Vorbereitung auf ihr Inklusendasein, vgl. Nellmann, Kommentar, S. 592 f. Wie auch immer man sich den Verlust der Haare konkret vorstellen möchte, an der Drastik des Bildes von der kahlen Dame ändert sich nichts, im Gegenteil, die Offenheit der Formulierungen setzt gerade die Phantasie des Rezipienten in Gang, wodurch das Erzählte umso erschreckender wirkt als bei direkter Beschreibung. 41 Vgl. die chiastische Verschränkung in 440,12: mîme leben tet sîn sterben wê. 42 Dass der Ort von Sigunes Aufenthalt in der zweiten und dritten Begegnung derselbe ist bzw. sich die Stellen nicht weit voneinander entfernt befinden, kann aus der beides Mal thematisierten Nähe zur Gralsburg bei großer Entfernung zur Zivilisation (erbûwen, bûwe) geschlossen werden (250,3–5 u. 22–24; 438,24–30; 442,12–23); so auch Nellmann, Kommentar, S. 659 zu 438,29 f.

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großer Entfernung zu erbûwenem lande (250,21, vgl. auch 22–24; 438,28) erscheint die neugebaute Klause wie ein Wunder: swerz niht geloubt, der sündet. diu âventiure uns kündet daz Parzivâl der degen balt kom geriten ûf einen walt, ine weiz ze welhen stunden; aldâ sîn ougen funden ein klôsen niwes bûwes stên, dâ durch ein snellen brunnen gên: einhalp si drüber was geworht. (435,1–9) (»Wer das nicht glaubt, der sündigt. Die Quelle unterrichtet uns, dass Parzival, der mutige Held, in einen Wald geritten kam. Ich weiß nicht, zu welchem Zeitpunkt; ebendort fanden seine Augen eine neu gebaute Klause stehen, da ging ein munterer Quellbach hindurch: sie war mit einer Hälfte darüber errichtet.«)

Von der zweiten Begegnung Parzivals mit Sigune zur dritten hat sich etwas entscheidend verändert. Dies wird gleich zu Beginn dieser Szene deutlich: Dass Parzival die Klause in dieser Umgebung mit den Augen ›findet‹, wird tatsächlich als Wunder inszeniert, das der Rezipient ›glauben‹ müsse, um sich nicht zu ›versündigen‹.43 Das einleitende Motto des Transzendenzbezugs44 ist auf der Handlungsebene sichtbar materialisiert in der neugebauten Klause45, in welcher

43 Auch auf das Vorhergehende beziehbar, vgl. Nellmann, Kommentar, S. 658 zu 435,1. Dass bei 435,1 die Handschriftenklassen *D und *G und damit alle vier Fassungen übereinstimmend eine Initiale aufweisen, vgl. Stolz, Von der Überlieferungsgeschichte zur Textgeschichte, S. 46, spricht für den Bezug der Aussage auf das Folgende und damit auf Sigunes Klause. Stolz, ebd., hält trotzdem einen Bezug auf das Vorhergehende (Zerbrechen und Wiederherstellung des Gralsschwertes) für plausibler und rechnet 435,1 f. zu den ›Plusversen‹ einer späteren Bearbeitungsstufe mit einer anderen »Perceval«-Handschrift als Vorlage, welche gegenüber der Vorlage für den ersten Arbeitsabschnitt Interpolationen aufgewiesen habe. 44 Mit der âventiure im nächsten Vers (435,2) ist der Bezug von gelouben und sünden natürlich auch auf die Wahrheit der Fiktion gesetzt: Es wird ein Spiel mit dem doppelt, nämlich ›weltlich‹ und ›geistlich‹ referenzierten Wahrheitsbegriff getrieben, wenn die âventiure hier als Glaubenswahrheit präsentiert wird, die der Erzähler für seine Wunder-Geschichte reklamiert – dies funktioniert übrigens sowohl mit Bezug auf das Gralsschwert als auch auf Sigunes Klause in der Wildnis. Vgl. zu solchen Dynamiken im legendarischen Erzählen Köbele, Die Illusion der ›einfachen Form‹. 45 Darüber hinaus ist die Klause als Rückzugsort des Anachoreten traditionell Zeichen der Weltabkehr. Ihr Standort in der Wildnis, fern der Gesellschaft, macht sie m. E. jedoch nicht gleich selbst zum Bestandteil derselben, wovon Schuler-Lang auszugehen scheint, wenn sie Sigunes Rückzug in die Klause als fortschreitende »Verwilderung« interpretiert (Schuler-Lang, Wildes Erzählen, S. 188).

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Parzival wiederum einen – vom Erzähler als göttliche Fügung gekennzeichneten – Fund macht: sîn wolte got dô ruochen. er vant ein klôsnærinne, diu durch die gotes minne ir magetuom unt ir freude gap. wîplîcher sorgen urhap ûz ir herzen blüete alniuwe, unt doch durch alte triuwe. Schîânatulander unt Sigûnen vander. (435,12–18) (»Um ihn wollte Gott sich da kümmern. Er fand eine Klausnerin, die für die göttliche Liebe ihre Jungfräulichkeit und ihr weltliches Glück hingab. Der Ursprung weiblicher Sorge blühte ganz neu aus ihrem Herzen, und doch aufgrund alter Treue. Schionatulander und Sigune fand er.«)

Der Verfallsprozess der Minnedame scheint ›aufgehoben‹ im dreifachen Sinne durch den Rollenwechsel Sigunes zur Inkluse. Er erfährt erstens eine Stabilisierung, weil das Äußere Sigunes nun wieder zugeordnet werden kann, es entspricht der Einsiedlertypologie einer klôsnærinne.46 Zweitens scheint die minne-Beziehung, deren Fortsetzung über den Tod des Partners hinaus der Grund für die verzehrende, weltverneinende Trauer Sigunes ist, damit auf eine höhere Stufe gehoben. Ihre Jungfräulichkeit und ihre vreude als Chiffre höfisch-irdischen Glücks sind Gaben, die durch die gotes minne motiviert sind (435,14 f.). Insofern tritt Gott als Adressat von Sigunes minne neben Schionatulander.47 Dies macht nun letzteren aber gerade nicht vergessen, die liebende Sorge um den Toten wird vielmehr, drittens, indem das Trauern von einem zeitweiligen Übergangsritual (rite de passage) zu einer Lebensform verfestigt wird (Klause), innerhalb dieser bewahrt. Von Sigune I bis III scheint sich also ein Paradox immer deutlicher herauszubilden, das in Sigune III dann offen zutage liegt: Sigunes Festhalten an der minne-Beziehung zu Schionatulander, ihr in variierter Konstellation gleichbleibendes Auftreten als paarige Einheit mit dem toten Geliebten steht quer zu

46 Vgl. die Beschreibung 437,20–25; zur Einsiedlertypologie kurz Seitz, Die Darstellung häßlicher Menschen, S. 26; v. a. aber die instruktiv die Askesemodelle Sigunes und Trevrizents vergleichende Studie von Münkler, Buße und Bußhilfe. 47 Wobei interessant ist, dass die gotes minne zwischen genitivus obiectivus (Sigunes minne zu Gott) und subiectivus (Gottes minne zu Sigune) schwankt. Es ist also nicht festgelegt, ob Gott hier als Subjekt oder Objekt des Liebens eintritt; markiert ist damit die gotes minne als eine Beziehung der Gegenseitigkeit.

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der in Sigune III auf verschiedenen Ebenen (Erzählerkommentar, Figurenrede, Setting) evozierten Veränderung einer Ausrichtung auf Gott hin. Die jüngere Forschung sieht diese Dialektik durchaus, versucht sie jedoch meist hierarchisierend aufzulösen, etwa indem ein ›höfischer‹ Kontext für die Bestimmung von Sigunes Status in den Vordergrund gerückt wird. Betrachtet man etwa mit Karina Kellermann Sigune vor allem als höfische Minnedame und ihr Verhalten als Buße für eine Minneschuld48, die in der Selbstisolation von der Gesellschaft besteht, so erscheinen die trauernde Selbstverstümmelung, der Verfallsprozess des höfischen Äußeren sowie das Inklusentum als profanierte, auf die höfische minne-Vorstellung bezogene Bußpraktiken.49 Indem Kellermann feststellt, dass Parzival als Repräsentant der höfischen Gesellschaft in seinem Unverständnis für die von Sigune propagierte Zusammenführung von »höfische[r] Minne und religiöse[r] Buße« (»Epiphanie der Minnemärtyrerin Sigune«) vorgeführt werde, erfasst sie zwar ganz richtig die Thematisierung dieses zentralen Widerspruchs auf der Handlungsebene.50 Das Problem der Übersetzbarkeit unterschiedlicher Axiologien erweist sich aber dadurch nur als verschoben. Letztlich impliziert die These von der ›Minnemärtyrerin‹ eine Profanierung, die dann die Inhaltsleerung (und -neufüllung) der religiösen Begriffe bedeutet. Die von Susanne Knaeble ausformulierte These scheint insofern die konsequente Folge dessen zu sein, was viele unausgesprochen zugrunde legen: Knaeble begreift die Implementierung religiöser Aspekte in die Sigune-Szenen als »Sakralisierung« des höfischen Minnepaares, einen Vorgang, den die »heilige Geliebte eines Toten« selbst verantworte, indem ihr ›höfisch-frommer‹ Heilsweg auf die Wiedervereinigung mit dem toten Schionatulander ziele.51 Sigune ist für Knaeble ein Beispiel dafür, wie Religion im »Parzival« zum »beobachteten Objekt« werde, der Text sich jeder Wertung enthalte.52 Damit läuft die Argumentation über die für den »Parzival« unbezweifelt richtige und wichtige Perspektivenpluralität.53 Gerade in der Frage nach dem Status des Religiösen scheint mir dies jedoch keine dauerhaft tragende Lösung zu sein, da sie gemeinhin auf der Produktionsebene anzusiedelnde Prozesse wie die ›Funktionalisierung des Religiösen‹ oder die ›Sakralisierung des Minnedienstes‹ auf die Figurenebene auslagert, womit der 48 Welche nach Kellermann, Entstellt, verstümmelt, gezeichnet, S. 54 f., darin bestünde, Schionatulander zu Lebzeiten den Lohn für seinen Minnedienst vorenthalten zu haben. Es ist fraglich, inwieweit die sicherlich Reue ausdrückenden Verse 141,20 f. als weitreichenderes Schuldbekenntnis aufgefasst werden dürfen, vgl. zur Kritik an dieser These bereits Eichholz, Kommentar, S. 56 f. 49 Kellermann, Entstellt, verstümmelt, gezeichnet, S. 55. 50 Ebd. 51 Knaeble, Die heilige Geliebte eines Toten, S. 104 f., 108 f. 52 Ebd., S. 107. 53 Vgl. Schu, Vom erzählten Abenteuer.

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Frage, wer die Verantwortung für eine in dieser Radikalität behauptete Funktionalisierung zu übernehmen habe, wieder ausgewichen wird.54 Die auffällige Häufung analytischer Prozessbegriffe (Sakralisierung, Transzendierung etc.) und Kompositbegriffe wie ›Minnemärtyrerin‹ zur Deutung der Figur Sigune weist ganz offensichtlich auf ein im »Parzival« narrativ erzeugtes Phänomen der Übergängigkeit hin, das sich in dualistischen Kategorien nicht befriedigend fassen lässt, weil es eben gerade mit deren Überschreitung operiert. Die Amalgamierung der Sphären wird besonders deutlich anhand der Geschichte Sigunes, deren »Lebensweise, die zugleich ein Weg in den Tod ist, offensichtlich eine keineswegs negativ besetzte Alternative darstellt, Immanenz und Transzendenz miteinander zu verschränken«.55 Zur Erhellung dieses Phänomens möchte ich nun jene Dimension des »Parzival« in den Blick rücken, die unter dem Stichwort »Bildhaftigkeit«56 bisher gewissermaßen nur zur Hälfte einbezogen wurde: Zwar hat man zurecht die Relevanz der auf Handlungsebene narrativierten Bilder betont57, jedoch kaum die auf allen Ebenen zum Einsatz kommende Metaphorik beachtet. Diese jedoch ist im Hinblick auf Verhältnismäßigkeiten wie Referenzsetzungen zwischen Gott und Welt äußerst aufschlussreich. Bezieht man etwa, um auf den Beginn von Sigune III zurückzukommen, die Verse ein, welche den Auftritt der Klausnerin mit den vertrauten Namen Sigune und Schionatulander verbinden (435,16–19)58, so stößt man hier auf eine florale Wachstumsmetaphorik, die vielfältige Bezüge stiftet, und zwar nicht nur auf der Mikroebene der umliegenden Verse, sondern auch auf der Makroebene der vier Sigune-Szenen im gesamten Text. Bemerkenswert ist zunächst, dass der urhap wîplîcher sorgen (435,16), der im herze lokalisiert ist, ganz neue Blüten treibt (435,17): Die konventionalisierte Metapher des urhap, des Sauerteigs (fermentum) als Bild für den Anfang, Ursprung von etwas59 wird hier als 54 Es wäre die Frage, wie sich dies mit dem Konzept der ›Figur‹ in mittelalterlichen Texten vereinbaren lässt, ohne es (ahistorisch) zu überlasten. 55 Kiening, Unheilige Familien, S. 170. 56 Wenzel, Herzeloyde und Sigune, S. 234. 57 Grundlegend Wenzel, Herzeloyde und Sigune; Knaeble, Die heilige Geliebte, ohne Verweis auf Wenzel. 58 Bemerkenswert ist die Strategie, die Identifizierung ausschließlich über die Figurenperspektive Parzivals laufen zu lassen, dabei aber auktoriales Wissen einzuflechten. So ist das dritte Zusammentreffen Parzivals mit Sigune dreimal erzählt: Zuerst ›berichtet‹ der Erzähler Parzivals Fund der Klausnerin unter Angabe des Grundes ihres Inklusendaseins (435,1–18), dann ›findet‹ Parzival Sigune und Schionatulander (435,19 f.). Beides ist nachträglich als eine Art Vorhersage des Erzählers aufzufassen, denn ein dritter Neueinsatz (436,26–437,30) erzählt erst Parzivals schrittweise Annäherung an die Klause und deren ›Bewohner‹, wobei markiert wird, dass sich die Figuren gegenseitig zunächst eben nicht erkennen. 59 Vgl. den Eintrag zum Lemma in Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Bd. 2, Sp. 2004.

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solche kenntlich gemacht, wenn sie mit der Vorstellung von einer blühenden Pflanze gekreuzt wird. Der Bildbruch weist so auf die positive Konnotation des an sich negativen urhap wîplîcher sorgen, denn die Parallelisierung hebt auf den Wachstumsprozess ab, der den gärenden Sauerteig genauso kennzeichnet wie die blühende Pflanze. Diese Ästhetisierung60 in der Rede des Erzählers lässt sich erhärten, wenn man zurückschaut auf Sigune I, wo die Wendung vom sorgen urhap bereits eine zentrale Rolle spielte in den Erläuterungen Sigunes zum Tod Schionatulanders: ich hete kranke sinne, daz ich im niht minne gap: des hât der sorgen urhap mir freude verschrôten: nu minne i’n alsô tôten. (141,20–24) (»Ich war schwachsinnig, ihm nicht Liebe zu schenken: So kam es, dass der Sauerteig des Leids mir die Freude zerstört hat. Jetzt liebe ich ihn als Toten.«)

Sigune schilt sich selbst, weil sie Schionatulander zu Lebzeiten den Minnelohn verweigert habe. Mit dem kausalen Anschluss des (141,22) wird dieses Verhalten als Grund für das Tun des sorgen urhap (nämlich, Sigunes Freude zerstört zu haben) identifiziert. Damit ist die zeitlich weiter zurückliegende Verweigerung der Minne (Imperfekt in V. 141,20 f. bedeutet Vorzeitigkeit) parallelisiert mit der raumzeitlichen Semantik des urhap, der sowohl wörtlich wie übertragen einen räumlichen (Ur)-Grund, zeitlichen Startpunkt, einen Keim meint, der eine Entwicklung indiziert. Die verweigerte Minnegabe ist also der ›Anfang allen Übels‹, der Sigune nu (141,24) eingeholt hat, indem er ihr Glück ganz zerstört hat.61 Sigune hat gewissermaßen etwas geschaffen, das sich verselbständigt hat und sie nun vom Subjekt zum Objekt der Handlung, zur (Er)Leidenden macht.62 60 Ich benutze den Begriff hier zunächst pragmatisch-heuristisch, auf die Darstellung des sinnlich wahrnehmbaren Schönen bezogen. Für eine Revision des Begriffs und seiner Problematiken siehe Braun, Kristallworte. 61 Wenn man für schrôten die Bedeutung des Zerkauens, Zernagens, Zersetzens erwägt, die für Tiere, speziell Ungeziefer belegt ist, könnte auch hier urhap in der wörtlichen Bedeutung des Sauerteigs, des Keims, der gärt und wächst, gebraucht sein: Die Vorstellung wäre dann die eines von innen heraus Zerstörens / Zersetzens der freude, was die zeitliche Erstreckung des Prozesses abbilden würde; dagegen spricht, dass das Grimmsche Wörterbuch diese Bedeutung von schrôten erst für das Fnhd. verzeichnet, im Mhd. die Bedeutung von ›zerhauen‹, ›in Stücke hauen‹ überwiegt (v. a. in Kampfschilderungen). Allerdings kommt verschrôten im gesamten Parzival nur dieses eine Mal vor und, soweit ich sehe, nirgends in den Kämpfen, was eine Sonderbedeutung wieder wahrscheinlicher werden lässt. 62 Einen in der Schwebe bleibenden Subjekt-Objekt-Wechsel haben Kiening und Köbele, Wilde Minne, S. 240 f., vom »Titurel« herkommend für eben diese Passage anhand der Jagdmetaphorik herausgearbeitet.

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Der personifizierte sorgen urhap lässt mit der Zerstörung der freude die Zeiten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einem immer gleichen Zustand gerinnen: der statischen, in der Wiederholung je neu aktualisierten jâmers nôt Sigunes (141,18): sîn sterben mich dô müete: och hân ich sît von tage ze tage fürbaz erkennet niwe klage. (252,24–26) (»Sein Sterben verursachte mir damals Leid: Auch habe ich seitdem von Tag zu Tag die Trauer immer wieder neu erlebt.«)

Diese Aussage Sigunes in der zweiten Szene ist sozusagen die Antwort auf die Frage, was sich eigentlich in ihrer Geschichte während all der Zeit zwischen den Begegnungen mit Parzival ereignet: Nichts, die vergehende Zeit, jeder neue Tag dient nur dazu, das Sterben Schionatulanders und den damit verbundenen Schmerz zu aktualisieren. Die Wendung vom sorgen urhap scheint mir deshalb gerade nicht exemplarisch, als Periphrase (etwa für den Tod oder das Unglück) zu verstehen zu sein63, sondern als spezifisch auf die Geschichte Sigunes und deren über die Zeitlichkeit der Metaphorik gelenkte Wirkung komponiert.64 Im Blick auf die respondierende Stelle in der dritten Sigune-Begegnung wird dies bestätigt: Die Qualität des sorgen urhap als statische klage hat sich verändert, die Wiederholung des Immergleichen hat eine ins Positive weisende, weil produktive Veränderung gezeitigt: Der sorgen urhap ist nicht mehr zerstörendes Übel im Kontext der höfischen Minne und ihrer Dienst-Lohn-Beziehung, sondern treibt schmückende Blüten im Kontext der gotes minne (435,14). In Form des magetuom (435,15) kann der sorgen urhap aufgeschobenen Minnelohns nun als Gottesgabe erscheinen.65 63 So interpretiert Peter Knecht die Wendung in seiner Übersetzung, vgl. Parzival, Ed. Lachmann, V. 141,22 f.: »So hat denn der erste Grund allen Leids auch mein Glück zerhauen.« Eichholz, Kommentar, S. 60, beruft sich auf die beiden Möglichkeiten einer ›persönlichen‹ Bedeutung (Tod) oder einer abstrakten (Unglück): Beides scheint angesichts der zweiten Stelle in Sigune III nicht überzeugend. 64 Zu den Interferenzen von Metaphorik und Handlungsgeschehen im »Titurel«, die auf die Sigune-Szenen des »Parzival« ausstrahlen, siehe Kiening und Köbele, Wilde Minne, sowie meine Überlegungen unten, Abschnitt 3. 65 Natürlich gehört die Blütenmetaphorik, wohl ausgehend von Is 11,1 (Et egredietur virga de radice Jesse, et flos de radice eius ascendet) zur Marienikonographie und transportiert insofern auch mariologische Implikationen, vgl. etwa die Belege bei Salzer, Die Sinnbilder und Beiworte, S. 14 f., 145 f., 343. Mir geht es aber gerade darum, zu zeigen, wie die ›geistlichen‹ und ›weltlichen‹ Referenzierungen im Einsatz der Bilder enthierarchisiert, geradezu zum Verschmelzen gebracht werden, indem sie funktionell ganz auf die Charakterisierung der Figur Sigune ausgerichtet sind, ihre Spezifik zum Ausdruck bringen.

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Die Horizonterweiterung der irdischen minne auf Gott hin (agape) wird über die Metaphorik pflanzlichen Wachstums als in der Zeit ablaufender Prozess, als Entwicklung lesbar. In diese Vorstellung, dass sich hier etwas wachsend verändert und dabei doch gleichbleibt, ist die triuwe mit hineingenommen: Das alniuwe blüejen (435,17) ist durch alte triuwe (435,18) ermöglicht, hat also eine im kausalen wie raumzeitlichen Verständnis stets noch vorhandene (doch, ebd.) Basis. Die Vorstellung von der triuwe als wachsender Pflanze ist spezifisches verbindendes Element der Sigune-Szenen, sie wird in verschiedener Form über Bilder aus dem Bereich des Floralen wie Agrikulturellen evoziert. So bescheinigt Sigune Parzival bei ihrer ersten Begegnung triuwe als ererbte Anlage angesichts seiner mitleidenden Reaktion ob des toten Schionatulander: du bist geborn von triuwen (140,1). Wenige Verse später erkennt sie ihn und setzt die Bedeutung seines Namens in Beziehung zu der Furche, welche die große Liebe mit der Pflugschar der Treue in Herzeloydes Herzensacker gepflügt habe – Herzeloyde, die wîplîcher kiusche ein bluome ist (252,16).66 deiswâr du heizest Parzivâl der nam ist rehte enmitten durch. grôz liebe ier solch herzen furch mit dîner muoter triuwe: dîn vater liez ir riuwe. (140,16–19) (»Es ist wahr, du heißt Parzival. Der Name bedeutet ›gerade mittendurch‹. Große Liebe pflügte mit der Treue deiner Mutter solch eine Furche in ihr Herz. Dein Vater hinterließ ihr Kummer.«) 66 Zur engen Verbindung der kiusche mit der triuwe vgl. Schumacher, Die Auffassung der Ehe, S. 119 f., Anm. 1. Der Konnex von agrikultureller Bildlichkeit und der Vorstellung einer Kultivierung der triuwe wird schon in der Einöde Soltane markiert, wohin Herzeloyde sich aus minnetriuwe zurückgezogen hat, und wo sie mit ihrem Gefolge vom Ackerbau lebt (117,7–28, bes. 17: bûwn und riuten). Die Szene, in der Parzival Karnahkarnanz trifft und sein Wunsch geweckt wird, Ritter zu werden (der Entschluss wird Herzeloyde aus triuwe das Leben kosten), ist nicht nur kausal mit dem Ackerbau von Herzeloydes Leuten verknüpft – denn Parzival folgt ihnen am Morgen auf das Feld –, sondern der Ackerbau bildet gewissermaßen die Hintergrundhandlung für Parzivals ritterliches Initiationserlebnis. Wenn Sigune dann davon spricht, dass die Liebe mit der Pflugschar der triuwe eine Furche in Herzeloydes Herzensacker gezogen habe, knüpft dies in übertragener Form an die vorher erzählte konkrete Handlung der Schlüsselstelle von Parzivals ritterlicher Initiation an: frôn Herzeloyden phlüege (124,26) weisen auf ihren Kummer voraus; die Ackerleute, mit sæn und egen beschäftigt (124,29), sehen sich als Schuldige für Parzivals Begegnung mit den Rittern (124,25–125,26). Es wird mit Sigunes Bemerkung nicht nur das Vorherige in Erinnerung gerufen, sondern auch das Bildfeld des Agrikulturellen als Zeichenspender für innere Vorgänge installiert, äußere und innere ›Kultivierung‹ fallen in eins. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Heinrich von dem Türlin in der »Krone« (6390 f.) das ›val‹ in ›Parzival‹ in Zusammenhang mit Parzivals tätiger Mithilfe beim Ackerbau als ›Tal, Furche‹ übersetzt, siehe Eichholz, Kommentar, S. 44.

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Wenn das Bild hier auch auf Zerstörung, auf Herzeloydes aus minnetriuwe gebrochenes Herz zielt, so transportieren die agrikulturellen Begriffe (ier, furch) von der Bestellung des Ackers doch die Konnotationen der Fruchtbarkeit und des zukünftigen Wachstums. Als Sigune dann in der zweiten Begegnung von Parzivals Frageversäumnis auf der Gralsburg erfährt, wirft sie ihm vor, dass die Saat der triuwe bei ihm nicht auf fruchtbaren Boden gefallen sei: ôwê waz wolt ir zuo mir her? gunêrter lîp, verfluochet man! ir truogt den eiterwolves zan, dâ diu galle in der triuwe an iu bekleip sô niuwe. (255,12–16) (»O weh, was wollt Ihr hier von mir? Ehrloser Leib, verfluchter Mann! Ihr trugt den Zahn des Giftwolfs, dass die Galle in Eurer Treue schon Wurzeln geschlagen hat, jung wie Ihr seid.«)

Es ist die falsche Treue, ein giftiges Unkraut, das bei Parzival Wurzeln geschlagen hat.67 Mit dem Übergang vom vertraulichen Duzen zum förmlichen Ihrzen und dem Näheverbot widerruft Sigune ihre vorgängige Aussage, Parzival stamme aus dem Geschlecht ›derer von Treue‹ (140,1) und sei mit ihr verwandt, woran sie ihn gerade noch erinnert hatte.68 Was Sigune Parzival vorwirft, dass nämlich die triuwe bei ihm nicht wachse, blühe und Frucht ansetze, ist also genau das, was bei ihr selbst passiert.69 Sind 67 Vgl. auch Sigunes verheißungsvolle Rede von der saelden kraft als wachsender und Frucht ansetzender Pflanze kurz vorher: sô wehset unde kernet / immer sælden kraft bî dir (254,18 f.) 68 252,14–17: dune darft dich niht der sippe schamn, / daz dîn muoter ist mîn muome. / wîplîcher kiusche ein bluome / ist si, geliutert âne tou. 69 Das semantische Feld des Agrikulturellen, des Säens, Keimens, Wachsens, Blühens und Fruchtbringens gehört zum Bildfeld der Erbauung des Glaubens, vgl. das Gleichnis vom Sämann, Mt 13,3–8; Mc 4,3–8; Lc 8,5–8, sowie das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen Mt 24–30; auch das Bild des gärenden Sauerteigs begegnet als Gleichnis für das Reich Gottes Mt  13,33; Lc 13,20–21: Die Vorstellung vom inneren Durchdringen oder Durchwachsen, vom kleinen ›Keim‹, der sich wachsend ausbreitet und von innen her Veränderung zeitigt, sich ausdehnt, Raum gewinnt, ist auch hier zentral. Die Eigenschaft des Wachstums bildet das tertium comparationis für die metaphorische Überblendung von Reich Gottes und pflanzlichem wie menschlichem Organismus, wie sie bei Paulus im Epheser-Brief (Eph 4,15 f.) begegnet: Veritatem autem facientes in caritate crescamus in illo per omnia qui est caput Christus ex quo totum corpus conpactum et conexum per omnem iuncturam subministrationis secundum operationem in mensuram uniuscuiusque membri augmentum corporis facit in aedificationem sui in caritate. »Lasst uns aber wahrhaftig sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken zu dem hin, der das Haupt ist, Christus, von dem aus der ganze Leib zusammengefügt ist und ein Glied am andern hängt durch alle Gelenke, wodurch jedes Glied das andere unterstützt nach dem Maß seiner Kraft und macht, dass der Leib wächst und sich selbst aufbaut in der Liebe.«

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minne und triuwe in Sigune I, wie oben gezeigt, noch ganz auf die höfische Minnebeziehung und Schionatulander als Objekt ausgerichtet, so überblendet der Erzähler bereits zu Beginn von Sigune II die lehnsrechtlich grundierte ­minnetriuwe70 mit caritativer compassio: Das Bild der Sigune in der Linde erzählt eine magt, deren triwe nôt (249,15) auf den ritter tôt in ihren Armen (249,16 f.) reimt: swenz niht wolt erbarmen, / der si sô sitzen sæhe, / untriwen ich im jæhe (249,18–20) droht der Erzähler. Damit fordert er vom Betrachter der leidenden Sigune genau jene triuwe in Form von caritas und compassio, die sie selbst angesichts des wunden Gralskönigs Anfortas artikuliert (vgl. 251,21–24; 252,1–4) und deren Versäumnis sie Parzival vorwirft. Als Objekt von Sigunes Klagen aus triuwe bleibt Schionatulander zwar präsent (ich hânn alhie, 252,20), rückt in ihrer Rede aber gewissermaßen in den Hintergrund, denn wenn der Erzähler diese einleitet mit hœrt mêr Sigûnen triwe sagn (253,18), dann geht es um Anfortas, dessen Genesung Sigune als einziges remedium ihrer verlorenen vreude darstellt (253,19–21). Parzival, der mit Sigune im spiegelbildlich identischen Verwandtschaftsverhältnis zu Anfortas steht71, und dessen compassio sie bei ihrem ersten Zusammentreffen als Anlage zur triuwe hervorgehoben hat, konnte  – aus Sigunes Perspektive –, diesen Keim nicht kultivieren. Wie hat er anders beim Anblick des leidenden Anfortas nicht fragen können?72 Sigunes triuwe dagegen scheint tatsächlich mêr geworden zu sein, sie ist bereits über menschliches Maß hinausgewachsen: al irdisch triwe was ein wint, wan die man an ir lîbe sach. (249,24 f.) (»Alle irdische Treue war ein Wind gegen die, die man an ihrem Leib sah.«) Festzuhalten ist, dass der Verfall von Sigunes Äußerem konterkariert wird durch einen über Metaphorik eingespielten Prozess des Wachsens und Blühens, der die ›Erbauung‹ innerer Werte wie der triuwe und minne ins Bild setzt. Es ist diese Dialektik der beiden Prozesse, die die Aufmerksamkeit vom ›Außen‹ auf ein ›Innen‹ lenkt: Sigunes Erscheinen als Inkluse in der dritten Szene ist in diesem Sinne die Konkretisation der metaphorisch prozessierten Verinnerlichung. Dass hier über die Metaphorik zusätzlich eine Vorstellung von der Dynamik innerer Werte wie minne und triuwe eingespielt wird, ein Hinauswachsen ins Transzendente bei gleichzeitigem Wurzeln im Irdischen, scheint mir ein 70 Knaeble, Die heilige Geliebte, S. 99 f., macht diesen Aspekt sehr stark; zwar sieht sie die Übergängigkeiten des Begriffs triuwe zwischen weltlicher und geistlicher Semantisierung, erklärt diese jedoch zum »Paradoxon« (S. 103), das aus höfischer Perspektive gelöst werde durch eine »Sakralisierung höfischer triuwe« (S. 104). 71 Für beide ist Anfortas der Mutterbruder, der œheim. 72 ir sâhet doch sölch wunder grôz:/daz iuch vrâgens dô verdrôz! (255,5 f.) und iuch solt iur wirt erbarmet hân,/an dem got wunder hât getân,/und het gevrâget sîner nôt./ir lebt, und sît an sælden tôt (255,17–20). Die abgetötete sælde kann sich zurückbeziehen auf das Bild von der saelden kraft als zu kultivierender Pflanze (254,18 f.), vgl. oben, Anm. 67.

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wirkungsästhetisch nicht zu unterschätzender Kunstgriff. Welche rezeptionslenkende Macht diese Metaphorik entfaltet, wird deutlich daran, dass in der Forschung schon des Öfteren die transgressive Dynamik postuliert, soweit ich sehe jedoch nirgends reflektiert wurde, wie dieser (subjektive) Eindruck als von der Spezifik der Erzählweise geschaffener zustande kommt.73 Es ist also immer beides zugleich da, die weltliche, höfische minne Sigunes zu Schionatulander und die gotes minne, wobei eben die negativen Aspekte der höfischen Minnedienstbeziehung (Trauer, verweigerter Minnelohn, Verfall äußerer Schönheit) über die Metaphorik positiviert werden. Zu fragen ist nun, um auf Dallapiazzas oben zitierten Vorschlag einer Betrachtung Sigunes im Kontext der ars humilis74 zurückzukommen, inwiefern die aufgezeigte Dialektik konkret als eine Ästhetisierung im Sinne einer christlichen Rechtfertigung des Hässlichen (Jauß)75 verstanden werden könnte. Obwohl die beiden beschriebenen Funktionsweisen der Metaphorik und ihrer Konkretisation auf der Handlungsebene (Blicklenkung von außen nach innen, Transgressivität zwischen Weltlichem und Geistlichem) diesen Analogieschluss nahelegen, scheint er mir zunächst genauso problematisch wie die oben kritisierte zu einseitige Situierung Sigunes vor einem höfischen Kontext. Stattdessen möchte ich zuerst den Stellenwert der Metaphorik pflanzlichen Wachsens und Blühens für die Figur Sigune und ihre Geschichte näher bestimmen, indem ich vergleichend ihre Verwendung im »Titurel« und im gesamten »Parzival« betrachte.

3. Der sâmen ûz Muntsalvâtsche und die Blüte der Männerschönheit – Metaphorik pflanzlichen Wachsens und Blühens im »Titurel« und »Parzival« Vor allem für das erste der beiden »Titurel«-Stücke ist der Einsatz von pflanzlicher Wachstumsmetaphorik zu verzeichnen. Wie Christian Kiening und Susanne Köbele feststellen, wird auch das Bildfeld der Natur – mit dem von Kiening und Köbele anvisierten des Jagens und Bindens über den Komplex der wilde ver73 So verbindet ohne spezifische Begründung die triuwe mit der Vorstellung des Wachsens schon Mergell, Wolfram von Eschenbach und seine französischen Quellen, S. 114: »Wolfram nennt das Ethos, das solche Läuterung vermag, triuwe; triuwe, aus Menschlichem erwachsend, führt hin zu Gott; triuwe spiegelt Göttliches im Menschlichen.« Hierauf beruft sich u. a. Schumacher, Die Auffassung der Ehe, S. 226, Anm. 173. Von der ›wachsenden triuwe‹ spricht auch Dallapiazza, Häßlichkeit und Individualiät, S. 410, wie oben zitiert. 74 Ebd., S. 410. 75 Jauß, Die klassische und die christliche Rechtfertigung des Hässlichen; Schnell, Ekel und Emotionsforschung, mit ausführlicher Dokumentation der Forschung; besonders Michel, Formosa deformitas.

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knüpft – genutzt, um »den Minneprozeß in seiner Komplexität« vorzuführen.76 Hier lässt sich anschließen und weiter differenzieren. Geht man die Stellen durch, so fällt auf, dass zwei unterschiedliche Einsatzweisen von Pflanzenmetaphorik ausgemacht werden können: Im Gespräch Schionatulanders mit Gahmuret verleiht die Analogie Frühling – minne, wie man sie aus dem Minnesang kennt77, der Minne die Konnotation des ›Naturphänomens‹. Herausgestellt werden über Bilder des pflanzlichen Erblühens und Sprießens die Eigenschaften des Neuen, Jungen, Frischen der Liebe. Es ist genau der Konnex, der im »Parzival« für die Figur Gahmuret vom Erzähler als Determinante (art von der feien) expliziert wird: daz velt was gar vergrüenet; daz plœdiu herzen küenet und in gît hôchgemüete. vil boume stuont in blüete von dem süezen luft des meien. sîn art von der feien muose minnen oder minne gern. (96, 15–21) (»Die Wiese war so ganz und gar übergrün, das macht stumpfe Herzen kühn und hochgemut. Viele Bäume standen in Blüte durch die milde Maienluft, die süß war. Seine Feenart verursachte den Drang zu lieben oder Liebe zu suchen.«)

Wenn Schionatulanders Minneleid geschildert wird über den Vergleich, Sigune habe ihm die Freude aus dem Herzen gesaugt wie die Biene die Süße aus den Blumen (83,4)78 oder der noch unwissende Gahmuret fragt, wodurch Schionatulanders Antlitz ›entlaubt‹ worden sei von seinem strahlenden Glanz (94,3 f.)79, dann zielen die Bilder frühlingshafter Naturschönheit vor allem auf das schöne Äußere des Liebenden oder eben dessen Beeinträchtigung durch den Trennungsschmerz, der die Konstellation Hoher Minne aufruft (vgl. 87,1; 103,1): Gahmuret bleibt im Bildfeld, wenn er Schionatulander anspricht als minnen 76 Kiening und Köbele, Wilde Minne, S. 247. 77 Zuletzt dazu Eder, Der Natureingang im Minnesang; vgl. auch den Hinweis bei Heinzle, Stellenkommentar zu Wolframs Titurel, S. 157, ad 103,2. 78 Ich zitiere die Ausgabe Wolfram von Eschenbach, Titurel. Mit der gesamten Parallelüberlieferung des »Jüngeren Titurel«. Kritisch hg., übers. u. komm. von Joachim Bumke und Joachim Heinzle, Tübingen 2006, die Strophennummerierung erfolgt nach Lachmann. Auf die handschriftliche Varianz gehe ich ein, wo es für meine Interpretation relevant ist; vergleichend herangezogen habe ich die Ausgabe Wolfram von Eschenbach, Titurel. Hg., übers. u. mit einem Stellenkommentar sowie einer Einführung versehen von Helmut Brackert und Stephan Fuchs-Jolie, Berlin und New York 2003. Die Übersetzungen sind von mir. 79 Zwar hat sich gelouben (sich entschlagen, aufgeben, verzichten), vgl. Brackert und Fuchs-Jolie, S. 216, ad 99,3, etymologisch nichts mit louben (loup bekommen) zu tun, aber das Spiel mit dem Gleichklang ist wohl nicht zufällig, sodass hier die Vorstellung vom entlaubten Baum als Bild für das Minneleid evoziert wird.

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ursprinc, dû berndez saf minnen blüete (96,1), ihn also selbst zum Quell der Minne macht und zwar im Sinne des Pflanzensaftes, der die Blüte der Minne hervorbringt. Folgerichtig stellt Gahmuret in Aussicht, mit seiner Hilfe zur Vermittlung der Minnebeziehung werde Schionatulander ›erblühen‹: Sigûnen glanz sol dîne varwe erblüen nâch den bliclîchen bluomen (106,4). Auch für Sigunes Schönheit kommt die Metapher des Blühens zum Einsatz, wenn Gahmuret zu Schionatulander sagt: Doch vreu ich mich der maere,   daz dîn herze sô stîget. wâ wart ie boumes stam   an den esten sô lobelîche erzwîget? si liuhtec bluome ûf heide, in walde, ûf velde! hât dich mîn müemel   betwungen, ôwol dich der lieplîchen melde! (103) (»Und doch freue ich mich über die Nachricht, dass dein Herz so in die Höhe steigt. Wo gab es jemals einen Baumstamm, der an den Ästen so herrliche Zweige getrieben hat? Sie, die leuchtende Blume auf der Heide, im Wald, auf der Wiese! Hat dich mein Nichtchen bezwungen, wie schön für dich, das ist eine gern gehörte Neuigkeit!«)

Das Bild von Schionatulanders Herz, das in die Höhe steigt (103,1), konnotiert die Hohe Minne im Allgemeinen, ist jedoch im Besonderen konkret auf das Folgende (103,2) zu beziehen: Sein Herz erhebt sich zu den herrlichen Verzweigungen eines außergewöhnlichen Baumes, nämlich des Stammbaumes des Gralsgeschlechts80, in dessen Krone Sigune einen jungen Zweig bildet. Die metaphorischen Erscheinungen Sigunes als junger Zweig und als Blüte (103,3) können sogar die Chronologie pflanzlichen Wachstums abbilden (sodass Sigune eine Blüte des Stammbaums wäre), aber selbst wenn man den Bezug nicht so eng verstehen will, fällt doch sofort auf, dass die für Sigune eingesetzte Metaphorik ganz andere Konnotationen transportiert: Sigunes äußere Schönheit übersteigt diejenige der frühlingshaften Natur, als Erbe der Mutter wird sie hier explizit auf göttliches Wirken zurückgeführt (104).81 Bereits vorher wird Sigunes ›inneres Blühen‹, stünde sie neben taubenetzten Blumen, diesem glitzernden Anblick des Wonnemonats Mai vorgezogen: er kôs si vür des meien blic,   swer si sach bî den tounazzen bluomen. ûz ir herzen bluote saelde und êre. (32,2 f.) (»Wer auch immer sie sah neben den taubenetzten Blumen, der gab ihr den Vorzug vor dem Glanz des Maien. Aus ihrem Herzen blühten Heil und Ehre.«) 80 Vgl. Heinzle, Stellenkommentar zu Wolframs Titurel, S. 157. 81 Vgl. die Hinweise bei Heinzle, Stellenkommentar zu Wolframs Titurel, S. 157, auf die Blütenmetaphorik des Minnesangs sowie das biblische Bild von der Wurzel Jesse und Maria als der Blüte daran (Is 11,1 und Dn 11,7); zudem auf das von diesen Bibelstellen ausgehende Bild der ›leuchtenden Blume‹ für Maria und Christus, vgl. auch Anm. 65.

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Der Topos einer die Frühlingspracht überstrahlenden Frauenschönheit82 ist hier auf innere Qualitäten gewendet, sodass Sigunes Lob eine neue Vielschichtigkeit gewinnt. Die pflanzliche Metaphorik zielt nicht in erster Linie auf ein Äußeres, sondern setzt die Kultivierung unsichtbarer Werte ins Bild, wenn das »Herz, Sitz des Denkens, Fühlens, Wollens und damit Zentrum des Charakters […] gleichsam der Boden [ist], dem sælde und êre entsprießen«83. Dieses spezielle, ein ›Innen‹ fokussierende Verständnis von Kultivierung kennzeichnet die Pflanzenmetaphorik, die rund um das Gralsgeschlecht zum Einsatz kommt: Wie es sich im Bild des Stammbaums und Sigunes als dessen Blüte schon andeutete, fügt diese semantisch zusammengehörige Gruppe dem ästhetischen Aspekt pflanzlichen Wachstums (die Schönheit des Blühens aus Minne als tertium für Natur und Mensch) etwas Entscheidendes hinzu. In den Mittelpunkt rückt die Zeitlichkeit von Wurzeln, Wachsen und Fruchttragen, vom Wachstum als ›Entwicklung‹, welche das genealogische Syntagma in allen seinen Phasen gleichzeitig abbilden kann (Wurzeln, Stamm, Äste, Zweige, Blüten). Mit der pflanzlichen Metapher des Stammbaums konvergiert in dieser Hinsicht das breit ausgeführte agrikulturelle Bild vom Gralsgeschlecht als Samen: Al des grâles diet,   daz sint die erwelten,
 imer saelec hie und dort,   in den staeten prîs die gezelten. nû was Sigûne ouch von dem selben sâmen,
 der ûz von Muntsalvâtsche   in die werlt wart gesaet, den die heilhaften nâmen. Swâ des selben sâmen   hin wart brâht von dem lande, daz muose werden berhaft   und in vil reht ein schûr ûf die schande. dâ von Kanvoleiz verre ist bekennet. si wart in manger zungen   der triuwen houbetstat genennet. (44 f.) (»Alle Leute des Grals, das sind die Auserwählten, sie sind immer selig, hier und dort, zählen zu denen, die beständigen Ruhm haben. Nun stammte Sigune auch von demselben Samen, der von Munsalvaesche aus in die Welt gesät wurde und den die Begnadeten aufnahmen. Wo auch immer etwas von diesem Samen hingebracht wurde aus dem Land des Grals, dort ging er auf und trug Frucht und war für sie so recht wie ein Hagelschauer auf die Schande. Deshalb ist Kanvoleiz weithin bekannt. Sie wurde in vielen Sprachen die ›Hauptstadt der Treue‹ genannt.«)

82 Heinzle, Stellenkommentar zu Wolframs Titurel, S. 56, mit Belegen aus dem Parzival und Literatur. 83 Ebd., S. 57. Man beachte die Chronologie der Metaphorik, wenn Titurel zu seinem Sohn Frimutel über Sigunes Mutter Schoysiane sagt: Dîn tohter Schoysîâne in ir herzen besliuzet / sô vil der guoten dinge, des diu werlt an saelden geniuzet. (10,1 f.)

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Das Bild vom sâmen ist m. E. nicht einfach mit der alttestamentarischen Metapher für Nachkommenschaft zu erklären84, vielmehr verweisen die starke Fokussierung auf den Aspekt des Agrikulturellen sowie die Dichotomie von hie und dort (44,2), Muntsalvâtsche und werlt (44,4), mithin die Aufnahme des Samens durch die Begnadeten (44,4) und sein Fruchttragen dort (45,2) auf das Gleichnis vom Sämann und seine Auslegung des Samens als Wort Gottes.85 Die metaphorische Aussage zielt also nicht nur auf das Aussenden von Personen des Gralsgeschlechts in die werlt, sondern vor allem darauf, dass diese Tugenden, insbesondere die Tugend der triuwe (44,4) vermitteln. Die agrikulturelle Metaphorik ist durchgehend doppelt besetzt als ›Kultivierung‹ der Personen und der Tugenden, die sie transportieren. Deshalb bleibt auch noch die positive Wirkung des sâmen am Zielort (45,2) im Bild des Agrikulturellen (das Fruchttragen des sâmen ist ein Hagelschauer auf die schande: sie konnte dort also nicht gedeihen). Die triuwe (44,4) wird hier durchsichtig auf die christliche Tugend der fides hin. Und wenn Kanvoleiz in Strophe 46 gepriesen wird, weil sich dort die minne huop (46,3) zwischen Sigune und Schionatulander, diese ›Kinderminne‹ also der Grund für den Titel der triuwen houbetstat (44,4) ist86, dann lässt ihre exzeptionelle Qualität (herzenlîche liebe, lûterlîche, 46,2;4) diese gegen al diu werlt (46,4) abgegrenzte Minne zwischen weltlicher und geistlicher Referenz oszillieren. Für das erste »Titurel«-Stück ist damit festzuhalten, dass die spezifische, auf Prokreation fokussierte Pflanzenmetaphorik, welche nur bezogen auf das Gralsgeschlecht auftritt, eine prinzipielle Übergängigkeit von ›Weltlichem‹ und ›Geistlichem‹ leistet. Im Hintergrund steht das Bild des Aussäens von Gott aus und des Hinwachsens zu Gott. Mit dieser dynamischen Bewegung ist die Transgressivität der minne eingefangen, die im Minneexkurs explizit formuliert ist. Dieser Minneexkurs geht direkt vom Preis der ›Kinderminne‹ zwischen Sigune und Schionatulander auf Kanvoleiz aus: 84 So Heinzle, Stellenkommentar zu Wolframs Titurel, S. 77. 85 Siehe Lc 8,5–15; Mt 13,37 f.; Mc 4,3–20: Gleichnis vom Sämann und Deutung; 4,26–32: Vom Wachsen der Saat und vom Senfkorn (Reich Gottes als gesäter Samen); weiterhin 1 Cor 15,36–3, wo die Auferstehung erklärt wird über die Analogie Pflanze – menschlicher Körper. Hier findet man genau die Vorstellung, Menschen mit Samen und Pflanzen gleichzusetzen. 86 Vom »Parzival« herkommend, denkt man bei den Stichworten Kanvoleiz und triuwe natürlich sofort an die Herrscherin Herzeloyde; dies ist sicherlich auch als zeitlicher Vorverweis auf (und zugleich Reminiszenz an) Herzeloydes Schicksal zu verstehen, deren triuwe im »Parzival« immer wieder als Charakteristikum und Movens ihres Verhaltens herausgestellt wird. Im ersten »Titurel«-Stück ist das Thema jedoch nicht prominent, es gibt nur vereinzelte Andeutungen von Herzeloydes triuwe, und v. a. kommt Herzeloyde an dieser Stelle nicht vor, der Konnex Kanvoleiz – triuwe wird vielmehr konkret über die ›Kinderminne‹ begründet.

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minne hât ûf erde   und ûf himele vür got geleite. minne ist allenthalben wan ze helle. (51,2 f.) (»Die Minne geleitet auf Erden und im Himmel hin vor Gott. Die Minne ist überall, außer in der Hölle.«)

Das agrikulturelle Bild des Gralsgeschlechts lässt also dessen ererbte Disposition zu wârer minne mit triuwen (4,4) als göttliche ›Aussaat‹ deutlich werden.87 Deren Wachsen, Blühen und Fruchttragen ist weniger ein ästhetisches (im Sinne der frühlingshaften Minne-Metaphorik im Gespräch zwischen Schionatulander und Gahmuret), als vielmehr ein ethisches, das über die Kultivierung innerer Werte von unten nach oben (erde – himele – got) führt. Es ist damit über die Metaphorik hier dieselbe Vorstellung von der Dynamik der Werte minne und triuwe eingespielt wie in den Sigune-Szenen des »Parzival«: ein Hinauswachsen ins Transzendente bei gleichzeitigem Wurzeln im Irdischen. Als aktuell jüngste Erbin des Gralsgeschlechts – Parzival ist noch nicht geboren88 –, ist es Sigune, an der sich diese Vorgaben erfüllen. Daran lässt schon die Metaphorik des ersten »Titurel«-Stücks keinen Zweifel: Sigune ist vruht (111,2; H 38,389) aus dem Samen des Gralsgeschlechts (44,3 f.)90, ist Blüte des Stammbaums (103,2 f.). Noch dazu betont die Erzählinstanz, obwohl voll des Lobes für Schionatulander, Sigunes Vorrang vor diesem, und zwar nicht nur durch den performativen Akt der Erstnennung (24,1), sondern zusätzlich da87 Schumacher, Die Auffassung der Ehe, S. 119 f., hat gezeigt, dass die Charakterisierung der wahren Minne als beständige Minne für Wolframs gesamtes Werk gilt, triuwe ein so notwendiges Konstituens der Minne ist, dass die beiden Konzepte »als identisch gelten können« (120): Die Doppelformel ›minne und triuwe‹ begegnet oft, vgl. Pz 532,10: reht minne ist wâriu triuwe; Pz 532,17: sol ich der wâren minne jehn,/diu muoz durch triwe mir geschehn; Wh 15,16. Vgl. auch die agrikulturelle Metaphorik bereits in der Rede Titurels über die Ritterschaft Frimutels, der seinen Pflug festgefahren habe (Tit 8,1–3). 88 Das Geschehen des ersten »Titurel«-Stücks spielt im Wesentlichen rund um den Zeitpunkt von Gahmurets Turnierfahrt in den Orient, also vor dessen Tod und Parzivals Geburt, die Handlung des zweiten Stücks ist schwer chronologisch einzuordnen. Es ergeben sich handlungslogisch zwei Möglichkeiten: Nimmt man an, Schionatulanders Zusammentreffen mit Orilus ereignete sich kurz nach dem Entlaufen des Bracken und Sigunes Auftrag zur Wiederbeschaffung, so muss die Szene wenige Tage vor Parzivals Aufbruch von seiner Mutter aus Soltane spielen; andererseits wäre auch denkbar, dass sich Schionatulanders Suche nach dem Bracken schon über einen längeren Zeitraum erstreckte, bevor er auf Orilus traf. 89 Die Strophe ist in G nicht überliefert. 90 Vgl. auch 108,3 f. die interessante Doppelung: Kîôtes kint […] und Schoisîânen sâmen, die Heinzle, Stellenkommentar zu Wolframs Titurel, S. 162, auf ein Missverständnis des G-Schreibers zurückführt, wobei M möglicherweise den ursprünglichen Wortlaut biete. Vom inhaltlichen und ›stilistischen‹ Aspekt her wäre Schoisîânen sâmen jedoch insofern stimmig, als die Pflanzenmetaphorik, insbesondere die agrikulturelle, ausschließlich für das Gralsgeschlecht benutzt wird.

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durch, dass dieser Akt eigens kommentiert (43) und damit erklärt wird, dass Sigune aus dem sâmen ûz Muntsalvâtsche (44,3 f.) hervorgegangen sei. Diese Beobachtungen zeigen, dass im ersten »Titurel«-Stück die beiden Liebenden Sigune und Schionatulander indirekt als sehr unterschiedlich gezeichnet sind: Zwar werden sie über das Phänomen ›Kinderminne‹ (46) und die Betonung der Gegenseitigkeit ihrer Liebe (52, 53) als paarige Einheit angesprochen, die Metaphorik vermittelt aber eine deutliche Differenz der minne-Konzeptionen, die mit der Zugehörigkeit zum Gralsgeschlecht zu tun zu haben scheint. Schließlich ist der Unterschied anhand der beiden Gespräche Schionatulanders mit Gahmuret und Sigunes mit Herzeloyde gut zu erkennen: Die Minne Schionatulanders ist eine lieplîchiu siecheit (84,1), ihre Ambivalenzen werden letztlich von Gahmuret über die Frühlingsmetaphorik doch ins Positive perspektiviert. Während Gahmuret Freude bekundet angesichts der Nachricht seines verliebten Zöglings (103,1), reagiert Herzeloyde zunächst mit Klagen (122,1; 127,1) und Warnen. Wie bereits zuvor für Sigune bemerkt, ist auch hier die topisch auf das Äußere zielende Blütenmetaphorik nach innen gewendet. Die Metapher der taubenetzten Rose (110,1) lässt gerade nicht Sigunes Schönheit strahlen, sondern mischt über die Assoziation der rotgeweinten Augen und des tränennassen Mundes (al naz von roete / sus wurden ir diu ougen. ir munt, al ir antlütze enphant wol der noete; 110,1 f.) auf höchst ambivalente Weise Erotik und Zerstörung.91 Entscheidend ist dabei, dass diese Zeichen auf Sigunes antlütze Ausdruck der inneren noete (110,2), der lieplîchen liebe (110,4) im Herzen sind. Dementsprechend findet das Bild der Rose seine negative Fortsetzung, wenn in Strophe 111 Herzeloyde angesichts dieser Erscheinung Sigunes sagt: nu wahset in mîne swaere ein niwer dorn, sît ich kiuse sus an dir pîne (111,4). Herzeloydes Warnung vor der Zerstörung des Äußeren durch das Minneleid lässt sich nicht nur auf die aktuelle Situation bezogen, sondern geradezu als Resümee für Sigunes gesamte Geschichte verstehen: du hâst in die kurzlîchen fröude vil sorge alze sêre gemischet (125,4). Genau hier scheinen jene in Bezug auf das Gralsgeschlecht bereits bekannten Aspekte der Minne als Erbe, das zur Last werden kann, wieder auf. Herzeloyde warnt, Sigune könnte den kumber erben, den Schionatulanders Mutter Mahaute wegen ihres Mannes Gurzgri erfahren habe (127,2). Von diesem wissen wir, er sei wegen Schoydelakurt, der Schlussaventiure aus Hartmanns »Erec«, ums Leben gekommen.92

91 Siehe zu diesem höchst komplexen Bild Fuchs-Jolie, ›al naz von roete‹. 92 Vgl. Heinzle, Stellenkommentar zu Wolframs Titurel, S. 72. Während das Schicksal von Schionatulanders Eltern im »Titurel« nur an drei Stellen kurz angedeutet wird (127,2; 41,4; 84,4), erzählt Gurnemanz im »Parzival« deren Geschichte: mîn dritter sun hiez Gurzgrî. / dem reit Mahaute bî / mit ir schœnem lîbe: / wan si gap im ze wîbe / ir stolzer bruoder Ehkunat. / gein Brandigân der houbetstat / kom er nâch Schoydelakurt geritn. / dâ

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Vor diesem Hintergrund lässt sich die grundlegende Annahme von Kiening und Köbele bestätigen, der »Parzival« und »Titurel« stünden aus hermeneutischer Perspektive in einer Relation der »ungleichzeitigen Gleichzeitigkeit«, im Verhältnis einer »sowohl sukzessiven wie simultanen Logik«.93 Gerade die Metaphorik setzt die beiden Texte über begriffliche und bildliche Responsionen auf vielschichtige Weise miteinander in Beziehung und simultaneisiert Zeitstufen, indem erzählte Handlung in eindrücklichen Bildern verdichtet wird. Das im »Parzival« spezifisch der Figur Sigune zugeordnete und von ihr verwendete Metaphernfeld der wachsenden triuwe lässt sich nach der Analyse der Pflanzenmetaphorik im »Titurel« der dort begegnenden speziell für das Gralsgeschlecht eingesetzten pflanzlichen Metaphorik mit agrikulturellem Aspekt zuordnen, die auf die Kultivierung der Werte minne und triuwe zielt. Es ist insofern eine semantische Konstanz der eingesetzten Metaphorik zu verzeichnen, mit der Pointe, dass Sigunes Geschichte im »Parzival« konsequent die im ersten »Titurel«-Stück auf diese Figur zugespitzten Dispositionen (Jüngste des Gralsgeschlechts, Erbin der wâren minne mit triuwen, deren transgressives Potential zu Gott führt)94 umsetzt: Sigunes Liebesgeschichte ist ihre Lebensgeschichte, und umgekehrt, vom ersten Stück des »Titurel« her wird klar, dass das ›Erzählprogramm‹ für diese Figur, ihr Weg, gar nicht anders verlaufen kann, als er im »Parzival« realisiert ist. Bezieht man die metaphorische Ebene mit ein, lässt sich also vor allem das erste »Titurel«-Stück in Vielem als (nachträgliche) Erklärung der Sigune-Geschichte aus dem »Parzival« verstehen. Dies bestätigen zusätzlich die dortigen Referenzen auf eine abgeschlossene Zukunft, welche nicht nur das im »Parzival« Erzählte als allgemein bekannt voraussetzen, sondern dezidierte Hinweise auf dessen Bedeutung geben. Beim Abschied zwischen Sigune und Schionatulander, als dieser mit Gahmuret in den Orient fährt, kommentiert der Erzähler: wart sîn sterben niht vermitn: / dâ sluog in Mâbonagrîn. / des verlôs Mahaute ir liehten schîn. (178,15–24). Die Paradigmatik der Verknüpfung von Minne und Tod, die den »Parzival« maßgeblich bestimmt (vgl. Richter, Spiegelungen), erscheint hier doppelt syntagmatisch eingebunden, in ein Syntagma der ›Minnegenealogie‹ und ein spezifischeres des Grals­geschlechts, das am ersteren teilhat. 93 Kiening und Köbele, Wilde Minne, S. 237. Daran anschließend ist die Frage nach der Metaphorik eine Möglichkeit, methodisch kontrolliert die Texte zu vergleichen und ›textuelle Verknüpfungen‹ (vgl. S. 240) zu erkennen. 94 Was im »Titurel« über die Metaphorik verbildlicht ausgedrückt wird, bestätigt sich in dem, was Trevrizent Parzival lehrt: Die triuwe ist das Wesensmerkmal des Gralsgeschlechts, weil got selbe ein triuwe ist (462,19). Hier schließt sich der Kreis, indem Trevrizent Parzival mit dieser Begründung auffordert: sît getriwe ân allez wenken (462,18). Trevrizent liefert gewissermaßen die Auslegung zum Sprechen Sigunes von der wachsenden und zu kultivierenden triuwe sowie zu der Vorstellung vom Gralsgeschlecht als Samen, der, in die Welt gesät, bei den Begnadeten wächst und Frucht bringt.

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ir gehôrtet nie gesprechen   von mageden, von wîben, von manlîchen mannen, die sich herzenlîcher kunden minnen. des wart sît Parzivâl   an Sigûnen zer linden wol innen. (78,2–4) (»Ihr habt noch nie von Jungfrauen, von Frauen, von männlichen Männern erzählt bekommen, die sich aus vollerem Herzen geliebt hätten. Das erkannte später Parzival an Sigune auf der Linde ganz genau.«)

Das Bild Sigunes mit dem toten Schionatulander auf der Linde aus der zweiten Sigune-Szene des »Parzival« wird hier ganz klar zum Signum der exzeptionellen minnetriuwe gemacht.95 Es passt in das Metaphernfeld des pflanzlichen Wachstums der Minne des Gralsgeschlechts.96 Insofern wirkt es wie die Verdichtung, der nucleus dessen, was im »Parzival« als sukzessiver Weg in vier Szenen ›auserzählt‹ ist. Bezieht sich dieses Bild auf die zweite Sigune-Szene, so gibt es gerade in den Strophen des Minne-Exkurses, welche die Transgressivität der Minne herausstellen, weitere bildliche und begriffliche Responsionen, die nun die dritte Sigune-Szene aufrufen: Sît daz man den rehten   münch in der minne und ouch den wâren klôsenaere   wol beswert, sint gehôrsam ir sinne, daz si leistent mangiu dinc, doch kûme – (50,1–3) minne hât ûf erde   und ûf himele vür got geleite. H: minne hât hie ûf erde hûs   und ze himel ist reine vür got ir geleite. minne ist allenthalben wan ze helle. (51,2 f.) (»Wenn man den ehrlichen Mönch und auch den wahrhaften Klausner verbindlich auf die Minne einschwört, erfüllen sie, wenn ihnen ihre Sinne gehorchen, so manche ihrer Forderungen doch nur unzureichend. H: Die Minne hat ihre Wohnung hier auf Erden und im Himmel führt sie ohne Umwege vor Gott hin.«) 95 Vgl. auch die Referenzen 19,4 und 32,4 auf Sigunes berühmte triuwe und den Vorzug ihres inneren ›Blühens‹ vor dem ihres lîbes. 96 Zur Linde als topischem Liebesort (Walthers Lindenlied) vgl. Wenzel, Herzeloyde und Sigune, S. 229. Bei der Engführung von Stammbaum des Gralsgeschlechts und Linde ist interessant, dass die Linde gerade kein Nutzbaum ist, und im geistlichen Kontext diese ›Fruchtlosigkeit‹ explizit auf die trügerischen weltlichen Freuden ausgelegt wird, vgl. Brinkmann, Mittelalterliche Hermeneutik, S. 151: »Weil die Fruchtbarkeit ein Zeichen der Gnade ist, kann die Linde (tilia), die zwar schöne Blätter, aber keine Frucht bringt, zum Zeichen für die Welt mit ihren trügerischen Freuden werden.« Durchkreuzt wird diese Konnotation aber wiederum durch die Bildneuschöpfung des Sitzens Sigunes in / auf der Linde und ihr Klagen über den Tod des Geliebten, was die im Fall Belakanes bereits mittels Vergleich ins Spiel gebrachte Assoziation der Turteltaube aufruft, nun durch Konkretisierung auf der Handlungsebene. Das Verfahren lässt sich beschreiben als gezielter Einsatz und Neukombination von Zeichenträgern, wodurch diese situativ auch neu konnotiert werden. Es lässt sich gerade keine Priorisierung geistlicher oder weltlicher Referenzierungen feststellen.

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Die Anspielungen auf den wâren klôsenaere, der, obwohl auf die minne eingeschworen, deren Forderungen doch nur unzureichend gerecht werden könne, sowie die (nur in Lectio H, der jedoch aus mehreren Gründen der Vorzug zu geben ist, überlieferte)97 Metapher vom hûs der minne auf Erden sind sicherlich nicht zufällig, sondern lassen sich als begriffliche und bildliche Verdichtung der Geschichte Sigunes in der Klause verstehen. Eine deutliche Responsion ist schließlich die (sowohl in G wie in H vertretene) Wendung von der minne als geleite zu Gott (51,2): Parzival gegenüber sagt Sigune bei ihrer dritten Begegnung über den Ring, den sie am Finger trägt und den sie als Zeichen ihrer Ehe mit dem toten Schionatulander betrachtet: der rehten ê diz vingerlîn / für got sol mîn geleite sîn – dieser Ring der wahren Ehe soll mein Begleiter hin vor Gott sein (440,13 f.). Ich komme darauf zurück. Den differenzierten Ergebnissen von Kiening und Köbele in Bezug auf die wilde minne sind die hier gemachten Beobachtungen zur pflanzlichen Metaphorik insofern an die Seite zu stellen, wobei Folgendes bemerkenswert ist: Während die Geschichte der wilden, der ›jagenden‹, höfischen Minnebeziehung von Sigune und Schionatulander als metaphorischer nucleus im »Parzival« angelegt ist (Figurenrede Sigunes), der im »Titurel« weitergeführt sowie im zweiten Stück als Handlung konkretisiert wird98, ist es im Falle der pflanzlichen Minne-Metaphorik, welche die Transgressivität der wâren minne mit triuwen codiert, nämlich vom Haus auf Erden zu Gott, geradezu umgekehrt: Deren Einsatz verbindet den »Parzival« speziell mit dem ersten Stück des »Titurel«, wobei sich hier metaphorische Kernelemente finden (v. a. in der Rede des Ich-Erzählers), deren Realisierung die Sigune-Handlung und ihre Kommentierung durch den Erzähler im »Parzival« zu sein scheint. Metaphorische Responsionen, die sowohl im übertragenen Sinne in Erzähler- oder Figurenrede gesetzt als auch im eigentlichen Sinne auf der Handlungsebene realisiert sein können, verschränken die beiden Texte also aufs Engste und funktionieren in jede Richtung, ohne dass daraus verlässliche Rückschlüsse auf eine produktionsästhetische Vor- oder Nachzeitigkeit des jeweiligen Textes gezogen werden könnten.99 Die vorliegenden Beobachtungen zur Differenzierung und Funktion der pflanzlichen Metaphorik im ersten »Titurel«-Stück lassen sich nun auf deren Vorkommen im »Parzival« beziehen. Dabei ist neben dem oben bereits behandelten 97 Vgl. überzeugend Heinzle, Stellenkommentar zu Wolframs Titurel, S. 87 f. 98 Kiening und Köbele, Wilde Minne. 99 Im Gegenteil, über die Analyse der Metaphorik (und ihres spezifischen, zwischen dem Modus der Übertragung und der Eigentlichkeit wechselnden Einsatzes) wird die Relation der Texte gerade als eine intendiert simultan gesetzte kenntlich, in der auch die handlungslogischen Zeitstufen des Vorher und Nachher verschwimmen. M. E. geht es um die Vergegenwärtigung der ›Erzählwelt‹ über Text- oder Formgrenzen hinweg; die metaphorischen Responsionen verwischen Textgrenzen.

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Phänomen der semantischen Konstanz das einer semantischen Verschiebung zu beobachten, die abschließend vorgestellt werden soll, da sie ein bemerkenswertes Aussagepotential hat. Diese Verschiebung betrifft das Verhältnis von Außen und Innen. Während nämlich im »Titurel« für die Figur Sigune eine über die Variation der laudativen Blütenmetaphorik erreichte Blicklenkung auf die innere Schönheit zu beobachten war (das Blühen von saelde und êre aus dem Herzen übertrifft die Frühlingspracht), wird doch die Kongruenz von innerer und äußerer Schönheit nicht in Frage gestellt. Die beiden oben differenzierten Konzepte von pflanzlicher Minnemetaphorik, die jeweils mehr ein Äußeres oder ein Inneres betonen, die gegensätzlichen Konnotationen von Leichtigkeit und Schwere, Jugendfrische und Alter, Flüchtigkeit und Dauer, Kontingenz und Determination / Erbe, auch von Minne als Naturgeschehen und göttlichem Schöpfungswillen transportieren, werden doch immer wieder verschränkt (vgl. 32,3 f., 104, 106,4). Anders im »Parzival«: Die Blicklenkung vom Außen auf das Innen ist hier radikalisiert, indem ein Gegensatz konturiert wird. Denn während ihre äußere Minneschönheit verfällt, bleibt das Blühen für Sigune konsequent auf ihr Inneres, auf das Hinauswachsen ihrer minnetriuwe über irdisches Maß bezogen. In diesen Bedeutungshorizont gehört das Blühen des sorgen urhap aus Sigunes Herz durch alte triuwe (435,18.), eine deutliche Responsion zum Blühen von saelde und ere aus Sigunes Herz im »Titurel«, mit der entscheidenden Verschiebung, dass hier etwas an sich Negatives über die durchweg positiv konnotierte Blütenmetaphorik ins Bild gesetzt wird.100 Der Effekt ist eine Ästhetisierung des Minneleids wie sie oben bereits für Sigunes der taubenetzten Rose gleichenden verweinten Anblick im »Titurel« zu konstatieren war. Mit dieser Ästhetisierung einher geht die Positivierung des Minneleids, da es Ausdruck der triuwe ist: ûf mîner triwe jâmer blüet sagt Belakane angesichts von Isenharts Tod (28,8). Aber nur für Sigune im »Parzival« und speziell für die dritte Sigune-Szene ist mit der Einbindung in ein semantisches Feld das transgressive Potential der pflanz100 Heinzle, Stellenkommentar zu Wolframs Titurel, S. 57, verweist auf analoge Wendungen aus dem »Parzival« und »Willehalm«. Sieht man sich diese genau an, handelt es sich immer um den variierten Topos des Personenlobs, meist von Verstorbenen: Pz 92,20 f.: Gahmuret über seinen toten Bruder Galoes, außerdem Pz 429,24f: Beschreibung von Gandiluz, Sohn Gurzgris und damit Schionatulanders Bruder: sîn munt, sîn ougen und sîn nase / was rehte der minne kerne; hinzuzufügen ist noch Orgeluses Lob ihres getöteten Ehemannes Cidegast (Pz 613,17–19): sîn prîs hôch wahsen kunde,/daz die andern wâren drunde, / ûz sînes herzen kernen, sowie Wh 463,9: der Heide Matribleiz lobt Willehalm. Diese Belege für die Verwendung von Pflanzenmetaphorik für innere Vorgänge bzw. Charaktereigenschaften sind nicht in einen metaphorischen Kontext, also ein Netz von Responsionen von Metaphern aus demselben semantischen Feld eingebunden wie das in Bezug auf Sigune und ihre Geschichte im »Titurel« und »Parzival« der Fall ist, was die Verdichtung und Semantisierung der pflanzlichen Wachstums- und Blütenmetaphorik in Bezug auf die Figur Sigune bestätigt.

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lichen Wachstumsmetaphorik als Bedeutungsträger fruchtbar gemacht101: Sigunes minne ist irdisch und gotes minne (435,14) zugleich, das alniuwe blüejen (435,17) des Minneleids auf dem ›Boden‹ der alten triuwe beschreibt genau jene Bewegung des Hinwachsens zu Gott, die auch für die pflanzliche, auf die Kultivierung von minnetriuwe zielende Metaphorik des Gralsgeschlechts im »Titurel« maßgeblich ist. Somit werden die minne und triuwe Sigunes nicht einfach nur durchsichtig auf die christlichen Tugenden caritas, agape und fides hin, es ist die Metaphorik, über die eine Rechtfertigung des augenscheinlich Hässlichen im Sinne einer spezifisch christlichen Ästhetik vorgenommen wird: Die verfallende, in der Perspektive höfischen Minnedienstes äußerlich hässliche Sigune wird mit positivierenden Bildern der Fruchtbarkeit, des Wachsens und Blühens ›geschmückt‹. Das ist keine bloß rhetorische Operation auf Wortebene, sondern Ausweis eines Erzählprogramms, das Sigune zur Vertreterin einer christlichen Minne-Ethik macht, zum Exempel für das transgressive, zu Gott führende Potential der waren minne mit triuwen. Die Deformation von Sigunes höfischem Körper schärft den Blick für das schöne Innenleben. Zum Schluss ist sie rehter güete ein arke (804,16)102 – die Arche als Sinnbild des Lebens reimt auf Sigunes beständigen Aufenthaltsort al klagende ûf friundes sarke (804,15), das Totengrab Schionatulanders. Der über Metaphorik gesteuerte dialektische Prozess äußeren Verfalls und innerer Erbauung ist hier nochmals abschließend verdichtet. Die Frage nach Sigune und der ars humilis kann auf einer methodisch kontrollierten Basis der Metaphernanalyse im »Parzival« und »Titurel« nun folgendermaßen beantwortet werden: Über den gezielten Einsatz aufmerksamkeitslenkender Metaphorik wird dem Rezipienten angesichts der Figur Sigune im »Parzival« immer wieder jene spezielle Logik einer ars humilis vermittelt, welche die wahre Schönheit im hier und jetzt Unsichtbaren, im Inneren lokalisiert.103 Dass dieser Punkt zentral ist, zeigt die Verwendungsweise der frühlingshaften Blüte als stehende Metapher für die minneclîche Männerschönheit, die inflationär zur Beschreibung und Kennzeichnung Parzivals eingesetzt wird – eine 101 Dies ist die einzige semantisch tatsächlich ähnliche Stelle. Dass im Falle Belakanes, der ›Vorgängerin‹ Sigunes, deren Geliebter Isenhart in ihrem Minnedienst getötet worden war, bevor sie ihm Lohn gewähren konnte, diese Aufmerksamkeit erregende metaphorische Schöpfung isoliert stehen bleibt ist m. E. ein weiterer Hinweis darauf, dass Sigune das Paradigma von Minne und Tod (Richter, Spiegelungen) überschreitet. 102 So wie es von ihrer Mutter Schoysiane heißt, ihr Herz sei ein arke vür unkiusche vluot (477,12) gewesen. Die beiden Stellen, zuerst bezogen auf Schoysiane, dann auf Sigune, sind die einzigen Belege für das Bild der Arche im »Parzival«. Die enge, über Metaphorik verstärkte Bindung Sigunes an das ›Erbe‹ ihrer Mutter, vor allem die ererbten Tugenden betreffend, ist eine weitere Konstante der Figurenzeichnung im »Parzival« und »Titurel«. 103 Vgl. Schnell, Ekel und Emotionsforschung, S. 381: »Unter dem äußerlich Häßlichen, ja ekligen Aussehen eines Heiligen oder einer Asketin und Büßerin verbirgt sich eine innere, moralisch-religiöse Reinheit und Schönheit.«

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weitere Konstante im Hinblick auf die Verwendungsweise von Metaphorik im »Parzival« und »Titurel«.104 Anders als im »Titurel«, wird jedoch im »Parzival« dieses Blühen problematisch, weil es genau jenen Kontrast äußerer Schönheit und innerer Hässlichkeit akzentuiert, den, als Gegenkonzept einer christlichen Ästhetik des Hässlichen, Sigune und Cundrie in Parzival sehen.105 Wenn speziell für Sigune die Ästhetik der Metaphern das Äußere ausspart und auf die Werte triuwe und minne zielt, dann wird man das zurecht mit dem Konzept einer ars humilis in Verbindung bringen. Allerdings gilt es zu bedenken, dass wiederum die Metaphorik – und dies scheint besonders interessant im Rahmen der Frage nach den Spannungen in mittelalterlichen Konzepten des Erbaulichen  – die Referenzpunkte Gott und Welt auf subtile Art zu jeder Zeit verschmilzt, der Gottesbezug also immer gesetzt, aber nie in eindeutiger, reiner Form da ist: Die Übergängigkeit der eingesetzten Bilder und die komplexen Innen-Außenund Unten-Oben-Relationen, die sie vermitteln (das pflanzliche Wachstum der triuwe und minne aus dem Herzen, die erbaute Klause in der wilde mit dem lebendig-toten Liebespaar darin) halten die Referenzierung von hier und dort, weltlich und geistlich in der Schwebe. Sie machen eine Hierarchisierung unmöglich. Besonders deutlich wird dies in der dritten Szene, in der Sigune in der Klause als Ehefrau Schionatulanders und sponsa Dei auftritt.

4. Die »religiös verdienstliche Ehe mit dem Toten« zwischen Allegorese und poetischer delectatio »Diese eigentümliche Idee einer religiös verdienstlichen Ehe mit dem Toten und das Ineinanderfließen von Trauer um den Geliebten und gottgefälliger Frömmigkeit zeigt einen Heilsweg auf, der offenbar kontrapunktisch zu Parzivals Weg zum Gral konzipiert ist.«106

Das Diktum Joachim Bumkes kann stellvertretend stehen für die vielfach in der Forschung ausgedrückte Irritation über Sigunes Ehekonzept, das diese in der dritten Begegnung mit Parzival erläutert: Während in Sigune I und II der 104 Hier nur einige ausgewählte Belege: 195,4 (Schenteflûrs); 39,22 (Kaylet mit Verweis auf Parzival); bezogen auf Parzival: 109,11; 122,13; 306,27. 105 Sigune und Cundrie, beides Gegenbilder höfischer Schönheit, rücken in dieser Perspektive eng zusammen; beider Vorwurf an Parzival ist die versäumte Kultivierung seines ›Inneren‹, seiner ererbten Tugenden (vgl. Cundrie 317,11–19 mit dem Bild des ›ausge­ jäteten‹ valsch aus dem Herzen). Kurz vor Cundries Auftritt am Artushof war Parzivals Schönheit fast in einer Apotheose erblüht: dô truoc der junge Parzivâl / âne vlügel engels mâl, / sus geblüet ûf der erden (308,1–3). 106 Bumke, Wolfram von Eschenbach, S. 88.

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jâmer Sigunes über Schionatulanders Tod (141,18; 250,1) und ihr Festhalten an der Minnedienstbeziehung zu ihrem friwent (252,19) zentral ist, bringt Sigune III nicht nur die Neuerung eines Auftritts Sigunes als Inkluse, sondern, diesen Status gleichsam konterkarierend, auch Sigunes Auffassung, Schionatulander sei ihr Ehemann: magetuom ich ledeclîche hân: er ist iedoch vor gote mîn man. ob gedanke wurken sulen diu werc, sô trag ich niender den geberc der underswinge mir mîn ê. mîme leben tet sîn sterben wê. der rehten ê diz vingerlîn für got sol mîn geleite sîn. daz ist ob mîner triwe ein slôz, vonme herzen mîner ougen vlôz. ich pin hinne selbe ander: Schîânatulander ist daz eine, dez ander ich. (440,7–19) (»Die Jungfräulichkeit habe ich ohne Einschränkung behalten: Er ist trotzdem vor Gott mein Mann. Wenn die Gedanken Werke wirken dürfen, dann trage ich nirgends in mir den Vorbehalt, der mir meine Ehe vereiteln könnte. Sein Sterben hat mein Leben verwundet. Dieser Ring der wahren Ehe soll mein Führer sein vor Gott hin. Er ist ein Schloss für meine Treue, der aus dem Herzen fließende Tränenstrom meiner Augen. Ich bin hier drinnen zu zweit: Schionatulander ist das eine, das andere bin ich.«)

Wie die plötzlich in der Wildnis erschienene Klause Sigunes Dasein zur Lebensform verfestigt, so verleiht die Ehe der Minnebeziehung eine ideelle Festigkeit.107 Die Vorstellung Sigunes, gerade die Ehe mit Schionatulander führe zu Gott (geleite), transportiert wieder jenes transgressive Potential von minne und triuwe: Dieses wird jetzt nur in anderer Form ausgedrückt. Christian Kiening spricht von Sigunes »Eigenreligiosität, die von einem Sonderverständnis der Ehe kaum zu trennen ist«.108 Die Einführung des Themas Ehe an dieser Stelle, ja, Sigunes 107 Sehr interessant sind in diesem Zusammenhang die Beobachtungen von Stock, Das Zelt als Zeichen und Handlungsraum: Das Gotteshaus der Klause scheint die Ehe als schützenden Raum zu verbildlichen, womit es die situative Verortung des jungen Minnepaars Sigune und Schionatulander im »Titurel« vor dem bzw. im Minnezelt kontrastiert, dessen Konnotationen von Flüchtigkeit und zivilisationsgefährdender wilde der minne (Gefahr des Einsturzes des Zeltes) Stock herausarbeitet. Weiterhin ist zu bemerken, dass der Dynamisierung auf der Handlungsebene im »Titurel« eine äußere Statik im »Parzival« entgegensteht, die jedoch von einer über Metaphorik veranschaulichten Dynamisierung des Inneren erfüllt ist. 108 Kiening, Unheilige Familien, S. 171.

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Ehekonzept selbst ist jedoch weniger irritierend, wenn man den Kontext mittelalterlicher Ehe-Allegorese heranzieht. Die Konstellation der Ehe sowie die zugehörige Thematik von Bräutlichkeit und Hochzeit stellen Bilder bereit, deren semantische Potentiale im christlichen Kontext allegorisch für die Auslegung der Beziehung des Gläubigen, der liebenden Seele zu Gott genutzt werden.109 Schon in frühmittelalterlichen Texten zeigt sich dabei, dass die Doppelkonnotation der Thematik eine spannungsreiche und spannende Verquickung von Allegorese und poetischer delectatio begünstigt: So etwa, wenn in der »Hochzeit« Allegorie und Brautwerbungserzählung so vielfältig verschränkt werden, dass die narrativen Partien einen Überschuss produzieren, der von der Auslegung nicht eingeholt wird.110 Zeitlich näher am »Parzival« ist des Strickers Märe von der »Eingemauerten Frau«111, das die Überblendung von weltlicher Ehe zwischen Mann und Frau und transzendenter Vereinigung der Seele mit Gott für eine doppelbödige schwankhafte Pointe nutzt: Weil die Zwangseinmauerung der widerspenstigen Ehefrau nicht nur deren Zähmung, sondern zugleich ihre Heiligung bewirkt, wird ihre Überlegenheit dem Mann gegenüber gewissermaßen transzendiert. Dies sind nur wenige, aber repräsentative Beispiele, die veranschaulichen, dass das Potential des Bildfeldes Hochzeit / Braut / Ehe für die Amalgamierung immanenter und transzendenter Sinngehalte reflektiert wurde. Das komplexe Wechselverhältnis von delectatio und aedificatio, ob die ›Lust des Erzählens‹ im Dienste einer Anschaulichkeit des auszulegenden Bildes (deren funktionale Bandbreite von intellektueller, paränetischer bis emotionaler Affizierung erst zu differenzieren wären) aufgeht oder umgekehrt, ist dabei noch zu klären. Selbst für den Stricker, dem man bekanntlich viel zutrauen kann, lässt sich nicht wegdiskutieren, dass das Märe von der »Eingemauerten Frau« eine ›erbauliche‹ Sinnebene transportiert – die Forschung überlegt denn auch, wie schwer die Brüche darin zu gewichten seien.112 Für den Fall Sigunes im »Parzival« nun spitzen sich solche Fragen zu, wenn man die dritte Begegnung als wiedererzählende Arbeit am Erzählstoff der weit verbreiteten »Matrone von Ephesus« und seiner sozialhistorischen Implikationen wie dem Rollenbild der hinterbliebenen Ehefrau und christlichen Witwe begreift. Bernhard Jussen hat die Verbindung von Text und Kontext für diese bekannte, reich überlieferte und bearbeitete Erzählung aus mediävistischer Perspektive umfassend aufgearbeitet.113 Besonders interessant für die dritte Sigune­109 Die Bräutlichkeitsthematik geht auf das Hohe Lied zurück; für den Erbauungsgedanken ist gerade die Ehe das einschlägige Bild für das Geheimnis Christus – Kirche (Eph 5,32), vgl. auch Haas, Laienfrömmigkeit, S. 134. 110 Haug, Frühe deutsche Literatur und lateinische Literatur. 111 Grubmüller, Novellistik des Mittelalters. 112 Vgl. Müller, Böses Blut. 113 Jussen, Der Name der Witwe.

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Szene sind die lateinischen und deutschen Fassungen der »Matrone von Ephesus« in der Sammlung der »Sieben weisen Meister«.114 Man hat bisher nicht gesehen, dass Sigunes vordergründig paradoxer Auftritt als Inkluse und zugleich Ehefrau eben jene zentrale Konstellation zitiert, die in der »Matrone von Ephesus« die hinterbliebene Ehefrau in das ständische Bild der christlichen Witwe einpasst, wenn sie Gott schwört, fortan als Rekluse, und damit als sponsa Dei, am Grab ihres Mannes zu leben.115 Dass Sigune erst mit dem Erscheinen der Klause den Status der Ehefrau für sich behauptet, bestätigt die Referenz auf diese Konstellation, welche durch den Typus ›jungfräuliche Witwe‹ noch zugespitzt wird. Im »Parzival« erscheint damit, in einer nicht nur raumzeitlich verdichteten Form, sondern geradezu der Form einer metaphorischen Konkretisation auf der Handlungsebene (Klause, Turteltaube), die Vorstellung mittelalterlicher christlicher Autoren von der Trauer und Totenmemoria als »Lebensentwurf« der Witwe.116 114 Der Nachvollziehbarkeit halber zitiere ich die kurze Inhaltsangabe aus Kiening, Verletzende Worte, S. 327 f., zur frühneuhochdeutschen Reimfassung des Hans von Bühel (frühes 15. Jh.), die zunächst stellvertretend für die lateinischen und deutschen Fassungen stehen kann (zu den Differenzierungen im Einzelnen Jussen, Zwischen »lignage« und Stand): »Ein Paar ist glücklich verheiratet. Als bei einem Brettspiel die Frau sich an einem Messer verletzt, bricht der Mann zusammen und stirbt, noch bevor ein Priester eintrifft. Gegen den Rat der Freunde, die zu einem frommen, aber weltlichen Leben raten, entschließt sich die Frau zu einem immerwährenden Totendienst: als inclusa lebt sie in einer Hütte neben dem Grab. Doch die semi-religiöse Existenzform wird dadurch gestört, dass ein Hauptmann, der auf dem gleichen Friedhof einen gehängten Dieb zu bewachen hat, bei der Dame Schutz vor der Kälte sucht. Zum Galgen zurückgekehrt, findet er den Gehängten nicht mehr vor und muss sich ein zweites Mal an die Dame wenden – nun mit der Bitte um Rat. Gegen ein Eheversprechen ist sie bereit, ihren toten Mann an die Stelle des Mörders zu hängen. Sie geht sogar so weit, die Verstümmelungen an dem Toten vorzunehmen, die notwendig sind, um ihn dem gehängten Dieb anzugleichen. Doch als der eigene Mann den Platz am Galgen eingenommen hat und sie daraufhin das Eheversprechen zu realisieren versucht, stößt der Hauptmann die Wankelmütige von sich. Er behauptet, sich selbst der Ehelosigkeit verschrieben zu haben, hält ihr ihr schändliches Verhalten vor und schlägt ihr schließlich den Kopf ab.« Vgl. Hans von Bühel: Diocletianus Leben. 115 Vgl. Jussen, Zwischen »lignage« und Stand, S. 33. 116 Ebd. Die Sigune-Geschichte des »Parzival« zitiert mit der Klause und Sigunes Leben und Beten darin über Schionatulanders Sarg nicht nur das Motiv der Inkluse, es finden sich noch weitere Parallelen: So sagt die hinterbliebene Ehefrau in den lateinischen und deutschen Fassungen, sie wolle fortan wie eine Turteltaube leben, womit ein »allgegenwärtiges Symbol des Witwenstandes […] als Lebensentwurf angeeignet« werde: »Die Turteltaube war als Zeichen unmißverständlich. Sie kann nicht singen, nur klagen, sie lebt nicht wie die columba in Städten, sondern einsam in Feldern, nur auf kahlen Ästen, außerdem nimmt sie (dem »Physiologus« zufolge) keinen neuen Mann nach dem Tod des ersten.« (Jussen, Zwischen »lignage« und Stand, S. 34). Dies ist im »Parzival« direkt übertragen, wenn schon für die von Gahmuret verlassene Belakane das Bild der Turteltaube zum Einsatz kommt: ir freude vant den dürren zwîc, /als noch diu turteltûbe tuot. / diu het ie den selben muot: / swenne ir an trûtscheft gebrast, / ir triwe kôs den dürren ast (57,10–14). Was hier im Modus des Vergleichs als Veranschaulichung eines abstrakten

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Während jedoch in der »Matrone von Ephesus« dieser Entwurf von Trauer als Lebensform an den weltlichen Versuchungen scheitert, womit, wie Jussen überzeugend herausarbeitet, die Interferenzen ›geistlicher‹ und ›weltlicher‹ Axiologien, ideeller und pragmatischer Ansprüche von Totenmemoria und Sicherung des genealogischen Fortbestands durch Wiederverheiratung sichtbar werden, ist im »Parzival« konsequent das Gelingen, die Durchsetzung eines solchen Lebensentwurfs der christlichen Witwe gegen jegliche Anfechtung auserzählt. Vor der Folie des Erzählschemas von der untreuen Witwe erscheint Sigune geradezu als Exempel idealer minnetriuwe, die sie durch die ›Prüfung‹ des toten Geliebten beweist.117 Die exemplarische Idealisierung Sigunes geht einher mit einer verstärkten Einschaltung des Erzählers, der kommentierend die Handlung unterbricht. So lassen sich einige Bemerkungen Parzivals vor diesem Hintergrund mit seiner Funktionalisierung in der Rolle des Versuchers erklären und in direkte Verbindung mit der zweimaligen Einlassung des Erzählers zum Rat Lunetes bringen: Mit Parzivals Bemerkung in Sigune II, der Tote solle begraben werden (253,6–8), ist die in der »Matrone von Ephesus« von der Verwandtschaft der Frau vorgebrachte und vom Fremden wiederholte Kritik an der exzessiven Art der Trauernden und die Wendung der Perspektive auf die Lebenden118 aufgenommen.119 An diese Bemerkung ist angesichts von Sigunes Reaktion heftigen Weinens (253,9)120 die Polemik des Erzählers gegen Lunetes Ratschlag

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Vorgangs angedeutet wird (Subjekt ist Belakanes vreude), findet sich für die in der Linde sitzend klagende Sigune auf der Handlungsebene konkretisiert, vgl. Groos, »Sigune auf der Linde«, S. 633: »Whereas Wolfram explicitly articulates a relation between Belakane and the turtledove with a simile, he later employs an oblique metaphorical identification between Sigune and the turtledove: Belakane is like the bird on the dry branch; Sigune is quite literally placed ›ûf einer linde‹.« Vgl. Sigune II, wo sie zu Parzival sagt (252,20–22): nu prüeve nôt / die mir got hât an im gegebn, / daz er niht langer solde lebn. Jussen, Zwischen »lignage« und Stand, S. 35. Ein weiteres Beispiel ist der Verdacht Parzivals, Sigunes Ring sei Zeichen einer Liebschaft (439,9–21: Bruch des Bildes von der heiligen Inkluse), der die in der misogynen Erzählung der ›Witwe von Ephesus‹ zentrale Wandlung der Frau von der Heiligen zur ›Hure‹ reflektiert. Es ist sicherlich kein Zufall, dass zu Beginn der Szene Sigune II betont wird, ez was dennoch von touwe naz (249,13). Wie die triuwe im »Parzival« durch das semantische Feld des pflanzlichen Wachsens, Kernens und Blühens verbildlicht ist, so ist es die mit ihr verwandte kiusche durch das Bildfeld des Wassers: Tau, der aus dem Herzen durch die Augen dringt, ist die topische Metapher für Tränen, vgl. Fuchs-Jolie, ›al naz von roete‹, S. 244. Tau und Tränen bezeichnen gleichermaßen die kiusche: Herzeloyde ist wîplîcher kiusche ein bluome / […] geliutert âne tou. Das tertium von Tränen, Tau und kiusche ist die lûterkeit. Schoysiane, Sigunes Mutter, ist eine arke vür unkiusche fluot; es gibt die Flut der Unkeuschheit und die Tränen der Keuschheit (z. B.  Belakanes Tränentaufe), die »als Ersatz gelten für das Sakrament der Taufe, ohne daß sie deshalb sakramentalen Charakter« tragen (Schumacher, Die Auffassung der Ehe, S. 227, Anm. 173). Im Bild und dessen Narrativierung, das wird bei der Analyse der Metaphorik besonders deutlich,

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angeschlossen (253,10–14): Hier wird die exemplarische Vorbildlichkeit Sigunes bestätigt durch die Referenz auf ein anderes Beispiel für die Ausformung des Erzählschemas von der untreuen Witwe, nämlich im »Iwein«. Der Konnex von Trauer, Totenmemoria und Weltentsagung ist dort ausgeblendet zugunsten des politischen, höfischen Kontextes: Laudine befindet sich einerseits in einer politischen Zwangslage, die eine Wiederverheiratung erfordert121, andererseits wird die Verantwortung für die Entscheidung gegen den Witwenstand auf Lunete und ihr argumentatives Geschick ausgelagert. Wolfram hat genau dies erkannt, wenn er gegen Lunete und nicht gegen Laudine polemisiert.122 Für die Figur Sigune wird dagegen gerade die Konstellation der trauernden Witwe und ihrer Versuchung durch die Welt in Form des Fremden, der ihre Lebensform in Frage stellt und sie zur Rückkehr zu den Lebenden ermahnt, in den Vordergrund gerückt – und der Versuchung wird eine deutliche Absage erteilt. Für Sigune kommt diese Form des Trostes nicht in Frage (253,15–18), was schon in II betont und in III wieder aufgegriffen wird zusammen mit dem Lunete-Rat: ob si worden wær sîn wîp, / dâ hete sich frou lûnete / gesûmet an sô gæher bete (436,4–6). Der ›Versuchung der schönen Form‹ wird im »Parzival« bereits im Prolog eine Absage erteilt: Die äußere Schönheit ist nichtig im Vergleich zur inneren, so die Aussage, exemplifiziert am Typus der Frau: manec wîbes schœne an lobe ist breit: ist dâ daz herze conterfeit,
 die lob ich als ich solde
 daz safer ime golde. ich enhân daz niht für lîhtiu dinc, swer in den kranken messinc verwurket edeln rubîn
 und al die âventiure sîn (dem glîche ich rehten wîbes muot.) diu ir wîpheit rehte tuot, dane sol ich varwe prüeven niht,
 noch ir herzen dach, daz man siht.
 ist si inrehalp der brust bewart,
 so ist werder prîs dâ niht verschart. (3,11–24) (»Die Schönheit so mancher Frau wird weithin gelobt: Ist sie das Abbild des Herzens, dann lobe ich sie wie man den Glasfluss im Gold loben soll. Ich nehme das nicht auf die leichte Schulter; wer in wertloses Messing einen edlen Rubin einfasst verschwimmen aber die Grenzen, die Erzählung erzeugt ihre eigene Wirklichkeit, ihre eigene veritas, vgl. oben zum Kommentar des Erzählers Sigunes neu erbaute Klause in der Wildnis einführend: Wer das nicht glaube, versündige sich. 121 Mertens, Laudine. 122 Anders Knaeble, Die heilige Geliebte, S. 103.

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und all sein Glitzern, diesem Rubin vergleiche ich die rechte weibliche Gesinnung. Wenn eine dem weiblichen Ideal gemäß handelt, werde ich nicht auf den Teint achten, noch auf die Form des sichtbaren ›Herzensdaches‹. Weiß sie sich innerhalb, unter der Brust, vor Schande zu bewahren, so bekommt der edle Ruhm da keine hässlichen Scharten.«)

Dies ist freilich zunächst als lebensweltliche Ethik zu begreifen, ein Tugendideal für alle Frauen. Im Falle Sigunes erweist sich die Kunsthandwerksallegorese des Prologs jedoch als spezifisch in der Handlung konkretisiert, wenn Parzival jenen Ring mit Granat, den Sigune als ihren Ehering (mähelschaz, 439,22) und wegleitenden Begleiter zu Gott (geleite)  bezeichnet hatte, aus der Dunkelheit der Klause reht als ein ander gänsterlîn (438,8) – wie einen feurigen Funken – leuchten sieht.123 Wieder, wie dies bereits oben herausgestellt wurde, sind es die inserierten Bilder, welche die Konstellationen der Sigune-Geschichte durchsichtig werden lassen auf das Verhältnis Mensch  – Gott hin, weltliche Tugend- und Minneethik und christliche Paränese vor dem Hintergrund biblischer Ehe-Allegorese verschmelzen. Es verwundert daher nicht, dass die Metaphorik pflanzlichen Wachstums, die an die Vorstellung von der Kultivierung der minnetriuwe geknüpft ist, auch für die Ehe zum Einsatz kommt: Und zwar an prominenter Stelle, wenn Gurnemanz Parzival über werde minne (172,15) belehrt, was ihn direkt zur Erklärung der ehelichen Leibeseinheit von Mann und Frau führt: man und wîp diu sint al ein; als diu sunn diu hiute schein, und ouch der name der heizet tac. der enwederz sich gescheiden mac: si blüent ûz eime kerne gar. (173,1–5) (»Mann und Frau sind ganz eins. So wie die Sonne, die heute scheint, und der Name, der Tag heißt. Keines von beiden kann sich vom anderen scheiden: Sie blühen aus ein und demselben Kern.«)

Die Forschung hat schon längst erkannt, dass der Ehe im »Parzival« dieselbe ›Heilswirkung‹ zugeschrieben werde wie der minnetriuwe, dass wahre Minne nur die Eheminne ist.124 Erläutert wird dieser Konnex, sozusagen im Modus der 123 Besonders hinzuweisen ist dabei auf die Inszenierung der Blicklenkung von außen nach innen, indem Parzival an das Fenster der Klause tritt, dann die äußerlich verfallene ­Sigune sieht und dann das Funkeln des Ringes aus der Dunkelheit der Klause. Nach dem gleichen Prinzip ist die Öffnung des Sarges in Sigune IV komponiert: Das geöffnete Grab gibt den Blick frei auf den schônen schein Schionatulanders (804,26–29). 124 Schumacher, Die Auffassung der Ehe, S. 119–171. Vgl. Trevrizents Ausführungen über Frimutels exzeptionelle Liebe zu seiner Ehefrau, die er Parzival als Vorbild für seine eigene Ehe empfiehlt (Pz 474,14–19): der minnet sîn selbes wîp, /daz nie von manne mêre / 

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Auslegung, von Trevrizent mit seinen Aussagen über die aus der Hölle lösende Kraft der rehten ê (468,5–9).125 Wenn nun aber Sigune bei ihren Ausführungen über ihre Ehe mit Schionatulander als Weg zu Gott die leibliche Zwei-Einheit aufruft (440,17–19), wird vor dem Hintergrund der Doppelreferenzierung ihrer ›wachsenden‹ und ›blühenden‹ minnetriuwe (Gatten- und Gottesliebe) metaphorisch eine Tiefendimension christlicher Erbauung eingezogen.126 Denn gerade das erunt duo in carne una (Gen 2,24) begründet die übernatürliche Signifikation der Ehe nach Paulus, Eph. 5,31–33, wo die Ehe das geheimnisvolle Abbild der Verbindung Christi mit seiner Gemeinde in einem Leib ist.127 Gott ist im Bild der ehelichen Zwei-Einheit als Dritter stets mit repräsentiert, wie es etwa wîp geminnet wart sô sêre; / ich mein mit rehten triuwen. / sîne site sult ir niuwen, / und minnt von herzen iwer konen. 125 Dazu Schumacher, Die Auffassung der Ehe, S. 224 f. Trotz Trevrizents Ausführungen über die erlösende Wirkung der rehten ê wendet sich Schumacher gegen die Möglichkeit, hier sei ein »sakramentale[r] Gnadenmittelcharakter der Ehe, den die Theologen erst später erkannt, begrifflich definiert und bewiesen haben, in dichterisch-intuitiver Gestaltung vorweggenommen« (S. 225 f.). Ihr Hauptargument ist, dass die Ehe keine größere Heilswirkung habe als die triuwe, die Schumacher ebenfalls als rein menschlich konnotiert versteht, obwohl in Wolframs Werk ihre »heilswirkende Kraft« betont werde, sie »als eine sichere Gewähr für die Erlangung der ewigen Seligkeit« erscheine (S. 226). Wie nun aber dieser Ebenensprung von der irdisch-menschlichen »möglichst innigen und intensiven, persönlichen Liebes- und Treuebeziehung der beiden Ehepartner« (S. 227) zur Erlösung, der vom Erzähler im »Parzival« immer wieder behauptet wird, etwa für Herzeloyde oder Gahmuret (vgl. S. 226), narrativ vermittelt, veranschaulicht wird, dazu ist bei Schumacher kaum etwas zu finden. Hier kommt die wirkungsästhetische Kraft der metaphorischen Sprache (nicht nur) des »Parzival« ins Spiel: untersucht man diese, wird schnell deutlich, dass Unterscheidungen wie irdisch – transzendent, höfisch – geistlich nur vordergründig gesetzt sind um sogleich transgrediert zu werden. Vgl. schon Mergell, Wolfram von Eschenbach und seine französischen Quellen, S. 196 f.: »Minne, zur wahren triuwe ehelicher Liebe geläutert, spiegelt das Wesen der himmlischen Minne, die Trevrizents Gotteslehre verkündet.« 126 Damit nimmt die Sigune-Geschichte des »Parzival« jene Amalgamierungen ›geistlicher‹ und ›weltlicher‹ Referenz auf, die bereits in der ›Matrone von Ephesus‹ vorliegen, aufgrund der Konzentration auf die sozialhistorischen Aspekte bei Jussen jedoch weniger in den Blick kommen. Die Überblendungen von Gatten- und Gottesliebe, mithin das allegorische Aussagepotential der weltlichen Ehe für das Verhältnis des Gläubigen zu Gott werden offensichtlich, indem etwa die Hinrichtung der Witwe durch den Fremden nicht nur den Verrat am ersten Ehemann straft, sondern zugleich den Bruch ihrer gelobten Gemeinschaft mit Gott. 127 Propter hoc relinquet homo patrem et matrem suam et adherebit uxori suae et erunt duo in carne una. Sacramentum hoc magnum est ego autem dico in Christo et in ecclesia verumtamen et vos singuli unusquisque suam uxorem sicut se ipsum diligat uxor autem ut timeat virum. »›Darum wird ein Mann Vater und Mutter verlassen und an seiner Frau hängen, und die zwei werden ein Fleisch sein‹ (Gn 2,24). Dies Geheimnis ist groß; ich deute es aber auf Christus und die Gemeinde. Darum auch ihr: ein jeder habe lieb seine Frau wie sich selbst; die Frau aber ehre den Mann«. Vgl. dazu Schumacher, Die Auffassung der Ehe, S. 221 mit weiteren Belegen.

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der frühmittelhochdeutsche Text »Vom Rehte« besonders anschaulich macht, wo Gott mit den Eheleuten unter die Decke schlüpft: von diu sol der man unde daz wip / sin als ein lip. / wande die diche samet stant / unde sizzent unde gant, / zwei samet enbette gant, / zwei an dem rehte gestant, / got mage vil wol sin / undir ir beider dechin / der dritte geselle (357–365).128 Es ist nun die Ein-Leib-Metaphorik, die wiederum bei Paulus mit den Bildbereichen des Wachstums und des Architektonischen überblendet wird (Eph. 4,15 f.): Veritatem autem facientes in caritate crescamus in illo per omnia qui est caput Christus ex quo totum corpus conpactum et conexum per omnem iuncturam subministrationis secundum operationem in mensuram uniuscuiusque membri augmentum corporis facit in aedificationem sui in caritate. (»Lasst uns aber wahrhaftig sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken zu dem hin, der das Haupt ist, Christus, von dem aus der ganze Leib zusammengefügt ist und ein Glied am andern hängt durch alle Gelenke, wodurch jedes Glied das andere unterstützt nach dem Maß seiner Kraft und macht, dass der Leib wächst und sich selbst aufbaut in der Liebe.«)

Die Eigenschaft des Wachstums bildet das tertium comparationis für die metaphorische Überblendung von Reich Gottes und pflanzlichem wie menschlichem Organismus. Hier wird auch unmittelbar das Gleiten der Bildbereiche für aedificatio zwischen Wachsen und Aufbauen greifbar: Das Wachsen des Leibes, des Glaubens, ist ein sich selbst Aufbauen, weil es nicht von außen bewirkt werden kann, sondern ein Effekt ist, der von innen kommt, durch die Tugend der caritas als Mittel. Dafür braucht es ein Miteinander, ein ›uns‹: nur zusammen, durch die gegenseitige Unterstützung der Glieder, kann der Leib insgesamt wachsen (crescamus). Die kleinste Einheit des sozialen Miteinander ist die Ehe. Im Bild der Eheleute als zwei Blüten aus einem Kern ist damit die Überblendung von minne, caritas und agape, das Zugleich von Gatten- und Gottesliebe ebenso momenthaft getroffen, wie es im ehelichen Ausharren Sigunes beim toten Schionatulander in der Klause als Handlung prozessiert ist. Wenn Parzival in Sigune IV den Sarg öffnen lässt, entspricht das verborgene Scheinen des toten Schionatulander (804,28 f.) dem inneren Blühen Sigunes und indem sie nâhe zuo zim dar (804,30) 128 Haug, Frühe deutsche Literatur und lateinische Literatur; in den »Gesta Romanorum«, Cap. 6, ist die eheliche Leibeseinheit gar Argument für das dem Mann Nachsterben der Frau aus Liebe in einer Geschichte, die narrativ wiederum das Ideal der christlichen Witwe umkreist: Cum autem quis juramento est obligatus, tenetur adimplere. Ego juravi viro meo, quod pro ejus amore meipsam occiderem. Ideo non deliqui, si juramentum implere volo; ergo extra societatem tuam non debeo expelli. Item nullus debet puniri pro eo, quod est commendabile. Sed cum vir et uxor sint unum in carne secundum deum, commendabile est, quod uxor pro amore viri sui moriatur. Nach: Gesta Romanorum, S. 12–15, Zitat S. 12.

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in denselben Sarg gelegt wird, wird die eheliche Einheit abschließend zeichenhaft bestätigt.129 Vor der Folie der »Matrone von Ephesus« zeigt sich damit die Ehe in der Sigune-Geschichte nicht als randständiges Motiv, sondern als eine zentrale Bildlichkeit: Anhand von Sigune wird exemplarisch veranschaulicht, dass die Kultivierung von minnetriuwe ein Weg zu Gott ist.

5. Erbaulicher Verfall? Resümee und Ausblick Dichtung wird schnell blaß im Würgegriff der Theologie.130

Die Bildlichkeit in den Sigune-Szenen des »Parzival« interessierte mich weniger im Hinblick auf die narrativen Visualisierungsstrategien, welche die vier Stationen der Sigune-Handlung zu vier ›Bildtafeln‹ machen, die der Rezipient durch Parzivals Augen erblickt und deren Dargestelltes mehr oder weniger deutlich religiös konnotiert ist. Vielmehr ging es mir um die von der Forschung zu den Sigune-Szenen bisher kaum gemachte Beobachtung, dass das ›Sprachmaterial‹ der Sigune-Handlung sich in auffallender Weise zu drei semantischen Feldern gruppieren lässt: dem des Einreißens bzw. Verfallens und Aufbauens, dem der Bräutlichkeit und Ehe, und dem gewissermaßen agrikulturellen Feld des Keimens, Wachsens, Blühens, Nährens. Es sind dies alles Bilder, die im Kontext theologischen Schrifttums und religiöser Literatur benutzt werden um den Vorgang der Erbauung des Glaubens (aedificatio) zu veranschaulichen. Dabei konnte insbesondere herausgearbeitet werden, dass sich die spezifische Überblendung und Verdichtung der semantischen Felder pflanzlichen Wachstums, architektonischen Aufbauens und ehelicher Leibeseinheit in der biblischen Erbauungsbildlichkeit im »Parzival« speziell auf die Figur Sigune bezogen wiederfindet. Während die Forschung aufgrund verstärkter Aufmerksamkeit für die Bildhaftigkeit

129 Mit Fokus auf die Metaphorik der Liebessprache lässt sich hier zeigen, dass es Themenbereiche und ihnen zugehörige Bildlichkeit gibt, die die Semantisierung ›geistlich  – weltlich‹ von vornherein überschreiten: Im Sinne von Köbele, Umbesetzungen, und den daran anschließenden Überlegungen von Hasebrink, Ein einic ein, zur Liebeseinheit sehe ich meine Beobachtungen als Beitrag zu der These, es gebe in mittelalterlicher Literatur eine »Ästhetik der Liebessprache quer zu den Grenzen der Diskurse«, ebd., S. 443. Auch in diesem Band zeigt etwa der Beitrag von Bernd Roling zur ambigen ›Kippfigur‹ der Nachtigall zwischen christlich-gelehrtem Diskurs und weltlicher Liebesdichtung eindrücklich, dass die Semantisierung von bestimmten Bildern nicht nur reflektiert, sondern dass geradezu um sie gerungen wurde. 130 Köbele, iemer niuwe, S. 101.

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der Narration die Statik der Sigune-Szenen in den Vordergrund gerückt hat, lässt die Analyse unter Berücksichtigung der Metaphorik ein komplexes Verhältnis von Statik des Immergleichen und Prozessualität in den Sigune-Szenen erkennen: Dem auf der Handlungsebene zu verfolgenden äußeren Verfall der Minnedame kontrastiert ein über die Metaphorik gesteuerter Prozess der Erbauung ›innerer‹ Werte (Sigunes minne und triuwe). Der Verfall scheint hier als ein impliziter Gegenbegriff zu Erbauung poetologisch fruchtbar gemacht, eine Dialektik, die jedoch nicht vorschnell mit der ars humilis gleichgesetzt werden darf, denn hier entstehen (wirkungs-)ästhetische Eigendynamiken. So ist es, erstens, gerade die (positivierende) Ästhetik der Metaphern und das Spiel mit der Neukombination tradierter Zeichenträger, welche auf einer rhetorischen Ebene im Sinne poetischer delectatio als Schmuck, als Reiz der ›schönen Form‹ wahrgenommen werden können. Sie fungieren jedoch, zweitens, im Sinne einer wirkungsästhetisch gedachten christlichen delectatio, als rezeptionslenkend von außen nach innen, indem sie die unsichtbaren Tugenden ins Bild setzen. Drittens scheint im »Parzival« das wirkungsästhetische Potential erbaulicher Bildlichkeit, jener schon anhand der Bibelstellen greifbare Spannungsreichtum des metaphorisch fundierten Begriffs aedificatio auf besondere Weise genutzt, wenn gerade die Transgressivität der Bilder (Wachsen, Bauen, leibliche Zwei-Einheit) jene Amalgamierungen von ›weltlicher‹ und ›geistlicher‹ Referenz umsetzt, die für den »Parzival« charakteristisch sind: So etwa die zentrale Überblendung von minne und triuwe, caritas, agape und fides, also die Doppelreferenzierung von Gatten- und Gottesliebe. Dabei finden sich in der Sigune-Geschichte des »Parzival« durchaus nicht nur ästhetische Aspekte von ›Erbauung‹ wieder. Vor der Folie der »Matrone von Ephesus« wird umso deutlicher, dass Sigune, vor allem in der dritten Szene, als Exempel für das Ideal der christlichen Witwe inszeniert ist. Der Figur kommt damit vor dem Hintergrund mittelalterlicher Eheallegorese auch eine explizit ›erbauliche‹ Funktion zu  – diese Funktion konnte jedoch im genauen Blick auf den Einsatz von Metaphorik und Allegorie sowie ihre Wechselwirkungen mit kommentierenden, auslegenden Passagen differenziert werden: Passagen im Modus der Auslegung und des Kommentars, der Paränese, Passagen als Belehrung formulierter Rede (Erzähler oder Figuren), die über den gesamten Roman verteilt sind, lassen sich auf die zum Einsatz kommenden Bildfelder (Metapher, Allegorie und bildhafte Narration auf der Handlungsebene) beziehen: Es stimmt also nicht, dass für Metaphern und Allegorien die Allegorese fehlen würde, nur sind die Ebenen von ›Bild‹ und ›Bedeutung‹ nicht durch ein ›hoc significat‹ eindeutig verknüpft, sondern es bleibt dem Rezipienten überlassen, eine Beziehung herzustellen. Damit soll nicht gesagt sein, dass Sigune eine leere Allegorie sei, vielmehr werden hier spielerisch Sinnhorizonte potenziert, indem nicht nur Metapher

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und Erzählwelt ineinander übergehen können131, sondern die Erzählwelt auch mit Allegorischem und Exemplarischem angereichert wird. In Summe macht das die Faszinationskraft der Figur Sigune erst aus: Die zum Einsatz kommende Metaphorik, Allegorisierung und Allegorese fungieren zur Charakterisierung und Zeichnung der Figur. Die delectatio der Erzählung, die Authentizität der Figur Sigune, die Wirkung ihres Auftritts wird also nicht gestört durch Auslegung, diese kann aber durchaus beigezogen werden, wie etwa anhand der Erzähler-Einlassungen zum Lunete-Rat deutlich wurde. Auch hier verschwimmen mit der Durchlässigkeit der proklamierten Begriffe ehelicher triuwe und wahrer minne auf die christlichen Tugenden fides und agape hin das didaktische Sprechen über höfische Werte und das paränetische Vermitteln christlicher ›Erbauung‹.

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131 Kiening und Köbele, Wilde Minne.

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Maximilian Benz (Zürich) / Julia Weitbrecht (Kiel)

Honicmaeziu maere. Zur Welthaltigkeit legendarischen Erzählens bei Rudolf von Ems und Reinbot von Durne

Erzählen vom Heiligen, das wiederholt die Legendenforschung der letzten fünfzehn Jahre wie ein Mantra, ist schwierig  – es ist von differenzlogischen Paradoxien bestimmt und erscheint gerade in weltlich-volkssprachlichen Kontexten institutionell und medial riskant.1 Beide Annahmen, die eine enorme heuristische Kraft entwickelten, lassen sich nicht nur hinsichtlich ihrer Implikationen im Detail, sondern durchaus grundsätzlich hinterfragen.2 Was die differenzlogischen Paradoxien betrifft, ist es angebracht, zwischen einer systematisch-theoretischen Diskussion der aus abstrahierter Perspektive sichtbar werdenden Aporien legendarischen Erzählens und der historischen Verfügbarkeit unterschiedlichster etablierter Medialisierungsstrategien zu unterscheiden, die das Erzählen vom Heiligen ermöglichen. Pointiert gesagt, steht einer mittelalterlichen Praxis und Pragmatik des Umgangs mit dem Heiligen eine moderne Reflexion über es gegenüber, die freilich erst in dem Moment möglich wird, in dem das Heilige nicht mehr unumwunden Geltung beanspruchen kann. Nicht ohne Grund beschäftigt man sich (erst) seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Phänomen der Heiligkeit, und keineswegs überraschend entsteht einer der 1 Am prominentesten vertreten wird diese These von Peter Strohschneider (zuerst: Stroh­ schneider, Inzest-Heiligkeit.). Sein ursprüngliches Anliegen war es, eine Theorie der Legende zu entwickeln, die interkulturell appliziert werden kann und deshalb eine gewisse Distanz zur christlichen Konzeptualisierung von ›Heiligkeit‹ wahren muss. Von Strohschneider wird das Heilige »ganz formal aufgefaßt als Transzendentes, als das aus der Immanenz Ausgeschlossene.« (Ders., Textheiligung, S. 111.) 2 Vgl. grundsätzlich in Hinsicht auf Heiligkeit Koch, Zwischenstufen, sowie mit Blick auf die Legende Weitbrecht, Häusliche Heiligkeit, bes. S. 78 f., und Hammer, Erzählen vom Heiligen, S. 3 f. – Beachtenswert ist demgegenüber, dass Strohschneider die systematisch übersteuerte Immanenz-Transzendenz-Dichotomie jüngst etwas zurückgenommen hat, vgl. Strohschneider, Höfische Textgeschichten, S. 173: »Als Distanz- wie Relationskategorie bezeichnet Heiligkeit ganz formal das, was als Transzendentes jenseits der Grenzen von Immanenz liegt, was also diese Grenzen überschreitet – sie transzendiert.« Es deutet sich an, dass die Immanenz-Transzendenz-Unterscheidung eine asymmetrische ist (vgl. Benz, Gesicht und Schrift, S. 186). Mit zweistelligen Modellen ist mittelalterlichen Heiligkeitsentwürfen jedenfalls kaum beizukommen (vgl. Köbele, Illusion, hier S. 380, Anm. 44).

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Klassiker der Reflexion über das Heilige3 durchaus als Reaktion auf den »Aufstieg der säkularen Option«.4 Was die Kluft zwischen Latein, einer lingua sacra, und der Volkssprache betrifft, lässt sich ebenfalls in praxeologischer Hinsicht auf die vielfältigen funktionalen Verwendungsweisen der Volkssprache im religions- und frömmigkeitsgeschichtlichen Zusammenhang hinweisen, gerade was Aspekte der moralischen instructio oder auch der laus Dei angeht. Heiligkeit als mediale Kategorie impliziert eine Vielfalt an Vermittlungsformen, die auch die Ebene der Sprache einbezieht. Betrachtet man nun die im höfischen Kontext entstandenen legendarischen Erzählungen des Mittelalters5 einmal nicht als aus der strikten Trennung von geistlichen und weltlichen Formaten erwachsene Hybride, dann wird deutlich, dass diese sich weitaus weniger daran abarbeiten, inwiefern man überhaupt vom Heiligen erzählen kann, als vielmehr, wie man adäquat, das heißt für ein mit höfischer Literatur vertrautes Publikum so vom Heiligen erzählt, dass die Rezipienten moralisch instruiert werden – kurz: wie man vom Heiligen ›erbaulich‹ erzählt. Als Beispiele haben wir Rudolfs von Ems »Barlaam und Josaphat« und Reinbots von Durne »Heiligen Georg« gewählt. Nicht nur ist ihre literarhistorische Stellung ähnlich; wichtiger für diese Untersuchung ist, dass jeweils vor dem Hintergrund der lateinischen hagiographischen Tradition in beiden Texten auf unterschiedliche Weise Aspekte genuin höfisch konzeptualisierter, also weitestgehend weltimmanenter Schönheit eine besondere Rolle spielen. Im Kontext einer Erbauungspoetik fällt dabei auf, dass weltimmanente Schönheit im Zusammenhang höfischen wie legendarischen Erzählens jeweils axiologisch eindeutig besetzt zu sein scheint, diese festen Wertzuordnungen vor dem Hintergrund von Strategien »intellektuelle[n] wie moralische[n] Instruieren[s] und Affizieren[s]«6 allerdings aufgebrochen werden; dabei wird an die Paradoxien des minne-Diskurses angeschlossen, der sich einer klaren Verortung entlang der Dichotomie ›weltlich‹  /  ›geistlich‹ entzieht.7 Dementsprechend werden im Folgenden zum Teil explizierte, zum Teil implizite Spannungen zwischen einer positiven und negativen Wertung weltimmanenter Schönheit fokussiert und auf ihre (Dys-)Funktionalität im Zusammenhang legendarischen Erzählens befragt. Es wird sich zeigen, dass es sich um Phänomene einer Erbauungspoetik handelt, 3 Vgl. Otto, Das Heilige. 4 Joas, Säkulare Heiligkeit, hier S. 63. 5 Diese sind mit dem Kompositum ›Legendenroman‹ nicht besonders glücklich benannt, da in dem Nomen der (höfische)  Roman als Determinatum und das Legendarische als Determinans fungieren, also bereits in der Benennung eine Hierarchisierung der Kontexte vorgenommen wird, die sich freilich von Text zu Text unterschiedlich darstellt. Vgl. zur Forschungsgeschichte des Begriffs Weitbrecht, Aus der Welt, S. 114–117. 6 Köbele, ›Erbauung‹ – und darüber hinaus, hier S. 424. 7 Vgl. Köbele, Frauenlobs Minne und Welt.

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die weniger ästhetische Effekte um ihrer selbst willen zeitigen und auch nicht mit einer grundsätzlichen Herausforderung zusammenhängen müssen, vom Heiligen überhaupt zu erzählen, sondern vielmehr mit den zur Verfügung stehenden sprachlichen Ausdrucksmitteln der Zeit die Erwartungen eines an der höfischen Literatur geschulten Publikums bedienen, um es zu affizieren  – in moralischer ebenso wie in ästhetischer Hinsicht.

1. Ein Musterbeispiel für die Irritationen, die im Spannungsfeld von minne und Religion entstehen – und auch die Forschung intensiv beschäftigt haben –, findet sich in Rudolfs von Ems »Barlaam und Josaphat«.8 Die christliche Version des Lebens Buddhas erzählt zu Beginn davon, wie Josaphat im goldenen Käfig seines christenfeindlichen Vaters Avenier aufwächst. Dieser kann allerdings nicht verhindern, dass Josaphat von Barlaam, einem von Gott zu ihm gesandten Einsiedler, über den christlichen Glauben unterrichtet und auch getauft wird. Nachdem sich die Wahrheit der christlichen Religion eindeutig in den von Rudolf gegenüber seiner Vorlage – der lateinischen ›Vulgata‹-Fassung der Legende9 – als disputationes dargestellten Widerlegungen der Chaldäer, Griechen, Ägypter und Juden10 erwiesen hat, greift Avenier im Rahmen seiner Versuche, Josaphat vom rechten Weg abzubringen, schließlich auch zu der Verkörperung von Schönheit schlechthin, der Frau. Dabei ist nicht nur intradiegetisch die Differenz zwischen minne und Religion gewissermaßen die Sollbruchstelle. An dieser Stelle droht nicht nur Josaphat den eingeschlagenen Weg zu verlassen, sondern auch Rudolfs mære der Versuchung höfisch-feiner Ideologeme zu erliegen. Der fromme Prinz Josaphat soll durch juncvrouwen, schœne und wolgetân (290,21; vgl. 298,19) zu den Verlockungen dieser Welt geführt werden. Theodas, der teuflische Ratgeber Aveniers, begründet die Erfolgsaussichten dieses 8 Der Text wird zitiert nach der Ausgabe von Franz Pfeiffer: Rudolf von Ems, Barlaam. Er ist breit überliefert: Neben 12 vollständigen Handschriften sind auch zahlreiche Fragmente auf uns gekommen. Eine wichtige Rolle spielen die in Sammelhandschriften von Kurzerzählungen / Reimpaardichtungen getrennt vom Rudolf’schen Gesamttext überlieferten Apologe. Darüber hinaus lässt sich (auch für den vollständigen Text) eine gemeinsame Überlieferung mit Kurzerzählungen des Stricker beobachten. Vgl. Schwab, Die Barlaamparabeln, bes. S. 5–24 (›Rudolf von Ems und der Stricker‹). 9 Dort werden die anderen Religionen in einem Monolog Nachors (der sich als Barlaam ausgibt) widerlegt; vgl. de la Cruz Palma, Barlaam et Iosaphat, S. 390–414 (= S. 143–155 der Edition). Vgl. zur ›Vulgata‹-Fassung Cordoni, Barlaam und Josaphat in der europäischen Literatur des Mittelalters, S. 61–64. 10 Zu Rudolfs Adaptation vgl. Czizek, Rudolfs von Ems Barlaam und Josaphat und seine lateinische Vorlage, S. 22, 89–137 und 215–220.

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Verführungs­plans mit einem hier nicht näher zu skizzierenden Exempel, dessen Pointe ist, dass wîp und tiuvel, Frauen und Teufel identifiziert werden. Dies nun lässt Rudolf mit urloube ûz dem mære / […] kêren (294,36 f.) und zur Verteidigung der ›reinen Frauen‹ ansetzen. Es folgt ein ›blümelnd‹ verfasster Frauenpreis, in dessen Zentrum die weltlîchiu vreude (297,7) steht: daz wîp ein krône, ein bluomenschîn, ein wünne berndiu werdekeit, diu blüejende süeze treit, an sældenrîchen vreuden ganz, und manlîcher vreuden kranz, ein prîs manlîches muotes, ein überguot des guotes, ein lachendiu, spilndiu tugent, ein spilndiu, lachendiu jugent, rein, süeze, vreudenbære manlîchen vreuden wære. (296,30–40)

Der Preis mündet in die Anrede einer Ungenannten – eine Verschlüsselung, die im historisch-konkreten mündlichen Vortrag eventuell mittels Deixis aufgelöst wurde. Das alles passt nun allerdings nicht zur materia: daz hœret an diz mære niht, / als des mæres urhap giht (297,31 f.); entsprechend betont Rudolf ja auch im Epilog, dass diese Erzählung niht von ritterschaft, / noch von minnen (404,5 f.) sei. Die digressio – die mit dem Attribut superflua sicher nicht falsch charakterisiert wäre – ist somit ein bewusst von Rudolf in Kauf genommenes vitium,11 auch wenn diese Technik in der Nachfolge der Exkurse Gottfrieds stehen mag, die dem Erzählten kontrastiv gegenüberstehen können.12 Was ist aber der sachliche Grund für die selbstwidersprüchliche Erweiterung der Geschichte? Die Forschung hat die Erklärung überwiegend in extradiegetischen Faktoren gesucht. So hat Xenja von Ertzdorff rezeptionsästhetisch argumentiert: Rudolf schreibe für »ein an der höfischen Literatur geschultes und an theologischen Fragen interessiertes Publikum«.13 Gerade der Rezipientenkreis motiviere, dass 11 In den lateinischen Poetiken wird die digressio, die zur dilatatio gehört, »nach dem Kriterium der utilitas, d. h. Relevanz und Sachdienlichkeit erläutert« (von Moos, Poeta und historicus im Mittelalter, hier S. 121, Anm. 60). Es handelt sich dabei um kleinere Einheiten (anvisiert ist die Ebene eines Verses) als die große Digression Rudolfs, aber das Kriterium der Sachdienlichkeit lässt sich übertragen. Vgl. Matthäus von Vendôme, Ars Versificatoria, hier S. 182 (IV, 10): Sententiae vero superfluitas dicitur macrologya, id est longiloquium res non necessarias comprehendens. Rudolf ist hier in seinem Exkurs weitschweifig und thematisiert Dinge, die für sich genommen nicht falsch sind, aber doch nichts mit der materia zu tun haben. 12 Vgl. Meyer, What’s within a Frame, hier S. 279. 13 Von Ertzdorff, Untersuchungen, S. 83.

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Rudolf nicht kommentarlos über die Szene mit ihren misogynen Tendenzen hinweggehen könne. »Zweifellos sind gerade diese ›verhinderten Minneszenen‹ die stärkste Zumutung für den höfischen Dichter und sein Publikum. Vermeiden lassen sie sich nicht, weil sie zur warheit der Geschichte gehören, aber wenigstens durch die Stellungnahmen des Dichters mildern.«14 Daran schließt das generische Argument Ulrich Wyss’ an, der die Szene als Epiphänomen der nicht verwirklichbaren Gattungskreuzung von Roman und Legende gedeutet hat.15 Als textexterner Faktor lässt sich schließlich noch der Autor, für dessen (spannungsreiches) self-fashioning die Passage freilich sehr aufschlussreich ist,16  – oder in Manfred Kerns Worten: der ›biedere Erzähler‹  – ins Spiel bringen: Nach Kern breche an der vorliegenden Stelle »aus dem verbalen Pseudo-Asketen der Krypto-Erotiker hervor«,17 wobei auch hier die heterogenen Einflüsse letztlich zur Sprengung des Narrativs führten, was – und hier bricht aus dem Literaturwissenschaftler der postmoderne Leser hervor  – jede didaktische Funktiona­ lisierung des maere unterlaufe. Hier möchten wir nochmals neu ansetzen und mit Blick auf den lateinischen Prätext überlegen, wie Rudolfs Gestaltung der Szene zu verstehen ist – und zwar gerade in ihrer Widersprüchlichkeit, die man ernstnehmen muss18 und die nicht nur von Rudolf, sondern auch von den Rezipienten wahrgenommen wurde: Der Exkurs fehlt in einigen Handschriften.19 Kern der Episode ist auch im lateinischen Text schon ein Dilemma: Theodas will Josaphat vom rechten Weg abbringen und beschwört einen Dämon, der Josaphat in sexueller Begierde entbrennen lässt – doch Josaphat kann sich durch das Gebet und die Besinnung auf Gott und sein Seelenheil wehren. Daraufhin zündet Theodas eine weitere Eskalationsstufe: Eine syrische Königstochter, die Schönste der Schönen, soll Josaphat schließlich verführen. Josaphat, nur von den Motiven der compassio und misericordia bewegt, beginnt sie religiös zu unterweisen, doch der Teufel gibt ihr – deren Verführungsversuch typologisch auf die Tat der Eua im Paradies bezogen wird – ein, die Netze der Verführung auszubreiten. Zur Bedingung, seiner Lehre zu folgen, macht sie, dass sie sich ehelich verbinden: Coniungere michi nuptiarum copula et ego preceptis tuis gaudens obediam. 14 Ebd., S. 215. 15 Vgl. Wyss, Rudolfs von Ems ›Barlaam und Josaphat‹ zwischen Legende und Roman, hier S. 230: »Hier wird das Schema der Legende wieder durch innerweltlich-psychologische Entwicklungen durchbrochen.« 16 Vgl. Coxon, The Presentation of Authorship, S. 55–58. 17 Kern, ›Märchen‹, hier S. 209. 18 Vgl. Schnell, Rudolf von Ems, S. 106–111, hat, der These seines Lehrers Rupp folgend, mit verschiedenen Argumenten betont, dass sich der wîp-Exkurs gut in die Legende füge. Das geht allerdings zu weit, denn eine Spannung artikuliert Rudolf schließlich selbst. 19 Vgl. Pfeiffer, S. 449, zu 294,35–298, 10. Der kürzere zweite Exkurs Rudolfs (308,7–28), der nicht so deutlich vom übrigen Text abgegrenzt ist, wurde nicht gekürzt (vgl. S. 451).

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(S. 440=S. 168, Z. 31 f.) Josaphat lehnt eine solche turpis commixtio ab, muss sich dann aber von der in den heiligen Texten des Christentums belesenen heidnischen Königstochter eines Besseren belehren lassen: Die Verbindung zwischen Mann und Frau sei keineswegs sündhaft, sondern geboten, ja im Alten wie im Neuen Testament finden sich entsprechende Belege, sodass die Heidin schließlich dem Christen vorwerfen kann: Valde michi uideris a ueritate dogmatum uestrorum errare. (S. 442=S. 169, Z. 16 f.) Josaphat scheint in dogmatischen Fragen fundamental zu irren. Es ist aufschlussreich, wie sich Josaphat buchstäblich aus der Affäre zieht. Er gibt ihr recht, unterscheidet aber zwischen dem, was allgemein zwar durchaus möglich wäre, und seinem konkreten Fall, der dies aber gerade ausschließe, da er Gott Keuschheit gelobt habe. Daraufhin legt die Königstochter nach und bittet um nur einmaligen Geschlechtsverkehr: concumbe mecum hac nocte tantum et tua me perfrui patere pulcritudine nec non et ipse meo saciare decore, et promitto tibi quod summo diluculo christiana fiam et omni abrenuntiem cultui deorum. (S. 442=S. 169, Z. 27–29) Die anschließenden theologischen Ausführungen beziehen sich freilich nicht auf Schriftbelege für einmaligen Beischlaf, sondern für die Notwendigkeit, jede Seele zu retten. Dies wirkt: Josaphat erkennt sein Dilemma, das er nur im stundenlangen, tränenreichen Gebet angehen kann. Gott hilft, indem Josaphat eine Vision himmlischer Freude und höllischer Strafe zuteilwird. Der eschatologische Dualismus ermöglicht es also, die komplexe innerweltliche Situation zu disambiguisieren, das Dilemma zu entschärfen. Gerade aber der Konflikt, Josaphats Dilemma, ist symptomatisch für das Potenzial, das Rudolf in der gesamten Legende gesehen, und das er im Sinne einer durch und durch ›erbaulichen‹ Ästhetik auch in der vorliegenden Passage ausgebaut hat, indem er zwei Differenzierungen des lateinischen Textes weggelassen hat. Zum einen wird zwischen dem in Josaphat entfachten Begehren und den Verführungsversuchen der syrischen Königstochter keine scharfe Grenze gezogen,20 zum anderen bittet die syrische Königstochter sofort nur um einmaligen Beischlaf, rechtfertigt diesen aber mit Rekursen auf Altes wie Neues Testament,21 und schließlich ist die Erzählung nicht so stark durchsetzt von eindeutig wertenden Kommentaren, die jede Regung und Äußerung sofort in Hinsicht auf ihre Heilsrelevanz beurteilen. Letzteres ist besonders auffällig in der bei Rudolf, anders als im lateinischen Text, keineswegs negativ geschilderten Annäherung von Josaphat und der Prinzessin.22 Die negativen Wertungen – gerade auch der 20 Vgl. S. 438=S. 166, Z. 22–24: Vndique igitur hostis destitutus est et omnino desperans seipsum taliter posse strenuum videre deicere iuuenem, aliam uadit dirissimus hostis inuenire seductionem, ein Satz, der an entsprechender Stelle bei Rudolf (vgl. 302, 3–32) nicht steht. 21 Vgl. 304,27–36 (die Bitte um einmaligen Beischlaf) und 306,12–307,2 (die Widerlegung, dass eine Verbindung von Mann und Frau wider Gott sei). 22 Vgl. im lateinischen Text auf S. 440=S. 168: Sed hec omnia fraudes erant uersuti drachonis, spiritus malignus suggerit mulieri, stulta existens non intellexit usf. Czizek, lateinische

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schon erwähnte typologische Verweis auf Eva – finden sich strikt an Theodas gebunden. Damit verwischt sich, was im lateinischen Text sauber und je bewertet auseinandergehalten wurde, mit dem Effekt, dass sich das Dilemma der Situation verstärkt: Jôsaphât, der guote man, / vil sêre zwîveln dô began. (307,27 f.). Dass es Rudolf genau darauf ankommt, zeigt auch das gegenüber dem lateinischen Text eingeführte ›rash boon‹-Motiv,23 das in der höfischen Literatur standardmäßig genutzt wird, um aporetische Ansprüche aufzudecken. Wenn man es pointieren will: Bei Rudolf lebt Josaphat mehr als im lateinischen Text als Mensch unter Menschen in einer Welt, in der die (im christlichen Sinne) richtige Entscheidung nicht immer auf der Hand liegt. Der stilitisch auffällige wîp-Exkurs und der etwas später folgende nur scheinbar »mit bigotter Lüsternheit«24 vorgetragene Erzählerkommentar – ein solich almuosen wær mîn gir (308,17) – täuscht, worum es Rudolf gerade in den Erweiterungen eigentlich geht: um Differenzierungsleistungen, zu deren Veranschaulichung er auch auf sich selbst rekurriert. Die Anforderungen an einen asketisch lebenden christlichen Herrscher sind andere als an einen höfischen Dichter oder die Rezipienten seiner Dichtung. Bei all dem steht die Priorität eines weltabgewandten Lebens allerdings auch bei Rudolf an keiner Stelle zur Disposition, nirgends wird sie im Sinne eines »Egoismus«25 gebrandmarkt:26 Es darf nicht übersehen werden, dass der Einspruch Rudolfs zu Beginn des wîp-Exkurses – eine Erinnerung an seine Lese-Erfahrung27 – nicht Josaphats Entscheidung kritisiert, sondern die Misogynie von Theodas’ Argumentation. Josaphat soll keusch bleiben – schließlich hat er es Gott gelobt. Was allerdings die Verteidigung der Vereinigung von Mann und Frau betrifft, so ist ihr allgemein zuzustimmen, nicht aber im besonderen Fall. Entsprechend wird die eheliche Verbindung von Frau und Mann nicht mehr als turpis commixtio gebrandmarkt, wie noch im lateinischen Text.28 Und Rudolf formuliert, aus der Warte des höfischen Frauendienstes

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Vorlage, S. 158, betont zurecht, dass die Königstochter bei Rudolf nicht vom Teufel besessen ist und damit positiver gezeichnet werde. Im lateinischen Text bittet die Königstochter um die Erfüllung einer peticio, woraufhin Josaphat fragt: Que est postulatio tua, o mulier? (S. 440=S. 168, Z. 29), die er dann sogleich ablehnt, während bei Rudolf Josaphat zwei Mal betont: swaz dû wilt, vrouwe, daz tuon ich, (304,15) und gerne, vrouwe mîn! (304,24). Kern, ›Märchen‹, S. 209. Rupp, Rudolfs von Ems »Barlaam und Josaphat«, hier S. 20. Das Eremitendasein wird nicht abgewertet, sondern ist gegenüber der weltlichen Sphäre dominant, vgl. Biesterfeldt, Moniage, S. 93–95. Vgl. 294,39–295,6: dô ich an disem mære las,  /  daz dort durch schimph gesprochen was,  /  daz wîp der tiuvel wære, / des sin daz niht verbære, / sîn list verleite den man, / dô gedâhte ich dar an, / wie lebendes mannes vreuden lîp / an vreuden tiurent werdiu wîp, / […]. Dass hier die Prinzessin gleich nach einmaligem Beischlaf fragt, scheint mir gegenüber dem lateinischen Text vor allem dadurch bedingt zu sein, dass Rudolf ehekritische Elemente ausschließen will.

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gesprochen, gewissermaßen eine Maximalposition, die aus dem süntlîchen kouf ein almuosen macht. Alle diese Handlungsoptionen werden stets rückgebunden an eine (gute) Intention – im Falle Rudolfs freilich mit einem Augenzwinkern. Damit schließt die Legende von »Barlaam und Josaphat« an die Thematisierung von Intentionalität als Grundlage sittlichen Handelns im »Guoten Gêrhart« an.29 Entscheidend ist auch im »Barlaam« die Gewissensprüfung, die nicht nur – wie im lateinischen Text – mit Fokus auf den Entscheidungsträger, den Protagonisten, sondern auch auf Rudolf thematisiert wird: Anders als im »Guoten Gêrhart« ist es kein Engel, der beiden erscheint, sondern Rudolf hält ein Zwiegespräch mit seinem herze und Josaphat wird eine Jenseitsvision zuteil – allesamt gängige Modelle zur konkret-anschaulichen Hypostasierung von Prozessen, die eigentlich im muot ablaufen. Wenn auf diese Weise Unterschiede gemacht werden, handelt es sich um punktuelle Fortführungen dessen, was in der Legende selbst angelegt ist, aber über sie hinausführen mag. Was schließlich für den Zusammenhang des mære zählt, ist, dass Josaphat sich richtig entscheiden wird; die Perspektive Rudolfs oder der Königstochter werden angesichts des weiteren Handlungs­verlaufs nicht mehr aufgegriffen: Sie spielen für sie ja auch keine Rolle. Rudolfs lêre besteht also dort, wo sie über die Grundsätze christlichen Glaubens hinausgeht, weniger in der Ausgabe allgemeingültiger moralischer Imperative, sondern in der Aufforderung nach einer situationsadäquaten Gewissensprüfung. Die Unterschiede bedingen das, was einer simplifizierenden Vorstellung von Didaxe folgend negativ auffallen muss: Diskrepanzen. Dabei vermeidet es Rudolf durch die kühne Aufbrechung der Erzählung, sich auf einen typischen höfischen Kompromiss einlassen zu müssen,30 der nur mäßig zu kaschieren versucht und dadurch umso deutlicher ausstellt, dass Religiöses und Höfisches in einem sehr schwierigen Verhältnis zueinander stehen. Wo sonst häufig das Höfische »in eine latente Konkurrenz zu einer christlichen Auffassung der Welt«31 tritt, wird hier keine Dichotomie vorgeschrieben, sondern drei nicht auf derselben systematischen Ebene liegende Modelle der Lebensführung, inbesondere der zwischengeschlechtlichen Interaktion (Keuschheit, Ehe, Frauendienst), nebeneinandergestellt, die alle für sich Geltung beanspruchen dürfen, nicht aber beliebig austauschbar sind, und an deren Hierarchisierung auch kein Zweifel besteht. Ambiguität und Verbindlichkeit widersprechen sich demnach nicht.32 29 Dies wird schon in den ersten vier Zeilen des Prologs deutlich (gerade im Vergleich mit dem Beginn von Gottfrieds »Tristan«): Swaz ein man durch guoten muot / ze guote in guotem muote tuot, / des sol man im ze guote jehen, / wan ez in guote muoz geschehen (Rudolf von Ems, »Der guote Gêrhart«). 30 Vgl. Müller, Höfische Kompromisse. 31 Müller, Mittelalter, hier S. 418; Müller äußert diesen Satz mit Blick auf Konrads Text. 32 Vgl. hierzu die Perspektiven des Bandes: Auge und Witthöft (Hg.), Ambiguität im Mittelalter.

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Die Legende des im goldenen Käfig aufgewachsenen Josaphat, die größtenteils am Hofe spielt, ermöglicht es, die komplexen Zwischenstufen, Kompromissbildungen und Ambiguitäten zu thematisieren, die ein christliches Leben in dieser Welt, die hier vor allem eine höfische ist, ausmachen. Bereits Heinz Rupp hatte darauf emphatisch hingewiesen, dazu allerdings den Schluss der Weltabkehr vom Rest der Erzählung abtrennen müssen.33 Dies ist besonders nachhaltig von Helmut Brackert kritisiert worden. Er sieht die »Einheit von Leben in der Welt und Weltabkehr«34 durch die Einheit der lêre und damit letztlich rein formalistisch begründet. Daran anschließend lassen sich christliches Leben in der Welt und Weltabkehr aber auch inhaltlich aufeinander beziehen. Denn der eben festgestellte Fokus auf Differenzierungsleistungen nebst ihrer kommunikationspragmatischen Implikationen prägt auch das mære in seiner Einheit selbst. Der einfache Weltabschied wird am Beispiel eines Ratgebers des Königs Avenier gleich zu Beginn der Legende erzählt (vgl. 8–12); er scheidet konsequenzlos aus der Erzählung aus und spielt für die innerweltlichen Vorgänge keine Rolle mehr. Es wird dabei freilich nicht negativ gewertet, dass hier jemand die Pracht der Welt flieht, die si in süezem sûre treit. (10,28) Ja, vielmehr noch: Es ist ganz deutlich, dass in den Lehrreden Barlaams die Welt, die Gottfried von Straßburg ins Zentrum seines »Tristan« gerückt hatte, ir süezez sûr, ir liebez leit (130,16; vgl. Tristan 60)  – wie es unter wörtlicher Zitierung des »Tristan«-Prologs bei Rudolf heißt35 – sub specie aeternitatis abgelehnt werden muss. Schließlich wartet das gotes rîche, / des süeze solher süeze giht / daz man niht dar inne siht, / des iemanne schade sî (397,38–398,1). Allerdings ist die Legende eine Erzählung fortwährend aufgeschobener oder unterbrochener Weltabschiede, angefangen von Barlaams Weg von seiner asketischen Abgeschiedenheit auf der Insel Sennââr zurück an den Hof (vgl. 36), über Josaphats Verpflichtung, am Hof zu bleiben und nicht mit Barlaam in die ›Wüste‹ zu ziehen (vgl. 164–166), bis hin zu ­Barachias, der schließlich, wenn Josaphat endlich den Hof verlassen kann, gegen seinen Willen am Hof bleiben muss (vgl. 370). Innerweltliche Prachtentfaltung, die auf intrikate Weise der Pracht der in Visionen und Träumen geschauten jenseitigen Wirklichkeit entspricht,36 wird gerade in den Partien, die vom Aufbau eines christlichen Reiches unter Josaphat handeln, nicht unumwunden zurückgewiesen. So kann Josaphat durchaus gote ein münster machen / mit keiserlîchen 33 Vgl. Rupp, Rudolfs von Ems »Barlaam und Josaphat«. 34 Brackert, Dichtung, S. 216. In gewisser Spannung dazu steht Brackerts Idee, analog zur Gliederung der Heilsgeschichte in die Phasen ante legem, sub lege und sub gratia eine Komposition nach den Prinzipien vor der lêre, lêre und nach der lêre anzunehmen (S. 220), gemäß der der Weltabschied nach der lêre situiert wird. Brackert gebraucht den Terminus lêre offensichtlich nicht konsequent auf derselben kategorialen Ebene. 35 In diesem Sinne ambivalent ist auch die Rede von den edeln herzen (336,1). 36 Vgl. Traulsen, Diesseitige und jenseitige rîchheit.

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sachen (340,7 f.) und schließlich auch dem frommen Barachias gewalteclîche schône (370,19) die Krone des Königreichs aufs Haupt setzen  – der materia entsprechend und strikt figurenbezogen konzeptualisiert handelt es sich bei innerweltlicher Prachtentfaltung konsequent um eine, die einem christlichen Herrscher gut ansteht.37 Heiligkeit, die in letzter Konsequenz durchaus transzendenzreligiös begriffen wird, scheint so in dem über 16000 Verse umfassenden Werk nicht als Paradigma, sondern als regulative Idee auf, an deren innerweltlicher Vermittlung im Kontext höfischer Kultur dem Text entschieden gelegen ist. Volker Mertens hat neulich gerade mit Blick auf Pro- und Epilog auf die Nähe zur Predigt hingewiesen.38 Aber auch in der Erzählung selbst finden sich deutliche Hinweise auf die Bedeutung der Predigt. So untersagt Barlaam Josaphats Weltabschied mit dem expliziten Gebot, er solle in der Welt ein bredigære gotes (165,31) sein. Hier reflektiert die Erzählung, die ja ze bezzerunge erzählt wird, ihren Status: Predigen kann nur der, der auch noch in der Welt ist, und dies hat weitergehende Konsequenzen für die Konzeption von Legendenheiligkeit. Beginnend mit dem Auftritt des arzât[s] der worte (13,34) ist es immer wieder das innerweltlich artikulierte wort, das die Menschen erreicht, ihnen in die Seele greift und dazu führt, dass sich der Heilige Geist in ihnen entfalten kann. Diese Worte werden – sowohl in den ausführlichen Lehrreden Barlaams, aber auch in den disputationes, die allesamt Gelegenheit geben, sich je neu und gewissermaßen geschützt der Grundprinzipien des christlichen Glaubens zu versichern – diese Worte werden von einer honicmæz[en] zunge (105,36) vorgetragen: Die süeze, die affektiv wirken soll (Rudolf sagt, das Wort soll wuocherhaft [8,17] werden), ist freilich in den an den meistern der höfischen Literatur geschulten Sprache immer ambivalent, und so bedeutet ja auch der Honig in dem berühmten ­Einhorngleichnis der welte unstætiu süeze (120,8).39 Die gleitende Semantik der süeze  – changierend zwischen der Verheißung einer anderen und der Verführung dieser Welt – bildet in sich zwar eine Spannung ab, die hier aber im Sinne einer affektiv-stimulierenden Ästhetik durchaus produktiv gewendet wird. ›Honig‹ kann sowohl, positiv gebraucht, eine Qualität der Vermittlung von lêre als auch, negativ gebraucht, ein Sinnbild falscher Weltverhaftetheit sein. Da man in der Welt handeln muss und sich unaufhörlich in ihr verstrickt, dient die lêre als Korrektiv, das die beständige Überprüfung der eigenen Handlungen anleitet – wo sie weltfremd ist, nützt sie wenig: daz krenket 37 Vgl. von Ertzdorff, Untersuchungen, S. 204–208, und Brackert, Dichtung, S. 217. 38 Mertens, Langweilige Heilige. 39 Ohly, Süße Nägel der Passion, S. 134, weist darauf hin, dass nur ausnahmsweise im »Barlaam und Josaphat« (verglichen mit dem »Guoten Gêrhart«) Süße dem Weltimmanenten zugesprochen werde. Gerade die Ausnahmen eröffnen aber das Spannungsfeld, in dem (gerade von einem höfischen Publikum) die Qualität von süeze wahrgenommen wurde.

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mir die lêre dîn (307,2). Ein Sünder, der bereut, ist – laut Barlaam – Gott lieber als neunundneunzig Gerechte (vgl. 110). Und neben Marjâ Magdalênâ (110,26) zeigt ja Petrus, der vil reine bote, (110,15) selbst, wie schwierig es ist, nicht auch einmal vom Weg abzukommen. Swer sîne sünde weinet, / ist im herzenriuwe kunt, / sô toufet er sich anderstunt [d. h. zum zweiten Mal, erneut, MB] (106,28–30). Genau dazu will die Erzählung beitragen und dabei aber dirre welte kint dort abholen, wo sie sind: in der Welt. Die dezidierte, im Text explizierte Ablehnung eines Tugendrigorismus ist es auch, die Rudolf die Möglichkeit gibt, im Fall der Verführung durch die syrische Königstochter in Distanz zu seiner Figur zu treten und zu bekennen. süez und rein sind nicht nur die von Rudolf gepriesenen Frauen, sondern auch das Gotteswort, das schließlich sogar Theodas’ Herz berührt und zum Glauben führt (vgl. 331). Wer hier scharfe Trennungen einziehen wollte, schlösse die Tür, durch die er die Rezipienten eigentlich führen will. Da Rudolf weltimmanent kommunikabel bleiben will, kann er, der im emphatischen Sinne auctor – der urhap dises mæres / […] in tiuscher zungen (5,22 f.) – sein will, kein rein honicsüezez mære verfassen, das – für seine Figuren allemal, aber auch in einer strikt theologischen Perspektive – nicht auch ein wenig welthaltige süeze enthält, die einem später freilich einmal sûr werden kann. Höfisch konzeptualisierte Schönheit mit all ihren Ambivalenzen dient dem höheren Zweck und ist als solche gerechtfertigt. Ez ist gar unmügelich / bî viure sitzen einem man, / etswenne rieche ez in an. (111,40–112,2) Wer am Feuer sitzt, der riecht nun einmal irgendwann auch danach. Das Paradox des in der welte wesen / und âne diese welt genesen. (113,35) lässt sich zwar im Weltabschied (etwa eines Märtyrers) realisieren, jedoch ist dieser nicht immer und überall möglich bzw. das geeignete Mittel. Und genau von dem guten christlichen Leben inmitten einer dieses beständig gefährdenden Welt handelt Rudolfs Legende, freilich mit der materia entsprechendem überwiegenden Fokus auf christliche Herrschaft. ›Erbauung‹ findet auch hier in der Thematisierung der Zwischenstufen statt, wobei der adäquate Ausdruck dieser Zwischenstufen ein Text ist, der auf die regulative Idee hinstrebt, ohne die Komplexität der Welt einem Tugendrigorismus unterzuordnen. Die lêre vermittelt die zentralen Glaubensinhalte, je eindringlicher und differenzierter, desto besser. Von der Gewissensprüfung kann sie ­niemanden dispensieren. Wie die Welt auch Ausgangspunkt der Gotteserkenntnis sein kann (ein Gedanke, den Rudolf mit Blick auf den jungen Josaphat gegenüber dem lateinischen Text deutlich ausbaut), so ist auch ein welthaltiger Stil gerade in wirkungsästhetischer Hinsicht durchaus zweckdienlich. Dies hat auch über die eben zitierte Passage hinaus Konsequenzen für das ›self-fashioning‹ Rudolfs. Er muss sich keineswegs ausschließlich in die Pose des reuigen Sünders werfen – auch wenn er das in Pro- und Epilog gattungsgemäß tut  –, sondern kann auch dem Modell-Rezipienten nicht unähnlich und dem Duktus des Textes durchaus entsprechend eine ambivalente Haltung einnehmen.

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Wenn nämlich der finale Weltabschied Josaphats endlich gelingt, so bleiben neben den Barachias und den Fürsten auch die Rezipienten und mit ihnen Rudolf in der Welt zurück: wer gêt mit ime dan? (374,24) Eigentlich niemand – und der Text hat vorher aufwendig ausgeführt, dass Josaphats Weg, selbst wenn man ihn gehen wollte, vielen, ja den meisten doch zu gehen unmöglich ist. Hier kann sich Rudolf nicht ausnehmen, fügt aber an: nû wil ich in niht eine lân / und wil im geselleschaft / mit geselleclîcher kraft / leisten mit dem mære. (375,6–9) imitatio wird so produktionsästhetisch gewendet. Es ist wohl kein Säkularisierungseffekt, der hier greifbar ist, sondern ein Differenzierungsversuch, der nicht auf dem schnellsten Weg aus der Welt hinausführen, sondern sie kraft der schönen Form bessern, und dabei die Mittel dieser Welt ganz bewusst verwenden will.

2. Mit dem »Barlaam und Josaphat« vergleichbare axiologische Irritationen finden sich zwar im etwas später, wohl nach 1246,40 entstandenen »Georg« Reinbots von Durne nicht, aber er beginnt mit einer Klage über den vereitelten Einsatz eben jener Mittel dieser Welt, die im Vorangegangenen identifiziert wurden: Um wie viel schöner und blumiger nämlich hätte Reinbot seine Version der Georgslegende erzählen können, sie tihten unde zieren, / mit lügenen florieren (V. 51 f.),41 wenn man ihn nur gelassen hätte! Seiner Selbstaussage zufolge wurde ihm dies jedoch von seiner Mäzenin, der Wittelsbacher Herzogin Agnes, verboten (V. 54–56).42 Dem aus seinem Sujet erfolgenden, transzendent begründeten Wahrheitsgebot gemäß wählt Reinbot daher einen anderen Zugang: iedoch trouw ichz machen / mit bewærten sachen (V. 57 f.). Man kann diese bewährten Sachen stofflich verstehen, denn die Georgs­ legende ist um 1250 gut eingeführt und die Leitbildfunktion, die dem Heiligen Georg in feudaladligen Zusammenhängen, gerade auch bei den Wittelsbachern, zugesprochen wird, hat sich fest etabliert (sant Georjen, der uns selten ie / in keinen nœten verlie V. 25 f.). Waren die hyperbolischen Beschreibungen seines Martyriums im 6. Jahrhundert noch Grund zum Ausschluss aus dem Kanon,43 40 Der Terminus post quem für den »Georg« wird 1246 angesetzt, da es sich bei der im Prolog (V. 13–16) genannten Hochzeit vermutlich um diejenige von Elisabeth, Tochter der Auftraggeber Otto II . von Bayern und seiner Ehefrau Agnes, mit Konrad VI., dem Sohn Kaiser Friedrichs II ., handelt. Vgl. Seidl, Blendendes Erzählen, S. 81, Anm. 20, sowie Feistner, Historische Typologie, S. 134 f. 41 Zitate im Folgenden im Text nach der Ausgabe: Der Heilige Georg Reinbots von Durne. Nach sämtlichen Handschriften, hg. von Carl von Kraus. 42 Zu Prolog und historischem Entstehungskontext des »Georg« vgl. Seidl, Blendendes Erzählen, S. 81–89, sowie Vollmann-Profe, Prolog. 43 Haubrichs, Sankt Georg, hier S. 49.

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erweist sich der Heilige Georg in der Folge aufgrund seines Adels und seiner militärischen Leistungen als von Grund auf geeignet für eine mediävalisierende Anverwandlung.44 Von Georg zu erzählen erscheint zum Entstehungszeitpunkt des »Georg«, zumal in einem adelig-ritterlichen Wertehorizont, gar nicht strittig. Hier wird vielmehr mit ›bewährten Sachen‹ das Längstgewusste erzählt: Georg ist als edler fürste (V. 75) und schermære (V. 95) werde[r] riterschaft (V. 93) das ideale Interface für eine heilsbewusste höfische Öffentlichkeit. Die bewährten Sachen könnten sich aber durchaus auch, im Sinne der Adäquat­heit und Angemessenheit der Mittel, auf poetische Paradigmen höfischer Literatur beziehen, auf die sich Reinbot, wenn er sie selbst auch nicht immer einlöst, immer wieder diskursiv beruft.45 Seine Rezipienten will Reinbot mittels einer Wirkungsästhetik erreichen, die Stephanie Seidl als ›Faszinationsmodi‹ eines »blendenden Erzählens« (so der Titel ihrer Arbeit) beschrieben hat, das höfische und religiöse Darstellungsformen zu synthetisieren, geradezu ununterscheidbar zu machen sucht. Insbesondere visuelle Phänomene wie die vielfältig eingesetzten Effekte von Glanz und Blendung sollen Affekte von Freude und Hochgestimmtheit evozieren und auf diese Weise eine Atmosphäre der Heilsgeneigtheit schaffen. Dieses wirkungsästhetische Kalkül, das auf Anschaulichkeit abhebt und durch welches das Heilserleben die »Qualität eines sinnlichen Ereignisses«46 gewinnen soll, ist mit der Höfisierung geistlicher Inhalte nur unvollständig erfasst.47 Es steht aber im deutlichen 44 Vgl. zur mittelalterlichen Nobilitierung bzw. Militarisierung Georgs Seidl, Blendendes Erzählen, S. 3 f.; Haubrichs, Sankt Georg, sowie Ders., Labor sanctorum und labor heroum; Ders., Georgslied. 45 Vgl. Seidl, Blendendes Erzählen, S. 87 f. In Bezug auf die Heilsgeschichte(n) der Legende steht somit die ›Wahrheit‹ gar nicht notwendigerweise in einem Spannungsverhältnis zur ›Form‹, sondern konkurrieren vielmehr unterschiedliche Formgebungsverfahren um die Angemessenheit der Darstellung, vgl. Köbele, in diesem Band, S. 11 f. 46 Strohschneider, Georius miles, hier S. 788. 47 Diese Einschätzung nimmt in Helmut de Boors Rede von der »Verritterung des Heiligen« einen Ausgangspunkt, zuletzt auch noch in: de Boor, Die höfische Literatur, S. 362. Vgl. dazu auch den Forschungsüberblick bei Seidl, Blendendes Erzählen, S. 73–78. Häufig im Abgleich mit Wolframs »Willehalm« sieht auch die jüngere Forschung den »Georg« als »hagiographische[n] Text, der sich nur der Darstellungsweise höfischer Epik bedient« (Kleinschmidt, Literarische Rezeption, hier S. 611), als einen »Legendenroman nach höfischer Manier« (Kraß, Eros, hier S. 144) oder sogar als »Legendenroman im Stil des klassischen höfisch-ritterlichen Artusromans« (Haubrichs, Sankt Georg, S. 56). Ebenso wie Gisela Vollmann-Profe auf Grundlage ihrer Prolog-Analyse (Vgl. Vollmann-Profe, Prolog, bes. S. 329) weist auch Feistner die Wolfram-imitatio als Bewertungsgrundlage zurück: »Den einzigen Vorwurf, den man Reinbot machen kann – und darauf laufen letztlich alle Kritikpunkte hinaus –, ist der, eine Legende verfaßt zu haben. Genau das nämlich tat er. Die höfische Zubereitung als solche stellt bloß ein Produkt der gattungstypischen diskursiven Flexibilität dar, auch wenn Reinbot ihre Möglichkeiten tatsächlich bis zur Grenze ausnutzt. [Hervorhebung JW]« Feistner, Typologie, S. 140.

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Kontrast zur, in Zusammenhang mit Rudolfs »Barlaam und Josphat« bereits benannten, Sukzessions- bzw. Substitutionslogik von irdischem und jenseitigem Dasein, wie sie im Weltabschied wirksam wird. In lapidarster Form findet sich das im »Georgslied« formuliert: ferlhiezc er uhereltrhike / keuhan er himilrhike48. Während darin eine Disambiguierung von Welt und eine Umbesetzung immanenter Leitbilder und Lebensformen vollzogen wird, gerät Reinbots Georg dagegen nicht exklusiv »aus der Welt«,49 vielmehr wird bis zuletzt, wenn Georg nach sieben Jahren der Folter abrupt seinen Geist aufgibt, beides präsent gehalten und göttliches Heilswirken in einer forcierten Ästhetisierung zu vermitteln gesucht, die auf eine Über- bzw. Verblendung der Grenzen zwischen Immanenz und Transzendenz abhebt. Dabei mag irritieren, dass anders als in Rudolfs elaborierten Reflexionen keine Hierarchisierung der beiden Register vorgenommen wird, sondern sich diese vielmehr im Bemühen um die adäquate Form gegenseitig stützen sollen. So werden inner- und überweltliche Bezüge etwa in Bezug auf einzelne Motive und Figuren rhetorisch überblendet,50 und hat insbesondere im Hinblick auf die affektive Gestimmtheit Stephanie Seidl darauf hingewiesen, dass »im Konzept der fröude, die hier zugleich aus höfischer Vollkommenheit wie aus göttlicher Auserwähltheit resultiert«, »[h]öfische wie heilige Idealbilder«51 überblendet werden. In der fortwährenden Berufung auf diese alles durchdringende Freude, welche dise hie niden, jene dort oben (V. 931) erfüllt, entwirft Reinbot eine Erzählwelt, deren Grenzen immer wieder im Hinblick auf ein kosmisches Ganzes, eine göttlich imprägnierte Natur aufgelöst werden.52 Dass es sich dabei – im architektonisch-dekorativen Sinne der Verblendung – um Oberflächenphänomene handelt, wird insbesondere an den Wundern deutlich, welche Georg für die höfische Gesellschaft um den Heidenkönig Dacian wirkt. In der Überblendung von Phänomenen des Kultürlichen und Natürlichen verdeutlichen sie die Macht, die Georg über die sinnlich erfahrbare Welt besitzt, doch ist das Erleben dieser Wunder zugleich an bestimmte Wahrnehmungsmodi von Welt, an spezifisch höfische Konzeptualisierungen gebunden. 48 »Georgslied« I,5, zitiert nach Haubrichs, Georgslied, S. 371. 49 Teleologisch vom abschließenden Martyrium her argumentiert Strohschneider, Georius miles, S. 787: »Geori geht einen heiligmäßigen und also jede Umkehr ausschließenden Weg aus der Welt hinaus […]«, er weist aber ebenfalls auf die Weltbezogenheit dieser Bewegung hin: »Geori führt vor, was er hinter sich lässt.« (ebd.) In diesem ›Vorführen‹ scheint indessen Reinbots spezifische Erbauungsästhetik zu liegen. Kritisch zu Strohschneiders These einer handlungslogischen wie funktionalen Zweiteilung des »Georg« vgl. Seidl, Blendendes Erzählen, S. 180–182. 50 Etwa Artus und Maria in den Referenzen auf den Monat Mai, vgl. ebd., S. 175. 51 Ebd., S. 94. 52 Diesen »auffallend häufig und extensiv geführte[n] kosmologische[n] Diskurs« versteht Elke Koch als Kompensationsversuch der Legende, »ihre Sinnkonstitution transzendent zu begründen«. Koch, Erzählen vom Tod, hier S. 125.

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Auf die Aufforderung eines Engels hin umarmt Georg den das Dach seiner einfachen Herberge tragenden Balken, der daraufhin schöner als jeder Baum im Mai erblüht: Der fürste neic dem engel hêr und umbevienc die sûl sâ, als in der engel lêrte dâ, mit sînem starken arme blanc: mêr den zwelf ellen lanc wuohs diu sûl mit esten breit und wart ein boum sô wol gekleit, daz der mei ze keiner zît, weder vor noch sît, keinen boum gekleite nie: (V. 2016–2025)

Diese Wunder erfolgen also im Sinne Augustins nicht contra, sondern supra naturam,53 doch zeigt sich in der fortwährenden Rekurrenz auf eine Rhetorik des Paradiesisch-Amoenen diese verwandelte Natur von vornherein im Wahrnehmungsraster höfischer Ästhetisierung, als Phänomen weltimmanenter Schönheit. Auf Anfrage reproduziert Georg später dieses Wunder und lässt am Hof des Dacian vierzehn Sessel in derselben virtuellen Natürlichkeit wie den Dachträger üppig erblühen, reht als si dô tâten, / do si würze, loup hâten (V. 5583 f.). Diese auffällige Verlagerung der Heilstätigkeit Georgs nach innen, in die kulturelle Sphäre geschlossener Räume und ihrer Einrichtungsgegenstände, macht deutlich, dass die Grenzen der höfischen Welt nicht überschritten oder transzendiert werden, sondern diese vielmehr auf eine göttlich durchwirkte Natur hin durchlässig gemacht wird:54 der boum was des hûses dach (V. 2027), das man zugleich vor lauter Blumenpracht gar nicht mehr erkennen kann – Natur und Kunst, florale Dekoration und Tektonik gehen untrennbar ineinander über. Solche Phänomene der Ununterscheidbarkeit präsentieren sich gerade nicht als entdifferenzierendes Aufgehen in der Transzendenz, denn die ›tragende Konstruktion‹ bleibt der Weltbezug. Sie sind vielleicht als Effekte einer ästhetischen Säkularisierung zu beschreiben, die insofern nicht als eine ›höfisierende‹ Über53 Augustinus, De civitate Dei, 21,8,2, in: PL 41, Sp. 721 f. 54 Vgl. zur »dezidiert höfische[n] Note« dieser Wunder Feistner, Typologie, S. 141. Georg zaubert »eine artushafte Maienpracht herbei«, Müller, Höfische Kompromisse, S. 153. Den Befund Jan-Dirk Müllers, die Wunder würden »weniger die Gebrechen der Welt [heilen], als daß sie die Welt zeitweise in eine höfische verwandeln« (ebd.), wäre im Kontext dieser Untersuchung dahingehend zu modifizieren, dass diese Wunder überhaupt nur im höfischen Perzeptionsmodus erfahrbar sind. Vgl. auch die »Schöpfungspredigt« Georgs: heide und walt er kleidet / mit sehser hande varwe schîn; / er tuot singen diu vogelîn / in maniger hande stimme (V. 3886–3889).

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tragung ins Weltliche zu denken ist, als der transzendente Geltungsanspruch ungebrochen bleibt.55 Von diesem Schwelgen in Welthaltigkeit nämlich bleibt die von Reinbot eingangs benannte religiöse Wahrheit auffällig unbeeinträchtigt. Von einer Rhetorikskepsis oder einem Ringen mit der Darstellbarkeit von Transzendenz findet sich keine Spur, das Heilige erscheint vielmehr in hohem Maße verfüg- und erzählbar. Dies macht sich nicht zuletzt daran bemerkbar, dass es intratextuell stets auf höfische Rezeptoren trifft, die seinen vielfältigen Erscheinungsformen freudig geneigt – eben geblendet – begegnen. So manifestiert sich der Erfolg dieser Wirkungsstrategien in fortwährenden Konversionswellen, wobei die Affizierungstechnik auch erzählerisch zur Anwendung kommt, denn Georgs Wundertaten werden, ebenso wie die Berichte von seinen Heidenkämpfen gegen den Fürsten Tschofreit den Salneckære, im intradiegetischen Bericht immer schon vermittelt präsentiert und strukturieren so den Handlungsverlauf des Martyriums im zweiten Teil des »Georg«.56 Indem die von Georg bekehrten Konvertiten seine Wundertaten ([a]ller wunder wunder, V. 4841) immer wieder aufzählen, wird das Wirken Georgs verstetigt, denn stets evozieren die Berichte seiner Taten erneut eine Freude, die alles Zeitliche überdauert. Getrübt würde diese Freude allenfalls, wenn die Wirkungsabsicht Reinbots die Rezipienten zwar erreichen würde, aber nicht in der adäquaten Weise, wenn diese also nicht erbaut würden. Solche axiologischen Irritationen sind nur schwer zu rekonstruieren, es ist aber in der Forschung verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass die überbordende höfische Heilsfreude insbesondere auf den berückenden Georg gerichtet ist, den bluomen manne schœne (V. 1524)57 und »Ritter wie aus dem Bilderbuch«.58 Das Erstaunen darüber, dass ein Heiliger derart schön sein kann, scheint jedoch aus einer säkularisierten Perspektive auf das Heilige zu erwachsen, während die Möglichkeit, dass die physisch schöne Form für die mittelalterliche Heilsgemeinschaft selbst eine Versuchung darstellen könnte, sich lediglich dann andeutet, wenn die Glanz-Effekte ästhetischer 55 Vgl. Köbele und Quast, Perspektiven. In ihrem Beitrag zum Verhältnis von Minne- und Gottesdienst im Kreuzlied hat im selben Band Susanne Reichlin in prägnanter Form die Asymmetrien der Begrifflichkeit von Säkularisierung wie auch die der Rede von Ästhetisierung impliziten Teleologien hervorgehoben. Für die von ihr herausgearbeiteten De- und Resakralisierungs­dynamiken schlägt Reichlin den Begriff ›Desemantisierung‹ vor. Im Anschluss daran könnte man in Bezug auf die hier verhandelten Effekte von ›Poly­ semantisierungen‹ sprechen. Vgl. Reichlin, Interferenzen. 56 »Reinbot reiht die ›Geschichten‹ des Ritterheiligen und des Märtyrers nicht als zwei Phasen der Vita aneinander, sondern verschachtelt sie durch Erzählungen in der Erzählung. Der gattungskonstitutive Ausschluss von Erzählalternativen wird somit gattungsimmanent unterlaufen.« Koch, Erzählen vom Tod, S. 128. 57 Vgl. dazu Kraß, Eros, S. 153. 58 Müller, Höfische Kompromisse, S. 153.

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Erbauung nicht ganz aufgehen und die damit angestrebte Disambiguierung des Schönen nur unvollkommen gelingt. So folgt die Wunderheilung der Königin Allexandrîna den zahllosen Vorbildern der Märtyrerinnenlegende darin, dass diese makellos und revirginisiert aus der Brustfolter hervorgeht,59 doch wird die Wiederherstellung ihres verstümmelten Körpers hier durch eine innige Umarmung des Heiligen ausgelöst (Der markîs nam die keiserîn / und druht si an den lîp sîn. V. 4411 f.). In der anschließenden Beschreibung ihrer jungfräulichen Brüste wie auch im Vergleich mit einem Sperberweibchen wirft der Erzähler einen dezidiert höfischen Blick auf einen wohlgeformten und wunderbar verjüngten Körper, der weniger geheiligt wurde, als sich vielmehr gemausert hat:60 von dem wort der jungen sâ die brüste entsprungen, der süezen und der klâren, als si von zwelf jâren wærn gewahsen, und niht mê; und was heil reht als ê. hie stuont mîn frou, diu keiserîn, als ein mûzersprinzelîn,61 sô ez in vollem kropfe stât und niht hungers mâle hât, und eben wol geslihtet. (V. 4441–4451)

Diese Darstellung der Königin, eine »›Zutat‹ Reinbots«,62 schwankt merkbar zwischen Wahrnehmungsmustern der religiösen (Heilung) und der höfischen Sphäre (Jagd), so dass die Honigsüße der Beschreibung vielleicht doch ein wenig klebrig gerät.63 Was den ästhetischen Gebrauch der Mittel dieser Welt angeht, 59 Vgl. Weitbrecht, Entblößung. 60 Diese Passage wird in der Forschung meist übergangen, einzig Markus Schmitz weist – aus der Perspektive auf ihre Streichung in der spätmittelalterlichen Prosafassung – darauf hin, dass sie einen erotischen Subtext aufweist: »Hinter dieser Falkenmetapher verbirgt sich ein Verweis auf die Minneliteratur. Reinbot deutet somit an, dass die geheilte Alexandria mit ihren neuen Brüsten erotische Ausstrahlung besitzt.« Schmitz, legent, S. 340. 61 In der Handschrift: gemússet velkelin (S 430, Zentralbibliothek Zürich, fol. 112v, V. 4434), vgl. Schmitz, legent, S. 340. 62 Seidl, Blendendes Erzählen, S. 138. 63 Die Brisanz der zugrundeliegenden Beziehungskonstellation ist natürlich gesehen worden, so weist Andreas Kraß richtig darauf hin, dass Reinbot die Georgslegende »wie eine erotische Dreiecksgeschichte« (Kraß, Eros, S. 159) erzählt. Dies ist allerdings keine konsequente Höfisierung in erster Instanz, da die Dreieckskonstellation als »apostolic love triangle« (Rhee, Early Christian Literature, S. 132) in christlichen Missionierungsnarrativen seit den apokryphen Apostelakten angelegt ist, vgl. Weitbrecht, Entblößung. Die Überblendung von weltlicher und religiöser Liebessemantik ist in der Legendarik gut

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lassen sich Frauen- und Gottesdienst, Minne und Religion offenbar nur schwer in Einklang bringen.64 Sind dies nun aporetische Ansprüche, die erst retrospektiv aus abstrahierter Perspektive sichtbar werden, oder positioniert sich Reinbot, vergleichbar mit Rudolf, selbst innerhalb dieser Problemlage? Eine weitere Passage lässt darauf schließen, dass er sich der potentiellen Gefahr der Schönheit, die dieses rôzen kint (V. 4807) verströmt, durchaus bewusst ist. Der Erzähler beschreibt Georgs Glanz als dem Morgenstern vergleichbar, und räsoniert: hêt in sô schœnen dâ gesehen ein nunne von Gîselvelt: an im lac sô schœner gelt, dazs ir metten hêt vergezzen; (V. 5328–5331)

Dass eine Nonne vor lauter männlicher Schönheit die Messe vergessen könnte, ist sicherlich problematisch, und doch ist, wenn man die Anspielung auf das Benediktinerinnenkloster Geisenfeld in Verbindung mit »dem schwankhaften Motiv der verliebten Nonne«65 lediglich als ironisches Signal liest, nur eine Seite dieser Einlassung Reinbots erfasst. Denn weiter heißt es: wær er vor ir gesezzen alsô minniclîcher, si wære verre rîcher worden ir muotes denn alles ir guotes. (V. 5332–5336)

Es ist erst die vermeintliche Versuchung durch die ›schöne Form‹, die erbaulich wirkt und letztlich zum Göttlichen hinführt. Die aufgerufene Spannung zwischen höfischer (materiell ausgerichteter) und monastischer (spirituell ausgerichteter) Sphäre wird somit, und das kann man durchaus ironisch verstehen, verkehrt, denn in den Augen Reinbots würde offenbar den wohlhabenden Nonnen aus Geisenfeld ein erbaulicher Blick auf den schönen Georg ganz gut tun. Die Weltbezogenheit bleibt in der gleichermaßen pracht- wie wundervoll eingerichteten höfischen Sphäre des »Georg« hingegen unhinterfragt.66 etabliert und wird bei Reinbot zusätzlich auf adlig-höfische Zusammenhänge übertragen. Auch hier liegt somit die vermeintlich radikale ›Höfisierung‹ auf der Ebene des discours bzw. im Gebrauch der Mittel dieser Welt. 64 Vgl. Müller, Mittelalter. 65 Kraß, Eros, S. 159. 66 Das kann man, ohne damit der ästhetischen Unternehmung Reinbots ganz gerecht zu werden, auch als eine Reaktion auf den heilsinstitutionell prekären Status Ottos II . lesen. Dieser wurde, bereits 1237 schon einmal exkommuniziert, nach der Hochzeit seiner Tochter mit dem Kaisersohn erneut gebannt. Vgl. dazu ausführlich Vollmann-Profe,

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3. Während also Rudolf deutlich macht, wie er mit der Welthaltigkeit legendarischen Erzählens ästhetisch verfährt und dabei die Möglichkeiten unterschiedlicher Medialisierungsstrategien auslotet, verlässt sich Reinbot weitgehend auf seine Effekte von Glanz und Blendung. Diese spezifische Form der Welthaltigkeit führt im »Georg« selbst an keiner Stelle (auch nicht in den beiden zuletzt vorgestellten Problemanzeigen) zu Geltungsverlusten, scheint aber letzten Endes auch an den Wirkungsstrategien der Heiligenlegende vorbeizugehen. In den auf Reinbots »Georg« folgenden Bearbeitungen und Prosaauflösungen der Legendare nämlich wird die ganze Pracht wieder zurückgenommen, um sich wieder auf das Wesentliche, das Martyrium bzw. wenig später den Drachenkampf, zu konzentrieren.67 Riskant – oder vielmehr: inadäquat kann ein derart blendendes Erzählen vom Heiligen somit allenfalls in geistlich-monastischen Kontexten erscheinen. Im Kontrast wird so aber zugleich die Spezifik dieser beiden Erzählungen vom Höfisch-Heiligen deutlich: Für Rudolf wie für Reinbot stellt die ›schöne Form‹ weniger eine Versuchung als vielmehr eine Herausforderung dar, der sich beide – wenn auch in der Wahl der Mittel durchaus unterschiedlich – mit einer gewissen Lust stellen.

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Maximilian Benz

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Bruno Quast (Münster)

Religiöse Erbauung, höfisch. Lutwins »Eva und Adam« 

Der Überlieferung nach befindet sich in der Grabeskirche zu Jerusalem in der griechisch-orthodoxen Adamskapelle unter der Golgatha-Kreuzigungsstelle das Grab Adams, in dem sich der Schädel des ersten Menschen befunden haben soll. Origenes führt den Namen Golgatha, Schädelstätte, denn auch auf den dort begrabenen Schädel Adams zurück. Die Legende, dass Adam dort begraben wurde, wo später das Kreuz Christi aufgerichtet worden ist, lässt sich bis ins 3. Jahrhundert. zurückverfolgen. Sie geht auf das Theologumenon 1 Kor 15,22 zurück: »Denn wie in Adam alle sterben, so werden in Christus auch alle lebendig gemacht werden.«1 Erst im 7. Jahrhundert ist eine Ortsüberlieferung zur unmittelbaren Nähe von Adamsgrab und Kreuzigungsstätte in Jerusalem nachweisbar, erst im 7. Jahrhundert ist die Formierung einer konkreten Ortstradition, die sich aus dem abstrakten theologischen Konzept über den Weg der Legendenbildung speist, abgeschlossen.2 Das fromme Gedenken konkretisiert sich in Gestalt einer architektonischen Figuration. Das Mittelalter hat das heilsgeschichtlich aufgeladene Ensemble aus Adamsgrab und Kreuz Christi bekanntlich bildmächtig in Szene gesetzt. Häufig findet sich auf Tafelbildern unter dem Kreuz ein Totenschädel abgebildet, der Schädel Adams. Das Kreuzholz verbindet Adamsschädel mit Christuskörper. Auf einigen Darstellungen fließt das erlösende Blut Christi über den Schädel Adams, so etwa in Fra Angelicos berühmtem Fresko »Kreuzigung mit Maria und Heiligem Dominikus, Golgatha­berg und Schädel Adams« im Dominikanerkloster San Marco, Florenz.3 Die mittelalterliche Kreuzholzlegende nun liefert die Erzählung, die einen kausalen Zusammenhang zwischen Adamsgrab und Kreuzesholz stiftet. Kreuzholzlegenden, die auf frühchristliche Zeit zurückgehen und in unterschiedlichsten Versionen vorliegen,4 erzählen im Kern davon, wie Seth, der dritte Sohn Adams und Evas, dem sterbenden Vater zu Hilfe eilt. Er wird beauftragt, im Paradies ein Heilmittel zu besorgen. Ein Engel gibt Seth von dem Holz, an 1 Die Heilige Schrift des Alten und des Neuen Testaments. 2 Vgl. Busse und Kretschmar, Jerusalemer Heiligtumstraditionen, S. 84–87. 3 Vgl. Didi-Huberman, Fra Angelico, S. 84, 95 und 238; Hood, Fra Angelico. 4 Vgl. Meyer, Die Geschichte des Kreuzholzes vor Christus.

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dem Adam gesündigt hat. Wenn der Zweig Frucht bringe, werde Adam gesunden, so die Auskunft des Engels. Den Tod Adams kann der heilbringende Zweig allerdings nicht aufhalten. Nach Adams Tod wird der Zweig aus dem Paradies auf Adams Grab gepflanzt. Aus ihm entsteht ein großer Baum, der bis zu den Zeiten Salomons überlebt. Das Baumholz selbst durchlebt nun eine wechselvolle Geschichte, es will sich nicht als Bauholz fügen, schließlich legen die Bauleute Salomons es als Steg über einen See. Die Königin von Saba, die den weisen König aufsucht, erkennt, dass es sich um das Holz handelt, an dem der Erlöser der Welt hängen wird, dessen Tod dem Reich der Juden ein Ende bereiten wird. Sie weigert sich über das Holz zu gehen, kniet nieder und betet es an. Wohl am eindrücklichsten hat Piero della Francesca diese Szene in der Chorkapelle zu Arezzo dargestellt.5 Salomon lässt das Holz tief vergraben, steht es doch mit dem Untergang des jüdischen Reiches in Zusammenhang. Nach langer Zeit wird ein Teich zu kultischen Zwecken an dieser Stelle angelegt. Er dient dazu, die Opfertiere zu waschen. Nicht zuletzt erfahren Kranke dort Heilung, wenn sie mit dem Wasser in Kontakt kommen. Als das Leiden Christi naht, schwimmt das Holz empor. Aus ihm wird das Kreuz bereitet. Die Kreuzholzlegende der »Legenda aurea«, sie ist dort Teil der Kreuzfindungslegende, zitiert darüber hinaus eine weitere Erzählvariante der Kreuzholzlegende aus dem »Evangelium Nicodemi« (Mitte 4. Jh.), die im Rahmen der Höllenfahrt Christi situiert ist.6 Als Adam erkrankte, habe Seth am Tor des irdischen Paradieses Öl vom Baum des Mitleidens erbeten, um seinen Vater damit zu salben. Stattdessen habe er einen Zweig erhalten, um ihn auf dem Berg Libanon zu pflanzen. Und sogar eine dritte Variante der Kreuzlegende findet sich in der »Legenda aurea«, die hier allerdings nicht weiter von Interesse ist. Die Literatur erweist mithin einen Sinn für Pluralisierung, die Erzählvarianten der Kreuzholzlegende stehen in der »Legenda aurea« nebeneinander, ohne dass auch nur ein Versuch unternommen würde, die Erzähltraditionen zu harmonisieren. Ganz ähnlich sieht es in Lutwins »Eva und Adam«7 aus, entstanden wohl eher im 13. als 14. Jahrhundert, unikal in einer illustrierten Handschrift aus der Mitte des 15. Jahrhunderts überliefert,8 einer erzählerischen Adaptation der 5 Vgl. hierzu: Maetzke und Bertelli (Hg.), Piero della Francesca; Ginzburg, Erkundungen über Piero, hier bes. S. 52–59. 6 Jacobus de Voragine, Legenda aurea / Goldene Legende, hier S. 939 f. 7 Halford (Hg.), Lutwin’s Eva und Adam. Im Folgenden fortlaufend im Text zit.: L.  Zum Vergleich wurde die ältere Ausgabe hinzugezogen: Lutwins Adam und Eva. Hofmann und Meyer (Hg.). Ich ersetze im Anschluss an die Edition von Halford den eingebürgerten Titel »Adam und Eva« durch die handschriftennahe Umstellung »Eva und Adam« – Hie hat Eua und Adam ein ende (L, 3939). 8 Halford, Illustration and Text.

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apokryphen »Vita Adae et Evae«9 aus den ersten nachchristlichen Jahrhunderten (entstanden wahrscheinlich 2.–4. Jahrhundert.). Lutwin verknüpft die Vita, seine Hauptquelle, mit einer Kreuzholzlegende, und zwar in einzigartiger Weise.10 Denn ein Nebeneinander der Varianten, wie es sich in der Kreuzfindungslegende der »Legenda aurea« findet, wird hier in ein motiviertes Nacheinander überführt.11 Seth soll dem dahinsiechenden Adam vom paradiesischen Öl der Barmherzigkeit bringen. Er erhält vom Cherubim einen Ölzweig, der zu Adams Haupt gesteckt bzw. nach Adams Tod neben Adams Haupt eingepflanzt wird. Die Frucht dieses Ölzweigs, so verspricht der Engel, werde die Auferstehung Adams bewirken. Die Nachkommen Adams kümmern sich umsichtig um den gepflanzten Zweig, wässern und düngen ihn, stets von der Hoffnung getrieben, es würden sich eines Tages Früchte finden. Nach vergeblicher Baumpflege begibt sich Seth erneut zum Paradies. Diesmal kommt ihm der Engel bereits entgegen. Er trägt einen Zweig mit Frucht, und zwar genau jenen Zweig vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, der noch den halben Apfel trägt, in den Eva und Adam hineingebissen haben. Mit diesem Zweig, der indes nicht eingepflanzt wird, geben sich die Nachkommen Evas und Adams zufrieden. Der Engel sichert zu, dass von beiden Zweigen das Heil komme. Der Apfelzweig wird streng gehütet und gelangt schließlich in die Hände Noahs, der ihn in der Arche aufbewahrt. Die Taube, die Noah fliegen lässt, um zu erkunden, ob die Wasser der Sintflut bereits abgeflossen sind, kehrt schließlich zurück mit einem Ölzweig, wie zu erwarten mit einem Zweig vom Ölbaum an Adams Grab. Die beiden Zweige werden wieder zusammengeführt. Beide Zweige, heißt es, trennen die Todesverfallenen vom Tode. Fast hat man den Eindruck, dass Lutwin die Sintflutgeschichte, mit der seine Erzählung endet, allein zum Zweck inseriert, die Zusammenführung der Zweige in der Arche erzählen zu können. Das Heil kommt von beiden Zweigen, offenbar ist es so, dass nicht etwa der eine Zweig durch den anderen ersetzbar ist oder ein Zweig allein das Heil bewirken könnte. Lutwin ist an der weiteren Geschichte der Zweige und damit an einer Darstellung des Leidens Christi am Kreuz nicht interessiert, er hat mit den in der Arche einander zugeführten Zweigen offenbar etwas anderes im Sinn. Lutwins »Eva und Adam« ist ein schwer klassifizierbarer Text. Lutwins Dichtung will Erzählung sein, Kommentar, erhebt sich aber auch zum Gebet. Der Text 9 Vita Adae et Evae. Hg. und erl. von Meyer, hier S. 221–250. Im Folgenden fortlaufend im Text zitiert: Vita. Eine Übersetzung der »Vita Adae et Evae« bietet: Merk und Meiser, Das Leben Adams und Evas. Im Folgenden fortlaufend im Text zitiert: VitAd. – Zur deutschen literarischen Adamstradition vgl. Murdoch, Das deutsche Adambuch. 10 Vgl. Hofmann und Meyer, Lutwins Adam und Eva, S. 130. 11 Köbele, Registerwechsel, sieht hier wie insgesamt für Lutwins Erzählung sinnstrukturelle Doppelungen am Werk.

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bietet eine höfisch imprägnierte Wiedererzählung der Vita,12 die Brian Murdoch zu der Schlussfolgerung verleitete, Lutwin habe den apokryphen Text der Vita säkularisiert.13 Die religiöse Erbauung, die der Text zweifelsohne bewirken will, setzt also nicht zuletzt auf eine Höfisierung des Stoffes, was zwangsläufig Spannungen und Brüche evoziert. Aber offenbar sind diese Brechungen gezielt gesetzt. Die Höfisierungstendenzen der apokryphen Vita, wie sie sich bei Lutwin abzeichnen, sollen in einem ersten Schritt nachverfolgt werden, und zwar unter der Maßgabe folgender Fragestellung: Geht die Erzählung Lutwins ein Risiko ein, wenn sie die »Vita Adae« mit höfischen Motiven und Werte­diskussionen unterfüttert? Sind die unterschiedlichen Axiologien, die apokrypher Erzählung und höfischer Applikation zugrunde liegen, ineinander übersetzbar? Eine sich daran anschließende zweite Überlegung sucht die Frage nach dem Risiko auf die Besonderheit des Erzähltextes zu beziehen, nämlich auf die Erweiterung der »Vita Adae et Evae« um eine offenbar singuläre Kreuzholzlegende und in diesem Zusammenhang die von Lutwin gewählte Konstellation zweier Zweige, die beide zusammen Heil versprechen. Hier steht näherhin das Verhältnis von ästhetischer delectatio und spiritueller aedificatio zur Debatte.

1. Gottes- und Minnedienst Ich paraphrasiere zum besseren Verständnis zunächst in aller gebotenen Kürze die Handlung des Erzähltextes. Lutwin erweitert die apokryphe »Vita Adae et Evae« nicht zuletzt dadurch, dass er eine Art Rahmen spannt. Die »Vita Adae et Evae« setzt ein mit der Vertreibung aus dem Paradies, Lutwin ergänzt sie zu Beginn um die Erschaffung der Welt und die im Paradies angesiedelte Versuchungsgeschichte. Auch das Ende der alttestamentlichen Apokryphe baut er aus, indem er die gerade beschriebene Kreuzesholzlegende anfügt, ohne diese indes auserzählen zu wollen. Nach der Vertreibung aus dem Paradies sind Eva und Adam gezwungen, Kulturtechniken zu entwickeln, um zu überleben. Um die Gnade Gottes zu erwirken und damit in erster Linie erneut in den Genuss paradiesischer Speise zu kommen, unterbreitet Adam Eva den Vorschlag, Buße an den Tag zu legen. Adam schickt sich an, vierzig Tage im Jordan zu büßen, bis zum Hals im Wasser stehend, Eva verordnet er eine vierunddreißigtägige Buße im Tigris, auf einem Stein stehend, ebenfalls das Wasser bis zum Hals. Satan verstellt sich, nimmt die Gestalt eines Engels an und überredet Eva, die Bußleistung abzubrechen. Die Engel hätten von Gott erbeten, dass sie nicht länger büßen 12 Vgl. Mecklenburg, Der Sündenfall als Glücksfall, hier S. 83, weist nach, dass die Höfisierung auch den Erzählduktus bestimmt. 13 Vgl. Murdoch, Eve’s Anger; Ders., Art. ›Lutwin‹, hier Sp. 1089.

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müsse. Eva wird auf diese Weise wiederholt verführt. Satans Versuch, auch Adam zu verführen, scheitert. Adam widersteht, seine Buße erstreckt sich exakt auf die von ihm angesetzten vierzig Tage. Nach vollzogener Buße erliegt Adam dem Zwang der Minne. Eva wird schwanger. Sie zieht – ganz im Gegensatz zu Adam – die sexuelle Liebe dem Paradies vor. Im Zorn trennt sie sich daher von Adam und wendet sich gen Westen, während Adam im Osten verbleibt. Gegenüber der apokryphen »Vita« motiviert Lutwin diese Trennung neu. In der »Vita Adae et Evae« entfernt sich Eva wegen der doppelten Gebotsübertretung aus Scham. et coepit ambulare contra partes occidentales et coepit lugere et amare flere cum gemitu magno. et fecit ibi habitaculum habens in utero foetum trium mensium. (Vita, 18,2 f., S. 227) (»Und sie ging gegen Westen und fing an, zu trauern und mit großem Seufzen bitter zu weinen. Und sie machte sich eine Behausung, während sie mit einer Leibesfrucht von drei Monaten schwanger war.« [VitAd, 18,2 f.])

Evas Klagen, nicht zuletzt im Kontext der bevorstehenden Geburt, erreichen Adams Ohr, er bricht nach Westen auf. Eva bereut ihren Schritt, die Minne dem Paradies vorgezogen zu haben. Unterstützt durch Engel, bringt die reumütige Eva Kain zur Welt. Es folgen die bekannten Ereignisse, die Geburt Abels, dessen Ermordung durch Kain und schließlich die Geburt Seths. Das Alter und der bevorstehende Tod Adams nähren dessen Bitte an Seth, Öl der Barmherzigkeit aus dem Paradies zu besorgen, um seine Schmerzen zu stillen (L, 2592). Es folgt nun die geschilderte singuläre Kreuzholzlegende mit den beiden Zweigen, die Erlösung versprechen. Gleich zu Beginn des Prologs erfolgt bei Lutwin eine deutliche Referenz auf Wolframs »Parzival«-Prolog: Wer künde mich do gerouffen / Do mir gewühs nie hor? (L, 8 f.)14 Indem der Prolog-Sprecher sich von Torheit abwendet (gouches schin, L,  4), folgt er einer bekannten dichotomischen Logik: Wer nach gottes leben wil, / Der müsz ouch der welte spil / Lossen, als ich mich versynne (L, 37–39). Begründet wird dieses entscheidungsträchtige Ethos mit dem Gebot Jesu nach Mt 6,24: Wann nieman mag zwein heren wol / Dienen (L, 47 f.). Programmatisch wendet sich der Sprecher gegen der welte spil. Mit dieser Absage an die Welt geht eine erste Namensnennung des Autors einher: Der dis büch hat gedihtet, / Mit rymen wol berihtet (berihtet: schön ausgestattet, BQ ). / Er ist Lutwin genant (L, 57–59). Eine zweite Namensnennung – Aber ich, armer Lutwin (L, 1254) – findet sich quasi als autorisierende Unterschrift nun ausgerechnet dort, wo die Weltabsage des Prologs durch eine affirmativ an Walther von der 14 Vgl. Wolfram von Eschenbach, Parzival, I,26 f.: wer roufet mich dâ nie kein hâr / gewuohs, inne an mîner hant?

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Vogelweide orientierte höfische Wertediskussion performativ ausgehöhlt wird. Diese schließt sich an die zweite Versuchung der im Tigris büßenden Eva durch den engelsgleichen Teufel an. Der Wankelmut Evas – Wanckel (L, 1103) – und die Verstellung des Teufels – valscheit (L, 1149) – geben die Stichwörter für die Ausführungen zum angemessenen höfischen Verhalten von Mann und Frau. In einem ersten allgemeinen Teil wird der Wankelmut der Frauen auf Evas Verhalten zurückgeführt, Frauen erben deren Wankelmut – Wanckel erbet die fröwen an / Von Eua (L, 1103 f.). Sie hören auf den falschen Rat der Männer und achten nicht auf die negativen Konsequenzen, die ein solches Verhalten zeitigen kann. Diesem allgemeinen Teil schließt sich zunächst eine direkte Anrede der höfischen Damen an, die Walthers Lied Ir reiniu wîp, ir werden man15 regelrecht zitiert: Doch, werden und reine wip, / Tragent in zühten myner lip / Mit küsche und stetikeit (L, 1139–1141). Der Warnung vor Beschädigungen durch falschen männlichen Rat folgt die Empfehlung (geraten, L, 1173), falls die höfische Dame auf einen Mann nicht verzichten wolle – Ob su mannes nit mag entwesen (L, 1164) –, solle sie sich einen beständigen Mann erwählen – Die kyese einen steten man (L, 1165) –, sofern es einen solchen gebe, der ihr aufrichtig treu sei – Der one valsche getruwe sy (L, 1167). Reine wip (L, 1171) sollen sich an reine man (L, 1171) wenden und sich von den bösen (L, 1172) abwenden. Dem Appell an die reinen Frauen folgt sodann die gleichfalls Walthers Lied zitierende eindringliche Adressierung edler Ritter: Ir werdent man alle gliche / Vernemment mich tugentliche, / Einen demütigen rat, / Der von kindes hertzen gat (L, 1174–1177). So wie die höfischen Damen vor männlicher Verstellung gewarnt werden, ermahnt Lutwin die Männer, sich bei den Frauen nicht auf Äußerlichkeiten zu verlassen: Prüffent nit ir clores vele, / Noch ir goltvarwes hor, / Jr hende, noch ir helse clor, / Jr mündelin, noch ir ougbrawen, / Sunder ir sollent spehen, / Wo ir vindent ein wip, /  Die mit küsche zier iren lip (L, 1185–1191).

Neben der von Walther entliehenen Adressierung der edlen Ritter und der reinen Frauen kommt auch die Wertschätzung innerer Tugenden, wie sie der Sänger Walthers im genannten Lied präsentiert, in dieser Passage besonders zum Tragen, die im Übrigen aus nachvollziehbaren Gründen überdies Ähnlichkeiten zum huote-Exkurs des »Tristan« aufweist.16 Lutwin ahmt zudem die Absage des Sängers an den gesellschaftlich geforderten Reichtum der Dame in Walthers »Herzeliebez vrouwelîn« minutiös nach. Bei Walther heißt es:17 15 Walther von der Vogelweide, Ir reiniu wîp, ir werden man (L 66,21), in: Ders., Leich, Lieder, Sangsprüche, S. 147–149. 16 Vgl. Gottfried von Straßburg, Tristan, V. 17817–18114. 17 Walther von der Vogelweide, Herzeliebez vrowelîn. Im Text fortlaufend nach der Lachmannschen Zählung zitiert.

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dû bist schœne und hâst genuoc, / waz mügen si mir dâ von gesagen? / Swaz si sagen, ich bin dir holt / und nim dîn glesîn vingerlîn vür einer küneginne golt. (V. 50,9–12)

Bei Lutwin klingt das anspielungsreich so: Ob uwer einer sölle nemmen / Ein wip, die ime solle gezemmen, / So fragent nit wo das güt sy [fragt nicht nach dem Reichtum, Anmerkung BQ]. / Ob ir armüt wonet by, / Hatt su danne reinen müt, / Den nemment fur grosz güt. (L, 1194–1199)

Das Ich des Liedes zieht bei Walther das gläserne Ringlein der vrowelîn dem Goldring einer Königin vor (L 50,12), Lutwin appelliert in diesem textuellen Horizont an die Rezipierenden, lieber auf die Lauterkeit der Frau (reinen müt) als auf großen Reichtum zu setzen (grosz güt). Auf diese Weise orientiert sich diese Wertediskussion zwar an der zweiten Versuchung Evas, sie löst sich jedoch in der beschriebenen affirmativen Entfaltung höfischer Ethik von der religiösen Vorgabe weitestgehend ab. Die Einlassung zur höfischen Wertediskussion versieht Lutwin mit seinem Namen. Von einer Weltabsage, wie sie eingangs im Prolog noch dezidiert gefordert wird, ist hier nichts mehr zu vernehmen. Und selbst die im Horizont von Walthers »Herze­ liebez vrowelîn« erfolgende Absage an die Äußerlichkeiten bei Frauen kommt in einer Figur der Paradoxierung nicht ohne Aufblähen des rhetorischen Decorum, des Schönheitstopos, aus. Weltverneinung im Prolog auf der einen Seite, deren Propagierung freilich auf der anderen Seite nicht ohne explizite Hinweise auf höfische Werte auskommt, also paradoxal in Weltgewinn umschlägt: In dieses Spannungsverhältnis schreibt sich Lutwin buchstäblich mit seinem Namen ein. Lutwin nimmt im Zusammenhang der Wertediskussion die durchaus potentiell zwiespältige Position des Ratgebers ein, die in der Versuchungsgeschichte der als Engel verkleidete Teufel innehat. Dessen falscher Rat (valschen rote, L, 1065) wird durch Lutwins demütigen rat, / Der von kindes hertzen gat (L, 1176 f.) ersetzt. Dass Lutwin auf die Einfalt seines Kinderherzens hinweisen muss, ruft die pro­ blematische Systemstelle des Ratgebers in Erinnerung und damit die Möglichkeit kalkulierter Manipulation. Ist dieser Lutwin, wie er sich hier präsentiert, noch derjenige des Prologs, der vollmundig die Weltabsage propagiert? Je doch der mir volgen wil, / Der sol gar der welte spil / Lassen usz siner aht / Und von aller siner maht / Dienen dem vil süssen Crist (L, 49–53). Immerhin wäre denkbar, dass das Aufrichtigkeits- und Innerlichkeitsethos, das Lutwin propagiert, als höfische Gestalt der Weltabsage zu werten sei. Hier stellt sich die Frage nach der Übersetzbarkeit unterschiedlicher Axiologien. Aber auch bei dieser Annahme bleibt ein Rest an Irritation, wie radikale Weltabsage und Konstruktion einer höfischen Minneethik letztlich zusammengehen. Dass Weltabsage und Minneethik jeweils mit der Einschreibung des Autornamens einhergehen, spricht dafür, dass die

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so evozierte Spannung eine gesetzte ist. Das spannungsvolle Neben- aber auch Miteinander dieser Positionen scheint insofern von programmatischer Qualität.

2. Zorn und Sünde Nachdem Adam den Jordan verlassen hat, grüßt er Eva, und zwar [m]it vil lieplichen dingen (L, 1512). Die Erzählsequenz vom büßenden Protoplastenpaar geht abrupt über in ein höfisches Minnegeschehen. Jn [Adam] begunde sere zwingen / Die mynne und ir meisterschafft. / Su kam in an mit solicher crafft, / Das er des nit erwenden kunde (L, 1513–1516). Es handelt sich hierbei um eine Anspielung auf den Wigalois des Wirnt von Grafenberg: Vrou Minne nam in mit ir kraft / und zôch in in ir meisterschaft / gewalticlîche âne wer.18 Der Zwang der Minne führt dazu, dass er mit Eva ein Kind zeugt. Er müste begynnen an der stunde / Mit Eua seltzammer gedat (L, 1517 f.) Der Erzähler betont, dass sie zuvor nie dergleichen getan hätten. Su hetten sin ee nit getan (L, 1524). Lutwin füllt damit eine Leerstelle der »Vita Adae et Evae«. Hier ist die Schwangerschaft Evas Faktum, ohne dass es der Schilderung einer Zeugung bedürfte. et fecit ibi habitaculum habens in utero foetum trium mensium (Vita, 18,2 f.) (»Und sie machte sich eine Behausung, während sie mit einer Leibesfrucht von drei Monaten schwanger war« [VitAd, 18,3]). Bei Lutwin kommt es, nachdem die Minne sie erfasst hat, zu einer Liebeskommunikation zwischen Adam und Eva, die sich nicht scheut, auf komische Elemente zurückzugreifen. Eine neue Liebe (nuwe liebe, L, 1532) sei entstanden, so Eva, Adam sei in ihres hertzen schrin (L, 1528) fest eingeschlossen, ihr eigenes Herz liege bei ihm begraben. Hier operiert Lutwin mit der bekannten Herzenstausch-Metapher. Doch die zu erwartende Eintracht der Liebenden tritt nicht ein. Eva bedauert, dass nicht schon früher die hertzen liebe (L, 1539), also die sexuelle Minne, sie beide erfasst habe. Sie zieht, wie oben bereits erwähnt, die körperliche Liebe dem Paradies vor. Ouch sie fur wor dir geseit, / Das ich liep prise / Vur das schone paradise (L, 1542–1544). Adam bestätigt Evas Gefühle, doch konfrontiert er sie ziemlich abrupt mit einer gegenteiligen Einschätzung bezüglich des Paradieses. Er ziehe aller Schönheit und Wonne das Paradies vor. Das Paradies habe für manche Not, die ihm bislang unbekannt gewesen sei, Abhilfe geschaffen. So schütze die Liebe zu Eva ihn nicht vor Hunger. Habe er Durst vor der mynne, gemeint ist vor dem sexuellen Akt, so steigere sich der Durst nach vollzogener Minne. Sei er vor dem Akt müde, so sei er danach noch müder. Wanne ich zu der mynne go / So ist mir wol, und dar no / Bin ich aber fröiden losz (L, 1586–1588) Der sexuelle Akt bereitet ihm Freude, danach aber ist es mit der Freude vorbei. Kein Tag nach der Verbannung aus dem Paradies 18 Wirnt von Grafenberg, Wigalois, V. 4153–55.

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könne mithalten im Vergleich mit dem gnadenreichen paradiesischen Dasein. Eva sagt die Antwort Adams ganz und gar nicht zu. Die rede wart Eua ungemach (L, 1603). Sie argumentiert überraschend: »Lieber Adam, sit du mir / Nit gehillest als ich dir, / So wil ich gon sunder heil / Westen in der welte teil, / Do die sunne under gat, / Syt myn lip nit selden hat / Von sunden weder hie nach dört / Und das dir mynne wort / Missevallent an aller stat.« (L, 1605–1613)

Da sie nicht übereinstimmten (gehellen, L, 1606), breche sie sunder heil (L, 1607) in den Westen auf, wo die Sonne untergehe, da ihr weder hier noch dort von sunden (L, 1611), wegen Sünden, Heil zuteilwerde. Hier endet die Argumentation allerdings nicht. Eva führt einen weiteren Grund an: Adams Missfallens­ bezeugung gegenüber ihren Worten: Und das dir mynne wort / Missevallent an aller stat (L, 1612 f.). Gemeint ist hier die von Adam abgelehnte Bevorzugung sexueller Liebe gegenüber dem Paradies. Von Evas Sünden ist im Zusammenhang des Minnegeschehens nach Adams Auftauchen aus dem Jordan keine Rede. Evas Rede von den Sünden bezieht sich auf ihre beiden durch Satan provozierten Übertretungen. Sie sind der Grund, warum sie in der »Vita Adae« Adam verlässt und in den Westen aufbricht. Et dixit Eva ad Adam: vive tu, domine mi. tibi concessa est vita, quoniam tu nec primam nec secundam praevaricationem fecisti, sed ego praevaricata et seducta sum, quia non custodivi mandatum dei. et nunc separa me a lumine vitae istius, et vadam ad occasum solis et ero ibi usque dum moriar. et coepit ambulare contra partes occidentales et coepit lugere et amare flere cum gemitu magno. (Vita, 18,1 f., S. 227) (»Und es sprach Eva zu Adam: »Lebe du meinem Gott! Dir ist das Leben zugestanden, weil du nicht die erste und nicht die zweite Gebotsübertretung begangen hast, sondern ich bin zur Sünderin geworden und bin verführt worden, denn ich habe Gottes Gebot nicht gehalten. Und nun sondere mich vom Licht dieses Lebens ab, und ich will nach Westen gehen, und ich werde dort bleiben, bis ich sterbe.« Und sie ging gegen Westen und fing an, zu trauern und mit großem Seufzen bitter zu weinen.« [VitAd 18,1 f.])

Lutwin kombiniert hier also zwei Begründungen, ohne erzählerisch vermitteln zu wollen. Die eine resultiert organisch aus dem Erzählzusammenhang – Evas Zorn über Adams Entscheidung –, die andere zitiert die Selbsteinschätzung der Eva aus der »Vita Adae et Evae«. Brian Murdochs Einschätzung, dass es sich hier um eine frühe Säkularisierung handle, würde ich nicht teilen wollen. Es handelt sich um eine spannungsvolle Amalgamierung von religiöser Vorlage und Überformung dieser Vorlage durch einen höfischen Minnecode. Evas Aufbruch in den Westen changiert zwischen Weltabsage aufgrund begangener Sünden – dies klingt zumindest an – und einer Abwendung von Adam im Zorn, die zweifels-

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frei dominant ausgestaltet ist. Mit zorne sü dannen schiet, / Als ir tumber müt riet, / Und ging mit leide und yle / Me danne tusent myle (L, 1615–1618). Damit aber bietet Lutwin eine minnebasierte Plausibilisierung der Trennung von Adam und Eva, ohne die theologische Begründung der »Vita Adae et Evae« fallenzulassen.19 Beides fügt er in seinem Text zusammen. Spannungen konzeptioneller Art, Weltabsage versus Weltevokation, und solche motivationaler Art, das eher aggregative Nebeneinander konträrer Plausibilisierungen, durchziehen die ­höfische Überformung des apokryphen Textes, sie sind Teil des von Lutwin verfolgten Erzählprogramms, das man als erzählerische Syntheseleistung begreifen muss, die Kohärenzerwartungen in den Wind schlägt.

3. Die Zweige in der Arche Ein letzter Schritt unternimmt nun den Versuch, das hier skizzierte Erzählprogramm Lutwins im Licht seiner breit angelegten, mehr als 1600 Verse umfassenden Kreuzholzlegende zu beleuchten, die man als integralen Bestandteil seiner Erzählung werten könnte. Bislang hat der Zusammenhang der beiden Erzählteile, Adaption der »Vita Adae et Evae« und Kreuzholzlegende, wenig Aufmerksamkeit erregt. Die »Vita Adae et Evae« kennt in ihrem Kernbestand zwar auch die Suche Evas und Seths nach dem Öl der Barmherzigkeit aus dem Paradies. Doch wird ihnen dies verweigert, mit dem Hinweis auf die zukünftige Erlösungstat Christi. Ölzweig und erst recht ein Apfelzweig finden sich daher in der apokryphen »Vita« nicht. In Lutwins Erzählung hat Seth den Engel missverstanden, er hat den Zeichencharakter des Zweigs nicht erfasst. Weil der Engel ihm das Öl der Barmherzigkeit nicht aushändigen kann, vertröstet er ihn mit einem Ölzweig. So soltu zu einee zeichen haben / Disen grünen oley zwyge, / Das dir ein zeichen sige / Dins vatter urstende. / Den stecke du mit der hende / Zü dins vatter houbet, / Das uns wurt gloubet / Mir und dir die worheit, / Wann als der zwig fruht treit, / Das gloube den worten myn, / So erstot der vater din. (L, 2694–2704)

Seth gibt sich dem Glauben hin, dass im buchstäblichen Sinne die Frucht des Ölbaumes Vater und Mutter zum Leben erweckt. Die christologische Dimension bleibt ihm verschlossen. Der Ölbaum – er wird als mythischer Wunderbaum mit Heilungskräften geschildert (L, 3669–3685) – trägt keine Frucht, daher bricht Seth erneut auf, um einen Zweig aus dem Paradies zu erbitten. Ihm wird der 19 Vgl. auch Kiening, Arbeit am Absolutismus des Mythos, hier S. 46, der konstatiert, dass Lutwins »Treue zur Vorlage« Versuche zur »Plausibilisierung und Homogenisierung« nicht ausschließe.

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Apfelzweig geboten, an dem noch der halbe Apfel hängt, von dem Eva gegessen hat. Der Apfelzweig aber ist über das sexuell konnotierte Minneverhalten der Schlange im Paradies mit dem Thema weltlicher Minne verbunden. – Der tüfel ungehüre […] Begunde […] One truwe mit Eua kosen, / Mit dem zagel umbe varen (L, 408–412). Seth wird darüber in Kenntnis gesetzt, dass dieses Holz Tod und Erlösung zugleich in sich trägt. Er soll auf den Zweig aufpassen (Du solt es haben jn dinre hut, L, 3767) und auch den Ölbaum an Adams Grab pflegen (Und habe ouch in dinre hüte pflege / Den oley boum alle wege, L, 3769 f.). Von den beiden Hölzern würden Adam und Eva von allen Leiden erlöst. Von disen holtzen beiden / Wurt erlost von allen leiden / Eua und din vatter Adam (L, 3773–3775). Man sollte als Leser nicht allzu sehr wie Seth an der buchstäblichen Bedeutung der beiden Zweige kleben. Stattdessen könnte man in Versuchung geraten, die Zweige allegorisch zu deuten, und zwar als metapoetische Allegorie auf zwei religiöse Erzähltypen. Die Sprachbilder vom Pflanzen und der Frucht, die die Pflanze trägt, sind dem Mittelalter aus alttestamentlichen Schriften bekannt. Es handelt sich dort um gebräuchliche gottesdienstliche Bilder für das heilgeschichtliche Thema ›Hineinführung in das verheißene Land‹, es sind Bilder geistlicher Erbauung.20 Das agrikulturelle Bild vom Pflanzen wird völlig spannungsfrei mit dem Bildfeld der Architektur, hier der Arche, amalgamiert. In der exegetischen Tradition steht die Arche für das aufzubauende Haus Israel (2 Sam 7,27). Die Zweige in der Arche markieren also unmissverständlich einen in bildhafter Verdichtung aufgerufenen Erbauungskontext. Sie erinnern an das von Hugo von St. Viktor in »De Arca Noe morali« bedachte Problem der Errichtung der Arche Noah im Herzen der Gläubigen.21 Bei Hugo heißt es: Hujus vero spiritualis aedificii exemplar tibi dabo arcam Noe, quam foris videbit oculus tuus, ut ad ejus similitudinem intus fabricetur animus tuus.22 (»Ich gebe dir die Arche Noah als Modell geistiger Erbauung. An ihr kann sich dein Auge äußerlich orientieren, während deine Seele innerlich nach ihrem Bilde gezimmert wird.«)

Der Mittelpfeiler der Archekonstruktion bei Hugo besteht aus dem im Paradies verwurzelten Baum des Lebens dessen Wachsen und Gedeihen im unsichtbaren Paradies des Herzens beschrieben wird. Dieser Baum wird mit Christus inmitten seiner Kirche identifiziert. Die Nordseite des Pfeilers sei seine menschliche Natur, die er für die Sünder angenommen habe, die Südseite die göttliche Natur, mit der er die Seelen der Gläubigen leite. 20 Bach, Bauen und Pflanzen, hier S. 23. 21 Vgl. Grote, In arca quaedam ad Christum, quaedam ad ecclesiam referuntur (c. Faust. 12,39), hier bes. S. 93–98; Ehlers, Arca significat ecclesiam, hier S. 177. 22 Hugo von St. Victor, De Arca Noe, 622B. Im Text fortlaufend zitiert: AN.

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Es liegt nahe, die Allegorien Lutwins ins Poetologische zu übersetzen, indem die Zweige mit der apokryphen Vorlage Lutwins einerseits, der höfischen Bearbeitung andererseits identifiziert werden. Die erzählerische Aufbereitung der Adam und Eva-Apokryphe, das reine Wiedererzählen der Apokryphe, bleibt wie der Ölbaumzweig für ein bestimmtes Publikum  – ich bleibe im Bild der Erzählung – fruchtlos. Ihm entgeht der tiefere Sinn. Dagegen trägt das Wiedererzählen Frucht, sofern es entsprechend kommentiert und motiviert, auf den Wertehorizont dieses Publikums, näherhin eines höfisch sozialisierten Publikums hin ausgelegt ist – symbolisiert im Apfelzweig. Für Hugo von St. Viktor bedeutet der grüne Ölzweig, den die Taube mit sich führt, wenn sie in die Arche zurückkehrt, die rechte Gesinnung des Geistes. Häufig würden heilige Männer, je mehr sie die äußeren Werke Gottes betrachteten, desto mehr zur Liebe ihrem Schöpfer gegenüber entflammt werden. Es ist nun nicht ohne Reiz, sich vorzustellen, dass Lutwin diesen grünen Ölzweig der rechten Gesinnung dem mit Übertretung und Versuchung behafteten Apfelzweig, der in der Arche mittransportiert wird, zugesellt. Von beiden paradiesischen Zweigen geht Heil hervor. Die zwige beide kunfftig waren, / Was des todes was verfaren, / Das was von den zwigen beiden / Von dem tode wurde gescheiden (L, 3920–3923). In Lutwins Arche werden die Zweige zusammengeführt, ohne dass spezifische Wertungen oder Relationierungen vorgenommen würden. Den zwic [den Ölzweig, Anmerkung BQ] behielt er ewiclich, / Als siner heiligkeit gezam. / Des appfels zwig er darzu nam (L, 3915–3918). Der Erzähler notiert abschließend lapidar: Sus lassent wir die zwige hie (L, 3924). Lutwin realisiert das Nebeneinander von apokrypher Erzählung und höfisch überformter apokrypher Erzählung daher so, dass Vorlage und Überformung als Unterschiedenes erkennbar bleiben, die Spannungen, motivationale wie konzeptionelle, offen zu Tage treten. Ist das nun Kompromiss23 oder nicht doch eher Konflikt? In jedem Fall Koexistenz, die mit einem Risikopotential einhergeht. Denn nicht ohne Grund, nicht ohne poetologischen Hintersinn wird Seth beim zweiten Aufsuchen des Paradieses jener Apfelzweig überbracht, der die Spuren der paradiesischen Versuchung, die verbotene Frucht, trägt. Die höfisierte Erzählung läuft Gefahr, um es mit Hugo von St. Viktor zu formulieren, den sichtbaren Dingen zu verfallen. Diese Gefahr sieht Hugo im Raben der Noah-Erzählung reflektiert, der nicht wieder zurückkehrt, sich der Welt zuwendet: Qui hoc modo per cogitationem exeunt, similes sunt corvo, qui reversus non est, quia dum foris quod male delectat inveniunt, ad arcam conscientiæ amplius redire nolunt. (AN, 638D)

23 Vgl. Müller, Höfische Kompromisse, S. 131.

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(»Wer so durch das Denken ausgeht,24 gleicht dem Raben, der nicht mehr zurückkehrte, weil er im Außen findet, was ihm schlimme Befriedigung gewährt, und er in die Arche des Gewissens nicht mehr zurückkehren will.«)

In Lutwins Text geht der Rabe Aas fressend zugrunde (vgl. L, 3844–3849). ­Lutwin scheint sich dieser Gefahr, die der höfischen Adaptation innewohnt, bewusst zu sein. Aber ohne Versuchung kein Heil. Deshalb muss auch auf der Ebene des Erzählens eine Art Widerpart eingeführt werden, die höfische Perspektive auf das Geschehen. Von Versuchung wird nicht nur erzählt, auch das Erzählen, die höfische Perspektive auf das Erzählte, birgt ein Versuchungsmoment. Lutwin kombiniert die Formung des ästhetischen Sinns seiner Leser / Zuhörer mit moralischer Unterweisung. Lutwins Spiel mit Zitaten und Allusionen, das bei genauerem Hinsehen den gesamten Text durchzieht, scheint dabei nur bedingt semantisierbar. Es ist durchaus auch formales Spiel, hier verstanden als ein Spiel mit dem literarischen Wissen seines Publikums, insofern die anzitierten Texte erkannt werden wollen. Mit dieser Formung verbindet sich die Vermittlung einer über die Apokryphe motivierten höfischen Verhaltensethik, die sich allerdings schwerlich einem Ethos der Weltabsage fügt. Weltabsage schlägt im Gegenteil paradoxal um in Evokation von Welt. Adams Beerdigung wird bei Lutwin durch ein vom Erzähler-Ich gesprochenes Gebet abgeschlossen. Er bittet darum, dass allen Menschen das widerfahre, was der auferstandene Adam erlebt habe, dass die Erlösung von der Hölle für alle Gewissheit werde. Gebet und fromme Weltabsage, spirituelle aedificatio, auf der einen Seite, referentielles Spiel mit höfischer Literatur, ästhetische delectatio, auf der anderen Seite verbinden sich zu einem Erzählen, dessen offen zutage liegendes Spannungspotential als genuines Signum religiöser Erbauung im höfischen Kontext zu gelten hat. Das nicht zuletzt aus Gründen der Erbauung resultierende Bedürfnis, heilsgeschichtlichen Ereignissen in einem Gestus anschaulicher Verdinglichung einen Erinnerungsort zuzuweisen, von dem diese Überlegungen ausgegangen sind – die Verortung von Ursünde und Erlösung in Gestalt von Adams Grab und Kreuzigungsstelle in einem geschlossenen architektonischen Ensemble –, findet sich bei Lutwin in allegorischer Gestalt: Paradies, Versuchung und Erlösung begegnen bei Lutwin in den Bildern von den Zweigen im Heilsraum der Arche, die in der christlichen Auslegungstradition spätestens seit Augustinus sowohl die Kirche als auch das Herz des Gläubigen bezeichnen kann. Wie in der Grabeskirche Ursprungssünde und Erlösungsgeschehen architektonisch zusammenrücken, figurativ gesprochen: das Holz des Kreuzes aus Adams Schädel siegreich emporragt, verbinden bei Lutwin die Zweige in der Arche schuldbeladene paradiesische Vergangenheit mit zukünftiger Erlösung am Kreuzesholz. 24 Gemeint ist bei Hugo hier ein auf die Sinnlichkeit der Dinge ausgerichtetes Denken.

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Lutwins Heilsraum der Arche ist dabei indes in erster Linie ein Heilsraum des Erzählens, eines Erzählens, das darum weiß, dass es Heil nur um den Preis der Versuchung geben kann.

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Jan-Dirk Müller (München)

Erbauung und die Auratisierung des literarischen Autors. Zum Bibelepos der Renaissance

1. Mein Beitrag fügt sich nicht in die Reihe der Tagungsvorträge ein, die einen dem Mittelalter angemesseneren Begriff von ›Erbauung‹ explizieren sollen, sondern er ist der Grenze gewidmet, an der der mittelalterliche Begriff dem neuzeitlichen Platz macht, einem Begriff, der aus Erbauung vorwiegend eine gefühlig-sentimentale Einstellung zu religiösen Gehalten macht. Ich möchte zeigen, dass die Verschiebung des Begriffsinhalts nicht einfach eine Fehlentwicklung der Forschung oder allgemeiner des Redens über Literatur ist, sondern durch einschneidende Veränderungen erklärt werden kann, die die mittelalterliche Literatur von unserer trennt. Sie betreffen den Funktionsprimat literarischer Texte. Er verschiebt sich, verkürzt gesagt, vom Text und seinem Gegenstand auf dessen ›Gemachtheit‹ und seine ästhetische Qualität und deren Herstellung und Garantie durch den literarischen Autor. Das ist eine Tendenz, die der Poesie der Renaissance im Allgemeinen zugeschrieben wird und die in den verschiedenen Gattungen sich unterschiedlich weit ausprägt. Wenn ich als Punkt, an dem man die Veränderungen wahrnehmen kann, Bibelepik der Renaissance wähle, genauer Epen mit biblischen Stoffen (manchmal auch allgemein christlichen), dann scheint das auf den ersten Blick ein Genre, das sich jenen epochalen Tendenzen widersetzt, indem ja weiterhin der besonders ausgezeichnete Gegenstand dominiert. Aber das ist ein falscher Eindruck, denn gerade hier, wo viele eine bruchlose Fortsetzung mittelalterlicher Traditionen vermuten, ist der Bruch besonders auffällig. Der Bibelepik des 15. und 16. Jahrhunderts in Deutschland hat Czapla ein monumentales Werk gewidmet, das auch die Voraussetzungen in der lateinischen Bibelepik Italiens beleuchtet.1 Er geht kursorisch auch auf mittelalterliche Bibelepik ein, die auf gänzlich anderen Voraussetzungen beruht. Deshalb scheidet er sie angesichts ihrer formalen Beschaffenheit aus seinem Corpus

1 Vgl. Czapla, Bibelepos.

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Jan-Dirk Müller

aus.2 Dagegen steht die Bibelepik der Renaissance in der Tradition der christlichen Epen der Spätantike,3 nicht zuletzt durch den Bezug auf einige pagane Musterautoren, an erster Stelle Vergil. Religiöse Epik der Renaissance ist ein riesiges Gebiet, dem ich auch nicht ansatzweise gerecht werden kann. Aber es geht mir auch nicht allgemein um diese, die ja weit vielfältiger ist als das ausgewählte Genre und auf die man nicht generell die folgenden Beobachtungen übertragen kann. Mir geht es um einen einzigen Punkt: die causa scribendi für den Dichter klassizistischer Bibelepik. In deren Bestimmung scheint sich eine gründliche Umbesetzung in den Zielen religiöser Dichtung anzuzeigen. Hier liegt auch die Differenz zwischen den scheinbar so ähnlichen Werken der Spätantike und der Frühen Neuzeit. Sie verdanken sich unterschiedlichen Konstellationen. Die spätantike Bibelepik will das Christentum gegenüber einer kulturell turmhoch überlegen scheinenden Bildungswelt aufwerten. Die Leistungen antiker Epik, vor allem Vergils, sollen wiederholt und zugleich überboten werden, indem sie sich auf einen Gegenstand richten, der gegenüber den abgelebten mythologischen Lügen der klassischen Literatur Anspruch auf Wahrheit geltend machen kann. Erst das christliche Kerygma ist der angemessene Anlass für den ornatus epischer elocutio. Der christliche Dichter zeigt, dass ihm alle Mittel der großen paganen Autoren zu Gebote stehen, dass er sie aber darüber hinaus für etwas einsetzt, für das allein sie einzusetzen sich lohnt: für die Verkündigung des Wortes Gottes. Das Christentum behauptet sich nicht nur in der Bildungskonkurrenz mit der paganen Tradition, sondern setzt sich durch, weil es die Wahrheit auf seiner Seite hat. Das schließt ein, dass der christliche Dichter sich selbst nicht nur an die Seite, sondern an die Spitze der berühmtesten paganen Autoren setzen kann. Bibelepik wird zum bevorzugten Feld für den paragone zwischen christlichen und heidnischen Dichtern. Iuvencus4 erinnert in der Praefatio seiner »Evangelica historia« daran, dass ein Homer oder ein Vergil nicht nur ihren Protagonisten unsterblichen Ruhm verschafft haben, sondern dass ein solcher Ruhm auch auf sie selbst abstrahlte. Um wieviel größer ist dann der Ruhm, der dem christlichen Dichter winkt:

2 Ebd., S. 10 f.; vgl. die Darstellung S. 90–119, die im Wesentlichen auf »Heliand« und Otfrids »Krist« beschränkt ist; die Texte des späteren Mittelalters bleiben außer Betracht. Czapla konzentriert sich auf epische Texte, die vor allem in elokutioneller Hinsicht (z. T. auch in ihrer Struktur) Vergil folgen, der schon für die spätantike Bibelepik der Referenzautor ist. 3 Vgl. Herzog, Die Bibelepik der lateinischen Spätantike. 4 C. Vettii Aquilini Iuvenci, Libri Evangeliorum IIII […] – Hier und im Folgenden sind die Übersetzungen von mir, lehnen sich aber an ältere Übersetzungsvorschläge an.

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Nec minor ipsorum discurrit gloria uatum: Quae manet aeternae similis, dum saecla uolabunt […] Quod si tam longam meruerunt carmine famam, Quae ueterum gestis hominum mendacia nectunt, Nobis certa fides aeternae in saecula laudis Immortale decus tribuet meritumque rependet. Nam mihi carmen erit Christi uitalia gesta Diuinum populis falsi sine crimine donum. (V. 11 f.; 15–20) (Nicht geringer ist der Ruhm jener Sänger selbst [der antiken Autoren] verbreitet; er bleibt, ähnlich wie der ewige, so lange die Jahrhunderte dauern. […] Denn wenn schon die Dichtungen so lang anhaltenden Ruhm verdienten, die mit den Taten der Alten Lügen verknüpfen, wird uns der sichere Glaube den unsterblichen Glanz ewigen Ruhms für alle Zeiten verschaffen und als verdienten Lohn zahlen, denn mein Lied wird ohne verbrecherische Lüge von den lebendigen Taten Christi handeln, Gottes Geschenk an die Menschheit.)

Diesem Selbstbewusstsein entspricht, dass Iuvencus sich damit begnügt zu zeigen, dass auch die höchste literarische Gattung – ein Hexameter-Epos – dem Christentum zur Verfügung steht, dass er aber keine Mimikry an den elokutionellen Apparat der paganen Epik anstrebt, der mythologisch, d. h. mit Lüge infiziert ist. Das auf Wahrheit gegründete christliche Epos muss anders sein.5 Eine solche Konkurrenzsituation besteht im Mittelalter nicht mehr. Die Wahrheitsfrage ist längst allgemein entschieden; die Zeitenwende, die das Christentum gebracht hat, ist unumkehrbar und sein Sieg über die antike Welt definitiv. Das wertet deren poetisch-rhetorische Positionen nicht vollständig ab, lässt ihnen Reservate wie Allegorie und Allegorese, transformiert sie in den Artes dictaminis, weist ihnen jedoch gegenüber religiöser Verkündigung und Einübung in eine christliche Lebenspraxis eine untergeordnete Rolle zu. Wo der Zweck im Vordergrund steht, können die rhetorischen Mittel, mit denen die spätantiken Autoren mit ihren klassischen Vorbildern wetteiferten, ins Zwielicht rücken (das ist die Ausgangsbeobachtung dieser Tagung): So verzichtet z. B. Reinbot von Durne auf Wunsch seiner Auftraggeberin (V. 54 f.) in seinem hl. Georg ausdrücklich auf eine ihm durchaus zu Gebote stehende rhetorische Kunst, die mit Lüge assoziiert wird: tihten unde zieren / mit lügenen florieren (V. 51 f.).6 Erst jetzt kann die Frage auftauchen, ob das selbstgewisse Insistieren auf dem eigenen Können und der eigenen Brillanz nicht der unendlichen Überlegenheit Gottes unangemessen ist und leere Prätention bleibt, vielleicht teuflische superbia. Ist

5 Vgl. Visser, Sannazaros Epos De partu Virginis, hier S. 207; im selben Band vgl. Blänsdorf, Nulla priorum vestigia. 6 Reinbot von Durne, Der heilige Georg.

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nicht der sermo piscatorius, über den sich gebildete Römer mokieren mochten, der Wiedergabe des göttlichen Wortes angemessener als das, was man aus den Kunstlehren der Rhetorik und Poetik lernen kann?7 Hat nicht nur der eine Chance, von seinem Gegenstand angemessen zu sprechen, der nicht auf seine eigenen Kräfte vertraut? Muss sich nicht deshalb die Inspirationsbitte von den Musen auf den Hl. Geist verschieben? Solche Bedenken gelten für lateinische wie volkssprachige Texte. Seit dem 14. Jahrhundert, zunächst wohl vor allem in Italien, verschiebt sich diese Konstellation. Der Renaissancehumanismus entdeckt die Antike, und das heißt insbesondere die Dichter, Rhetoren, Historiker und Philosophen, als normative Muster wieder. Er stellt, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, die Geltung der christlichen Religion nicht in Frage, wohl aber die Erscheinungsformen der christlichen Kultur im Spätmittelalter, und zwar richtet sich die Kritik sowohl gegen die christliche Wissenschaft, zusammengefasst unter der polemischen Sammelbezeichnung ›Scholastik‹, wie gegen eine Frömmigkeitspraxis mit unzulänglichen Bildungsvoraussetzungen und oft dem Aberglauben nahe, wie auch gegen eine ›barbarische‹, angesichts der poetisch-rhetorischen Normen der Antike stümperhafte religiöse Literatur. Das Ziel der humanistischen Bildungsbewegung ist es, diese in antikem Geist und mit den Mitteln antiker Poetik und Rhetorik zu erneuern. Daher die vielen Dichtungen auf Heilige oder auf religiöse Geheimnisse aus gelehrt-humanistischer Feder und die zahlreichen Editionen von Bibeldichtungen der Spätantike bis hin zur kompletten Sammlung des Aldus Manutius (1504). Frühhumanistische Bildungsprogramme wie etwa das Jakob Wimphelings in seiner Hrabanus-Maurus-Ausgabe ersetzen Punkt für Punkt die großen heidnischen Autoren Vergil, Ovid, Statius, Lucan durch christliche.8 Deren Qualität war nicht unumstritten, doch treten, wenn sie als Musterautoren neu veröffentlicht werden, ästhetische Bedenken hinter dem religiösen Nutzen in den Hintergrund.9 7 Vgl. Auerbach, Mimesis; vgl. Ders., Literatursprache und Publikum (Eingangskapitel). 8 Die Vorrede ist zitiert bei Czapla, Bibelepos, S. 72. 9 Vgl. Czapla, Bibelepos, S. 46–59 zur Ausgabe von Iuvencus’ »Historia Evangelica« aus dem Umkreis der Devotio moderna. Zitiert werden dort aus Petrarcas 10. Ekloge »Laurea ­occidens« rühmende Verse über die spätantike Bibeldichtung, nicht aber Petrarcas verhaltene Kritik an Arator, Iuvencus und Sedulius als Dichter in dürrer Zeit: terra ferax, fessique boves, et laurea nusquam, / nusquam hederae aut mirtus, viridis non gloria serti, / non studium Musae, fragilis vox. (»Zwar war die Erde fruchtbar, doch müde die Ochsen, nirgends Lorbeer, nirgends Efeu noch Myrte, nicht der grün-lebendige Kranz des Ruhms, kein Bemühen um die Musen, eine brüchige Stimme«, zitiert ebd. S. 53). Ein empfehlender Text des Petrus Crinitus zu einer Wiener Iuvencus-Ausgabe enthält den einschränkenden Satz: Qua in re maiore diligentia usus est in seruanda rerum historia quam in demonstranda ingenii sui elegantia (»Dabei [d. h. in seiner »Evangelica historia«] wendete er größere Sorgfalt darauf, die Geschichte genau wiederzugeben, als das formale Können seines Genius zu zeigen«, zitiert ebd. S. 61).

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Den Dichtern der Hochrenaissance, vor allem in Italien, ist das zu wenig. Es gilt, die vorbildlichen Autoren auf ihrem eigenen Feld ästhetischer Überlegenheit zu schlagen, indem ihre ganze Kunstfertigkeit sich an dem würdigeren, christlichen Gegenstand bewährt. Das kehrt tendenziell die Bewertungs­ hierarchie um. Die Situation ist der der Spätantike entgegengesetzt. Damals galt es, einen angeblichen Bildungsrückstand aufzuholen, mit dem Niveau der paganen Antike gleichzuziehen und so den christlichen Glauben in den Augen seiner gebildeten Verächter aufzuwerten. Jetzt soll ein allgemeiner Kulturzerfall rückgängig gemacht werden, und zwar auf allen Gebieten, indem die verlorenen rhetorischen und poetischen Standards gelehrter Sprache erneuert und auch auf den christlichen Gegenstand angewandt werden. Holzschnittartig vereinfacht: Das eine Mal ist die Aufwertung des Christentums das Ziel, das andere Mal die Aufwertung antiker Bildung. Die Prioritäten kehren sich um. Das hat sich zuletzt für die christliche Muse als prekär erwiesen. Sie wird – allen Wiederbelebungsversuchen in der Literatur der Frühen Neuzeit zum Trotz – letztlich an ihrer Aufgabe scheitern. Dies zu erkennen, bedeutet in Bezug auf die Renaissance nicht Rückfall in die alte Paraganismusthese. Längst verfiel die Auffassung vom Renaissance-­ Humanismus als eine Art Vorläufer der Aufklärung der Kritik, entsprechend die Überbetonung paganer oder wenigstens säkularisierender Tendenzen. Die Aufwertung der religiösen Dichtung, darunter der Bibelepik, in der jüngeren Forschung war ein notwendiges Korrektiv. Sie droht jedoch zu verkennen, dass diese Dichtung in einem veränderten Funktionszusammenhang steht. Die Erneuerung der Bibelepik bedeutet nicht Fortdauer mittelalterlicher Traditionen. Vielmehr fördert sie deren endgültige Zersetzung, was sich allerdings erst im Lauf der nächsten zweihundert Jahre zeigen wird. Für die christlichen Autoren der Renaissance steht auf der einen Seite der Vorrang der christlichen Offenbarung außer Frage, auf der anderen Seite auch der Vorrang der im augusteischen Zeitalter gipfelnden antiken Kultur. In beiden Hinsichten war damals ›die Zeit erfüllt‹, und eine solche doppelte Erfüllung von Zeit wiederherzustellen, ist das Ziel nicht zuletzt einiger Päpste, ihr Instrument ist u. a. die Bibeldichtung. Wenn die Überbietung der ästhetischen und stilistischen Standards der augusteischen Dichtung nicht möglich ist, dann doch wenigstens der Nachweis, dass man sie wieder erreichen und durch Übertragung auf ein »material not available to the ancient author« einer besseren Bestimmung zuführen kann.10

10 Williams, Introduction zu Marco Girolamo Vida.

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2. Ich beginne mit Baptista Mantuanus, der vor allem nördlich der Alpen wegen seiner Verbindung von gelehrter Form und religiöser Lehre hohes Ansehen genießt. Er steht für die Versöhnung von humanistischer Gelehrsamkeit und christlicher Thematik, die in zahllosen Traktaten und Gedichten gefordert wird. Auch für Baptista Mantuanus ist Dichtung (so in »Contra poetas impudicè ­loquentes«, 1587) eine Gabe Gottes, die nur für fromme Zwecke eingesetzt werden sollte; nur dann verdiene der Dichter diesen Namen, dann sind seine Gedichte es wert, gesungen zu werden: Tunc ego te uatis dignum cognomine dicam, / Tunc tua cantari digna poesis erit (V. 153 f.).11 Dona Dei carmen nitidum, facundia praestans,    Mittitur ex astris a Superisque datur. Est tuba Romanae fidei legumque poesis,    Quae canat heroo sacra Deumque pede (V. 7–10) (Eine Gabe Gottes ist das glänzende Lied; eine herausragende Gabe; sie wird von den Sternen herabgesandt, von den Himmlischen verliehen. Eine Posaune des römischen Glaubens und der Gesetze ist die Poesie; die heilige Dinge und Gott im heroischen Metrum besingen soll.)

Als Himmelsgeschenk zeichnet Dichtung ihren Empfänger aus; der Beruf des Dichters erscheint als geistliches Amt und tritt neben die religiöse Berufung des Predigers. In einem Apologeticon seiner »Parthenice Mariana« an zwei Bologneser Bürger hat Baptista Mantuanus sein Unternehmen ausführlich gegen die Ansicht verteidigt, er habe sich mit leichtfertigen Dingen beschäftigt, die nichts für einen Mönch seien (Aiunt nos leuibus studiis oblectari nec carmina decere religiosum virum, Bl. a3r).12 Gegen diese Meinung bietet er die gesamte Geschichte religiöser Poesie auf: die Psalmen, die figürliche Redeweise des Neuen Testaments, christliche, aber auch heidnische Dichter. Das Volk Gottes habe sich zu Recht, wie schon das Alte Testament berichtet, die Schätze der Heiden angeeignet, in der Philosophie wie in poesis und eloquentia (Bl. a3v–a5r). Baptista Mantuanus schildert seine eigene Erfahrung mit einer Dichtung des Paulinus von Nola: Cum adhuc adolescentulus essem et a studiis eccelesiasticis more aetatis illius aetatis abhorrerem forte in ea poemata incidi: et carminis suavitate delectatus animum 11 Nach Czapla, Bibelepos, S. 177–182; das folgende Zitat S. 177. 12 Fratris Baptistae mantuani Carmelitae Theologi ad Ludovicum Fuscarium et Ioannem Baptistam Refrigererium ciues Boninienses Parthenice incipit foeliciter, Bologna 1488. Ich zitiere nach dem Digitalisat dieser Ausgabe in der Bayerischen Staatsbibliothek. Der Band hat kein Titelblatt; die Widmung ist teils verstümmelt.

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ad res divinas paulatim appuli: et ex illo tempore sacrarum litterarum studiosior fui. (Bl. a[5]r)13 (Als ich noch ein junger Mann war und nach Art dieses Lebensalters Abscheu vor den [üblichen] kirchlichen Studien empfand, stieß ich zufällig auf jene Gedichte und, entzückt von der Süße der Dichtung, wendete ich mich allmählich immer mehr göttlichen Dingen (Dingen des Glaubens) zu. Seit dieser Zeit widmete ich mich immer eifriger geistlicher Dichtung.)

Er betrachtet seine Bücher als eine Art Netz, als Schlingen, mit denen man zu Christus hingezogen werden soll (fiant libelli mei quasi apostolica retia et trahendis ad christum hominibus laquei tenaciores, Bl. a[5]r). Die poetische Form dient dem religiösen Zweck. Baptista Mantuanus spottet über die, die ohne gelehrtes Wissen über heilige Dinge sprechen zu können glauben, und betont den Nutzen der Lektüre der Alten. Aus der mythologischen Dichtung der Antike könne man zum einen die Falschheit der antiken Götter erkennen. Zum anderen sieht er – ein Lieblingsgedanke der Renaissance – vom sagenhaften Orpheus bis zu Vergil in Dichtern Theologen, die tiefes Wissen vermitteln. In der Tradition dieser heidnischen vates stehen die christlichen Dichter und ihr poeticus furor. Die Prämie ist nicht nur eine religiöse. Den Kritikern der Verbindung von Glaubensverkündigung und Poesie ruft er zu: Prodite o zoili nostri: uidete uirum sacris initiatum mysteriis lauro coronatum: musis undique cinctum lyram tenentem: currite ad rarum hoc et grande spectaculum. (Bl. a[5]r) (Kommt her, ihr unsere Kritiker, seht einen Mann, der in die Geheimnisse des Glaubens eingeweiht ist, mit dem Lorbeerkranz gekrönt; wie er allenthalben von den Musen bekränzt die Leyer hält. Eilt zu diesem seltenen und großartigen Schauspiel.)

Baptista Mantuanus ersetzt am Anfang der »Parthenice Mariana« ausdrücklich die Anrufung der Musen durch die Anrufung Gottes, doch ist in der Ersetzung das Ersetzte weiterhin, wenn auch negiert, präsent. Damit kann der Dichter beweisen, dass er die Form beherrscht, doch zu besserem Ziel verwendet. Sed neque pierii fontis: nec phocidis undae Nunc uada sunt tentanda mihi: maiore camoena Et maioris opus nunc est ope numinis: ergo Tu mihi diua faue caelum cui militat omne. (Bl. c1r; V. 6–9) (Doch weder die Untiefen der Musenquelle, noch die der Wellen der Phokis14 muss ich aufsuchen. Das Werk jetzt bedarf einer höheren Dichtkunst und der Hilfe einer 13 Die Stelle bezieht sich auf christliche Schriftsteller wie Paulinus von Nola. 14 Eine Landschaft im Norden Griechenlands, hier wohl mit dem Olymp assoziiert.

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größeren Gottheit. Deshalb gönne du mir göttliche Inspiration, dem der ganze Himmel dient.)

Der vergilisierende Bibelepiker dichtet so wohl religiös korrekt, unterwirft sich aber den Ansprüchen einer säkularen Poetik und Rhetorik, und er versucht, am Ruhm, den deren Beherrschung verschafft, zu partizipieren und durch die Wahl des Gegenstandes Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen. Die Umbesetzung geht sehr weit. Der Gegenstand ist unter dem klassischen Ornatus kaum erkennbar: Sancta Palestinae repetens exordia nymphae Difficiles ortus: et formidata profundo Incrementa Ioui; mores: hymeneaque festa Virginis: et sacri referam miracula partus Actaque: et acceptos mundi melioris honores. (Bl. c1r; V. 1–5) (Ich will wieder die heiligen Anfänge der palästinischen Nymphe berichten, die schwierigen Umstände ihrer Geburt, ihr ehrfurchtgebietendes Heranwachsen für den höchsten Gott Jupiter, ihre Sitten und die feierliche Hochzeit der Jungfrau. Berichten will ich die Wunder, die die heilige Geburt begleiteten, und die Ehren, die sie von einer besseren Welt empfing.)

Entscheidend aber ist, dass er in der Rede der Heiden Glaubenswahrheiten ausdrückt (ethnicis appellationibus rem catholicam exprimit), wenn auch der Kommentator Badius Ascensius erhebliche Bedenken an der Stilisierung Marias zum Exempel humanistischer Bildung äußert.15 In jedem Fall macht Mantuanus sein Versuch zum geeigneten Schulautor für die Jugend, die von heidnischen Autoren verschont bleibt (Gallinarius: omnibus ethnicis tandem posthabitis), denn, wie Thomas Aucuparius zusammenfasst: Quaeque maro cecinit conformia tempore prisco / Hic eadem nostra relligione canit (»Was Vergil passend für die alte Zeit sang, dasselbe singt er passend für unsere Religion«).16 Dieser Fähigkeit verdankt Baptista Mantuanus den Ehrentitel eines Christianus Maro, den Erasmus ihm zulegt.17 Noch steht das religiöse Ziel im Vordergrund. Die Aufmerksamkeit der Forschung galt vor allem dem Verschmelzungsprozess christlicher Botschaft und klassischer Sprache. Es wurde gezeigt, wie die Mittel klassischer elocutio dem neuen Gegenstand angepasst wurden und wie sie ihn veränderten, wie biblische Figuren mit solchen der klassischen Epik 15 Vgl. Ludwig, Die humanistische Bildung, hier S. 930 f. 16 F. Baptistae Mantuani Bucolica Seu adolescentia in decem aeglogas divisa. Ab Iodoco Badio Ascensio familariter exposita, Straßburg 1503, Bl. IIr. Baptista Mantuanus ist deshalb bevorzugter Autor des christlichen Straßburger Humanismus, dessen Vertreter (Thomas Wolf d. J., Jacob Wimpheling, Johannes Gallinarius, Thomas Aucuparius) ihn begeistert feiern (vgl. die unpaginierten Paratexte). 17 Opus epistolarum Desiderii Erasmi Roterodami, hg. v. Percy Stafford Allen, Bd. I, S. 160–164.

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verschmolzen, in zeitgeschichtlichem Kolorit gefärbt wurden, wie schützende Gottheiten durch Heilige ersetzt, Konfliktkonstellationen umgedeutet wurden, Gründungsmythen christianisiert oder die biblischen Geschichten unter Einfluss säkularer Liebespoesie erotisiert wurden. Wichtiger scheint die allmähliche Funktionsverschiebung im Gefüge literarischer Gattungen. Prinzipiell setzt sich der religiöse Text der Konkurrenz mit säkularen Texten aus, auch wenn in der Literaturkritik des 16. und 17. Jahrhunderts literarische Kriterien bei der Beurteilung oft noch zurückstehen, angesichts des erhabeneren Gegenstandes. Ist aber einmal das Kriterium ästhetischer Vollkommenheit als entscheidend eingeführt, kann religiöse Dichtung rhetorisch-poetischer Kritik ausgesetzt werden, wie sie Julius Caesar Scaliger in seinen »Poetices libri septem« an Zeitgenossen übt, ganz gleich, welchen Gegenstand sie behandeln. Den Carmeliter nennt er mollis, languidus, fluxus, incompositus, sine numeris, plebeius  – non sine ingenio sed sine arte (»weich, schmachtend, schlaff, ohne feste Struktur und Metrum, ordinär – nicht ohne Talent, doch ohne Kunst«), einen Provinzler, ohne urbanitas.18 Auch Giraldi Cintio relativiert die Bedeutung des Baptista Mantuanus: Laudo institutum piumque propositum, verum extemporalis magis quam poeta maturus. Extant illius versus pene innumerabiles, ex quibus apud vulgus et barbaros quosdam laudem tantam sit adeptus, ut unus prope poeta et alter pene Maro. At bone Deus quam dispar ingenium. Nam ut ubique Maro perfectus, ita hic immodica et pene temeraria ubique usus est licentia. (Ich lobe sein Bemühen und sein frommes Vorhaben, aber er scheint eher zu extemporieren, als ein reifer Dichter zu sein. Es gibt von ihm nahezu unzählige Verse, deretwegen er bei der Menge und einigen Ausländern [Barbaren!, Anmerkung JDM] sich ein solches Lob errungen hat, dass er fast als einziger Dichter und geradezu als zweiter Vergil angesehen wird. Aber lieber Gott, was für ein Unterschied in der Begabung. Denn während Vergil überall vollkommen ist, nimmt er maßlos und nahezu verwegen überall willkürliche poetische Lizenzen in Anspruch.)

Das sei im Laufe der Jahre immer schlimmer geworden; sein Alterswerk sei unlesbar, ihm fehle eben iudicium.19 Dies und der Vorwurf sine arte stellt in Frage, dass er mit den großen antiken Dichtern konkurrieren kann, denn es ist die ars, durch die Vergil selbst Homer übertrifft.20 Mit iudicium, dem Sinn für Proportionen und inneres wie äußeres aptum, und ars, dem Verfügen über die copia rhetorischer Mittel, sind Beurteilungskriterien gesetzt, die vom religiösen Urteil 18 Reineke, Julius Caesar Scaligers Kritik, S. 166–168. Die Kritik bezieht sich freilich hauptsächlich auf die bukolische Dichtung des Mantuanus; vgl. Ludwig, Julius Caesar Scaligers Kanon neulateinischer Dichter. 19 Giraldi Cintio, Dialoghi, S. 82–86. 20 Reineke, Scaligers Kritik, S. 26.

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unabhängig sind. Die Absetzung einer christlichen Kultur der Moderne von der übermächtigen Antike durch das Amalgam von Humanismus und biblischen Themen erweist sich damit paradoxerweise als Symptom einer Tendenz zur Entchristlichung der Poesie, obwohl die Autoren gerade das entgegengesetzte Ziel anstreben.

3. Man kann zwei miteinander zusammenhängende Tendenzen in der christlichen Epik der Renaissance beobachten, die beide das Verhältnis von Ästhetik und Zweck betreffen und sich auf unterschiedliche Weise vom Erbauungsbegriff entfernen: die Tendenz zu immer größerer stilistischer Verfeinerung mit Hilfe der antiken Autoren und die Tendenz zu deren Instrumentalisierung für pädagogische Zwecke. Für das erste steht Jacopo Sannazaro, für das zweite die protestantische Bibelepik. Beide Tendenzen schließen sich, wie das Werk des Hugenotten Du Bartas zeigt, nicht aus, da beide den Dichter und seine Leistung auf Kosten des religiösen Gegenstandes ins Zentrum rücken. Jacopo Sannazaro wendet sich auf dem Höhepunkt seines Ruhms der lateinischen Bibeldichtung, einem Marienepos, zu, nachdem er als Verfasser der »Arcadia« sich bereits großes Ansehen in der volkssprachigen Dichtung erworben hat.21 Das ehrgeizige Vorhaben ist: »coniugare uno degli argomenti più sublimi in ambito sacro, la nascita di Cristo, con la più squisita raffinatezza formale che la lingua latina avesse mai raggiunto«, wie Prandi, der Herausgeber einer italienischen Übersetzung, formuliert. Das bedeutet gerade nicht Anknüpfung an die christliche Epik der Spätantike an den »sermo rude di Prudenzio, Sedulio, Giovenco, ma in una lingua che intendeva rinnovare lo splendore dell’età aurea di Virgilio«.22 Ziel ist ein neuer Gipfel einer christlich-antiken Kultur unter der Ägide der Medicipäpste Leo X. und Clemens VII. Päpstliche Breven (hinter denen Pietro Bembo bzw. Sadoleto stehen) feiern den Autor von »De partu virginis« als Vollender christlicher Poesie. Bei Leo X. (1521) steht das religiöse Interesse noch im Vordergrund, indem Leo an die Erschütterungen und Angriffe erinnert, die die Kirche gerade (hac praecipue tempestate) erleidet, und Sannazaro, den er zu den claris ingeniis aetatis nostrae zählt, geradezu als Instrument der Vorsehung sieht (divina facta providentia), da er die von den Protestanten geschmähte Braut des Herrn, die divina sponsa, verteidigt. Doch auch bei ihm tritt gleichrangig neben den Gegenstand die ästhetische Vollendung: 21 Vgl. Iacopo Sannazaro, De partu virginis. 22 So die Introduzione zu Iacopo Sannazaro, Il parto della Vergine volgarizzamento di Giovanni Giolito de’ Ferrari (1588), S. 8.

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[…] si rem quaeramus, nihil nisi Christum atque eius sponsam sonare, si pietatem undique religionis enitere studium, si iudicium,23 nihil ungue signandum relinquere, si figuras artisque conatus, veterum vatum nulli cedere, multos anteire. ([es ist festzustellen, dass Sannazaros Werk, Anmerkung JDM], wenn man nach dem Gegenstand fragt, allenthalben nur von Christus und seiner Braut kündet, wenn nach Frömmigkeit, dass es überall Eifer für die Religion ausstrahlt, wenn nach Kunstverstand, dass nichts stehen geblieben ist, was als Fehler anzustreichen wäre, und wenn man rhetorische Figuren und Verfahren sucht, dass er hinter keinem der antiken Dichter zurücksteht, viele aber übertrifft.)24

Deutlicher noch ist die Verschiebung bei Clemens  VII. Er stellt 1526 die Unsterblichkeit des Dichters neben die Unsterblichkeit, auf die der fromme Christ hofft. Um diese immortalitas, quae producit ad posteros nostri nominis perpetuitatem (»eine Unsterblichkeit, die den Nachgeborenen die ewige Dauer unseres Namens überliefert«) haben sich viele unter größten Anstrengungen und härtesten Widrigkeiten (maximis […] contentionibus et acerbissimis discriminibus) bemüht. Dichterruhm und ewige Seligkeit werden zwar hierarchisiert, im Grunde aber ist dasselbe Bestreben am Werk. Iuvencus suchte die wahre christliche Ewigkeit gegenüber dem säkularen Dichterruhm der Heiden aufzuwerten, Clemens dagegen wertet den Dichterruhm gegenüber dem christlichen Versprechen ewigen Lohns auf: Est enim profecto haec famae et laudis ad commemorationem hominum celebritas, imago illius verae immortalitatis, quae eximio dono omnipotentis Dei uni christiano generi per dominum nostrum Iesum Christum proposita est. (Diese Berühmtheit im Gedächtnis der Menschen durch Fama und Lob ist in der Tat ein Bild jener wahren Unsterblichkeit, die dank der außerordentlichen Gabe des allmächtigen Gottes allein der Christenheit durch unseren Herrn Jesus Christus in Aussicht gestellt wird.)25

Indem er mit dem von Gott verliehenen Talent als Dichter gewuchert hat, hat Sannazaro sich auch die wahre Unsterblichkeit verdient. In der nahezu einhelligen Wertschätzung Sannazaros durch die Gelehrten tritt die säkulare Unsterblichkeit in den Vordergrund. Caspar von Barth nennt Sannazaro Maronianus, aut Maro ipse; in ihm lebe das Goldene Zeitalter des Augustus wieder auf. 23 Auch Scaliger verlangt vom Dichter, der mit der Antike wetteifern will, ein unerbittliches Iudicium in der Auswahl der nachzuahmenden Vorbilder und der unablässigen Prüfung des eigenen Werks (Reineke, Scaligers Kritik, S. 26). 24 Sannazaro, De partu virginis, Appendix S. 109 f. 25 Ebd., S. 111 f.

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Is hercle talis, ut pudere non possit Suam vocando Gloriam, parem Augusto, In ipso agone floris aurei, Romam (Er ist wahrlich so bedeutend, dass er Rom keine Schande bereiten könnte, wenn er erklärte, sein Ruhm würde den Ansprüchen des Augustus – im Wettbewerb selbst der goldenen Zeit – genügen.)26

In geradezu geschichtsphilosophischer Perspektive verkündet sein Werk die Erfüllung der Zeit, indem das augusteische Zeitalter Vergils, in das Christus geboren wurde, mit dem gegenwärtigen Glanz des Roms der Renaissance, in dem das Erbe Christi vergilisch erneuert wird, zusammenfällt. Die Bewunderung, die Dichtung durch ihre formale Vollendung erregen soll, erringt Sannazaro in den verschiedensten Gattungen, volkssprachigen und gelehrten.27 Bei ihm findet man keine plumpen Vergilzitate, die üblichen Versatzstücke aus der »Aeneis«, sondern ein, wie die Forschung nachgewiesen hat, subtiles intertextuelles Spiel mit vergilischen Szenen, das etwa im Erscheinen des Erzengels Gabriel auf die Erscheinung der Venus vor Ascanius anspielt oder die Ankündigung der Großtaten Christi im 3. Buch dem antiken Proteus in den Mund legt, der den Flussgott Jordan unterrichtet. »Die für ein Bibelepos ungewöhnlich deutliche Akzentuierung artistischer Demonstration gegenüber der Vermittlung christlicher Glaubenswahrheiten«28 hat die Forschung veranlasst, nach heterodoxen Inhalten oder wenigstens Akzentverschiebungen zu suchen (bzw. – wie Czapla – solche aufwendig zu widerlegen), doch ist dies gar nicht das entscheidende Problem. Weder Kritiker noch Bewunderer haben Sannazaro in dieser Hinsicht etwas vorgeworfen. Er hat durchaus auf theologische Exaktheit seines Werks geachtet; wenn er seine Wortwahl rechtfertigt und Freunde um Rat bittet, geht es nicht ausschließlich um Stil, Komposition oder einzelne Formulierungen.29 Entscheidend aber ist, dass nicht auf dem theologischen Gehalt, sondern auf der poetischen Ausarbeitung das Hauptgewicht liegt, auf der unermüdlichen stilistischen Verfeinerung mittels iudicium und ars (iudicio et arte limentur). Giraldi Cintio berichtet, Pontanus habe von ihm gesagt eum nescire manum de tabula tollere (er könne nicht die Hand vom Bild lassen.)30 »De Partu virginis« ist nur eines unter Sannazaros 26 Zitiert nach Czapla, erotische Dichtung, hier S. 239; Übersetzung nach Czapla. 27 Vgl. die Gattungsvielfalt in dem in Anm. 5 zitierten Sammelband. Die Orientierung an Vergil kennzeichnet im Übrigen Dichtungen mit christlicher Thematik wie die »De morte Christi […] Lamentatio« oder »De partu virginis« ebenso wie die Fischereklogen oder andere profane Dichtungen. 28 Czapla, erotische Dichtung, S. 232. 29 Vgl. die im Anhang des Epos, abgedruckten Briefe, in denen er u. a. auch um theologischen Rat bittet, S. 96–108. 30 Giraldi Cintio, S. 46.

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herausragenden Werken (ingenii exquisita quaedam monumenta); hier nennt er ihn mit einem Cicero-Zitat31 einen statarius poeta, einen ›hartnäckigen Dichter‹; der seinen ruhigen Gang geht, wofür er ein zweites Mal das von Apelles auf den Maler Protogenes gemünzte Wort zitiert, er könne nicht seine Hand vom Bild lassen, und sein Werk als fertig erklären: non enim verborum volubilitate fertur, sed limatius quoddam scribendi genus consectatur, et lima indies atterit, ut de eo non ineleganter dictum illud Apellis de Protogene Pontanus usurpare solitus esset eum manum de tabula tollere nescire; praeter diligentiam curamque Actii, acerrimum quoque eius iudicium et numerorum scientiam in poetica facultate cognoscimus. (Denn er lässt sich nicht vom Strom der Worte davontragen, sondern verfolgt eine um dauerndes Feilen bemühte Schreibart; unablässig ist die Feile in Gebrauch, sodass Pontanus nicht unelegant auf ihn jenes von Apelles auf Protogenes gemünzte Bonmot zu übertragen pflegte, er könne seine Hand nicht vom Bild nehmen. Neben Sannazaros Sorgfalt und seinem unablässigen Bemühen bemerken wir seinen scharfen Kunstverstand und sein Wissen von der Metrik beim Dichten.)

Überrascht stellt Giraldi Cintio fest, dass ein ansonsten gebildeter Mann – gemeint ist Erasmus von Rotterdam – bei ihm christliche Beredsamkeit (elocutio­ nem Christianam) vermisse; eine solche paraphrasiert er als ›barbarisch‹ (hoc est barbaram).32 Der Zusatz macht klar, dass er das Problem überhaupt nicht erkennt, das mit einer vergilisierenden, auf höchste Kunstfertigkeit zielenden christlichen Dichtung entsteht und das Erasmus beschäftigt.33 Das gleiche Unverständnis aus entgegengesetzter Perspektive für die Dissoziation zwischen ästhetischen und religiösen Maßstäben findet sich beim Jesuiten Johannes Bisselius, der Sannazaros poetische Leistung anerkennt, aber seine Lebensführung (vita) und seine Beschäftigung mit anderen, unsittlichen Gegenständen der Poesie kritisiert.34 Beide Male wird die Ausdifferenzierung von religiöser und poetischer Praxis rückgängig gemacht. Sie aber ist das Problem, nicht der eine oder andere anstößig scheinende Inhalt.35 Wo Erasmus die Frömmigkeit durch die Vollendung der Kunst gefährdet sieht, fällt für Giraldi Cintio beides zusammen oder sollte es jedenfalls, wie Bisselius will. An die Stelle des unablässigen Bemühens um das religiöse Heil tritt die unablässig gebrauchte lima, die Feile, die ästhetische Vollkommenheit anstrebt.

31 Über C. Piso: statarius et sermonis plenus orator, Brut 239. 32 Giraldi Cintio, S. 64 und 66. 33 Vgl. unten S. 304. 34 Vgl. Czapla, erotische Dichtung, S. 242. 35 Vgl. Czapla, ebd., wendet sich gegen die Kritik der Forschung an der angeblich erotisierten Unbefleckten Empfängnis. Deren poetische Vollendung wird aber nie angegriffen.

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4. Marco Girolamo Vidas »Christias«36 ist vielleicht das berühmteste Bibelepos der Renaissance. An ihm ist die Verschiebung der Prioritäten noch deutlicher. Ich werfe zunächst einen Blick auf Vidas Poetik. Es stünde zu erwarten, dass er in »De arte poetica«37 Grundzüge einer christlichen Poesie niedergelegt hat, doch ist das nicht der Fall: Es geht um die Vielfalt der Dichtung (non carminis unum […] genus esse, I, V. 27 f.), auch wenn sie zuerst ›heiligen‹ (keineswegs nur christ­lichen) Dingen und dem Lob der Götter (nicht allein Christi) galt (licet celebranda reperti / Ad sacra sint tantum versus, laudesve deorum / Dicendas, I, V. 28–30). »De arte poetica« ist eine Lehrschrift für den angehenden Dichter, adressiert an den ältesten Sohn König Franz I. von Frankreich, die ihn anleiten soll, den Berg Apolls und der Musen zu besteigen (I, V. 26), getrieben von der Liebe des Ruhms: pulchrae laudis succensus amore (I, V. 7), denn die Musen versprechen höchste Ehren (summos […] honores, I, V. 500). Vida empfiehlt dem angehenden Dichter, von Jugend an Vergil als sacrum […] vatem zu verehren (I, V. 111), erst in zweiter Linie die übrigen antiken Autoren: Ergo ipsum ante alios animo venerare Maronem, Atque unum sequere, utque potes, vestigia serva; Qui si forte tibi non omnia sufficit unus, Adde illi natos eodem quoque tempore vates. (I, V. 208–211) (Verehre im Herzen vor allen anderen Maro, folge ihm allein, und bleib, so gut du kannst, in seinen Spuren. Wenn etwa er als einziger dir nicht reicht, dann füge Dichter, die in derselben Zeit lebten, hinzu.)

Vida gehört zur Fraktion der strengen Klassizisten.38 Vor anderen Autoren als Vergil wird geradezu gewarnt; erst später, wenn ein Stadium der Reife erlangt ist, sind sie zugelassen (I, V. 379–384). Das zweite Buch gibt Ratschläge für die Wahl des Gegenstandes und die angemessene Strukturierung des Werks. Hier erwartet man vergeblich ein Plädoyer für einen spezifisch christlichen Gegenstand. Vidas Musterung möglicher Themen bleibt im Horizont heroischer oder mythologischer Stoffe. Maßstab für das decorum und die inventio sind allein die Alten. Quid deceat, quid non, tibi nostri ostendere possunt. / Inventa ex aliis disce (»Was sich schickt, was nicht, können dir unsere Dichter zeigen; schöpfe die inventio aus anderen«, II, V. 541 f.). Vida 36 Di Cesare, Vida’s Christiad and Vergilian Epic. 37 Vida, De Arte poetica. Art poétique, hg. und übers. v. Jean Pappe. Es gibt eine ältere Fassung, die Williams herausgegeben hat. 38 Dieser Vergilkult ist bei Scaliger noch gesteigert: Vgl. Reineke, Scaligers Kritik, S. 24–26.

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muss gar nicht sagen, wer mit nostri gemeint ist; es sind die lateinischen Poeten, an erster Stelle Vergil. Das 3. Buch befasst sich mit dem ornatus. Das Rezept: Atque ideo ex priscis semper quo more loquamur Discendum, quorum depascimur aurea dicta, Praecipuumque avidi rerum populamus honorem (III, V. 210–212) (Wir müssen deshalb von den Alten immer lernen, wie wir sprechen sollen; wir nähren uns von ihren goldenen Worten; begierig plündern wir das, was ihnen vor allem Ehre einbringt.)

Nec pudet interdum alterius nos ore loquutos (»Es ist keine Schande, ab und zu die Worte anderer zu benutzen«, III, V. 216), freilich mit Vorsicht, Reihenfolge, Kontext u. a. verändernd. Saepe mihi placet antiquis alludere dictis, Atque aliud longe verbis proferre sub iisdem (III, V. 257 f.) (Oft gefällt es mir auf Redewendungen der Alten anzuspielen, aber mit denselben Worten etwas völlig anderes zu sagen.)

Zwar mag die lateinische Sprache ergänzungsbedürftig sein, da nicht alles Neue in ihr ausgedrückt werden kann, aber im Kern verschafft die Orientierung an den alten Mustern unsterblichen Ruhm:          Tua gloria cælo Succedet, nomenque tuum sinus39 ultimus orbis Audiet, ac nullo diffusum abolebitur ævo. (III, V. 522–524) (Dein Ruhm wird zum Himmel steigen und Deinen Namen wird auch der letzte Winkel der Erde hören, und für alle Zeit wird er, überall verbreitet, nicht untergehen.)

Dieser Ruhm hängt von Vergil, dem Vorbild der Vorbilder ab; ihm gilt der in eine Art Gebet mündende Lobpreis am Ende der Poetik: Nil adeo mortale sonas. Tibi captus amore Ipse suos animos, sua munera lætus Apollo Addidit, ac multa præstantem insigniit arte. (III, V. 578–580) (In nichts klingst Du wie ein Sterblicher; hingerissen von Liebe zu Dir, verlieh Apoll selbst freudig Dir seinen Geist, seine Geschenke, und zeichnete den hervorragenden Dichter mit höchster Kunst aus.)

39 Korr. aus finus.

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Die Fortsetzung klingt wie eine Inspirationsbitte an den Hl. Geist, doch richtet sie sich an einen profanen Dichter, ausgestattet mit den profanen Zeichen des Dichterruhms: O decus Italiae, lux o clarissima vatum. Te colimus: tibi serta damus, tibi tura, tibi aras, Et tibi rite sacrum semper dicemus honorem Carminibus memores. Salve, sanctissime vates. Laudibus augeri tua gloria nil potis ultra, Et nostrae nil vocis eget, nos aspice praesens, Pectoribusque tuos castis infunde calores Adveniens, pater, atque animiste te infere nostris. (III, V. 585–592) (O Zierde Italiens, o strahlendstes Licht der Dichter. Dich verehren wir, dir flechten wir Kränze, dir opfern wir Weihrauch, dir bauen wir Altäre und werden feierlich immer Deinen heiligen Ruhm verkünden, in unseren Dichtungen deiner gedenkend. Heil Dir, heiligster Dichter, kein Lob kann deinen Ruhm vermehren, er ist nicht auf unsere Stimme angewiesen. Steh uns bei und blick auf uns, gieße dein Feuer in unsere reine Brust. Komm, Vater, und senke dich, dich selbst in unsere Seelen.)

Es genügt, das Vokabular zu betrachten: lux clarissima, colere, Weihrauch, Altar, sacer honos, sanctissime, Enthobenheit allem menschlichen Tun entzogen, Eingießen des Feuers (infunde calores), adventus, pater. Der poetische Kult ersetzt den religiösen. Das ist der Hintergrund auch der »Christias«,40 Vidas Beitrag zu einem christlichen heroischen Epos. Den Auftrag erhält er von Papst Leo X., der von seiner Dichtung über den Ludus scacchiae so begeistert war, dass er ihn für den lange erwarteten Dichter hielt, dessen erhabener Stil die bewundernswerten und herausragenden Taten Christi in einer Dichtung feiern könne. Es gibt ältere Versuche dazu, aber sie sind poetisch nicht vollkommen.41 Leo hofft ein neuer Augustus zu werden, indem er in Vida seinen neuen Vergil gefunden zu haben glaubt. Der Auftrag wurde von Clemens VII. erneuert, dem Vida das Werk 1532 überreichen konnte. Der Anspruch des Papsttums, durch die Verbindung klassischer Poesie mit dem höchsten denkbaren Gegenstand Zentrum eines neuen augusteischen Zeitalters zu werden, ist freilich nach gut einem Jahrzehnt Reformation schon einigermaßen hybrid. Die Zukunft der Bibelepik ist konfessionell gespalten. 40 Marcus Hieronymus Vida, Christias. 41 Vgl. Williams, Introduction, S. XIII (nach einer autobiographischen Bemerkung Vidas in »De rei publicae dignitate«) bzw. S. XVII (nach Marco Paulo Tartessio, 1731); vgl. Christias Vida, S. 10 und 62 f.

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Gemeinsame Norm ist allein die klassische Form, für die der christliche Inhalt aber nur einer unter vielen ist. Bezeichnend, dass Vida sich in den Augen Leos durch die poetische Behandlung einer res ludrica, des Schachspiels, qualifiziert hatte.42 Giraldi Cintio nennt Vida als einzigen, der unter Führung Vergils so weit gekommen ist, wie ein Dichter heutzutage kommen kann (quem unum hac tempestate meo iudicio eo pervenisse videtur quo sine Graecis, duce cum primis Vergilio, poeta pervenire potest). Zum Beweis nennt er Vidas Werke, unter denen die »Christias« nur eines unter vielen anderen ist; unter poetologischem Aspekt ist die Wahl des Stoffes sekundär.43 Vida selbst spielt seinen Anteil am chef d’oeuvre christlicher Epik herunter, relativiert zumal seine innere Beteiligung: […] poetae quae canunt scribuntve ea suapte sponte atque animi libera quadam oblectatione faciunt; ego vero ista, qualiacumque, iussus, ne dicam coactus, scripsi: rectiusque fere Leonis X poemata quam mea dici possunt. (Die Dichter singen und schreiben aus ihrem eigenen Antrieb und einer gewissen freien Lust ihres Geistes; ich dagegen habe diese Texte, wie sie auch sein mögen, auf Befehl, um nicht zu sagen gezwungenermaßen geschrieben. Richtiger kann man sie als Dichtungen Leos X. denn als meine bezeichnen.)44

Vida betont, er habe das Werk nicht des Ruhms wegen verfasst (laudis aut gloriae cupiditate temere aggressum), sondern zwei Päpsten aus dem Hause Medici gehorchend, deren Freigebigkeit und Eifer, wie er 1535 hinzufügt, die Gegenwart eine Wiederbelebung von litterae und bonae artes verdanke.45 Die »Christias« ist ein Produkt frühneuzeitlichen Mäzenatentums, das ein neues Goldenes Zeitalter heraufführen will. Vida erkennt klar die Diskrepanz zwischen den Zielen poetischer aemulatio und dem Gegenstand. Das Werk begründete Vidas Ruhm, das weiß er, aber er stellt ihm die humilitas Christi gegenüber: Ego certe opus tam arduum atque adeo periculosum, non spe immortalitatis, aut gloriae, adortus sum: non oblitus, me scribere res illius, qui pro humani generis salute, humilis et abjectus ac plane inglorius animi certo judicio esse voluit.46 (Sicher habe ich ein so schwieriges, ja geradezu gefährliches Werk nicht in Hoffnung auf Unsterblichkeit und Ruhm begonnen, eingedenk des Umstandes, die Geschichte dessen zu schreiben, der zum Heil des Menschengeschlechts niedrig, abstoßend und fern von allen Gedanken an Ruhm sein wollte.)

42 43 44 45 46

So Vida selbst in De rei publicae dignitate nach Williams, S. XIII . Giraldi Cintio, Dialoghi, S. 92 und S. 94. Williams, S. XIXf. Vida, Einleitung, S. 65. Vida an seinen Kommentator Botta nach Williams, S. XXI.

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Die »Christias« erzählt mit dem letzten Abschnitt des Leben Jesu bis zum Pfingstwunder das zentrale Erlösungsgeschehen. Es ist Ende und Höhepunkt der labores, die der heros, diuus oder deus zu dulden hat. Am Anfang steht eine Bitte um Inspiration durch den Hl. Geist, wie sie auch mittelalterliche Bibeldichtungen enthalten könnten: Fas mihi te duce mortali immortalia digno Ore loqui interdumque oculos attollere coelo. (12 f.) (Unter Deiner Führung möge es mir Sterblichem gelingen in angemessener Rede Unsterbliches auszusprechen und gelegentlich die Augen zum Himmel zu erheben.)

Die Rede bedarf göttlicher Inspiration; die Worte aber sind der Antike entlehnt. Die 15 Verse des Proömions sind aus Versteilen von Lucrez, Lucan, Ovid und vor allem Vergil (»Aeneis«, »Georgica«, »Bucolica«) zusammengesetzt.47 Diese Similiendichte wird im ganzen Text durchgehalten. Selbst wenn man der ausufernden altphilologischen Similiensuche, die sich oft mit sehr vagen Ähnlichkeiten begnügt, skeptisch gegenübersteht, entsteht der Eindruck, dass Vida die Beherrschung einer antikisch geprägten Kunstsprache vorführt. In der Qualität ist er ranggleich mit Vergil. Die Differenz liegt, wie Lotichius zusammenfasst, nur in der Auswahl des Gegenstandes: Caesaris est vates Maro: Vida sed esse Jehovae    Et Christi vates maluit esse sui.48 (Vergil ist der Dichter des Kaisers, doch Vida zog es vor, der Dichter Jehovas und seines Christus zu sein.)

5. Nicht nur im lateinischen Klassizismus etabliert sich die ästhetische Norm neben und in Konkurrenz zur religiösen. Die entstehenden Nationalliteraturen müssen ihren Wert ebenfalls durch die Annäherung an antike oder andere berühmte Vorbilder unter Beweis stellen. Nur wenig verschiebt sich die Konstellation, wenn man den italienisch-altrömisch-imperialen Horizont verlässt. Du Bartas beruft sich darauf, der erste in Frankreich gewesen zu sein, der in einem Gedicht auf Französisch die hl. Schrift verherrlicht habe (qui par un juste poeme ay en nostre langue illustré la sainte Escriture).49 Illustrer ist ein Wort, das auf deutsch schwer 47 Vgl. die Nachweise unter Vida Christias, S. 70 f. 48 Nach Williams, Introduction, S. XX, bzw. Di Cesare, Vida’s Christiad and Vergilian Epic, S. 27. 49 The Works of Guillaume De Salluste Sieur Du Bartas, S. 3.

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wiederzugeben ist; es heißt Glanz verleihen, ausschmücken, zur Vollendung bringen. In all diesen Bedeutungen schwingt mit, dass durch die Nachahmung berühmter Dichter der hl. Schrift die ihrer Bedeutung angemessene literarische Gestalt verliehen wird. Im gleichen Zug stellt die französische Sprache ihre Eignung zur illustration der erhabensten Gegenstände unter Beweis. In seiner Schöpfungsgeschichte, der »Sepmaine«, bemüht sich Du Bartas, der Größe des Gegenstandes mit der Vollkommenheit poetischer Rede zu entsprechen. Bei dem Hugenotten Du Bartas darf man annehmen, dass der Gegenstand für ihn nicht beliebig war, das Maß aber, an dem er gemessen zu werden wünscht, ist der vollkommene Stil. Dafür nennt er im Vorwort seiner Bibeldichtung »Judit« Vorbilder. Er sei, obwohl er sich nicht von der verité d’histoire entfernt habe, nicht der Ordnung und dem Wortlaut (l’ordre et la frase) des biblischen Textes gefolgt, weil er Homer in seiner »Ilias«, Vergil in seiner »Aeneis« und – man staunt – Ariost in seinem »Orlando furioso« nachahmen wollte, um der delectatio seines Werks willen (pour en rendre de tant plus mon oeuvre delectable).50 Diese Reihe von Autoritäten ist nur dann halbwegs plausibel, wenn man poetische Qualität als tertium ansieht. In der Tat gilt in der französischen Literatur des 16. Jahrhunderts die italienische Literatur und in der Epik speziell Ariost als ranggleich mit den Alten und als großes stilistisches Vorbild für französische Epiker, die in der Volkssprache schreiben, und sei es über die Bibel. Es gibt, zumal in der volkssprachigen deutschen Literatur, Vorbehalte gegen diese Verschiebung auf die Form. Das Titelblatt von Tobias Hübners deutscher Übersetzung der »Sepmaine« verweist einerseits auf die poetischen Errungenschaften (für die auch die Herausgabe durch die Fruchtbringende Gesellschaft steht), dank denen die Vorlage in wolgemessene deutsche Reime / mit ebenmessigen endungen / auch nit mehr oder weniger Silben übertragen werden kann, und die Vorrede rühmt Hübners und der Herausgeber unermüdliches Bemühen um formale Vollendung nach dem Vorbild Vergils, der drei Jahre an den »Bucolica« gearbeitet habe, fünf an den »Georgica« und elf an der »Aeneis«, bis zu seinem Tod, wobei er mit der Ausfeilung nicht mehr fertig wurde.51 Andererseits hat in der deutschen Version der Formprimat seine Grenzen an religiöser Orthodoxie: ͤ die Du Bartas nach art der Poeten eingeDie namen der heydenischen Go tzen, führt habe, habe man teils eliminiert, teils in ihrer (allegorischen) Bedeutung erläutert (S. 5). Dieser Zwiespalt kennzeichnet die Bibeldichtung im protestantischen Deutschland. Eine Domäne christlicher Dichtung aus antikem Geist bleibt die Päda­gogik. Die Überlegenheit der christlichen Poesie erwächst aus ihrer moralisch-dogmatischen Überlegenheit. Doch wie für Baptista Mantuanus muss sich diese auch 50 Ebd. 51 Hübner, Die erste vnd andere Woche, S. 3 f.

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auf sprachlicher Ebene bewähren. Ideal der Reformationspädagogik ist die docta et eloquens pietas, wie sie Johannes Sturm propagiert hat.52 Die Einkleidung religiöser Inhalte in antikisches Gewand bleibt vor allem eine Veranstaltung für die Schule, in der antikische Beredsamkeit nicht abgelöst von religiöser Unterweisung erfolgen soll. Doch trotz der zahllosen antikisierenden Bibeldichtungen ist die ästhetische Ausbeute eher bescheiden. Gemeinsam ist ihnen jedoch mit den Gipfelwerken der italienischen Renaissance die Konkurrenz unterschiedlicher Ziele, religiöser und ästhetischer in erster Linie, daneben pädagogischer und politischer. Zwischen diesen Zielen können sich Spannungen ergeben. Nicodemus Frischlin sucht sich mit seiner »Hebrais ad imitationem Aeneidos Vergilii« zu rehabilitieren. Die Arbeit daran illustriert den Zwiespalt antikisierender Bibeldichtung im konfessionellen Zeitalter. Die Konzeption des Werks war – so Czapla – »allein in Frischlins poetisches Vermögen und ästhetisches Empfinden gestellt«. Doch notiert Czapla auch, dass die Inhalte des Epos geistlicher Kontrolle durch äußere Instanzen unterzogen werden: »Freilich stand seine Arbeit unter ständiger Aufsicht« durch den Propst Johannes Magirus und den Hofprediger Lukas Osiander.53 Rechtgläubigkeit ist eine notwendige Bedingung, aber keine hinreichende. Für sie ist der Dichter weniger verantwortlich; seine Sache ist die poetische Vollendung. Religiöse Dichtung ist erst in zweiter Linie Ausdruck seiner Frömmigkeit, in erster Resultat seines poetischen Könnens. Der Gegenstand ist Sache der längst in der Konfessionalisierung zersplitterten Lehrautorität. Trotzdem zählt im paragone der Dichter auch der Stoff, der dem der »Aeneis« unendlich überlegen ist, denn er ist ›wahr‹. Frischlins Schüler Bollinger weist das in ausführlichen Vergleichen mit Vergils fabulae nach.54 Bollingers »Moseis« will sich an die Spitze epischer Poesie setzen, weil sie auf allen Ebenen die Alten überbietet, denn ihr Gegenstand ist älter als der Homers und Vergils, er ist erhabener, und er stammt vom Himmel (adeo e Coelo missa omnia). Doch entlehnt sie die Elegantiarum et Phrasium copia den alten lateinischen Poeten; Bollinger achtet auf die Gesetze der Poesie, denn die »Moseis« ist nicht Geschichtswerk, sondern Dichtung.55 Die elocutio scheint ein beliebig verwendbares Kleid.56 Die Folge sind mehr oder weniger plumpe Übertragungen vergilischer Redewendungen 52 Vgl. Schindling, Humanistische Hochschule. 53 Czapla, Bibelepos, S. 270. 54 Vgl. ebd., S. 278 f. 55 Ebd., S. 350: Interim tamen Elegantiarum et Phrasium copiam veteres illi Poëte Latini mihi suppeditauerunt; nec non artificiosam μέθοδον Poëticam, Psalmorum dispositionem non ineptam obseruaui, ne Historicum potius quam poëtam agere viderer. 56 Ein Lobredner Bollingers spricht von einer »Vergiliana vestis« (nach Czapla, Bibelepos, S. 169). So werde die Sprache Vergils gereinigt; so sei sie geeignet für die Jugend, die ihr Formulierungen entlehnen solle, ohne mit den lügenhaften Themen Vergils behelligt zu werden. Klassische Ästhetik als Aufputz des frommen Gegenstandes.

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auf den frommen Gegenstand, die Geschichte des Moses: Bella virumque cano (V.5), qui primus ab oris (V. 5) Per varios casus (V. 7) usw.57 Mit Sannazaros Raffinement haben solch bieder-epigonale Spolien wenig zu tun; Bollingers selbstgesetzten Ansprüchen scheinen sie genügt zu haben. Doch selbst bei ihm machen sich neben dem religiösen andere Ziele geltend. Wenn Bollinger in Versen an einen potentiellen Mäzen einmal mehr die Minderwertigkeit heidnischer Dichtung wegen der besungenen Figuren betont, mit denen ein Christ sich nicht zu beschäftigen habe (V. 9–14), dann hat er den eigenen Dichterruhm und eine angemessene Entlohnung im Auge. Er will die Förderungswürdigkeit des christlichen Dichters dem Mäzen vor Augen rücken, da die materielle Unterstützung der ›richtigen‹ Poesie nicht nur ihrem Autor, sondern auch dem Mäzen ewigen Ruhm verschafft: AEs perit, & quo vix res est preciosior, aurum: Sola Poëtarum carmina docta manent. (V. 39–40) (Erz vergeht und das kostbarste von allem, das Gold; nur die gelehrten Gesänge der Dichter überdauern.)

Warum sollte der Mäzen sich an solch vergängliches Gut klammern? Das horazische aere perennius wird zur klingenden Münze umgedeutet, und darauf hat eine christliche Poesie einen höheren Anspruch als eine heidnische.58

6. Diese Verschiebung blieb schon Zeitgenossen nicht verborgen. Von Anfang an gibt es Gegenbewegungen, die auf dem religiösen Gehalt bestehen und nur in engem Rahmen antikisch gefärbten Redeschmuck zulassen. Ugolino Verino optiert für eine Poesie »che faccia leva soprattutto sulla robustezza teologica e sulla nuda eppur potente e suggestiva efficacia della rappresentazione«; religiöse Dichtung soll »sobria, vera, nitens, facilis, sincera« sein, kein »travestimento mitologico«.59 Savonarola betont im »Apologeticus«, dass die Redekunst a priori ambivalent sei, weil sie ihren Ursprung bei den Heiden habe; das wirke sich selbst beim einzig ihr angemessenen christlichen Gegenstand aus, »attirando l’attenzione dei lettori sulla vuota bellezza esteriore e spingendo i poeti a curare e a gloriarsi più dell’abilità letteraria che della profondità dottrinale«.60 Savanarola 57 Die folgenden Vergilzitate nach Czapla, Bibelepos, S. 351 f. 58 Vgl. Bollingers carmen an Martin Aichmann nach Czapla, Bibelepos, S. 345–347. 59 Bausi, Ugolino Verino, hier S. 131 f.; die zitierten Epitheta aus der Prefatio des »Poema Sacrum« Verinos. 60 Ebd., S. 133.

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wendet sich dagegen »di rivestire gli argomenti sacri con panni virgiliani  e ­ciceroniani« und gegen die Anmaßung, die göttliche Lehre »con le lusinghe della letteratura« zu verschönern.61 Erasmus von Rotterdam hat in seinem Dialog »Ciceronianus« das Problem erkannt.62 Der Vergilkult in der gebundenen Rede, in dem sich die christlichen Epiker überbieten, entspricht der von Erasmus verspotteten Ciceromanie in der Prosa. Gegenüber der albernen Idolisierung des Cicero wie der pagan-antiken Literatur insgesamt durch Nosoponus vertritt Erasmus’ alter Ego Bulephorus eine moderne Dichtung, die den grundlegenden Veränderungen der politischen, sozialen und kulturellen Verhältnisse gerecht wird und dabei insbesondere deren christliche Basis berücksichtigt. Die anstößigen Gegenstände der heidnischen Antike sollen ersetzt werden, ohne dass der Anspruch auf ästhetische Vollendung aufgegeben wird. Um sie an diesem Anspruch zu messen, mustern die Gesprächspartner am Ende mittelalterliche und zeitgenössische Autoren. Bei vielen hervorragenden Schriftstellern der jüngeren Zeit wendet der Ciceronianer Nosoponus ein, ihre Sachbezogenheit störe den Stil. Bei Longolius, dem perfekten Stilisten, hält ihm Bulephorus entgegen, dass sein Stil den Redegegenstand verfälsche. Nach einigen Prosaautoren kommt man schließlich auf christliche Dichter zu sprechen, an erster Stelle Jacopo Sannazaro und sein »De partu virginis«, das, wie Bulephorus vermerkt, durch die Breven der Päpste Leo X. und Clemens VII. die offizielle Anerkennung als Meisterwerk christlicher Dichtung genießt. Dem schließt Bulephorus sich an, mit dem kleinen Vorbehalt, das Werk wäre noch besser, si materiam sacram tractasset aliquanto sacratius. Was heißt hier sacratius? Theresa Payr übersetzt: »wenn er diesen religiösen Stoff mit etwas mehr Religiosität behandelt hätte« (S. 318 f.). Besser würde man vielleicht sagen: wenn er den heiligen Gegenstand etwas mehr als einen heiligen behandelt hätte. Bei Sannazaro dominiert die Form den Gegenstand, was Bulephorus schon an winzigen Details beobachtet; so werde in V. I, 20 (Tuque adeo spes fida hominum, spes fida deorum) aus metrischen Gründen ein dogmatisch unbedenkliches divorum durch ein dogmatisch fragwürdiges deorum ersetzt. Bulephorus meint, in der Beachtung des aptum sei Baptista Mantuanus besser als Sannazaro. Wozu sei es nämlich gut, Apoll und die Musen anzurufen und heilsgeschichtliche Vorgänge mythologisch  – paganicè  – zu verkleiden? Das ist der bekannte Vorbehalt gegen eine pagane Rhetorik, die das Christentum dissimuliert, und den Dichter vor dem Gegenstand in den Vordergrund rückt. Siquidem Christi mysteria non solum erudite, verum etiam religiose tractanda sunt. Payr übersetzt: »Denn die Mysterien Christi müssen nicht nur kunstvoll, 61 Nach ebd., S. 133. 62 Erasmus von Rotterdam, Dialogus cui titulus Ciceronianus sive de optimo dicendi genere.

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sie müssen auch gläubig behandelt werden« (S. 320 f.). Das verwischt wieder die Spannung; erudite meint mehr als ›kunstvoll‹; es schließt die selbstgewisse Leistung dessen ein, der eruditio erworben hat. Und die angemessene Behandlung muss nicht nur ›gläubig‹ sein, sondern mit ›religiöser‹ Scheu sich dem Mysterium nähern. Der Dichter muss von seinem Gegenstand ergriffen sein. Es genüge nicht, den Leser – als einen verwöhnten Literaturliebhaber – durch die Behandlung des Gegenstandes zu unterhalten und zu erfreuen (delectatiuncula, sagt Bulephorus abwertend, S. 320), vielmehr müssen die Affekte des Lesers auf Gott ausgerichtet werden: excitandi sunt affectus Deo digni. Er müsse zur Frömmigkeit bewegt werden (ad pietatem commovere, S. 322). Erasmus wendet sich nicht gegen klassischen Redeschmuck, doch darf dieser nicht das Wesentliche (quae praecipua sunt) verdecken: Quale porro sit materiam piam ob hoc ipsum putere nobis, quod pie tractata sit? At pie tractari qui potest, si nunquam dimoveas oculos a Virgiliis Horatiis ac Nasonibus? (S. 320/322) (Es darf nicht sein, dass ein frommer Gegenstand uns schlecht riecht, nur weil er fromm behandelt wird. Wie aber sollte man ihn fromm darstellen können, wenn man seine Augen immerzu auf Autoren wie Vergil, Horaz und Ovid schielen lässt?)

Wieder scheint mir Payrs Übersetzung die Nuance zu verfehlen, indem sie pius mit »religiös«, statt ›fromm‹ und materia mit »Stoff« wiedergibt.63 Erasmus scheint zwischen sacrate, religiose und pie zu unterscheiden. Sacrate polemisiert gegen die Übernahme einer dem Christentum fremden mythologischen Sprache; religiose zielt auf die geforderte ehrfurchtsvolle Haltung des Dichters gegenüber dem Mysterium, dem mit menschlicher Gelehrsamkeit nicht beizukommen ist; pie meint vor allem die Wirkung der Darstellung auf den gläubigen Christen. Dieser Terminus führt am nächsten an das heran, was in der Frühen Neuzeit Erbauung wird. Religiöse Dichtung schließt Gelehrsamkeit (erudite) nicht aus, erklärt sie aber zur Nebensache, während der Blick der humanistischen Bibelepiker sich vom Inhalt auf die Form verschoben hat. Wer immer nach Vergil, Horaz und Ovid schielt, verfehlt seinen Zweck: movere, konkretisiert als Rührung. Erasmus reagiert auf eine Situation, in der religiöse Dichtung Gegenstand dichterischer aemulatio geworden ist, und er bringt ihr gegenüber den ursprünglichen Zweck zur Geltung. Religiöse Dichtung soll der Erregung von Affekten beim Leser dienen. Sie setzt dieselben Affekte beim Autor voraus. Die kunstvolle Anstrengung ist anerkennenswert, aber wann haben jene Poeten ihren Rezipienten je auch nur eine kleine Träne entlockt? Wen haben sie zur Frömmigkeit bewegt und von einem lasterhaften Leben weggerufen? (sed cui umquam ista 63 Ebd., S. 321 und 323.

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lacrimulam extuderunt? Quem ad pietatem commoverunt? Quem ab impura vita revocarunt? S. 322). Das kommt dem neuzeitlichen Erbauungsbegriff und der frühneuzeitlichen Erbauungsliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts zumindest nahe.64 Erbauungsliteratur ist in diesem Verstande das, was nach Abzug eitler aemulatio übrigbleibt. Letztlich zählt Bulephorus die Vereinbarkeit von Christus mit Apoll und den Musen der Mythologie oder den antiken Gott Proteus als christlicher Prophet bei Sannazaro zu den Adynata – wie die Vereinigung von Tiger und Lamm – Oportebat enim omnem Christianorum orationem resipere Christum: Jede Rede eines Christen muss Christus atmen (S. 324).

7. Zum Schluss noch eine kurze Anmerkung zu einem viel späteren Text, der das gewandelte Verhältnis des literarischen Autors zum heiligen Gegenstand illustriert. Zu Clemens Brentanos Spätwerk, das kaum ein Mensch kennt und das erst die Gesamtausgabe wieder ans Licht brachte, gehört die Ausgabe von Schriften zu Maria, zur Passion Christi und zur Eucharistie »nach den Betrachtungen der gottseligen Anna Katharina Emmerich« einer »begnadigten« Nonne aus dem Münsterland.65 Brentano macht sich zum bloßen Sprachrohr einer ›einfältigen‹ Frau aus ›einfältiger‹ Umgebung. Er will sich nicht als Dichter profilieren und ewigen Lorbeer erwerben. Es sind »Betrachtungen unter vielen ähnlichen Früchten der contemplativen Jesusliebe«. Diese wollen »nichts, als sich demüthig den unzählig verschiedenen Darstellungen des bittern Leidens durch bildende Künste und fromme Schriftsteller anschließen, und höchstens für vielleicht ebenso unvollkommen aufgefaßte und erzählte, als ungeschickt niedergeschriebene Fastenbetrachtungen einer frommen Klosterfrau gelten, welche solchen Vorstellungen nie einen höhern als einen menschlich gebrechlichen Werth beilegte« (S. 13). Der vielleicht berühmteste Dichter der Romantik tritt als bloßer ›Schreiber‹ auf, der, vom Bischof von Regensburg an dessen Sterbelager ermutigt, sich zur Herausgabe der »Passionsbetrachtungen jener frommen Klosterfrau« 64 Vgl. Solbach (Hg.), Aedificatio. Der Band bemüht sich, aedificatio medienübergreifend zu verstehen und von der Gattung der ›Erbauungsliteratur‹ zu lösen. Die Komponenten dessen, was ›Erbauung‹ und ›erbaulich‹ heißt, entsprechen in den meisten Beiträgen der Einrede des Erasmus gegen eine erudite religiöse Literatur. Doch müssten die grundsätz­ lichen Wirkungsalternativen schärfer gefasst sein. Bachs Präludien und Fugen und der Gemeindegesang, Affektmodellierung im Roman, heroische Versepisteln und allegorische Schäferdichtung, neulateinische Heroik und Predigtmärlein setzen sehr unterschiedliche Erbauungsbegriffe voraus. Zur begrifflichen Klärung trägt der Band insgesamt wenig bei (vgl. aber wichtige Hinweise in den Beiträgen Franz Eybl und Hermann Kurzke). 65 Emmerich, Das bittere Leiden unsers Herrn Jesu Christi.

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entschließt, »deren kleinste Gnade es nicht war, […] wie es Noth that, jetzt ganz einfältig, kindlich, wehrlos und unbedeutend, dann aber wieder ganz erleuchtet, scharfsinnig, heldenmüthig und überwiegend, beides aber bewußt- und absichtslos, in Jesu Christo allein stark, in aller Demuth, nicht zu scheinen, sondern immer zu seyn« (S. 14). Die Lebensbeschreibung bemüht sich um schlichten Legendenton. Die Nonne ist Tochter »armer und frommer Bauersleute« (S. 14); ihre Jugend gleicht der »ähnlicher contemplative[r] Seelen aus dem Bauernstande, welche die Herablassung Gottes zu den Menschenkindern an sich als wahr erfunden haben«. Die Gottesmutter besucht sie. »Die lieben Heiligen thaten eben so, und holten freundlich die Kränze ab, welche sie ihnen an ihren Festtagen flocht«. In ihrer »einfältige[n] Umgebung« stoßen ihre Visionen auf Befremden; sie »glaubte einfältig, es schicke sich nicht, von so etwas zu reden« und schwieg künftig (S. 15). Und so schildert der Schreiber ihre Sehergabe, ihre Visionen, ihre Heilkräfte, ihre Askese, ihre Wohltätigkeit, ihre Stigmatisierung usw., alles einer feindlichen Umwelt abgetrotzt, das Bild einer Heiligen. Der Autor bringt sich zum Verschwinden. Er gibt nur wieder, was die Nonne ihm, ihrem ›Gewissensführer‹ Dechant Bernard Overberg und Bischof Johann Michael Sailer folgend, ihm mitteilt. Er setzt ›Einfalt‹ gegen den schweren Ornatus kunstvoller Rede, Demut gegen Prätention, Bewusst- und Absichtslosigkeit gegen poetisches Kalkül. Das ist nicht mehr der gelehrte Literat, der seine Kunst am ausgezeichneten Gegenstand zur Geltung bringt, aber es ist auch nicht der mittelalterliche Autor, der sein Bestes gibt im Bewusstsein, immer weit hinter dem Anspruch des Gegenstandes zurückzubleiben, der in der ständigen Furcht lebt, sich unzulässig mit seiner Kunst vorzudrängen. Brentano inszeniert sich als bloßes Medium, erörtert allenfalls die Vereinbarkeit des Aufgeschriebenen mit der kirchlichen Überlieferung (S. 65 f.) und beteuert im Übrigen die Authentizität seiner Worte: Sie sprach gewöhnlich niederdeutsch, im ekstatischen Zustande oft auch eine reinere Mundart; ihre Mittheilung wechselte zwischen Kindlichkeit und Begeisterung. Alles Gehörte, das unter behinderten Verhältnissen in ihrer Gegenwart sehr selten kaum in wenigen Zügen notirt werden konnte, ward unmittelbar zu Haus aufgeschrieben [Passiv!, Anmerkung JDM]. Der Geber alles Guten gab [wem, wird nicht gesagt, Anmerkung JDM] Gedächtniß, Fleiß und jene Gemüthserhebung über viele Leiden, welche die Arbeit möglich machten, wie sie ist. Der Schreiber that, was er konnte, und spricht in diesem Bewußtseyn den genügsamen Leser um ein Gebetsalmosen an. (S. 112)

Der ›Schreiber‹ erwartet nicht Ruhm, sondern ein »Gebetsalmosen«. Das Publikum des Textes mutiert zur Gemeinde. Die Rolle des Schreibers ist marginalisiert. Manchmal kolportiert er nur ihren Bericht, manchmal lässt er sie selbst

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zu Wort kommen. Die Worte der ›Betrachtenden‹ müssen geordnet werden, manchmal kontextualisiert; manches muss um der Wahrheit willen bruchstückhaft bleiben. Den ›gottesfürchtigen Freunden‹, die um die Mitteilung der Betrachtungen bitten, ist dies gleichgültig; ihnen geht es um fromme – ja, ich verwende den Begriff in diesem, hier zu Recht kritisierten Sinne – ›Erbauung‹. Die Eliminierung des Autors ist Konsequenz der prätendierten Kunstlosigkeit der neuzeitlichen Erbauungsliteratur. Nicht umsonst wird einer ihrer wichtigsten Autoren im 19. Jahrhundert, Johann Michael Sailer, genannt. Besser kann man das, was Erbauungsliteratur jetzt ist, nicht sagen, als Brentano, der sich selbst als Autor dementiert, Brentano, der doch in seinem früheren Leben mit wenigen anderen eine neue literarische Epoche einläutete, die den Dichter zur kulturellen Leitfigur machte. Mir geht es nicht um die Glaubwürdigkeit dieser Entstehungsfiktion, nicht um Brentanos kunstvolle, ja raffinierte Schlichtheit, sondern um den Klimawandel, den sie anzeigen. Texte wie die der Münsterer Nonne, Texte, die sich dem poetischen Wettstreit entziehen, sind nur erbaulich. Es gibt sie seit dem 16. Jahrhundert in großer Zahl. Ich erinnere an die Schriften des Aegidius Albertinus. Die neuzeitliche Erbauungsliteratur, so meine These, und das Begriffsfeld des ›Erbaulichen‹ entstehen also im Zuge einer Emanzipation der Literatur insgesamt von übergeordneten Zwecken. Die christliche Epik der Frühen Neuzeit fügt sich zwar explizit immer noch religiösen Programmen ein und ordnet sich ihnen mehr oder weniger deutlich unter, aber sie sind nicht ihr einziges Ziel, denn zugleich geht es ihr um den poetischen Wettstreit mit der Antike und deren Überbietung. Der Dichter agiert weniger vor Gott als vor seinen zeitgenössischen Konkurrenten.

Literaturverzeichnis I. Texte und Quellen C. Vettii Aquilini Iuvenci, Libri Evangeliorum IIII […] rec. Carolus Marold, Leipzig 1886. Erasmus von Rotterdam, Dialogus cui titulus Ciceronianus sive de optimo dicendi genere, in: Ders.: Ausgewählte Schriften. Ausgabe in acht Bänden. Lateinisch und Deutsch, hg. von Werner Welzig und übersetzt von Theresia Payr, Bd. 8, Darmstadt 1972, S. 1–355. Opus epistolarum Desiderii Erasmi Roterodami, hg. von Percy Stafford Allen, Oxford 1906, Bd. I. F. Baptistae Mantuani Bucolica Seu adolescentia in decem aeglogas divisa. Ab Iodoco Badio Ascensio familariter exposita, Straßburg 1503. Fratris Baptistae Mantuani Carmelitae Theologi ad Ludovicum Fuscarium et Ioannem Baptistam Refrigererium ciues Boninienses Parthenice incipit foeliciter, Bologna 1488. Hübner, Tobias, Die erste vnd andere Woche Wilhelms von Saluste Herrn zu Bartas […] Vor Jahren Aus dem Frantzoͤsischen in wol gemessene deutsche Reime / mit ebenmessigen ­endungen / auch nit mehr oder weniger Silben durch ein Mittglied der fruchtbringenden

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Gesellschafft gebracht vnd ausgangen. An ietzo aber Eines theils durch den Ubersetzer selbsten bey seinem leben / Als nach seinem toͤd lichen abgang durch andere beyder Sprachen kuͤndige / uͤbersehen / verbessert […] vnd von Neuen an den Tag gegeben, Köthen 1640. The Works of Guillaume De Salluste Sieur Du Bartas. A Critical Edition with Introduction, Commentary, and Variants hg. von Urban Tigner Holmes, Jr., John Coridon Lyons und Robert White Linker, Bd. 2, Chapel Hill 1938. Das bittere Leiden unsers Herrn Jesu Christi. Nach den Betrachtungen der gottseligen Anna Katharina Emmerich […] nebst dem Lebensumriss dieser Begnadigten. Durch die Mittheilungen über das letzte Abendmahl vermehrte zweite Auflage, hg. von Bernhard Gajek, in: Clemens Brentano, Sämtliche Werke und Briefe. Band 26, Stuttgart u. a. 1980. Lilio Gregorio Giraldi da Ferrara, Due Dialoghi sui poeti dei nostri tempi, hg. von Claudia Pandolfi, Ferrara 1999. Reinbot von Durne, Der heilige Georg. Nach sämtlichen Handschriften, hg. von Carl von Kraus, Heidelberg 1907. Sannazaro, Iacopo, De partu virginis, hg. von Charles Fantazzi und Alessandro Perosa, Florenz 1988. –, Il parto della vergine volgarizzamento di Giovanni Giolito Ferrari (1588), a cura di Stefano Prandi, Rom 2001. Vida, Marco Girolamo, De Arte poetica. Art poétique, hg. und übers. von Jean Pappe, Genf 2013. Vida, Marcus Hieronymus, Christias. Bd. 1: Einleitung, Edition, Übersetzung. Bd. 2 Kommentar, hg. von Eva von Contzen u. a., Trier 2013.

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Andreas Nehring (Erlangen)

»Teilnehmende Aufmerksamkeit«. Religionswissenschaftliche Überlegungen zum tanzenden Shiva

Religionswissenschaft wird wie jede andere Wissenschaft auch in ihren Fragestellungen und perspektivischen Ausrichtungen durch Probleme veranlasst, und zwar können diese Probleme praktischer oder theoretischer Art sein. Während praktische Probleme zur Veränderung von Handlungsplänen motivieren, regen theoretische Probleme zu Erklärungen und zur Formulierung von Hypothesenzusammenhängen an. Was mich zu den folgenden Überlegungen motiviert hat, ist zweifellos ein theoretisches Problem: Was ist Aufmerksamkeit?1 Und welchen religionswissenschaftlichen Mehrwert bietet eine neuerliche Reflexion über dieses in der westlichen philosophischen Tradition fest verankerte Thema, zumal wir uns in der Religionswissenschaft ja auch auf das aus der Ethnologie entlehnte und breit rezipierte Konzept der »teilnehmenden Beobachtung« berufen können? Was mich hier interessiert, sind visuelle Bildpraxen und Repräsentationsformen, wie sich diese verändern und wie sie kategorisiert und analysiert werden können. Dabei wird die Religionswissenschaft einiges aus den Kunst- und Bildwissenschaften lernen können, die herausgearbeitet haben, wie Rezeptions- und Produktionsbedingungen von Bildern kulturell geprägt sind. Bis heute ist eine religionsästhetische Zugangsweise in meinem Fach nach wie vor in den Anfängen, wenn auch bereits in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts erste Ansätze dazu formuliert worden sind. Die Forderung einer Religionsästhetik ist mit der kulturwissenschaftlichen Wende verbunden, die seit den späten 1970er Jahren auch in der Religionswissenschaft Fuß gefasst hat. Im Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe (HrwG) wird im ersten Band die programmatische Skizze einer Religionsästhetik als einer neuen Teildisziplin der Religionswissenschaft ent1 Entscheidende Impulse für die folgenden Überlegungen verdanke ich Christoph Ernst, der im Rahmen unserer gemeinsamen Arbeit an DFG -Graduiertenkollegs zu Kulturhermeneutik und zu Präsenz und implizitem Wissen konzeptionelle Vorüberlegungen zur Erforschung von Aufmerksamkeit vorgelegt hat, die in diesen Beitrag eingegangen sind.

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wickelt. Die Verfasser Hubert Cancik und Hubert Mohr geben einen Überblick über Forschungsfelder, die sich aus unterschiedlichen Traditionen speisen.2 Etwa zur gleichen Zeit ist auch die Bildanthropologie in der Religionswissenschaft rezipiert worden. Am Institut für religiöse Ikonografie der Universität Groningen entstand zwischen 1982 und 1990 eine Reihe: »Visible Religion. Annual of Religious Iconography«, die maßgeblich von dem Bremer Religionswissenschaftler Hans-Georg Kippenberg verantwortet und mit herausgegeben wurde. Die Ausrichtung der Jahrbücher ist ikonologisch und ikonografisch. Allerdings wurden in dieser Reihe nicht nur europäische und außereuropäische Bildkulturen kategorisiert und nebeneinander gestellt, sondern Fragen der indigenen Perspektiven, des Kulturaustausches und damit verbundenen Adaptionsprozessen in den Bildkulturen wurden in die Analysen aufgenommen. In einem für das Fach und die weitere Entwicklung programmatischen Artikel bestimmt Jürgen Mohn die Religionsästhetik als Möglichkeit, das Erbe der in die Kritik geratenen Religionsphänomenologie anzutreten. Ziel von Mohns Überlegungen ist es, der Religionswissenschaft ein genuines Profil und eine innovative Methodik im Kanon der Kulturwissenschaften zu geben.3 Profil und Methodik dieser neuen Teildisziplin der Religionswissenschaft fordern eine neue Ausrichtung, die Mohn als einen Paradigmenwechsel bezeichnet. Da er wesentliche Punkte aufzeigt, die auch für meine Überlegungen zur Aufmerksamkeit wichtig sein werden, sollen sie hier vorangestellt werden: Die Religionswissenschaft solle nicht mehr 1. Religion als ein nur intellektuelles, diskursives, am Ideal ihrer Reflexionsgestalten wie der Theologie gemessenes Gedanken- oder Lehrsystem verstehen, sondern als ein System von Wahrnehmungs-, Zeichen- und Kommunikationsprozessen; 2. Religion durch eine statische, sondern durch eine dynamische Religionstheorie zu erfassen versuchen und die durchgängige Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit religiöser Sinnsysteme in den Mittelpunkt ihrer Erforschung stellen; 3. den isolierenden Weg der klassischen Religionsphänomenologie gehen, sondern einen neuen Diskurs mit den kulturwissenschaftlichen Ansätzen der Semiotik, der Medientheorie, der Anthropologie der Sinne, der Ästhetik und Kunstwissenschaft anstreben; 4. von dem sich manifestierenden Heiligen ausgehen, sondern sich auf die ästhetische (wahrnehmungsangepasste)  Konstruktion dieses Heiligen (und auch des Hässlichen, Monströsen und Teuflischen) konzentrieren, also auf die sinnliche Produktion und Rezeption im Wahrnehmungsprozess und damit auf die kulturvariant ermöglichte Kommunikation des Heiligen oder von Heilig-Profan-Unterscheidungen ihre Aufmerksamkeit richten.4 2 Cancik und Mohr, Art. ›Religionsästhetik‹. 3 Mohn, Von der Religionsphänomenologie zur Religionsästhetik. 4 Ebd., S. 304.

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Mohn fordert, dass diese neue Religionsästhetik »bei der ›ästhetischen‹ Qualität im Prozess der Produktion der die religiösen Inhalte vermittelnden Zeichen und deren medialen Präsentationsformen« anzusetzen habe, ebenso wie bei der »sinnlichen bzw. sinnhaften Verfasstheit des wahrnehmenden und erfahrenden menschlichen Körpers« und schließlich »bei dem tropischen Charakter religiöser Sprache und Symbolisierungen im Prozess der Kommunikation zwischen den sinnproduzierenden und sinnrezipierenden Akteuren eines religiösen Feldes.«5 Zweifellos spielt für die Religionsästhetik die Wahrnehmung und mehr noch die Aufmerksamkeit auf der Seite der Produktion wie auf der Seite der Rezeption eine zentrale Rolle, mich interessieren aber hier weniger die religiösen Akteure in dem Bereich, den Mohn mit Bourdieu als ein religiöses Feld bzw. Feld religiöser Kommunikation herausarbeiten will, sondern zunächst der Prozess der Wahrnehmung selbst, bzw. ich möchte die Frage stellen, warum einigen Objekten, seien sie im religiösen Gebrauch, als Kunstwerke oder als kommodifizierte Werbeobjekte, mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird als anderen. Diese Frage ist nun in der Literaturgeschichte und Kunstgeschichte keineswegs neu. Frank Kermode hat sie seinem Essayband »Forms of Attention« an den Anfang gestellt und damit auch die Frage nach dem Prozess der Kanonisierung von Werken und Kunstobjekten aufgeworfen.6 Während er in Bezug auf Werke der Literatur und der Kunst darlegt, wie Kanonisierungsprozesse durch wiederholte Interpretationen manifest werden und er damit Aufmerksamkeit (attention) als einen Vorgang ansieht, der eine langfristige individuelle oder kollektive Beschäftigung mit einem Gegenstand / Werk impliziert, kann Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand auch durch unmittelbare Begegnung oder Gegenüberstellung geweckt werden. Aufmerksamkeit ist als ein individuelles Phänomen bisher vor allem ein Gegenstand von Disziplinen wie der Psychologie, Psychiatrie, Neurologie, Neurophilosophie und der Philosophie des Geistes. Als kollektives Phänomen wird die Aufmerksamkeit vorrangig von der Soziologie, Sozialpsychologie, Politikwissenschaft und Publizistik untersucht. Der Begriff der Aufmerksamkeit spielte dagegen in den Geisteswissenschaften eine bislang eher untergeordnete Rolle, auch wenn die Frage nach der Aufmerksamkeit seit der Antike in der europäischen Geistesgeschichte virulent ist. Wie Peter von Moos in einem sehr erhellenden Aufsatz zeigt, wurde der lateini-

5 Ebd. 6 »[…]  a good deal of what I say concerns the processes by which we establish the high opinion of a work or of an artist which normally precedes the most energetic efforts of criticism and interpretation – that is the nature of the historical forces which certify some works but not others as requiring or deserving these special forms of attention.« Kermode, Forms of Attention, S. XIII .

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sche Begriff attentio im Mittelalter oftmals synonym zu intentio verwendet,7 und es verwundert daher nicht, dass Aufmerksamkeit zu Gunsten anderer Begriffe wie Bewusstsein, Intentionalität etc. wieder in den Hintergrund trat. Von Moos setzt den Begriff der Aufmerksamkeit gegen den lateinischen Ausdruck attentio ab. Während attentio eng mit dem Hörsinn verbunden sei, ist der deutsche Begriff Aufmerksamkeit eher auf das Sehen ausgerichtet. Was nun aber besonders auffällt: Mit dieser Sinnverschiebung hat auch eine weitere Verschiebung des Modus der Wahrnehmung stattgefunden, nämlich von einer eher aktiven Wahrnehmung zu einem passiven Modus, in dem etwas die Aufmerksamkeit eines Subjektes auf sich zieht. Von Moos kann so zeigen, dass mit der Bedeutungsverschiebung von attentio zu Aufmerksamkeit auch eine Verschiebung von einem aktiv hörenden Subjekt zu einem eher passiv visuell orientierten Subjekt einherging. Neuere diskurstheoretische Ansätze wie die von Jonathan Crary8 und phänomenologische Untersuchungen wie die von Bernhard Waldenfels9 haben diese Aspekte aufgegriffen und Aufmerksamkeit als Thema kulturwissenschaftlicher Forschung anschlussfähig gemacht. Die Aktualität von Aufmerksamkeit in gegenwärtigen Diskursen speist sich aber auch aus der seit langem geführten Diskussion um die Aufmerksamkeit als knapper werdende kulturelle Ressource, prominent z. B. in Debatten um eine ›Ökonomisierung der Aufmerksamkeit‹.10 Aufmerksamkeit wird in diesen Debatten als eine für Individuen wie Gesellschaften zunehmend knappe und kostspielige Ressource verstanden, eine Ressource, die seit dem 19. Jahrhundert mit dem Ideal subjektiver Selbstgewissheit und Selbstschätzung in Verbindung gebracht worden ist.11 Die Entwicklung dieses subjekttheoretischen Verständnisses von Aufmerksamkeit und die Konzentration auf die Intentionalität des Bewusstseins ging aber einher mit der rasanten Entwicklung technischer Apparate und veränderten Methoden der Ausstellung, durch die die Aufmerksamkeit neu strukturiert und fokussiert werden konnte. Paradoxerweise ist aber gerade dadurch die Selbstverständlichkeit der Intentionalität von Aufmerksamkeit in Frage gestellt worden. Dieser Prozess, der ja auch mehrfach normativ unter medienkritischen Aspekten untersucht worden ist, wird nun in gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Debatten ebenso wie in den Naturwissenschaften diskutiert und dabei wird gerade die Verbindung von Aufmerksamkeit, Selbstgewissheit und intentionaler 7 8 9 10 11

von Moos, Attentio est quaedam sollicitudo, hier S. 92. Crary, Aufmerksamkeit. Waldenfels, Phänomenologie. Franck, Ökonomie. Ebd., S. 75 ff.

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Gerichtetheit des Bewusstseins in Frage gestellt. Vielmehr wird die Perspektive in der kulturwissenschaftlichen Debatte inzwischen auf die Schnittstellen zwischen dem kognitiven Phänomen der Aufmerksamkeit, seinen kulturellen und sozialen Objekten und seinen technischen Zurichtungen bzw. den Modi der Repräsentation gerichtet. Aus diesen lässt sich eine für die Religionswissenschaft methodisch wie inhaltlich neue Fragestellung entwickeln, um im Gegensatz zu subjektphilosophischen und religiösen Traditionen die mentalen Zustände der Aufmerksamkeit bzw. religiös der ›Achtsamkeit‹ vom Begriff der Intentionalität und damit auch vom Handlungsbegriff zu lösen und damit nicht mehr als etwas zu betrachten, das auf einer vorab angenommenen Subjekt / Objekt-Differenz beruht, sondern als einen Zustand, der nicht hintergehbar mit seinen Gegenständen und ihrer Präsentation verflochten ist. Bernhard Waldenfels hat in mehreren Beiträgen dafür argumentiert, Aufmerksamkeit vor allem von seiner passiven oder responsiven Seite her zu betrachten. Bereits im Klappentext zu seinem zum Thema einschlägigen Werk bemerkt er: Eine Phänomenologie der Aufmerksamkeit gibt sich weder mit subjektiven Akten noch mit anonymen Mechanismen zufrieden. Sie bewegt sich zwischen Auffallen und Aufmerken in einem Schwerefeld, das die ›Gewichte der Dinge‹ verändert. Wir sind daran beteiligt, aber nicht als autonome Subjekte.12

Ansätze aus dem Bereich der Phänomenologie aber auch der Diskurstheorie fokussieren gegenwärtig in erster Linie auf die historische Rekonstruktion und systematische Analyse der kulturellen Effekte von Aufmerksamkeits­technologien.13 Um zu verstehen, warum Menschen das tun, was sie tun, reicht es aber nicht aus, die vorherrschenden kulturellen Konstrukte einer Gesellschaft zu erkennen, sondern es erscheint mir mindestens ebenso wichtig die Arten und Weisen zu analysieren, wie diese Konstrukte in die sozialen Handlungspraktiken der Menschen Eingang finden. Dabei steht nicht so sehr die Frage im Vordergrund, wie das erkennende Subjekt seine Gegenstände unverstellt in den Blick bekommt, sondern welche Bedingungen geschaffen werden und geschaffen worden sind, damit Gegenstände zu Gegenständen einer ganz bestimmten Form des Wissen gemacht werden.14 12 Waldenfels, Aufmerksamkeit, S. 2. 13 Auch in den Kognitionswissenschaften fokussieren zahlreiche Forschungsprojekte auf die Frage, inwieweit neurophysiologische Prozesse das Bewusstsein beeinflussen oder gar determinieren und wie die Aufmerksamkeit in ihren funktionalen Ausprägungen der Wahrnehmung gesteuert wird. Neurotheologie und neurowissenschaftliche Forschungen zu Religiosität und Spiritualität interessieren sich für Aufmerksamkeit oftmals in Verbindung mit dem aus buddhistischer Tradition entlehnten Konzept der Achtsamkeit; siehe z. B. Ott, Meditation für Skeptiker; Ott, Neurowissenschaftliche Forschung. 14 Rheinberger, Experiment, Differenz, Schrift.

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Hans Jörg Rheinberger hat diesen Ansatz als historische Epistemologie bezeichnet, worunter er folgendes versteht: Ich fasse unter dem Begriff der Epistemologie hier vielmehr, an den französischen Sprachgebrauch anknüpfend, die Reflexion auf die historischen Bedingungen, unter denen, und die Mittel, mit denen Dinge zu Objekten des Wissens gemacht werden, an denen der Prozess der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung in Gang gesetzt sowie in Gang gehalten wird. Wenn ich es richtig sehe, so gibt es an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert einen Umschlag von der Erkenntnistheorie der klassischen philosophischen Tradition zur Epistemologie im genannten Sinne. Diese Verschiebung markiert zugleich eine Problemumkehr. Die Reflexion des Verhältnisses von Begriff und Objekt, die vom erkennenden Subjekt ihren Ausgang nahm, wird ersetzt durch die Reflexion des Verhältnisses von Objekt und Begriff, die am zu erkennenden Objekt ansetzt.15

Rheinberger spricht in diesem Zusammenhang auch von »epistemischen Dingen«.16 Die Frage nach dem Ding und seiner Handlungsmacht (agency) bildet einen Schwerpunkt in gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Debatten. Auch die Affektmacht von Dingen wird breit diskutiert. Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie17, Rheinbergers schon genannten Untersuchungen zu epistemischen Dingen ebenso wie Michel Serres Begriff der »Quasi-Objekte«18 beziehen sich auf Dinge, die sich jenseits einer epistemologischen Subjekt / Objekt-Beziehung befinden, weil erst der Umgang mit ihnen eine Erfahrung ermöglicht. Aber auch in Karl-Heinz Kohls ethnologischen Studien zur »Macht der Dinge«19 und in Hartmut Böhmes Überlegungen zum Fetischismus als einer »Theorie der Moderne«20 wird deutlich, dass Dinge nicht darauf reduziert werden können, Gegenstände der menschlichen Vorstellung und Objekte der Erkenntnis zu sein, sondern, dass die spezifische Macht und Kraft der Dinge in den Blick genommen und als Herausforderung für die Theoriebildung angenommen werden muss. Gerade durch eine dezidiert kulturhistorische und wissenschaftshistorische Ausrichtung der Fragestellung wird Aufmerksamkeit für die religionswissenschaftliche Erforschung interessant, vor allem dann, wenn man versucht, die Forschungsansätze zu einem neuen Aufmerksamkeitsbegriff mit Ansätzen zur Erforschung der Dinge zu kombinieren. Damit können sowohl für die Methodologie als auch im Bereich der thematischen religionswissenschaftlichen 15 Rheinberger, Historische Epistemologie, S. 11. 16 Rheinberger, Experiment, Differenz, Schrift; Ders., Experimentalsysteme und epistemische Dinge. 17 Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft; Ders., Die Hoffnung der Pandora. 18 Serres, Der Parasit. 19 Kohl, Die Macht der Dinge. 20 Böhme, Fetischismus und Kultur.

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Behandlung des Aufmerksamkeitsbegriffs neue Wege beschritten werden, und zwar auf dreierlei Weise: 1. Religionswissenschaft kann die immer noch dominante Zugriffsweise auf ihre Gegenstände durch die aus der Ethnologie entlehnte teilnehmende Beobachtung und die daran anschließende ›Dichte Beschreibung‹ repräsentationskritisch hinterfragen und sie kann 2. die in breiten religionswissenschaftlichen Kreisen in Kritik geratene Religionsphänomenologie, die in weiten Teilen dem Konzept der Intentionalität des Bewusstseins in der Tradition Husserls verpflichtet war, in neue Bahnen lenken. 3. Darüber hinaus kann der Aufmerksamkeitsdiskurs einen konstruktiven Beitrag zu den bisher nur in Ansätzen entwickelten wahrnehmungstheoretischen Reflexionen der Religionsästhetik leisten. In Abgrenzung zu den bestehenden diskurs- und medientheoretischen Arbeiten, die in der Religionswissenschaft, so weit ich sehe, in zwei ganz verschiedene Richtungen gehen, möchte ich einen Vorschlag von Christoph Ernst21 weiterführen, und versuchen, eine theoretische Analyse des Aufmerksamkeitsbegriffs durch Verknüpfung mit Ansätzen zur Theorie der Dinge22, aber auch zur historischen Epistemologie, zur historischen Diskusanalyse23 sowie der Material-Culture-Debate und der Akteur-Netzwerk-Theorie für die Religionswissenschaft fruchtbar zu machen. Durch eine Integration dieser Ansätze in die religionswissenschaftliche Forschung kann die soziokulturelle Verflechtung der Aufmerksamkeit mit ihren Gegenständen mit Hilfe sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektiven erforscht werden. Damit würde man über eine bisher recht einlinige Perspektive auf Religion als Kommunikation, wie sie etwa von Luhmann24 aber auch von Kippenberg und von Stuckrad25 favorisiert wird, hinauskommen, hin zu einer Theorie des Erscheinens, wie sie beispielsweise von Martin Seel26 entwickelt worden ist, aber auch, wenn auch in ganz anderer Weise, von Sybille Krämer27.

21 22 23 24 25 26 27

Ernst, Überlegungen zur Aufmerksamkeit. Vgl. dazu auch Därmann (Hg.), Kraft der Dinge. Landwehr, Historische Diskursanalyse. Luhmann, Die Religion der Gesellschaft. Kippenberg und Stuckrad, Einführung in die Religionswissenschaft. Seel, Ästhetik des Erscheinens. Krämer, Figuration, Anschauung, Erkenntnis.

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Hans Georg Kippenberg und Kocku von Stuckrad haben in ihrer 2003 erschienen »Einführung in die Religionswissenschaft« die Forderung aufgestellt, dass »Glaubensanschauungen und Handlungen nicht isoliert von der öffent­ lichen Kommunikation über sie Gegenstand von Religionswissenschaft werden können.«28 Damit wollen sie mit einem für die religionswissenschaftliche Forschung dominanten hermeneutischen Prinzip brechen, das nach dem Schema individuelles Erleben – Ausdruck des Erlebens – Verstehen des Ausdrucks des Erlebens arbeitet. Nicht der subjektive Akt des Glaubens, sondern Religion als öffentliches Kommunikationsgeschehen soll im Fokus der Forschung stehen. Ich hatte diesen Beitrag begonnen mit der Unterscheidung von praktischen und theoretischen Problemen, die die Religionswissenschaft zu weitergehenden Fragestellungen motivieren können. Aufmerksamkeit als theoretisches religionswissenschaftliches Problem zu untersuchen, kann jedoch leicht zu Missverständnissen führen, wenn religiöses Erleben in der Begegnung und im Umgang mit den Dingen, die von Menschen, aus welchem kulturellen Kontext auch immer, als ›heilig‹ oder ›sakral‹ konnotiert werden, in erster Linie auf seine kommunikativen Strukturen hin untersucht werden soll. Die Spannung im Umgang mit Erfahrungen und auch jeglichem Erkennen, die Edmund Husserl als einen Doppelbezug von »fundierend« und »thematisierend« bestimmt hat,29 wird in Ansätzen, die auf religiöse Kommunikation und die Öffentlichkeit von Religion fokussieren, nicht thematisiert. Eben hierin liegt aber der Fokus, der von mir vorgestellten Ansätze, der darauf abzielt, dass das, was Menschen im Vollzug der Erfahrung erleben, und das, was sie in der Reflexion dieser Erfahrung und in der Kommunikation über sie konstruieren, unterschiedliche symbolische Erzeugnisse sind. Heidegger hatte für diese Differenz die Unterscheidung zwischen »Zuhandenheit« und »Vorhandenheit« getroffen30 und nun bezeichnenderweise den »Modi der Auffälligkeit, Aufdringlichkeit und Aufsässigkeit« eine Funktion zugeschrieben, die »am Zuhandenen den Charakter der Vorhandenheit zum Vorschein […] bring[t]«31. Der Umgang mit ›heiligen‹ Dingen / Gegenständen ist etwas kategorial anderes als die Reflexion über ›heilige‹ Objekte. Während ›heilige‹ Objekte durch einen explizit-reflexiven Erkenntnis- bzw. Repräsentationsprozess in ein relationales Verhältnis zu einem Subjekt gestellt werden, sind ›heilige‹ Dinge / Gegenstände Teil der implizit performativen Erfahrungsdimension. Aber beide Dimensionen sind aufeinander bezogen, und zwar so, dass sich im Übergang von Zuhandenheit und Vorhandenheit der Dinge das Phänomen der Aufmerk28 29 30 31

Kippenberg und Stuckrad, Einführung in die Religionswissenschaft, S. 11. Husserl, Logische Untersuchungen, S. 261 ff. Heidegger, Sein und Zeit, S. 71. Ebd. S. 74.

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samkeit lokalisieren lässt. Aufmerksamkeit wäre dann verbunden mit einem Prozess der Übersetzung von impliziten zu expliziten Erfahrungsdimensionen. Die Differenzierung dieser beiden Dimensionen erlaubt es, Aufmerksamkeit als einen Begriff zu fassen, der vor allem nichtintentional gedacht ist und dem responsiven Charakter von Phänomenalität nahekommt, den Bernhard Waldenfels betont hat. Es steht also für die religionswissenschaftliche Erforschung des Umgangs mit heiligen Dingen dann nicht mehr die Beobachtung im Vordergrund, sondern die Bearbeitung der Frage, wie Aufmerksamkeit im Umgang mit ihrem Gegenstand verbunden ist.32 Anschlüsse an die Ritualforschung lassen sich ebenso herstellen wie auch solche an literaturwissenschaftliche Überlegungen zum Konzept der Erbauung oder an kulturwissenschaftliche, ethnologische und postkoloniale Forschungen zu transkulturellen Austauschprozessen. So hat Susanne Köbele argumentiert, dass die Unschärfe des mittelalterlichen Konzepts der ›Erbauung‹ in der Literaturwissenschaft dazu geführt hat, den Begriff ›Erbauung‹ meist als einen Sammelbegriff für ein breites Spektrum religiöser Gebrauchsfunktionen zu verwenden, wobei »quer zur unüberschaubaren Vielfalt der mit ›Erbauung‹ angezielten Phänomene, deren immanente Spannungen – affektive, spekulative, moralische und ästhetische Eigendynamiken – leicht übersehen werden.«33 Was geschieht, wenn bestimmte »ästhetische Eigendynamiken« der Artefakte und Systeme die Aufmerksamkeit okkupieren und wie wird dies kulturell in den jeweiligen Kontexten abgebildet? Köbele argumentiert in ihrer Analyse mittelalterlicher Erbauungstexte, »dass die Kernbestimmung von ›Erbauung‹ auf ein sowohl intellektuelles wie moralisches Instruieren und Affizieren herausläuft«34. Dem Affekt des Staunens (admiratio)35 wäre daher auch aus religionsästhetischer Perspektive noch weiter nachzugehen. Mich interessiert aber an dieser Stelle, wie sich die Aufmerksamkeit verschiebt, wenn ein Gegenstand aus einem lokalen Kontext enthoben und globalisiert wird. Ich möchte daher die bisherigen Überlegungen zu Aufmerksamkeit am Beispiel von drei ganz unterschiedlichen aber doch in einem gewissen Zusammenhang stehenden Umgangsweisen mit Darstellungen des Hindu-Gottes Śiva Naṭarāja zur Anwendung bringen: a) Dem Herrn Śiva Naṭarāja als ein im südindischen Cidambaram und darüber hinaus verehrter Gott, 32 Niklas Luhmann betont, dass sich gerade die »imaginäre […] Realität des Religiösen« an dem Umgang mit Quasi-Objekten festmacht. Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, S. 60. 33 Köbele, ›Erbauung‹ – und darüber hinaus, hier S. 421. 34 Ebd., S. 424. 35 Ebd., S. 422.

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b)  dem tanzenden Gott als eine der Ikonen orientalistischer Museums- und Repräsentationspolitik c) und Śiva Naṭarāja als kommodifizierte Figur in populärreligiösen Zusammenhängen in westlichen Gesellschaften. Dabei wird es mir vor allem um die materialisierte Seite des Umgangs mit dieser Hindugottheit gehen. Zunächst aber möchte ich den Rahmen abstecken, in dem ich diese verschiedenen Umgangsweisen perspektiviere. Es ist, glaube ich, nicht übertrieben zu sagen, dass Śiva als der Herr des Tanzes zu den bekanntesten Symbolen des Hinduismus im globalen Kontext zählt. Ananda Coomaraswamy hat vor nunmehr über 100 Jahren festgestellt: A great motif in religion or art, any great symbol, becomes all things to all men; age after age it yields to men such treasure as they find in their own hearts. Whatever the origins of Śivas dance, it became in time the clearest image of the activity of God which any art or religion can boast of […] It is not strange that the figure of Naṭarāja has commanded the adoration of so many generations past: familiar with all scepticisms, expert in tracing all beliefs to primitive superstitions, explorers of the infinitely great and infinitely small, we are worshippers of Naṭarāja still.36

Er ist nicht nur in allen Museen für asiatische Kunst präsent, wenn nicht gar im Mittelpunkt, er ziert auch Werbungen, T-Shirts, Urlaubsbroschüren, esoterische Buchcover, Tattoos und seine Figur ist neben der des Buddha aus Wellnessläden kaum wegzudenken. Johannes Beltz, Kurator für indische Kunst am Rietberg Museum in Zürich, hat im Rahmen einer spektakulären Ausstellung vor wenigen Jahren die Geschichte nachgezeichnet, wie Śiva Naṭarāja zu einer Ikone des modernen Hinduismus geworden ist.37 Beispielsweise haben in den 1920er- und 1930er-Jahren Literaten und Künstler wie Hermann Hesse, Auguste Rodin oder Romain Rolland, um nur einige Namen zu nennen, begonnen, sich mit dieser Figur zu beschäftigen. Ihr Interesse ist ein Aspekt einer breiteren Rezeption und in der Folge erwarben immer mehr Museen Skulpturen des tanzenden Śiva für ihre Sammlungen. Das ist freilich ein Trend, der schon in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts eingesetzt hatte, als sich das koloniale Interesse wandelte und man begann, Sammlungen mit indischen Götterfiguren anzulegen und diese auszustellen. Naṭarāja ist ursprünglich eine Form von Śiva, die vor allem in Südindien verehrt wird. Der zentrale Tempel ist der Tempel von Cidambaram, in dem als 36 Coomaraswamy, The Dance of Śiva, Zitat S. 56 und 66. 37 Beltz, The Dancing Shiva.

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zentrales Heiligtum eine etwa 1 Meter hohe Bronze-Statue von Śiva Naṭarāja installiert ist. Der Bau des Naṭarāja-Tempels geht im Wesentlichen auf die Chola­Könige zurück, die zwischen dem 9. und 13. Jahrhundert über große Teile Südindiens herrschten. Die Cholas machten Śiva Naṭarāja zu ihrer Familiengottheit und begannen den Tempel von Cidambaram zu fördern. Obwohl es eine ganze Reihe von Steinreliefs in anderen Tempeln gibt, die Śiva als Tanzenden zeigen und obwohl die Zahl der Bronzefiguren, die man gefunden hat, erheblich ist, ist der Tempel von Cidambaram der einzige, in dem Naṭarāja als zentrales Heiligtum (im Cit Sabah) verehrt wird. Es geht aber bei der Frage nach dem Verehrungsgegenstand nicht so sehr um Fragen der Originalität oder Ursprünglichkeit. Der Tempel hat das Bild im Laufe der Jahrhunderte mehrfach periodisch ausgetauscht und in einem Lagerraum des Tempels werden die alten Naṭarāja-Bilder aufbewahrt, die die Priester aus der Brahmanenkaste der Dīkṣitas auch gern herzeigen, während man das momentan verehrte Standbild als Nicht-Hindu nicht zu sehen bekommt. Die Aufmerksamkeit, die Naṭarāja bei den Gläubigen hervorruft, bezeichnet man auf Sanskrit als darśan. Darśan bedeutet so viel wie Sehen, womit in der Ritualtradition des Hinduismus so viel wie religiöses Sehen oder visuelles Erfassen des Heiligen gemeint ist.38 Das zentrale Ereignis jeder pūja, zumindest aus der Perspektive der Laien, ist vor der Gottheit zu stehen, das Bild mit eigenen Augen zu sehen und von ihr gesehen zu werden (dṝṣṭi darśana). Das Ritual des Lichtschwenkens (ārati) lenkt diese Aufmerksamkeit des darśan. Im Neo-Hinduismus des 19. Jahrhunderts wird dann allerdings eine Spiritualisierung der Aufmerksamkeit auf Śiva vorgenommen, wobei neben vielen anderen die Argumentation von Śri Aurobindo besonders interessant ist, der gegen koloniale, missionarische und orientalistische Kritik am hinduistischen ›Götzendienst‹ und an indischer Kunst argumentiert, dass die Statuen von Śiva keine naturalistischen Kopien einer Wirklichkeit seien, sondern Hinweise auf das Sublime und Verborgene, das nur aus einer spirituellen Erfahrung heraus materialisiert werden könne. In diesem Zitat will Aurobindo nachweisen, dass es indischen Künstlern nicht um die Materialität der Statuen ging, sondern um die Realisierung einer dahinter liegenden religiösen Wahrheit. The inspiration, the way of seeing is frankly not naturalistic, not, that is to say, the vivid, convincing and accurate, the graceful, beautiful or strong, or even the idealised or imaginative imitation of surface or terrestrial nature. The Indian sculptor is concerned with embodying spiritual experiences and impressions, not 38 Eck, Darśan; Lichtenecker, Darśana.

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with recording or glorifying what is received by the physical senses. He may start with suggestions from earthly and physical things, but he produces his work only after he has closed his eyes to the insistence of the physical circumstances, seen them in the psychic memory and transformed them within himself so as to bring out something other than their physical reality or their vital and intellectual significance. His eye sees the psychic line and turn of things and he replaces by them the material contours.39

Eben diese Spiritualisierung, die einherging mit einer Universalisierung indischer Religion überhaupt durch hinduistische Reformer hat im Zusammenspiel mit einer wachsenden orientalistischen Begeisterung in Europa für das mystische Indien zu einer neuen Aufmerksamkeit auf Indische Kunst und insbesondere auch auf Śiva Naṭarāja geführt. Der tanzende Gott konnte so zu einem Kunstobjekt werden, herausgenommen aus den lokalen Kontexten Südindiens, herausgenommen aus den Ritualen der Dīkṣita-Brahmanen und die Aufmerksamkeit konnte sich nun über die Indische Kunst auf ein orientalistisches Konstrukt von Indien und der Spiritualität des Hinduismus richten. Dabei, und das hat Peter Bräunlein ja sehr eindrücklich aufgezeigt, wurden Konzepte wie Religion und Kunst, aber auch seit dem frühen 19. Jahrhundert. schwebende Begriffe wie ›Erfahren‹, ›Erleben‹ und ›Begegnung‹ im europäischen Bürgertum in Erfahrungswirklichkeit und in Erfahrungsutopien umgewandelt, um sich mit Hilfe ihrer gegen als schmerzhaft erfundene Modernisierungs- und Industrialisierungsprozesse abzugrenzen.40 Dass sich dies aber wiederum in weitem Maße über eine erneute Aufmerksamkeit auf die orientalen Gegenstände vollzog, bedarf weiterer Klärung. Orientalistische Repräsentation des Fremden in Museen und die sich darin ausdrückende diskursive Macht sind jedenfalls das eine, das andere dieses Diskurses aber, die Aufmerksamkeit, die die Gegenstände selbst auf sich gezogen haben, vollkommen abgesehen von museumsmethodischen Überlegungen der Präsentation, ist bislang in der religionswissenschaftlichen Forschung weitgehend unklar. Heilige Dinge jedenfalls nur unter der Perspektive der Zuschreibung oder im Kommunikationsprozess über sie zu erfassen, wie es momentan in der religionswissenschaftlichen Mainline propagiert wird, greift bei weitem zu kurz. Jede Repräsentation ist, wie die Philosophin Sybille Krämer erneut in den Blick gerückt hat, zuerst einmal Präsentation, und das heißt, dass die Physis und Physiognomie eines Signifikanten vorausgesetzt werden muss. Die Immaterialität eines Sinns kann nur gegenwärtig werden in der Materialität eines sinnlich Wahrnehmbaren.41 39 Aurobindo, Indian Art, hier S. 272–273, vollständiges Zitat S. 293 f. 40 Siehe Bräunlein, »Zurück zu den Sachen!«, hier S. 22. 41 Krämer, Medium, Bote, Übertragung.

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Wenn wir die rituellen, die musealen und populärkulturellen Umgangsweisen mit Śiva Naṭarāja als Praktiken oder Performanzen ansehen, die auf verschiedene Formen von responsiver Aufmerksamkeit bezogen sind, dann kann nicht mehr eine Theorie von Religion als Kommunikation den Rahmen konzeptueller Erfassung des Phänomens abgeben, vielmehr müssen wir an einer Theorie der Wahrnehmung als Theorie des Erscheinens arbeiten. Nicht auf dem Sagen, sondern auf dem Zeigen (Deixis) liegt das Gewicht und die Aufmerksamkeit hat sich vom Kommunizieren auf das Wahrnehmen verschoben. Wenn aber das, worauf die Aufmerksamkeit gelenkt wird und was sich zeigt, jetzt im Fokus religionswissenschaftlicher Forschung stehen soll, so heißt das auch, dass das, was von Bedeutung ist, nicht mehr einfach hinter der Erscheinung gesucht werden kann, sozusagen als unsichtbare Tiefenstruktur, welche jenseits der Oberfläche des Wahrnehmbaren durch Verfahren der Interpretation zu erschließen wäre, sondern die Interpretation wird sich auf den Umgang mit und die ›Gesellschaft der Gegenstände‹ selbst richten müssen. Der Ethnologe und Kulturwissenschaftler Arjun Appadurai jedenfalls argumentiert in einem von ihm herausgegebenen Band »The Social Life of Things« folgendermaßen: Even if our own approach to things is conditioned necessarily by the view that things have no meanings apart from those that human transactions, attributions, and motivations endow them with, the anthropological problem is that this formal truth does not illuminate the concrete, historical circulation of things. For that we have to follow the things themselves, for their meanings are inscribed in their forms, their uses, their trajectories. It is only through the analysis of these trajectories that we can interpret the human transactions and calculations, that enliven things. Thus even though from a theoretical point of view human actors encode things with significance, from a methodological point of view it is the things-inmotion that illuminate their human and social context.42

Ich hatte unter Bezugnahme auf die Thesen von Christoph Ernst vorgeschlagen, auch für die Religionswissenschaft Aufmerksamkeit als ein Medium der Übersetzung zwischen implizit performativen und explizit-reflexiven Erfahrungsund Handlungsdimensionen zu verstehen. Darauf möchte ich abschließend noch einmal zurückkommen. Soziales Handeln greift immer auch auf implizites Wissen im Umgang mit den Dingen zurück, denn kommuniziertes explizites Wissen allein kann das konkrete Handeln nicht anleiten. Das Wissen, wie man etwas macht, wie die Menschen in den verschiedenen Kontexten mit Śiva Naṭarāja umgehen, ihn anbeten, ausstellen, als Werbeobjekt verwenden, enthält notwendig mehr als nur 42 Appadurai (Hg.), The Social Life of Things, S. 5.

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das, was man sagen, ausdrücken und explizieren kann. Die sich im Umgang mit der Gottheit in verschiedenen Kontexten ausdrückende Religiosität ist von der analytischen Unterscheidung von Formen des Wissens und von Übergängen zwischen diesen Formen deshalb betroffen, weil sich Religion nicht in der Unterstellung deskriptiver Geltung propositionaler Glaubensinhalte erschöpft, sondern die Qualität einer nur indirekt kommunikablen praktischen Gewissheit einschließt. Das von mir hier vorgestellte Konzept der Aufmerksamkeit geht über zwei wesentliche Markierungen hinaus: 1. über die teilnehmende Beobachtung und 2. über die symboltheoretische und textualistische Interpretation fremder Kulturen, wie sie Clifford Geertz formuliert hatte. Das implizite Wissen einer praktischen religiösen Gewissheit ist nur indirekt im performativen Umgang mit den Gegenständen auffällig und nur so zugänglich. Religionswissenschaft wäre dann als Sondertypus einer expliziten Kultur der rationalen Argumentation nur dann eine wirklich empirische Wissenschaft, wenn sie den Anschluss an die performative Ebene der praktischen Erfahrung suchte; und nur dann, wenn sie nicht von einer symbolisch interpretierten Wirklichkeit ausginge, die wiederum von der Religionswissenschaftlerin zu ›interpretieren‹, zu ›verstehen‹, zu ›deuten‹ und letztlich zu ›repräsentieren‹ wäre. Das aber ist nur möglich durch ein immer wieder erneutes Überschreiten der Grenze zwischen Praxis und Diskurs.

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