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German Pages 208 [209] Year 2015
Kunstwissenschaftliche Studien Band 171
HAUKE HORN
DIE TRADITION DES ORTES
Hauke Horn
DIE TRADITION DES ORTES Ein formbestimmendes Moment in der deutschen Sakralarchitektur des Mittelalters
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT
Lektorat: Isabel Hartwig, Deutscher Kunstverlag Gestaltung und Satz: Angelika Bardou, Deutscher Kunstverlag Reproduktionen: Birgit Gric, Deutscher Kunstverlag Druck und Bindung: BGZ Druckzentrum GmbH, Berlin
Abb. S. 10: Dom zu Magdeburg, Binnenchor, 1. Hälfte 13. Jh., im Vordergrund der Sarkophag Kaiser Ottos des Großen (Pietsch/Quast 2005, S. 73)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2015 Deutscher Kunstverlag GmbH Berlin München Paul-Lincke-Ufer 34 D-10999 Berlin www.deutscherkunstverlag.de ISBN 978-3-422-07285-5
5
INHALT
VORWORT | 9
FARBTAFELN | 41
1 EINLEITUNG | 11
2.3.3 Die spätantike Bausubstanz | 57
Fragestellung (11) – Begriffliche Vorüberlegungen (12) –
2.3.4 Die Westfassade | 58
Forschungsstand (13) – Eingrenzung des Unter
Gestalterische Bezüge zu den Kaiserthermen und
suchungsraumes (16) – Methodisches Vorgehen (16) –
der Porta Nigra (59) – Gestalterische Bezüge zum
Aufbau der Arbeit (18) – Wahl der Fallbeispiele (18)
Quadratbau (60) – Die Adaption antiker Ordnungs konzepte (61) – Das Motiv übereinandergestellter
2 DER DOM UND DIE LIEBFRAUENKIRCHE ZU TRIER – Bewahrung, Erweiterung und Inszenierung der domus Helenae | 22
Bögen (62) – Die flankierenden Treppentürme (62) – Die Westtürme (63)
2.4 Die Inszenierung der domus Helenae – Die 2.1 Einführende Baugeschichte | 22
Transformation des Doms in eine kreuzgewölbte Pseudobasilika im 12. und 13. Jahrhundert | 64
2.2 Die domus Helenae als traditionsstiftender Ort des Trierer Doms | 25 2.2.1 Die Etablierung des traditionsstiftenden Ortes in der
2.4.1 Der Anbau des Ostchores | 64 2.4.2 Die Einwölbung des Langhauses | 65 Das Bild übereinandergestellter Tragsysteme (65) –
frühchristlichen Gründungsphase | 25
Die Fortführung der alten Tragstruktur (67) – Die
Die erste bischöfliche Basilika und ihre Tradition des
Umgestaltung der Arkadenwände (67) – Die Beurtei
Ortes (25) – Die Verlagerung des Schwerpunktes
lung der Gewölbe in der Literatur (68) – Resümee (68)
nach Osten (26) – Räumliche Bezüge zum Prunksaal mit den konstantinischen Deckenmalereien (26) – These: Kaiserin Maxima Fausta als Mäzenin der
2.5 Resümee: Der Trierer Dom und seine Tradition des Ortes | 69
Trierer Bischofskirche (28) – Der Quadratbau und die
2.5.1 Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse | 69
Verfestigung des traditionsstiftenden Ortes (31)
2.5.2 Interpretation im historischen und politischen
2.2.2 Die Bewahrung der Tradition des Ortes im frühen
Kontext | 72
Mittelalter | 32 2.2.3 Die Tradition des Ortes in den Schriftquellen des frühen und hohen Mittelalters | 34 Der Dom als domus beatissimae Helenae (34) – Der historische Kern der Helena-Tradition (36)
2.6 Im Kontext der domus Helenae – Der Neubau der Liebfrauenkirche im 13. Jahrhundert | 76 2.6.1 Räumliche Beziehungen zwischen neuem und altem Grundriss | 76 Der Umriss (76) – Der Chor (76) – Die Ost-West-
2.3 Die Erweiterung der domus Helenae – Der Umbau des Doms unter Erzbischof Poppo im 11. Jahrhundert | 36 2.3.1 Vom Normannensturm 882 zur Wiederaufbaukam pagne unter Erzbischof Poppo in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts | 36 2.3.2 Grundriss und Innenraum | 39 Grundrissdimensionen (39) – Grundrissstruktur (39) – Die Viererarkaden im Innenraum (40)
Achse (79) – Die Fundamente (80) – Das Portal vom Dom nach Liebfrauen (81) 2.6.2 Gestalterische Bezüge zur Tradition des Ortes | 83 Kompositorische Parallelen zwischen den Westfronten von Dom und Liebfrauen (83) – Die Westfassade als Erinnerungsform an einen Westturm (84) – Das achsverschobene Fenster (85)
6
INHALT
2.6.3 Der Grundriss im Kontext der Tradition des Ortes | 86 Erklärungsansätze für die Zentralbauform in der Literatur (86) – Die Beschreibung des Grundrisses in der Literatur (88) – Die Nachahmung des
bolik des Tragens (115) – Die Metaphorik der Heiligenfiguren im architektonischen Kontext (116) – Die Relation der Teile zueinander (116) 3.3.6 Die gestalterische Dialektik von Chorumgang und
Quadratbaus im Grundriss (88) – Ganzheitliche
Bischofsgang | 117
Interpretation des Grundrisses (89)
Formale Differenzen zwischen Chorumgang und Bischofsgang (117) – Die Bewertung der
2.7 Resümee: Die Trierer Liebfrauenkirche und ihre Tradition des Ortes | 90 2.7.1 Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse | 90 2.7.2 Interpretation im historischen und politischen Kontext | 91
Differenzen in der Literatur (118) – Gewölbeformen als Gestaltungsmittel (119) – Die Kapitelle des Chorumgangs und der -empore im architektonischen Kontext (121) – Der Chorumgang als Erinnerungsraum der Kilians-Krypta (122) – Der Chorneubau der Abteikirche Saint-Denis unter Abt Suger als
3 DER DOM ZU MAGDEBURG – Die Visualisierung der imperialen Tradition des Ortes | 93
Vergleichsbeispiel (123) – Die dialektische, aber einheitliche Konzeption von Chorumgang und Bischofsgang (125) – Die Modifikation des ursprünglichen Entwurfs (126) – Konsequenzen
3.1 Einführende Baugeschichte | 93
für die Datierung des Bischofsgangs und dessen Bauherrenschaft (127)
3.2 Forschungsstand zum ottonischen Vorgängerbau | 97
3.4 Das Phänomen der Achsrotation – Räumliche Beziehungen des gotischen Doms zum Vor
3.3 Materielle und gestalterische Strategien zur Verbildlichung der Tradition im neuen Chor | 100 3.3.1 Die Natursteinsäulen | 100
gängerbau | 128 3.4.1 Der Befund und seine Bewertung in der Literatur | 128 3.4.2 Begriffliche Präzisierung | 129
Herkunft (100) – Ursprünglicher Symbolgehalt (102) –
3.4.3 Kritik möglicher Erklärungsansätze | 129
Die Präsentation im Chorhaupt (102) – Die Imitation
3.4.4 These: Das Grab der Königin Edith als Referenzpunkt
antiker Kapitelle (103) 3.3.2 Die Inszenierung des Kaisergrabes | 105 Architektonischer Kontext (105) – Grabplatte und
der Achsrotation | 130 Die Lage des Grabes nach den Schriftquellen (130) – Der archäologische Befund zur Grabstelle (131) –
Sarkophag (106) – Aufstellungsort und liturgische
Gedanken zur Lokalisierung des alten Edith
Inszenierung (108)
grabes (131) – Vergleich mit der Marburger
3.3.3 Die Reliquiennischen | 108
Elisabethkirche (132) – Die überlieferte Translatio der
3.3.4 Die Imitation alter Formen | 109
Königin Edith (133) – Das Grab der Königin Edith als
Antikisierende Formen im Chor (109) – Pfeilerformen
konstitutive Tradition des Ortes (134) – Resümee (135)
des 11. Jahrhunderts (111) – Antikisierende Formen des Bischofsgangs (112) 3.3.5 Die Wandstruktur im Chorhaupt als integratives
3.5 Resümee: Der Magdeburger Dom und seine Tradition des Ortes | 136
Ordnungssystem | 114
3.5.1 Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse | 136
Unterscheidung zwischen dem sichtbaren Tragsystem
3.5.2 Interpretation der Ergebnisse | 138
und der tatsächlichen Lastabtragung (114) – Die Sym-
3.5.3 Einordnung in den historischen Kontext | 141
7
INHALT
4 DER DOM ZU ESSEN – Die Vergegen wärtigung der Tradition des Ortes in einem privilegierten Damenstift | 144
4.4 Die Inszenierung der Tradition des Ortes mittels der Ausstattung | 169 4.4.1 Die Neuinszenierung des Altfrid-Grabmals | 169 4.4.2 Die Kreuzsäule | 171
4.1 Einführende Baugeschichte | 144
4.4.3 Der siebenarmige Leuchter | 173 4.4.4 Die Glasmalereien in den östlichen Chorfenstern | 173
4.2 Räumliche Beziehungen der Kirche zur Tradition des Ortes | 146 4.2.1 Räumliches Verhältnis des spätottonischen Münsters zum altsächsischen Gründungsbau | 146 4.2.2 Räumliches Verhältnis des gotischen Münsters zum spätottonischen Bauwerk | 148
4.4.5 Die liturgischen Artefakte | 174 Die Goldene Madonna (175) – Der Marsus schrein (175) – Die Vortragekreuze (175) – Das Kreuzna gelreliquiar (176) – Das Theophanu-Evangeliar (176) – Die Artefakte im Kontext von Architektur und Tradition des Ortes (177)
Das Ausmaß der gotischen Baukampagne im Verhältnis zu ihrer Wahrnehmung in der Architek turgeschichte (148) – Das Verhältnis des gotischen Grundrisses zum ottonischen (149) – Das west liche Sonderjoch (150) – Der rechteckige Hallen chor (150) – Das trapezförmige Chorjoch (152) 4.2.3 Verhältnis der gotischen Fundamente zu den älteren | 153 4.2.4 Die Höhe der gotischen Halle in Relation zur ottoni schen Basilika | 155
4.5 Resümee: Der Essener Dom und seine Tradition des Ortes | 179 4.5.1 Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse | 179 Räumliche Beziehungen (179) – Materielle Bezüge (180) – Objektsysteme (181) 4.5.2 Einordnung in den historischen Kontext | 181 Differenzierung der Essener Tradition des Ortes (181) – Die Privilegien des Stifts (182) – Die historische Situation im 13. Jahrhundert (183) – Koinzidenz von Umbau und Krise (184) – Die politische Botschaft der figürlichen
4.3 Materielle Bezüge der Kirche zur Tradition des
Glasmalereien im Chor (185)
Ortes | 156 4.3.1 Begriffliche Bestimmungen | 156 4.3.2 Die Integration alter Gebäudeteile | 156
5 RESÜMEE | 187 Authentische Materie als Mittel der Traditionsvergegen
Der Westbau (156) – Das Atrium (159) –
wärtigung (187) – Räumliche Zusammenhänge zwi
Die Krypta (160)
schen Alt und Neu (188) – Gestalterische Bezüge zur
4.3.3 Die Integration alter Bauteile in situ | 161
Tradition des Ortes (188) – Die Tradition des Ortes:
Die Seitenschiffwände (161) – Die Vierungs- und
Hinzunehmende Voraussetzung oder bewusste Bezug
Vorchorpfeiler beim stauferzeitlichen Umbau (163) –
nahme? (189) – Architektur und ihre Tradition des Ortes
Die Imitation ottonischer Kämpferprofile im
in der Wahrnehmung der Betrachter (191) – Inszenie
12. Jahrhundert (163) – Die Vierungs- und
rungen der Tradition des Ortes im historisch-politischen
Vorchorpfeiler beim gotischen Umbau (164) 4.3.4 Die Integration alter Werkstücke in neuem Kontext | 165
Kontext (193) – Architektur im Kontext von Memoria und kulturellem Gedächtnis (194) – Konsequenzen für die
Der romanische Pfeiler im südlichen Neben
Betrachtung mittelalterlicher Sakralarchitektur (195) –
chor (165) – Die antikisierenden Säulen der
Schlussresümee (197)
Krypta (166) – Die Basis des Weihwasser beckens (167) – Alte Werkstücke als Zeichen
Quellenverzeichnis | 198
der Tradition des Ortes (168)
Literaturverzeichnis | 198
Sonja und Haro gewidmet
9
VORWORT
Es erscheint mehr als angemessen, im Vorwort einer Ar-
gebnisse machte mir der Grabungsleiter Rainer Kuhn zu-
beit, die sich im kulturwissenschaftlichen Umfeld von
gänglich. Hinsichtlich des Essener Doms bin ich der Lei-
Erinnerungskultur situiert, an die Umstände ihrer Entste-
terin der Domschatzkammer Frau Dr. Birgitta Falk und
hung zu erinnern; vor allen Dingen aber an die Menschen
dem Dombaumeister Ralf Meyers zu großem Dank für
und Institutionen, welche die Entstehung der Arbeit för-
die weitreichende Unterstützung verpflichtet. Schließlich
derten.
danke ich dem Historisch-Kulturwissenschaftlichen For-
Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um eine
schungszentrum (HKFZ) der Universität Trier, das mich
geringfügig überarbeitete und aktualisierte Fassung mei-
in einer frühen Phase der Dissertation mehrfach zu Kollo-
ner gleichnamigen Dissertation, die am 5. Mai 2012 dem
quien einlud und damit den Übergang in die wissenschaft-
Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der
liche Gemeinschaft erleichterte.
Johannes Gutenberg-Universität Mainz vorgelegt und im
Die Entstehung und Publikation der Dissertation wäre
selben Jahr mit »summa cum laude« verteidigt wurde. Lite-
nicht möglich gewesen ohne eine finanzielle Förderung
ratur, die nach 2012 erschien, konnte für die Drucklegung
von den im Folgenden genannten Institutionen und Per-
keine Berücksichtigung mehr finden. Der Dissertation
sonen, denen ich für die freundliche Unterstützung herz-
wurde die Ehre zuteil, vom Europäischen Romanik Zent-
lich danke.
rum (ERZ) Merseburg mit dem Romanik-Forschungspreis 2014 ausgezeichnet zu werden.
Ein zweijähriges Promotionsstipendium der Stipendienstiftung Rheinland-Pfalz ermöglichte es mir, die
Mein erster Dank gebührt selbstverständlich meinem
Promotion in einem überschaubaren Zeitraum abzu-
Mentor Prof. Dr. Matthias Müller, der mir im Studium er-
schließen. Den Großteil der Kosten für die Publikation
öffnete, dass Fragen der Erinnerungskultur Gegenstand
übernahm aufgrund der Höchstnote großzügigerweise
der Architekturforschung sein können. Es war eine glück-
der Förderungsfonds Wissenschaft der Verwertungsge-
liche Fügung für mich, einen Mentor zu haben, der meine
sellschaft WORT. Für Zuschüsse zu den darüber hinaus-
Arbeit sowohl mit großem Interesse und gutem Rat be-
gehenden Publikationskosten danke ich (in Analogie zur
treute als auch genug Raum zur freien Entfaltung der Ge-
Reihenfolge der im Buch behandelten Kirchenbauten):
danken einräumte. Das Zweitgutachten schrieb Frau Prof.
dem Bistum Trier, namentlich Generalvikar Monsignore
Dr. Elisabeth Oy-Marra, die meine Arbeit nicht nur wohl-
Dr. Georg Bätzing, der kirchlichen Denkmalpflege des
wollend begleitete, sondern mich schon im Studium mit
Bistums Trier, namentlich Frau Diözesankonservatorin
guten Ratschlägen im Hinblick auf mein Promotionsvor-
Dr. Barbara Daentler und Dr. Andreas Weiner, der Evan-
haben unterstützte. Von meinen akademischen Lehrern
gelischen Kirche in Mitteldeutschland, namentlich Frau
ist noch Prof. Dr. Detlev Kreikenbom hervorzuheben, dem
Landesbischöfin Ilse Junkermann und Oberkirchenrat
ich wichtige Hinweise vor allem zu den archäologischen
Michael Lehmann sowie dem Münsterbauverein Essen.
Teilen der Arbeit verdanke.
Der Deutsche Kunstverlag stand mir stets als kompe-
Bei meinen Forschungen durfte ich auf die Hilfe und
tenter und verlässlicher Partner zur Seite, der konstruktiv
Unterstützung wohlwollender Personen bauen. Meine
zur Publikation des Buches beitrug. Hier sind insbeson-
Untersuchungen im Trierer Dom hat Dompropst Prälat
dere Frau Stephanie Ecker, Frau Jasmin Fröhlich und von
Werner Rössel stets unterstützt. Prof. Dr. Winfried Weber
Seiten des Lektorats Frau Isabel Hartwig zu nennen.
gewährte mir freundlicherweise Einblick in die aktuellen
Last but not least danke ich meiner Frau Sonja, die
Grabungsergebnisse im Trierer Dombereich. Im Magde-
2010 unseren Sohn Haro zur Welt brachte, für Ihre außer-
burger Dom halfen mir Domprediger Giselher Quast und
gewöhnliche Unterstützung und verständnisvolle Geduld,
Domküster Jürgen Jerratsch. Die aktuellen Grabungser-
die nur mit Liebe zu erklären sind.
11
1 EINLEITUNG
Fragestellung
Datierungen zu spinnen, das heute eine grundlegende Ba-
»… groß ist die Kraft der Erinnerung, die Orten inne-
sis für die zeitliche Einordnung von Bauwerken offeriert.
wohnt«,1 spricht Piso zu Cicero und seinen Freunden, als
Infolgedessen konstruierte man die Architekturgeschichte
sie die Akademie in Athen besuchen, und stößt damit eine
als Stilgeschichte,2 welche den Stil als primäres Moment
Diskussion über das Verhältnis von Orten und Erinnerung
architektonischer Formbildung impliziert.3 Dies führte
an. Dabei ist die Rede von unbebauten Orten, aber vor al-
dazu, dass vor allem diejenigen Gebäude im Fokus des
lem von Orten, an denen besondere Bauwerke stehen, wie
kunsthistorischen Interesses standen und stehen, deren
die Curia in Rom. Die Erinnerung des Menschen bindet
Stil eine klare Einordnung in die Stilgeschichte erlaubt,
sich, so ist man sich einig, in hohem Maße an Architektur.
was in besonderer Weise für die Kirchenarchitektur gilt,
Piso und seine Freunde denken dabei in erster Linie an
die im Mittelalter die repräsentativste und künstlerisch
Gebäude, die erst durch das Wirken bestimmter Perso-
wie technologisch anspruchsvollste Bauaufgabe darstellte.
nen zu Trägern der Erinnerung wurden, primär aber ei-
Ein distanzierter Blick auf die mittelalterliche Sak-
nem anderen Zweck dienen, wie eben der Akademie oder
ralarchitektur zeigt jedoch, dass viele, vielleicht sogar die
der Curia. Wie aber verhält es sich mit Gebäuden, die an
Mehrheit der Kirchen ein stilistisch heterogenes Konglo-
Orten erbaut wurden, die vornehmlich der Erinnerung
merat aus Gebäudeteilen verschiedenster Epochen bil-
dienen; mit Gebäuden, denen von vornherein eine Erin-
den. Bauwerke, bei denen die stilistische Heterogenität
nerungsfunktion zukommt, wie es etwa bei der Geburts-
besonders ausgeprägt ist, lassen sich jedoch nicht mehr
kirche in Bethlehem, dem legendären Geburtsort Christi,
mit den gängigen Kriterien der Stilgeschichte erfassen, so
oder der Peterskirche, die über dem Grab Petri in Rom
dass sie in den einschlägigen Überblickswerken ungeach-
erbaut worden sein soll, offenkundig ist? Wäre nicht zu er-
tet ihrer kulturhistorischen Bedeutung keine adäquate Be-
warten, dass die Form der Architektur von dem Wunsch,
achtung finden. Insofern spiegeln die stilgeschichtlichen
zu erinnern, mitbestimmt wird, damit auch in späteren
Ordnungen die Realität mittelalterlicher Baukultur nur
Zeiten dem Betrachter die Tradition des Ortes vor Augen
partiell und damit unzureichend wider.
geführt wird?
Ein herausragendes Beispiel für ein Gebäude, wel-
Sichtet man die einschlägigen Überblickswerke zur
ches durch das stilgeschichtliche Raster fällt, bietet der
mittelalterlichen Architektur, so stellt man fest, dass der-
Trierer Dom (vgl. Abb. 1.01, 1.02).4 Das rund 1700 Jahre
artige Fragen größtenteils ausgeklammert werden. Trotz
alte Bauwerk erfuhr im Laufe seiner lebhaften Geschichte
der methodischen Aufweitung, welche das Fach in den
zahlreiche An- und Umbauten, Erneuerungen und Erwei-
letzten Jahrzehnten erfahren hat, dominiert in den grund-
terungen, so dass es aus stilistischer Perspektive bereits
legenden Gesamtdarstellungen nach wie vor die Frage
im Hochmittelalter eine Collage aus Teilen verschiede-
nach dem Stil. Mit Hilfe der Stilkritik, der wohl prominen-
ner Jahrhunderte bildete. Diese stilistische Heterogenität
testen kunsthistorischen Methode, gelang es in den letz-
verhinderte aber, dass der Trierer Dom einen angemesse-
ten 150 Jahren, ein zunehmend dichtes Netz von relativen
nen Eingang in die kunstgeschichtlichen Überblickswerke
1 Cicero, De finibus V, 2 (ed. Merklin, S. 394f.). 2 Bei manchen Werken lässt sich das schon am Titel erkennen: z. B. »Belser Stilgeschichte«, »Heyne Stilkunde« oder »Baustilkunde« (Koch, W. 2000). 3 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kamen zunehmend auch Ansätze auf, welche die inhaltliche Deutung von Bauwerken in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken, insbesondere die Architekturikonographie (Standardwerke: Krautheimer 1988; Bandmann 1979 [1951];
Warnke 1976). Diese hatten jedoch wenig Einfluss auf die stilgeschichtliche Ordnung der Überblickswerke und flossen, wenn überhaupt, ergänzend ein (in gelungener Weise etwa bei Kimpel/Suckale 1985). Die an dieser Stelle zugegebenermaßen verkürzte und zugespitzte Darstellung der architekturgeschichtlichen Methodiken dient dem Zweck, die Problemstellung dieser Arbeit besser nachvollziehbar zu machen. 4 Für einen kurzen Abriss der komplizierten Baugeschichte des Trierer Doms mit entsprechenden Literaturhinweisen s. Kap. 2.1.
12
1 EINLEITUNG
fand, obgleich er vergleichsweise gut erforscht ist, so dass
stilgeschichtlicher Stellung und könnte somit helfen, ein
umfangreiche Literatur existiert. Wenn der Trierer Dom
differenzierteres Bild der mittelalterlichen Baukultur zu
5
in Überblickswerken Erwähnung findet, dann beschränkt
gewinnen. Darüber hinaus würde der Ansatz eine ganz-
sich diese auf einzelne Gebäudeteile einer bestimmten
heitliche Betrachtung eines Bauwerks über stilgeschicht-
Zeitschicht, welche herausgelöst aus dem architektoni-
liche Zäsuren hinweg erlauben, indem statt der stilistisch
schen Gesamtkontext betrachtet werden, wie etwa die
isolierten Betrachtung eines einzelnen Gebäudeteils un-
Westfassade des 11. Jahrhunderts.6
terschiedliche Zeitschichten in Beziehung zueinander ge-
Die marginale Beachtung des Trierer Doms in über-
setzt werden könnten.
greifenden Werken steht jedoch in krassem Gegensatz zur historischen, religiösen, politischen und kulturellen Be-
Begriffliche Vorüberlegungen
deutung des Bauwerks im Mittelalter und darüber hinaus:7
Der zentrale Begriff dieser Arbeit ist die »Tradition des
Es handelte sich um die älteste und im Frühmittelalter
Ortes«. Er setzt sich aus zwei Komponenten zusammen,
größte Bischofskirche im deutschen Raum, die im Mittel-
Ort und Tradition, und beinhaltet damit sowohl eine räum-
alter als kaiserliche Gründung der heiligen Helena, Mutter
liche als auch eine zeitliche Bezugsebene. Das Subjekt ist
Konstantins des Großen, höchstes Ansehen genoss. Als
die Tradition, doch handelt es sich nicht um eine allge-
Sitz des Trierer Erzbischofs diente der Dom als Repräsen-
meine Tradition, die sich etwa auf eine kulturgeographi
tationsbau eines der mächtigsten Männer im Reich, der
sche Region oder eine vergangene Epoche wie die Antike
auch hohe politische Ämter bekleidete und im Spätmit-
bezieht und deshalb für eine Gruppe von Gebäuden rele-
telalter zu den sieben Kurfürsten zählte. Als Mutterkirche
vant sein kann, sondern eine spezifische Tradition, die in
des Trierer Erzbistums stand der Dom in der kirchlichen
direktem Bezug zu einem bestimmten Ort steht und somit
Hierarchie weit oben, nach dem mittelalterlichen Trierer
nur auf das den Ort besetzende Gebäude wirkt. Den kon-
Selbstverständnis kam er direkt nach dem päpstlichen Sitz
stitutiven Kern des Begriffs bildet folglich der im Genitiv
in Rom, der Peterskirche. Schließlich barg und birgt der
angesprochene Ort.
Trierer Dom seinem Rang entsprechend mit dem Heiligen
Ein Ort bezeichnet einen bestimmten Punkt im
Rock Christi eine der bedeutendsten Reliquien der Chris-
Raum. Da es sich bei Architektur in der Regel um Immo-
tenheit in seinen Mauern.
bilien handelt, um unbewegliche Objekte also, die räum-
Wie kann es sein, dass ein Gebäude von einer derart
lich fest an einem Ort verankert sind, kommt es zu einer
hohen religiösen, politischen und kulturellen Bedeutung
besonderen Wechselwirkung zwischen Ort und Architek-
keinen Eingang in die architekturgeschichtlichen Über-
tur. Der Ort definiert Rahmenbedingungen, welche die
blickswerke findet? Schmälert die stilistische Heterogeni-
architektonische Form mitbestimmen. Ob beispielsweise
tät wirklich die kunsthistorische Bedeutung? Der Dom zu
ein Haus freistehend an einem See oder in einer großstäd-
Trier ist, wie zuvor skizziert, ein Gebäude mit großen Tra-
tischen Baulücke errichtet wird, hat zwangsläufig Auswir-
ditionen. Wäre es da nicht möglich, dass die Integration
kungen auf dessen Gestalt. Jeder Ort besitzt individuelle
alter Gebäudeteile bewusst geschah, vielleicht sogar pro-
Qualitäten, die ihn zu mehr als einer räumlichen Koordi-
grammatisch? Wäre es möglich, dass die Architektur als
nate machen und sich mitunter zu einer besonderen Aura
Medium fungierte, um die Tradition des Ortes visuell zu
verdichten. Die spezifischen Qualitäten des Ortes, die im
kommunizieren, um diese kraft ihrer Authentizität darü-
architektonischen wie kulturwissenschaftlichen Diskurs
ber hinaus sogar zu bezeugen?
häufig mit dem Begriff genius loci umrissen werden, kön-
Die Problem- und Fragestellung, die hier am Trierer
nen eine besondere Wirkung auf die Architektur entfalten.
Dom exemplarisch skizziert wurde, soll im Rahmen die-
Umgekehrt wirken aber auch Gebäude auf den Ort, dessen
ser Arbeit anhand mehrerer Fallstudien eingehend unter-
räumliche Qualitäten sie mit ihrer körperlichen Präsenz
sucht werden. Die Kernfrage wäre demnach, ob und inwie-
zwangsläufig modifizieren, zurück.
fern eine Tradition des Ortes die architektonische Form
Die Tradition des Ortes bezeichnet eine zeitliche Di-
mitbestimmte. Dieser Ansatz verspricht einen Zugang
mension, die einem Ort zukommen kann. Sie rekurriert
zu mittelalterlichen Sakralbauten unabhängig von deren
auf eine vergangene Zeitschicht, in der etwas an dem Ort
5 Die Literatur zum Trierer Dom bis ca. 1980 bibliographierte: Zink 1980b.
6 Z. B. Kaiser 1996, S. 44; Kubach/Verbeek 1976, Bd. 2, S. 1092f. 7 Zu den folgenden Punkten s. Kap. 2.7.
13
1 EINLEITUNG
geschah, das fortan mit ihm in Beziehung steht. Dabei
Die vorangegangenen, einleitenden Aussagen zur
kann es sich etwa um ein außergewöhnliches Ereignis
Tradition des Ortes sollen jedoch keine Untersuchungs-
handeln, das in der Vergangenheit an einem bestimm-
ergebnisse vorweggreifen, sondern als hypothetische
ten Ort stattfand. Wie die vorliegende Arbeit zeigen wird,
Vorüberlegungen begriffen werden, die es in der folgen-
kann der Ort als authentischer Teil des Ereignisses zu
den Untersuchung zu überprüfen und gegebenenfalls zu
einem Erinnerungsträger mit beglaubigender Wirkung
differenzieren und konkretisieren gilt. Gleichwohl ver-
werden. Als Beispiel lässt sich hier die Geburtskirche in
deutlichen sie bereits, dass die Tradition des Ortes nicht
Bethlehem heranziehen, welche den legendären Ort der
allein auf eine geographische Koordinate bezogen werden
Geburt Christi markiert. Es kann sich aber auch um eine
darf, sondern räumlich wie begrifflich etwas weiter gefasst
neue Nutzung handeln, für die der Ort bestimmt und
werden muss und die Architektur teilweise mit einbezieht.
nachhaltig modifiziert wurde. Ein derartiges Beispiel liefert die Peterskirche in Rom, die über dem legendären
Forschungsstand
Grab Petri errichtet wurde. In solch einem Fall verbinden
In den 1980er Jahren entdeckten die Kulturwissenschaf-
sich die Person und ihre Geschichte identitätsstiftend mit
ten das Thema »Erinnerung«, welches ein weites Feld in-
dem Ort.
terdisziplinärer Forschung offerierte und Erkenntnisse in
Zur Tradition wird die Geschichte schließlich, wenn
neuen Zusammenhängen versprach. Dabei konnten un-
sie mittels kontinuierlicher Pflege generationenübergrei-
terschiedliche Ansätze, welche in den vorangegangenen
fend überliefert wird. Tradition bezeichnet also eine Be-
Jahrzehnten teils unabhängig voneinander entstanden
zugnahme einer interessierten Gruppe auf die Geschichte
waren, in glücklicher Weise zusammengebracht werden.
zu einem späteren Zeitpunkt, so dass die Geschichte
Das Verdienst, Erinnerung als Thema der Kulturwis-
unbewusst oder bewusst verzerrt oder sogar absichtlich
senschaften erkannt und erschlossen zu haben, gebührt
verändert wieder- und weitergegeben werden kann. Die
dem französischen Soziologen Maurice Halbwachs. In
Tradition kommt einer Folie gleich, durch welche auf die
seinen bereits in den 1920er bis 1940er Jahren verfassten,
Vergangenheit zurückgeblickt wird.
grundlegenden Schriften zur Soziologie des Erinnerns
Im Zentrum dieser Arbeit steht das Verhältnis von
prägte er den Begriff des »kollektiven Gedächtnisses«, der
Architektur zur Tradition des Ortes. Es liegt nahe anzu-
in der heutigen Diskussion allgegenwärtig ist.8 Die Schrif-
nehmen, dass Bauwerke in einer Wechselwirkung zur
ten von Halbwachs waren in Deutschland jedoch zunächst
Tradition des Ortes stehen. Auf der einen Seite kann die
nur einem kleinen Kreis von Fachleuten bekannt und er-
Tradition des Ortes die Form der Architektur maßgeb-
lebten ihren Durchbruch erst mit den deutschsprachigen
lich prägen, was besonders dann zu erwarten wäre, wenn
Neuauflagen zur Mitte der 1980er Jahre, als das Interesse
die Tradition des Ortes den Anlass für die Errichtung ei-
an Erinnerung entflammte.
nes Gebäudes gab, wie es etwa bei der Geburtskirche in
In dieser Zeit entdeckte man auch das Spätwerk des
Bethlehem oder der Peterskirche in Rom der Fall war.
deutschen Kunsthistorikers Aby Warburg wieder, der bis
Auf der anderen Seite wäre zu fragen, ob Architektur in
dato vornehmlich als Begründer der Ikonologie galt. War-
entsprechenden Fällen gezielt auf die Tradition des Ortes
burg beschäftigte sich vor allem bei seinem unvollendeten
verweist, ob sie selbst Teil der geschichtlichen Ereignisse
Projekt »Mnemosyne«9 mit der Gedächtnisfunktion von
eines Ortes wird und/oder ob sie einen historischen Ei-
Bildern, ohne allerdings wie Halbwachs eine konkrete Er-
genwert erlangt. Die Architektur könnte folglich zu einem
innerungstheorie daraus abzuleiten.10
eigenen, integralen Bestandteil der Tradition des Ortes
Die historische Forschung, allen voran Gerd Tellen-
avancieren. Dabei ist es im Untersuchungskontext uner-
bach, Karl Schmid und Joachim Wollasch, eröffnete den
heblich, ob die Tradition auf wahren Tatsachen basiert
Kulturwissenschaften ihrerseits eine neue Perspektive,
oder nicht; entscheidend ist, was für wahr erachtet oder
indem sie in den 1950er Jahren begann, den geschichtli-
als wahr propagiert wird.
chen Zeugniswert zum liturgischen Totengedächtnis im
8 Halbwachs 1985b [1950]; Ders. 1985a [1925]; Ders. 1941. Der jüngste Titel wurde posthum nach einem im Nachlass entdeckten Manuskript veröffentlicht. 9 Ein Fragment des Projekts wurde vor einigen Jahren von Martin Warnke herausgegeben (Warburg 2000).
10 Zur Einführung in Warburgs Gedächtniskonzept: Böhm 2000; Diers 1995; Kany 1987, insbesondere S. 168–185. 11 Einen vorzüglichen Überblick zur Geschichte der MemoriaForschung von ihren Anfängen bis in die 1990er Jahre inklusive der wesentlichen Literaturhinweise bietet: Geuenich 2008.
14
1 EINLEITUNG
Mittelalter, der »Memoria«, systematisch zu erschließen.11
Erinnerungskultur in den 1990er Jahren zu ihrem Durch-
Anfänglich stand jedoch nicht die mittelalterliche Erinne-
bruch.14 Anknüpfend an die Forschungen von Halbwachs
rungskultur im Vordergrund, sondern die Adelsforschung,
und Warburg differenzierten sie das kollektive Gedächtnis
zu deren Zweck die schriftliche Memorialüberlieferung in
in ein »kommunikatives Gedächtnis« und ein »kulturel-
erster Linie untersucht wurde.
les Gedächtnis« und ermöglichten damit, die materielle
Das Phänomen der Memoria selbst geriet in den
Sachkultur im sozialen Kontext als Erinnerungsträger zu
1970er Jahren zunehmend in den Fokus der Wissen-
erfassen.15 Eine nachhaltige Wirkung auf den Diskurs ent-
schaft, als man es interdisziplinär zu beleuchten begann
faltete vor allem Jan Assmanns Buch »Das kulturelle Ge-
und dabei seine kulturgeschichtliche Tragweite erkannte.
dächtnis« von 1992, mit dem die Theorie der Assmanns in
Die Initialzündung zur fächerübergreifenden Memoria-
der Breite der Forschungsgemeinschaft bekannt wurde.16
Forschung gab 1984 der von Karl Schmid und Joachim
In der Folge kam es zu einem regen und fruchtbaren
Wollasch herausgegebene Sammelband »Memoria«, der
Austausch zwischen den Forschungsfeldern Erinnerungs-
neben historischen Aufsätzen auch Beiträge von ausge-
kultur und Memoria, der zu einer Ausweitung von Begriff
wiesenen Mittelalterspezialisten anderer Disziplinen, wie
und Bedeutung der Memoria führte, wie die Beiträge in
Friedrich Ohly, Arnold Angenendt, Renate Kroos und Wil-
den beiden Standardwerken zur Memoria-Forschung der
libald Sauerländer, enthält.12 Einen großen Einfluss auf
1990er Jahre, »Memoria in der Gesellschaft des Mittelal-
die weitere Forschung übte und übt der im selben Band
ters«17 und »Memoria als Kultur«,18 herausgegeben von Die-
enthaltene Aufsatz über »Memoria und Memorialbild«
ter Geuenich und Otto Gerhard Oexle, vor Augen führen.
von Otto Gerhard Oexle aus.13 War die Memorialforschung
Obgleich auf diese Weise unterschiedliche Formen, Me-
bis dato in erster Linie auf die schriftliche Überlieferung
dien und Dimensionen der Memoria erschlossen wurden,
fokussiert, so stellte Otto Gerhard Oexle nun die Funktion
muss für die differenzierte Diskussion beachtet werden,
von Bildmedien im Zusammenhang mit Memoria heraus
dass der Begriff »Memoria« nach wie vor das christliche,
und eröffnete damit insbesondere den auf die materielle
vorrangig mittelalterliche Totengedächtnis bezeichnet.19
Sachkultur spezialisierten Fachdisziplinen, wie der Kunst-
Memoria bildet demzufolge einen besonderen Teilbereich
geschichte, einen Zugang zu dem Forschungsfeld.
von Erinnerungskultur.20
In anderen Bereichen der Kulturwissenschaften be-
Die Kunstgeschichte stieg zwar früh in den interdis-
gann man hingegen parallel zur Memoria-Forschung Fra-
ziplinären Diskurs über Memoria ein, doch konzentrierte
gen zur Erinnerungskultur auf einer allgemeineren Ebene
sich ihr Beitrag größtenteils auf die Erforschung der Bild-
zu verhandeln und so den Diskurs auf weitere Aspekte,
künste unter memorialen Aspekten,21 wohingegen die Ar-
Kulturen und Epochen auszuweiten. Insbesondere die
chitektur kaum in die Diskussion miteinbezogen wurde.22
Arbeiten von Aleida und Jan Assmann, einer Literatur-
Auch an der allgemeineren Debatte über das kulturelle
wissenschaftlerin und eines Ägyptologen, verhalfen der
Gedächtnis nahm die Architekturgeschichte zunächst nur
allgemeinen geisteswissenschaftlichen Erforschung von
wenig Anteil.
12 Schmid/Wollasch 1984. 13 Oexle 1984. – Frühe Einzelstudien zu Memorialbildern: Sauerländer/ Wollasch 1984; Schmid 1982. 14 Wichtige Publikationen der Assmanns zum Thema: Assman, A. 1999; Assman, A./Harth 1991; Assmann, J. 2000; Ders. 1995; Ders. 1992; Ders. 1988; Assmann, J./Hölscher 1988. 15 »Halbwachs thematisiert den Nexus zwischen Gedächtnis und Gruppe, Warburg den zwischen Gedächtnis und kultureller Formensprache. Unsere Theorie des kulturellen Gedächtnisses versucht, alle drei Pole: Gedächtnis (bzw. appräsentierte Vergangenheit), Kultur und Gruppe (bzw. Gesellschaft) aufeinander zu beziehen.« (Assmann, J. 1988, S. 13). 16 Assmann, J. 1992. – In späteren Publikationen zur Erinnerungsforschung wird die Genese des Begriffs »kulturelles Gedächtnis« oft auf dieses Werk reduziert. Ohne dessen unbestrittene Bedeutung und Wirkung zu schmälern, sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass Jan Assmann den Begriff und grundlegende theoretische Gedanken gemeinsam mit seiner Frau Aleida entwickelte, wie er selbst wiederholt betonte (Assmann 1992, S. 22; Ders. 1988, Anm. 3). Außerdem wurde der Begriff schon früher im kulturwissenschaftlichen Diskurs gebraucht; er tauchte zum Beispiel 1988 bereits im Titel einiger Bei-
träge zum Sammelband »Kultur und Gedächtnis« auf (Assmann, J./ Hölscher 1988). 17 Geuenich/Oexle 1994. 18 Oexle 1995. 19 »Memoria ist nachgerade zu einer Mode geworden, zu einem Trend, der zum Teil die begrifflichen Konturen verwaschen, zum Teil auch zu falsch oder unverstandenen Verwendungen geführt hat. Umso wichtiger ist es, jede Überlegung zur Memoria des Mittelalters mit all ihren Implikationen und zu den möglichen weiteren Erkenntnissen immer wieder auf das liturgische Totengedenken zurück zu beziehen.« (Schilp 2008b, S. 21f.) 20 Zu Möglichkeiten und Abgrenzungen der Memoria-Forschung im Kontext der Debatte zur allgemeinen Erinnerungskultur: Schilp 2008b, S. 19–27. 21 Aus der Fülle mittlerweile erschienener Literatur zu memorialen Aspekten der Bildkünste seien lediglich einige wichtige Titel zu mittelalterlichen Themen exemplarisch angeführt: Horch 2001; Geary 1994; Oexle 1994; Sauer, C. 1993; Oexle 1984. 22 In den drei großen Memoria-Bänden beispielsweise spielt Architektur praktisch keine Rolle (Schmid/Wollasch 1984; Geuenich/Oexle 1994; Oexle 1995).
15
1 EINLEITUNG
Insofern musste der Historiker Thomas Schilp noch
es Orte oder Architektur oder das Zusammenspiel von beiden, zunächst die Ausnahme dar.30 Grundsätzliche Fragen
vor wenigen Jahren grundsätzlich fragen: »Ist Architektur eine Objektivation von Memoria, können wir Memoria als eine Dimension eines Baus fassen, ist hier zu fragen, oder betreten wir damit Bereiche der Erinnerungskultur überhaupt oder können möglicherweise beide Frage-Aspekte Berechtigung beanspruchen?«23
an die Architektur, z. B. wie diese überhaupt als Erinnerungsträger funktionieren kann, wurden dabei in der Regel ausgeklammert. In das Blickfeld der Architekturgeschichte gelang die Erinnerungskultur schließlich um die Jahrtausendwende. Obgleich das Interesse seither stetig zunimmt, scheint sich das Fach diesbezüglich noch in einer Orientierungs-
Die Zurückhaltung der Architekturgeschichte erstaunt
phase zu befinden, in welcher die Möglichkeiten der Parti-
umso mehr, als die Literatur zur Erinnerungskultur von
zipation am interdisziplinären Diskurs ausgelotet werden.
räumlichen Metaphern durchzogen ist. Als der französi-
Insofern erschloss die Literatur seither in Form von Sam-
sche Historiker Pierre Nora den Ansatz von Halbwachs
melbänden oder im Rahmen weiter gefasster, meist ikono-
in den 1980er Jahren mit einem mehrbändigen Projekt
logischer Arbeiten auf unterschiedlichen inhaltlichen und
zur Geschichte Frankreichs aufgriff, taufte er es bezeich-
methodischen Ebenen spezifische Aspekte des kulturellen
nenderweise »Les lieux de mémoire«,24 Gedächtnisorte,
Gedächtnisses; zunächst die wohl naheliegendsten For-
obwohl die enthaltenen Beiträge nur zu einem geringen
men architektonischen Erinnerns, die Denkmale und die
Teil reale Orte und noch weniger Architektur thematisie-
Denkmalpflege sowie die Gedenkstätten,31 dann aber auch
ren, sondern vornehmlich Literatur, Personen, Riten, usw.
die Historizität in der Architektur des späten Mittelalters
behandeln. Nora wählte den Titel in Anlehnung an die an-
und der frühen Neuzeit32 sowie jüngst der Erinnerungskul-
tike Mnemotechnik, in der das Gedächtnis als Haus mit
tur im modernen Sakralbau.33
den Gedanken als Gegenständen darin vorgestellt wird.
Explizit mit Erinnerungskultur, und zwar in der hoch-
25
Dass die räumliche Metaphorik der Mnemotechnik wie-
mittelalterlichen
Sakralarchitektur,
beschäftigte
sich
derum mit der Erinnerungskraft realer Orte zusammen-
schließlich Stephan Albrecht in einer wegweisenden Stu-
hängt, erkannte bereits Cicero und ließ Piso im eingangs
die zur »Inszenierung der Vergangenheit« in den Klöstern
zitierten fiktiven Gespräch darauf hinweisen.26 »Erinne-
von Glastonbury und Saint-Denis, in der er nachweisen
rungsräume« nannte, um ein weiteres Beispiel anzufüh-
konnte, wie sich die Geschichte der Klosterkirchen in ih-
ren, Aleida Assmann ihr grundlegendes Werk, in dem sie
rer Architektur und Ausstattung manifestierte.34 Die Trag-
sich der Erinnerungskultur von literaturwissenschaftli-
weite der Ergebnisse für die Architekturgeschichte des Mit-
cher Seite her nähert und den Orten ein eigenes Kapitel im
telalters ist momentan noch nicht abzusehen, denn mit
Teil »Medien« widmet. Die Bedeutung von realen Orten
Saint-Denis rückte Albrecht ausgerechnet ein Gebäude in
für das kollektive Gedächtnis erkannte indes auch Mau-
den Fokus der Erinnerungskultur,35 das einen exponierten
rice Halbwachs, indem er Palästina als Gedächtnisland-
Platz in der Stilgeschichte innehat, weil dessen Umbau
schaft thematisierte.28 Diesbezüglich spricht Jan Assmann
Mitte des 12. Jahrhunderts als Beginn der gotischen Archi-
treffenderweise von der »Einlösung einer Metaphorik«.
tektur angesehen wird,36 bei dem also gerade der Aspekt
27
29
Während räumliche Metaphern also einerseits zum
des Neuen und Innovativen stark betont wurde. Der von
Inventar der Erinnerungskultur und ihrer Erforschung
Albrecht erbrachte Nachweis, dass demgegenüber auch
gehören, stellten andererseits Studien realer Räume, seien
die Inszenierung der eigenen Vergangenheit einen gravie-
23 Schilp 2008b, S. 32. 24 Nora 1984–1992. Teile des monumentalen Werks wurden ins Deutsche übersetzt (Nora 2005; Nora 1990). Etienne François und Hagen Schulze übertrugen den Ansatz auf Deutschland (François/Schulze 2001). 25 Nora 1990, S. 7. 26 Cicero, De finibus V, 2 (ed. Merklin, S. 394f.). 27 Assmann, A. 1999, zu Orten: S. 298–342. 28 Halbwachs 1941. Eine deutsche Übersetzung dieses bisher nur auf Französisch erschienenen Werks stellt ein dringendes Desiderat dar. 29 Assmann, J. 1992, S. 60. 30 Frühe Aufsätze zum Thema: Ledderose 1988; Riedl 1988. 31 Hoffmann 2005; Martini 2000; Meier/Wohlleben 2000; Borsdorf/ Grütter 1999.
32 33 34 35
Müller 2004; Fürst 2002; Schmidt 1999. Kappel/Müller/Janson 2010; Kappel 2008. Albrecht 2003. Dabei konnte Albrecht auf einige seit den 1980er Jahren entstandenen Studien aufbauen, welche retrospektive Aspekte von St. Denis thematisieren und/oder die stilgeschichtliche Stellung der Abteikirche zunehmend relativieren: Büchsel 1997; Markschies 1995; Clark 1993; Kimpel/Suckale 1985, S. 76–92; von Winterfeld 1984. 36 Von einer Vielzahl möglicher Beispiele, die St. Denis als Initialbau der Gotik bezeichnen, seien exemplarisch genannt: von Simson 1968, S. 144; Crosby 1953, S. 31. – Siehe zu dieser Thematik auch Kap. 3.3.6.
16
1 EINLEITUNG
renden Einfluss auf die architektonische Form der alten
mischen Imperium den Übergang von der Romanik zur
Abteikirche ausübte, wirft die Frage auf, inwieweit das bis-
Gotik postuliert. Gleichwohl liegt es in der Natur der Fra-
herige Bild mittelalterlicher Architektur durch die stilge-
gestellung, die ältere Geschichte der Bauten bis zu deren
schichtliche Perspektive verzerrt wurde. Allerdings stehen
Gründung mit einzubeziehen, so dass frühere bauliche
Glastonbury und Saint-Denis als herausragende architek-
Vorgänge teils bis zurück in die Spätantike zwangsläufig
tonische Erinnerungsträger noch recht vereinzelt auf dem
Berücksichtigung finden mussten.
weiten Feld der mittelalterlichen Architekturgeschichte, so dass Stephan Albrecht richtigerweise forderte: »Weitere Analysen zu anderen Institutionen müssten folgen, um einen repräsentativen Querschnitt über die Strategien und Ausformungen der Vergangenheitsinszenierung gewinnen zu können.«37
Methodisches Vorgehen Die Methoden sind das Werkzeug des Geisteswissenschaftlers. Insofern kann man nur begrüßen, dass die methodische Reflexion und Diskussion in der Kunstgeschichtsforschung einen breiten Raum einnimmt. Allerdings führte dieser Umstand mitunter dazu, dass in manchen Studien die Methode zu einem Selbstzweck wurde. Damit ging eine
Eingrenzung des Untersuchungsraumes
zum Teil ideologisch überfrachtete Debatte darüber einher,
Anknüpfend an die kulturwissenschaftliche Debatte um
welche Methode der richtige Weg der Kunstgeschichte sei.
Erinnerung und Memoria im Allgemeinen und die Stu-
Die vorliegende Studie stellt hingegen ausdrücklich
die von Stephan Albrecht im Besonderen steht in dieser
die Fragestellung in den Mittelpunkt, in diesem Fall also
Arbeit die Fragestellung nach dem bisher erst rudimentär
die Frage nach der Relation von architektonischer Form
untersuchten Verhältnis von Architektur und Vergangen-
zur Tradition des Ortes. Die Methoden dienen demgegen-
heit im Mittelalter mit einem expliziten Fokus auf die Tra-
über dem Zweck, Antworten auf diese Frage zu suchen
dition des Ortes im Vordergrund. Die Konzentration auf
und auch zu finden. Jede wissenschaftliche Methode,
den Bereich der Sakralarchitektur erlaubt aufgrund der
die zu diesem Zweck begründete Erkenntnisse liefert, hat
funktionalen Entsprechung eine Vergleichbarkeit der Fall-
demnach eine Berechtigung. Ein einseitiges Bekenntnis
beispiele und ermöglicht zudem eine bessere Anbindung
zu einer bestimmten Methode ist folglich nicht sinnvoll,
an den bisherigen Forschungsstand zur Memoria, bei der
da es die Möglichkeiten der Untersuchung unnötigerweise
es sich schließlich um ein religiöses Phänomen handelt,
einschränkt. Stattdessen muss die Wahl der Methode in
auch wenn die Untersuchung in dem weiter gefassten Feld
Abhängigkeit von den jeweiligen Fragen getroffen werden. Das bedeutet jedoch nicht, dass Arbeiten, die sich auf
der Erinnerungskultur situiert werden soll. Den räumlichen Rahmen der Untersuchung bildet
eine Methode konzentrieren, grundsätzlich abzulehnen
der Bereich des deutsch-römischen Kaiserreiches, für den
sind, insofern ein Bewusstsein für die Relation zwischen
entsprechende Studien zum frühen und hohen Mittelal-
Methode und Fragestellung vorhanden ist und die Me-
ter noch nicht vorliegen. Die geographische Eingrenzung
thode somit nicht zum allein gültigen Maßstab erhoben
geschieht jedoch im Gegensatz zur älteren Literatur nicht
wird. Derartige Arbeiten können bewusst einen bestimm-
mit der Absicht einer nationalen Abgrenzung, sondern
ten Aspekt eines Gebäudes vertiefen und/oder die Me-
im Gegenteil zur Freilegung internationaler Zusammen-
thode an sich verfeinern und damit wichtige Beiträge lie-
hänge, indem ein Phänomen mittelalterlicher Baukultur,
fern. Für die vorliegende Arbeit haben die hier geäußerten
das von Stephan Albrecht an einem englischen und einem
Vorüberlegungen jedoch einen Methodenpluralismus zur
französischen Beispiel nachgewiesen wurde,
durch die
Folge: Statt sich im Vorfeld auf eine bestimmte Methode
geographische Ausweitung als europäisches Phänomen
festzulegen, sollen unterschiedliche Methoden je nach Be-
sichtbar gemacht wird.
darf genutzt werden.
38
Bei den Vorstudien zu dieser Arbeit haben sich Fall-
Beispielsweise stellt die Unterscheidung verschiedener
beispiele herauskristallisiert, die eine gewisse zeitliche
Zeitschichten eines Gebäudes eine notwendige Vorausset-
Schwerpunktsetzung auf das bauliche Geschehen im
zung dar, um die wechselseitigen Bezüge zwischen alten
13. Jahrhundert ergaben, also interessanterweise genau
und neuen Teilen überhaupt beurteilen und interpretieren
den Zeitraum, für den die Stilgeschichte im deutsch-rö-
zu können. Insofern kann es sinnvoll sein, zunächst den
37 Albrecht 2003, S. 266.
38 Albrecht 2003.
17
1 EINLEITUNG
baulichen Befund mit Hilfe der konventionellen Baufor-
der erstgenannte Zustand rekurriert. Beim Trierer Dom
schung und/oder traditionellen Stilkritik zu untersuchen,
sind zum Beispiel die Baumaßnahmen des 11.–13. Jahr-
um die Datierung oder Baugeschichte eines Gebäudeteils
hunderts mit dem architektonischen Zustand des 4. Jahr-
zu klären und damit überhaupt erst eine fundierte Grund-
hunderts, der Zeit der legendären Umwandlung des Pa-
lage für eine folgende Strukturanalyse oder ikonologische
lastes der Helena in die Bischofskirche, in Beziehung zu
Interpretation zu schaffen.
setzen. Dabei ist wiederum zwischen der Rekonstruktion
Im Zentrum der Dissertation steht die Untersuchung
des Gründungsbaus nach heutigem Forschungsstand und
der Bauwerke selbst, da es sich hierbei um die unmittel-
dem mittelalterlichen Kenntnisstand vom Gründungsbau
baren Zeugnisse der mittelalterlichen Baukultur und folg-
zu differenzieren, da nur letzterer für den mittelalterlichen
lich um die primäre Quelle der Architekturforschung han-
Umgang mit der Tradition des Ortes relevant ist.
delt. Was für den Außenstehenden möglicherweise banal
Für die Analyse der Relation von architektonischer
klingen mag, ist keine Selbstverständlichkeit, denn nicht
Form zur Tradition des Ortes ist es dabei zunächst uner-
selten ist in der Literatur festzustellen, dass Aussagen, die
heblich, ob das mittelalterliche Wissen um die Tradition
vom Bauwerk ausgehend getroffen wurden, weniger Ge-
des Ortes auf einer zutreffenden oder verfälschten Überlie-
wicht beigemessen wird, als Aussagen, die aus Medien wie
ferung beruht oder einer nachträglichen Geschichtskons-
Schriftquellen oder Bildern gewonnen werden, obwohl
truktion folgt oder, was sich meist beobachten lässt, eine
jene nur mittelbar über Architektur Auskunft geben.
Mischung aus Wahrem, Verfälschtem und Gefälschtem
Dabei stellt sich die Frage, in welchen Kategorien sich
darstellt. Ausschlaggebend ist in erster Linie der histori-
Bezüge zur Tradition des Ortes überhaupt äußern. In den
sche Kontext, in welchem die architektonische Kampagne
folgenden Fallbeispielen werden sich materielle, gestalte-
stattfand. In einem zweiten Schritt können bewusste Ge-
rische und räumliche Bezüge zur Tradition des Ortes in
schichtskonstruktionen, die sich etwa über Fälschungen
unterschiedlichen Ausprägungen aufzeigen lassen. Die
von Gründungsurkunden oder die Anreicherung der Le-
bisherige Literatur richtete ihr Hauptaugenmerk auf ma-
gendarik in den Schriftquellen nachweisen lassen, aller-
terielle Bezüge, wie etwa die Integration alter Bauteile in
dings zur semantischen Interpretation der Architektur
einen neuen Baukörper oder die Wiederverwendung alter
beitragen, wenn sich deren Formen mit der (konstruier-
Elemente in neuem Kontext, weil diese materiellen Be-
ten) Geschichte in Beziehung setzen lassen.
züge aufgrund ihrer visuellen Qualitäten vergleichsweise
Wenn Architektur als Bestandteil der materiellen Er-
gut nachvollzogen werden können. Die gestalterischen
innerungskultur begriffen wird, wenn ein Bauwerk tat-
Bezüge neuer Architekturteile zur Vergangenheit wurden
sächlich auch als ein Medium des kulturellen Gedächt-
bisher jedoch erst vereinzelt thematisiert.39 Neuartig ist die
nisses fungiert, dann müsste sich eine Bezugnahme auf
explizite und intensive Auseinandersetzung mit räumli-
die Tradition des Ortes zwangsläufig auch in anderen
chen Bezügen der Architektur zur Tradition des Ortes, die
Medien nachweisen lassen. Insofern werden neben den
sich aus der geographischen Gebundenheit der Tradition
Schriftquellen vor allem die Bauplastik und Ausstattung
im Grunde von selbst ergibt. Da sich ältere Bauzustände
der Gebäude sowie die liturgischen Riten mit in die Un-
in der Regel kaum oder gar nicht an der aufgehenden Sub-
tersuchung einbezogen. Folglich wird das Gebäude nicht
stanz ablesen lassen, ist die Auswertung archäologischer
als bezugslose Hülle für Objekte und Objektsysteme, Bild-
Grabungen zwecks Analyse räumlicher Zusammenhänge
welten und Handlungsräume betrachtet, sondern von
unerlässlich, so dass bei der Wahl der Fallbeispiele auch
wechselseitigen Beziehungen der Teile zueinander ausge-
auf einen hinreichenden archäologischen Forschungs-
gangen. Architektur versteht sich demnach als integraler
stand geachtet wurde.
Bestandteil eines übergreifenden, komplexen Systems,
Die vergleichende Analyse verschiedener Bauzu-
welches vielleicht mit der Metapher vom »Organismus«
stände führt zwangsläufig zu einem epochenübergreifen-
treffend umschrieben werden könnte. Im Gesamtkontext
den Arbeiten, denn es muss sowohl der architektonische
materieller Kultur lässt sich auf diese Weise eine seman-
Zustand untersucht werden, mit dem auf die Tradition des
tische, auf die eigene Vergangenheit rekurrierende Ebene
Ortes Bezug genommen wird, als auch derjenige, auf den
der Architektur nachweisen, die aufgrund der spezifischen
39 So konnte z. B. Matthias Müller retrospektiv gestaltete Elemente im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Schlossbau aufzeigen,
die bewusst auf die Tradition der Adelsresidenz verweisen (Ders. 2004, S. 118–142).
18
1 EINLEITUNG
medialen Qualitäten der Architektur im Unterschied zu
samkeiten stehen die individuellen Besonderheiten eines
Schrift- oder Bildmedien sonst nur schwer zu erkennen
Kirchenbaus im Fokus.
wäre. Insofern trägt die Arbeit auch dazu bei, mediale,
Aus diesem Grund erscheint es sinnvoll, die Arbeit auf
gattungsübergreifende und interdisziplinäre Zusammen-
unterschiedlichen Fallbeispielen aufzubauen, welche un-
hänge sichtbar zu machen.
abhängig voneinander für den jeweiligen Einzelfall belegen, dass die Tradition des Ortes die Form der Architek-
Aufbau der Arbeit
tur mitbestimmte. In einem weiteren Schritt können die
In den meisten Überblickswerken zur mittelalterlichen Ar-
Fallbeispiele dann miteinander verglichen werden, um
chitektur bildet der stilistische und typologische Vergleich
z. B. Ähnlichkeiten und Unterschiede der Vergangenheits-
das vorrangige Kriterium der Betrachtung, das heißt, For-
inszenierung herauszuarbeiten oder bestimmte histori-
men werden in Relation zu ähnlichen Formen gesetzt, um
sche Zusammenhänge, die zur Nutzung der Architektur
sie etwa zu datieren, in einer Region zu verorten, einer
als Erinnerungsträger führten, freizulegen.
Werkstatt zuzuschreiben oder Vorbilder und Einflüsse
Die Fallbeispiele wurden einerseits nach vergleich-
zu benennen. Im Vordergrund stehen demnach formale
baren Mustern analysiert, um eine Vergleichbarkeit der
Gemeinsamkeiten, die schließlich einen Maßstab dafür
Ergebnisse zu gewährleisten und einer inhaltlichen Be-
bilden, ob und inwieweit ein Gebäude oder seine Teile
liebigkeit entgegenzuwirken. Andererseits mussten die
in die Stilgeschichte eingeordnet werden oder außen vor
Analysen der Natur der Sache entsprechend auf die unter-
bleiben. Dass die Stilgeschichte ihrerseits aus einer Viel-
schiedlichen Gegebenheiten und Bedingungen flexibel re-
zahl stilkritischer Vergleiche vom Fach selbst konstruiert
agieren, so dass die Fallbeispiele nicht nach einem starren
wurde, sei hier nur am Rande vermerkt. Wichtig ist an
Schema abgehandelt werden konnten.
dieser Stelle, dass die Überblickswerke die mittelalterliche Architektur in der Regel auf der Basis von formalen Ge-
Wahl der Fallbeispiele
meinsamkeiten ordnen.
Bei der Suche nach geeigneten Bauwerken für eine Fallstu-
Der Stil der Trierer Liebfrauenkirche wird beispiels-
die zeichnete sich bereits ab, dass die Anzahl an Bauwer-
weise zu Recht mit der Kathedrale von Reims in Verbin-
ken, die von der Tradition des Ortes maßgeblich geprägt
dung gebracht.40 Spezifische Merkmale der Trierer Kirche,
zu sein scheinen, die Erwartungen deutlich überstieg.
wie etwa der signifikante, zentralisierende Grundriss (vgl.
Die (teils ehemaligen) Bischofskirchen zu Basel, Bam-
Abb. 2.03), stehen demgegenüber in keiner Beziehung zu
berg, Bremen, Halberstadt, Hildesheim, Mainz, Münster
stilistischen Vorbildern und lösten deshalb nachhaltige
und Straßburg, die Stiftskirchen Sankt Gereon und Sankt
Irritationen aus, die von den höchst unterschiedlichen
Aposteln zu Köln, Liebfrauen zu Magdeburg und Sankt
Erklärungsansätzen in der Literatur bisher nicht ausge-
Stephan zu Mainz, die Pfarrkirchen Unserer Lieben Frau
räumt werden konnten.41
zu Freiburg und Sankt Katharinen zu Oppenheim – bereits
Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf die form-
die Aufzählung geeigneter Bauwerke weist, ohne auch nur
bestimmende Wirkung der jeweiligen Tradition des Ortes.
ansatzweise einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erhe-
Da es sich hierbei schon per definitionem um ein spezifi-
ben, darauf hin, dass das zu untersuchende Phänomen
sches Charakteristikum eines bestimmten Gebäudes han-
in der Breite der mittelalterlichen Baukultur verankert
delt – sowohl der Ort als auch die daran gebundene Tra-
zu sein scheint. Der jeweilige Einzelnachweis muss je-
dition stellen ein Alleinstellungsmerkmal der Architektur
doch künftigen Studien überlassen werden, da sonst der
dar – ist zu erwarten, dass sich eine Bezugnahme auf die
Rahmen dieser Arbeit bei Weitem gesprengt würde. Nach
Tradition des Ortes in individuellen Eigenheiten aus-
eingehender Prüfung fiel die Wahl auf drei, bzw. vier Bau-
drückt, welche das Gebäude von anderen unterscheidet
werke, die sich aus unterschiedlichen Gründen in beson-
oder sogar unterscheidbar machen sollen. Insofern setzt
derer Weise für exemplarische Fallstudien empfahlen.
die Arbeit gerade dort an, wo die gängigen Kriterien der
Das erste Beispiel stellt der Dom zu Trier dar (vgl.
Stilgeschichte nicht mehr greifen. Statt formaler Gemein-
Abb. 1.01, 1.02),42 dessen Relevanz bereits bei der eingangs
40 Z. B. Borger-Keweloh 1986, S. 122–127. 41 Zur Relation von Grundriss zur Tradition des Ortes bei der Trierer Liebfrauenkirche siehe Kap. 2.6.3.
42 Kap. 2.
19
1 EINLEITUNG
formulierten Fragestellung ersichtlich wurde. Die hohe
die vorliegende Untersuchung auf vergleichsweise gutes
stilistische Heterogenität macht das Bauwerk zu einem
Ausgangsmaterial aufbauen. Die grundlegenden archäo-
Paradebeispiel für eine methodisch bedingte Diskrepanz
logischen Erkenntnisse von Theodor Kempf konnten in
von historischer und kunsthistorischer Bedeutung, wel-
jüngerer Zeit durch Winfried Weber präzisiert, differen-
che es dringend zu hinterfragen gilt. Zugleich lässt sich
ziert sowie korrigiert werden und stehen seither auf einer
anhand des Trierer Doms ein ganzheitlicher Zugang zur
soliden wissenschaftlichen Basis.45 In der Liebfrauenkir-
mittelalterlichen Sakralarchitektur erproben, welcher
che, über deren frühmittelalterliche Gestalt bisher wenig
statt der Isolation einzelner, stilistisch unterschiedlicher
bekannt war, fanden unter der Leitung von Winfried We-
Gebäudeteile das epochenübergreifende Zusammenspiel
ber während des Entstehens dieser Arbeit Ausgrabungen
der Kompartimente in den Vordergrund stellt.
statt, deren bisher veröffentlichte Ergebnisse mit einflos-
Obendrein bietet die unmittelbar benachbarte Lieb-
sen.46 Die Standardwerke zur mittelalterlichen Architek-
frauenkirche die Möglichkeit eines aufschlussreichen Ver-
turgeschichte von Dom und Liebfrauen zu Trier wurden
gleichs (vgl. 2.01–2.03), denn auf der einen Seite stellten
in den 1980er Jahren publiziert47 und seither nur partiell
beide Kirchen bis 1803, als die Liebfrauenkirche in Folge
durch Aufsätze, insbesondere von Franz Ronig, ergänzt.48
43
der französischen Revolution in eine Pfarrkirche umge-
Dom und Liebfrauenkirche in Trier bieten also die
wandelt wurde, eine liturgische Einheit dar,44 auf der an-
seltene Gelegenheit, die Bezugnahme auf die Tradition
derem Seite liegt beiden Bauwerke ein völlig andersartiger
des Ortes an zwei formal unterschiedlichen Gebäuden
architektonischer Umgang mit der Tradition des Ortes
zu vergleichen: einem stilistisch heterogenen Bau mit
zugrunde. Während der Trierer Dom wiederholt partiell
hohem Anteil alter Substanz einerseits und einem stilis-
umgebaut wurde, was die beschriebene stilistische He-
tisch homogenen Neubau andererseits, die jedoch eine
terogenität zur Folge hatte, kam es bei der baulichen Er-
gemeinsame Geschichte besitzen und im Mittelalter als
neuerung der Liebfrauenkirche wohl ab 1227 zur Errich-
liturgische Einheit funktionierten. Dabei wird sich zudem
tung eines kompletten Neubaus. Dieser Neubau wurde
zeigen, ob und inwiefern die Tradition des Ortes auch bei
in den zu jener Zeit modernsten, stilistisch der Gotik zu-
einem stilreinen Neubau formbestimmend mitwirkt.
zuordnenden Formen ausgeführt. Damit stehen sich der
Des Weiteren kann die Analyse an aktuelle Ergebnisse
stilistisch heterogene Dom und die stilistisch homogene
archäologischer Grabungen anknüpfen und diese in einen
Liebfrauenkirche dialektisch gegenüber – und zwar buch-
neuen
stäblich. Die Dialektik rührt jedoch wohlgemerkt aus ei-
einbetten, der wünschenswerterweise eine methodisch
ner stilkritischen Perspektive. Diese führte ebenfalls
geprägte Diskussion über Dom und Liebfrauenkirche zu
dazu, dass die Liebfrauenkirche, von der Stilgeschichte
Trier initiiert.
architekturhistorischen
Untersuchungskontext
als erster gotischer Bau im deutschen Raum gefeiert, in
Ein weiteres Fallbeispiel liefert der Dom zu Magde
keinem Überblickswerk zur mittelalterlichen Architek-
burg (vgl. Abb. 3.01, 3.02),49 den eine große Tradition kenn-
tur in Deutschland fehlt, während demgegenüber der re-
zeichnet, denn seine Gründung geht architektonisch wie
ligiös, historisch und politisch bedeutsamere Dom keine
institutionell auf Kaiser Otto den Großen zurück, der ge-
adäquate Beachtung findet. Das chiastische Verhältnis
meinsam mit seiner ersten Gattin Edith im Dom beige-
der beiden Bauwerke hinsichtlich ihrer historischen und
setzt wurde. Im Gegensatz zum Trierer Dom kam es in der
kunsthistorischen Bedeutung stellt den bisherigen metho-
Geschichte des Bauwerks allerdings zu einer radikalen Zä-
dischen Zugriff auf die Gebäude in Frage.
sur, da zu Beginn des 13. Jahrhunderts die altehrwürdige
Aufgrund mehrerer teils umfangreicher archäologi-
Bischofskirche durch einen kompletten Neubau ersetzt
scher Grabungskampagnen im Bereich des Trierer Doms
wurde. Im Unterschied zum kurze Zeit später begonnenen
und der Liebfrauenkirche in den letzten 60 Jahren kann
Neubau der Trierer Liebfrauenkirche erfolgte der Bau der
43 Kap. 2.6, 2.7. 44 Dies mag ein wesentlicher Grund dafür sein, dass Dom und Liebfrauenkirche in Trier in der kunstgeschichtlichen Literatur stets getrennt voneinander betrachtet werden. Bei der archäologischen Erforschung, insbesondere der spätantiken Bauzustände, wird der gemeinsamen Vergangenheit hingegen Rechnung getragen. So wird in der entsprechenden Literatur stets von der spätantiken und frühmittelalterlichen Doppelkirchenanlage geschrieben.
45 Weber 2004; Ders. 2003. 46 Weber 2009. 47 Dom: Ronig 1980. – Liebfrauen: Borger-Keweloh 1986. 48 Ronig 2007; Ders. 2004; Ders. 2003; Ders. 1995; Ders. 1990. 49 Kap. 3.
20
1 EINLEITUNG
Kirche jedoch nicht in den Formen des vom Fach definier-
nen.52 Einige Autoren thematisieren das von der Kunst-
ten stilgeschichtlichen Kanons, so dass insbesondere die
geschichte bis dato gezeichnete Zerrbild des Doms und
ältere Literatur ein negatives Werturteil über die Magde-
arbeiten unter spezifischen Fragestellungen an dessen
burger Domarchitektur fällte und im Chor eine »Rumpel-
Revision.53
kammer älterer Formbestände«50 sah. Ein Grund, der zur
Der Magdeburger Dom erlaubt folglich die Analyse
Abqualifizierung des Magdeburger Neubaus beitrug, war
eines traditionsreichen Bauwerks, das seit Anfang des
die Integration von Spolien aus dem Vorgängerdom in die
13. Jahrhunderts komplett neu errichtet wurde. Die Spo-
Tragstruktur des neuen Chores.
lien und weitere Merkmale der Chorarchitektur wiesen
Der Neubau des Magdeburger Doms wirft demnach
im Rahmen der Vorstudien auf besondere Qualitäten ei-
die Frage auf, in welcher Relation die neue Architektur
nes Traditionsbezuges hin, welche den Magdeburger Dom
zur Tradition des Ortes stand. Ist der komplette Abriss
von anderen Kirchenbauten im deutschen Raum abset-
des Vorgängerbaus mit einer Ignoranz gegenüber der Tra-
zen, so dass eine vertiefte Betrachtung unter der hiesigen
dition des Ortes gleichzusetzen? Oder fand man andere
Fragestellung lohnenswert erscheint. Schließlich lässt
Mittel und Wege, um die Tradition des Ortes trotzdem
sich mit einem eigenen Ansatz an die aktuelle Debatte um
zur Geltung zu bringen? Weist etwa die plakative Verwen-
den Magdeburger Dom und seinem Bild in der Kunstge-
dung der Spolien aus dem Vorgängerbau tatsächlich auf
schichte anknüpfen.
eine rückständige, gar minderwertige Architektur hin oder
Das letzte Fallbeispiel liefert der um 1300 vollzogene
handelt es sich stattdessen um einen signifikanten Tradi-
Umbau des Doms zu Essen (vgl. Abb. 4.01, 4.02),54 der sei-
tionsbezug? Kann es wirklich sein, dass der Neubau der
nerzeit als Stiftskirche einer vornehmen Frauengemein-
Kathedrale des Erzbischofs von Magdeburg, der dank der
schaft fungierte, deren Äbtissinnen einstmals eng mit
kaiserlichen Konstituierung des Erzbistums zu den mäch-
dem ottonischen Kaiserhaus verbunden waren. Ähnlich
tigsten Kirchenfürsten des Reiches zählte, den architekto-
dem Trierer Dom stellt der Essener Dom seit dem Umbau
nischen Ansprüchen der Zeit nicht genügte? Oder muss
aus stilistischer Sicht ein Konglomerat aus Gebäudeteilen
die Architektur des Doms mit anderen Kriterien als den-
verschiedener Epochen dar. Von methodischem Interesse
jenigen der Stilgeschichte betrachtet werden, um seine
ist dabei, dass sich die Kunstgeschichte vornehmlich auf
Semantik zu verstehen und seine historische Bedeutung
den Westbau aus ottonischer Zeit konzentrierte und da-
angemessen würdigen zu können?
bei übersah, dass es sich in erster Linie um eine gotische
Die Forschung zur Magdeburger Kathedrale erhielt in
Hallenkirche handelt. Damit klammerte die Forschung
den letzten zehn Jahren durch die von Rainer Kuhn ge-
auch die eigentlich drängende Frage aus, warum der alte
leiteten archäologische Ausgrabungen im und am Dom
Westbau überhaupt in die gotische Halle integriert wurde,
neuen Auftrieb. Die Ergebnisse warfen neue Fragen zur
was schließlich in einer derart konservatorischen Art und
Lage und Gestalt des Vorgängerbaus auf, welche für die
Weise geschah, dass der Westbau noch heute ein relativ
Diskussion des Verhältnisses des gotischen Kirchenbaus
gutes Bild des ottonischen Zustandes vermittelt. Über den
zur Tradition von zentraler Bedeutung sind. Weil die
Westbau als signifikantem Zeichen der Stiftsvergangen-
Diskussion über die Interpretation der Ergebnisse noch
heit hinaus wiesen die Voruntersuchungen auf eine Viel-
längst nicht abgeschlossen ist, musste in der vorliegenden
zahl und Vielfalt von Zusammenhängen zwischen der Ar-
Arbeit trotz des unklaren Erkenntnisstandes zwangsläufig
chitektur und der Tradition des Ortes hin.
51
Stellung in dieser Frage bezogen werden. Aktuell ist der
Ein weiterer Aspekt für die Wahl des Essener Doms
Magdeburger Dom auch wieder in das Blickfeld der ar-
als Fallbeispiel ist der glückliche Umstand, dass ein ver-
chitekturgeschichtlichen Forschung geraten, wie sich an
gleichsweise großer Teil der Ausstattung und des Kirchen-
mehreren Monographien und Sammelbänden erkennen
schatzes aus der Zeit vor dem Umbau bis heute erhalten
lässt, die während der Entstehung dieser Arbeit erschie-
blieb und sich dessen Gebrauch aus den Schriftquellen
50 Hamann 1909, S. 255. 51 Meller/Schenkluhn/Schmuhl 2009; Meller/Schenkluhn 2005. – Den älteren Forschungsstand fasst im Wesentlichen der noch immer lesenswerte Sammelband eines deutsch-deutschen Symposiums der 1980er Jahre zusammen (Ullmann 1989). 52 Schenkluhn/Waschbüsch 2012; Brandl/Forster 2011; Puhle 2009; Rogacki-Thiemann 2007.
53 Bosman 2012; Klein 2012; Schenkluhn 2009; Nicolai 2009. – Bernd Nicolai wies bereits 1989 auf methodisch bedingte Probleme hin und rückte partiell einen Traditionsbezug ins Blickfeld (Ders. 1989). 54 Kap. 4.
21
1 EINLEITUNG
der Zeit, vor allem dem Liber Ordinarius des 14. Jahrhun-
Aspekten der ehemaligen Frauengemeinschaft erschie-
derts, relativ gut rekonstruieren lässt. Anhand der Erinne-
nen, darunter auch einer zur Memoria im mittelalter-
rungsfunktion der Artefakte, die in der Regel einfacher zu
lichen Stift.56 Damit einher ging unter der Leitung von
greifen ist als bei der Architektur und auch deshalb weit-
Birgitta Falk eine Intensivierung der Erforschung des
aus besser unter memorialen Aspekten erforscht wurde,
Domschatzes, bei der auch memoriale Gesichtspunkte
lässt sich somit eine Sinnebene der materiellen Kultur
eine angemessene Berücksichtigung fanden.57
erschließen, an welcher die Architektur als wesentlicher
Der Essener Dom scheint ein breites Spektrum un-
Bestandteil teilhaben müsste. Lassen sich wechselseitige
terschiedlicher Bezüge zur Tradition des Ortes aufzuwei-
Beziehungen zwischen Architektur und Artefakten, die
sen, die ihn für eine Fallstudie prädestinieren. Mit der gut
als Medien der Erinnerung dienten, nachweisen, so ließe
aufgearbeiteten Ausstattung des mittelalterlichen Stifts
sich ein Sinnzusammenhang herstellen, welcher das Phä-
lässt sich die Architektur in einem ganzheitlichen Kontext
nomen eines objektivierten kulturellen Gedächtnisses gat-
materieller Erinnerungskultur situieren. Die signifikante
tungsübergreifend erfasst.
Integration alter Gebäudeteile und deren bisherige Rezep-
Schließlich bietet der allgemeine Forschungsstand
tion in der Literatur eignen sich darüber hinaus für eine
zum Essener Dom gute Voraussetzungen für eine Studie
methodische Reflexion. Schlussendlich kann auf einer
unter der hiesigen Fragestellung. Die Grundlage für die
Fülle neuer historischer, liturgiewissenschaftlicher und
Auseinandersetzung mit der Architektur liefert nach wie
bildkunstgeschichtlicher Studien aufgebaut und damit
vor die Monographie Walter Zimmermanns von 1956,55
von Seiten der Architekturgeschichte an eine aktuelle kul-
in der auch die umfangreichen Ergebnisse der archäolo-
turgeschichtliche Debatte angeknüpft werden.58
gischen Kampagne nach dem Zweiten Weltkrieg doku-
Es lässt sich zusammenfassen, dass die Wahl der vorge-
mentiert wurden, die weitgehende Schlüsse auf vorherige
stellten Fallbeispiele eine Untersuchung der Fragestellung
Bauzustände zulassen und die Analyse räumlicher Bezie-
unter verschiedenen Aspekten ermöglicht, die wünschens-
hungen zur Tradition des Ortes erlauben. In den letzten
werterweise zu einer Differenzierung der Ergebnisse führt.
zehn Jahren geriet die ehemalige Essener Frauengemein-
Alle Fallbeispiele sind für die Architekturgeschichte von
schaft durch die Aktivitäten des Essener Arbeitskreises zur
hoher bis sehr hoher Relevanz und erlauben darüber hi-
Erforschung der Frauenstifte um den Historiker Thomas
naus eine methodische Reflexion des bisherigen wissen-
Schilp verstärkt in den Fokus der kulturgeschichtlichen
schaftlichen Zugriffs sowie des eigenen Ansatzes. Schließ-
Forschung, so dass mehrere interdisziplinäre Sammel-
lich knüpfen die Fallstudien an aktuelle Diskussionen in
bände mit historischen Schwerpunkten zu verschiedenen
unterschiedlichen historischen Fachdisziplinen an.
55 Zimmermann 1956. 56 Schilp 2008a. 57 Kat. Essen 2009; Kat. Essen 2008; Falk/Schilp/Schlagheck 2007; Pothmann 2002. 58 Klaus Lange gebührt das Verdienst, die Architektur des Essener
Doms in das Blickfeld des Essener Arbeitskreises zur Erforschung der Frauenstifte gerückt zu haben (Lange 2008; Ders. 2004; Ders. 2003; Ders. 2002; Ders. 2001). Eine kritische Diskussion seiner zum Teil weitreichenden Thesen von Seiten der Architekturgeschichte steht allerdings noch aus.
22
2 DER DOM UND DIE LIEBFRAUENKIRCHE ZU TRIER – Bewahrung, Erweiterung und Inszenierung der domus Helenae
2.1 Einführende Baugeschichte Der Trierer Dom gilt als die älteste Bischofskirche im deut-
tonisch besonders hervorgehoben wurde (vgl. Abb. 1.07).
schen Raum (Abb. 1.01, 1.02), die bereits in der zweiten
Dieser sog. Quadratbau hat sich in bedeutendem Umfang
Hälfte der 310er Jahre unter Bischof Agricius (bezeugt seit
bis heute als östlicher Teil des Langhauses des Trierer
314–329) als dreischiffige Basilika im Bereich der heutigen
Doms erhalten (vgl. Abb. 1.08).
59
Kurie von der Leyen, westlich der heutigen Liebfrauenkir-
Bei einer schweren Brandkatastrophe, die mit den his-
che, errichtet wurde (vgl. Abb. 1.03). In den 330er Jahren
torischen Vorgängen der Völkerwanderungszeit in der ers-
begann man, die Basilika zu einer monumentalen Kir-
ten Hälfte des 5. Jahrhunderts zusammengebracht wird,
chenanlage zu erweitern, indem nördlich von ihr, im Be-
wurde der Basilikenkomplex weitgehend zerstört.64 Erst
reich des heutigen Domfreihofs, östlich, wo sich heute die
Anfang des 6. Jahrhunderts fand unter Bischof Nicetius
Liebfrauenkirche befindet, und nordöstlich, am Ort des
(525–566) ein teilweiser Wiederaufbau der Anlage statt,
heutigen Doms, drei weitere basilikale Gebäude errichtet
wobei man sich besonders um die Wiederherstellung des
wurden, die räumlich miteinander verbunden waren (vgl.
Quadratbaus bemühte, während die Südwestbasilika im
Abb. 1.04). Sowohl Dom als auch Liebfrauenkirche waren
Bereich der Kurie von der Leyen überhaupt nicht mehr
demnach seit frühchristlicher Zeit gemeinsame Bestand-
aufgebaut wurde (vgl. Abb. 1.09).65
60
61
teile eines übergreifenden Sakralkomplexes, auch wenn
Im Jahr 882 wurde der Trierer Domkomplex bei der Er-
sie bei der Gründung im 4. Jahrhundert eine andere Form
stürmung der Stadt durch die Normannen erneut verwüs-
und vermutlich eine andere Funktion besaßen. Daraus
tet.66 In der Folge wurde die Nordwestbasilika nicht wieder-
folgt die Notwendigkeit, die Geschichte und Architektur
hergestellt, so dass die Kirchenanlage fortan auf die beiden
der Kirchen ganzheitlich zu sehen und gemeinsam zu er-
Ostkirchen, also Dom und Liebfrauen, beschränkt blieb.67
örtern, was in der bisherigen Forschung zwar für die Spät
Aufgrund einer Urkunde von 955 wird allgemein davon
antike erfolgte, für spätere Epochen jedoch nur unzurei-
ausgegangen, dass zunächst die Liebfrauenkirche bis zu
chend geschehen ist.62
diesem Zeitpunkt wiederhergestellt wurde.68 Zugleich ist
In den 340er Jahren kam es zu einem Planwechsel oder
diese Urkunde der älteste Beleg für das Marienpatrozinium
63
Umbau des östlichen Abschlusses der Nordostbasilika,
der Südostbasilika, die demnach ab dem 10. Jahrhundert
welcher durch einen gewaltigen, quadratischen Raum,
gesichert als Liebfrauenkirche bezeichnet werden darf,
dessen Dach- und Deckenkonstruktion im Innenraum
was jedoch nicht ausschließt, dass die Kirche auch schon
auf lediglich vier monumentalen Säulen ruhte, architek-
früher über ein entsprechendes Patrozinium verfügte.
59 Grundlegende Studien zur Baugeschichte des Doms: Zink 1980a und Irsch 1931. Der dortige Forschungsstand zur frühchristlichen Anlage ist jedoch mittlerweile überholt; der aktuelle findet sich bei: Weber 2004; Ders. 2003. 60 Weber 2004, S. 226–228. 61 Weber 2004, S. 229f.; Ders. 2003, S. 428–430. 62 Die isolierte Betrachtung der beiden Kirchen begründet sich zum einen durch die 1803 erfolgte Umwandlung der Liebfrauenkirche in eine eigenständige Pfarrei (s. weiter unten). Zum anderen resultiert sie aus der unterschiedlichen stilgeschichtlichen Einordnung der Kirchen, so dass in erster Linie der methodische Zugriff einer ganzheitlichen Betrachtung oftmals im Weg stand. 63 Weber 2003, S. 430–432; Ders. 1995. 64 Zu den Eroberungen Triers im Frühmittelalter: Anton 1987, S. 44–
50. – Zusammenbringen von historischer Überlieferung und archäologischem Befund: Weber 2003, 476f. 65 Weber 2004, S. 230–234; Ders., S. 483–486. 66 Apsner 2003, S. 273f.; Zink 1980a, S. 32. 67 Zink 1980a S. 32; Kempf 1968, S. 5. 68 MRUB 1, Nr. 198, S. 258f. – Kommentar bei Borger-Keweloh 1986, S. 20. 69 Weber 2011, S. 46–48. Widerlegt ist damit der ältere Vorschlag von Theodor Kempf, die Liebfrauenkirche des 10.–12. Jahrhunderts als schmale, kreuzförmige Saalkirche zu rekonstruieren (Ders. 1975), was ohnehin auf begründete Kritik stieß (Weber 2003, S. 540; Zink 1980a, S. 32–34). 70 Egbertinisches Projekt: Weber 2011, 48f.; Zink 1980a, S. 33f.; Kempf 1975; Hollstein 1975, S.20f.
2.1 EINFÜHRENDE BAUGESCHICHTE
23
1.01 Dom zu Trier, Ansicht von Nord osten (Ronig 1982, S. 68)
Über die architektonische Gestalt der Kirche, die in jener
Unklar ist derzeit auch der Beginn und Umfang der
Form anscheinend bis zum gotischen Neubau Anfang
Wiederaufbauarbeiten am Dom, die erst für die Zeit von
des 13. Jahrhunderts erhalten blieb, weiß man momentan
Erzbischof Egbert (ep. 973–993) belegbar sind, als sowohl
noch immer weniger als über die spätantike Südbasilika.
an der Wiederherstellung des Quadratbaus als auch der
Aufgrund der 2007 unter Winfried Weber durchgeführten
westlich vorgelagerten Basilika gearbeitet wurde.70 Eine
archäologischen Grabungen ist mittlerweile zumindest be-
große Wirkung auf die folgende Architekturgeschichte
kannt, dass es sich wie zuvor um eine dreischiffige Basilika
des Doms übte die Entscheidung aus, die nicetischen
handelte, in die ältere Bauteile miteinbezogen wurden.69
Säulen, von denen eine während des N ormannensturmes
1.02 Dom zu Trier, Grundriss, Zustand seit 1974 (Hauke Horn, 2012)
24
2 DER DOM UND DIE LIEBFRAUENKIRCHE ZU TRIER
einstürzte, in kreuzförmige Pfeiler einzumauern. Das Wie-
Im Anschluss an den Neubau des kreuzrippengewölb-
deraufbauprojekt kam jedoch nicht zur Vollendung und
ten Ostchores begann man wohl in den 1210er Jahren mit
wurde von den Nachfolgern eingestellt.
der Einwölbung des Langhauses, also des spätantiken
Unter Erzbischof Poppo (ep. 1016–1047) begann
Quadratbaus und der popponischen Westjoche, die sich
schließlich eine umfassende Baukampagne, welche die
mindestens bis in die 1220er Jahre hinzog (vgl. Abb. 1.18–
Gestalt des Doms bis heute wesentlich prägt.
1.20).77 Dabei erhielt der Innenraum einen basilikalen
71
Zunächst wurden die Instandsetzungsarbeiten im
Charakter, weil die Kreuzrippengewölbe der Seitenschiffe
Quadratbau zum Abschluss gebracht, so dass der Dom
unterhalb der zweiten Fensterreihe der Außenwände ein-
1037 erneut geweiht werden konnte. Anschließend initi-
gezogen wurden und somit die Höhe der Seitenschiffe
ierte Poppo einen Neubau der Westteile der Domkirche,73
deutlich reduziert wurde.78 Der Außenbau blieb hingegen
bei welchem der Quadratbau um zwei Joche nach Westen
unverändert, so dass ein hoher, verborgener Raum ober-
verlängert und so das heutige, dreischiffige Langhaus ge-
halb der Seitenschiffgewölbe entstand.
72
schaffen wurde, dessen mittleres Schiff in eine halbrunde
Wahrscheinlich 1227, also unmittelbar im Anschluss
Westapsis mündet (vgl. Abb. 1.10). Der ehemals westlich
an die Einwölbung des Doms, begann man mit einem
vorgelagerte basilikale Raum, der unter Egbert noch wie-
radikalen Neubau der Liebfrauenkirche (vgl. Abb. 2.01–
derhergestellt werden sollte, wurde damit endgültig ver-
2.03).79 Die alte Südbasilika wurde komplett abgerissen
worfen. Stattdessen schloss man den Bau nach Westen mit
und an ihrer Stelle ein Zentralbau in aktuellen, hochgo-
einer monumentalen, viertürmigen Fassade, welche in den
tischen Formen nach französischen Vorbildern, vor allem
1070er Jahren fertiggestellt wurde und die äußere Erschei-
der Kathedrale von Reims, errichtet. Diesem Bau wird von
nung des Doms seither bestimmt (vgl. Abb. 1.11). Die fol-
Seiten der Kunstgeschichte besondere Aufmerksamkeit
genden Baumaßnahmen müssen als Umbauten und Erwei-
entgegengebracht, weil es sich nach heutigem Kenntnis-
terungen der popponischen Kirche charakterisiert werden,
stand um das erste als gotisch zu bezeichnende Bauwerk
da sie den Bestand nur partiell ergänzen oder verändern.
im deutschen Raum handelt.80 Ungefähr in den 1260er
74
Um 1160 wurde unter Erzbischof Hillin mit dem An-
Jahren konnten die Arbeiten abgeschlossen werden.81
bau eines neuen Ostchores östlich des spätantiken Qua-
In den folgenden Jahrhunderten kam es lediglich zu
dratbaus begonnen, mit dem ein gestalterisches Pendant
kleineren An- oder Umbauten am Dom, wo im 14. Jahr-
zum Westchor geschaffen wurde (vgl. Abb. 1.02).75 Im In-
hundert die Osttürme und im frühen 16. Jahrhundert der
nenraum mündet das Mittelschiff nach Osten seither in
Südwestturm aufgestockt und mit neuen Dächern verse-
eine Apsis mit einem rechteckigem Vorjoch, zu dessen Sei-
hen wurden.82 Im 15. Jahrhundert wurde die Bischofskir-
ten Chorflankentürme errichtet wurden, so dass die östli-
che mit Maßwerkfenstern und Farbverglasungen aus-
che Partie des Doms auch von außen ein kompositorisches
gestattet, die im 19. Jahrhundert in die Marienkirche in
Gegengewicht zur Westfassade mit ihren imposanten Tür-
Shrewsbury gelangten.83
men bildet. Für das Jahr 1196 überliefern die Gesta Trevero-
Schließlich wurde der Trierer Dom im Barock noch
rum die Weihe des Hochaltars im neuen Chor.76
einmal umfassend umgebaut.84 Den Anfang machte eine
71 Popponische Baukampagne: Zink 1980a, S. 34–44; Irsch 1931, S. 81–103. – Dendrochronologie des 11. Jahrhunderts: Hollstein 1980, S. 125–133. 72 Zink 1980a S. 34. 73 Ebd., S. 39. 74 Beim Tod Poppos 1047 war der Bau der Westfassade bis zur Höhe der zweiten Galerie fortgeschritten und wurde unter Bischof Udo Ende der 1070er Jahre fertiggestellt (Hollstein 1980, S. 125–133; Zink 1980a, S. 39f.). 75 Zink 1980a, S. 46–49. 76 Gest. Trev., Kap. CII (ed. Zenz, Bd. III, S. 42). 77 Zink geht davon aus, dass bei der Weihe des Hochaltars 1196 noch nicht alle Arbeiten am Ostchor abgeschlossen waren und infolgedessen die Einwölbung später begann (Ders. 1980a, S. 48). Auf jeden Fall war man nach Ausweis dendrochronologischer Daten nach 1211 noch mit dem Bau der ersten und zweiten Etage des Nordostturmes beschäftigt. Andererseits liefern die auf 1217 datierten Rüsthölzer im Mittelschiff einen Anhaltspunkt dafür, dass die Wölbungsarbeiten zu jenem Zeitpunkt im Gange waren (Dendrochronologie nach Hollstein 1980, S. 136f.).
78 Zur Einwölbung des 13. Jahrhunderts: Zink 1980a, S. 50–52; Irsch 1931, S. 131–137. 79 Ronig 2007, S. 164–166; Schenkluhn/van Stipelen 1983, S. 29 mit Fußnote 24. – In einigen Werken geht man hingegen aufgrund einer 1233 »ante Ostium B. Marie« beurkundeten Rechtshandlung davon aus, dass zu jenem Zeitpunkt noch die alte Liebfrauenkirche bestanden haben müsste und datiert den Baubeginn in die Mitte oder das Ende der 1230er Jahre. Einer derartigen Schlussfolgerung fehlt m. E. jedoch die Notwendigkeit, wohingegen Ronig und Schenkluhn/van Stipelen plausible Argumente für die Datierung 1227 nennen, der ich mich somit anschließe. 80 Grundlegende Studien zur Trierer Liebfrauenkirche: Borger-Keweloh 1986; Lückger/Bunjes 1938. Der dortige Forschungsstand zur frühchristlichen Anlage ist jedoch mittlerweile überholt; der aktuelle findet sich bei Weber 2011. 81 Die verschiedenen Argumente erörtert Borger-Keweloh 1986, S. 26f. 82 Zink 1980a, S. 53. 83 Rauch 1999; Schroeder 1980. 84 Barocke Umgestaltung des Doms: Fachbach 2010; Zink 1980a, S. 54–59.
2.2 DIE DOMUS HELENAE ALS TRADITIONSSTIFTENDER ORT DES TRIERER DOMS
25
Barockisierung des Westchores 1664–1668, auf welche
der damalige Trierer Maire bei Napoleon höchstpersön-
1687–1710 nach Entwürfen von Johann Wolfgang Fröh-
lich intervenierte und die Liebfrauenkirche als Meister-
licher die Errichtung der Heiltumskammer hinter dem
werk eines französischen Architekten pries.85 Stattdessen
Ostchor zur Aufbewahrung und Präsentation der Tunika
riss man die an der Konstantinsbasilika liegende Pfarrkir-
Christi, der bedeutendsten Reliquie des Trierer Doms,
che Sankt Laurentius ab und übergab der Laurentiuspfar-
folgte. Die anschließende, 1719–1725 von Johann Georg
rei als Ersatz die Liebfrauenkirche, welche auf diese Weise
Judas geleitete Baukampagne führte schließlich zu einer
zur reinen Pfarrkirche umfunktioniert wurde.86
tiefgreifenden Veränderung des Bauwerks, bei der große
Im 19. Jahrhundert wurde die Baugeschichte von Dom
Teile noch erhaltener spätantiker und mittelalterlicher
und Liebfrauenkirche in erster Linie von umfangreichen
Bausubstanz geopfert wurden, um das Bauwerk in eine
Restaurierungen gekennzeichnet, welche zumeist auf die
konventionelle Basilika zu konvertieren. So wurde ein öst-
Wiederherstellung des mittelalterlichen Zustandes abziel-
liches Querhaus geschaffen, indem man das Mauerwerk
ten.87 Die ab 1842 von Johann Nikolaus Wilmowsky gelei-
zwischen dem mittleren Joch des Quadratbaus und den
tete Kampagne am Dom wurde zugleich von umfangrei-
benachbarten Jochen ebenso wie die dort befindlichen
chen Untersuchungen und Grabungen begleitet, welche
Kreuzrippengewölbe des 13. Jahrhunderts abbrach und
den Beginn der modernen kunsthistorischen und archäo-
neue Gewölbe in der Höhe der Mittelschiffgewölbe ein-
logischen Forschung am Bauwerk markieren.88
zog. Zudem trug man die Seitenschiffmauern bis zur Höhe
Nach erheblichen Schäden im Zweiten Weltkrieg
der Sohle der zweiten Fensterreihe ab (vgl. Abb. 1.08) und
wurde die Liebfrauenkirche bis 1951 wiederhergestellt und
errichtete Emporen seitlich der Mittelschiffarkaden, wo-
im Inneren von Rudolf Schwarz umgestaltet.89 Am Dom
durch ein basilikaler Querschnitt entstand.
fanden 1960–1975 wieder ausgedehnte Restaurierungsar-
Im Zuge der Säkularisation zerbrach 1803 schließlich
beiten statt, die zur statischen Sicherung des Gebäudes
die über 1400 Jahre alte liturgische Einheit von Dom und
notwendig waren und mit einer Umgestaltung des In-
Liebfrauenkirche. Dabei entging die Liebfrauenkirche viel-
nenraumes im Sinne des Zweiten Vatikanischen Konzils
leicht nur knapp einem Abriss, welcher der Trierer Überlie-
verbunden wurden, wozu man die Architekten Gottfried
ferung nach angeblich nur verhindert werden konnte, weil
Böhm und Nikolaus Rosiny beauftragte.90
2.2 Die domus Helenae als traditionsstiftender Ort des Trierer Doms 2.2.1 Die Etablierung des traditionsstiftenden Ortes in der frühchristlichen Gründungsphase
saal, welcher im letzten Viertel des 3. Jahrhunderts in einem römischen Haus im Bereich der heutigen Kurie von der Leyen angelegt wurde (Abb. 1.03).91 Bei aller gebotenen
Die erste bischöfliche Basilika und ihre Tradition des Ortes
Vorsicht hinsichtlich der Interpretation des archäologi-
Bereits bei der Gründung des Trierer Doms spielte die Tra-
schen Befundes spricht doch einiges dafür, auch die wei-
dition des Ortes offenbar eine gewichtige Rolle. Als bald
tere Entwicklung der Anlage, dass es sich bei dem Apsi-
nach 313 mit dem Bau der wohl ersten Trierer Bischofskir-
densaal um eine Hauskirche handelte.92 Auf jeden Fall war
che in Form einer dreischiffigen Basilika begonnen wurde,
dieser Saal maßgeblich für die Basilika, deren rechteckige
orientierte man sich räumlich an einem kleinen Apsiden-
Apsis93 nicht nur exakt an dessen Stelle erbaut wurde, son-
85 Ronig 2003, S. 221. – Borger-Keweloh geht hingegen nicht auf einen drohenden Abriss ein und zeichnet ein vorsichtigeres Bild der Ereignisse (Borger-Keweloh 1986, S. 147). 86 Ebd. 87 Überblick über die Maßnahmen des 19. Jahrhunderts am Dom: Zink 1980a, S. 60–69. Die Restaurierungsarbeiten an der Liebfrauenkirche ausführlich bei: Borger-Keweloh 1986, S.146–192. 88 Wilmowsky 1874. – Überblick über die Grabungen bis 1989: Weber 1989. 89 Zu den Schäden und Aufbauarbeiten: Borger-Keweloh 1986, S. 193– 201. – Zur Innengestaltung von Rudolf Schwarz: Hammerschmidt 2004. 90 Ausführungen zum Architektenwettbewerb von 1968: Frank/Sebald
1991 – Kommentar der Architekten: Böhm/Rosiny 1980. – Statische Maßnahmen: Varwick/Horz 1980. Hervorzuheben ist die neue Dachkonstruktion aus Stahl, welche auch der Aufnahme des Gewölbeschubs dient. – Kritische Zusammenfassung der baulichen Maßnahmen: Zink 1980a, S. 69–71. 91 Weber 2004, S. 226–228. 92 Ebd; Weber 2003, S. 419–423. 93 Weber vermeidet die Bezeichnung »Apsis«. Es steht jedoch fest, dass es sich um einen rechteckigen Raum handelt, der östlich an das Mittelschiff anschließt und »als ein besonderer Bereich hervorgehoben war« (Weber 2004, S. 227). Ein solcher Raumteil wird auch bei nichtchristlichen antiken Basiliken allgemein als »Apsis« bezeichnet.
26
2 DER DOM UND DIE LIEBFRAUENKIRCHE ZU TRIER
Allerdings kam es in Folge der Erweiterung offenbar zu einer Verlagerung des kultischen und damit architektonischen Schwerpunktes der Anlage nach Osten bzw. Nordosten, der für die Untersuchung der Tradition des Ortes von großem Interesse ist. Einen ersten Hinweis darauf liefert die Einbindung der Rechteckapsis über dem vormaligen Apsidensaal in den neuen Komplex, denn mit dem Abriss der Ostmauer degradierte man den architektonisch hervorgehobensten Raum der Südwestbasilika zu einem Durchgangsraum zur Südostbasilika. Stattdessen schuf man zwei Rechteckapsiden östlich der Nord- und Südbasilika, so dass sich der architektonische Höhepunkt des Komplexes nach Osten verschob. Dennoch scheint die Tradition des Ortes in der umgebauten Südwestbasilika weiterhin einen gewissen Einfluss auf die architektonische Gestaltung gehabt zu haben. Jedenfalls wurden die Übergänge von der ehemaligen Apsis
1.03 Grundriss der ältesten Basilika im Südwesten des späteren Trierer Domkomplexes, ca. 315–325, mit Eintragung des vormaligen Apsidensaals unter der Rechteckapsis (Weber 2004, S. 228)
und ihren Nebenräumen nach Osten, aber auch zum bestehenden Langhaus hin, mit großen Portalen räumlich abgesetzt, was diesem Bereich einen querhausähnlichen Charakter verlieh. Als Erklärung für die architektonische
dern auch mit ihrer räumlichen Ausdehnung auf den Saal
Hervorhebung eines Bereiches, der eigentlich dem Durch-
Bezug nahm.94 So ist die Rechteckapsis genau so lang und
gang dient, mag durchaus die Tradition des Ortes in Frage
doppelt so breit wie der Vorgängerbau an gleicher Stelle.
kommen.
Die Verortung der ersten Trierer Bischofskirche ging also
Von besonderem Interesse für die Fragestellung ist al-
ebenso wie die Dimensionierung ihres architektonisch
lerdings die Gegebenheit, dass sich der Ort, an den sich
hervorgehobensten Raumteils vom Apsidensaal aus. Die
die Tradition der Kirche bindet, in der Frühzeit des Bau-
Indizien sprechen somit dafür, dass die erste Bischofskir-
werks noch einmal verlagert hat. Dies gibt Aufschluss über
che gezielt an der Stelle des Apsidensaales erbaut wurde.
Entstehung und Etablierung einer Tradition des Ortes,
Angesichts der wahrscheinlichen Nutzung des Saales als
wirft aber gleichzeitig die Frage nach den Gründen für die
Hauskirche erscheint es plausibel, den Saal als wichtige
Ortsverlagerung in den Anfängen der Anlage auf.
Versammlungsstätte für die Trierer Christen vor dem Mailänder Edikt zu deuten, die bewusst von der ersten Bischofskirche inkorporiert wurde.
Räumliche Bezüge zum Prunksaal mit den konstantini schen Deckenmalereien Einen Ansatzpunkt liefert die Nutzung des Areals vor der
Die Verlagerung des Schwerpunktes nach Osten
Errichtung der frühchristlichen Kirchenanlage. Die Er-
Nur zwei Jahrzehnte später errichtete man in den 330er
gebnisse der archäologischen Grabungen der vergangenen
Jahren weitere Gebäude östlich, nordöstlich und nördlich
Jahrzehnte weisen zunehmend darauf hin, dass sich im Be-
der ersten Basilika und schuf damit einen monumentalen
reich des Domkomplexes Teile eines kaiserlichen Wohnbe-
Komplex, in dessen östlichem Bereich sich der heutige
reiches befanden.96 Hierfür spricht auch die Tatsache, dass
Dom und die Liebfrauenkirche befinden (Abb. 1.04).95
für die Errichtung des Komplexes auf einen Schlag eine
Wiederum gingen die Baumaßnahmen von einem beste-
gewaltige innerstädtische Fläche von rund 10000 Quad-
henden Gebäude aus: Die neuen Gebäude wurden winkel-
ratmetern zur Verfügung gestellt wurde, die zu jenem Zeit-
förmig um die erste Bischofskirche gruppiert, die als Süd-
punkt vollständig bebaut war. Es ist fraglich, ob Personen
westbasilika in den Komplex integriert wurde.
außerhalb des kaiserlichen Hofes eine derart großzügige
94 »Ja, man hat den Eindruck, dass der Apsidensaal geradezu die ›Maßeinheit‹ für diesen Rechteckchor gewesen ist, ...« (Weber 2011, S. 30).
95 Weber 2011, S. 31f.; Ders. 2004, S. 229f.; Ders. 2003, S. 428–430. 96 Weber 2011, S. 31; Ders. 2003, S. 424f.; Ders. 2000, S. 43.
2.2 DIE DOMUS HELENAE ALS TRADITIONSSTIFTENDER ORT DES TRIERER DOMS
27
1.04 Grundriss des Trierer Domkomplexes, um 330–340, Einbindung der bestehenden Südostbasilika (Weber 2004, S. 231) Bereitstellung von urbanem Grund und Boden, verbunden
maßlicher Hauskirche und Apsis der ersten Basilika im
mit einem massiven Eingriff in die Stadtstruktur, über-
Südwesten darstellt.100 Demnach bestand ein Zusammen-
haupt hätten realisieren können. Ein weiteres, gewichtiges
hang zwischen der Verortung und Dimensionierung der
Argument liefern die berühmten römischen Deckenma-
Apsis, des architektonisch hervorgehobensten Bereiches
lereien, welche 1945/46 bei den von Theodor Kempf ge-
des frühchristlichen Kirchenkomplexes, und der Lage und
leiteten Grabungen unter der Vierung des Trierer Doms
Form des Saales mit den Deckenmalereien.
gefunden wurden und heute im rekonstruierten Zustand im Bischöflichen Dom- und Diözesanmuseum Trier ausgestellt sind.97 In den Kontext des imperialen Hofes rückt der Saal aufgrund des zentralen Frauenbildnisses der Decke, welches nach derzeitigem Kenntnisstand als allegorisches
1.05 Zentrales Frauenbildnis von der Decke des römischen Prunk saals unter der heutigen Vierung des Trierer Doms an Stelle der ersten Apsis der Nordostbasilika. Deutung nach aktuellem Forschungsstand als Porträt der Augusta Flavia Maxima Fausta (Weber 2000, S. 27)
Porträt der Kaiserin Flavia Maxima Fausta,98 der Frau Konstantins des Großen, interpretiert wird (Abb. 1.05).99 Unbeachtet von der Forschung blieben bisher die räumlichen Bezüge zwischen dem römischen Prunksaal und der frühchristlichen Kirchenanlage, obgleich sich diesbezüglich eine erstaunliche Koinzidenz ergibt. Der Raum, in dem sich das Deckengemälde befand, lag nämlich genau an der Stelle, an welcher der Bau der Rechteckapsis der Nordostbasilika begonnen wurde; also am neuen architektonischen Höhepunkt der Anlage, an dem sich heute die Vierung des Trierer Doms befindet (Taf. 1.01). Außerdem stehen die Maße der Apsis in einer auffälligen Beziehung zum Prunksaal, denn die Apsis entsprach dem Saal in der west-östlichen Länge, während in der nord-südlichen Breite das doppelte Raummaß zu Grunde gelegt wurde, was eine verblüffende Analogie zum Verhältnis von mut97 Dazu grundlegend: Weber 2000; Simon 1986. 98 Zum Kenntnisstand über Flavia Maxima Fausta inklusive einer kritischen Auseinandersetzung mit Quellen und Sekundärliteratur: Drijvers 1992.
99 Weber 2003, S. 425; Ders. 2000, S. 41f.; Simon 1986. 100 S. weiter oben.
28
2 DER DOM UND DIE LIEBFRAUENKIRCHE ZU TRIER
These: Kaiserin Maxima Fausta als Mäzenin der Trierer Bischofskirche
ten im zweiten Viertel des 4. Jahrhunderts als Fundatorinnen christlicher Kirchenanlagen auf.
Was aber machte den rechteckigen Raum im Nordosten
Erwiesen ist das für die Basilika Sant’Agnese in Rom,
so wichtig, dass man bereit war, den architektonischen
welche in den 340er Jahren von Constantina, der Tochter
Schwerpunkt vom Gründungsort dorthin zu verlagern?
Faustas und Konstantins,104 auf einem kaiserlichen Gut
Die Inkorporation der mutmaßlichen Hauskirche in
an der Via Nomentana erbaut wurde.105 In der überlie-
die Apsis der Südwestbasilika lässt sich, wie gezeigt wer-
ferten Weiheinschrift wird die Tochter des Kaiserpaares
den konnte, symbolisch im Sinne einer Bewahrung der
nicht nur als Gründerin der Kirche genannt, sondern auch
Tradition des Ortes verstehen. Es wäre somit zu fragen, ob
ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sie sämtliche Aus-
analog dazu die Inkorporation des römischen Prunksaa-
gaben für den Bau getragen habe.106 Constantina wurde
les einen vergleichbaren symbolischen Akt darstellte. Da
schließlich in einem Mausoleum an der Südseite der Ag-
man bereit war, den kultischen Schwerpunkt in die Nord-
nes-Basilika beigesetzt, das sich als Kirche Santa Costanza
ostbasilika zu verlagern und damit die alte Tradition des
erhalten hat.107
Ortes zu marginalisieren, muss aus der Perspektive der Er-
Die in Trier verehrte Kaisermutter Helena kann
bauer die Wertigkeit des Prunksaales im Nordosten dieje-
ebenso mit Kirchengründungen in Rom in Beziehung ge-
nige des Apsidensaales im Südwesten übertroffen haben.
setzt werden, nämlich Santa Croce in Gerusalemme und
Der Schlüssel zum Verständnis für die Konstituierung
Santi Marcellino e Pietro. Zwar nennt der Liber Pontificalis
eines neuen traditionsstiftenden Ortes wäre insofern bei
Konstantin als Gründer der beiden Kirchen,108 doch muss
den Initiatoren des monumentalen Kirchenkomplexes zu
die Quelle des 6. Jahrhunderts m. E. kritischer gelesen
suchen.
werden, als es in der Literatur zumeist der Fall ist.109
In der mittelalterlichen Legendarik galt Kaiserin He-
Die Umgangsbasilika Santi Marcellino e Pietro wurde
lena, die Mutter Konstantins des Großen, als Mäzenin
um 320 über einer Katakombe mit Märtyrergräbern außer-
der Trierer Bischofskirche, die ihren Palast für den Grün-
halb der Stadtmauern an der Via Labicana (heute Via Ca-
dungsbau zur Verfügung gestellt haben soll.
Als bei den
silina) auf einer ausgedehnten Latifundie errichtet,110 die
Domgrabungen der Nachkriegszeit der römische Prunk-
sich laut dem Liber Pontificalis im Besitz der Helena be-
101
saal mit dem Frauenporträt zu Tage trat, stellte man da-
fand.111 Allein die Bereitstellung von Grundbesitz belegt,
her zunächst einen Zusammenhang zur Helena-Legende
dass die Augusta bei der Errichtung der Basilika nicht
her.102 Wenn das Bildnis allerdings gemäß der aktuellen
unbeteiligt war. Mehr aber noch weist der Umstand, dass
Forschungsmeinung die Kaiserin Maxima Fausta zeigt,
Helena um 329 im östlich an die Basilika anschließenden
so müsste man stattdessen eine tragende Rolle der Gattin
Mausoleum, dessen Überreste heute unter dem Spitzna-
Konstantins bei der Errichtung des Trierer Domkomple-
men »Torre Pignatarra« bekannt sind, beigesetzt wurde,112
xes in Betracht ziehen.
auf eine enge persönliche Verbindung Helenas mit dem
Dass Konstantin der Große mehrere monumentale
Sakralkomplex hin.
Kirchen errichten ließ, ist allgemein bekannt.103 Doch
Die Latifundie mit dem Helena-Mausoleum gehörte
auch die Frauen des konstantinischen Kaiserhauses tra-
zu einer weitläufigen, innerhalb der Stadtmauern gele-
101 Eine Auseinandersetzung mit der Helena-Legende erfolgt in Kapitel 2.2.3. 102 Z. B. Kempf 1978; zur Forschungsgeschichte s. Weber 2000, S. 37–42. 103 Herausragende Beispiele wären die Lateranskirche (ehemals St. Salvator, vgl. Abb. 1.21) und St. Peter in Rom, die Grabes- und die Auferstehungskirche in Jerusalem, die Geburtskirche in Bethlehem und die Apostelkirche in Konstantinopel. – Einführung in das konstantinische Kirchenbauprogramm: Brandenburg 2005, S. 16–18; dort auch grundlegende Beiträge zur Lateranskirche (S. 20–55) und St. Peter (S. 91–102). 104 Es fällt auf, dass in den meisten Aufsätzen und Lexikonartikeln bezüglich Constantina zwar grundsätzlich auf ihren Vater Konstantin hingewiesen wird, die Mutter hingegen ungenannt bleibt. Immerhin wird sie bei der Aufzählung der Kinder Faustas erwähnt (Drijvers 1992, S. 500f.). 105 Sta. Agnese: Rasch/Arbeiter 2007, Datierung S. 87f.; Brandenburg 2005, S. 69–73. 106 Inschrift bei: Rasch/Arbeiter 2007, S. 6 mit Literaturangaben unter
Anm. 48; Brandenburg 2005, S. 70 mit teilweiser deutscher Übersetzung. Sta. Costanza: Rasch/Arbeiter 2007; Brandenburg 2005, S. 69–86. Sta. Croce: Lib. Pont. 34, 22 (ed. Mommsen, S. 61f.); SS. Marcellino e Pietro: Ebd. 34, 26 (S. 65f.). So berichtet der Liber Pontificalis zwar, dass Sta. Agnese auf Constantinas Bitte hin errichtet wurde, nennt jedoch Konstantin als Gründer und eigentlichen Akteur (Lib. Pont. 34, 23 (ed. Mommsen, S. 62f.)), was im Widerspruch zur Weiheinschrift steht, die allein Constantina als aktive Gründerin nennt. Es sieht demnach so aus, als würde der Liber Pontificalis die Aktivitäten der Frauen des Kaiserhauses zugunsten einer Verherrlichung Konstantins marginalisieren. SS. Marcellino e Pietro: Brandenburg 2005, S. 55–60; Rasch 1998, Datierung S. 45. Lib. Pont. 34, 27 (ed. Mommsen, S. 66f.). Mausoleum der Helena: Brandenburg 2005, S. 55–60; Rasch 1998. – Zur Bestattung Helenas: Heinen 2008, S.26f.; Pohlsander 1995a, S. 149–166.
107 108 109
110 111 112
2.2 DIE DOMUS HELENAE ALS TRADITIONSSTIFTENDER ORT DES TRIERER DOMS
29
1.06 Rom, Santa Croce in Gerusa lemme, rekonstruierte Isometrie des Gründungsbaus, Baubeginn um 320? (Brandenburg 2005, S. 283)
genen Palastanlage, die ebenfalls zum Besitz der Helena
und wurde auch nicht als Grabbau angelegt, sondern in
zählte.113 Dort gefundene Inschriften belegen, dass die Kai-
bzw. über einem kaiserlichen Palastkomplex innerhalb
sermutter den Komplex renovieren und erweitern ließ.114
der Stadtmauern errichtet. Diese außergewönliche Orts-
In diesem Kontext muss wohl auch die Gründung der Kir-
wahl kann möglicherweise mit der Absicht erklärt wer-
che Santa Croce in Gerusalemme gesehen werden, für die
den, den kaiserlichen Wohnbereich zu sakralisieren und
ein bestehender Saalbau umgebaut wurde (Abb. 1.06).115
somit in besonderem Maße an der christlichen Heilsge-
Für Santa Croce in Gerusalemme könnte somit tatsäch-
schichte zu partizipieren. Wenn man annahm, die Grün-
lich zutreffen, was vom Trierer Dom behauptet wurde,
dung einer Kirche wirke sich positiv auf das Seelenheil
nämlich dass Helena ihren Palast für die Kirche zur Ver-
der Gründerpersönlichkeit aus, so läge es nahe, von einer
fügung stellte.116
Kirchengründung an einem Ort mit speziellem persönli-
In diesem Untersuchungsrahmen interessiert jedoch
chem Bezug eine Intensivierung und Steigerung der Heils-
in erster Linie die Wahl des Ortes. In beiden Fällen ist
wirkung zu erwarten. Der persönlich besetzte Ort stellte
die Kirche im Unterschied zu vielen frühchristlichen Sa-
gewissermaßen in Vertretung der Gründerpersönlichkeit
kralbauten nicht bei einem Märtyrergrab entstanden
deren fortwährende Nähe zum Kirchenbau sicher. Es wäre
113 Brandenburg 2005, S.104. 114 Ebd. 115 Sta. Croce in Gerusalemme: Brandenburg 2005, S. 103–108; de Blaauw 1997; Krautheimer 1937, S. 165–194. – Der Gründungsbau von Sta. Croce wies darüber hinaus interessante strukturelle Parallelen zum Quadratbau auf, die weiter unten ausgeführt werden. 116 Obwohl unbestritten ist, dass der Wohnkomplex im Besitz Helenas war und Bautätigkeiten der Kaiserin dort belegt sind, vertraut Hugo
Brandenburg den Angaben im Liber Pontificalis und sieht allein Konstantin als Gründer von Sta. Croce in Gerusalemme an (Ders. 2005, S. 104). Sible de Blaauw schließt Helena aufgrund der Nichterwähnung im Liber Pontificalis als Bauherrin aus, hält andererseits aber eine Gründung durch Konstantins Söhne trotz Nichterwähnung für möglich (Ders. 1997, S. 62f.). Wie weiter oben dargelegt, müssen die Angaben im Liber Pontificalis hinsichtlich der Rolle der Frauen des konstantinischen Kaiserhauses jedoch kritisch hinterfragt werden.
30
2 DER DOM UND DIE LIEBFRAUENKIRCHE ZU TRIER
darüber hinaus zu überlegen, welche Rolle die Reliquien,
ger als die Verlagerung des kultischen Schwerpunktes von
die der Sakralbau beherbergte, in diesem Zusammenhang
der älteren Südwestbasilika zur Nordostbasilika zur Folge
spielten. Falls Santa Croce tatsächlich von Beginn an der
hatte, lässt sich in diesem Kontext als Sakralisierung eines
Aufnahme einer Kreuzreliquie diente, wie es Hugo Bran-
Ortes verstehen, zu dem Maxima Fausta in einem spezi-
denburg annimmt,117 dann wäre damit gleichsam der Pa-
ellen Verhältnis stand, wodurch eine besondere Nähe der
last der Helena selbst zum Aufbewahrungsort der bedeu-
Kaiserin zur Trierer Bischofskirche gewährleistet werden
tenden Reliquie geworden, die somit in einem geradezu
sollte. Der Trierer Dom wäre somit über einem kaiserli-
persönlichen Verhältnis zur Augusta gestanden hätte.
chen Wohnbereich mit persönlichem Bezug zur Maxima
Demzufolge lässt sich die Einrichtung von Santa Croce
Fausta errichtet worden. Diese Aussage weist bemerkens-
in einem Palastgebäude, und in Analogie dazu die um-
werterweise frappierende Parallelen zur mittelalterlichen
fassende Ausweitung des Trierer Kirchenkomplexes über
Gründungslegende des Trierer Doms auf, wie weiter un-
eine kaiserliche Wohnanlage, als Sakralisierung eines kai-
ten eingehender diskutiert wird.119
serlich konnotierten Ortes mit entsprechender Wirkung
Für die Diskussion über die Rolle der Maxima Fausta
für das Kaiserhaus im Allgemeinen und die handelnde
beim Trierer Dombau ergibt sich aus dem frühen und
Person im Besonderen verstehen.
tragischen Tod der Augusta allerdings das Problem, dass
Die thematisierten römischen Beispiele weisen darauf
sich dieser 326 ereignete und damit kurz vor der aktuell
hin, dass die Frauen des konstantinischen Kaiserhauses
geläufigen Datierung der Ausweitung des Komplexes in
wohl stärker am kaiserlichen Kirchenbauprogramm mit-
die 330er–340er Jahre. Dieselbe Problematik ergibt sich
wirkten, als es ihnen die Forschung bislang zustand. Da
allerdings auch bei einer Zuschreibung der Initiative an
Mutter und Tochter Konstantins aktiv als Bauherrinnen
Helena, die um 329 verstarb.120
auftraten, wäre ein vergleichbares Engagement seiner
Die Datierung der Ausweitung des Komplexes stützt
Frau Maxima Fausta nicht ungewöhnlich, sondern viel-
sich auf Münzfunde in den Planierungsschichten unter
mehr zu erwarten. Das entsprechende Taten Faustas je-
den Estrichen der neuen Bauten, die einen terminus post
doch nicht überliefert sind, hängt wohl mit ihrem tragi-
quem von ca. 330 für die Verlegung der Fußböden markie-
schen Tod zusammen: Konstantin ließ seine Frau 326 aus
ren.121 Der tatsächliche Baubeginn wäre folglich jedoch ei-
unbekannten Gründen auf grausame Weise hinrichten
nige Jahre früher anzusetzen, denn vor den Arbeiten an
und verhängte eine damnatio memoriae.118
den Böden der Innenräume standen noch andere Arbei-
Vorausgesetzt, dass die aktuelle Interpretation des
ten an; zunächst der Abriss der bestehenden Bebauung,
zentralen Frauenbildnisses im römischen Prunksaal als
gefolgt von den Fundamentierungsarbeiten und vermut-
Porträt der Kaiserin Maxima Fausta zutrifft, so spricht
lich auch ersten Arbeiten am aufgehenden Mauerwerk.
dies für einen besonderen persönlichen Bezug des reprä-
Berücksichtigt man zusätzlich den komplexen Planungs-
sentativen Raumes zur Augusta. Infolgedessen deutet die
und Organisationsprozess, den ein derartiges Großprojekt
räumliche Kongruenz von frühchristlicher Apsis und kai-
zwingend im Vorfeld erfordert, dann erscheint es nicht
serlichem Prunksaal wiederum auf eine besondere Bezie-
unwahrscheinlich, dass das Projekt noch zu Lebzeiten der
hung der Maxima Fausta zur Trierer Kirche hin. Es läge
Maxima Fausta angestoßen wurde. Oder bildete der Tod
dann nahe, anzunehmen, dass die Kaiserin entscheidend
der Kaiserin 326 sogar den Ausgangspunkt für die Erwei-
an der Errichtung des Domkomplexes beteiligt war, diesen
terung der Anlage, indem persönliche Teile des Palastes –
vielleicht sogar initiierte, mindestens aber umfangreichen
vielleicht sogar dem Wunsch der Kaiserin entsprechend –
kaiserlichen Grundbesitz zur Verfügung stellte, so wie es
nun der Trierer Kirche zur Verfügung gestellt wurden? An
für ihre Schwiegermutter Helena in Rom überliefert ist.
dieser Stelle muss die Erörterung abgebrochen werden,
Die Errichtung der Apsis der Nordostbasilika genau
weil nach derzeitigem Kenntnisstand nicht mehr genü-
über dem vornehmen Prunksaal (Taf. 1.01), die nicht weni-
gend Indizien zur Verfügung stehen.
117 Brandenburg 2005, S. 106–108. Der Autor bezeichnet Sta. Croce in Gerusalemme deshalb als »Memorialkirche«. 118 Drijvers 1992. Obgleich die Ursachen für diese Tragödie bisher nicht geklärt werden konnten, wird in der Literatur oftmals ein Ehebruch der Kaiserin unterstellt. 119 Kap. 2.2.3.
120 Pohlsander 1995a, S. 146–148. 121 Weber 1995, S. 924f. 122 Datierung des Quadratbaus: Weber 2003, S. 430–432. – Ob es sich um einen Planwechsel oder einen Umbau handelt, hängt davon ab, ob die ursprünglich geplante Apsis bereits fertiggestellt war. Weber spricht sich für einen Umbau aus, weil der Boden der Apsis
2.2 DIE DOMUS HELENAE ALS TRADITIONSSTIFTENDER ORT DES TRIERER DOMS
31
1.07 Grundriss des Trierer Domkomplexes, seit den 340er Jahren bis ins 5. Jh., Entstehung des Quadratbaus im Nordosten der Anlage (Weber 2004, S. 232)
Der Quadratbau und die Verfestigung des traditions stiftenden Ortes
aus, denn der quadratische Grundriss setzte sich von der
Die weitere Entwicklung der Kirchenanlage zeigt, dass sich
liken als Richtungsbauten zu einem bestimmten Gebäu-
deren neuer Schwerpunkt im Nordosten schon nach kurzer
deteil hinführten, wie etwa die Südostbasilika zur Apsis,
Zeit verfestigte, denn bereits in den 340er Jahren erfolgte ein
richtete sich der zentralbauartige Quadratbau auf den ei-
Umbau oder Planwechsel,122 der auf eine Steigerung der ar-
genen Innenraum hin aus. Mittels der tragkonstruktiven
chitektonischen Formen im Nordosten abzielte (Abb. 1.07).
Struktur fokussierte der Raum die eigene Mitte, indem
Man errichtete einen monumentalen kubischen Baukör-
vier monumentale Säulen den Quadratbau in neun un-
per anstelle der Apsis, deren Dimensionen man allerdings
terschiedliche Joche gliederten, so dass sich in der Mitte
deutlich übertraf, so dass der neue Gebäudeteil den Ort der
wiederum ein Quadrat bildete, welches die anderen Joche
alten Apsis weiträumig umhüllte (Taf. 1.01). Der aufgrund
an Größe übertraf.123 Dieses Mitteljoch trat an die Stelle
seiner Grundrissgeometrie als Quadratbau bezeichnete
der zunächst begonnenen Apsis, räumlich wie funktional,
Baukörper ist noch heute ein integraler Bestandteil des
denn es wurde nicht bloß am selben Ort errichtet, sondern
Trierer Doms (Abb. 1.08), dessen formale Entwicklung er in
bildete fortan den neuen architektonischen Höhepunkt
den folgenden Jahrhunderten maßgeblich bestimmte, wie
der Nordbasilika. Dabei übernahm man die Breite der vor-
in den nachfolgenden Kapiteln aufgezeigt wird.
maligen Apsis, aus der sich auch die Breite des basilika-
Geometrie des übrigen Komplexes ab. Während die Basi-
Aufgrund seiner gegenüber den übrigen Bauwerken
len Mittelschiffes ableitete, und verdoppelte zugleich die
des Komplexes gesteigerten Dimensionen markierte der
Länge nach Osten. Die Maße des zentralen Quadrates ge-
Quadratbau auch von außen erkennbar den architekto-
hen damit auf die Verdoppelung der Maße der vormaligen
nischen Höhepunkt der Anlage. Die Grundrissstruktur
Apsis zurück, welche wiederum auf die Verdoppelung der
wies den Quadratbau ebenso als besonderes Gebäude
Maße des konstantinischen Prunksaales zurückgehen.
Nutzungs- und Ausbesserungsarbeiten aufweist (Ders. 1995, S. 925). Zweifelhaft ist jedoch, ob ein Bauprojekt von derart gewaltigen Ausmaßen bereits nach zehn Jahren komplett fertiggestellt war, was für einen Planwechsel spricht. Nach dem schriftlichen Zeugnis des Athanasius fanden Gottesdienste schließlich auch in der noch im Bau befindlichen Anlage statt (Ders. 2003, S. 429). 123 Damit weist die Binnenstruktur des Trierer Quadratbaus bemerkenswerte Parallelen zur weiter oben angesprochenen römischen Kirche
Sta. Croce in Gerusalemme auf, die in den bestehenden Bau einer kaiserlichen Wohnanlage eingerichtet wurde. Der profane Saal wurde bei der Einrichtung des christlichen Kultraumes untergliedert, indem vier Säulenpaare, die Schwibbögen tragen, in den Raum gestellt wurden, so dass ein annähernd quadratischer Raum in der Saalmitte definiert wurde (vgl. Abb. 1.06). Angesichts des ähnlichen Gründungskontextes wäre zu überlegen, ob Sta. Croce nicht sogar als Vorbild für die Binnenstruktur des Trierer Quadratbaus in Frage käme.
32
2 DER DOM UND DIE LIEBFRAUENKIRCHE ZU TRIER
1.08 Dom zu Trier, Nordansicht des Langhauses im heutigen Zustand. Das rötliche Mauerwerk zwischen den beiden Regenfallrohren und unter halb des Gesimses stammt noch im Wesentlichen vom Quadratbau des 4. Jh., zweites Geschoss und sämtliche Fenster 18. Jh., gelbliches Mauerwerk im Hintergrund 11. Jh. (Ronig 1982, S. 30)
Im Innenraum der Nordostkirche baute man nach Osten hin mit gestalterischen Mitteln Spannung auf. Eine
2.2.2 Die Bewahrung der Tradition des Ortes im frühen Mittelalter
Wand mit großen Bogenöffnungen signalisierte dem Betrachter den Übergang von den basilikalen Schiffen in
Die von der architektonischen Form ausgehende Analyse
einen besonderen Bereich. Durchschritt man diese mäch-
der Bedeutung des Quadratbaus in frühchristlicher Zeit
tigen Arkaden, erlebte man eine beeindruckende Steige-
wird von der weiteren historischen Entwicklung der Anlage
rung der architektonischen Dimensionen und Formen.
bestätigt. Aufschlussreich erweisen sich diesbezüglich die
Der flachgedeckten Basilika folgte ein Raum, welcher
Wiederaufbauarbeiten unter Bischof Nicetius im 6. Jahr-
von einem System gewaltiger Schwibbögen überspannt
hundert (Abb. 1.09),124 nachdem der Kirchenkomplex im
wurde, die im Innenraum von nur vier monolithischen
5. Jahrhundert von einfallenden Germanenhorden stark
Granitsäulen getragen wurden. Der Abstand zwischen
zerstört worden war.125 Die Arbeiten konzentrierten sich
den imposanten Säulen betrug kühne 18 Meter und über-
nämlich in besonderer Weise auf die Wiederherstellung des
traf damit die Interkolumnien im Langhaus um fast das
Quadratbaus in seiner alten Gestalt. Da in Trier anschei-
Vierfache. Schließlich wurde das quadratische Mitteljoch
nend keine geeigneten Fachmänner für eine solche Bau-
gleich einer Bühne inszeniert, indem das Fußbodenni-
aufgabe mehr zu finden waren, ließ sich Nicetius eigens ei-
veau gegenüber den anderen Jochen erhöht wurde. An
nen fähigen Bautrupp mit teils italienischen Handwerkern
drei Seiten des Quadrates erstreckten sich jeweils über die
von Bischof Rufus aus dem heutigen Bistum Sitten in der
gesamte Länge Treppenstufen, die somit ein würdevolles
Schweiz schicken.126 Tatsächlich gelang es, die zerbroche-
Stufenpodest bildeten und zugleich die Grenzen des Jo-
nen Monumentalsäulen durch gleichgroße Säulen, welche
ches definierten.
man wahrscheinlich einem anderen römischen Monumen-
124 Derzeitiger Kenntnisstand zu den Wiederaufbauarbeiten des 6. Jahrhunderts: Weber 2003, S. 483–486.
125 Anton 1987, S. 44–50. 126 Weber 2003, S. 483f.
2.2 DIE DOMUS HELENAE ALS TRADITIONSSTIFTENDER ORT DES TRIERER DOMS
33
1.09 Grundriss des Trierer Domkomplexes, vom Wiederaufbau unter Bischof Nicetius im 6. Jh. bis zum Normannensturm Ende des 9. Jh. (Weber 2004, S. 233)
talbau der gebeutelten Stadt entwendete, zu ersetzen und
jedoch die Südwestbasilika, also die wahrscheinlich erste
daraufhin die gewaltige Schwibbogenkonstruktion wieder-
Bischofskirche, nicht mehr aufgebaut.
aufzubauen.127 Dass es sich bei den Wiederaufbauarbeiten
Die Prioritäten der Wiederherstellung der Kirchenan-
nicht bloß um eine funktionale Wiederherstellung des Ge-
lage im Frühmittelalter unterstützen damit die Interpre-
bäudes handelte, sondern um eine möglichst getreue Re-
tation der architektonischen Entwicklung des Komplexes
konstruktion des alten Zustandes, erkennt man daran, dass
im 4. Jahrhundert. Den Schwerpunkt der Anlage bildete
die neu aufgestellten Säulen derart angestrichen wurden,
der Quadratbau im Nordosten, denn dieser wurde archi-
dass sie das Material der vorherigen Granitsäulen imitier-
tektonisch besonders betont und im 6. Jahrhundert unter
ten und an den Wänden die ehemalige Wandverkleidung
großen Anstrengungen quasi rekonstruiert. Liturgische
aus Marmor mit Malerei nachgeahmt wurde.128
Bedeutung kam neben dem Dom in erster Linie der Ba-
Neben dem Quadratbau richtete man auch die Süd-
silika im Bereich der Liebfrauenkirche zu, wie aus deren
ost- und Nordwestbasilika wieder her. Die archäologisch
Rechteckapsis ersichtlich und durch den Bau der Ambo-
nachgewiesenen, stattlichen Amboanlagen dokumentie-
anlage im 6. Jahrhundert bestätigt wird. Hingegen spiel-
ren die liturgische Nutzung vor allem der beiden östlichen
ten die Umstände der Entstehung der ersten Basilika im
Gebäude, die sich am Ort des heutigen Doms und der
Südwesten im 6. Jahrhundert offenbar keine Rolle mehr,
Liebfrauenkirche befinden. Bemerkenswerterweise wurde
denn diese wurde nicht wieder aufgebaut.
127 Die ursprünglichen Granitsäulen zerbrachen bei der Zerstörung des Domkomplexes im 5. Jahrhundert in große Stücke, die sich noch heute unter dem Fußboden des Doms befinden (Weber 2003, S. 477). Eines dieser Stücke wurde bereits 1614 aufgefunden (Irsch
1931, S. 71) und liegt heute, als »Domstein« bezeichnet, außen vor der Westapsis. 128 Weber 2003, S. 484. – Befunde: Weber 1980, S. 147f.; Wilmowsky 1874, S. 40f.
34
2 DER DOM UND DIE LIEBFRAUENKIRCHE ZU TRIER
2.2.3 Die Tradition des Ortes in den Schriftquellen des frühen und hohen Mittelalters
alterliche Quelle zum Thema vor.134
Der Dom als domus beatissimae Helenae
Adlige,135 der große Teile von Grund und Boden in der
Die Art und Weise, auf welche der Trierer Kirchenkom-
Stadt gehörten.136 Zur Gründung der Bischofskirche soll
plex, aber insbesondere der Quadratbau, unter Bischof
Helena ihren Palast137 zur Verfügung gestellt haben, wel-
Nicetius rekonstruiert wurde, weist darauf hin, dass be-
cher daraufhin in den Dom umgewandelt wurde. Bereits
reits im 6. Jahrhundert der Tradition des Ortes besondere
im 9. Jahrhundert heißt es dazu bei Almann:
Werk zur Trierer Geschichte, eine weitere wichtige mittelDer Legende nach war Helena eine in Trier geborene
Bedeutung beigemessen wurde. Von der Mitte des 9. Jahrhunderts an lässt sich eine Tradition des Ortes schließlich auch in den schriftlichen Quellen nachweisen. Dieser schriftlichen Überlieferung zufolge geht die Gründung der
»Quod usque hodie demonstrat domus ejus facta ecclesiae pars maxima in honore beati Petri apostolorum principis in sedem episcopalem metropolis dicata«.138
Trierer Bischofskirche auf eine Schenkung der Kaiserin
Die Quellen des 11. und frühen 12. Jahrhunderts wieder-
Helena,129 Mutter Konstantins des Großen, zurück, die in
holen diese Angaben und reichern sie weiter an, indem sie
der mittelalterlichen Legendarik und Hagiographie Triers
ergänzen, der Bau sei durch Bischof Agricius geweiht wor-
eine tragende Rolle spielte.130
den.139 Unabhängig vom historischen Wahrheitsgehalt ist
Die diesbezüglich frühste bekannte Schriftquelle ist
für diese Untersuchung von entscheidender Bedeutung,
die vom Mönch Almann von Hautvillers verfasste Vita
dass die Tradition des Ortes in den Schriftquellen eindeu-
Helenae,131 welche zwischen 845 und 852 datiert wird und
tig benannt wird: Der Dom entstand durch einen Umbau
im Auftrag des Reimser Bischofs Hinkmar anlässlich der
des Palastes der heiligen Helena (»domum beatissimae
Überführung von Helena-Reliquien aus Rom in das Klos-
Helenae«).140 Mit der Gründung der Bischofskirche kons-
ter Hautvillers in der Champagne entstand.132 Die dorti-
tituierte sich demnach eine kaiserliche Tradition, welche
gen Ausführungen wurden zwischen 1050 und 1072 von
sowohl den hohen Rang und die besondere Würde des
einem anonymen Autor aus dem Trierer Umkreis in der
Trierer Bischofssitzes begründete als auch dessen hohes
Doppelvita der heiligen Helena und des heiligen Agricius
Alter zum Ausdruck brachte.141 Die Wertigkeit der kaiser-
aufgegriffen und ergänzt.133 Schließlich liegt mit der um
lichen Gründung potenzierte sich dadurch, dass Helena
1100 entstandenen Fassung der Gesta Treverorum, einem
schon im frühen Mittelalter als Heilige verehrt wurde,142
129 Standardwerk über Helena: Pohlsander 1995a. 130 Zum Themenkomplex der Helena-Legende und der kaiserlichen Tradition in Trier erschienen zahlreiche Studien. Die wichtigsten sind (Schwerpunkt in Klammern): Embach 2008 (Legendarik); Heinen 1996, S. 77–117 (Trier als konstantinische Kaiserresidenz mit historischer Kritik der Überlieferung), insbesondere S. 98–117 (Gründung des Doms); Pohlsander 1995b (Legende mit Schwerpunkt hl. Rock); Ewig 1958 (kaiserliche Tradition im Mittelalter; knappe Zusammenfassung: Ders. 1964). 131 Die aktuellste Edition liegt in der 2007 erschienenen deutschlateinischen Parallelausgabe von Paul Dräger vor: Almann, Vita Helenae (ed. Dräger). – Studien hierzu: Embach 2008, S. 35–38; Ewig 1958, S. 153–158 (jeweils mit Hinweisen zu älteren Ausgaben und zur Forschungsliteratur). 132 Trierer Geschichtsquellen, S. 173–211. – Datierung nach: Ewig 1958, S. 156f. – Zur Entstehung: Embach 2008, S. 35; Ewig 1958, S. 153. 133 Studie zur Doppelvita mit Quellenangaben: Embach 2008, S. 39–43. 134 Lateinische Ausgabe: Gesta Trevirorum, ed. Wyttenbach/Müller, 1836. – Deutsche Übersetzung: Gesta Treverorum, ed. Zenz, 1955–1965. – Grundlegende Studie: Thomas 1968 (mit ausführlichen Angaben zu Quelltexten und Editionen; Datierung S. 25f.). 135 Almann, Vita Helenae, 9 (ed. Draeger, S. 22): »Helena, oriunda treverensis«; Gesta Trev. (ed. Wyttenbach/Müller, S. 47): »Helena, Trebirorum noblissima«. – In der aktuellen Forschung wird hingegen Drepanum in Bithynien als Geburtsort der Helena favorisiert (Pohlsander 1995b, S. 120). – Die Trierer Überlieferung hinsichtlich der geographischen und sozialen Herkunft der Helena zielte anscheinend auf eine Steigerung ihres Ansehens (Adlige statt Wirtin) und eine genealogische Verflechtung mit der Stadt Trier (Geburtsort) ab. – Zu den historischen Verbindungen von Helena zu Trier: Pohlsander 1995a, S. 31–47.
136 Almann, Vita Helenae, 9 (ed. Draeger, S. 22). 137 In den lateinischen Originaltexten findet sich die Bezeichnung »domus« (Almann, Vita Helenae, 9 (ed. Draeger, S. 22)); Gesta Trev. (ed. Wyttenbach/Müller, S. 49), welche in der Literatur fast durchgängig mit »Haus« übersetzt wird, was beim heutigen Leser jedoch falsche Vorstellungen hinsichtlich der Größe und Pracht der Trierer Kaiserresidenz hervorruft. Mit »domus« bezeichneten die Römer nämlich nicht nur die üblichen Stadthäuser, sondern auch weiträumige, opulente, innerstädtische Kaiserresidenzen wie etwa Neros domus aurea, die man im heutigen Sprachgebrauch vielmehr »Palast« nennen würde. Analog dazu scheint die Übersetzung »Palast« für die Trierer Residenz der Helena bzw. der konstantinischen Kaiserfamilie wesentlich treffender. (Zum römischen Sprachgebrauch der domus: Mielsch 1987, S. 7, 64–66.) 138 Almann, Vita Helenae, 9 (ed. Draeger, S. 22); vgl. Heinen 1996, S. 99 u. Anm. 3. (mit dt. Übersetzung). 139 Gesta Trev. (ed. Wyttenbach/Müller, S. 49): »Anno Dominicae incarnationis CCC.XXVIII. sanctus Argricius Trebirorum praesul efficitur. Hic populum ab antiquo errore idolatriae, velut alter Eucharius, eripuit et domum beatissimae Helenae, exclusis ab ipsa cunctis paganismi spurcitiis, in honore sancti Petri dedicavit, et, caput ecclesiae Treberensis ut esset, instituit.« 140 Ebd. 141 Zur kaiserlichen Tradition in Trier: Ewig 1964, S. 278–280; Ders. 1958, S. 147–160. 142 Helena als Heilige: Pohlsander 1995a, S. 186–200. – Nach Embach stellt die Vita Helenae des 9. Jahrhunderts den ersten schriftlichen Beleg für die Bezeichnung Helenas als Heilige dar (Ders. 2008, S. 36). Ewig führt hingegen Belege aus dem frühen 8. Jahrhundert an und weist darauf hin, dass der Kult noch älter sein muss (Ewig 1958, 159f.). – Zur Helena-Verehrung im 11. Jahrhundert: Ewig 1958, S. 149f.
2.2 DIE DOMUS HELENAE ALS TRADITIONSSTIFTENDER ORT DES TRIERER DOMS
deren größtes Verdienst der Legende nach die Auffindung
35
in einem solchen Umfang erhalten geblieben, dass man
des wahren Kreuzes während einer Pilgerfahrt nach Jeru-
ihn bis in die Gegenwart (»usque hodie«), als solchen er-
salem darstellte,143 so dass die Gründung des Doms auch
kennen könne. Die spätantik-frühchristlichen Formen
eine heilsgeschichtliche Dimension beinhaltet.
des Domkomplexes, die im 9. Jahrhundert freilich noch
Der Helena-Legende zufolge stellt der Ort also einen
in weit größerem Umfang als heute vorhanden waren,
konstitutiven Bestandteil der imperialen Tradition des
galten demnach als bauliches Dokument, welches dem
Trierer Doms dar, denn der Palast der Helena war als Im-
zeitgenössischen Betrachter den Wahrheitsgehalt der
mobilie im eigentlichen Sinne des Wortes an einen spe-
Gründungslegende und somit der römisch-kaiserlichen
zifischen Ort gebunden, welcher durch die Umwandlung
Tradition vor Augen führen sollte. Moderne Fragestel-
des Palastes zur Kirche natürlich identisch blieb. Anders
lungen nach der Authentizität der Anlage, die schließlich
formuliert: Wenn die Kirche aus dem Palast hervorgegan-
bereits im 6. Jahrhundert rekonstruierend wiederaufge-
gen sein soll, muss der Ort logischerweise derselbe sein.
baut wurde, spielten für den Schreiber des 9. Jahrhunderts
Folglich war es für die Aufrechterhaltung der Tradition
sichtlich keine Rolle; es ist vielmehr fraglich, ob er von den
zwingend notwendig, den Bezug zum authentischen Ort
Vorgängen überhaupt Kenntnis gehabt hat.
zu wahren, denn hätte man den Trierer Dom an einen an-
Welcher Teil des Domkomplexes für den Palast gehal-
deren Ort verlegt, so hätte er nicht mehr auf den Palast der
ten wurde oder ob man sogar vom Ganzen ausging, geht
Helena zurückgeführt werden können.
aus den Schriftquellen ebenso wenig hervor wie die Frage,
Interessant erscheint in diesem Kontext ein Vergleich
welche baulichen Formen mit dem Palast in Verbindung
mit einer zweiten in Trier gepflegten Tradition, nämlich
gebracht wurden. Der hohe Aufwand, den Bischof Nice-
der apostolischen, nach welcher der erste Trierer Bischof
tius vor allem für die Rekonstruktion des Quadratbaus be-
vom Apostel Petrus entsandt worden sei.144 Im Gegensatz
trieb, legt allerdings nahe, dass insbesondere dieser Teil
zur kaiserlichen Tradition ist die apostolische nicht an ei-
des Doms mit der Tradition des Ortes in Verbindung ge-
nen spezifischen Ort gebunden, so dass in dieser Hinsicht
bracht wurde. Nimmt man an, dass bereits im 6. Jahrhun-
auch keine Tradition des Ortes entstehen konnte, welche
dert oder sogar früher die Legende vom Dom als Palast
man in der Folge hätte architektonisch sichtbar machen
der Helena bestand, was auch von philologischer Seite
können. Allerdings versuchte man im hohen Mittelalter
plausibel erscheint,147 so würden die Bemühungen des
die beiden Legenden miteinander zu verknüpfen,145 so
Nicetius um eine möglichst genaue Wiederherstellung des
dass die Tradition des Ortes indirekt auch für die apostoli-
alten Zustandes einen tieferen Sinn bekommen. Wäre es
sche Legende eine gewisse Bedeutung gewann.
allein um den Wiederaufbau der Bischofskirche gegangen,
Der Ortsbezug der römisch-kaiserlichen Tradition
so hätte er auch einfacher zu realisierende Varianten im
lässt sich also anhand der mittelalterlichen Quellen ein-
Stil seiner Zeit wählen können. Die Bemühungen um eine
deutig belegen. Der Text der Vita Helenae lässt darüber hi-
möglichst genaue Rekonstruktion des alten Zustandes le-
naus auf die Bedeutung der Architektur in diesem Kontext
gen hingegen den Wunsch nach Wiederherstellung des
schließen, denn Almann führt die ihm gegenwärtige Ar-
Helena-Palastes als sichtbares Zeugnis der Trierer Tradi-
chitektur des Doms, also diejenige des 9. Jahrhunderts, als
tion nahe.
Beleg für die Wahrheit seiner Aussagen bezüglich Helena
Das Erinnern an die Helena-Legende, sei es in den
an: »Quod usque hodie demonstrat domus eius facta eccle-
Schriftquellen oder mittels der architektonischen Visuali-
siae pars maxima«.146
sierung der Tradition des Ortes, diente folglich dem Be-
Man glaubte demnach, die bauliche Substanz des Hele na-Palastes sei bei der Umwandlung in die Bischofskirche
143 Almann, Vita Helenae 8, 26–28 (ed. Draeger, S. 22, 46–50). – Forschungsliteratur zum Thema: Heinen 2008; Pohlsander 1995a, S. 101–116. 144 Apostolische Tradition in Trier: Heinen 1996, S. 58f.; Ewig 1958, S. 160–169. 145 Vgl. Heinen 1996, S. 86f. 146 Almann, Vita Helenae 9 (ed. Draeger, S. 22). »Dies beweist bis zum heutigen Tage ihr Palast, der zum größten Teil der Kirche umgebaut wurde« (eigene Übersetzung). 147 Embach geht aufgrund von Übereinstimmungen davon aus, dass die Vita Helenae als Quelle für die jüngere Doppelvita diente (Ders.
mühen, den architektonischen Status quo zu restituieren bzw. zu konservieren.
2008, S. 42). Es könnte aber auch eine heute verlorene, ältere Quelle für beide Texte als Vorlage gedient haben. Dafür spräche jedenfalls, dass die Vita Helenae im Reimser Umfeld entstand und die Trierer Tradition somit nicht vordergründig im Interesse des Schreibers stand. Es liegt insofern nahe, dass Almann sich auf eine andere Quelle stützte. Der Text Almanns stellt zwar die älteste heute noch erhaltene Schriftquelle dar, doch das heißt nicht zwangsläufig, dass er tatsächlich der Erste war, der die Helena-Legende niederschrieb. – Auch Ewig geht von einer älteren Helena-Tradition aus, welche er mit einer anderen Argumentation herleitet (Ders. 1958, S. 159f.).
36
2 DER DOM UND DIE LIEBFRAUENKIRCHE ZU TRIER
Der historische Kern der Helena-Tradition
len, auch wenn es sich dabei wohl nicht um Helena, son-
Seit Wilmowsky im 19. Jahrhundert den Quadratbau in
dern Maxima Fausta handelt. Dass in der Legende Helena
die zweite Hälfte des 4. Jahrhunderts, also die Zeit nach
und nicht Fausta als Gründungsfigur genannt wird, lässt
Helenas Tod, datierte und die Helena-Tradition damit
sich wiederum durch die historischen Ereignisse erklären,
grundsätzlich in Frage stellte,148 wurde in der Forschung
denn Fausta fiel bei Konstantin aus nicht genau geklärten
viel über den Wahrheitsgehalt der Legende gestritten.
Gründen schließlich derart in Ungnade, dass er seine ei-
Im Wesentlichen standen seither zwei kontradiktorische
gene Frau hinrichten ließ. Da sich die Trierer Kirche somit
Möglichkeiten zur Diskussion, nämlich dass die Helena-
schlechterdings mit Fausta als Gründungsfigur rühmen
Legende entweder gänzlich ins Reich der Fantasie gehöre
konnte, läge es nahe, wenn man sie in der Überlieferung
oder aber doch wie überliefert zuträfe. Letzterer Stand-
durch eine andere Konstantin nahestehende Frau ersetzt
punkt gewann Mitte des 20. Jahrhunderts neuen Auftrieb,
hätte, nämlich die Kaisermutter Helena, die nach ihrer
als Kempf den römischen Prunksaal unter der Vierung
Heiligsprechung auch aus religiöser Perspektive weitaus
entdeckte und das freskierte Frauenporträt als Bildnis der
vorteilhafter als Gründerin dargestellt werden konnte.
Kaiserin Helena deutete.149 Eine differenzierte Auseinan-
Auch die überlieferte Weihe der Bischofskirche durch
dersetzung mit der Helena-Legende erfolgte erst in der
Bischof Agricius, einem Zeitgenossen Faustas und He-
jüngeren Zeit; insbesondere durch Weber, der die Mög-
lenas, die von der Forschung noch vor einiger Zeit für
lichkeit erkannte, dass die Legende nicht wörtlich zutrifft,
unmöglich gehalten wurde,151 lässt sich mit den jüngsten
wohl aber auf einem historischen Kern basiert.
archäologischen Befunden wieder in Einklang bringen.152
150
Zwar konnte bauforscherisch und archäologisch nach-
Das in den Gesta Treverorum angegebene Weihedatum 328
gewiesen werden, dass der frühchristliche Komplex nicht
erscheint durchaus realistisch, wenn man es auf die Süd-
aus dem Umbau eines kaiserlichen Palastes hervorging,
westbasilika bezieht.153
jedoch wurde allem Anschein nach kaiserlicher Grund-
Die Diskussion über den Wahrheitsgehalt der Legende
besitz für die Errichtung zur Verfügung gestellt. Dass in
hilft, die Umstände zu verstehen, die zur Entstehung der
späterer Zeit von einem Umbau die Rede ist, lässt sich
Tradition des Ortes führten. Für die Untersuchung der
durch das Potential der Architektur erklären, als sichtba-
Wirkung, welche die Tradition des Ortes in der Folge auf
res Zeugnis der Legende genutzt werden zu können, wie
die Architektur des Trierer Doms ausübte, spielt der Wahr-
es Almann im 9. Jahrhundert nachgewiesenermaßen tat.
heitsgehalt der Helena-Legende allerdings keine Rolle.
Auch die Verbindung zu einer Dame des konstantinischen
Entscheidend ist allein, dass die Legende im Mittelalter
Kaiserhauses lässt sich mittels des gemalten Bildnisses
für eine historische Tatsache gehalten oder zumindest als
im römischen Prunksaal unter der Domvierung herstel-
solche propagiert wurde.154
2.3 Die Erweiterung der domus Helenae – Der Umbau des Doms unter Erzbischof Poppo im 11. Jahrhundert 2.3.1 Vom Normannensturm 882 zur Wiederaufbau kampagne unter Erzbischof Poppo in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts
Erzbischof Egbert Ende des 10. Jahrhunderts fassen.156 Zunächst widmete man sich der Wiederherstellung des Quadratbaus, in welchem eine der nicetischen Säulen eingestürzt war. Anscheinend erkannte man, dass die Säulen
Während des Normannensturmes 882 erlitt der Basili-
im Katastrophenfall einen Schwachpunkt der Tragstruk-
kenkomplex abermals schwere Schäden.
Wiederaufbau-
tur darstellen und wollte künftigen Ereignissen vorbeu-
arbeiten am Dom selbst lassen sich allerdings erst unter
gen, indem man sie in kreuzförmige Pfeiler einmauerte,
148 149 150 151 152 153
tieren Wyttenbach/Müller, dass in einer anderen Quelle das Datum 334 vermerkt sei. Zenz überliefert hingegen das Datum 364 (ed. Zenz, S. 41). 154 Vgl. Heinen 1996, S. 53. 155 Apsner 2003, S. 273f.; Zink 1980a, S. 32. 156 Zum Egbertinischen Projekt: Zink 1980a, S. 33f.; Kempf 1975.
155
Wilmowsky 1874, S. 11. Kempf 1978. Weber 2003, S. 425. Pohlsander 1995b, S. 122. Zur ersten Bischofskirche: Weber 2004, S. 226–228. Gesta Trev. (ed. Wyttenbach/Müller, S. 49). In der Fußnote (a) no-
37
2.3 DIE ERWEITERUNG DER DOMUS HELENAE
1.10 Dom zu Trier, Grundriss, ca. Mitte 11. Jh. bis Mitte 12. Jh., Zustand nach dem Umbau unter Erzbischof Poppo (Ronig 1980a, Plan IV)
so dass sich die Knickgefahr unter extremen Belastungen
ein Kreuzpfeiler in der Art der eingemauerten nicetischen
reduzierte.157 Diese Maßnahme hat sich nicht nur langfris-
Säulen errichtet. In der Folge wurde der Kirchenraum um
tig als tragfähig erwiesen, wovon die bis heute erhaltenen
zwei Joche nach Westen erweitert, die im Mittelschiff in
kreuzförmigen Pfeiler mit den antiken Säulen im Kern
eine halbkreisförmige Apsis münden (Abb. 1.10). Nach au-
zeugen,158 sondern auch die Raumwirkung nachhaltig mo-
ßen verwirklichte man eine monumentale Westfassade,
difiziert. Unter Egbert wurde ebenfalls mit der Wiederher-
welche durch vier Türme und die plastisch hervortretende
stellung des westlich dem Quadratbau vorgelagerten basi-
Westapsis imposant in Szene gesetzt wurde (Abb. 1.11).
likalen Raumes begonnen. Die projektierte Westfassade
Poppo hielt demnach im Gegensatz zu seinem Vorgänger
sollte anstelle der Ostwand der Nordwestbasilika errichtet
Egbert nicht an der ursprünglichen additiven Raumfolge
werden, so dass ein räumlicher Bezug zu dem aufgege-
von Basilika und Quadratbau fest, sondern erweiterte den
benen Gebäude hergestellt worden wäre.
Die Arbeiten
Quadratbau nach Westen zu einem rechteckigen Gebäude
kamen jedoch nicht zur Vollendung und wurden von den
von einheitlicher architektonischer Struktur, welches ab-
Nachfolgern eingestellt.
züglich späterer Umbauten heute das Langhaus des Trie-
159
Der eigentliche Wiederaufbau der Trierer Domkirche, welcher die Gestalt der Kirche bis heute prägt, begann unter Erzbischof Poppo Anfang des 11. Jahrhunderts.
rer Doms bildet. Obwohl unter Poppo das vorherige räumliche Konzept also stark verändert und die frühchristliche Gebäudefolge
Zunächst brachte man die Instandsetzungsarbeiten
endgültig aufgegeben wurde, bestimmte die Tradition des
am Quadratbau zum Abschluss und weihte diesen im Jahr
Ortes die neue Form der Kirche dennoch maßgeblich mit,
1037.160 Dabei wurde anstelle der noch fehlenden Säule
wie im Folgenden belegt wird.
157 Zum Knicken von Stützen: Kraus/Führer/Neukäter 1996, S. 171–181. 158 Vgl. Schnittzeichnungen von Wilmowsky und Krause (Abb. bei Irsch 1931, S. 40, 89). 159 Bei den jüngeren Grabungen konnten neue Kenntnisse über das Projekt Egberts gewonnen werden. So verlief der Westabschluss nicht wie von Kempf angenommen geradlinig, sondern sollte in der
Mitte von einer monumentalen, polygonalen Nische strukturiert werden (freundliche Mitteilung von Herrn Prof. Winfried Weber, 27.5.2009). Eine Publikation und kunsthistorische Auswertung des ottonischen Projekts nach aktuellen Befunden steht noch aus. 160 Zink 1980a, S. 34.
38
2 DER DOM UND DIE LIEBFRAUENKIRCHE ZU TRIER
1.11 Dom zu Trier, Westfassade, ca. 1037–1080, Aufstockung des Südturms im frühen 16. Jh. (Ronig 1982, S. 27)
39
2.3 DIE ERWEITERUNG DER DOMUS HELENAE
2.3.2 Grundriss und Innenraum
Geometrie und Dimensionierung der Erweiterungsjoche
Grundrissdimensionen
dratbaus, dessen differenzierte Aufteilung ursprünglich
Die Dimensionen des popponischen Baukörpers orientie-
für einen Raum konzipiert wurde, der sich auf die eigene
ren sich an den ehemaligen Raumgrenzen des frühmittel-
Mitte konzentriert. Bei der Erweiterung im 11. Jahrhun-
alterlichen Domkomplexes, der sich im Bereich des Doms
dert interpretierte man die Struktur des Quadratbau-
wiederum mit dem frühchristlichen Komplex des 4. Jahr-
grundrisses hingegen als seitlich offenes Muster, bei dem
hunderts deckte (vgl. Abb. 1.04). Die romanischen Außen-
Rechtecke und Quadrate unterschiedlicher Größe nach
wände stehen an der Stelle der vorherigen Außenwände
festem Schema alternieren, und setzte dieses Muster zwei
des basilikalen Vorraumes, so dass die Breite des poppo-
Joche nach Westen fort. Durch den derart geschaffenen
nischen Baukörpers der Breite des frühchristlichen Baus
gleichmäßigen Rhythmus der Joche in Ost-West-Richtung
entspricht. Während sich dies bei isolierter Betrachtung
gelang das Kunststück, die tradierte Struktur des Quadrat-
noch mit dem Anschluss an den gleich breiten Quadrat-
baus zu erhalten und dennoch einen homogenen, längs-
bau erklären ließe, so wird der räumliche Bezug zur Tra-
rechteckigen Kirchenraum zu kreieren, welcher durch die
dition des Ortes bei der Westfassade umso deutlicher. Der
Anlage der Westapsis bipolar ausgerichtet wurde.162
orientieren sich am bestehenden Jochsystem des Qua-
imposante romanische Westabschluss befindet sich näm-
Zugleich lässt sich die Grundrissfigur des Quadratbaus
lich ebenfalls über den Mauern der frühchristlichen Basi-
nunmehr ein zweites Mal aus dem popponischen Bau he-
lika. Der popponische Erweiterungsbau stimmt demnach
rauslesen, wenn man vom westlichen Mittelschiffquadrat
in Lage, Breite und Länge exakt mit der frühchristlichen
als zentralem Joch ausgeht (Taf. 1.02). Somit kann das
Nordwestbasilika überein.
popponische Erweiterungsprojekt auch als Verdoppelung
Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man nun da-
des tradierten Quadratbaus aufgefasst werden, bei der al-
von ausgehen, dass beim romanischen Erweiterungspro-
lerdings nicht zwei identische Bauten additiv nebeneinan-
jekt die alten Fundamente weiter genutzt werden sollten
der gestellt wurden, sondern das Grundrissmuster weiter-
und somit nüchterne, wirtschaftliche Gründe den be-
gewebt wurde, so dass das Neue an das Alte anknüpft. Auf
schriebenen Befund erklären. Die genauere Betrachtung
diese Weise ist das neue Quadrat unlösbar mit dem alten
beweist jedoch das Gegenteil. Zur Errichtung der roma-
verflochten und kann überhaupt nur durch seine Teilhabe
nischen Bauteile entfernte man zunächst sämtliche alten
am alten definiert werden.
Fundamente, ob sie nun aus frühchristlicher Zeit oder
Der Grundriss des Trierer Doms besticht somit durch
vom aufgegebenen Wiederaufbauprojekt des Egbert her-
eine Ambivalenz, die es ermöglichte, die eigene Vergan-
rührten, und fundamentierte in den alten Fluchten kom-
genheit nicht bloß zu bewahren, sondern hervorzuheben,
plett neu.
Das bedeutet, dass man einen hohen zusätz-
aber gleichzeitig an hochaktuelle, funktionale und ästhe-
lichen wirtschaftlichen Aufwand in Kauf nahm, nur um
tische Entwicklungen in der deutschen Kirchenbaukunst
die Erweiterung in den Grundrissdimensionen der vorhe-
der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts anzuknüpfen. Als
rigen Basilika errichten zu können. Hätte man die neuen
längsgerichtete doppelchörige Anlagen entstanden in je-
Fundamente der Westfassade hingegen einfach neben
ner Zeit beispielsweise der Bamberger Dom, der sich wie
den vorhandenen angelegt, so hätte man sich die beträcht-
der Trierer Dom eines kaiserlichen Gründers rühmte,
lichen Kosten und Mühen des Abbruchs gespart.
oder der Mainzer Dom, der Sitz des mit Trier um Macht
161
konkurrierenden Erzbischofs. Auch das gestalterische
Grundrissstruktur
Konzept der Trierer Westfassade, einer hervortretenden
Für die neue Grundrissstruktur war der tradierte Quad-
Apsis mit flankierenden runden Treppentürmen, ähnelt
ratbau buchstäblich das Maß der Dinge (vgl. Abb. 1.10).
den angeführten Beispielen. Die Architektur des Trierer
161 Tatsächlich suggerieren die Pläne, bei denen verschiedene Bauzustände überlagert dargestellt wurden, wie z. B. der letzte von Kempf publizierte Bauphasenplan (Ronig 1980a, Beilage), dass sich alte Fundamente unter dem Mauerwerk befänden. Ein Fundamentplan des Bestandes mit entsprechenden Datierungen wurde aber bisher leider nicht publiziert. Allerdings wurden die aktuellen Grabungsbefunde an einem aufschlussreichen Modell im Bischöflichen Domund Diözesanmuseum Trier dreidimensional dargestellt. Weitere Hinweise finden sich bei Kempf, der schreibt, dass sämtliche
Fundamente im Verband stünden (Kempf 1968, S. 8). Auf Nachfrage bestätigte mir Prof. Dr. Winfried Weber, Diözesanarchäologe und Museumsdirektor, freundlicherweise, dass die Fundamente der Erweiterung durchgängig aus dem 11. Jahrhundert stammten. Nur an wenigen Stellen seien überhaupt ältere Fundamente nachzuweisen, welche zusammen mit weiteren Fundamentstreifen in derselben Flucht neben der Kirche überhaupt erst eine Rekonstruktion des ursprünglichen Zustandes ermöglichten (Gespräch am 27.5.2009). 162 Vgl. Ronig 1990, S. 119.
40
2 DER DOM UND DIE LIEBFRAUENKIRCHE ZU TRIER
Doms in der Mitte des 11. Jahrhunderts war somit einer-
Nun liegt es nahe, die popponischen Viererarkaden
seits Ausdruck fortschrittlicher Baukultur auf höchstem
aus den vorher anscheinend vorhandenen Emporen ab-
Anspruchsniveau, bewahrte aber andererseits dennoch
zuleiten. Das Motiv der frühromanischen Arkaden würde
die Tradition des Ortes. Die spannende Synthese dieser
somit aus der ehemaligen Zweigeschossigkeit der Seiten-
beiden auf den ersten Blick gegensätzlich erscheinenden
schiffe resultieren. Möglicherweise existierten aber auch
Zielsetzungen gehört somit zu den anerkennenswerten
im 11. Jahrhundert noch Emporen, wie es Irsch vorschlug.
Leistungen der Baukampagne des 11. Jahrhunderts.
Auch wenn die derzeitig unzureichende Forschungslage es nicht erlaubt, diesbezüglich ein eindeutiges Urteil zu
Die Viererarkaden im Innenraum
fällen, so sind die geschilderten Zusammenhänge für die
Möglicherweise kann auch ein markantes Motiv im In-
Baukampagne des 13. Jahrhunderts dennoch von Bedeu-
nenraum des Trierer Doms mit der eigenen baulichen
tung.171
Vergangenheit in Zusammenhang gebracht werden. Dies sind die Viererarkaden, die sich im 11. Jahrhundert in den Wänden oberhalb der Arkaden- und Gurtbögen befanden, welche die kleinen, quadratischen Joche der Seitenschiffe
1.12 Dom zu Trier, Rekonstruktion des Innenraumes um 1200, Mittelschiff mit Blick nach Osten (Ronig 1990, S. 117)
räumlich definierten (Abb. 1.12).163 Die romanischen Arkaden mussten im Rahmen der Einwölbung im 13. Jahrhundert zwar entfernt werden, das Motiv wurde jedoch gestalterisch wieder aufgegriffen.164 Eine Belichtung des Mittelschiffes im Sinne von Pseudo-Obergadenfenstern165 kann nicht der alleinige Zweck der Arkaden gewesen sein, da sie schließlich auch in den Wandflächen oberhalb der Gurtbögen zwischen den Seitenschiffjochen saßen, welche über die Außenwand direktes Licht erhielten. Nach derzeitigem Forschungsstand handelte es sich bei der ehemals vor dem Quadratbau befindlichen Nordostbasilika um eine Emporenbasilika.166 Auch der Quadratbau war zweigeschossig konzipiert, denn es liefen anscheinend Holzgalerien an den Außenwänden um das zentrale Joch herum.167 Dem entsprechen die Öffnungen in der ehemaligen Westwand des Quadratbaus. Während in der Mitte ein mächtiger Bogen die Wand fast raumhoch öffnete, lagen in den Seitenschiffen zwei nahezu gleichgroße Bogenöffnungen übereinander,168 so dass dort von einem zweigeschossigen Übergang von Basilika zum Quadratbau ausgegangen werden kann. Nach Irsch verfügte die Nordostkirche auch im frühen Mittelalter, sowohl in merowingischer Zeit als auch nach dem Normannensturm 882, weiterhin über Emporen.169 Er wirft sogar die Frage auf, ob nicht sogar der popponische Erweiterungsbau über hölzerne Emporen verfügte.170 163 Siehe die Rekonstruktionszeichnungen des Innenraumes vor dem Baubeginn des Ostchores bei: Ronig, 1990, S. 116f.; Zink 1980a, Fig. 12. 164 Kap. 2.4.2. – An den Ostseiten der beiden Westtürme hat sich jeweils eine romanische Arkade erhalten, die als Vorlage für die Rekonstruktion der Arkaden im Langhaus dienen. An den Mittelschiffwänden lassen sich die Bögen, welche die Arkaden überfingen, noch im Mauerwerk erkennen. 165 Der Trierer Dom wurde im 11. Jahrhundert nicht mit basilikalem
Querschnitt sondern als Halle konzipiert, so dass eine Anlage von Obergadenfenstern im Mittelschiff nicht möglich war. 166 Das aktuelle Modell im Trierer Dom- und Diözesanmuseum wurde deshalb zweigeschossig konzipiert. 167 Zink 1980a, S. 25. 168 Ebd., S. 26. 169 Irsch 1931, S. 90. 170 Ebd. 171 Kap. 2.4.2.
41
FARBTAFELN
Taf. 1.01 Grundriss des heutigen Trierer Doms mit Eintragungen des römischen Prunksaals, der ersten Apsis der Nordostbasilika und des Quadratbaus (Hauke Horn, 2012)
Taf. 1.02 Grundriss des Trierer Doms nach der popponischen Kampagne: Verdopplung der vorhandenen Quadratbaustruktur (rot) (Hauke Horn, 2012)
42
FARBTAFELN | 1 DER DOM ZU TRIER
oben: Taf. 1.03 Quadratbau, Mauerwerk der nördlichen Außenwand, Opus listatum, zweite Hälfte 4. Jh. (Hauke Horn, 2007) unten: Taf. 1.04 Westlicher Wandpfeiler an der nördlichen Seiten schiffwand, Opus listatum, Mitte 11. Jh. (Hauke Horn, 2012)
43
FARBTAFELN | 1 DER DOM ZU TRIER
Taf. 1.05 Kapitell im Quadratbau, spätantik (4. Jh.?) (Hauke Horn, 2009)
Taf. 1.07 Ansatz der Kreuzrippengewölbe an der südlichen Mittelschiffwand über älterem Kreuzpfeiler, Pfeilermauer werk hinter den Diensten aus Quadersteinen vom Anfang des 13. Jh. (Hauke Horn, 2012)
Taf. 1.06 Detail des Ansatzes der Kreuzrippengewölbe an der südlichen Mittelschiffwand über bestehendem Kreuzpfeiler bzw. ehemaliger Quadratbauwestwand (Hauke Horn, 2009)
44
Taf. 2.01 Portal vom Dom zur Liebfrauenkirche, zweite Hälfte 12. Jh. (Hauke Horn, 2009)
FARBTAFELN | 2 DIE LIEBFRAUENKIRCHE ZU TRIER
Taf. 2.03 Grundrissstruktur der Liebfrauenkirche in Relation zum Dom bzw. zum Quadratbau (Hauke Horn, 2012, auf Plangrundlage von Irsch 1931, S. 5)
Taf. 2.02 Vierungsturm der Liebfrauenkirche, im Vordergrund der Südwestturm des Doms (Hauke Horn, 2012)
FARBTAFELN | 3 DER DOM ZU MAGDEBURG
oben links: Taf. 3.01 Lage der teilweise ergrabenen sog. Nordkirche im Verhältnis zum heutigen Dom (Puhle 2009, Bd. 1, S. 38) oben rechts: Taf. 3.02 Chorhaupt mit den Spolien des ottonischen Doms (Poeschke 1996, S. 181)
Taf. 3.03 Grundriss des Chores mit Visualisierung der räumlichen Relation bedeutsamer Objekte zum Kirchenraum und zueinander (Hauke Horn, 2012)
45
46
FARBTAFELN | 3 DER DOM ZU MAGDEBURG
oben links: Taf. 3.04 Pfeiler in Formen des 11. Jh., entstanden im ersten Drittel des 13. Jh., Bischofsgang, südliche Doppelarkade zum Binnenchor hin (Hauke Horn, 2009) oben rechts: Taf. 3.05 Säule mit antikisierendem Kapitell, Bischofsgang, Nische an der Südseite, erstes Drittel 13. Jh. (Hauke Horn, 2009) unten: Taf. 3.06 Apsidiale Nische mit antikisierendem Akanthusfries, erstes Drittel 13. Jh., Bischofsgang, in der Mittelachse des Doms (Hauke Horn, 2009)
FARBTAFELN | 4 DER DOM ZU ESSEN
Taf. 4.01 Westbau, Ansicht von Nordwesten, errichtet um 1000 oder 1050, Fassade und Turmhelme im 19. Jh. stark überarbeitet (Hauke Horn, 2012)
47
48
Taf. 4.02 Mittelschiff, Blick nach Westen, im Hintergrund der Westbau (Hauke Horn, 2012)
FARBTAFELN | 4 DER DOM ZU ESSEN
FARBTAFELN | 4 DER DOM ZU ESSEN
Taf. 4.03 Relation des Grundrisses Mitte des 14. Jh. zum Grundriss Mitte des 11. Jh. (Hauke Horn, 2012)
Taf. 4.04 Relation des Grundrisses Mitte des 11. Jh. zum Grundriss Mitte des 9. Jh. (Hauke Horn, 2012)
49
50
FARBTAFELN | 4 DER DOM ZU ESSEN
Taf. 4.05 Grundriss mit Kartierung der Fundamente (Zimmermann 1956, Taf. XIII)
Taf. 4.06 Synthetischer Pfeiler zwischen Langhaus und Westbau, Südseite, Blick von Nordosten, links die goti schen Teile, rechts die ottonischen (Hauke Horn, 2012)
Taf. 4.07 Synthetischer Pfeiler zwischen Langhaus und Westbau, Südseite, Blick von Südosten (Hauke Horn, 2012)
FARBTAFELN | 4 DER DOM ZU ESSEN
Taf. 4.08 Querschnitt durch das westliche Langhausjoch, Blick nach Westen, Bogen zwischen Langhaus und Westbau mit baulichen Befunden. Relation von basilikaler Mittelschiffdecke (grün) zu gotischem Gewölbe (rot) (Hauke Horn, 2012, auf Plangrundlage von Zimmermann 1956, Taf. III)
Taf. 4.10 Nordwestlicher Vierungspfeiler, Südseite (Hauke Horn, 2012)
51
Taf. 4.09 Figurenkapitell, 3. Viertel 12. Jh., Joch zwischen Vierung und Hallenchor, Nordwestecke (Hauke Horn, 2012)
52
FARBTAFELN | 4 DER DOM ZU ESSEN
oben: Taf. 4.11 Kapitelle des nördlichen Pfeilers am Übergang zum Hallenchor. Links: Figurenkapitell, 3. Viertel 12. Jh., Mitte und rechts: Blattkapitelle, um 1300 (Hauke Horn, 2012) unten: Taf. 4.12 Korinthisches Kapitell, Westbau, Mittelarkade, südliche Säule, um 1000 oder 1050 (Hauke Horn, 2012)
FARBTAFELN | 4 DER DOM ZU ESSEN
Taf. 4.13 Pfeiler, südlicher Nebenchor, südöstliche Ecke, um 1050 (Hauke Horn, 2012)
53
Taf. 4.14 Pfeiler in der äußeren Krypta, 1040er Jahre (Hauke Horn, 2012)
54
Taf. 4.15 Korinthisierende Säule, äußere Krypta, Nordwand, um 1050 (Hauke Horn, 2012)
FARBTAFELN | 4 DER DOM ZU ESSEN
FARBTAFELN | 4 DER DOM ZU ESSEN
Taf. 4.16 Korinthisierende Säule, äußere Krypta, Südwand, um 1050 (Hauke Horn, 2012)
55
56
FARBTAFELN | 4 DER DOM ZU ESSEN
Taf. 4.17 Memorialachse im Essener Münster des 14. Jh. (Hauke Horn, 2012)
57
2.3 DIE ERWEITERUNG DER DOMUS HELENAE
2.3.3 Die spätantike Bausubstanz
Die Wahrnehmbarkeit des unterschiedlichen Mauerwerks, welche dem heutigen Architekturhistoriker die Ar-
Besonders auffällig ist für den heutigen Besucher des
beit erheblich vereinfacht, war jedoch im 11. Jahrhundert
Trierer Doms die Integration alter Bausubstanz, denn das
ästhetisch nicht erwünscht, denn die Ergebnisse der Bau-
Langhaus besteht noch heute zu rund 4/7 aus dem spät
forschung weisen auf einen Verputz hin, der den Eindruck
antiken Mauerwerk des Quadratbaus, welcher die neun
eines optisch einheitlichen Baukörpers entstehen ließ.176
östlichen Joche umfasst.
An der steinsichtigen Nord-
Der einheitlichen neuen Baustruktur entsprach also eine
fassade lässt sich das spätantike Mauerwerk aufgrund
ästhetische Einheitlichkeit. Die heutige Steinsichtigkeit
der Unterschiede in Mauertechnik und Material pro
der Nordfassade des Doms resultiert hingegen aus den
blemlos vom mittelalterlichen unterscheiden. Der Qua-
Restaurierungsarbeiten unter Wilmowsky im 19. Jahr-
dratbau wurde in dem für das 4. Jahrhundert typischen
hundert, in deren Zuge bewusst eine Änderung der Fas-
opus listatum errichtet, bei dem horizontale Streifen aus
sadenästhetik herbeigeführt wurde, indem man den Putz
Ziegeln und Naturstein alternieren (Taf. 1.03).
Neben
entfernte.177 Auch die Erkennbarkeit der Mauerstruktur im
der markanten Streifenstruktur bildet die Farbe des roten
Innenraum, wo ein lasierender Schlämmputz aufgezogen
Sandsteins ein signifikantes Merkmal des spätantiken
wurde, stellt eine spätere ästhetische Entscheidung dar,
Mauerwerks.174
welche bei den Restaurierungsarbeiten im 20. Jahrhun-
172
173
Das romanische Mauerwerk besteht hingegen über-
dert getroffen wurde.178
wiegend aus gelb-grauen Kalksteinen, in das andere
Auch wenn die Unterscheidbarkeit zwischen römi-
Steinarten und -formate in willkürlicher Verteilung in-
scher und romanischer Mauerstruktur gestalterisch nicht
tegriert wurden, so dass ein unregelmäßiges, lebendiges
gewollt war, so ermöglicht heute ein Blick auf die Nord-
Muster entstand. Bemerkenswerterweise zeigt das Mau-
fassade den hohen Anteil römischer Gebäudestruktur
erwerk der 1040er Jahre dennoch eine Auseinanderset-
schnell zu erfassen. Für die Untersuchung der Architektur
zung mit der spätantiken Substanz, da man vereinzelte
des 11. Jahrhunderts muss zusätzlich berücksichtigt wer-
Ziegelstreifen aus wiederverwandtem römischen Mate-
den, dass sich die Außenwände zur Zeit Poppos noch ein
rial vermauerte. Abweichend vom Vorbild laufen diese
Geschoss höher erstreckten als heute und somit die früh-
weder über die gesamte Wandbreite noch wurden sie in
christliche Substanz in noch größerem Umfang erhalten
regelmäßigen Abständen ausgeführt, so dass das poppo-
war.179
nische Mauerwerk wie eine freie Variation des römischen
Angesichts des überwiegenden Anteils von spätanti-
opus listatum wirkt.175 Die Oculi und Rundbogenfriese der
kem Mauerwerk stellt sich die Frage, ob man in diesem
Treppentürme belegen mit ihrer regelmäßig alternieren-
Fall überhaupt von einer Integration alter Substanz spre-
den Folge von Ziegeln und Natursteinen die planmäßige
chen kann. Die Baukampagne Poppos muss treffender als
Verwendung des alten Materials (Abb. 1.13). Deutlich lässt
mittelalterliche Erweiterung des spätantiken Quadrat-
sich die Orientierung an spätantiker Mauerwerkstechnik
baus charakterisiert werden. Diese Sichtweise auf die kon-
auch an den Kreuzpfeilern und den mit ihnen korrespon-
struktive Seite der Erweiterung deckt sich zudem mit den
dierenden Wandpfeilern im Innenraum erkennen, bei de-
vorhergehenden Feststellungen hinsichtlich der Grund-
nen die Schichtenfolge von Natursteinblöcken und Ziegel-
rissgestaltung, die schließlich ebenso vom Bestand ausge-
reihen eindeutig die Struktur des opus listatum aufgreift
hend konzipiert wurde. Für die Interpretation der popponischen Kampagne
(Taf. 1.04), wenn auch die römische Maßgenauigkeit nicht erreicht wird.
172 Darin eingerechnet sind freilich Ausbesserungen, die später am spätantiken Mauerwerk vorgenommen wurden, denn diese dienten schließlich nicht der Veränderung, sondern dem Erhalt der alten Bausubstanz in der ursprünglichen Form. 173 Zum opus listatum: Hesberg 2005, S. 30 und Abb. 4. 174 Die unteren Natursteinstreifen der Mauer sind abweichend aus grün-grauem Kalkstein gefertigt, was auf zwei unterschiedliche Bauphasen schließen lässt, die jedoch beide in das 4. Jahrhundert datieren (Weber 2003, S. 431). 175 Kempf meint hingegen, dass die frühromanische Mauertechnik »vom spätantiken Quadratbau [...] trotz aller Verwandtschaft mit
als Erweiterung des Quadratbaus spricht auch die kons-
176 177 178 179
dem spätantiken Schichtmauerwerk nicht abzuleiten [sei]« (Kempf 1968, S. 7), ohne dies jedoch zu begründen. Stattdessen postuliert er einen »genialen Baumeister, der mit byzantinischer Bautechnik vertraut war« (Ebd.), welchen Poppo von seiner Reise nach Palästina mitgebracht haben soll, ohne einen Beleg zu nennen. Weber 1980, S. 142–145. Zink 1980a, S. 61f.; Wilmowsky 1874, S. 17. Böhm/Rosiny 1980, S. 444f. – Vgl. Bornheim gen. Schilling 1980, S. 474. Das obere Geschoss der Außenmauern wurde erst Anfang des 18. Jahrhunderts abgerissen (Kap. 2.1).
58
2 DER DOM UND DIE LIEBFRAUENKIRCHE ZU TRIER
1.13 Dom zu Trier, Kapitelle am nördlichen Treppenturm, 1. Geschoss, Mitte 11. Jh., das linke Kapitell augenscheinlich originalgetreu erneuert (Hauke Horn, 2009) truktive Struktur der neuen Bauteile, welche die beste-
2.3.4 Die Westfassade
hende Struktur nach Westen fortsetzt. So errichtete man das westliche Pfeilerpaar in Form und Maßen analog zu
In der Literatur zur mittelalterlichen Architektur beschrän-
den kreuzförmig ummantelten Säulen des spätantiken
ken sich die Darstellungen und Abhandlungen oftmals auf
Gebäudeteils als Kreuzpfeiler. Die östlich davon befindli-
die monumentale Westfassade des 11. Jahrhunderts, wel-
chen, T-förmigen Mauerstücke, also die ehemalige West-
che zumeist isoliert vom übrigen Baukörper behandelt wird
wand des Quadratbaus, ergänzte man im Westen mit einer
(vgl. Abb. 1.11).181 Angesichts der bisher erläuterten massi-
vierten Mauerzunge und konvertierte sie somit ebenfalls
ven Zusammenhänge zwischen popponischen Bauteilen
zu Kreuzpfeilern.
Auch beim Außenmauerwerk orien-
und der Tradition des Ortes erschiene es jedoch zumindest
tierte man sich an den vorhandenen Mauern des Quad-
merkwürdig, wenn die Westfassade als reine Schöpfung
ratbaus, welche man in gleicher Mauerstärke nach Westen
ihrer Zeit ohne jeglichen Bezug zum übrigen Baukörper
verlängerte.
konzipiert worden wäre. Der erwiesenermaßen einheitli-
180
che Bauvorgang spricht im Gegenteil für eine einheitliche Konzeption und wirft die Frage nach der Stellung der Westfassade im architektonischen Gesamtgefüge auf.182
180 Dies lässt sich an der unterschiedlichen Mauerwerkstechnik erkennen. Die erhaltene spätantike Substanz wurde in opus testaceum, also in reinem Ziegelmauerwerk ausgeführt. Die ergänzten Pfeiler zungen im Westen errichtete man hingegen in der romanischen Variante des opus listatum, in der auch die westlichen Kreuzpfeiler errichtet wurden, die sich eindeutig der popponischen Kampagne zuordnen lassen. 181 Z. B. Kaiser 1996, S. 44; Kubach/Verbeek 1976, Bd. 2, S. 1092f.
182 Sämtliche Fundamente der Westerweiterung stehen im Verband (Kempf 1968, S. 8); sie sind also einheitlich geplant und angelegt worden. Zudem belegen die dendrochronologischen Datierungen, dass in den 1040er Jahren sowohl an den Kreuzpfeilern als auch an der Westfassade gearbeitet wurde (Hollstein 1980, S. 125–129, 132). Beim Tod Poppos 1047 waren die Arbeiten bereits bis zur Höhe der zweiten Galerie fortgeschritten (Ebd.).
59
2.3 DIE ERWEITERUNG DER DOMUS HELENAE
Gestalterische Bezüge zu den Kaiserthermen und der Porta Nigra
Im 11. Jahrhundert war das untere Geschoss im Inneren
Zunächst lassen sich allgemeine Bezüge zur antiken Ar-
plastisch gegliedert, was sich besser mit dem römischen
chitektur erkennen.183 Die generelle Disposition der Fas-
Bau assoziieren lässt.184
hingegen durch sieben fensterhohe, rundbogige Nischen
sade lässt sich durchaus mit der noch heute aufrecht ste-
Auch die Lisenengliederung der westlichen Domfas-
henden Ostpartie der Trierer Kaiserthermen vergleichen
sade lässt sich mit antiken Bauvorstellungen nachvoll-
(Abb. 1.14). Im Zentrum beider Fassaden tritt eine halb-
ziehbar in Beziehung setzten. So ähneln die Pilaster der
kreisförmige Apsis plastisch aus dem Baukörper hervor,
unteren Geschosse von Türmen und Apsis in Aufbau und
während die Ecken von zwei zylindrischen Treppentür-
Gestalt auffällig denjenigen, die sich an den Schmalsei-
men besetzt werden, deren Geometrie mit der Apsis kor-
ten und im Innenhof der Trierer Porta Nigra befinden
respondiert. Auch die Gliederungen der Apsiden weisen
(Abb. 1.15, 1.16).185 In beiden Fällen werden die Pilaster von
gewisse Gemeinsamkeiten auf, denn sie sind beide in zwei
dorischen Kapitellen mit Halsring, hohem Echinus und
übereinanderliegende Hauptgeschosse aufgeteilt, in de-
Abakus gekrönt. Analog zum römischen Stadttor standen
nen große Rundbogenfenster sitzen. Im Gegensatz zu den
die Pilaster des Untergeschosses im 11. Jahrhundert nicht
Thermen befinden sich im unteren Geschoss der Domap-
wie heute fast auf dem Boden, sondern auf einem ca.
sis jedoch keine Fenster, was sich unter anderem mit der
70–80 Zentimeter hohen, kräftigen Sockel, der Apsis und
unterschiedlichen Nutzung im Inneren erklären lässt.
Türme umfasste.186
1.14 Trier, Kaiserthermen, um 300, Ansicht der teilrekonstruierten Ruine des Caldariums von Südosten (Goethert 2003, S. 126)
183 Bezüge zur Antike erkannte bereits: Ronig 1990. 184 Irsch, S. 90, Fig. 48, 49. 185 Grundlegendes zur Porta Nigra: Gose 1969; Lückger/Bunjes 1938, S. 463–491. 186 Bei den Grabungen auf dem Domfreihof unter Winfried Weber
1992–1995 wurde nachgewiesen, dass das Niveau des Platzes, der im 11. Jahrhundert anstelle der Nordwestbasilika angelegt wurde, 50–60 Zentimeter unter dem heutigen lag (Weber 1996, S. 122). Den unteren Abschluss an Apsis und Treppentürmen bildeten kräftige Sockel, die heute weitgehend im Boden liegen.
60
2 DER DOM UND DIE LIEBFRAUENKIRCHE ZU TRIER
1.15 Trier, Porta Nigra, Pilaster an der Schmalseite zum Simeonstift hin (Hauke Horn, 2009)
1.16 Dom zu Trier, Pilaster an der Westapsis, in Höhe des Erdge schosses (Hauke Horn, 2009)
Der Vergleich mit der Porta Nigra geht aber über for-
castrum oder antiquum castrum190 weisen darauf hin, dass
male Gemeinsamkeiten hinaus, denn der Initiator der
dieses Bauwerk für die Überreste einer römischen Burg ge-
Domerweiterung, Erzbischof Poppo, veranlasste auch die
halten wurde, womit es nicht schwer fallen würde, einen
Konvertierung des ehemaligen Stadttores zur Stiftskirche
herrschaftlichen Bezug, vielleicht sogar zum konstantini-
Sankt Simeon, deren Altar 1042, als die Arbeiten am Dom
schen Kaiserhaus, zu konstruieren, zumal die monumen-
im vollen Gange waren, geweiht wurde. Schließlich ließ er
tale Apsis der Thermen dem vom christlichen Sakralbau
sich auch dort bei den Gebeinen seines heiliggesproche-
geprägten Menschen des Mittelalters ohnehin als beson-
nen Freundes Simeon begraben.
dere Würdeform erscheinen musste.
187
In diesen Kontext ge-
hören auch Münzen mit Darstellungen der Porta Nigra, die unter Poppo um 1035 geprägt wurden.188
Gestalterische Bezüge zum Quadratbau
Es wäre gut möglich, dass sich ebenso die Bezüge zu
Die korinthische Ordnung der Pilaster des zweiten Ge-
den Kaiserthermen nicht auf Formales beschränkten. Das
schosses (vgl. Abb. 1.13) findet hingegen keine Entspre-
Wissen um die ursprünglichen Funktionen antiker Ge-
chung an der Porta Nigra. Allerdings lassen sich Ähn-
bäude war im Mittelalter bekanntlich vielfach verloren. So
lichkeiten zu noch näher liegenden Vorbildern erkennen,
hielt beispielsweise Abt Suger von Saint-Denis Mitte des
nämlich zu den stattlichen Kapitellen der spätantiken
12. Jahrhunderts die Diocletians-Thermen in Rom für den
Wandpfeiler des Quadratbaus, die an vier Stellen der heu-
Palast eben jenes römischen Kaisers.189 Die mittelalter-
tigen Mittelschiffwand sichtbar erhalten blieben (Taf. 1.05,
lichen Bezeichnungen der Trierer Kaiserthermen als vetus
1.06).191
187 Bönnen 1996, S. 225 (mit weiterführender Literatur in Anm. 45). 188 Clemens 1996, S. 198f.
189 Suger, De con. 20 (ed. Binding/Speer, S. 210). 190 Clemens 1996, S. 178.
61
2.3 DIE ERWEITERUNG DER DOMUS HELENAE
Bei beiden Kapitellgruppen treten dicke, fleischige
Variante der aus der römischen Architektur bekannten Su-
Abweichend
perposition der Ordnungen. Es handelt sich jedoch nicht
von einem sog. korinthischen Normalkapitell193 wurde
um eine rein formale Kopie eines römischen Gestaltungs-
bei den Kapitellen des Quadratbaus auf die Stengel (cau-
prinzips, sondern um dessen reflektierte Anpassung an
lis) verzichtet, die Abakusblüten zu Blöcken, die mit der
die Bauaufgabe. Über dem korinthisierenden Geschoss
Abakusplatte verschmelzen, vereinfacht und die Stütz-
folgt an den Ecktürmen nämlich entgegen dem antiken
stengel durch Zungen ersetzt, so dass eine zusätzliche
Verständnis erneut eine dorische Ordnung. Während vom
Zungenreihe oberhalb der Hochreihe entstand. Genau
ersten zum zweiten Geschoss die Formen gesteigert wer-
diese Verfremdungen des sog. korinthischen Normalkapi-
den, folgt im dritten stattdessen eine niedrigere Ordnung.
tells charakterisieren auch die Kapitelle der Westfassade,
Was vermeintlich als Unstimmigkeit erscheint, legt man
bei denen zusätzlich die Kranzreihe weggelassen wurde.
antike Maßstäbe zugrunde, erklärt sich jedoch im archi-
Die korinthisierenden Kapitelle des 11. Jahrhunderts ko-
tektonischen Gesamtkontext.
Zungen an die Stelle der Akanthusblätter.
192
pieren die Kapitelle des Quadratbaus jedoch nicht getreu,
Die beiden ersten Geschosse gliedern nämlich die ge-
sondern zeichnen sich durch eine weitergehende Verein-
samte Westfassade in der Horizontalen und schließen da-
fachung und Verblockung der spätantiken Vorbilder aus.
bei die Westapsis ein, also den funktional bedeutsamsten Teil der Fassade, der den Westchor beherbergt und dies
Die Adaption antiker Ordnungskonzepte
durch seine hervortretende Kurvatur auch nach außen
Die Proportionen der Pilaster an der westlichen Dompar-
zu erkennen gibt. Das dritte Geschoss mit der wiederkeh-
tie weichen ebenfalls von antiken Vorstellungen ab; sie
renden dorischen Ordnung beschränkt sich hingegen auf
wirken im Vergleich überlängt (vgl. Abb. 1.11). Für das Ver-
die Ecktürme, welche die Apsis in der Höhe übertreffen.
ständnis mittelalterlicher Proportionsvorstellungen ist die
Zwar verfügt auch die Apsis über ein drittes Geschoss,
Beobachtung wichtig, dass bei gleicher Höhe die Pilaster
doch liegt dieses oberhalb der Apsiskalotte und weist so-
der Ecktürme noch schmaler als diejenigen der Apsis aus-
mit keinen Bezug zum Innenraum auf. Konsequenter-
geführt wurden. Demnach gab es für den Entwerfer der
weise wurde dieses Geschoss niedriger angelegt und auf
Fassade keine festen Proportionen, nach denen die Pilas-
nobilitierende Fassadenelemente gänzlich verzichtet. Die
ter wie in der Antike hätten dimensioniert werden müssen.
durchgehende Geschossgliederung der Treppentürme
Vielmehr wurden die Proportionen der Pilaster offensicht-
entspricht hingegen der Funktion der vertikalen Erschlie-
lich mit den Mauerfeldern dazwischen abgestimmt. Den
ßungselemente. Zugleich wahrte man die Einheitlichkeit
breiteren Feldern der Apsis entsprechen breitere Pilaster,
der runden Baukörper, welche die Fassade seitlich fassen.
den schmaleren der Türme hingegen schmalere Pilaster.
Hätte man allerdings bei den Türmen eine durchgehende
Die gesamte Gliederung scheint wiederum auf die Pro-
Steigerung der Formen verwirklicht, so wären die oberen
portionen der jeweiligen Baukörper abgestimmt worden
Turmgeschosse mit einer höheren Ordnung versehen wor-
zu sein. Während die schlanken Türme mit schlanken Pi-
den als diejenigen der Apsis. Dies hätte aber die Hierar-
lastern und schmalen Zwischenfeldern versehen wurden,
chie der Gebäudeteile konterkariert.
ordnete man der breiteren Apsis auch breitere Pilaster und
Die Säulen der Galerien, welche sich zwischen der
weitere Zwischenfelder zu, so dass auf diese Weise bereits
Apsis und den Ecktürmen befinden, subsumierte man
eine gewisse Wertigkeit zum Ausdruck kommt, indem die
ebenso diesem fassadenübergreifenden Ordnungskonzept
liturgisch bedeutende Apsis gegenüber den nachgeordne-
(Abb. 1.17). Die untere Galerie liegt, wie an den kräftigen,
ten Treppentürmen hervorgehoben wird.
die horizontale Geschosseinteilung betonenden Gesimsen
Auch die Systematik der Pilasterordnungen zeigt eine
leicht zu erkennen ist, auf der Höhe des korinthisieren-
bewusste Auseinandersetzung mit antiken Bauprinzipien.
den Apsisgeschosses. Den dortigen Säulen ordnete man
Auf die dorische Ordnung des Untergeschosses folgt eine
vereinfachte Kompositkapitelle zu. Die darüber liegende
korinthische am Geschoss darüber, also eine vereinfachte
zweite Galerie befindet sich hingegen auf der Höhe des
191 Im 13. Jahrhundert, als man im Zuge der Einwölbung des Doms die Arkadenbögen tieferlegte, mauerte man die Kapitelle an den Stirnseiten ein, so dass die spätantiken Wandpfeiler heute als Pilaster erscheinen. (Zur Einwölbung im 13. Jahrhundert: Zink 1980a, S. 50–52; Irsch 1931, S. 131–137; Analyse der Einwölbung in Bezug auf die Tradition des Ortes: Kap. 2.4.2.)
192 Ursprünglich waren die Quadratbaukapitelle mittels Stuck feiner detailliert, so dass die Zungen wohl als Akanthusblätter in Erscheinung traten (Weber 2003, S. 432). 193 Schmidt-Colinet/Plattner 2004, S. 50f.; Heilmeyer 1970.
62
2 DER DOM UND DIE LIEBFRAUENKIRCHE ZU TRIER
dritten Turmgeschosses. Als Pendant zu den dorischen Pilastern wählte man dort Würfelkapitelle. Der differenzierte Umgang mit der antiken Säulenordnung zielt demnach auf eine architektonische Betonung der Fassadenteile gemäß ihrer Bedeutung im Gesamtkontext ab, welche wiederum die innere Hierarchie spiegelt, die sich aus der räumlichen Nutzung herleitet. Die Systematik antiker Ordnungen und Proportionsvorstellungen wurde somit nicht ohne Verständnis kopiert, sondern reflektiert an die Anforderungen der Bauaufgabe angepasst. Die antiken Bauprinzipien wurden dem Gebäude untergeordnet und nicht andersherum, was die Prioritäten bei der Gestaltung des Doms klar erkennbar werden lässt. Dennoch bleibt die Orientierung an antiker Architektur deutlich erkennbar.
Das Motiv übereinandergestellter Bögen Angesichts der Tatsache, dass der Dom selbst in spätantiker Zeit gegründet wurde, stellt sich die Frage, ob die Westfassade nicht zumindest teilweise auch direkt auf die erhaltenen antiken Teile des Doms rekurriert. Hier stellen sich der Forschung zwei Probleme. Zum einen ist die ehemalige Westwand des Quadratbaus nur bedingt mit der romanischen Westfassade vergleichbar, da es sich schließlich nicht um eine Außenfassade handelte, sondern um eine innere Raumgrenze, die den Übergang von der Nordostbasilika zum Quadratbau markierte. Dennoch lassen sich Übereinstimmungen feststellen. Zwei übereinanderliegende Bögen gestalten die beiden Wandflächen
1.17 Dom zu Trier, Westfassade, südlicher Eingang mit Galerie (Hauke Horn, 2009)
seitlich der romanischen Apsis (vgl. Abb. 1.17). Der untere
sich demzufolge durchaus mit der ehemaligen Westwand
Bogen höhlt das Mauerwerk aus und schafft damit eine
des frühchristlichen Gebäudeteils in Beziehung setzen.
große Nische, welche die Eingangssituation monumental überhöht. Darüber befinden sich zwei Galeriegeschosse,
Die flankierenden Treppentürme
die von einem zweiten großen Bogen überfangen werden.
Das zweite Problem stellt indes das kaum vorhandene
Dieses Motiv zweier übereinanderliegender Bögen gliederte
Wissen über die vormalige Gestalt des Quadratbaus ober-
auch die Flächen der vormaligen Quadratbauwestwand zu
halb des zweiten Fenstergeschosses dar, so dass der Zu-
den Seitenschiffen der Basilika hin.194 Im Mittelschiff hin-
stand des Gebäudeteils vor der popponischen Kampagne
gegen öffnete ein monumentaler Bogen die Wand beinahe
nicht mit ausreichender Sicherheit rekonstruiert werden
in der ganzen Höhe des Raumes. Diesem entspricht an der
kann. Allein die Existenz von zwei rechteckigen Treppen-
romanischen Westfassade die Apsis, deren Proportionen
türmen, welche seit dem 4. Jahrhundert die westlichen
mit jenem römischen Bogen übereinstimmen. Im Innen-
Ecken des Quadratbaus flankierten, gilt aufgrund des
raum fällt dieser Bezug umso deutlicher aus, weil die roma-
archäologischen Befundes als gesichert.195 Die spätanti-
nische Westapsis von einem monumentalen Triumphbo-
ken Türme müssen Ende des 10. Jahrhunderts noch ge-
gen überspannt wird, welcher das Motiv des Quadratbaus
standen haben, denn die östliche Wand des Nordturmes
spiegelt. Die Disposition der romanischen Westpartie lässt
fungierte als Westwand einer unter Erzbischof Egbert
194 Zur ehemaligen Westwand des Quadratbaus: Zink 1980a, S. 26. 195 Heute liegen die Grundmauern des nördlichen Treppenturmes
durch die von Wilmowsky veranlasste Anlage des Domgrabens an der Nordwand offen sichtbar. Die Errichtung des Nordturmes kann
63
2.3 DIE ERWEITERUNG DER DOMUS HELENAE
erbauten Doppelkapelle, die erst 1792 abgerissen wurde,
zuvor schließlich auch zu Veränderungen gekommen sein
wobei man die römischen Treppen zur Erschließung der
könnte, indem man Türme später hinzufügte.
Doppelkapelle nutzte.196
Während die älteste Rekonstruktion von Wilmowsky
Die Parallele zum frühromanischen Westabschluss
überhaupt keinen Turm aufweist, tendierte die Literatur
ist hier unverkennbar. Das Motiv flankierender Treppen-
im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zu fünf Türmen,198
türme am frühromanischen Westabschluss kann dem-
einem mittleren und einem über jedem Eckjoch. Zwar
nach mit der Gestalt des Quadratbaus zu Beginn der West
wurden die älteren Rekonstruktionen nach dem Zwei-
erweiterung zusammengebracht werden. Die motivische
ten Weltkrieg aufgrund der neuen Grabungsbefunde im
Übernahme wurde aber nicht als formale Kopie verwirk-
Ganzen obsolet, doch trat Kempf weiterhin vehement
licht, sondern als Variation, da man sich für runde statt für
für eine Fünf-Türme-Rekonstruktion ein.199 Zink wertete
viereckige Grundrisse entschied. Dies lässt sich aus den
die jeweiligen Vorschläge sachlich aus und resümierte
anderweitigen ästhetischen Anforderungen an die roma-
schließlich, dass eine Rekonstruktion der Dachlandschaft
nische Westfassade erklären, bei der die Treppentürme in
des frühchristlichen Baus aufgrund fehlender Befunde
Bezug zur halbrunden Apsis gesetzt werden sollten. Über
letztlich spekulativ sei.200 Auch hinsichtlich des 6. Jahr-
die geometrische Form harmonisierte man die drei Bau-
hunderts hielt Zink fest, dass es keine Befunde gibt, die
teile, die man obendrein mit einer übergreifenden, einheit-
eine Rekonstruktion von Türmen oberhalb der Joche be-
lichen Pilasterordnung gliederte, so dass sie einen gestalte-
legen.201 Allerdings hält Zink zwei Osttürme Anfang des
rischen Dreiklang bilden und im Wechsel mit den beiden
11. Jahrhunderts für »wahrscheinlich«.202 Die popponi-
geraden Wandflächen die Fassade rhythmisch gliedern.197
schen Westtürme wären in diesem Fall als Pendant zu den bestehenden Osttürmen zu verstehen.203 Wenn jedoch im
Die Westtürme
11. Jahrhundert derartige Osttürme über dem Quadratbau
Die Erkenntnisse bezüglich der Treppentürme führt zu
existierten, so stellt sich die Frage, wann diese verschwan-
der Frage, ob nicht auch die beiden massiven Westtürme,
den und warum dies geschehen sein soll. Die jüngste Re-
welche sich imposant über den Seitenschiffjochen erhe-
konstruktion stammt von Weber, der für die frühchristli-
ben, mit der tradierten Architektur des Quadratbaus in
che Zeit lediglich einen Mittelturm über dem zentralen
Zusammenhang gebracht werden könnten. Aufgrund der
Joch vorschlägt.204
unzureichenden Befundlage existieren jedoch zahlreiche
Für die Analyse konkreter Bezüge zwischen den West-
Rekonstruktionsvorschläge, die sich auf die Frage zuspit-
türmen des Doms und dem Quadratbau ergibt sich dem-
zen lassen, ob der Quadratbau über Turmaufbauten ver-
nach folgendes Dilemma: Auf der einen Seite böten die
fügte und wenn ja, über wie viele.
Rekonstruktionsvorschläge wunderbare Anknüpfungs-
Erschwerend kommt hinzu, dass der Quadratbau zu
punkte, um die frühromanischen Westtürme, welche das
Beginn des 11. Jahrhunderts bereits ca. 600 Jahre lang
Aussehen des Doms von Westen stark prägen, mit der Tra-
existierte, sich die Rekonstruktionen aber auf bestimmte,
dition des Ortes in Verbindung zu setzen. Auf der anderen
teils unterschiedliche Zeitpunkte beziehen, obwohl über
Seite sind die Rekonstruktionen allesamt hypothetisch bis
das Aussehen der Dachlandschaft für den gesamten Zeit-
spekulativ, so dass eine seriöse Aussage hinsichtlich di-
raum Unklarheit besteht. Entscheidend für die Untersu-
rekter Bezüge zu diesem Zeitpunkt nicht getroffen werden
chung der popponischen Baukampagne wäre aber das
kann. Vielleicht helfen künftige Forschungen, die Frage
Aussehen im frühen 11. Jahrhundert, da es im Zeitraum
auf Basis belastbarer Indizien zu beantworten.
196 197 198
199
sicher ins 4. Jahrhundert datiert werden, weil er ab einer Höhe von ca. 6 Metern in festem Verband mit den entsprechend datierten Außenmauern stand (Zink 1980a, S. 25; Irsch 1931, S. 70). Kempf 1975, S.11f. und Abb. 7. – Zum Abriss der Kapelle: Irsch 1931, S. 182 (die diesbezügliche Seitenangabe bei Kempf ist falsch). Vgl. Kemp 2002. Zusammenfassungen der älteren Positionen von Wilmowsky, Kutzbach, Oelmann, Krencker und Irsch finden sich mit Literaturangaben und Abbildungen bei: Zink 1980a, S. 27f., Abb. 53; Irsch 1931, S. 71, Abb. 32, 36, 37. Kempf postuliert Turmaufbauten für die spätantike, merowingische und salische Zeit und behauptet, seine Rekonstruktionen seien durch Befunde gesichert, ohne diese jedoch zu belegen und nachprüfbar zu machen (Ders. 1968, Abb. 6, 7, 9). Zudem verstrickt
er sich in Widersprüche. Da eine intensive Diskussion mit der Argumentation Kempfs den Rahmen dieser Arbeit allerdings sprengen würde, sei diesbezüglich auf die begründete Kritik von Zink verwiesen (Zink 1980a, S. 28, 36). 200 Zink 1980a, S. 27f. 201 Ebd., S. 31, 43. 202 Ebd., S. 46, Begründung S. 36. 203 Ebd., S. 46. 204 Weber begreift den vorgeschlagenen Mittelturm als begründete Möglichkeit und nicht als gesicherte Tatsache (Weber 2003, S. 432). Das aktuelle Modell der frühchristlichen Kirchenanlage im Bischöflichen Dom- und Diözesanmuseum Trier wurde gemäß diesem Vorschlag gefertigt (Modellfoto z. B. bei Demandt/Engemann 2007, S. 255; Weber 2003, Abb. 17).
64
2 DER DOM UND DIE LIEBFRAUENKIRCHE ZU TRIER
2.4 Die Inszenierung der domus Helenae – Die Transformation des Doms in eine kreuzgewölbte Pseudobasilika im 12. und 13. Jahrhundert 2.4.1 Der Anbau des Ostchores
wölbeformen als »spätestromanisch«,210 die eine Rückständigkeit gegenüber zeitgleichen gotischen Bauwerken im-
Um 1160 begann unter Bischof Hillin die Transformation
pliziert, einer entsprechenden Würdigung im Wege.
des Trierer Doms in eine pseudobasilikale Doppelchoran-
Im Vergleich zur großen Baukampagne unter Poppo
lage, die sich der Disposition anderer bedeutender Dom-
in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts fand die Tradi-
kirchen im Kaiserreich, wie Mainz, Köln oder Bamberg,
tion des Ortes beim stauferzeitlichen Umbau auf den ers-
annäherte. Zunächst erweiterte man die Kirche nach
ten Blick weniger Beachtung. Während die popponischen
Osten, wo eine polygonale Apsis mit Chorjoch und Flan-
Maßnahmen eindeutig als Erweiterung des Quadratbaus
kentürmen an die spätantike Ostwand angebaut wurde
aufgefasst werden müssen, zielte die Transformation des
(vgl. Abb. 1.01).205 Auf diese Weise entstand im Inneren ein
Doms zwischen 1160 und 1225 eher auf eine Annäherung
räumliches Pendant zur bestehenden Westapsis, das sich
an etablierte Dispositionen anderer Bischofskirchen ab.
jedoch aufgrund des Chorjoches deutlicher von der übri-
Mit den neuen Ostteilen überschritt man erstmals die
gen Struktur absetzt, wodurch der östliche Chorbereich gegenüber dem westlichen hervorgehoben wird. Auch von
1.18 Dom zu Trier, Mittelschiff, Blick nach Westen (Ronig 1982, S. 43)
außen bilden die Ostteile mittels der Chorflankentürme seither ein erkennbares Gegengewicht zur Westpartie.206 Im Anschluss an die Arbeiten am Ostchor, für den eine Altarweihe 1196 überliefert ist,207 setzte man die Umgestaltung des Doms im umfunktionierten Quadratbau und seinen popponischen Erweiterungsjochen fort, die mittels neuer Kreuzrippengewölbe zu einem pseudobasilikalen Langhaus transformiert wurden (Abb. 1.18, 1.19).208 So setzte man die neuen Gewölbe der Seitenschiffe unterhalb der oberen Fensterreihe an und verringerte deren Höhe auf diese Weise erheblich. Zudem legte man die Mittelschiffarkaden tiefer und schuf eine einheitliche Scheitelhöhe, so dass die mittleren Joche räumlich stärker von den seitlichen geschieden wurden und ein auf die Chöre gerichteter Längsraum entstand, dem neuangelegte Zweier- und Dreierarkaden in der Mittelschiffwand eine basilikale Wirkung verliehen (Abb. 1.20). Da sich die oberen Arkaden jedoch zu dem Raum oberhalb der Seitenschiffgewölbe öffneten, muss von einer pseudobasilikalen Anlage gesprochen werden.209 Die Kreuzrippen der Mittelschiffgewölbe gehören mit 17 Metern Spannweite zu den großen bautechnischen Leistungen der Zeit, was von der Forschung bisher nicht angemessen beachtet wurde. Wahrscheinlich stand die stilistische Einordnung der Ge205 Zum spätromanischen Ostchor: Zink 1980a, S. 46–49. 206 Der Bau der spätromanischen Chorflankentürme im Osten liefert ein Argument gegen die These von Osttürmen über dem Quadratbau im 11. Jahrhundert (vgl. Kap. 2.3.4). Warum sollte man zwei neue Türme aufbauen, wenn unmittelbar daneben bereits Türme bestehen, und diese in der Folge auch noch abreißen, wie Kempf es annimmt (Ders. 1968, S. 15)? Zink sieht für Osttürme im 11. Jahrhundert bauforscherische Indizien vorhanden, klammert jedoch
207 208 209 210
das Problem, wann und warum diese verschwunden sein sollen, aus (Zink 1980a, S. 36, 46, Anm. 248f.). Gest. Trev., Kap. CII (ed. Zenz, Bd. III, S. 42). Zur Einwölbung Anfang des 13. Jahrhunderts: Zink 1980a, S. 50–52. – Nach derzeitigem Kenntnisstand werden die Wölbungsarbeiten hauptsächlich in die 1210er Jahre datiert. Die heutige Empore wurde erst im 18. Jahrhundert angelegt (Kap. 2.1). Z. B. Irsch 1931, S. 131.
65
2.4 DIE INSZENIERUNG DER DOMUS HELENAE – DIE TRANSFORMATION DES DOMS
1.19 Dom zu Trier, Mittelschiff, Blick nach Osten (Ronig 1982, S. 42) Raumgrenzen der frühchristlichen Kirchenanlage. Zu-
2.4.2 Die Einwölbung des Langhauses
sammenhänge mit der Tradition des Ortes beschränken sich insofern auf die Abstimmung der Proportionen mit
Das Bild übereinandergestellter Tragsysteme
der bestehenden Anlage, denn die Breite des neuen Cho-
Bis zum Ende des 12. Jahrhunderts definierte noch immer
res leitet sich natürlich aus der vorgegebenen Breite der
die Kapitellzone des Quadratbaus, wie sie im 6. Jahrhun-
mittleren Quadratbaujoche ab (vgl. Abb. 1.02). Direkte ma-
dert wiederhergestellt wurde,211 die Höhe für die Bogen-
terielle oder räumliche Anknüpfungspunkte waren östlich
ansätze (vgl. Abb. 1.20). Obgleich die Kapitelle der vier
des Quadratbaus jedoch nicht gegeben. Bei der Umgestal-
Monumentalsäulen im Zuge der kreuzförmigen Ummaue-
tung des neuen Langhauses, also des Quadratbaus und der
rung den Blicken entzogen wurden, blieb die alte Kapitell
westlichen Erweiterungsjoche, kam es hingegen zwangs-
zone durch die Pfeilerkapitelle an den ehemaligen In-
läufig zur Auseinandersetzung mit der Tradition des Ortes.
nenwänden des Quadratbaus erkennbar (Taf. 1.05, 1.06).
Obgleich die Umwandlung in eine Pseudobasilika auf eine
Demgegenüber setzen die Fußpunkte der neuen Kreuz-
massive Veränderung der räumlichen Wirkung des alten
rippengewölbe rund drei Meter oberhalb der spätantiken
Gebäudeteils abzielte, wurde die Tradition des Ortes aber
Kapitellzone an. Die Differenz überbrückte man mit
keineswegs ignoriert, sondern geradezu dialektisch insze-
schlanken Säulen aus grauem Naturstein, welche die Rip-
niert, wie im folgenden Kapitel aufgezeigt wird.
pen aufnehmen. Während Säulen und Rippen aufgrund
211 Kap. 2.2.2.
66
2 DER DOM UND DIE LIEBFRAUENKIRCHE ZU TRIER
1.20 Dom zu Trier, Längsschnitt durchs Mittelschiff, Blick nach Norden, Zustand nach Umbau der 1220er Jahre (Irsch 1931, S. 133)
des Materials, der Farbe und der Formensprache als Teile
hinzugefügt wurde. Das Ganze wirkt, als hätte man ein
desselben Tragsystems erkennbar sind, kontrastieren sie
feingliedriges Gerippe auf einen massiven Sockel gestellt,
in gleicher Hinsicht deutlich mit den wuchtigen Pfeilern
wie ein neuer Deckel auf einem alten Behältnis.
(vgl. Abb. 1.18, 1.19).
Die beiden tragkonstruktiven Subsysteme verweisen
Diejenigen Säulen, welche die Kreuzrippen aufneh-
insofern auf unterschiedliche Zeitschichten, deren archi-
men, stehen zumeist auf Sockelplatten, die auf die Kreuz-
tektonische Spuren sich horizontal überlagern. Auf diese
pfeiler aufgesetzt wurden, so dass die neuen Stützelemente
Weise bleibt einerseits das Niveau der ursprünglichen
erkennbar auf den alten stehen (Taf. 1.07).212 Die Schäfte
Kapitellzone nachvollziehbar, andererseits lässt sich an-
der Vorlagen, welche die Bandrippen der Gurte aufneh-
hand der Säulen erkennen, wie hoch die Fußpunkte der
men, erheben sich dagegen zum Mittelschiff hin auf Kon-
neuen Gewölbe angehoben wurden. Des Weiteren kon-
solen, die in der architektonischen Systematik den Platz
turieren sich Alt und Neu aufgrund der ästhetischen Di-
der Basen einnehmen, so dass diese Schäfte auf dem glei-
alektik wechselseitig. Das Alter der Pfeiler- und Mau-
chen Höhenniveau wie die Schäfte der kreuzrippentragen-
erwerksstruktur wird durch die neue, zeitgenössische
den Säulen beginnen. Die in situ belassenen spätantiken
Formensprache der Säulen und Rippen hervorgehoben,
Pfeilerkapitelle erinnern daran, dass sich dieses Niveau
während das neue Tragwerk erst durch die alte Struktur
mit der ursprünglichen Kapitellzone deckt (Taf. 1.06).
als nachträglicher Eingriff erkennbar wird. Trotz der Mo-
Durch diese Gestaltung der neuen Tragstruktur bleibt
dernisierung des Kirchenraumes mit aktuellen architekto-
der nachträgliche Umbau der Gewölbezone klar nach-
nischen Mitteln bleibt die Tradition des Ortes somit ein
vollziehbar. Während der ästhetische Kontrast die Säulen
integraler Bestandteil der Struktur und dies sollte dem Be-
und Dienste deutlich von den Kreuzpfeilern absetzt und
trachter offenbar auch deutlich vor Augen geführt werden.
dadurch zwei Subsysteme der Tragstruktur visuell unter-
Nun könnte der Einwand erhoben werden, die Ge-
scheidbar macht, signalisiert die Tektonik des Überein-
stalt der Tragstruktur ergäbe sich allein aus statischen
anderstellens, dass das obere Tragsystem nachträglich
und konstruktiven Erwägungen, was eine weitergehende
212 An den Stellen, wo die alte Pfeilersubstanz nicht genug Platz bot, montierte man kugelsegmentförmige Konsolen, welche die Sockel
platten, auf denen die Basen der Säulen aufsetzen, zusätzlich stützen.
2.4 DIE INSZENIERUNG DER DOMUS HELENAE – DIE TRANSFORMATION DES DOMS
67
semantische Interpretation in Zweifel zöge. Dem kann
Wirkung des neuen Tragsystems genau planten, denn sie
jedoch erwidert werden, dass das Bild der architektoni-
unterschieden zwischen Teilen, die eindeutig als »neu«
schen Struktur nur zum Teil statischen Prinzipien folgt,
erkennbar sind, und Teilen, welche die alte Struktur imi-
aber nicht die tatsächliche Lastabtragung widerspiegelt.
tierend fortführen. Insofern handelt es sich bei der ästhe
Die neuen Säulen wirken zwar statisch mit, die Haupt-
tischen Dialektik von Alt und Neu um eine raffinierte Ins
last der neuen Gewölbe wird allerdings weiterhin von den
zenierung, zu deren Zweck einige neue Kompartimente
Kreuzpfeilern geschultert. Über den Gurtrippen laufen
bewusst in alter Form gestaltet wurden.
tragende Gurtbögen, deren Querschnitt den jeweiligen
Allerdings führte man die Aufmauerung im Detail
Pfeilerzungen entspricht. Die Abmessungen der Gurtrip-
derart aus, dass auf den zweiten Blick die ursprüngliche
pen verhalten sich damit zu den Bögen wie diejenigen
Pfeilerhöhe erkennbar blieb, denn die neuen Pfeilerstücke
der kleinen Säulen zu den massigen Pfeilern, was die tat-
verschmälern sich leicht gegenüber dem Bestand. Schräge
sächliche Lastverteilung widerspiegelt. Zwar nehmen die
Werksteine, die sich kaum zufällig exakt auf dem Niveau
neuen Säulen die Kreuzrippen auf, doch wird der Haupt-
der Basen der neuen Säulen befinden, leiten zum schma-
teil der Last über die Bögen an die Pfeiler weitergeleitet.
leren Part über.214
In Ergänzung dessen nehmen auch die Mittelschiffwände Lasten der aufliegenden Gewölbekappen auf, was durch
Die Umgestaltung der Arkadenwände
den Verzicht auf Schildrippen allerdings nicht visualisiert
Auch die Arkadenwände wurden im Zuge der neuen Ein-
wurde. Der tatsächliche Kräfteverlauf entspricht damit
wölbung grundlegend überarbeitet. Die ehemals oberhalb
wie in anderen Kirchenbauten der Zeit, etwa dem Magde-
der alten Kapitellzone ansetzenden Bögen, deren Scheitel-
burger Dom,
nicht dem Bild, welches die architektoni-
höhe in Abhängigkeit der Jochbreite alternierte, wurden
sche Struktur vom Kräfteverlauf vermittelt. Andererseits
ein Stück tiefer gelegt und mittels der Verwendung von
handelt es sich bei den Säulen aber keinesfalls um reine
Spitzbögen in den schmalen Jochen mit gleicher Scheitel-
Zier- oder Gliederungselemente, denn sie stehen untrenn-
höhe neu konstruiert (vgl. Abb. 1.18–1.20).215 Die Wandflä-
bar im Zusammenhang mit einer architektonischen Sys-
chen darüber öffnete man mit abwechselnden Zweier- und
tematik. Das bedeutet, dass zwischen dem Bild, welches
Dreierarkaden zu den Seitenschiffen,216 die sich motivisch
die Struktur von der Lastabtragung vermittelt, und der tat-
aus der vorherigen Innenraumgestalt ableiten lassen (vgl.
sächlichen Lastabtragung differenziert wurde, ohne dass
Abb. 1.12).217 Ästhetisch stimmte man die Arkaden mit
beides klar voneinander zu trennen wäre.
dem Gewölbe ab: zum einen mittels des gleichen Materi-
213
als, des grauen Werksteins, zum anderen mittels der tek-
Die Fortführung der alten Tragstruktur
tonischen Struktur, der Unterfangung mit jeweils einer
Um die Hauptlast der neuen Gewölbe aufzunehmen, wa-
breiten Bandrippe, wie sie auch bei den Gurtbögen zum
ren daher auch umfangreiche Arbeiten von Nöten, die
Tragen kam. Die Zweier- und Dreierarkaden bilden dazu
über die erkennbar neue Tragstruktur hinausgehen. So
einen deutlichen Kontrast, indem die Mauermassen in
wurden die Kreuzpfeiler, um die Last sowie den Schub der
eine Vielzahl von Profilierungen und Vorlagen kleinteilig
Gurtbögen aufzunehmen, bis zu deren Fußpunkten aufge-
aufgelöst wurde. Diese Gestaltung orientiert sich wiede-
mauert, indem man die alten Pfeiler strukturell und op-
rum an der Formensprache des neuen Ostchores aus der
tisch fortsetzte (Taf. 1.06, 1.07). Das bedeutet also, dass die
zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, welcher auf diese
Baumeister Anfang des 13. Jahrhunderts die gestalterische
Weise gestalterisch mit dem Langhaus verknüpft wurde.
213 Vgl. Kap. 3.3.5. 214 Heute lässt sich die nachträgliche Aufmauerung auch an den unterschiedlichen Mauerwerkstechniken leicht ablesen. Oberhalb der alten Kapitellzone bestehen die Pfeiler aus präzise gearbeiteten Quadern mit vergleichsweise schmalen Fugen. Unterhalb der Zone wurde das Mauerwerk hingegen entweder mit länglichen Ziegeln und breiten Fugen oder in opus listatum ausgeführt, also alternierenden Schichten von länglichen Ziegeln und Natursteinblöcken. Die erste Technik findet sich im Bereich des Quadratbaus und stammt somit noch aus der frühchristlichen Zeit, wohingegen sich die zweite in den Teilen der popponischen Erweiterung beobachten lässt und somit eine mittelalterliche Variation des spätantiken opus listatum darstellt. Im Mittelalter waren die unterschiedlichen
Techniken aber wahrscheinlich unter einer einheitlichen Putzschicht verborgen und somit nicht unterscheidbar. Das heutige Erscheinungsbild des Mauerwerks resultiert aus der Restaurierung des Doms in den 1970er Jahren, als die Architekten Gottfried Böhm und Nikolaus Rosiny die Wände absichtsvoll mit einer dünnen Lasur beschichten ließen, was wiederum als Mittel moderner Architekturgestaltung gewertet werden kann, um die Geschichte des Bauwerks sichtbar zu machen (vgl. Böhm/Rosiny 1980, S. 444f.). 215 Eine statische Notwendigkeit ist für die Tieferlegung der Arkaden nicht zu erkennen. Der Sinn der Maßnahme scheint sich eher über die neue Raumwirkung zu erschließen. 216 Die heutige Empore wurde erst im 18. Jahrhundert angelegt (Kap. 2.1). 217 Vgl. Kap. 2.3.2.
68
2 DER DOM UND DIE LIEBFRAUENKIRCHE ZU TRIER
Auch die nachträgliche Absenkung der Arkaden kann am Bestand abgelesen werden, denn die Bögen setzen an den Kreuzpfeilern auf Konsolen auf, wohingegen die alten
erfolgte unter erzwungenen Abweichungen von der Norm, der Baukörper blieb unverändert.«219
Pfeilerkapitelle, welche für diese tragkonstruktive Aufgabe
Die negativ konnotierte Beurteilung der Wölbungskampa-
konzipiert waren, frei von tektonischen Funktionen in der
gne in der älteren Literatur erklärt sich aus einer vorgepräg-
Wand eingemauert sind (vgl. Abb. 1.20). Dies zu erkennen
ten Sichtweise, welche den kunstgeschichtlichen Stil zum
setzt allerdings ein ausgebildetes konstruktives Verständ-
allein gültigen Bewertungsmaßstab erhebt. Die Norm, von
nis voraus, wohingegen die Ästhetik der aufgesetzten Ge-
der Irsch erzwungene Abweichungen bemängelt, resultiert
wölbe von jedermann nachvollzogen werden kann. An
aus stilistischen Vergleichen mit anderen Bauwerken der
einigen Stellen lässt sich die Veränderung der Mittelschiff-
Zeit, wohingegen die individuellen, historisch begründeten
wände auch auf andere Weise erkennen: Sie wurden dort
Eigenarten des Baus außen vor blieben. Infolgedessen inte-
schmaler gemauert als die Pfeilerzungen, so dass diese
ressierte man sich primär für die Herkunft der neuen For-
seitlich hervortreten und die alte Pfeilerform deutlich um-
men und wurde bei der Zisterzienserarchitektur der Zeit
reißen (Taf. 1.07).
fündig,220 wo ebenfalls Gewölbevorlagen zum Einsatz kamen, die nicht bis auf den Boden geführt wurden. In letzter
Die Beurteilung der Gewölbe in der Literatur
Konsequenz postulierte man deshalb sogar einen zisterzi-
Die kunsthistorische Literatur beschrieb die Gewölbe bis-
ensischen Baumeister.221 Auf diese Weise stellte man einen
218
her in der Regel als in die alte Struktur »hineingehängt«.
Zusammenhang zwischen Zisterzienserorden und Trierer
Dabei ließen sich die Autoren wohl in erster Linie von den
Dom her, der sich lediglich auf formale Ähnlichkeiten be-
gurtrippentragenden Vorlagen leiten, deren Konsolen in
schränkte, und übersah die andersgearteten Zielsetzungen,
der Tat als in die alte Pfeilerstruktur eingehängt erschei-
die zu der jeweiligen Architektursprache führten. Während
nen. Das heißt aber, dass bisher nicht genügend zwischen
die kurzen Gewölbevorlagen der Zisterzienser aus deren
dem suggestiven Bild der neuen Tragstruktur und den
Armutsideal heraus verständlich werden, das man durch
tatsächlichen Baumaßnahmen differenziert wurde. Wie
Verzicht auf baulichen Prunk in der Architektur zum Aus-
gezeigt, wurden auch die Teile der Kreuzpfeiler hinter den
druck bringen wollte, erklärt sich die Gestalt des Trierer
Vorlagen erst zu Beginn des 13. Jahrhunderts errichtet,
Gewölbes aus der besonderen Tradition des Ortes, welche
so dass die neuen Vorlagen eben nicht in alte, sondern
auf diese Weise ihre architektonische Präsenz behielt.
in neue Struktur, welche jedoch die alte konstruktiv und
Die Kreuzgewölbe des Trierer Doms scheinen demnach
optisch fortsetzt, »hineingehängt« wurde. Somit verkannte
mit der Formulierung, dass sie auf die alte Substanz »aufge-
man den inszenatorischen Charakter und die Raffinesse
stellt« sind, treffender beschrieben. Die kreuzrippentragen-
des Entwurfs, mit dem bewusst eine Dialektik von Alt und
den Säulen, zwischen denen sich das eigentliche Gewölbe
Neu aufgebaut wurde, welche wiederum die Bedeutung
aufspannt, lassen sich unter dem Aspekt tektonischer Fü-
des Alten für die Bischofskirche vor Augen führt. Statt-
gung ohnehin besser auf diese Weise charakterisieren.
dessen beurteilte beispielsweise Irsch die alte Bausubstanz als Hindernis, das einer normgerechten Wölbung im
Resümee
Weg stand, und interpretierte den Entwurf folglich wenig
Die tektonische und gestalterisch-ästhetische Analyse er-
schmeichelhaft als erzwungenen »Kompromiss«:
brachte somit folgende Ergebnisse: Das Tragsystem des
»Der gewölbte Choranbau im Osten erhob die Forderung, das flachgedeckte Langhaus des Domes in eine Gewölbebasilika zu verwandeln. Dieser Forderung stellte der bestehende Bau einen durch die Antike grundgelegten passiven Widerstande entgegen. Das Ergebnis von Forderung und Widerstand war ein Kompromiß: die basilikale Umformung des Raumes
218 Z. B.: Zink 1980a, S. 50; Kubach/Verbeek 1976, Bd. 2, S. 1104; Kempf 1968, S. 15; Irsch 1931, S. 136. 219 Irsch 1931, S. 131.
Trierer Doms lässt sich optisch klar in zwei Subsysteme differenzieren. Auf die alte, wuchtige Pfeiler- und Mauerwerksstruktur setzte man dialektisch eine neue, schlanke Struktur aus Säulen und Rippen auf, die in Material und Formensprache mit der alten kontrastiert. Damit lässt sich einerseits die Nachträglichkeit der Einwölbung nachvollziehen, trotz der Modernisierung aber andererseits
220 Z. B. Irsch 1931, S. 134–137. 221 Z. B. Kempf 1968, S. 15f. – Zink steht der These von einem zisterziensischem Baumeister hingegen skeptisch gegenüber (Ders. 1980a, S. 51f.).
69
2.5 RESÜMEE: DER DOM ZU TRIER UND SEINE TRADITION DES ORTES
auch das Alter der Gebäudesubstanz ablesen. Die Wir-
Tatsächlich gingen die im Zuge der Einwölbung vorge
kung und Lesbarkeit der tektonischen Struktur gibt jedoch
nommenen Veränderungen an der alten Pfeiler- und Wand-
nicht die tatsächlichen Kräfteverläufe wieder, so dass es
struktur weit über die auf den ersten Blick wahrnehmbare
sich bei der beschriebenen Wirkung um eine bewusste In-
neue Dienst- und Rippenstruktur hinaus, denn die alten
szenierung handelt. Das Bild der übereinandergestellten
Kreuzpfeiler wurden in Fortsetzung ihrer alten Struktur
Tragsysteme, welches die alte Struktur erfahrbar macht,
aufgemauert, die Arkaden abgesenkt und die Wandflä-
legt nahe, dass die sichtbare Bewahrung der Tradition
chen darüber grundlegend umgestaltet. Man differen-
des Bauwerks trotz der umfassenden Veränderungen eine
zierte demnach gestalterisch zwischen Teilen, welche die
wichtige Rolle spielte.
Neuartigkeit und Nachträglichkeit der Wölbung explizit
Dieser architektonische Befund lässt sich gut mit der
hervorheben sollten, und Teilen, die auf den ersten Blick
schriftlichen Überlieferung des Mittelalters zusammen-
nicht nachträglich verändert wurden, also vermeintlich
bringen, derzufolge die alte Materie des Doms als sichtba-
zur alten Baustruktur gehörten.
rer Beweis dafür gewertet wurde, dass die Bischofskirche
Dennoch sollte der tatsächliche Umfang der Arbeiten
aus dem Palast der Helena hervorging.222 So verwundert
nicht gänzlich kaschiert werden, denn einige signifikante
es kaum, dass die alte Struktur auch bei der Einwölbung
Details markieren den Übergang zur originalen alten Bau-
des Doms noch eine, im wörtlichen und im übertragenen
substanz erst auf den zweiten Blick. Die Pfeilerzungen ver-
Sinne, tragende Rolle spielt und dies dem Betrachter auch
schmälern sich beispielsweise exakt ab dem Niveau der
vermittelt wird. Die Einwölbung vermittelt das Bild, das
Basen der neuen Säulen, so dass der Ansatzpunkt der spä-
auf die alte, authentische Palaststruktur eine neue, zeitge-
teren Aufmauerung kenntlich bleibt. Auch die nunmehr
mäße Wölbung aufgesetzt wurde. Dem Palast der Helena
funktionslos in der Wandfläche sitzenden alten Pfeiler-
wurde eine Krone aufgesetzt, ohne dass die vermeintlich
kapitelle weisen auf Veränderungen der ursprünglichen
authentische Substanz beseitigt wurde.
Tragstruktur hin.
2.5 Resümee: Der Trierer Dom und seine Tradition des Ortes 2.5.1 Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse
klären. Sie müssen allerdings so schwer gewogen haben, dass die Tradition des Ortes der Gründungsbasilika verdrängt werden konnte. Vieles spricht dafür, dass die Erklä-
Bereits in der frühen Gründungsphase des Trierer Doms
rung für den Vorgang im Zusammenhang mit dem kon-
spielte die Tradition des Ortes eine besondere Rolle.223
stantinischen Kaiserhaus zu finden ist, welches den Bau
Lage und Dimensionen der ersten nach 313 errichteten
des Domkomplexes anscheinend massiv unterstützte.224
Basilika wurden maßgeblich von einem kleinen Apsiden-
Ein wichtiges Indiz bildet der römische Prunksaal mit den
saal bestimmt, der für die christliche Gemeinde vor dem
Deckenfresken, denn dieser bestimmte wohl sicher nicht
Mailänder Edikt anscheinend von besonderer Bedeutung
zufällig die Lage und Dimensionen der ersten Apsis der
war. Im Rahmen der zwei Jahrzehnte später erfolgten, mo-
Nordostbasilika, also dem späteren Zentraljoch des Qua-
numentalen Erweiterung der Anlage wurde der Schwer-
dratbaus. Einiges deutet auf Augusta Maxima Fausta als
punkt des Komplexes allerdings nach Nordosten verlagert,
Förderin der Trierer Kirche, was allerdings aufgrund der
wo sich eine neue Tradition des Ortes etablierte, die sich
bislang unzureichenden Kenntnislage eine These bleiben
in der Errichtung des Quadratbaus über der vormaligen
muss.
Apsis ab den 340er Jahren architektonisch eindrucksvoll manifestiert.
Auf jeden Fall verfestigte sich die Tradition des Ortes nachhaltig im Bereich des Quadratbaus, wie die Wieder-
Die Gründe für die Konstituierung eines neuen tradi-
aufbaukampagne unter Bischof Nicetius im 6. Jahrhun-
tionsstiftenden Ortes lassen sich derzeit nicht zweifelsfrei
dert belegt, als man den Quadratbau quasi rekonstruierte,
222 Kap. 2.2.3. 223 Kap. 2.2.1.
224 Ebd. 225 Kap. 2.2.2.
70
2 DER DOM UND DIE LIEBFRAUENKIRCHE ZU TRIER
wohingegen die ehemalige Gründungbasilika im Nordos-
licher Baukörper konzipiert, welcher die Dimensionen des Quadratbaus und der vormaligen Nordostbasilika
ten bemerkenswerterweise ganz aufgegeben wurde.
225
Vom 9. Jahrhundert an lässt sich die Tradition des Or-
umfasst.228 Der Umbau orientierte sich an der Grundriss-
tes auch in den Schriftquellen nachweisen, in denen der
struktur des Quadratbaus,229 die als offenes Muster inter-
Dom als ehemaliger Palast der heiligen Helena bezeich-
pretiert wurde, das man nach Westen hin fortsetzte, so
net wird, den die Augusta höchstselbst zur Verfügung ge-
dass die Grundrissfigur des Quadratbaus ein zweites Mal
stellt haben soll.226 Die Architektur des Doms wird dabei
aus dem Grundriss des Doms herausgelesen werden kann
als sichtbarer Beweis für die Richtigkeit der Gründungs-
(Taf. 1.02).
legende angeführt, die Bausubstanz der Kirche demnach
Damit gelang dem Baumeister das Kunststück, den
mit dem Palast der heiligen Kaisermutter gleichgesetzt. In
Trierer Dom einerseits an aktuelle Grundrisskonzepti-
den folgenden Jahrhunderten wurde die Legende weiter
onen der Zeit im deutsch-römischen Kaiserreich anzu-
angereichert, indem man sie beispielsweise mit der Vita
passen, aber andererseits die ortspezifischen, prägenden
des Bischofs Agricius verknüpfte.
Eigenheiten des Quadratbaus zu bewahren. Weiterhin
Bemerkenswerterweise lassen sich deutliche Parallelen
blieben beim Umbau Anfang des 11. Jahrhunderts große
zwischen der Legende und den wissenschaftlich fundier-
Teile des römisch-spätantiken Mauerwerks erhalten, mit
ten Erkenntnissen ziehen, was darauf hinweist, dass die
dessen Technik man sich bei der Errichtung der neuen
Legende wahrscheinlich auf einem wahren Kern basiert.
Mauern auseinandersetzte.230
227
Es sieht so aus, als wäre Maxima Fausta, die nach derzeiti-
Die Baukampagne unter Poppo lässt sich demnach
gem Kenntnisstand in erster Linie als Förderin des Trierer
treffend als Erweiterung des Quadratbaus charakterisie-
Doms in Frage käme, nach ihrem tödlich endenden Zer-
ren. Angesichts der Bedeutung, die man der Architektur
würfnis mit ihrem Gatten Konstantin in der Trierer Über-
im Kontext der Gründungslegende beimaß, muss dieser
lieferung durch ihre Schwiegermutter Helena ersetzt wor-
Konzeption ein tieferer Sinn beigemessen werden. Die Er-
den. Außerdem konnte die Forschung zwar nachweisen,
weiterung des Quadratbaus lässt sich in dieser Hinsicht als
dass der Domkomplex als kompletter Neubau entstand
Erweiterung der altehrwürdigen domus Helenae auffassen,
und somit keine älteren Palastteile integriert wurden, dass
deren Strukturen demnach absichtsvoll fortgeführt wur-
aber die Errichtung allem Anschein nach auf kaiserlichem
den. Während die Eigenartigkeit des Trierer Domgrund-
Grund und Boden erfolgte, so dass die Überlieferung als
risses die ältere Literatur zuweilen irritierte, weil diese sich
Übersteigerung der Tatsachen verstanden werden kann.
auf den typologischen Vergleich mit anderen Bauwerken
Angesichts der von Konstantin verhängten damna-
beschränkte, lässt sich aus dem Blickwinkel der Tradition
tio memoriae Faustas muss sich die Überlieferung deut-
des Ortes hingegen die Idee des Entwurfs verstehen und
lich früher auf Helena fokussiert haben, als es sich in den
dessen symbolische Aussagekraft erkennen.
Schriftzeugnissen fassen lässt. In der Tat spricht die Art
Ohnehin beschränken sich die Darstellungen der
und Weise, wie der Quadratbau unter Nicetius im 6. Jahr-
Wandlung des Trierer Doms im 11. Jahrhundert in der
hundert wiederaufgebaut wurde, dafür, dass insbesondere
Literatur meist auf die Westfassade, die herausgelöst aus
dieser Teil des Domkomplexes zu jener Zeit als domus He-
dem baulichen Gesamtkontext unter stilistischen Kri-
lenae angesehen wurde. Das Bestreben, den Quadratbau
terien als romanischer Bauteil behandelt wurde.231 Auf-
so originalgetreu wie nur möglich zu rekonstruieren, wird
grund der isolierten Betrachtung der Westfassade wurde
somit aus dem Wunsch verständlich, die Authentizität der
jedoch nicht erkannt, dass auch dieser Bauteil einen star-
vermeintlichen domus Helenae zu bewahren.
ken Bezug zur Tradition des Ortes aufweist.232 So erklären
Auch beim zweiten Wiederaufbau des Doms nach dem
sich diverse Motive und Formen der romanischen Fas-
Normannensturm 882 blieb der Quadratbau das Maß der
sade als Variation von Formen und Motiven des spätan-
Dinge. Unter Erzbischof Poppo wurde das Konzept eines
tiken Baukörpers. Die monumentale Gestaltung der bei-
basilikalen Langhauses vor dem zentralbauartigen Quad-
den Eingangssituationen mit zwei übereinandergestellten
ratbau endgültig aufgegeben und stattdessen ein einheit-
Rundbögen greift die Gestalt des vormaligen Übergangs
226 Kap. 2.2.3. 227 Ebd. 228 Kap. 2.3. 229 Kap. 2.3.2.
230 Kap. 2.3.3. 231 Z. B. Kaiser 1996, S. 44; Kubach/Verbeek 1976, Bd. 2, S. 1092f. 232 Kap. 2.3.4.
71
2.5 RESÜMEE: DER DOM ZU TRIER UND SEINE TRADITION DES ORTES
vom basilikalen Langhaus zum Quadratbau in den Sei-
zu denen sich ein sinnvoller Zusammenhang herstellen
tenschiffen auf. Die Flankentürme wiederholen ein Mo-
ließ, und passte die Fassade damit so nah wie möglich der
tiv des Quadratbaus, das im 11. Jahrhundert noch sicht-
Architektur der Zeit Helenas an. Folglich handelt es sich
bar bestand. Ob auch die Westtürme auf Vorgänger über
nicht um einen allgemeinen oder prinzipiellen Antiken-
dem Quadratbau zurückgehen, lässt sich nach derzeitiger
bezug der Westfassade, sondern um eine ortsspezifische
Kenntnislage nicht beantworten. Dennoch bleibt festzu-
Selbstreferenz, welche sich im architektonischen Gesamt-
halten, dass in gewissem Maße der Eindruck entsteht,
kontext erklärt. Die Trierer Domarchitektur des 11. Jahr-
man hätte die ehemalige Westwand des Quadratbaus
hunderts rekurriert demnach nicht auf die Antike im All-
zwei Joche nach Westen verschoben. Des Weiteren weist
gemeinen, sondern auf den antiken Palast der Helena,
die Gestaltung der korinthischen Pilasterkapitelle signifi-
also die besondere Tradition des Ortes.
kante Ähnlichkeiten zu den spätantiken Pfeilerkapitellen des Quadratbaus auf.
Während sich der Anbau des Ostchores in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts als gänzlich neu konzipier-
Darüber hinaus lassen sich weitere Antikenbezüge
ter Gebäudeteil naturgemäß nur in begrenztem Umfang
der Westfassade feststellen, die nicht auf den Quadratbau
mit der Tradition des Ortes in Beziehung setzen lässt,
rekurrieren, sondern deutliche Parallelen zu anderen an-
etwa hinsichtlich der Dimensionen und Proportionen,234
tiken Bauwerken in Trier erkennen lassen, insbesondere
musste bei der folgenden Umwandlung der Domkirche
zur Disposition der Kaiserthermen und zu Detailformen
in eine kreuzgewölbte Pseudo-Basilika zu Beginn des
der Porta Nigra. Zwischen Dom und Porta Nigra lässt sich
13. Jahrhunderts zwangsläufig eine Auseinandersetzung
ein über die Form hinausgehender Sinnzusammenhang
mit der Tradition des Ortes erfolgen.235 Im Gegensatz zur
herstellen, denn das römische Stadttor wurde unter Erz-
Transformation der Kirche im 11. Jahrhundert, die auf
bischof Poppo in eine Stiftskirche konvertiert, in welcher
eine Vereinheitlichung alter und neuer Teile abzielte, ent-
er wunschgemäß beigesetzt wurde. Für die Kaiserthermen
schied man sich anfangs des 13. Jahrhunderts für einen
lässt sich ein vergleichbarer Sinnzusammenhang zumin-
gestalterischen und ästhetischen Kontrast von Alt und
dest begründet annehmen. Auch lässt sich eine prinzipi-
Neu, den man durch Material, Farbe und Formen zum
elle Auseinandersetzung mit antiken Architekturprinzi-
Ausdruck brachte. Mittels der tektonischen Systematik er-
pien erkennen, die jedoch nicht detailgetreu nachgeahmt,
zeugte man darüber hinaus ein Bild, das evoziert, die neue
sondern reflektiert an die Anforderungen des mittelalter-
Tragstruktur sei auf die alte gestellt worden, so dass die
lichen Sakralbaus angepasst wurden.
Wölbung deutlich erkennbar als nachträgliche Ergänzung
Die Summe der Beobachtungen lässt den Schluss
des älteren Bestandes gekennzeichnet wird. In der Litera-
zu, dass die Westerweiterung der Trierer Domkirche im
tur übersah man diesbezüglich bisher, dass die Gestaltung
11. Jahrhundert primär als Erweiterung des antiken Quad-
der Gewölbe das Resultat einer bewussten Inszenierung
ratbaus, ergo der domus Helenae, aufgefasst wurde.233 Dies
dieses Bildes darstellt. Tatsächlich griff man in erhebli-
verdeutlicht vor allem die Tatsache, dass man die Struk-
chem Maße in die bestehende Substanz ein und ergänzte
tur des Quadratbaus nach Westen fortsetzte, so dass ein
die alte Struktur zum Teil sogar in der alten Form, so dass
einheitlicher Baukörper entstand, indem Grundriss und
die betreffenden Teile auf den ersten Blick nicht als neu
Konstruktion des neuen und alten Teils seither fließend
erkennbar sind.
ineinander übergehen. Die Westfassade stellt in diesem
Die planvolle Differenzierung zwischen tatsächlich
Sinne eine Verlagerung der ehemaligen Westwand um
neu Gebautem und dem inszenierten Bild des Neuen lässt
zwei Joche nach Westen dar. Soweit es möglich war, ori-
den Schluss zu, dass bewusst eine Dialektik zwischen Alt
entierte man sich an den authentischen Formen, die nach
und Neu aufgebaut werden sollte, welche die Modernität
dem Normannensturm noch erhalten geblieben waren.
der Neuerungen vor der Folie des Alten kenntlich macht,
An den Stellen, wo man die römischen Teile der Domkir-
vor allem aber das Alter der bestehenden Bausubstanz vor
che aus technischen Gründen oder mangels Vergleichen
der Folie des Neuen hervorhebt. Angesichts dessen, dass
nicht zum Vorbild nehmen konnte, orientierte man sich
die Architektur des Trierer Doms in den Schriftquellen
stattdessen an anderen spätantiken Bauwerken Triers,
wiederholt als Beweis für die Authentizität der Helena-
233 Kap. 2.3.5. 234 Kap. 2.4.1.
235 Kap. 2.4.2.
72
2 DER DOM UND DIE LIEBFRAUENKIRCHE ZU TRIER
Legende angeführt wurde, indem man den Dom mit der
und er »den geweihten Steinen selbst gleichwie Reliquien
domus Helenae gleichsetzte, liegt es nahe, die Inszenierung
unser Bemühen darbringen wollten«.238
des vermeintlich originalen Helena-Palastes als primären Grund für die dialektische Gestaltung zu sehen. Die Tradition des Ortes zieht sich somit wie ein roter
Besser fassen lässt sich in den Schriftquellen indes eine andere Komponente, welche die Tradition des Ortes neben der religiösen beinhaltet, nämlich die kaiserliche,
Faden durch die Baugeschichte des Trierer Doms und
welche sich auf Helena als Mutter Konstantins des Gro-
prägte dessen Gestalt von der frühchristlichen Bauzeit bis
ßen gründet, denn diese wurde kontinuierlich instrumen-
in das hohe Mittelalter in entscheidendem Maße mit.236
talisiert, um machtpolitische Ansprüche der Trierer Erzbi-
Während man die domus Helenae im 6. Jahrhundert so ge-
schöfe zu legitimieren.
treu wie möglich zu rekonstruieren versuchte, wollte man
Dies lässt sich bereits für die karolingische Zeit bele-
sie im 11. Jahrhundert möglichst einheitlich erweitern,
gen, denn begründet durch die Verbindung mit der heili-
wohingegen man sich im 13. Jahrhundert entschied, das
gen Kaisermutter wird der Trierer Bischofskirche in der
Alte mittels bewusst kontrastierender Neubauteile zur
Vita Helenae der Titel »prima sedes Galliae Belgicae«,239
Geltung zu bringen.
»erster Sitz des Belgischen Galliens«, zugesprochen. Und es ist genau dieser Zusammenhang, in dem auf die reale
2.5.2 Interpretation im historischen und politischen Kontext
Architektur des Doms als sichtbarer Beweis der Gründungslegende verwiesen wird.240 Folglich diente die vermeintliche Authentizität des aus der domus Helenae her-
Damit stellt sich die Frage, warum die Tradition des Ortes
vorgegangenen Trierer Doms dem Klerus mittelbar als
für die Trierer Bischofskirche eine derart herausgehobene
materieller Beleg zur Untermauerung machtpolitischer
Bedeutung erlangte.
Ansprüche.
Zunächst lassen sich religiöse Gesichtspunkte zur Er-
Der sich auf die spätantike, römische Provinz Gallia
klärung des Phänomens anführen. Helena wurde als le-
Belgica beziehende Trierer Primatsanspruch barg insofern
gendäre Finderin des wahren Kreuzes bereits im frühen
Konfliktpotential, als jene Provinz in zwei Gebiete mit
Mittelalter als Heilige verehrt.237 Die Legende, der Dom sei
jeweils einer eigenen Metropole unterteilt war, nämlich
aus dem Palast der Heiligen hervorgegangen, stellt einen
Trier und Reims.241 Die Trierer Kirche beanspruchte folg-
direkten Bezug des Bauwerks zur Heiligen her und macht
lich nicht bloß eine Vorrangstellung vor allen übrigen Bis-
den Dom damit selbst zu einem Teil der Heilsgeschichte,
tümern des belgischen Galliens, sondern auch den höhe-
so dass die vermeintlich authentische Bausubstanz des
ren Rang gegenüber dem Erzbistum Reims.242 Spätestens
Doms quasi in den Rang einer Reliquie erhoben wurde.
Mitte des 9. Jahrhunderts kam es deshalb zu Spannungen
Zwar lässt sich diese religiöse Bedeutung der Architektur
zwischen Reims und Trier, als Erzbischof Hinkmar den
meines Wissens nach nicht in den bekannten Schriftquel-
Trierer Primat in Frage stellte und stattdessen die Gleich-
len zum Trierer Dom greifen, doch belegt eine vergleich-
rangigkeit der beiden Metropolen postulierte.243
bare Aussage des Abtes Suger, dass eine derartige Denk-
Im 10. Jahrhundert musste Trier seine Position zuneh-
weise im Mittelalter andernorts üblich war. So schrieb
mend gegenüber den beiden germanischen Metropolen
dieser in Bezug auf den Umbau seiner Abteikirche Saint-
Mainz und Köln behaupten.244 Insbesondere die Ausdeh-
Denis in der Mitte des 12. Jahrhunderts, dass die Mönche
nung des bis dato auf Germanien begrenzten Vikariats des
236 Die Tradition des Ortes ist für den Trierer Dom auch über den Untersuchungszeitraum hinaus von gestaltbestimmender Bedeutung geblieben, wie etwa Jens Fachbach für die barocke Umgestaltung der Kirche von Johann Georg Judas zu Beginn des 18. Jahrhunderts gezeigt hat (Ders. 2010). 237 Kap. 2.2.3. 238 Suger, De con. 47 (ed. Binding/Speer S. 222): »benedictionem ipsis sacratis lapidibus tamquam reliquiis defferemus«. Dt. Übersetzung nach Binding/Speer. 239 Almann, Vita Helenae, 9 (ed. Draeger, S. 22): »Quod usque hodie demonstrat domus ejus facta ecclesiae pars maxima in honore beati Petri apostolorum principis in sedem episcopalem metropolis dicata, adeo ut vocatur et sit prima sedes Galliae Belgicae, ...« 240 Ebd. – Außerdem nennt die Quelle Helenas prächtiges cubile regiae
als weiteres bauliches Zeugnis der Kaisermutter in Trier. Die Identifizierung und Lokalisierung dieses Bauwerks stellt eine interessante, aber offene Forschungsfrage dar. 241 Zum Begriff der Gallia Belgica: Ewig 1958, S. 172–174. 242 Anton/Haverkamp 1996, S. 108–111; Ewig 1964, S. 279; Ders. 1958, S. 157f., 169–175; Heydenreich 1938, S. 118–121. 243 Anton/Haverkamp 1996, S. 110f.; Ewig 1958, S. 171f.; Heydenreich 1938, ebd. – Der Ausbruch des Konfliktes gilt als terminus ante quem für die Verfassung der auf Reimser Initiative entstandenen Vita Helenae, zu deren Entstehungszeitpunkt der Trierer Anspruch anscheinend noch anerkannt wurde (Embach 2008, S. 36; Anton/ Haverkamp 1996, S. 108; Ewig 1958, S. 156f.). 244 Heydenreich 1938, S. 121–125.
73
2.5 RESÜMEE: DER DOM ZU TRIER UND SEINE TRADITION DES ORTES
Mainzer Erzbischofs auf Gallien in der Mitte des 10. Jahr-
Helena-Tradition zu verankern.250 Tatsächlich handelt es
hunderts musste der Trierer Metropolit mit seinem Selbst-
sich bei dem Diplom um eine mittelalterliche Fälschung,
verständnis als gallischer Primas als inakzeptable Einmi-
was einerseits zeigt, wie nachdrücklich die Gründungsle-
schung in den hauseigenen Einflussbereich auffassen,
gende des Doms auch politisch instrumentalisiert wurde,
deren widerspruchslose Hinnahme eine Subordination
und andererseits das Trierer Selbstverständnis zum Aus-
unter den Mainzer Metropoliten bedeutet hätte.
Im Ge-
druck bringt. In den um 1100 begonnenen Gesta Trevero-
genzug erwirkten die Trierer Erzbischöfe daher nicht nur
rum, einem wiederholt fortgeschriebenen Werk über die
eine päpstliche Bestätigung ihres gallischen Primats, son-
Trierer Geschichte, inkludierte man die Kernaussagen der
dern dehnten diesen gleich noch auf Germanien aus und
Doppelvita inklusive des Silvester-Diploms und machte
drehten den Spieß somit Richtung Mainz um,246 wobei das
sie damit für die folgenden Jahrhunderte zu einem ver-
neue Primatsprivileg selbstverständlich weiterhin den An-
bindlichen Bestandteil der Trierer Historie.251 Auf diese
spruch auf Vorrang gegenüber Reims implizierte.247 Die
Weise schuf man im hohen Mittelalter ein vielschichtiges,
besondere Wertschätzung, die man der Architektur des
wechselseitiges Beziehungsgeflecht zwischen der Helena-
Trierer Doms als sichtbarem Zeichen für die Legitimität
Tradition, der apostolischen Gründungslegende, den je-
des Trierer Primats in jener Zeit entgegenbrachte, äußerte
weiligen religiösen Implikationen und den episkopalen
sich darin, dass man die Priorität beim Wiederaufbau des
Machtansprüchen, in welchem die Architektur des Doms
Ende des 9. Jahrhunderts im Normannensturm schwer
als authentisches Zeugnis der Vergangenheit eine Schlüs-
beschädigten Doms auf die Wiederherstellung Quad-
selposition einnahm.
245
ratbaus setzte, also des primär als domus Helenae aufge-
In Anbetracht dessen, dass die Doppelvita zeitgleich
fassten Teils des Domkomplexes, so wie es Nicetius im
zu den Bauarbeiten an der Westerweiterung des Doms ver-
6. Jahrhundert nach den Zerstörungen der Völkerwande-
fasst wurde, erstaunt es, dass Architektur und Schrift in
rungszeit getan hatte.
der Forschung noch nicht in Beziehung zueinander gesetzt
Das Beziehungsgeflecht von imperialer Tradition und
wurden. Während der Umbau des Anfang des 11. Jahrhun-
episkopalen Machtansprüchen lebte im 11. Jahrhundert
derts noch immer nicht vollständig wiederhergestellten
nicht nur fort, sondern wurde mit weiteren Komponenten
Trierer Doms unter Erzbischof Poppo und seinen Nach-
angereichert, wie die zwischen 1050 und 1072 verfasste
folgern derart deutlich aus dem Quadratbau entwickelt
Doppelvita der Helena und des Agricius belegt,248 in der
wurde, dass er treffend als Erweiterung der domus Helenae
die kaiserliche und die apostolische Gründungslegende
charakterisiert werden kann, führt die Schriftquelle den
Triers, der zufolge der erste Trierer Bischof Eucharius von
Palast der Helena in der alten Tradition als Garant für den
Petrus gesandt worden sei,249 geschickt miteinander ver-
Trierer Primat an.252 Folglich musste die Umwandlung des
knüpft wurden. In diesen Zusammenhang bettete man
Quadratbaus in einen Längsbau zwingend von diesem
eine Abschrift des sog. »Silvester-Diploms« ein, demzu-
ausgehen, um die Authentizität des Helena-Palastes zu
folge bereits der zur Zeit Helenas und Agricius amtierende
erhalten und so neben den religiösen Implikationen die
Papst Silvester der Trierer Kirche den Primat über Gallien
Legitimationsbasis des Trierer Primats zu wahren. Dazu
und Germanien zugesprochen hätte, und versuchte auf
passt, dass es dem Trierer Erzbischof Eberhard in dieser
diese Weise, die päpstliche Autorisierung im Kontext der
Zeit gelang, eine feierliche Bestätigung des Primats 1049
245 Mit »Gallien« bezeichnete man nun wohl die lothringischen Gebiete des deutsch-römischen Imperiums. 246 Ewig 1958, S. 178–182; Heydenreich 1938, S. 123f. 247 Ebd., S. 178 und Anm. 160. – Die Konkurrenzsituation zwischen den deutschen Bistümern verschärfte sich ferner durch den Primatsanspruch des neugegründeten Magdeburger Bistums auf Germanien, wobei Mainz und Köln aus jener Perspektive zu Gallien gezählt wurden (vgl. Kap. 3.5.2). 248 Trierer Geschichtsquellen, S. 173–211. – Grundlegende Studie: Embach 2008, S. 39–43. 249 Zur apostolischen Tradition: Anton/Haverkamp 1996 S. 109f.; Ewig 1958, S. 160–169. – Die Entstehung der apostolischen Gründungslegende Triers wird bei Anton/Haverkamp mit der Absicht erklärt, der apostolischen Gründungslegende des Suffraganbistums Metz etwas Gleichwertiges entgegenzusetzen. 250 »Sicut in gentilitate, sortire et nunc, Trebir primas, super Gallos
spiritualem et Germanos priotatum, quem tibi pre omnibus harum gencium episcopis in primitivis christiane religionis doctoribus, silicet Euchario, Valerio et Materno, ac per baculum caput ecclesie Petrus signauit habendum, suam quodammodo minuens dignitatem, ut te participem faceret.« (Trierer Geschichtsquellen, S. 188) – »So wie Du im Heidentum durch eigene Vortrefflichkeit (hervorstachst), so erhalte auch nun, Trierer Primas, einen geistlichen Vorrang über Gallier und Germanen, den dir vor allen Bischöfen dieser Völker Petrus, in den ursprünglichen Lehrern der christlichen Religion, nämlich Eucharius, Valerius und Maternus, sowie durch seinen Stab zugewiesen hat, wobei er gewissermaßen seine eigene Würde minderte, um dich (daran) teilhaben zu lassen.« Dt. Übersetzung: Heinen 1996, S. 87f. 251 Gesta Trev. (ed. Wyttenbach/Müller, S. 48; ed. Zenz, Bd. I, S. 40f.). 252 Embach 2008, S. 40.
74
2 DER DOM UND DIE LIEBFRAUENKIRCHE ZU TRIER
durch Papst Leo IX., als Bruno von Toul vormals ein Suf-
quellen jener Zeit lassen sich die Inszenierung und Titu-
fraganbischof des Trierer Stuhls, zu erwirken. Dies führte
lierung Triers als Roma secunda nachweisen.257 Der Ehren-
auf der Synode in Reims im selben Jahr zu einem Streit
titel, der sich sowohl aus der imperialen als auch aus der
mit dem Reimser Erzbischof, als der Trierer Metropolit
apostolischen Tradition herleiten ließ, brachte das Selbst-
eine Sitzordnung forderte, die seinen Vorrang gegenüber
verständnis der Trierer Erzbischöfe zum Ausdruck, einer-
Reims zum Ausdruck bringen sollte.
seits direkt unter dem Papst zu stehen und andererseits
253
In der politischen Realität ließ sich eine auf dem Pri-
eine exponierte Stellung unter den Bischöfen der Gallia
mat basierende Vorrangstellung Triers in Gallien und Ger-
und Germania inne zu haben. Auch im Silvester-Diplom
manien auf Dauer weder gegenüber Mainz und Köln noch
klingt die Angleichung Triers an Rom an, denn der Trierer
gegenüber Reims durchsetzen. Dennoch wurde der An-
Primat über Gallien und Germanien wird als Teilhabe an
spruch auch in den folgenden Jahrhunderten unverändert
der Würde Petri ausgelegt.258 Münzen und Siegel der Erz-
erhoben, wie die Vorgänge auf dem Konzil von Reims 1148
bischöfe fungierten indes als bildliche Medien, um den
beweisen, als der Trierer Erzbischof Albero ein gewaltsa-
schriftlich formulierten Anspruch anschaulich zu unter-
mes Scharmützel zwischen den Gefolgschaften Triers und
mauern, indem sie römische Bauwerke in Trier abbilde-
Reims provozierte, indem er unverblümt den Vorrang vor
ten.259 Offensichtlich diente die authentische Architektur
dem Reimser Gastgeber öffentlich einforderte, weil er der
der Antike als steinerner Beleg für die altehrwürdige römi-
Metropolit der Belgica prima sei, der Reimser hingegen der
sche Vergangenheit der Stadt, auf die sich der Anspruch,
Belgica secunda vorstünde.254
als zweites Rom nördlich der Alpen zu gelten, zusätzlich
Für das 13. Jahrhundert belegen Aussagen der Gesta
stützen konnte. Die Rezeption Trierer Römerbauten und
Treverorum den ungebrochenen Primatsanspruch. So wird
antiker Architekturprinzipien beim Umbau des Trierer
beispielsweise von Erzbischof Theoderich (1212–1242), un-
Doms im 11. Jahrhundert fügt sich somit auch unter dem
ter dessen Episkopat der Neubau der Trierer Liebfrauen-
Aspekt der Inszenierung Triers als Roma secunda nahtlos
kirche begann, berichtet, er habe »seinen Platz unter den
in die historischen Vorgänge der Zeit ein.
Bischöfen [behauptet], entsprechend dem Primat und der
In dieser Hinsicht wies man in der historischen For-
Würde Triers.«255 An anderer Stelle meinte der mittelalter-
schung treffenderweise auf eine Analogie zwischen den
liche Autor, Theoderichs Nachfolger Arnold hätte »kraft
Gründungslegenden der Lateransbasilika, der Bischofs
seines Primats«256 eine Legation des Kölner Erzbischofs
kirche Roms, und des Trierer Doms in der mittelalter-
für Germanien widerrufen lassen. Es liegt auf der Hand,
lichen Überlieferung hin.260 In der wohl im 8. Jahrhun-
dass das Beziehungsgeflecht der Trierer Überlieferung mit
dert entstandenen »Konstantinischen Schenkung« wird
der Helena-Tradition im Kern auch im 13. Jahrhundert ge-
berichtet, Konstantin der Große hätte die Lateranskirche
pflegt wurde, um die alten Primatsansprüche weiterhin zu
über seinem Palast errichtet und damit den päpstlichen
legitimieren. Einen deutlichen Beleg dafür liefert die Art
Universalprimat verbunden.261 Die Parallelen zur Grün-
und Weise, wie die alte Bausubstanz des vermeintlichen
dungslegende des Trierer Doms sind wohl zu frappant,
Helena-Palastes bei der Transformation des Doms in eine
um dem Zufall entsprungen zu sein. Analog der Anglei-
kreuzrippengewölbte Pseudo-Basilika inszeniert wurde.
chung Triers an Rom bildete der Trierer Dom folglich das
Die domus Helenae blieb das authentische Zeugnis für die
Pendant zur römischen Bischofskirche,262 was auch in der
konstitutive Tradition des Ortes des Trierer Doms.
Analogie der Gründungslegenden zum Ausdruck kommt.
Die Konstruktion und Instrumentalisierung von Ge-
So wie der Papst seinen Universalprimat auf die kaiserli-
schichte zur eigenen Nobilitierung und zur Ableitung von
che Errichtung seiner Bischofskirche stützte, gründete der
Machtansprüchen offenbart sich im hohen Mittelalter
Trierer Erzbischof seinen gallischen bzw. gallisch-germa-
noch unter einem weiteren Gesichtspunkt: In den Schrift-
nischen Primat auf die kaiserliche Dotation seiner Kirche.
253 254 255 256 257 258
259 Clemens 1996, S. 198–202. 260 Laufner 1964, S. 279; Ewig 1958, S. 158, 170. 261 Gründung und Architektur der frühchristlichen Lateranskirche: Brandenburg 2005, S. 16–37. – Inwieweit die Architektur der mittelalterlichen Lateransbasilika auf die Tradition des Ortes rekurrierte und ob diese analog zu Trier als Dokument der konstantinischen Gründung galt, wäre eine interessante weiterführende Frage.
Heydenreich 1938, S. 126. Ebd., S. 131. Gesta Trev., Kap. CVI (ed. Zenz, Bd. I, S. 56). Gesta Trev., Kap. CIX (ed. Zenz, Bd. I, S. 65). Zu Trier als Roma secunda: Thomas 1968, S. 162–179. S. weiter oben. – Es sei daran erinnert, dass hierin nicht der spätantike päpstliche Standpunkt, sondern die Sichtweise des mittelalterlichen Trierer Fälschers zum Ausdruck kommt.
75
2.5 RESÜMEE: DER DOM ZU TRIER UND SEINE TRADITION DES ORTES
1.21 Rom, Lateransbasilika (ursprünglich St. Salvator), rekonstruierter Grundriss des konstantinischen Gründungsbaus, Baubeginn wohl 313 (Brandenburg 2005, S. 260)
Vielleicht darf man in diesem Kontext die im 11. Jahr-
in einen Längsbau mit einer halbrunden Apsis im Wes-
hundert erfolgte Erweiterung des Quadratbaus auch als
ten, die ohne Querhaus unmittelbar an das Mittelschiff
architektonische Annäherung des Trierer Doms an die
ansetzt (Abb. 1.21).
Lateransbasilika auffassen. Auf jeden Fall lassen sich in
Zusammengefasst lässt sich somit festhalten, dass
gewissem Maße charakteristische Merkmale der mittel-
die Architektur des Trierer Doms in mehrfacher Hinsicht
alterlichen Lateranskirche im Grundriss des Trierer Doms
der Legitimation Trierer Ansprüche diente, in dem sie die
des 11. Jahrhunderts wiederfinden. Durch den Umbau
Gründungslegende authentifizierte, auf welcher die Trie-
wandelte sich der Trierer Dom analog zur Lateranskirche
rer Erzbischöfe ihre exponierte Stellung stützten.
76
2 DER DOM UND DIE LIEBFRAUENKIRCHE ZU TRIER
2.6 Im Kontext der domus Helenae – Der Neubau der Liebfrauenkirche im 13. Jahrhundert Nach aktuellem Kenntnisstand begann man direkt im Anschluss an die Arbeiten am Dom mit einem radikalen
2.6.1 Räumliche Beziehungen zwischen neuem und altem Grundriss
Neubau der Liebfrauenkirche (Abb. 2.01, 2.02), also der alten Südostbasilika, welcher den Vorgängerbau komplett
Die Analyse von räumlichen Bezügen der gotischen Kir-
ersetzte.
che zum Vorgängerbau bereitet insofern Probleme, als
263
Zum einen belegen dendrochronologische For-
schungen, dass Ende der 1220er Jahre noch an den Gewöl-
dass über das Aussehen der Liebfrauenkirche im 11. Jahr-
ben im Dom gearbeitet wurde,264 zum anderen argumen-
hundert weniger bekannt ist als über den frühchristlichen
tierte Franz Ronig in jüngerer Zeit nachvollziehbar dafür,
Gründungsbau.269 Die Untersuchung muss deshalb zu-
den Beginn der Bauarbeiten an der Liebfrauenkirche auf
nächst von den archäologisch gesicherten Erkenntnissen
das Jahr 1227 zu datieren, von welchem bereits in der
über den spätantiken Grundriss der Kirche ausgehen (vgl.
frühneuzeitlichen Literatur bis ins 19. Jahrhundert hinein
Abb. 1.09). Allerdings kommen schon beim Vergleich von
ausgegangen wurde.265 Der Neubau der Liebfrauenkirche
frühchristlicher und gotischer Disposition bemerkens-
kann folglich als Fortsetzung der seit ca. 1160 laufenden
werte Kongruenzen zum Vorschein.
»Modernisierungskampagne« am Dom betrachtet werden, wo noch in den 1210er Jahren an den Gewölben gearbeitet
Der Umriss
wurde.
Die gotische Kirche entspricht nämlich in ihrer räum-
Der Neubau der Kirche stieß in der neuzeitlichen
lichen Ausdehnung weitgehend dem frühchristlichen
Kunstgeschichte auf großes Interesse, da man erstmals
Gründungsbau. Das Westportal von Liebfrauen errichtete
eine konsequente Übernahme französischer Formen, ins-
man exakt über der ehemaligen Westwand der Basilika, an
besondere von der Kathedrale von Reims,
beobachtete
deren nördlicher Fortsetzung man sich auch bei der Er-
und die Trierer Liebfrauenkirche deshalb neben der Mar-
weiterung des Doms orientierte.270 Auch nach Norden und
burger Elisabethkirche zum ersten Bau der Gotik auf deut-
Süden lassen sich bezüglich der räumlichen Ausdehnung
schem Boden kürte (vgl. Abb. 2.01, 2.02).267 Komplettabriss
Beziehungen zur Breite der vormaligen Basilika feststel-
und Formentransfer aus Frankreich machen die Trierer
len. Lediglich die Nord- und Südkonche treten über deren
Liebfrauenkirche damit zu einem Bauwerk, bei dem eine
Umriss hinaus, wobei die Pfeilerbündel, welche die Kon-
formbestimmende Wirkung der Tradition des Ortes am
chen im Innenraum rahmen, jeweils genau über der alten
wenigsten vermutet würde und wurde. Allerdings macht
Außenwand errichtet wurden.
266
es doch skeptisch, dass in einem derart traditionsschweren Kontext wie der Trierer Domanlage, bei welcher die
Der Chor
Bewahrung der Tradition des Ortes seit über 800 Jahren
Signifikant bestimmte die Tradition des Ortes den Ostteil
im Mittelpunkt baulicher Bemühungen stand, zu Beginn
der Kirche. Der Ostchor, der mit seiner polygonalen Ap-
des 13. Jahrhunderts eine Baukampagne gestartet worden
sis und den beiden vorgelagerten Jochen den zentralen
sein soll, bei der die Vergangenheit ignoriert und gänzlich
Grundriss so auffällig durchbricht, liegt deckungsgleich
von Neuem verdrängt worden sein soll.268
über dem Ostchor der alten Südostbasilika. Die Nordwand der gotischen Apsis liegt genau über der alten Apsiswand;
262 Vgl. die Angleichung des Magdeburger Doms an römische Basiliken im Zusammenhang mit dessen Primatsanspruch (Kap. 3.5.2). 263 Grundlegende Studien zur Trierer Liebfrauenkirche lieferten: Borger-Keweloh 1986; Lückger/Bunjes 1938. Der aktuelle Forschungsstand zur frühchristlichen Anlage findet sich jedoch bei Weber 2011. Zur jüngsten Restaurierung siehe Ehlen 2011. 264 Hollstein 1980, S. 136f. 265 Ronig 2007, S. 164–166. In dieselbe Richtung bereits: Schenkluhn/ van Stipelen 1983, S. 29 mit Fußnote 24. 266 Zur stilistischen Einordnung grundlegend: Borger-Keweloh 1986, S. 122–127.
267 Z. B. Böker 1988, S. 678; Kempf 1968, S. 16. 268 Es wäre interessant, der Frage nachzugehen, inwieweit ein derartiges Denkmuster im Zusammenhang mit modernen Architekturvorstellungen steht. 269 Zum publizierten Forschungsstand bezüglich der direkten Vorgängerkirche von Liebfrauen s. Kap. 2.1. – Zur frühen Baugeschichte der Südostbasilika: Weber 2011; Ders. 2004 (4.–6.Jahrhundert); Ders. 2003 (4.–10.Jahrhundert). 270 Kap. 2.3.2.
2.6 IM KONTEXT DER DOMUS HELENAE – DER NEUBAU DER LIEBFRAUENKIRCHE IM 13. JAHRHUNDERT
77
2.01 Liebfrauenkirche zu Trier, Ansicht von Südosten mit Blick auf den Chor, im Hintergrund der Trierer Dom mit seinem Südwestturm (Klein 1998, S. 109) die Südwand ist ein kleines Stück nach Norden versetzt,
Richtung kann mit der Tradition des Ortes in Beziehung
was sich aus einer im Folgenden noch zu thematisieren-
gesetzt werden. Nach Osten hin erstreckt sich der neue
den leichten Achsverschiebung der neuen Kirche gegen-
Chor leicht erkennbar bis an die alte Apsisostwand, nach
über dem alten Bau erklären lässt. Die Breite des neuen
Westen reicht der gotische Chor genau an die für die früh-
Chores stimmt damit quasi mit dem vormaligen über-
christliche und frühmittelalterliche Zeit archäologisch
ein. Auch die Länge des gotischen Chores in Ost-West-
nachgewiesenen Reste einer Schrankenanlage heran,
78
2 DER DOM UND DIE LIEBFRAUENKIRCHE ZU TRIER
2.02 Liebfrauenkirche zu Trier, Mittelschiff, Blick nach Osten (Ronig 1982, S. 42)
welche den Übergang zum liturgischen Chor im Lang-
hungen von Chor und Apsis zum etablierten Ort zu bewah-
haus definierte. Dies ist insofern bemerkenswert, als der
ren, lässt sich auch an der strukturellen Disposition der
Chorbereich somit jeweils ganz andersartig artikuliert
Joche ablesen. Sämtliche Rechteckjoche des Baus wurden
wurde: In der alten Basilika schrankte man ihn lediglich
mit hoher Präzision in der gleichen Länge gefertigt; nur
im Innenraum ab, bei der gotischen Kirche wurde er hin-
das unmittelbar vor der Apsis liegende Joch wurde schma
gegen architektonisch signifikant vom übrigen Baukörper
ler ausgeführt (Abb. 2.03). Dies lässt sich aus der Tradi-
abgesetzt. Dass der Ort des Chores über die Jahrhunderte
tion des Ortes erklären, denn nur auf diese Weise blieb die
hinweg trotzdem eine feste Konstante im Grundriss blieb,
räumliche Kontinuität von Chor und Apsis gewahrt. Hätte
macht die Bedeutung der Tradition des Ortes ersichtlich.
man das vorapsidiale Joch genauso lang ausgeführt wie
Des Weiteren stimmen die beiden vorapsidialen Joche
die übrigen Rechteckjoche, so läge die neue Apsis nicht
in der Länge genau mit dem Teil des vormaligen Chores
genau über der alten, sondern wäre nach Osten verscho-
überein, der vor der alten Apsis lag. Die gotische Polygo-
ben worden. Gestalterisch überspielte man diese Irregu-
nalapsis beginnt entsprechend an der Stelle, an der auch
larität übrigens geschickt, indem man das vorapsidiale
die alte Apsis ansetzte. Das Bestreben, räumliche Bezie-
Joch nicht wie die übrigen Joche mit einem Rippenkreuz
79
2.6 IM KONTEXT DER DOMUS HELENAE – DER NEUBAU DER LIEBFRAUENKIRCHE IM 13. JAHRHUNDERT
2.03 Liebfrauenkirche zu Trier, Grundriss (Binding 2000, S. 154) überwölbte, sondern zwei Rippen zum Schlussstein der
Vorgängerin herstellen lassen, sprechen dafür, dass dieses
Apsisrippen hin spannte, so dass das vorapsidiale Joch
räumliche Konzept wiederum mit der Tradition des Ortes
mittels des Gewölbes gestalterisch mit dem 5/10-Schluss
in einem Zusammenhang steht. Die Mittelachse, die als
der gotischen Apsis verschliffen wird. Dadurch ist die
Rückgrat des Grundrisses vom Westportal zum Ostchor
abweichende Länge für den Betrachter nur bei genauem
verläuft, entspricht nämlich quasi dem vormaligen Mit-
Hinschauen erkennbar.
telschiff der Basilika (Abb. 2.04; vgl. Abb. 1.09). Die nördlichen Stützen stehen exakt in der Flucht der vormaligen
Die Ost-West-Achse
Mittelschiffstützen, welche von der nördlichen Chorwand
Der Grundriss der Liebfrauenkirche lässt sich zwar einer-
fortsetzt wird, die, wie zuvor beschrieben, in der Flucht
seits als Zentralbau charakterisieren, es lassen sich aber
und teilweise über der Nordwand der vorherigen Apsis er-
andererseits auch zwei längsgerichtete Achsen aus dem
richtet wurde. Die südliche Stützenreihe wurde allerdings
Grundriss lesen, welche durch die Abfolge der breiten, von
im Verhältnis zu den basilikalen Stützen ca. 1,5 Meter
Nord nach Süd und von Osten nach Westen verlaufenden
nach Norden hin verlagert, weshalb sich die Mittelachse
Rechteckjoche definiert werden (vgl. Abb. 2.03). Am Kreu-
der Kirche um ca. 0,75 Meter in diese Richtung verschob.
zungspunkt der beiden Achsen im Zentrum der Kirche be-
Als Ursache für die leichte Achsverschiebung führt
findet sich ein großes quadratisches Joch, über dem sich
Franz Ronig die Rücksichtnahme auf die ehemals süd-
ein stattlicher Turm erhebt. Aufgrund des nach Osten vor-
lich angrenzende Stephanuskapelle an,271 was insofern
springenden Chores ist die west-östliche Achse länger als
nachvollziehbar erscheint, als die Strebepfeiler der Lieb-
ihr nord-südliches Pendant, so dass trotz des dominieren-
frauenkirche knapp an die Außenwand der Kapelle heran-
den Zentralbaucharakters das längsgerichtete Raumkon-
reichten (vgl. Abb. 2.04).272 Allerdings wäre es auch durch-
zept der alten Basilika spürbar bleibt. Die räumlichen Be-
aus möglich gewesen, den Grundriss so zu modifizieren,
ziehungen, die sich zwischen der neuen Kirche und ihrer
dass die südliche Stützenreihe in der vormaligen Flucht
271 Ronig 2003, S. 225. 272 Die neuere Stephanuskapelle, welche heute nicht mehr existiert, wurde um 1200 geweiht (Zink 1980a, S. 50). Man fand ihre Über
reste bei den Ausgrabungen 1948 südlich von Liebfrauen, wo sie errichtet wurde, ohne dass ein Vorgängerbau an jener Stelle bestand.
80
2 DER DOM UND DIE LIEBFRAUENKIRCHE ZU TRIER
2.04 Liebfrauenkirche zu Trier, Grundriss mit Unterzeichnung der Fundamente älterer Bauphasen (Borger-Keweloh 1986, S. 38) stünde, ohne die Stephanuskapelle zu tangieren. Die
Die Fundamente
leichte Achsverschiebung lässt sich insofern besser mit
In der Literatur findet man im Zusammenhang mit Bau-
Blick auf den ergrabenen Grundriss der alten Südostbasi-
werken, die in alten Fluchten errichtet werden, immer
lika erklären, deren nördliches Seitenschiff offenbar brei-
wieder den Hinweis, die neuen Bauteile stünden auf alten
ter angelegt war als das südliche. Es war somit schlichtweg
Fundamenten, wie es auch hinsichtlich der Liebfrauenkir-
gar nicht möglich, die exakt über quadratischem Raster
che behauptet wird.273
konstruierte Grundrissgeometrie der gotischen Kirche in
Dies führt in vielen Fällen zu der Annahme, dass die
jeder Hinsicht mit dem alten Grundriss zu synchronisie-
alten Fluchten nur aufgegriffen wurden, um Kosten zu
ren. Hätte man beide Seitenwände des alten Mittelschif-
sparen, indem man die neuen Bauteile auf die alten Fun-
fes genau aufgegriffen, hätten sich die Außenwände der
damente gründete. Eine genaue Analyse der Fundamente
achssymmetrischen gotischen Kirche an zwei Seiten über
der Liebfrauenkirche widerlegt eine derartige These je-
den alten Umriss hinaus verschoben. Offensichtlich nahm
doch. Sämtliche gotischen Fundamente wurden nämlich
man aber lieber eine geringfügige Verschiebung der Mit-
durch die alten Fundamentschichten hindurch bis auf
telachse in Kauf, bei der die räumlichen Übereinstimmun-
den gewachsenen Boden gegründet (Abb. 2.05).274 Das be-
gen von gotischen Jochen und ehemaligem Mittelschiff
deutet, dass, wenn wie bei der nördlichen Stützenreihe die
dennoch frappant blieben.
alte Flucht der Mittelschiffstützen exakt aufgenommen
273 Z. B. Ronig 2003, S. 217; Schenkluhn/van Stipelen 1983, S. 29.
274 Weber 2009, S. 468; Abb. 2.
2.6 IM KONTEXT DER DOMUS HELENAE – DER NEUBAU DER LIEBFRAUENKIRCHE IM 13. JAHRHUNDERT
81
werden sollte, zunächst die alten Fundamente entfernt
vormaligen Gründungen schon aufgrund ihrer vergleichs-
werden mussten, um das neue Fundament unterhalb des
weise geringen Breite für den Neubau unbrauchbar waren.
vorherigen Fundamentniveaus auf festen Boden zu stel-
Folglich verursachte der Abriss der Altfundamente ei-
len. Dieser Befund lässt sich durchgehend am ganzen
nen erhöhten Arbeits- und Zeitaufwand gegenüber einer
Gebäude ausmachen (Abb. 2.06). Auch die alten Chorfun-
Neufundamentierung an anderer Stelle, denn zunächst
damente wurden ausgehoben, um an ihrer Stelle den goti-
mussten die vorhandenen Fundamente mühselig abgetra-
schen Chor zu gründen.275 Selbst für die achsverschobene
gen werden. Mit der Entscheidung für die Wahrung der
südliche Stützenreihe mussten alte Fundamente entfernt
alten Fluchten sparte man demzufolge keine Kosten, son-
werden, weil die neuen so breit angelegt wurden, dass sie
dern nahm im Gegenteil höhere Kosten billigend in Kauf.
die alte Gründung überschnitten.
Dieser Umstand verdeutlicht, wie sehr es im Interesse der
Eine Weiternutzung der alten Fundamente wäre aber ohnehin nicht möglich gewesen, weil die Fundamente
Erbauer lag, alte Fluchten aufzugreifen, um die räumlichen Relationen des alten Grundrisses zu wahren.
der gotischen Kirche andersartige, weitaus höhere Lasten aufnehmen müssen, als diejenigen der vorherigen Basi-
Das Portal vom Dom nach Liebfrauen
lika.276 Im Falle der Liebfrauenkirche lässt sich dies auch
Noch in einem weiteren Punkt kann ein räumlicher Bezug
ohne statische Kenntnisse leicht erkennen, indem man
zur Tradition des Ortes nachgewiesen werden. Hierzu soll
die Breite der ergrabenen Mittelschifffundamente mit
zunächst in Erinnerung gerufen werden, dass Dom und
der Breite der zentralen gotischen Pfeiler vergleicht. Die
Liebfrauenkirche wohl seit der Gründung im 4. Jahrhun-
neuen Punktfundamente der Pfeiler sind nämlich deut-
dert bis 1803 eine liturgische Einheit bildeten (Taf. 2.03).277
lich breiter als die alten Streifenfundamente, so dass die
In der liturgischen Praxis des Mittelalters äußerte sich
2.05 Liebfrauenkirche zu Trier, Grabungsbefund am nordöstlichen Vierungspfeiler, Detail des Modells im Bischöflichen Dom- und Diözesanmuseum Trier (Hauke Horn, 2009)
275 Weber 2011, S. 32. 276 Vgl. die Ausführungen zum ähnlich gelagerten Fall beim Umbau des Essener Münsters im 13./14. Jahrhundert (Kap. 4.2.3).
277 Kap. 2.1.
82
2 DER DOM UND DIE LIEBFRAUENKIRCHE ZU TRIER
2.06 Liebfrauenkirche zu Trier, Grabungsbefunde der jüngsten archäologischen Kampagne (Weber 2009, S. 469)
das darin, dass Prozessionen vom Dom aus in die Lieb-
Jahrzehnte vor dem Beginn der Neubauarbeiten geschaf-
frauenkirche führten und bestimmte Feiern in beiden Kir-
fen wurde (Taf. 2.03). Demzufolge müsste der Weg vom
chen begangen wurden.278 Das Portal, durch welches man
Dom in den unmittelbaren Vorgängerbau der gotischen
vom Dom in die Liebfrauenkirche schritt, ist noch heute
Kirche ebenfalls durch dieses Portal geführt haben. Diese
erhalten und für den Besucherverkehr zwischen beiden
Erkenntnis lässt zwei interessante Folgerungen zu. Ers-
Kirchen geöffnet (Taf. 2.01). Aufgrund des Stils der reich
tens muss das romanische Portal zwangsläufig ein älteres
verzierten Bauglieder sowie der Figuren des Tympanons
Portal an derselben Stelle ersetzt haben, da es schließlich
kann das Portal in die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts
in ein bestehendes Baugefüge mit vorhandenen Wegbezie-
datiert werden,279 was heißt, dass es vor Baubeginn der
hungen eingesetzt wurde. Bereits vor der zweiten Hälfte
Liebfrauenkirche entstanden war. Im Zentrum des Tym-
des 12. Jahrhunderts muss dieser Ort demnach als Über-
panons thront Christus zwischen Maria und Petrus, der
gang von Dom zu Liebfrauen genutzt worden sein. Zwei-
anhand seiner Attribute, Schlüssel und Buch, identifizier-
tens wurde beim Entwurf der gotischen Liebfrauenkirche
bar ist. Da es sich hierbei um die Hauptpatrone von Dom
offensichtlich auf die tradierten Wegbeziehungen zwi-
(Petrus) und Liebfrauenkirche (Maria) handelt, steht das
schen den beiden Kirchen Rücksicht genommen, so dass
Bildprogramm des Tympanons in direktem Zusammen-
diesbezüglich eine räumliche Kontinuität gewährleistet
hang mit der Funktion des Portals, welches schließlich
wurde,280 die heute noch besteht, auch wenn ihr liturgisch
den Übergang zwischen den beiden Gebäuden markiert.
seit der Säkularisation keine Bedeutung mehr zukommt.281
Hinsichtlich der hier untersuchten Fragestellung ist es
Die beiden Portale sind durch einen kreuzrippenge-
von besonderem Interesse, dass das Portal in der südlichen
wölbten Gang verbunden, dessen Lage und Dimensionen
Domwand fast in einer Flucht mit dem neueren, gotischen
diese Folgerungen unterstützt, denn der im Zuge des go-
Nordportal der Liebfrauenkirche steht, obwohl es mehrere
tischen Neubaus von Liebfrauen errichtete Raum ersetzt
278 Ronig 2004, S. 251f.; Ders. 2003, S. 220f.; Borger-Keweloh 1986, S. 41. – Die Grundlage für die Beschäftigung mit der hochmittelalterlichen Liturgie im Dom und Liebfrauen bildet die Studie zum Trierer Liber Ordinarius von Kurzeja 1972. 279 Ronig 2004, S. 251; Ders. 1980b, S. 242f.; Irsch 1931, S. 188. 280 Die Beibehaltung der tradierten Wegbeziehung ist umso bemerkenswerter, weil es dem gotischen Baumeister trotz der Realisierung eines Grundrisses von hoher geometrischer Präzision gelang, neben Apsis und Westportal einen weiteren vorgegebenen Fix-
punkt zu integrieren. Dieser Spagat gelang, indem das Nordportal der gotischen Kirche nicht exakt in der Flucht des alten Portals in der Domsüdwand errichtet, sondern leicht nach Westen versetzt wurde. Diesen notwendigen Kompromiss überspielte man jedoch geschickt mit dem breiten Gang, der den Raum zwischen den Portalen aufweitet, so dass der Versatz kaum wahrnehmbar ist. 281 Nach der Trennung der beiden Kirchen 1803 wurde das Portal zunächst vermauert. 1959 wurde es anlässlich der damaligen HeiligRock-Wallfahrt wieder geöffnet (Ronig 1980b, S. 242).
2.6 IM KONTEXT DER DOMUS HELENAE – DER NEUBAU DER LIEBFRAUENKIRCHE IM 13. JAHRHUNDERT
83
einen frühmittelalterlichen Gang an derselben Stelle in
die Fenster des oberen Turmgeschosses ohne Maßwerk
der gleichen Breite.
Zudem lässt sich die eigenartige, po-
als rundbogige Zwillingsfenster, welche jeweils von einem
lygonale Apsis in der Ostwand des gotischen Verbindungs-
runden Blendbogen überfasst werden, und ahmte damit
282
gangs aus der Tradition des Ortes erklären. Anstelle der
die Gestaltung der oberen Turmgeschosse der romani-
Apsis befand sich vormals nämlich der Zugang zu einer
schen Westfront nach.286 In der älteren Literatur beurteilte
kreuzförmigen Kapelle, die in der Literatur als ältere Ste-
man diese Abweichung von stilgeschichtlichen Normen
phanuskapelle gedeutet wird, welche ca. 25 Jahre vor der
als Zeichen für Rückständigkeit:
gotischen Neubaukampagne südlich von Liebfrauen neu errichtet wurde.283 Die polygonale Apsidiole würde sich also als Erinnerungsform an die vormals dort befindliche Kapelle erklären.
2.6.2 Gestalterische Bezüge zur Tradition des Ortes Kompositorische Parallelen zwischen den Westfronten von Dom und Liebfrauen Die Westfront von Dom und Liebfrauen stellt heute unbestritten die repräsentative Hauptansicht des Ensembles dar, welche dem Betrachter vom geräumigen Domfreihof
»Die Fenster des oberen Geschosses kehren sogar zur romanischen, rundbogigen Form ohne Maßwerk zurück. Es ist ganz offensichtlich, daß hier ein Meister am Werke ist, der mit dem gotischen Bausystem noch nicht frei und selbstständig zu schaffen versteht, seinen klaren, logischen Gliederaufbau noch nicht völlig erfaßt hat. Wo er sich nicht direkt an sein Vorbild Reims anlehnt, zeitigt er noch Romanismen. Gerade für den Vierungsturm sah er in Reims kein Beispiel; darum baut er ihn ganz aus romanischem Empfinden heraus, wie er es ursprünglich gewöhnt war, ...«.287
aus einen Blick auf beide Gebäude ermöglicht (Abb. 2.07).284
Ganz offensichtlich hielt Wilhelm-Kästner den gotischen
Die Liebfrauenkirche steht südlich dicht neben dem Dom
Baumeister für unfähig, die Maßwerkfenster, die er am übri-
und ihre Westfront liegt mit derjenigen des Doms in einer
gen Bau ausführen ließ, auch am Vierungsturm zu realisie-
Flucht, so dass bereits die Stellung der beiden Kirchen
ren. Dies impliziert einen gehörigen Mangel an Kreativität
zueinander auf eine Zusammengehörigkeit hinweist. Wie
und Intelligenz, der im krassen Gegensatz zur individuellen
zuvor beschrieben, steht die gemeinsame Flucht der West-
Qualität der Liebfrauenkirche steht, die wie noch zu zeigen
fronten in Bezug zu älteren Bauzuständen.285
ist, insbesondere beim Grundriss zum Ausdruck kommt.
Beim Vergleich der beiden Westfronten fallen einige
Erstaunlich ist zudem, dass der benachbarte Dom, dem die
kompositorische Parallelen auf. Die Front der Liebfrau-
Liebfrauenkirche subordiniert war, überhaupt keine Beach-
enkirche wird analog zum Dom seitlich von runden Trep-
tung fand. Den Maßstab für die Beurteilung der Formen
pentürmen gefasst (Abb. 2.08). Der zentrale Hauptturm
bot ausschließlich die französische Architektur der Zeit.
der Liebfrauenkirche greift die beiden großen quadrati-
Dabei lassen sich noch weitere Elemente der Gestal-
schen Westtürme des Doms auf, denen er in Geometrie,
tung mit der westlichen Domfassade in Zusammenhang
städtebaulicher Präsenz und struktureller Disposition
bringen: Die großen Rundbögen, welche die spitzbogigen
über einem Langhausjoch entspricht. Weiterhin rekur-
Maßwerkfenster über dem Westportal von Liebfrauen
riert die Fenstergestaltung des gotischen Vierungsturmes
überfangen, greifen beispielsweise die großen Rundbögen
auf die Domtürme, deren romanische Detailformen man
auf, welche die Westportale des Doms überspannen. Die
imitierte (Taf. 2.02). Abweichend von allen übrigen Fens-
Gestaltung der Westfront von Liebfrauen wurde demnach
tern der Liebfrauenkirche, die in hochgotischen Formen
auf die bestehende Architektur des Doms abgestimmt,
formal einheitlich aus Spitzbögen und Maßwerk mit Viel-
indem zentrale Motive von dessen Komposition am goti-
pässen im Couronnement gebildet wurden, gestaltete man
schen Bau aufgegriffen wurden.
282 Kempf 1975, Abb. 3. 283 Zur älteren Stephanuskapelle: Kempf 1975, S. 16–18. – Zur neueren Stephanuskapelle: Zink 1980a, S. 50. – Vielleicht lässt sich die Verlegung der Kapelle somit als vorbereitende Maßnahme für den anstehenden Neubau der Liebfrauenkirche verstehen. 284 Der Domfreiplatz wurde im Zuge der Baukampagne unter Bischof Poppo im 11. Jahrhundert anstelle der alten Nordwestbasilika angelegt (Weber 1996, S. 122). Ein wichtiger Grund dafür dürfte nicht zuletzt die Absicht gewesen sein, die neue monumentale Westfront besser zur Geltung bringen zu können.
285 Kap. 2.3.2. 286 Heute überragt der Südturm des Doms mit einem zusätzlichen Geschoss die anderen Türme. Dieses Geschoss mit seinen spitzbogigen Maßwerkfenstern wurde jedoch erst um 1515 unter Erzbischof Richard von Greiffenklau angelegt und war somit zur Erbauungszeit der Liebfrauenkirche nicht vorhanden (Zink 1980a, S. 53). 287 Hamann/Wilhelm-Kästner 1924, S. 41.
84
2 DER DOM UND DIE LIEBFRAUENKIRCHE ZU TRIER
2.07 Dom zu Trier, Süd westturm und Liebfrauen kirche, Westansicht, vom Domfreihof aus gesehen (Hauke Horn, 2007)
Die Westfassade als Erinnerungsform an einen Westturm
Während die Komposition des Baukörpers signifi-
Weitaus schwieriger zu fassen sind die Formen der goti-
kante Parallelen zur Domfassade aufweist, setzt sich die
schen Kirche, die in ästhetisch-gestalterischem Zusam-
Westfassade der Liebfrauenkirche mit einem eigenständi-
menhang mit der Vorgängerbasilika stehen, weil die Ge-
gen Aufbau von jener ab (vgl. Abb. 2.08). Über dem reich
stalt des Gebäudes unmittelbar vor dem Abriss nicht mehr
mit Skulpturen geschmückten Westportal erheben sich
bekannt ist.288
zwei nahezu identische Fenstergeschosse mit spitzbogi-
2.6 IM KONTEXT DER DOMUS HELENAE – DER NEUBAU DER LIEBFRAUENKIRCHE IM 13. JAHRHUNDERT
85
schen Westfassade hervorrief, werden somit durch den archäologischen Befund in den Status einer fundierten These erhoben.
Das achsverschobene Fenster Noch ein weiterer Aspekt der Westfassade kann mit der Tradition des Ortes in Zusammenhang gebracht werden. Die verschiedenen Elemente der Fassade sind präzise mittig an einer vertikalen Achse ausgerichtet, und auf diese Weise einer gemeinsamen, übergreifenden Ordnung unterworfen. Allein das über dem Portal befindliche Spitzbogenfenster fällt aus der Reihe, denn es sitzt gegenüber der Mittelachse und den anderen Fassadenelementen nach rechts (Süden) verschoben in der Wand, was besonders in Relation zu dem Blendbogen, welcher das Fenster überfängt, deutlich wird (vgl. Abb. 2.08). Nun wird man einer solchen Irregularität zunächst kaum eine Bedeutung einräumen wollen. Auffällig ist jedoch, dass der Bau an-
2.08 Liebfrauenkirche zu Trier, Westansicht (Lückger/Bunjes 1938, S. 136)
sonsten mit höchster Präzision errichtet wurde, so dass es verwundern würde, wenn ausgerechnet an der repräsentativen Hauptansicht eine vermeintliche Schludrigkeit tole-
gen Maßwerkfenstern, bevor ein Giebel mit einer monu-
riert worden wäre.
mentalen Kreuzigungsgruppe die Fassade nach oben hin
Eine Erklärungsmöglichkeit bietet sich, wenn man
abschließt. Die Vertikalität der Fassade weckt unweiger-
die Westfassade zum neuen und alten Grundriss der Lieb-
lich Assoziationen an einen Turm, was räumlich dadurch
frauenkirche in Beziehung setzt. Die vertikale Mittelachse
verstärkt wird, dass die eigentliche Westwand plastisch
der Westfassade markiert nämlich zugleich die horizon-
hervortritt, wohingegen die anstoßenden Mauern schräg
tale Mittelachse des gotischen Grundrisses in West-Ost-
nach hinten zurückspringen, so dass eine ungewöhnliche
Richtung. Wie zuvor beschrieben musste die Mittelachse
Tiefenstaffelung entsteht.
der gotischen Kirche gegenüber dem Vorgängerbau et-
In diesem Kontext sind die jüngsten Ergebnisse der
was nach Norden verschoben werden, um die geometri-
2007/08 unter Winfried Weber durchgeführten Grabun-
sche Genauigkeit des Grundrisses zu gewährleisten (vgl.
gen in der Liebfrauenkirche äußerst interessant, denn
Abb. 2.04).291 Allein das Spitzbogenfenster der Westfassade
im Westteil der Liebfrauenkirche fanden sich Reste win-
ordnet sich nicht der neuen Mittelachse unter. Seine Mitte
kelförmiger Pfeiler, die auf einen vormaligen Westturm
scheint stattdessen auf die Mittelachse des Vorgänger-
schließen lassen (vgl. Abb. 2.06).
baus bezogen zu sein. Die Achsverschiebung des Fensters
289
Die Stratigraphie der
Funde erlaubt eine Datierung der Pfeiler in die Zeit des
wäre somit als Erinnerungsform an die alte Mittelachse
Wiederaufbaus der Liebfrauenkirche nach dem Norman-
zu verstehen.292 Beim ersten Hören mag ein derartiger
nensturm 882.290 Der spätkarolingische Westturm scheint
Zusammenhang überinterpretiert klingen. A ngesichts
bis zum Neubau der Kirche 1227 bestanden zu haben; zu-
der vielfältigen zuvor erörterten räumlichen Beziehungen
mindest gibt es keine Hinweise auf einen früheren Abriss,
zwischen Neubau und Vorgängerbau scheint die Inter-
so dass der Turm dem gotischem Baumeister als Referenz
pretation jedoch schlüssiger, als von einer Ungenauigkeit
für die neue Westfassade dienen konnte. Die Assoziatio-
beim Bau der ansonsten höchst genau geplanten Kirche
nen an einen Westturm, welche die Gestaltung der goti-
auszugehen.
288 Kap. 3.1. 289 Weber 2009, S. 468. Weber wertet die Fundamente als Hinweis auf eine »westwerkähnliche Gestaltung des vorgotischen Baus« (Ebd.). 290 Ebd.
291 Kap. 2.6.1. 292 So auch Ronig 2011, S. 62f.; Ders. 2003, S. 226, der allerdings die Lage der Stephanuskapelle für den Grund der Achsverschiebung hält.
86
2 DER DOM UND DIE LIEBFRAUENKIRCHE ZU TRIER
2.6.3 Der Grundriss im Kontext der Tradition des Ortes
Yved zu Braine in der Nähe von Soissons (Abb. 2.09), die sich in der Literatur seither hartnäckig als Referenz hält,296
Erklärungsansätze für die Zentralbauform in der Literatur
obwohl es sich nicht einmal um einen Zentralbau handelt.
Die Trierer Liebfrauenkirche stand schon im 19. Jahrhun-
So schrieb 1924 etwa Kurt Wilhelm-Kästner, der an dieser
dert im Fokus der kunsthistorischen Forschung, weil es
Stelle exemplarisch für zahlreiche gleichlautende Meinun-
sich um das älteste Bauwerk im deutschen Raum handelt,
gen zitiert wird:
bei dem sich eine Übernahme von Formen der französischen Gotik feststellen ließ (vgl. Abb. 2.01, 2.02).293 Mit dem methodischen Ansatz der Stilkritik gelang es nachzuvollziehen, dass vor allem ein Formentransfer von der
»Der Grundriß der Liebfrauenkirche ist aus der Verdopplung des Chormotives in St. Yved in Braisne bei polygonalem Querschiffsschluß hervorgegangen.«297
seit 1211 im Bau befindlichen Kathedrale in Reims nach
Zur Erklärung der Trierer Zentralbauform trägt eine der-
Trier stattfand.294
artige Aussage allerdings nicht bei; sie wirft im Gegenteil
Für Irritationen sorgt seit dem 19. Jahrhundert aller-
die Frage auf, welchen Sinn eine derartige Verdopplung er-
dings der außergewöhnliche Grundriss (vgl. Abb. 2.03),
gäbe. Die Gründe, welche Wilhelm-Kästner zu jener Aus-
weil er im Gegensatz zu den Baugliedern eben nicht pro-
sage verleiten, werden indes im weiteren Verlauf seiner
blemlos von den gotischen Bauten Frankreichs abgeleitet
Ausführungen deutlich:
werden konnte, so dass Hans Böker 1988 bezüglich der Trierer Liebfrauenkirche zu Recht feststellte, dass »manche Fragen, etwa nach dem Sinn ihrer ungewöhnlichen Zentralraumform, nach wie vor ungelöst sind.«295 Obgleich der hinsichtlich der Einzelformen erfolgreiche Ansatz, auf formaler Ebene französische Vorbilder zu suchen, sich also nicht auf den Grundriss übertragen ließ, verharrte die ältere Kunstgeschichte zunächst in ihrem bekannten methodischen Muster und suchte nach einem älteren französischen Bauwerk, um den Grundriss der Liebfrauenkirche
»Die zweigeschossige Fensteranlage der Kreuzarme, die wuchtige Strebepfeilergliederung, ferner die großen dreiteiligen Fenster an den Stirnseiten der Kreuzarme (ausgenommen im Ostchor) weisen auf Saint-Léger in Soissons hin. Die polygonale Gestaltung der Kreuzarme erinnert an die Dreikonchenanlage der Kathedralen von Noyon und Soissons. Die Einzelformen aber schließen sich in noch viel stärkerem Maße als in Marburg an die Kathedrale von Reims an.«298
erklären zu können. Bereits zur Mitte des 19. Jahrhunderts
Die Liebfrauenkirche käme nach der Darstellung Wilhelm-
bemühte man hierfür die Prämonstratenserkirche Saint-
Kästners also einem Pasticcio gleich, bei dem Formen
2.09 Braine (Frankreich), Grund riss der Prämonstratenserkirche Saint-Yved (Binding 2000, S. 135) 293 Zur stilistischen Einordnung von Liebfrauen grundlegend: BorgerKeweloh 1986, S. 110–131 (mit Diskussion der älteren Forschung und Literaturhinweisen); Lückger/Bunjes 1938, S. 157f. 294 Zuletzt überzeugend bei Borger-Keweloh 1986, S. 122–127. 295 Böker 1988, S. 678.
296 Zur Forschungsgeschichte dieser These: Borger-Keweloh 1986, Anm. 348; Klein 1984, S. 231. 297 Hamann/Wilhelm-Kästner 1924, S. 39. 298 Ebd.
2.6 IM KONTEXT DER DOMUS HELENAE – DER NEUBAU DER LIEBFRAUENKIRCHE IM 13. JAHRHUNDERT
87
verschiedener französischer Kirchen nach dem Baukas-
Kempf zur Mitte des 20. Jahrhunderts jegliche Grundlage
ten-Prinzip neu zusammengesetzt worden wären. Diese
entzogen wurde,303 weil jene den Nachweis erbrachten,
Auffassung impliziert jedoch eine Beliebigkeit und damit
dass es sich bei der alten Liebfrauenkirche stets um einen
Austauschbarkeit der Formen, welche der Einheitlichkeit
Richtungsbau gehandelt hatte, wird auch in der jüngeren
des Raumes und der einheitlichen tektonischen Syste-
Literatur zuweilen noch an der These von einem Zentral-
matik ebenso wenig gerecht wird wie der ganzheitlichen
bau als Vorgänger festgehalten.304
Entwurfskonzeption. Fragen nach den speziellen Anfor-
Marc Carel Schurr brachte 2007 erneut den lokalen
derungen an die Kirche, sei es Lage, Funktion, Tradition,
Kontext ins Spiel, indem er einen heute nicht mehr existie-
etc. werden nicht aufgeworfen, wie auch der eigenständige
renden Zentralbau südöstlich der gotischen Liebfrauenkir-
baukünstlerische Wert der Kirche nicht gewürdigt wird.
che als alte Marienkirche interpretierte (vgl. Abb. 1.09),305
Bruno Klein und Nicola Borger-Keweloh diskutier-
während die Südbasilika Johannes Baptist geweiht gewe-
ten in den 1980er Jahren den Vergleich zwischen Trier
sen sein soll.306 Im 13. Jahrhundert wären laut Schurr beide
und Braine eingehend und kamen unabhängig vonein-
Kirchen abgerissen worden und die Liebfrauenkirche am
ander zu dem nachvollziehbaren Ergebnis, dass sich die
Ort der Johanneskirche neu aufgebaut worden. Grund-
Ähnlichkeit zwischen beiden Kirchen auf wenige formale
rissform und Patrozinium der gotischen Liebfrauenkirche
Gemeinsamkeiten beschränke, so dass die besondere
würden somit nach Schurr an eine alte Marienkirche im
Trierer Grundrisskonzeption folglich nicht von Braine
Südosten der heutigen erinnern.307
abgeleitet werden könne.
Dennoch hat sich die These
Archäologisch nachweisen lassen sich im Südosten
so sehr in der Literatur verfestigt, dass auch in jüngeren
der Anlage allerdings nur die Fundamentzüge eines Zen-
Publikationen noch darauf zurückgegriffen wird.300 Doch
tralbaus, wohingegen jegliche Spuren von Fußböden und
selbst wenn man an der Ableitung des Grundrisses aus
aufgehenden Mauern fehlen, so dass davon ausgegangen
Braine festhalten möchte, so bliebe die nicht unerhebli-
werden kann, dass der betreffende Bau begonnen, aber nie
che Frage offen, welchen Grund man in Trier überhaupt
fertiggestellt worden ist.308 Doch selbst wenn der fragliche
gehabt haben sollte, einen Teil jener Kirche nachzuah-
Zentralbau jemals aufrecht stand, so kann er höchstens bis
men.301
ins 10. Jahrhundert existiert haben, da spätestens in jener
299
Schon in der älteren Literatur regten sich deshalb
Zeit nachweislich ein Klaustrum an seiner Stelle errich-
Zweifel, ob der Vergleich mit Braine für eine Erklärung
tet wurde.309 Demnach kann die Liebfrauenkirche defini-
der Trierer Grundrissfigur genügen kann, so dass man in
tiv nicht im 13. Jahrhundert an die Stelle der Südbasilika
den 1930er Jahren die Hypothese von einen Zentralbau als
verlegt worden sein. Weiterhin kann wohl ausgeschlossen
Vorgänger der gotischen Kirche aufstellte und damit inte-
werden, dass ein Bauwerk, das, falls es überhaupt je exis-
ressanterweise erstmals die Tradition des Ortes als mög-
tierte, zu Beginn des 13. Jahrhunderts seit mindestens 300
lichen Erklärungsansatz in Erwägung zog.302 Obgleich
Jahren nicht mehr stand, Einfluss auf die Grundrissge-
dieser Hypothese durch die Grabungen unter Theodor
staltung von Liebfrauen gehabt hätte.
299 Borger-Keweloh 1986, S. 118–122; Klein 1984, S. 230–234. 300 Z. B. Ronig 2011, S. 65; Binding 2000, S. 156. – Böker versucht gar den Westteil der Liebfrauenkirche als verkürztes Langhaus zu deuten, um die Beziehung zu St. Yved aufrecht erhalten zu können (Ders. 1988, S. 679). Konsequenterweise versteht er die Kapellen im Osten als »räumliche Kontraktion eines gotischen Umgangschores mit Kapellenkranz« (Ebd.). Mit gleicher Aussagekraft könnte ein Kreis als Quadrat ohne Ecken gelesen werden. 301 Schenkluhn/van Stipelen machten sich über diesen Punkt Gedanken und deuteten die angebliche Nachahmung von St. Yved in Braine unter Hinweis auf deren Funktion als Ordenskirche der Praemonstratenser (Dies. 1983, S. 32–34). Die Liebfrauenkirche sollte demnach nach Osten hin bewusst praemonstratensisch aussehen. Den historischen Nachweis der notwendigen Voraussetzung, dass am Trierer Dom zu jener Zeit tatsächlich Beziehungen zu den Praemonstratensern bestanden, blieben sie allerdings schuldig. 302 Lückger/Bunjes 1938, S. 130. 303 Kempf 1975, Abb. 6, 7; Ders. 1951, S. 58. Mittlerweile steht fest, dass es sich wie zuvor um eine dreischiffige Basilika gehandelt hat (Weber 2011, S. 46–48). 304 Klein 1998, S. 108. 305 Schurr stützt seine Ausführungen auf Helten 1992 und Kempf 1951
306 307 308
309
(Schurr 2007, Anm. 49). Zum aktuellen Kenntnisstand zum Rundbau vgl.: Weber 2003, S. 535; Kubach/Verbeek, 1976, Bd. 2, S. 1110 (mit weiterführenden Literaturhinweisen); Oswald/Schaefer/Sennhauser 1971, S. 344. Schurr 2007, S. 23–29. Schurr vertauscht konsequent die Himmelsrichtungen Norden und Süden, so dass er fälschlicherweise die Liebfrauenkirche als »Nordkirche« bezeichnet und den Zentralbau nordöstlich davon verortet. Ein solcher Hergang stünde in der frühmittelalterlichen Baugeschichte des Domkomplexes keineswegs vereinzelt. Der im 10. Jahrhundert begonnene Wiederaufbau des Doms beispielsweise war kaum über die Fundamente hinaus gediehen, als er Anfang des 11. Jahrhunderts zugunsten der kürzeren popponischen Erweiterung aufgegeben wurde, so dass die archäologisch nachgewiesenen Fundamente letztlich keinen realisierten Bauzustand nachzeichnen (Kap. 2.3.1). – An dieser Stelle danke ich Herrn Prof. Dr. Winfried Weber, seinerzeit Diözesanarchäologe des Bistums Trier und Direktor des dortigen Bischöflichen Dom- und Diözesanmuseums, der die Ergebnisse seiner Domgrabungen bereitwillig mit mir diskutierte und dabei manchen wertvollen Hinweis gab. Kubach/Verbeek 1976, Bd. 2, S. 1110.
88
2 DER DOM UND DIE LIEBFRAUENKIRCHE ZU TRIER
Die Beschreibung des Grundrisses in der Literatur
struktur ausgehend.314 Deshalb erkennen sie, dass um das
Die Interpretation des Grundrisses hängt, wie im Folgen-
zentrale Quadrat vier rechteckige Joche an den Seiten und
den gezeigt wird, im Wesentlichen mit der Art und Weise
vier quadratische Joche in den Ecken gruppiert wurden,
zusammen, wie seine Struktur beschrieben wird. Die Lite-
so dass abermals ein Quadrat entsteht, an welches wiede-
ratur sieht den Grundriss seit langer Zeit mehrheitlich um
rum die Kapellen und Konchen so angefügt wurden, dass
ein zentrales Kreuz organisiert, dessen Zwickel von dia-
die polygonal gebrochene Außenwand im Erdgeschoss
gonal gestellten Kapellenpaaren gefüllt werden.310 Man-
quasi einen kreisförmigen Umriss bildet.
che Autoren versuchen dieser Lesart subtil Nachdruck zu verleihen, indem sie einen Grundriss publizieren, bei
Die Nachahmung des Quadratbaus im Grundriss
welchem die Gewölbe der Mittelachsen im Gegensatz
Die Analyse von Schenkluhn und van Stipelen bringt
zu denjenigen der Zwickel nicht eingezeichnet sind, so
m. E. die Organisation des Grundrisses am treffendsten
dass sich graphisch ein Kreuz im Grundriss abzeichnet
zum Ausdruck. Den Kern des Grundrisses bildet nicht
(Abb. 2.10).
das Kreuz, sondern das Quadrat, welches derart in neun
311
Es ist zwar richtig, dass die Kreuzform in die Struk-
Joche unterteilt ist, dass um ein dominierendes zentra-
tur des Grundrisses eingebettet wurde, doch gibt diese
les Quadrat herum ein Ring mit rechteckigen Jochen an
Charakterisierung des Grundrisses das dreidimensionale
den Längsseiten und kleineren Quadraten in den Ecken
Raumgefüge im Inneren der Kirche nur unzureichend
entsteht. Die Quintessenz dieser Feststellung ist, dass die
wieder. Im Inneren stehend nimmt man die Grunddis-
beschriebene Grundrissdisposition im Kontext des Trierer
position stärker als konzentrisch organisiertes Raumge-
Domkomplexes nicht neu ist, sondern bestens vertraut: Es
füge wahr, da Mitteljoche und Kapellen aus der Betrach-
handelt sich um die Grundrissdisposition des spätantiken
terperspektive eine räumliche Einheit darstellen, die sich
Quadratbaus (Taf. 2.03).315
nicht so leicht auseinander dividieren lässt, wie es auf dem Grundrissplan den Anschein hat. Franz Ronig betont deshalb, dass der Grundriss vom zentralen Vierungsquadrat aus entwickelt wurde, auf des-
2.10 Liebfrauenkirche zu Trier, Grundriss, Variante mit graphischer Hervorhebung des zentralen Kreuzes (Lückger/Bunjes 1938, S. 133)
sen Grundlage er ein konzentrisches Schema aus Quadraten und Karos konstruiert, in welches sich die Joche, Kapellen und Konchen einpassen lassen.312 Zwar werden damit zwei elementare Ordnungsprinzipien des Grundrisses zum Ausdruck gebracht, nämlich Quadratismus und Konzentrismus, doch spiegelt das Schema eben nicht das reale Grundrisssystem wieder. Ronig wertet das Schema als vermessungstechnisches Hilfsmittel und sieht den Grundriss stattdessen in Einklang mit der älteren Forschungsmeinung als »zentrale Kreuzbasilika mit je zwei Kapellen in den Kreuzecken«313 konzipiert. Auch Wolfgang Schenkluhn und Peter van Stipelen gehen bei ihrer Analyse des Grundrisses vom Vierungsquadrat als Zentrum der Anlage aus, charakterisieren die Disposition im Weiteren aber von der realen Grundriss-
310 Z. B. Nussbaum 2011, S. 54; Klein 1998, S. 108; Borger-Keweloh 1986, S. 43; Lückger/Bunjes 1938, S. 135; Hamann/Wilhelm-Kästner 1924, S. 39. 311 Borger-Keweloh 1986, S. 44; Lückger/Bunjes 1938, Abb. 107. 312 Ronig 2011, S. 65f.; Ders. 2003, S. 222f.; Ders. 1995, S. 242. – Ronigs Vorschlag, auch den Aufriss aus einem geometrischen System zu entwickeln, kann allerdings nicht recht überzeugen, weil sich die geometrischen Figuren zum Teil gar nicht mit der Form des Aufrisses decken. 313 Ronig 2003, S. 226.
314 Schenkluhn/van Stipelen 1983, S. 29. 315 Auch Schenkluhn/van Stipelen erkennen, dass sich die Grundrissstruktur gleicht (Dies 1983, S. 29), räumen dem jedoch keine weitere Bedeutung ein, sondern interpretieren den Aufbau der Liebfrauenkirche stattdessen in erster Linie als Nachbildung der Aachener Pfalzkapelle, was mit Bestrebungen des Trierer Erzbischofs, das Krönungsrecht für die deutschen Könige zu erwerben, erklärt wird (Ebd., S. 34–38). Ronig verweist ebenfalls auf den Quadratbau, aber nur in Bezug auf das von ihm konstruierte Quadratschema, wohingegen er übersieht, dass es sich de facto um die gleiche Struktur
2.6 IM KONTEXT DER DOMUS HELENAE – DER NEUBAU DER LIEBFRAUENKIRCHE IM 13. JAHRHUNDERT
89
Insofern lässt sich ein signifikanter Zusammenhang
rückschwingt (vgl. Abb. 2.03, Taf. 2.03). Auf diese Weise
zwischen dem Grundriss der Liebfrauenkirche und der
weckt die Grundrissfigur Assoziationen an eine Rose, ei-
Tradition des Ortes herstellen. Nachdem die Grundriss-
nem im Mittelalter gebräuchlichen Symbol für Maria, der
struktur des Quadratbaus bereits beim Umbau des Doms
Patronin der Kirche. Diese ikonographische Deutung des
im 11. Jahrhundert wiederholt wurde,316 ahmte man dessen
Grundrisses wird nicht nur von heutigen Autoren vertre-
Grundriss offensichtlich beim Neubau der Liebfrauenkir-
ten,317 sondern lässt sich auch in einer alten Quelle von 1512
che im 13. Jahrhundert ein weiteres Mal nach. Dieses Vor-
greifen, welche Liebfrauen als »schöne herrliche Kirche,
gehen kann wohl kaum als rein formale Bezugnahme be-
von köstlicher und feiner Bauart, in Gestalt einer Rose«318
urteilt werden, weil der Quadratbau, wie zuvor dargelegt,
preist. Das in den Grundriss erkennbar eingebettete Kreuz
in der Trierer Legendarik als umgebauter Helena-Palast
kann hingegen als das herausragende Symbol christlichen
aufgefasst wurde, welcher die Tradition des Ortes ebenso
Glaubens wohl mit Recht christologisch gedeutet wer-
konstituiert wie authentifiziert. Durch die Entwicklung
den.319 Die im Grundriss symbolisch hergestellte Bezie-
der gotischen Liebfrauenkirche aus der Grundrissstruktur
hung zwischen Mutter und Sohn wurde schließlich auch
der domus Helenae heraus kompensierte man folglich den
im Skulpturenprogramm an der Westfassade thematisiert,
Totalabriss der alten Südkirche und verankerte den Neu-
wo Maria im Tympanon des Portals mit dem Jesuskind auf
bau tief in der Tradition des Ortes. Man kann die gotische
dem Schoß als sedes sapientiae thront, während im Giebel
Liebfrauenkirche demnach als freie Improvisation mit
der gekreuzigte Christus den programmatischen Abschluss
zeitgenössischen Mitteln über der traditionellen, sinnstif-
bildet. Ob Grundriss und Aufbau der Kirche noch darüber
tenden, genuin Trierer Grundrissstruktur auffassen.
hinausgehend theologisch gedeutet werden können, wie
Ausgehend von der Quadratbau-Struktur fügen sich
es Franz Ronig vorschlägt, mag sein, muss es aber nicht.320
auch die übrigen Teile des Grundrisses in eine sinnvolle Sys-
Trotzdem kann die symbiotische Durchdringung von do-
tematik ein. Die kleineren Quadrate in den Ecken der qua-
mus Helenae-Zitat, Marien- und Christussymbolik als zei-
dratischen Grundfigur nehmen dort einen integralen Platz
chenhaftes Mittel aufgefasst werden, die Liebfrauenkirche
im Gesamtgefüge ein. Den Seiten der Grundfigur ist je eine
als Teil des aus dem Palast der Heiligen hervorgegangenen
Konche in der Breite des Vierungsquadrates zugeordnet, die
Domkomplexes in der Heilsgeschichte zu verorten.
ihrerseits von zwei diagonal gestellten Kapellen flankiert
Verständlich wird das Kreuz im Grundriss indes auch
wird, welche aus dieser Perspektive wie Nebenapsiden wir-
aus dem Wunsch, tradierte Wegbeziehungen zwischen
ken. Damit bekommen die Kapellen und Quadratjoche eine
den Gebäuden des Domkomplexes zu erhalten, so dass
höhere Wertigkeit zugebilligt, als es die Charakterisierung
»die Liebfrauenkirche in die vorgegebene Bautensituation
als Füllung der Kreuzzwickel zum Ausdruck bringt.
eingespannt [wurde] wie in ein Koordinatensystem.«321 Auf diese Weise wurde etwa der vormalige, liturgisch bedeut-
Ganzheitliche Interpretation des Grundrisses
same Weg zwischen Dom und Liebfrauen geschickt in den
Die Keimzelle des gotischen Grundrisses bildet also die
neuen Grundriss integriert und blieb so erhalten.
Struktur der vermeintlichen domus Helenae, so dass die
Schließlich gelang es, mit dem Grundriss räumliche
Kirche auf der Basis der bedeutsamen Tradition des Ortes
Kontinuitäten zu gewährleisten, indem wichtige Orte in
entwickelt wurde. Durch die konzentrische Gruppierung
der Kirche wie Chor und -apsis die entsprechenden Orte
der Kapellen und Konchen um den quadratischen Kern
der Vorgängerin überlagern. Das hierdurch erklärbare
herum entsteht darüber hinaus eine quasi kreisförmige
Hervortreten des Chores trägt zugleich zu einer gestalte-
Grundrissfigur, deren Umriss durch die polygonalen Au-
rischen Auszeichnung dieses liturgisch wichtigsten Be-
ßenwände der einzelnen Joche rhythmisch vor- und zu-
reichs der Kirche bei. Obendrein betonte man auf diese
handelt (Ders. 1995, S. 294). Insofern stellt er konsequenterweise fest, dass er eine Feststellung post factum träfe, welche nicht die Intention des Baumeisters des 13. Jahrhunderts wiedergäbe (Ebd.). Aus diesem Grund verzichtet er wohl darauf, den Vergleich zwischen Liebfrauenkirche und Quadratbau zu wiederholen und schließt sich stattdessen der etablierten Lesart eines in erster Linie kreuzförmigen Grundrisses an (Ders. 2003, S. 226). 316 Kap. 2.3.2. 317 Ronig 2003, S. 227; Ders. 1995, S. 298. 318 Johannes Enen (Medulla), zitiert nach Ronig 2003, Anm. 34.
319 Ronig 2003, S. 227; Ders. 1995, S. 295. 320 Ronig 2011, S. 67–74; Ders. 2003, S. 227f.; Ders. 1995, S. 295–298. Nachvollziehbar erscheint die Interpretation der zwölf freistehenden Säulen als Symbole der Apostel, die sich gerade im 13. Jahrhundert an verschiedenen Kirchenbauten beobachten lässt (vgl. Kap. 3.3.5). Die »kosmische Deutung des Achsenkreuzes« und die »Adam-Symbolik« scheinen hingegen eher allgemeine theologische Ideen wiederzugeben, wohingegen ein direkter Zusammenhang mit dem Entwurf der Kirche nicht erkennbar ist. 321 Schenkluhn/van Stipelen 1983, S. 29.
90
2 DER DOM UND DIE LIEBFRAUENKIRCHE ZU TRIER
Weise die West-Ost-Achse der Kirche und schuf damit ein
Die ältere Literatur feierte die Liebfrauenkirche zu
Erinnerungsmoment an den vormaligen Richtungsbau,
Recht für die frühe Übernahme richtungsweisender Ar-
das durch die Synchronisation der Lage und Dimensio-
chitekturformen aus Frankreich, obgleich es zur Pla-
nen der Mitteljoche an zusätzlicher Deutlichkeit gewinnt.
nungszeit nicht abzusehen war, dass jene die künftige
Der Grundriss der gotischen Liebfrauenkirche zeich-
architektonische Entwicklung prägen würden. Vielmehr
net sich demnach durch hohe Komplexität und Ambiva-
handelt es sich um eine Bedeutung, welche der Kirche erst
lenz aus, die sich nicht auf Beziehungen zur Tradition des
aus der rückwärtigen, stilgeschichtlichen Betrachtung zu-
Ortes beschränken. Stattdessen wirkten verschiedene Mo-
gesprochen werden kann. Weitgehend ungewürdigt blieb
mente in unterschiedlicher Intensität auf die Konzeption
demgegenüber die künstlerische Meisterschaft, mit wel-
des Grundrisses ein: Helena-Tradition, Form des Vorgän-
cher der gotische Baumeister auf die unterschiedlichsten
gerbaus, Mariensymbolik, christliche Ikonographie, litur-
Anforderungen an Grund- und Aufriss reagierte, indem
gische Funktionalität und sicher auch ästhetische Über-
er ein formal homogenes, aber inhaltlich vielschichtiges
legungen. Die verschiedenen Sinnschichten stehen dabei
Bauwerk schuf, das auch unabhängig von seinen goti-
nicht im Sinne eines »Entweder-oder« zueinander, son-
schen Formen höchsten architektonischen Ansprüchen
dern überlagern sich im Sinne eines »Sowohl-als-auch«.
genügt.
2.7 Resümee: Die Trierer Liebfrauenkirche und ihre Tradition des Ortes 2.7.1 Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse
dass trotz des zentralisierenden Grundrisses eine Spur von deren Richtungsraum erhalten blieb. Der ökonomische Erklärungsansatz, die weitreichen-
Die Tatsache, dass der Vorgängerbau komplett abgerissen
den Kongruenzen der Grundrisse würden sich aus der
wurde, könnte zu der Annahme verleiten, der Tradition
Weiternutzung der alten Fundamente ableiten, lässt sich
des Ortes wäre beim Neubau der Trierer Liebfrauenkirche
mit einem Blick auf die tatsächliche Gründungssituation
im 13. Jahrhundert keine Bedeutung beigemessen worden.
leicht widerlegen, denn es wurde durch die alten Funda-
Doch schon der Vergleich zwischen der Grundrissdisposi-
mente hindurch neu gegründet. Im Gegenteil spricht die
tion der gotischen Kirche und derjenigen des frühchrist-
Tatsache, dass die Beibehaltung alter Fluchten höheren
lichen Gründungsbaus offenbart bemerkenswerte Bezie-
Aufwand und Kosten verursachte, dafür, dass man an
hungen.
räumlichen Bezügen zum Vorgängerbau ein bewusstes
322
Es stimmt nämlich nicht nur die räumliche
Ausdehnung der Kirche weitgehend mit dem Gründungs-
und ausgeprägtes Interesse hegte.
bau überein, es lassen sich darüber hinaus auch weiter-
Räumliche Kontinuität schuf man auch, indem man
gehende funktionale Bezüge aufdecken, denn besondere
tradierte Wegbeziehungen im Grundriss beibehielt. Inso-
Kompartimente des gotischen Grundrisses überlagern in
fern erklärt sich die Anlage der Nord-Süd-Achse aus der
auffälliger Weise die entsprechenden Raumteile der a lten
Absicht, die liturgisch wichtige Wegeverbindung zwischen
Basilika. So ist der gotische Chor samt Apsis in Lage und
Dom und Liebfrauen, welche im Rahmen mittelalterlicher
Ausdehnung quasi deckungsgleich mit dem Chor der
Prozessionen genutzt wurde, zu bewahren und darüber hi-
Gründungsbasilika, so dass eine räumliche Kontinuität
naus sogar stärker zur Geltung zu bringen. Den Beweis da-
der liturgisch bedeutsamsten Orte innerhalb der Kirche
für, dass die gotische Wegbeziehung der althergebrachten
gewährleistet blieb, was umso bemerkenswerter erscheint,
entspricht, liefert das Portal im Dom, das zur Liebfrauen-
als die jeweiligen Chöre aufgrund der unterschiedlichen
kirche führt, weil es vor Baubeginn der gotischen Kirche
Grundrissdispositionen ganz anders artikuliert wurden.
erstellt wurde.
Durch den signifikant hervortretenden Chor wurde außer-
Neben den räumlichen Beziehungen lassen sich wei-
dem die West-Ost-Achse der Kirche akzentuiert, die sich
terhin gestalterische Bezüge des gotischen Baus zur Tradi-
nahezu mit dem Mittelschiff der alten Basilika deckt, so
tion des Ortes konstatieren.323
322 Kap. 2.6.1.
323 Kap. 2.6.2.
2.7 RESÜMEE: DIE TRIERER LIEBFRAUENKIRCHE UND IHRE TRADITION DES ORTES
Im Kontext der Zusammengehörigkeit mit dem Dom
91
art als domus Helenae die legitimitätsstiftende Tradition
lässt sich etwa erkennen, dass die Liebfrauenkirche, ob-
des Domkomplexes begründete. Diese Erkenntnis stellt
wohl sie komplett neu konzipiert wurde, kompositorisch
die gotische Liebfrauenkirche in einen bedeutungsvollen
auf die altehrwürdige Mutterkirche abgestimmt wurde.
Zusammenhang mit ihrer Mutterkirche und deren Grün-
So greifen die runden Treppentürme an den Flanken, der
dungslegende, wohingegen die ältere Literatur den Bau
rechteckige Mittelturm und die übergreifenden Blendbö-
aufgrund ihrer stilgeschichtlichen Perspektive isoliert
gen über dem Westportal eindeutig Motive des Doms auf.
vom älteren Dombau betrachtete.
Bei der Gestaltung des zentralen Turmes trieb man die gestalterische Angleichung so weit, dass man die Fenster anstelle der ansonsten verwandten gotischen Formen
2.7.2 Interpretation im historischen und politischen Kontext
Reimser Prägung analog zum Dom als rundbogige Zwillingsfenster in alter Form ausführte.
Primär stilgeschichtlich betrachtete die Literatur auch
Andere Elemente des Kirchenbaus rekurrieren hinge-
den Bezug der Trierer Liebfrauenkirche zu Reims, so dass
gen gestalterisch auf den vorgotischen Vorgängerbau. So
das Aufgreifen gotischer Einzelformen lediglich als Über-
weckt die Gestaltung der gotischen Westfassade mit ih-
nahme eines aktuellen, in Frankreich entstandenen Stils
rer Vertikalität und dem plastischen Hervortreten unwei-
angesehen wurde und demnach lediglich ein Resultat der
gerlich Assoziationen an einen Westturm, der gemäß der
Mode und des Geschmacks der Zeit gewesen wäre. Ange-
Ergebnisse der jüngsten archäologischen Forschungen
sichts der Disposition des Grundrisses, welcher sich eben
tatsächlich existiert zu haben scheint. Insofern wäre die
nicht aus der simplen Wiederholung zeittypischer Grund-
Westfassade als Erinnerungsform an den beim Neubau
risskonzepte erklärt, sondern im hohen Maße auf die be-
aufgegebenen Turm zu verstehen. Im Zusammenhang
sonderen Anforderungen vor Ort zugeschnitten wurde
mit dem Vorgängerbau kann auch das aus der Achse ver-
und verschiedene symbolische Ebenen impliziert, muss
schobene Fenster der Westfassade erklärt werden, dessen
ein derart formalistischer Ansatz allerdings skeptisch
Irregularität im Rahmen der mit hoher Präzision errichte-
stimmen.
ten Liebfrauenkirche merklich hervorsticht: Es scheint die
Schenkluhn und van Stipelen gebührt das Verdienst,
Mittelachse der vormaligen Kirche zu markieren, die sich
als Erste der Übernahme Reimser Einzelformen einen
nicht mit den vielfältigen Anforderungen an den Grund-
über das Formale hinausgehenden Sinn einzuräumen.
riss in Einklang bringen ließ.
Im Kontext ihrer Interpretation der Liebfrauenkirche als
Bis hierhin kann bereits resümiert werden, dass die
Nachahmung der Aachener Pfalzkapelle (vgl. Abb. 4.12),
Form der Liebfrauenkirche, obgleich sie im 13. Jahrhun-
welche ihrer Meinung nach das Bestreben des Trierer
dert komplett neu gebaut wurde, in nicht zu unterschät-
Erzbischofs zum Ausdruck bringt, das Krönungsrecht für
zendem Maße von der Tradition des Ortes mitbestimmt
den deutschen König zu erwerben, verwiesen sie auf die
wurde. Zwar verzichtete man auf die Integration alter
Funktion der Reimser Kathedrale als Krönungsort der
Gebäudeteile, doch stellte man mittels der Gestaltung
französischen Könige.325 Die Reimser Formen sollten die
der Kirche und mehr noch durch räumliche Kontinuitä-
Liebfrauenkirche folglich als Ort der Königskrönung aus-
ten bewusst Beziehungen zum Ort und dessen Tradition
zeichnen.
her. Die Analyse und Interpretation des ungewöhnlichen
Diesem Interpretationsansatz können jedoch meh-
Grundrisses der Liebfrauenkirche erhebt die Tradition
rere Argumente entgegengebracht werden. Zunächst las-
des Ortes jedoch darüber hinaus zu einem entscheiden-
sen sich für einen derartigen Anspruch Theoderichs von
den Moment, welches die Gestalt der Kirche grundlegend
Wied, unter dessen Episkopat die Liebfrauenkirche weit-
und maßgeblich prägte, und löst damit ein altes Problem
gehend errichtet wurde, meines Wissens keine histori-
der architekturhistorischen Forschung.
Den Kern der
schen Belege finden. Gesetzt den Fall, dass er sie dennoch
neuen Liebfrauenkirche, um den sich die übrige Struktur
erhoben hätte, wäre kaum die Liebfrauenkirche, sondern
herum entwickelt, bildet nämlich ein Zitat der Grundriss-
der Dom als Sitz des Erzbischofs und Mutterkirche des
struktur des spätantiken Quadratbaus, also desjenigen
Bistums als Krönungsort genutzt worden, wie es auch bei
Teils des Trierer Doms, der nach mittelalterlicher Les-
den Königskrönungen in Mainz der Fall war, die selbstver-
324 Kap. 2.6.3.
325 Schenkluhn/van Stipelen 1983, S. 34–38.
324
92
2 DER DOM UND DIE LIEBFRAUENKIRCHE ZU TRIER
ständlich im dortigen Dom und nicht in der benachbar-
mentalen Ausmaßen technisch aufwändig umzugestal-
ten Liebfrauenkirche stattfanden. Des Weiteren stellt sich
ten, begann 1211 in Reims ein totaler Neubau der dortigen
die Frage, warum man, wenn man das deutsche Krönungs-
Kathedrale, welcher nicht nur den Trierer Dom an Größe
recht beanspruchen möchte, überhaupt auf die französi-
und Pracht übertraf, sondern unbestritten neue Maßstäbe
sche Krönungskirche rekurrieren sollte; warum also, wenn
für den christlichen Sakralbau setzte.329 Wie mag dieses
die Aachener Pfalzkapelle gemeint wäre, Reimser Formen
Vorhaben auf den Trierer Metropoliten und die Domkle-
genutzt würden. Schließlich erscheinen die Ähnlichkeiten
riker gewirkt haben, welche doch den Vorrang gegenüber
mit der Aachener Pfalzkapelle aber ohnehin zu gering, um
Reims beanspruchten? Man darf wohl davon ausgehen,
die Liebfrauenkirche als deren Nachahmung bezeichnen
dass man in Trier »not amused« war.
zu können.
Aus dieser Perspektive erscheint der rund 15 Jahre nach
Sinnvoller erscheint es, die über den Grundriss her-
Baubeginn in Reims angefangene Neubau der Liebfrau-
gestellte Verbindung zum Quadratbau, dem vorgeblichen
enkirche als eine Reaktion auf die baulichen Vorgänge in
Helena-Palast, als Ausgangspunkt der Erklärung zu neh-
der gallischen Nachbarmetropole. Die architektonischen
men, welcher die Form der Trierer Kirchenanlage schließ-
Formen der neuen Reimser Kathedrale waren in Trier ge-
lich Anfang des 13. Jahrhunderts beinahe schon ein Jahr-
rade gut genug für die rangniedere Liebfrauenkirche und
tausend lang maßgeblich bestimmt hat.
wurden den altehrwürdigen Formen des Doms auf diese
Wie bereits dargelegt, bestand zwischen den Erzdiö-
Weise sichtbar untergeordnet. In diesem Kontext kommt
zesen Trier und Reims ein spannungsreiches Verhältnis,
auch der vom Quadratbau ausgehenden Grundrissfigur
weil die Trierer Erzbischöfe seit dem frühen Mittelalter
der Trierer Südkirche eine spezifische Aussagekraft zu.
den Anspruch erhoben, als Primas von Gallien dem Reim-
Die Trierer Erzbischöfe begründeten ihren Anspruch
ser Erzbischof vorzustehen.326 Rund 60 Jahre vor der In-
auf den belgischen Primat wie gezeigt damit, dass der
vestitur Erzbischof Theoderichs (ep. 1212–1242) in Trier,
Dom aus dem kaiserlichen Palast der heiligen Helena her-
unter dessen Episkopat der Neubau der Trierer Liebfrau-
vorging. Wenn die Liebfrauenkirche mit ihren Reimser
enkirche begann, kam es auf dem Konzil zu Reims noch zu
Formen nun vom legendären Helena-Palast ausgehend
gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Gefol-
entwickelt wurde, wenn die domus Helenae die Struktur de-
gen des Trierer und des Reimser Erzbischofs, weil der Trie-
finiert, in deren Rahmen sich die Reimser Formen entfal-
rer offen seinen Vorrang gegenüber Reims einforderte.327
teten, so spiegelt dies das hierarchische Verhältnis der bei-
Die Aussage der Gesta Treverorum, Erzbischof Theoderich
den Metropolen der Gallia Belgica aus Trierer Sicht wider.
habe »seinen Platz unter den Bischöfen [behauptet], ent-
Eine derartige Instrumentalisierung der Architektur als
sprechend dem Primat und der Würde Triers«,328 belegt,
politisches Medium mag zunächst verblüffen, doch sind
dass der Primatsanspruch auch in der ersten Hälfte des
die Indizien m. E. so erdrückend, dass man nicht mehr
13. Jahrhunderts nicht an Aktualität eingebüßt hatte.
von Zufällen ausgehen kann. Betrachtet man die bauliche
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Situation zu Be-
Entwicklung des Trierer Domkomplexes seit dem frühen
ginn des 13. Jahrhunderts aus Trierer Sicht wie folgt dar:
Mittelalter, durch die sich der auch politisch motivierte
Nachdem man in Trier Jahrzehnte lang in den Anbau
Verweis auf die Tradition des Ortes wie ein roter Faden
der neuen Ostteile investiert hatte und gerade im Begriff
zieht, so fügt sich der Neubau der Liebfrauenkirche ohne-
war, den altehrwürdigen Dom mit Gewölben von monu-
hin nahtlos ein.
326 Kap. 2.5.2. 327 Heydenreich 1938, S. 131. 328 Gesta Trev., Kap. CVI (ed. Zenz, Bd. I, S. 56).
329 Einen guten Überblick zum Neubau der Kathedrale von Reims bieten: Kimpel/Suckale 1985, S. 277–292.
93
3 DER DOM ZU MAGDEBURG – Die Visualisierung der imperialen Tradition des Ortes
3.1 Einführende Baugeschichte Den Schriftquellen zufolge ging der Gründung des Mag-
neben seiner geliebten Gemahlin Edith beigesetzt zu wer-
deburger Doms ein Vorspiel voraus.
Der junge König
den,335 geht aus den Quellen leider nicht hervor, so dass die
Otto I. und seine erste Gemahlin Edith stifteten 937 in
Lokalisierung des Grabes im ottonischen Dom336 eine of-
Magdeburg ein Kloster zu Ehren des heiligen Mauritius,
fene Frage bleibt. Heute steht der Sarkophag des Kaisers
in dessen Kirche die Königin, als sie 946 verstarb, ihre
und Fundators jedenfalls an der Schwelle zwischen Vie-
letzte Ruhestätte fand.
rung und Sanktuarium (vgl. Abb. 3.06, 3.13).337
330
331
In der folgenden Zeit stiegen die
Ambitionen Ottos des Großen und er fasste den Plan, in
Nachdem der Magdeburger Dom bei einem Stadtbrand
Magdeburg ein Erzbistum zu gründen, was von der Lite-
1207 in Mitleidenschaft gezogen wurde,338 entschieden sich
ratur meist mit seinem glorreichen Sieg über die Ungarn
Erzbischof Albrecht II. von Käfernburg und der Domkle-
955 auf dem Lechfeld zusammengebracht wird.332 Da Otto
rus für einen umfassenden Neubau ihrer Bischofskirche,
allerdings auf starke Widerstände insbesondere des Erzbi-
welcher den alten Dom komplett ersetzte (Abb. 3.01, 3.02).
schofs von Mainz und des Bischofs von Halberstadt stieß,
Die Grundsteinlegung des neuen Kirchenbaus erfolgte
für welche die Gründung ein Verlust an territorialer Macht
laut der Magdeburger Schöppenchronik 1208.339
bedeutete, gelang es ihm erst 968, sechs Jahre nach seiner
Aus baulicher Sicht bestand für einen solch radikalen
Kaiserkrönung in Rom, das Magdeburger Erzbistum zu
Schritt allerdings keine Notwendigkeit, denn zeitgenössi-
etablieren.333 Ob der Kaiser zu diesem Zweck die Kloster-
sche Quellen berichten, dass genügend Bausubstanz den
kirche umbauen, einen Neubau an ihrer Stelle oder sogar
Brand überstanden hatte, um das bestehende Bauwerk
an einem anderen Ort errichten ließ, wird derzeit intensiv
wieder instandsetzen zu können, so dass der Abriss von
diskutiert.334
Protesten begleitet wurde.340 Der Stadtbrand war demnach
Als das an historischen Triumphen reiche Leben des
nicht der Grund, sondern der Anlass eines Neubaus.
Kaisers 973 endete, wurde er im Magdeburger Dom be-
Nachdem die Ostteile um die Mitte des 13. Jahrhun-
stattet. Ob man seinem überlieferten Wunsch entsprach,
derts fertiggestellt waren (Abb. 3.03),341 setzte man die Ar-
330 Grundlegende Literatur zum Magdeburger Dom: Schenkluhn/ Waschbüsch 2012; Brandl/Forster 2011; Puhle 2009; RogackiThiemann 2007; Ullmann 1989; Schubert 1984; Ders. 1974; Greischel 1939; Ders. 1929; Giesau 1936. 331 Althoff 2001; Leopold 1989, S. 62f.; Schubert 1989, S. 25. – Das heutige Grabmal der Königin (vgl. Abb. 3.15) befindet sich im Chorumgang des Doms (Kap. 3.4.4). 332 Z. B. Althoff 2001, S. 345; Schubert 1989, S. 25; Claude 1972, S. 73f. 333 Althoff 2001; Claude 1972, S. 63–113. 334 Kap. 3.2. 335 Thietmar, Chronicon II, 11 (ed. Trillmich, S. 44). 336 Die Bezeichnung »ottonischer Dom« kann im Zusammenhang mit Magdeburg leicht missverstanden werden, da »ottonisch« in der Kunstgeschichte als Stil- und Epochenbegriff für die Kunst und Architektur zur Zeit der sächsischen Kaiser verwendet wird. Im Zusammenhang mit dem Magdeburger Dom meint »ottonisch« hingegen das Bauwerk, das Kaiser Otto I. gründete und das Anfang des 13. Jahrhunderts abgebrochen wurde. Wenn im Folgenden also vom »ottonischen Dom« die Rede ist, bezieht sich die Bezeichnung allgemein auf den Vorgängerbau der gotischen Kathedrale. Nicht gemeint ist hingegen, dass der Vorgängerbau bis zum Abriss stilistisch ausschließlich der Ottonik zuzuordnen wäre, was wahrscheinlich
nicht der Fall war, denn es wurde laut Schriftquellen auch im 11. Jahrhundert am ottonischen Dom gebaut (Schubert 1989, S. 26–30). Kap. 3.3.2. Magd. Schöppenchronik, S. 131. Magd. Schöppenchronik, S. 132. – Felix Rosenfeld sprach sich hingegen ausgehend von der schriftlich überlieferten Anwesenheit zweier päpstlicher Legaten für eine Datierung in das Jahr 1209 aus (Ders. 1909, S. 6f.), die sich in der Folgezeit durchsetzte (z. B. Klein 1998, S. 106; Nicolai 1989, S. 147; Schubert 1989, S. 30f., 36). Es wurden aber auch immer wieder Gegenstimmen laut, welche die Grundsteinlegung 1207 ansetzten (Rogacki-Thiemann 2007, S. 59f.; Hausherr 1989, S. 180f.; Silberborth 1910, S. 230–232). Zuletzt sprachen sich Heiko Brandl und Christian Forster für 1207 oder 1208 aus (Brandl/Forster 2011, S. 413), mit dem zwingenden Argument, dass die beiden Legaten nach der Grundsteinlegung an Verhandlungen zwischen Otto IV. und Philipp von Schwaben beteiligt waren, letzterer aber im Juni 1208 ermordet wurde. Nicht überzeugen kann hingegen die von Brandl und Forster vorgeschlagene Kopplung der Achsdrehung an die Grundsteinlegung (s. Kap. 3.4.3). Magd. Schöppenchronik, S. 132. Um 1240: Brandl 2012, S. 155 – 1260er Jahre: Rogacki-Thiemann 2007, S. 92f.; Nicolai 1989, S. 154f.
337 338 339
340 341
94
3.01 Dom zu Magdeburg, Ansicht von Nordosten (Puhle 2009, Bd. 1, S. 22)
3 DER DOM ZU MAGDEBURG
95
3.1 EINFÜHRENDE BAUGESCHICHTE
3.02 Dom zu Magdeburg, Grundriss (Rogacki-Thiemann 2007, S. 33) beiten am Langhaus und Westbau fort (Abb. 3.04).342 Ob-
man den Westbau bis 1520, indem man die beiden Türme
gleich das Langhaus gegen 1320 größtenteils schon stand,
auf fünf Geschosse aufstockte, sie mit steinernen Helmen
zogen sich die Arbeiten insbesondere am Westbau noch
bekrönte und den Mittelteil mit einem dritten Stockwerk
länger hin, so dass der Magdeburger Dom erst 1363 ge-
sowie einem Giebeldach versah (vgl. Abb. 3.04).346 Es ist
weiht wurde.
Der Westbau war zu diesem Zeitpunkt, an
eine Ironie der Geschichte, dass unmittelbar im Anschluss
dem die Bauarbeiten vorerst eingestellt wurden, bis zur
an die Fertigstellung der katholischen Bischofskirche die
Oberkante des zweiten Geschosses gediehen, beim Nord-
Reformation in Magdeburg Einzug hielt, die nach Jahr-
turm bis zur Oberkante des dritten Geschosses.
zehnten schwerer Konflikte zwischen protestantischem
343
344
Erzbischof Ernst von Sachsen initiierte wahrscheinlich
Stadtrat und katholischer Domgeistlichkeit schließlich
kurz nach seinem Amtsantritt 1477 eine neue Kampagne
auch den Dom erfasste, in welchem 1567 erstmals ein
zur Vervollständigung der Bischofskirche.
So vollendete
evangelischer Gottesdienst gefeiert wurde.347 In dieser
342 Rogacki-Thiemann 2007, S. 104f.; Schubert 1989, S. 31, 36f.; Ders. 1984, S. 20. 343 Brandl/Forster 2011, S. 417f.; Rogacki-Thiemann 2007, S. 112; Schubert 1984, S. 20. 344 Rogacki-Thiemann 2007, S. 110–112; Schubert 1984, S. 39. 345 Brandl/Forster 2011, S. 418f.; Rogacki-Thiemann 2007, S. 120–122; Schubert 1984, S. 23f., 39.
346 Ebd. 347 Rogacki-Thiemann 2007, S. 121–123; Puhle 2005, S. 147–158. 348 Berger 1989, S. 45; Schubert 1984, S. 33, 44. – Rogacki-Thiemann gibt an, das Maßwerk wäre im 19. Jahrhundert restauriert worden (Dies. 2007, S. 123).
345
96
3.03 Dom zu Magdeburg, Chorpartie, erste Hälfte 13. Jh. (Pietsch/Quast 2005, S. 37)
3 DER DOM ZU MAGDEBURG
97
3.2 FORSCHUNGSSTAND ZUM OTTONISCHEN VORGÄNGERBAU
Zeit fand eine Restaurierung des Chores statt, bei der man neues Maßwerk in die Obergadenfenster einsetzte.348 Im 19. und 20. Jahrhundert bestimmten denkmalpflegerische Kampagnen die Baugeschichte des Doms.349 Bei den vom preußischen König Friedrich Wilhelm III. angestoßenen Restaurierungsarbeiten von 1825–1834,350 die ihrerseits von historischer Bedeutung für die Entwicklung der staatlichen Denkmalpflege sind, wurden die nachmittelalterlichen Ein- und Umbauten zum großen Teil entfernt und die Oberflächen im Innenraum großenteils überarbeitet.351 Am Außenbau wurden zahlreiche Architekturelemente und Details ausgebessert, erneuert oder ergänzt, insbesondere an den Giebeln des Querhauses und des nördlichen Seitenschiffes.352 Nach starken Beschädigungen im Zweiten Weltkrieg folgte eine weitere umfassende Kampagne der staatlichen Denkmalpflege, diesmal derjenigen der DDR, bei der u. a. eingestürzte Joche neu gewölbt wurden.353 Dabei stellte man im Wesentlichen den Zustand von 1834 wieder her.354
3.04 Dom zu Magdeburg, Westbau, unterer Teil 1260–1360, oberer Teil 1480–1520 (Quast/Jerratsch 2004, S. 20)
3.2 Forschungsstand zum ottonischen Vorgängerbau Seit Anfang des 19. Jahrhunderts kam es wiederholt zu ar-
Chorpartie,356 die den nördlichen Teil der Krypta über-
chäologischen Grabungen in der Kirche, deren Befunde
lagert.357 Die alte Krypta wird in der Literatur entweder
in der Gesamtheit die Existenz eines älteren Kirchenbaus
mit Erzbischof Tagino (ep. 1004–1012), der den Quellen
beweisen, der sich an der Stelle des heutigen Doms be-
zufolge eine Krypta errichten ließ, oder dem Erzbischof
fand, allerdings in abweichender Achslage (Abb. 3.05).
355
Hunfried, für den eine Kryptaweihe 1049 überliefert ist,
Zur Kenntnis des Vorgängerbaus substantiell beigetra-
in Verbindung gebracht und entsprechend in den Anfang
gen hat Alfred Koch 1926 mit der archäologischen Entde-
oder die Mitte des 11. Jahrhunderts datiert.358
ckung einer Krypta in alter Achslage südlich der heutigen
349 Zur Denkmalpflege am Magdeburger Dom: Mohr de Pérez 2012; Findeisen 1990, S. 55–61, 214–222; Berger 1989. 350 Mohr de Pérez 2012, S. 122. 351 Findeisen 1990, S. 60; Berger 1989, S. 46–48. 352 Findeisen 1990, S. 217–220; Berger 1989, S. 47. 353 Berger 1989, S. 49f.; Schubert 1984, S. 45. 354 Berger 1989, S. 49f. 355 Zusammenfassung der älteren Grabungen: Forster 2009b, S. 9–16; Rogacki-Thiemann 2007, S. 58–60; Schubert/Leopold 2001, S. 358f. 356 Koch, A. 1926. 357 Im Zuge der aktuellen Kampagne konnten auch Fundamentreste des nördlichen Teils nachgewiesen werden (Kuhn 2009a, S. 49).
358 Datierung Mitte 11. Jahrhundert: Reiche 2012, S. 105; Schubert 1989, S. 28f.; Ders. 1984, S. 14. – Datierung Anfang 11. Jahrhundert: Forster 2009b, S. 21; Schubert 1974, S. 14f. – Der von den jeweiligen Autoren vorgenommene Versuch, die Krypta formengeschichtlich näher zu bestimmen, führte zu keinem eindeutigen Ergebnis. Die stilgeschichtliche Datierung der Basisprofile der Kryptavorlagen, auf die Christian Forster seine Datierung in die Zeit Taginos hauptsächlich stützt, überfordert die Möglichkeiten der Methode deutlich. Demgegenüber spricht die Mehrheit der Argumente, die Jens Reiche anführt, für eine Datierung in die Zeit Hunfrieds, ohne dass jedoch ein zwingender Beweis vorliegt. Insofern haben derzeit noch beide Thesen ihre Berechtigung.
98
3 DER DOM ZU MAGDEBURG
3.05 Dom zu Magdeburg, rekonstruierter Grundriss des Vorgängerdoms nach Schubert/Leopold in Relation zum gotischen Dom (Schubert 1984, S. 14, zum archäologischen Forschungsstand vgl. Meller/Schenkluhn/Schmuhl 2009)
Die Literatur des 20. Jahrhunderts sah in der Vorgän-
das Gebäude zunächst als Pfalz Ottos des Großen interpre-
gerkirche lange Zeit übereinstimmend den alten, von Kai-
tierte,361 kamen in den 1990er Jahren Vorschläge auf, die
ser Otto gegründeten Dom, der 1207 Opfer der Flammen
Fundamente als Reste eines Sakralbaus zu deuten.362 Diese
wurde.
Annahme verdichtete sich durch den Fund einiger Gräber
359
In den letzten Jahren wurden jedoch vielfach Zweifel an
östlich des Nickel’schen Grabungsareals, die Rainer Kuhn
dieser Identifizierung geäußert. Den Anlass bot die Neube-
im Rahmen einer neuen Kampagne 2001–2003 aufdeckte.363
wertung eines ehemals nördlich der Kathedrale auf dem
Die Existenz einer zweiten ottonischen Kirche nörd-
Domplatz befindlichen monumentalen Bauwerks, dessen
lich des Doms warf zwangsläufig die Frage nach deren
Fundamente unter der Leitung von Ernst Nickel in den
Identität auf. Weil auch die neuen archäologischen Indi-
1960er Jahren ergraben wurden (Taf. 3.01).360 Während man
zien eine Datierung in das 10. Jahrhundert nahelegen,364
359 Z. B.: Schubert/Leopold 2001, S. 354f.; Schubert 1984, S. 13–16; Oswald/Schaefer/Sennhauser 1966, S. 190f. 360 Nickel 1973a; Ders. 1973b. 361 Lehmann 1983 (Zusammenfassung: Lehmann 1989). 362 Jürgen Sistig verwies als erster auf die starken Ähnlichkeiten des Grundrisses zur Abteikirche St. Maximin in Trier. Aufgrund der zeitlichen Nähe und engen monastischen Beziehungen der Abtei zum Magdeburger Moritzkloster warf er die Frage auf, ob es sich bei dem nördlichen Gebäude nicht um dessen Überreste handele
(Ders. 1995, S. 103). Franz Jäger setzte sich daraufhin ausführlich mit den Gemeinsamkeiten des Nordgebäudes zur ottonisch-frühsalischen Sakralarchitektur auseinander, wobei er eine Identifizierung des Bauwerks vermied (Ders. 1999). In der jüngeren Literatur wird fälschlicherweise Babette Ludowici die erstmalige Identifizierung des Nordgebäudes als Sakralbau zugeschrieben (z. B. Rogacki-Thiemann 2007, S. 60 u. Anm. 461, 510; Ludowici/Hardt 2004, S. 89f.). 363 Kuhn 2005; Ders. 2003. 364 Kuhn 2009c, S. 222–225.
99
3.2 FORSCHUNGSSTAND ZUM OTTONISCHEN VORGÄNGERBAU
entstand die These, dass es sich bei dem mittlerweile als
Die beiden ältesten Gräber ließen sich mit naturwis-
Nordkirche bezeichneten Gebäude um den von Otto ge-
senschaftlichen Methoden in Übereinstimmung mit dem
gründeten Dom handelt.365 Was für ein Bauwerk befand
archäologischen Befund grob in die Jahrzehnte um 1000
sich dann jedoch an der Stelle der heutigen Kathedrale?
datieren und liefern damit einen terminus ante quem für
Der bisher nicht geklärte Verbleib der von Otto und Edith
die Erbauung und Nutzung der Vorgängerkirche als Dom
gegründeten Abteikirche verkompliziert die Problematik
spätestens im frühen 11. Jahrhundert.372 Weiterhin ließ
zusätzlich. Als Möglichkeiten kämen ein Umbau der Ab-
sich im heutigen Dom eine Brandschicht nachweisen,
teikirche, ein Neubau anstelle der Abteikirche oder auch
welche mit dem überlieferten Dombrand 1207 korrespon-
ein Neubau an anderem Ort in Betracht.
diert, wohingegen in der Nordkirche eine solche Brand-
366
In Verbindung
mit den zwei ergrabenen Grundrissen potenzieren sich
schicht nicht nachgewiesen werden konnte.373
die Varianten, wo welche Kirche wann gestanden haben
Die Ergebnisse der Grabungen 2006–2010 beweisen
könnte, so dass in der Literatur zwischenzeitig eine Viel-
demnach die alte Interpretation der Südkirche als Vorgän-
zahl von Vorschlägen kursierte.
gerdom, dessen Nutzung sich nach aktuellem Kenntnis-
Eine Gruppe von Wissenschaftlern um Babette Ludo-
stand bis in das frühe 11. Jahrhundert belegen lässt, was
wici plädierte nachdrücklich dafür, dass die Nordkirche
mit den Datierungsansätzen der ergrabenen Krypta gut
sogar bis zum Neubau des Doms nach dem Brand 1207
zusammenpasst. Demgegenüber bleibt die Situation auf
als Bischofskirche genutzt wurde, während sich im Süden
dem Magdeburger Domhügel im 10. Jahrhundert und die
bis dato die Moritzklosterkirche befunden hätte.367 Eine
damit verknüpfte Identifikation der Nordkirche derzeit
Auseinandersetzung mit den vorgebrachten Argumen-
unklar. Mit einer sachlichen Erörterung der Fakten und
ten hat mittlerweile allerdings nur noch wissenschafts-
Argumente resümierte Rainer Kuhn 2009 den aktuellen
theoretischen Wert,368 denn die jüngsten Grabungen im
Forschungsstand und zeigte dabei die noch möglichen
Magdeburger Dom, die unter der Leitung von Rainer
Deutungsvarianten auf.374 Zu Recht wies er dabei auf wei-
Kuhn 2006–2010 stattfanden,369 erbrachten archäologisch
teren archäologischen Klärungsbedarf hin; insbesondere
den Nachweis, dass die Vorgängerkirche unter der heuti-
östlich des jetzigen Justizministeriums wären zwingend
gen Kathedrale bereits als Bischofskirche genutzt wurde.
Grabungen nötig, um über dort zu vermutende Ostteile
So entdeckten die Ausgräber vor dem gotischen Lettner
der Nordkirche Erkenntnisse zu gewinnen. Einen Erklä-
mehrere gemauerte Gräber in der alten Achslage, die sich
rungsansatz, der viele Faktoren berücksichtigt und des-
in der Vorgängerkirche an prominenter Stelle auf oder
halb plausibel erscheint, publizierte Bernd Nicolai 2012.
an der Mittelachse am östlichen Ende des Mittelschiffes
Unter Berücksichtigung des historischen Kontextes und
befanden.370 Einige der auch stratigraphisch dem Vor-
der Schriftquellen interpretiert er die Nordkirche als otto-
gängerbau zuzuordnenden Gräber konnten aufgrund der
nischen Dom, der wegen seiner ungünstigen Lage zu nahe
Grabbeigaben eindeutig als Bischofsgräber identifiziert
am Elbufer 982 Schäden nahm, was den Bau einer neuen
werden.371
Bischofskirche im Süden zur Folge hatte.375
365 Die These von der Nordkirche als ottonischer Dom vertreten: Kuhn 2005, S. 38f.; Ludowici/Hardt 2004; Ludowici/Rogacki-Thiemann 2003; Ludowici 2002. – Hingegen sehen Brandl/Jäger in der Nordkirche das Münster eines ehemaligen Laurentiusklosters (Dies. 2005). Dieser Deutung schloss sich Schubert an (Ders. 2009). – Seifert setze sich mit den verschiedenen Thesen kritisch auseinander und hält an der Deutung als Palast Ottos des Großen fest (Ders. 2009). – Neu ist die These, der ottonische Dom läge nördlich der heutigen Kathedrale, übrigens keineswegs. Bereits 1863 hegte Brandt diese Vermutung und wies diesbezüglich auf den Fund von Fundamenten und Steingräbern »beim Bau der vormaligen Möllenvoigtei, jetzigen Nebengebäudes der Königl. Regierung« im 18. Jahrhundert hin (Brandt 1863, S. 7). 366 Für einen Neubau anstelle des Münsters u. a.: Jacobsen/Lobbedey/ von Winterfeld 2001, S. 261; Schubert/Leopold 2001, S. 354–358; Schubert 1998, S. 11–16; Leopold 1998, S. 42; Hamann/Rosenfeld 1910, S. 137. Für einen Neubau an anderer Stelle u. a.: Ludowici/ Hardt 2004; Ludowici/Rogacki-Thiemann 2003. 367 Ludowici/Hardt 2004; Ludowici/Rogacki-Thiemann 2003. 368 So dient Ludowici/Hardt beispielsweise der von Thietmar für die Domkirche verwendete Ausdruck »maior aecclesia« (Thietmar, Chronicon II, 3 (ed. Trillmich, S. 436)), als indirekter Beweis für die
zeitgleiche Existenz des Moritzmünsters, denn wenn es eine große (»maior«) Kirche gegeben habe, so die vermeintliche Folgerung, müsse auch eine kleinere existiert haben (Ludowici/Hardt 2004, S. 93). Nach demselben Muster dürfte man dann aus dem Namen »Otto der Große« schließen, dass es zeitgleich auch »Otto den Kleinen« gab. »Ecclesia maior« ist vielmehr eine im Mittelalter übliche Bezeichnung für Bischofskirchen, bei der das Adjektiv »maior« nicht die baulichen Maße, sondern den höheren Rang des Bauwerks in der kirchlichen Hierarchie ausdrückt. Deshalb ist in Magdeburg auch noch nach Beginn der Neubaukampagne in den Urkunden des 13. Jahrhunderts von einer »maior ecclesia« die Rede (s. bspw. Rosenfeld 1909), was nach der Argumentation von Ludowici/Hardt nicht sein dürfte. Weitere Kritikpunkte nennt: Seifert 2009. 369 Grabungsbericht der Kampagne bis 2009: Meller/Schenkluhn/ Schmuhl 2009. 370 Kuhn 2012a, S. 50–54; Ders. 2009b, S. 56–62. 371 Ebd. 372 Kuhn 2009b, S. 58. 373 Kuhn 2009a, S. 51; Ders. 2009b, S. 51–53. 374 Kuhn 2009c. 375 Nicolai 2012, S. 79f. Auf diese Variante wies in kürzerer Form auch Rainer Kuhn hin (Ders. 2009c, S. 231f.).
100
3 DER DOM ZU MAGDEBURG
Diskussionswürdig wäre die Datierung Nicolais für
wäre. Dabei kann es durchaus zu einem Planwechsel ge-
die Erbauung der Südkirche, die er in die Zeit von 982/83
kommen sein, wie der Vergleich mit parallelen Bauprojek-
bis zum Ende der Amtszeit Taginos 1012 ansetzt.376 Die ar-
ten lehrt. Insofern könnte man die auf Hunfried bezoge-
chäologischen Befunde belegen eine Nutzung im 11. Jahr-
nen Baunachrichten so verstehen, dass der Chor samt der
hundert, wohingegen Spuren des 10. Jahrhunderts bisher
darunter befindlichen Krypta so weitreichend umgebaut
nicht nachgewiesen werden konnten. Auch die Datie-
wurde, dass 1049 eine neue Kryptaweihe vollzogen werden
rungsansätze der ergrabenen Krypta deuten ins 11. Jahr-
musste. Inwieweit die Krypta Taginos dabei umgeformt
hundert. Insofern darf man durchaus den Aussagen des
oder sogar ersetzt wurde, kann nach derzeitigem For-
Zeitzeugen Thietmar von Merseburg Glauben schen-
schungsstand nicht entschieden werden.
ken, die nicht nur auf Erzbischof Tagino als Initiator ei-
Für die Untersuchung der Bedeutung der Tradition
nes Neubaus hinweisen, sondern auch darauf schließen
des Ortes für die Kathedrale des 13./14. Jahrhunderts ist
lassen, dass zum Zeitpunkt der Beisetzung Taginos 1012
allerdings allein ausschlaggebend, dass sich der unmittel-
zwar die Krypta fertig gestellt war, aber der Bau des Cho-
bare Vorgängerdom nachweislich am selben Ort befand.
res noch im Gange war.377 Die Nachrichten über die Bau-
Der Kontinuität des Ortes kommt insofern eine grundle-
maßnahmen unter Erzbischof Hunfried weisen darauf
gende Bedeutung zu, da sie die Voraussetzung dafür schuf,
hin, dass der unter Tagino begonnene Neubau sich bis
dass eine Tradition des Ortes und nicht bloß eine instituti-
in die Mitte des 11. Jahrhunderts hinzog, was für ein Bau-
onelle Tradition auf die Architektur der neuen Kathedrale
werk in diesen Dimensionen eine realistische Zeitspanne
wirken konnte.
3.3 Materielle und gestalterische Strategien zur Verbildlichung der Tradition im neuen Chor Die Neuausrichtung der Kirche verhinderte die Integ-
Verwendung fanden, wo sie sich aufgrund ihrer Farbe,
ration alter Gebäudeteile in situ, welche die kaiserliche
Textur, Proportionen und Verarbeitung deutlich von der
Gründungsgeschichte des Magdeburger Doms hätten
gotischen Bausubstanz absetzen (Abb. 3.06, Taf. 3.02).
sichtbar in Erinnerung halten können. Das heißt aller-
Es lassen sich insgesamt zwölf Spolienschäfte zählen:
dings nicht, dass man beim Neubau auf die wirkungs-
vier im Chorpolygon, vier auf Höhe des Bischofsgangs
mächtigen Möglichkeiten einer visuellen Inszenierung
im Langchor und vier an den östlichen Vierungspfeilern
alter Materie verzichten wollte. Im Folgenden wird der
(Taf. 3.03).378 Dass es sich bei diesen Natursteinschäften
Frage nachgegangen, welche materiellen und gestalteri-
um Artefakte des alten Doms handelt, wird in der Litera-
schen Strategien zur Verbildlichung der Tradition des Or-
tur übereinstimmend aus der schriftlichen Überlieferung
tes beim Neubau des Chores verfolgt wurden.
geschlossen,379 denn Thietmar von Merseburg berichtet in seiner um 1010 verfassten Chronik380 bezüglich der Itali-
3.3.1 Die Natursteinsäulen
enreise Ottos des Großen: »Auch kostbaren Marmor, Gold und Edelsteine ließ der Kaiser nach Magdeburg schaf-
Herkunft
fen.«381 Bei den kostbaren Natursteinschäften handelt es
Besonders auffällig sind in dieser Hinsicht verschiedene
sich demzufolge um antike Spolien, die Kaiser Otto I. wohl
monolithische Säulen mit Schäften aus Marmor, Porphyr
aus Italien nach Magdeburg transferieren ließ,382 wo sie
und Granit, die im Chor des gotischen Doms eine neue
wahrscheinlich als Säulen der Langhausarkaden fungier-
376 Nicolai 2012, S. 80. 377 Eingehend mit den betreffenden Stellen auseinandergesetzt hat sich: Ehlers 2009, S. 132f. 378 Weitere Spolienschäfte, teilweise jedoch ohne Einbindung in die Architektur, befinden sich im Remter, in der Chorumgangskapelle und im Kreuzganginnenhof. S. hierzu die jüngst erstellten, sich vom Informationsgehalt ergänzenden Kataloge bei: Bosman 2012, S. 196f.; Brandl/Forster 2011, S. 70–73, 578–603. 379 Z. B.: Meckseper 2001, S. 367; Schubert 1989, S. 26; Giesau 1936, S. 29f.
380 Thietmar von Merseburg starb 1018 (Trillmich 1960, S. XXIII). Zur Datierung seiner Chronik: Ebd., S. XXIII–XXV. 381 Thietmar, Chronicon II, 17 (ed. Trillmich, S. 52): »Preciosum quoque marmor cum auro gemmisque cesar precepit ad Magadaburc adduci.« Dt. Übersetzung nach Trillmich. 382 Meckseper 2001, S. 370. – Cord Meckseper verweist zudem auf mineralogische Untersuchungen, welche die geographische Herkunft der Gesteine aus dem Mittelmeerraum bestätigen, sowie auf formale Befunde, welche auf eine Entstehung in antiker Zeit verweisen (Ders. 2001, S. 368).
3.3 MATERIELLE UND GESTALTERISCHE STRATEGIEN ZUR VERBILDLICHUNG DER TRADITION IM NEUEN CHOR
101
3.06 Dom zu Magdeburg, Binnenchor, 1. Hälfte 13. Jh., im Vordergrund der Sarkophag Kaiser Ottos des Großen (Pietsch/Quast 2005, S. 73)
102
3 DER DOM ZU MAGDEBURG
ten.383 Wenn es um 1000 tatsächlich zu einem Domneubau
dem Erzbistum einige Jahre nach dem Tod Ottos I. von
südlich des ottonischen Doms kam, wie es die jüngsten
Papst Benedikt VII. verliehen wurden. Der Magdeburger
Forschungen nahelegen,384 dann wären die Spolien zu-
Erzbischof erhielt das Recht, das Magdeburger Domkapi-
nächst von der Nord- in die Südkirche gelangt, bevor Sie
tel in der Art des römischen Kardinalskollegiums zu orga-
beim Domneubau des 13. Jahrhunderts abermals Verwen-
nisieren, dessen Mitglieder die Messe am Mauritiusaltar
dung fanden.
auf römische Weise zelebrieren durften.392
Ursprünglicher Symbolgehalt
chen Neubau rund 250 Jahre später erfolgte allerdings in
Die Wiederverwendung der Spolien im erzbischöfliDie Semantik von Spolien wird in der kunsthistorischen
einem anderen historischen Kontext und unter anderen
Forschung durchaus kontrovers diskutiert.385 In Magde-
Bedingungen. Man muss deshalb davon ausgehen, dass
burg spricht jedoch viel dafür, die Spolien als Symbole des
der Domklerus des 13. Jahrhunderts mit der abermaligen
Kaisertums zu interpretieren.386 Mit der Annahme der Kai-
Integration der Spolien andere Absichten verfolgte, als es
serwürde sah sich Otto der Große in der Nachfolge der rö-
der erste sächsische Kaiser im 10. Jahrhundert tat, womit
mischen Imperatoren, was sich unter anderem in den Ti-
sich folglich auch der Symbolgehalt der Säulen gewandelt
teln »Caesar«, »Augustus« und »Imperator« manifestierte,
hätte. Die Beantwortung der somit aufgeworfenen Fragen
die Otto nach seiner Kaiserkrönung im Unterschied zum
muss an dieser Stelle jedoch zurückgestellt werden, um zu-
vorherigen »Rex« führte.
Noch deutlicher kam dieser
nächst weitere Hinweise und Indizien zu suchen und zu
Anspruch schließlich bei seinem Sohn und Thronfolger
untersuchen, die eine ganzheitliche Interpretation im his-
zum Ausdruck, der sich unmissverständlich als »Impera-
torischen Kontext ermöglichen.393
387
tor Romanorum« titulieren ließ.
388
Die antiken Spolien,
deren Material und Form dem frühmittelalterlichen Be-
Die Präsentation im Chorhaupt
trachter die römisch-antike Herkunft offenbarte, ließen
Eine Analyse der Art und Weise, wie die Säulen in die
sich somit leicht als sichtbare Zeichen des römischen Kai-
architektonische Struktur des Chores integriert wurden,
sertums verstehen.
verspricht Hinweise auf die Gründe für die Wiederverwen-
389
Diese Symbolik war im frühen Mit-
telalter nördlich der Alpen keineswegs unbekannt, denn
dung der Spolien.
bereits Kaiser Karl der Große ließ für den Bau seiner 150
Die vier Säulen im Chorhaupt fallen besonders ins
Jahre älteren Pfalzkapelle in Aachen antike Spolien be-
Auge, denn sie stehen auf mit Diensten umstellten Wand-
schaffen (vgl. Abb. 4.12),390 so dass sich Otto zugleich als
pfeilern, die wie Postamente wirken, welche die kostbaren
dessen Nachfolger inszenierte.391
Spolien buchstäblich wie im übertragenen Sinne hervor-
Des Weiteren griff man mittels der Verwendung der
heben (Taf. 3.02). Auf diese Weise erscheinen die Schäfte
antiken Spolien im Magdeburger Dom die Architektur der
aus dem ottonischen Dom geradezu plakativ präsentiert.
bedeutenden frühchristlichen Basiliken in Rom auf, was
Das andersartige Material, die im mittelalterlichen Sach-
wiederum programmatisch verstanden werden dürfte: So
sen nur selten zu bestaunenden mediterranen Naturstein-
wie der Kaiser die Autorität römischer Imperatoren bean-
sorten wie Porphyr und Marmor, liefern dem Betrachter
spruchte, so sollte der hohe Rang der von ihm gegründeten
einen ersten Hinweis auf eine römisch-antike Herkunft
Bischofskirche durch die Angleichung an die altehrwürdi-
der Schäfte, was durch die Gestaltung der Kapitelle Bestä-
gen Basiliken Roms zum Ausdruck kommen. Die ange-
tigung findet (Abb. 3.07), die sich an antiken Kompositka-
strebte Rom-Angleichung Magdeburgs äußert sich auch
pitellen orientieren, also der vornehmsten Kapitellform
und vor allem in den außergewöhnlichen Privilegien, die
der römischen Antike.
383 Meckseper 2001, S. 374f.; Leopold 1989, S. 65; Schubert 1989, S. 26. – Eine der Säulen schenkte Otto I. eventuell dem Essener Damenstift, dem aus dem sächsischen Kaiserhaus stammende Äbtissinnen vorstanden (vgl. Kap. 4.4.2). 384 Kap 3.2. 385 Eine Aufarbeitung der Literatur zum Spolien-Diskurs würde den Rahmen dieser Arbeit leider sprengen, so dass hier lediglich auf eine zentrale Aufsatzsammlung zum Thema verwiesen wird: Poeschke 1996. 386 So z. B. Bosman 2012, S. 195f.; Schubert 1998, S. 30; Götz 1966, S. 102.
387 Keller 1976; Schramm 1957 [1929], S. 79. 388 Seit 982 war der Zusatz »Romanorum« allgemein gebräuchlich (Schramm 1957 [1929], S. 83). 389 In diese Richtung interpretiert die Spolien jüngst auch: Bosman 2012, S. 195f. 390 Jacobsen 1996. 391 Papst Johannes XIII. pries Otto als dritten großen Kaiser nach Konstantin und Karl (Schramm 1957 [1929], S. 68f.). 392 Beumann 2000; Claude 1972, S. 146f. 393 Kap. 3.5.
3.3 MATERIELLE UND GESTALTERISCHE STRATEGIEN ZUR VERBILDLICHUNG DER TRADITION IM NEUEN CHOR
103
3.07 Dom zu Magdeburg, antikisierendes Kapitell im Chorhaupt, erstes Drittel 13. Jh. (Hauke Horn, 2009)
Die Imitation antiker Kapitelle
korrespondieren und diese zu Säulen ergänzen, die pa-
Allerdings handelt es sich bei diesen Kapitellen spannen-
radoxerweise erst durch die Imitate formal eindeutig als
derweise um Neuanfertigungen des 13. Jahrhunderts, was
römisch-antik definiert werden. Somit fungieren die anti-
sich daran erkennen lässt, dass sie nicht vollplastisch ge-
kisierenden Kapitelle des 13. Jahrhunderts als Informati-
arbeitet wurden, sondern rückwärtig in das Mauerwerk
onsträger, welche die Herkunft der römischen Schäfte, so-
einbinden, ergo für die heutige Situation gefertigt worden
wohl zeitlich wie auch räumlich, kenntlich machen. Dies
sein müssen (vgl. Abb. 3.07).394 Dafür spricht auch die trotz
ist umso bemerkenswerter, als sich die Bildhauer nicht an
unterschiedlicher Schaftbreiten gleichbleibende Höhe der
den ursprünglichen Kapitellen orientiert haben, die als
Kapitelle.
Basen im Remter am Kreuzgang eine neue Verwendung
Die antikisierenden Kapitelle unterscheiden sich stilistisch deutlich von den übrigen Kapitellen des Chores,
fanden (Abb. 3.10),396 denn jene ähneln stilistisch eher byzantinischen Stücken des frühen Mittelalters.397
die in zeittypischen Formen der ersten Hälfte des 13. Jahr-
Der Befund liefert somit nebenbei die Erkenntnis,
hunderts gearbeitet wurden, wie etwa den Figurenkapitel-
dass die Bildhauer des 13. Jahrhunderts nicht auf einen
len des Chorumgangs (Abb. 3.08) oder den Kelchkapitel-
Stil beschränkt waren, wie es das stilgeschichtliche Mo-
len mit Knospen und/oder Blattwerk des Bischofsgangs
dell suggeriert, sondern durchaus verschiedene Stile kann-
(Abb. 3.09).
ten und diese auch bewusst einsetzten. Man konnte nicht
395
Für die antiken Säulenschäfte imitierten die
Bildhauer des 13. Jahrhunderts also bewusst antike Ka-
nur antike Kapitelle von zeitgenössischen unterscheiden,
pitellformen, welche mit den original antiken Schäften
sondern verfügte anscheinend über derart weitreichende
394 Eine stilkritische Auseinandersetzung mit den antikisierenden Kapitellen liefert Forster 2009a. 395 Zu den Kapitellen: Brandl/Forster 2011, S. 111–131, 168–174; Schubert 1989, S. 33–35; Ders. 1984, 28f. – S. auch Kap. 3.3.6.
396 Für die Schäfte der dortigen Säulen nutzte man wohl ebenfalls Spolien des ottonischen Doms. 397 Cord Meckseper führt als Vergleichsbeispiele Kirchen des 6.–8. Jahrhunderts in Norditalien und Istrien an (Ders. 2001, S. 370).
104
3 DER DOM ZU MAGDEBURG
3.08 Dom zu Magdeburg, Chorumgang, Figurenkapitell, erstes Drittel 13. Jh. (Puhle 2009, Bd. 1, S. 85)
3.10 Dom zu Magdeburg, Säulenbasis im Remter, ehemals wohl als Spolienkapitell im ottonischen Dom genutzt, Herstellung wahr scheinlich im frühen Mittelalter im byzantinischen Einflussgebiet. Beim Schaft handelt es sich ebenfalls um eine der Spolien des ottonischen Doms (Puhle 2001, S. 370) Kenntnisse, dass man nicht etwa die ursprünglichen Kapitelle nachahmte, sondern eine stilisierte Form des Kompositkapitells wählte,398 welches formal auf die römische Antike verweist.399 Die Imitation geriet so überzeugend, dass Ernst Schubert wiederholt erwog, ob es sich bei den Kapitellen nicht um spätantike Spolien handeln könnte,400 was aber aufgrund der angeführten Argumente verneint werden muss. Die bewusste Imitation einer antiken Kapitellform, mit der man deutlich von der übrigen Kapitellplastik abwich, beweist, dass die antiken Schäfte auch im neuen Dom als antik erkennbar bleiben sollten. An dieser Stelle kann man
3.09 Dom zu Magdeburg, Chorempore, sog. Bischofsgang, Kelch kapitelle, erstes Drittel 13. Jh. (Pietsch/Quast 2005, S. 86)
noch einen Schritt weiter gehen und konstatieren, die Säu-
398 Während sich drei der Kapitelle eng am antiken Kompositkapitell orientieren, variierte man die Form des Kapitells der südlichen Säule, indem man u. a. das Blattwerk plastischer gestaltete. Eine Erklärung könnte die Figur des Mauritius liefern, welche von der Säule getragen wird, denn auf diese Weise wurde der Kirchenpatron besonders hervorgehoben. Das Kapitell wäre somit aus mittelalterlicher Sicht als gesteigerte Form eines antiken Kapitells zu verstehen.
399 Auch an anderen Stellen der Kirche griff man antiken Dekor in Form von Akanthusfriesen auf, welche dem Akanthus der Kapitelle stark ähneln (Kap. 3.3.4). Dies kann zum einen als weiterer Beleg für die Entstehung der Kapitelle im 13. Jahrhundert gewertet werden. Zum anderen lassen sich daraus vielleicht auch Rückschlüsse auf den Bauverlauf ziehen. 400 Schubert 1998, S. 22; Ders. 1989, S. 29, 37.
len sollten im Ganzen als antik wahrgenommen werden,
3.3 MATERIELLE UND GESTALTERISCHE STRATEGIEN ZUR VERBILDLICHUNG DER TRADITION IM NEUEN CHOR
105
da man auf der anderen Seite davon ausgehen kann, dass
Bemühen, den römisch-antiken Bezugsrahmen mittels
die Kapitelle nicht als hochmittelalterliche Imitationen er-
der teilauthentischen Säulen im neuen Dom aufrecht zu
kannt werden sollten. Auch wenn die Ästhetik und Kost-
erhalten, legt nahe, dass die imperiale Symbolik im neuen
barkeit des seltenen Steinmaterials der Schäfte sicherlich
Kirchenbau erhalten bleiben sollte, wenn auch zu einem
wertgeschätzt wurde, reicht dies somit nicht als Erklärung
anderen Zweck.
für die Wiederverwendung im Magdeburger Domchor
Ein starkes Argument für diese Annahme liefert die
aus.401 Die eindeutige Konnotation der Säulen als römisch-
Inszenierung des Kaisergrabes, wo Spolien mit dem Sar-
antik, welche durch die Imitation antiker Kapitelle beson-
kophag Ottos räumlich und gestalterisch in Beziehung
ders evident ist, legt nahe, dass den Säulen auch im Chor-
gesetzt wurden (Abb. 3.11, Taf. 3.03). Der an der Schwelle
neubau ein symbolischer Wert beigemessen wurde.
zwischen Vierung und Sanktuarium prominent platzierte Sarkophag wird nämlich seitlich von zwei Säulen mit au-
3.3.2 Die Inszenierung des Kaisergrabes
thentisch antiken Schäften und Imitationen antiker Kapitelle flankiert (Abb. 3.12). Im Gegensatz zu den repräsen-
Architektonischer Kontext
tativ auf Postamente erhobenen Spolien im Chorhaupt
Die römisch-antike Konnotation der Säulen im ottoni-
stehen die Säulen am Kaisergrab lediglich auf dem nied-
schen Dom evozierte eine auf das römische Kaisertum
rigen Sockel der Vierungspfeiler und damit quasi auf dem
Ottos des Großen bezogene Symbolik. Das offensichtliche
Niveau des ebenerdig aufgestellten Sarkophags.402 Optisch
3.11 Dom zu Magdeburg, Binnenchor, Blick vom Chorhaupt nach Westen, im Hintergrund der Sarkophag Kaiser Ottos des Großen, flan kiert von Spolien (Sußmann 2002, S. 28)
401 Einige Autoren sehen allein den materialästhetischen Wert von Spolien als Grund für deren Verwendung. Zuletzt argumentierte Günther Binding in diese Richtung (Ders. 2007).
402 Im Mittelalter lag das Fußbodenniveau im Chor anscheinend über dem heutigen (Rogacki-Thiemann 2007, Anhang, Befund C/30), so dass der Sarkophag dementsprechend höher stand.
106
3 DER DOM ZU MAGDEBURG
historischen Bezug zwischen dem kaiserlichem Bistumsgründer und den von ihm besorgten Spolien mit architektonischen Mitteln.
Grabplatte und Sarkophag Das Bedeutungsgeflecht zwischen Kaiser Otto, antiken Spolien und dem Magdeburger Dom offenbart sich auf materialikonologischer Vergleichsebene auch am Grab selbst, denn der Sarkophag wird von einer weißen Marmorplatte überdeckt (Abb. 3.13), welche vermutlich mit den Säulen im 10. Jahrhundert nach Magdeburg gelangte.403 Die Grabplatte ist deutlich größer als der Sarkophag, was darauf hindeutet, dass es sich ursprünglich um ein Bodengrab handelte, der üblichen Form für Gräber nicht nur des sächsischen Hochadels im 10. Jahrhundert.404 Der Sarkophag war demnach im ottonischen Dom in einer Grube im Boden beigesetzt worden, welche mit der Marmorplatte ebenerdig überdeckt wurde.405 Abweichend von den Gräbern der übrigen sächsischen Elite bestand Ottos Grabplatte jedoch nicht aus regionalem Gestein, sondern eben aus antikem Marmor, was verdeutlicht, welch hoher Stellenwert dem symbolisch aufgeladenen Material für die Repräsentation des ersten sächsischen Kaisers offensichtlich beigemessen wurde. Hinsichtlich der Inszenierung des Grabmals im neuen
3.12 Dom zu Magdeburg, antikisierendes Kapitell, Säule nördlich des Kaisersarkophags, erstes Drittel 13. Jh. (Hauke Horn, 2009)
Chor lassen sich somit mehrere wichtige Punkte festhalten. Man entschied sich im Gegensatz zum vorherigen Zustand für eine oberirdische Aufstellung des Sarkophags,
tragen die Säulen einen kräftigen Dienst, der sich bis zum
dessen nun erfahrbare Körperlichkeit die visuelle Präsenz
Gewölbe erstreckt, erfüllen statisch jedoch praktisch kei-
des Kaisergrabes erhöhte. Des Weiteren fertigte man kein
nen Zweck, weil die Trommeln des Dienstes in die Chor-
neues Grabmal, sondern stellte den ursprünglichen Sar-
wand einbinden (vgl. Abb. 3.12). Angesichts der mächtigen
kophag mit der zugehörigen Grabplatte auf. Dabei nahm
Dimensionen des Dienstes erscheint eine konstruktive
man billigend in Kauf, dass die nunmehr überdimensio-
Funktion der Säulen ohnehin nicht glaubhaft. Die tekto-
niert erscheinende Grabplatte seitdem an den Kanten ei-
nisch zweckfreie Einbindung der Säulen in das Dienstsys-
ner helfenden Stützkonstruktion bedarf, deren Zustand
tem belegt somit deren primär gestalterische Intention.
im Domführer von 1702 überliefert ist (Abb. 3.14).406 Folgt
Der Sarkophag des nach mittelalterlichem Verständnis
man Schubert und Lobbedey darin, dass die barocke Gra-
»römischen« Kaisers wird somit von »römischen« Säulen
phik im unteren Teil noch den spätromanischen Zustand
repräsentativ gerahmt und gestalterisch besonders hervor-
wiedergeben könnte, dann blieb der alte Kaisersarkophag
gehoben. Zugleich verbildlichte man auf diese Weise den
durch diese auch im Mittelalter sichtbar.407 In jedem Fall
403 Schubert/Lobbedey 2001, S. 384. 404 De Blaauw, S. 279f.; Schubert/Lobbedey 2001, S. 385. Ottos Eltern Heinrich I. und Mathilde beispielsweise wurden in Quedlinburg in einem Bodengrab beigesetzt. 405 Sible de Blaauw schlägt hypothetisch vor, dass Otto in einem Bodengrab beigesetzt wurde, über dem der heute sichtbare Sarkophag als leere Tumba stand (Ders. 2012, S. 282). Hierfür liegen jedoch keine Indizien vor. 406 Laut einer barocken Beschreibung der Domkirche war das Grabmal um 1700 von einem hölzernen Geschränk umgeben, das bis zum
Dreißigjährigen Krieg versilbert war (Magd. Domführer 1702, Cap. II (Im Chor), 7). Die zugehörige Abbildung zeigt eine um den Sarkophag herumlaufende Arkatur, welche die Marmorplatte, auf die im Text explizit hingewiesen wird, stützt. 407 Schubert/Lobbedey 2001, S. 387. Die Abbildung muss sehr kritisch interpretiert werden, da sie den Sarkophag definitiv verfremdet wiedergibt und damit keine exakte Dokumentation des damaligen Bestandes vorlegt. Geht man jedoch davon aus, dass der Zeichner nicht frei erfunden hat, so könnte die barocke Graphik tatsächlich in vereinfachter Form eine Dreipassarkatur wiedergeben, die
3.3 MATERIELLE UND GESTALTERISCHE STRATEGIEN ZUR VERBILDLICHUNG DER TRADITION IM NEUEN CHOR
3.13 Dom zu Magdeburg, Sarkophag Kaiser Ottos des Großen mit ursprünglicher Marmor-Grabplatte, letztes Viertel 10. Jh. (Quast/Jerratsch 2004, S. 64)
3.14 Sarkophag Kaiser Ottos des Großen, Zustand um 1700, Arkatur im unteren Bereich vermutlich 13. Jh. (Puhle 2009, Bd. 1, S. 204)
107
108
3 DER DOM ZU MAGDEBURG
gleichsam das Rückgrat der Kirche bilden (Taf. 3.03).409 Des Weiteren erinnerte die Situierung inmitten des liturgischen Chores die Chorherren ständig an das Gebet für das Seelenheil des hochadligen Fundatorenpaares, zu dem sie verpflichtet waren.410 Doch auch über die Memoria Ottos hinaus bezog man dessen Grabmal in vielfältiger Weise in die liturgischen Abläufe mit ein und inszenierte es bei zahlreichen Gelegenheiten.411 So verneigten sich die Kleriker davor und besprengten es allsonntäglich mit Weihwasser, es brannten dort wohl fortlaufend Kerzen und an Festtagen wurde es mit Tüchern dekoriert. Anlässlich der Memorie des Kaisers, der Kirchweihe und des Mauritiusfestes involvierte man das Grab in besonderem Maße, indem man zahlreiche Reliquien darauf positionierte.412 Besonders symbolträchtig geriet dabei die Postierung eines Kopfreliquiars des Kirchenpatrons Mauritius über dem Haupt des Kaisers, welches dann mit einer Krone gekrönt wurde, welche der mittelalterlichen Legendarik zufolge einstmals dem Kaiser gehörte.413
3.3.3 Die Reliquiennischen 3.15 Dom zu Magdeburg, Sarkophag Königin Ediths, 1510 (Puhle 2009, Bd. 1, S. 367)
Hinsichtlich der Bewahrung und Präsentation originaler Elemente des Vorgängerdoms fällt noch ein weiterer As-
sollte die originale Marmorgrabplatte erhalten bleiben
pekt ins Auge: Zwischen den Kapitellen der Säulen des
und zur Geltung kommen. Die fortwährende Wertschät-
Chorpolygons sitzen kleine Nischen mittig in der Wand
zung der Authentizität des Grabmals Ottos des Großen
(Taf. 3.02), welche im Mittelalter Reliquienkästchen be-
zeigt sich auch darin, dass Sarkophag und Grabplatte im
herbergten, die im Dreißigjährigen Krieg von den kaiser-
Gegensatz zur Tumba der Königin Edith (Abb. 3.15) bis
lichen Soldaten geraubt wurden.414 Blendarkaturen aus
heute nicht verändert wurden.408
Dreipassbögen, die von gestauchten Säulchen gestützt werden, heben die Nischen gestalterisch hervor. Die un-
Aufstellungsort und liturgische Inszenierung
gewöhnliche Art der plakativen Zurschaustellung der Re-
Schließlich diente auch der Aufstellungsort als Mittel zur
liquien in unmittelbarer Nähe der Marmorsäulen veran-
Inszenierung des Kaisergrabes, dessen Platzierung auf
lasste die Forschung,415 sie mit zwei Stellen in Thietmars
der Mittelachse des Doms einen evidenten räumlichen
Chronicon zusammenzubringen, wo berichtet wird, dass
Bezug zum Kreuzaltar, Hochaltar und dem Edithgrab auf
Otto der Große nicht nur »kostbaren Marmor«,416 sondern
derselben Achse herstellt, so dass die vier Monumente
auch »viele Leiber von Heiligen [...] durch seinen Kaplan
stilistisch gut in die ersten Jahrzehnte des 13. Jahrhunderts passen würde. Die Balustrade oberhalb der Grabplatte gibt sich stilistisch als frühneuzeitliche Ergänzung zu erkennen. 408 Die im barocken Domführer abgebildete Einfassung wurde wahrscheinlich 1832 entfernt (Schubert/Lobbedey 2001, S. 387). – Zum Grabmal der Edith s. Kap. 3.4.4. 409 Bernd Päffgen schlägt vor, dass auch die sechzehneckige Kapelle mit dem Herrscherpaar, welche er als »Heiliges Grab« interpretiert, ursprünglich auf der Mittelachse der Kirche stand, und zwar entweder zwischen Otto-Grabmal und dem Hochaltar oder zwischen Hochaltar und dem Edithgrabmal (Päffgen 2009, S. 205f.; 210f.). Diese These kann jedoch nicht überzeugen, denn im ersten Fall hätte die Kapelle dem Domklerus die Sicht vom Chorgestühl auf den Hochaltar versperrt, im zweiten Fall hätte der Platz zwischen Hochaltar und Arkadenpfeilern kaum ausgereicht. Insofern ver-
wundert es nicht, dass Päffgen keine Belege für seine Annahmen anführen kann. Diese Verpflichtung ließ Otto in der Gründungsurkunde des Moritzklosters, also der Vorgängerinstitution, festschreiben (Althoff 2001, S. 344; Claude 1972, S. 32). Kroos 1989, S. 90f. und Fußnoten 56f. Zu den Reliquien: Kühne 2009, S. 184–186. Kroos 1989, S. 91 und Fußnote 58; Sciurie 1989, S. 164. »Oben im Chor seynd fünff mit Eisen verwahrte Kasten so voller Reliquien gewesen, welche die Kayserlichen im Auszuge mitgenommen ...« (Magd. Domführer 1702, Cap. II (Im Chor), 2). – Die Sandsteingitter, welche die Öffnungen heute verschließen, stammen von 1851 (Brandt 1863, S. 64). Z. B. Schubert 1989, S. 34; Ders. 1984, S. 31. Thietmar, Chronicon II, 17 (ed. Trillmich, S. 52).
410 411 412 413 414
415 416
3.3 MATERIELLE UND GESTALTERISCHE STRATEGIEN ZUR VERBILDLICHUNG DER TRADITION IM NEUEN CHOR
Dodo aus Italien nach Magdeburg bringen ließ.«417 Weiter-
109
der Reliquien fällt auf, dass diese auf Höhe der Kapitelle
hin erfährt man dort: »In sämtliche Kapitelle der Säulen
in die Wand eingebracht wurden, mit denen sie eine hori-
befahl er [=Kaiser Otto I.] sorgsam Reliquien von Heiligen
zontale Zone bilden, die nach oben von einem Gesims klar
einzuschließen.«418
begrenzt wird. Auf diese Weise wird ein räumlicher Bezug
Beim Neubau des Chores im 13. Jahrhundert verhin-
zwischen Kapitellen und Reliquien hergestellt, welcher
derte die neue Aufstellung der ehemals freistehenden Säu-
den ursprünglichen Zusammenhang geradezu bildlich zu
len vor der Wand des Chorpolygons die Weiterverwendung
veranschaulichen scheint.
der originalen Kapitelle.419 Dennoch wäre ein erneutes Einbetten der Reliquien in die neu geschaffenen Kapitelle
3.3.4 Die Imitation alter Formen
konstruktiv problemlos möglich gewesen. Bemerkenswerterweise entschied man sich jedoch gegen diese Mög-
Antikisierende Formen im Chor
lichkeit und präsentierte die Reliquien stattdessen offen
Neben der beschriebenen Integration und Inszenierung
sichtbar in der Wand des Chorpolygons und betonte sie
authentischer Teile des ottonischen Doms lassen sich
mit dem architektonischen Würdemotiv der Arkade.420 Ei-
im Bauwerk des 13. Jahrhunderts auch Imitationen alter
nerseits behielt man damit eine architektonische Bindung
Formen beobachten. In erster Linie wären hier die Kapi-
der Reliquien auch im gotischen Neubau bei, andererseits
telle der Säulen im Chorhaupt zu nennen, bei denen es
stellte man die vormals verborgenen Reliquien nunmehr
sich anbot, sie im Zusammenhang mit den authentischen
demonstrativ zur Schau. Hinsichtlich der Positionierung
Schäften zu behandeln (Abb. 3.16; vgl. Abb. 3.07, 3.12).421
3.16 Dom zu Magdeburg, antikisierendes Kapitell im Chorhals, erstes Drittel 13. Jh. (Hauke Horn, 2009)
417 Thietmar, Chronicon II, 16 (ed. Trillmich, S. 50): »Multa sanctorum corpora imperator ab Italia ad Magdaburg per Dodonem capellanum suimet transmisit.« Dt. Übersetzung nach Trillmich. 418 Thietmar, Chronicon II, 17 (ed. Trillmich, S. 52): »In omnibusque columnarum capitibus sanctorum reliquias diligenter includi iussit.« Dt. Übersetzung nach Trillmich. 419 Kap. 3.3.1.
420 Diese Formen erinnern stark an die mutmaßliche Umfassung des Kaisersarkophags im 13. Jahrhundert (vgl. Abb. 3.14; Kap. 3.3.2). Möglicherweise wurde auf diese Weise ein bewusster formaler Bezug zwischen Otto und den von ihm für den ersten Dom beschafften Reliquien hergestellt. 421 Kap. 3.3.1.
110
3 DER DOM ZU MAGDEBURG
3.17 Dom zu Magdeburg, Chorlängsschnitt, Blick nach Norden (Brandl/Forster 2011, Pl. 2 [Ausschnitt]) Authentische Schäfte mit Imitationen antiker Kompo
schen Dom integrierte man stattdessen auf Höhe des Bi-
sitkapitelle integrierte man zudem in die beiden Stütz-
schofsgangs, welche allerdings mit einem zeitgenössischen
strukturen am Übergang vom Chorhals zum Chorhaupt
Knospenkapitell (Abb. 3.19) bzw. einem Kelchblockkapitell
(Abb. 3.17, 3.18). Die Spolien befinden sich auf der Höhe
abschließen. Anscheinend orientierte man sich an dieser
der Heiligenskulpturen, so dass sie deren Reihe würde-
Stelle an der horizontalen Ordnung der Kapitelle im Chor-
voll rahmen. Ein beredtes Zeugnis von der tektonischen
haupt. Abweichend von den übrigen Säulen mit Natur-
Auffassung des Mittelalters geben die antikisierenden Ka-
steinschäften nutzte man die Spolien an dieser Stelle als
pitelle. Diese wurden so gestaltet, als seien zwei Kapitelle
Mittelteile von Schäften, machte die integrierte alte Mate-
miteinander verschmolzen, wobei das zweite Kapitell kopf-
rie aber dennoch konstruktiv kenntlich, indem man analog
über auf dem ersten steht, im Gesamten also optisch einer
dem Halsring der Spolie die neugefertigten Schaftkompar-
Säule folgt, die allerdings um 180 Grad gedreht wurde, so
timente mit Ringen versah, so dass der Gesamtschaft er-
dass das Kapitell die Basis bildet und umgekehrt.422
kennbar aus drei übereinander gestapelten Teilen besteht.
Weitere antikisierende Kapitelle wurden für die beiden
Über diesen kompositen Säulen befinden sich wie-
kompositen Stützstrukturen zwischen den beiden Jochen
derum auf Höhe der Arkadenbögen des Bischofsgangs
des Chorhalses geschaffen, wo sie die Dienste des Erdge-
Wandpfeiler, welche von breiten Kanneluren struktu-
schosses krönen (vgl. Abb. 3.16). Schäfte aus dem ottoni-
riert werden, so dass sie Assoziationen an antike Pilaster
422 Des Weiteren zeigt sich, dass der aus Trommeln zusammenge setzte Teil des Dienstes oberhalb der Spolie als Pendant zu jener
konzipiert wurde und somit ebenso als Säule gelesen werden muss.
3.3 MATERIELLE UND GESTALTERISCHE STRATEGIEN ZUR VERBILDLICHUNG DER TRADITION IM NEUEN CHOR
111
hervorrufen (vgl. Abb. 3.06). Der Sinn dieser Elemente erscheint rätselhaft, da sich in der tragkonstruktiven Systematik des Chores keine Entsprechung findet, wie überhaupt der Aufbau der Stützstruktur im architektonischen Gesamtkontext nur bedingt zu verstehen ist. Fest steht jedoch, dass die Struktur sowohl durch die Imitation alter Formen als auch durch die Integration alter Materie deutliche formale Bezüge zur Vergangenheit aufweist.
Pfeilerformen des 11. Jahrhunderts Ganz ähnlich den kannelierten Wandpfeilern im Langchor gestaltete man die beiden Mittelpfeiler der Doppelarkaden des Bischofsgangs, welche die Empore im Norden und Süden zum Chorpolygon hin öffnen (vgl. Abb. 3.17, Taf. 3.04). An den Seitenflächen verweisen breite Kanneluren auf antike Stützelemente.423 Vor diesen Pfeilern stehen die beiden einzigen Heiligenfiguren,424 die nicht von einer antiken Spolie getragen werden, weil sie sich über einem
3.19 Dom zu Magdeburg, antiker Spolienschaft aus dem ottonischen Dom mit zeitgenössischem Knospenkapitell, darunter antikisierendes Kapitell des 13. Jh. über zeitgenössischem Dienst, Stützstruktur im Chorhals in Höhe des Bischofsgangs, Nordseite (Hauke Horn, 2009) 3.18 links: Dom zu Magdeburg, Stützstruktur am Übergang zum Chorhaupt in Höhe des Bischofsgangs, Südseite, integrierter Spolienschaft aus dem ottonischen Dom mit neuem, antikisieren dem Doppelkapitell (Hauke Horn, 2009) 423 Kannelierte Pfeiler existieren beispielsweise in der Villa des Kaisers Hadrian in Tivoli, Italien. Wie die Stäbe an den Ecken zeigen, wollte man allerdings antike Stützelemente nicht genau kopieren, sondern einen Antikenbezug allein durch die Kanneluren herstellen.
424 Die beiden Figuren werden als Andreas und Innozenz gedeutet (Sciurie 1989, S. 163; Schubert 1984, S. 31).
112
3 DER DOM ZU MAGDEBURG
Bogen befinden. Der Antikenbezug der Pfeiler könnte
hunderts sowie die mehrschichtigen Parallelen zwischen
eventuell in diesem Zusammenhang gesehen werden, ge-
der ehemaligen Krypta des Magdeburger Doms und dem
wissermaßen als Surrogat für die Spolien. Die Pfeilerecken
Essener Pendant lassen zusammengenommen die An-
profilierte man hingegen ohne antikes Vorbild mit Rund-
nahme zu, dass die Formen der kannelierten Pfeiler im
stäben, deren Enden in Schilde münden, welche stark an
neuen Chor des Magdeburger Doms auf Formen der ro-
Würfelkapitelle erinnern, so dass die Stäbe als freie Vari-
manischen Krypta des 11. Jahrhunderts rekurrieren, wel-
ationen von Ecksäulen aufgefasst werden können.425 Auf
che durch die Achsdrehung des Neubaus bekanntlich
diese Weise entsteht der Eindruck von kannelierten Pfei-
verloren ging. Vielleicht hielt man diese Pfeilerform, wie
lern, die von kleinen Säulchen gerahmt werden.
die Säulen, im 13. Jahrhundert für antik. Die Kanneluren
Im Ganzen erinnern die im 13. Jahrhundert entstande-
weisen schließlich tatsächlich auf einen gewissen Anti-
nen Pfeiler erstaunlich deutlich an Pfeiler der Frühroma-
kenbezug hin, den man wohl bereits bei den Vorbildern
nik. So zeigen beispielsweise die Kryptapfeiler des Essener
des 11. Jahrhunderts anstrebte. Auch die ähnlich gestal-
Doms aus der Mitte des 11. Jahrhunderts einen auffallend
teten Wandpfeiler im Langchor, welche an Pilaster erin-
ähnlichen Aufbau (Taf. 4.14).426 Die Ecken werden von
nern und damit noch deutlichere Assoziationen zur An-
runden Schäften besetzt, die in Schilden enden, welche in
tike wecken, deuten in diese Richtung. Es liegt nahe, auch
Essen mittels einer Reliefierung noch deutlicher als verein-
in diesem Fall davon auszugehen, dass Formen des otto-
fachte Kapitelle ausgewiesen sind, während die Seitenflä-
nischen Doms direkt aufgegriffen wurden. Wie an vielen
chen der Pfeiler mit antikisierenden Kanneluren profiliert
Stellen jedoch bereits deutlich wurde, wird die Antike im
wurden. Wenn man bedenkt, dass enge verwandtschaftli-
Magdeburger Dom des 13. Jahrhunderts stets durch den
che Beziehungen zwischen den ottonischen Kaisern und
Filter des ottonischen Gründungsbaus betrachtet. In je-
den Essener Äbtissinnen bestanden,427 so gewinnt der Ver-
dem Fall kann jedoch festgehalten werden, dass Elemente
gleich mit Essen an Tiefe und geht über formal-stilistische
des ottonischen Doms auf zwei unterschiedliche Weisen
Aspekte hinaus. In diesem Kontext erscheint es auffallend
in den neuen Dom überführt wurden: zum einen, indem
passend, dass zur Mitte des 11. Jahrhunderts in Magdeburg
man originale Teile wiederverwandte, und zum anderen,
und Essen parallel zwei neue Ostkrypten angelegt wurden:
indem man alte Teile imitierte.
Auf die Weihe der Magdeburger Krypta 1049 unter Erzbischof Hunfried folgte nur zwei Jahre später die Weihe in
Antikisierende Formen des Bischofsgangs
Essen 1051 unter Äbtissin Theophanu.
Im Bischofsgang lassen sich an signifikanten Stellen anti-
428
Eine enge formale Beziehung zwischen dem ehemali-
kisierende Formen beobachten. Obgleich in diesem Raum
gen Essener Münster und der Magdeburger Krypta legen
zeitgenössische Knospenkapitelle dominieren, finden sich
die halbrunden Wandnischen aus dem 11. Jahrhundert
vereinzelt auch Säulen, die von antikisierenden Kompo-
nahe, die sich in den Seitenschiffen der Essener Kirche er-
sitkapitellen bekrönt werden, welche stilistisch eine starke
halten haben,429 denn ebensolche konnten durch Ausgra-
Ähnlichkeit mit den Kapitellen der Spolien im Chor auf-
bungen in der Magdeburger Krypta nachgewiesen werden.
weisen (Abb. 3.20).431 Eine der Säulen befindet sich auf der
In diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben darf
Nordseite zur Rechten des Treppenaufgangs, welcher ehe-
die Essener Kreuzsäule mit dem antiken Spolienschaft
mals in den erzbischöflichen Palast führte.432 Es böte sich
(vgl. Abb. 4.23), die vielleicht sogar aus dem Fundus Ottos
förmlich an, dieses Kapitell als gestalterische Betonung
des Großen für Magdeburg stammt.430
der Übergangssituation zu deuten und einen inhaltlichen
Die Ähnlichkeit der Magdeburger Pfeiler des 13. Jahr-
Bezug zwischen der antikisierenden Kapitellplastik und
hunderts mit denjenigen der Essener Krypta des 11. Jahr-
der Person des Erzbischofs herzustellen. Die architektoni-
425 Mit einer vermutlich vorhandenen Bemalung war dies vielleicht noch deutlicher zu erkennen. 426 Zur Krypta des Essener Doms s. Kap. 4.3.2. 427 Kap. 4.1. und 4.5.2. 428 Zur Weihe der Magdeburger Krypta: Kroos 1989, S. 90; Schubert 1989, S. 28; vgl. auch Kap. 3.2. – Die Weihe der Essener Krypta ist inschriftlich gesichert (Abschrift und Foto s. Zimmermann 1956, S. 250f.). 429 Kap. 4.3.3. 430 Kap. 4.4.2.
431 Sowohl im Chor als auch im Bischofsgang wurden die Akanthusblätter betont geradlinig gearbeitet, mit einer Tendenz zu geometrischer Vereinfachung, was ihnen eine feierliche Strenge verleiht. Die Blattspitzen zweier Blätter berühren sich in regelmäßigem Muster und lassen die Bögen der Adern fließend ineinander übergehen, so dass eine gewisse Ornamentalisierung des Blattwerks unverkennbar ist. Wie die Kapitelle im Chor, binden auch die Exemplare des Bischofsgangs rückwärtig in die Pfeiler ein, so dass es sich zweifelsfrei um Arbeiten des 13. Jahrhunderts handelt. 432 Brandl/Forster 2011, S. 149; Nicolai 1989, S. 153.
3.3 MATERIELLE UND GESTALTERISCHE STRATEGIEN ZUR VERBILDLICHUNG DER TRADITION IM NEUEN CHOR
113
im Bischofsgang, hinter denen sich der Raum mittels einer geräumigen Nische weitet. Der besondere Kapitellschmuck und die besondere räumliche Situation sprechen dafür, dass sich in den Nischen einstmals etwas Wichtiges befunden haben muss. Worum es sich dabei handelte, kann allerdings leider aufgrund des ungenügenden Forschungsstandes bezüglich der liturgischen Nutzung des Bischofsgangs derzeit nicht ermittelt werden.433 Die Wahl antikisierender Kapitellplastik könnte jedoch einen Hinweis auf etwas geben, das mit der Tradition der Kirche in Verbindung steht. In Anlehnung an römischen Architekturdekor entstand zudem ein Akanthusfries,434 welcher die Kalotte einer apsidialen Nische rahmt, die in der Ostwand der Chorempore sitzt (Taf. 3.06). Auf der Mittelachse der Kirche liegend kann diese Apsidiole auch vom Mittelschiff aus gesehen werden, was wohl die ungewöhnliche Größe der Blätter erklärt, die das antikisierende Motiv auch aus der Entfernung erkennbar machte. Optisch getragen wird der Bogenfries von zwei Säulen, so dass im Ganzen ein Arkadenmotiv entsteht, welches den Altar in der Apsidiole ebenso nobilitiert wie den Zelebranten davor, was einen inszenatorischen Bezug zu liturgischen Handlungen herstellt. Abermals kann aufgrund fehlender Kenntnisse über die mittelalterliche Nutzung des Raumes aber nicht
3.20 Dom zu Magdeburg, antikisierendes Kompositkapitell, erstes Drittel 13. Jh., Detail zu Taf. 3.05 (Hauke Horn, 2009)
erschlossen werden, inwiefern Sinnzusammenhänge mit der Tradition des Ortes bestanden. Fest steht jedoch, dass das römische Motiv zur Auszeichnung einer besonderen
sche Situation mit der Treppe deutet allerdings darauf hin,
Situation herangezogen wurde.
dass ein Fenster im Nachhinein zu einem Portal umfunk-
Interessanterweise wurde der Bischofsgang auch au-
tioniert wurde, so dass sich das Kompositkapitell wahr-
ßen mit einem Fries aus antikisierenden Akanthusblät-
scheinlich an der heutigen Stelle befand, bevor man den
tern geschmückt,435 welche den Blättern des Apsidiolen-
Übergang zum Palast realisierte.
bogens im Inneren stark ähneln (Abb. 3.21).436 Der Fries
Dafür, dass man bei der Errichtung des Kapitells eine
befindet sich unterhalb des Traufgesimses der Chorem-
andere Intention verfolgt hatte, spricht auch, dass sich
pore und umläuft die gesamte Ostpartie einschließlich
auf der Südseite an spiegelbildlicher Stelle im Grund-
der beiden Türme am Querhaus. Bei den Pfeilern der Bi-
riss ein weiteres Kompositkapitell befindet, ohne dass
schofsgangarkaden konnte aufgezeigt werden, dass deren
eine entsprechende Übergangssituation vorhanden wäre
altertümliche Form wahrscheinlich auf Pfeiler der Krypta
(Taf. 3.05). Ansonsten stimmt die architektonische Si-
des Vorgängerdoms rekurrieren.437 Möglicherweise resul-
tuation allerdings überein. Die antikisierenden Säulen
tieren auch die Akanthusfriese aus einem Formentransfer
stehen jeweils vor den einzigen freistehenden Pfeilern
vom ottonischen Dom.
433 Vgl. Kroos 1989. 434 In der Literatur wird der Fries zum Teil fälschlicherweise als Palmettenfries bezeichnet. Die spitz ziselierten Blattspitzen sind aber ein eindeutiges Kennzeichen für Akanthus. Durch eine natürlichere Gestaltung unterscheiden sich diese Akanthusblätter stilistisch von denen der Kapitelle. 435 Auch dieser Fries wird in der Literatur oftmals mit einem Palmettenfries verwechselt (vgl. vorherige Anm.).
436 Die Akanthusblätter sitzen paarig auf Steinplatten, die sich konkav nach außen wölben. In den Zwischenräumen treten Pflanzen hervor, deren Wachstum den Fries aufzusprengen scheint und somit die Wölbung der Platten verursacht. 437 S. weiter oben.
114
3 DER DOM ZU MAGDEBURG
3.21 Dom zu Magdeburg, antikisierender Akanthusfries, erstes Drittel 13. Jh., Chor, Traufgesims des Bischofsgangs (Hauke Horn, 2009)
Eine ins 10. Jahrhundert datierte Elfenbeintafel im Liebieghaus ist diesbezüglich sehr aufschlussreich (Abb.
3.3.5 Die Wandstruktur im Chorhaupt als integratives Ordnungssystem
3.22),438 denn sie belegt nicht nur, dass solche Dekore zur fig waren, sondern bildet einen derartigen Fries auch in
Unterscheidung zwischen dem sichtbaren Tragsystem und der tatsächlichen Lastabtragung
einem architektonischen Kontext ab. So zeigt die Tafel ne-
Die Wand des Chorhauptes wird von einem kompositen
ben dem umlaufenden Akanthusrahmen im Hintergrund
Primärtragsystem geprägt, welches scheinbar die Lasten
eine ziboriumartige Architektur mit einem Traufgesims
des Gewölbes abträgt. Anstelle durchlaufender Dienste
aus Akanthusblättern. Die stilisierte Form der Blattrei-
setzen sich die vertikalen Stützstrukturen aus unterschied-
hung und die Tendenz, die einzelnen Blätter ineinander
lichen Komponenten zusammen, und zwar vom Boden
übergehen zu lassen, um ein fortlaufendes Band zu bilden,
ausgehend jeweils aus einem mit drei Diensten umstellten
lässt sich auch in Magdeburg beobachten, so dass sogar
Wandpfeiler, den Säulen mit den Schäften des ottonischen
stilistische Ähnlichkeiten attestiert werden können.
Doms, monumentalen Heiligenskulpturen vor schlanken
Zeit der Gründung der Magdeburger Bischofskirche geläu-
Es spricht somit einiges dafür, dass die Bildhauer des
Säulchen und schließlich langen Diensten in der Oberga-
13. Jahrhunderts Akanthusformen des alten Doms ko-
denzone, auf denen die Rippen des Gewölbes fußen (vgl.
pierten. Überdies würde es eine Erklärung für den alter-
Abb. 3.06, Taf. 3.02).
tümlichen Stil des Akanthus auf den Kompositkapitellen
Die tektonische Struktur erweckt beim Betrachter den
liefern: Die Bildhauer schufen zwar Kapitelle nach rö-
Eindruck, dass die Lasten des Gewölbes über die komposi-
misch-antikem Vorbild, hätten sich bei dem Stil des Akan-
ten Vertikalstrukturen abgetragen würden, was allerdings
thus jedoch an Formen des Vorgängerdoms orientiert.
nicht dem tatsächlichen Kräfteverlauf entspricht. Die
438 Kosch 2001, S. 287.
3.3 MATERIELLE UND GESTALTERISCHE STRATEGIEN ZUR VERBILDLICHUNG DER TRADITION IM NEUEN CHOR
115
3.22 Elfenbeintafel mit Darstellung eines Akanthusfrieses am Traufgesims, datiert ins 10. Jh., Liebieghaus, Frankfurt a. M. (Puhle 2001, S. 287)
Dienste etwa stehen nicht als eigenständige Elemente vor der Wand, sondern binden in das Mauerwerk des Obergadens ein, mit dem sie folglich eine statische Einheit bilden. Obgleich die Dienste wie Stützen eines Skelettbaus gestaltet wurden, entsprechen sie statisch betrachtet also Wandvorsprüngen, so dass die Abtragung der Gewölbelasten in Wirklichkeit über die gesamte Wand des Chores erfolgt. Da das komposite Tragsystem folglich nicht rein konstruktiv begründet werden kann, liegen seiner Form offensichtlich auch gestalterische Intentionen zugrunde.439
Die Symbolik des Tragens In der Bibel finden sich zahlreiche architektonische Metaphern,440 welche beim mittelalterlichen Kirchenbau aufgegriffen wurden.441 Die Säulen eines Bauwerks übernehmen buchstäblich eine tragende Funktion und stellen damit einen für die Festigkeit des Gebäudes essentiellen Bestandteil dar. Es liegt auf der Hand, diese statische Bedeutung auch im übertragenen Sinne zu gebrauchen. Bruno Reudenbach arbeitete beispielsweise heraus, dass Säulen häufig als Metapher für die Apostel gedeutet wurden:442 So wie die Säulen das Kultgebäude Kirche tragen, tragen die Apostel die Kirche im Sinne der Glaubensgemeinschaft. Im Dom Ottos des Großen versuchte man, eine ähnliche Metaphorik nahezu wortwörtlich umzusetzen, indem man Reliquien von Heiligen in die Kapitelle der antiken Säulen einbettete.443 Von einem anderen Standpunkt aus ließen sich die Säulen, wie gezeigt, als Symbole des römischen Kaisertums Ottos verstehen.444 Wenn aber die tragende Funktion der Säulen symbolisch ausgedeutet wurde und die Säulen zugleich als imperiale Zeichen verstanden wurden, so kann ein Sinnzusammenhang zwischen den beiden semantischen Ebenen hergestellt werden. In diesem Sinne ließen sich die quasi-antiken Säulen im ottonischen Dom 439 Die Unterscheidung zwischen der optischen Gestaltung eines Tragsystems und dem tatsächlichen Kräftefluss lässt sich übrigens auch bei zahlreichen weiteren Kirchenbauten der Zeit nicht nur im deutschen Raum treffen und muss somit als Charakteristikum gotischer Kirchen angesehen werden. 440 Z. B. Paulus, Eph. 2, 19–22. 441 Eine Übersicht der Literatur zum Thema würde eine eigene Studie ergeben, so dass hier nur auf die zwei Standardwerke von Bandmann 1979 [1951] und Sauer, J. 1924 hingewiesen wird. 442 Reudenbach 1980. 443 Kap. 3.3.3. 444 Kap. 3.3.1.
116
auch als Zeichen dafür deuten, dass der Kaiser als Stütze
3 DER DOM ZU MAGDEBURG
gen und Architektur neu inszenieren wollen. Anstelle der
der Kirche im Sinne der Glaubensgemeinschaft fungierte.
Reliquien, welche aufgrund der plakativen Zurschaustel-
Während die antiken Säulen im ottonischen Dom als
lung im Chor des neuen Doms ihre ursprünglich tragende
Träger der Arkadenbögen des Mittelschiffes systemre-
Symbolik verloren, bringen nunmehr die Skulpturen die
levante tragkonstruktive Teile des Gebäudes bildeten,445
symbolische Beziehung zwischen Kirche und Heiligen
kommt den Spolien im neuen Dombau hingegen keine
zum Ausdruck. Auf jeden Fall zeigt sich ein ganz anders-
besondere statische Bedeutung mehr zu. Umso interes-
artiger Umgang mit Symbolen und deren Bildlichkeit.
santer gestaltet sich die Analyse, wie die Säulen mit den
Während im ottonischen Dom die Heiligen in Form der
Natursteinschäften in das suggestive Bild des Tragsystems
Reliquien vor den Augen verborgen in tatsächlich tragen-
eingefügt wurden. Die Säulen stehen nämlich ausschließ-
den Elementen ruhten, lässt sich die tragende Funktion
lich an solchen Stellen, die in einem Skelettbau die Haupt-
der Heiligen in Form der Skulpturen nicht übersehen, ob-
lasten abtragen würden, denn sämtliche Spolien im Chor
gleich es sich in diesem Fall nur um die Suggestion des
sind Bestandteil einer der vertikalen Stützstrukturen, wel-
Tragens handelt. Während sich die Symbolik im ersten
che entweder die Gurtbögen oder die Rippen des sechstei-
Fall nur Eingeweihten, welche um den Inhalt der Kapitelle
ligen Chorhauptgewölbes aufnehmen. Als vorgebliche Be-
wussten, erschließen konnte, wandte man sich im zweiten
standteile des primären Tragsystems suggerieren sie dem
Fall unübersehbar an einen außenstehenden Betrachter.
Betrachter somit, dass die halbauthentischen Säulen aus
Während im ersten Fall die Idee im Vordergrund stand,
dem alten Dom für die Festigkeit des Kirchenbaus weiter-
war es im zweiten Fall die Kommunikation der Idee. Hier-
hin von grundlegender Bedeutung seien. Der Unterschied
bei lassen sich gewisse Parallelen zum veränderten Um-
zwischen tatsächlicher und suggerierter statischer Rele-
gang mit den antiken Spolien nicht verkennen.
vanz der Säulen unterstreicht, dass die Symbolik des Tragens einen wichtigen Aspekt des architektonischen Kon-
Die Relation der Teile zueinander
zeptes darstellt, und weist die Tragstruktur damit ebenso
Weiteren Aufschluss über die Semantik des Pseudo-Trag-
als gestalterisches System aus.
systems gibt die Relation der einzelnen Komponenten zueinander. Während die Säulen einerseits demonstrativ auf
Die Metaphorik der Heiligenfiguren im architektonischen Kontext
Postamenten präsentiert werden, dienen sie andererseits als Träger der Heiligenfiguren (vgl. Abb. 3.06, Taf. 3.02).
Auch anhand der überlebensgroßen Heiligenskulpturen
Die Tektonik des Tragens und Getragenwerdens lässt
lässt sich nachvollziehen,446 dass die Gestaltung der tra-
sich auch als Symbol eines hierarchischen Verhältnisses
genden Struktur des Chorhauptes ein wesentlicher Be-
der Teile zueinander verstehen. Die kaiserlich konnotier-
standteil des architektonischen Konzeptes war und nicht
ten Säulen werden zwar einerseits besonders hervorgeho-
bloß dekorativen Zwecken diente (vgl. Abb. 3.06, Taf. 3.02).
ben, doch dienen sie andererseits zugleich als Träger der
Die Figuren wirken zwar optisch als Elemente der Trag-
Heiligen. Als wäre diese Symbolik nicht deutlich genug,
struktur, übernehmen jedoch realiter keinerlei statische
fügte man zwischen die Füße der Heiligen und die Kapi-
Funktionen, wie sich an der Lücke zwischen ihren Köpfen
telle noch kleine Figuren ein, die an ihren Kronen als welt-
und den darüber befindlichen Baldachinen, welche einen
liche Herrscher zu erkennen sind. Klar ersichtlich dienen
theoretischen Kraftfluss unterbrechen würde, leicht erken-
diese Herrschergestalten als Träger der Heiligen.
nen lässt. Es handelt sich stattdessen anscheinend um eine
Damit vermittelt die Tragstruktur über die hierarchi-
buchstäbliche Verbildlichung der im Mittelalter üblichen
sche Ordnung ihrer Teile zugleich eine Aussage über die
Metapher von den Aposteln und Märtyrern als Stützen.447
hierarchische Ordnung der Welt: Auch Kaiser und Könige,
Im Kontext der Tradition des Ortes erinnert diese Me-
auch die Männer an der Spitze der weltlichen Hierarchie
taphorik unweigerlich an die Reliquien, welche unter Otto
stehen unterhalb der himmlischen Autoritäten. Gemein-
dem Großen in die Kapitelle eingebettet wurden.448
sam sind sie jedoch in eine übergeordnete Struktur ein-
Es hat den Anschein, als hätte man beim Neubau des
gebunden, welche die Kirche trägt, was wiederum sowohl
Doms die zuvor symbolische Beziehung zwischen Heili-
wörtlich als auch im übertragenen Sinne zu verstehen ist.
445 Meckseper 2001, S. 374f.; Leopold 1989, S. 65; Schubert 1989, S. 26. 446 Zu den Heiligenfiguren: Sciurie 1989, S. 163, 166; Schubert 1984, S. 31. 447 Reudenbach 1980.
448 Kap. 3.3.3. – Zur Ikonologie der Reliquien im ottonischen Dom: Binding 1989; allgemein zur Beisetzung von Reliquien in Architekturteilen: Keller 1975.
3.3 MATERIELLE UND GESTALTERISCHE STRATEGIEN ZUR VERBILDLICHUNG DER TRADITION IM NEUEN CHOR
117
3.23 Dom zu Magdeburg, Chorumgang, erstes Drittel 13. Jh., im Hintergrund das Grabmal der Königin Edith vor dem Kilianaltar (Pietsch/Quast 2005, S. 59)
3.24 Dom zu Magdeburg, Chorempore, sog. Bischofsgang, erstes Drittel 13. Jh., im Hintergrund die Apsidiole in der Mittelachse (Quast/Jerratsch 2004, S. 72)
Wie bereits aufgezeigt wurde, sollte der imperiale Bezugs-
nachvollziehen lassen wie in den Details. Auf der einen
rahmen der Säulen im neuen Dom erkennbar bleiben.449
Seite vermitteln im Chorumgang wuchtige Pfeilerstruk-
Mit der Art und Weise, wie man die Säulen in den neuen
turen, die mehrfach gestuft und mit Vorlagen versehen
architektonischen Kontext integrierte, akzentuierte man
wurden, den Eindruck von Schwere und Massivität
diese aber zugleich anders, indem man die kaiserlich kon-
(Abb. 3.23). Die friesartigen Kapitellzonen der Pfeiler wur-
notierten Elemente deutlicher als zuvor einer übergreifen-
den mit einer Vielzahl unterschiedlicher, zum Teil figurati-
den Ordnung subsumierte. Die Präsentation der Säulen
ver Motive kleinteilig und abwechslungsreich ausgearbei-
im Chor ist somit von einer gewissen Ambivalenz gekenn-
tet (vgl. Abb. 3.08), während die Kreuzgratgewölbe der fünf
zeichnet: Einerseits hob man die Säulen mittels der »Pos-
trapezförmigen östlichen Joche durch ihre Einfachheit
tamente« demonstrativ hervor, andererseits inszenierte
bestechen.
man sie als dienende Elemente einer höheren Ordnung.
Im Bischofsgang fanden auf der anderen Seite vermehrt lineare Einzelelemente Verwendung (Abb. 3.24),
3.3.6 Die gestalterische Dialektik von Chorumgang und Bischofsgang
welche der Empore gegenüber dem Umgang eine größere Filigranität und Leichtigkeit verleihen. So finden sich an den Gewölben Rippen, die jeweils auf schlanken Säulen
Formale Differenzen zwischen Chorumgang und Bischofsgang
oder Halbsäulen fußen. Der unmittelbare Lichteinfall
Chorumgang und -empore weisen klare formale Differen
rekt über die Kapellen erfolgt, verdichtet den Kontrast zwi-
zen auf, die sich in der Gesamtwirkung der Räume ebenso
schen hell und leicht sowie dunkel und schwer. Des Wei-
449 Kap. 3.3.1.
durch die Fenster, welcher im Umgangsgeschoss nur indi-
118
3 DER DOM ZU MAGDEBURG
teren bringt die stärker auf Einzelelementen basierende
mit nicht allein über den Stil erklärt werden kann.453 Ihm
tektonische Struktur eine größere Gleichförmigkeit der
folgte Wolfgang Götz, der bezüglich der Heiligenfiguren
Kapitellplastik mit sich. Statt der individuellen Reliefs des
auch juristische Motive in die Diskussion einbrachte.454
Umgangs finden sich auf der Empore überwiegend typi-
Beiden Autoren gebührt das Verdienst, das Verständnis
sierte Kelchkapitelle mit Knospen und/oder Blattwerk (vgl.
der Magdeburger Chorarchitektur wesentlich vorange-
Abb. 3.09). Andererseits zeichnen sich die vollplastischen
bracht zu haben, in der ganzheitlichen Bewertung des
Kapitelle des Bischofsgangs durch größere Körperlichkeit
Gebäudeteils blieben sie indes den etablierten stilge-
gegenüber den flächig gearbeiteten Kapitellfriesen des
schichtlichen Normen verhaftet.455 Die Anerkennung des
Chorumgangs aus.
Traditionsbezuges, zumindest der Spolien, führte in der Folge zu einer Entschärfung der negativen Beurteilung
Die Bewertung der Differenzen in der Literatur
von Hamann, doch blieb die stilgeschichtliche Differen-
In der Literatur wurde der formale Kontrast zwischen
zierung von Chorumgang und -empore samt der daraus
den beiden Raumteilen zumeist mit einer stilgeschichtli-
folgenden Interpretationen bezüglich Datierung, Werk-
chen Entwicklung erklärt:450 Während der Umgang noch
leuten und Bauherrenschaft weiter gültig.456
spätromanischem Formengut verhaftet sei, hielt beim
In den 1980er Jahren meldete Bernd Nicolai jedoch
Bischofsgang demgegenüber die Frühgotik Einzug. Die
berechtigte Zweifel an den Erkenntnissen eines stilge-
Formen von Umgang und Empore unterscheiden sich
schichtlichen Blicks auf den Magdeburger Domchor an,
nach diesem Deutungsmuster also deshalb, weil eine all-
indem er beispielsweise auf den Widerspruch hinwies,
gemeine Entwicklung der Formen stattfand. Die Chorar-
dass der Grundriss des Chores als zeitgemäß und gotisch
chitektur wäre demzufolge nicht das Resultat bewusster
interpretiert, die Detailformen hingegen als rückständig
Gestaltung, sondern primär einem allgemeinen Wandel
und romanisch bewertet würden.457 In einem 2009 publi-
der Formen geschuldet, der zufällig zu jener Zeit stattfand.
zierten Aufsatz, mit dem Nicolai seine zwanzig Jahre äl-
Da es anscheinend nicht vorstellbar schien, dass jemand
teren Ausführungen differenziert und weitergedacht hat,
den postulierten Stilwandel mitgemacht hätte, wies man
sah er sich zur Erneuerung seiner Kritik veranlasst.458
den unterschiedlichen Stilen verschiedene Werkstätten zu
Noch einen Schritt weiter ging Wolfgang Schenkluhn, in-
und meinte sogar, unterschiedliche Bauherren auf dieser
dem er die Perspektive der älteren Literatur richtigerweise
Basis voneinander unterscheiden zu können. Während
als methodisches Problem des Faches entlarvte, welches
die Werkstatt des Umgangs noch spätromanischem For-
den Magdeburger Dom an den selbst entwickelten Krite-
mengut verhaftet gewesen sei, kamen beim Bischofsgang
rien der Stilgeschichte maß.459 Schenkluhn schlug statt-
angeblich neue Kräfte zum Zug, welche der Frühgotik Ein-
dessen vor, die Architektur des Domchores als Variation
zug verschafften.
anderer Reichskirchen, insbesondere des Aachener Müns-
In der älteren Literatur führte die stilistische Hetero-
ters zu betrachten (vgl. Abb. 4.12).460 Ob die Ähnlichkeiten
genität in Einheit mit der Wiederverwendung von Teilen
tatsächlich ausreichen, um einen derartigen Bezug zu be-
des alten Doms darüber hinaus zu ausgesprochen nega-
gründen, soll dahingestellt bleiben.461 Als alleiniger Erklä-
tiven Werturteilen über die Chorarchitektur, die Richard
rungsansatz reicht der Hinweis jedenfalls nicht aus, denn
Hamann vor dem Paradigma der Stilgeschichte gar zu
die deutlichen formalen Abweichungen beispielsweise in
einer »Rumpelkammer älterer Formbestände«451 abquali-
der Kapitellplastik der beiden Chorgeschosse lassen sich
fizierte.452 Hermann Giesau erkannte hingegen, dass mit-
damit nicht erklären. Zuletzt schlug Bruno Klein vor,
tels der Spolien bewusste Bezüge zur Tradition des Doms
den Entstehungsprozess im Sinne eines offenen, Modi-
aufgebaut werden sollten und die Gestalt des Chores so-
fikationen bewusst zulassenden Konzeptes stärker zu be-
450 Z. B. Schlink 1989, S. 141f.; Schubert 1984, S. 26; Greischel 1939, S. 49f. 451 Hamann 1909, S. 255. 452 Eine kritische Auseinandersetzung mit Hamanns Methoden liefert: Forster 2012. 453 Giesau 1936. 454 Götz 1966. 455 Giesau meint z. B., dass »weder die Säulen noch die Portalreste [gemeint sind u. a. die Heiligenskulpturen] sich restlos befriedigend in den baulichen Zusammenhang einfügen« (Ders. 1936, S. 23.); Götz pflichtet der älteren Literatur beispielsweise bei, dass die »Art
456 457 458 459 460 461
der Säulen-Versetzung unschön, ästhetisch unglücklich sei« (Ders. 1966, S. 105). Z. B. Schlink 1989, S. 141f.; Schubert 1984, S. 26f. Nicolai 1989, S. 148. Ders. 2009, S. 71. Schenkluhn 2009. Ebd., S. 64–66. Schenkluhn weist auf einen nicht verwirklichten ersten Plan hin, dessen Umsetzung möglicherweise größere Übereinstimmungen mit Aachen aufgewiesen hätte (Ebd., S. 64).
3.3 MATERIELLE UND GESTALTERISCHE STRATEGIEN ZUR VERBILDLICHUNG DER TRADITION IM NEUEN CHOR
119
rücksichtigen.462 Auch wenn dem prinzipiell zugestimmt werden kann, bleibt die Frage offen, ob die formalen Differenzen der beiden Umgangsgeschosse primär prozessual zu verstehen sind oder doch einer einheitlichen Konzeption folgen, auch wenn diese im Bauverlauf geändert und angepasst wurde. Eine Neubewertung des Magdeburger Domchores abseits stilgeschichtlicher Ordnungskriterien befindet sich also derzeit in der Diskussion. Im Folgenden soll hierzu beigetragen werden, indem das Bauwerk von der realisierten Form ausgehend untersucht wird.
Gewölbeformen als Gestaltungsmittel Die fünf radialen Joche vor den Kapellen unterscheiden sich in auffälliger Weise von den anderen Jochen der Kirche, denn sie wurden kreuzgratgewölbt (vgl. Abb. 3.23), wohingegen sonst Kreuzrippengewölbe realisiert wurden. Dies ist umso bemerkenswerter, als sowohl die den Umgang nach Westen fortsetzenden Rechteckjoche, aber vor allen Dingen auch die Umgangskapellen von Rippengewölben überdeckt werden. In der Literatur erklärte man diese Gegebenheit mit einer vermeintlichen Entsprechung zwischen dem baugeschichtlich ältesten
3.25 Dom zu Worms, Mittelschiff nach Westen, Fertigstellung um 1181 (von Winterfeld 2003, S. 48)
Teil des Doms und der stilistisch älteren Gewölbeform.463 Während die Kreuzgratgewölbe dieser Interpretation zufolge noch aus einer ersten Bauphase stammen würden,
wurde (Abb. 3.25).465 Die Dimensionen der dortigen Ge-
sollen die Kreuzrippengewölbe einer späteren Bauphase
wölbe lassen eine Wölbung des Magdeburger Chorum-
angehören, bei der ein neuer Stil mit Kreuzrippengewöl-
gangs mit Kreuzrippen als bescheidene technische Auf-
ben umgesetzt wurde. Gemäß einer linear verlaufenden
gabe erscheinen, welche problemlos zu meistern gewesen
Stilgeschichte meinte man also, den baulichen Fortschritt
wäre, zumal die Arbeiten in Magdeburg erst rund 30 Jahre
an einen vermeintlichen stilistischen Fortschritt koppeln
später begannen. Vielmehr zeigt gerade der Vergleich mit
zu können, der auch an weiteren Detailformen wie den
Worms, wie sehr das stilgeschichtliche Modell die kunst-
Kapitellen festgemacht wurde und den Übergang von der
historische Forschung zu Fehlschlüssen verleiten kann,
Romanik zur Gotik am Chorbau des Magdeburger Doms
denn gerade aufgrund ihres Stils wollte man die Wormser
veranschaulichen sollte.
Rippenwölbung früher in das 13. Jahrhundert datieren,466
464
Diese Ansicht vereinfacht jedoch in unzulässiger Weise die architektonischen Realitäten jener Zeit, denn
was erst durch dendrochronologische Untersuchungen korrigiert werden konnte.467
Rippengewölbe waren in der zweiten Hälfte des 12. Jahr-
Wenn aber die technischen Möglichkeiten einer Rip-
hunderts nicht nur in Frankreich und England, sondern
penwölbung längst gegeben waren, so muss der Bau der
auch im deutsch-römischen Imperium bekannt, wie ins-
Kreuzgratwölbung als bewusste gestalterische Entschei-
besondere das kreuzrippengewölbte Langhaus des Worm-
dung angesehen werden.468 Aus dieser Perspektive wird
ser Doms beweist, das vor der Weihe 1181 fertiggestellt
eine Entwurfsstrategie erkennbar, bei der alte und neue
462 Klein 2012, insbesondere S. 186f. 463 Z. B. Schubert 1989, S. 32; Greischel 1939, S. 47–50. 464 Z. B. Schubert 1984, S. 26; Hamann 1909. 465 Von Winterfeld 2003, S. 10f. 466 Z. B. von Quast 1853, S. 43. 467 Von Winterfeld 2003, S. 10f. 468 Birte Rogacki-Thiemann nimmt an, dass zunächst auch für den Um-
gang eine Rippenwölbung vorgesehen war (Dies. 2007, S. 68, 74). Sollte dies zutreffen, wäre es ein weiterer Beleg dafür, dass die Entscheidung zugunsten von Kreuzgratgewölben nicht aus stilgeschichtlichen Gründen erfolgte. Leider kann die Argumentation der Autorin aber nicht überzeugen. Die von Rogacki-Thiemann als »funktionslos« (Dies., Anhang C3) bezeichneten Dreiviertelvorlagen des Umgangs nehmen die Grate des Gewölbes auf, stehen somit
120
3 DER DOM ZU MAGDEBURG
3.26 Dom zu Limburg, eh. Stiftskirche, Baubeginn um 1190 (Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Institut für Kunstgeschichte, Diathek) Gewölbeformen in einem ganzheitlich aufgefassten ästhe-
gestalterischen Intentionen folgt, erscheint die Deutung
tischen System dialektisch gegenüberstellt werden.
von Winterfelds im Sinne einer hierarchischen Abstufung
Diese gestalterische Systematik lässt sich zu Beginn
der Raumteile schlüssig. Demnach differenzierte man in
des 13. Jahrhunderts im deutschen Raum nicht bloß in
Limburg Chorempore und -umgang gestalterisch mittels
Magdeburg beobachten. Im seinerzeit im Bau befindli-
der Gewölbeformen, indem man, wie in Magdeburg, der
chen Limburger Dom beispielsweise, zum damaligen Zeit-
Empore Rippen und dem Umgang Grate zuwies.
punkt eine Stiftskirche, wurde der Chorumgang kreuz-
Analog zu Limburg lassen sich auch in Magdeburg die
gratgewölbt, wohingegen das Gewölbe des Scheiteljoches
Kreuzrippengewölbe auf dem Niveau des Chorumgangs
Kreuzrippen aufweist (Abb. 3.26).469 Es würde seltsam an-
als gestalterische Mittel zur Differenzierung des Raumes
muten, diesen Umstand damit erklären zu wollen, dass
verstehen. Die Kreuzrippen der Umgangskapellen können
das Scheiteljoch später zu datieren sei. Wesentlich plau-
leicht in einen Sinnzusammenhang mit der liturgischen
sibler erscheint es doch, hierin eine gestalterische Beto-
Nutzung des Raumes gestellt werden, denn die Kapellen
nung der Hauptachse der Kirche zu sehen. Die Chorem-
beherbergten schließlich Altäre. Mittels der Gewölbeform
pore wurde wiederum gänzlich kreuzrippengewölbt.
hob man somit die Altarorte gegenüber dem Umgang ge-
Dethard von Winterfeld interpretierte den Befund derart,
stalterisch hervor. Wenn aber mittels der parallelen Ver-
dass die Kreuzrippengewölbe der Empore »eindeutig eine
wendung von Kreuzgrat- und Rippengewölben auf Chor-
Auszeichnung dieses Raumteiles«470 darstellen. Da die
niveau derart offensichtlich eine gestalterische Abstufung
Verwendung von Kreuzrippen im Umgang offensichtlich
des Raumes im Sinne einer hierarchischen Strukturierung
in einem sinnvollen tektonischen Kontext und eignen sich folglich nicht als Argument für eine anderweitige Planung. Die Konsolen, welche Rogacki-Thiemann als zweiten Beleg anführen möchte (Dies., Anhang C4), erscheinen zu klein für die Aufnahme von Rippen und lassen sich überdies nur schwer mit der tragkonstruktiven Struktur in Einklang bringen, was heißt, dass man den Fußpunkt einer Rippe dort nicht erwarten würde.
469 Grundlegend zum Limburger Dom: von Winterfeld 2005; Metternich 1994; Nicol 1985 (jeweils mit Angaben zur älteren Literatur). Aufgrund dendrochronologischer Daten wird der Baubeginn der damaligen Stiftskirche mittlerweile um 1190 angesetzt und damit die ältere, auf stilgeschichtlichen Kriterien basierende Datierung in die 1210er oder 20er Jahre korrigiert (von Winterfeld 2005, S. 88f.). 470 Von Winterfeld 2005, S. 98.
3.3 MATERIELLE UND GESTALTERISCHE STRATEGIEN ZUR VERBILDLICHUNG DER TRADITION IM NEUEN CHOR
121
intendiert war, dann muss konsequenterweise die Verwen-
Kapitelle ergibt sich somit zunächst aus der abweichenden
dung der Rippen auf der Empore ebenfalls in dieser Weise
tektonischen Struktur der beiden Raumteile.
verstanden werden. Die Gewölbeform der Empore dient
Außerdem wären auch die Adressaten mit zu berück-
somit dem Zweck, das Gebäudeteil im Kontrast zum Um-
sichtigen. Wenn der Chorumgang den Gläubigen zumin-
gang zu nobilitieren, wie es auch in Limburg auf der Hand
dest zeitweise offen stand, um an den verschiedenen Al-
liegt. Der ältere Erklärungsansatz, die unterschiedlichen
tären und wohl auch dem Sarkophag der in Magdeburg
Gewölbeformen aus einer stilgeschichtlichen Entwick-
hochverehrten Edith zu beten, dann erklärt sich die figu-
lung abzuleiten, wäre damit hinfällig.
rative Bildsprache der Kapitelle möglicherweise auch damit, dass den Besuchern des Chorumgangs Inhalte, wie
Die Kapitelle des Chorumgangs und der -empore im architektonischen Kontext
etwa biblische Themen, anschaulich vermittelt werden
Die formale Differenz zwischen Umgang und Empore
nach auch als Trägermedien zur Kommunikation kirchli-
spiegelt sich auch in der unterschiedlichen Kapitellplastik
cher Lehren. Die genaue Nutzung der Empore liegt leider
sollten (vgl. Abb. 3.08). Die Figurenkapitelle dienten dem-
wider.471 Im Chorumgang umziehen kleinteilig gestaltete
im Dunkeln, doch gibt es in den Schriftquellen Hinweise
Kapitelle wie ein Fries die wuchtigen Pfeiler mit vorge-
darauf, dass dieser Raum ausschließlich dem Domklerus
legten Halbsäulen, welche die Kreuzgratgewölbe tragen
zugänglich war.473 Hierfür spricht auch die etwas später
(vgl. Abb. 3.23). Eine Vielfalt unterschiedlicher stilisierter
hergestellte direkte Verbindung von der Empore zum Bi-
Pflanzenmotive, die mit figürlichen Darstellungen und or-
schofspalast, auf welche der in Magdeburg gebräuchliche
namentalen Mustern angereichert sind, kennzeichnen die
Name »Bischofsgang« zurückgeht.474 Eine mediale Nut-
wie Reliefs durchgearbeiteten Kapitellfriese, welche stil-
zung der Emporenkapitelle in der vorgenannten Weise
geschichtlich dem spätromanischen Formenkanon zuge-
war demnach nicht erforderlich.
ordnet werden. Im Bischofsgang zieren hingegen zumeist
Bestimmte formale Merkmale der Kapitelle lassen
Knospenkapitelle die mehr oder weniger schlanken Säu-
sich demnach sowohl mittels ihrer konstruktiven als auch
len, welche jeweils mit einer Rippe korrespondieren (vgl.
medialen Funktionen erklären. Darüber hinaus bleibt
Abb. 3.24). Anstelle von Vielfalt tritt hier die Einheitlich-
festzuhalten, dass Umgang und Empore jeweils einer ein-
keit, anstelle der Reliefstruktur rundplastisch gearbeitete
heitlichen tektonischen Systematik folgen und somit auch
Einzelstücke. Stilgeschichtlich ordnet man die Knospen-
ästhetisch einheitlich wirken, wozu die überwiegende Ver-
kapitelle der Frühgotik zu.
wendung des jeweiligen Kapitelltypus einen Teil beiträgt,
Analog zu den Gewölben des Chores wurden in der älteren Literatur die unterschiedlichen Kapitellformen von
welche damit auch in einem Zusammenhang mit dem jeweiligen gestalterischen Konzept zu stehen scheint.
Chorumgang und Bischofsgang als Resultat einer stilge-
Es drängt sich somit die Frage auf, ob nicht auch die
schichtlichen Entwicklung während des Bauverlaufs an-
Kapitellformen des Bischofsgangs analog zu den Gewöl-
gesehen.472 Nicht berücksichtigt wurde hingegen, dass die
beformen im Sinne einer Steigerung verstanden werden
Kapitelle als Elemente der Tragstruktur selbstverständlich
müssten. Kelchförmige Kapitelle mit Knospen und ähnli-
in einem tektonischen Zusammenhang mit den Gewölben
cher, floral inspirierter Plastik ließen sich zu Beginn des
stehen. Die tragkonstruktive Struktur im Bischofsgang
13. Jahrhunderts in den modernsten und richtungswei-
setzt sich sozusagen im Baukastenprinzip aus linearen,
senden Kirchenbauten Frankreichs, wie etwa den Kathe-
gleichförmigen Einzelelementen wie Rippen, Schäften
dralen von Paris und Chartres, bewundern. Unabhängig
und eben den Kapitellen zusammen. Im Chorumgang
davon, ob ein Formentransfer von jenen Bauwerken nach
dominieren hingegen massige Pfeiler, die sich flächig
Magdeburg tatsächlich stattfand, lässt sich konstatieren,
ausbreiten und sich somit für eine bildhauerische Bear-
dass der Einsatz kelchförmiger Knospenkapitelle Ende
beitung anbieten, wie sie mittels der reliefartigen Kapitell-
des 12./Anfang des 13. Jahrhunderts in Kirchen von höchs-
friese erfolgte. Der Unterschied in der Formensprache der
tem Anspruchsniveau zum Einsatz kam.
471 Mit der Monographie von Heiko Brandl und Christian Forster liegt endlich eine umfassende Dokumentation der Kapitelle vor (Dies. 2011, S. 111–131, 168–174). Die Beschreibung der Kapitelle erfolgt zwar in erster Linie stilkritisch, doch zeigen die Autoren ein reflektiertes Methodenbewusstsein (S. 130f.), indem sie die
problematischen stilgeschichtlichen Schlüsse der älteren Literatur vermeiden. 472 Z. B. Schubert 1984, S. 28f.; Rosenfeld 1909, S. 18f. 473 Kroos 1989, S. 90. 474 Nicolai 1989, S. 153.
122
3 DER DOM ZU MAGDEBURG
Der Chorumgang als Erinnerungsraum der Kilians-Krypta
Beim Neubau des 13. Jahrhunderts wurde hingegen
Die Architektur des Chorumgangs wirkt in Anbetracht der
auf eine Krypta verzichtet. Eine Integration der alten
Entstehung in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts recht
Krypta in den neuen Kirchenbau, wie dies bei anderen
altertümlich. Dazu tragen die wuchtigen Pfeiler ebenso
erneuerten Kirchen im hohen Mittelalter geschah,480 war
bei wie die Kapitellfriese oder die Kreuzgratgewölbe. Die
aufgrund der Achsdrehung nicht möglich.481 Die vollstän-
Schwere und Dunkelheit des Raumes kommt im Vergleich
dige Aufgabe des Gebäudeteils bedeutete allerdings nicht
mit dem heller und luftiger wirkenden Bischofsgang umso
die vollständige Aufgabe der alten Altäre, denn zumindest
mehr zum Tragen. Diese Ästhetik des Chorumgangs ver-
der Altar des Kryptapatrons Kilian wurde in die Chorschei-
anlasste bereits Bernd Nicolai, hierin eine Reminiszenz
telkapelle transloziert. Die Neuaufstellung erfolgte also an
an die aufgegebene Kilians-Krypta des Vorgängerdoms zu
prononcierter Stelle am Endpunkt der Mittelachse und
erkennen.475 Dies würde allerdings konsequenterweise be-
stellte damit einen direkten axialen Bezug zum Hauptal-
deuten, dass der Umgang bewusst in einer altertümlichen
tar und den Grabmäler der beiden hochadligen Stifter her
Weise gestaltet wurde und demnach keinen stilgeschicht-
(Taf. 3.03).482 Insofern führte der Chorumgang samt Kapel-
lichen Entwicklungsstand widerspiegelt.
len auf jeden Fall eine kultische Tradition der Krypta fort,
Tatsächlich konnte weiter oben bereits plausibel ge-
wobei die Neuaufstellung des Altars des Kryptapatrons an
macht werden, dass die Errichtung der Kreuzgratgewölbe
exponierter Stelle darauf hinweist, dass die Topographie
aus gestalterischen Intentionen erfolgte. Ebenso ließ sich
der Krypta in gewisser Weise im Chorumgang aufgegriffen
für die Kapitellplastik festhalten, dass sie einer übergeord-
wurde.483 In diese Richtung weist auch die Grundrissstruk-
neten tektonischen Systematik folgt, welche gestalterisch
tur des Chorumgangs, denn sie ähnelt derjenigen der alten
auf die beiden Geschosse abgestimmt wurde. Es wäre so-
Krypta auffällig in einem Punkt: Während die Krypta fünf
mit zu fragen, ob und, wenn ja, inwiefern diese Gestal-
Nischen in der Wand ihrer Apsis aufwies (vgl. Abb. 3.05),
tungsmittel auch dazu dienten, mit dem Chorumgang und
verfügt der Umgang entsprechend über fünf Kapellen (vgl.
seinem Kapellenkranz einen Raum zu kreieren, welcher
Abb. 3.02).484 Inwieweit diese formale Analogie im Grund-
die alte Krypta memoriert oder zumindest ihren Verlust
riss die liturgische Topographie der Krypta widerspiegelt,
kompensiert.
kann aufgrund des ungenügenden Kenntnisstandes über
Zum besseren Verständnis sei die Geschichte der Krypta
die liturgische Nutzung der beiden Räume im Mittelal-
vorab kurz skizziert. Die Schriftquellen berichten von Bau
ter jedoch derzeit nicht nachvollzogen werden. Dennoch
und Weihe einer Krypta unter Erzbischof Tagino zu Be-
kann festgehalten werden, dass mehrere Indizien darauf
ginn des 11. Jahrhunderts sowie von einer Baukampagne
hindeuten, die Gestaltung des Chorumgangs auch un-
zur Umgestaltung der Ostteile des Doms unter Erzbischof
ter dem Aspekt einer Kompensation der aufgegebenen
Hunfried zur Mitte des 11. Jahrhunderts, die laut Quellen
Krypta zu verstehen. Insofern kann die altertümliche For-
sowohl das Sanktuarium als auch die Krypta betraf.476 Aus
mensprache und Ästhetik des Chorumgangs auch als ge-
welcher der beiden Baukampagnen die südlich des Chores
stalterisches Mittel aufgefasst werden, einen Erinnerungs-
ergrabene Krypta resultiert, wird derzeit diskutiert.477
raum an die alte Krypta zu erzeugen. Der formale Kontrast
Jedenfalls berichten die Quellen davon, dass Hunfried
von »altem« Chorumgang und »neuem« Bischofsgang
die Krypta am 8. Juli 1049 dem Heiligen Kilian weihte,478
dient demnach auch als dialektisches Gestaltungsmittel,
wobei die Wahl des Würzburger Märtyrers als Hauptheili-
indem ein Geschoss jeweils den kontrastierenden Ver-
gem schlüssig mit der Person des Erzbischofs verbunden
gleichsmaßstab für das andere bildet. Einerseits wirkt der
werden kann, denn dieser gehörte vor seiner Berufung
Chorumgang vor der Folie des Bischofsgangs erkennbar
nach Magdeburg dem Würzburger Domkapitel an.479
als »alt«, oder besser »altehrwürdig«, während andererseits
475 Nicolai 2009, S. 75f.; Ders. 1989, S. 149. 476 Reiche 2012, S. 95–97; Schubert 1989, S. 28f. (jeweils mit Quellenangaben). 477 S. Kap. 3.2. 478 Gesta Archiep. Magd. 19 (ed. Waitz, S. 398). 479 Kroos 1989, S. 90, Anm. 54. 480 Z. B. bei der Abteikirche St. Denis (1140–1144), der Kathedrale von Chartres (ab 1194), dem Basler Münster (Anfang 13. Jahrhundert) und dem Essener Dom (Ende 13. Jahrhundert; s. Kap. 4.3.2).
481 Kap. 3.4.1. 482 Ein besonderer Bezug besteht zum Grab der Königin, deren Sarkophag direkt vor dem Altar steht (Kap. 3.4.4). 483 Schließlich wäre für den Altar des Patrons in der Krypta ebenfalls ein exponierter Standort auf der Mittelachse anzunehmen. 484 Diesen Zusammenhang stellte bereits Hermann Giesau her (Ders. 1936, S. 318, Anm. 20). Ihm folgt Nicolai 2009, S. 76; Ders. 1989, S. 149.
3.3 MATERIELLE UND GESTALTERISCHE STRATEGIEN ZUR VERBILDLICHUNG DER TRADITION IM NEUEN CHOR
123
der Bischofsgang vor der F olie des Chorumgangs seine
verwandte man im Kryptenumgang Rundbögen, bei de-
Modernität zur Schau stellen kann.
nen man auf eine Profilierung verzichtete. Den schlanken, fein gearbeiteten Säulen des Chorumgangs stehen in der
Der Chorneubau der Abteikirche Saint-Denis unter Abt Suger als Vergleichsbeispiel
Krypta wuchtige Rundpfeiler mit gröberen Basen und Kapitellen gegenüber.
An diesem Punkt drängt sich der Vergleich mit einem an-
Der formale Unterschied zwischen den beiden Ge-
deren prominenten Chorbau auf, dessen gestalterische
schossen wurde in der kunstgeschichtlichen Literatur früh
Konzeption nicht nur deutliche Parallelen zum Magde-
erkannt und warf die Frage nach der Interpretation des
burger Dom aufweist, sondern bis in die 1980er Jahre die
Befundes auf. Würden keine anderen Quellen vorliegen,
gleichen Probleme für die kunsthistorische Forschung
hätte sich die Forschung zur Datierung des jeweiligen Ge-
aufwarf. Dabei handelt es sich um die Abteikirche Saint-
schosses wahrscheinlich an formalen Vergleichsbeispie-
Denis bei Paris, der Hauptgrablege der französischen Kö-
len orientiert und auf eine zeitliche Distanz zwischen den
nige, deren Chor 1140–1144 unter Abt Suger neugebaut
Teilen geschlossen, wie sie es bei Chorumgang und -em-
wurde.485 In der Kunstgeschichte nimmt diese Baukam-
pore des Magdeburger Doms tat. Die nachweislich kurze
pagne schon früh eine besondere Stellung ein, weil man
Bauzeit von nur vier Jahren schließt eine solche Argumen-
dort den Beginn der gotischen Architektur auszumachen
tation allerdings aus, so dass ein Widerspruch zwischen
glaubt.
historischer Realität und stilgeschichtlichem Modell
486
In Saint-Denis erweiterte man die Kirche nach Osten,
offensichtlich wird. Dieser gewinnt noch einmal dadurch
indem man den neuen Chor über einer alten Außenkrypta
deutlich an Schärfe, dass sich die Formen der jeweiligen
des 9. Jahrhunderts errichtete, die auf diese Weise in ihrer alten Form integriert wurde. Den alten Baubestand umfasste man mit einem Kryptaumgang, dessen Gewölbe in der Kreuzgrattechnik gemauert wurde (Abb. 3.27), wäh-
3.28 Abteikirche Saint-Denis, Chorumgang, 1140–1144 (Kimpel/ Suckale 1985, S. 85)
rend man den Chorumgang in der Etage darüber in der Kreuzrippentechnik fertigte (Abb. 3.28). Die formalen Unterschiede setzen sich bei den übrigen Bauteilen und Details der beiden Geschosse entsprechend fort. Während der Chor beispielsweise im Inneren über Spitzbögen verfügt, die sämtlich mit einem Rundstab profiliert wurden,
3.27 Abteikirche Saint-Denis, Kryptaumgang, 1140–1144 (Klaus Weber, 1992)
485 Grundlegend zur Baugeschichte der Abteikirche St. Denis: Crosby 1987.
486 Z. B. von Simson 1968, S. 144; Crosby 1953, S. 31.
124
3 DER DOM ZU MAGDEBURG
Geschosse unterschiedlichen Stilrichtungen zuordnen lassen, nämlich das Kryptageschoss der Romanik und das Chorgeschoss der Gotik.487 Hans Sedlmayer argumentierte mit einem Zwang gegenüber der alten Kultstätte, womit er die Tradition des Ortes zwar als Grund erkannte, jedoch mit der Implikation, dass man lieber rein gotisch gebaut hätte, negativ beurteilte.488 Otto von Simson sieht den Sinn der Baumaßnahmen am Kryptageschoss allein in der Stützung des darüberliegenden Chores und ignorierte dessen Formen ansonsten.489 Walter Wulf versuchte, den Übergang von der Romanik zur Gotik analog der stilgeschichtlichen Beurteilung der beiden Geschosse an der Kapitellplastik aufzuzeigen.490 Die strukturelle Analyse weist die beiden Geschosse jedoch als integrale Teile einer einheitlichen architektonischen Systematik aus, bei welcher die Formen von außen nach innen und von unten nach oben gesteigert werden. So dienen beispielsweise die rechteckigen Strebepfeiler an der Fassade der Krypta erkennbar als Postamente für die polygonalen Vorlagen des Chorgeschosses und zeugen damit von einer geschossübergreifenden Konzeption (Abb. 3.29). In der gleichen Weise können die spitzbogigen Chorfenster mit ihren Rahmen aus Säulchen und Rundstäben als Steigerung der schlicht gefassten Rundbogenfenster der Krypta gelesen werden. Im Inneren der Krypta wurden polygonale Vorlagen zu den Kapellen hin verwandt, was eine Steigerung gegenüber den äußeren Strebepfeilern darstellt. Auf Chorniveau sind die polygonalen Stützglieder hingegen nur für die Fassade gut genug, wäh-
3.29 Abteikirche Saint-Denis, Außenansicht des Chores, 1140–1144. Oberes Geschoss gehört zum Kapellenkranz des Chorumgangs, unteres zum Kapellenkranz der Krypta (Crosby 1953, Taf. 34)
rend im Chorumgang klassische Säulen mit runden, monolithischen Schäften stehen. Im Sinne einer Steigerung
schrieben von einer »absichtsvollen Kontrastierung«, mit-
sind, wie beim Limburger Dom, auch die Kreuzgratge-
tels derer der Alterswert der Krypta herausgestellt werden
wölbe der Krypta und die Kreuzrippengewölbe des Chor-
sollte.492
umgangs zu verstehen.
Vor dem Hintergrund dieser Arbeit erscheinen mir
Die kurz angerissene strukturelle Analyse muss an die-
beide Interpretationsansätze zutreffend. Da die alte, ka-
ser Stelle nicht weiter ausgeführt werden, denn die archi-
rolingische Außenkrypta zu einem großen Teil dem Un-
tekturhistorische Forschung begann bereits in den 1980er
tergeschoss des neuen Chores einverleibt wurde, klingt es
Jahren die stilgeschichtliche Sezierung des Chores in
plausibel, dass die Formen des Umgangs, welcher die alte
Frage zu stellen. Stattdessen erkannte man, dass Krypta-
Materie umfasst, bewusst einfacher und altertümlicher
und Chorgeschoss einer einheitlichen Planung folgen,
gehalten wurden, um den Alterswert der Krypta zu unter-
welche angesichts der schnellen Bauzeit ohnehin auf der
streichen. Das gänzlich neue Chorobergeschoss errichtete
Hand liegt. Dethard von Winterfeld interpretierte die sti-
man hingegen in den modernsten und prächtigsten For-
listischen Unterschiede infolgedessen als gestalterische
men der Zeit. Erst der formale Kontrast der beiden Ge-
Hierarchisierung,491 Dieter Kimpel und Robert Suckale
schosse macht die jeweilige Zeitschicht nachvollziehbar
487 Z. B. Crosby 1953, S. 44. 488 Sedlmayr 1950, S. 236. 489 Von Simson 1968, S. 144. 490 Wulf 1978. Wulfs These beschränkt sich dabei auf das Chorge-
schoss, so als hätte der Baumeister das gotische Kapitell während der Arbeiten am Chorgeschoss erfunden. 491 Von Winterfeld 1984, S. 96–100. 492 Kimpel/Suckale 1985, S. 86.
3.3 MATERIELLE UND GESTALTERISCHE STRATEGIEN ZUR VERBILDLICHUNG DER TRADITION IM NEUEN CHOR
125
und konnotiert die Krypta als »alt«, den Chor hingegen als
mit der aufgegebenen Krypta in Zusammenhang gebracht
»neu«, während die einheitliche architektonische Struktur
werden kann.493
zu erkennen gibt, dass es sich bei den Geschossen um in-
Analog zu Saint-Denis lässt sich die Kontrastierung
tegrale Teile eines übergeordneten Ganzen handelt. Zu-
der Formen zudem im Sinne einer gestalterischen Hier-
gleich liegt eine gestalterische Hierarchisierung vor, denn
archisierung begreifen. Wie in Saint-Denis, aber auch in
die Formen des Chores, dem liturgischen Zentrum der
Limburg, können die Kreuzgrat- und Kreuzrippengewölbe
Kirche, wurden gegenüber der Krypta gesteigert. Auf diese
in Magdeburg demzufolge im Sinne einer Steigerung der
Weise spiegelt die Gestaltung der architektonischen Struk-
Formen aufgefasst werden. Ebenso lassen sich die Unter-
tur zugleich den Rang der Raumteile im Gebäude wider.
schiede in der Kapitellplastik in Magdeburg wie in Saint-
Bezieht man die gestalterische Hierarchisierung zudem
Denis in diesem Sinne verstehen.
auf die Dialektik Alt – Neu, so lässt sich das Konzept so
Besonders deutlich nachvollziehen lässt sich die Stei-
auffassen, dass das Neue einerseits auf dem Alten basiert
gerung der Formen von Umgang zu Empore an der Wand
und mit diesem eine Synthese eingeht, aber andererseits
des Chorhauptes, wo beide Geschosse auf einen Blick
zugleich die Pracht der alten Kirche steigern sollte.
wahrnehmbar sind (Taf. 3.02). Die wuchtigen Arkaden des Umgangs kontrastieren mit den luftigeren Öffnungen dar-
Die dialektische, aber einheitliche Konzeption von Chorumgang und Bischofsgang
über. Während die Bögen unten von massiven Gurten un-
Die Parallelen zwischen Saint-Denis und dem Magdebur-
stäbe, welche die Bögen des Bischofsgangs, wenn auch
ger Dom, auch in wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht,
nur optisch, unterstützen. Getragen werden die Rund-
sind evident. Hier wie dort weisen zwei übereinander lie-
stäbe von schlanken, eleganten Säulen, welche zugleich
gende Bauteile stilistische Differenzen auf, die in der alten
die Arkaden würdevoll rahmen, wohingegen beim Um-
Literatur stilgeschichtlich interpretiert wurden. Bezüglich
gang gedrungene Halbsäulen, dem massigen Charakter
Saint-Denis begann die kunsthistorische Forschung in
der Arkaden entsprechend, die Gurte stützen.494
terstützt werden, sind es vergleichsweise schlanke Rund-
den 1980er Jahren ihre Sichtweise zu korrigieren und in-
Die kontrastierende Gestaltung der beiden Geschosse
terpretierte die Formen in einem ganzheitlichen Kontext
bedeutet jedoch nicht, dass die Räume bezugslos wie zwei
unter tektonischen, gestalterischen und memorialen Ge-
Lagen eines Sandwiches übereinander gestapelt wurden,
sichtspunkten.
denn beide Teile wurden dem übergeordneten Tragsys-
Auch in Magdeburg erscheint es plausibel, die bei-
tem subsumiert. An dieser Stelle lässt sich wiederum eine
den Geschosse als Einheit zu begreifen, wofür zum Bei-
Parallele zu Saint-Denis ziehen, wo die tektonischen Ele-
spiel spricht, dass die moderneren Gewölbeformen des
mente der beiden Geschosse an der Außenfassade als
Bischofsgangs bei der Grundsteinlegung um 1208, wie ge-
Teile einer einheitlichen tragkonstruktiven Systematik
zeigt, längst verfügbar waren. Besonders auffällig ist aber,
erkennbar sind. In Magdeburg verklammert dementspre-
dass die unteren Geschosse in ihrer älteren Formenspra-
chend ein komposites System von Stützstrukturen die Ge-
che mit den Kreuzgratgewölben jeweils in Beziehung zu
schosse und bindet die einzelnen Elemente in einen grö-
einer Krypta stehen. In Saint-Denis macht das direkte Ne-
ßeren architektonischen Zusammenhang ein, wie zuvor
beneinander von alter Krypta und neu errichteten, aber al-
dargelegt wurde.495 Die einheitliche Planung von Umgang
tertümlichen Kreuzgratgewölben den Bezug augenschein-
und Empore zeigt sich darin, dass die vertikale Ordnung
lich. Für Magdeburg unterstützt der Vergleich die These,
der Tragstruktur auf die horizontale Ordnung der Ge-
dass die alten Formen bewusst an die alte Krypta erin-
schosse abgestimmt wurde. Ein kräftiges, durchlaufendes
nern, zumindest jedoch deren Verlust kompensieren sol-
Gesims zieht eine klare horizontale Trennlinie zwischen
len, zumal der Chorumgang auch aus anderen Gründen
den Geschossen (Taf. 3.02). Die Säulen mit den Spolien
493 S. weiter oben. 494 Über den konzeptionellen Gedanken hinaus offenbart der Vergleich der Arkaden des Magdeburger Bischofsgangs mit den Chorfenstern von St. Denis (vgl. Abb. 3.29) eine verblüffende Ähnlichkeit im Detail. Hier wie dort zieren schlanke Säulchen, deren Schäfte in zwei Teile untergliedert werden, die Kanten der Öffnungen. Auf den Kapitellen liegen kräftige Kämpferplatten auf, die jeweils auf den Pfeiler bzw. die Mauer übergreifen und somit eine horizontale Trennlinie ziehen. Darüber erhebt sich ein Rundstab, welcher den
Bogen profiliert und von der Systematik der Tragstruktur her den Rippen der Gewölbe entspricht. Angesichts der deutlichen Parallelen und Ähnlichkeiten zwischen St. Denis und Magdeburg sowohl im Konzept als auch im Detail wäre zu fragen, ob St. Denis nicht sogar als ein direktes Vorbild des Magdeburger Doms in Frage käme. Auch auf einer inhaltlichen Ebene wäre diese These keinesfalls abwegig, denn beide Kirchen dienten als Grablege von Königen und Königinnen. 495 Kap. 3.3.5.
126
3 DER DOM ZU MAGDEBURG
des ottonischen Doms enden exakt unterhalb des Gesim-
Die Modifikation des ursprünglichen Entwurfs
ses, welches sich über den Kapitellen verkröpft und auf
Während sich die stilistischen Unterschiede der beiden
diese Weise zugleich deren Kämpferplatte bildet. Auch die
Geschosse also kaum für eine Rekonstruktion des Bauver-
esims Reliquiennischen und Reliefs richten sich an dem G
laufs eignen, kann ein bauforscherischer Befund nicht ig-
aus, so dass sie gemeinsam mit den antikisierenden Ka-
noriert werden. Bearbeitungsspuren hinter den Säulen des
pitellen eine horizontale Zone definieren. Die Heiligen
Chorhauptes deuten nämlich darauf hin, dass die Wand-
skulpturen setzen hingegen, ebenso wie die Arkadenpfei-
pfeiler, welche heute als Postamente der Säulen fungieren,
ler des Bischofsgangs, unmittelbar auf dem Gesims auf.
ursprünglich bis zur Höhe der Umgangsarkaden reichten
Durch die Überlagerung von vertikaler Tragstruktur
und erst nachträglich abgearbeitet wurden.496 Die Ent-
und horizontaler Geschossstruktur entsteht eine gewisse
scheidung für das realisierte Konzept fiel demnach erst
Ambivalenz, welche es erlaubt, die Elemente sowohl als
während des Bauverlaufs, genauer gesagt während der
Teil der einen als auch der anderen Struktur zu lesen. Die
Bauarbeiten am Chorumgang. Zudem wird in der Litera-
feine Abstimmung zwischen vertikalem und horizontalem
tur diskutiert, ob die Heiligenfiguren und die vermauerten
Ordnungsmuster ist evident. Das Ineinandergreifen ver-
Reliefs erst im Zuge dieses Planwechsels in die Chorge-
schiedener Ordnungsprinzipien offenbart damit eine pla-
staltung einbezogen wurden.497
nerische Komplexität, die kaum aus zufälligen Stilwech-
Was bedeutet ein Planwechsel nun für vorangegan-
seln resultieren kann, sondern fraglos eine umfassende
gene Ausführungen? Die hiesige Fragestellung lautet be-
Planung im Vorfeld voraussetzt.
kanntlich: Wie bestimmte die Tradition des Ortes die ar-
Es bleibt somit zu resümieren, dass eine Vielzahl von
chitektonische Form des Magdeburger Doms? Folglich
Indizien dafür spricht, dass die formalen Differenzen zwi-
muss notwendigerweise von der tatsächlich gebauten Ar-
schen Chorumgang und Bischofsgang des Magdeburger
chitektur ausgegangen werden.498 Ob diese früher einmal
Doms nicht aus einer stilgeschichtlichen Entwicklung
anders geplant war, spielt demzufolge zunächst einmal
resultieren, sondern, wie Saint-Denis, das Ergebnis einer
keine Rolle. Erst in einem zweiten Schritt, wenn das Ana-
einheitlichen Planung darstellen. Die dialektische Ge-
lysierte in einen historischen Kontext gesetzt wird, müs-
staltung der beiden Geschosse diente anscheinend der
sen Fragen der Datierung mit in Betracht gezogen werden.
bewussten Konnotation einer neuen Raumstruktur in Re-
Die Bedeutung der Tradition des Ortes für den Magdebur-
lation zu einer alten, im Sinne von altehrwürdigen, und
ger Dom, soviel kann an dieser Stelle bereits vorwegge-
umgekehrt. Die inszenierte, jedoch nicht authentische Alt-
nommen werden, ist aufgrund der vielfältigen, komplexen
ehrwürdigkeit des Chorumgangs kann als Erinnerungs-
und ineinandergreifenden materiellen und ästhetischen
form, zumindest jedoch als Kompensation der aufgegebe-
Strategien zu ihrer Verbildlichung offensichtlich. Es stellt
nen Krypta des Vorgängerdoms verstanden werden. Beim
sich lediglich die Frage, wann die Entscheidung dazu fiel.
Bischofsgang wurden die in Relation zum Umgang mo-
Ein anderweitiger erster Plan bedeutet allerdings nicht
dernen Formen im Sinne einer Steigerung eingesetzt, um
zwangsläufig, dass der vorherige Entwurf die Tradition
die alte Pracht der Kirche durch die neue Architektur zu
des Ortes weniger berücksichtigte, da die Säulen schließ-
erhöhen. Das Neue löst das Alte jedoch nicht ab, sondern
lich zunächst an anderer Stelle eingeplant gewesen sein
baut auf diesem auf, im buchstäblichen wie im übertrage-
könnten.499
nen Sinne. Eingebunden in das übergeordnete Gesamtsystem der Kirche werden beide Teile als Kompartimente eines größeren Ganzen erkennbar. 496 Brandl/Forster 2011, S. 97, 144; Nicolai 2009, S. 79; Ders. 1989, S. 151. 497 Adolph Goldschmidt stellte 1899 die These auf, dass der überwiegende Teil der Skulpturen und Reliefs ursprünglich für ein Figurenportal nach französischem Vorbild hergestellt wurde (Ders. 1899). Zahlreiche Forscher folgten seinen Überlegungen in mehr oder weniger modifizierter Form, zuletzt Heiko Brandl (Ders. 2009?, mit Überblick der Forschungsgeschichte und Literaturangaben). Kritisch bis ablehnend äußerten sich hingegen z. B. Nicolai 1989, S. 153; Schubert 1989, S. 38. Helga Sciurie bemerkte bezüglich der Skulpturen: »Seit Adolph Goldschmidts Vermutung von 1899 [...] hat sich die Forschung mehr für die Rekonstruktion des Portals und die stilgeschichtliche Einordnung seiner Skulpturen interessiert, als für
eine Analyse des tatsächlich gebauten Innenraumes« (Dies. 1989, S. 163). 498 Frei nach Helga Sciurie (s. vorherige Anm.) könnte angemerkt werden: Die Forschung interessierte sich meist mehr für die Rekonstruktion des Bauverlaufs des Magdeburger Domchores samt der oft nur hypothetischen Planwechsel und der stilgeschichtlichen Einordnung der Details als für die Analyse der tatsächlich gebauten Architektur. 499 Lex Bosman schlägt eine ursprünglich angedachte Wiederverwendung im Mittelschiff vor (Ders. 2012, S. 190); Wolfgang Schenkluhn sieht Hinweise für eine geplante Aufstellung auf Höhe der Chorempore (Ders. 2009, S. 58).
3.3 MATERIELLE UND GESTALTERISCHE STRATEGIEN ZUR VERBILDLICHUNG DER TRADITION IM NEUEN CHOR
127
Konsequenzen für die Datierung des Bischofsgangs und dessen Bauherrenschaft
rallel zum Baubeginn in Magdeburg erfolgte Umbau des
Eine Gestaltung von Umgang und Empore nach einem
Mainzer Doms nahm vom Ende des 12. Jahrhunderts bis
50 Jahre zuvor dauerte gerade einmal vier Jahre. Der pa-
einheitlichen Plan zieht Konsequenzen für die Datierung
zur Weihe 1239 rund 40 Jahre in Anspruch,503 umfasste
des Bauablaufs im Chor nach sich, indem sie die geläufige,
neben dem voluminösen Dreikonchenchor jedoch auch
noch jüngst wiederholte These,500 den Übergang vom spät-
das Westquerhaus, den zugehörigen Vierungsturm und
romanisch deklarierten Chorumgang zum frühgotisch
die Chorflankentürme sowie die Seitenschiffe des Lang-
deklarierten Bischofsgang als grundlegende Zäsur im
hauses und die Einwölbung des Mittelschiffes. Angesichts
Bauverlauf aufzufassen, grundsätzlich in Frage stellt, da
dieser Vergleichsbeispiele wäre es doch merkwürdig, wenn
dieser These die Prämisse zugrunde liegt, dass der ältere
der Magdeburger Dom nach fast zweieinhalb Jahrzehnten
Stil dem jüngeren Stil zeitlich gänzlich vorausging, gleich-
Bauzeit lediglich bis zum Chorumgang gediehen wäre. In-
sam einer Polonaise der Stile.
terpretiert man die formale Differenz der Chorgeschosse
Um den postulierten harten Schnitt zu erklären, ver-
jedoch nicht als Stilwechsel, sondern als dialektisches Ge-
suchte man, den Stilwechsel an unterschiedlichen Erzbi-
staltungsmittel in einem einheitlichen Konzept, bestünde
schöfen fest zu machen.501 In diesem Sinne sah man den
also die Möglichkeit, dass die Chorempore bereits unter Al-
Initiator des Neubaus, Albrecht II. von Käfernburg, als
brecht II. in der heutigen Form geplant und sogar verwirk-
maßgebliche Kraft hinter der Gestaltung des Chorum-
licht wurde. Auch spricht nichts dagegen, dass die weiter
gangs mit seinen älteren Formen an und führte die jün-
oben thematisierte Modifikation des ursprünglichen Ent-
geren Formen des Bischofsgangs auf einen Planwechsel
wurfs im Episkopat Albrechts II. vorgenommen wurde.
nach dessen Tod 1232 zurück, den einer seiner Nachfol-
In diese Richtung zielte bereits mit anderer Argumen-
ger im Amt des Erzbischofs, Burkhard (ep. 1232–1235) oder
tation Bernd Nicolai 1989, der die Überarbeitung des Bin-
Wilbrand (ep. 1235–1253), veranlasst haben soll. Einer der-
nenchorplanes mit dem Erwerb einer Reliquie des heili-
artigen Folgerung liegt die Vorstellung zugrunde, dass un-
gen Mauritius 1220 durch Albrecht II. zusammenbrachte
ter einem bestimmten Bauherren nur ein bestimmter Stil
und infolgedessen die Entstehung von Chorprogramm
gebaut wurde. Diese Annahme ist jedoch nachweislich
und Bischofsgang in die 1220er Jahren datierte.504 Im Zuge
verkehrt,502 wie das Beispiel Saint-Denis lehrt, wo unter
der jüngsten Forschungswelle zum Magdeburger Dom
Abt Suger sowohl der »romanische« Kryptenumgang als
rund um das Domjubiläum 2009 ist dieser Ansatz wieder-
auch das »gotische« Chorgeschoss errichtet wurden.
holt und von anderen Forschern aufgegriffen worden.505
Dass der Bischofsgang nach dem Chorumgang errich-
Auch wenn der Vordatierung prinzipiell zugestimmt wer-
tet wurde, ist natürlich unstrittig, schließlich konnte er
den kann, so stellt sich die Frage, warum der Erwerb der
erst aufgemauert werden, nachdem das Geschoss darun-
Reliquien zu einer Ausgestaltung des Binnenchores als
ter stand. Da aber gezeigt werden konnte, dass einerseits
»monumentale[m] Memorialraum für den Bistumsgrün-
die älteren Formen nicht zwangsläufig stilgeschichtlich
der«506 geführt haben soll, wie Nicolai den Umbau treffend
bedingt sind und andererseits beide Geschosse gestalte-
charakterisiert, wo also der Zusammenhang zwischen den
risch und tektonisch aufeinander abgestimmt wurden,
neuen Reliquien und der Intensivierung der Stiftermemo-
lässt sich der formale Kontrast nicht mehr als Zäsur im
ria bestünde. Insofern wird die Realisierung des neuen
Bauablauf deuten und kann folglich auch nicht mit ver-
Planes weiter unten alternativ in einem anderen histori-
schiedenen Bauherren erklärt werden.
schen Zusammenhang diskutiert, welcher eine Datierung
Der Neubau des Magdeburger Doms begann um 1208
sogar in die zweite Hälfte der 1210er Jahre erlaubt.507
auf Initiative von Erzbischof Albrecht II., welcher der Neu-
Jedenfalls scheint der Bauverlauf in Magdeburg an-
baukampagne bis zu seinem Ableben 23 Jahre lang als Erz-
fänglich zügiger vorangeschritten zu sein als früher ange-
bischof vorstand. Der Chorneubau von Saint-Denis rund
nommen. Auch die Biographie Albrechts II. lässt sich mit
500 Rogacki-Thiemann 2007, S. 74. Obgleich die Autorin nach eigenem Bekunden das Ziel verfolgte, »eine Präzisierung der Baugeschichte des Magdeburger Domes auf Grundlage bauforscherischer Methoden am Objekt selbst« vorzunehmen, führt sie als einziges Argument zur Datierung des Chorumgangs die stilkritischen Studien von Hamann 1909 an. 501 Schubert 1989, S. 36f.; Ders. 1984, S. 31.
Kritik an jener Annahme übte bereits Nicolai 1989, S. 147f. Von Winterfeld 2001, S. 80. Nicolai 1989, S. 154. Brandl 2012, S. 149f.; Brandl/Forster 2011, S. 148; Nicolai 2009, S. 76–81. 506 Nicolai 2009, S. 76; mit ähnlicher Wortwahl Nicolai 1989, S. 154. 507 Kap. 3.5.3. 502 503 504 505
128
3 DER DOM ZU MAGDEBURG
einer Realisierung des Bischofsgangs unter diesem Erzbi-
der wirkungsmächtigen Kathedrale von Chartres wurde
schof verbinden, denn er verbrachte seine Studienzeit in
1194 nach einem großen Feuer begonnen.510 Die zeitliche
Paris und muss demzufolge mit den dortigen architekto-
Nähe und Parallelität der Ereignisse sprechen dafür, das
nischen Entwicklungen vertraut gewesen sein.508 Auch
Chartres konzeptionell als Vorbild für das Magdeburger
von dieser Seite würde es somit nicht verwundern, wenn
Neubauprojekt gedient haben könnte. Ob man auch von
in Frankreich entwickelte Formen wie die kelchförmigen
einem Formentransfer aus Chartres ausgehen darf, hängt
Knospenkapitelle bereits unter diesem Erzbischof Einzug
davon ab, wie weit der Bau dort zu Beginn der Arbeiten
in Magdeburg fanden.
in Magdeburg gediehen war. Weiter fortgeschritten war
Wenn aber die Detailformen bereits von Beginn an
um 1200 die Kathedrale von Paris, welche sich wohl seit
eingeplant waren und sich nicht im Bauverlauf eingeschli-
1163 im Bau befand, so dass sie zeitlich gesehen in jedem
chen haben, wie in der älteren Literatur unterstellt, dann
Fall für einen Formentransfer in Frage käme.511 Auf die
würde dies auch ein anderes Licht auf den Formentransfer
deutlichen konzeptionellen und formalen Ähnlichkeiten
von Frankreich nach Deutschland zu Beginn des 13. Jahr-
zu Saint-Denis wurde weiter oben bereits hingewiesen.
hunderts werfen und die architekturhistorische Stellung
Auch der Umbau der Abteikirche Saint-Remi in Reims
des Magdeburger Chores grundsätzlich überdacht werden
wäre als Inspirationsquelle zu nennen. Die Heiligen
müssen. Die romanischen Formen des Umgangs sind dann
skulpturen, welche am Hauptportal auf antiken Schäften
nicht als Rückständigkeit zu interpretieren, sondern als be-
stehen, erinnern auffällig an die Tragstruktur im Magde-
wusster retrospektiver Bezug auf die Tradition des Ortes.
burger Domchor. Die Architektur der Magdeburger Kathe-
Die gotischen Formen des Bischofsgangs würden hingegen
drale schließt aus dieser Perspektive unmittelbar an die
nicht aus einer stilgeschichtlichen Entwicklung während
großen französischen Baukampagnen der zweiten Hälfte
des Bauverlaufs resultieren, sondern wären von vornherein
des 12. Jahrhunderts an.512 Das stilgeschichtliche Modell
beabsichtigt gewesen. Im Übrigen hätte sich damit auch
suggeriert indes eine größere Rückständigkeit der sächsi-
der von der Forschung aufgeworfene Widerspruch bezüg-
schen Metropole, als sie, wenn überhaupt, de facto exis-
lich der Aktualität des Chorgrundrisses einerseits und der
tierte, da ein Aufgreifen der französischen Formen erst
»Rückständigkeit« der Formen anderseits aufgelöst.
nach dem Bau des Umgangs impliziert wird. Die konstru-
Als Quelle für den Formentransfer kämen insbeson-
ierte Bindung der Stile an Bauherren führt infolgedessen
dere französische Bauwerke in Frage, die Albrecht II. wohl
zu einer fragwürdigen Spätdatierung des Formentransfers
aus eigener Anschauung kannte.
etliche Jahrzehnte nach dem Episkopat Albrechts II.
509
Mit dem Wiederaufbau
3.4 Das Phänomen der Achsrotation – Räumliche Beziehungen des gotischen Doms zum Vorgängerbau 3.4.1 Der Befund und seine Bewertung in der Literatur
gegenüber dem Vorgängerdom um rund acht Grad gegen den Uhrzeigersinn gedreht wurde (vgl. Abb. 3.05).513 Die
Die archäologischen Grabungen im Magdeburger Dom
Ausrichtung des Vorgängerbaus lässt sich noch heute an
förderten die auf den ersten Blick irritierende Erkennt-
der Ausrichtung des Kreuzgangs und der anliegenden
nis zu Tage, dass die Mittelachse des heutigen Bauwerks
Stiftsgebäude nachvollziehen, welche einstmals recht-
508 Diesen Aspekt betont nun auch Sandron 2012. – Zur Studienzeit Albrechts II.: Gramsch 2009; Silberborth 1910, S. 110f. 509 Vgl. Sandron 2012. 510 Kimpel/Suckale 1985, S. 236–249. – Die Kathedrale von Chartres nimmt in der Forschung zur gotischen Architektur eine exponierte Stellung ein, da sie neben Reims und Amiens als Höhepunkt des Stils angesehen wird. Kaum berücksichtigt wurde allerdings bisher, dass auch die Kathedrale von Chartres maßgeblich unter dem Einfluss ihrer Tradition des Ortes steht. So wurde z. B. neben Teilen des alten Westbaus die monumentale alte Krypta in situ inkorporiert, welche damit die Dimensionen der Kathedrale definierte und die Form des Grundrisses wesentlich beeinflusste.
511 Anfang des 13. Jahrhunderts standen in Paris Chor, Querhaus und große Teile des Langhauses. Gegen 1218 war der Innenraum fertiggestellt und die Westfassade im Bau (Baudaten nach Kimpel/ Suckale 1985, S. 151). – Parallelen zur Pariser Kapitellplastik sehen auch Brandl/Forster 2011, S. 174. 512 Das schließt weitere Referenzen und Einflüsse ausdrücklich nicht aus, insbesondere solche aus dem deutsch-römischen Kaiserreich, auf die vor allem Bernd Nicolai und Wolfgang Schenkluhn hingewiesen haben (Nicolai 2009, Schenkluhn 2009). 513 Die jüngst ergrabenen Nordteile der Ostkrypta ermöglichten eine gegenüber älteren Rekonstruktionen präzisere Bestimmung der Mittelachse des Vorgängerdoms (Kuhn 2009a, S. 45, 49).
3.4 DAS PHÄNOMEN DER ACHSROTATION – RÄUMLICHE BEZIEHUNGEN DES GOTISCHEN DOMS ZUM VORGÄNGERBAU
129
winklig zum Vorgängerdom orientiert waren, aufgrund
Achsrotation bleibt hingegen die räumliche Kontinuität
der gedrehten Achse des Neubaus jedoch heute schräg
zum Ursprungsort gewahrt, denn selbst bei der theoretisch
zum Dom stehen, so dass der Kreuzgang seither einen
größtmöglichen Abweichung von 90 Grad überlagert das
ungewöhnlichen trapezförmigen Grundriss aufweist. Aus
neue Gebäude die alte Kirche am Drehpunkt und um die-
diesem Grund blieb zudem der südliche Kreuzgangflügel
sen herum.
aus dem 12. Jahrhundert, also aus der Zeit des Vorgängerbaus, in den ursprünglichen Formen bewahrt.514
Die Entscheidung, die Achse des neuen Magdeburger Doms gegenüber dem Altbau zu rotieren, verhinderte zwar,
In der Literatur ist die Achsdrehung des neuen Doms
wenn man vom Kreuzgang absieht, die Integration alter
gegenüber seinem Vorgängerbau bis in die jüngere Ver-
Gebäudeteile in situ, doch blieb die Kontinuität des Ortes
gangenheit hinein als Zeichen eines radikalen Bruchs
trotzdem gewahrt, und zwar so weitgehend, dass der Vor-
mit der Vergangenheit interpretiert worden.515 So schrieb
gängerbau von seinem gotischen Nachfolger größtenteils
Bruno Klein 1998 in seiner Einführung in die Entstehung
umhüllt wird (vgl. Abb. 3.05). Lediglich der Südteil der ehe-
gotischer Architektur:
maligen Ostkrypta und vielleicht auch ein kleiner Teil des
»Deren [=der Vorgängerkathedrale] historischen Wert hatte Erzbischof Albrecht II. erst wenige Jahrzehnte zuvor gegen alle Widerstände noch so radikal ignoriert, daß er seinen neuen Dom schräg zur Achse des alten bauen ließ, was eine Wiederverwendung von Fundamenten und aufgehendem Mauerwerk unmöglich machte.«516
südlichen Querhauses liegen außerhalb des neuen Gebäudes. Die Frage, ob die Wahrung der Kontinuität des Ortes intendiert war oder nicht, ob sie vielleicht sogar als fester Parameter der Planungen verbindlich vorgegeben wurde, bleibt zunächst offen. An dieser Stelle wird lediglich festgehalten, dass eine Kontinuität des Ortes gegeben war. Bemerkenswert ist in jedem Fall, dass für die Achsrotation ein größerer Aufwand betrieben werden musste, als
Abgesehen davon, dass eine Wiederverwendung der al-
es bei einem Neubau an anderer Stelle der Fall gewesen
ten Fundamente statisch ohnehin nicht möglich gewesen
wäre, denn aufgrund der Achsrotation mussten die Fun-
wäre,
stimmt eine derart traditionsfeindliche Auslegung
damente der Vorgängerkirche an den Stellen, an denen
angesichts der höchst bedeutsamen, kaiserlichen Tradi-
sie diejenigen des Neubaus kreuzten, komplett abgetragen
tion der Magdeburger Kathedrale skeptisch.
werden. Für einen derartigen, auch ökonomischen Mehr-
517
aufwand muss ein triftiger Grund bestanden haben und
3.4.2 Begriffliche Präzisierung
auch der Drehwinkel wird wohl kaum willkürlich gewählt worden sein. Es stellt sich also die Frage nach Sinn und
Zunächst scheint eine begriffliche Präzisierung des Phä-
Zweck der Achsrotation.
nomens notwendig, welches in der Literatur oftmals als »Achsverschiebung« bezeichnet wird.518 Bei genauer Be-
3.4.3 Kritik möglicher Erklärungsansätze
trachtung trifft diese Beschreibung den Sachverhalt nicht, denn die Mittelachse der neuen Kathedrale wurde gegen-
Eine Neuausrichtung des zuvor südöstlich orientierten
über der alten Achse nicht verschoben, sondern gedreht,
Doms nach Osten bietet den naheliegendsten Erklärungs-
demnach liegt eine »Achsdrehung« oder »Achsrotation«
ansatz, scheidet aber als Begründung wohl aus, da auch
vor (vgl. Abb. 3.05). Diese Feststellung stellt keineswegs
der Neubau nicht genau gen Osten weist. Das wäre aber
eine sprachliche Spitzfindigkeit dar, sondern eine aus der
für den Fall, dass dies der Sinn des Unterfangens war, zu
Perspektive der Tradition des Ortes wichtige Differenzie-
erwarten.
rung, denn sie drückt einen stärkeren Bezug des Neubaus
Heiko Brandl und Christian Forster schlugen jüngst
zum traditionsbehafteten Ort aus. Bei einer Achsverschie-
hypothetisch vor, dass die Grundsteinlegung für den
bung rückt das Gebäude vom Ursprungsort weg; je nach
neuen Dom den Anlass für die Ausrichtung der Kirche
Weite der Verschiebung könnte es sich dann neben oder
gab, weil man die Grundsteinlegung 1207 oder 1208 in An-
sogar entfernt vom ursprünglichen Ort befinden. Bei einer
wesenheit zweier päpstlicher Legaten feiern wollte, j edoch
514 Schubert datiert den südlichen Kreuzgangflügel um 1170 (Ders. 1984, S. 40f.). – Im 15. Jahrhundert zielte man mit restaurativen Maßnahmen interessanterweise auf den Erhalt alter Formen im Ostflügel ab. 515 Z. B. Schubert 1984, S. 31.
516 Klein 1998, S. 106f. 517 Vgl. Kap. 2.6.1 und 4.2.3. 518 Z. B. Sußmann 2009, S. 129; Schubert/Leopold 2001, S. 355; Schubert 1998, S. 14; Kroos 1989, Anm. 45; Nicolai 1989, S. 149.
130
3 DER DOM ZU MAGDEBURG
noch weite Teile der gerade erst ausgebrannten Bischofs
deshalb zu Recht kritisiert.525 Noch schwerer wiegt jedoch
kirche aufrecht standen.
Die Drehung des Grundris-
das Gegenargument, dass sich der Sarkophag Ottos des
ses ermöglichte nach Meinung von Brandl und Forster
Großen heute gar nicht an der Stelle befindet, von der
519
die Lösung dieses Dilemmas, denn auf diese Weise hätte
Schubert/Leopold ausgehen,526 sondern ein ganzes Joch
man den Grundstein nördlich des bestehenden Gebäudes
weiter westlich zwischen den östlichen Vierungspfeilern.
platzieren können. Es erscheint jedoch überhaupt nicht
Obgleich alle Annahmen in Abhängigkeit vom gewünsch-
glaubhaft, dass man die langfristige Konzeption einer Bi-
ten Ergebnis getroffen wurden, lässt sich der Befund also
schofskirche mit ihren zahlreichen weitgehenden, auch
trotzdem nicht mit der These vereinbaren.
finanziellen Konsequenzen von der kurzfristigen Anwe-
Der Ansatz von Schubert und Leopold, die Achsrota-
senheit einzelner Personen bei einem symbolischen Fest-
tion aus der Tradition eines für den Kirchenbau bedeut-
akt abhängig macht, zumal die betreffenden Legaten 1209
samen Ortes zu erklären, eines Fixpunktes, um den die
abermals in Magdeburg waren.520 Darüber hinaus darf
Domkirche neu herumgebaut wurde, könnte jedoch vom
der Begriff »Grundsteinlegung« nicht wörtlich verstanden
Prinzip her in die richtige Richtung zielen. Nur war es viel-
werden, denn es kann sich hierbei aus praktischen und or-
leicht nicht das Grab Kaiser Ottos, welches als Fixpunkt
ganisatorischen Gründen nicht tatsächlich um das Verset-
der Neuausrichtung diente.
zen des allerersten Steins handeln, wofür im Vorfeld mindestens die Fundamentgruben geplant, eingemessen und ausgehoben sein müssen, sondern um einen symbolischen
3.4.4 These: Das Grab der Königin Edith als Referenz punkt der Achsrotation
Akt in einem frühen Stadium einer Baumaßnahme.521 Das spricht nicht gegen die von Brandl und Forster wieder in
Die Lage des Grabes nach den Schriftquellen
die Diskussion eingebrachte Datierung der Grundstein-
Widukind von Corvey schrieb in den 960er Jahren, das
legung 1207 oder 1208, doch lässt sich hieraus keine Not-
Edithgrab befände sich »in nova basilica, latere aquilonali
wendigkeit einer Achsdrehung des Neubaus ableiten.
ad orientem«,527 also im Nordosten der neuen Basilika. Un-
Ernst Schubert und Gerhard Leopold brachten Ende
abhängig davon, ob Widukind dabei die Moritzklosterkir-
der 1990er Jahre eine Ortskontinuität des Kaisergrabes als
che oder den Dom Ottos meinte, spricht die zeitliche Nähe
Erklärungsansatz in die Diskussion ein.522 Die »Verschie-
der Nachricht zum Tod Ediths 946 dafür, dass Widukind
bung [sic!] der Achslage des Doms im 13. Jahrhundert«523
die ursprüngliche Begräbnisstelle der Königin vor Augen
diente nach Meinung der Autoren dem Zweck, das ehe-
hatte.
mals im Nordquerhaus befindliche Kaisergrab in der Mitte
Ungefähr ein halbes Jahrhundert später sah Thietmar
des Sanktuariums zu platzieren, ohne das Grab selbst zu
von Merseburg das Edithgrab vor 1018 als Augenzeuge »in
versetzen. Allerdings sprechen mehrere Punkte gegen eine
oratorio aquilonari«,528 was Werner Trillmich m. E. richtig
solche These. Zunächst einmal ist die Annahme, dass sich
mit »in der nördlichen Kapelle« übersetzt.529 Hierbei fällt
das Grab Ottos im Nordquerhaus befunden habe, rein
zunächst die Ähnlichkeit zur älteren Ortsangabe Widu-
hypothetisch und wurde von den Autoren indirekt aus
kinds auf. Bezieht man gemäß derzeitigem Forschungs-
Quellen zur Lage des Grabes der Edith geschlossen. Doch
stand einen Neubau der Bischofskirche unter Tagino in
selbst die Lage des Edithgrabes lässt sich derzeit nicht ein-
die Gedanken mit ein,530 so ergeben sich zwei Möglichkei-
deutig bestimmen, denn die Schriftquellen erlauben auch
ten:
eine andere Auslegung.524 Weiterhin geht die Rekonstruk-
1. Widukind und Thietmar beschreiben dasselbe Grab-
tion des Grundrisses der ottonischen Kirche über das hi-
mal, welches sich folglich noch im alten Dom, also der
naus, was der archäologische Befund zulässt, und wurde
Nordkirche, befunden haben muss. Daraus folgt wiede-
519 Brandl 2012, S. 145; Forster 2012, S. 25; Brandl/Forster, S. 413. – Brandl 2012 lässt die These leider bereits als Fakt erscheinen. 520 Rosenfeld 1909, S. 6f. 521 Dies lässt sich auch heute bei Grundsteinlegungen beobachten. 522 Schubert/Leopold 2001, S. 355–358; Schubert 1998, S. 13f.; Leopold 1998, S. 42f. 523 Schubert/Leopold 2001, S. 355. 524 S. weiter unten. 525 Kuhn 2009a, S. 45; Meckseper 2001, S. 373. 526 Schubert/Leopold 2001, S. 354, Abb. 1.
527 Widukind, RGS Lib. II, 946 (ed. Hirsch/Lohmann, S. 100): »Sepulta est autem in civitate Magathaburg in basilica nova, latere aquilonali ad orientem.« 528 Thietmar von Merseburg starb 1018 (Trillmich 1960, S. XXIII). Zur Datierung seiner Chronik: Ebd., S. XXIII–XXV. 529 Thietmar, Chronicon II, 3 (ed. Trillmich, S. 436): »... sepultaque est in civitate prefata in maiori aecclesia, in oratorio aquilonari.« Übersetzung Trillmich: »In der nördlichen Kapelle der Hauptkirche dieser Stadt liegt sie begraben.« 530 Kap. 3.2.
3.4 DAS PHÄNOMEN DER ACHSROTATION – RÄUMLICHE BEZIEHUNGEN DES GOTISCHEN DOMS ZUM VORGÄNGERBAU
131
rum, dass der alte Dom zu jenem Zeitpunkt noch in Be-
Rainer Kuhn bestätigen die Kontinuität des Ortes, denn
trieb war. Zu einem Neubau unter Tagino stünde diese An-
im Fundament des frühneuzeitlichen Grabmals wurde
nahme nicht im Widerspruch, da anzunehmen wäre, dass
ein schlichter Steinsarkophag entdeckt, den man sorg-
eine Translation der Königin wohl erst erfolgte, nachdem
sam in Ost-West-Richtung in das Fundament der Tumba
die neue Kirche geweiht worden war. Dies scheint beim
einbettete.538 Es liegt nahe, diesen Sarkophag als Teil des
Tod Taginos 1012 noch nicht der Fall gewesen zu sein,
vormaligen Königinnengrabes zu identifizieren, welcher
denn für Taginos Bestattung »im westlichen Teil des Cho-
bei der Errichtung des neuen Grabmals zu Beginn des
res vor der Krypta«531 musste die betreffende Stelle auffälli-
16. Jahrhunderts wie eine Reliquie im neuen Fundament
gerweise noch geweiht werden.
beigesetzt wurde. Der unverzierte Steinsarkophag lässt
532
2. Thietmar beschreibt die Situation in der Südkirche;
sich derzeit nicht näher datieren, doch ist eine Datierung
eine Translation der Königin wäre demzufolge vor 1018 er-
in das 10. Jahrhundert nicht ausgeschlossen, so dass es
folgt. Die Ähnlichkeit zur Ortsangabe Widukinds weist in
sich möglicherweise sogar um den ursprünglichen Sarko-
diesem Fall darauf hin, dass die Sakraltopographie des al-
phag handeln könnte.539 Man kann also mit einer gewissen
ten Doms zumindest teilweise auf die Südkirche übertra-
Sicherheit davon ausgehen, dass sich das Grabmal Ediths
gen wurde und das Grab der Königin an einer vergleichba-
im Neubau des 13. Jahrhunderts stets an derselben Stelle
ren Stelle im Nordosten der neuen Kirche platziert wurde.
befand.
In der Folgezeit schweigen die Quellen bezüglich des
Unterhalb des neuzeitlichen Fundamentes stießen die
Standortes leider. Für eine in der Literatur postulierte
Ausgräber auf die Fundamente des Nordostturmes der
Translatio der Gebeine in die Krypta oder an einen an-
vormaligen Domkirche.540 Wie schon in der älteren Lite-
Erst gegen
ratur vermutet, spiegelt sich unterhalb des Edithgrabes
deren Ort im Jahr 1049 fehlen die Beweise.
533
Ende des 13. Jahrhunderts wird der Ort des Grabmals wie-
die bekannte Disposition des südlichen Chorflankentur-
der in den Schriftquellen greifbar und zwar an der heuti-
mes, wo sich auf Kryptaniveau auch aufgehendes Mau-
gen Stelle auf der Mittelachse des Doms.534
erwerk erhalten hat. In der Mitte der Türme befanden sich im Kryptageschoss jeweils quadratische Räume, in
Der archäologische Befund zur Grabstelle
deren Mitte sich jeweils eine auffällig starke Mauerzunge
Bei der Analyse der räumlichen Beziehungen der Dom-
parallel zu Kirchenachse erstreckte, welche den Raum in
kirche zu ihrer Vorgängerin fällt ins Auge, dass die Chor-
zwei gleichgroße Kammern von ungefähr 2,30 × 1,10 Me-
scheitelkapelle des 13. Jahrhunderts den nordöstlichen
tern teilte, die über einen Gang mit dem Hauptraum der
Chorflankenturm des Vorgängerbaus in auffälliger Weise
Krypta verbunden waren.
überlagert (vgl. Abb. 3.05). Diese räumliche Beziehung gewinnt insofern an Brisanz, weil sich im Chorumgang vor
Gedanken zur Lokalisierung des alten Edithgrabes
der Kapelle, auf der Mittelachse des Neubaus, heute das
Die Indizien sprechen also dafür, dass sich das Edithgrab
Grabmal der Königin Edith befindet (Taf. 3.03).535 Zwar
in der stauferzeitlichen Kirche von Beginn an an der heu-
wurde die plastisch reich gestaltete Tumba erst 1510 ge-
tigen Stelle über dem vormaligen Nordostturm befand.
fertigt (vgl. Abb. 3.15),
doch ersetzte sie ein älteres Grab-
Diesem Befund kommt insofern besondere Bedeutung
mal, das sich nach dem Zeugnis des Magdeburger Liber
zu, weil er sich in frappanter Weise mit der Beschreibung
Ordinarius spätestens Ende des 13. Jahrhunderts an der-
Thietmars vom Edithgrab in einer nordöstlichen Kapelle
selben Stelle befand.537 Neue Grabungsergebnisse von
zusammenbringen lässt.
531 Thietmar, Chronicon VI, 63 (ed. Trillmich XXX): »... occidentale parte in choro ante criptam, quam ipse fecit et consecravit ...«. 532 Ehlers 2009, S. 133. 533 S. weiter unten. 534 Die Verortung des Edithgrabmals lässt sich aus seiner liturgischen Einbindung nach dem Zeugnis des Magdeburger Liber Ordinarius schließen: Kroos 1989, S. 90; Zur Datierung des Liber Ordinarius: Kühne 2009, S. 184. 535 Das Grabmal geriet in die Schlagzeilen (z. B. Die Zeit, 17.6.2010, S. 35), als man 2008 in der Tumba einen Bleikasten mit Gebeinen entdeckte, denn in der jüngeren Literatur hielt man das Grabmal für einen Kenotaph (jüngster Forschungsstand zum Edithgrab: Kuhn 2012b, ferner Kuhn 2009a, 49–51; Puhle 2009, Bd. 2, S. 25f.). In der älteren
Literatur ging man hingegen selbstverständlich davon aus, dass sich die Gebeine der Königin in der Tumba befänden (Brandt 1863, S. 96). 536 Die ältere kunsthistorische Datierung des steinernen Grabmals wurde durch eine Inschrift auf dem Bleisarg bestätigt, welche das Jahr 1510 für die Errichtung nennt (frühneuzeitliches Grabmal: Schubert 1984, S. 219. – Inschrift mit Übersetzung: Puhle 2009, Bd. 2, S. 26; Schubert 2009, S. 380). 537 Zur Datierung des Magdeburger Liber Ordinarius: Kühne 2009, S. 184. Zur liturgischen Einbindung des Edithgrabmals: Kroos 1989, S. 90. 538 Kuhn 2012b, S. 114f. 539 Ebd. 540 Kuhn 2009b, S. 42–46.
536
132
3 DER DOM ZU MAGDEBURG
Alfred Koch interpretierte 1926 die Kammern im Chor-
also präziser, als es ihr die kunstgeschichtliche Literatur,
flankenturm als Grabkammern, was die Möglichkeit impli-
in der die Stelle zumeist auf das nördliche Querhaus be-
zierte, dass Edith im Vorgängerdom in einer nordöstlichen
zogen wurde,547 bisher zugestehen wollte. Die auffällige
Kryptakapelle bestattet wurde und sich deshalb das heu-
Entsprechung von schriftlicher Überlieferung und archäo-
tige Grabmal darüber befindet.541 Gerhard Leopold lehnte
logischem Befund legt nahe, dass Thietmar das Grab tat-
die Interpretation als Grabkammer 1983 jedoch ab, weil es
sächlich in der nordöstlichen Turmkapelle der Südkirche
unmöglich wäre, einen Sarkophag im Stollen um die Ecke
gesehen hat. In diesem Fall könnte die Ähnlichkeit der
in die Kammern zu transportieren;542 seiner Argumenta-
Angabe Widukinds für den Grabort im alten Dom »aqui-
tion folgte zuletzt Jens Reiche 2012.543 Zwar kann dem ent-
lonali ad orientem«548 darauf hinweisen, dass die Sakralto-
gegnet werden, dass Bestattungen in den Turmkammern
pographie des ottonischen Doms zumindest teilweise in
technisch sehr wohl realisierbar gewesen wären,544 doch
der Südkirche aufgegriffen wurde. Sollte Thietmar jedoch
braucht dieser Aspekt hier nicht weiter vertieft werden.
dasselbe Grab wie Widukind noch in der Nordkirche gese-
Die Diskussion wird nämlich m. E. buchstäblich auf
hen haben, so könnte die Erklärung in dieselbe Richtung
der falschen Ebene geführt, denn es wurde bisher außer
gehen. Die Königin wäre dann bereits in der Nordkirche in
Acht gelassen, wie die Situation im Turm über den Kryp-
einer nordöstlichen Kapelle beigesetzt gewesen und diese
takammern, also auf Chorniveau, zu rekonstruieren wäre.
Disposition wäre beim Bau der Südkirche wiederholt wor-
Dort müssen sich aufgrund der Turmgeometrie, analog
den. In jedem Fall wäre das Grabmal für die Südkirche
der Krypta, quadratische Räume befunden haben. Die
des 11./12. Jahrhunderts in einer nordöstlichen Kapelle im
massigen Mauerzungen auf Kryptaniveau lassen darauf
Chorflankenturm anzunehmen.
schließen, dass sich im Geschoss darüber etwas Schwe-
Für die Problematik der Achsrotation der neuen Ka-
res befunden haben muss. Den Umständen entsprechend
thedrale offerieren die Überlegungen zum alten Edithgrab
wäre es naheliegend, in der nördlichen Turmkammer auf
somit folgenden Lösungsansatz: Der Sinn der Achsrota-
Chorniveau das Grabmal der Edith zu vermuten, das sich
tion könnte gewesen sein, das Edithgrab neu im Gebäude
somit mittig an der östlichen Wand eines ca. 3,40 × 3,40
zu positionieren, nämlich auf der Mittelachse statt in
Meter großen Raumes befunden hätte, parallel zur Haupt-
der nordöstlichen Turmkapelle, ohne es jedoch vom ur-
achse der Kirche ausgerichtet. Die Mauerzunge in der
sprünglichen Ort zu entfernen.
Kryptakammer diente somit als Fundament, vergleichbar demjenigen, das die heutige Tumba trägt. Die Dimensi-
Vergleich mit der Marburger Elisabethkirche
onen der südlichen Zunge von ca. 2,30 × 1,10 Metern im
Dieser Erklärungsansatz mag aus moderner Perspektive
aufgehenden Mauerwerk würden jedenfalls gut zu den
verwundern. Beim Neubau der Marburger Elisabethkir-
Dimensionen des von Rainer Kuhn im Fundament des
che,549 deren Grundsteinlegung nur 26 Jahre nach derjeni-
heutigen Königinnengrabes gefundenen alten Steinsarko-
gen in Magdeburg erfolgte, ging man jedoch nachweislich
phags von ca. 2,20 × 0,65 Metern passen, da das Grabmal
genauso vor.550 Während sich das Grabmal der Elisabeth
schließlich etwas kleiner als die Fundamentmauer gewe-
von Thüringen im Vorgängerbau in der Mittelachse einer
sen sein müsste.
Saalkirche befunden hatte, konzipierte man den gotischen
545
Die Ortsangabe des Edithgrabes bei Thietmar »in
Neubau derart, dass man die nördliche Konche um den
oratorio aquilonari«,546 »in der nördlichen Kapelle«, wäre
Grabort herum anlegte, weshalb das Grab heute erkenn-
541 Koch 1926; siehe auch die Beschriftung der Kammern auf dem Grabungsgrundriss von 1926 (Wiederabdruck bei Reiche 2012, S. 96). 542 Leopold 1983, S. 77. 543 Reiche 2012, S. 100. Konstruktiv wenig fundiert und somit zurückzuweisen sind die Annahmen Reiches, dass die Gänge, welche die Turmkammern erschließen, lediglich angelegt wurden, »um die Mauerstärke etwas zu reduzieren, oder aber in dem Glauben, durch sie eine Stabilisierung der Substruktionen des Turms erreichen zu können.« 544 Beispielsweise könnte ein Sarkophag auch von oben eingebracht worden sein. Eine andere Möglichkeit böten Aussparungen an den Ecken des Mauerwerks. Die einfachste Möglichkeit wäre jedoch, den Sarkophag hochkant um die Ecke zu transportieren und den Leib später im vorbereiteten Sarkophag vor Ort beizusetzen.
545 Die Situation ließe sogar ein Bodengrab zu, das von einer Grabplatte überdeckt war, der bevorzugten Bestattungsform des frühmittelalterlichen Adels und Klerus (einen Überblick bietet: de Blaauw 2012). 546 Thietmar, Chronicon II, 3 (ed. Trillmich, S. 436): »... sepultaque est in civitate prefata in maiori aecclesia, in oratorio aquilonari.« Übersetzung Trillmich: »In der nördlichen Kapelle der Hauptkirche dieser Stadt liegt sie begraben.« 547 Z. B. Schubert/Leopold 2001, S. 355; Schubert 1989, S. 26. 548 Widukind, RGS Lib. II, 946 (ed. Hirsch/Lohmann, S. 100). 549 Grundlegend zur Elisabethkirche: Strickhausen 2001; Müller 1997; Michler 1984; Arnold/Liebing 1983; Kunst 1983 (jeweils mit Hinweisen auf die ältere Literatur). – Zum Vorgängerbau: Meschede 1967. 550 Die räumlichen Bezüge zur Vorgängerkirche thematisierten: Müller 2009, S. 208f.; Schenkluhn/van Stipelen 1983, S. 21–25.
3.4 DAS PHÄNOMEN DER ACHSROTATION – RÄUMLICHE BEZIEHUNGEN DES GOTISCHEN DOMS ZUM VORGÄNGERBAU
133
3.30 Marburg, Elisabethkirche, erbaut ab 1235, Grundriss des gotischen Baus im Verhältnis zur Vorgängerkapelle, Nr. 13: Grab der hl. Elisabeth (Leppin 1999)
bar von der Ausrichtung der Kirche abweicht (Abb. 3.30).
verlegen, dann ist dieses Vorgehen beim nahezu zeitglei-
Die Position des Elisabethgrabes wurde auf diese Weise
chen, traditionsorientierten Neubau in Magdeburg erst
in Relation zum Kirchenraum verändert, ohne es selbst zu
recht vorstellbar. In diesem Kontext muss diskutiert wer-
bewegen. Stattdessen diente es als Fixpunkt für die Dispo-
den, inwieweit mit der Bewahrung des Ortes eine Anglei-
sition des neuen Grundrisses.
chung an Heiligengräber angestrebt wurde.552
Wäre es nicht möglich, dass das Edithgrab für den Neubau des Magdeburger Doms einen ebensolchen Fix-
Die überlieferte Translatio der Königin Edith
punkt bildete? Schließlich bestimmte die Tradition des
In unmittelbarer Nachbarschaft zur Tumba der Königin
Ortes die Architektur in Magdeburg weitaus stärker als
steht in der Scheitelkapelle des 13. Jahrhunderts der Kili-
in Marburg. Schon durch die Tatsache, dass der Grund-
analtar, welcher somit den Endpunkt der mit Hochaltar
riss der neuen Kirche nicht verschoben, sondern gedreht
und Stiftergräbern besetzten Mittelachse des Doms mar-
wurde, blieb die Kontinuität des Ortes in größerem Maße
kiert. Renate Kroos und Ernst Schubert erkannten den
gewahrt als in Marburg, wo man die gotische Elisabethkir-
kultischen Zusammenhang zwischen dem Kilianaltar in
che in weiten Teilen neben dem Vorgängerbau errichtete.
der Scheitelkapelle des 13. Jahrhunderts und der aufgege-
Darüber hinaus lassen sich in Magdeburg auf materieller
benen Krypta Erzbischof Hunfrieds, welche 1049 dem Ki-
und ästhetisch-gestalterischer Ebene demonstrative Be-
lian geweiht wurde.553 Während es nicht verwundert, dass
züge zur Tradition herstellen,
die in dieser Deutlichkeit
die Kryptenweihe am Festtag des Kilian am 8. Juli gefeiert
in Marburg nicht ansatzweise vorhanden sind. Wenn also
wurde,554 erstaunt hingegen die Nachricht einer Transla-
beim Bau der Marburger Kirche der Ortskontinuität des
tio Ediths am gleichen Tag,555 weil der Zusammenhang
Elisabethgrabes eine solche Bedeutung zukam, dass man
zwischen den beiden Monumenten im neuen Chor somit
die Kirche lieber um dieses herum konzipierte, statt es zu
über den engen räumlichen Bezug hinausgeht. Infolgedes-
551 Kap. 3.3. 552 S. weiter unten. 553 Kroos 1989, S. 90; Schubert 1989, S. 28. – Zur Tradierung der Krypta mittels der Chorarchitektur des 13. Jahrhunderts s. Kap. 3.3.6.
554 Gesta Archiep. Magd. 19 (ed. Waitz, S. 398). 555 Quellenangaben bei Kroos 1989, Anm. 54.
551
134
3 DER DOM ZU MAGDEBURG
sen versuchten Schubert und Kroos die heutige Position
man den entsprechenden Tag feierlich beging und ihn als
des Edithgrabmals in Abhängigkeit vom Kilianaltar zu
Translatio memorierte, lässt sich leicht nachvollziehen.
erklären, indem sie eine Translatio der Königin am Tag
Auch das Datum kann in diesem Kontext gut erklärt
der Kryptaweihe 1049 postulierten.556 Als neuen Standort
werden, wenn man davon ausgeht, dass der neue Kilianaltar
für das Grabmal nahmen sie ausgehend von der heutigen
in der Chorscheitelkapelle am selben Tag geweiht wurde.
Situation einen Platz in der Krypta vor dem alten Kilian-
Angesichts der räumlichen Nähe der beiden Monumente
altar an.557
erscheint es organisatorisch wie inszenatorisch günstig,
Die Quellen belegen allerdings lediglich den Tag der
Weihe und Translatio am selben Tag zu feiern und so den
Translatio, nicht aber das Jahr, in dem sie erfolgte. Dass
Chorscheitel im Ganzen in Funktion zu nehmen, statt dies
sich die Quelle auf eine Translatio im Jahr 1049 bezieht,
in zwei Akten zu vollziehen. Die in den spätgotischen Quel-
kann allerdings aus logischen Gründen ausgeschlossen
len vermerkte Translatio ereignete sich demzufolge in der
werden. Wenn sich die im 15. Jahrhundert gefeierte Trans-
ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Da der Altar des Märty-
latio nämlich auf eine im 11. Jahrhundert erfolgte Umbet-
rers sinnvollerweise an dessen Feiertag geweiht wurde, fand
tung in die Krypta oder darüber bezöge, hätte das Grab
eben auch die Translatio der Königin an diesem Tag statt.
im Zuge des Neubaus im 13. Jahrhundert wiederum von eine neue Translation zur Folge gehabt. In diesem Fall
Das Grab der Königin Edith als konstitutive Tradition des Ortes
müsste sich aber das Datum aus der Quelle des 15. Jahr-
Es stellt sich unweigerlich die Frage, warum ausgerechnet
hunderts auf eine Translatio im 13. Jahrhundert und nicht
das Edithgrabmal als Fixpunkt bei der Neuausrichtung
im 11. Jahrhundert beziehen. Damit fehlt der Annahme ei-
des Doms fungierte und nicht das Grab Kaiser Ottos, wel-
ner Translatio im Jahr 1049 und folglich auch der daraus
ches doch so demonstrativ im Sanktuarium präsentiert
abgeleiteten Annahme, das Grab Ediths hätte sich in der
wird.560 Einen interessanten Hinweis liefern die Schrift-
Krypta befunden, die argumentative Grundlage.
quellen. Bereits Thietmar schrieb, die Kirche sei »in loco,
dort an den heutigen Platz verlegt werden müssen, also
Mit einer fortwährenden Kontinuität des Ortes steht
ubi sancta requiescit Aedith«561 errichtet worden, »am Ort,
die überlieferte Translatio der Gebeine der Königin hinge-
wo die heilige Edith ruht«.562 Dem folgen die jüngeren
gen nicht im Widerspruch. Auch am Elisabethgrab kam es
Magdeburger Gesta Archiepiscoporum, die berichten, der
trotz der nachgewiesenen Ortskontinuität zu einer Trans-
Dom sei »super ossa beate Edith regine«563 erbaut worden,
lation,
die sich mit Blick auf die baulichen Abläufe er-
also »über den Gebeinen der seligen Königin Edith«.564
klären lässt: Während der Bauzeit konnten die Gebeine
Mit dem modernen Kenntnisstand, dass Edith 946 in
selbstverständlich nicht am Ort verweilen, sondern muss-
der Moritzklosterkirche bestattet wurde, welche sie neun
ten beiseite geschafft werden. In Marburg scheinen die
Jahre zuvor zusammen mit Otto fundierte,565 lässt sich die
Gebeine der Elisabeth während des Abbruchs der Franzis-
offenbar schon früh einsetzende Überlieferung von einer
kuskirche und der darauffolgenden Errichtung der Nord-
Errichtung des Doms über dem Grab der Königin nur in
konche in der bereits stehenden Ostkonche aufbewahrt
Einklang bringen, wenn der Dom anstelle der Moritz-
worden zu sein.
558
In Magdeburg riss man den alten Nord-
klosterkirche errichtet wurde oder aber, was wahrschein-
ostturm mit der Kapelle komplett ab. Die Gebeine muss-
licher klingt, die Klosterkirche zum Dom umfunktioniert
ten also zwangsläufig in Sicherheit gebracht werden. Erst
wurde.566 Infolgedessen geht der Domführer von 1702 da-
als der neue Chorumgang stand, konnte man die Königin
von aus, dass der gotische Dom an der Stelle des Moritz-
wieder an ihren ursprünglichen Grabplatz betten. Dass
klosters errichtet wurde.567 Darüber hinaus wird tradiert,
556 Kroos 1989, S. 90; Schubert 1989, S. 28. 557 Ebd. – Schubert zog 1989 auch eine Lage im Sanktuarium über der Krypta mit in Betracht (Ebd.). In Folge seiner Theorie über die Ortskontinuität des Kaisergrabes (Kap. 3.4.3) wich Schubert von einer Translatio im 11. Jahrhundert ganz ab (Schubert/Leopold 2001, S. 365; Schubert 1998, S. 14). Mittlerweile hält er eine Translatio in die Krypta unter Hunfried allerdings wieder für »gut bezeugt« (Schubert 2009, S. 380). 558 Meschede 1967, S. 108–110, 119. 559 Ebd. 560 Kap. 3.3.2. 561 Thietmar, Chronicon 11 (ed. Trillmich, S. 44).
562 Eigene Übersetzung. Trillmich übersetzt: »an der Grabstätte der frommen Edith«. 563 Gesta Archiep. Magd. 6 (ed. Waitz, S. 379). 564 Eigene Übersetzung. 565 Althoff 2001; Leopold 1989, S. 62f.; Schubert 1989, S. 25. 566 Zur Diskussion um die Lokalisierung von Klosterkirche und ottonischem Dom s. Kap. 3.2. 567 »Anno Christi 1211 hat der gemeldete XXste Erz-Bischoff und Cardinal Albertus die noch anjetßo stehende herrliche Dom-Kirche auff der Stätte da vormahls das nach Berga verlegte Kloster gestanden zu bauen angefangen ...« (Magd. Domführer 1702, Cap. I). 568 »Hinterm Chor ist Sr. Käyserlichen Majestät Ottonis Magni höchst-
559
3.4 DAS PHÄNOMEN DER ACHSROTATION – RÄUMLICHE BEZIEHUNGEN DES GOTISCHEN DOMS ZUM VORGÄNGERBAU
135
dass sich das Grabmal im neuen Dom noch »an selbiger
Resümee
Stätte«
Die demonstrative Zurschaustellung der Tradition des Or-
568
wie zuvor in der Klosterkirche befände.
Die archäologischen Ergebnisse der letzten Zeit ha-
tes und der Geschichte der Magdeburger Domkirche auf
ben gezeigt, dass die alten Schriftquellen kritisch gelesen
materieller und gestalterisch-ästhetischer Ebene weckt
werden müssen,569 doch ist dies nicht der Rahmen für eine
starke Zweifel an der geläufigen Forschungsmeinung,
Quellenkritik. Im hiesigen Untersuchungskontext interes-
dass bei der Neuausrichtung der Kirche deren Vergan-
siert vielmehr, dass man bereits Anfang des 11. Jahrhun-
genheit ignoriert worden sein soll. Bereits die begriffliche
derts überlieferte, die Kirche sei über dem Grab der Köni-
Präzisierung des Phänomens als »Achsdrehung« bringt
gin errichtet worden. Auf diese Weise entstand schließlich
sprachlich zum Ausdruck, dass die räumliche Bindung an
eine bis in die Neuzeit zu verfolgende Tradition, die das
den Ort bei genauer Betrachtung stärker ausfiel, als es der
Bauwerk kausal mit dem Ort verknüpfte. Demgegenüber
bisher gebräuchliche Ausdruck der »Achsverschiebung«
ist eine Verlagerung der Domkirche nach Süden um 1000,
erkennen ließ.573 Es stellt sich damit die Frage nach der
wie sie Bernd Nicolai und Rainer Kuhn mit guten Grün-
Intention der Achsdrehung.
den vorschlagen,570 in den Schriftquellen bezeichnender-
Eine definitive Antwort kann nach derzeitigem Kenntnisstand nicht gegeben werden. Nicht überzeugen kann
weise ausgeblendet worden. Eine solch konstitutive Bedeutung des Ortes für ein
die These von Brandl und Forster, dass politische Erwä-
Bauwerk lässt sich anderenorts vor allem bei Kirchen be-
gungen im Zusammenhang mit der Grundsteinlegung
obachten, die über Heiligengräbern errichtet wurden bzw.
den Anlass für die Achsdrehung gaben.574 Der Vorschlag
von denen behauptet wurde, dies sei der Fall gewesen.571
von Schubert und Leopold, vom Grab Ottos als Fixpunkt
In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass
einer Neuausrichtung auszugehen, muss argumentativ
die Königin Edith trotz fehlender Kanonisierung in Mag-
abgelehnt werden,575 könnte jedoch vom Prinzip her in die
deburg geradezu wie eine Heilige verehrt wurde.
Auch
richtige Richtung weisen. Es gibt nämlich Indizien, wel-
die auf Edith bezogenen Adjektive »beate« und »sancta«
che in der Summe darauf hinweisen, dass stattdessen das
in den oben zitierten Quellen lassen zumindest eine be-
Grab Ediths den Anlass für die Achsdrehung gab.
572
sondere Verehrung der Königin erkennen. Beachtet man
In den Schriftquellen wird jedenfalls vom frühen Mit-
nun einerseits die konstitutive Bedeutung von Heiligen-
telalter bis in die Neuzeit tradiert, die Kirche sei über den
gräbern für Kirchenbauten und andererseits die heiligen-
Gebeinen der Königin errichtet worden. Damit konstru-
gleiche Verehrung der Edith, dann liegt es auf der Hand,
ierte man eine Kontinuität des Ortes, die nach derzeiti-
beides zusammenzubringen.
gem Kenntnisstand nicht den Tatsachen entspricht, denn
Demzufolge kam dem Grab Ediths quasi der Status ei-
anscheinend wurde die Domkirche um 1000 vom Norden
nes Heiligengrabes zu, welches eine Tradition des Ortes
in den Süden verlegt. Allerdings deckt sich der archäolo-
definierte, die für den Dom von konstitutiver Bedeutung
gische Befund am heutigen Standort des Edithgrabmals
gewesen sein könnte. Die Lage des Grabmals stellte in die-
in auffälliger Weise mit der frühen schriftlichen Überlie-
sem Fall einen räumlich fixen Parameter dar, den es bei
ferung, was unter anderem dafür spricht, dass sich das
der Modernisierung der Kirche im 13. Jahrhundert not-
Grabmal heute noch an derselben Stelle befindet wie in
wendigerweise zu berücksichtigen galt. Da man das Grab
der Vorgängerkirche des 11./12. Jahrhunderts.
in die Mittelachse rücken wollte, wohl um es im Kontext
Die Achsdrehung des 13. Jahrhunderts könnte in diesem
der allgemeinen Vergegenwärtigung der imperialen Ver-
Fall aus dem Bestreben resultieren, das Grab der Königin
gangenheit stärker zu inszenieren, musste man zwangs-
in die Mittelachse der Kirche zu rücken, ohne es an einen
läufig den Grundriss der Kirche drehen.
anderen Ort zu verlegen. Ein solches Verfahren kann für die
seeliger Gedächnüß erster Gemahlin Edittae, Begräbnüß so Anno Christi 947. den 27. Januarij gestorben und in der zu Anfang gedachter Benedictiner-Kloster-Kirche zu Magdeburg an selbiger Stätte vor Aufferbauung der Dom-Kirchen gestanden begraben worden ...« (Magd. Domführer 1702, Cap. II (Monumentis), 29). 569 So führten Babette Ludowici und Birte Rogacki-Thiemann eine Quelle des 16. Jahrhunderts an (Dies. 2003), um die These zu stützen, die Südkirche wäre bis ins 13. Jahrhundert als Klosterkirche genutzt worden, was allerdings archäologisch widerlegt wurde (vgl. Kap. 3.2). 570 Nicolai 2012, S. 79f.; Kuhn, 2009c, S. 231f.
571 Ein Beispiel wäre das in diesem Zusammenhang bereits angesprochene Grab der Elisabeth von Thüringen in der Marburger Elisabethkirche. 572 Zuletzt Päffgen 2009, S. 205. – Eine genauere Untersuchung dieses Aspekts von historischer und/oder liturgiewissenschaftlicher Seite aus wäre für ein besseres Verständnis der Zusammenhänge im Magdeburger Dom in mehrfacher Hinsicht wünschenswert. 573 Kap. 3.4.2. 574 Kap. 3.4.3. 575 Ebd.
136
3 DER DOM ZU MAGDEBURG
zeitlich im Grunde parallel errichtete Marburger Elisabeth-
Südkirche des 11./12. Jahrhunderts auf Chorniveau die
kirche belegt werden, wo das Grab der heiligen Kirchenstif-
Grabkapelle der Königin Edith befand. Mit dieser Lage
terin Elisabeth von Thüringen neu im Chor situiert wurde,
griff man wahrscheinlich die Sakraltopographie des ot-
ohne es selbst zu bewegen. Die Nachrichten über eine
tonischen Gründungsbaus im Norden auf. Beim Neubau
Translation der Königin stehen der Annahme einer Orts-
des Doms im 13. Jahrhundert wurde die Kirche neu ausge-
kontinuität ebenfalls nicht entgegen, denn die bisherige
richtet, um das Grabmal der Königin auf der Mittelachse
Auslegung der Quellen in der Literatur erwies sich nicht als
der Kirche im Umgang neu zu positionieren, ohne den
zwingend, sondern barg im Gegenteil Widersprüche.
Grabort zu verlegen und somit die Tradition des Ortes zu
Die Summe der Hinweise erlaubt die begründete
wahren.
These, dass sich im nordöstlichen Chorflankenturm der
3.5 Resümee: Der Magdeburger Dom und seine Tradition des Ortes 3.5.1 Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse
der Reliquien des alten Doms, welche vorher dem Auge verborgen in den Kapitellen der Säulen eingebettet wa-
Nach dem Stadtbrand 1207 entschied sich der Magdebur-
ren, geriet mittels gestalterisch hervorgehobener Nischen
ger Domklerus unter der Führung von Erzbischof Albrecht
kaum weniger auffällig.577 Beide Objektgruppen sind in be-
II. von Käfernburg zu einem umfassenden Neubau seiner
sonderer Weise mit Kaiser Otto dem Großen verbunden,
Kirche. Die Neuausrichtung des Doms, dessen Achse ge-
welcher sie extra für den ersten Dombau aus Italien her-
genüber dem Vorgängerbau einige Grad gegen den Uhr-
beischaffen ließ. Schließlich inszenierte man den ehemals
zeigersinn gedreht wurde, verhinderte eine Integration
im Boden eingelassenen Sarkophag Ottos neu, indem er
alter Gebäudeteile in situ, was in der kunsthistorischen
als oberirdisches Grabmal mitten im Chor aufgestellt
Literatur als klarer Bruch mit der Tradition gewertet
wurde.578 Die originale Marmorgrabplatte, wahrscheinlich
wurde. Angesichts der bedeutsamen Tradition, welche
Teil des römischen Spolien-Fundus, behielt man unverän-
die Magdeburger Bischofskirche als kaiserliche Gründung
dert bei, obwohl sie für eine oberirdische Abdeckung über-
und Grabeskirche Ottos des Großen und seiner Frau Edith
dimensioniert erscheint.
auszeichnet, muss eine derartige Interpretation allerdings skeptisch stimmen.
Es fällt auf, dass die Wiederverwendung der authentischen Objekte des ottonischen Doms einer gestalterischen
Aufgrund dieses Gegensatzes von komplettem Neu-
Strategie folgt, welche die physische Präsenz der Objekte
bau einerseits und bedeutsamer Tradition andererseits
deutlich in den Vordergrund rückt und somit deren visu-
bot sich der Magdeburger Dom für eine Fallstudie unter
elle Wahrnehmung nicht nur besser ermöglicht, sondern
hiesiger Fragestellung besonders an. Kann aus dem Neu-
geradezu provoziert. Durch die oberirdische Neuaufstel-
bau der Kirche tatsächlich auf eine Ignoranz gegenüber
lung wird das Grabmal Ottos als dreidimensionales Objekt
der kaiserlichen Tradition des Ortes geschlossen werden?
körperlich begreifbar, beansprucht dadurch in erhöhtem
Oder gab es auch andere Möglichkeiten, diese Tradition
Maße Raum im Chor und gewinnt somit sichtbar an Prä-
architektonisch zum Ausdruck zu bringen? Wie wurde
senz. Auf dieselbe Weise wurde wahrscheinlich auch der
diese Thematik in der Forschung bisher gehandhabt?
Sarkophag der Königin Edith im Chorumgang oberirdisch
Die Analyse des Chores ergab, dass die Tradition des
neu inszeniert, so dass die heute dort befindliche spätmit-
Ortes auf vielfältige Weise zum Ausdruck kommt. In die-
telalterliche Tumba die Situation des 13. Jahrhunderts wi-
ser Hinsicht fällt insbesondere die demonstrative Wieder-
derspiegeln würde.
verwendung der antiken Natursteinschäfte aus dem otto-
Die vormals den Blicken entzogenen Reliquienkästen
nischen Dom ins Auge, die im neuen Chor gleichsam auf
aus den Kapitellen des ottonischen Doms kommen in den
Postamenten präsentiert werden.576 Die Zurschaustellung
Nischen offen sichtbar zur Geltung. Die Säulenschäfte
576 Kap. 3.3.1. 577 Kap. 3.3.3.
578 Kap. 3.3.2.
137
3.5 RESÜMEE: DER MAGDEBURGER DOM UND SEINE TRADITION DES ORTES
waren als tragkonstruktive Elemente der Arkaden im ot-
Zwischen den verschiedenen Teilen werden vielfäl-
tonischen Dom zwar präsent, doch hob man die Spolien
tige räumliche Bezüge aufgebaut. So bilden das Grabmal
durch die demonstrative Inszenierung, insbesondere im
Ottos, der Hochaltar und das Grabmal Ediths das Rück-
Chorhaupt, stärker hervor. Die Deutlichkeit, mit der die
grat der Kirche, indem sie gemeinsam auf der Mittelachse
authentische Materie des alten Doms im neuen Chor prä-
der Kirche postiert wurden. Auf der Querachse wird das
sentiert wird, grenzt dabei an Plakativität. Dem Anschein
Kaisergrab hingegen von zwei Spolien flankiert, welche
nach versuchte man das durch die Achsrotation des Neu-
den Sarkophag gestalterisch hervorheben. Die räumliche
baus bedingte Fehlen alter Gebäudeteile zu kompensie-
Bezugnahme der Spolien auf das Grabmal scheint auf
ren, indem man repräsentative Elemente des alten Doms
die historischen Zusammenhänge zu rekurrieren. Ganz
in besonders auffälliger Form in den neuen Bau integ-
ähnlich wirkt der räumliche Bezug der alten Reliquien zu
rierte. Gerade weil es sich um einen kompletten Neubau
den antikisierenden Kapitellen, welche gemeinsam eine
handelte, mussten die authentischen Elemente des Doms
horizontale Zone bilden, so als sollte bildlich auf den ur-
im neuen Kontext umso deutlicher zur Geltung kommen.
sprünglichen Zusammenhang angespielt werden.
Die materiellen Bezüge zur imperialen Tradition be-
Vertikal band man die Spolien des ottonischen Doms
schränken sich jedoch nicht auf die Präsentation authen-
in komposite Stützstrukturen ein, welche das primäre Trag-
tischer Objekte des Vorgängerdoms, sondern sollten auch
gerüst des Chores bilden, so dass die Spolien zur Festigkeit
durch die Imitation alter Formen hergestellt werden.
In
der Kirche beizutragen scheinen, was angesichts dessen,
erster Linie fallen diesbezüglich die neu gefertigten Kapi-
dass die Tragstruktur nicht den tatsächlichen Kräfteverlauf
telle der Spolien auf, welche die römisch-antike Komposit-
widerspiegelt, in erster Linie symbolisch zu verstehen ist.580
579
ordnung imitieren und auf diese Weise die geographische
Überhaupt muss die Gestalt des Magdeburger Dom-
und historische Herkunft der Schäfte kennzeichnen. Die
chores stärker ganzheitlich gesehen werden, als es in der
derartige Konstruktion der Säulen macht ersichtlich, dass
Literatur bisher zumeist geschah. Stilistische Differenzen,
zwischen authentischen Teilen des ottonischen Doms
insbesondere zwischen Chorumgang und -empore, veran-
und retrospektiven Formimitaten ein direkter Zusammen-
lassten die Autoren ganz im Gegenteil zu einer stark iso-
hang besteht.
lierten Betrachtung einzelner Kompartimente, die eine
Des Weiteren lässt sich eine Häufung antikisierender
ästhetische Abwertung der Architektur zur Folge hatte,
Formen im Zusammenhang mit dem Bischofsgang beob-
wie sie in Richard Hamanns Charakterisierung als »Rum-
achten, wo an signifikanten Stellen neben antikisierenden
pelkammer«581 unmissverständlich zum Ausdruck kommt.
Kapitellen auch Friese aus Akanthusblättern zum Einsatz
Die ganzheitliche Analyse der gestalterischen Systematik
kamen, die möglicherweise Dekorformen des ottonischen
ergab jedoch zahlreiche Anhaltspunkte, die auf eine be-
Baus unmittelbar aufgreifen. Die kannelierten Pfeiler der
wusst geplante ästhetische Dialektik der beiden Räume
Doppelarkaden zum Chorhaupt hin gestaltete man wiede-
hinweisen. Diese definiert das Neue vor der Folie des Alten
rum in der Form von Pfeilern des 11. Jahrhunderts, wobei
und umgekehrt.582 Zugleich lässt sich der stilistisch älter
einige Indizien darauf hinweisen, dass man sich hierbei
wirkende Chorumgang als Erinnerungsform an die aufge-
an den Pfeilern der aufgegebenen Krypta orientierte. Es
gebene Krypta interpretieren. Die getroffene Aussage be-
wäre möglich, dass man jene Pfeiler im 13. Jahrhundert
züglich einer übergreifenden Planung der Chorgestalt ne-
ebenfalls als antike Formen auffasste, worauf neben den
giert freilich nicht, dass es einzelne Bauabschnitte gab und
Kanneluren vor allem die ähnlich gestalteten Wandpfeiler
sogar Planwechsel im Bauverlauf erfolgten. Im Gegensatz
in den Stützstrukturen des Langchores hinweisen, welche
zu früheren Auffassungen gingen solche Änderungen im
an antike Pilaster erinnern. Die bewusste Imitation alten
Bauverlauf nicht mit einem Stilwechsel einher, welcher die
Formenvokabulars belegt, dass die Bildhauer des 13. Jahr-
jeweilige architektonische Mode widerspiegelt. Vielmehr
hunderts verschiedene Kapitellstile kannten und planvoll
handelte es sich um Modifikationen, bei denen das ganz-
einsetzten, so dass die stilistischen Unterschiede im Chor
heitliche Bild weiterhin Berücksichtigung fand.
nicht allein auf eine stilgeschichtliche Entwicklung zu-
Trotz oder, treffender formuliert, gerade wegen des
rückgeführt werden können.
mit der Neuausrichtung verbundenen Verzichts auf die
579 Kap. 3.3.4. 580 Kap. 3.3.5.
581 Hamann 1909, S. 255. 582 Kap. 3.3.6.
138
3 DER DOM ZU MAGDEBURG
Bewahrung alter Bausubstanz in situ weist der Chor des
Mittelpunkt der Kirche bilden die beiden vermutlich erst
Magdeburger Doms also eine Vielzahl von Bezügen zur
im 13. Jahrhundert getrennten Grabmäler zwei Epizent-
Tradition des Ortes auf, die nicht isoliert präsentiert, son-
ren der Erinnerung an die hochadligen Gründer. Auf der
dern in ein komplexes System wechselseitiger Beziehun-
einen Seite markiert das Edithgrabmal, ähnlich einem
gen eingebettet und damit als Bestandteile einer übergrei-
Heiligengrab, möglicherweise die originale Grabstelle des
fenden Ordnung dargestellt werden.
Herrscherpaares, welche eine Tradition des Ortes konsti-
Angesichts dieses Ergebnisses stellt sich die Frage,
tuierte, die, falls die These zutrifft, sogar die Neuausrich-
warum der Dom eigentlich neu ausgerichtet wurde. Zu-
tung der Kirche verursacht hätte. Auf der anderen Seite
nächst einmal kann festgehalten werden, dass die Achse
rückte man das Grab des Imperators durch die Neuplat-
des alten Doms nicht, wie häufig behauptet, verschoben,
zierung mitten im Chor mehr in den Blickpunkt, so dass
sondern gedreht wurde, so dass der räumliche Bezug zum
die Erinnerung an die Fundatoren in stärkerem Maße auf
Ort stärker gewahrt blieb, als es die Forschung bisher an-
die Person Ottos fokussiert wurde.
Umso mehr stellt sich die Frage nach dem
Dementsprechend verweist die Gestaltung des neuen
Grund der Drehung. Eine definitive Antwort kann nach
Chores in auffälliger Weise auf die imperiale Tradition
derzeitigem Forschungsstand zwar nicht gegeben werden,
des Doms, indem beispielsweise die antiken Spolien des
jedoch weisen mehrere Indizien und Argumente darauf
Vorgängerbaus demonstrativ zur Schau gestellt wurden.
erkannte.
583
hin, dass das Grabmal der Königin Edith als Referenz-
Wie im 10. Jahrhundert ließen sich die Säulen auch im
punkt der Neuausrichtung diente. Man wollte das Grab
Neubau des 13. Jahrhunderts als Zeichen des römischen
anscheinend neu auf der Mittelachse der Kirche positio-
Kaisertums verstehen. Auch in diesem Punkt erleich-
nieren, ohne es tatsächlich zu verlegen, so wie es vergleich-
terte man dem Betrachter den semantischen Zugang zum
bar für die Marburger Elisabethkirche belegt ist.584 Ließe
Kirchengebäude: Zum einen stellte man mittels der rah-
sich diese These weiter erhärten, wäre die Neuausrichtung
menden Spolien einen sichtbaren räumlichen Bezug zum
der Kathedrale kein Zeichen der Ignoranz gegenüber der
Kaisersarkophag her, zum anderen lieferte man durch die
Tradition, sondern würde ganz im Gegenteil aus der Tra-
Verwendung der originalen antiken Marmorgrabplatte
dition resultieren. Dabei wäre es sogar zweitrangig, ob die
einen materialikonologischen Schlüssel zum Verständ-
Königin bereits von Beginn an dort ruhte oder in früherer
nis der antiken Natursteinsäulen, nach mittelalterlichen
Zeit dorthin verlegt wurde. Entscheidend wäre die Situa-
Begriffen allesamt Marmor. Während die Säulen also im
tion, die man Anfang des 13. Jahrhunderts vorfand, und
10. Jahrhundert vordergründig als Zeichen des römischen
welche Überlieferung zum Grabort tradiert wurde.
Kaisertums fungierten, dienten sie im 13. Jahrhundert im ganzheitlichen Kontext betrachtet offensichtlich pri-
3.5.2 Interpretation der Ergebnisse
mär dem Zweck, die Kirche als kaiserliche Gründung und Grabeskirche kenntlich zu machen und somit die imperi-
Die Untersuchung des Magdeburger Domchores offenbart
ale Tradition des Magdeburger Doms ins Bewusstsein zu
demnach eine Fülle von Bezügen zur Tradition des Doms.
rücken.585 Die ursprüngliche Sinnschicht blieb auf diese
Die planvolle Einbindung der Teile in ein vielfältiges und
Weise zwar erhalten, wurde jedoch von einer neuen über-
vielschichtiges Geflecht von wechselseitigen Beziehungen
lagert und kam fortan nur implizit zur Geltung.
belegt, dass die Verbildlichung der Tradition einem über-
In diesem Kontext können auch die Imitationen anti-
greifenden Konzept folgt, so dass bewusst und gewollt an
ker Formen interpretiert werden. Versteht man die antiki-
die Vergangenheit erinnert wird.
sierenden Formen analog zu den antiken Säulen als Sym-
Dafür spricht insbesondere die Neuinszenierung der
bole des römischen Kaisertums, dann wird klar, dass die
Fundatorengräber, welche im Neubau räumlich, gestal-
Imitate nicht auf die Antike selbst rekurrieren, sondern
terisch und liturgisch stärker in den Mittelpunkt des Ge-
wiederum auf die eigene Geschichte der Bischofskirche
schehens rückten, was auch im übertragenen Sinne aufge-
als kaiserlichem Dom. Dies erscheint umso plausibler,
fasst werden muss. Neben dem Hochaltar als spirituellem
als es Hinweise darauf gibt, dass die Akanthusfriese oder
583 Kap. 3.4.1 und 3.4.2. 584 Kap. 3.4.4. 585 »Kaiserlich« fasst nach dem mittelalterlichen Verständnis immer
auch Edith mit ein, die in Magdeburg, nach heutigem Verständnis unkorrekt, als Kaiserin verehrt wurde.
139
3.5 RESÜMEE: DER MAGDEBURGER DOM UND SEINE TRADITION DES ORTES
die kannelierten Pfeiler Elemente der Vorgängerkirche
regis)591 gewährt bekam und einige Jahre später zusätzlich
zum Vorbild nahmen. Bei den antikisierenden Kapitellen
unter päpstlichen Schutz (mundiburdium Romanum)592 ge-
der authentisch antiken Schäfte ist der Zusammenhang
stellt wurde, so dass es auf Augenhöhe mit den führenden,
zwischen Antikenimitat und antiker Originalsubstanz
etablierten Reichsklöstern rangierte.593
schließlich eindeutig und unzweifelhaft. An dieser Stelle sei noch einmal darauf hingewiesen,
Es liegt auf der Hand, dass Kaiser Otto bei der Aufwertung des Klosters zum Erzbischofssitz das bisherige
dass sich jeder der angeführten Punkte auch anders deu-
Anspruchsniveau seiner Fundation zu übertreffen suchte.
ten lässt. Es ist die Gesamtheit der Argumente, die eine
Zwar wurde die Magdeburger Kirche mit der Konstituie-
massive Bezugnahme auf die Tradition des Ortes als ganz-
rung des Erzbistums an sich bereits nobilitiert, als jüngste
heitliches Phänomen erkennen lässt.
der sechs deutschen Metropolen hätte das Erzbistum je-
Es stellt sich folglich die Frage, welches Interesse Erz-
doch in der erzbischöflichen Hierarchie den letzten Platz
bischof und Domkapitel als Entscheidungsträger daran
eingenommen. Insofern gewährte Papst Johannes XIII.
hegten, die kaiserliche Vergangenheit der Bischofskirche
Magdeburg zur Gründung des Erzbistums eine besondere
im Neubau so deutlich sichtbar zu machen.
Aufwertung, indem er das geringe Alter des Erzbistums
Eine plausible Antwort liefern die besonderen Privile-
als rangminderndes Kriterium ausschloss und Magdeburg
gien und Rechte, welche aus der kaiserlichen Gründung
stattdessen eine Gleichrangigkeit mit den altehrwürdigen
des Doms resultierten und eine elitäre Stellung des Mag-
Metropolen im Reich einräumte.594 Die außergewöhnliche
deburger Domklerus definierten. Magdeburg stand früh
Bevorzugung der Neugründung wäre ohne die Fürsprache
in enger Beziehung zum sächsischen Königshaus. Der
des mächtigen Kaisers, der seine Gründung auf einem
junge, als Thronfolger prädestinierte Otto überreichte die-
ihm angemessenem Niveau implementieren wollte, sicher
sen Ort seiner frischangetrauten Gemahlin Edith als Mor-
nicht zu erklären.
gengabe,586 als Geschenk des Bräutigams an seine Baut, so
In den Urkundenbüchern existiert sogar ein päpstli-
dass Königin Edith 930 zur eigentlichen Stadtherrin von
ches Privileg, nach welchem dem Erzbischof in der Zeit
Magdeburg erhoben wurde. Mit ihrem Tod 946 vermachte
Ottos des Großen der Primat über Germanien eingeräumt
sie Magdeburg anscheinend dem gemeinsam mit Otto
wurde und das ihn ausdrücklich auf Augenhöhe mit den
fundierten Moritzkloster, wo sie ihre letzte Ruhestätte
führenden Kathedren in Mainz, Trier und Köln hob, wel-
fand und ihre Memoria gepflegt werden sollte.587 Auf jeden
che demzufolge Gallien zuzurechnen wären.595 Für das erz-
Fall gewährte Otto dem Kloster in der Folge weitere stadt-
bischöfliche Anspruchsdenken im 13. Jahrhundert spielt
herrliche Rechte, wie Markt, Münze, Zoll und Gerichts-
es dabei weder eine Rolle, dass es sich bei dem Primatspri-
barkeit über die Kaufleute.588 Mit der Instituierung des
vileg wahrscheinlich um eine Fälschung vom Ende des
Erzbistums gingen die Rechte und Privilegien des Klosters
10. Jahrhunderts handelt,596 noch dass sich der Primats-
auf die Nachfolgeinstitution über. Folglich bestätigte der
anspruch in der politischen Realität der Folgezeit nicht
Kaiser 973 dem neuen Erzbistum den Besitz der civitas.589
durchsetzen ließ.597 Der Magdeburger Erzbischof verstand
Die Erzbischöfe standen demnach als Magdeburger Stadt-
sich als Primas von Germanien und stützte dieses Vor-
herren in der Rechtsnachfolge Königin Ediths, wie noch
recht auf die Autorität Otto des Großen.
Erzbischof Ernst 1483 betonte.590
Des Weiteren griff man mittels der Verwendung der
Des Weiteren stattete das Königspaar das Moritzklos-
antiken Spolien im Magdeburger Dom die Architektur der
ter mit besonderen Privilegien aus, indem es schon bei der
bedeutenden frühchristlichen Basiliken in Rom auf, was
Gründung Immunität und Königsschutz (mundiburdium
wiederum programmatisch zu verstehen sein dürfte. So
586 Dies geht aus der Gründungsurkunde des Moritzklosters hervor (UBM 1). 587 Wahrscheinlich war dies von vornherein geplant, denn das Kloster erhielt bereits bei der Gründung Königsgüter in Magdeburg (UBM 1, 2). Walter Schlesinger interpretiert die Quellen dahingehend, dass sich auch die Königspfalz unter den Schenkungen befunden haben soll (Ders. 1968, S. 3). Seit der Neubewertung der Ausgrabungen Nickels (Kap. 3.2) bleiben Gestalt und Lage dieser einstmals bedeutsamen Pfalz leider ungewiss, ebenso ob räumliche Beziehungen zum ebenfalls kaum erforschten erzbischöflichen Palast nördlich des heutigen Doms bestanden. 588 Claude 1972, S. 46.
589 Ebd. 590 Kroos 1989, S. 90 und Fußnote 52. 591 UBM 1. 592 UBM 5. 593 Claude 1972, S. 44f. 594 Beumann 2000, S. 174; Claude 1972, S. 113. 595 Beumann 2000, S. 170–191; Claude 1972, S. 196f. – Vgl. den Primatsanspruch des Trierer Erzbischofs (Kap. 2.5.2). 596 Ebd. 597 Claude spricht für die zweite Hälfte des 11. Jahrhunderts gar von einer »Provinzialisierung« des Magdeburger Erzbistums (Ders. 1972, S. 322).
140
3 DER DOM ZU MAGDEBURG
3.31 Dom zu Magdeburg, Putzritzzeichnung im Kreuzgang, Kaiser Otto der Große zwischen seinen Frauen Adelheid und Edith, Mitte 13. Jh., historische Fotografie von 1891 (Puhle 2009, Bd. 2, S. 215) wie der Kaiser die Autorität römischer Imperatoren bean-
Beziehung als Zeichen der Erinnerung an die damit ver-
spruchte, so sollte der hohe Rang der von ihm gegründeten
bundenen Privilegien des Magdeburger Erzbistums ver-
Bischofskirche durch die Angleichung an die altehrwürdi-
stehen, mit welcher die Erzbischöfe des 13. Jahrhunderts
gen Basiliken Roms zum Ausdruck kommen. Die ange-
ihren Machtanspruch legitimieren wollten.
strebte Rom-Angleichung Magdeburgs äußert sich auch
Diese primär aus architektonischen Zusammenhän-
und vor allem in den außergewöhnlichen Privilegien, die
gen hergeleitete machtpolitische Interpretation wird von
dem Erzbistum einige Jahre nach dem Tod Ottos I. von
einer Bildquelle des 13. Jahrhunderts unterstützt. Es han-
Papst Benedikt VII. verliehen wurden. Der Magdeburger
delt sich um eine heute nur noch fragmentarisch erhal-
Erzbischof erhielt das Recht, das Magdeburger Domkapi-
tene Reliefreihe, die sich am östlichen Kreuzgangflügel
tel in der Art des römischen Kardinalskollegiums zu orga-
des Doms befindet (Abb. 3.31).599 Die im Zusammenhang
nisieren, dessen Mitglieder die Messe am Mauritiusaltar
mit dem neuen Dombau entstandenen Zeichnungen zei-
auf römische Weise zelebrieren durften.598
gen in zwei chronologischen, an Genealogien erinnernden
Rang und Rechte der Magdeburger Erzbischofskirche
Reihenfolgen die ersten 19 Magdeburger Erzbischöfe bis
resultierten also in erster Linie direkt oder indirekt aus
hin zu Burchard I., dem Nachfolger Albrechts von Käfern-
dem Wirken Königin Ediths und Kaiser Ottos. Die vielfäl-
burg. Beide Reihen nehmen von der Mitte aus ihren An-
tigen Verweise auf die königlich-kaiserliche Tradition des
fang, wo Otto der Große mit seinen beiden Frauen thront.
Ortes im Dom des 13. Jahrhunderts lassen sich in dieser
Der offensichtliche bildliche Zusammenhang zwischen
598 Beumann 2000; Claude 1972, S. 146f. 599 Hierzu weiterführend: Waschbüsch 2012; Puhle 2009, Bd. 2, S. 214–216 (mit Literaturangaben); Klamt 1989; Sciurie 1983.
141
3.5 RESÜMEE: DER MAGDEBURGER DOM UND SEINE TRADITION DES ORTES
dem Kaiser und den Magdeburger Erzbischöfen bringt das
wurde komplett erneuert, die Institution Magdeburger
historisch legitimierte Selbstverständnis der Amtsinhaber
Kirche jedoch unverändert fortgeführt.
des 13. Jahrhunderts ebenso wie den hieraus abzuleitenden Anspruch zum Ausdruck.600
3.5.3 Einordnung in den historischen Kontext
Aus dieser Perspektive erschließt sich auch die Häufung antikisierender Architekturformen am Bischofsgang.
Schließlich stellt sich die Frage nach den Beweggründen,
Im Kontext der antikisierenden oder gar authentisch an-
welche Erzbischof Albrecht und den Domklerus dazu
tiken Artefakte im Chor lassen sich die Antikenimitate
veranlassten, zu Beginn des 13. Jahrhunderts eine umfas-
des Bischofsgangs analog als Symbole des römischen Kai-
sende Erneuerung der Magdeburger Bischofskirche vorzu-
sertums verstehen, welche der Erinnerung an die imperi-
nehmen. Zur Beantwortung müssen die Bauarbeiten im
ale Geschichte der Kirche dienten. Obgleich hinsichtlich
historischen Kontext situiert werden.
der Funktion der Chorempore noch Forschungsbedarf
Zunächst lässt sich diesbezüglich die allgemeine Kon-
besteht, weist die tradierte Bezeichnung »Bischofsgang«
kurrenzsituation zwischen den kirchlichen Herrschern an-
darauf hin, dass der Raum in besonderer Verbindung mit
führen, die sich in den repräsentativen Bauprojekten der
dem Magdeburger Metropoliten zu sehen ist, wofür auch
Bischöfe und Erzbischöfe spiegelt. An vielen deutschen
die ehemalige direkte Verbindung von der Empore zum
Kathedralen waren zu Beginn des 13. Jahrhunderts groß-
Bischofspalast spricht. Insofern stellt die Akkumulation
angelegte Umbaukampagnen im Gange, wie beispiels-
antikisierender Formen am Bischofsgang eine sichtbare
weise in Mainz, Trier, Straßburg oder Basel.601 Auch im be-
Verbindung zwischen erzbischöflicher Gegenwart und
nachbarten Frankreich setzte Mitte des 12. Jahrhunderts
kaiserlicher Tradition her, die wiederum das auf die Ver-
eine Entwicklung architektonischer Erneuerung ein, die
gangenheit gestützte Selbstverständnis und Anspruchs-
zu großangelegten Kathedralbauprojekten z. B. in Laon,
denken der Amtsinhaber des 13. Jahrhunderts zum Aus-
Paris oder Chartres führte. Mit dem Magdeburger Stadt-
druck bringt.
brand von 1207 ergriff Albrecht von Käfernburg anschei-
Aus der Perspektive der kirchenfürstlichen Reprä-
nend die günstige Gelegenheit, seine Kathedrale ebenfalls
sentation lässt sich schließlich auch der scheinbare Wi-
umfassend zu erneuern, obgleich dafür baulicherseits
derspruch zwischen komplettem Neubau einerseits und
keine Notwendigkeit bestand.602 Um dem Anspruch eines
Vergegenwärtigung der Geschichte im Medium der Archi-
Primas von Germanien, dem Anspruch also auf eine pri-
tektur andererseits auflösen. Der Neubau der Kathedrale
vilegierte Stellung innerhalb der deutschen Metropoliten,
und die vielfältigen Bezugnahmen auf die Tradition des
gerecht zu werden, durfte die bauliche Gestalt des erzbi-
Ortes lassen sich im Gegenteil als zwei Seiten einer über-
schöflichen Sitzes wohl nicht allzu sehr hinter die moder-
geordneten Konzeption verstehen, welche den Machtan-
nisierten Bauwerke anderer kirchlicher Fürsten zurückfal-
spruch des Magdeburger Domklerus im Allgemeinen und
len. Weil die Autorität der Magdeburger Kirche jedoch im
des Erzbischofs im Besonderen repräsentativ zur Geltung
Wesentlichen auf der königlich-kaiserlichen Gründungs
bringen sollte. Auf der einen Seite ermöglichte ein Neu-
tradition basierte, musste die symbolische Kraft des aufge-
bau aufgrund des fortgeschrittenen technisch-konstrukti-
gebenen authentischen Vorgängerbaus notwendigerweise
ven Wissens die Steigerung der Dimensionen der Kirche,
mittels einer umfassenden Strategie zur Visualisierung der
insbesondere in der Höhe, und eine Anpassung an ästhe-
Tradition des Ortes kompensiert werden.
tische und funktionale Standards des 13. Jahrhunderts, so
Die erzbischöfliche Machtdemonstration diente zu-
dass der neue Dom größer und prächtiger erbaut werden
dem als Zeichen gegenüber der aufstrebenden Bürger-
konnte als sein Vorgänger. Auf der anderen Seite versinn-
schaft Magdeburgs, welche bereits im 12. Jahrhundert
bildlichen die vielfältigen Verweise auf die Tradition des
vermehrt Rechte erstritt und Anfang des 13. Jahrhun-
Ortes, dass mit dem Neubau keine Tabula rasa angestrebt
derts zunehmend die Partizipation an der kommunalen
wurde, sondern das Alte im Neuen fortgeführt wurde,
Macht des Erzbischofs anstrebte.603 Während die Größe
auch weil das Alte die Autorität des Neuen überhaupt erst
der erneuerten Kathedrale den Bürgern die gegenwärtige
legitimierte. Die materielle Hülle der Magdeburger Kirche
Macht der Erzbischöfe vor Augen führte, rief der Verweis
600 Waschbüsch 2012 (S. 317–320) und Sciurie 1983 interpretieren die Bilder ebenfalls in dieser Hinsicht. 601 Vgl. Klein 2012, S. 181f. – Zu Trier s. Kap. 2.4.
602 Kap. 3.1. 603 Dazu grundlegend, trotz klassenkämpferischen Vokabulars: Uitz 1976.
142
3 DER DOM ZU MAGDEBURG
auf die Tradition des Ortes in Erinnerung, dass die Erz-
schichte, so dass das Erzbistum »auf seine regionale Rolle
bischöfe als Stadtherren in der Rechtsnachfolge Königin
zurückgeworfen«610 wurde. Der Neubau der Kathedrale
Ediths standen. Noch 1483 berief sich Erzbischof Ernst,
setzte somit auch gegenüber den benachbarten Territori-
welcher seine Stellung gegen die kontinuierlich gewach-
alherren ein Zeichen, dessen Traditionsbezüge an die kai-
sene Macht der Magdeburger Bürgerschaft zu behaupten
serliche Autorität erinnerten, auf welche die Magdeburger
versuchte, in einer Urkunde auf diese historische Legiti-
Erzbischöfe ihren Machtanspruch stützten.
mation.604 Sicherlich nicht zufällig fand der Neubau der
Der Frontenwechsel Erzbischof Albrechts II. 1212
Grabtumba Königin Ediths 1510 in der Amtszeit dieses
war indes noch von reichspolitischer Tragweite, denn er
Metropoliten statt (vgl. Abb. 3.15),605 denn in der Neuin-
zog das Magdeburger Erzbistum tief in die kriegerischen
szenierung des Edithgrabes schwang auch die Erinnerung
Auseinandersetzungen im Thronstreit zwischen Otto IV.
an die stadtherrlichen Rechte des Erzbischofs mit. In die-
und Friedrich II. hinein.611 Der welfische Kaiser reagierte
sen Kontext fügt sich auch eine Kasel ein, von der man im
umgehend auf die neue Situation, indem er mehrere ver-
13. Jahrhundert behauptete, sie wäre aus der Tunika der
heerende Kriegszüge gegen das territorial isolierte Mag-
Königin gefertigt worden.606 Ein Domkleriker, der in ei-
deburger Erzbistum unternahm, welche jenes in eine
nem derartigen Gewand die Messe zelebrierte, entsprach
existenzbedrohende Krise stürzten. Obgleich die schwer-
dem Konzept der visuellen Traditionsvergegenwärtigung,
wiegende Niederlage Ottos 1214 gegen den französischen
das beim Neubau des 13. Jahrhunderts, wie zuvor darge-
König bei Bouvines, welche den Thronstreit zu Gunsten
legt, an vielen Stellen zum Tragen kam.607
Friedrichs II. entschied, für eine Entlastung sorgte, war
Auf der landesherrlichen Ebene galt die Demons tration des erzbischöflichen Machtanspruchs hingegen
die Gefahr für den Magdeburger Bischofsstuhl erst mit dem Tod Ottos IV. 1218 ganz gebannt.
den angrenzenden weltlichen Territorialherren, welche
Es stellt sich nun die Frage, ob diese existentielle
den regionalen Einfluss des Magdeburger Erzbischofs im
Bedrohung für das Erzbistum die noch junge Dombau-
13. Jahrhundert zunehmend einengten. Nachdem Erzbi-
kampagne beeinflusste. Die Forschung ist einhellig der
schof Albrecht II. von Käfernburg, der zunächst den welfi-
Meinung, dass die kriegerischen Handlungen eine klare
schen Kaiser Otto IV. unterstützt hatte, 1212 auf Drängen
Zäsur bewirkten, weil die Arbeiten während der Kriegs-
des Papstes die Exkommunikation Ottos verkündete und
jahre 1212–1218 nur noch schleppend vorangingen oder so-
damit offen in das Lager des staufischen Kontrahenten
gar ganz zum Erliegen kamen. Aufgrund der Schwere des
Friedrich II. wechselte, sah sich das Erzbistum von feind-
Konfliktes erscheint diese Annahme plausibel. Die Frage
lichen Nachbarn umringt, namentlich dem Markgrafen
wäre, wie weit die Arbeiten beim Ausbruch der kriegeri-
von Brandenburg, dem Herzog von Sachsen und dem
schen Handlungen 1212 fortgeschritten waren.
Aber auch mit dem stau-
Aufgrund vorangegangener Ausführungen zur gestal-
fischen Parteigänger Markgraf Dietrich von Meißen kam
terischen Dialektik von Chorumgang und Bischofsgang
es zu kriegerischen Konflikten.609 Nach dem Tod Albrechts
halte ich es entgegen herkömmlicher Meinungen für gut
II. bestimmten die territorialen Konflikte, vor allem mit
möglich,612 dass der Chorumgang 1212 bereits zum über-
dem askanischen Brandenburg, die Magdeburgische Ge-
wiegenden Teil fertiggestellt war. Damit wäre der Baufort-
604 Kroos 1989, S. 90 und Fußnote 52. 605 Kap. 3.4.4. 606 Claude 1972, S. 133. 607 Deutliche Parallelen lassen sich insbesondere bei der liturgischen Inszenierung der Krone erkennen, welche der Überlieferung nach Otto selbst gehörte und mit der bei bestimmten Messen das auf dem Kaisersarkophag stehende Reliquiar des Mauritius gekrönt wurde (Kap. 3.3.2). 608 Huschner 2012, S. 165–169; Silberborth 1910, S. 143–146. 609 Silberborth 1910, S. 163–165. 610 Scholz 2009, S. 408. 611 Huschner 2012, S. 164–167; Silberborth 1910, S. 145–169. Der Erzbischof geriet während des Konfliktes zweimal in Gefangenschaft, konnte aber jeweils im letzten Moment befreit werden (Silberborth 1910, S. 151f.; 161f.). – Bernd Ulrich Hucker behandelt die Auseinandersetzungen zwischen Otto und Albrecht in seinem grundlegenden Werk zum welfischen Kaiser leider nur am Rande (Ders. 1990, S. 293, 443).
612 Kap. 3.3.6. – Birte Rogacki-Thiemann nimmt an, dass der Dombau bis 1215 kaum über die Fundamente des Kappellenkranzes hinausgekommen sei (Dies. 2007, S. 65f.). Belege oder Indizien kann sie dafür jedoch nicht anführen, so dass diese Annahme letztlich spekulativ bleibt. Die Gewölbe des Umgangs wären Rogacki-Thiemann zufolge erst in den 1220er Jahren entstanden (Dies. 2007, S. 74). Die späte Datierung stützt sie jedoch allein auf die veralteten stilistischen Datierungen der Kapitellplastik durch Richard Hamann 1909 (Kap. 3.3.6). Ernst Schubert sieht 1212 einen Schnitt, bis zu dem immerhin die kreuzgratgewölbten Scheiteljoche des Umgangschores errichtet worden wären, jedoch ohne die Kapellen, welche er aufgrund ihrer Kreuzrippengewölbe in einen zweiten Bauabschnitt von 1215 bis zum Tod Albrechts II. 1232 datiert (Ders. 1989, S. 32, 36). Für die Unterscheidung der Bauabschnitte argumentiert Schubert demnach auf der Basis eines stilgeschichtlichen Modells, welches ein lineares Nacheinander unterschiedlicher Formen unterstellt. Wie jedoch aufgezeigt werden konnte, lässt sich diese Annahme für den Magdeburger Chor nicht aufrecht erhalten (Kap. 3.3.6). Die
Truchsess von Wolfenbüttel.
608
143
3.5 RESÜMEE: DER MAGDEBURGER DOM UND SEINE TRADITION DES ORTES
schritt in Magdeburg auch mit demjenigen an anderen
Autoritäten vor den obersten weltlichen Autoritäten wäre
Großbaustellen der Zeit vergleichbar, während ein lang-
dann als konkrete Reaktion auf das Vorgehen des welfi-
sameres Fortkommen Magdeburg zu einem erklärungsbe-
schen Kaisers aufzufassen.
dürftigen Sonderfall machen würde.
Angesichts der ungesicherten Datierung des Bauver-
Wie an anderer Stelle thematisiert, 613 modifizierte man
laufs in Magdeburg sei an dieser Stelle noch einmal darauf
den ursprünglichen Entwurf für den Magdeburger Dom,
hingewiesen, dass die vorangegangene Interpretation vor
als die Bauarbeiten für den Chorumgang fast abgeschlos-
dem historischen Hintergrund der kriegerischen Ausein-
sen waren. Vorausgesetzt, die vorgeschlagene Datierung
andersetzungen mit Otto IV. bis zur eindeutigen Klärung
wäre korrekt, erfolgte die Planänderung demzufolge in
der Baudaten eine These bleiben muss. Diese bietet aber
zeitlicher Nähe zu den Angriffen Ottos IV. Wenn 1212 die
den Vorzug, die vorhandenen Indizien plausibel zusam-
Arbeiten am Dom eingestellt wurden, liegt es nahe, die
menzubringen und damit die Befunde in einem sinnvol-
zeitliche Zäsur mit der baulichen Zäsur zusammenzubrin-
len Zusammenhang zu erklären.615
gen. Demzufolge hätte man die Bauarbeiten bei der Wie-
Die Zielsetzung, die Tradition des Ortes beim Neubau
deraufnahme zwischen 1214–1218 mit dem überarbeiteten,
der Kathedrale sichtbar zum Ausdruck zu bringen und auf
heute sichtbaren Plan fortgesetzt (Taf. 3.02). Die explizite,
diese Weise auch an die besonderen Rechte und Privile-
an Plakativität grenzende Demonstration der kaiserlichen
gien der Magdeburger Kirche zu erinnern, wird schließlich
Tradition und Legitimation der Magdeburger Kathedrale
im historischen Kontext verständlich. Der Magdeburger
würde somit vor dem konkreten historischen Hintergrund
Erzbischof musste im 13. Jahrhundert seine Machtposi-
an zusätzlicher Signifikanz gewinnen. Es scheint, als habe
tion in dreifacher Hinsicht behaupten: seinen Rang in der
man die Tradition des Ortes angesichts der existenzbedro-
kirchlichen Hierarchie gegenüber den Erzbischöfen, seine
henden Lage des Bistums noch deutlicher ins Gedächtnis
Legitimation als Magdeburger Stadtherr gegenüber den
rufen wollen. Auch die symbolische Deutung der Trag-
Bürgern und seine Stellung als regionaler Territorialherr
struktur unter dem Aspekt der Ordnung,614 die aus der
gegenüber den angrenzenden Herrschern. Der kriegeri-
Planänderung folgt, bekäme im Kontext des Konfliktes
sche Konflikt mit Kaiser Otto IV. mag dabei als Katalysator
mit Otto IV. eine neue Aussagekraft, denn die Mahnung
gewirkt haben, um die Deutlichkeit des Konzeptes noch
an den Vorrang der himmlischen und damit kirchlichen
einmal zu steigern.
613 614 615
616
unterschiedlichen Gewölbeformen dienen stattdessen der gestalterischen Hierachisierung der Räume. Kap. 3.3.6. Kap. 3.3.5. Die derzeit diskutierte, von Bernd Nicolai vorgeschlagene Vordatierung in die 1220er Jahre steht im Zusammenhang mit dem Erwerb einer Mauritiusreliquie 1220 (s. Kap. 3.3.6). In diesem Fall stellt sich allerdings die Frage, warum die neue Reliquie zu einer demonstrativen Inszenierung des Kaisers geführt haben soll, die Nicolai ebenfalls attestiert. Gerchow 2002, S. 25f.; Bettecken 1988, S. 33; Arens 1908, S. 236. Die moderne Forschung konnte zwar nicht das exakte Jahr, aber den
zeitlichen Rahmen bestätigen (Gerchow 2002; Bettecken 1988, S. 33–42). 617 Kruse 2000, S. 100–107. 618 Diese dynastische Verflechtung geht wahrscheinlich auf den Stiftsgründer Altfrid zurück, der als Hildesheimer Bischof schließlich selbst dem sächsischen Hochadel angehörig gewesen sein dürfte, aus dem rund 70 Jahre später die ottonischen Könige und Kaiser hervorgingen (eine Rekonstruktion der verwandtschaftlichen Verhältnisse versuchte Zimmermann 1956, S. 38–44). Im Nekrolog von St. Godehard in Hildesheim wird Altfrid jedenfalls als »natus dux Westfaliae« tituliert (Arens 1908, S. 233). 619 Zimmermann 1956, S. 218–220.
144
4 DER DOM ZU ESSEN – Die Vergegenwärtigung der Tradition des Ortes in einem privilegierten Damenstift
4.1 Einführende Baugeschichte Der Dom zu Essen (Abb. 4.01, 4.02) wurde vom Hildes-
Entstehung zu Beginn des 10. Jahrhunderts aus.620 Bei
heimer Bischof Altfrid (ep. 851–874) als Münsterkirche
einem grundlegenden Umbau erlangte der Westbau im
eines Damenstifts gegründet; der mittelalterlichen Über-
Wesentlichen seine bekannte heutige Gestalt, die im In-
lieferung nach geschah dies im Jahr 852.616 Die Bedeu-
nenraum partiell die Aachener Pfalzkapelle zitiert (vgl.
tung, welche Altfrid dem Stift beimaß, lässt sich daran
Abb. 4.12). Nach Zimmermann fiel die Neugestaltung
erkennen, dass er das Essener Münster als seine letzte
des Westbaus in die Amtszeit der Äbtissin Theophanu
Ruhestätte wählte und nicht etwa seine Bischofskirche in
(ab. 1039–1058), Enkelin Kaiser Ottos II.621 Lange greift
Hildesheim, welche er in seiner Amtszeit komplett neu er-
hingegen Datierungsansätze des 19. Jahrhunderts wieder
Der Sarkophag des Stiftsgründers, der spä-
auf und geht von einem Neubau unter Äbtissin Mathilde
ter lokal als Heiliger verehrt wurde, befindet sich heute in
II. (ab. 971–1011), Enkelin Kaiser Ottos d. Großen, aus.622
der Krypta des Essener Doms (vgl. Abb. 4.22).
Von der Datierung des Westbaus hängt auch diejenige
richten ließ.
617
Eine Blütezeit erlebte das Stift vom 10. bis in die zweite Hälfte des 11. Jahrhunderts, als Äbtissinnen der
des Langhausumbaus ab, dessen Mauerwerk und Fundamente denjenigen des heutigen Westbaus gleichen.623
Gemeinschaft vorstanden, die eng mit dem ottonischen
Unstrittig ist demgegenüber, dass unter Äbtissin
Kaiserhaus verwandt waren.618 In dieser Epoche erfolgten
Theophanu die Krypta in ihrer heutigen Form entstand
grundlegende An- und Umbauten, welche die Gestalt der
(vgl. Abb. 4.08), denn deren Weihe 1051 ist inschriftlich
Kirche bis heute prägen. So erweiterte man die Kirche im
bezeugt.624 Neben der Erneuerung einer älteren Außen-
10. Jahrhundert nach Westen um einen stattlichen West-
krypta erfolgte die Neuanlage einer Innenkrypta anstelle
bau (Taf. 4.01, vgl. Abb. 4.11), der meist im Zentrum der
der altfridischen Apsis, die zwangsläufig einen Umbau der
kunsthistorischen Beschäftigung mit dem Essener Dom
Ostteile nach sich zog. Den Umbau des Chores bestätigt
stand und dessen genauere Datierung in der Forschung
ein Hinweis auf die Weihe des Hochaltars 1054.625 Zim-
derzeit wieder diskutiert wird.
mermann sah den Umbau der Ostteile im Zusammenhang
Während Walther Zimmermann, dessen Monogra-
mit den Baumaßnahmen am Westbau und im Langhaus,
phie von 1956 nach wie vor die Grundlage für die Beschäf-
so dass er von einem umfassenden Umbau unter Äbtissin
tigung mit der Kirche bildet, die Errichtung des Westbaus
Theophanu zur Mitte des 11. Jahrhunderts ausging, wozu
in die Mitte des 10. Jahrhunderts datierte,619 sprach sich
auch eine Quelle vom Ende des 11. Jahrhunderts passt,
Klaus Lange in jüngerer Zeit stattdessen für eine frühere
der zufolge Theophanu das Essener Münster »von den
620 Lange 2002, S. 46–51; Ders. 2001, S. 17–22. 621 Zimmermann 1956, S. 227–235, 264f. 622 Die stilkritischen Argumente Langes (Ders. 2002, S. 51–54; Ders. 2001, S. 23–48) folgen im Wesentlichen Humann 1890. Als »aussagekräftiges Vergleichsbeispiel für die Formensprache des Westbaus« (Lange 2001, S. 42) nennt Lange die Theophanu-Krypta, deren Stil er ein halbes Jahrhundert später ansetzt (Ebd., S. 42–48) und daraus auf die frühere Entstehung des Westbaus schließt. Dieser Einschätzung widerspricht Lange selbst, indem er in einem späteren Aufsatz den Stil der Theophanu-Krypta als »ausgesprochen ottonisch« (Lange 2003, S. 168) und als Rückgriff auf »ältere Vorbilder« (Ebd., S. 168) bezeichnet, um die Krypta entgegen der Inschrift als »Memorialbau für Äbtissin Mathilde« (Ebd., S. 168) zu
deuten. Methodisch äußerst fragwürdig ist Langes Ansatz, seine stilgeschichtlichen Überlegungen mit einer ikonologischen Interpretation des Westbaus bestätigen zu wollen (Ders. 2001, S. 49–63), indem er überlegt, in welche Zeit sich die von ihm selbst vorgeschlagene Deutung am besten einfügen würde (Ebd., S. 64–74). Darüber hinaus unterliegt er auch noch einem Zirkelschluss und nutzt die Datierung wiederum als Argument für die Interpretation des Bauteils (Ebd., S. 94). Dennoch bleibt die Datierung des Westbaus derzeit unklar: Es gibt jeweils Argumente für und gegen eine Erbauung sowohl unter Mathilde als auch unter Theophanu. 623 Zimmermann 1956, S. 78. 624 Abdruck der Inschrift bei Zimmermann 1956, S. 250f. 625 Pothmann 1985, S. 28.
4.1 EINFÜHRENDE BAUGESCHICHTE
4.01 Dom zu Essen, Ansicht von Süden (Hauke Horn, 2012)
4.02 Dom zu Essen, Grundriss mit Eintragung der Bauphasen (Zimmermann 1956, Taf. XIV)
145
146
4 DER DOM ZU ESSEN
Fundamenten ab neu errichtet und bewundernswert er-
tische Gestalt weitgehend erhalten blieb, was ein Grund
weitert«
dafür sein mag, dass die nachmittelalterlichen Baumaß-
626
hat.
In der Folgezeit findet eine größere Baumaßnahme
nahmen nur rudimentär erforscht wurden.629
wieder im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts statt, als die
Zur Mitte des 15. Jahrhunderts kam es nach einem
Ostteile mit Kreuzgratgewölben versehen wurden.627 Zu ei-
Brand zum Wiederaufbau der Gewölbe in der Vierung und
nem großangelegten Umbau kommt es schließlich in den
den nördlichen Seitenschiffen,630 die sich in bemerkens-
Jahrzehnten um 1300 unter den Äbtissinnen Berta von
wert zurückhaltender Weise in den Bestand einfügen. 1803
Arnsberg (ab. vor 1143–1292) und Beatrix von Holte (ab.
wurde das Essener Damenstift aufgelöst und das Münster
1292–1327), als die im Langhaus noch flachgedeckte, otto-
in eine Pfarrkirche umgewandelt.631 Im 19. Jahrhundert
nische Basilika in eine gotische Hallenkirche mit Kreuz-
folgten drei mehrjährige Restaurierungskampagnen, die
rippengewölben transformiert wurde (Taf. 4.02).628 Dabei
zu zahlreichen, oft historisierenden Veränderungen im De-
erweiterte man den Chor über die alte Außenkrypta hin-
tail führten,632 vor allem am Westbau.633 Schwere Beschädi-
weg zu einem dreischiffigen, rechteckigen Hallenchor, an-
gungen im Zweiten Weltkrieg führten zu einem langjähri-
scheinend dem frühesten im deutschen Raum.
gen Wiederaufbau,634 der rechtzeitig abgeschlossen werden
In den folgenden Jahrhunderten wurde das Münster nur partiell umgebaut oder restauriert, wobei die hochgo-
konnte, bevor das ehemalige Münster 1958 zur Bischofskirche des neugegründeten Ruhrbistums erhoben wurde.635
4.2 Räumliche Beziehungen der Kirche zur Tradition des Ortes 4.2.1 Räumliches Verhältnis des spätottonischen Münsters zum altsächsischen Gründungsbau
hundert durch die Errichtung des Westbaus, für den ein
Hinsichtlich des räumlichen Verhältnisses des spätotto-
weichen musste.638 Allerdings erbaute man den Westbau
nischen Münsters aus der Mitte des 11. Jahrhunderts zum
nicht anstelle des Vorbaus, sondern erweiterte stattdessen
sächsischen Gründungsbau aus der Mitte des 9. Jahrhun-
das Langhaus um ein Joch nach Westen und schloss den
derts fällt als Erstes auf,
Die Erweiterung nach Westen erfolgte im 10. Jahrarchäologisch nachgewiesener älterer westlicher Vorbau
dass die Kirche zwar nach Wes-
Westbau erst daran an. Dies ist insofern bemerkenswert,
ten verlängert, die Breite des ursprünglichen Baus aber
als man für die Länge des neuen Westjoches die Länge
beibehalten wurde, obwohl man das Langhaus gänzlich
des ursprünglichen Vorbaus übernahm und somit von
neu errichtete (Abb. 4.03, 4.04).
der im Langhaus üblichen Jochlänge erkennbar abwich.
636
637
626 »E quibus Theophanu, virum se moribus agens, Asnidense monasterium cum universis eius officinis iam partim vetustate collapsis ab ipsis fundamentis novo erigens opere mirabiliter amplificavit; unde et ibidem eius memoria semper in benedictione erit.« (Brauweiler Fundatio (ed. Waitz), S. 130). 627 Zimmermann 1956, S. 268–271. 628 Ein überlieferter Brand 1275 wird in der Literatur gerne als Grund für den Umbau ausgelegt, der infolgedessen kurz darauf begonnen hätte (Zimmermann 1956, S. 52, 272). Den einzigen sicheren Beleg zur zeitlichen Einordnung der gotischen Kampagne liefert eine Nachricht über einen Magister Martin, der als Baumeister fungierte, 1304 aber von seiner Weisungsbefugnis gegenüber den Steinmetzen entbunden wurde (Ebd.). Folglich war das Münster zu diesem Zeitpunkt definitiv im Bau, aber noch nicht vollendet. In der Literatur wird allgemein angenommen, dass der Umbau unter Beatrix von Holte abgeschlossen wurde, also vor 1327 (Lange 2004, S. 89, 104f.; Pothmann 1987, S. 8; Zimmermann 1956, S. 52; Arens 1908, S. 245). 629 Zimmermann 1956 widmet der frühen Neuzeit seiner 77-seitigen Zusammenfassung der Baugeschichte gerade einmal fünf Sätze (S. 282f.) und geht auf das 19. und 20. Jahrhundert gar nicht ein. 630 Zimmermann 1956, S. 54, 274, 280. 631 Pothmann 1987, S. 10; Ders. 1979; Arens 1908, S. 225. 632 Zu den Veränderungen am Westbau publizierte Lange 2001, S. 97–136, einiges an Quellenmaterial, darunter einen Nachdruck von Humann 1890, S. 18f. Auch Zimmermann 1956 geht im Rahmen
633
634 635 636
637
638
seiner Dokumentation des Westbaus fortlaufend auf Veränderungen des 19. Jahrhunderts ein. Hervorzuheben ist, dass die Säulengitter im Innenraum nur unter dem mittleren Bogen noch aus dem Mittelalter stammen, die an den Seiten wurden nach Entfernen der dortigen Orgel nach ihrem Muster rekonstruiert (Humann 1890, S. 19). Außen veränderte man die oberen Teile der Treppentürme und die meisten Fensteröffnungen; auch der Rundbogenfries stammt aus dem 19. Jahrhundert (Zimmermann 1956, S. 154; Humann 1890, S. 18f.). Pothmann 1999; Ders. 1997, S. 41–46. Pothmann 1997, S. 47. Das Adjektiv »spätottonisch« wird hier nicht stilistisch genutzt, sondern historisch, denn zur Mitte des 11. Jahrhunderts leitete mit Theophanu noch ein letztes Mal eine Prinzessin des ottonischen Kaiserhauses das Essener Damenstift. Ebenso macht es Sinn, den Gründungsbau als »sächsisch« zu bezeichnen, denn der Gründer Altfrid entstammte dem sächsischen Adel und eben nicht den fränkischen Karolingern. Nicht entschieden werden kann auf Basis des heutigen Forschungsstandes, ob die Kirche durch den Bau einer Außenkrypta in ottonischer Zeit auch nach Osten verlängert wurde. Während Pothmann und Zimmermann eine Entstehung Mitte des 10. Jahrhunderts annehmen, meint Kubach, dass die erste Außenkrypta auch zu dem sächsischen Gründungsbau gehören könnte (Pothmann 1997, S. 24f.; Ders 1987, S. 6; Kubach 1957, S. 65; Zimmermann 1956, S. 214–218). Zimmermann 1956, S. 208f., Abb. 229.
4.2 RÄUMLICHE BEZIEHUNGEN DER KIRCHE ZUR TRADITION DES ORTES
4.03 Dom zu Essen, Rekonstruktion des Grundrisses nach Gründung der Kirche Mitte des 9. Jh. (Zimmermann 1956, S. 209)
4.04 Dom zu Essen, Rekonstruktion des Grundrisses um die Mitte des 10. Jh. (Zimmermann 1956, S. 215)
147
148
4 DER DOM ZU ESSEN
4.05 Dom zu Essen, Rekonstruktion des Grundrisses Mitte des 11. Jh. (Zimmermann 1956, S. 226)
Auch in der aufgehenden Gestaltung setzte man das neue
Auch bei der umfassenden Neugestaltung des West-
Joch gegenüber dem älteren Bestand deutlich ab, indem
baus zur heutigen Form unter Äbtissin Theophanu oder
man zum Mittelschiff hin Kreuzpfeiler errichtete und an
Mathilde II. (Abb. 4.05), die wohl mit einem Neubau des
den Seitenwänden Mauervorlagen anlegte,639 was darauf
altfridischen Langhauses einherging,640 respektierte man
hindeutet, dass das neue Joch durch Schwibbögen vom
die Umrisse des Gründungsbaus, denn die Seitenschiff-
Langhaus gestalterisch abgetrennt wurde. Damit hätte
mauern wurden anstelle der vormaligen errichtet (vgl.
das westliche Joch vom räumlichen Charakter her quasi
Abb. 4.05). Entgegen Äußerungen in der Literatur nutzte
einem westlichen Querhaus entsprochen.
man nicht die vormaligen Fundamente,641 sondern fun-
Interessanterweise brachte es keinerlei konstruktiven
dierte nach archäologischem Befund komplett neu.642
Nutzen, die Länge des Vorbaus aufzugreifen, denn dessen westliches Spannfundament wurde bei der Anlage der Westbaufundamente abgebrochen und durch ein neues
4.2.2 Räumliches Verhältnis des gotischen Münsters zum spätottonischen Bauwerk
ersetzt. In der Breite musste ohnehin neu fundamentiert das folgende rechteckige Joch. Die räumliche Beziehung
Das Ausmaß der gotischen Baukampagne im Verhältnis zu ihrer Wahrnehmung in der Architekturgeschichte
des westlichen Quasi-Querhauses zum altfridischen Vor-
Um die Relevanz der räumlichen Beziehungen des goti
bau muss demnach bewusst angelegt worden sein.
schen Münsters zum spätottonischen Bauwerk beurtei-
werden, weil der quadratische Vorbau schmaler war als
Auch bei der Breite des Quasi-Querhauses orientierte
len zu können, muss man sich zunächst das Ausmaß
man sich stark am altfridischen Bestand. So legte man die
der gotischen Baumaßnahmen in den Jahrzehnten um
neuen Seitenmauern exakt in der Flucht der bestehenden
1300 und die daraus resultierende neue Gestalt des ehe-
an, obgleich man die Breite hätte frei wählen und somit
maligen Münsters, welche noch das heutige Aussehen
leicht ein echtes Querhaus hätte schaffen können, indem
im Wesentlichen bestimmt, vor Augen führen. Außen
dessen Seitenmauern über das Langhaus hervorgetreten
verleiht der Rhythmus alternierender Strebepfeiler und
wären.
länglicher Spitzbogenfenster, in denen bis ins 18. Jahr-
639 Ebd., Abb. 230, 237. 640 Kap. 4.1.
641 Lange 2002, S. 45; Pothmann 1997, S. 29. 642 Zimmermann 1956, S. 78.
149
4.2 RÄUMLICHE BEZIEHUNGEN DER KIRCHE ZUR TRADITION DES ORTES
hundert hinein Maßwerk saß,643 der Kirche ein gotisches
werk wahrgenommen wird. Im Standardwerk zur goti-
Erscheinungsbild (vgl. Abb. 4.01). Abgesehen vom West-
schen Architektur in Deutschland von Norbert Nussbaum
bau bestimmen also gotische Formen das Äußere der Kir-
findet der Essener Dom bezeichnenderweise keine Beach-
che. Im Innenraum verdichtet sich der gotische Charakter
tung als gotisches Bauwerk, sondern wird als Beispiel ot-
des Münsters, dessen Konzeption als Hallenkirche mit
tonischer Architektur angeführt.644 Dabei hätte insbeson-
Kreuzrippengewölben einem gängigen Typus der deut-
dere der Hallenchor des Essener Doms als wohl frühestes
schen Gotik entspricht (Abb. 4.06, Taf. 4.02). Dementspre-
Beispiel dieses Typs durchaus einen Platz in der gotischen
chend prägen gotische Bauteile und Schmuckformen den
Architekturgeschichte verdient.
Raum, wie die zeittypischen Rundpfeiler im Langhaus Chor mit naturalistischem Blattwerk dekoriert werden
Das Verhältnis des gotischen Grundrisses zum ottonischen
sollten.
Angesichts des beträchtlichen Ausmaßes des gotischen
mit ihren Kelchkapitellen, die wohl wie die Dienste im
Angesichts dieser optischen Dominanz gotischer For-
Umbaus des Essener Münsters überrascht es, dass die go-
men wundert es nicht, dass bei genauer Betrachtung der
tische Kirche hinsichtlich Grundrissgeometrie und -um-
überwiegende Teil des vormaligen spätottonischen Baus
riss nahezu deckungsgleich mit der spätottonischen Kir-
durch gotische Bausubstanz ersetzt wurde. Würde man
che blieb (Taf. 4.03).
den Essener Dom stilistisch einordnen wollen, käme man
Eine Erweiterung erfolgte nur im Osten, wo der Chor-
zu dem Ergebnis, dass es sich in erster Linie um ein go-
bereich über die Außenkrypta hinaus ausgedehnt wurde,
tisches Gebäude handelt. Insofern erstaunt es, dass der
doch auch diese Maßnahme blieb im vorgegebenen Rah-
Essener Dom in der Literatur primär als ottonisches Bau-
men der bestehenden Grundrissgeometrie.
4.06 Dom zu Essen, Querschnitt, Blick nach Westen in den Westbau (Wilhelm-Kästner 1929, S. 22)
643 Lange 2004, Anm. 20. – Im 19. Jahrhundert versuchte man, die Maßwerke zu rekonstruieren (Ebd.). Das neogotische Maßwerk ging im Zweiten Weltkrieg verloren (Pothmann 1997, S. 41).
644 Nussbaum 1985, S. 42.
150
4 DER DOM ZU ESSEN
Die räumlichen Beziehungen der gotischen Kirche
beschränkt. Die Rechteckform des Essener Chores erklärt
zum spätottonischen Zustand gehen allerdings noch wei-
sich aber weder durch Beziehungen nach England noch
ter, denn auch innere Proportionen blieben gewahrt. So
zu den Mönchsorden, sondern geht auf die eigene Tradi-
entspricht die Breite der gotischen Schiffe derjenigen der
tion des Ortes zurück. Beim gotischen Umbau des Essener
ottonischen Basilika und damit derjenigen des altfridi-
Münsters dehnte man nämlich den Chorbereich nach Os-
schen Gründungsbaus. Die neuen, gotischen Rundpfeiler
ten über die alte rechteckige Außenkrypta hinweg aus, so
stehen nämlich exakt in der Flucht der vormaligen basi-
dass der gotische Chor an die Stelle der ottonischen Apsis
likalen Mittelschiffwände, die gemäß archäologischem
und des Kryptaobergeschosses trat (Abb. 4.08). Der Recht-
Befund noch auf den Fundamenten des altsächsischen
eckchor bewegt sich damit exakt in dem Rahmen, den
Gründungsbaus standen.645
die Außenkrypta vorgab, so dass der Umriss der vormaligen Kirche trotz der Erweiterung des Sanktuariums nicht
Das westliche Sonderjoch
überschritten wurde (Taf. 4.03). Zugleich inkorporierte
Sogar das westliche Sonderjoch, das sich im ottonischen
man auf diese Weise das untere Geschoss der spätotto-
Bau in Art einer Vierung vor dem Westchor646 befand und
nischen Krypta in seiner alten Form. Die Geometrie des
auf einen Vorbau am Gründungsbau zurückging, wird im
Rechteckchores erklärt sich folglich aus der Adaption der
gotischen Grundriss tradiert, denn das westliche Pfeiler-
Geometrie der Außenkrypta.
paar des Mittelschiffes steht an der Stelle der ottonischen
Ungewöhnlich ist weiterhin die strukturelle Disposi-
Kreuzpfeiler, so dass das westliche Joch im gotischen
tion des Chores als dreischiffige Halle, welche hier wahr-
Schiff kürzer ist als die übrigen (vgl. Abb. 4.02, Taf. 4.04).
scheinlich zum ersten Mal in dieser Form verwirklicht
Während das Westjoch in der ottonischen Kirche noch zur
wurde.648 Auch diese Gegebenheit lässt sich mit den indi-
Definition eines Quasi-Westquerschiffes genutzt wurde,
viduellen Voraussetzungen vor Ort erklären. Mittels des
fällt diese Funktion im gotischen Bau weg, wo das Joch
innovativen Entwurfs eines dreischiffigen Hallenchores
gestalterisch dem übrigen Langhaus angeglichen wurde,
gelang es dem Essener Baumeister einerseits, den neuen
das auf diese Weise verlängert werden konnte. Allein die
Chor trotz dessen ungewöhnlicher Größe und Geomet-
unterschiedliche Jochbreite widerspricht diesem Ansatz.
rie einzuwölben, und andererseits, den Chorraum vom
Da konstruktive Gründe wie die Weiternutzung alter Fun-
Charakter her an den Hallenraum des Langhauses an-
damente definitiv ausscheiden, wie weiter unten gezeigt
zugleichen. So entstand ein fließendes Raumkontinuum
wird,
bietet wohl nur der bewusste räumliche Bezug zum
vom Westbau bis zur Chorostwand, welches die vormalige
vorherigen Bauzustand eine schlüssige Erklärung für die
additive Reihung separierter räumlicher Bereiche im ot-
auffällige Anomalie im Grundriss.
tonischen Münster ablöste. Der neuartige Hallenchor re-
647
sultiert demnach aus dem Streben, eine zeitgemäße Chor
Der rechteckige Hallenchor
architektur mit den räumlichen Vorgaben der Tradition
Der bereits erwähnte Hallenchor des Essener Doms stellt
des Ortes zu verbinden.
für eine mitteleuropäische Kirche um 1300 in mehrfacher
Die Geometrie und Disposition des Essener Hallencho-
Hinsicht eine ungewöhnliche Chorlösung dar (Abb. 4.07;
res erklärt sich, wie gezeigt, zweifelsohne aus der Tradition
vgl. Abb. 4.02).
des Ortes. Daraus ergibt sich allerdings die Frage, warum
Ungewöhnlich ist zum einen die Geometrie des Recht-
man dieses Vorgehen wählte. Wollte man vielleicht einfach
eckchores, die zwar bei gotischen Bauten in England rela-
nur das alte Kryptamauerwerk weiternutzen, um Material
tiv häufig Verwendung fand, sich in der deutschen Gotik
und Zeit zu sparen? Die Form des Chores wäre dann ein
aber auf einige Ordenskirchen, vor allem der Zisterzienser,
nebensächliches Produkt wirtschaftlicher Überlegungen.
645 Zimmermann schloss nachvollziehbar auf das Alter der Streifenfundamente, weil deren Bausubstanz derjenigen der ursprünglichen Vorhalle gleicht, sich aber von derjenigen der ottonischen Westbaufundamente unterscheidet (Zimmermann 1956, S. 79). Das spätottonische Mittelschiff wäre demnach entweder auf den alten Fundamenten errichtet worden oder es blieben Teile der altfridischen Mittelschiffwände bis ins 13. Jahrhundert erhalten. Der Umstand, dass man demgegenüber für die neuen Seitenschiffwände neue Fundamente anlegte, spricht m. E. für eine weitgehende Beibehaltung der altfridischen Mittelschiffwände.
646 Im trapezförmigen Westbaujoch stand im Mittelalter ein Altar, der sich seit 1332 urkundlich belegen lässt und Petrus geweiht war. Es fungierte also in der Tat als Westchor (Arens 1908, S. 263). 647 Kap. 4.2.3. 648 Zeitlich in etwa parallel zu Essen oder vielleicht auch etwas später wurde beim Neubau der Domkirche in Verden an der Aller ein Hallenchor errichtet, der allerdings als Umgangschor konzipiert wurde und sich insofern wesentlich von der Essener Chorlösung unterscheidet (zum Verdener Hallenumgangschor: Kunst 1969).
151
4.2 RÄUMLICHE BEZIEHUNGEN DER KIRCHE ZUR TRADITION DES ORTES
4.07 Dom zu Essen, Ansicht von Südosten, Blick auf den Rechteckchor, historische Fotografie vor 1939 (© Domschatz Essen, Bildarchiv) Tatsächlich riss man mit dem alten Chor sowie dem
Demzufolge war es anscheinend ein vorrangiges Ziel der
Obergeschoss und dem Dach der Außenkrypta im Osten
Planung gewesen, die neue Chorarchitektur angemessen
weitaus mehr ab, als man mit dem Untergeschoss der
mit der Tradition des Ortes zu verknüpfen, wohingegen
Krypta erhalten hat, so dass ein kompletter Abriss der
wirtschaftliche Überlegungen offensichtlich eine nach-
Außenkrypta nicht wirklich ins Gewicht gefallen wäre.649
rangige Rolle gespielt haben.
Darüber hinaus brachte die Bewahrung der alten Wände
Dafür spricht ebenso, dass man bei der Neuanlage des
kaum einen Vorteil, denn weder das alte Mauerwerk noch
Hallenchores auch vertikale räumliche Beziehungen be-
dessen Fundamente waren für die Aufnahme des Schubs
wahrte, die zuvor zwischen dem Unter- und Obergeschoss
der neu geplanten Kreuzrippengewölbe im neuen Chorge-
der Krypta bestanden und mittels zweier großer, acht-
schoss ausgelegt. Infolgedessen mussten die Mauern und
eckiger Öffnungen in der Decke zwischen den Geschos-
Fundamente der Unterkrypta an zahlreichen Stellen bis
sen hergestellt wurden (vgl. Abb. 4.02, 4.08). Die Öffnun-
zum gewachsenen Boden durchschlagen werden, um zwi-
gen ermöglichten es, im Obergeschoss sitzend liturgische
schen dem alten Mauerwerk aufwändig neue Strebepfei-
Handlungen im Untergeschoss mitzuerleben und anders
ler auf eigenen Fundamenten hochzuführen (Taf. 4.05).650
herum, indem etwa die dortigen Gesänge hörbar waren
649 Den geringen Anteil an Kryptamauerwerk im Verhältnis zum Chormauerwerk kann man im Querschnitt (vgl. Abb. 4.14) gut ermessen. 650 Nur einer der Strebepfeiler blieb im mittelalterlichen Zustand
erhalten, die übrigen wurden im 19. Jahrhundert verstärkt und neu verblendet (Zimmermann 1956, S. 188).
152
4 DER DOM ZU ESSEN
an der sich die spätottonische Apsis befand (Taf. 4.03),652 welche wiederum die altsächsische Apsis des Gründungsbaus an derselben Stelle ersetzte (Taf. 4.04).653 In diesem Einzelfall konnte man allerdings, im Gegensatz zu den sonst beobachteten Überlagerungen neuer und alter Baustruktur,654 die vorhandene Bausubstanz weiternutzen, indem man die östlichen Pfeiler des trapezförmigen Chorjoches auf zwei massive Pfeiler des 11. Jahrhunderts im unteren Kryptageschoss stellte. Damit könnten in diesem Fall auch wirtschaftliche Überlegungen für die Entstehung des Trapezjoches ursächlich sein. Genauso gut könnte das Trapezjoch aber auch als Erinnerungsform an die vormalige Apsis bewusst geplant gewesen sein und die wirtschaftlich günstige Ausgangslage wurde als willkommener Nebeneffekt mit genutzt. Auf jeden Fall fällt auf, dass das trapezförmige Chorjoch im Osten das trapezförmige Joch im Westbau spiegelt (vgl. Abb. 4.02), so dass eine räumliche Disposition entsteht, die an eine Doppelchörigkeit erinnert, welche zu jener Zeit tatsächlich gegeben war,655 auch wenn mit dem gotischen Umbau der Ostchor stärker gewichtet wurde.
4.08 Dom zu Essen, Grundriss der Krypta zur Weihe 1051, erbaut unter Äbtissin Theophanu (Zimmermann 1956, S. 244)
Es stellt sich die Frage, ob das Gegenüber zweier Trapeze nicht sogar die spätottonische Disposition wiedergibt, ob also auch die vormalige Ostapsis schon trapezförmig an-
oder atmosphärisches Licht die Illumination des ande-
gelegt war. Zimmermann rekonstruiert die spätottonische
ren Geschosses erahnen ließ. Man kann sich vorstellen,
Apsis ohne Belege innen halbkreisförmig, außen als hal-
welch reiche Möglichkeiten der liturgischen Inszenierung
bes Zehneck.656 Die Kryptapfeiler weisen allerdings zu den
die räumliche Verknüpfung mittels der Öffnungen bot. Bei
Außenwänden hin im Grundriss eine auffällige Abschrä-
der Anlage des gotischen Hallenchores behielt man die
gung auf, die sich mit der Rekonstruktion Zimmermanns
Öffnungen interessanterweise bei, so dass die Tradition
nicht übereinbringen lässt. Nimmt man hingegen an, die
des vormaligen Kryptageschosses offensichtlich nicht nur
Pfeilerkanten entstanden in Abhängigkeit der ehemals da-
räumlich, sondern auch liturgisch im neuen Chor bewahrt
rüber befindlichen Apsismauern, dann wären sie ein Echo
blieb.651
der alten Apsisgeometrie. Verlängert man die Pfeilerkanten gedanklich zu den Außenwänden hin, dann ergibt sich
Das trapezförmige Chorjoch
ein trapezförmiges Joch, das mit dem mittleren gotischen
Eine weitere Besonderheit hält der gotische Hallenchor
Chorjoch deckungsgleich ist. Es sieht demnach stark da-
mit seinem mittleren Chorjoch bereit, das aufgrund seiner
nach aus, als würde das gotische Trapezjoch die Form der
Trapezform auffallend aus dem Grundriss hervorsticht
spätottonischen Krypta widerspiegeln. Dafür spricht übri-
(vgl. Abb. 4.02). Aus der heutigen Disposition und Trag-
gens auch, dass die gotischen Pfeiler nicht mittig über den
struktur des Chores wird kein Grund für die abweichende
Kryptapfeilern stehen, wie man es erwarten würde, son-
Trapezform des Joches ersichtlich. Es lässt sich jedoch
dern auf deren äußeren östlichen Ecken.
abermals ein Zusammenhang mit der Tradition des Ortes
Zusammengefasst erklärt sich die Trapezform des
herstellen, denn das Trapezjoch markiert exakt die Stelle,
mittleren Hallenchorjoches definitiv aus dem vorherigen
651 Die Öffnungen wurden 1937 geschlossen (Zimmermann 1956, S. 190), allerdings 1997 wieder in den ursprünglichen Zustand zurückversetzt (Pothmann 1997, S. 32). Mitentscheidend für die Wiederherstellung war die Erkenntnis, dass die Öffnungen auch bauklimatisch sinnvoll sind, da sie eine Belüftung der Krypta gewährleisten (mündliche Auskunft von Herrn Dombaumeister Ralf Meyers).
652 653 654 655 656
Kap. 4.2.2. Kap. 4.2.1. Kap. 4.2.3. S. weiter oben. Zimmermann 1956, Abb. 237.
153
4.2 RÄUMLICHE BEZIEHUNGEN DER KIRCHE ZUR TRADITION DES ORTES
Bauzustand der Kirche, also der Tradition des Ortes. Ob
gende Erklärung, welche in der Literatur in vergleichba-
es sich um einen bewussten Bezug handelt oder nur um
ren Fällen gerne bemüht wird, wäre, dass man schlichtweg
wirtschaftliche Überlegungen, die zu der realisierten Lö-
die alten Fundamente weiternutzte. Dementsprechend
sung führten, ist eine andere Frage. Die Ausführungen
schrieb Wilhelm-Kästner 1929 in Bezug auf das ehema-
zur Gestalt der spätottonischen Apsis geben Hinweise,
lige Essener Münster, dass die »gotischen zweifellos auf
die in Richtung eines bewussten Bezuges deuten. Dieser
den Grundmauern der romanischen Pfeiler aufgebaut«
Verdacht erhärtet sich, wenn die Apsisform nicht isoliert,
seien.657 Diese Annahme trifft jedoch beim Essener Dom
sondern im Gesamtkontext der Baukampagne betrach-
nachweislich nicht zu.
tet wird. Schließlich bietet das westliche Langhausjoch
Bei genauer Betrachtung der Zimmermann’schen
ein Beispiel dafür, dass man besondere Kompartimente
Grabungsbefunde fällt nämlich auf, dass die neuen goti-
des spätottonischen Grundrisses im gotischen Grundriss
schen Rundpfeiler eben nicht auf den alten sächsischen
auch aufgriff, wenn kein konstruktiver und wirtschaftli-
Fundamenten stehen, sondern auf neuen Fundamenten
cher Vorteil damit zu erzielen war.
gegründet wurden, die sich qualitativ von den älteren un-
Eine weitere Frage wäre, inwieweit die Trapezform des
terscheiden (Abb. 4.09, 4.10). Bei den Fundamenten des
Chorjoches überhaupt als Erinnerungsform an die alte Ap-
Gründungsbaus handelt es sich um durchgehende, ca.
sis erkannt werden konnte, wenn man selbst heute keine
1,25 Meter breite Streifenfundamente,658 wohingegen die
endgültige Klarheit über deren Gestalt erlangen kann.
gotischen Langhauspfeiler auf punktuellen, annähernd
Man darf bei solchen Überlegungen allerdings nicht über-
quadratischen Einzelfundamenten mit einem Umfang
sehen, dass den Menschen, welche den Umbau veranlass-
von ca. 2 × 2 Metern im Süden und ca. 3 × 3 Metern im
ten, die alte Form der Apsis natürlich aus eigener Anschau-
Norden gegründet wurden.659 Die gotischen Einzelfun-
ung bekannt war. Es wäre auch kaum verwunderlich, wenn
damente durchschlagen zwangsläufig die alten Streifen-
dieses Wissen einige Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte
fundamente, was sich auch an den teils klaffenden Fugen
lang mündlich innerhalb des Stifts weitergegeben wurde.
dazwischen erkennen lässt.660 Das bedeutet, dass die alten
Unwahrscheinlich mutet allerdings an, dass man sich dar-
Fundamente zunächst stellenweise abgerissen werden
über Gedanken machte, ob das Wissen noch 500 Jahre spä-
mussten, um die neuen Fundamente setzen zu können.
ter, wenn das Stift nicht mehr existiert, für Außenstehende
Für die vorgebliche Weiternutzung alter Fundamente
erhalten bleibt. Schließlich darf nicht übersehen werden,
bei mittelalterlichen Umbauten werden in vielen Fällen
dass die Kirche als Haus Gottes aufgefasst wurde – und die-
wirtschaftliche Gründe impliziert. Man wollte demzufolge
ser vergisst nach christlichem Glauben sicher nicht.
schlichtweg Kosten sparen, indem man die alten Fundamente für die neue aufgehende Bausubstanz weiternutzte,
4.2.3 Verhältnis der gotischen Fundamente zu den älteren
so dass die räumliche Kontinuität im Grundriss ein nachrangiges Produkt wirtschaftlicher Überlegungen ohne weitere Bedeutung darstellt.
Es ergibt sich also der auffällige Befund, dass das Essener
Bei der Transformation des Essener Münsters in eine
Münster beim Umbau um 1300 einerseits in eine kreuz-
gotische Hallenkirche führte die Bewahrung der alten
rippengewölbte Hallenkirche transformiert wurde, wo-
Fluchten jedoch nicht zur Einsparung von Kosten, son-
bei ein Großteil der Bausubstanz neu geschaffen werden
dern intensivierte diese im Gegenteil noch. Günstiger
musste, aber andererseits der Umriss, die Geometrie und
wäre es gewesen, die neuen Fundamente neben die alten
die Proportionen des Grundrisses weitgehend der spätot-
zu setzen, um somit den Aufwand für den Abbruch zu spa-
tonischen Kirche entsprechen. Diese Relation von neuer
ren. Man nahm jedoch die höheren Kosten in Kauf, ent-
Bausubstanz im alten räumlichen Rahmen ließ sich schon
schied sich für die Beibehaltung der alten Fluchten und
beim spätottonischen Umbau der Kirche beobachten.
erhielt damit die inneren Proportionen des Grundrisses.
Wie lässt sich diese auf den ersten Blick gegensätzlich
Technisch gesehen war es den gotischen Baumeis-
erscheinende Gegebenheit interpretieren? Eine nahelie-
tern außerdem gar nicht möglich, die alten Streifenfun-
657 Wilhelm-Kästner 1929, S. 48. 658 Zimmermann 1956, S. 79. 659 Ebd., S. 78.
660 Besonders deutlich sind die Fugen seitlich der Pfeiler S 14 und S 15 zu sehen.
154
4 DER DOM ZU ESSEN
4.09 Dom zu Essen, Langhaus mit archäologischen Befunden, die gotischen Einzelfundamente setzen sich von den ottonischen Streifenfundamenten er kennbar ab (Zimmermann 1956, Taf. IV) 4.10 Dom zu Essen, Langhaus, Fotografie des Gra bungsbefundes, links der nordwestliche Langhaus pfeiler (S 6 auf Abb. 4.09) (Zimmermann 1956, S. 81)
155
4.2 RÄUMLICHE BEZIEHUNGEN DER KIRCHE ZUR TRADITION DES ORTES
damente des Gründungsbaus zu nutzen, da sich bei der
ten Fluchten ein bewusster Akt war, für dessen Realisation
Umwandlung der flachgedeckten Basilika in eine kreuzge-
Mehrkosten in Kauf genommen wurden.
wölbte Halle die statischen Anforderungen an die Fundamente grundlegend änderten. In der vormaligen Basilika verteilten sich die abzutragenden Lasten auf die gesamte
4.2.4 Die Höhe der gotischen Halle in Relation zur ottonischen Basilika
Länge der Wand. Somit wirkten die Mittelschiffwände tragkonstruktiv als Scheiben, welche die Lasten linear auf
Die Dimensionen der spätottonischen Kirche beeinflusste
das Erdreich übertrugen.661 Streifenfundamente stellen
diejenigen der gotischen Halle nicht nur in der Fläche,
für derartige Wandscheiben auch heute noch die geläu-
sondern auch in der Höhe.
fige und adäquate Form der Gründung dar.662 Sie entspre-
Gut aufzeigen lässt sich das an den beiden westlichen
chen in ihrer Linearität den auf ihnen stehenden Wänden
Mittelschiffpfeilern, die zugleich die östlichen Punkte des
und sorgen so für eine möglichst gleichmäßige Lastenauf-
Westpolygons markieren, denn an dieser Stelle stoßen die
nahme und -verteilung auf den Boden. Zudem wirken sie
neue gotische und die alte ottonische Bausubstanz über
gerade bei einer Wandscheibe mit großen Öffnungen, wie
die ganze Höhe aneinander. Die zum Mittelschiff hervor-
die Arkaden der unteren Zone der Mittelschiffwand, stabi-
tretenden, rechteckigen Wandpfeiler blieben in der spätot-
lisierend, indem sie die Pfeiler auch von unten miteinan-
tonischen Form mit groben Zungenblattkapitellen und
der verbinden, so dass sich diese nicht quer zur Wandflä-
darauf sitzenden Kämpferblöcken erhalten (Taf. 4.06).
che verschieben können.663
Sie rahmen die Architektur des Polygons und markieren
Demgegenüber konzentrieren sich die Lasten der goti
so gestalterisch den Übergang vom neuen Langhaus zum
schen Halle punktförmig auf einzelne Rundpfeiler. Einzel-
alten Westbau (Taf. 4.02). In die Richtung des Langhauses
fundamente stellen eine adäquate Lösung für eine derar-
griff man hingegen die gotischen Formen auf, indem man
tige Belastung dar, die auch heute noch gebräuchlich ist.664
dort, wo zuvor die Mittelschiffwände anschlossen, je eine
Sie ermöglichen es, die gebündelten Lasten gezielt auf das
Halbsäule in der Form der gotischen Rundpfeiler vormau-
Erdreich abzutragen. Die gegenüber den Streifenfunda-
erte (Taf. 4.06). Die zu den Seitenschiffen hervortretenden
menten größere Breite der gotischen Einzelfundamente
ottonischen Mauervorlagen behielt man bei, ergänzte sie
trägt den neuen statischen Anforderungen Rechnung, in-
allerdings nach oben hin in der Form der gotischen Lang-
dem sie die Aufnahme höherer Lasten erlaubt und e iner
hauspfeiler (Taf. 4.07), was durch die Angleichung der
Verschiebung in Querrichtung entgegenwirkt, während
Seitenschiffe auf das Niveau des Mittelschiffes notwen-
die von den gotischen Baumeistern gewählte Quadratform
dig wurde. Dadurch blieb die nachträgliche Aufstockung
eine gleichmäßige Verteilung der Lasten auf den Erdboden
bemerkenswerterweise erkennbar und das niedrigere
bei größtmöglicher Standsicherheit gewährleistet.
Höhenniveau der basilikalen Seitenschiffe nachvollzieh-
665
Die gotischen Baumeister verfügten demnach über ein
bar. Die Westpfeiler bilden somit seit dem Umbau des
fundiertes technisches Wissen, welches ihnen erlaubte,
13./14. Jahrhunderts eine Synthese aus ottonischer und go-
zwischen den statischen Anforderungen einer flachge-
tischer Bausubstanz, die sich dem Betrachter als Bündel
deckten Basilika und einer gewölbten Hallenkirche zu
von alten und neuen Elementen präsentiert.
differenzieren. Dieselbe Erkenntnis stellt sich bei der Be-
Hinsichtlich der Untersuchung der Höhenrelationen
trachtung des ca. 50 Jahre älteren Neubaus der Liebfrau-
von der gotischen Halle zur vormaligen Basilika interes-
enkirche in Trier ein, wo die neuen gotischen Einzelfun-
siert, dass sich das Höhenniveau der gotischen Kapitelle
damente die älteren Streifenfundamente der vormaligen
an den Westpfeilern an demjenigen der ottonischen Ka-
Basilika ebenfalls durchschlagen.666 Für die Frage nach
pitelle orientiert, denn die gotischen Kelchkapitelle der
der Bedeutung der Tradition des Ortes steht allerdings die
Halbsäulen enden beide mit einem Ring etwa in Höhe
Erkenntnis im Vordergrund, dass die Beibehaltung der al-
der Oberkante des spätottonischen Zungenblattkapitells
661 Erläuterungen zum statischen Verhalten der Wand als Scheibe finden sich in einer Vielzahl von Werken zur Bau- oder Tragkonstruktion im Hochbau. Exemplarisch seien angeführt: Kraus/Führer/ Willems 1997, S. 22f.; Schmitt 1977, S. 301. 662 Kraus/Führer/Willems 1997, S. 324–328. 663 Der vom Früh- bis ins Hochmittelalter im deutschen Raum geläufige Stützenwechsel von Säule zu Pfeiler erklärt sich aus tragkon-
struktiver Perspektive durch die bessere Verbindung von Mauerfläche zu Streifenfundament mittels der massiveren, durchgehend gemauerten Pfeiler. 664 Kraus/Führer/Willems 1997, S. 314–325. 665 Ebd., S. 314. 666 Kap. 2.6.1.
156
4 DER DOM ZU ESSEN
(Taf. 4.06). Den darauf liegenden Kämpferblöcken ent-
einer »Kunstlandschaft« führten somit zu den vergleichs-
sprechen bei den gotischen Halbsäulen zeittypisch fla-
weise gedrungenen Proportionen der Essener Stiftskirche,
chere Kämpferplatten, weshalb die gotischen Halbsäulen
sondern die bewusste Orientierung am spätottonische
auf den ersten Blick niedriger erscheinen als die spätotto-
Westchor, dessen Kurvatur die Höhe und Breite der goti-
nischen. Bei differenzierter Betrachtung enden jedoch die
schen Mittelschiffgewölbe bestimmt.667
Kapitelle nahezu auf der gleichen Höhe, so dass sie eine
Das Höhenniveau der Gewölbescheitel, also dort, wo
gemeinsame Kapitellzone bilden, die auf einheitlichem
die Schlusssteine am Kreuzungspunkt der Rippen sitzen,
Niveau nach oben abschließt.
konnte man hingegen unabhängig vom Westbau wählen.
Der gerippte gotische Gurtbogen des westlichen Mit-
Man hätte die flachen Gurtbögen somit durch eine starke
telschiffgewölbes, welcher auf den gotischen Kapitellen
Busung der Gewölbekappen ausgleichen und so eine stei-
der synthetischen Westpfeiler aufsetzt, folgt trotz seiner
lere Raumwirkung erzielen können, wenn man es denn ge-
abweichenden spitzbogigen Form quasi dem alten Tri-
wollt hätte. Stattdessen liegen die Gewölbescheitel nur ca.
umphbogen, dessen Kurvatur wiederum von der westli-
einen Meter oberhalb der Gurtbogenscheitel, so dass die
chen Halbkuppel abhängig ist (vgl. Abb. 4.06). Die übrigen
weiter gespannten Kreuzrippen ebenfalls gedrungen wir-
Gurtbögen der gotischen Kreuzrippengewölbe im Mittel-
ken. Interessanterweise lässt sich aber auch das Höhen-
schiff entsprechen in Höhe und Breite wiederum dem ers-
niveau der Gewölbescheitel mit der vormaligen Gestalt
ten Bogen im Westen, so dass sie fortwährend die Kurvatur
des Mittelschiffes in Beziehung setzen, denn die Schluss-
des spätottonischen Triumphbogens wiederholen, worin
steine sitzen fast in Höhe der alten Mittelschiffsdecke, die
der Grund für die im Vergleich zu anderen gotischen Kir-
Zimmermann aufgrund des bauforscherischen Befundes
chen recht flach wirkenden Mittelschiffgewölbe des Es-
sicher rekonstruieren konnte (Taf. 4.08).668 Das bedeutet,
sener Doms liegt. Weder technisches Unvermögen oder
dass die Höhe der gotischen Hallenkirche in etwa derjeni-
mangelnde Willenskraft noch das Aufgreifen von Formen
gen des alten Mittelschiffes entspricht.
4.3 Materielle Bezüge der Kirche zur Tradition des Ortes 4.3.1 Begriffliche Bestimmungen
Charakter bilden und in besonderer Weise bildhauerisch behandelt wurden, wie eine monolithische Säule. Auch
Um eine differenzierte Analyse der Integration alter Bau-
deren Einzelteile, z. B. Kapitelle oder Basen, können als
substanz vornehmen zu können, ist es notwendig, Gebäu-
Werkstück bezeichnet werden.
deteile und Bauteile begrifflich zu unterscheiden. Unter »Gebäudeteilen« werden nachfolgend diejenigen Teile
4.3.2 Die Integration alter Gebäudeteile
eines Gebäudes verstanden, welche eigenständige, funktionale räumliche Einheiten bilden, wie der Westbau oder
Der Westbau
die Krypta. Demgegenüber werden als »Bauteile« diejeni-
Beim Umbau des Essener Münsters um 1300 kam es in
gen Teile des Gebäudes bezeichnet, mit denen ein Raum
beträchtlichem Umfang zur Integration älterer Bausub-
gebildet wird, wie eine Wand oder ein gemauerter Pfeiler.
stanz. Als Erstes fällt der bekannte Westbau ins Auge,
Ein Gebäudeteil setzt sich somit aus mehreren Bauteilen
der zum großen Teil in seiner ottonischen Form erhalten
zusammen; er bildet eine übergeordnete Kategorie, der
blieb und die Gestalt der Kirche noch heute wesentlich
sich verschiedene Bauteile zuordnen lassen. Ferner wird
prägt (Taf. 4.01, 4.03).669 Vor allem von Westen gesehen
nachfolgend die Bezeichnung »Werkstück« für solche Teile
dominiert der prägnante Turm mit seinem achteckigen
gebraucht, die eine tektonische Einheit mit elementarem
Glockengeschoss und den flankierenden Treppentürmen
667 Weil die Seitenschiffe der Höhe des Mittelschiffes angeglichen wurde, hängt auch deren Höhe indirekt vom alten Westbau ab. 668 Zimmermann 1956, S. 160f. 669 Aufgrund der derzeit umstrittenen Datierung des Westbaus (Kap. 4.1) versteht sich das Adjektiv »ottonisch« nicht stilgeschichtlich, son-
dern im historischen Kontext, denn egal, ob der Gebäudeteil unter der Äbtissin Theophanu Mitte des 11. Jahrhunderts oder bereits unter Äbtissin Mathilde II. um 1100 errichtet wurde, beide Frauen entstammten in direkter Linie dem ottonischen Kaiserhaus.
157
4.3 MATERIELLE BEZÜGE DER KIRCHE ZUR TRADITION DES ORTES
die Ansicht. Eben diese Teile stammen noch, wenn man
wollte man, darin ist sich die Forschung einig, auf deren
670
von den Veränderungen im 19. Jahrhundert absieht,
kaiserlich-königliche Symbolik rekurrieren.673 Diese Inter-
in wesentlichen Zügen aus der Zeit der ottonischen Äb-
pretation lässt sich unabhängig davon, ob man Mathilde
tissinnen. Seitlich wird der Westbau allerdings von zwei
oder Theophanu als Bauherrin ansehen möchte, prin-
gotischen Baukörpern umschlossen, welche das Langhaus
zipiell vertreten. Eine differenzierte Deutung macht je-
einheitlich nach Westen fortsetzen, so dass der Eindruck
doch erst Sinn, wenn der Gebäudeteil sicher datiert wer-
entsteht, der ottonische Westturm würde vom gotischen
den kann, da erst dann der historische Hintergrund, vor
Langhaus umarmt. Auf diese Weise wurde der Westbau,
dem eine Interpretation notwendig erfolgen müsste, klar
der sich zuvor deutlicher als eigener Gebäudeteil vom
wäre.674
Langhaus absetzte, stärker in das vereinheitlichende Kon-
Warum der Westbau mit seinen symbolischen Sinn-
zept der Hallenkirche eingebunden, ohne jedoch seine
schichten allerdings rund 250 Jahre später geradezu denk-
körperliche Präsenz einzubüßen. Damit gelang zugleich
malpflegerisch in die gotische Halle integriert wurde, ist
der subtile Kunstgriff, eine Ambivalenz zu erzeugen, in-
eine andere Frage. Angesichts der veränderten Rahmen-
dem der Westbau einerseits in der äußeren Ansicht genau
bedingungen und der andersartigen historischen Situa-
genommen zu einem Westturm transformiert wurde, wel-
tion wäre zu untersuchen, inwiefern sich die Bedeutung
cher konzeptionell den architektonischen Vorstellungen
des Gebäudeteils verschob. Da die Beantwortung dieser
der Zeit um 1300 entgegenkam, andererseits aber die in
komplexen Fragestellung eine möglichst ganzheitliche
die Breite gelagerte bauliche Masse im Westen nicht ge-
Sichtweise auf das Baugeschehen voraussetzt, bleibt sie
schmälert wurde, so dass der Charakter eines Westbaus
dem Resümee vorbehalten.675
durchaus erhalten blieb.
Setzt man die architektonische Analyse weiter fort, so
Im Innenraum des Essener Doms tritt der alte West-
fällt der Übergang vom ottonischen Westchor zum goti-
bau noch markanter in Erscheinung, da man den West-
schen Langhaus ins Auge, den zwei ottonische Pfeilerzun-
abschluss so weit wie möglich in seiner ottonischen Form
gen mit kräftigen Zungenblattkapitellen akzentuieren, die
beließ (Abb. 4.11). So mündet das gotische Mittelschiff in
somit das Mittelschiff verengen und auf diese Weise eine
eine polygonale Quasi-Apsis, deren umfassende Wände
Torsituation schaffen. Mit dem Erhalt der ottonischen
mit zwei Geschossen großer Rundbögen geöffnet werden.
Pfeilerform beim gotischen Umbau behielt man nicht nur
Die oberen Bögen werden von korinthisierenden Säulen
die alte Torsituation bei, sondern verschaffte ihr durch
und kleineren Arkaden in zwei Geschosse und drei Ach-
den Kontrast zu den gotischen Formen der Langhauspfei-
sen unterteilt.671
ler noch mehr Geltung (Taf. 4.06). Auf diese Weise berei
Diese Gestaltung zitiert in überaus signifikanter Weise
cherte man die Torsituation um eine zusätzliche Sinn
die Pfalzkapelle in Aachen (Abb. 4.12), was ein weiterer
ebene, da sie seither gleichermaßen den Übergang von
Grund dafür ist, dass der Westbau des Essener Doms die
Neu zu Alt markiert.
Aufmerksamkeit der Architekturhistoriker auf sich zog.
Auch in den Seitenschiffen bewahrte man den west-
Die Aachener Pfalzkapelle galt im Mittelalter, und gilt
lichen Abschluss so weit wie möglich in der ottonischen
auch noch heute, als der Repräsentationsbau Karls des
Form, indem die dortigen Emporen mit ihren rundbogi-
Großen und seiner Herrschaft, weshalb sie zeitweise als
gen Nischen erhalten blieben (vgl. Abb. 4.06). Auf diese
Krönungskirche für den deutschen König fungierte.672 Mit
Weise entfaltet sich die ottonische Struktur des Westbaus
dem Zitat der Aachener Pfalzkapelle im Essener Münster
im Innenraum anders als außen in der gesamten Breite
670 Kap. 4.1. 671 Nur die korinthisierenden Säulen des mittleren Bogens stammen heute noch aus der Erbauungszeit, wohingegen diejenigen der seitlichen Bögen im 19. Jahrhundert nach dem Vorbild der mittleren wiederhergestellt wurden, als man die dortige frühneuzeitliche Orgel entfernte (Humann 1890, S. 19). 672 Insofern bezeichnet Wolfgang Schenkluhn die Aachener Pfalzkapelle treffend als »einen der Leitbauten des deutschen Königtums« (Ders. 2009, S. 64). 673 Z. B. Beuckers 2006, S. 52f.; Lange 2001, S. 49–63; Zimmermann 1956, S. 252. 674 Klaus Lange versucht hingegen aus seiner Deutung des Westbaus eine Datierung abzuleiten (Lange 2001, S. 49–81). Ein derartiges Vorgehen ist jedoch aus wissenschaftstheoretischen Gründen
unzulässig, weil der Gebäudeteil unterschiedliche differenzierte Interpretationen erlaubt, die Entscheidung für eine bestimmte Variante ohne Kenntnis einer Datierung und damit des historischen Kontextes aber beliebig ausfällt. Die Gefahr, das, worauf man schließen will, bereits als Annahme vorauszusetzen, ist somit groß. Lange ist sich der Problematik eines solchen Zirkelschlusses leider nicht bewusst: »Aber was genau sollte in der Sprache der Architektur ausgesagt werden? Kann diese Frage beantwortet werden, dann müsste es auch möglich sein, den Westbau als Geschichtsquelle zu lesen. Dann müssten sich aus seinem Bauprogramm Rückschlüsse für seine Datierung ziehen lassen, die eine Eingrenzung des Baubeginns in der Amtszeit Äbtissin Mathildes erlauben.« (Lange 2001, S. 49). 675 Kap. 4.5.
158
4 DER DOM ZU ESSEN
4.11 Dom zu Essen, Westbau, Westpolygon vom Mittelschiff aus gesehen, erbaut um 1000 oder 1050, seitliche Säulengitter im 19. Jh. rekonstruiert (Lange 2001, S. 25)
159
4.3 MATERIELLE BEZÜGE DER KIRCHE ZUR TRADITION DES ORTES
4.12 Aachen, Pfalzkapelle, inneres Oktogon, erbaut um 800, Raumfassung wilhelminisch (Kaiser 1996, S. 33)
des Kirchenraumes. Gleichwohl mauerte man die Seiten-
Das Atrium
wände des Westbaus oberhalb der Nischen bis zur neuen
Das westlich dem Westbau vorgelagerte Atrium, welches
Traufhöhe des gotischen Langhauses auf und inkorpo-
den Essener Dom mit der ihm zugehörigen Johanneskir-
rierte die Seitenteile des alten Westbaus auf diese Weise
che verbindet, blieb beim gotischen Umbau ebenfalls in
raffiniert in den einheitlichen gotischen Hallenraum. Der
seiner alten Form erhalten (Abb. 4.13).676 Nach Zimmer-
Verzicht auf eine Binnengliederung der neuen Wandflä-
mann steht die heutige Form des Atriums im Zusammen-
che über den Nischen macht zugleich den Umfang der
hang mit dem Umbau unter Äbtissin Theophanu zur Mitte
Aufstockung nachvollziehbar, ebenso wie die bereits be-
des 11. Jahrhunderts, wofür u. a. die Form der wuchtigen
schriebene Überführung der ottonischen Pfeilerzunge in
Würfelkapitelle der Arkatur spricht.677
eine gotische Halbsäule.
Das Atrium fungiert auch als räumlicher Übergangsbereich von der Außenwelt in den Innenraum der ehema-
676 Der heutige Zustand ist stark von der Restaurierungskampagne 1848 geprägt (Zimmermann 1956, S. 154). 677 Ebd., S. 266f. – Lange klammert das Atrium bei seinen Datierungsvorschlägen der ottonischen Baugeschichte leider aus, obwohl es
aufgrund des archäologischen und bauforscherischen Befundes zwingend in die Überlegungen zur Errichtung des Westbaus miteinbezogen werden müsste.
160
4 DER DOM ZU ESSEN
4.13 Dom zu Essen, Atrium, nördliche Arkaden, Mitte 11. Jh., im 19. Jh. stark überarbeitet (Hauke Horn, 2012) ligen Münsterkirche und führt somit auf den Westbau zu,
Die Enkelin Kaiser Ottos II. veranlasste die Erneuerung
der das eigentliche Tor zur Kirche bildet. Aus den gemein-
der zweigeschossigen Außenkrypta sowie des Chores, un-
samen Fundamentzügen von Atrium und Westbau geht
ter den sie zusätzlich eine neue Innenkrypta anlegen ließ,
hervor,678 dass die wechselseitige architektonische Bezie-
so dass das Bodenniveau des neuen Chores gegenüber
hung der beiden Gebäudeteile von Anfang an intendiert
dem Langhaus erhöht wurde.679
war. Dieser Zusammenhang blieb auch beim gotischen
Im Zuge des gotischen Umbaus riss man die alte Apsis
Umbau erhalten, was in der konsequenten Beibehaltung
und das Obergeschoss der Außenkrypta ab und erweiterte
der alten Form des Atriums vor der Folie des alten West-
den Chorbereich über das noch stehende Untergeschoss
turmes auch gestalterisch zum Ausdruck kommt.
hinaus (Taf. 4.03). Damit wurden die Geometrie und die Dimensionen der Außenkrypta zu maßgeblichen Krite-
Die Krypta
rien für die Planung des neuartigen Hallenchores. Dass
Mit der heute unter dem Hallenchor befindlichen Krypta
nicht ausschließlich wirtschaftliche Gründe zur Integra-
integrierte man einen weiteren Gebäudeteil in seiner al-
tion des Kryptauntergeschosses führten, belegt der bau-
ten Form in den gotischen Kirchenbau (Abb. 4.14; vgl.
liche Aufwand, welcher dafür betrieben wurde, denn die
Abb. 4.08). Die Krypta ist der einzige Gebäudeteil aus der
alten Mauern genügten den neuen statischen Anforderun-
Zeit der ottonischen Äbtissinnen, der, aufgrund der in-
gen der Kreuzrippengewölbe im Obergeschoss nicht,680
schriftlich bezeugten Weihe 1051, sicher datiert werden
so dass aufwändig Strebepfeiler mit eigenen Fundamen-
kann, und wird in der Literatur nach der seinerzeit am-
ten in die alte Außenmauer eingelassen werden mussten
tierenden Äbtissin oft als Theophanu-Krypta bezeichnet.
(Taf. 4.05 .
678 Zimmermann 1956, S. 222. 679 Zimmermann 1956, S. 245–250. – Die vormalige Außenkrypta wird allgemein in die Zeit der Äbtissin Agana (ab. 951–965?) datiert (Pothmann 1997, S. 24f.; Ders 1987, S. 6; Zimmermann 1956,
S. 214–218). Kubach geht hingegen von einer Entstehung schon im 9. Jahrhundert aus (Kubach 1957, S. 65). 680 Vgl. Kap. 4.2.3.
)
161
4.3 MATERIELLE BEZÜGE DER KIRCHE ZUR TRADITION DES ORTES
4.14 Dom zu Essen, Querschnitt durch den Hallenchor, Blick nach Osten, Maßwerk in Rekonstruktion des 19. Jh., seit 1943 verloren (Wilhelm-Kästner 1929, S. 44) Konzeptionell lassen sich bei der Integration des West-
bis zur Höhe des inneren Laufgangs in die gotischen Au-
baus und der Krypta deutliche Parallelen erkennen: Wäh-
ßenwände integriert wurden, die infolge der neuen Hallen-
rend der Westbau seitlich vom neuen Hallenlanghaus ein-
konzeption höher gezogen werden mussten (Abb. 4.15).682
gefasst wird, legt sich der neue Chor horizontal über die
Die heutige Gliederung der ottonischen Seitenschiffe mit
alte Krypta, so dass die ottonischen Gebäudeteile dem go-
rundbogigen Nischen zwischen flachen Lisenen gibt zwar
tischen Bauwerk regelrecht einverleibt wurden. In beiden
den Ursprungszustand wieder, geht aber auf die Restau-
Fällen wirkten die alten Teile dabei maßgeblich auf die
rierungsarbeiten des 19. Jahrhunderts zurück, denn beim
Planung der neuen Teile ein.
gotischen Umbau waren die Nischen anscheinend vermauert worden.683
4.3.3 Die Integration alter Bauteile in situ
Wirtschaftliche Gründe können für die Integration der Seitenschiffmauern nur bedingt angeführt werden,
Die Seitenschiffwände
denn es bedurfte eines hohen Mehraufwandes, um die
Die prägnantesten ottonischen Bauteile, welche beim goti-
alte Bausubstanz zu integrieren. Die zur Aufnahme des
schen Umbau des Essener Münsters erhalten blieben, sind
Gewölbeschubs notwendigen Strebepfeiler mit vorgesetz-
die ottonischen Außenwände des Langhauses,681 welche
ten Halbsäulen bzw. Diensten684 wurden nämlich, um eine
681 Im 19. Jahrhundert hielt man die Außenwände für einen Teil des altfridischen Gründungsbaus (Humann 1890, S. 5). Der Verbund des Mauerwerks mit dem ottonischen Westbau belegt allerdings die spätere Entstehung (Zimmermann 1956, S. 78). 682 Zimmermann 1956, S. 168. – Da Zimmermann seinen Schwerpunkt angesichts der historischen Umstände richtigerweise auf die archäologische Erforschung des Doms setzte, ist das aufgehende Mauerwerk des Essener Doms bisher leider nur rudimentär erforscht. Ein steinrechtes Aufmaß der Außenmauern fehlt, so dass sich die Trennlinie zwischen ottonischem und gotischem Mauerwerk zum derzeitigen Stand nur vage nachvollziehen lässt. Eine Autopsie des unverputzten Außenbaus hilft auch nicht weiter, weil der Dom anscheinend im 19. Jahrhundert außen neu verblendet wurde. 683 Dies lässt sich indirekt aus einer Aussage Humanns schließen, denn er beschreibt Kapitelle, welche bei der Freilegung der Nischen gefunden worden seien (Humann 1890, S. 28).
684 Während man an der Nordwand Halbsäulen zur Aufnahme der Rippen anlegte, welche die Rundpfeiler des Mittelschiffes aufgreifen, errichtete man im Unterschied dazu an der südlichen Wand Bündel mit fünf Diensten. Die Versuche, aus diesem Unterschied Rückschlüsse auf den Bauverlauf zu ziehen, kommen zu gegensätzlichen Ergebnissen. Während Wilhelm-Kästner 1929 (S. 53) den nördlichen Teil für den älteren hielt, ging Zimmermann 1956 (S. 274) davon aus, dass die Südwand älter sei. Lange 2004 versuchte jüngst, die Datierung der gotischen Bauabschnitte aus der jeweiligen politischen Lage zur Bauzeit zu erschließen (S. 96–103). Die stilistischen Unterschiede würden Lange zufolge daraus resultieren, dass man einen Wechsel der politischen Verhältnisse jeweils mit einem Wechsel der baulichen Formen zeitnah kommentierte (S. 105). Dieser Ansatz fällt methodisch sehr fragwürdig aus, weil das Verhältnis von Fakten und deren Interpretation auf den Kopf gestellt wird.
162
4 DER DOM ZU ESSEN
alten Wandkompartimenten hochzumauern. Des Weiteren riss man die ottonische Wand oberhalb des Laufgangs in der kompletten Länge ab, wahrscheinlich um den oberen Teil mit den neuen großen Fenstern einheitlich hochführen zu können. Die Bewahrung der ottonischen Mauerteile machte also im Ganzen gesehen eher Umstände, als wirtschaftliche Vorteile zu bringen. Das spricht dafür, dass andere Gründe den Ausschlag für die Bewahrung der alten Wandteile gaben. Aufgrund des Laufgangs bietet es sich in diesem Fall an, einen Zusammenhang zwischen der Funktion des Bauteils und dessen Konservierung herzustellen. Von besonderem Interesse dürfte unter diesem Gesichtspunkt sein, dass der nördliche Laufgang das Obergeschoss des Westbaus mit dem Chor der Stiftsdamen, später Gräfinnenchor genannt,686 im nördlichen Querhaus verband und somit einen direkten Weg zwischen den beiden wichtigen Gebäudeteilen herstellte (Taf. 4.17). Diese spezielle Wegeverbindung nutzten die Stiftsdamen im Rahmen besonderer liturgischer Inszenierungen, wie etwa bei der Feier des Osterfestkreises.687 Laut bauforscherischem Befund existierte der Laufgang auch vor dem gotischen Umbau,688 so dass mit dessen Bewahrung zugleich die Bewahrung einer alten Wegebeziehung einherging, was darüber hinaus, wie
4.15 Dom zu Essen, nördliche Seitenschiffwand, Nischenwand mit Laufgang 11. Jh., Stützstruktur und obere Wandteile um 1300 (Hauke Horn, 2012)
die Bewahrung der Öffnungen in der Kryptadecke,689 eine Kontinuität liturgischer Abläufe ermöglichte. In diesem Fall überlagern sich somit räumliche und materielle Bezüge zur Tradition des Ortes.
ausreichende Festigkeit zu gewährleisten, in einem durch-
In der älteren Literatur leitete man die Architektur der
gehenden Verband gemauert, so dass sie die alten Wände
Seitenschiffwände des Essener Doms in erster Linie von
durchschlagen.685 Wie für die freistehenden Rundpfeiler
gotischen Kirchen in Burgund und der Champagne ab, wo
des Mittelschiffes mussten die gotischen Strebepfeiler zu-
im 13. Jahrhundert vergleichbare Laufgangsysteme hinter
dem neu fundamentiert werden, um den statischen Anfor-
der Fassade errichtet wurden.690 Vielleicht hat die Kennt-
derungen zu genügen (Taf. 4.05, vgl. Abb. 4.09). Das heißt,
nis französischer Kirchen mit einer ähnlichen Disposi-
man musste die ottonische Wand inklusive ihrer Funda-
tion tatsächlich als Inspiration für die in Essen realisierte
mente wie bei der Krypta an mehreren Stellen in Breite der
Lösung gedient. Der spezifische Aufbau der Seitenschiff-
Strebepfeiler komplett bis auf den gewachsenen Boden ab-
wände des Essener Doms erklärt sich jedoch nicht aus der
reißen, ohne den Bestand dazwischen zu stark zu beschä-
Übernahme französischer Vorbilder, sondern primär aus
digen, um die neuen Pfeiler anschließend zwischen den
der Tradition des Ortes.
685 Zimmermann 1956, S. 168. 686 Wohl im Zuge des gotischen Umbaus der Kirche erfolgte eine Vergrößerung des Gräfinnenchores nach Norden über Gebäude des Kreuzgangs hinaus (Lange 2004, S. 95f.; Arens 1908, S. 253). Bei den Restaurierungsarbeiten der 1880er Jahre baute man den gotischen Gräfinnenchor zugunsten eines neoromanischen Nordquerhauses mit Orgelbühne zurück (Lange 2004, Anm. 35; Arens 1908, S. 254, der noch die Wiederherstellung des gotischen Zustandes fordert). 687 So schritten die Stiftsdamen etwa nach der symbolischen »Bestattung« religiöser Zeichen und Reliquien (vgl. Kap. 4.4.5) auf
der Westbauempore am Karfreitag über den nördlichen Laufgang zurück, die Kanoniker hingegen über den südlichen Laufgang, während die Scholaren die nördliche Treppe hinabstiegen (Bärsch 1997, S. 150). Auf gleichem Weg gelangten der Damenkonvent und die Kanoniker in der Osternacht zur Elevatio auf die Westbauempore (Ders., S. 196f.). 688 Zimmermann 1956, S. 165. 689 Kap. 4.3.2. 690 Zimmermann 1956, S. 274.
163
4.3 MATERIELLE BEZÜGE DER KIRCHE ZUR TRADITION DES ORTES
Die Vierungs- und Vorchorpfeiler beim stauferzeitlichen Umbau Weitere ottonische Bauteile blieben im Osten der Kirche in situ erhalten, nämlich die vier Vierungspfeiler sowie das östlich davon befindliche Wandpfeilerpaar, welches vor dem gotischen Umbau die Apsis rahmte.691 Die Ostteile der Kirche erfuhren bereits in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts eine größere Umgestaltung, als unter Weiternutzung der alten Pfeiler Kreuzgratgewölbe über Chor und Querhaus eingezogen wurden (Taf. 4.03).692 Zur Aufnahme der Grate und Gurte ergänzte man die alten Pfeiler in den Ecken mit Diensten,693 deren Kapitelle zeittypisch mit figürlichen Darstellungen, Rankenwerk und Ornamenten plastisch gestaltet wurden (Taf. 4.09).694 Die Vierungspfeiler schließen mit profilierten Kämp ferplatten, welche die unregelmäßige Pfeilergeometrie wie ein Gesims umlaufen, zur Gewölbezone horizontal einheitlich ab, wodurch das tragkonstruktive Zusammenspiel der ottonischen und spätromanischen Kompartimente auch gestalterisch verdeutlicht wird (Taf. 4.10).
Die Imitation ottonischer Kämpferprofile im 12. Jahrhundert Die einheitliche Kämpfergestaltung überrascht insofern, als sie zeitlich unterschiedliche Teile der Vierungs- und Vorchorpfeiler überfasst und wirft somit die Frage nach dem Zeitpunkt der Entstehung auf. Die Kämpferprofile der Vierungspfeiler bauen sich von
4.16 Dom zu Essen, Gesims, Westbauarkade, Emporengeschoss um 1000 oder 1050 (Hauke Horn, 2012)
unten nach oben aus Plättchen, Kehle, Plättchen, Karnies, Plättchen und Platte auf (Taf. 4.10). Denselben Aufbau
der Vierungs- und Vorchorpfeiler zeigen demnach ottoni-
zeigen Kämpfergesimse an der unteren Arkatur des ot-
sche Profile, die im Aufbau denjenigen des Westbaus ent-
tonischen Westbaus (Abb. 4.16). Die Kämpferprofile der
sprechen.
Vorchorjoche – Plättchen, Plättchen, Karnies, Plättchen,
Weil die Kämpfer jedoch die romanischen Kapitelle
Platte (Taf. 4.11) – ähneln wiederum stark Plattenprofilen
und Dienste mit überdecken, also Stellen, an denen sich zu-
über den Kämpferwürfeln der korinthisierenden Säulen
vor keine Bausubstanz befand, müssen die Kämpferplatten
des Westbaus, die lediglich über ein weiteres Plättchen an
im Zuge der romanischen Wölbungskampagne gefertigt
der Unterkante verfügen (Taf. 4.12). Die Kämpferplatten
worden sein. Diese Erkenntnis wird durch den baulichen
691 Wie bei den Außenwänden fehlt leider auch für die Pfeiler ein steinrechtes Aufmaß und eine darauf aufbauende, genaue Analyse der Bausubstanz. In der Literatur wird zwar davon ausgegangen, dass die betreffenden Pfeiler aus dem Umbau unter Äbtissin Theophanu stammen, denkbar wäre aber auch, dass im Kern noch Mauerwerk des altfridischen Gründungsbaus vorhanden wäre, denn die Pfeiler sind in Lage und Form deckungsgleich mit den Mauerzungen der ersten Vierung und stehen noch immer auf den altfridischen Fundamenten, so dass es so aussieht, als wären jene bei der ottonischen Umgestaltung der Kirche lediglich etwas rückgebaut worden. 692 In der Literatur hat sich mittlerweile eine Datierung der Arbeiten in die Amtszeit der Äbtissin Hadwig von Wied (ab. 1154–1172) durchgesetzt (Pothmann 1997, S. 37; Broscheit 1989, S. 25; Kubach/Verbeek 1976, Bd. 1, S. 276). In der älteren Literatur datierte man die Arbeiten in das letzte Viertel des 12. Jahrhunderts (Zimmermann 1956, S. 268;
Wilhelm-Kästner 1929, S. 52). Das Gewölbe der Vierung wurde nach dem Brand 1454 mit Kreuzrippen wiederhergestellt (Zimmermann 1956, S. 271) und auch die Rippen über dem ehemaligen Gräfinnenchor weisen auf eine spätere Erneuerung hin. Kreuzgratgewölbe befinden sich noch heute über dem südlichen Querhaus und dem Vorchor; beide scheinen den Zweiten Weltkrieg unbeschadet überstanden zu haben (Ebd., Abb. 202). Letzteres wurde 1880 komplett erneuert (Ebd., S. 185), das Gewölbe des südlichen Querhauses scheint als Einziges in der originalen Substanz erhalten zu sein (Ebd., S. 176). 693 An den Vierungspfeilern ergänzte man an einer Seite der Dienste zusätzlich kleine Mauerzungen, damit die Kapitelle nicht über den Pfeiler hervortreten, sondern klar in dessen Ecke stehen. 694 Grundlegend zum romanischen Kapitellzyklus, insbesondere zu dessen ikonographischem Programm: Broscheit 1989.
164
4 DER DOM ZU ESSEN
Befund bestätigt, denn die Kämpferplatten verzahnen sich teilweise über die Kapitelle hinweg weit in den alten Pfeiler hinein, wie sich an den Stoßfugen erkennen lässt (Taf. 4.09). Folglich arbeiteten die Steinmetze der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts nicht nur in ihrem zeittypischen Stil, der sich an den Kapitellen klar äußert, sondern imitierten spannenderweise an den Kämpferplatten auch bewusst einen älteren Stil, den sie im Essener Münster selbst vorfanden. Darin zeigt sich, wie sehr man sich bei der stauferzeitlichen Wölbungskampagne um eine Symbiose alter und neuer Formen bemühte, was wiederum den damaligen Stellenwert der alten Bauteile verdeutlicht.
Die Vierungs- und Vorchorpfeiler beim gotischen Umbau Im Zuge des gotischen Umbaus inkorporierte man wiederum die Vierung, das Querhaus und den Vorchor im stauferzeitlichen Zustand mitsamt der ottonischen Pfeiler in den neuen Hallenraum (Taf. 4.03). Die Kreuzgratgewölbe des 12. Jahrhunderts blieben damit ebenso wie die spätromanischen Dienste mit ihren Figurenkapitellen zum Teil bis heute erhalten. Infolgedessen entstanden zwei Nahtstellen, an denen die gotischen an die ottonischen Joche mit ihren stauferzeitlichen Gewölben stoßen. Auf der einen Seite läuft die Naht zum gotischen Langhaus hin durch die westlichen Vierungspfeiler (Taf. 4.10), an der anderen Seite läuft sie zum Hallenchor hin durch die westlichen Pfeiler des Vorchores (Taf. 4.06). Auf diese
4.17 Dom zu Essen, nördlicher Pfeiler am Übergang zum Hallenchor (Hauke Horn, 2009)
Weise entstand eine räumliche Zone zwischen dem neuen Langhaus und dem neuen Hallenchor, in dem eine ältere Formensprache vorherrschte, welche auf die Tradition des Ortes verweist.
Neben der Synchronisation der Höhen trägt die tektonische Ordnung erheblich zu einem fließenden Übergang
An der Nahtstelle zwischen altem Vorchor und neuem
zwischen alten und neuen Raumteilen bei. Die Stützkon-
Hallenchor befinden sich alte und neue Kapitelle direkt
struktion zur Aufnahme der Gurtbögen an der Nahtstelle
nebeneinander (Taf. 4.11). Formal kontrastieren das ro-
zwischen Vorchor und Hallenchor orientiert sich nämlich
manische Figurenkapitell mit seinen stilisierten Pflanzen-
an der bestehenden Struktur, indem man zur Aufnahme
darstellungen und das gotische Kelchkapitell mit seinem
des gotischen Rippenbogens einen breiten Wandpfeiler
naturnahen Blattwerk deutlich und geben sich damit als
wählte, der zur Linken und Rechten von einem Dienst
Werkstücke aus unterschiedlichen Zeitschichten zu erken-
flankiert wird, wobei links der vorhandene romanische
nen. Dennoch stimmten die Steinmetze die neuen Kapi-
Dienst integriert und rechts ein gotischer Dienst nach
telle auf die alten ab, indem sie die Höhen anglichen. So
dessen Vorbild ergänzt wurde (Abb. 4.17). Den einzigen
liegt die Oberkante der gotischen Kapitelle auf einer Höhe
strukturellen Unterschied macht ein zusätzlicher Dienst,
mit der Oberkante der romanischen; die unterschiedlich
welcher dem Wandpfeiler vorgesetzt wurde. Seine An-
profilierten Kämpferplatten sind sogar genau gleich hoch.
lage kann aber auch gestalterischen Überlegungen folgen,
Das heißt, der gotische Baumeister griff im Hallenchor
denn er markiert den Übergang zum neuen Chorbereich.
die bestehende Kapitellzone der alten Ostteile auf und
Da sich an dieser Stelle zuvor der Triumphbogen zur Apsis
stimmte den neuen Gebäudeteil somit in der Höhe auf
befand, klingt ferner die Erinnerung an die alte Situation
den alten ab.
nach.
165
4.3 MATERIELLE BEZÜGE DER KIRCHE ZUR TRADITION DES ORTES
Die Angleichung der tektonischen Struktur am Übergang zum Hallenchor an das alte Vorchorjoch ist umso be-
4.3.4 Die Integration alter Werkstücke in neuem Kontext
merkenswerter, als die übrigen Stützen in Form der Rundpfeiler des neuen Hallenlanghauses errichtet wurden. Der
Der romanische Pfeiler im südlichen Nebenchor
gotische Baumeister wollte an der Nahtstelle demnach
Neben den in situ erhaltenen alten Bauteilen finden sich
bewusst keine klare Zäsur ziehen, sondern einen subtilen
im Essener Dom auch Elemente, die in einem neuen Kon-
Übergang schaffen, bei dem alte und neue Teile zusam-
text in den gotischen Neubau integriert wurden. Hierzu
men eine übergeordnete tragkonstruktive Einheit bilden
zählt der Pfeiler in der Südostecke des südlichen Neben-
und somit gleichrangig in die übergreifende architektoni-
chores (Taf. 4.13), der deutliche Ähnlichkeiten mit den
sche Ordnung eingebunden werden. Stilistisch geben die
Pfeilern der Theophanu-Krypta aufweist (Taf. 4.14).
Dienste mit ihren Kapitellen hingegen die unterschiedli-
Die gedrungenen Pfeiler wurden jeweils derart gestal-
che Entstehungszeit zu erkennen, so dass der Betrachter
tet, dass der Eindruck eines Bündels aus mehreren Säul-
die Synthese aus Alt und Neu nachvollziehen kann.
chen bzw. aus Pfeiler und Säulchen entsteht. Die Kapitelle
Der Anschluss des gotischen Langhauses an die beste-
der Säulchen wurden mehr graphisch als Flächen denn
hende Vierung wurde realisiert, indem man den Vierungs-
plastisch als Körper aufgefasst, was insbesondere bei der
pfeilern zum Langhaus hin wie am Westbau Halbsäulen
Ansicht über Eck erkennbar wird. Trotz der unübersehba-
vormauerte,
so dass sich hybride Bauteile mit Elemen-
ren Stilisierung der Detailformen lässt der Nebenchorpfei-
ten und Spuren aus (mindestens) drei unterschiedlichen
ler, wie seine Pendants in der Krypta, einen Antikenbezug
Zeitschichten bildeten (Taf. 4.10). Dass diese Lösung
erkennen, der im Nebenchor mittels der korinthisieren-
nicht so harmonisch ausfiel wie an der Naht zwischen
den Kapitelle, in der Krypta mittels der Kanneluren des
Vorchor und Hallenchor, liegt daran, dass die Oberkanten
Pfeilers hergestellt wurde. Schließlich verfügen die Pfei-
der Kämpferplatten der westlichen Vierungspfeiler auf ei-
ler jeweils über einen markanten, voluminösen Kämp-
ner Höhe mit der Oberkante der Kapitelle des vormaligen
ferblock mit ähnlicher Profilierung und deutlicher Aus-
Triumphbogens am Westbau liegen. Weil die gotischen
kragung. Die geschilderten Ähnlichkeiten weisen auf den
Langhauskapitelle, wie beschrieben,696 in der Höhe mit
gleichen Entstehungszeitraum hin, der aufgrund der in-
denjenigen des Westbaus synchronisiert wurden, schlie-
schriftlich gesicherten Datierung der Krypta um die Mitte
ßen auch die gotischen Kelchkapitelle an der Oberkante
des 11. Jahrhunderts anzusetzen ist.
695
der Vierungskämpfer ab, so dass die gotischen Kämpfer auf den älteren aufliegen.
Zimmermann stellte fest, dass der romanische Pfeiler, der sich heute in der südöstlichen Ecke des Nebenchores
Die Abarbeitung der alten Kämpferplatte zum Lang-
befindet, ursprünglich vollplastisch ausgearbeitet war und
haus hin resultiert demnach nicht aus Gleichgültigkeit
folglich frei stand. Als originalen Aufstellungsort vermu-
gegenüber der alten Bausubstanz, sondern aus der konse-
tet er eine Arkade in der ehemaligen Wand zwischen Chor
quenten Angleichung der gotischen Kapitellzone an den
und Nebenchor.697 Aufgrund der deutlichen Ähnlichkeit
Westbau einerseits und an die Vierung andererseits. Den-
zu den Kryptapfeilern halte ich hingegen eine ursprüng-
noch verschmelzen gotische, stauferzeitliche und spätot-
liche Nutzung im Kryptaobergeschoss, das zugunsten des
tonische (altfridische?) Teile an den Vierungspfeilern
Hallenchores aufgegeben wurde, für wahrscheinlicher.
strukturell zu einer tragkonstruktiven Einheit und fügen
In jedem Fall aber handelt es sich ohne Zweifel um ein
sich damit in die übergreifende architektonische Ordnung
Werkstück aus der Zeit der Äbtissin Theophanu, das beim
der Kirche ein.
gotischen Umbau des südlichen Nebenchores in einem
Bei den Bemühungen, die beiden Nahtstellen zwi-
neuen Kontext Verwendung fand, was zumindest eine ge-
schen alten und neuen Raumkompartimenten beim goti-
wisse Wertschätzung ausdrückt, die man dem Pfeiler des
schen Umbau zu bewältigen, zeigen sich im Vergleich also
11. Jahrhunderts zum Ende des 13. Jahrhunderts entgegen-
Unterschiede im Detail, die verdeutlichen, wie differen-
brachte. Nicht mehr nachvollzogen werden kann leider, ob
ziert man auf die individuellen Voraussetzungen einging,
die Nische in der östlichen Nebenchorwand, welche der
welche die Integration des Bestandes mit sich brachte.
Pfeiler flankiert, etwas barg, das mit der Tradition des Or-
695 Kap. 4.3.2. 696 Ebd.
697 Zimmermann 1956, S. 243.
166
4 DER DOM ZU ESSEN
tes in Verbindung stand. Dies wüsste man schon deshalb gerne genauer, weil sich neben der Nische ursprünglich der Zugang zur Theophanu-Krypta befand und somit ein gewisser räumlicher Bezug zum authentisch alten Gebäudeteil besteht.
Die antikisierenden Säulen der Krypta In der Krypta stehen zwei Säulen, die sich auffallend von den anderen Stützen des Raumes absetzen (Taf. 4.14–4.16). Die Säulen, von denen sich eine jeweils vor der nördlichen und südlichen Wand des äußeren Kryptaraumes befindet, greifen erkennbar, aber stark variierend und vereinfachend die korinthische Ordnung auf. Mit ihren monolithischen Schäften, antikisierenden Kapitellen und Basen sowie den ausgeprägten Kämpferwürfeln unterscheiden sich die Säulen einerseits stark von den anderen Stützen der Krypta, andererseits differieren die Kapitelle aufgrund des hohen Grades an Stilisierung sowie des vergleichsweise graphisch und reliefartig aufgefassten Dekors aber auch deutlich von den plastisch durchgearbeiteten korinthischen Kapitellen im Westbau (Taf. 4.12) sowie dem Kapitell der Kreuzsäule (vgl. Abb. 4.23). Während die ältere Literatur davon ausgeht, die Säulen würden zum ursprünglichen Konzept des 1051 geweihten Gebäudeteils gehören, spricht sich Klaus Lange dafür
4.18 Dom zu Essen, Basis, Detail zu Taf. 4.16 (Hauke Horn, 2012)
aus, dass sie erst im Zuge des gotischen Umbaus in die Krypta versetzt worden seien.698 Dabei stützt er sich jedoch
spricht stattdessen dafür, dass die Säulen vormals an einer
allein auf einen knappen Restaurierungsbericht von 1851
anderen Stelle standen, wo die gleiche Schadensursache
ohne Autorenangabe, dessen Aussagen wenig differen-
auf beide einwirken konnte.
ziert und nicht nachprüfbar sind.699
Zu diesem Befund passt auch die stilkritische Einord-
Allerdings ließen sich bei einer persönlichen Inaugen-
nung der Basen der Kryptasäulen (Abb. 4.18), die von den-
scheinnahme vor Ort in der Tat Hinweise auf einen Ver-
jenigen im Westbau deutlich abweichen (Abb. 4.19). Ein
satz aufspüren.
wesentlicher Unterschied ist der fehlende obere Torus an
So weisen beide Schäfte durchgehende Bruchnähte
den Basen der Kryptasäulen. Darüber hinaus wirken die
mit teils größeren Abplatzungen an den Bruchkanten auf,
Basen, als hätte man, bildlich gesprochen, die Luft heraus
die belegen, dass die Säulen zu einem unbekannten Zeit-
gelassen, so dass die Kehlen zu Mulden einsackten, wohin-
punkt umkippten, dabei brachen und wieder zusammen-
gegen die Mulden der Westbau-Basen teilweise überstreckt
gefügt wurden.700 Die übrigen Stützen der Krypta weisen
wirken, so als hätte man zu viel Luft hineingepumpt, um in
keine vergleichbaren Schäden auf und auch sonst gibt
diesem Bild zu bleiben. Während die gestreckten Basen des
es keine Hinweise, die den Bruch der Säulen im Zusam-
Westbaus formal gut in das 11. Jahrhundert passen,701 zäh-
menhang mit einem die ganze Krypta betreffenden Ereig-
len verflachte Basen zu den zeittypischen Formmerkmalen
nis sehen lassen. Das gleiche Schadensbild an den heute
des 13./14. Jahrhunderts,702 wie es die zahlreichen Basen im
ca. 10 Meter voneinander entfernt stehenden Schäften
gotischen Chor und Langhaus des Essener Doms selbst
698 Lange 2001, S. 37. 699 Die Münsterkirche in Essen I, in: Organ für christliche Kunst 1, 12/1851, S. 91; Reprint bei Lange 2001, S. 115. 700 Damit korrespondieren Bruch- und Fehlstellen an den Kapitellen. 701 Vgl. etwa die Basen in den Seitenschiffen des Doms zu Speyer.
702 So wirken, um ein willkürliches Beispiel zu nennen, viele der Basen des im 13. Jahrhundert entstandenen Bischofsgangs des Magdeburger Doms ebenfalls so, als wären die Kehlen zu Mulden eingesackt (Taf. 3.05).
167
4.3 MATERIELLE BEZÜGE DER KIRCHE ZUR TRADITION DES ORTES
Nimmt man die genannten Indizien zusammen, so sprechen sie in der Summe dafür, dass die antikisierenden Säulen tatsächlich erst im Zuge des gotischen Umbaus an ihren heutigen Platz in der Krypta gelangten.704 Die Säulen könnten während der gotischen Umbaukampagne um 1300 bei Abbrucharbeiten zu Schaden gekommen sein, wurden jedoch gesichert und an ihrem heutigen Standort in der Krypta wieder zusammengefügt. Die Basen waren anscheinend nicht mehr verwendbar und wurden durch Neuanfertigungen ersetzt, welche die alten Formen aufgreifen, so dass sie bisher für die originalen Stücke gehalten wurden. Bei einer genauen Formenanalyse geben sie sich allerdings als spätere Zutat zu erkennen. Der gesamte Vorgang deutet auf ein höchst bemerkenswertes Traditionsbewusstsein um 1300 hin, da alte Säulen aus dem ottonischen Vorgängerbau wiederum in einen alten Gebäudeteil integriert wurden. Die Einpassung in die architektonische Struktur der Krypta gelang derart überzeugend, dass man in der Literatur lange davon ausging, die Säulen gehörten zum ursprünglichen Konzept der Krypta.
Die Basis des Weihwasserbeckens 4.19 Dom zu Essen, Basis, Westbau, südliche Emporenkammer, südliche Säule (Hauke Horn, 2012) belegen. Insofern liegt es nahe, die Basen der antikisieren-
Alte Werkstücke fanden beim gotischen Umbau des Münsters auch als Teile von Ausstattungsstücken eine neue Verwendung; so ein altes Kapitell, das heute als Basis des Weihwasserbeckens dient (Abb. 4.20).
den Säulen in der Krypta als spätere Ergänzungen anzuse-
Das Kapitell stellt eine Vereinfachung eines antiken
hen, die in der Zeit des gotischen Umbaus gefertigt wur-
ionischen Kapitells mit Voluten und dazwischenliegen-
den,703 was wiederum für einen Versatz spricht.
dem Eierstab dar. Abweichend vom Vorbild wurden aller-
Im Vergleich mit den gotischen Tellerbasen des Lang-
dings alle vier Seiten auf die gleiche Weise gestaltet. Das
hauses fällt die Verflachung der Basen der Kryptasäulen
ionische Kapitell wurde demnach nicht dreidimensional
recht moderat aus. Der untere Torus wurde immerhin als
begriffen, sondern zweidimensional als Muster in der Flä-
Wulst ausgeführt, im Unterschied zu den fast scheiben-
che aufgefasst, wie man es vergleichbar bei den Pfeilern in
artigen Tori in Chor und Langhaus. Diese moderate, aus
der Krypta oder dem thematisierten romanischen Pfeiler
entstehungszeitlicher Perspektive gar retrospektive Ge-
in der Südostecke des südlichen Nebenchores beobachten
staltung der Kryptasäulenbasen erweckt den Anschein,
kann. Da sich zudem auf der Westbauempore vergleich-
als habe man auf die modernsten gotischen Basenformen
bare ionische Kapitelle befinden (Abb. 4.21), lässt sich das
verzichtet und sich stattdessen bewusst an den alten Ba-
als Basis umgenutzte Kapitell des Weihwasserbeckens
sen orientiert, ohne diese aber getreu zu kopieren.
recht sicher in die ottonische Zeit des Stifts datieren.
703 Die Steinbearbeitung weist allerdings auf eine neuzeitliche Entstehung der jetzigen Basen hin, denn die Plinthen, die mit den Basen aus einem Stück gefertigt zu sein scheinen, wurden mit senkrecht zur Kante ausgeführten, sehr regelmäßigen Schlägen scharriert, im Gegenteil zu den Kapitellen und Kämpferwürfeln, die mit diagonal angesetzten Schlägen teils kreuzweise geflächt wurden. Gleichartig scharrierte Flächen finden sich an zahlreichen Werkstücken der Krypa, etwa an den Gesimsen, und weisen jeweils einen deutlich besseren Erhaltungszustand auf als die gespitzten Werkstücke. Es ist gut möglich, dass die scharrierten Werksteine im Zuge einer
der Restaurierungskampagnen des 19. Jahrhunderts eingefügt wurden. Die formale Gleichartigkeit, die bei den Gesimsen erkennbar angestrebt wurde, lässt darauf schließen, dass auch die Basen die älteren Stücke formgetreu imitieren, also die gotische Form wiederholen. 704 Über den ursprünglichen Aufstellungsort der Säulen kann allerdings nach derzeitigem Kenntnisstand nur spekuliert werden. Klaus Lange vermutet eine Verwendung in den Emporenarkaden des alten Chores (Ders. 2001, S. 37), aber eine Aufstellung im ehemaligen Obergeschoss der Krypta wäre ebenso denkbar.
168
4 DER DOM ZU ESSEN
4.20 Dom zu Essen, Weihwasserbecken, 14. Jh., mit wiederver wandtem, antikisierendem Kapitell aus der ottonischen Basilika (Hauke Horn, 2012) Aufgrund seiner Größe könnte das ionische Kapitell
4.21 Dom zu Essen, antikisierendes Kapitell nach dem Vorbild der ionischen Ordnung, Westbau, nördliche Emporenkammer, westliche Säule (Hauke Horn, 2012)
Alte Werkstücke als Zeichen der Tradition des Ortes
am Weihwasserbecken von den ottonischen Mittelschiff
Wie bei den in situ integrierten Bauteilen der Kirche stellt
arkaden stammen. In der Literatur wird allgemein eine
sich auch bei den in neuem Kontext wiederverwandten
Entstehung des Weihwasserbeckens im Zuge des goti-
Werkstücken die Frage nach dem Grund ihrer Wiederver-
schen Umbaus angenommen, weil es naheliegt, dass das
wendung. Handelt es sich um rein wirtschaftliche Über-
Kapitell nicht lange nach dem Abbruch der Mittelschiff-
legungen oder können die alten Elemente als bewusst
wände in den neuen Kontext überführt wurde.
Dafür
eingesetzte Zeichen für die Tradition des Ortes aufgefasst
spricht auch der Fund zweier identischer Kapitelle bei der
werden? Dass man bei der Zweitverwendung des antiki-
Freilegung der Nischen in den Langhausseitenwänden im
sierenden Kapitells als Basis des Taufbeckens einen wirt-
19. Jahrhundert.706 Offenbar nutzte man das Abbruchma-
schaftlichen Vorteil erzielte, ist unbestritten, doch stellt
terial direkt für den Umbau der Langhauswände.
sich die Frage, ob dies die primäre Intention oder lediglich
705
Die Umfunktionierung eines alten Kapitells zu einer
ein willkommener Nebeneffekt war. Bei den in situ erhal-
Basis erinnert entfernt an den Umbau des Magdeburger
tenen Bauteilen konnte nachgewiesen werden, dass wirt-
Doms im 13. Jahrhundert, wo zahlreiche alte Kapitelle
schaftliche Gründe für die Integration nur eine nachgeord-
eine neue Verwendung als Basen der Säulen im Remter
nete Rolle spielten und somit eine planvolle Bewahrung
fanden (vgl. Abb. 3.10).707
des Alten intendiert war.708 Bewertet man die Zweitverwendung der alten Werkstücke nicht isoliert, sondern im ganz-
705 Zimmermann 1956, S. 197; Humann 1890, S. 28. 706 Humann 1890, S. 28. Der Verbleib der Kapitelle ist derzeit unklar.
707 Kap. 3.3.1. 708 Kap. 4.2.3; 4.3.2; 4.3.3.
169
4.4 DIE INSZENIERUNG DER TRADITION DES ORTES MITTELS DER AUSSTATTUNG
heitlichen Umbauprozess, dann liegt es nahe, ebenfalls von
Noch ein weiterer Punkt spricht gegen eine primär
planvollen Wiederverwendungen auszugehen, vergleich-
wirtschaftliche
bar mit dem Umgang von Spolien, die von einem anderen
nämlich dass eine solche Annahme eine gleichgültige
Ort absichtsvoll in einen neuen Kontext überführt wurden.
Einstellung gegenüber der Gestaltung impliziert, nach
Dies geschah auch bei den Säulen des ottonischen Doms zu
dem Motto: Egal wie es aussieht, Hauptsache es kostet we-
Magdeburg,
nig. Angesichts des hohen Aufwandes, der beim Umbau
709
nur dass diese Werkstücke aus der eigenen
Wiederverwendung
alter
Werkstücke,
Vergangenheit stammen und somit auf die eigene Tradi-
der Kirche um 1300 betrieben wurde, vor allem aber der re-
tion des Ortes verweisen. Insbesondere die antikisierenden
ligiösen Überzeugungen, die dahinter standen, erschiene
Säulen in der Krypta sind derart passend in deren architek-
es im Gegenteil befremdlich, wenn den Verantwortlichen
tonische Struktur eingebettet worden, dass von einer Verle-
das Aussehen bestimmter Teile der Kirche gleichgültig ge-
genheitslösung aus Sparsamkeit keine Rede sein kann.
wesen wäre.
4.4 Die Inszenierung der Tradition des Ortes mittels der Ausstattung Die Vielfältigkeit und Deutlichkeit, mit der beim goti-
der Krypta des Essener Doms aufgestellt ist, denn dessen
schen Umbau des Essener Doms auf die Tradition des
mit Blendmaßwerk verzierte Wände weisen ihn sicher als
Ortes Bezug genommen wurde, legt nahe, dass es sich
gotisches Werk aus. Die Dreiblätter im Couronnement er-
hierbei nicht bloß um ein rein formales Phänomen han-
lauben eine nähere stilkritische Datierung des Maßwerks
delt, sondern dass gezielt an die Vergangenheit erinnert
nach 1300;712 Merkmale, die auf eine Entstehungszeit nach
werden sollte. Wenn aber die Tradition des Ortes bewusst
1350 hindeuten, lassen sich nicht erkennen. Die Erwäh-
ins Gedächtnis gerufen werden sollte, dann müsste man
nung des Grabmals im Liber Ordinarius, welcher in die
erwarten, dass nicht nur die Architektur, sondern auch
zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts datiert wird,713 liefert
andere Medien zu diesem Zweck genutzt wurden. Tat-
schließlich einen terminus ante quem für die Neuaufstel-
sächlich lässt sich im Folgenden aufzeigen, dass auch die
lung, so dass, alle Indizien zusammengenommen, von einer
Ausstattung der Kirche zur Inszenierung der Tradition des
Entstehung des Altfrid-Sarkophags in der ersten Hälfte des
Ortes instrumentalisiert wurde.
14. Jahrhunderts ausgegangen werden darf. Damit knüpft die Neugestaltung des Grabmals im Grunde nahtlos an die
4.4.1 Die Neuinszenierung des Altfrid-Grabmals
architektonischen Umbaumaßnahmen der Kirche an.
Kaum zufällig erfolgte im Zuge des gotischen Umbaus eine
oberirdische Präsentation des Grabmals in einem Zusam-
Neuinszenierung des Grabmals des Stiftsgründers Altfrid,
menhang mit der rheinischen Gruppe von Hochgräbern
der nach seinem Tod 874 nicht in seiner Bischofskirche,
für Heilige ab ca. 1300 zu sehen sei,714 wobei wohl insbe-
sondern im Essener Münster beigesetzt wurde.
Zimmermann wies zu Recht darauf hin, dass die neue
Weder
sondere die Grabmale im neuen Kölner Dom typbildend
die Gestalt noch die genaue Stelle des ursprünglichen
wirkten. Tatsächlich verehrte man Altfrid im mittelalter-
Grabmals ist bekannt; im Vergleich mit anderen frühmit-
lichen Frauenstift trotz fehlender Kanonisation als Heili-
telalterlichen Gräbern der sächsischen Eliten wäre wohl
gen,715 so dass eine symbolische Angleichung des Altfrid-
ein Bodengrab zu vermuten.
Grabes an Heiligengräber mittels der Art der Aufstellung
710
711
Den Hinweis auf eine grundlegende Neugestaltung des
wohl beabsichtigt war.
Altfrid-Grabes zur Zeit des Umbaus liefert die Gestalt des
Gleichwohl lässt sich die Entstehung von Hochgrä-
erhaltenen Steinsarkophags (Abb. 4.22), welcher derzeit in
bern nicht allein mit religiösen Beweggründen erklären,
709 Kap. 3.3.1. 710 Arens 1908, S. 245. 711 Zu frühmittelalterlichen Grabmalen: de Blaauw 2012. Ein Beispiel geben die Bodengräber von König Heinrich I. und Königin Mathilde in Quedlinburg. 712 Im deutschen Bereich tauchen Dreiblätter wohl zuerst am Straßburger Westbau Ende des 13. Jahrhunderts auf, Anfang des
14. Jahrhunderts werden sie schließlich häufig verwandt, z. B. in Oppenheim, Oberwesel oder der Sakristei von St. Gereon in Köln. Die Datierung von Arens, zwischen 1250 und 1350, setzt demnach zu früh an (Ders. 1908, S. 245). 713 Bärsch 2007, S. 21; Arens 1908, S. VIII. 714 Zimmermann 1956, S. 200f. 715 Cohausz 1974.
170
4 DER DOM ZU ESSEN
4.22 Dom zu Essen, Krypta, Sarkophag des hl. Bischofs und Stiftsgründers Altfrid, 1. Hälfte des 14. Jh. (Hauke Horn, 2012) denn bereits in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts
Ordinarius bezeugt.717 Auf diese Weise wurde sowohl die
setzte eine Tendenz ein, nicht-heilige Stifterpersönlich-
Beziehung Stiftsgründer – Stiftspatrone bildlich in Szene
keiten mittels oberirdischer Grabmäler stärker in Erschei-
gesetzt, als auch eine Angleichung Altfrids an die Heiligen
nung treten zu lassen, wie dies etwa bei der oberirdischen
geschaffen und damit eine Heiligkeit Altfrids selbst impli-
Neuaufstellung des Sarkophags Kaiser Ottos des Großen
ziert, die im Essener Frauenstift ohnehin als gegeben be-
in Magdeburg geschah716 oder bei der Errichtung der be-
trachtet wurde.
rühmten Tumba für Heinrich den Löwen und seine Frau
Mit der neuen oberirdischen Aufstellung des Sarko-
Mathilde im Braunschweiger Dom. Insofern konnte das
phags gewann das Grabmal Altfrids an unübersehbarer
Altfrid-Grab sowohl als Heiligen- wie auch als Stiftergrab
körperlicher Präsenz im Kirchenraum, die mittels des
verstanden werden, wobei sich beide Ebenen in mittel-
neuen Aufstellungsortes weiter gesteigert wurde, denn
alterlicher Sichtweise wohl untrennbar miteinander ver-
der mit aktuellen Maßwerkformen prächtig geschmückte
mischten.
Sarkophag stand gemäß dem Liber Ordinarius in der Mitte
In diese Richtung zielte wohl auch die Aufstellung
der Vierung auf der Achse zwischen Kreuz- und Hochal-
verloren gegangener Statuen der Stiftspatrone Cosmas
tar und damit an einer der exponiertesten Stellen im Kir-
und Damian beim Grab des Stifters, welche der Liber
chenraum (Taf. 4.17).718 Ort und Gestalt des neuen Altfrid-
716 Kap. 3.3.2. 717 Arens 1908, S. 190. – Vermutlich wurden die Skulpturen beim Einsturz der Vierungsgewölbe Mitte des 15. Jahrhunderts irreparabel beschädigt. Dafür spricht auch der Entstehungszeitraum der um 1500 gefertigten Skulpturen Cosmas und Damians, die sich heute
an den östlichen Vierungspfeilern befinden (zu den Skulpturen: Kat. Essen 2009, S. 250f. (Michael Rief)). Der aktuelle Aufstellungsort kommt demjenigen des 14. Jahrhunderts also nahe, der symbolische Bezug zum Altfrid-Grab fehlt allerdings. 718 Arens 1908, S. 259f.
4.4 DIE INSZENIERUNG DER TRADITION DES ORTES MITTELS DER AUSSTATTUNG
Grabmals ergänzten sich demnach wechselseitig in dem
171
4.4.2 Die Kreuzsäule
offensichtlichen Streben, die Erinnerung an den heiligen Stiftsgründer visuell stärker in den Vordergrund zu rücken.
Direkt hinter dem Kreuzaltar, der in der Mittelachse der
Dazu trugen auch die Dimensionen des Sarkophags
Kirche unmittelbar vor der Vierung stand, befand sich laut
von ca. 2 × 0,6 × 1 Metern bei, die suggerieren, dass ein
Liber Ordinarius eine Kreuzsäule (Taf. 4.17, Abb. 4.23).723
kompletter menschlicher Körper in ihm ruhe, was die Vor-
Die Säule, welche heute vor dem Mittelfenster der östli-
stellung von der Person Altfrids erleichtert. Dass es sich
chen Chorwand steht, besteht aus einer attischen Basis
hierbei um ein inszenatorisches Mittel handelt, offenbarte
mit Plinthe, einer kannelierten Trommel, einem monoli-
die Öffnung des Grabes 1890, die neben einem beschä-
thischen, sich verjüngenden, gelb-braunen Marmorschaft
digten Schädel einen kleineren, romanischen Schrein aus
und einem korinthischen Kapitell. Während es sich bei
Holz zum Vorschein brachte, der einige Gebeine beher-
dem Schaft gemäß Material und Verarbeitung unstrittig
bergte.719 Hier zeigt sich eine Parallele zum spätgotischen
um eine antike Spolie handelt, konnte das korinthische
Grabmal der Königin Edith im Magdeburger Dom (vgl.
Kapitell als mittelalterliches Werk identifiziert werden,
Abb. 3.15), wo zusätzlich zu den stattlichen Dimensionen
wobei der genaue Entstehungszeitraum unklar bleibt.724
eine plastische Darstellung der Königin auf dem Deckel
Ob die Trommel in der Antike oder dem Frühmittelalter
die Vorstellungskraft des Betrachters anregt, obgleich
entstand, ist ebenso umstritten;725 die Datierung der Basis
nach jüngsten Forschungen »nur« ein schlichter Bleikas-
wurde nur selten thematisiert.726
ten mit den Gebeinen in dem Sarkophag ruht.
Im Mittelalter trug die Säule ein Kreuz,727 von dem
720
Ferner schuf man mit der oberirdischen Aufstellung
sich lediglich eine Inschrift aus vergoldetem Kupfer in
des Sarkophags in Essen ein Alleinstellungsmerkmal, wel-
Essener Domschatzkammer erhalten hat, welche der
ches das Altfrid-Grab gegenüber den Gräbern der Äbtis-
eine Äbtissin Ida als Auftraggeberin ausweist,728 die von
sinnen, die das Privileg der Bestattung im Kircheninneren
den meisten Autoren als diejenige Äbtissin gleichen
genossen, hervorhob, denn deren Gräber wurden nach wie
Namens, welche das Essener Frauenstift 965–971 leitete,
vor als Bodengräber angelegt.
Schließlich ermöglichte
identifiziert wird.729 Allerdings gibt es auch den Vorschlag,
die gestalterische Neuinszenierung des Grabmals auch
den Namen auf Ida, Äbtissin von Maria im Kapitol zu
dessen Neuinszenierung in der Liturgie des Stifts, in wel-
Köln und Schwester der Essener Äbtissin Theophanu, zu
che das Altfrid-Grab bei zahlreichen Gelegenheiten einbe-
beziehen und das Kreuz somit rund 100 Jahre später zu
zogen wurde.
datieren.730
721
722
719 Arens 1908, S. 247f. – Arens berichtet, dass der mittelalterliche Holzschrein, den man im Zuge der Aktion durch einen neogotischen ersetzte, verworfen wurde (Ders., S. 248f.). Im Katalog der Essener Domschatzkammer ist allerdings ein Minnekästchen verzeichnet, bei dem es sich um jenen mittelalterlichen Holzschrein handeln soll (Kat. Essen 2009, S. 95 (Anna Pawlik)). 1974 wurde der historistische Schrein seinerseits durch einen modernen ersetzt (Kat. Essen 2009, S. 166f (Anna Pawlik)). Der Schrein des 19. Jahrhunderts befindet sich ebenfalls in der Essener Domschatzkammer (Ebd., S. 168f.). 720 Kap. 3.4.4. 721 Pothmann 1987, S. 6–8. 722 Arens 1908, z. B. S. 176, 185, 191, 195. 723 Arens 1908, S. 260. – Die Grabungen unter Zimmermann brachten an dieser Stelle ein Fundament zu Tage, welches die Angabe im LO bestätigt (Ders. 1956, S. 195). Auf der Rekonstruktionszeichnung von Arens sind Altar und Säule demzufolge etwas zu weit östlich eingezeichnet. Die längsrechteckige Form des Fundamentblocks weist darauf hin, dass Altar und Kreuzsäule zusammen angelegt wurden. 724 Zweites Viertel 10. Jahrhundert: Zimmermann 1956, S. 197; MeyerBarkhausen 1952, S. 56. – Mitte 11. Jahrhundert: Pothmann 1997, S. 53; Beuckers 1994, S. 24f. – Das Kapitell weist Ähnlichkeiten zu den korinthischen Kapitellen des Westbaus auf, ohne jenen allerdings genau zu entsprechen. Angesichts der unklaren Datierung des Westbaus drehen sich die Argumente hinsichtlich der Datierung zur Zeit im Kreis. 725 Antik: Beuckers 1994, S. 24; Zimmermann 1956, S. 196. – Frühmittelalterlich: Meyer-Barkhausen 1952, S. 56. – Die Trommel verjüngt sich nach oben hin zum Schaft, muss also für den Schaft in seiner jetzi-
726
727
728 729 730
gen Form geschaffen worden sein. Der Schaft weist jedoch unten eine Bruchkante auf und scheint demzufolge ursprünglich länger gewesen zu sein. Ergo muss die Trommel nachträglich, vermutlich im Frühmittelalter, für die Kreuzsäule gefertigt worden sein. Dafür spricht auch der merkwürdige Fußring, der mit der Trommel aus einem Stück gefertigt wurde. Beuckers hält die Basis für antik, jedoch ohne entsprechende Argumente zu nennen (Ders. 1994, S. 24). Die Basis weicht im Material von den übrigen Teilen der Säule ab; zudem weist sie deutlich geringe Abnutzungspuren und im Unterschied zu Trommel und Schaft auch keine Reparaturen auf, so dass erwogen werden sollte, ob Trommel und Plinthe in der jetzigen Form aus der Mitte des 19. Jahrhunderts stammen, als die Kreuzsäule neu aufgestellt wurde (zur frühneuzeitlichen Baugeschichte der Säule: Pothmann 1997, S. 55). Grundlegend zum sog. Ida-Kreuz: Falk 2011. Das ottonische Kreuz wurde anscheinend im 15. Jahrhundert gegen ein silbernes ausgetauscht, welches mittlerweile in der Domschatzkammer aufbewahrt wird (Kat. Essen 2009, S. 140f. (Birgitta Falk)). Die Marmorsäule trägt heute ein modernes Kreuz der Künstlerin Lioba Munz (Pothmann 1997, S. 55). Zur Inschrift: Falk 2011, S. 154–157; Kat. Essen 2009, S. 57 (Sonja Hermann); Pothmann 2002, S. 136–138. Kat. Essen 2009, S. 56f. (Sonja Hermann); Pothmann 1997, S. 55; Zimmermann 1956, S. 195; Meyer-Barkhausen 1952, S. 56f. Beuckers 1994, S. 25. Im Katalog »Krone und Schleier« tendiert Beuckers hingegen vorsichtig zu einer Datierung ins 10. Jahrhundert (Kat. Krone und Schleier 2005, S. 170).
172
4 DER DOM ZU ESSEN
Die unklare Forschungssituation zum Entstehungskontext der Kreuzsäule belegt eindrucksvoll, welcher Wert der Säule als sichtbarem Zeichen von Geschichte beigemessen wurde, denn die Unklarheiten resultieren letztlich daraus, dass sich die unterschiedlichen Zeit- und Bedeutungsebenen derart komplex überlagern, dass die Grenzen zwischen Authentizität und Imitation verschwimmen. Die medialen Qualitäten der Säule liegen in ihrer vertikalen Höhenentwicklung, denn mit einer Höhe von rund 5,20 Meter zuzüglich der unbekannten Höhe des Kreuzes überragte sie die anderen Objekte der Kirche deutlich.733 So bildete die Kreuzsäule einen im ganzen Kirchenraum sichtbaren Fixpunkt, einen Dreh- und Angelpunkt in der optischen Wahrnehmung des Raumes, welcher der theologischen und liturgischen Bedeutung des Kreuzaltars Rechnung trug. Die Motive für die Errichtung der Kreuzsäule und deren theologischer wie ikonologischer Sinngehalt können in diesem Rahmen nicht erörtert werden. Unter der hier untersuchten Fragestellung ist primär von Interesse, dass die Kreuzsäule aus der Zeit der ottonischen Äbtissinnen unverändert in den Umbau der gotischen Zeit integriert wurde. Damit bildete die alte Kreuzsäule im neuen Kirchenraum auch ein Zeichen, das die glorreiche ottonische Vergangenheit des Damenstifts vor Augen führte. Insofern stand die Bewahrung der »originalen« Substanz im Vordergrund späterer mittelalterlicher Restaurationsbemühungen, die für das 15. Jahrhundert urkundlich nach-
4.23 Dom zu Essen, Kreuzsäule, 3. Viertel 10. Jh. oder Mitte 11. Jh., Säulenschaft antik. Originales Kreuz nur fragmentarisch erhalten, heutiges Kreuz von Lioba Munz, 1960er Jahre (Hauke Horn, 2012)
gewiesen sind,734 was Klaus Gereon Beuckers zu der treffenden Folgerung veranlasste: »Es ist auffallend, daß man den Korpus nicht einfach
Die Frage nach dem Entstehungskontext der Kreuzsäule schließt die Fragen ein, wie und wann die antike Spolie nach Essen kam. Ausgehend von der Datierung des Kreuzes in die Amtszeit der Essener Ida wies die ältere Literatur auf die Spolien hin, die Kaiser Otto der Große
erneuert hat, sondern die kompliziertere Form der Umarbeitung von Teilen gewählt hat, bei der […] Substanz erhalten blieb. Eine derartige Vorgehensweise kann nur mit der besonderen Wertschätzung des Bildwerkes erklärt werden.«735
zu jener Zeit für seinen Dombau nach Magdeburg trans-
Schließlich ergab sich mit der Neuinszenierung des Alt-
ferieren ließ.
Die Essener Marmorsäule, so die These,
frid-Grabes in der anschließenden Vierung eine sicher-
stamme aus dem Fundus der Magdeburger Spolien und
lich nicht unbeabsichtigte Verknüpfung der hochsymbo-
wäre demnach ein Geschenk des sächsischen Kaisers an
lischen Kreuzsäule mit dem Sarkophag des als Heiligen
das Essener Stift mit seinen Damen aus dem sächsischen
verehrten Stiftsgründers, zu dem ein axialer räumlicher
Hochadel.732
Bezug aufgebaut wurde.
731 Zu den Magdeburger Spolien s. Kap. 3.3.1. 732 Zimmermann vermutet, dass Ida sogar eine Enkelin Ottos des Großen gewesen wäre (Ders., S. 39). 733 Nach der Rekonstruktion Beuckers maß das ottonische Kreuz eine Höhe von 1,25 Metern; das silberne Nachfolgekreuz würde demnach die Dimensionen des Vorgängers widerspiegeln.
734 Meyer-Barkhausen 1952, S. 55. 735 Beuckers 1994, S. 31. Beuckers leitet daraus die interessante These ab, das silberne Nachfolgekreuz könnte im Kern noch das ottonischen Kreuz beinhalten (Ebd.).
731
4.4 DIE INSZENIERUNG DER TRADITION DES ORTES MITTELS DER AUSSTATTUNG
173
Besonders deutlich konnte dieser Bezug aus dem Mit-
zwischen den Altären für Maria Magdalena und Nikolaus
telschiff wahrgenommen werden, von wo es aufgrund
(Taf. 4.17), die ihrerseits vor dem ersten nördlichen bzw.
der perspektivischen Verkürzung erschien, als stünde die
südlichen Langhauspfeiler von Osten lokalisiert werden
Kreuzsäule unmittelbar vor dem Sarkophag Altfrids.
können.738 Der Leuchter stand demnach eine Jochbreite entfernt vor dem Kreuzaltar und zudem auf einer Achse
4.4.3 Der siebenarmige Leuchter
mit Kreuzsäule, Altfrid-Grab und Hochaltar. Aufgrund seiner stattlichen Maße von 2,26 × 1,88 Meter (Höhe × Breite)
Ein weiteres Ausstattungsstück aus der Zeit der ottoni-
besaß der siebenarmige Leuchter, wie die Kreuzsäule im
schen Prinzessinnen, das in den neuen gotischen Hal-
Langhaus, optisch eine hohe Präsenz, die im Dunkeln
lenraum integriert wurde, ist der siebenarmige Leuchter
oder Halbdunkeln durch eine Illumination mit Kerzen
(Abb. 4.24),736 den laut Inschrift Äbtissin Mathilde in Auf-
noch einmal gesteigert wurde.
trag gab, so dass er sicher in deren Amtszeit 971–1011 datiert werden kann.
Während Alfred Pothmann die theologische Sym-
Der aus Bronzegussteilen über einem
bolik des Leuchters darlegte,739 erarbeitete Vera Henkel-
Eisenkern zusammengesetzte Leuchter befand sich laut
mann dessen Bedeutung für die Memoria der Äbtissin
dem Liber Ordinarius im 14. Jahrhundert im Langhaus
Mathilde.740 Beide Sinnebenen blieben bei der Aufstellung
737
des Leuchters nach dem gotischen Umbau sicher erhal-
4.24 Siebenarmiger Leuchter, entstanden zwischen 971 und 1011 im Auftrag der Äbtissin Mathilde (© Domschatz Essen, Foto: Jens Nober, Essen)
ten, doch zusätzlich wurden sie nun von einer weiteren Sinnebene überlagert, denn als altes Kunstwerk im neuen Kirchenraum verwies der Leuchter wie die Kreuzsäule auch auf die große Vergangenheit des Damenstifts. Die Inschrift bewahrte die memoriale Funktion des Leuchters, der aufgrund dessen fortwährend bis in unsere Zeit an die Auftraggeberin kaiserlichen Geblüts erinnert und damit zugleich als eindeutiges Relikt aus der Epoche der ottonischen Äbtissinnen auf die Blütezeit des Damenstifts verweist.
4.4.4 Die Glasmalereien in den östlichen Chorfenstern Einen unverkennbaren Bezug zur Geschichte des Essener Stifts stellten die drei neuen Maßwerkfenster in der östlichen Chorwand her (Taf. 4.17), denn sie trugen Glasmalereien mit figürlichen Darstellungen der bedeutsamsten historischen Personen des Stifts. Die ungewöhnliche Situation des traditionsbedingt geraden Chorschlusses eignete sich in besonderer Weise für die Inszenierung eines speziellen Bildprogramms, denn sie bot aufgrund der Breite eine große Fläche, die frontal zum Betrachter im Kirchenraum hin ausgerichtet war. Zwar gingen die gotischen Glasfenster bei der Errichtung eines monumentalen Barockaltars im 18. Jahrhundert verloren,741 doch sind wenigstens zwei Fenster fragmentarisch durch unterschiedliche Schriftquellen überliefert. 736 Zum siebenarmigen Leuchter: Prechtel 2011; Kat. Essen 2009, S. 66f. (Ina Germes-Dohmen); Henkelmann 2007; Pothmann 2002, S. 140–143; Ders. 1997, S. 56–59. 737 Henkelmann schlägt eine Eingrenzung zwischen 990 und 1002 vor (Dies. 2007, S. 152). 738 Arens 1908, S. 262. – Heute befindet sich der Leuchter im ehemali-
gen Westchor. Auf den Aufstellungsort vor dem gotischen Umbau gibt es keine Hinweise, Henkelmann vermutet eine Aufstellung im Ostteil der Kirche (Dies. 2007, S. 166f.). 739 Pothmann 2002, S. 140; Ders. 1997, S. 56–59. 740 Henkelmann 2007, S. 162–167. 741 Arens 1908, S. 244.
174
4 DER DOM ZU ESSEN
Das große Chorfenster in der Mittelachse der Kirche
die axiale Anordnung die herausragende Bedeutung des
zeigte den Quellen zufolge ein Bildnis des Stiftsgründers
Gründers für das Damenstift zum Ausdruck, denn Grab-
Altfrid, der mittels einer Inschrift nicht nur genau be-
monument und Glasbildnis bildeten eine räumliche
zeichnet, sondern auch als Heiliger ausgewiesen war.742
Klammer um den Hochaltar, also den liturgischen Höhe-
Das südliche Chorfenster zeigte ein Bild der Äbtissin Mat-
punkt der Kirche.
hilde, die inschriftlich als »Mechtildis abbatissa, hujus
Schließlich erfolgte durch die Anordnung der Bild-
conventus olim mater pia« gewürdigt wurde, zusammen
nisse in den Chorfenstern eine Hierarchisierung der his-
mit einer bedeutsamen Persönlichkeit des 13. Jahrhun-
torischen Personen. Bischof Altfrid rückte im zentralen,
derts, König Rudolf I. von Habsburg (rex 1273–1291).
zugleich größten Chorfenster auch im übertragenen Sinn
743
Über die Darstellungen des nördlichen Fensters lässt
in den Mittelpunkt, während die Kaiserenkelin Äbtissin
sich nach derzeitigem Kenntnisstand leider nur spekulie-
Mathilde, aber auch König Rudolf im Seitenfenster dem
ren, angesichts der Bildnisse historischer Persönlichkei-
Stiftsgründer nachgeordnet wurden. Legitimiert werden
ten aus der Geschichte des Stifts in den beiden anderen
konnte die Erhebung Altfrids über die höchsten weltli-
Fenstern darf man aber wohl von einem übergreifenden
chen Autoritäten allein durch seine Verehrung als Heili-
Bildprogramm ausgehen und auch für das Nordfenster
ger, so dass dem entsprechenden Zusatz der Inschrift eine
ein solches Bildnis annehmen; in Frage kämen wohl vor
wichtige Bedeutung zukam; auch deshalb, weil Altfrid
allem Äbtissin Theophanu oder Äbtissin Ida, denn diese
nicht kanonisiert war.
waren durch die Inschriften als Erbauerin der Krypta bzw. als Stifterin der Kreuzsäule besonders präsent.
Auch Äbtissin Mathilde, die im Kirchenraum durch den siebenarmigen Leuchter nur indirekt repräsentiert
Das Bild König Rudolfs und die zugehörige Inschrift
wurde, gewann durch ihre figürliche Darstellung im Chor
im Südfenster sind für die Interpretation des gotischen
an Präsenz. Mittels der Platzierung des Bildnisses im
Umbaus im historischen Kontext von besonderer Wichtig-
Südfenster stellte man die hochadlige Äbtissin auch im
keit und werden deshalb in jenem Zusammenhang näher
übertragenen Sinne an die Seite des als Heiligen verehr-
diskutiert.
An dieser Stelle sei primär auf die figürlichen
ten Stiftsgründers Altfrid und brachte damit die herausra-
Darstellungen Altfrids und Mathildes hingewiesen, wel-
gende Stellung Mathildes, die sich im Kirchenraum subtil
che den Betrachtern des 14. Jahrhunderts und folgender
durch die Positionierung des Leuchters in einer Achse mit
Jahrhunderte unmissverständlich die beiden großen Per-
dem Altfrid-Grab manifestierte, im Medium der Glasma-
sönlichkeiten aus der älteren Vergangenheit des Stifts vor
lerei recht deutlich zum Ausdruck. Die bildliche Relation
Augen führten.
Mathildes zu König Rudolf lässt sich leider nicht rekonst-
744
Mit der Positionierung des Altfrid-Bildes am östli-
ruieren, doch lässt die Darstellung im selben Fenster dar-
chen Ende der Mittelachse schuf man über den Hochal-
auf schließen, dass man den sozialen Rang der Äbtissin,
tar hinweg einen axialen Bezug zum Altfrid-Grab in der
wohl aufgrund der direkten Abstammung von Kaiser Otto,
Vierung. Die Präsenz Altfrids im Kirchenraum wurde auf
sehr hoch einstufte.
diese Weise noch einmal gesteigert, denn die Glasmalerei, welche den als Heiligen verehrten Stiftsgründer aus
4.4.5 Die liturgischen Artefakte
der Sicht des 14. Jahrhunderts als lebendigen Menschen gezeigt haben muss, bildete einen narrativen Hintergrund
Neben den ortsfesten Artefakten hielten kostbare litur-
für den Sarkophag mit den originalen sterblichen Überres-
gische Geräte, die sich in ungewöhnlichem Umfang bis
ten des Hildesheimer Bischofs. So entstand ein Spiel mit
heute erhalten haben und die Essener Domschatzkammer
mehreren Realitätsebenen, das durch die sich teils einstel-
zu einer der wichtigsten Sammlungen ottonischen Kunst-
lende, theologisch ausdeutbare Lichtwirkung der Fenster
handwerks machen,745 die Erinnerung an die große Epo-
an Bedeutungstiefe gewinnen konnte. Zugleich brachte
che der ottonischen Prinzessinnen im Essener Stift wach.
742 Dies geht aus einer Notiz in einem Kalendarium aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts im Essener Domarchiv hervor, in welcher der Verfasser das Chorfenster hinter dem Hochaltar als Beleg für die Heiligkeit Altfrids anführt (zitiert bei Arens 1908, S. 241). 743 Arens 1908, S. 230, 232. – Die Fenster lassen sich durch die Eintragungen im Essener LO (Arens 1908, S. IXf.) und im Essener Äbt. Kat. (Seemann 1883, S. 32f.) rekonstruieren.
744 Kap. 4.5.2. 745 Die Objekte sind im jüngst erschienenen Katalog der Essener Domschatzkammer (Kat. Essen 2009) umfassend und mit weiterführenden Literaturangaben publiziert worden, so dass ich mich im Folgenden bei Literaturhinweisen meist auf den entsprechenden Katalogbeitrag beschränke. Die Katalogbeiträge finden sich in identischer Form auch im Kat. Essen 2008.
4.4 DIE INSZENIERUNG DER TRADITION DES ORTES MITTELS DER AUSSTATTUNG
175
tagen dort nachweisen.748 Damit nahm sie ihrem Rang entsprechend den ehrenvollsten Platz des Kirchraumes ein und stand zugleich in einem symbolischen axialen Bezug zu den anderen Artefakten der Kirchenmittelachse. Zugleich trug man die Goldene Madonna bei feierlichen Prozessionen mit und stellte auf diese Weise neue räumliche oder materielle Beziehungen her.749
Der Marsusschrein Ebenfalls auf dem Hochaltar stand der Marsusschrein, ein Hauptwerk ottonischer Goldschmiedekunst, das aufgrund seiner kostbaren Materialien »Goldene Kiste« genannt wurde. Der Schrein, welcher 1794 irreparablen Schaden erlitt, als man den Domschatz vor dem drohenden Einmarsch französischer Truppen in Sicherheit bringen wollte, wurde jüngst von Klaus Gereon Beuckers in das kunsthistorische Bewusstsein gerufen.750 Der Schrein wies mehrere Inschriften auf, die ihn als Stiftung der Kaiserin Theophanu und ihrer Nichte Äbtissin Mathilde ausweisen.751 Allerdings diente der Schrein interessanterweise nicht primär der Memoria der Auftraggeberinnen, sondern der Memoria Kaiser Ottos II., welcher mit einem außergewöhnlichen runden Brustbild aus Email an der Stirnseite des Schreins figürlich dargestellt und inschriftlich bezeichnet wurde.752 Der Marsusschrein war anscheinend mittig in die Predella eines Retabels eingelassen und befand sich folglich auf der Mittelachse der Kirche (Taf. 4.17).753 Dabei wies die Stirnseite mit dem Kaisermedaillon zum Altar hin, so dass bemerkenswerterweise nicht eine Darstellung des Heiligen, sondern das Brust-
4.25 Dom zu Essen, Goldene Madonna, datiert um 1000 (Poth mann 1993, S. 10)
bild Ottos II. die Hauptansicht bildete. Der Schrein wurde folglich in gotischer Zeit in erster Linie als Medium der Memoria Kaiser Ottos II. inszeniert, womit implizit an die
Die Goldene Madonna
imperiale Verbundenheit des Stifts erinnert wurde, die mit
Eine hervorgehobene Stellung nahm die berühmte »Gol-
der Nennung Mathildes als Auftraggeberin offen ersicht-
dene Madonna« ein (Abb. 4.25), die bildliche Repräsenta-
lich wird.
tion der Stiftspatronin, welche als das »älteste plastische Bild der Muttergottes«746 zum kunstgeschichtlichen Kanon
Die Vortragekreuze
frühmittelalterlicher Plastik zählt. Sie wird in der Litera-
Primär auf die Bewegung durch den Raum hin konzipiert
tur übereinstimmend in die Zeit der Äbtissin Mathilde da-
wurden die vier goldenen Vortragekreuze,754 die zu un-
tiert.747 Die prächtige Marienfigur mit dem Jesuskind auf
terschiedlichen Gelegenheiten durch den Kirchen- und
dem Schoß befand sich wahrscheinlich auf dem Hochal-
Stadtraum getragen wurden.755 Während die überaus kost-
tar, zumindest lässt sie sich bei zahlreichen hohen Fest-
bare Verzierung der Kreuze mit filigranen Goldschmiede-
746 747 748 749 750 751
752 Beuckers 2008, S. 133; Ders. 2006, S. 38, 47, 58f. 753 Beuckers 2008, S. 131–136. 754 Kat. Essen 2009, S. 64f.; 70f.; 78f.; 86f. (Klaus Gereon Beuckers); Pothmann 2002, S. 142–148. 755 Arens 1908, z. B. S. 176, 184, 187.
Kat. Essen 2009, S. 62 (Birgitta Falk). Ebd; Pothmann 2002, S. 138f.; Ders. 1997, S. 60–67. Arens 1908, z. B. S. 172f. Ebd., z. B. S. 170, 181–184. Beuckers 2006. Ebd., S. 35–54.
176
4 DER DOM ZU ESSEN
Das Kreuznagelreliquiar In engem Zusammenhang mit den Vortragekreuzen stand im liturgischen Gebrauch des 14. Jahrhunderts ein Kreuznagelreliquiar (Abb. 4.27), das sich aus zwei edelstein- und emailbesetzten Tafeln mit Bergkristallen in der Mitte, welche die Reliquie sichtbar machen, zusammensetzt, und aufgrund stilistischer Vergleiche als Geschenk der Äbtissin Theophanu angesehen wird.758 Im 14. Jahrhundert erfolgte interessanterweise eine Umarbeitung der Tafeln zu einem Vexillum, so dass das Reliquiar fortan wie die Kreuze bei Prozessionen mittels eines Stabes gut sichtbar über Kopfhöhe durch den Raum bewegt werden konnte. Am Kirchweihfest stand das Kreuznagelreliquiar etwa zusammen mit zweien der Vortragekreuze an der Spitze einer Prozession, welche den Kirchenbau umschritt.759 Im Zusammenhang mit dem Osterfest berichtet der Liber Ordinarius, dass das Kreuznagelreliquiar von zwei Vortragekreuzen flankiert wurde.760 Neben den vordergründigen theologischen Implikationen des In-Beziehung-Setzens von Kreuzreliquie und bildlichen Repräsentationen Jesu am Kreuz wurden bei dieser Inszenierung auch die beiden großen ottonischen Äbtissinnen vergegenwärtigt. Im Falle des Kirchweihfestes wurde durch das Umschreiten des Baus ein zusätzlicher Zusammenhang mit der Stiftskirche hergestellt. Schließlich dokumentiert die Umarbei-
4.26 Domschatzkammer Essen, Mathilden-Kreuz, entstanden zwischen 971 und 1011 im Auftrag der Äbtissin Mathilde, bildliche Darstellung Mathildes auf dem Email am Kreuzfuß (Kat. Essen 2009, S. 87)
tung des Reliquiars im 14. Jahrhundert die Wertschätzung der ottonischen Artefakte nach dem Kirchenumbau und deren respektvolle Anpassung an die neuen liturgischen Bedürfnisse.
arbeiten, zahlreichen Edelsteinen, Gemmen und Emailplättchen allgemein vom Glanz der ottonischen Epoche
Das Theophanu-Evangeliar
im Stift kündete, riefen drei der Kreuze durch Inschriften
Das Andenken der Theophanu sicherte auch ein kostba-
ihre Auftraggeber ins Gedächtnis.756 Ein Kreuz vermachte
res Evangeliar mit einem Einband aus Gold, Juwelen und
Äbtissin Theophanu dem Stift, zwei Kreuze schenkte Äb-
einer eingelegten Elfenbeintafel, auf dem die Auftragge-
tissin Mathilde, davon eines gemeinsam mit ihrem Bru-
berin nicht nur inschriftlich genannt, sondern auch figür-
der Herzog Otto von Schwaben. Die beiden letztgenann-
lich dargestellt wird (Abb. 4.28).761 Das Motiv des Dedika-
ten Kreuze gewährleisteten eine besondere Präsenz ihrer
tionsbildes – Theophanu überreicht das Evangeliar der
Auftraggeberin, denn die ottonische Äbtissin wurde auf
thronenden Maria mit dem Jesuskind auf dem Schoß – äh-
Emailplatten an den Füßen der Kreuze bildlich dargestellt;
nelt in auffallender Weise dem Dedikationsbild auf dem
einmal kniend vor der thronenden Maria (Abb. 4.26),757
Mathildenkreuz, so dass die Annahme naheliegt, dass sich
einmal gemeinsam mit ihrem Bruder.
Theophanu bewusst in die Tradition ihrer großen Vorgän-
756 Das vierte Kreuz wird aufgrund seines Stils ebenfalls in die Zeit Mathildes datiert (Pothmann 2002, S. 145). Beuckers geht von einer Umarbeitung unter Äbtissin Sophia (ab. 1011–1039) aus (Kat. 2009, S. 70). 757 Beuckers meint, dass es ich bei dem Mathildenkreuz um eine Arbeit handelt, die unter Äbtissin Theophanu im Gedenken an Mathilde geschaffen wurde (Kat. Essen 2009, S. 86).
758 Kat. Essen 2009, S. 14f. (Klaus Gereon Beuckers); Pothmann 2002, S. 150. 759 Arens 1908, S. 187. 760 Ebd., S. 205f. 761 Zum Evangeliar: Kat. Essen 2009, S. 182f. (Katrinette Bodarwé); Gass 2007. – Zum Einband: Kat. Essen 2009, S. 82f. (Anna Pawlik); Pothmann 2002, S. 149.
4.4 DIE INSZENIERUNG DER TRADITION DES ORTES MITTELS DER AUSSTATTUNG
177
4.28 Domschatzkammer Essen, Buchdeckel eines Evangeliars, entstanden zwischen 1039 und 1058 im Auftrag der Äbtissin Theophanu, bildliche Darstellung der Theophanu unten auf dem Rahmen (Pothmann 1993, S. 17) gerin stellen wollte.762 Das Evangeliar wurde nicht nur für besondere Messen genutzt, sondern auch bei Prozessionen mitgetragen.763
Die Artefakte im Kontext von Architektur und Tradition des Ortes Die summarische, unvollständige Aufzählung der herausragenden Objekte vermittelt eine Vorstellung davon, wie sehr der Kirchenraum nach dem gotischen Umbau von Artefakten aus der Frühzeit des Stifts durchdrungen war. Die auf diese Weise sichergestellte liturgische Kontinuität veranschaulichte auch die große Vergangenheit des Stifts. Auch wenn die primär liturgische Funktion der Artefakte unstrittig ist, stellt sich darüber hinaus jedoch die Frage,
4.27 Domschatzkammer Essen, Kreuznagelreliquiar, Tafelreliquiar Mitte 11. Jh., im 14. Jh. zu einem Vexillum umgearbeitet (© Dom schatz Essen, Foto: Jens Nober, Essen)
762 Die beiden Madonnen-Bilder ähneln wiederum der Goldenen Madonna im Essener Schatz, so dass diese möglicherweise als Vorbild diente.
inwiefern die Artefakte im 14. Jahrhundert auch der bewussten Inszenierung der Tradition des Stifts dienten, was natürlich Wissen um die Herkunft der Artefakte vo-
763 Kat. Essen 2009, S. 182 (Katrinette Bodarwé).
178
4 DER DOM ZU ESSEN
raussetzt. Aufgrund der Inschriften kann aber sicher davon ausgegangen werden, dass man das Alter der Objekte kannte, auch wenn man nicht erwarten darf, dass die Stücke gemäß heutigem Verständnis zeitlich richtig eingeordnet werden konnten. Dies verdeutlicht eine Urkunde über die Restauration des Kreuzes der Kreuzsäule 1413, in der man davon ausging, die Reliquien seien 200 Jahre zuvor in das Kreuz gelangt, obgleich das Kreuz zu jenem Zeitpunkt bereits 350–450 Jahre alt war.764 Das Zusammenspiel der verschiedenen Objekte untereinander und in Wechselwirkung mit der Architektur verdeutlicht exemplarisch die im Liber Ordinarius dargelegte Osterliturgie im Essener Stift. Am Karfreitag errichtete man auf der Empore des Westbaus ein Zelt als symbolisches Grab, in welchem das Kreuz der Kreuzsäule, das Theophanu-Evangeliar und wahrscheinlich auch das Kreuznagelreliquiar als materielle Repräsentationen Christi »beigesetzt« wurden, um sie am Ostermorgen »auferstehen« zu lassen.765 Zugleich waren durch die Artefakte die ottonischen Auftraggeberinnen und damit die Vergangenheit des Stifts gegenwärtig, so dass es kaum ein Zufall sein kann, dass der ottonische Westbau den architektonischen Rahmen für die liturgische Inszenierung bot. Mit den erstaunlich frühen bildlichen Darstellungen der Auftraggeberinnen auf einigen zentralen Werken, welche die Präsenz der Stifterin mittels ihrer Anschaulichkeit in gesteigertem Maße gewährleisteten, sorgten vor allem Mathilde und Theophanu für eine besondere Erinnerungskultur im Essener Stift. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch das von Äbtissin Beatrix von Holte geschenkte Armreliquiar interpretieren (Abb. 4.29).766 Mit einem inschriftlich bezeichneten Bildnis am unteren Teil des Reliquiars stellte sich Beatrix selbstbewusst in die Tradition ihrer großen Amtsvorgängerinnen. Ferner kann wohl die feine gotische Fantasie-Architektur in der Hand des Reliquiars als Hinweis auf den gotischen Umbau der
4.29 Domschatzkammer Essen, Armreliquiar, entstanden um 1300 im Auftrag der Äbtissin Beatrix von Holte, bildliche Darstellung der Beatrix auf dem unteren Kompartiment (© Domschatz Essen, Foto: Jens Nober, Essen)
Kirche verstanden werden, der sich zu einem Großteil in
nach liturgischem Bedarf unterschiedliche Bezüge herzu-
der Amtszeit der Beatrix vollzog.
stellen. So wurde die Goldene Madonna zu wichtigen Fes-
Es liegt in der Natur der Sache, dass sich die Relation
ten an exponierter Stelle auf dem Hochaltar positioniert
der beweglichen Objekte zum architektonischen Raum an-
und damit auch ein symbolträchtiger axialer Bezug zu den
ders gestaltete als bei den Artefakten, die einen festen Platz
ortsfesten Objekten, Leuchter – Altfrid-Grab – Kreuzaltar
in der Kirche einnahmen und so in ein festes Beziehungs-
mit Kreuzsäule – Glasmalereien, aufgebaut (Taf. 4.17). Bei
gefüge eingebettet waren. Bei den liturgischen Gerätschaf-
anderen Gelegenheiten wurde die Madonna hingegen ge-
ten spielte demgegenüber die Bewegung durch den Raum
meinsam mit den Vexillen für Prozessionen genutzt, so
eine wichtige Rolle. Zudem boten sie die Möglichkeit, je
dass sich andere Bedeutungsgeflechte ergaben.
764 Meyer-Barkhausen 1952, S. 55f. 765 Bärsch 2007, S. 146–151, 195–198.
766 Kat. Essen 2009, S. 98f. (Melanie Prange); Prange 2007, S. 189–213.
179
4.5 RESÜMEE: DER ESSENER DOM UND SEINE TRADITION DES ORTES
4.5 Resümee: Der Essener Dom und seine Tradition des Ortes 4.5.1 Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse
Tradition des Ortes, denn es greift die Dimensionen eines vormaligen Quasi-Westquerhauses auf, das seinerseits auf
Räumliche Beziehungen
einen Vorbau der Gründungskirche zurückgeht.772 Weil der
Obwohl das alte Essener Münster um 1300 umfassend in
betreffende Langhauspfeiler neu fundamentiert wurde,
eine kreuzgewölbte Hallenkirche zeitgenössischer Prä-
scheidet die Nutzung alter Substanz als Erklärungsansatz
gung transformiert wurde, blieb die Tradition des Ortes
eindeutig aus; es muss sich um einen bewusst angelegten
allgegenwärtig und ist es noch heute.
räumlichen Bezug handeln.
Trotz der Substitution großer Teile der Bausubstanz
Interessanterweise orientierte man sich beim goti-
scheint im gotischen Grundriss die Gestalt der Kirche
schen Umbau des Münsters nicht nur im Grundriss an den
zur ottonischen Epoche des Stifts unverkennbar durch,
Dimensionen der alten Kirche, sondern auch hinsichtlich
denn die Umrisse blieben exakt erhalten, ebenso wesent-
der Höhe, denn die Schlusssteine der neuen Kreuzrip-
liche Binnenproportionen.767 Da man sich bereits zu otto-
pengewölbe liegen auf dem Höhenniveau der vormaligen
nischer Zeit eng am Grundriss des altsächsischen Grün-
Flachdecke im Mittelschiff.773
dungbaus orientierte,
768
hallt mit einigen Abstrichen sogar
dessen Disposition noch im gotischen Bau nach.
Die Proportionen des Essener Doms spiegeln somit weitgehend die Proportionen des spätottonischen Müns-
Die Weiternutzung alter Fundamente, die sich aus
ters wider, demgegenüber lediglich die Seitenschiffe er-
wirtschaftlichen Gründen vermuten ließe, kann nicht, wie
höht wurden. Damit erklärt sich auch, warum der Esse-
in der Literatur häufig geschehen, als Erklärung für dieses
ner Dom von außen trotz seiner gotischen Formensprache
Phänomen herangezogen werden, denn sie ist schlicht-
nicht typisch gotisch wirkt, was mit dazu beigetragen ha-
weg falsch.769 So stehen die neuen Rundpfeiler der goti-
ben mag, dass die Kirche primär als ottonischer Bau im
schen Halle zwar exakt in der Flucht der vormaligen Mit-
Bewusstsein der kunstgeschichtlichen Forschung veran-
telschiffwände, doch wurden sämtliche gotischen Pfeiler
kert ist: Es sind die für einen gotischen Bau ungewöhn-
unter partiellem Abbruch der alten Streifenfundamente
lichen Proportionen, denn der Essener Dom zelebriert
auf neu angelegten Einzelfundamenten gegründet. Ganz
nicht die andernorts gewohnte gotische Vertikalität, son-
ähnlich verfuhr man bei der Integration der alten Seiten-
dern wirkt durch seine Lagerung in der Breite für das
wände oder des unteren Kryptageschosses.770 Dort musste
14. Jahrhundert altmodisch. Dies ist aber folglich weder
das Mauerwerk jeweils der Jocheinteilung entsprechend
Ausdruck einer Rückständigkeit noch mit der Zugehörig-
aufwändig bis zum Erdboden durchschlagen werden, um
keit zu einer Kunstlandschaft zu erklären, sondern resul-
dazwischen die neuen gotischen Strebepfeiler auf eigenen
tiert primär aus der weitgehenden Bewahrung der alten
Fundamenten hochzumauern.
Kubatur des Münsters.
Die Adaption des alten Umrisses führte zur unge-
Es lässt sich demnach bereits an dieser Stelle festhal-
wöhnlichen und neuartigen Anlage eines rechteckigen
ten, dass die Tradition des Ortes die architektonische Form
Hallenchores, denn man erweiterte den Chorraum im vor-
des Essener Doms in wesentlichem Maße mitbestimmte.
gegebenen Rahmen der alten Außenkrypta.771 Somit resul-
Aus stilgeschichtlicher Sicht unerklärbare Formen, wie
tiert die innovative Chordisposition ironischerweise aus
etwa der rechteckige Hallenchor, gingen unzweifelhaft aus
der Tradition des Ortes. Die alte Apsis spiegelt sich im go-
der Tradition des Ortes hervor. Damit ist jedoch noch nicht
tischen Grundriss noch in Form des eigenartigen trapez-
gesagt, ob bewusst auf die Tradition des Ortes Bezug ge-
förmigen Joches in der Mittelachse. Eine weitere Irregu-
nommen wurde oder ob sie eher zufällig und ohne tieferen
larität des gotischen Grundrisses, das westliche Joch des
Sinn zum Ausdruck kommt, weil man sich den Gegeben-
Mittelschiffes, welches aus dem gleichmäßigen Rhythmus
heiten des Ortes z. B. aus ökonomischen Gründen anpas-
der übrigen Joche ausbricht, erklärt sich ebenfalls aus der
sen musste. Dies ist jedoch eine entscheidende Frage.
767 768 769 770
771 Kap. 4.3.2. 772 Kap. 4.2.2. 773 Kap. 4.2.4.
Kap. 4.2.2. Kap. 4.2.1. Kap. 4.2.3. Kap. 4.3.2; 4.3.3.
180
4 DER DOM ZU ESSEN
Bei näherer Betrachtung deuten die einzelnen Maßnahmen häufig auf ein gewolltes Vorgehen hin. So stell-
und Akustik basierenden Beziehungen zwischen den Geschossen bewahrt.
ten, um beim Beispiel zu bleiben, die Realisation des
Während die Gebäudeteile eigenständige räumliche
Hallenchores und die damit verbundene Inkorporation
Einheiten definieren, die eigene tektonische Strukturen
der Krypta den verantwortlichen Baumeister vor nicht
besitzen, mussten die alten Bauteile, welche beim goti-
zu unterschätzende Schwierigkeiten. Um die Bauaufgabe
schen Umbau in situ erhalten werden sollten, in die neue
im vorgegebenen Rahmen überhaupt lösen zu können,
tektonische Struktur der kreuzgewölbten Hallenkirche
musste er schließlich nicht weniger als einen neuen Bauty-
eingebettet werden. Die Bewahrung der unteren Seiten-
pus erfinden und schließlich ein kompliziertes Verfahren
schiffwände erforderte hierfür, wie bereits oben erwähnt,
wählen, um die statisch notwendigen neuen Strebepfeiler
ein aufwändiges Verfahren, um die für die Aufnahme
mit eigenen Fundamenten in das alte Kryptamauerwerk
des Gewölbeschubs notwendigen Strebepfeiler in die alte
zu integrieren.
Wandstruktur einzufügen. Auf diese Weise gelang es auch, den Laufgang und damit die liturgisch genutzte Wegever-
Materielle Bezüge
bindung zwischen dem Querhaus und der Westbauem-
Noch deutlicher auf eine bewusste Inszenierung der Tra-
pore zu erhalten.
dition des Ortes weisen die signifikanten materiellen Be-
Weniger von konstruktiver, aber von gestalterischer
züge zur Vergangenheit hin. Während das Erkennen der
Seite anspruchsvoll fiel der Anschluss des neuen Hal-
räumlichen Beziehungen des gotischen Münsters zum
lenraumes an Querhaus und Vorchor aus, welche schon
vorherigen Bauzustand Kenntnisse über dessen Gestalt
vor dem Beginn des gotischen Umbaus eine hybride ar-
voraussetzt, die zumindest zur Bauzeit vorhanden waren,
chitektonische Struktur aus ottonischen, vielleicht sogar
können die materiellen Bezüge der Kirche zur Tradition
altsächsischen Pfeilern und spätromanischen Kreuzgrat-
des Ortes augenscheinlich wahrgenommen werden. Die
gewölben und Kapitellplastiken besaßen. Indem man die
besondere visuelle Qualität der Materie mag der Grund
neue Struktur an die bestehende anpasste, sie jedoch kon-
dafür sein, dass diese Strategie der Traditionsvergegen-
trastierend in einer zeitgenössischen Formensprache rea-
wärtigung beim Umbau des Essener Münsters um 1300
lisierte, schuf man eine interessante Lösung, die sich pro-
auf eine erstaunlich vielfältige und vielschichtige Weise
grammatisch interpretieren lässt: Neu und Alt definieren
zum Einsatz kam. Damit bietet der Essener Dom ein her-
sich wechselseitig, wobei die Zeitschichten der übergeord-
vorragendes Fallbeispiel, um materielle Bezüge zur Tradi-
neten Struktur der Kirche gleichberechtigt untergeordnet
tion des Ortes kategorial zu differenzieren.
werden.
Als erste Kategorie wären die in situ integrierten Teile
Eine zweite Kategorie bilden alte Teile der Architek-
der Architektur zu nennen, deren Dimensionen beträcht-
tur, die in einem neuen Kontext in die Kirche integriert
lich differieren können. Mit dem Westbau, dem Atrium
wurden.775 Hierzu zählen der romanische Pfeiler im süd-
und der Krypta integrierte man große Gebäudeteile aus
lichen Nebenchor, die Basis des Weihwasserbeckens und
der Epoche der ottonischen Äbtissinnen in die gotische
wohl auch die beiden antikisierenden Säulen der Krypta.
Hallenkirche.
Obgleich die alten Gebäudeteile, insbe-
Die Anzahl von alten Werkstücken in einem neuen Kon-
sondere der Westbau, die Tradition des Ortes innen und
text fällt im Vergleich zur großen Masse der in situ inte
außen signifikant zur Geltung bringen, gelang es, die ge-
grierten Bau- und Gebäudeteile gering aus. Vielleicht
schichtsträchtigen Teile sublim in das vereinheitlichende
fehlte aufgrund der hohen Präsenz alter Bausubstanz in
Konzept der gotischen Hallenkirche miteinzubeziehen,
situ schlichtweg der Anlass, alte Werkstücke neu zu kon-
indem die alten Teile räumlich umfasst oder überlagert
textualisieren.
774
und auf diese Weise dem neuen Baukörper geradezu in-
Bei der Wiederverwendung des alten Pfeilers im süd-
korporiert wurden. Damit gelang zugleich eine Bewah-
lichen Nebenchor wählte man eine ähnliche Strategie
rung alter Raumbezüge, die wiederum die Bewahrung li-
wie bei der Integration der romanischen Struktur in Vie-
turgischer Traditionen ermöglichte. So blieben durch den
rung und Vorchor: Man schuf einen sichtbaren formalen
Erhalt der achteckigen Öffnungen in der Decke zwischen
Kontrast, ordnete das alte Teil aber der übergreifenden
alter Krypta und neuem Chor die vornehmlich auf Licht
Tragstruktur des Raumteils unter. Die Säulen der Krypta
774 Kap. 4.3.2.
775 Kap. 4.3.4.
181
4.5 RESÜMEE: DER ESSENER DOM UND SEINE TRADITION DES ORTES
passte man hingegen derart gut in die tektonische Struk-
keiten des Stifts (Taf. 4.17). Gemeinsam mit den beiden
tur ein, dass erst eine bauforscherische Analyse belastbare
Altären, den liturgischen Mittelpunkten des Kirchenrau-
Indizien für einen Versatz liefern konnte. So entpuppen
mes, bildeten somit ausnahmslos Objekte und Artefakte,
sich die Basen bei näherer Betrachtung als Imitationen äl-
die in besonderer Weise mit der Tradition des Ortes in Ver-
terer Formen aus jüngerer, wahrscheinlich gotischer Zeit.
bindung standen, das Rückgrat der Kirche.
Sollten die Säulen tatsächlich beim gotischen Umbau in
Der Westbau aus der ottonischen Blütezeit des Stifts
die Krypta versetzt worden sein, so hätte man die alten
setzte insofern einen passenden architektonischen Auf-
Elemente in bemerkenswertem Geschichtsbewusstsein in
takt für diese Achse der Erinnerung im Essener Münster.
eine historisch authentische Umgebung integriert und zu-
In diesem Kontext diente der Westbau also in erster Linie
dem nahezu stilgetreu ergänzt.
als Erinnerungsträger der eigenen Historie; die königliche
Die Basen der Kryptasäulen fallen somit in eine spezielle Kategorie materieller Bezüge zur Tradition des Or-
Symbolik des Westbaus bildete folglich einen Verweis auf die königsnahe Vergangenheit des Stifts.778
tes, nämlich der Imitation alter Formen. Ein weiteres
Auch die mobilen Artefakte des Kirchenschatzes wur-
Beispiel für eine derartige Imitation liefern die Kämpfer-
den zur Inszenierung der Tradition des Ortes herange-
platten der Vierungspfeiler, die bereits im dritten Viertel
zogen,779 indem sie zeitweise stationär in das axiale Be-
des 12. Jahrhunderts nach dem Vorbild der spätottoni-
zugssystem eingebettet wurden, etwa wenn die Goldene
776
schen Kämpferprofile in der Kirche gefertigt wurden.
Madonna auf dem Hochaltar stand. Die kleinen Objekte
Dass diese beiden Beispiele alleine stehen, mag wiederum
ließen sich aber auch im Rahmen liturgischer Hand-
der Tatsache geschuldet sein, dass noch eine große Masse
lungen durch den Kirchenraum bewegen, um somit be-
authentischer alter Materie im Kirchenraum existierte, so
sondere Bezüge zum Kirchenraum zu schaffen, wie sie
dass schlichtweg wenig Notwendigkeit zur Nachahmung
beispielsweise in der symbolischen Bestattung und Aufer-
bestand. Dennoch sind die beiden Beispiele im hiesigen
stehung von Objekten auf der Westbau-Empore im Rah-
Untersuchungskontext von großem Interesse, denn sie be-
men der Osterliturgie zu erkennen sind.
legen einen Willen zur Einbindung alter Formen in den
Die bildliche Inszenierung der Tradition des Ortes mit-
Kirchenbau. Ferner belegen sie, dass die Steinmetze des
tels Ausstattung und Artefakten bildet damit unverkenn-
Hochmittelalters in der Lage waren, ältere Formen nach-
bar eine Parallele zur architektonischen Inszenierung der
zuahmen.
Tradition des Ortes mittels der Integration alter Architekturteile. Beide Gestaltungsmuster erscheinen als Mittel ei-
Objektsysteme
nes übergreifenden Konzeptes, das mittels der physischen
Schließlich bildet die Weiterverwendung und Neuinsze-
Präsenz der Materie auf eine sichtbare Vergegenwärtigung
nierung der alten Ausstattungsstücke und Artefakte eine
der Tradition des Ortes abzielte.
eigene Kategorie, welche die Tradition des Ortes auf ihre Weise widerspiegelt.777
4.5.2 Einordnung in den historischen Kontext
Die großen Objekte stehen durch ihre feste Verortung im Kirchenraum explizit in einem architektonischen
Differenzierung der Essener Tradition des Ortes
Kontext wie auch in festen räumlichen Beziehungen zu-
Damit stellt sich als weiterführende Frage, warum die
einander. Es fällt auf, dass diese immobilen Objekte im
Essener Stiftsdamen des 13./14. Jahrhunderts ein derart
Essener Münster nach dem gotischen Umbau in einem
großes Interesse an der Tradition des Ortes hegten, dass
streng axialen Bezugssystem verortet wurden. Beginnend
der Umbau der Kirche in so bedeutendem Maße davon
im Westen befanden sich in der Mittelachse der Kirche:
mitgeprägt wurde.
der ottonische Westbau – der siebenarmige Leuchter – der
Zunächst muss dazu geklärt werden, wie sich die Esse-
Kreuzaltar – die Kreuzsäule – das Altfrid-Grabmal – [die
ner Tradition des Ortes eigentlich definieren lässt. Im Ver-
Theophanu-Krypta in der unteren Ebene] – der Hochal-
gleich etwa mit dem Magdeburger Dom, wo Kaiser Otto
tar – darauf die Goldene Madonna – der Marsusschrein –
der Große und seine erste Frau Edith den Kern der Tradi-
Glasmalereien mit Darstellungen historischer Persönlich-
tion des Ortes bildeten,780 lässt sich die Tradition des Or-
776 Kap. 4.3.3. 777 Kap. 4.4. 778 Vgl. Kap. 4.5.2.
779 Kap. 4.4.5. 780 Kap. 3.5.2.
182
4 DER DOM ZU ESSEN
tes in Essen nämlich weniger genau personal fokussieren.
Damit soll selbstverständlich nicht negiert werden,
Vielmehr ergibt sich aus einem Zeitraum von rund 200
dass Architektur und Artefakte mit ihrer primär religiösen
Jahren, als das Stift auf das Engste mit dem herrschenden
Funktion und Symbolik in erster Linie – natürlich – der
sächsischen Hochadel verbunden war, eine vielschichtige,
Feier der Liturgie dienten.784 Aus theologischer Sicht han-
aber unscharfe Tradition des Ortes. Gleichwohl traten ei-
delte es sich dabei nicht bloß um einfache Gebrauchsgü-
nige Persönlichkeiten aus dieser Epoche stärker hervor als
ter, sondern um Medien zur Vergegenwärtigung der Heils-
andere und eigneten sich damit besser, die Tradition des
geschichte. Insofern lassen sich das visuelle Bezugssystem
Ortes zu repräsentieren. Insofern lassen sich verschiedene
und seine Kompartimente auch immer theologisch deu-
Traditionsschichten differenzieren, die sich überlagern
ten. Im Umkehrschluss wurde die Vergangenheit des Stifts
und in einem Geflecht wechselseitiger Beziehungen ge-
mittels der untrennbaren Verknüpfung von theologischer
meinsam die Tradition des Ortes im 13. Jahrhundert bil-
und memorialer Sinnschicht gleichsam den irdischen
deten.
Dingen enthoben und in der Heilsgeschichte verortet.
Die Basis-Schicht ist die Altfrid-Tradition, die Erinne-
Beim liturgischen Totengedenken, der Memoria, durch-
rung an den bischöflichen Stiftsgründer von sächsischem
drangen sich Theologie und personale Erinnerung offen-
Adel, dessen Person durch die Verehrung als Heiliger
sichtlich.785 Für die Auftraggeber der Architektur und Arte-
überhöht wurde und eine religiöse Dimension gewann.781
fakte stand die eigene Memoria zur Sicherung des Seelen-
Als Grabeskirche Altfrids fungierte die Essener Stiftskir-
heiles wohl im Vordergrund, wobei sich deren gleichzeitiger
che somit zugleich als Hülle des Heiligengrabes. An der
Nutzen zur Selbstdarstellung nicht übersehen lässt.786
Neugestaltung und -inszenierung des Altfrid-Grabmals
Bei der Betrachtung der späteren Nutzung der Objekte
in der umgebauten gotischen Kirche lässt sich die Bedeu-
betritt man jedoch eine andere zeitliche Ebene des Dis-
tung dieser Tradition klar erkennen. Die Herkunft Altfrids
kurses. Wenn beispielsweise die Stiftsdamen um 1300 die
stellte eine Verbindung des Essener Frauenstifts mit der
memorialen Artefakte der rund 300 Jahre zuvor verstor-
sächsischen Elite her, die im 10. Jahrhundert dazu führte,
benen Äbtissin Mathilde nutzten, schauten sie aus einer
dass Angehörige des ottonischen Kaiserhauses die Ge-
fernen, eigenen Perspektive auf die Zeit der ottonischen
schicke des Stifts leiteten.782
Prinzessin. Für spätere Generationen boten die historisch
Die Blütezeit des Essener Damenstifts mit den ottonischen Prinzessinnen an der Spitze, insbesondere de-
konnotierten Objekte folglich die Möglichkeit, die eigene Stiftsvergangenheit zu vergegenwärtigen.
ren Exponentinnen Mathilde und Theophanu, blieb tief
Im hiesigen Untersuchungskontext interessieren so-
im kollektiven Gedächtnis des Stifts verankert und bildet
mit weniger die memorialen Intentionen der Auftrag-
somit eine weitere Schicht der Tradition des Ortes.783 Auf-
geber, sondern die Zielsetzungen, welche die Nutzer des
grund ihrer prächtigen Schenkungen und architektoni-
13./14. Jahrhunderts verfolgten, wenn sie die Erinnerungs-
schen Leistungen blieben die ottonischen Äbtissinnen im
funktion der Architektur und Artefakte derart signifikant
gotischen Kirchenraum sehr präsent. Zugleich dokumen-
aktivierten.
tierte dieses visuelle Bezugssystem aus Architektur und Artefakten die ehemalige dynastische Verflechtung mit
Die Privilegien des Stifts
dem ottonischen Kaiserhaus. Mit dem Bildnis Ottos II. auf
In diesem Hinblick zeigt sich, dass das Essener Damen-
dem Marsusschrein wurde ein Kaiser sogar persönlich im
stift im 13. Jahrhundert einen privilegierten Status genoss,
Kirchenraum vergegenwärtigt, so dass die Essener Tradi-
der sich allein auf die Tradition stützte. Die engen dynasti-
tion des Ortes erkennbar eine kaiserliche Tradition war.
schen Verflechtungen mit dem sächsischen Hochadel vom
781 Zur Verehrung Altfrids als Heiligen zusammenfassend: Cohausz 1974. 782 »Die Verbindung zwischen Essen und den Liudolfingern erscheint wesentlich enger als dies der bloße Blick [...] auf die urkundliche Überlieferung suggeriert.« (Schilp 2001, S. 156). Spätestens für Adalwif, der dritten Äbtissin des Stifts, gilt die Herkunft aus dieser sächsischen Adelsfamilie als »sehr wahrscheinlich« (Ebd.). 783 Dies beweist auch die Essener Memorialüberlieferung. So wurden im kurz vor 1300 angelegten Nekrolog alle ottonischen Herrscher sowie zahlreiche Verwandte mit in das Totengedenken des Stifts einbezogen (Fischer 2008, S. 274).
784 Grundlegend zur liturgischen Sachkultur im Damenstift Essen: Bärsch 2007. 785 Die Erforschung des mittelalterlichen Essener Damenstifts unter dem Gesichtpunkt der Memoria und ihrer unterschiedlichen Dimensionen wurde in jüngster Zeit vom Essener Arbeitskreis für die Geschichte der Frauenstifte um Thomas Schilp wesentlich vorangetrieben. Siehe dazu insbesondere den entsprechenden Sammelband: Schilp 2008a. 786 Für den Aspekt der Selbstdarstellung bei memorialen Objekten hat sich der Begriff der »Fama« eingebürgert, der wohl kaum bis gar nicht von der Memoria zu trennen ist (Schilp 2008b, S. 25).
183
4.5 RESÜMEE: DER ESSENER DOM UND SEINE TRADITION DES ORTES
9.–11. Jahrhundert machten Essen nämlich zu einem der
Die Ermordung oder Tötung des Kölner Erzbischofs
vornehmsten Damenstifte im Reich, das mit besonderen
Engelbert I., der Partei für die Essener Äbtissin ergriffen
Privilegien und Rechten ausgestattet wurde. In der kirch-
hatte, durch Gefolgsleute Friedrich von Isenbergs 1225
lichen Ordnung unterstand das Essener Stift spätestens
führte zum Übergang der Essener Vogtei auf die Kölner
seit Mitte des 10. Jahrhunderts, vermutlich aber schon im
Metropoliten.792 Auf diese Weise konnte der gräfliche An-
9. Jahrhundert, unmittelbar dem Papst und war folglich
griff auf die Landeshoheit der Essener Äbtissin zunächst
nicht der Jurisdiktion des mächtigen Kölner Erzbischofs
abgewehrt und stattdessen die eigene Herrschaft gefestigt
unterworfen.787 Damit verbunden war das für die Unab-
werden. Infolgedessen wird die Essener Äbtissin 1230 von
hängigkeit des Stifts wichtige Privileg der freien Äbtissin-
König Heinrich (VII.) erstmals als Reichsfürstin tituliert.793
nenwahl. Der kirchlichen Exemtion entsprach im welt-
Doch nur wenige Jahrzehnte später befand sich die
lichen Machtgefüge die reichsunmittelbare Stellung des
Essener Frauengemeinschaft in einer noch prekäreren
Damenstifts, welches unter den ottonischen Königen Im-
politischen Lage, denn die Kölner Erzbischöfe versuchten
munität und Königsschutz zugesprochen bekam.
Statt
nun ihrerseits zunehmend, die Essener Vogtei als macht-
der Gewalt eines Grafen unterstellt zu sein, bekam die
politisches Instrument zu nutzen, um die Herrschaft über
788
Essener Äbtissin damit quasi selbst gräfliche Rechte zu-
das Essener Stiftsgebiet zu erlangen. Der Kölner Expan-
gesprochen, für deren Wahrnehmung und Durchsetzung
sionsdrang gefährdete die Existenz der geistlichen Lan-
sie einen Vogt als ihren Vertreter bestimmen durfte.789 Da-
desherrschaft in einem bis dato nicht gekannten Maße,
mit einher gingen die wirtschaftlich wichtigen Rechte auf
da jetzt nicht nur der Verlust der Reichsunmittelbarkeit,
Zoll, Markt und Münze.790
sondern auch die Aufhebung der päpstlichen Exemtion aus dem erzbischöflichen Machtbereich drohte. Äbtissin
Die historische Situation im 13. Jahrhundert
Berta von Arnsberg (ab. 1243–1292) griff deshalb zu einer
Der umfassende Umbau der Essener Kirche um 1300 fällt
für das Mittelalter außergewöhnlichen und mutigen Maß-
auffälligerweise in eine Zeit, in welcher der Status und die
nahme und machte tatsächlich von ihrem Vogtwahlrecht
Unabhängigkeit des Essener Damenstifts existentiell ge-
Gebrauch. Nach dem Tod des Kölner Erzbischofs En-
fährdet waren.
gelbert II. von Falkenburg hielt sie dessen Amtsnachfol-
Nachdem die Protektion des Essener Stifts durch
ger Siegfried von Westerburg die Vogtei vor und wählte
die königliche Autorität mit dem Ende des ottonischen
stattdessen 1275 keinen geringeren als König Rudolf von
Hauses seit der Mitte des 11. Jahrhunderts zunehmend
Habsburg zum Essener Vogt,794 von dem sie sich kurz zu-
schwand, setzte aufgrund des aus Essener Sicht ungüns-
vor noch die alten königlichen Privilegien hatte bestä-
tigen Kräfteverhältnisses zwischen der Äbtissin und dem
tigen lassen.795 Mit diesem brillanten Schachzug gelang
Vogt eine für das Damenstift bedrohliche Entwicklung
es Berta, die Kräfteverhältnisse zu ihren Gunsten zu ver-
ein. Obwohl der Vogt de jure nur als Vertreter der Äbtissin
schieben und den Anspruch des Kölner Metropoliten mit-
agierte, trat er aufgrund seiner praktischen Machtbefug-
telfristig abzuwehren.
nisse de facto in zunehmendem Maße in Konkurrenz um
Es liegt auf der Hand, dass der König nicht auf Dauer
die Herrschaft über das Stiftsgebiet. Eine erste Zuspitzung
die weltliche Gewaltenvertretung im Essener Stiftsgebiet
erlebte der Machtkampf zwischen Äbtissin und Vogt zu
übernehmen konnte. Insofern stellte Berta von Arnsberg
Beginn des 13. Jahrhunderts, als Graf Friedrich von Isen-
nach der Niederlage Siegfrieds von Westerburg in der
berg gewaltsam versuchte, der Äbtissin das Vogtwahlrecht
Schlacht von Worringen 1288 erneut ihr politisches Ge-
zu entziehen und stattdessen in ein Erbrecht umzuwan-
schick unter Beweis und nutzte die historische Gelegen-
deln, um seine landesherrschaftlichen Ansprüche auf das
heit, um die Essener Vogtei vom König auf den Grafen
Stiftsgebiet dynastisch zu zementieren.791
Everhard von der Mark übertragen zu lassen, der mit dem
787 Schilp 2001, S. 165–167; Bettecken 1988, S. 50–58. – Den ältesten sicheren Beleg liefert eine um 951 ausgestellte Urkunde Papst Agapits II., mit der jedoch ältere Privilegien bestätigt wurden. 788 Gerchow 2004, S. 70; Bettecken 1988, S. 43, 59–66. 789 Bettecken 1988, S. 91. 790 Während das Zollrecht für die zweite Hälfte des 10. Jahrhunderts gesichert ist, lassen sich Münz- und Marktrecht erst um die Mitte des 11. Jahrhunderts belegen (Bettecken 1988, S. 70–81). Trotzdem
791 792 793 794 795
ist aufgrund des gesicherten Zollrechtes ein früheres Münz- und Marktrecht durchaus möglich. Gerchow 2004, S. 72f.; Bettecken 1988, S. 93. Gerchow 2004, S. 73–75; Bettecken 1988, S. 101. »dilecta princeps nostra abbatissa Assindensis« (nach Bettecken 1988, S. 159). Büttner 2008, S. 245f.; Gerchow 2004, S. 77. Leenen 2008, S. 286.
184
4 DER DOM ZU ESSEN
Vogteivertrag von 1291 die Bedingungen des Konvents
Das mittelalterlich überlieferte Jahr des Baubeginns 1275
akzeptierte und die Landesherrschaft der Äbtissin aner-
koinzidiert dermaßen frappant mit den historischen Vor-
kannte.796
gängen, dass ein Zufall wohl nicht in Frage kommt: Ausge-
Siegfried von Westerburg konterte, indem er Berta
rechnet in dem Jahr, in dem die Essenerinnen König Ru-
verschiedene Rechtsbrüche wie Ungehorsam gegenüber
dolf von Habsburg zum neuen Vogt erwählen und damit in
der Kölner Kirche vorwarf und vor sein geistliches Ge-
einen offenen Konflikt mit dem Kölner Erzbischof treten,
richt nach Köln lud.797 Berta wehrte den Angriff ab, in-
beginnt die grundlegende Transformation des alten Kir-
dem sie darauf verwies, dass sie nur der Gerichtsbarkeit
chenbaus.803
des Kaisers und des Papstes unterstehe, von dem sie 1290
Die Koinzidenz von Umbau und historischen Ereig-
eine Bestätigung der unter Agapit II. erteilten Exemtion
nissen legt nahe, dass die Modernisierung der Kirche zur
erwirkte.798 Der Kölner Erzbischof forcierte den Macht-
lichtdurchfluteten Halle vorrangig dem Zweck diente, den
kampf daraufhin, indem er sich das Recht der Äbtissin-
Konvent als eigenständig agierende Korporation mit einer
nenwahl anmaßte, Berta absetzte und eine neue Äbtis-
Reichsfürstin an der Spitze architektonisch angemessen
sin ernannte. Die Krise verschärfte sich, als Berta kurze
zu repräsentieren und gleichzeitig den auf alte Rechte und
Zeit darauf verstarb und die Stiftsgemeinschaft der Köl-
Privilegien basierenden Machtanspruch buchstäblich zu
ner Kandidatin weiterhin die Anerkennung verweigerte.
untermauern.
Stattdessen bestimmte der Konvent Beatrix von Holte (ab.
Während der repräsentative Rahmen in erster Linie
1292–1327) in freier Wahl zur Äbtissin.799 Der Machtkampf
mittels zeitgenössischer Formen wie etwa dem Hallen-
entschied sich erst 1309 zu Gunsten der Essenerinnen, als
raum, dem Kreuzrippengewölbe oder den Maßwerkfens-
der Papst Beatrix von Holte zur rechtmäßigen Äbtissin
tern geschaffen wurde, erklärt sich die massive Bezug-
des Stifts erklärte.800 Einige Jahre später konnte auch der
nahme auf die Tradition des Ortes aus der zwingenden
Anspruch der Kölner Erzbischöfe auf die Essener Vogtei
Notwendigkeit, zugleich die aus der Geschichte des Stifts
endgültig abgewehrt werden und die Grafen von der Mark,
resultierenden Rechte und Privilegien zum Ausdruck zu
welche die Vogtei seit 1291 ohnehin faktisch inne hatten,
bringen. Zu einer Zeit, in der die ehemals enge Bindung
fest als Essener Vögte installiert werden.801
des Essener Stifts zum deutschen Königshaus nicht mehr
Damit war es Berta von Arnsberg und Beatrix von
existierte, blieb allein die Berufung auf die Tradition, um
Holte gelungen, das Essener Stiftsgebiet als geistlichen
den hervorgehobenen Rang des Damenstifts zu legitimieren.
Territorialstaat mit der Äbtissin als Reichsfürstin an der Spitze nachhaltig zu etablieren.
Im historischen Kontext fungierte der Westbau demnach in erster Linie als authentisches Zeugnis aus der Blütezeit des Stifts mit den ottonischen Prinzessinnen an
Koinzidenz von Umbau und Krise
der Spitze und beglaubigte damit den privilegierten Rang
Im Rahmen der hiesigen Fragestellung fällt der äußerst
der Frauengemeinschaft. Dafür spricht auch die zuvor
bemerkenswerte Umstand auf, dass der großangelegte
beschriebene räumliche Einbindung am Anfang einer
Umbau des Essener Münsters zwischen etwa 1275 und 1325
Erinnerungsachse. Die allgemeine Herrschaftssymbo-
ausgerechnet in einer schweren Krisenzeit erfolgte, als das
lik des Westbaus mit seinem Aachen-Zitat blieb insofern
Damenstift seine weitreichende Unabhängigkeit und pri-
zwar implizit erhalten, wurde jedoch durch die Folie des
vilegierte Stellung in der kirchlichen und weltlichen Ord-
13./14. Jahrhunderts nunmehr indirekt als Rekurs auf die
nung gänzlich und unumkehrbar zu verlieren drohte.802
königsnahe Vergangenheit angesprochen.804
796 Büttner 2008, S. 247; Leenen 2008, S. 286; Lange 2004, S. 97f. 797 Büttner 2008, S. 248f.; Leenen 2008, S. 287f. 798 Leenen 2008, S. 288; Bettecken 1988, S. 50f. 799 Schilp 2004, S. 37–47. 800 Leenen 2008, S. 289. 801 Büttner 2008, S. 249f.; Lange 2004, S. 101. 802 Bereits Klaus Lange versuchte, den gotischen Umbau der Kirche in Beziehung zur historischen Situation zu setzen (Lange 2004). Dabei fokussierte er jedoch die neuen gotischen Teile der Architektur und versuchte den Bauverlauf methodisch fragwürdig aus aktuellen politischen Ereignissen zu erschließen. In einem jüngeren Aufsatz thematisierte er erstmals »Das Essener Münster als Ort der Erinnerung« (Lange 2008), beschränkte sich dabei allerdings in erster Linie auf Zusammenhänge zwischen Gebäudeteilen und der Me-
moria, dem Totengedenken, der Bauherrinnen. Aussagekräftiger für die gotische Zeit ist daher der im selben Sammelband publizierte Aufsatz von Brunhilde Leenen zur Memoria im Stift um 1300 (Leenen 2008), in welchem sie unter einer anderen Fragestellung und mit historischen Methoden zu ähnlichen Ergebnissen kommt wie die hier vorgelegte, primär architektonische Untersuchung. 803 Bei dem überlieferten Brand in der Backstube (Lange 2004, S. 89) dürfte es sich demnach nicht um die wahre Ursache handeln. Selbst wenn die Kirche stark von dem Brand erfasst wurde, lässt sich die umfassende Transformation nicht mit der Wiederherstellung beschädigter Teile allein erklären (vgl. die Umstände beim Neubau des Magdeburger Doms zum Anfang des 13. Jahrhunderts (Kap. 3.1)). 804 Die bisherige Forschung beschränkte sich im Kontext des gotischen Umbaus auf diese allgemeine Deutung der Aachen-Symbolik, ohne
185
4.5 RESÜMEE: DER ESSENER DOM UND SEINE TRADITION DES ORTES
Eine ähnlich komplexe Schichtung von Bedeutungs-
Die Inschrift würdigte demnach die Verdienste König Ru-
ebenen lässt sich bei der Kreuzsäule erkennen, deren an-
dolfs, historisch unkorrekt zum Imperator überhöht, um
tiker Säulenschaft aus Marmor ebenfalls als Herrschafts-
die stiftische Eigenständigkeit Essens, indem sie auf seine
zeichen gelesen werden konnte.805 Im vordergründigen
Bestätigung der königlichen Privilegien (»Innovando
theologischen Sinne ließ sich die Herrschaftssymbolik im
statum juris«) und seine Annahme der Vogtei hinwies
Zusammenhang mit dem Kreuz auf die Herrschaft Christi
(»tutorem prefecit adque vocatum«). Zugleich stellte die
beziehen. Bei der Errichtung im 10. Jahrhundert rekur-
Inschrift implizit das freie Vogtwahlrecht des Konvents
rierte die Herrschaftssymbolik aber auch auf die hochade-
heraus (»Elegit rite nostre«).
lige Herkunft der Auftraggeberin Ida und fungierte somit
Darüber hinaus rückte man die königliche Protektion
zugleich als Memorial- und Repräsentationsobjekt. Aus
bildlich in einen Zusammenhang mit der Tradition des
der Perspektive des 13./14. Jahrhunderts diente die Säule,
Stifts, indem man Rudolf im südlichen Chorfenster ge-
neben der nach wie vor relevanten religiösen Symbolfunk-
meinsam mit Mathilde, der Äbtissin königlicher Abstam-
tion, des Weiteren als Erinnerungsträger, der die ehema-
mung, darstellte, und begründete somit die Königsnähe
lige Herrschernähe des Stifts vergegenwärtigte und somit
des Stifts historisch. Im übertragenen Sinne legitimierte
die aus jener Zeit stammenden Privilegien beglaubigte.
man also den zur Zeit des Umbaus beanspruchten, aber umkämpften Königsschutz, verkörpert von Rudolf von
Die politische Botschaft der figürlichen Glasmalereien im Chor
Habsburg, mit der imperialen Tradition des Stifts, per-
Für die Interpretation der Architektur im historisch-po-
Paarbildung Rudolf – Mathilde schuf man gewissermaßen
litischen Kontext als legitimierenden Erinnerungsträger
auch eine Analogie zum Marsusschrein mit dem Bildnis
sprechen nachdrücklich die Glasmalereien der östlichen
Kaiser Ottos II., der inschriftlich bezeugt von Mathilde
Chorfenster. Im leider verlorenen Südfenster befand sich
zur Memoria des Kaisers in Auftrag gegeben wurde. Für
eine figürliche Darstellung König Rudolfs von Habs-
die Memoria des habsburgischen Königs stiftete wiede-
sonifiziert durch Mathilde.808 Mit der anachronistischen
also der für die Abwehr der Kölner Ambitionen
rum Äbtissin Berta von Arnsberg ein umfangreiches An-
entscheidenden Persönlichkeit des 13. Jahrhunderts. Um
niversar,809 das ungewöhnlicherweise aus ihrem Privatver-
an der politischen Bedeutung des Königsbildes erst gar
mögen initiiert wurde,810 so dass ein Beziehungsgeflecht
keine Zweifel aufkommen zu lassen, stand im gleichen
Otto – Mathilde – Rudolf – Berta hergestellt wurde, welches
Fenster laut dem Liber Ordinarius folgende Inschrift:
die Gegenwart in der Tradition spiegelte.
burg,
806
»Tempore Rudolphi imperatoris status hujus ecclesie immutatus est, ut patet per hos versus. M.C.C.LXXV / Anno milleno Domini deciesquo viceno / Cum sexageno quinto currenteque deno / Grex hic, combusta rectrice fide bene nota, / Forma sub certa fundens in nos sua vota / Innovando statum juris solitum quoque morem / Nos sibi tutorem prefecit adque vocatum / Elegit rite nostre per tempora vite.«807
den geänderten Rahmenbedingungen Rechnung zu tragen (Leenen 2008, S. 94; Lange 2008, S. 72; Ders. 2004, S. 106). 805 Zur Kreuzsäule: Kap. 4.4.2. – Zur Herrschaftssymbolik antiker Säulen am Beispiel des Magdeburger Doms: Kap. 3.3.1. 806 Kap. 4.4.4. 807 Zitiert nach Arens 1908, S. 232, Anm. 1. 808 Aufgrund ihrer direkten verwandtschaftlichen Beziehung zu Kaiser Otto dem Großen eignete sich Mathilde anscheinend in besonderem Maße, die historisch begründete Reichsunmittelbarkeit zu personifizieren. Die besondere Wertschätzung, die man Mathilde im 14. Jahrhundert entgegenbrachte, äußert sich auch im Zusatz »hujus conventus olim mater pia« (Arens 1908, S. 230), mit welchem man ihr Bild versah. Dem entspricht der im Liber Ordinarius verzeichnete Ehrentitel »mater ecclesie nostre« (Essener LO 128, 130 (ed. Arens, S. 120 ,122)).
Ob sich im Nordfenster eine vergleichbare Bildaussage bezogen auf die päpstlichen Privilegien des Stifts befand, die von 1290 von Nikolaus IV. erneut bestätigt wurden,811 muss angesichts der fehlenden Überlieferung leider Vermutung bleiben. In Analogie zum Südfenster würde die Darstellung einer der Päpste, die sich um die Exemtion verdient gemacht haben, mit einer weiteren Äbtissin aus der ottonischen Vergangenheit, vorzugsweise Theophanu, freilich gut passen.
809 Essener LO 129 (ed. Arens, S. 121). Das Anniversar Rudolfs wurde mit vier Messen begangen und damit vom Umfang demjenigen von Altfrid oder Mathilde gleichgestellt. 810 Sandra Büttner interpretiert die Memorienstiftung folgerichtig als »ehrende Danksagung und Wertschätzung« (Dies. 2008, S. 248). Als politische Zeichensetzung muss wohl auch die Memorienstiftung des Grafen Everhard von der Mark für sich und seine Familie angesehen werden, die 1295 erfolgte, als der Markgraf erstmalig von dritter Seite als Essener Vogt anstelle des Kölner Erzbischofs anerkannt wurde (Büttner 2008, S. 248–250). In umgekehrter Hinsicht spiegelt sich die politische Dimension der Memoria im Gedenken an die Kölner Erzbischöfe im Essener Stift, das nach Konrad von Hochstaden abrupt abbrach, also just zu dem Zeitpunkt, als die Kölner Metropoliten den Essener Status bedrohten (Fischer 2008, 276f.). 811 Bettecken 1988, S. 50f.
186
4 DER DOM ZU ESSEN
Als dritte Stütze der Essener Unabhängigkeit diente
gen nachdrücklich und betonte damit die Funktion der
neben König und Kurie der bischöfliche Gründervater
Essener Kirche als Heiligengrabeskirche. Wer die Rechte
Altfrid. Angesichts der maskulin dominierten mittelalter-
des Stifts in Frage stellte, stellte somit aus Essener Sicht
lichen Machtstrukturen mag es für den Frauenkonvent
implizit Werk und Wirkung des heiligen Bischofs in Frage.
von Vorteil gewesen sein, sich auch auf eine männliche
Trotz der lückenhaften Überlieferung lässt sich dem-
Figur in der Stiftshistorie berufen zu können; dass es sich
nach klar erkennen, dass das Bildprogramm der Chorfens-
obendrein um einen verdienten Bischof handelte, mag der
ter mit den figürlichen Darstellungen Altfrids, Mathildes
Essener Position im kirchlichen Rechtsstreit mit dem Köl-
und Rudolfs die Tradition des Ortes mit der aktuellen poli-
ner Episkopat zusätzliches Gewicht verliehen haben. Die
tischen Situation zur Zeit des Umbaus in Beziehung setzt.
Verehrung als Heiliger hob die Autorität Altfrids schließ-
Die Inschrift des Königsbildes lässt schließlich keinen
lich über die weltlichen Hierarchien. Folglich stand der
Zweifel mehr an der politischen Konnotation der Bildaus-
heilige Bischof im Zentrum des Bildprogramms der östli-
sage aufkommen. Als Endpunkt eines visuellen Bezugs-
chen Chorwand.
systems lassen sie auf dessen symbolische Aussagekraft
Bereits Ende des 11. Jahrhunderts wurde der Stifts-
rückschließen.
gründer zur Absicherung des Stiftsstatus herangezogen,
Auch wenn die theologische Symbolebene stets mitzu-
als man eine vorgeblich von Altfrid erlassene Gründungs-
denken ist, lässt sich die Intention, die Tradition des Or-
urkunde fälschte.812 Interessant ist eine nachträgliche Er-
tes zu vergegenwärtigen und damit implizit den Rang und
gänzung der Urkunde wohl vom Anfang des 13. Jahrhun-
Status des Stifts zu legitimieren, ganzheitlich deutlich er-
derts, dass kein Vogt und auch sonst niemand in Essen die
kennen. Vor allem die visuelle Inszenierung alter Materie
Gerichtsgewalt, die der Äbtissin zusteht, ausüben soll.
813
erlangte eine derartige Signifikanz, dass man noch Jahr-
Mit der Neuinszenierung des Altfrid-Grabes an exponier-
hunderte später den Essener Dom in der Kunstgeschichte
ter Stelle unterstrich man die Präsenz des Gründerheili-
primär als ottonisches Bauwerk wahrnimmt.
812 Schilp 2001, insbesondere S. 162–178; Bettecken 1988, S. 18–32.
813 Schilp 2001, S. 162; Bettecken 1988, S. 19, 100.
187
5 RESÜMEE
Die Fallbeispiele belegen, dass die Tradition des Ortes die
man sonst die Tradition des Ortes zerstört hätte. Stattdes-
jeweilige architektonische Form mitbestimmte. Wie ein-
sen diente die alte Materie, wie aus mittelalterlichen Quel-
gangs erwartet, unterscheiden sich der Umfang und die
len hervorgeht, als sichtbarer und authentischer Beweis
Qualität die Traditionsbezüge aufgrund der Ortspezifika
zur Verifizierung der Helena-Tradition: »Quod usque ho-
und den historischen Bedingungen beträchtlich. Den-
die demonstrat domus ejus facta ecclesiae«.814
noch lassen sich auf einer abstrakteren Ebene gewisse
Beim großangelegten Umbau der ehemaligen Essener
Kategorien erkennen, welche eine vergleichende Untersu-
Stiftskirche von einer Basilika zu einer kreuzrippenge-
chung des baukulturellen Phänomens ermöglichen.
wölbten Halle im 13. Jahrhundert inkorporierte man mit dem Westbau und der Krypta signifikante Gebäudeteile
Authentische Materie als Mittel der Traditionsvergegen wärtigung
aus der Blütezeit des Stifts, als eine enge Verbindung mit
Hinsichtlich der Bewahrung alter Materie lassen sich zwei
chenbau. Zudem integrierte man die unteren Teile der
Gruppen grundsätzlich unterscheiden. Auf der einen Seite
alten Außenwände in die neue Gebäudehülle. Dass auch
blieben beim Umbau des Trierer Doms und des ehemali-
hierbei ökonomische Gründe nicht im Vordergrund ge-
gen Essener Münsters alte Gebäudeteile in situ erhalten,
standen haben können, belegen die komplizierten kon
infolgedessen die neue Architektur in ein bestehendes
struktiven Maßnahmen, die nötig waren, um die statisch
Gefüge eingepasst werden musste. Als monumentale
ungeeigneten alten Teile in die neue Struktur der gewölb-
Zeugnisse der Vergangenheit stellten die alten Gebäu-
ten Hallenkirche einzubinden. Die alten Gebäudeteile des
deteile einen deutlich erkennbaren Traditionsbezug her.
Essener Doms konstituieren die Tradition des Ortes zwar
Auf der anderen Seite wurden der Magdeburger Dom und
nicht, wie es im Trierer Dom der Fall ist, doch verwiesen
die Trierer Liebfrauenkirche im 13. Jahrhundert gänzlich
Sie als authentische Zeugnisse zeichenhaft auf die glanz-
durch einen Neubau ersetzt. Dort mussten folglich andere
volle Vergangenheit des hochadligen Damenstifts.
Lösungen gefunden werden, wenn die Erinnerung an die Vergangenheit wachgehalten werden sollte.
dem ottonischen Kaiserhaus bestand, dem neuen Kir-
Beim Neubau des Magdeburger Doms hingegen konnten, bedingt durch die Achsdrehung der neuen Kirche,
Im Trierer Dom blieb Bausubstanz aus dem 4. Jahr-
keine alten Teile in situ integriert werden. Dieses Manko
hundert bemerkenswerterweise über rund 1600 Jahre
versuchte man offensichtlich dadurch zu kompensieren,
hinweg trotz zahlreicher Um-, An- und Wiederaufbauten
dass man authentische Elemente des alten Doms, denen
in gestaltprägendem Umfang bis heute erhalten. Die vor-
ein besonderer Wert und eine symbolische Aussagekraft
liegende Arbeit hat gezeigt, dass dies kein Zufall war und
zukamen, wie den Kapitellreliquien, den Marmorspolien
sich nicht mit ökonomischen Zwängen allein erklären
oder dem Kaisersarkophag, mit Hilfe verschiedener ge-
lässt. Stattdessen ließ sich aufzeigen, dass der frühchrist-
stalterischer Strategien, wie Kontrastierung zum Neuen,
liche Quadratbau ein konstitutives Element der Trierer
Betonung visueller Qualitäten und/oder exponierter Plat-
Tradition des Ortes bildete, da er als authentischer Teil
zierung, in einem neuen Kontext demonstrativ in Szene
des ehemaligen Palastes der heiligen Helena angesehen
setzte.
wurde, welcher auf die Initiative der Augusta in die erste
Im Gegensatz dazu wurde beim Neubau der Trierer
Trierer Bischofskirche umgewandelt wurde. Die alte Bau-
Liebfrauenkirche im 13. Jahrhundert auf die Integration
substanz durfte folglich nicht abgerissen werden, weil
alter Bausubstanz gänzlich verzichtet, obwohl die räum-
814 Almann, Vita Helenae, 9 (ed. Draeger, S. 22); vgl. Heinen 1996, S. 99 u. Anm. 3. (mit dt. Übersetzung). – Vgl. Kap. 2.2.3.
188
5 RESÜMEE
liche Kontinuität der Kirche sogar die Bewahrung alter
Auch die Bewahrung alter Wegebeziehungen weist
Bauteile in situ erlaubt hätte. Im neuen architektonischen
auf ein starkes Ineinandergreifen von Liturgie, Raum und
Konzept der hochgotischen Kirche, welche durch den zen-
Tradition hin. In der Trierer Liebfrauenkirche blieb der
tralbauartigen Aufbau ebenso wie durch den Transfer von
für Prozessionen wichtige Übergang zum Dom in der al-
aktuellen Bauformen aus Frankreich ein hohes Maß an
ten Form erhalten. Im Essener Dom ermöglichte etwa die
Originalität, Innovation und Aktualität aufwies, ließ sich
Bewahrung des alten Laufgangs auf den Seitenschiffwän-
die alte Bausubstanz anscheinend nicht sinnvoll integ-
den, dass die Stiftsdamen den an wichtigen Festtagen ge-
rieren. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Tradition
nutzten alten Weg vom Damenchor in den Westbau weiter
des Ortes beim Neubau der Liebfrauenkirche keine Rolle
beschreiten konnten.
mehr spielte. Man setzte den Neubau stattdessen auf andere Art und Weise in Bezug zur Tradition des Ortes.
Beim Neubau des Magdeburger Doms ließen sich räumliche Kontinuitäten aufgrund der Achsdrehung nicht im gleichen Umfang wie bei den drei anderen Fallbeispie-
Räumliche Zusammenhänge zwischen Alt und Neu
len verwirklichen. In schwächerer Form lassen sich aber
So lassen sich etwa trotz der kompletten Neukonzeption
auch in Magdeburg gewisse räumliche Zusammenhänge
der Liebfrauenkirche bemerkenswerte räumliche Konti-
mit der Tradition des Ortes erkennen. Im Gegensatz zu ei-
nuitäten vom frühchristlichen Gründungsbau bis hin zur
ner Verschiebung der Achse, wie das Phänomen in Mag-
gotischen Liebfrauenkirche feststellen, welche dem hohen
deburg in der Literatur oft fälschlich beschrieben wird,
Grad an räumlicher Kontinuität entsprechen, der sich
ermöglichte eine Drehung der Achse eine relativ große
bei den Wandlungen des Trierer Doms und des Essener
räumliche Überdeckung mit dem alten Dom und stellte so-
Münsters jeweils beobachten lässt. Während die räumli-
mit eine gewisse Kontinuität des Ortes her. Bei der Frage
che Kontinuität dort in einem engen Zusammenhang mit
nach dem Sinn und Zweck der Achsdrehung weisen einige
der Bewahrung von alten Gebäudeteilen in situ steht, be-
Indizien auf eine Schlüsselrolle des Edithgrabes hin, wel-
legt das Beispiel der Trierer Liebfrauenkirche, dass dieser
ches möglicherweise einen Fixpunkt in der Kirche bildete.
Zusammenhang nicht zur Erklärung räumlicher Beziehungen zur Tradition des Ortes ausreicht.
Gestalterische Bezüge zur Tradition des Ortes
Der in der älteren Literatur häufig bemühte Ansatz,
Schließlich zeigen die Beispielbauten, dass man auch mit
das Phänomen mit der Nutzung alter Fundamente zu er-
gestalterischen Mitteln Bezüge zur Tradition des Ortes
klären, ließ sich mittels Auswertung archäologischer Be-
aufbaute. Diese Kategorie offeriert naturgemäß die größte
funde widerlegen. In keinem der Beispielbauten wurden
Vielfalt an Möglichkeiten, von der Gestaltung des Grund-
alte Fundamente beibehalten, sondern stets durch neue
risses über das Bild der Tragstruktur bis hin zur Imitation
ersetzt, selbst wenn die neuen Mauern exakt anstelle der
alter Formen.
alten errichtet wurden. In den untersuchten Fällen war
Beim Trierer Dom lässt sich eine kontinuierliche ge-
eine Weiternutzung bestehender Fundamente aufgrund
stalterische Orientierung am Quadratbau feststellen, die
der andersartigen statischen Anforderungen, welche die
sich allerdings in der Wahl der Mittel zu verschiedenen
Umbauten mit sich brachten, technisch ohnehin nicht
Zeiten deutlich unterscheidet. Während man im frühen
möglich.
Mittelalter nach schweren Schäden versuchte, die früh-
Einen sinnvollen Erklärungsansatz für das Phänomen
christliche Anlage möglichst weitreichend zu rekonstruie-
räumlicher Kontinuitäten bei Kirchenbauten liefert hin-
ren, löste man sich im 11. Jahrhundert von der bestehen-
gegen die Absicht, räumliche Beziehungen zur Tradition
den Struktur des Domkomplexes und transformierte den
des Ortes zu bewahren. So entspricht etwa der gotische
Quadratbau in eine doppelchörige Pseudo-Basilika nach
Chor der Liebfrauenkirche, obwohl er gänzlich neu funda-
zeitgemäßem Muster. Trotz dieser tiefgreifenden Verän-
mentiert wurde, in Lage und Dimension noch immer dem
derung blieb die Tradition des Ortes das Maß der Dinge,
rund 1000 Jahre zuvor errichteten Chor des Gründungs-
denn die neuen Bauteile zielten auf eine Vereinheitlichung
baus. Ort und Kult scheinen hier in besonderer Weise mit-
mit dem Bestand und lassen sich deshalb als Erweiterung
einander verwoben gewesen zu sein. Mit einer subtilen
des Quadratbaus, nach mittelalterlicher Lesart der domus
Betonung der West-Ost-Achse im Grundriss erhielt sich
Helenae, charakterisieren. Die singuläre Grundrissstruk-
sogar eine Erinnerungsspur an das frühere Raumkonzept
tur des Trierer Doms etwa lässt sich ohne die Tradition
der Basilika.
des Ortes nicht verstehen, denn es handelt sich um eine
189
5 RESÜMEE
raffinierte Fortschreibung des eigentlich als Zentralbau
werden die alten oder alt erscheinenden Architekturteile
konzipierten Quadratbaus nach Westen (Taf. 1.02). Die
als »alt« erkennbar und führen somit die Geschichte und
Gestalt der neugeschaffenen Westfassade rekurriert infol-
Altehrwürdigkeit der Institution und/oder des Kirchen-
gedessen auf verschiedenen Ebenen auf den Quadratbau,
baus vor Augen. Umgekehrt werden die neuen Architekt-
indem beispielsweise Motive wie die übereinandergestell-
urteile vor der Folie des Alten als »neu« lesbar und dienen
ten Rundbögen übernommen oder spätantike Kapitellfor-
damit als Ausweis für das Streben der Institution, die alte
men des Quadratbaus an der romanischen Fassade aufge-
Pracht der Kirche mit aktuellen Mitteln weiter zu mehren
griffen wurden.
und zu steigern, wodurch implizit der gegenwärtigen Sta-
Bei der Einwölbung des Doms mit Kreuzrippenge-
tus repräsentiert wird.
wölben zu Beginn des 13. Jahrhunderts setzte man dem-
In allen drei Fällen lassen sich zusätzlich Konzepte er-
gegenüber auf eine gestalterische Dialektik zwischen Alt
kennen, das Neue und Alte gestalterisch aufeinander zu
und Neu, indem man die neuen Teile sichtbar als spätere
beziehen und damit erkenntlich zu machen, dass es sich
Zutat kennzeichnete, die nachträglich dem alten Bestand
um zwei integrale Kompartimente eines übergeordneten
zugefügt wurde. Dass es sich hierbei um die bewusste Er-
Ganzen handelt. Ein vielschichtiges Beispiel liefern hier-
zeugung eines Bildes handelt, beweist die Tatsache, dass
für die Vierungspfeiler des Essener Doms, welche sich aus
der Umfang der Baumaßnahmen über die erkennbaren
Teilen mehrerer Baukampagnen zu unterschiedlichen
Neuteile hinausging und in erheblichem Maße auch in die
Zeiten zusammensetzen, die sich alle der übergreifenden
alte Struktur eingegriffen wurde, was man jedoch durch
tektonischen Struktur des Pfeilers unterordnen.
Ergänzungen in der alten Form verschleierte.
In der Trierer Liebfrauenkirche wurde auf das sicht-
Beim Neubau des Magdeburger Domchores, dessen
bare Spiel von Alt und Neu hingegen gänzlich verzichtet.
untere Partien nahezu zeitgleich mit den Gewölben des
Die Anbindung an die Tradition des Ortes geschieht dort
Trierer Doms errichtet wurden, kam die gestalterische
stattdessen über die Entwurfsidee, denn der einzigartige
Strategie, alte und neue Formen dialektisch gegenüber-
Grundriss der Kirche wurde um einen Kern herum entwi-
zustellen, ebenfalls zum Tragen, indem man den Chor-
ckelt, welcher auf die Grundrissfigur des Quadratbaus, der
umgang in alten, die Chorempore in jüngeren Formen
vermeintlichen domus Helenae, rekurriert, so dass die neu-
ausführte. Der große und wichtige Unterschied zu Trier
artige Architektur der Liebfrauenkirche letztlich auf der
besteht darin, dass in Magdeburg sämtliche Teile neu er-
Tradition des Ortes basiert (Taf. 2.03).
schaffen wurden, der Kontrast von Alt zu Neu also künstder demonstrativen Zurschaustellung authentischer Ele-
Die Tradition des Ortes: Hinzunehmende Voraussetzung oder bewusste Bezugnahme?
mente des Vorgängerdoms, dadurch erklären, dass das
Die eingangs formulierte Frage, ob die Tradition des Or-
Fehlen alter Bausubstanz in situ zum Teil kompensiert
tes einen formbestimmenden Einfluss auf die Gestalt
werden sollte und hierzu auch gestalterische Mittel heran-
mittelalterlicher Sakralbauten ausübte, kann angesichts
gezogen wurden. Auf einer allgemeinen Ebene konnte da-
der präsentierten Materialfülle definitiv mit Ja beantwor-
mit der Alterswert der Institution Dom, welcher das Alter
tet werden. Auch wenn man nicht bei jedem Aspekt, der
der neuen Domarchitektur übertraf, künstlich inszeniert
in der vorliegenden Arbeit mit der Tradition des Ortes in
werden. Auf einer konkreteren Ebene lässt sich der Chor-
Beziehung gesetzt wurde, zustimmen möchte, so bleiben
umgang auch als Erinnerungsraum für die beim Neubau
zahlreiche Beispiele für architektonische Formen, die
aufgegebene Kilians-Krypta lesen.
zweifellos auf die Tradition des Ortes zurückgehen, wie
lich erzeugt wurde. Dieses Vorgehen lässt sich, analog
Angesichts der Erkenntnisse zu den Domen in Trier
etwa der eigenartige rechteckige Hallenchor des Essener
und Magdeburg liegt es nahe, auch das auffällige Zusam-
Doms. Wohl niemand wird ernsthaft bestreiten wollen,
menspiel von alten und neuen Gebäudeteilen, welches
dass sich die Form des gotischen Chores letztlich daraus
den Umbau des Essener Münsters um 1300 kennzeichnet,
erklärt, dass er über der Krypta des 11. Jahrhunderts er-
als Resultat einer geplanten Konzeption zur Visualisie-
richtet wurde. Die Tradition des Ortes ließ sich somit als
rung der Tradition des Ortes zu betrachten.
formbestimmendes Moment mittelalterlicher Sakralar-
Bei allen drei Beispielen lässt sich die gestalterische
chitektur nachweisen; zumindest im Fall der vier behan-
Inszenierung einer Dialektik zwischen Altem und Neuem
delten Beispielbauten. Die Annahme, dass es sich hierbei
auf gleiche Weise interpretieren. Vor der Folie des Neuen
um ein verbreitetes Phänomen mittelalterlicher Baukultur
190
5 RESÜMEE
handelt, liegt jedoch nahe, denn die Ergebnisse fügen sich
sich zur Neuanlage der Fundamente noch der Abriss der
nahtlos in das Bild mittelalterlicher Erinnerungskultur,
alten Gründungen addierte.
welches die jüngere Forschung zunehmend aufzeichnet.
Auch beim Umbau des Trierer Doms und dem Neubau
Dabei ist es unstrittig, dass es weitere Momente gab, die
der Liebfrauenkirche wurden keine alten Fundamente
entscheidend auf die Form einwirkten, wie theologische
verwandt, sondern fluchtgetreu durch neue ersetzt, wel-
Aspekte, bautechnisches Wissen oder aktueller Zeitge-
che den veränderten statischen Anforderungen entspra-
schmack. Daneben bestimmte die Tradition des Ortes,
chen. Auch wenn nicht ausgeschlossen werden soll, dass
quod erat demonstrandum, die Form der mittelalterlichen
alte Materie in manchen Fällen tatsächlich aus Gründen
Sakralbauten teils erheblich mit.
der Sparsamkeit weiterverwandt wurde, so lässt sich bei
Damit ist allerdings noch nicht gesagt, ob es sich
den hier untersuchten Fallbeispielen eine derartige Be-
hierbei um einen bewussten Akt der Bezugnahme han-
gründung kaum aufrecht erhalten. Ohne diese Begrün-
delt oder nicht. Diese zwei konträren Möglichkeiten zie-
dung fehlt jedoch der Annahme, die Tradition des Ortes
hen grundsätzlich unterschiedliche Interpretationen und
sei lediglich eine hinzunehmende Voraussetzung, die ar-
Beurteilungen des Phänomens nach sich, welche dessen
gumentative Basis.
Stellenwert in der mittelalterlichen Baukultur bestimmen
Die andere Möglichkeit, die formbestimmende Wir-
und daraus folgend auch dessen Relevanz für die wissen-
kung der Tradition des Ortes zu erklären, besteht darin,
schaftliche Betrachtung.
von einer bewussten und gewollten Bezugnahme der Er-
Die erste Möglichkeit besteht darin, die Tradition des
bauer auszugehen. Für die Richtigkeit dieser Annahme
Ortes als hinzunehmende Voraussetzung aufzufassen,
sprechen Indizien und Argumentationsketten, die im
welche die Form der Architektur von vornherein determi-
Rahmen dieser Arbeit angeführt wurden.
nierte, ohne dass eine weitergehende Absicht von Seiten
Beim Umbau des Essener Münsters im 13./14. Jahrhun-
der Erbauer dahinter steckte. Die Form des Rechteckcho-
dert lässt sich über die programmatischen Glasmalereien
res des Essener Doms wäre aus dieser Perspektive bloß
der Chorfenster und ihre Inschriften eine Bezugnahme
das Resultat vorgefundener Rahmenbedingungen; nicht
auf die Tradition des Ortes nachweisen, deren Motivation
mehr, aber auch nicht weniger. Oftmals wird eine derar-
darüber hinaus sicher im aktuellen politischen Kontext
tige Vorstellung in der Literatur mit ökonomischen Sach-
der Zeit situiert werden kann. Die Chorfenster bildeten
zwängen begründet. Demnach hätte man in Essen die
wiederum den Endpunkt eines axialen Bezugssystems, in
Form der bestehenden Krypta nur deshalb aufgegriffen,
das eine Fülle alter Artefakte und Objekte inszenatorisch
um deren Mauern für den neuen Chor nutzen zu können.
eingebettet waren (Taf. 4.17). Neben den theologischen
Gegen die ökonomische Interpretation spricht aller-
Implikationen eines solchen Systems lässt sich vor dem
dings die im Rahmen dieser Arbeit vorgenommene Aus-
Hintergrund der Chorfenster eine Erinnerungsfunktion
wertung der archäologischen und bauforscherischen Be-
annehmen, welche die Tradition des Ortes mittels der vi-
funde. Zur Bewahrung der alten Krypta in Essen musste,
suellen Qualitäten authentischer alter Objekte vor Augen
wie zur Bewahrung der alten Seitenwände im Mittelschiff,
führen sollte. Neben dem liturgischen Gebrauch dienten
das Mauerwerk partiell bis auf den gewachsenen Boden
viele der Objekte für sich allein genommen der Memoria
durchschlagen werden, um die zur Aufnahme des Gewöl-
ihrer Stifter und Schenker, an die sie somit in erster Li-
beschubs notwendigen neuen Strebepfeiler mit eigenen
nie erinnerten. Zusammengenommen repräsentierten sie
Fundamenten zwischen die alte Substanz einpflanzen
aber die glanzvolle Vergangenheit des Damenstifts, die
zu können. Das alte Mauerwerk konnte die neuen stati-
Tradition des Ortes, die sich in Essen auf die ehemalige
schen Anforderungen einer kreuzrippengewölbten Halle
Verbundenheit mit dem ottonischen Kaiserhaus im Allge-
schlichtweg nicht erfüllen. Noch deutlicher lässt sich die-
meinen und den heiligen Bischof und Gründervater Alt-
ser Sachverhalt im Mittelschiff erkennen, wo die Strei-
frid im Besonderen stützte.
fenfundamente der vormaligen, basilikalen Mittelschiff-
Der Umgang mit alten Teilen der Architektur, welche
wände punktuell durchschlagen wurden, um an diese
zeichenhaft für die Tradition des Ortes standen, wie der
Stellen breitere Einzelfundamente für die neuen gotischen
hochsymbolische Westbau mit seinem Aachen-Zitat, weist
Rundpfeiler zu setzen. Die Bewahrung alter Baufluchten
deutliche Parallelen zur Inszenierung der alten Ausstat-
brachte demnach keinen ökonomischen Vorteil, sondern
tungsstücke und Objekte auf, wie etwa die nahezu denk-
ging im Gegenteil mit einem erhöhten Aufwand einher, da
malpflegerische Integration des Westbaus und der Krypta
191
5 RESÜMEE
in die neue Hallenkirche zeigen. Insofern liegt es nahe, die
gerisch zu rekonstruieren, lässt sich der große Umbau im
Architektur als integralen Bestandteil einer umfassenden
11. Jahrhundert als Erweiterung der domus Helenae auffas-
Konzeption aufzufassen, deren Ziel es war, die Tradition
sen, wohingegen man bei der Einwölbung im 13. Jahrhun-
des Ortes mittels authentischer materieller Zeugnisse der
dert versuchte, das Alte mittels einer Dialektik zum Neuen
Vergangenheit zu visualisieren. Diese Folgerung wird da-
hervorzuheben.
durch unterstützt, dass Architektur und Ausstattungsstü-
Im Kontext der Gründungslegende erklärt sich die
cke bzw. Objekte planmäßig in wechselseitige Beziehun-
individuelle architektonische Entwicklung des Trierer
gen zueinander gesetzt wurden. So markierte der Westbau
Doms somit plausibel mit der fortwährenden Notwendig-
den Beginn der Erinnerungsachse, welche die Kirche
keit, die konstitutive Tradition des Ortes zu bewahren, zu
gleich einem Rückgrat durchzog, und die Krypta bildete
pflegen und fortzuschreiben. Dieser Zusammenhang wird
den Sockel für den neuen Hallenchor mit den Glasmale-
nicht bei der isolierten Betrachtung einzelner Gebäude-
reien am anderen Ende der Kirche.
teile sichtbar, sondern erfordert im Gegenteil eine epo-
Für sich allein genommen lassen sich die einzelnen
chenübergreifende Betrachtung der Architektur, bei der
Aspekte des Traditionsbezuges kaum als solche erkennen.
alte und neue Gebäudeteile in Beziehung zueinander ge-
Erst die Einbettung der Einzelteile in den Gesamtkontext
setzt werden.
erlaubt eine ganzheitliche Betrachtung des Phänomens.
Beim Neubau des Magdeburger Doms im 13. Jahrhun-
Aus der ganzheitlichen Perspektive betrachtet scheint der
dert ließen sich im Gegensatz zu Trier und Essen bisher
neue Rechteckchor bewusst zur Tradition des Ortes in Be-
keine schriftlichen Quellen auffinden, welche eine ge-
ziehung gesetzt worden zu sein, indem er einerseits die
wollte Bezugnahme auf die Tradition des Ortes direkt be-
alte Krypta inkorporiert und andererseits deren Grundriss
legen. Hier musste die Analyse der Zeugnisse materieller
zur Grundlage nimmt. Bei anderen Teilen des ehemaligen
Sachkultur, in erster Linie der Architektur, genügen.
Münsters, wie den Glasmalereien der Chorfenster, ist der
Tatsächlich ließen sich zahlreiche Hinweise und Indi-
Zusammenhang mit der Tradition des Ortes hingegen,
zien aufspüren, die in der Gesamtheit gesehen auch für
auch ohne den Gesamtkontext zu berücksichtigen, offen-
den Magdeburger Dom einen gewollten Traditionsbezug
sichtlich.
erkennen lassen, welcher im Kontext der kaiserlichen
Für den Trierer Dom belegen mittelalterliche Schrift-
tradition sinnvoll und plausibel erscheint. Gründungs
quellen, dass die Architektur im Zusammenhang mit der
Den Neubau des Magdeburger Doms kennzeichnet in die-
Tradition des Ortes gesehen wurde. So wird der Dom in
ser Hinsicht eine besondere Qualität der visuellen Insze-
den Quellen nicht nur als domus Helenae bezeichnet, als
nierung alter Objekte, die wohl aus dem Umstand resul-
Palast der Kaiserin Helena, aus welchem die Bischofskir-
tiert, dass aufgrund der Achsdrehung keine Gebäudeteile
che der Gründungslegende nach hervorging, sondern
in situ integriert werden konnten. Erkenntlich wird das
die Domarchitektur darüber hinaus als sichtbarer und
konzept wiederum nur durch die ganzheit Erinnerungs
authentischer Beweis der Helena-Tradition angeführt,
liche Betrachtung der einzelnen Teile, die in Magdeburg
womit die Kirche gleichsam in die Nähe einer Reliquie
in ein komplexes System wechselseitiger Beziehungen ein-
rückte. Aus dieser Überzeugung musste zwingend ein Be-
gebunden wurden (Taf. 3.03).
streben folgen, die alte Architektur zu bewahren. Und tat-
Die behandelten Fallbeispiele lassen jeweils für sich
sächlich hat sich die spätantike Bausubstanz des Quadrat-
betrachtet den Schluss zu, dass die Bezugnahme auf die
baus in außergewöhnlich hohem Umfang sogar bis heute
Tradition des Ortes einer übergreifenden Konzeption
erhalten, was dafür spricht, dass man die domus Helenae
folgte und somit ebenso bewusst wie gewollt stattfand.
vor allem in diesem Gebäudeteil sah. Die in der vorliegenwicklung des Trierer Doms von frühchristlicher Zeit bis
Architektur und ihre Tradition des Ortes in der Wahrnehmung der Betrachter
ins hohe Mittelalter zeigte über die Bewahrung alter Bau-
Anknüpfend an die Erkenntnis geplanter Traditionsbe-
substanz hinaus, dass der Quadratbau über Jahrhunderte
züge stellt sich die Frage, ob und inwiefern diese Bezug-
hinweg für sämtliche Erweiterungen und Wiederherstel-
nahmen dem mittelalterlichen Betrachter überhaupt er-
lungen, An- und Umbauten stets der Ausgangspunkt und
sichtlich waren. Die Vielschichtigkeit der Bezüge erlaubt
das Maß der Dinge blieb. Während man im frühen Mit-
jedoch keine pauschale Beantwortung, sondern zwingt zur
telalter versuchte, den Quadratbau nahezu denkmalpfle-
Differenzierung.
den Arbeit vorgenommene Analyse der baulichen Ent-
192
5 RESÜMEE
Die demonstrative Inszenierung alter Materie im Chor
im Vordergrund gestanden haben. Vielmehr scheint es
des Magdeburger Doms etwa ergibt nur dann einen Sinn,
sich um einen intellektuell anspruchsvollen Entwurf zu
wenn man mit einem Betrachter rechnete, welcher die
handeln, welcher die Tradition des Ortes zwar zum Kern
symbolische Gestaltung nicht nur sehen, sondern auch
des Neubaus nimmt, ein Verstehen aber nur demjenigen
verstehen konnte. Ähnlich lässt sich hinsichtlich der In-
ermöglicht, der sich eingehend mit der Architektur ausei-
korporation des signifikanten Westbaus in Essen oder der
nandersetzt und fundierte Kenntnisse über die Tradition
Konservierung des Quadratbaus in Trier argumentieren.
des Ortes besitzt. Es kann wohl davon ausgegangen wer-
Im letztgenannten Fall dokumentieren auch die Schrift-
den, dass der Domklerus, der als Bauherr des Neubaus
quellen, dass ein Verständnis für die Aussagekraft des
fungierte, die Entwurfsidee verstand, vielleicht sogar da-
architektonischen Traditionsbezuges von Seiten des Be-
ran mitwirkte, diese letztlich jedenfalls absegnete.
trachters vorhanden war oder zumindest vorausgesetzt
Ganz ähnlich verhält es sich mit dem mehrfach nach-
wurde. Die Architektur fungierte insofern als Medium,
gewiesenen Phänomen, dass Neubauten in den Fluchten
um die Tradition des Ortes derart zu visualisieren, dass
des Altbaus errichtet wurden, ohne dass hierfür ein bauli-
bestimmte Betrachter inhaltliche Implikationen im Kern
cher Vorteil gegeben gewesen wäre. In Essen lassen sich
verstehen konnten. Die bewusste Bezugnahme auf die
die Dimensionen der alten Basilika von einem geübten
Tradition des Ortes war somit zumindest in Teilen nicht
Betrachter vielleicht noch erkennen, weil die unteren Teile
nur ersichtlich, sondern explizit auf Wahrnehmung und
der alten Außenwände erhalten blieben. Beim Neubau der
Verständnis ausgelegt.
Trierer Liebfrauenkirche lässt sich die Bewahrung der al-
Dabei stellt sich die weitergehende Frage, an welchen
ten Fluchten hingegen nur nachvollziehen, wenn man die
Betrachter architektonische Inszenierungen der Tradition
Vorgängerkirche aus eigener Anschauung kannte. Folg-
des Ortes adressiert waren. Angesichts dessen, dass das
lich blieb auch der subtile Hinweis auf die Verschiebung
Phänomen jedoch in weiten Teilen nur über die materielle
der Kirchenachse, als der sich das aus der Mittelachse der
Sachkultur erfasst werden kann, lässt sich die Frage nach
Westfassade verschobene Fenster deuten lässt, für einen
dem Adressaten nur indirekt diskutieren. Die Komplexi-
nicht eingeweihten Betrachter unverständlich.
tät und Vielschichtigkeit der Traditionsbezüge setzt jeden-
Welchen Sinn aber machten Traditionsbezüge, die
falls zum Verständnis sowohl ein bestimmtes Maß an Bil-
von einem uneingeweihten Betrachter nicht erkannt, ge-
dung als auch ein gewisses intellektuelles Niveau voraus.
schweige denn verstanden werden konnten? Zunächst
Insofern werden die angesprochenen Betrachter wohl in
einmal sei daran erinnert, dass der Klerus, welcher einen
erster Linie beim hohen Klerus und beim gebildeten Adel
Neubau veranlasste, die alten Kirchenfluchten noch aus
zu suchen sein. Dem einfachen Menschen des Mittelalters
eigener Anschauung kannte und damit ein Bewusstsein
erschloss sich die Symbolik hingegen wohl nur, wenn ihm
für räumliche Bezüge zur Vorgängerkirche und daraus re-
diese von anderer Seite gezielt vermittelt wurde, etwa vom
sultierende Kontinuitäten vorhanden war. Insofern muss
Priester bei der Messe. Ebenso gut ist es möglich, dass
es den Klerikern anfangs selbstverständlich bewusst gewe-
hohe auswärtige Besucher, welche die Tradition des Or-
sen sein, dass sie bei Prozessionen vom Trierer Dom zur
tes nicht im Detail kannten, vom lokalen Klerus auf die
Liebfrauenkirche weiter auf alten Wegen wandelten. Ge-
Geschichtsbezüge aufmerksam gemacht wurden. Sicher
nauso muss es für die Essener Stiftsdamen anfangs klar
gesagt werden kann letztlich nur, dass interessierte Be-
gewesen sein, dass der Laufgang vom Damenchor zum
trachter existiert haben müssen, da die teils praktizierte
Westbau ein Teil der alten Kirche und damit einer alten
demonstrative Inszenierung der Tradition des Ortes sonst
Tradition war. Vielleicht wurden derartige Zusammen-
sinnlos wäre.
hänge später mündlich an folgende Generationen tradiert,
Andere Facetten des Traditionsbezuges haben dem-
bis das Wissen mit der Zeit verloren ging und erst durch
gegenüber anscheinend keinen Betrachter vorausgesetzt.
archäologische Grabungen wieder rekonstruiert werden
Dass der Grundriss der Trierer Liebfrauenkirche etwa
konnte. In jedem Fall bestand ein Interesse an räumlichen
nach mittelalterlicher Lesart aus der Struktur der identi-
Kontinuitäten und Bezügen zum vorherigen Bauzustand
tätsstiftenden domus Helenae entwickelt wurde, lässt sich
teilweise auch unabhängig von der Nachvollziehbarkeit
eigentlich nur mit Blick auf den Grundriss erkennen, im
für nicht eingeweihte Betrachter.
realen Kirchenraum aber nur mit Vorwissen nachvollzie-
Bei diesen Überlegungen darf natürlich nicht verges-
hen. In dieser Hinsicht kann das Erkennen der Idee nicht
sen werden, dass es sich bei den Kirchen in allererster Li-
193
5 RESÜMEE
nie um religiöse Kultbauten handelt, denen, wie es sich
nahmen zwangsläufig damit in Einklang stehen und die
sowohl im Christentum als auch in anderen Religionen
Kontinuität der Institution Kirche gewährleisten.
beobachten lässt, in der Regel eine besondere spirituelle
Dass derartige Überlegungen unterschiedlich ausge-
Aura zugesprochen wird, die es bei jeglichen Baumaßnah-
legt wurden, zeigt der Neubau des Magdeburger Doms,
men zu respektieren und zu bewahren gilt.
dessen Achsrotation die Herstellung räumlicher Bezie-
Darüber hinaus implizieren christliche Sakralbauten
hungen zum Vorgängerbau zwar nicht ausschloss, aber
stets einen Betrachter, dem keine Bezüge und Kontinui-
deutlich erschwerte. Die Anbindung an die Tradition des
täten verborgen blieben, nämlich Gott höchstpersönlich.
Ortes geschah dort mittels der Präsentation alter Materie,
Dass in derartigen Kategorien gedacht wurde, belegt etwa
die in ein übergreifendes Ordnungssystem eingebettet
eine Aussage in der Fundatio des Hildesheimer Doms, wo
wurde. Im Gegensatz dazu offenbart der Neubau der Trie-
es in Bezug auf den Neubau der Kirche unter Bischof Alt-
rer Liebfrauenkirche, wo auf die Integration alter Materie
frid im 9. Jahrhundert heißt:
gänzlich verzichtet und die Tradition des Ortes nicht de-
»Währenddessen hielt der Bischof mit seinem höchst frommen Kapitel ein dreitägiges Fasten […] und bat Gott, daß ihm die Stelle gezeigt werde, die Christus einer Kirche würdig hielt […] und gleichsam zum Graben des Fundamentes einer Kirche sind wie Frühlingsreif die Umrisse einer Kirche in kunstvollem Rechteck erschienen […]«.815
monstrativ, sondern subtil verbildlicht wurde, ein auffälliges Bemühen um die Bewahrung alter Dimensionen und Maße, innerkirchlicher Orte und Wege, das sich nicht aus ökonomischen Erwägungen erklären lässt. Hinsichtlich ihrer Beweggründe lassen sich Bezüge zur Tradition des Ortes folglich in Relation zu einem Betrachter differenzieren. Es lassen sich auf der einen Seite Zusammenhänge mit der Tradition des Ortes konstatie-
Laut dem Verfasser der Hildesheimer Fundatio kam Gott
ren, die nicht ohne Weiteres von einem Betrachter nach-
also nicht nur der Bitte Altfrids nach und bestimmte ei-
vollzogen werden konnten. Die religiösen und spirituellen
nen Ort für den neuen Dom, sondern legte darüber hinaus
Implikationen des Kirchenbaus bieten dafür jedoch einen
auch die Umrisse der Kirche fest. Auf diese Weise erlang-
sinnvollen Erklärungsansatz. Auf der anderen Seite lassen
ten Ort und Form der Kirche eine religiöse Dimension,
sich regelrechte Inszenierungen der Tradition des Ortes
deren Wirkung auf spätere bauliche Veränderungen nicht
beobachten, welche einen menschlichen Betrachter not-
unterschätzt werden darf.
wendig voraussetzten.
Auch beim Trierer Dom lassen sich die frappanten mit religiösen Überzeugungen zusammenbringen. Wenn
Inszenierungen der Tradition des Ortes im historischpolitischen Kontext
die Bischofskirche aus dem Palast einer Heiligen hervor-
Es stellt sich damit die Frage nach den Beweggründen der-
ging, dann war die Bausubstanz nicht nur ein authenti-
artiger Inszenierungen. Sicher lassen sich diese zum Teil
sches Zeugnis, sondern der gesamte Entwurf ein Teil des
ebenfalls theologisch interpretieren, wenn man davon
göttlichen Heilsplanes, den es zu respektieren galt. Ein
ausgeht, dass damit die mit der Tradition des Ortes in Be-
ähnliches Denken lässt sich auch beim Essener Münster
ziehung stehenden spirituellen Qualitäten des Bauwerks
unterstellen, wo der Kirchenbau ebenfalls mit einem als
verbildlicht und somit einem auswärtigen Betrachter
Heiligen verehrten Gründer in Verbindung stand, eben je-
lesbar gemacht werden sollten. Im historisch-politischen
nem Bischof Altfrid, dem die Quellen für den Bau des Hil-
Kontext betrachtet dienten die Traditionen des Ortes
desheimer Doms göttliche Hilfe attestieren.
hingegen auch der Legitimation und Absicherung von
räumlichen Beziehungen zu alten Bauzuständen leicht
Die religiöse Dimension des Kirchenbaus bietet dem-
Status- und Machtansprüchen, Rechten und Privilegien.
nach eine plausible Erklärung für die im Rahmen dieser
Dazu fügt sich, dass architektonische Inszenierungen der
Arbeit aufgezeigten, teils massiven räumlichen Beziehun-
Tradition des Ortes bei den betrachteten Fallbeispielen
gen einer Kirche zu ihren älteren Bauzuständen. Wenn die
teils mit konkreten politischen Situationen, in denen sich
Form der Kirche als Ausdruck oder sogar Bestandteil der
die jeweiligen Institutionen befanden, in Zusammenhang
Heilsgeschichte gilt, dann müssen auch spätere Baumaß-
gebracht werden können.
815 Hildesheimer Fundatio (ed. Hofmeister, S. 943f.). Dt. Übersetzung nach H. J. Schuffels (Kruse 2000, S. 291).
194
5 RESÜMEE
Die Trierer Erzbischöfe leiteten aus der Gründungs-
hunderts eine wichtige Rolle spielte und mittels eines viel-
legende des Trierer Doms einen besonderen Status- und
schichtigen Gestaltungskonzeptes, welches die visuellen
Machtanspruch ab. Die legendäre Umwandlung des Pa-
Qualitäten materieller Erinnerungsträger in besonderer
lastes der heiligen Helena in die erste Bischofskirche, die
Weise zur Geltung brachte, verbildlicht wurde. Eine in
im hohen Mittelalter mit der apostolischen Gründungsle-
der Literatur mehrfach festgestellte Planänderung beim
gende des Bistums verknüpft wurde, hob Trier im Selbst-
Chorbau, welche das Konzept der Traditionsinzenierung
verständnis des Domklerus in den Rang einer Roma se-
in seiner Deutlichkeit weiter steigerte, könnte mit dem
cunda, so dass nur der Papst in der kirchlichen Hierarchie
kriegerischen Konflikt von 1212–1218 in Zusammenhang
über dem Trierer Erzbischof stünde. Konkret wurde damit
stehen, als das Magdeburger Erzbistum von den Truppen
ein Primatsanspruch gegenüber dem Erzbistum Reims
des welfischen Kaisers Otto IV. existentiell bedroht wurde.
begründet; später auch gegenüber den germanischen
Im Medium der Zeichnung belegt die figürliche Bischofs-
Erzbistümern, womit in erster Linie Mainz und Köln ge-
reihe mit Kaiser Otto und seinen Gemahlinnen als Aus-
meint waren. Als konstitutives Element der Gründungsle-
gangspunkt das historisch legitimierte Selbstverständnis
gende fungierte die Architektur des Trierer Doms als zen-
der Magdeburger Metropoliten.
trales Zeugnis zur Visualisierung und Authentifizierung
Der Umbau des Essener Münsters erfolgte zwischen
der Tradition des Ortes. Mittels der Architektur ließen
ca. 1275 und 1325 ausgerechnet in einer Zeit, als sich das
sich folglich die aus der Tradition des Ortes abgeleiteten
Damenstift in einer prekären Krisensituation befand, in
Machtansprüche untermauern, wie es mittelalterliche
welcher seine privilegierte Stellung existenziell gefähr-
Schriftquellen belegen.
det war und der Verlust der geistlichen Landesherrschaft
Selbst für den Neubau der dem Dom zugehörigen Trie-
drohte. Aufgrund der ehemals engen Bindung zum säch-
rer Liebfrauenkirche im 13. Jahrhundert bietet der histo-
sischen Hochadel im Allgemeinen und dem ottonischen
risch-politische Kontext neue Erklärungsansätze. So lässt
Kaiserhaus im Besonderen genoss das Essener Stift Kö-
sich die in diesem Umfang im Kaiserreich wohl erstmalige
nigsschutz, Immunität und Exemtion, war somit ledig-
Übernahme des hochgotischen Formenapparates der im
lich dem König und Papst unterstellt und zählte deshalb
Neubau befindlichen Reimser Kathedrale in Verbindung
zu den vornehmsten Damenstiften im deutsch-römischen
mit dem traditionell gegenüber Reims beanspruchten Vor-
Imperium. Angesichts der verlorenen Bindung an das Kö-
rang des Trierer Erzbischofs erklären. Mit der Verwendung
nigtum diente die Tradition des Ortes in diesem Zusam-
der Reimser Formen für die rangniedere Liebfrauenkirche
menhang als Grundlage, um den besonderen Status des
ordnete man diese den altehrwürdigen Formen des Doms
Damenstifts zu legitimieren und zu schützen. Die sicht-
sichtbar unter. Bedenkt man, dass die Liebfrauenkirche
bare Inszenierung der Tradition des Ortes beim Umbau
aus der Struktur der vermeintlichen domus Helenae entwi-
der Münsterkirche erscheint aus dieser Perspektive als
ckelt wurde, diese somit den übergeordneten Rahmen für
Mittel, die glanzvolle Vergangenheit des Damenstifts zu
die Reimser Formen bildet, so spiegelt sich auch im Bau
visualisieren und zu authentifizieren. Eindeutig belegen
selbst der von Trier auf Basis der Tradition des Ortes erho-
lässt sich die Instrumentalisierung der Tradition des Or-
bene Vorrang vor der alten Konkurrentin Reims.
tes in Bezug auf die politische Situation des Stifts mittels
Der Magdeburger Erzbischof stützte seinen Rang
der Glasmalereien im Chor.
und seine Rechte auf die Konstituierung von Erzbistum ritzkloster durch Kaiser Otto den Großen und seine Frau
Architektur im Kontext von Memoria und kulturellem Gedächtnis
Edith, die beide im Magdeburger Dom ihre letzte Ruhe-
Die Ergebnisse dieser Untersuchung belegen, dass Sa-
stätte fanden. Das daraus resultierende Machtanspruchs-
kralarchitektur als wesentlicher Bestandteil materieller
niveau lag so hoch, dass man den Primat über Germanien
Erinnerungskultur im Mittelalter aufgefasst werden muss.
für sich reklamierte und das Erzbistum auf Augenhöhe
Dabei ließ sich aufzeigen, dass Architektur in der Regel
mit den altehrwürdigen Kathedren in Mainz, Trier und
nicht als isolierter Erinnerungsträger fungierte, sondern
Köln sah. Daneben führte man den Herrschaftsanspruch
in ein komplexes Bezugssystem mit anderen Objekten der
über die Stadt Magdeburg auf die imperiale Gründung zu-
Erinnerung eingebunden wurde. Des Weiteren bestand
rück. So erstaunt es kaum, wenn die Tradition des Ortes
oftmals eine wechselseitige Beziehung zu liturgischen
beim Neubau des Magdeburger Doms Anfang des 13. Jahr-
Handlungen mit memorativen Inhalten.
und Kirche einschließlich der Vorgängerinstitution Mo-
195
5 RESÜMEE
bildete im Mittelalter bekanntlich die Memoria, das litur-
Konsequenzen für die Betrachtung mittelalterlicher Sakralarchitektur
gische Totengedenken. Inwiefern Architektur in diesem
Die gewonnenen Erkenntnisse hinsichtlich der formbe-
enger gefassten Rahmen eine Funktion einnahm, lässt
stimmenden Wirkung der Tradition des Ortes auf die Ar-
sich angesichts der Untersuchungsergebnisse nur tenden-
chitektur werfen ein neues Licht auf einige Phänomene
ziell beantworten. In dieser Hinsicht muss wohl zwingend
mittelalterlicher Sakralbaukultur, die auf der Grundlage
zwischen der Perspektive des Auftraggebers und derjeni-
stilgeschichtlicher Kategorien bisher nicht angemessen be-
gen des späteren Nutzers unterschieden werden. Wenn
rücksichtigt, zum Teil missverstanden oder sogar unsach-
Einen bedeutenden Teilaspekt der Erinnerungskultur
beispielsweise Äbtissin Theophanu sich inschriftlich als
licherweise negativ beurteilt wurden. Infolgedessen lassen
Bauherrin der Krypta des Essener Münsters verewigen
sich Bauwerke, die nach den Kriterien der Stilgeschichte
ließ, so muss dem wohl die gleiche Bedeutung beigemes-
keinen adäquaten Platz in der Architekturgeschichte zuge-
sen werden wie dem inschriftlich bezeichneten Bild der
wiesen bekamen, nunmehr besser in den Kontext mittelal-
Äbtissin auf dem Deckel des nach ihr benannten Evan-
terlicher Sakralbaukultur einordnen und verstehen.
geliars; Theophanu verstand ihre materiellen Schenkun-
Als Erstes wäre hier das Phänomen stilistisch hetero-
gen auch als Beitrag zu ihrer Memoria. Die Brauweiler
gener Bauten zu nennen. Ein historisch, religiös, politisch
Fundatio beweist, dass der Zusammenhang zwischen den
und kulturell höchst bedeutsamer Bau wie der Trierer
Baumaßnahmen Theophanus in Essen und ihrer Memo-
Dom fand in architekturgeschichtlichen Übersichtswerken
ria auch von Dritten gesehen wurde.816 Wie verbindlich
bisher keine seiner mittelalterlichen Bedeutung entspre-
der memoriale Aspekt für die späteren Nutzer der Kir-
chende Berücksichtigung, weil er aus stilgeschichtlicher
che war, lässt sich hingegen schwer greifen. Der Hinweis
Sicht ein Konglomerat aus stilistisch unterschiedlichen Tei-
auf Theophanu als Bauherrin der Krypta, der bei der Be-
len darstellt, die zu verschiedenen Epochen errichtet wur-
schreibung ihres Anniversars im Essener Liber Ordina-
den. Stattdessen wurden einzelne Gebäudeteile im Kontext
rius gegeben wird,817 legt nahe, dass auch spätere Genera-
einer bestimmten Epoche isoliert vom übrigen Baukörper
tionen Architektur durchaus mit Memoria in Beziehung
behandelt, wie etwa die frühromanische Westfassade. Un-
brachten.
ter Berücksichtigung der Tradition des Ortes stellte sich je-
Weitaus besser lassen sich die Ergebnisse dieser Arbeit
doch heraus, dass die stilistische Heterogenität des Trierer
indes hinsichtlich der Bedeutung der Architektur zur Ver-
Doms ein Resultat kontinuierlicher architektonischer Aus-
bildlichung der Tradition des Ortes fassen, was allerdings
einandersetzung mit der konstitutiven Tradition des Ortes
auch ein Resultat der primär darauf ausgerichteten Fra-
darstellt. Die Form der einzelnen Gebäudeteile wird erst im
gestellung sein könnte. Jedenfalls lässt sich gerade im Es-
architektonischen Gesamtkontext und dem damit verbun-
sener Münster der Aufbau eines visuellen Bezugssystems
denen Rückbezug auf die eigene Geschichte verständlich.
von Erinnerungsobjekten, die Architektur eingeschlossen,
Beispielsweise wurde die Ausprägung der Details der
ganzheitlich betrachtet nicht mit der Memoria einzelner
Anfang des 13. Jahrhunderts eingezogenen Wölbung im
Personen allein verstehen, wohl aber als Inszenierung der
Trierer Dom auf der Basis stilistischer Vergleiche in der äl-
gesamten Tradition des Ortes.
teren Literatur mit der Zisterzienserbaukunst zusammen-
Aus diesem Blickwinkel verwundert es nicht, dass bei
gebracht, ohne dass ein plausibler Sinnzusammenhang
einigen Erinnerungsträgern, wie dem Westbau, die Na-
zwischen der Institution Bischofskirche und dem Orden
men der Auftraggeber nicht erhalten blieben. Der West-
der Zisterzienser hergestellt werden konnte. Der stilisti-
bau diente späteren Generationen anscheinend weniger
sche Vergleich beschränkte sich allein auf formale Analo-
der Memoria einer konkreten Person als vielmehr der Vi-
gien, was manche Autoren dennoch nicht davon abhielt,
sualisierung der imperialen Tradition des Ortes. Insofern
sogar auf einen Zisterzienser als Baumeister zu schlie-
ist die mittelalterliche Sakralarchitektur, zumindest im
ßen.818 Betrachtet man die Detailformen der Wölbung
Falle der Beispielbauten, nicht bloß als Teil des kulturel-
hingegen epochenübergreifend und im ganzheitlichen ar-
len Gedächtnisses aufzufassen, sondern darüber hinaus
chitektonischen Kontext, so erklären sie sich als bewusste
als dessen Medium.
Auseinandersetzung mit der Tradition des Ortes, indem sie
816 Brauweiler Fundatio (ed. Waitz, S. 130). 817 Essener LO 129 (ed. Arens, S. 121).
818 Z. B. Kempf 1968, S. 15f. 819 Hamann 1909, S. 255.
196
5 RESÜMEE
eine sichtbare Dialektik von Alt und Neu aufbauen und die
len über die Chorarchitektur veranlasste, die man zu einer
neuen Teile erkennbar als nachträgliche Zutat kennzeich-
»Rumpelkammer älterer Formbestände«819 abqualifizierte.
nen. Aus der Perspektive der Tradition des Ortes stehen die
In dieser Arbeit konnte jedoch aufgezeigt werden, dass
neuen Detailformen in einen sinnvollen Bezug zur vorhan-
sich die Gestalt des Chores mit einer formalen Entwick-
denen Architektur wie auch in einem Sinnzusammenhang
lungsgeschichte nicht schlüssig erklären lässt, sondern
mit der Geschichte des Doms. Dass der Baumeister darü-
stattdessen davon ausgegangen werden muss, dass der
ber hinaus Kenntnisse der Zisterzienserarchitektur besaß,
Kontrast alter und neuer Formen bewusst als gestalteri-
mag interessante Auskünfte über seinen Wissenshorizont
sches Mittel eingesetzt wurde, um die Tradition des Ortes
geben, führt bei der Interpretation der Wölbungskampa-
zu visualisieren, wie es rund ein halbes Jahrhundert früher
gne aber letztlich auf eine falsche Fährte.
beim Chorumbau der Abteikirche Saint-Denis praktiziert
Ebenso verhinderte die stilistische Heterogenität des
wurde, um ein prominentes Vergleichsbeispiel zu nennen.
Essener Doms dessen angemessene Einordnung in die
Dort kam die ältere, stilgeschichtliche Forschung zu ähnli-
mittelalterliche Architekturgeschichte. Stattdessen re-
chen methodisch bedingten Fehlschlüssen wie beim Neu-
duzierte man die Kirche zumeist auf dessen ottonischen
bau des Magdeburger Doms, die jedoch seit einiger Zeit
Westbau und ignorierte demgegenüber den umfassenden
zunehmend kritisch hinterfragt wurden und spätestens
gotischen Umbau um 1300. Als Zitat der Aachener Pfalz-
seit der diesbezüglichen Arbeit von Stephan Albrecht als
kapelle besaß der Essener Westbau bereits von seiner
revidiert gelten müssen.820
Errichtung an eine historische Sinnschicht, welche den
Aus der Neubewertung des Magdeburger Doms folgt
Gebäudeteil zum Gegenstand zahlreicher architekturhis-
zusätzlich die wichtige Erkenntnis, dass die Steinmetze
torischer Studien machte. Aufgrund dieser isolierten Be-
des 13. Jahrhunderts nicht nur in aktuellen Detailformen
trachtung wurde jedoch bisher übersehen, dass der West-
arbeiteten, sondern auch ältere Formen imitieren konn-
bau seit der nahezu denkmalpflegerischen Bewahrung des
ten, wie es die antikisierenden Kapitelle, welche für die
Gebäudeteils im Zuge des gotischen Umbaus von einer
Marmorspolien neu geschaffen wurden, nachdrücklich
zweiten, auf einen anderen Zeitraum der Historie rekur-
unterstreichen. Was in Magdeburg im großen Stil pro-
rierenden Sinnschicht überlagert wird, welche sich aus der
grammatisch betrieben wurde, lässt sich in geringerem
Bedeutung des Gebäudeteils um 1300 erklärt.
Maße auch in Essen und Trier nachweisen. In Essen ge-
Auch Formen des bisher wenig beachteten gotischen
ben die Basen der antikisierenden Kapitelle der Krypta
Kirchenraumes des Essener Doms erklären sich schlüs-
ein Beispiel für die Nachahmung von romanischen For-
sig aus der Tradition des Ortes. So lässt sich etwa die für
men in gotischer Zeit; an den Vierungspfeilern wiederum
jene Zeit und jenen Ort ebenso eigenartige wie innovative
finden sich Profile, die Ende des 12. Jahrhunderts gefer-
Form des rechteckigen Hallenchores aus dem Bestreben
tigt wurden, aber ottonische Vorbilder aufgreifen. Selbst
verstehen, die authentische Substanz der Theophanu-
die korinthisierenden Pilasterkapitelle am Westbau des
Krypta in die gotische Hallenkirche zu integrieren und zu-
Trierer Doms aus der Mitte des 11. Jahrhunderts orientie-
gleich alte räumliche Beziehungen zu wahren.
ren sich an spätantiken Vorbildern im Quadratbau, wenn
Eine andere Art stilistischer Heterogenität weist der
auch dort eine deutliche, zeittypische Vereinfachung zu
Chor des Magdeburger Doms auf, wo ältere Formen im
erkennen ist. Überhaupt scheint die Genauigkeit, mit der
Chorumgang jüngeren auf der Chorempore gegenüber-
alte Formen aufgegriffen wurden, wenn man dies aus den
stehen. Im Unterschied zu Essen und Trier, wo der stil-
wenigen Beispielen schließen darf, vom 11. bis ins 13. Jahr-
geschichtliche Kontrast aus unterschiedlichen Baukam-
hundert beständig zugenommen zu haben. In diese Rich-
pagnen resultiert, so dass die einzelnen Gebäudeteile
tung wären jedoch weitere Studien notwendig.
Jahrhunderte auseinander liegen, entstanden die Chorge-
Die Erkenntnisse zum bewussten Einsatz unter-
schosse in Magdeburg zeitlich nah beieinander im Zuge ei-
schiedlicher »Stile« helfen, die Methode der Stilkritik
ner einzigen Baukampagne. Die stilistischen Unterschiede
weiter zu verfeinern. Sie erzwingen ein noch genaueres
wurden deshalb als stilgeschichtliche Entwicklung inter-
Hinsehen, denn bei einigen Beispielen, wie den genann-
pretiert, die sich während des Bauverlaufs einstellte, was
ten Basen in der Essener Krypta, lassen sich stilkritisch
insbesondere die ältere Literatur zu negativen Werturtei-
Details feststellen, welche auf den zweiten Blick eine spä-
820 Albrecht 2003.
197
5 RESÜMEE
tere Entstehungszeit verraten. Noch mehr ermahnen die
Schlussresümee
Erkenntnisse aber zu größerer Vorsicht bei rein stilkriti-
Bei den Domen in Trier und Magdeburg, dem ehemaligen
schen Beobachtungen und legen es nahe, Fragen der Da-
Münster zu Essen und der Trierer Liebfrauenkirche ließ
tierung unter Berücksichtigung verschiedener Hinweise,
sich die Tradition des Ortes exemplarisch als ein formbe-
die mit unterschiedlichen methodischen Ansätzen ge-
stimmendes Moment der Architektur nachweisen.
wonnen werden konnten, zu diskutieren. Die Datierung
Das bedeutet im Umkehrschluss, dass sich die Archi-
beispielsweise der antikisierenden Kapitelle in Magde-
tektur der genannten Beispiele nicht hinreichend verste-
burg, bei denen Ernst Schubert aufgrund einer stilkriti-
hen lässt, ohne die Tradition des Ortes zu berücksichtigen.
schen Formenanalyse noch vor einigen Jahren fragte, ob
Darüber hinaus lassen sich bauliche Phänomene erklären,
es sich nicht um antike Spolien handeln könnte, lässt sich
welche methodisch bedingt bisher nur unzutreffend oder
mit bauforscherischen Mitteln sicher klären, denn die Ka-
gar nicht beschrieben wurden. Die Bezugnahmen auf die
pitelle wurden aus einem Block geschlagen, der hinten in
Tradition des Ortes werden von einer Vielschichtigkeit und
die Chormauer einbindet, und können somit erst im Zuge
Kontextualität gekennzeichnet, welche die kulturelle Trag-
des Chorneubaus entstanden sein.
weite erahnen lassen und Differenzierungen erfordern.
Auf ganz andere Art und Weise hilft die Erforschung
In formaler Hinsicht lassen sich räumliche, materielle
der Tradition des Ortes beim Verständnis der Trierer Lieb-
und gestalterische Kategorien von Zusammenhängen zwi-
frauenkirche. Deren Formenapparat entstammt eindeutig
schen Architektur und ihrer Tradition bilden. Dabei kann
der französischen Hochgotik, so dass sich das Bauwerk
zwischen unbeabsichtigten Bezügen, welche den baulichen
wunderbar in die herkömmlichen stilgeschichtlichen Ka-
Voraussetzungen entsprangen, und bewussten Bezugnah-
tegorien einordnen ließ. Die älter wirkenden Formen, die
men unterschieden werden. Letztere, welche das Phäno-
man bei genauem Hinsehen selbst bei diesem zweifellos
men wohl im Wesentlichen begründen und deshalb im
gotischen Bau findet, wie die rundbogigen Fenster ohne
Vordergrund dieser Untersuchung standen, lassen sich wei-
Maßwerk am Vierungsturm, wurden in der Literatur dem
tergehend in Relation zu einem Betrachter differenzieren.
mangelnden Verständnis des Baumeisters angelastet.
821
Einerseits lassen sich Bezüge nachweisen, welche
Eine Erklärung, wie sie in dieser Arbeit vorgeschlagen
ohne spezifisches Vorwissen nicht erkannt werden konn-
wird, nämlich dass es sich um eine geschickte gestalteri-
ten. Einen plausiblen Erklärungsansatz liefert diesbezüg-
sche Angleichung an die älteren Domtürme handelt, lässt
lich die religiöse Dimension der Tradition des Ortes mit
eine stilgeschichtliche Engführung eben nicht zu.
allen ihren spirituellen, liturgischen und theologischen
Zu wiederholten Irritationen führte in der Literatur
Implikationen. Andererseits lassen sich Bezugnahmen
indes der individuelle Grundriss der Kirche, welcher sich
aufzeigen, die explizit auf die Wahrnehmung eines Be-
im Gegensatz zu den Detailformen eben nicht aus fran-
trachters ausgerichtet waren, die folglich gelesen und
zösischen Vorbildern ableiten ließ, aber angesichts seiner
demnach auch verstanden werden wollten. Derartige vi-
hohen Komplexität und künstlerischen Reife auch nicht
suelle Verweise auf die Tradition des Ortes, welche den
auf das Unvermögen des Baumeisters zurückgeführt wer-
Charakter medialer Inszenierungen annehmen konnten,
den konnte. Demgegenüber liefert die Tradition des Or-
entstanden bisweilen im Kontext historischer Situatio-
tes einen alternativen Ansatz, welcher den Grundriss der
nen, in denen der auf die Tradition des Ortes basierende
Liebfrauenkirche schlüssig erklärt. Die Grundrissstruktur
Rang und Status der Institution verteidigt werden musste.
der Liebfrauenkirche basiert auf der Struktur des Quad-
In diesem Kontext stellte die Verbildlichung der Tradition
ratbaus, nach mittelalterlicher Lesart also der domus He-
des Ortes ein Instrument dar, um die Legitimation von
lenae, welche über Jahrhunderte hinweg die Gestalt des
Ansprüchen sichtbar zu untermauern. Architektur fun-
Domkomplexes, maßgeblich bestimmte (Taf. 2.03). Auch
gierte demnach auf verschiedenen semantischen Ebenen,
an diesem Beispiel zeigt sich, dass die Berücksichtigung
die sich durchdringen und wechselseitig steigern konnten,
der Tradition des Ortes dazu beiträgt, die Kirchenbauten
als facettenreicher Teil oder sogar Medium eines kulturel-
vielschichtiger zu erfassen und Phänomene zu erklären,
len Gedächtnisses.
für die es mit bisherigen Ansätzen keinen oder nur einen erschwerten Zugang gab. 821 Hamann/Wilhelm-Kästner 1924, S. 41.
Groß ist die Kraft der Tradition des Ortes, welche auf die Architektur wirkt.
198
Quellenverzeichnis
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